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German Pages 622 [626] Year 2014
ÆTERNA Altertumswissenschaft
RO M A
Franz Steiner Verlag
mischa meier / steffen patzold (hg.)
Chlodwigs Welt Organisation von Herrschaft um 500
Mischa Meier / Steffen Patzold (Hg.) Chlodwigs Welt
RO M A Æ T E R N A ROMA ÆTERNA
Beiträge zu Spätantike und Frühmittelalter Herausgegeben von Volker Henning Drecoll, Irmgard Männlein-Robert, Mischa Meier und Steffen Patzold Band 3
mischa meier / steffen patzold (hg.)
Chlodwigs Welt Organisation von Herrschaft um 500
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Bronzestatue der Kapitolinischen Wölfin, Kapitolinische Museen, Rom © akg / De Agostini Picture Library
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2014 Umschlaggestaltung: r2 Röger & Röttenbacher, Leonberg Druck: Laupp & Göbel GmbH, Nehren Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-10853-9 (Print) ISBN 978-3-515-10854-6 (E-Book)
VORWORT Der 1500. Todestag Chlodwigs I. bot uns im September 2011 eine eher äußerliche, gleichwohl sehr willkommene Gelegenheit, um Wissenschaftler aus der Alten und Mittelalterlichen Geschichte, der Byzantinistik, Archäologie und Kirchengeschichte zusammenzuführen und unter dem Oberthema ‚Organisation von Herrschaft um 500‘ Fragen zu diskutieren, die all jene umtreiben, die sich mit der Übergangsphase von der Spätantike zum Frühmittelalter beschäftigen. Das Tagungshaus der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart in der ehemaligen Benediktinerabtei Weingarten gewährte uns dafür nicht nur eine perfekte Infrastruktur, sondern schuf auch eine angemessene Atmosphäre, um intensive und produktive Diskussionen zu beflügeln. Dass die Tagung in den wunderbaren Räumen des Tagungszentrums stattfinden konnte und keinerlei organisatorische Wünsche offenließ, verdanken wir Dieter Bauer, dem langjährigen Referenten für Geschichte an der Akademie. Dafür, dass der Tagungsband, der neben den in Weingarten gehaltenen Referaten auch einige nachträglich eingeworbene Beiträge enthält, nunmehr vorgelegt werden kann, sind wir mehreren Personen zu großem Dank verpflichtet. An erster Stelle sind hier Andreas Öffner und Peter Zeller zu nennen, die gemeinsam die redaktionelle Bearbeitung und Einrichtung der Texte übernommen haben. An den Korrekturen und der Erstellung der Register haben Uwe Grupp, Johannes Mack, Anna Pytlik und Felix Schäfer mitgewirkt – auch dafür herzlichen Dank! Gerne hätten wir dieses Buch gemeinsam mit unserem Kollegen Sönke Lorenz, dem ehemaligen Landeshistoriker an der Universität Tübingen, vollendet. Er hat das Chlodwig-Projekt von Beginn an mit großer Energie und aufrichtigem Interesse begleitet und die Weingartener Tagung mitorganisiert. Sein viel zu früher Tod im August 2012 hat verhindert, dass er das Ergebnis seiner Bemühungen in Augenschein nehmen kann. Tübingen, im September 2014 Mischa Meier Steffen Patzold
INHALTSVERZEICHNIS VORWORT ...................................................................................................... 5 EINLEITUNG .................................................................................................. 9 I. DER FALL CHLODWIG: DIE JANUSKÖPFIGKEIT DES ÜBERGANGS Chlodwig der Gallier. Zur Strukturgeschichte einer historischen Figur Bernhard Jussen ................................................................................. 27 Chlodwig. Zwischen Biographie und Quellenkritik Matthias Becher ................................................................................. 45 Chlodwig, ein christlicher Herrscher. Ansichten des Bischofs Avitus von Vienne Uta Heil .............................................................................................. 67 II. UNIVERSALE HERRSCHAFT: ANSPRÜCHE UND AUSGESTALTUNGSMÖGLICHKEITEN Zwei Reiche. Prokopios von Gaza und Priscian von Caesarea zu Anastasios Hartmut Leppin .................................................................................. 93 Drinnen und draußen. Die Herrschaft des Kaisers über Konstantinopel und das Reich Rene Pfeilschifter ............................................................................. 111 Nachdenken über ‚Herrschaft‘. Die Bedeutung des Jahres 476 Mischa Meier ................................................................................... 143 Zwischen Byzanz und Ravenna. Das Papsttum an der Wende zum 6. Jahrhundert Hanns Christof Brennecke ............................................................... 217 Der Nika-Aufstand, Senatorenfamilien und Justinians Bauprogramm Wolfram Brandes ............................................................................. 239 III. JENSEITS DES KAISERS (1): NEUE HERRSCHAFTSRÄUME Roms „arabische“ Grenze. Herrschaftsorganisation an der Ostgrenze des Reiches Julia Hoffmann-Salz ......................................................................... 269
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Inhaltsverzeichnis
Odovakar und Theoderich. Herrschaftskonzepte nach dem Ende des Kaisertums im Westen Hans-Ulrich Wiemer ........................................................................ 293 Nordwestgallien um 500. Von der militarisierten spätrömischen Provinzgesellschaft zur erweiterten Militäradministration des merowingischen Königtums Stefan Esders .................................................................................... 339 IV. JENSEITS DES KAISERS (2): NEUE HERRSCHAFTSFORMEN Childerich und Chlodwig. Fränkische Herrschafts- und Gesellschaftsorganisation um 500 Stefanie Dick .................................................................................... 365 The Political Structure of the Burgundian Kingdom Ian Wood .......................................................................................... 383 Handlungsspielräume (ost-)römischer Heermeister um 500 Anne Poguntke ................................................................................. 397 Im Bann der Traditionen. Zur Charakteristik der Lex Salica Karl Ubl ........................................................................................... 423 V. LOKALE EINHEITEN: CIVITATES Die Iberische Halbinsel um 500 – Herrschaft „am Ende der Welt“. Eine Geschichte in neun Städten Sabine Panzram ............................................................................... 449 Der defensor civitatis und die Entstehung des Notabelnregiments in den spätrömischen Städten Sebastian Schmidt-Hofner................................................................ 487 Bischöfe, soziale Herkunft und die Organisation lokaler Herrschaft um 500 Steffen Patzold.................................................................................. 523 From Municipal Councillors to ‘Municipal Landowners’. Some Remarks on the Evolution of the Provincial Elites in Early Byzantium Avshalom Laniado............................................................................ 545 Lokale Herren um 500. Rang und Macht im Spiegel der Bestattungen Sebastian Brather ............................................................................. 567 REGISTER Ortsregister ............................................................................................... 611 Personenregister ....................................................................................... 615
EINLEITUNG CHLODWIGS WELT: ORGANISATION VON HERRSCHAFT UM 500 Mischa Meier und Steffen Patzold In Tübingen werden die mündlichen Prüfungen für das Staatsexamen im Fach Geschichte in den älteren Epochen von zwei Kollegen gemeinsam abgenommen. Oft genug sitzen dann die beiden Herausgeber dieses Bandes – ein Althistoriker und ein Mediävist – in einem der nüchternen Büroräume des Tübinger „Hegelbaus“ und befragen einen Kandidaten zu Themen erst der Alten, danach der Mittelalterlichen Geschichte. Da kann es nun vorkommen, dass der Althistoriker Fragen zu Kaiser Anastasios oder Justinian stellt, der Mediävist dagegen zur „Völkerwanderung“ oder zu Chlodwig I. Und mit etwas Glück begegnen sich die beiden Epochen sogar in einer einzigen Frage – etwa zu jenem merkwürdigen Akt Chlodwigs I. in Tours im Jahre 508, der der Forschung bis heute Rätsel aufgibt: Verlieh Anastasios damals dem Frankenkönig das Ehrenkonsulat? Erhielt Chlodwig von dem Kaiser die Patriciuswürde? Beobachten wir eine Königskrönung, wie Ralph Mathisen vorgeschlagen hat? Oder wurde Chlodwig gar, wie kein Geringerer als Bruno Krusch einst vermutete, zum Kaiser für den Westen des Imperium Romanum erhoben?1 Wenn ein Staatsexamenskandidat Pech hat, verfällt einer der beiden Prüfer auf die Frage: Warum denn die Zeit des Anastasios ein Thema der Alten Geschichte sei, die Zeit Chlodwigs dagegen ein Thema der Mittelalterlichen Geschichte? Eine seriöse Antwort darauf gibt es nicht. Die Großepochen der „Alten“ und der „Mittelalterlichen“ Geschichte sind bekanntlich ein sonderbarer Atavismus der Universitätsstruktur wie auch des Curriculums im Fach Geschichte. Etwas zugespitzt könnte man formulieren: Dass wir noch immer im Staatsexamen Prüfungsgebiete zur „Antike“ und zum „Mittelalter“ unterscheiden, hat keine wissenschaftliche Basis; es ist eine der Spätfolgen des Unbehagens, das Humanisten beim Umgang mit dem Latein ihrer Gegenwart und jüngeren Vergangenheit empfanden. Die Unterscheidung einer dunklen Zwischenzeit, eines medium aevum, einerseits von der Glanzzeit der Antike und andererseits von der eigenen Gegenwart: diese Unterscheidung wurde Jahrhunderte vor der Verwissenschaftlichung 1
Vgl. Ralph W. Mathisen, Clovis, Anastasius, and Political Status in 508 CE: The Frankish Aftermath of the Battle of Vouillé, in: Ralph Mathisen/Danuta Shanzer (Hrsgg.), Vouillé, 507 CE: Where France Began. Berlin/New York 2012, 79–110; Bruno Krusch, Die erste deutsche Kaiserkrönung in Tours, Weihnachten 508. (Sitzungsberichte der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse 1933/9.) Berlin 1933.
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des Fachs Geschichte eingeführt; und doch strukturiert sie, längst schon versteinert, noch immer historische Fachbereiche und Curricula, und sie beeinflusst bis heute auch spürbar die Forschung. Althistoriker und Mediävisten bibliographieren in je eigenen Werken, nutzen je eigene Handbücher und Lexika, zitieren je eigene Referenzwerke, veröffentlichen ihre Arbeiten in je eigenen Publikationsreihen und Zeitschriften, veranstalten ihre je eigenen Tagungen. Selbstverständlich gibt es bei alledem immer auch akademischen Austausch, Kontakt und Kommunikation über die Epochenschwelle hinweg; und spätestens seit den 1990er Jahren hat sich ein eigener Forschungszusammenhang zu institutionalisieren begonnen, der die Geschichte des 3. bis 8. Jahrhunderts, vielleicht sogar bis zur Jahrtausendwende fokussiert.2 Dennoch wird man sagen dürfen: Die ehrwürdige Scheidung von Alter Geschichte und Mediävistik als Teilfächern der Geschichtswissenschaft hat noch immer massive Auswirkungen auch auf die Forschungspraxis zum ersten nachchristlichen Millennium. Augenfällig werden die Unterschiede nicht zuletzt bei dem Thema, dem sich dieser Band widmet: Die Welt Chlodwigs I. haben Althistoriker und Mediävisten gewissermaßen epochal gespalten. Mit Chlodwig als Person beschäftigen sich ganz überwiegend Mediävisten; Chlodwigs Zeitgenossen in Konstantinopel stoßen dagegen fast ausschließlich in der Alten Geschichte auf Interesse. Aber damit nicht genug: Auch die Grundannahmen und Konzepte der Forschung in den beiden Teilfächern unterscheiden sich immer noch deutlich genug – bis hinein in die wissenschaftliche Beschreibungssprache. Wo der Althistoriker von „Armeen“, „Truppen“, „Heeren“, von „Generälen“ und „Soldaten“ spricht, redet der Mediävist von „Kriegern“, „warbands“ und deren „Anführern“; wo der Althistoriker von „Steuern“ handelt, diskutiert der Mediävist die „Abgaben“; wo der Althistoriker eine „Klientel“ sieht, entdeckt der Mediävist eine „Gefolgschaft“; wo der Althistoriker „Aristokratie“ und „Eliten“ untersucht, erforscht der Mediävist „Adel“ und „Große“; wo der Althistoriker „Sklaven“ beobachtet, kennt der Mediävist „Unfreie“; wo der Althistoriker von „Regierung“ und „Staat“ schreibt, fließt dem Mediävisten das Wort „Herrschaft“ in die Feder. (Und die Liste ließe sich noch lange fortschreiben.) Die Unterschiede verweisen auf die je eigenen Fachdiskurse der Alten Geschichte und der Mediävistik. Deren Distanz war spätestens in den 1930er Jahren gerade in Deutschland dramatisch angewachsen: Zumal die germanophone Mediävistik nämlich neigte damals massiv dazu, alle Analysekategorien und Begriffe der modernen Sozialwissenschaften als unangemessen für die Erfassung der fremden, mittelalterlichen Welt zu betrachten; und sie versuchte, stattdessen eigene Begriffe zu entwickeln. Diese mediävistischen Begriffe sind heute zwar zu einem Gutteil zu bloßen Worthülsen verkommen, sie bevölkern aber immer noch mediävistische Texte. In der Alten Geschichte hat ein vergleichbarer Paradigmenwechsel in Abkehr von Kategorien und Begriffen der modernen Sozialwissenschaften niemals in gleicher Tiefe stattgefunden. Beispielhaft deutlich wird das 2
Vgl. zu diesem Diskussionskomplex zuletzt Garth Fowden, Before and after Muhammad. The First Millennium Refocused. Princeton 2014.
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etwa am Umgang mit der Herrschaftssoziologie Max Webers: Einflussreiche Mediävisten wie Otto Brunner haben Webers Begriffe seit den 1930er Jahren ausdrücklich als ungeeignet für ihre Untersuchungen zur mittelalterlichen Geschichte zurückgewiesen3. In der Alten Geschichte dagegen ist Webers Soziologie stets ein attraktives Angebot für scharfe analytische Begriffe geblieben.4 So ist Chlodwigs Welt gleich in doppelter Hinsicht ein Grenzfall: Sie liegt auf der Grenze zwischen zwei Teilfächern der Geschichtswissenschaft – und eben deshalb zugleich auch auf der Grenze zwischen zwei differierenden Forschungstraditionen. Auf der Tagung in Weingarten, die diesem Band zugrunde liegt, haben Althistoriker und Mediävisten gemeinsam auf Chlodwigs Welt geblickt; und sie haben gemeinsam danach gefragt, wie in den Jahrzehnten um 500 in einer sich dramatisch wandelnden Welt Herrschaft in unterschiedlichen Räumen und auf unterschiedlichen Ebenen organisiert werden konnte – von Gewalten mit universalem Herrschaftsanspruch bis hinab zu lokalen Eliten. Angesichts der differierenden Forschungstraditionen war der Herrschaftsbegriff dabei zunächst bewusst sehr offen, ja unterdefiniert gehalten: Weder wollten wir den Herrschaftsbegriff der Weberschen Soziologie zugrunde legen noch jenen, den Otto Brunner, Walter Schlesinger und andere Protagonisten der sogenannten „Neuen Verfassungsgeschichte“ seit den 1930er Jahren in die deutsche Mediävistik eingeführt haben.5 Unser Interesse galt zuvorderst der politischen Praxis: Wie konnten um die Wende zum 6. Jahrhundert Akteure in den verschiedenen Räumen und auf verschiedenen Ebenen Entscheidungen herbeiführen, legitimieren, verbindlich machen, umsetzen? Dabei waren wir aber zugleich darum bemüht, immer auch diejenigen Faktoren zu identifizieren, die diese politische Praxis (und ihren Wandel) in den Jahrzehnten um 500 besonders kraftvoll beeinflussten.
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Fundamental: Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Österreichs im Mittelalter. Darmstadt 1973 (= Neudruck der 5. Auflage, Wien 1965, zuerst 1939; die Ausgaben der Nachkriegszeit sind deutlich gegenüber den Ausgaben von 1939 und 1941 verändert). Vgl. Wilfried Nippel, Vom Nutzen und Nachteil Max Webers für die Althistorie, in: Antike und Abendland 40, 1994, 169–180. Vgl. Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. Tübingen 5. Aufl. 1972, ND 1980, 28. Otto Brunner, Moderner Verfassungsbegriff und mittelalterliche Verfassungsgeschichte, in: Hellmut Kämpf (Hrsg.), Herrschaft und Staat im Mittelalter. (Wege der Forschung 2.) Darmstadt 1960, 1–19 [zuerst 1939]; ders., Bemerkungen zu den Begriffen „Herrschaft“ und „Legitimität“, in: Karl Oettinger/Mohammed Rassem (Hrsgg.), Festschrift für Hans Sedlmayr. München 1962, 116–133; Walter Schlesinger, Die Entstehung der Landesherrschaft. Untersuchung vorwiegend nach mitteldeutschen Quellen. (Sächsische Forschungen zur Geschichte 1.) Dresden 1941.
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1. CHLODWIGS PERSON: ANNÄHERUNGEN ZWISCHEN BIOGRAPHIE UND STRUKTURGESCHICHTE Ihren Ausgang nehmen die folgenden Analysen in der Person Chlodwigs. An diesem Frankenkönig und Militärführer im nördlichen Gallien lässt sich die Doppelgesichtigkeit politischer Herrschaft in einer Transformationszeit exemplarisch beobachten. Am Anfang des Bandes stehen deshalb drei Beiträge zu Chlodwig, die sich konzeptionell gegenseitig ergänzen: Auf Wunsch der Herausgeber hat Matthias Becher konsequent eine biographisch-ereignisgeschichtliche Perspektive eingenommen, Bernhard Jussen dagegen nicht minder konsequent eine strukturgeschichtliche; Uta Heil ergänzt dies um die Sichtweise einer Kirchenhistorikerin. Matthias Becher zeigt in seinem Beitrag, wie unsicher und strittig die gesamte Chronologie der Herrschaftszeit Chlodwigs ist – plädiert aber doch mit guten Gründen dafür, das Datengerüst (nicht dagegen den narrativen Plot und die Tendenz) im Bericht Gregors von Tours ernst zu nehmen. Wer dies akzeptiert, muss von einer frühen Taufe Chlodwigs um die Mitte der 490er Jahre ausgehen, nicht erst gegen Ende seiner Regierungszeit, irgendwann im Umfeld der Schlacht von Vouillé 507. Die Frage der Religion gewinnt damit für die Analyse von Chlodwigs Herrschaft an Gewicht: Die Konfession machte Chlodwig und seine Franken zu einem Sonderfall in der Welt der „Barbarenkönige“ um 500, deren Konkurrenz untereinander die politische Praxis wesentlich mitbeeinflusste. Für Chlodwigs Erfolge spielen im Einzelnen aus Bechers biographisch-ereignisgeschichtlicher Perspektive Entscheidungen des Königs eine Rolle, die jeweils stark von der sich kurzfristig wandelnden Macht- und Bündniskonstellation im Westen des Imperium Romanum abhängen. Die Grundlage für die wissenschaftliche Rekonstruktion der Entscheidungen und Erfolge Chlodwigs kann jedoch nicht mehr die späte und tendenziöse Erzählung Gregors von Tours sein, sondern die Beobachtung zeitlicher Koinzidenzen durch den Historiker auf der Basis möglichst zeitnaher Berichte und Dokumente. Aus jener strukturgeschichtlichen Perspektive, die Bernhard Jussen für seinen Beitrag eingenommen hat, ist dagegen die Religion für Chlodwigs Erfolg überhaupt kein bedeutsamer Faktor. Wichtiger erscheint Jussen der Umstand, dass in Gallien um 500 bereits eine post-imperiale Gesellschaft lebte, aus der sich die Kaiser schon seit einem guten Jahrhundert verabschiedet hatten. Römische Begriffe und Redeweisen waren zwar noch immer im Gebrauch, tatsächlich aber hatten sich längst neue Praktiken etabliert. Chlodwig und seine Franken hatten in dieser neuen Welt als „Gallier mit fernem Migrationshintergrund“ andere Chancen als die Eroberungsgesellschaften der Burgunder oder Goten. Nicht der konfessionelle Unterschied, sehr wohl aber die je eigenen Startvoraussetzungen erklären letztlich den so verschiedenen Erfolg der Regionalherrschaften, die Chlodwig und seine Konkurrenten in Gallien um 500 etabliert haben. Hierin gewinnt das, was Uta Heil kirchenhistorisch am berühmten Brief des Bischofs Avitus von Vienne an Chlodwig beobachtet hat, seinen weiteren Kontext. Uta Heil macht darauf aufmerksam, wie stark sich Avitus für sein Schreiben am Vorbild des Ambrosius und seiner Kommunikation mit Kaiser Theodosius I.
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orientiert hat. Das Ordnungsmuster, mit dem Avitus also Chlodwigs religionspolitische Entscheidung und Taufe zu erfassen suchte, war noch ganz dem imperialen Rahmen des Römischen Reiches verpflichtet: Ein katholischer Barbarenkönig war in diesen Rahmen tatsächlich schwer einzuordnen; als Modell verfügbar war allein die Herrschaft eines christlichen Kaisers. So könnte die historische Wirksamkeit der Taufe Chlodwigs vielleicht nicht zuletzt auch darin bestehen, dass sie die Grenzen der tradierten Ordnungsmuster in einer sich radikal transformierenden Gesellschaft sichtbar machte und sprengte: Denn Chlodwig war eben nicht Theodosius, seine Herrschaft keineswegs diejenige eines römischen Kaisers. So lässt sich vom Fallbeispiel Chlodwigs her die Frage nach der Organisation von Herrschaft um die Wende zum 6. Jahrhundert auf mindestens drei Ebenen näher entfalten: Der Wandel betrifft (1) die Ebene universaler Herrschaft, zumal des Kaisertums, das als eigene Institution im Westen des Imperium Romanum mit dem Jahr 476 ein Ende nahm, in manchen Regionen des Reiches aber wohl auch schon früher in der politischen Praxis kaum noch präsent war. Der Wandel betrifft (2) die neuen Formen von Herrschaft in jenen Gebilden, die Historiker früher als „germanische Nachfolgereiche auf dem Boden des Imperium“ bezeichnet hätten: Nach dem Ende des Paradigmas „germanischer Kontinuität“ bleibt neu und differenzierter zu beschreiben, wie in der post-imperialen Welt des Westens, aber auch im fortdauernden Imperium des Ostens Herrschaft auf regionaler Ebene organisiert wurde. Unter dem Namen eines rex, eines magister militum, eines patricius etablierten hier Militärführer eigene (und wohl auch durchaus variante) Herrschaftsformen. Und schließlich betrifft der Wandel (3) auch die lokale Ebene, die civitates und pagi des sich transformierenden Imperium Romanum: Hier sind das Notabelnregiment, das Amt des defensor civitatis, die neue Rolle der Bischöfe in den Blick zu nehmen. Die Veränderungen auf diesen drei Ebenen sind auf der Tagung in Weingarten thematisiert worden und werden auch in den Beiträgen dieses Bandes diskutiert. Auf dieser Basis beruht die folgende Zusammenschau, die jeweils die Janusköpfigkeit der Situation um 500 im Blick zu behalten sucht. 2. TRANSFORMATIONEN UNIVERSALER GEWALTEN: KAISERTUM UND PAPSTTUM UM 500 Weitreichende Konsequenzen dürfte zunächst das Ende des Kaisertums im Westen gehabt haben: Vielleicht markierte seine Abschaffung sogar die bedeutendste Zäsur jener Dekaden um 500. Auch wenn in jüngerer Literatur wiederholt versucht wurde, die Bedeutung des Jahres 476 zu relativieren – etwa indem man auf die Perspektive der meisten Zeitgenossen verwies, für die sich zunächst einmal im Alltag nur wenig geändert haben dürfte –, so zwang die Absetzung des letzten römischen Kaisers im Westen, die symbolträchtig durch die Übersendung seiner Herrschaftsinsignien (ornamenta palatii) nach Konstantinopel vermittelt und damit als Akt von besonderer Bedeutung jenseits der wiederholten Interregna vergangener Jahrzehnte markiert wurde, letztlich doch alle politisch relevanten Ak-
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teure, ihr Handeln den gewandelten Rahmenbedingungen anzupassen. Nicht zuletzt daraus resultierte vielfach die Erfordernis, Herrschaft neu zu konzeptualisieren bzw. zumindest situativ je neu auszugestalten – und zwar einerseits über veränderte Räume und andererseits in veränderten Formen. Tatsächlich waren die Jahre um 500 im lateinischen Westen von dramatischen Entwicklungen gekennzeichnet, in denen sich – soweit nicht ohnehin bereits geschehen – neue Herrschaftsräume etablierten und Formationen entstanden, die allmählich die politische Gliederung der mittelalterlichen Latinitas erkennen ließen. Ganz unmittelbar betrafen die Umwälzungen zunächst einmal Italien, wo sich mit Odoaker/Odovakar erstmals ein rex etablierte, der seine Position in demselben Maße auf eine sich ethnischen Zuweisungen entziehende Streitmacht gründete, wie er andererseits von dieser auch existenziell abhängig war. Ohne die ethnische Karte für die Festigung seiner fragilen Herrschaft ausspielen zu können, musste Odoaker darum bemüht bleiben, die weiterhin politisch einflussreichen römisch-italischen Senatoren an sich zu binden. Hans-Ulrich Wiemer interpretiert die Vergabe hoher ziviler Ämter an Senatoren sowie den demonstrativen Respekt gegenüber ihrer traditionsreichen Vergangenheit und gegenüber der Stadt Rom (als Ort ihres Wirkens) insbesondere vor diesem Hintergrund, betont aber zugleich auch die anhaltende Unsicherheit der Stellung Odoakers. Das Experiment einer Ablösung des für das 5. Jahrhundert charakteristischen Modells einer ‚Doppelherrschaft‘, die ein tatkräftiger Heermeister in Verbindung mit einem weitgehend machtlosen Kaiser ausübte,6 durch einen einzelnen rex scheiterte jedenfalls – nicht etwa deshalb, weil dieser als Barbar keine Akzeptanz innerhalb seines Herrschaftsraumes gefunden hätte (hier spricht das Verhalten der Senatoren eine deutliche Sprache), sondern weil der oströmische Kaiser dem Herrscher über Italien die Stellung eines magister militum und den patricius-Titel versagte, weil dessen Position somit in der Schwebe verblieb und auch keine Verfestigung unter der Soldatengemeinschaft durch etwaige zusätzliche Landgewinne erfuhr. Obgleich sie mehr als anderthalb Jahrzehnte andauerte, blieb Odoakers Herrschaft insofern doch nicht mehr als eine Episode, ganz anders als jene seines Nachfolgers Theoderich. Da dieser im Auftrag des Kaisers nach Italien gezogen war, vermochte er aus einer institutionell weitaus gefestigteren Position zu agieren, unabhängig von der wiederholt traktierten Frage nach seiner konkreten ‚Rechtsstellung‘. Theoderich stützte sich aber nicht nur auf das Mandat des Kaisers, sondern auf eine eng mit seiner Person verbundene Kriegergemeinschaft, die ihm bereits seit Jahrzehnten folgte und eine ganz andere Homogenität vermittelte als die Anhänger Odoakers. Auf dieser Grundlage vermochte Theoderich sein Heer als ‚gotisch‘ zu definieren und den ‚Römern‘ in seinem Machtbereich entgegenzustellen. Die strikte Aufgabentrennung zwischen dem ‚gotischen‘ Militär und der ‚römischen‘ Zivilverwaltung wurde so zum Signum des italischen Ostgotenreiches, auch wenn dieses – zunächst – zahlreiche Strukturelemente der Odoaker-Zeit übernahm, wie z.B. die ehrenvolle Behandlung der Senatoren und die Nichteinmischung des 6
Vgl. Meaghan McEvoy, Child Emperor Rule in the Late Roman West, AD 367–455. Oxford 2013.
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Herrschers in kirchliche Belange. Besondere Bedeutung kam indes der Anerkennung der herrscherlichen Position Theoderichs durch Anastasios im Jahr 497 zu – nunmehr versinnbildlicht durch die Rücksendung der ornamenta palatii nach Italien. Trotz zwischenzeitlicher militärischer Konfrontationen wurde dadurch die Grundlage für die berühmte Formel von den beiden römischen Gemeinwesen (inter utrasque res publicas) gelegt,7 „ein sprachlicher Kunstgriff, der es ermöglichen sollte, die faktische Trennung mit dem Gedanken der Einheit zu vereinbaren“ (H.-U. Wiemer), der aber ebenso für den Sachverhalt steht, dass zumindest in Italien und den zugehörigen Gebieten des Ostgotenreiches gegen Ende des 5. Jahrhunderts Wege gefunden worden waren, um auch unter den seit 476 neu geschaffenen Rahmenbedingungen Herrschaft auszuüben und zu vermitteln. Die übrigen Regionen des lateinischen Westens waren von der Absetzung des letzten weströmischen Kaisers in unterschiedlichem Maße betroffen. Da die Vandalen in Nordafrika bereits einen vom Imperium Romanum weitgehend unabhängigen Herrschaftsbereich errichtet hatten, wirkte sich der Verlust des Kaisertums auf sie allenfalls mittelbar aus. Grundlegend neue Überlegungen zur Ausübung von Herrschaft erforderte daher erst die Zerschlagung des Vandalenreiches im Jahr 533/34 durch ein oströmisches Interventionsheer, und die im Gefolge dieser Ereignisse ausbrechenden langjährigen Turbulenzen und Unsicherheiten verdeutlichen vor allem die Schwierigkeiten für die oströmische Administration, in den lateinischen Provinzen Afrikas das der Bevölkerung fremdartige oströmische Regiment, inklusive der zugehörigen Kirchenpolitik, einzuführen.8 Die Iberische Halbinsel schied in den 470er Jahren, also nahezu zeitgleich mit dem Ende des westlichen Kaisertums, faktisch aus dem Reichsverband aus. Dieser Prozess lässt sich, wie Sabine Panzram darlegt, insbesondere an den Städten nachvollziehen, die weiterhin das ökonomische und ideelle Rückgrat der Region bildeten. Panzram sieht die politischen Unsicherheiten der mit Eurichs (466–484) Herrschaft anbrechenden Jahrzehnte in der Aufgabe traditioneller Repräsentationsmuster der städtischen Eliten gespiegelt. Nach der faktischen Machtübernahme der Westgoten habe das verlorene Kaisertum nur noch als symbolischer Bezugspunkt für die Reichseinheit fungieren können. „Längst war die Iberische Halbinsel zu einem ‚gewaltoffenen Raum‘ geworden“. Eurichs Versuch, Herrschaft dadurch zu organisieren, dass den städtischen Eliten unter gotischen duces weitgehend ihre Handlungsspielräume belassen worden seien, sei bereits im Ansatz zum Scheitern verurteilt gewesen, weil Kontexte und Bezugspunkte politischen Handelns nicht klar genug bestimmt gewesen seien. Erst das Regiment Leovigilds (569–586), der sich die Eliten gewaltsam gefügig machte und seine Repräsentation am Modell des oströmischen Kaisers ausrichtete (Städtegründungen, Münzprägung, Hofzeremoniell), habe zukunftsfähige Rahmenbedingungen etabliert, die seit der Konversion Rekkareds (586–601) zum Katholizismus im Jahr 589 weitere Perspekti7 8
Cass. var. 1,1. Vgl. Konrad Vössing, Africa zwischen Vandalen, Mauren und Byzantinern (533–548 n. Chr.), in: Volker Henning Drecoll/Mischa Meier (Hrsgg.), Das ‚Breviarium‘ des Liberatus von Karthago. Berlin/New York 2010 (= ZAC 14/1 [2010]), 196–225.
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ven geboten hätten. Freilich hatten sich zu diesem Zeitpunkt bereits die Bischöfe als zentrale Instanzen in den Städten und wichtige Faktoren in der Administration des Reiches etabliert. Einen besonders interessanten Sonderfall stellt die Ausbreitung der fränkischen Herrschaft im nordöstlichen Gallien dar, die Stefan Esders nahezu ohne Rückgriff auf Gregor von Tours und die von ihm vorgegebene Meistererzählung nachvollzieht. Für Esders stellt Chlodwig nicht zuletzt das Produkt einer strukturell bedingten, seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert zunehmenden Militarisierung Galliens dar. Weniger durch Eroberung und Unterwerfung als durch Vertragsabschlüsse unter Gewährung weitreichender Autonomie habe Chlodwig die noch verbliebenen römischen bzw. poströmischen militärischen Formationen an sich gebunden, dadurch „unter die Kontrolle einer militärisch konstituierten Monarchie“ gebracht und ehemals römischen Streitkräften insofern die Möglichkeit verschafft, auch unter fränkischer Herrschaft weiterhin als römisches Militär zu agieren, was insbesondere in der Auseinandersetzung mit den Westgoten entscheidende Vorteile erbracht habe. Der besondere Vorteil des von Esders präsentierten Modells der Entstehung fränkischer Herrschaft in Gallien beruht gerade in der Fokussierung auf die militärischen Grundlagen. Denn nicht die römischen Provinzgrenzen, ja nicht einmal die römischen civitates bildeten demzufolge den Ausgangspunkt der Machtbildung Chlodwigs, sondern die jeweils vor Ort befindlichen militärischen Formationen – wie auch immer sie im Einzelnen geartet waren – und ihre lokale Einbindung. Unter der Führung von comites, die im Auftrag des Königs agierten, wurden pagi von den civitates getrennt und zu eigenständigen Organisationseinheiten aufgewertet (was sich u.a. in einer Vervielfachung der Münzprägestätten spiegelt), das Verhältnis von Stadt und Umland damit neu geordnet und auf veränderte Grundlagen gestellt, ein von den alten Strukturen weitgehend entkoppelter neuer Herrschaftsraum geschaffen. „Erfolg und Dauerhaftigkeit der fränkischen Inbesitznahme einstiger gallischer und germanischer Provinzen erklären sich somit gerade nicht aus der bruchlosen Fortführung der spätrömischen Provinzverwaltung, sondern eher aus der Integration darunter befindlicher lokaler spätrömischer Strukturen, die man vielleicht am besten als ‚Substrukturen‘ bezeichnen kann, in eine sich neu ausdifferenzierende politische Raumordnung“. Vielleicht lag demgegenüber eine der Ursachen für die mangelnde Behauptungsfähigkeit des Burgunderreiches in dem Umstand, dass deren Herrscher sich vor allem an römische Makrostrukturen (magisterium militum, vgl. den Beitrag von Ian Wood) anlehnten, ohne ihre Position lokal und regional hinreichend zu verankern. Es wäre indes verfehlt anzunehmen, der Zwang zur Neukonstituierung von Herrschaftsräumen und -formen seit ca. 476 habe lediglich den lateinischsprachigen Westen erfasst. Mischa Meier vertritt in seinem Beitrag die These, dass gerade auch der Osten von der Schockwelle der Ereignisse in Ravenna getroffen worden sei, und dies mit gravierenden Folgen: Nicht zuletzt die Institution des Kaisertums sei nunmehr auch am Bosporus radikal infrage gestellt worden. Personengruppen, denen bis dahin ein Zugang zum Kaiserthron verwehrt war, konnten jetzt, so Meier, plötzlich auf Herrschaft spekulieren; die Folge war ein intensivier-
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tes Ringen aller mit allen um die höchste Stellung im Oströmischen Reich und eine damit einhergehende Schwächung des Kaisertums insgesamt, die sich auf der Ebene der Ereignisgeschichte in den politischen Verwerfungen der letzten Jahrzehnte des 5. Jahrhunderts, auf der strukturellen Ebene u.a. in der temporären Unfähigkeit der Kaiser, Dynastien zu etablieren, sowie in der neuartigen Möglichkeit, Alternativen zum Kaisertum zu reflektieren, manifestiert. Erst den Kaisern der Jahrzehnte seit 500 – Anastasios, Justin I. und Justinian – gelang es, dieser gefährlichen Entwicklung wirksam entgegenzutreten, freilich um den Preis einer nochmaligen Autokratisierung der Herrschaft, die sich in einem nachdrücklichen Sakralisierungsschub des Kaiser(tum)s spiegelt. Dass im Kontext dieses Prozesses auch die Beziehungen zu den Nachbarn neu zu ordnen waren, liegt auf der Hand. Julia Hoffmann-Salz zeichnet exemplarisch die Entwicklung des Verhältnisses Ostroms zu den Arabern nach, die nicht nur vielfach unbequeme Verbände an der schwer kontrollierbaren Südostflanke des Römischen Reiches konstituierten, sondern zugleich auch von den Großmächten Rom und Persien als willkommene Alliierte eingesetzt wurden. Freilich traten die Araber – anders als vielfach zu lesen ist – in der Spätantike nicht an die Stelle eines geregelten römischen Grenzschutzes, sondern ergänzten diesen um ein komplementäres Element, mit dessen Hilfe die Perser durch wiederholte Attacken in Schach gehalten werden sollten. Anastasios und Justinian stellten die entsprechenden Bündnisse auf eine neue Basis. Sie konsolidierten damit nicht nur den Grenzschutz, sondern stärkten zugleich auch die Position ihrer Ansprechpartner unter den Arabern und wirkten damit auf gesellschaftliche Formierungsprozesse jenseits des Imperium ein, deren Dynamik sich spätestens ab den 630er Jahren als nicht mehr kontrollierbar erweisen sollte. So unabhängig die Beispiele Italien, Nordgallien sowie der arabische Raum auf den ersten Blick voneinander wirken mögen: Sie demonstrieren exemplarisch das weite Spektrum von Möglichkeiten, nach der Absetzung des Romulus Augustulus neue Herrschaftsräume jenseits der vom traditionellen Kaisertum noch kontrollierten Gebiete auszugestalten, und stehen damit zugleich auch für alternative Herrschaftskonzepte in den Jahren um 500. Freilich vermochte sich zumindest im Osten das Kaisertum letztendlich zu behaupten – wenngleich unter erheblichen Kosten, die einen wichtigen Faktor im Transformationsprozess vom Oströmischen zum Byzantinischen Reich konstituierten (u.a. die bereits erwähnte Sakralisierung). In den Jahren um 500 zeichnet sich das oströmische Kaisertum durch seine strikte Anbindung an die Hauptstadt Konstantinopel aus. Wie Rene Pfeilschifter ausführt, lässt es sich in den beiden Jahrhunderten zwischen ca. 400 und 600 am präzisesten in den Kategorien eines Akzeptanzsystems erfassen, bei dem die Bevölkerung der Kapitale die wichtigste Akzeptanzgruppe darstellt. Pfeilschifter verfolgt in seinem Beitrag die Frage, wie „die gegenüber der Stadt Rom weit stärkere, fast ausschließliche Konzentration der soziopolitischen Ordnung auf Konstantinopel“ zu erklären sei und welche Konsequenzen sie für den Rest des Reiches außerhalb der gewaltigen Stadtmauern, denen er eine besondere militärische und symbolische Bedeutung zumisst, zeitigte. Die von ihm diskutierten Fallbeispiele (Basiliskos [475/76] und der
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Usurpator Leontios [484–488]) verweisen darauf, dass Stabilität von Herrschaft im Oströmischen Reich des ausgehenden 5. Jahrhunderts tatsächlich in erster Linie an der Gunst der hauptstädtischen Bevölkerung hing und dass Machtbildungen außerhalb Konstantinopels kaum Chancen auf längerfristigen Erfolg besaßen. „Die Peripherie“, so Pfeilschifter, „konnte nicht entscheidend auf die Ereignisse in Konstantinopel einwirken, und die Belange des Reiches hatten hinter denen der Herrschaft zurückzustehen“. So konstituierte sich um 500 selbst die von universalen Ansprüchen getragene römische Kaiserherrschaft zunächst einmal über ihre Ausgestaltung innerhalb eines sehr begrenzten, spezifischen Raumes: der Hauptstadt Konstantinopel, die eine scharfe Trennung zwischen ‚drinnen‘ und ‚draußen‘ vorgegeben habe – so sehr, dass das Reich den Menschen jenseits der Kapitale vielfach „gleichgültig“ geworden sei. Pfeilschifters pointiert zugespitzte These ließe sich nur über eine sorgfältige Bestandsaufnahme eines möglichen ‚Reichsbewusstseins‘ in den vom Kaiser beherrschten Räumen jenseits der Hauptstadt überprüfen; derartige Arbeiten liegen bislang indes noch nicht vor. Allerdings rückt Hartmut Leppin in seiner Analyse der beiden erhaltenen Panegyrici auf Kaiser Anastasios (Prokopios von Gaza, Priscian von Caesarea) gerade den Vergleich der hauptstädtischen Perspektive (Priscian) und der Sichtweise aus der Provinz (Prokopios) in den Vordergrund – mit aufschlussreichen Ergebnissen: So zeigen sich vor allem im Umgang mit dem Christentum deutliche Differenzen, die sich plausibel mit den unterschiedlichen Standorten der Verfasser begründen lassen. Prokops Panegyricus bewegt sich ganz in klassisch-traditionellen Bahnen und vermag den Kaiser ohne den Rekurs auf christliche Elemente zu beschreiben und zu überhöhen; dies lässt sich kaum auf etwaige religiöse Haltungen des Autors zurückführen, der u.a. auch als umsichtiger Bibelkommentator hervorgetreten ist, sondern verweist Leppin zufolge eher auf dessen Freiheiten, zwischen christlichen und nicht-christlichen Diskursen je nach Kontext zu wechseln. „Es wird letztlich eine neutrale Welt beschworen, bei der religiöse Fragen, die Prokopios ausblendet, dem Anschein nach keine Differenzen auslösten, das Christentum vielmehr einen inklusiven Charakter hat, indem es ältere Traditionen in den verschiedenen Bedeutungen des Wortes aufhob“. Priscian, der in unmittelbarer Nähe des Kaisers, in Konstantinopel, wirkte, besaß entsprechende Freiräume offenbar nicht und zeichnet den Herrscher folgerichtig in weitaus stärkerem Maße mit Hilfe religiöser Beschreibungsmuster, unter Rekurs auf ein „triumphierendes Christentum“, das insofern „weitaus weniger inklusiv“ erscheint als bei Prokopios von Gaza.9 Einen Einblick in die Praxis oströmischer Kaiserherrschaft im frühen 6. Jahrhundert – jenseits aller panegyrischen Überhöhungen – gibt Wolfram Brandes am Beispiel Justinians: Brandes diskutiert erstmals die eigentlich naheliegende Frage, wie dieser Kaiser sein gewaltiges Bauprogramm – für das exemplarisch die Hagia Sophia im Mittelpunkt des Beitrages steht –, daneben aber auch andere kostspieli9
Unter Justinian gingen Gestaltungsspielräume, wie sie Prokop von Gaza unter Anastasios offenkundig noch besaß, so Leppin, verloren. Dazu s. jetzt auch Peter N. Bell, Social Conflict in the Age of Justinian: Its Nature, Management, and Mediation. Oxford/New York 2013.
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ge Aufwendungen für Kriege oder auch Katastrophenhilfe, Stadtgründungen usw. finanziert hat. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die Verwüstungen in Konstantinopel nach dem Ende des Nika-Aufstandes im Jahr 532, als deren Folge keineswegs nur die Hagia Sophia ganz neu geschaffen wurde. „In sehr wenigen Jahren wurden Gebäude erneuert oder umgebaut, für deren Errichtung man Jahrhunderte gebraucht hatte“. Brandes kann anhand einer Analyse der finanzpolitischen Maßnahmen Justinians (bzw. des Prätoriumspräfekten Johannes des Kappadokers) wahrscheinlich machen, dass der Kaiser den Nika-Aufstand gezielt dafür genutzt hat, um wohlhabende senatorische Familien zu enteignen und die Verfügungsgewalt über ihre gewaltigen Vermögen zu gewinnen. Da entsprechende Maßnahmen offenbar schon vor dem Beginn des Nika-Aufstandes eingeleitet wurden, fällt somit auch neues Licht auf dessen Urheberschaft und Entstehung, die in den letzten Jahren verstärkt diskutiert worden sind.10 Als einzige Instanz neben dem Kaisertum, das universalen Geltungsrang beanspruchen durfte, erscheint um 500 das Papsttum, dem Hanns Christof Brennecke eine Studie gewidmet hat. Brennecke mahnt jedoch zur Vorsicht und möchte für die Zeit Chlodwigs nur eingeschränkt von einem ‚Papsttum‘ sprechen – jedenfalls wenn man diesem Begriff die mittelalterliche Vorstellung bzw. die Definition im heutigen Codex Iuris Canonici zugrundelege. Für die ‚arianischen‘ Herrscher in den sogenannten Nachfolgereichen spielte der Bischof von Rom jedenfalls kaum eine Rolle (was sich u.a. im Fehlen entsprechender Schreiben in der päpstlichen Korrespondenz manifestiert); nicht einmal die ‚Bekehrung‘ Chlodwigs habe dem Papst größeren Einfluss in dessen Herrschaftsbereich einbringen können, denn Chlodwig habe das Christentum „nicht in seiner römischen Form angenommen, sondern in der seit Kaiser Theodosius für das Imperium Romanum verbindlichen Form der nizänischen Orthodoxie, die eben auch von der römischen Kirche (d.h. der Kirche der Stadt Rom!) vertreten wurde.“ Auch die sog. Zweigewaltenlehre des Gelasius, die in ihrer mittelalterlichen Rezeption so gewaltige Wirkungsmacht entfalten sollte, verpuffte nicht nur völlig folgenlos bei ihren Adressaten im Osten, wie Mischa Meier zeigt, sondern wurde auch von Gelasius’ unmittelbaren Nachfolgern nicht mehr weiterverfolgt. 3. NEUE HERRSCHAFTSFORMEN AUF REGIONALER EBENE Die tiefgreifenden Veränderungen auf der Ebene universaler Gewalten hatten unmittelbare Konsequenzen auch für jene Regionalherrschaften, für die der Franke Chlodwig beispielhaft stehen kann. Im Westen beobachten wir spätestens seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts die Fragmentierung des politischen Raums: Eine Mehrzahl vor allem militärisch basierter Herrschaftsgebilde entwickelt sich, deren Herren sich in römischer Tradition patricius, magister militum oder rex 10 S. etwa Mischa Meier, Die Inszenierung einer Katastrophe: Justinian und der Nika-Aufstand, in: ZPE 142, 2003, 273–300; Rene Pfeilschifter, Der Kaiser und Konstantinopel. Kommunikation und Konfliktaustrag in einer spätantiken Metropole. Berlin/New York 2013, 178–210.
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nannten. Ihre Herrschaft aber ruhte auf neuen Grundlagen: Im offenen Moment der Transformation überkommener Strukturen konnten neue Machtverhältnisse ausgehandelt und bestehende anders legitimiert werden. Das Spektrum an Handlungsmöglichkeiten allerdings war dementsprechend breit und bunt. Stephanie Dick hat in ihrem Beitrag nach dem Charakter jenes Königtums gefragt, das Chlodwig innehatte. Ihre Darstellung zeigt eindrucksvoll, wie weit sich die deutsche Mittelalterforschung mittlerweile von älteren Perspektiven distanziert hat: Stephanie Dick arbeitet ausdrücklich mit dem Herrschaftsbegriff Max Webers; und sie verkehrt die alten Annahmen des Paradigmas „germanischer Kontinuität“ geradezu in ihr Gegenteil. Das Königtum der Franken ist in ihrer Analyse nicht etwa eine alte, germanische Institution, die sich vielleicht durch den Kontakt mit Rom im 5. Jahrhundert etwas verändert. Das Königtum ist eine römische Institution, eine klassische ethnographische Kategorie, mit der Römer seit jeher die militärischen und politischen Interaktionspartner an den Grenzen ihres Reiches zu erfassen suchten. Erst im Zuge der dramatischen Transformation römischer Herrschaftsstrukturen seit dem ausgehenden 5. Jahrhundert kann sich das Königtum der Franken aus der Enge römischer Tradition lösen, kann Chlodwig seine Durchgriffsmöglichkeiten und Handlungsspielräume erweitern und sein (dem Ursprung nach römisches) Königtum auch für viele Franken zu einer realen Größe machen. Bei alledem rechnet aber auch Stephanie Dick mit einer Doppelgesichtigkeit der Transformationszeit: Childerichs und Chlodwigs Königtum ist gekennzeichnet durch „Hybridität“, durch ein „Nebeneinander von Signaturen einer römischen Militärlaufbahn […] und der Stellung eines Angehörigen der fränkischen Machteliten“. Viele alte Wörter in den Texten bleiben, ihre Gehalte und ihre Funktion aber ändern sich – oder schwanken je nach der Kommunikationssituation, in der die Wörter verwendet werden. Und doch: Die alten Wörter sind auch jetzt noch „als Rahmen von Bedeutung, der ein gewisses Maß an Regelhaftigkeit, Stabilität, Ordnung und Legitimation garantierte oder zu garantieren schien, und zwar nicht nur für die fränkischen Machteliten, sondern auch für die Vertreter der verbliebenen gallorömischen Oberschicht“. Wie Ian Wood in seinem Beitrag herausarbeitet, wählten die Gibichungen zur gleichen Zeit eine deutlich andere Strategie als ihre nördlichen Nachbarn und Konkurrenten Childerich und Chlodwig: Von „Königen“ oder gar von „Königen der Burgunder“ sprachen fast nur andere; die Herrscher im Rhônetal selbst dagegen präsentierten sich als Inhaber eines hohen römischen Amtes, als patricii, vor allem aber als magistri militum. Anders als Bernhard Jussen geht Wood allerdings davon aus, dass diese Begriffe um 500 noch weit mehr waren als nur leere, postimperiale Hülsen; die Selbstbeschreibung als römische Amtsträger vermochte immer noch erfolgreich das Handeln der Gibichungen zu leiten – sogar über das Ende des Kaisertums im Westen im Jahr 476 hinweg. Woods Postulat, die sogenannten Könige der Burgunder in ihrer politischen und militärischen Handlungsweise als römische Amtsträger ernst zu nehmen, ändert freilich auch den Blick auf einzelne Ereignisse: Der rätselhafte Akt von Tours im Jahr 508 etwa könnte so einen sehr spezifischen Sinn erhalten. Kaiser Anastasios musste Chlodwig nach dessen Sieg bei Vouillé 507 im Rang noch über den magister militum im Westen
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erheben, mit dem gemeinsam Chlodwig soeben die Goten besiegt und aus Aquitanien vertrieben hatte. Wie unterschiedlich bei alledem schon um 500 der spezifische Gehalt und die Praxis hinter den Wörtern im Osten und im Westen der römischen Welt geworden war, das zeigt – gerade im Kontrast zu Ian Woods Aufsatz – der Beitrag von Anne Poguntke. Sie analysiert die Handlungsspielräume von fünf Heermeistern im Osten des Imperium zwischen 483 und 529. Dabei kann sie zeigen: Während um die Mitte des 5. Jahrhunderts die magistri militum im Osten machtvolle Persönlichkeiten mit weiten Handlungsspielräumen gewesen waren, gelang es den Kaisern um die Wende zum 6. Jahrhundert auch in der Praxis wieder, ihren Militärs engere Grenzen zu setzen. Gerade der regulierende Zugriff des Kaisers erweist sich demnach als ein bedeutsamer Faktor – der im Westen seit etwa der Mitte des 5. Jahrhunderts in der Praxis weit weniger durchschlagen konnte als im Osten des Imperium. Karl Ubl wirft nun vor dem Hintergrund der offenen Situation einer Transformation der Herrschaftsorganisation um 500 den Blick auf die bisherige Forschung zum fränkischen Recht: Bei allem Gelehrtenstreit im Einzelnen ist die Lex Salica bisher doch stets aus Rechtstraditionen heraus erklärt worden – sei es als Produkt eines archaischen „germanischen Rechts“, sei es als Produkt fränkischer oder römischer Militärgesetzgebung, sei es als Produkt römischen „Vulgär-“ oder „Provinzialrechts“. Ubl fordert dagegen, die Besonderheit der Lex Salica ernst zu nehmen: Es handele sich tatsächlich um ein sehr bewusst geschaffenes Produkt fränkischer Könige, das seine königliche Herkunft aber in geschickter Weise in der konkreten Gestaltung des Textes selbst gleich wieder verschleiere – „ein neu geschaffenes, ausgeklügeltes System, welches einen öffentlichen Strafanspruch in ein System des privaten Schadensausgleichs hüllt“ und so die Möglichkeit schaffe, „öffentliche Interessen in private Konfliktaustragung hineinzuschleusen“. Diese Deutung fügt sich nahtlos zur Offenheit der post-imperialen Situation in Gallien: Traditionen – gleich welcher Art – konnten in einer Zeit radikaler Transformation der Herrschaftsstrukturen nur in engen Grenzen wirksam sein. Die rechtsgeschichtliche Sonderstellung der Lex Salica könnte so ein weiterer Hinweis sein auf die erweiterten Handlungsspielräume regionaler Anführer um 500. 4. DER UMBAU DER CIVITATES UND NEUE FORMEN LOKALER HERRSCHAFT Ganz unabhängig von der Frage, ob sich der Blick auf die Makroebene mit den Repräsentanten universaler Herrschaftsansprüche (Kaiser, Papst) richtet, ob einzelne Herrschaftsräume oder Herrschaftsformen in den Fokus gerückt werden – auch um 500 stellten, dies geht aus einer Reihe von Beiträgen hervor, weiterhin die Städte zentrale Kristallisationspunkte der Vergesellschaftung dar. Sie fungierten dabei nicht nur als Mediatoren höherrangig angesiedelter, zentralisierter Herrschaft, sondern auch als Ausgangspunkte für die Neuformation von Herrschaftsstrukturen, die sich nicht mehr mit den Beschreibungsinstrumenten von Althisto-
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rikern erfassen lassen. Für die Städte im Osten des Imperium Romanum (aber zumindest partiell auch noch für jene im Ostgotenreich oder im Süden Galliens) besitzen weiterhin die klassischen Diskussionskontexte, die sich in den Kategorien ‚Niedergang‘ versus ‚Transformation‘ bewegen, Gültigkeit. Avshalom Laniado und Sebastian Schmidt-Hofner argumentieren in diesem Zusammenhang gegen das jüngst einmal mehr bemühte Niedergangsparadigma (J.H.W.G. Liebeschuetz)11, indem sie den Übergang von der Kurialenverwaltung zum sog. Notabelnregiment in den Städten des Ostens untersuchen und keine generellen Niedergangssymptome erkennen können, sondern diesen Prozess als rationale Anpassung an veränderte Rahmenbedingungen interpretieren. Während sich Laniado vor allem mit der Zusammensetzung der seit dem 5. Jahrhundert entstehenden ‚Notabelnregimenter‘ beschäftigt und dabei dem Bedeutungsspektrum der in den Quellenzeugnissen verwendeten Termini nachgeht (z.B. ktetores), diskutiert Schmidt-Hofner die Frage, warum die neuen Formen städtischer Administration überhaupt entstanden sind. Seiner Ansicht nach ist von einer gerade von den Kurialen mitgetragenen Reaktion auf den Bedeutungszuwachs des defensor civitatis seit dem späteren 4. Jahrhundert auszugehen, der als machtvoller, im Auftrag des Kaisers agierender und auf dessen Erzwingungsstab zurückgreifender Patron die Position der Angehörigen städtischer Eliten gefährdete und dessen Wirken durch gezielte Institutionalisierungs- und Kontrollmaßnahmen eingehegt werden musste. Die Entstehung des ‚Notabelnregiments‘ lässt sich vor dem Hintergrund dieser These gerade nicht als Niedergangsphänomen, sondern vielmehr als von den lokalen Eliten selbst initiierte und getragene Umstrukturierungsmaßnahme interpretieren. Mit dem Vergleich der Rolle des defensor civitatis im Imperium Romanum und in den sogenannten Nachfolgereichen verweist Schmidt-Hofner bereits auf die regionalen Unterschiede, die von der Forschung zur spätantiken bzw. frühmittelalterlichen Stadt in zunehmendem Maße berücksichtigt werden. Denn da der defensor seine Machtfülle vor allem aufgrund der ihm zur Verfügung stehenden zentralen Ressourcen entfaltete, konnte er nur dort, wo die römische Verwaltung weitgehend fortbestand – also im Römischen Reich selbst, aber auch im Ostgotenreich –, weiterhin als bedeutender Faktor im städtischen Gesamtgefüge agieren. In Gallien hingegen, wo das Kaisertum keinen Einfluss mehr besaß und auch die zentrale Administration sich allmählich auflöste, fehlten dem defensor die entscheidenden Machtmittel, so dass seine Patronatsfunktion auf die Bischöfe überging. Angesichts dessen sind nun aber auch die bisherigen Erklärungen für die Entstehung bischöflicher Herrschaft in Gallien noch einmal auf den Prüfstand zu stellen: Die Forschung ist bislang davon ausgegangen, dass der gallische Episkopat sich um 500 zu guten Teilen, wenn nicht sogar ganz überwiegend aus alten Familien der Reichsaristokratie rekrutiert habe. In einer Zeit, in der die Legitimation 11 John H. W. G. Liebeschuetz, Decline and Fall of the Roman City. Oxford 2001, 121–124; Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean, 400–800. Oxford 2005, 596–602.
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über den Kaiser nicht mehr möglich war, habe gerade das Bischofsamt diesen Männern aus der sozialen Elite ein neues Betätigungsfeld geboten, weil es nämlich einerseits noch wenig konturiert und andererseits noch kaum von einer Zentralgewalt kontrolliert gewesen sei. Steffen Patzold zeigt in seinem Beitrag, dass die sozialhistorische Grundannahme, auf der diese Sichtweise beruht, zu hinterfragen ist: Die Bischöfe, die am Ende der Regierungszeit Chlodwigs um 511 in dessen Herrschaftsgebiet amtierten, stammten jedenfalls mitnichten durchweg aus Familien der alten Reichsaristokratie. Prosopographische Detailarbeit zeigt vielmehr: Bestenfalls für eine sehr kleine Gruppe der damals amtierenden Bischöfe ist eine Herkunft aus der senatorischen Aristokratie wahrscheinlich zu machen. Die soziale Herkunft des Episkopats im Reich Chlodwigs erweist sich bei näherem Hinsehen vielmehr als sozial heterogen. Die Quellenbefunde erlauben es daher ohne weiteres anzunehmen, dass die neue Rolle des Episkopats nicht von Reichsaristokraten auf der verzweifelten Suche nach Legitimation ohne Kaiser etabliert wurde – sondern aus der Konkurrenz der Angehörigen der lokalen, städtischen Elite untereinander in einer Zeit institutioneller Transformation der civitas erwuchs. Bischöfe treten auch in den Städten auf der Iberischen Halbinsel im 5. und 6. Jahrhundert zunehmend in den Vordergrund, wie Sabine Panzram auf Basis von Fallstudien darlegt. Inwieweit sie dabei die traditionellen Eliten verdrängten oder mit ihnen kooperierten, lässt sich auf Basis des erhaltenen Materials nicht eruieren. Jedenfalls gehörte die städtische Bischofsherrschaft zu den grundlegenden Pfeilern, auf denen im 7. Jahrhundert das Toledanische Reich der Westgoten aufruhte. Wiederum ein anderes Bild zeichnet sich, wie Stefan Esders aufweist, im nordgallisch-fränkischen Raum ab, in dem durch die Trennung von civitas und pagus eine weitaus kleinteiligere Ordnung entstand, als unter der Herrschaft der römischen Kaiser. Eine solche Kleinräumigkeit bildet den Ausgangspunkt der Überlegungen des Archäologen Sebastian Brather, der sich auf die Suche nach lokalen Herren um 500 begibt und dabei vor allem die methodischen Schwierigkeiten nachzeichnet, mit denen entsprechende Unternehmungen konfrontiert werden. Ältere Versuche, bei denen schlicht auffällige Bestattungsorte und Grabbeigaben (v.a. Waffen) als Kriterien herangezogen wurden, erweisen sich jedenfalls als unterkomplex, nicht nur aufgrund der häufigen Isoliertheit der Befunde, sondern insbesondere auch aufgrund ihrer Mehrdeutigkeit. Brather plädiert daher nachdrücklich dafür, stets auch die historischen Situationen, in denen einzelne Personen agierten, in archäologische Interpretationen mit einzubeziehen – nicht im Sinne eines naiven linearen Bezugs von Ereignissen auf Befunde, sondern über komplexe Kontextanalysen und überregionale Vergleiche. Der vorliegende Band nähert sich dem Phänomen ‚Herrschaft um 500‘ in sechs Hauptabschnitten an, die sich aber jeweils auch überlappen. Ein erster Teil ist der Person Chlodwigs als exemplarischem Akteur innerhalb des zu betrachtenden Zeitraumes gewidmet. Während Matthias Becher die quellenkritischen Probleme nachzeichnet, die sich beim Versuch, Chlodwig biographisch zu erfassen, ergeben, ordnet Bernhard Jussen seine Person in eine strukturelle Perspektive ein.
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Uta Heil beschäftigt sich aus kirchenhistorischer Sicht mit jenem Ereignis, das in der Chlodwig-Forschung zumeist zentral gestellt worden ist: seine Konversion zum Christentum. Die beiden Institutionen, die um 500 universalen Herrschaftsanspruch erhoben – Kaiser und Papst –, stehen im Zentrum des nachfolgenden Abschnittes, der die Beiträge von Hartmut Leppin, Rene Pfeilschifter, Mischa Meier, Hanns Christof Brennecke und Wolfram Brandes vereint. Mit Herrschaftskonzepten und -praktiken jenseits der kaiserlichen Ebene beschäftigen sich die beiden anschließenden Abschnitte zur Entstehung neuer Herrschaftsräume (Julia Hoffmann-Salz, Hans-Ulrich Wiemer, Stefan Esders) und neuer Herrschaftsformen (Stefanie Dick, Ian Wood, Anne Poguntke, Karl Ubl). Den kleinsten greifbaren Einheiten – den Städten und lokalen Gemeinschaften – ist der letzte Teil des Buches gewidmet (Sabine Panzram, Sebastian Schmidt-Hofner, Steffen Patzold, Avshalom Laniado, Sebastian Brather). Konzeptionell beschreiten wir also einen Weg, der von der Makro- zur Mikroebene führt. Dass sich dabei immer wieder Interdependenzen, Überschneidungen, sicherlich auch Lücken ergeben, liegt in der Natur der Sache. Ein Anliegen unseres Bandes besteht nicht zuletzt auch im Aufweis der Komplexität und Vernetztheit der vielfältigen Herrschaftsstrukturen, von denen ‚Chlodwigs Welt‘ gekennzeichnet war.
I. DER FALL CHLODWIG: DIE JANUSKÖPFIGKEIT DES ÜBERGANGS
CHLODWIG DER GALLIER ZUR STRUKTURGESCHICHTE EINER HISTORISCHEN FIGUR Bernhard Jussen Warum gerade Chlodwig?1 Weshalb war gerade jenes politische Gebilde, für das man Chlodwig als Gründer oder fondateur reklamiert, vergleichsweise langlebig?2 Warum hat dieses politische Gebilde die der Nachbarn – der Ost- und Westgoten und aller anderen – überlebt? Klug geheiratet und Kriege gewonnen, Kirchen gebaut, Gesetze aufgezeichnet und Synoden abgehalten haben auch andere Germanenherrscher. Als entscheidendes Distinktionsmerkmal wird seit Jahrhunderten und bis heute hervorgehoben, dass Chlodwig als einziger Germanenherrscher zum „katholischen Kult“ (um die Worte seiner Bischöfe zu benutzen) übergetreten ist. Kann es dieser Schritt gewesen sein? Sollte dieser bäurische Krieger von der äußersten Nordgrenze der alten Welt als Einziger so klug gewesen sein, den Vorteil gerade dieses politischen Coups zu erkennen? Natürlich erzählen Historiker keine „monokausalen“ Geschichten, alles hat selbstverständlich viele Gründe, und so ist die Taufe in modernen Geschichtsbüchern nicht alles und nicht das Einzige. Aber sie bleibt doch das am stärksten betonte Moment von Chlodwigs langfristigem Erfolg. Im Folgenden gilt das Interesse den strukturellen Bedingungen, die eine historische Figur wie Chlodwig ermöglicht haben. Es gilt den signifikanten Unterschieden, die die Startbedingungen für den jungen Franken aus Tournai erheblich besser gemacht haben als für alle anderen Könige, die sich an der Stabilisierung neuer Herrschaftssysteme im ehemaligen Machtbereich des Römischen Imperiums versucht haben.
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Zur Argumentation der folgenden Skizze vgl. auch Bernhard Jussen, Die Franken. Geschichte, Gesellschaft, Kultur. München 2014; ferner: ders., Chlodwig und die Eigentümlichkeiten Galliens. Ein Warlord im rechten Augenblick, in: Mischa Meier (Hrsg.), Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, 141–155. Die erstmals 1893 und dann in vielen Auflagen erschienene Monografie von Godefroy Kurth mit dem Titel „Clovis“ (Chlodwig) erscheint seit 2000 unter dem Titel „Clovis le Fondateur“ (Chlodwig der Gründer).
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I. WIE HÖRT EIN IMPERIUM AUF? Wer Chlodwig strukturgeschichtlich fassen will, braucht zunächst eine Deutung für die Gesellschaft, die den jungen Chlodwig sozialisiert hat, also für die Gesellschaft des heutigen Nordfrankreich im 5. Jahrhundert, in weiterem Sinn die nordalpinen Provinzen des Römischen Imperiums. Gerade dieser Raum hat sich in dem Jahrhundert vor dem Aufstieg Chlodwigs politisch fundamental verändert, und zwar unter Bedingungen, die historisch äußerst selten zu beobachten sind und entscheidend für Chlodwigs langfristigen Erfolg waren: Nachdem die römischen Kaiser um 400 aus den nordalpinen Provinzen verschwunden waren, ist für ein ganzes Jahrhundert keine äußere Macht aufgetaucht, die das Gebiet gewaltsam eingenommen und von außen eine politische Ordnung oktroyiert hätte. Für ein ganzes Jahrhundert waren die Bewohner Galliens sich selbst überlassen bei der Arbeit an einer neuen, kaiserunabhängigen poströmischen politischen Stabilität. Erst am Ende dieses Jahrhunderts ermöglichten die Umstände ihnen, ihre neu geschaffene politische Kultur langfristig zu konsolidieren, indem sie seit den 480erJahren für einen der Ihren, einen gallischen Jüngling mit sehr fernem Migrationshintergrund namens Chlodwig, eine neue Form von Königtum entwarfen. Um diese politische Neuformierung seit dem Verschwinden der Kaiser zu deuten, sind zunächst einige grundsätzliche Fragen nützlich: Was ist (unabhängig davon, wie man das Wort imperium in den Texten jener Zeit übersetzen muss) ein Imperium – zum Beispiel das Römische? Was unterscheidet das Römische (oder später Britische oder noch später Amerikanische) Imperium etwa von dem, was man „Staat“ nennt?3 Wie hört ein Imperium auf? Und was passiert mit den politischen Räumen, die ein Imperium zurücklässt, was zeichnet einen postimperialen Raum aus? Die folgende Skizze der Eigenarten imperialer und postimperialer Räume greift aus Herfried Münklers umfangreicher Darstellung das für diesen Beitrag Wichtigste in äußerster Kürze heraus:4 1. Imperien verkehren anders als Staaten nicht mit Gleichen. Jenseits, bei den Römern auch diesseits, der Grenzen wohnen „Barbaren“, der Umgang mit
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Über das merkwürdige Interesse besonders deutscher Historiker der letzten Jahre daran, im Frühmittelalter wieder „Staaten“ zu finden und damit ohne Not jenes trennscharfe und funktionsfähige analytische Instrumentarium wieder zu ruinieren, das seit den 1960er-Jahren entwickelt worden ist, kann hier nicht diskutiert werden; das Interesse ist zunächst in zwei Sammelbänden gebündelt: Stuart Airlie/Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hrsgg.), Staat im frühen Mittelalter. Wien 2006; Walter Pohl/Veronika Wieser (Hrsgg.), Der frühmittelalterliche Staat. Europäische Perspektiven. (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16.) Wien 2009 (mit einer sehr instruktiven Einleitung von Walter Pohl); zur Gegenposition vgl.: Jussen, Franken (wie Anm. 1), 81–84 und 86–100, sowie Johannes Fried, Um 900 – Warum es das Reich der Franken nicht gegeben hat, in: Bernhard Jussen (Hrsg.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit. München 2005, 83–89 (hier die von Fried seit den 1980er-Jahren vorgetragene Position). Herfried Münkler, Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005.
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ihnen ist nur als Asymmetrie vorstellbar. Innen sind die Guten, außen die Bösen, Wilden, Treulosen. Wenn also die römischen Chronisten der Kaiserzeit solche Attribute immer wieder zur Beschreibung der Franken und anderer Germanen herangezogen haben, so offenbaren sie aus heutiger Sicht die Wahrnehmungsmuster einer imperialen Kultur. 2. Ein Imperium kann – anders als ein Staat – nicht neutral sein, es steht unter Interventionszwang. Über viele Jahrhunderte waren die „barbarischen“ Gesellschaften an der Grenze des Römischen Imperiums davon betroffen, dass Rom andauernd militärisch intervenierte – über die eigenen Grenzen hinaus vorstieß, vertrieb, gefangen nahm, versklavte, zwangsweise umsiedelte, in die eigenen Grenzen aufnahm, Land zuwies, Militärdienst forderte, Handel trieb. Um 400 endeten diese Interventionen der Kaiser im nordalpinen Westen (nur dort, nicht in Italien oder Afrika) ein für alle Mal. Mit diesem bloßen Aufhören hatten die Kaiser den imperialen Status aufgegeben, Gallien wurde vom imperialen zum postimperialen Raum. Dies allerdings änderte zunächst nichts weiter, als dass die institutionelle Intervention des Kaiserhofs sukzessive ausfiel. 3. Zurück blieb ein postimperialer Raum mit vielen Merkmalen, die wir aus modernen postimperialen oder postkolonialen Räumen kennen: Alles in diesem Raum war zunächst – und im Fall der Gallia oft noch für Jahrhunderte – auf das ehemalige Imperium bezogen. Politische oder militärische Titel, politische Zeichen, Sprache und Rhetorik, Alltagskultur, religiöse Kultur oder Kunstproduktion, all dies blieb zunächst weitgehend in den Bahnen des alten Imperiums. Allein eines fehlte: der Durchgriff der Zentralmacht, also die eingreifenden Truppen und die politischen Interventionen vom fernen Kaiserhof. Auch Gesetze und Rechtssysteme verschwanden nicht von heute auf morgen.5 Dieses Weiterbenutzen des Vorhandenen muss für die Gallia des 5. Jahrhunderts noch stärker unterstellt werden als für heutige postkoloniale Räume, denn im Gegensatz zu modernen postkolonialen Räumen (oder zu den politischen Etablierungsversuchen der Vandalen im 5. Jahrhundert) hat es in Gallien kein anti-imperiales Gegenmodell gegeben, keine Aufstandsbewegungen, die Rom hätten abschütteln wollen. Es gab zunächst, als um 400 die Kaiser Gallien verließen und nicht mehr wiederkamen, gar keine Alternative. 4. Da ein Imperium wie das Römische (nicht anders heute z.B. für viele Mexikaner das Amerikanische) attraktiv war, mussten Kaiser wie Bewohner mit Migrationsdruck ins Imperium umgehen. Was bis in die 1960er-Jahre als „Völkerwanderung“ erzählt und als Zeichen eines marode und schwach gewordenen Römischen Imperiums gedeutet wurde, wird heute genau umgekehrt damit gedeutet, dass die Mangelgesellschaften jenseits der Grenzen von
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Stefan Esders, Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum. Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6. und 7. Jahrhundert. (Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instituts für Geschichte 134.) Göttingen 1997.
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der Aura und dem Wohlstand des Imperiums angezogen wurden und, etwa in der Art von Wirtschaftsmigranten, andauernd auf die Grenzen drückten.6 Solche Migrationen hatten sehr verschiedene Formen: dauerhafte Armutsmigrationen, Massenfluchten vor aggressiven Nachbarn, Plünderungsmigrationen ohne Besiedelungseffekte, militärische Anheuerung, Zwangsumsiedlung nach einer Niederlage gegen die römische Armee, nomadische Wanderung, Expertenmigration oder Migration infolge von Sklavenhandel, um nur die augenfälligsten zu nennen. Im Vergleich der historischen Figuren Chlodwig und Theoderich wird leicht zu zeigen sein, wie entscheidend die Art des Migrationshintergrunds für die Stabilität der neuen Gesellschaften war. 5. Die Beziehungen der peripheren Gallia zum politischen Zentrum, dem Kaiserhof am Bosporus, verweist auf ein weiteres Merkmal von Imperien: das Integrationsgefälle vom Zentrum zum Rand. Die gallischen Eliten hatten weit weniger Chancen als etwa italische Eliten, in der Politik des Zentrums mitzuspielen. Seit etwa 400 hatten sie praktisch keine Chancen mehr. Es versteht sich und ist leicht an Beispielen zu zeigen (etwa an den veränderten Begräbnispraktiken in Nordgallien)7, dass mit dieser Abkopplung die Dominanz der Leitkultur in den peripheren Räumen schwächer wurde. Kurz, das Imperium in Gestalt des Kaisers in Konstantinopel oder anfangs Ravenna konnte nicht, wie ein heutiger Staat, einfach neutral sein. Denn Neutralität, das Nicht-Eingreifen, ist das Ende der Imperialität. Wenn das Imperium aufhört zu existieren und sich im postimperialen Raum zunächst noch alles – die Denkformen, die zurückgelassenen Institutionen, die Repräsentationstechniken, selbst die Feindbilder – auf das Imperium bezieht, dann entscheiden die regionalen politischen Dynamiken über das Schicksal dieser Versatzstücke der alten Welt. Diese regionalen Dynamiken waren für die Politik Chlodwigs in entscheidender Weise günstiger als für die anderen ins Imperium gewanderten Zeitgenossen – für Goten oder Vandalen, Burgunder oder Langobarden. Dies sei im Folgenden an drei Bereichen demonstriert. Zunächst: Als Chlodwig gegen 500 in Gallien politisch reussierte, hatten die gallo-römischen Magnaten schon ein Jahrhundert lang – also über Generationen hinweg – mit einem neuen, postimperialen politischen System experimentiert und zentrale politische Strukturen der kommenden Jahrhunderte bereits entwickelt (Abs. 2). Ferner, zweitens, traten Goten, Burgunder, Vandalen oder später Langobarden als Invasoren auf, die sich bereits vor ihrem Eindringen politisch organisiert hatten; sie haben durchweg Eroberungsgesellschaften errich-
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Die derzeitige Diskussion ist am besten zu greifen bei Michael Borgolte, Mythos Völkerwanderung. Migration oder Expansion bei den „Ursprüngen Europas“, in: Viator 41, 2010, 23–37, und bei Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration. Stuttgart 2002. Vgl. den Beitrag von Sebastian Brather in diesem Band; ferner die Arbeiten von Guy Halsall seit 1992 (Guy Halsall, The Origins of the Reihengräberzivilisation. Forty Years on, in: John Drinkwater/Hugh Elton [Hrsgg.], Fifth-Century Gaul: A Crisis of Identity? Cambridge 1992, 196–207), gesammelt 2010 (ders., Cemeteries and Society in Merovingian Gaul. Selected Studies in History and Archaeology, 1992–2009. Leiden 2010).
Chlodwig der Gallier
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tet und kulturelle Kollisionen zwischen den eigenen Leuten und der einheimischen Bevölkerung systematisch provoziert. Die Franken des 5. Jahrhunderts hingegen waren in Gallien keine Eroberer. Sie waren längst assimilierte Einheimische (Abs. 3). Schließlich hilft, drittens, ein Blick auf den Umbau der politisch wichtigen Ressourcen, denn vielleicht ist über das starke Interesse an der römischen Taufe Chlodwigs die eine oder andere Ressource unterbelichtet worden, so besonders die Polygynie der neuen Könige. Was hätte Theoderich der richtige Glaube genutzt, als er ohne geeigneten Nachfolger starb (Abs. 4)? Mit Blick auf diese drei Aspekte sei dann abschließend nochmals die Position der historischen Figur Chlodwig im Rahmen der Formierung der Frankish World oder Monde Franc (sehr selten auch der „fränkischen Welt“) betrachtet (Abs. 5).8 II. DIE ERFINDER DES NEUEN POLITISCHEN SYSTEMS Hundert Jahre politische Vorarbeit Setzt man als opinio communis voraus, dass mit dem Rückzug der Kaiser von Trier nach Mailand um 400 die gallische Reichsaristokratie den Kontakt zum Kaiserhof verloren hat und seither auf sich selbst gestellt war, so haben wir es im Gallien des 5. Jahrhunderts mit einer im historischen Vergleich außerordentlich seltenen und unwahrscheinlichen politischen Situation zu tun, geradezu mit Laborbedingungen für den rückblickenden Historiker: Die Situation Galliens im 5. Jahrhundert gibt Einblick in eine Gesellschaft, deren politische Ordnung durch den Wegfall der zentralen Durchgriffsinstanz keinen Halt mehr hatte und die über mehrere Generationen ohne größere äußere Störung selbst Varianten einer neuen Ordnung erproben konnte. Kein Eroberer ist in das Vakuum vorgestoßen und hat von außen eine neue Ordnung oktroyiert. Die Repräsentanten des alten Systems – einst Senatorenfamilien, jetzt jedenfalls noch die besitzenden Magnaten – haben auch das neue politische System erfunden und etabliert. Während eines ganzen Jahrhunderts hat niemand sie bei der politischen Reorganisation dramatisch gestört. Um die strukturellen Bedingungen für Karriere und Erfolg Chlodwigs beurteilen zu können, ist wichtig zu wissen, was jene drei Generationen gallischer Magnaten an politischer Infrastruktur entwickelt haben. Sie mussten politisch agieren ohne Unterstützung des Kaiserhofs und ohne Aussicht auf eine regionale Ersatzfigur, wie sie erst mit Chlodwig greifbar wurde. Wie also haben sie sich selbst, ihre Macht und ihre Legitimität als politische Entscheidungsgruppe neu erfunden? Die 8
Die in der anglo- und frankophonen Forschung verbreitete Formel kommt in der deutschen Forschung, wo man lieber von „den Franken“ und „dem Frankenreich“ spricht, kaum einmal vor, nicht zufällig vor allem in Übersetzungen (von Stephen Runcyman oder Patrick Geary); sie vermeidet insbesondere vor dem Hintergrund der politischen Theorie jener Zeit Missverständnisse, vgl. Jussen, Franken (wie Anm. 1), 13–17 und 81ff.
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Antwort sei hier – mit Verweis auf ausführlichere Literatur – auf wenige Spiegelstriche reduziert:9 – durch Regionalisierung ihres bis dahin am Imperium orientierten politischen Referenzrahmens, – durch Aneignung der Bischofsstühle, für die sie sich bis dahin nicht interessiert hatten, – durch Transformierung dieses noch amorphen lokalen religiösen Amtes in ein politisches Amt der Stadtherrschaft. Da es um 400 noch kein klares Kandidatenprofil für den Posten des Bischofs gab, auch keine Amtstracht und keine Liturgie, konnte diese neue Gruppe von politisch ambitionierten Amtsinhabern aus führenden regionalen Familien10 selbst als Erfinder der Amtstracht, der Liturgie, der Sakraltopografie, des Amtsethos und des Aufgabenprofils auftreten. So ist nicht verwunderlich, dass die priesterliche Amtstracht von der senatorischen Kleidung abgeleitet ist und dass man es in Gallien mit der Entwicklung einer fixierten Liturgie viel eiliger hatte als in anderen Regionen. Aufs Ganze gesehen haben die lokalen politischen Führungsfiguren das noch amorphe Amt in eine zugleich religiöse und politische Institution mit aristokratischer Aura transformiert. Dabei haben sie alle politisch wichtigen Inszenierungen neu gerahmt: Sie haben den alten Referenzrahmen politischer Legitimation, imperium, ausgetauscht gegen den neuen Legitimationsrahmen ecclesia. In keinem anderen Teil des Imperiums haben sich die politisch ambitionierten Mitglieder der alten Magnatenfamilien für das lokale Bischofsamt interessiert. Im Osten und in Italien war das alte System politischer Repräsentation noch lange attraktiv genug, und in Afrika war die Zahl der (zudem dogmatisch überworfenen) Bistümer viel zu hoch, um das Amt in eine attraktive politische Institution zu verwandeln. Die Offerte der gallo-römischen Magnaten Auf den anscheinend noch sehr jungen Chlodwig wurden die gallischen Magnaten in den 480er-Jahren aufmerksam, als dieser gerade seinen regional nicht unbedeutenden Vater begraben hatte und die ersten Schritte auf der politischen Bühne ge-
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Ich verweise dazu auf meine früheren Aufsätze: Bernhard Jussen, Liturgie und Legitimation. Wie die Gallo-Romanen das Römische Reich beendeten, in: Reinhard Blänkner/Bernhard Jussen (Hrsgg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 138.) Göttingen 1998, 75–136; ferner: ders., Um 567 – Wie die poströmischen Könige sich in Selbstdarstellung übten, in: Jussen (Hrsg.), Die Macht des Königs (wie Anm. 3), 14–26; ders., Über ‚Bischofsherrschaften‘ und die Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘, in: HZ 260, 1995, 673–718. 10 Über deren familiäre Verbindung zu den nun funktionslos gewordenen gallischen Senatorenfamilien vgl. in diesem Band den Beitrag von Steffen Patzold.
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macht haben dürfte. Sofort haben sie ihn eingebunden in ihre neue politische Infrastruktur. Der vielleicht 16- bis 20-jährige, allenfalls lokal bekannte Nachwuchspolitiker, nicht einmal formell Christ, wurde sofort von den erfahrenen Lenkern des politischen Geschäfts eingeladen, in das eben erst etablierte religiöse Sinnuniversum und Repräsentationssystem der romanischen Magnaten einzutreten. In einem kurzen Glückwunschschreiben brachte der nordgallische Aristokrat Remigius zwei Ratschläge unter, die auf die Fährte dessen lenken, was es hier zu erklären gilt: „Du mußt die Berater nehmen, die deinem Ruf nutzen können“, so sein erster Rat, an dessen Sinn er keinen Zweifel ließ: „Du sollst deinen Bischöfen vertrauen und immer zu deren Ratschlag zurückkehren. Wenn du gut mit ihnen stehst, kann deine Provinz besser bestehen.“11 Für jeden Zeitgenossen war dies unübersehbar ein Rat in eigener Sache, denn der Magnat war selbst einer jener politischen Bischöfe neuen Typs. Er war ein exponiertes Beispiel für die oben kurz skizzierte neue politische Ratio der vom Imperium abgehängten gallorömischen Magnaten. Weiter empfahl der Magnat dem König, seine Mittel in Maßnahmen zu investieren, die weit von dem Zeichensystem der ostentativen Wertevernichtung entfernt waren, mit dem der junge Mann soeben seinen Vater beerdigt hatte12, etwa: „unterstütze die Witwen, ernähre die Waisen“, oder: „befreie Gefangene und erlöse sie vom Joch der Sklaverei“. Auch dies war ein Rat in eigener Sache. Denn die alte politische Klasse setzte sich inzwischen weniger mit ihrem einstigen Vorrat kaiserzeitlicher Repräsentation in Szene als über die Inszenierung des von ihr selbst neu interpretierten christlichen Werteuniversums. Einerseits stiftete sie keine Zirkusspiele mehr, sondern organisierte Prozessionen, beschaffte Reliquien und kaufte Sklaven frei.13 Andererseits hatte sie das Modell des Bischofs als – zunächst wesentliche, bald einzige – politische Institution der Stadtregierung durchgesetzt, als ein Bischofsamt, das den religiösen Leistungsträgern, den Mönchen, entzogen war und stattdessen beanspruchte, den König bei Regierungsgeschäften zu beraten. Das Glückwunschschreiben aus Reims ist kein Einzelfall. „Wenn ich einen Mönch nominiere“, um an einen Brief des Sidonius Apollinaris zu erinnern, „wird es Unmut geben. Dann wird man sagen: ,Dieser Kandidat er-
11 Brief des Remigius von Reims an Chlodwig (Epistolae Austrasicae, ep. 2, ed. Wilhelm Gundlach, in: MGH Epp. 3. Berlin 1892, 113); in der Übersetzung von Sebastian Scholz (Reinhold Kaiser/Sebastian Scholz, Quellen zur Geschichte der Franken und der Merowinger vom 3. Jahrhundert bis 751. Stuttgart 2012, 100). 12 Zu den üppigen Wertgegenständen und Pferden im Grabhügel von Chlodwigs Vater Childerich vgl. im Überblick: Alfried Wieczorek/Karin von Welck/Ursula Koch, Das Grab des Frankenkönigs Childerich I., in: Alfried Wieczorek/Patrick Périn (Hrsgg.), Die Franken – Wegbereiter Europas. Vor 1500 Jahren: König Chlodwig und seine Erben, Bd. 2. 2. Aufl. Mainz 1997, 879–883, sowie: Patrick Périn/Michel Kazanski, Das Grab Childerichs I., ebd. 173–182. 13 Vgl. z.B. zur Erfindung einer Prozession: Jussen, Liturgie (wie Anm. 9).
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füllt nicht die Aufgaben des Bischofs, sondern die des Abtes, kann mehr für die Seelen beim himmlischen als für die Leiber beim weltlichen Richter eintreten.‘“14 Sidonius’ Brief verdeutlicht, worum es in Remigius’ Glückwunschschreiben geht: Der gallo-romanische Politiker aus Reims riet dem jungen Franken aus der Nachbarstadt Tournai zum Eintritt in das politische Sinn- und Repräsentationsuniversum, das die alte Elite gerade erst entwickelt hatte als Ersatz für den abhanden gekommenen Kaiserhof. Der Brief zeigt exemplarisch, in welchem Legitimations- und Repräsentationsrahmen die romanischen Magnaten in Gallien Politik machten, als sie auf Chlodwig aufmerksam wurden. Ihr Aktionsradius war regional, die Machtbasis lokal. Remigius steht für den politischen Typus, mit dem Chlodwig es in der Folge immer wieder zu tun hatte, wenn er eine Stadt eroberte, in den eroberten Gebieten Politik betrieb oder sich auf die vor Ort ansässigen Repräsentanten verließ. Das Imperium war als Bezugspunkt schon weit weg, die ecclesia bereits das zentrale politische Medium dieser Magnaten. Die Infrastruktur und die gedanklichen Wurzeln für die künftige politische Theologie, die in Gregor von Tours ihren ersten großen – narrativen – Theoretiker finden sollte, waren installiert. Aus der Rückschau betrachtet war dieser Versuch, den jungen Herrscher auf das Zeichenuniversum des Christentums zu verpflichten, sehr nützlich für Chlodwig, denn dieses Register politischer Repräsentation sollte sich sehr bald für viele Jahrhunderte als das alles beherrschende politische Zeichensystem durchsetzen. Im Vergleich mit Theoderich ist der Startvorteil besonders deutlich: Die regionalen gallischen Magnaten haben Chlodwig vom ersten Moment an etwas von Gott, Heiligen, Kirche und Almosen erzählt und natürlich von sich selbst, weil sie die exponierten Repräsentanten Gottes waren – als Inhaber der für die politischen Bedürfnisse von Magnaten zu Stadtherrschaften umgeformten Bischofssitze. Ganz anders Theoderich: Er und die Seinen waren in ein Land eingefallen, in dem alle Mächtigen vom Kaiser redeten und noch hoffen konnten, eines Tages Konsul zu werden und hunderte Konsulardiptychen schnitzen zu lassen15, auf denen noch einmal das ganze Universum der römisch-kaiserlichen Semantik ins Bild gesetzt wurde – die Zirkusspiele und die Siegesprämien, Zepter mit Adler und Kaiserbild, mappa und sella curulis, die senatorische Kleidung in ihren feinen Abstufungen, die Personifikationen Roms und Konstantinopels, die Vignetten des Kaisers und der Kaiserin. Wenn Theoderich einem Bischof begegnete, dann war dieser natürlich auch ein politischer Akteur, aber eben kein zentraler Akteur des römischen
14 Sidonius Apollinaris, Epistolae, VII, 9, 9, ed. André Loyen, Sidoine Apollinaire, Lettres, Bd. 3: Livres VI–IX. Paris 1970, 55: „Si quempiam nominauero monachorum, […] murmur euerberat […]: Hic qui nominatur, inquiunt, non episcopi, sed potius abbatis complet officium et intercedere magis pro animabus apud caelestem quam pro corporibus apud terrenum iudicem potest.“ 15 Dazu die diversen Forschungen von Antony Cutler, etwa Antony Cutler, Significant Gifts. Patterns of Exchange in Late Antique, Byzantine, and Early Islamic Diplomacy, in: Journal of Medieval and Early Modern Studies 38, 2008, 79–101.
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politischen Systems. Theoderich war noch mit allen Institutionen des politischen Römertums und seinen prunkvollen Inszenierungen konfrontiert – mit dem Senat, mit Konsuln und so fort. Er bezog sich auf dieses untergehende System, das er im Übrigen – anders als Chlodwig – aus seiner zehnjährigen Zeit als Geisel in der Kaiserstadt am Bosporus sehr gut kannte. Im dichten Umfeld des Kaiserhofes dachte man nicht daran, sich von christlichen Predigern die Zirkusspiele ausreden zu lassen. In Gallien aber war der Zirkus – eines der römischsten aller römischen Signale – schon lange abgeschafft, als Chlodwigs Vater in den frühen 480erJahren starb. Zirkusspiele passten nicht mehr in den neuen Repräsentationsrahmen der gallischen Aristokraten, zu verbissen hatten die christlichen Prediger und Autoren der ersten vier Jahrhunderte gerade diese Praxis zum Stein des Anstoßes gemacht. Chlodwig war in ein alternatives, aus der politischen Not einer verlassenen Elite geborenes, eben erst entstehendes poströmisches System geboren und als Heranwachsender politisch integriert worden. Die gallischen Magnaten brauchten den Kaiser nicht mehr, auch wenn sie das Sinn- und Zeichenuniversum des Imperiums, von dem Theoderich abhängig war, weiterhin für ihre neue politische Infrastruktur nutzten. Jenseits des Militärischen war Chlodwig für den Aufbau eines effizienten und langlebigen Machtgefüges vollständig abhängig von der politischen Neuorientierung, die die alte gallo-romanische Elite im voraufgehenden Jahrhundert vollzogen hatte. Es waren nicht die Franken unter einem König Chlodwig, die in Gallien eine neue politische Kultur aufgebaut haben, sondern es waren die alten politischen Akteure, für die sich plötzlich niemand mehr am Kaiserhof interessiert hat, die im Jahrhundert vor Chlodwigs Auftauchen die Grundlagen für die politische Welt gelegt haben, die man seit der Aufklärung „mittelalterlich“ nennt. Als dann hundert Jahre nach dem Verschwinden der Kaiser der junge Franke Chlodwig auf die Bühne trat, boten die ehemaligen Reichsaristokraten ihm nicht mehr jenes politische System an, das etwa ihre italischen Standesgenossen für Theoderich bereithielten. Sie boten ihm die bereits weitgehend ausentwickelten Grundlagen des neuen Systems. So mag Theoderichs Herrschaft um 515, als er über West- und Ostgoten herrschte und für diesen großen Herrschaftsbereich seinen Schwiegersohn als Nachfolger designiert hatte, viel glänzender und machtvoller gewesen sein als Chlodwigs. Aber ideologisch und politisch besser aufgestellt für eine Zukunft ohne die Koordinaten des Kaiserhofs waren die Institutionen im Machtbereich Chlodwigs. III. FERNER MIGRATIONSHINTERGRUND Selektionsvorteil der Franken Als Chlodwig († 511) und ihm folgend seine Söhne innerhalb weniger Jahrzehnte ein erstaunlich stabiles neues Königtum in Gallien etabliert haben, hatten sie es viel leichter als ihre Nachbarn. Der Aufsteiger Chlodwig war ein Kind Galliens,
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und zwar – als um 465 Geborener – mindestens in der vierten Generation. Vier Generationen, das ist länger, als das generationelle Gedächtnis reicht. Von der Einwanderung seiner und anderer fränkischer Familien ins nördliche Gallien dürfte selbst Chlodwigs Großvater nur noch vom Hörensagen gewusst haben. Er war provinzialrömisch sozialisiert, und zwar in eben jener Region, in der er später seine Herrschaft aufgebaut hat. Schon im 4. Jahrhundert hatten sich die Franken in Gallien nördlich der Loire inmitten der romanischen Bevölkerung in kleinen Gruppen niedergelassen, mit bäuerlichem und kriegerischem Lebensstil. Solche kleinen Siedlungen lassen sich etwa in Städten wie Cambrai, Köln oder Tournai nachweisen. Mehr als hundert Jahre haben sie sich anscheinend mit den jeweiligen lokalen Autoritätsverhältnissen arrangiert, also weitgehend mit Romanen, ohne sich unter einem fränkischen Anführer oder einer führenden fränkischen Familie zu vereinen und ohne ein einheitliches Machtsystem zu etablieren. Die archäologisch erschlossenen Gräberfelder legen nahe, dass es zwischen dem 4. und dem 7. Jahrhundert kaum Konflikte gegeben hat zwischen den romanischen Bewohnern der Städte und des Landes und den mitten unter ihnen wohnenden fränkischen Nachbarn mit Migrationshintergrund. Man nutzte die gleichen Gräberfelder. Die Verletzungen der Begrabenen und die Art der Grabbeigaben deuten nicht auf Gewaltverhältnisse hin.16 Selbstverständlich verstand Chlodwig Latein, so wie die Romanen in Gallien – selbst die Aristokraten – die Sprache ihrer zugereisten Nachbarn beherrschten und deren „barbarischen Stil“ in ihre Kleidung übernommen hatten.17 Als sich gegen 500 eine dieser weit jenseits des kollektiven Gedächtnisses zugereisten Familien als Königsfamilie etablierte, war der Migrationshintergrund verblasst, die Familie gut assimiliert und offenbar – wenn wir Ian Wood folgen – sogar in die Bildungskultur integriert.18 Selbst als Chlodwig seinen Machtbereich ausdehnte, verließ er den regionalen Kommunikationsraum der gallo-römischen Bevölkerung kaum. Zwar teilen die Franken mit allen neuen Machtsystemen von einiger Stabilität (Goten, Vandalen, Burgunder), dass sie mindestens eine Generation zuvor auf römischem Boden vorgedrungen waren, während Herrschaftsbildungen jenseits der Grenzen, die nicht auf römische Infrastruktur aufbauen konnten, noch weniger Chancen auf Langlebigkeit hatten (Sachsen, Alemannen).19 Doch die Immigration der Franken in die römischen Regionen nördlich der Loire war in signifikanter Weise anders organisiert als die der Goten, Burgunder und Vandalen in anderen Teilen des Imperiums. Während Goten, Burgunder und Vandalen sich bereits zu größeren Einheiten (mithin zu spezifischen politischen und sozialen Strukturen)
16 Luc Buchet, Die Landnahme der Franken in Gallien aus der Sicht der Anthropologen, in: Wieczorek/Périn (Hrsgg.), Die Franken (wie Anm. 12), Bd. 2, 662–667, hier bes. 666. 17 Philipp von Rummel, Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert. (RGA Erg.-Bd. 55.) Berlin 2007. 18 Ian N. Wood, The Governing Class of the Gibichung and Early Merovingian Kingdoms, in: Pohl/Wieser (Hrsgg.), Der frühmittelalterliche Staat (wie Anm. 3), 11–22. 19 Dazu Pohl, Völkerwanderung (wie Anm. 6), 37f.
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zusammengeschlossen hatten, bevor sie in die Gegenden ihres Machtaufbaus einwanderten, hatten die Franken über viele Generationen im 4. und 5. Jahrhundert offenbar inmitten der romanischen Einwohner gesiedelt, ohne selbst größere politische Strukturen auszubilden. Dies hatte fundamentale Konsequenzen für die entstehenden neuen Gesellschaften. Selektionsnachteil der Eroberungsgesellschaften Das spezifische und langfristig Überlegene der politischen Situation in Gallien ist im Vergleich mit anderen Regionen des westlichen Imperiums leicht zu erkennen. Norditalien (Ostgoten), Nordafrika (Vandalen), das südliche Gallien um Lyon (Burgunder) und um Toulouse (Westgoten), später auch die Iberische Halbinsel (Westgoten) sind von planmäßig eindringenden Kriegergesellschaften erobert worden, also von einem Typ spätantiker Migrantengruppen, der noch am ehesten dem entsprach, was als „Völkerwanderung“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist.20 Anders als Chlodwig installierten Theoderich, Alarich oder Geiserich Eroberungsgesellschaften. Schon dies war ein gewaltiger Selektionsvorteil Chlodwigs. Der Ostgote Theoderich ist – trotz aller Nähe zum Kaiserhof – Anführer einer Invasion gewesen. An den Rändern des Imperiums geboren, ist er mit seinen Leuten ins Innere eingedrungen und hat sich erst nach langer Reise und harten Kämpfen Ende der 480er-Jahre in jener oberitalienischen Gegend festgesetzt, in der er dann – als Eindringling mit einer Entourage von Eindringlingen – seine Macht etablierte. Auch die Burgunder hatten um 460 herum ihre Macht im Rhonebecken auf einer nicht gerade vorteilhaften Grundlage errichtet: Die reichen Romanen hatten ihnen große Teile ihres Besitzes abtreten müssen – zwei Drittel des Landes, ein Drittel der Unfreien bzw. Sklaven, die Hälfte von Haus, Garten und Feldern. Gesetzlich wurde den Burgundern untersagt, sich darüber hinaus bei ihren neuen Nachbarn zu bedienen.21 Die Westgoten sind nach langer Wanderung als „rebellierendes Föderatenheer“ (W. Pohl) um 418 in Südgallien angesiedelt worden, haben dort – ebenfalls als Fremde – um Toulouse eine Herrschaft aufgebaut. Auch sie sind anscheinend mit Land und einem Steueranteil ausgestattet worden. Als sie sich ein knappes Jahrhundert später nach ihrer Niederlage gegen Chlodwig 507 auf die Iberische Halbinsel zurückzogen, waren sie wiederum Eindringlinge.22 Alle diese Eroberer betrieben in ihren neuen Siedlungsgebieten eine mehr oder weniger ausgeprägte Desintegrationspolitik zwischen der romanischen Urbevölkerung und der eingedrungenen Kriegerbevölkerung. Besonders die Vandalen in Afrika konfiszierten Eigentum und unterdrückten die Aristokraten und die römische Kirche. Die Politik des ostgotischen Herrschers Theoderich zielte auf eine
20 Ebd. bes. 13–39. 21 Ebd. 159f. 22 Ebd. bes. 61f. und 133ff.; das Zitat ebd. 61.
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zwar friedliche Koexistenz von Romanen und Goten, aber zugleich auf eine klare Trennung, die nach seinem Tod bei den Goten ins Antirömische umschlug. Bei den Westgoten gab es selbst auf der alltäglichsten Ebene sozialer Interaktion, der Ehe, strikte Integrationshindernisse. Auch die Repräsentanten der römischen Kirche wehrten sich gegen Ehen ihrer „katholischen“ Anhänger mit Christen, die dem arianischen Bekenntnis folgten, und verstärkten damit bei den Westgoten nur, was das westgotische Recht mit dem Heiratsverbot zwischen Römern und Goten ohnehin forcierte. Erst Ende des 6. Jahrhunderts korrigierten die westgotischen Herrscher diese Politik und traten zum römischen Glauben über. Allein die Burgunder im Rhonebecken waren wie die Franken offen für Assimilation (obgleich sie wie die anderen Eroberer vom konfiszierten Gut der Romanen lebten), sollten aber ihrer militärischen Schwäche zum Opfer fallen. Die mächtigen Herrschaftsbildungen der Vandalen, West- und Ostgoten im 5. Jahrhundert waren als Eroberer anscheinend peinlich auf Identitätswahrung bedacht und betrieben eine ausgesprochene Desintegrationspolitik. Der Zusammenhalt dieser neuen Gesellschaften aus einheimischer und eingewanderter Bevölkerung war wesentlich militärisch gesichert.23 Der Franke Chlodwig hingegen, der wie seine Leute längst integriert war, konnte sich neben der militärischen auch auf eine kulturelle Gewähr des Zusammenhalts verlassen, eine Folge der späten Machtausdehnung nach Generationen der Integration. Er war, so mag man die Argumente mancher Historiker zuspitzen, kein Germane, der Gallien erobert hat, sondern ein Gallier, der Gallien gegen Eindringlinge wie die Alemannen verteidigt hat (K. F. Werner, W. Pohl). IV. KEINE BODENSCHÄTZE, ABER VIELE FRAUEN Die Herrschaft der Kaiser funktionierte dort am besten, wo sie gewissermaßen geerdet war durch die Hauptstadt. Die permanenten Bestätigungsrituale und Protestmöglichkeiten der Bewohner schränkten die Herrscher zwar ein, sicherten sie aber auch. Der Niedergang des Kaisertums im Westen wird wesentlich auf die Hauptstadtferne der Regionen zurückgeführt.24 Im Umkehrschluss lässt die Frage der Hauptstadtferne auch die unterschiedlichen Risiken der neuen germanischen Königtümer abwägen.
23 Ich folge Patrick Amory, People and Identity in Ostrogothic Italy, 489–554. Cambridge 1997. 24 Vgl. Egon Flaig, Nach 390 – Wie im Westen des Imperium ein neues politisches System entstand, in: Jussen (Hrsg.), Die Macht des Königs (wie Anm. 3), 1–13, hier 10–13; Flaig bezieht sich insbesondere auf Jochen Martin.
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Keine Bodenschätze, kein Getreide, keine Sklavenrouten Chlodwig hat sein Königtum in einem hauptstadtfernen Machtvakuum ausgebaut, das aus der Sicht der Kaiser nicht lebenswichtig war. Gallien lag nicht wie Oberitalien, Nordafrika und der griechischsprachige Teil des Imperiums in der vitalen Interessensphäre der Kaiser. Die Ostgoten hingegen siedelten im unmittelbaren Interessenbereich des Kaisers, die Vandalen in der Kornkammer des Imperiums. Für die langfristige Etablierung von politischen Strukturen, zumal von Eroberungsgesellschaften wie jenen der Goten und Vandalen, war es nicht nützlich, andauernd mit den Interessen des Kaisers rechnen zu müssen. Chlodwig und seine Nachfolger hatten diese Sorge nicht. In Gallien gab es nichts, das für die Kaiser von vitalem Interesse hätte sein können – keine Oliven wie in Syrien, kein Korn wie in Afrika, keine wichtigen Durchgangsstraßen etwa für den Sklavennachschub, auch Weinberge und Bergwerke lagen anderswo. Und anders als die Ostgrenze des Imperiums, hinter der eine alternative Hochkultur Respekt einflößte, hatte Gallien nicht einmal jenseits seiner Grenzen etwas Herausforderndes zu bieten. Nichts gab es in diesem peripheren Teil der römischen Welt, das aus der Sicht des Zentrums den Aufwand eines Engagements gelohnt hätte. Und wo keine Ressourcen sind, da gibt es keine externen Interessenten. Viele Frauen, viele Söhne Wenn man den Erfolg Chlodwigs an der Überlebensfähigkeit seines politischen Systems misst, dann muss man auch auf die Techniken der Herrschaftsweitergabe schauen, denn nicht zuletzt daran ist zum Beispiel Theoderich gescheitert. Ein politisches System ist so stabil wie seine Techniken politischer Reproduktion. Um diese zu verstehen, ist nach zweierlei zu fragen: Wie sind – erstens – für den Normalfall die Aufgaben der Übertragung verteilt? Und – zweitens – wie, wenn überhaupt, werden, falls der Normalfall aus irgendeinem Grund defekt ist, die Aufgaben delegiert? Ein Beispiel: Im antiken Rom war die Weitergabe der politisch zentralen patria potestas im Normalfall über die Sohnfolge organisiert und Aufgabe des monogamen Elternpaares. Für den Defektfall, also das Ausbleiben von erwachsenen Söhnen, gab es – neben Scheidung und Wiederheirat – eine verlässliche Rechtsinstitution des Delegierens, die Adoption eines Erwachsenen. Wie lange diese Form von adoptio Bestand hatte, ist nicht genau zu ermitteln, jedenfalls verschwand sie in der Spätantike.25 Auch die patria potestas verschwand in der Spätantike eher unbemerkt. In Theoderichs System gab es für das Problem, das im klassischen römischen Recht mit der Erwachsenenadoption behoben wur-
25 Zu den wenig erfolgreichen Versuchen, noch mit diesem Instrument zu arbeiten, vgl. Bernhard Jussen, Patenschaft und Adoption im frühen Mittelalter. Künstliche Verwandtschaft als soziale Praxis. Göttingen 1991.
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de, offenbar keine Lösung. Theoderich lebte – jedenfalls aus der Sicht des politischen Systems und seiner Sukzessionsmöglichkeiten – monogam. Sein Versuch, die Nachfolge durch Heiratspolitik zu regeln, scheiterte durch Todesfälle. Heiratspolitik ist ein viel zu unkalkulierbares Reproduktionsinstrument, Gesellschaften, bei denen Manneslinien und familiale Sukzession wichtig ist, brauchen zusätzliche Institutionen (wie bei den Römern die Adoption). Als Theoderich starb, blieb nur ein noch zu junger Enkel. Theoderichs Mangel an Söhnen wurde seinem strahlenden politischen System zum Verhängnis. Die frühen Franken hatten dieses Problem nicht. Polygynie war – zumindest bei den Königen – der Normalfall. Den Franken wie ihren romanischen Zeitgenossen war egal, wer den Königen die Nachfolger gebar. Ein Delegierungsmechanimus war nicht nötig. Nachweisbar ist dies – zugegeben – erst bei Chlodwigs Nachfolgern, da wir nur über eine der zumindest zwei Frauen Chlodwigs genug wissen. Mangel an männlichen Nachfolgern gab es jedenfalls über Generationen nicht. Hier erwiesen sich Frauen als besonders wichtige Ressource und ein Verwandtschaftssystem, das zumindest bei Mächtigen die Polygynie zuließ, als entscheidender Selektionsvorteil.26 Gewalt Offenbar – so jedenfalls hat es 80 Jahre später ein legendenfreudiger Chronist in seine recht durchsichtige literarische und politische Agenda eingebaut27 – zählte Chlodwig zu den perfidesten und skrupellosesten unter den Germanenkönigen, für den brutaler Verwandtenmord zu den normalen Techniken der politischen Durchsetzung gehörte. Nun ist die Perfidie eines Individuums nicht unbedingt ein gesellschaftliches Strukturelement, so dass genauer zu fassen bleibt, was an diesem
26 Das Thema „Frühmittelalterliche Polygynie“ ist erst in Ansätzen diskutiert; vgl. Jan Rüdiger, Der König und seine Frauen. Polygynie und politische Kultur in Europa (9.–13. Jahrhundert). Im Druck; ders., Married Couples in the Middle Ages? The Case of the Devil’s Advocate, in: Per Andersen u.a. (Hrsgg.), Law and Marriage in Medieval and Early Modern Times. Kopenhagen 2012, 83–109; Andrea Esmyol, Geliebte oder Ehefrau? Konkubinen im frühen Mittelalter. (Beihefte zum AKG 52.) Köln u.a. 2002; die Frage nach Polygynie im frühen Mittelalter ist insofern von großer Bedeutung, als ein polygynes Frühmittelalter das derzeitige, noch recht junge (in der Diskussion um Jack Goodys Thesen entwickelte) Leitnarrativ zur Entwicklung von Ehe und Familie in Europa herausfordert; vgl. dazu: Michael Mitterauer, Geschichte der Familie. Mittelalter, in: Andreas Gestrich/Jens-Uwe Krause/Michael Mitterauer (Hrsgg.), Geschichte der Familie. (Europäische Kulturgeschichte 1.) Stuttgart 2003, 160–236, sowie: Bernhard Jussen, Erbe und Verwandtschaft. Kulturen der Übertragung im Mittelalter, in: Stefan Willer/Sigrid Weigel/Bernhard Jussen (Hrsgg.), Erbe. Übertragungskonzepte zwischen Natur und Kultur. (stw 2052.) Berlin 2013, 7–36. 27 Die literarische Agenda Gregors von Tours untersucht Martin Heinzelmann, Gregor von Tours (538–594), „Zehn Bücher Geschichte“. Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert. Darmstadt 1994.
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– viel später erzählten – Hang Chlodwigs zur nackten Gewalt strukturell interessant ist für die Entstehung neuer, stabiler politischer Institutionen. Die Antwort wird mit Blick auf die Grenzen seiner Gewalt sichtbar, denn Chlodwigs rohe Gewalt traf nicht jeden. Sie zielte gegen einzelne fränkische Individuen, war aber nicht bedrohend für die Mitglieder jener wohlhabenden regionalen romanischen Elite, die sich in den Städten als bischöfliche Herrscher eingerichtet hatten. Es sieht so aus, als hätten die romanischen Magnaten keine größeren Schwierigkeiten gehabt mit Chlodwig und seiner Art, die Gallia zu stabilisieren. Chlodwigs Karriere kostete ein paar politische Spitzen aus der Klasse der Warlords das Leben, aber die romanische Bevölkerung wurde dadurch kaum in Mitleidenschaft gezogen, im Gegenteil. Wie offenbar schon sein Vater Childerich hat Chlodwig im Interesse der Gallo-Romanen agiert, indem er Gallien effizient verteidigte. Eines Wesens mit dem Vater Lange hatte die Geschichtswissenschaft den Erfolg Chlodwigs auf seine Taufe geschoben.28 Denn Chlodwig hatte das Christentum angenommen, das die Päpste vertraten und dem auch die romanische Aristokratie im Westen anhing, während die anderen Germanen es mit dem im Osten des Reiches sehr verbreiteten Glauben eines gewissen Arius († 336) hielten, den die Päpste schon seit mehr als einem Jahrhundert mit aller Kraft bekämpften. In älteren Büchern findet man stets die Vorstellung, dass die religiösen Differenzen zwischen Germanen und Romanen – Anhängern des Arius und Anhängern der Päpste – so konfliktuös gewesen seien, dass sie eine langfristige Stabilisierung etwa der gotischen Herrschaften verhindert hätten. Im Kern unterschieden sich die beiden Bekenntnisse durch ihre Auffassung vom Wesen Christi. Die Päpste beharrten darauf, dass Christus „eines Wesens mit dem Vater“ sei, während das Christentum Theoderichs, Geiserichs und der meisten anderen Germanenherrscher in Christus ein Geschöpf des Vaters sah, zwar auch einen Gott, aber einen kleineren. Diese beiden Christologien waren zwar dogmatisch nicht zu harmonisieren, aber im rituellen Vollzug waren sie nicht zu unterscheiden. Die Kultausübung war gleich, es gab kein rituelles Fanal, an dem man die Bekenntnisse sofort hätte erkennen können wie etwa 1 000 Jahre später die Anhänger Luthers an der Kommunion in beiderlei Gestalt. Warum sollten die politisch ambitionierten Romanen im Westen des Reiches so versessen darauf gewesen sein, dass die Germanen Christus für „eines Wesens mit dem Vater“ hielten? Warum sollten sie nicht ebenso leidenschaftslos gewesen sein wie ihre Standesgenossen im Osten des Imperiums? Und weshalb hat kein Germanenherr-
28 Der folgende Absatz greift z.T. wörtlich auf meinen Aufsatz Jussen, Chlodwig (wie Anm. 1) zurück.
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scher außer Chlodwig den strategischen Vorteil genutzt, den das Bekenntnis zu Christus als „eines Wesens mit dem Vater“ bot? Inzwischen weist die Forschungsliteratur bisweilen darauf hin, dass das Wesen Christi wohl doch nicht so wichtig für die Weltgeschichte war. Auch die Burgunder waren, wenn auch einige ihrer Herrscher dem Arius anhingen, weitgehend Anhänger des römischen Glaubens, was sie nicht vor dem Untergang bewahrt hat. Bei den Goten sind keinerlei Konflikte mit den Romanen erkennbar, die den unterschiedlichen Bekenntnissen zuzuschreiben wären. Der westgotische, der fränkische wie der burgundische Herrscher haben im frühen 6. Jahrhundert Synoden für die katholischen Bischöfe ihres jeweiligen Herrschaftsbereichs einberufen, ohne dass Bekenntnisprobleme überliefert wären. Anscheinend hat das Bekenntnis die Zeitgenossen unter gotischer Herrschaft nicht besonders beschäftigt. Dennoch dürfte die Bekenntnisfrage strukturell wichtig gewesen sein. Denn auch, wenn die Zeitgenossen im Italien Theoderichs sich wenig dafür interessiert haben mögen, manifestierte die Bekenntnisfrage die Trennungspolitik. Die Liturgie der Romanen unter gotischer Herrschaft und der Eroberer mag nicht unterscheidbar gewesen sein, auf jeden Fall aber traf man sich nicht in derselben Kirche. Die Franken hingegen besuchten dieselben heiligen Stätten wie die GalloRomanen. Wichtiger dürfte aber sein, dass zwar die Oberitaliener auf Bekenntnisfragen gelassen reagieren konnten, nicht aber die Gallier. Denn wo Politik noch mit Konsulardiptychen repräsentiert wurde, wo es noch einen Senat gab und der Kaiser die zentrale Autorität blieb, war das Bekenntnis politisch nicht lebenswichtig. In Gallien aber war genau dies anders. Hier gab es das alte politische System nicht mehr. Das neue System bestand aus nichts anderem als aus Religion, das Zeichensystem war das religiöse Zeichensystem, der Argumentationsapparat war der religiöse. In Gallien war lebenswichtig, was in Oberitalien eine Differenz unter vielen war. Die Taufe manifestierte den Eintritt in das noch junge politische Sinn- und Legitimationssystem. Unter den Augen der alten politischen Elite des untergegangenen politischen Systems unterwarf sich der junge fränkische Politiker mit der Taufe dem politischen Sinnsystem, mit dem die alte Elite ihr Überleben sicherte. V. CHLODWIG – EINE POLITISCHE KREATION DER KONSOLIDIERUNGSPHASE Summiert man das bislang Zusammengetragene, so erscheint das Königtum Chlodwigs nicht als Expansionsphase eines sich neu entwickelnden politischen Systems.29 Eher erscheint die politische Figur Chlodwig als vergleichsweise gefügige Kreation der gallischen Elite, die nach rund hundert Jahren relativ ungestör-
29 Ich beziehe mich mit den abschließenden Bemerkungen auf Münkler, Imperien (wie Anm. 4), bes. 79ff.
Chlodwig der Gallier
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ter politischer Abnabelung vom Kaiserhof und relativ ungestörter Arbeit an einem neuen politischen System nun in der Lage war, ein Königtum zu formen für diesen multiethnischen, politisch neu konfigurierten Raum. Gute Feldherren reichen für ein stabiles politisches System nicht aus. Die Stabilität hängt von seinen militärischen, ökonomischen, ideologischen und politischen Machtstrukturen ab, insbesondere von deren jeweiliger Regenerationsfähigkeit. Für die Stabilität eines politischen Systems ist zunächst der Übergang von der Expansionsphase zur Konsolidierungsphase entscheidend. Nicht alle Machtressourcen sind zu jeder Zeit gleichermaßen wichtig. In der Aufbauphase können militärische und ökonomische Ressourcen hinreichend sein. Hunnen und Awaren scheinen ihre Machtexpansion im Wesentlichen auf militärische Potenz gegründet zu haben, vielleicht auch – weil sie erhebliche Tribute eintrieben – auf ökonomische. Aber militärische und ökonomische Potenz reichen eben nur für die Expansionsphase eines Machtapparates aus. Spätestens zur Konsolidierung bedarf es aber ideologischer und politischer Macht, also akzeptierter Verfahren der Entscheidung und der Sukzession, einer die verschiedenen Sozialräume integrierenden Organisation von Wissen und Bedeutung (z.B. durch verbindende religiöse Rechtfertigungsnarrative), und so fort. Im Fall Galliens scheint die Expansion des neuen Systems mit einem eher unterentwickelten militärischen Bereich ausgekommen zu sein. Die alten romanischen Magnatenfamilien haben im Gallien des 5. Jahrhunderts gewissermaßen unterhalb der wechselvollen militärischen Auseinandersetzungen eines Aetius, Aegidius, Syagrius und anderer eine neue, aus der Rückschau wegweisende, politische und ideologische Machtgrundlage geschaffen. Konsolidiert wurde dieser Neuentwurf dadurch, dass seit etwa 480 die wechselnden Gebietsherren nur noch unter den Mitgliedern einer einzigen, gut assimilierten Familie ausgefochten wurden. Wenn wir die Geschichte so erzählen, dann waren die vom Imperium abgehängten aristokratischen Gallo-Romanen die Architekten der neuen Welt. Den Ostgoten ist der Übergang von der Eroberung in die Konsolidierung nicht deshalb misslungen, weil sie Arianer waren, jedenfalls sind keine Konflikte überliefert. Auch mag Theoderichs Rekurs auf die vorgefundene alte Welt nicht grundsätzlich dem Rekurs Chlodwigs auf die neue Welt unterlegen gewesen sein, denn im Osten lebte die alte Welt ja noch lange weiter. Aber der Typ der Eroberungsgesellschaft war strukturell unterlegen. Eroberungsgesellschaften beruhen auf Gewalt und können deshalb an vergleichsweise kleinen Systemfehlern scheitern – zum Beispiel daran, dass sie keine institutionelle Lösung gegen Kinderlosigkeit haben. Chlodwigs Königtum war natürlich nicht deshalb stabil, weil das Problem der Nachkommenschaft durch Polygynie beseitigt war. Es war stabil, weil Chlodwig kein Eroberer war, sondern weitgehend in eine Struktur eingestiegen ist, die vor seiner Zeit von alten, politisch erfahrenen Romanenfamilien gebaut worden war, die er nicht herausforderte und die auch ohne königliche Spitze eine Weile existiert hatten. Das neue – vollständig als ecclesia konzipierte – politische System konnte selbst mit schwachen Königen und mit solchen, die sich andauernd gegenseitig umbrachten, überleben. Ein Eroberungskönigtum konnte dies nicht.
CHLODWIG ZWISCHEN BIOGRAPHIE UND QUELLENKRITIK Matthias Becher Der Aufgabe, die Biographie Chlodwigs darzustellen, könnte man sich etwa folgendermaßen entledigen: Chlodwig trat irgendwann in den beiden letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts die Nachfolge seines Vaters als fränkischer Teilkönig an. Sein Reich umfasste wahrscheinlich lediglich die Region rund um die Stadt Tournai, heute an der belgisch-französischen Grenze gelegen. Seine wichtigste Tat war wohl der Übertritt zum Christentum. Doch auch als Eroberer machte er sich einen Namen. Als Chlodwig am 27. November 511 starb, reichte sein Herrschaftsgebiet von Südfrankreich bis an den Rhein und umfasste große Teile Galliens. Nach den Maßstäben der Zeit war damit wieder ein Großreich im Westen Europas entstanden. Es ist zwar weit hinter den räumlichen Dimensionen des untergegangenen weströmischen Reiches zurückgeblieben, aber dafür sollte es die Geschicke Westeuropas rund vier Jahrhunderte lang bestimmen.1 Diese Zusammenfassung ist zwar einfach und allgemein gehalten, aber selbst sie enthält Aussagen, die problematisch oder gar äußerst umstritten sind. Starb Chlodwig wirklich im November des Jahres 511? Wann trat er zum Christentum über, warum tat er das und für welche Form des christlichen Glaubens hat er sich entschieden? Wann und wieso kam es zu seinen Eroberungen? Die Liste ließe sich beliebig fortsetzen und präzisieren. Diese Fragen sind sowohl für einen biographischen Ansatz als auch für einen strukturgeschichtlichen Zugang wichtig. Es ist im Sinne der Herausgeber, dass beide Komponenten in eigenen Beiträgen thematisiert werden.2 Zunächst also soll es um die Frage gehen: Wer war der Frankenkönig Chlodwig? Bei der Beantwortung dieser Frage ist die Forschung seit jeher mit einer herausfordernden Quellenlage konfrontiert, die zu den gerade skizzierten Unsicherheiten führt. Anders als bei einigen anderen frühmittelalterlichen Herrschern ist die Überlieferung extrem schmal: Wir sind fast ausschließlich auf einen 1
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Vgl. etwa Adolf Lippold, Chlodovechus, in: RE Suppl.-Bd. 13, 1973, 139–174; Hans Hubert Anton, Chlodwig, in: RGA2 4, 1979, 478–486; Ruth Schmidt-Wiegand, Chlodwig, in: HRG2 1, 2004, 835–837; Michel Rouche, Clovis. Suivi de vingt et un documents traduits et commentés. Paris 1996; Bernhard Jussen, Chlodwig und die Eigentümlichkeiten Galliens. Ein warlord im rechten Augenblick, in: Mischa Meier (Hrsg.), Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, 141–155; Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt. München 2011 (für die folgenden Ausführungen wurde auf Verweise auf die genannten Werke verzichtet). Vgl. den Beitrag von Bernhard Jussen in diesem Band.
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Matthias Becher
einzigen Geschichtsschreiber angewiesen, auf Gregor von Tours, der mehr als sechzig Jahre nach Chlodwigs Tod eine zusammenhängende Darstellung von dessen Taten verfasst hat.3 Der englische Mittelalterhistoriker John Michael WallaceHadrill hat die Quellenlage mit folgenden Worten auf den Punkt gebracht: Clovis is Gregory’s Clovis, whether we like it or not; he is Gregory’s ‚magnus et pugnator egregius’, the man who brought the Salians to Catholicism and to a kind of Romanitas, the father of his dynasty.4
Gregor sah in Chlodwig einen herausragenden Krieger und Bekehrer seines Volkes, einen idealen Herrscher, auf den er die politische und religiöse Ordnung im Frankenreich zurückführte. Mehr noch: Den zerstrittenen Königen seiner Gegenwart, den Enkeln Chlodwigs, hielt der Chronist dessen leuchtendes Beispiel vor Augen: Recordamini, quid capud victuriarum vestrarum Chlodovechus fecerit, qui adversos reges interficet, noxias gentes elisit, patrias subiugavit, quarum regnum vobis integrum inlesumque reliquit! Et cum hoc facerit, neque aurum neque argentum, sicut nunc est in thesauris vestris, habebat.5
Gregor evoziert in der Vorrede zum fünften Buch seines Werkes, welches er hauptsächlich den Bruderkriegen der Merowinger seiner eigenen Zeit widmete, das Bild eines siegreichen Herrschers: Völlig mittellos habe Chlodwig alle Probleme bewältigt, sei beispielhaft aufgestiegen und habe seinen Erben ein blühendes Reich hinterlassen. In gewissem Sinne folgt die Forschung bis heute diesem Bild, indem sie Chlodwigs Siegeszug vom kleinen Regionalkönig aus dem vergleichsweise unbedeutenden Tournai zum Großkönig feiert. In den letzten Jahren ist dieses Bild aber ins Wanken geraten, weil zum einen die bislang weithin akzeptierte Chronologie von Chlodwigs Herrschaft stark hinterfragt wird und weil zum anderen die Relevanz seiner Entscheidung für die katholische Form des Christentums in die Diskussion geraten ist. Hatte Gregor von Tours Chlodwig noch zu einem Vorkämpfer der seiner Meinung nach rechtgläubigen Lehre stilisiert, so wird dieses Motiv in der jüngeren Forschung zunehmend zurückgedrängt bis hin zu der These, er sei sogar während seines Krieges gegen 3
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Martin Heinzelmann, Gregor von Tours (538–594). „Zehn Bücher Geschichte“. Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert. Darmstadt 1994; aus der schier unüberschaubaren Literaturfülle seien noch genannt: Walter Goffart, The Narrators of Barbarian History (A.D. 550–800). Jordanes, Gregory of Tours, Bede, and Paul the Deacon. Princeton 1988; Kathleen Mitchell/Ian N. Wood (Hrsgg.), The World of Gregory of Tours. (Cultures, Beliefs and Traditions 8.) Leiden 2002; Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimitätsstiftung in früh- und hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen. (Orbis mediaevalis 7.) Berlin 2006, 116–147. John Michael Wallace-Hadrill, The Long-Haired Kings and Other Studies in Frankish History. New York 1962, ND London 1989, 163f.; Das Zitat im Zitat: Gregor von Tours, Libri Historiarum decem, II, 12, edd. Bruno Krusch/Wilhelm Levison, in: MGH SS rer. Merov. 1/1. 2. Aufl. Hannover 1951, 62. Gregor, Hist., V, praef. (wie Anm. 4), 193; vgl. Guy Halsall, The Preface to Book V of Gregory of Tours’ Histories: Its Form, Context and Significance, in: EHR 22, 2007, 297–317.
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die Westgoten noch nicht getauft gewesen, was seine Motive sowohl für diesen Waffengang als auch für seine glaubenspolitische Entscheidung in ein anderes Licht rücken würde. Das Bild Chlodwigs, das nur in Auseinandersetzung mit Gregor von Tours entworfen werden kann, gilt es deswegen erneut zu überprüfen. Dabei erscheinen zunächst Gregors chronologische Angaben von größter Bedeutung. Aber auch die Zuverlässigkeit seiner Darstellung von Chlodwigs Herrschaft insgesamt steht zur Debatte. Sie soll unter Hinzuziehung ergänzender Quellen, wie Briefen und hagiographischen Werken, analysiert werden. Die Schwerpunkte dabei sind Chlodwigs Sieg über Syagrius, den römischen Machthaber in Nordgallien, sein Bündnis mit Theoderich dem Großen, sein Übertritt zum Christentum sowie seine späteren Kriege mit Burgundern und Westgoten. I. ZU CHRONOLOGIE UND QUELLENWERT GREGORS VON TOURS Gregor entstammte einem gallo-romanischen Senatorengeschlecht und amtierte von 573 bis zu seinem Tod 594 als Bischof von Tours: Damit sind die wichtigsten Bezugspunkte seines Denkens genannt. Er nahm keine ‚fränkische‘ Perspektive ein, sondern verstand sich vor allem als Universalchronist in christlicher Tradition.6 Am Anfang des ersten von insgesamt zehn Büchern steht sein persönliches Glaubensbekenntnis. Wie er selbst angab, wollte er in seiner historia die Kriege der Könige, den Kampf der Märtyrer mit ihren Verfolgern sowie die Wundertaten der Heiligen beschreiben.7 Das erste Buch beginnt mit der Schöpfung und reicht bis zum Tod des heiligen Martin im Jahr 397. Schon hier ist eine zunehmende Konzentration der Darstellung auf Gallien sowie die Rolle der Bischöfe und Heiligen zu erkennen. Das zweite Buch ist fast ausschließlich Gallien gewidmet und gipfelt in den Berichten über Chlodwig. Die Kapitel 27 bis 43 bilden die Grundlage aller Beschäftigung mit dem Merowinger, die daher stets von der Frage nach ihrer Konzeption und Zuverlässigkeit auszugehen hat. Früher griff man ohne größere Bedenken auf Gregor zurück, gerade für eine Darstellung von Chlodwigs Herrschaft. Nur einzelne Details wurden kritisch beleuchtet und vielleicht auch einmal zurückgewiesen, aber man hat sich an die Grundlinien des Chronisten gehalten. In jüngerer Zeit wurde die Kritik allerdings entschiedener und vielschichtiger. So ist man sich zum Beispiel nach den eingehenden Untersuchungen von Ian Wood nun doch weitgehend einig, dass Chlodwigs Westgotenkrieg keine Aktion zur Befreiung der Katholiken von der ariani6
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Vgl. die in Anm. 3 angegebene Literatur; Edward James, Gregory of Tours and the Franks, in: Alexander Callander Murray (Hrsg.), After Rome’s Fall: Narrators and Sources of Early Medieval History. Toronto 1998, 51–66, sieht in Gregor vor allem einen Funktionsträger der Frankenkönige, der daher zwischen Franken und Römern nicht weiter differenziert habe. Gregor, Hist., I, paef. (wie Anm. 4), 3ff.; vgl. Martin Heinzelmann, Hagiographischer und historischer Diskurs bei Gregor von Tours?, in: Marc Van Uytfanghe/Roland Demeulenaere (Hrsgg.), Aevum inter utrumque. Mélanges offerts à Gabriel Sanders. Steenbrugge 1991, 237–258, hier 238f.
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schen Herrschaft gewesen ist.8 Auch Gregors Stilisierungen bei der Taufe Chlodwigs sind längst bekannt.9 Vor allem aber wird das Datum seines Übertritts zum Christentum seit langem diskutiert – die vorgeschlagenen Zeitansätze reichen von 495 bis 509.10 Ist die Spätdatierung richtig, so hätte Chlodwig seinen Krieg gegen die Westgoten sogar noch als Heide geführt und sich erst danach dem Christentum zugewandt. Mittlerweile betrifft die Kritik an Gregors Zeitangaben aber nicht mehr nur die Taufe Chlodwigs, sondern alle zentralen Daten seiner Herrschaft, sogar seine Regierungsdaten.11 Sowohl sein Herrschaftsantritt 481/82 als auch sein Sterbejahr 511 werden angezweifelt. Diese Unsicherheit hängt zunächst einmal mit der spezifischen Quellengrundlage zusammen, mit der Gregor zurechtkommen musste: Ihm stand kein absolutes und allgemeingültiges Datierungssystem zur Verfügung. So wurde die Konsulardatierung zu seiner Zeit hauptsächlich in Burgund verwandt, nicht aber im übrigen Gallien.12 Gregor datierte daher nach 8
Grundlegend: Ian N. Wood, Gregory of Tours and Clovis, in: RBPH 63, 1985, 249–272; vgl. etwa auch Edward James, Gregory of Tours and “Arianism”, in: Andrew Cain /Noel Lenski (Hrsgg.), The Power of Religion in Late Antiquity. Farnham 2009, 327–338. 9 Vgl. Wolfram von den Steinen, Chlodwigs Übergang zum Christentum. Eine quellenkritische Studie, in: MIÖG Erg.-Bd. 12, 1932, 417–501; Separatdruck, 3. Aufl. Darmstadt 1969. 10 Vgl. etwa Wilhelm Levison, Zur Geschichte des Frankenkönigs Chlodowech, in: BJ 103, 1898, 42–67, ND in: Aus rheinischer und fränkischer Frühzeit. Ausgewählte Aufsätze von Wilhelm Levison, Düsseldorf 1948, 202–228; Von den Steinen, Übergang (wie Anm. 9), 465f.; André van de Vyver, La victoire contre les Alamans et la conversion de Clovis, in: RBPH 15, 1936, 859–914 und 16, 1937, 35–94; Wood, Gregory of Tours and Clovis (wie Anm. 8), 265–271; Rolf Weiss, Chlodwigs Taufe. Reims 508. Versuch einer neuen Chronologie für die Regierungszeit des ersten christlichen Frankenkönigs unter Berücksichtigung der politischen und kirchlich-dogmatischen Probleme seiner Zeit. (Geist und Werk der Zeiten 29.) Bern/Frankfurt a.M. 1971; Eugen Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich. 6. Aufl. Stuttgart 2012, 23f.; Edward James, The Franks. (Peoples of Europe.) Oxford 1988, 79; Mark Spencer, Dating the Baptism of Clovis. 1886–1993, in: EME 3, 1994, 97–116; Rouche, Clovis (wie Anm. 1), 275; Bertrand Fauvarque, Le baptême de Clovis, ouverture du millénaire des saints, in: Michel Rouche (Hrsg.), Clovis. Histoire et mémoire, Bd. 1: Clovis et son temps, l’événement. Paris 1997, 271–286; Danuta Shanzer, Dating the Baptism of Clovis. The Bishop of Vienne vs. the Bishop of Tours, in: EME 7, 1998, 29–57; Knut Schäferdiek, Chlodwigs Religionswechsel. Bedingungen, Ablauf und Bewegkräfte, in: Peter Gemeinhardt (Hrsg.), Patristica et oecumenica. Festschrift für Wolfgang A. Bienert zum 65. Geburtstag. Marburg 2004, 105–121; zusammenfassend Reinhold Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich. (Enzyklopädie deutscher Geschichte 26.) 3. Aufl. München 2004, 89f.; in Anlehnung an Levison für 496: Becher, Chlodwig I. (wie Anm. 1), 199ff.; 205f. 11 Vgl. Guy Halsall, Childeric’s Grave, Clovis’ Succession, and the Origins of the Merovingian Kingdom, in: Ralph W. Mathisen/Danuta Shanzer (Hrsgg.), Society and Culture in Late Antique Gaul. Revisiting the Sources. Aldershot u.a. 2001, 116–133; 118f. 12 Vgl. Mark A. Handley, Death, Society and Culture. Inscriptions and Epitaphs in Gaul and Spain, AD 300–750. (British Archaeological Reports International Series 1135.) Oxford 2003, 129–135; Winfried Schmitz, Spätantike und frühmittelalterliche Grabinschriften als Zeugnisse der Besiedlungs- und Sprachkontinuität in den germanischen und gallischen Provinzen, in: Thomas Grünewald (Hrsg.), Germania inferior. Besiedlung, Gesellschaft und Wirtschaft an der Grenze der römisch-germanischen Welt. (RGA Erg.-Bd. 28.) Berlin/New York 2001, 261–305, bes. 270; 272.
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Herrscher- oder Bischofsjahren, musste also (mindestens) zwei Datierungssysteme miteinander harmonisieren. Vor allem die damit verbundenen Schwierigkeiten erklären den einen oder anderen Fehler des Bischofs von Tours bei seinen chronologischen Berechnungen.13 Gregors Zeitangaben zu Chlodwig sind allerdings bereits für sich genommen auffällig: Glaubt man ihm, so starb der König im Alter von 45 Jahren und herrschte 30 Jahre über die Franken; er besiegte Syagrius in seinem 5. Regierungsjahr, unterwarf die Thüringer in seinem 10., schlug die Alemannen und entschied sich für den Übertritt zum Christentum in seinem 15. und besiegte die Westgoten in seinem 25. Jahr.14 Diese regelmäßigen Abstände von fünf Jahren sind irritierend und stehen im Mittelpunkt der Kritik, da sie auf eine Stilisierung durch den Chronisten schließen lassen. Ging diese so weit, dass Gregor den Übertritt Chlodwigs zum Christentum vordatiert hat, damit der König seinen Sieg über die Westgoten als Anhänger der rechtgläubigen Lehre feiern konnte? Hätte dem Chronisten nicht auch der Sieg eines Heiden über die häretischen Arianer in sein antiarianisches Konzept gepasst, eines Heiden, der im Zuge dieses Triumphes auch noch zur katholischen Lehre übertrat? Hat Gregor also absichtlich die historischen Fakten derart entstellt oder gar in ihr Gegenteil gekehrt, nur um seinem Konzept folgen zu können? Oder – und das entspräche der herkömmlichen Auffassung – hat er auf der Grundlage der ihm bekannten Ereignisse und ihrer chronologischen Abfolge selektiv und einseitig berichtet, um die Geschehnisse in seinem Sinne zu stilisieren? Zur Verteidigung von Gregors Angaben hat man auf eine seiner möglichen Quellen verwiesen: Der Fünfer-Zyklus gehe vermutlich auf einen oder sogar mehrere Texte zurück15, denen Gregor diese Datierungsart entnommen hat. So war es in der Spätantike durchaus noch üblich, die Regierungszeit eines Herrschers in
13 Dies gilt etwa für den Versuch, Chlodwigs Tod in die Chronologie der Bischöfe von Tours einzuordnen, der etwa von James, The Franks (wie Anm. 10), 79, entsprechend kommentiert wird: Gregor, Hist., II, 43 (wie Anm. 4), 93f.; zu Gregors Bemühungen um eine korrekte Berechnung der Amtsdaten seiner Vorgänger vgl. Luce Piétri, La succession des premiers évêques tourangeaux. Essai sur la chronologie de Grégoire de Tours, in: Mélanges de l’École française de Rome. Moyen âge – Temps modernes 94, 1982, 551–619. 14 Zusammengestellt von Levison, Zur Geschichte (wie Anm. 10), 204. 15 Einige Zeitangaben wurden sogar nachgetragen, nämlich zum 5. (Syagrius), 15. (Alemannenschlacht) und 25. Jahr (Schlacht von Voulon); nur die Angaben zum 10. Jahr (Krieg gegen die Thüringer) und zum 30. Jahr gehörten ursprünglich zum Text; man müsste also annehmen, dass Gregor die Betonung der Fünferschritte nachgetragen hat, weil er ein neues Konzept für die Darstellung von Chlodwigs Herrschaft entwickelt hat; dies ist aber nicht wahrscheinlich, weil er diese Angaben nur sehr unorganisch in den Text eingefügt hat; wahrscheinlich ist daher, dass ihm nachträglich eine weitere Quelle mit den Datierungen in das 5., 15. und 25. Jahr Chlodwigs bekannt geworden ist; so Rudolf Buchner, Zehn Bücher Geschichten, Bd. 1: Buch 1–5. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 2.) 6. Aufl. Darmstadt 1974, XXVIIf.
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Quinquennien einzuteilen und entsprechende Jubiläen zu feiern.16 Der Ostgotenkönig Theoderich der Große etwa, ein Zeitgenosse und sogar Schwager Chlodwigs, beging im Jahr 500 feierlich seine Tricennalien, die 30. Wiederkehr seines Regierungsantritts. Aus einem solchen Anlass wurden sicher auch die Siege und Erfolge eines Herrschers schriftlich festgehalten, zumindest die der vergangenen fünf Jahre. Gregors Datierungsweise lässt sich also durchaus mit Gepflogenheiten der Epoche Chlodwigs erklären.17 Die Einteilung in Quinquennien bringt allerdings eine Unsicherheit von bis zu fünf Jahren mit sich. Zudem ist dieser Erklärungsansatz schon alt und konnte die Zweifel der sogenannten Spätdatierer an Gregor nicht zerstreuen. Sie verweisen auf scheinbare Widersprüche seiner Angaben zu anderen Nachrichten, insbesondere über den Alemannenkrieg Chlodwigs, in dessen Verlauf er sich entschloss, zum Christentum überzutreten. Cassiodor zufolge fand ein Krieg gegen die Alemannen im Jahr 506 statt; da Gregor außerdem nur von einer Auseinandersetzung mit diesem Volk berichtet, könne die Taufe Chlodwigs frühestens in diesem Jahr erfolgt sein, so lautet der wichtigste Hinweis in diesem Zusammenhang.18 Das argumentum e silentio ist aber für eine quellenarme Zeit wie die Wende vom 5. zum 6. Jahrhundert nicht sehr stark. Mehrere Kriege oder ein langwieriges Ringen zwischen Franken und Alemannen können nicht ausgeschlossen werden, zumal die sogenannte Fredegarchronik aus der Mitte des 7. Jahrhunderts von einer neunjährigen Auseinandersetzung beider Völker berichtet.19 Hier weicht diese Quelle von ihrer Vorlage Gregor ab, verfügte also vermutlich auch über andere Informationen zu diesem Geschehen. Dazu kommt, dass Chlodwig seine Kriege gegen die Westgoten (507) und die Burgunder (500) erst nach seiner Taufe unternommen hat. Das geht zumindest aus einem Brief hervor, den Bischof Nicetius von Trier um 560 an
16 Vgl. Matthäus Heil, Die Jubilarfeiern der römischen Kaiser, in: Hans Beck/Ulrich Wiemer (Hrsgg.), Feiern und Erinnern: Geschichtsbilder im Spiegel antiker Feste. Berlin 2010, 167– 202. 17 Für Gregors Glaubwürdigkeit im dargelegten Sinne plädierte mit überzeugenden Argumenten vor allem Levison, Zur Geschichte (wie Anm. 10); sein Ansatz wurde weitergeführt von Karl Hauck, Von einer spätantiken Randkultur zum karolingischen Europa, in: FMSt 1, 1967, 3– 93, hier 20ff.; zustimmend auch Spencer, Dating (wie Anm. 10); kritisch dagegen Wood, Gregory (wie Anm. 3); Shanzer, Dating (wie Anm. 10); der Hinweis von Halsall, Childeric’s Grave (wie Anm. 11), 117 mit Anm. 8f., gegen Gregors Chronologie ist nicht recht überzeugend; so bezeichnet er 30 Jahre als „a convenient and appropriate length for the reign of a great king“, verweist dann aber lediglich auf das Alter Davids bei seinem Herrschaftsantritt und auf Jesu Alter bei seiner Taufe; auch Gregors Vorliebe für das Mehrfache der Zahl zehn vermag er lediglich mit einigen Stellen zu belegen, in denen Gregor das Lebensalter einer Person entsprechend gerundet hat; Beispiele für derart veränderte Herrschaftsdaten führt er dagegen nicht an. 18 Cassiodor, Variae, II, 41, ed. Theodor Mommsen, in: MGH Auct. ant. 12. Berlin 1894, 73; Gregor, Hist., II, 30 (wie Anm. 4), 75f. 19 Chronicarum quae dicuntur Fredegarii scholastici, III, 21, ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 2. Hannover 1888, 101; vgl. Dieter Geuenich, Geschichte der Alemannen. Stuttgart 1997, 85.
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Chlodwigs Enkelin Chlodoswinde geschrieben hat.20 Beide Zeugnisse widersprechen also der Annahme von einer einzigen, allein in das Jahr 506 zu datierenden Auseinandersetzung Chlodwigs mit den Alemannen. Weiter wäre Gregors Datierung äußerst zweifelhaft, sollte der Brief, in dem Bischof Avitus von Vienne dem Frankenkönig zu seiner bevorstehenden Taufe gratuliert, in die Zeit nach 501 zu datieren sein. Avitus schreibt im Prolog seiner Schrift De spiritalis historiae gestis, fast alle seiner epigrammata seien während der Belagerung von Vienne 501 verstreut worden.21 Demnach müsse das Gratulationsschreiben jünger sein. Freilich schreibt Avitus unmittelbar darauf, andere Schriftstücke seien ihm später zurückgegeben worden. Damit ist also fraglich, dass die Briefe des Avitus dauerhaft verloren waren. Laut Gregor waren zu seiner Zeit immerhin neun Bücher mit Briefen des Avitus im Umlauf, obwohl dieser ihre Zusammenstellung nicht veranlasst hatte.22 Aus den Wirren von 501 kann somit kein zwingendes Argument für die Datierung des Gratulationsschreibens und damit für den Zeitpunkt der Taufe abgeleitet werden. Aufgrund dessen bleibt nur eine chronologische Angabe Gregors übrig, die anhand anderer Quellen überprüft werden kann: die Nachricht über Chlodwigs Tod post Vogladinse bellum anno quinto.23 Damit war Chlodwigs Sieg über den Westgotenkönig Alarich II. gemeint, der anderen Quellen zufolge in das Jahr 507 gehört, vermutlich in das Frühjahr oder in den Frühsommer.24 Das fünfte Jahr danach reichte daher vom Frühjahr oder Sommer 511 bis in die entsprechende Zeit 512. Das Sterbejahr des Königs hat Wilhelm Levison unabhängig von Gregor auf 511 festgesetzt, indem er andere Angaben herangezogen hat, so vor allem die Datierung von Konzilien, die unter Chlodwigs Söhnen stattgefunden haben.25 Nach den Kalendarien von Sainte-Geneviève, der Kirche, in der er bestattet wurde, fällt der Todestag Chlodwigs auf einen 27. November. Das führt auf den 27. November 511 als Todestag des Frankenkönigs.26 Die von Gregor angegebene Zeitspanne von fünf Jahren ist also zutreffend. Er stellt aber außerdem noch fest, Chlodwig sei im 30. Jahr seiner Herrschaft gestorben. Soll man diese Angabe verwerfen, nur weil diese Zahl wieder durch 5 teilbar ist? Ohne weitere Indizien 20 Epistolae Austrasicae, ep. 8, ed. Wilhelm Gundlach, in: MGH Epp. 3. Hannover 1883, 122; ed. Elena Malaspina, Il Liber epistolarum della cancelleria austrasica (sec. V–VI). (Biblioteca di cultura romanobarbarica 4.) Rom 2001, 96. 21 Avitus von Vienne, Prologus ad Apollinarem episcopum, ed. Rudolf Peiper, in: MGH Auct. ant. 6/2. Berlin 1883, 201. 22 Gregor, Hist., II, 34 (wie Anm. 4), 81f.; vgl. Spencer, Dating (wie Anm. 10), 107. 23 Gregor, Hist., II, 43 (wie Anm. 4), 93. 24 Zusammenstellung der Quellen bei Levison, Zur Geschichte (wie Anm. 10), 212; vgl. auch Regine Sonntag, Studien zur Bewertung von Zahlenangaben in der Geschichtsschreibung des früheren Mittelalters. Die Decem Libri Historiarum Gregors von Tours und die Chronica Reginos von Prüm. (Münchener Historische Studien, Abt. mittelalterliche Geschichte 4.) Kallmünz (Opf.) 1989, 20ff. 25 Levison, Zur Geschichte (wie Anm. 10), 208f. 26 Vgl. auch Margarete Weidemann, Zur Chronologie der Merowinger im 6. Jahrhundert, in: Francia 10, 1982, 471–513, hier 482.
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geht das nicht an. Das gilt daher auch für alle chronologischen Angaben Gregors über Chlodwig, zumal kein Grund ersichtlich ist, warum er seine Darstellung willkürlich einem Konzept von Fünferschritten untergeordnet haben soll. Gegen einen solchen Plan spricht auch der Befund, dass nur manche der Jahresangaben ursprünglich zum Text gehörten und andere nachgetragen wurden. Und schließlich müsste man annehmen, Gregor habe sein ‚System‘ nicht konsequent angewendet, denn er lässt Chlodwigs 20. Jahr aus, obwohl der Krieg gegen die Burgunder im Jahr 500 damit sogar ungefähr richtig eingeordnet wäre.27 Hätte Gregor mit seinen Zahlenangaben eine bestimmte Absicht verfolgt, so hätte er sie sicherlich deutlicher betont und nicht einfach nur ganz nebenbei erwähnt. Aus alldem wird deutlich, dass Gregor seine chronologischen Angaben über Chlodwig nach bestem Wissen und Gewissen gemacht hat. Wenn ihm dabei Versehen unterlaufen sind, dann weil seine Quellen ihn nicht zuverlässig informierten oder er einfach einen Fehler machte und nicht, weil er Chlodwigs Herrschaft mit Hilfe von dessen Herrschaftsjahren stilisieren wollte. Eine vollständige Ablehnung seiner Chronologie erscheint daher nicht statthaft, wohl aber kleinere Korrekturen an seinen Datierungen. Damit ist allerdings noch keine Aussage über den Inhalt seiner Berichte getroffen, die durchaus tendenziös sind – etwa gegenüber der nichtchristlichen Religion der Franken und fast mehr noch gegenüber der konkurrierenden christlichen Glaubensrichtung, den sogenannten Arianern. II. ZUR AUSGANGSLAGE Chlodwig trat vermutlich 481/82 die Nachfolge seines Vaters Childerich an.28 Die Organisation von dessen Bestattung in Tournai war vermutlich die erste Handlung des neuen Königs.29 Die Art und Weise, wie er Childerich beerdigen ließ, sagt nicht nur etwas über den Verstorbenen aus, sondern auch und vor allem über Chlodwig.30 Das gilt insbesondere für die Beigaben, die er seinem Vater mit ins Grab gab: ein Siegelring aus massivem Gold, Waffen, Schmuck und ein Münzschatz, bestehend aus 100 Goldmünzen in einem Lederbeutel sowie 200 Silbermünzen. Schon lange ist bekannt, dass die Ausstattung Childerichs ihn sowohl als Frankenkönig als auch als römischen Offizier an der Spitze einer Föderatentruppe auswies.31 Dies zu betonen, scheint vor allem auch Chlodwig wichtig gewesen zu
27 Vgl. Levison, Zur Geschichte (wie Anm. 10), 206; Sonntag, Zahlenangaben (wie Anm. 24), 22. 28 Zu seiner Herrschaft zuletzt Becher, Chlodwig I. (wie Anm. 1), 123–132. 29 Zu den Einzelheiten vgl. Kurt Böhner, Childerich von Tournai, in: RGA2 4, 1979, 441–460; Joachim Werner, Childerichgrab, in: LexMA 2, 1983, 1817–1820; Patrick Périn/Michel Kazanski, Das Grab Childerichs I., in: Alfried Wieczorek (Hrsg.), Die Franken – Wegbereiter Europas. Vor 1500 Jahren: König Chlodwig und seine Erben, Bd. 1. Mainz 1996, 173–182. 30 Zum Folgenden vgl. Halsall, Childeric’s Grave (wie Anm. 11), 129. 31 Prägnant formuliert von Ewig, Merowinger (wie Anm. 10), 17; die römische Komponente wird in der jüngeren Literatur noch deutlicher hervorgehoben, vgl. Michael Richter, Wozu
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sein. Im Abstand von 15 bis 20 Metern zu der Stelle, an der man heute das königliche Grab vermutet, wurden drei Gruben gefunden, die die Reste von mindestens 21 Pferden bargen. Sie gehören ebenfalls in das späte 5. Jahrhundert und werden daher dem Grabmal Childerichs zugerechnet.32 Über der Grabstätte war vermutlich ein mächtiger Hügel von 20 bis 40 Metern Durchmesser errichtet worden, der weithin sichtbar gewesen sein muss und allen Betrachtern die Bedeutung des Bestatteten vor Augen führte. Wir kennen nur wenige vergleichbare Gräber dieser Zeit, nicht aus West-, sondern aus Mittel- und Osteuropa. Reitervölker wie Hunnen und Alanen pflegten ihre vornehmen Toten auf diese Weise zu bestatten.33 Das Grabmal war also in West-Europa ausgesprochen exklusiv und kennzeichnete die herausragende Position, die Childerich zu Lebzeiten innegehabt hatte. Der Aufwand muss für die damalige Zeit gewaltig gewesen sein. Die Entscheidung über dieses Begräbnis hatte letztlich Chlodwig als der Sohn und Erbe des verstorbenen Königs zu treffen. Wollte er sich als würdiger Nachfolger präsentieren, musste er seinen Vater auf diese ehrenvolle und verschwenderische Weise bestatten. Wertvolle Grabbeigaben, die in unseren Augen fast wie Verschwendung anmuten, waren zu jener Zeit durchaus rational, auch abgesehen von religiösen Motiven. Mobiler Reichtum ermöglichte es einem Herrscher, seine Gefolgsleute großzügig zu beschenken und damit ihre Loyalität sicherzustellen.34 Freigiebigkeit war in dieser Gesellschaft eine Tugend und für einen König sogar eine Pflicht, und genau diese Freigiebigkeit bewies Chlodwig bei den Beigaben für seinen verstorbenen Vater. Wer zusammen mit einem Toten einen derartigen Schatz begraben konnte, demonstrierte nicht nur seinen Reichtum, sondern auch seine Macht und präsentierte sich damit als geeigneter und würdiger Herrscher. Vermutlich hat Chlodwig daher seinem Vater keinesfalls sämtliche Schätze mit in die jenseitige Welt gegeben, sondern den größeren Teil für sich behalten. Alles in allem war diese prunkvolle Bestattung schließlich ein deutliches Signal an die Gefolgsleute Childerichs: Auch dessen Sohn und Nachfolger würde ihre Loyalität mit reichen Geschenken belohnen.
hatte Childerich einen Siegelring?, in: Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (Hrsgg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter. (RGA Erg.-Bd. 41.) Berlin/New York 2004, 359–366; Dieter Quast, Ein spätantikes Zepter aus dem Childerichgrab, in: ArchKBl 40, 2010, 285–296. 32 Vgl. Joachim Werner, Childerichs Pferde, in: Heinrich Beck/Detlev Ellmers/Kurt Schier (Hrsgg.), Germanische Religionsgeschichte. (RGA Erg.-Bd. 5.) Berlin/New York 1992, 145– 161. 33 Vgl. Michael Schmauder, Die Oberschichtgräber und Verwahrfunde Südosteuropas und das Childerichgrab von Tournai. Anmerkungen zu den spätantiken Randkulturen, in: Acta Praehistorica et Archaeologica 30, 1998, 55–68. 34 Vgl. Jürgen Hannig, Ars donandi. Zur Ökonomie des Schenkens im früheren Mittelalter, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung. Frankfurt a.M. 1988, 11–37; Matthias Hardt, Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend. (Europa im Mittelalter 6.) Berlin 2004.
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III. SIEG ÜBER SYAGRIUS Laut Gregor von Tours ließ Chlodwigs erste Aktion nicht allzu lange auf sich warten. Im fünften Jahr seiner Regierung habe er Syagrius zum Kampf herausgefordert. Dieser Romanorum rex, so nennt ihn Gregor, beherrschte Teile Nordgalliens und hatte seinen Sitz in der Stadt Soissons.35 Chlodwig und sein Vetter Ragnachar von Cambrai entschieden die Schlacht für sich, und Syagrius floh zum Westgotenkönig Alarich II. nach Toulouse. Bei diesem Sieg kam Chlodwig vielleicht ein glücklicher Zufall zu Hilfe. Im Jahr 484 war der Westgotenkönig Eurich gestorben, der die Situation in Gallien bis dahin kontrolliert hatte.36 Dessen Sohn Alarich II. war vermutlich mit den üblichen Problemen eines Herrschaftsübergangs konfrontiert und konnte daher nicht in die Auseinandersetzung zwischen Chlodwig und Syagrius eingreifen. In den Jahren nach seinem Sieg über Syagrius dehnte Chlodwig seine Herrschaft weiter nach Süden und Westen aus. Die Eroberung dieses Gebiets brachte für Chlodwig eine erhebliche Verbesserung seiner militärischen Situation mit sich. So fielen in Soissons fabricae, römische Waffenfabriken, in seine Hand, die für den militärischen Nachschub von entscheidender Bedeutung waren.37 Nach seinem ersten militärischen Erfolg von 484 beherrschte Chlodwig bereits große Teile des nördlichen Gallien und dehnte seinen Machtbereich in der Folgezeit Schritt für Schritt bis zur Loire aus. IV. DAS BÜNDNIS MIT THEODERICH DEM GROSSEN Zu Beginn der 490er Jahre wurde Chlodwig dann in die großen Auseinandersetzungen der damaligen Zeit hineingezogen, was mit einer tiefgreifenden Veränderung der politischen Verhältnisse in Italien zusammenhing. Nachdem er den Westkaiser Romulus Augustulus 476 abgesetzt hatte, herrschte dort Odoaker als König. Er verdankte seine Macht letztlich seinem Heer, das hauptsächlich aus Herulern, Skiren und Thüringern bestand, während es ihm anscheinend nie gelang, sein Verhältnis zu Ostrom in seinem Sinne zu klären.38 Im Jahr 488 entsand-
35 Gregor, Hist., II, 27 (wie Anm. 4), 71; zu Syagrius vgl. Konrad Vössing, Syagrius, in: RGA2 30, 2005, 213; zum Titel rex Romanorum vgl. Steven Fanning, Emperors and Empires in Fifth-Century Gaul, in: John F. Drinkwater/Hugh Elton (Hrsgg.), Fifth-Century Gaul. A Crisis of Identity? Cambridge 1992, 288–297. 36 Vgl. Herwig Wolfram, Geschichte der Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. 5. Aufl. München 2009, 186–195; Wolfgang Giese, Die Goten. Stuttgart 2004, 52f.; Gerd Kampers, Geschichte der Westgoten. Paderborn 2008, 132ff. 37 Vgl. Reinhold Kaiser, Untersuchungen zur Geschichte der Civitas und Diözese Soissons in römischer und merowingischer Zeit. (Rheinisches Archiv 89.) Bonn 1973, 140f. 38 Vgl. Hermann Reichert/Herwig Wolfram, Odowakar, in: RGA2 21, 2002, 573–575; Frank M. Ausbüttel, Theoderich der Große. (Gestalten der Antike.) Darmstadt 2003, 50f.
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te schließlich der Ostkaiser Zenon die Ostgoten unter Theoderich gegen Odoaker, die diesen in wechselvollen Kämpfen bis 493 besiegen konnten.39 Diese Kämpfe riefen auch die gallischen Mächte auf den Plan: Im Jahr 490 griff der Burgunderkönig Gundobad in Oberitalien ein.40 Er wollte Odoaker vermutlich zum Sieg verhelfen. Gundobads Krieger verheerten die Gegend um Mailand und Pavia, zogen sich dann aber mit zahlreichen verknechteten Römern und etlichen Kriegsgefangenen wieder über die Alpen zurück. Odoaker musste sich nun allein gegen die Ostgoten behaupten. Warum aber hatten sich die Burgunder so schnell wieder zurückgezogen? Hier kommt Chlodwig ins Spiel. Der im späten 6. Jahrhundert verfassten Vita des Priesters und Eremiten Eptadius aus der Diözese Autun zufolge kam es um 491/92 zu einem sonst nicht bezeugten Friedensabkommen zwischen Chlodwig und Gundobad.41 Zuvor hatten die beiden also Krieg miteinander geführt, und die Vermutung liegt nahe, dass Chlodwig das Reich der Burgunder angriff, als diese nach Italien gezogen waren. Vielleicht geschah das nur, um die günstige Situation auszunutzen, vielleicht aber auch auf Grund eines Bündnisses des Frankenkönigs mit Theoderich dem Großen. Für die zweite Möglichkeit spricht, dass dieser wohl im Jahr 493 Chlodwigs Schwester Audofleda heiratete.42 Dies war nur ein Teil einer großangelegten Heiratsdiplomatie, in die Theoderich alle anderen Nachbarn der Ostgoten einband, neben den Franken auch die Westgoten, Burgunder und Vandalen. Damit war das Ostgotenreich bestens gegenüber Ostrom abgesichert, das Italien nur ungern aufgeben wollte. Eine weitere Eheschließung stand zumindest mittelbar mit Theoderichs Bündnissystem in Zusammenhang: Chlodwig heiratete ungefähr zu dieser Zeit Chrodechilde, die Nichte des mittlerweile ebenfalls mit Theoderich verschwägerten und verbündeten Burgunderkönigs Gundobad.43 39 Vgl. Wolfram, Geschichte (wie Anm. 27), 279–284; Ausbüttel, Theoderich (wie Anm. 38), 52–63; Giese, Goten (wie Anm. 27), 69ff. 40 Dazu vgl. auch Reinhold Kaiser, Die Burgunder. Stuttgart 2004, 58. 41 Vita Eptadii, c. 8f., ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 3. Hannover 1896, 184–194, 489f.; vgl. Rouche, Clovis (wie Anm. 1), 209ff.; Kaiser, Burgunder (wie Anm. 40), 59f. 42 Anonymus Valesianus [= Excerpta Valesiana], c. 57, ed. Ingemar König, Aus der Zeit Theoderichs des Großen. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar einer anonymen Quelle. Darmstadt 1997, 152; Jordanes, Romana et Getica, c. 295f., ed. Theodor Mommsen, in: MGH Auct. ant. 5/1. Berlin 1882, 134; Iordanis de origine actibusque Getarum, edd. Francesco Giunta/Antonino Grillone, in: Fonti per la Storia d’Italia 117. Rom 1991, 122; Gregor, Hist., III, 31 (wie Anm. 4), 126; vgl. Ausbüttel, Theoderich (wie Anm. 38), 112f.; Jordanes bezeichnet Audofleda als Tochter Chlodwigs, worauf sich Jarmila Bednaříková, Audofleda, Theoderich der Große und Chlodwig, in: Sborník Prací Filosofické Fak 45/1, 1996, 87–103, bei ihrer Datierung der Heirat auf 498 u.a. stützt; vgl. dazu aber Andreas Goltz, Barbar – König – Tyrann. Das Bild Theoderichs des Großen in der Überlieferung des 5. bis 9. Jahrhunderts. (Millenium-Studien 12.) Berlin 2008, 221, Anm. 159; außerdem noch Martina Hartmann, Gregor von Tours und arianische Königinnen oder: Hatte Chlodwig I. zwei oder drei Schwestern?, in: MIÖG 116, 2008, 130–137. 43 Zur Datierung vgl. Kaiser, Burgunder (wie Anm. 40), 58f. mit Anm. 147, gegen Justin Favrod, Histoire politique du royaume burgonde (443–534). (Bibliothèque historique vaudoise 113.) Lausanne 1997, 323–336, der die Heirat 501/2 einordnet.
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V. CHLODWIGS ÜBERGANG ZUM CHRISTENTUM Chlodwig war bis dahin der einzige bedeutende Barbarenkönig auf ehemals römischem Reichsboden, der noch der alten heidnischen Religion seines Volkes anhing. Sein Übertritt zum Christentum stand daher spätestens seit seinen ersten militärischen Erfolgen zur Debatte. Sein Glaubenswechsel kann an dieser Stelle nicht erschöpfend behandelt werden. Daher soll der politische Aspekt im Vordergrund stehen. Chlodwigs Gemahlin Chrodechilde war Katholikin, um es verkürzt zu sagen.44 Ihr Onkel Gundobad hing dagegen der arianischen Lehre an, tolerierte aber die katholische Orientierung seiner eigenen Gemahlin und die seiner Nichte. Auch scheint er persönlich bis zu einem gewissen Grad zum Katholizismus tendiert zu haben. Schließlich waren seine gallorömischen Untertanen ganz überwiegend Anhänger dieser Religion. Gregor von Tours zeichnet den konfessionellen Gegensatz zwischen Katholiken und Arianern äußerst scharf45, was aber der Situation in Gallien und besonders im Burgunderreich Ende des 5. Jahrhunderts nicht entsprochen haben dürfte. Denn selbst die Westgoten, die Gregor als entschiedene Verfolger der Katholiken oder doch wenigstens der Bischöfe schildert, waren an einem gedeihlichen Zusammenleben interessiert.46 Ähnlich verhält es sich mit Theoderich und seinen Ostgoten in Italien.47 Gleichwohl diente der Gegensatz in Glaubensfragen auch dazu, Römer und germanische Besatzer voneinander zu trennen. Schon die antiken Kaiser hatten Ehen zwischen Römern und Barbaren streng untersagt, und die genannten Könige hatten dieses Verbot übernommen – ausgenommen waren aber stets politisch motivierte Heiraten der Oberschicht.48 Eine eindeutig politisch motivierte Ehe schloss Chlodwig, als er noch als Heide die katholische Burgunderin Chrodechilde heiratete.49 Es war aber sicher nicht 44 Hierzu und zum Folgenden vgl. Kaiser, Burgunder (wie Anm. 40), 152ff. 45 Vgl. Edward James, Gregory of Tours and “Arianism”, in: Andrew Cain/Noel Lenski (Hrsgg.), The Power of Religion in Late Antiquity. Farnham 2009, 327–338. 46 Knut Schäferdiek, Die Kirche in den Reichen der Westgoten und Suewen bis zur Errichtung der westgotischen katholischen Staatskirche. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 39.) Berlin 1967; Wolfram, Geschichte (wie Anm. 36), 201–206; Giese, Goten (wie Anm. 36), 61; Kampers, Geschichte (wie Anm. 36), 148–151; Ian Wood, Arians, Catholics, and Vouillé, in: Ralph W. Mathisen/Danuta Shanzer (Hrsgg.), The Battle of Vouillé, 507 CE. Where France Began. (Millenium-Studien 37.) Berlin 2012, 139–150. 47 Vgl. Ausbüttel, Theoderich (wie Anm. 38), 93f.; Giese, Goten (wie Anm. 36), 81. 48 CTh III, 14, 1, edd. Theodor Mommsen/Paul M. Meyer, Theodosiani libri XVI cum Constitutionibus Sirmondianis et Leges Novellae ad Theodosianum pertinentes, Bd. 1/2. Berlin 1905, ND Berlin 1954; vgl. Ralph Mathisen, Peregrini, Barbari, and Cives Romani. Concepts of Citizenship and the Legal Identity of Barbarians in the Late Roman Empire, in: AHR 111, 2006, 1011–1040; speziell zu den Eheschließungen innerhalb der Oberschicht: Alexander Demandt, The Osmosis of Late Roman and Germanic Aristocracies, in: Evangelos K. Chrysos/Andreas Schwarz (Hrsgg.), Das Reich und die Barbaren. (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 29.) Wien u.a. 1989, 75–86. 49 Laut Gregor, Hist., II, 28 (wie Anm. 4), 73f., soll Gundobad seinen Bruder Chilperich, Chrodechildes Vater, und ihre Mutter getötet, sie allerdings verschont und später sogar ihrer Heirat
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im Sinne ihres arianischen Onkels Gundobad, dass sie als Glaubensbotin für die katholische Lehre wirkte. Laut Gregor von Tours hat sie dies aber entschieden getan, was wohl nicht aus der Luft gegriffen ist. Denn Gregor konnte sich bei der Abfassung seines Berichts auf eine Überlieferung stützen, die auf die Königin selbst zurückging.50 Diese hatte ihre Witwenzeit von 511 bis zu ihrem Tod 544 fast ununterbrochen in Tours verbracht. Die Vermutung liegt nahe, dass sie während dieser langen Zeit im engen Kontakt mit den Bischöfen und anderen führenden Geistlichen der Stadt gestanden und dabei wohl auch über ihre Rolle beim Glaubenswechsel ihres Mannes gesprochen hat.51 Damit konnte sich Gregor auf eine Tradition stützen, die unmittelbar auf eine Hauptakteurin zurückging. Chrodechilde hat ihre Rolle in ihren Erzählungen vermutlich stilisiert, und Gregor hat sicher noch das Seine hinzugefügt. Dagegen wird die Königin in der einzigen zeitgenössischen Quelle zur Taufe nicht erwähnt. Hierbei handelt es sich um einen Brief, mit dem Bischof Avitus von Vienne Chlodwig zu seiner Taufe gratulierte.52 Man wird daher sicher einige Abstriche an der von Gregor überlieferten Erzählung über die Taufe Chlodwigs machen müssen. Auf den Kern reduziert, lautet die erste Hälfte dieser Geschichte etwa so: Chrodechilde suchte ihren Mann in Gesprächen zu bekehren, ließ ihren ältesten Sohn katholisch taufen, und, als dieser starb, auch den zweitältesten. Angeblich ließ sie sich nicht einmal von den Vorhaltungen ihres Mannes abhalten, der fest an die Macht der alten Götter glaubte. Gregor zeichnet Chlodwig also zunächst als überzeugten Heiden, Chrodechilde als im wahren Glauben tief verwurzelte Christin. Mit dieser Alternative verkürzt Gregor aber die Situation an Chlodwigs Hof zu sehr, denn der Chronist selbst lässt erkennen, dass es für den König noch eine dritte Möglichkeit – neben dem Übertritt zum Katholizismus und der Beibehaltung des alten Glaubens – gegeben hat: das arianische Bekenntnis. So sagte sich anlässlich der Taufe des Königs seine Schwester Lantechilde vom Arianismus los und wechselte zum katholischen Glauben, was zeigt, dass es bereits Arianer in Chlodwigs näherem Umfeld gab.53 Diese Beobachtung deckt sich mit einer Aussage unserer zweiten Quelle zum Geschehen. Dem Brief des Bischofs Avitus von Vienne an Chlodwig ist zu entnehmen, dass es an dessen Hof „Anhänger gewisser schismatischer Ansichten“ gegeben habe, die „mit Behauptungen, die in ihren
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mit Chlodwig zugestimmt haben; dieses inkonsequente Handeln Gundobads lässt die Forschung am Wahrheitsgehalt von Gregors Bericht zweifeln, vgl. etwa Wood, Gregory (wie Anm. 3), 253; Favrod, Histoire (wie Anm. 43), 148ff.; sogar die gesamte, auf Gregor beruhende Genealogie der burgundischen Königsfamilie wird angezweifelt, vgl. Ian N. Wood, Assimilation von Romanen und Burgundern im Rhone-Raum, in: Volker Gallé (Hrsg.), Die Burgunder. Ethnogenese und Assimilation eines Volkes. (Schriftenreihe der Nibelungenliedgesellschaft Worms e.V. 5.) Worms 2008, 215–236, 225. Vgl. Von den Steinen, Übergang (wie Anm. 9), 423–429. Gregor, Hist., II, 29 (wie Anm. 4), 74f.; vgl. Von den Steinen, Übergang (wie Anm. 9), 426f.; Cordula Nolte, Conversio und Christianitas. Frauen in der Christianisierung vom 5. bis 8. Jahrhundert. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 41.) Stuttgart 1995, 72ff. Avitus von Vienne, Ep. 46, ed. Rudolf Peiper, in: MGH Auct. ant. 6/2. Berlin 1883, 75f. Gregor, Hist., II, 31 (wie Anm. 4), 77.
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Vermutungen unterschiedlich, in ihrer Vielzahl verschieden und in ihrer Wahrheit bezüglich des christlichen Namens nichtig sind“, den König beeinflussen wollten.54 Chlodwig sollte also zum Arianismus bekehrt werden, und seiner Schwester hatte er – aus welchen Gründen auch immer – diesen Schritt schon erlaubt. Auf der anderen Seite werden aber auch die katholischen Bischöfe seines Machtbereichs mit Remigius von Reims ihrerseits Chlodwig umworben haben, und am Ende hat er sich für sie entschieden. Vorbereitet wurde Chlodwigs Entschluss für die katholische Glaubensrichtung durch seinen intensiven Kontakt mit den Bischöfen seines Reiches. Schon Jahre zuvor hatte ihm etwa Bischof Remigius von Reims brieflich zur Übernahme der Herrschaft in der römischen Provinz Belgica secunda gratuliert.55 Nach Johannes Fried war Chlodwig seit längerem auf dem Weg zum Christentum56; für einen Entschluss bedurfte es vielleicht nur eines äußeren Anlasses. Laut Gregor war dies eine Schlacht gegen die Alemannen. Er berichtet als Einziger darüber und bleibt dabei vergleichsweise unkonkret. Er nennt den Ort des Geschehens nicht – vermutlich nicht das immer wieder genannte Zülpich – und datiert es zunächst nur mit dem Wort aliquando.57 Die Einordnung in das 15. Jahr der Herrschaft Chlodwigs ist ein Nachtrag, der zwar in den wichtigsten, aber eben nicht in allen Handschriften enthalten ist. Vor allem aber konturiert Gregor die Alemannen in keiner Weise. Obwohl sie noch Heiden waren, spricht er dies an keiner Stelle an. Für den Geschichtsschreiber ist allein das Versagen der alten fränkischen Götter entscheidend, das Chlodwig dazu veranlasst habe, dem Christengott seine Gefolgschaft anzubieten, falls dieser ihm den Sieg in der Schlacht schenke. Man hat diese Fokussierung auf die Bekehrung mit der besonderen Überlieferungssituation erklärt, denn laut Gregor hielt Chlodwig seine Entscheidung anfangs geheim und teilte sie nach seiner siegreichen Rückkehr zunächst nur Chrodechilde mit.58 Man könnte den unkonkreten Grundzug seines Berichts aber auch grundsätzlich gegen dessen Glaubwürdigkeit oder doch zumindest gegen die nachgetragene Datierung in das 15. Jahr Chlodwigs ins Feld führen. Das führt zur 54 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 52), 75: „Vestrae subtilitatis acrimoniam quorumcumque scismatum sectatores sententiis suis variis opinione, diversis multitudine, vacuis veritate Christiani nominis visi sunt obumbratione velare“; die deutsche Übersetzung nach Reinhold Kaiser/Sebastian Scholz, Quellen zur Geschichte der Franken und der Merowinger. Vom 3. Jahrhundert bis 751. Stuttgart 2012, 104. 55 Epp. Austr., ep. 2, ed. Gundlach (wie Anm. 20), 113; ed. Malaspina (wie Anm. 20), 62. 56 Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik. München 2004, 337; vgl. auch ders., Le passé à la merci de l’oralité et du souvenir: Le baptême de Clovis et la vie de Benoît de Nursie, in: Jean-Claude Schmitt/Otto Gerhard Oexle (Hrsgg.), Les Tendances actuelles de l’histoire du Moyen Âge en France et en Allemagne. Paris 2002, 71–104. 57 Gregor, Hist., II, 30 (wie Anm. 4), 75f.; zur Lokalisierung der Schlacht vgl. Dieter Geuenich, Chlodwigs Alemannenschlacht(en) und Taufe, in: Dieter Geuenich (Hrsg.), Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/97). (RGA Erg.-Bd. 19.) Berlin/New York 1998, 423–439. 58 Von den Steinen, Übergang (wie Anm. 9), 424f.
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Frage von Gregors Datierungen zurück: Hätten die Spätdatierer der Bekehrung recht, insbesondere die Befürworter von 508, so hätte sich Gregor die Gelegenheit entgehen lassen, Chlodwigs Konversion in einen Zusammenhang mit seinem Sieg über die arianischen Westgoten zu bringen. Dies ist angesichts seines gerade von den Spätdatierern betonten flexiblen Umgangs mit der Überlieferung und seines Arianerhasses doch recht unwahrscheinlich. Solange es keine Belege gibt, die eindeutig dagegen oder für eine andere Chronologie sprechen, bleibt nur die Möglichkeit, Gregors Datierung in das 15. Jahr der Herrschaft Chlodwigs zu folgen. Dies gilt zunächst einmal für die Bekehrung des Königs, nicht aber zwangsläufig für die Taufe, obwohl Gregor einen schnellen Ablauf suggeriert. Chlodwig habe sich nach seiner Rückkehr zunächst Chrodechilde offenbart, die ihrerseits heimlich Bischof Remigius informierte. Dieser habe seinerseits ein Gespräch mit dem König gesucht und für den christlichen Glauben geworben. Chlodwig habe aber Zweifel geäußert, ob seine Gefolgsleute zu einem Glaubenswechsel bereit seien. Diese hätten sich dann allerdings von sich aus dafür ausgesprochen.59 Daraus kann man ableiten, bis zur Taufe Chlodwigs und seiner laut Gregor 3 000 Gefolgsleute sei einige Zeit verstrichen, zumal wenn man annimmt, sie alle hätten sich als Katechumenen auf das Ereignis vorbereiten müssen. Aus einem Vergleich mit anderen Fällen hat Wolfram von den Steinen dafür einen Zeitraum von rund einem Jahr angesetzt, denkbar wären aber sowohl eine kürzere als auch eine längere Spanne.60 Ist ein längeres Katechumenat aber wirklich wahrscheinlich, wenn Chlodwig und sicher auch viele seiner führenden Gefolgsleute sich dem Christentum bereits seit Jahren angenähert hatten? Hinzu kommt, dass Chlodwig ja auch von arianischer Seite umworben wurde, sich also schon seit längerem ganz konkret mit der Frage eines Übertritts beschäftigte. Dagegen versucht Gregor, ihn als überzeugten Heiden zu zeichnen, der sich nur ganz allmählich vom Heidentum gelöst habe.61 Dieser Stilisierung brauchen wir nicht zu folgen, und damit entfällt auch die Notwendigkeit, eine Übergangszeit anzunehmen, die ein oder gar mehrere Jahre gedauert hat. Vielmehr wird man Remigius und seinen Mitbrüdern das Interesse an einer raschen Taufe unterstellen können, nachdem sie so lange um den König geworben hatten. Die Feindatierung von Chlodwigs Taufe ist aber nicht das entscheidende Problem, sondern die Folgen seiner Entscheidung. Nun bekannte Chlodwig sich zur gleichen Glaubensrichtung wie seine römischen Untertanen – und wie die Untertanen seiner Nachbarkönige. Wie schon erwähnt, scheinen die arianischen Herrscher die Katholiken nicht oder nur wenig als solche verfolgt zu haben, sondern waren im Großen und Ganzen an einem friedlichen Zusammenleben interessiert. Man wird hinzufügen dürfen, dass sie das nach den Zahlenverhältnissen auch sein mussten, denn auf die Dauer konnten sich diese Könige mit ihren viel-
59 Gregor, Hist. II, 31 (wie Anm. 4), 76f. 60 Von den Steinen, Übergang (wie Anm. 9), 452ff. 61 Vgl. Martin Heinzelmann, Clovis dans le discours hagiographique du VIe au IXe siècle, in: Bibliothèque de l’École des Chartes 154, 1996, 87–112.
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leicht 10 000 bis 50 000 Kriegern keine Auseinandersetzung mit ihren römischen Untertanen leisten, deren Zahl in die Millionen ging. Sie handelten also eher pragmatisch denn aus innerer Überzeugung. Vielmehr dürften sie der festen Meinung gewesen sein, Anhänger der wahren und richtigen Glaubensrichtung zu sein. Daher war es für diese Könige vermutlich zumindest eine Enttäuschung, als Chlodwig sich gegen den Arianismus und damit gegen sie selbst entschied – so jedenfalls musste ihr subjektiver Eindruck sein. Selbst wenn Chlodwig seine Entscheidung nicht so gemeint hätte, so war durch sie doch der Keim für Misstrauen und Missverständnisse gesät. Aus Sicht des Burgunder- und des Westgotenkönigs gab es nun jenseits der Grenzen ihrer Reiche einen mächtigen König, der anders als sie selbst das Bekenntnis der großen Mehrheit ihrer Untertanen teilte, einen König, der wenigstens in religiösen Dingen auf einer Linie mit den katholischen Bischöfen lag, die damals bereits einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf weltliche und politische Angelegenheiten besaßen. Es kommt hinzu, dass Chlodwig seine Entscheidung sofort zu instrumentalisieren verstand: Aus dem Brief des Avitus von Vienne wissen wir, dass der Frankenkönig diesen Bischof zu seiner Tauffeier eingeladen hat.62 Warum aber soll diese Ehre Avitus als einzigem Vertreter des gallischen Episkopats außerhalb des Frankenreiches zuteil geworden sein? Vielleicht hatte Chlodwig also sogar alle Bischöfe des Burgunderreiches und möglicherweise sogar des Westgotenreiches zu seiner Tauffeier gebeten. Damit hätte er die betroffenen Könige ganz deutlich herausgefordert. Es verwundert daher nicht, dass Avitus sich der Einladung entzog und lieber seine guten Beziehungen zu König Gundobad pflegte, den er behutsam für seine Glaubensrichtung gewinnen wollte.63 Aber bei einer Konfrontation zwischen einem ‚rechtgläubigen‘ und einem ‚häretischen‘ König gerieten die katholischen Bischöfe natürlich in einen Gewissenskonflikt, und das wiederum wussten die Arianer, die daher dem katholischen Episkopat umso misstrauischer gegenübertraten. Das musste nicht in jedem Fall so sein, aber Chlodwig hatte mit seinem Bekenntnis zur katholischen Lehre einen Ansatzpunkt gefunden, der geeignet war, die Geschlossenheit seiner Nachbarn aufzubrechen. VI. WEITERE EXPANSION Setzt man also mit Gregor von Tours die Bekehrung Chlodwigs in das Jahr 496 und sieht sie in einem engen Zusammenhang mit einer Schlacht gegen die Alemannen, so war dies nur der Auftakt zu einer stürmischen Phase in der Politik Chlodwigs, die für diesen Zeitraum allerdings nur sehr schemenhaft überliefert ist. Einen ersten Hinweis liefert die zwar erst 625 kompilierte, aber als zuverlässig geltende Fortsetzung der Chronik des Prosper Tiro: Im Jahr 496 habe der West-
62 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 52), 75. 63 Vgl. Kaiser, Burgunder (wie Anm. 40), 154ff.
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gotenkönig Alarich II. die Stadt Saintes (nördlich von Bordeaux) erobert.64 Eigentlich gehörten diese Stadt und die Gebiete bis hin zur Loire schon seit langem zum Westgotenreich. Die Forschung hat daher eigentlich nur eine überzeugende Erklärung für diese Meldung anzubieten: Es muss damals eine bewaffnete Auseinandersetzung zwischen Franken und Westgoten gegeben haben, die mit einem Vorstoß der Franken nach Saintes begann und mit der Rückeroberung dieser Stadt durch Alarich endete.65 Mit diesem Krieg wurde auch deutlich, dass die Heirats- und Bündnispolitik Theoderichs Franken und Westgoten nur sehr kurze Zeit von ihrer Rivalität um die Vorherrschaft in Gallien abgehalten hatte. Allerdings scheint Chlodwig in einen Zweifrontenkrieg hineingeraten zu sein, da der Verlust von Saintes vermutlich mit der Schlacht gegen die Alemannen zusammenhängt. Es hat fast den Anschein, als ob der Westgotenkönig die Alemannen gegen Chlodwig zu Hilfe gerufen hätte. Aber dieser blieb 496 gegen die Alemannen siegreich und konnte dann auch die Initiative gegen die Westgoten zurückgewinnen: Im Jahr 498 konnte er nach der Fortsetzung des Prosper Tiro noch weiter als 496 nach Süden vordringen und sogar Bordeaux erobern.66 Auch wenn diese Stadt bald wieder verloren ging, sind das doch bemerkenswerte Teilerfolge gegen einen Gegner, der noch wenige Jahre zuvor die dominierende Macht in Gallien gewesen war. Von Anfang an scheint Chlodwig in der Auseinandersetzung mit den Westgoten auch die Religion eingesetzt zu haben, denn in diesen Zeitraum – vielleicht ebenfalls schon 496 – fällt sein Besuch am Grab des heiligen Martin in Tours67, der in einer geschickt inszenierten Ankündigung der Taufe – vielleicht am Martinstag – gipfelte.68 Franken und Westgoten verlagerten bald nach 498 ihre Auseinandersetzung nach Burgund, wo es zu einem Bruderkrieg kam. Dort herrschte zusammen mit Gundobad dessen Bruder Godegisel, der anscheinend als eine Art Unterkönig in Genf residierte.69 Laut Gregor von Tours war Godegisel nicht zufrieden mit seinem Anteil und bat daher den Frankenkönig um Unterstützung gegen seinen mächtigeren Bruder. Als Gegenleistung versprach er ihm im Erfolgsfall Tribut64 Continuatio Prosperi Havniensis, ed. Theodor Mommsen, in: MGH Auct. ant. 9. Berlin 1892, 331: „p. c. Viatoris v. c. consulis. Alaricus ann. XII regni sui [S]antones obtinuit“; zu dieser Chronik vgl. Steven Muhlberger, Heroic Kings and Unruly Generals: The “Copenhagen” Continuation of Prosper Reconsidered, in: Florilegium 6, 1984, 50–70. 65 Vgl. Levison, Zur Geschichte (wie Anm. 10), 223f.; Rouche, Clovis (wie Anm. 1), 260; zur gesamten Auseinandersetzung vgl. jetzt besonders Ralph W. Mathisen, The First FrancoVisigothic War and the Prelude to the Battle of Vouillé, in: Mathisen/Shanzer (Hrsgg.), Battle of Vouillé (wie Anm. 46), 3–10. 66 Continuatio Prosperi Havniensis (wie Anm. 64), 331: „Paulino v. c. consule. Ann. XIIII Alarici Franci Burdigalam obtinuerunt et a potestate Gothorum in possessionem sui redegerunt capto Suatrio Gothorum duce.“ 67 Bezeugt in einem Schreiben des Bischofs Nicetius von Trier an Chlodwigs Enkelin Chlodoswinde von ca. 560, Epp. Austr., ep. 8, ed. Gundlach (wie Anm. 20), 122; ed. Malaspina (wie Anm. 20), 96. 68 Vgl. Von den Steinen, Übergang (wie Anm. 9), 491. 69 Zum Folgenden vgl. Kaiser, Burgunder (wie Anm. 40), 60ff.
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zahlungen und Gebietsabtretungen.70 Im Jahr 500 besiegten die beiden Gundobad bei Dijon, der sich weit nach Süden, nach Avignon zurückzog, während Godegisel den größten Teil des Burgunderreiches in Besitz nahm. Im Kern wird dieses Geschehen auch durch den Chronisten Marius von Avenches bestätigt.71 In der Folgezeit konnte Gundobad neue Kräfte sammeln und seinen Bruder besiegen. Die bei dieser Gelegenheit gefangenen Franken lieferte er den Westgoten aus, was vermuten lässt, dass diese ihn entscheidend unterstützt hatten. Insgesamt lässt sich aus diesen versprengten Aussagen ein erster großer fränkisch-westgotischer Krieg rekonstruieren, der von ca. 495 bis ca. 502 dauerte und letztlich mit einem Misserfolg Chlodwigs enden sollte. Kurz nach dem Erfolg Gundobads in der innerburgundischen Auseinandersetzung kam es zu einem fränkisch-westgotischen Friedensschluss. Chlodwig und Alarich II. trafen sich bei Amboise auf einer Insel in der Loire: Coniunctique in insula Ligeris, quae erat iuxta vicum Ambaciensim terreturium urbis Toronicae, simul locuti, comedentes pariter ac bibentes, promissa sibi amicitia, pacifici discesserunt.72
Gregor vergisst nicht, den Ort des Treffens im Gebiet von Tours zu lokalisieren. Tatsächlich hatte der Frieden gerade für diese Stadt eine besondere Bedeutung, denn seine Bischöfe hatten sich in der vorangegangenen Auseinandersetzung wohl zu deutlich auf die Seite der Franken geschlagen: An anderer Stelle hält Gregor fest, dass zwei seiner Vorgänger, Volusianus (491–498) und Verus (498– 508?), verdächtigt worden waren, die Stadt an Chlodwig ausliefern zu wollen.73 Beide mussten ins Exil ins Westgotenreich gehen und starben dort. So ist der programmatische Schluss des Kapitels wohl vor allem auf Tours und seine Bischöfe zu beziehen: Multi iam tunc ex Galleis habere Francos dominos summo desiderio cupiebant.74
Der Frieden zwischen Chlodwig und Alarich II. sollte tatsächlich nicht lange halten. Zunächst wandelten sich die Verhältnisse im Burgunderreich grundlegend. Die burgundisch-westgotische Allianz hielt nicht lange. Zunächst trat Sigismund, der älteste Sohn Gundobads, einem Brief des Avitus zufolge vermutlich 501 oder 502 zum katholischen Bekenntnis über.75 Damit lag auch ein politisches Bündnis zwischen Franken und Burgundern nahe. Einen Hinweis auf die gespannte Lage enthält die Lebensbeschreibung des Caesarius, seit 502 Bischof von Arles: Er wurde von den Westgoten beschuldigt, die Stadt unter burgundische Herrschaft
70 Gregor, Hist., II, 32 (wie Anm. 4), 78. 71 Marius von Avenches, Chronica ad a. 500, ed. Theodor Mommsen, in: MGH Auct. ant. 11. Berlin 1894, 234. 72 Gregor, Hist., II, 35 (wie Anm. 4), 84. 73 Gregor, Hist., II, 26 (wie Anm. 4), 71; X, 31, 531. 74 Gregor, Hist., II, 35 (wie Anm. 4), 84. 75 Avitus, Ep. 8 (wie Anm. 52), 40–43; vgl. Kaiser, Burgunder (wie Anm. 40), 63, mit der Datierung zwischen 500 und 507.
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bringen zu wollen.76 Schließlich kam es 506 zu einem Krieg der Franken gegen die Alemannen, bei dem die Burgunder auf fränkischer Seite kämpften. Zur Belohnung erhielten sie bislang alemannische Gebiete bis zum Hochrhein.77 Dieser Krieg rief heftige Reaktionen Theoderichs des Großen hervor, der die Reste der Alemannen vor den Franken schützte.78 Wahrscheinlich war ihm bewusst, dass Chlodwig sich nur den Rücken für eine weitere Auseinandersetzung mit den Westgoten frei halten wollte. Schon ein Jahr später war es soweit: Chlodwig überschritt die Loire. Neben den Burgundern stand mit Sigibert von Köln ein weiterer fränkischer König auf seiner Seite; dessen Sohn Chloderich nahm als Vertreter seines ‚lahmen‘ Vaters an dem Feldzug nach Aquitanien teil.79 Außerdem suchte Chlodwig die katholischen Bischöfe des Westgotenreiches auf seine Seite zu ziehen. Das zeigen nicht nur der legendenhaft ausgeschmückte Bericht Gregors von Tours80, sondern auch das einzige Zeugnis, das wir von Chlodwig selbst haben. Es handelt sich um einen Brief, den der König während des Krieges an die aquitanischen Bischöfe richtete.81 In ihm nahm er die katholischen Kirchen und ihre Amtsträger von den Kampfhandlungen aus und billigte den Bischöfen eine entscheidende Rolle bei der Behandlung Gefangener zu. Ihr Zeugnis entschied über die Frage, wer wieder freigelassen wurde und wer nicht. Chlodwig scheint gehofft zu haben, die Bischöfe auf diese Weise auf seine Seite ziehen zu können. Wie groß der Erfolg seiner Bemühungen war, muss offen bleiben. In der Entscheidungsschlacht in campo Vogladense bei Poitiers kämpften jedenfalls die katholischen Bewohner der Auvergne auf Seiten der Westgoten. Dennoch blieb Chlodwig siegreich, während Alarich II. angeblich von der Hand des Frankenkönigs fiel.82 Damit war die Entscheidung gefallen, zumal Theoderich der Große nicht auf Seiten seines Schwiegersohns eingreifen konnte, da eine oströmische Flotte die Küsten Italiens bedrohte.83 Dies erweckt den Eindruck, dass sich eine große antigotische Koalition gebildet hatte, an der der oströmische Kaiser, zwei
76 Vita Caesarii, I, 21, ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 3. Hannover 1886, 465; vgl. Kaiser, Burgunder (wie Anm. 40), 64. 77 Vgl. Kaiser, Burgunder (wie Anm. 40), 63. 78 Vgl. Wolfram, Geschichte (wie Anm. 36), 313; Ausbüttel, Theoderich (wie Anm. 38), 117f.; Giese, Goten (wie Anm. 36), 103. 79 Gregor, Hist., II, 37 (wie Anm. 4), 87f. 80 Gregor, Hist., II, 37 (wie Anm. 4), 85ff. 81 Chlodowici regis ad episcopos epistola, ed. Alfred Boretius, in: MGH Capit. 1. Hannover 1883, Nr. 1, 1f. 82 Gregor, Hist., II, 37 (wie Anm. 4), 88; zur Haltung der römischen Untertanen der Westgoten vgl. Wolfram, Geschichte (wie Anm. 36), 236; zur Lokalisierung der Schlacht vgl. zuletzt Ralph W. Mathisen, Vouillé, Voulon, and the Location of the Campu Vogladensis, in: Mathisen/Shanzer (Hrsgg.), Battle of Vouillé (wie Anm. 46), 43–61, der für Vouillé und gegen das von der jüngeren Forschung mehrheitlich bevorzugte Voulon votiert. 83 Vgl. Wolfram, Geschichte (wie Anm. 36), 314; Ausbüttel, Theoderich (wie Anm. 38), 120f.; Giese, Goten (wie Anm. 36), 106; Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches. Stuttgart 2009, 230f.
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Frankenkönige und der Burgunderkönig beteiligt waren. Vermutlich hat Ostrom diese Allianz zustande gebracht, um die seit 504 andauernden Grenzkonflikte mit Theoderich zu seinen Gunsten zu entscheiden. Dazu passt, dass Chlodwig noch während des Krieges im Jahr 508 in Tours dem dort beheimateten Chronisten zufolge die kaiserliche Ernennung zum patricius entgegennehmen konnte.84 Mit diesem Renommee ausgestattet, wollte Chlodwig sich die Herrschaft auch nicht mehr mit anderen Königen teilen. Er brachte Chloderich dazu, dessen Vater Sigibert zu ermorden, um ihn dann kurz darauf beseitigen zu lassen. So lautet jedenfalls der legendenhaft ausgeschmückte Bericht Gregors von Tours.85 Chlodwig wurde von den Gefolgsleuten Sigiberts als König anerkannt und expandierte damit an den Rhein. Vielleicht war sein Handeln aber auch nur die Reaktion auf eine Änderung der politischen Lage. Inzwischen hatte Theoderich der Große nämlich die oströmische Bedrohung abgewehrt und in den fränkisch-westgotischen Krieg eingegriffen. Es gelang ihm, das Westgotenreich zu stabilisieren und dort selbst die Herrschaft zu ergreifen.86 Ungefähr gleichzeitig verheiratete er seine Nichte Amalaberga mit dem Thüringerkönig Herminafrid.87 Dieses Bündnis war sicher gegen Chlodwig gerichtet und für ihn äußerst bedrohlich. Nach den Forschungen von Heike Grahn-Hoek war das Thüringerreich nicht mit dem heutigen Thüringen identisch, sondern durch einen Zusammenschluss mit den Warnen und Herulern viel größer und reichte von der Donau bis an den Rhein.88 Möglicherweise schien es Chlodwig angesichts dieser Bedrohung besser, selbst die Herrschaft am Rhein zu übernehmen und dem neuen Feind entgegenzutreten. VII. FAZIT Machen Personen Geschichte oder sind die zugrunde liegenden Strukturen für den Verlauf der Geschichte entscheidend? Diese Frage stand am Anfang dieses Bei-
84 Gregor, Hist., II, 38 (wie Anm. 4), 88f.; vgl. zuletzt Helmut Castritius, Chlodwig und der Tag von Tours im Jahre 508, in: Matthias Becher/Stefanie Dick (Hrsgg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter. (MittelalterStudien 22.) München 2010, 113–120; Ralph W. Mathisen, Clovis, Anastasius, and Political Status in 508 C.E.: The Frankish Aftermath of the Battle of Vouillé, in: Mathisen/Shanzer (Hrsgg.), Battle of Vouillé (wie Anm. 46), 79–110. 85 Gregor, Hist., II, 40 (wie Anm. 4), 89f.; vgl. Matthias Springer, Sigibert von Köln, in: RGA2 28, 2005, 393–396. 86 Vgl. Wolfram, Geschichte (wie Anm. 36), 309f.; Ausbüttel, Theoderich (wie Anm. 38), 121ff.; Giese, Goten (wie Anm. 36), 107; Kampers, Geschichte (wie Anm. 36), 157f. 87 Vgl. Wolfram, Geschichte (wie Anm. 36), 318f.; Gerd Kampers, Die Thüringer und die Goten, in: Helmut Castritius/Dieter Geuenich/Matthias Werner (Hrsgg.), Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte. (RGA Erg.-Bd. 63.) Berlin/New York 2009, 265– 278. 88 Heike Grahn-Hoek, Stamm und Reich der frühen Thüringer nach den Schriftquellen, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 56, 2002, 7–90; vgl. auch Mathias Kälble, Ethnogenese und Herzogtum. Thüringen im Frankenreich (6.–9. Jahrhundert), in: Frühzeit der Thüringer (wie Anm. 87), 329–413, hier 338–342.
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trags, und sie treibt wohl jeden Historiker um, gerade wenn man sich intensiv mit der Geschichte einer Epoche des Umbruchs auseinandersetzt. Der Aufstieg Chlodwigs ist nur vor dem Hintergrund des untergehenden Imperium Romanum zu verstehen, der „Transformation of the Roman World“, wie ein großes Forschungsprojekt der European Science Foundation genannt wurde.89 Das machtpolitische Vakuum, das das Imperium hinterlassen hat, ermöglichte es Chlodwig, seine Expansionspolitik unter Ausnutzung aktueller Entwicklungen zu betreiben. Ein wichtiger Faktor dabei war die Religion. Sicher spitzt unser wichtigster Gewährsmann Gregor von Tours den Gegensatz zwischen Katholiken und Arianern unzulässig zu und stilisiert Chlodwig zum Vorkämpfer für den katholischen Glauben. Bei allen Vorbehalten gegen seine Darstellung scheint er mir aber doch den Kern von Chlodwigs Strategie zu treffen. Der König wollte sein katholisches Bekenntnis auch für seine Politik instrumentalisieren, oder, wenn man vorsichtiger formulieren will: Diese Instrumentalisierung ließ sich auf Dauer gar nicht vermeiden. Der konfessionelle Gegensatz zu den benachbarten Königen bei der gleichzeitigen Glaubensgemeinschaft mit deren römischen Untertanen säte Misstrauen zumindest zwischen arianischen Königen und katholischen Untertanen. Selbst wenn eine kleinere Zahl von ihnen als von Gregor insinuiert eine Herrschaft des Frankenkönigs herbeisehnte, brach dies doch die Geschlossenheit des Burgunder- und vor allem des Westgotenreiches auf. Chlodwigs Entscheidung beseitigte den Gegensatz zwischen arianischen Eroberern und katholischen Römern auf Dauer. Diese neue Geschlossenheit zeigte sich bald darauf im Konzil von Orléans im Jahr 511.90 Damals versammelte der Frankenkönig die Bischöfe aus seinem Reich, vor allem aber aus den ehemaligen westgotischen Gebieten um sich. Hier wurde er als König eines neuen, fast ganz Gallien umfassenden katholischen Großreichs gefeiert. Dieses von Chlodwig in der Gunst des Augenblicks geschaffene Reich sollte sich auf Dauer als das stabilste auf dem Boden des einstigen Weströmischen Reiches erweisen. Im Frankenreich entwickelten sich Strukturen wie die Grundherrschaft und die Vasallität, vor allem aber auch die enge Bindung von weltlicher und geistlicher Gewalt, die die weitere Geschichte Westeuropas maßgeblich beeinflussen sollten. Das Frankenreich selbst überstand viele Teilungen und blutige Bruderkriege und sollte rund 400 Jahre in der von Chlodwig geschaffenen Form bestehen und die Geschichte des sogenannten Abendlandes maßgeblich bestimmen.
89 Vgl. Ian N. Wood, Transformation of the Roman World, in: RGA2 31, 2006, 132–134. 90 Concilium Aurelianense a. 511, ed. Friedrich Maassen, in: MGH Conc. 1. Hannover 1883, Nr. 1, 2; vgl. Jean Heuclin, Le concile d’Orléans de 511, un premier concordat?, in: Rouche (Hrsg.), Clovis. Histoire et mémoire, Bd. 1 (wie Anm. 10), 435–450; Gregory I. Halfond, Vouillé, Orléans (511), and the Origins of the Frankish Conciliar Tradition, in: Mathisen/Shanzer (Hrsgg.), Battle of Vouillé (wie Anm. 46), 151–166.
CHLODWIG, EIN CHRISTLICHER HERRSCHER ANSICHTEN DES BISCHOFS AVITUS VON VIENNE Uta Heil Die Anhänger von allerlei Sekten haben mit ihren verschiedenen, vielfältigen, aller Wahrheit baren Lehrmeinungen versucht, unter dem Decknamen der Christen die Lügen zu verbergen, die durch Euren scharfen Geist aufgedeckt wurden. Während wir das der Ewigkeit überlassen, während wir es der künftigen Prüfung anheimstellen, wie viel Richtiges in jeder Meinung liegt, ist auch in der Gegenwart der selten durchbrechende Strahl der Wahrheit aufgeblitzt; ja, hat für unsere Zeit die göttliche Vorsehung einen Mann der Entscheidung gefunden. Indem Ihr für Euch wählt, gebt Ihr das Urteil für alle; so ist Euer Glaube unser Sieg.1
Mit diesen Worten beginnt Avitus von Vienne seinen berühmten Brief an Chlodwig – der übliche Briefgruß sowie der Briefschluss sind in der Überlieferung verlorengegangen – und beglückwünscht den Frankenherrscher zu seiner wichtigen Entscheidung, sich katholisch taufen zu lassen.2 1
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Avitus von Vienne, Ep. 46, ed. Rudolf Peiper, in: MGH Auct. ant. 6/2. Berlin 1883, 75,2–7: „Vestrae subtilitatis acrimonia[m] quorumcumque scismatum sectatores sententiis suis variis opinione, diversis multitudine, vacuis veritate, Christiani nominis nisi sunt obumbratione velare. Dum ista nos aeternitati committimus, dum, quid recti unusquisque sentiat, futuro examini reservamus, etiam in praesentibus interlucens radius veritatis emicuit. Invenit quippe tempori nostro arbitrium quendam divina provisio. Dum vobis eligitis, omnibus iudicatis; vestra fides nostra victoria est.“ Eine deutsche Übersetzung bei Von den Steinen (wie Anm. 2), 64–68, und Sebastian Scholz in: Reinhold Kaiser/Sebastian Scholz (Hrsgg.), Quellen zur Geschichte der Franken und der Merowinger. Vom 3. Jahrhundert bis 751. Stuttgart 2012, 104–107; eine englische Übersetzung bei Danuta Shanzer/Ian N. Wood (Hrsgg.), Avitus of Vienne. Letters and Selected Prose. Translated with an Introduction and Notes. (Translated Texts for Historians 38.) Liverpool 2002, 369–373. Die oben gegebene deutsche Übersetzung orientiert sich an dem sinnvollen Vorschlag von Danuta Shanzer (Shanzer/Wood, Avitus of Vienne, 363f., und dies., Dating the Baptism of Clovis. The Bishop of Vienne vs. the Bishop of Tours, in: EME 7, 1998, 29–57, hier 31–37), detecta mendacia zu ergänzen. Zu Avitus von Vienne vgl. auch Max Burckhardt, Die Briefsammlung des Bischofs Avitus von Vienne († 518). (Abhandlungen zur mittleren und neueren Geschichte 81.) Berlin 1938; Uta Heil, Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder. (Patristische Texte und Studien 66.) Berlin/Boston 2011, 29–35; Uwe Kühneweg, Alcimus Acdicius Avitus von Vienne. Kirchenpolitiker und Bibeldichter, in: Peter Gemeinhardt/Uwe Kühneweg (Hrsgg.), Patristica et Oecumenica. Festschrift Wolfgang A. Bienert. (Marburger Theologische Studien 85.) Marburg 2004, 123–145. Literatur (chronologisch): Wolfram von den Steinen, Chlodwigs Übergang zum Christentum. Eine quellenkritische Studie [1932]. 3. Aufl. Darmstadt 1969; André van der Vyver, La victoire contre les Alemans et la conversion de Clovis, in: RBPH 15, 1936, 859–914, und 16, 1937, 35–94; Georges Tessier, Le Baptême de Clovis. Paris 1964; Rolf Weiss, Chlodwigs
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I. ALLGEMEINES ZU DER TAUFE VON CHLODWIG UND DEM BRIEF DES AVITUS So bedeutend sich für uns heute aus der Rückschau das Ereignis auch darstellt, so sind viele Aspekte trotz intensiver Forschung immer noch unklar und einige werden es wohl auch bleiben. Schon allein die Datierung ist umstritten und mehr als zehn Jahre liegen zwischen der traditionellen Frühdatierung 496/973 und der von
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Taufe, Reims 508. Versuch einer neuen Chronologie für die Regierungszeit des ersten christlichen Frankenkönigs unter Berücksichtigung der politischen und kirchlich-dogmatischen Probleme seiner Zeit. (Geist und Werk der Zeiten 29.) Bern/Frankfurt a.M. 1971; Eugen Ewig, Studien zur merowingischen Dynastie, in: FMSt 8, 1974, 15–59; Hans Hubert Anton, Chlodwig, in: RGA2 4, 1981, 478–485; Marc Reydellet, La royauté dans la littérature latine de Sidoine Apollinaire à Isidore de Séville. (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 243.) Rom 1981 (darin 94–113 eine sehr umsichtige Analyse des Schreibens an Chlodwig); Ian N. Wood, Gregory of Tours and Clovis, in: RBPH 63, 1985, 249–272; John Moorhead, Clovis’ Motives für Becoming a Catholic Christian, in: Journal of Religious History 13, 1985, 329–339; Michael McCormick, Clovis at Tours. Byzantine Public Ritual and the Origins of Medieval Ruler Symbolism, in: Evangelos K. Chrysos/Andreas Schwarcz (Hrsgg.), Das Reich und die Barbaren. (Veröffentlichungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 29.) Wien/Köln 1989, 155–180; William M. Daly, How Barbaric, How Pagan?, in: Speculum 69, 1994, 619–664; Mark Spencer, Dating the Baptism of Clovis 1886– 1993, in: EME 3, 1994, 97–116; Michel Rouche, Clovis. Suivi de vingt et un documents traduits et commentés. Paris 1996; Alain Dierkens, Die Taufe Chlodwigs, in: Die Franken – Wegbereiter Europas. Katalog der Ausstellung. Mannheim/Mainz 1996, 183–191; Danuta Shanzer, Dating the Baptism of Clovis (wie Anm. 1); Dieter Geuenich, Chlodwigs Alemannenschlacht(en) und Taufe, in: Dieter Geuenich (Hrsg.), Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ 496/97. (RGA Erg.-Bd. 19.) Berlin 1998, 423–437; Luce Piétri u.a., Das Frankenreich unter Chlodwig, in: Luce Piétri (Hrsg.), Die Geschichte des Christentums, Bd. 3: Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642). Freiburg u.a. 2001, 353–375; Georg Scheibelreiter, Die Bekehrung des Merowingerkönigs Chlodwig 496, in: Georg Scheibelreiter (Hrsg.), Höhepunkte des Mittelalters. Darmstadt 2004, 13–32; Knut Schäferdiek, Chlodwigs Religionswechsel – Ablauf, Bedingungen und Bewegkräfte, in: Peter Gemeinhardt/Uwe Kühneweg (Hrsgg.), Patristica et Oecumenica, Festschrift Wolfgang A. Bienert. (Marburger Theologische Studien 85.) Marburg 2004, 105–121; Bernhard Jussen, Chlodwig und die Eigentümlichkeiten Galliens. Ein warlord im rechten Augenblick, in: Mischa Meier (Hrsg.), Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, 141–155; Georges Bordonove, Clovis et les Mérovingiens. Paris 2009; Helmut Castritius, Chlodwig und der Tag von Tours 508, in: Matthias Becher/Stefanie Dick (Hrsgg.), Völker, Reiche und Namen in frühen Mittelalter. (MittelalterStudien 22.) München 2010, 113–120; Matthias Becher, Merowinger und Karolinger. (Geschichte Kompakt.) Darmstadt 2009; ders., Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt. München 2011. Ferner allgemein Walter Pohl, Die Völkerwanderung. Eroberung und Integration. 2. Aufl. Stuttgart 2004 (176–185 zu Chlodwig); Bruno Bleckmann, Die Germanen. München 2009 (279–289 zu den Franken). Entsprechend wurde 1996 das 1500-jährige Jubiläum begangen; vgl. den Jubiläumsband Michel Rouche (Hrsg.), Clovis. Histoire et mémoire. Actes du Colloque International d’Histoire de Reims 1996. 2 Bde. Paris 1997, und den Begleitband zur Ausstellung in Zülpich: Dieter Geuenich (Hrsg.), Chlodwig und die Schlacht bei Zülpich. Geschichte und Mythos 496–1996. Euskirchen 1996. Dieter Geuenich datiert in seinem Beitrag auch auf das Jahr 496/97 (ebd. 50; 55–60), so auch Schäferdiek, Chlodwigs Religionswechsel (wie Anm. 2),
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einigen erwogenen Spätdatierung nach 506/7.4 Aber auch der Anlass und die eigentlichen Motive Chlodwigs für die (katholische) Taufe können, wenn überhaupt, nur mühsam erschlossen werden: War wirklich das Erlebnis ausschlaggebend, dass der christliche Gott ihm in einer Schlacht gegen die Alemannen zum Sieg verholfen habe5, oder überwog der Einfluss seiner katholischen Ehefrau Chrodechilde? Andererseits könnten auch Wundererlebnisse am Martinsheiligtum von Tours relevant gewesen sein.6 Oder stand hinter der Entscheidung allein ein politisches Kalkül, die katholische Aristokratie auch in nichtfränkischen Gebieten Galliens hinter sich zu bringen, um erfolgreich weitere Gebiete Galliens zu erobern?7
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113; Scheibelreiter, Bekehrung (wie Anm. 2), 24f.; Anton, Chlodwig (wie Anm. 2), 481f. Auch Becher entscheidet sich für 496 (Chlodwig [wie Anm. 2], 199). Diese Datierung basiert auf der Chronologie der Ereignisse, wie sie Gregor von Tours, Libri historiarum decem, II, 27–43 (bes. II, 29–31 über Bekehrung und Taufe), edd. Bruno Krusch/Wilhelm Levison, in: MGH SS rer. Merov. 1/2. 2. Aufl. Hannover 1951, bietet. Van der Vyver (wie Anm. 2), datiert auf 506 und stellt die Chronologie von Gregor in Frage; vgl. auch Weiss, Chlodwigs Taufe (wie Anm. 2); Shanzer, Dating the Baptism of Clovis (wie Anm. 2); Dierkens, Die Taufe Chlodwigs (wie Anm. 2); Spencer, Dating the Baptism of Clovis (wie Anm. 2); Wood, Gregory and Clovis (wie Anm. 2). Auch Pohl, Völkerwanderung (wie Anm. 2), 179, erwägt eine spätere Datierung. Hauptargument für eine Spätdatierung ist der Brief Theoderichs an Chlodwig (Cass. var. 2,41) nach einem Krieg gegen die Alemannen, der 504 oder auch 506/7 zu datieren ist. Bei einer Spätdatierung nach 507 (Shanzer; Wood) fällt Chlodwigs Krieg gegen die Westgoten noch vor seine Taufe und ist entgegen der Darstellung bei Gregor kein Religionskrieg gegen die ‚Arianer‘. Vgl. zu den Schlachten der Franken gegen die Alemannen die Beiträge von Geuenich (wie Anm. 2 und 3), der auch auf das problematische Chronologie-Schema bei Gregor eingeht. Zum Niedergang der Alemannen auch ders., Die Alemannen im Kontakt mit dem Imperium Romanum und dem Frankenreich, in: Matthias Becher/Stefanie Dick (Hrsgg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter. (MittelalterStudien 22.) München 2010, 181–191. Falls jedoch die Taufe Chlodwigs gar nicht ursächlich mit einem Sieg in einer Schlacht gegen die Alemannen zu verbinden ist, erübrigt sich die Suche nach einer bestimmten Schlacht gegen die Alemannen, um die Taufe zu datieren. Avitus relativiert jedenfalls in seinem Brief die Bedeutung des ‚Kriegsglücks‘ (siehe unten) in Bezug auf Chlodwig. Auf die Bedeutung der Martinsverehrung, die besonders mit dem großen Neubau der Basilika durch Perpetuus von Tours anwächst, weisen vor allem Von den Steinen und Schäferdiek (wie Anm. 2) hin. Problematisch ist, dass Avitus diesen Aspekt nicht erwähnt, es sei denn, der von ihm angesprochene „gesehene Glaube“ des Chlodwig spielt darauf an (siehe unten Anm. 57). Zu Martin von Tours vgl. Eugen Ewig, Der Martinskult im Frühmittelalter, in: Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 14, 1962, 11–30, wieder in: Eugen Ewig, Spätantikes und fränkisches Gallien. (Beihefte der Francia 3.) Bd. 2. München 1979, 371–392; Martin Heinzelmann, Martin von Tours, in: RGA2 19, 2001, 365–369 (367f. über die Bedeutung der Martinsverehrung für Chlodwig); Karl Suso Frank, Martin von Tours und die Anfänge seiner Verehrung, in: Werner Gross (Hrsg.), Martin von Tours. Ein Heiliger Europas. Ostfildern 1997, 21–62; Dieter von der Nahmer, Martin von Tours, in: LexMA 6, 1993, 344f.; Meinolf Vielberg, Der Mönchsbischof von Tours im „Martinellus“. Zur Form des spätantiken Dossiers und seines spätantiken Leitbilds. (Untersuchungen zur antiken Literatur und Geschichte 79.) Berlin/New York 2006. Die Taufentscheidung „als politische Geste“ z.B. bei Pohl, Völkerwanderung (wie Anm. 2), 179; Wood, Gregory of Tours and Clovis (wie Anm. 2); auch bei Guy Halsall, Barbarian
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Avitus begrüßt die Taufe Chlodwigs vor allem deswegen, weil dieser sich für das katholische und nicht für das in seinen Augen häretische Christentum der ‚Arianer‘ wie bei den West- oder Ostgoten entschieden hat. Es ist jedoch kaum möglich zu bestimmen, wie gut Chlodwig damals über die theologischen Unterschiede zwischen der katholischen und homöisch-‚arianischen‘ Konfession informiert gewesen ist. Im Alltag waren sie allenfalls bemerkbar durch zwei Kleinigkeiten: eine kleine Abweichung in der Liturgie im Gloria Patri8 und eine unterschiedliche Handhabung der Aufnahme ehemaliger Häretiker.9 In dem gerade angeführten Abschnitt aus dem Brief des Avitus erwähnt der Bischof immerhin das Werben wohl homöisch-‚arianischer‘ Kleriker um Chlodwig10, deren Lügen Migrations and the Roman West 376–568. (Cambridge Medieval Textbooks.) Cambridge 2007, 306: „[…] an astute political move. It enabled the Franks to ally with the Catholic Empire in Constantinople and gave their kings an advantage over their Arian Visigothic and Burgundian rivals. Indeed it might have been the only way that Clovis could try to pry the southern nobility away from their loyalty to their kings.“ Kritik an einer politischen Deutung äußert John Moorhead (wie Anm. 2); in seinem Beitrag nennt er in Anm. 2 weitere Vertreter der politischen Deutung. 8 In den 70er-Jahren des 4. Jh. kam eine liturgische Neuerung auf, die sich in neunizänischen Kreisen ausbreitete, aber nicht von den Homöern übernommen wurde. Es handelt sich um eine Abwandlung des sogenannten „kleinen Gloria Patri“: Während bislang die sogenannte präpositionale Doxologie „Ehre sei dem Vater durch den Sohn im heiligen Geist“ gesprochen wurde, bezeugt Basilius von Cäsarea eine von ihm bevorzugte Variante „Ehre sei dem Vater und dem Sohn und/mit dem heiligen Geist“ (De spiritu sancto 3), die einige Diskussionen auslöste. Da von homöischer Seite auch mit Hilfe der Präpositionen die Subordination des Sohnes unter den Vater und des heiligen Geistes unter den Vater und den Sohn begründet wurde, bevorzugte man von neunizänischer Seite zunehmend die liturgische Variante ohne Präpositionen. Diese Differenz blieb über die Jahre ein entscheidendes Detail, das im christlichen Alltag einen Unterschied zwischen den Konfessionen markierte. Als die Westgoten unter Rekkared 589 zum ‚katholischen‘ Glauben wechselten, wurde diese Differenz in einem Anathema eigens erwähnt: „Wer auch immer nicht glaubt, der Sohn Gottes und der heilige Geist seien mit dem Vater zu verherrlichen und zu verehren, der sei verdammt.“ / „Quiquumque filium dei et spiritum sanctum cum patre non crediderit esse glorificandos et honorandos, anathema sit.“ – „Wer auch immer nicht sagt: ‚Ehre sei dem Vater und dem Sohn und dem heiligen Geist‘, der sei verdammt.“ / „Quiquumque non dixerit: Gloria patri et filio et spiritui sancto, anathema sit.“ (Gonzalo Martínez Díez/Felix Rodríguez [Hrsgg.], La Colección canónica Hispana, Bd. 5: Concilios Hispanos secunda parte. [Monumenta Hispaniae Sacra, Serie Canonica 5.] Madrid/Barcelona 1992, 82). Vgl. dazu Heil, Avitus (wie Anm. 1), 192– 209. 9 Bei den Homöern wurde die (erneute) Taufe der Konvertiten praktiziert, was die übrige westliche Kirche seit der Auseinandersetzung mit den Donatisten ablehnte. Vgl. Knut Schäferdiek, Germanenmission, in: RAC 10, 1978, 492–548, bes. 522. 10 Das Werben der homöisch-‚arianischen‘ Kleriker wird indirekt bestätigt dadurch, dass eine Schwester von Chlodwig namens Lentichildis ‚arianisch‘ wurde (Avitus, Hom. 31, ed. Rudolf Peiper, in: MGH Auct. ant. 6/2. Berlin 1883, 152; Gregor, Hist., II, 31 [wie Anm. 3], 78,2–4: Sie trat mit Chlodwig zum katholischen Glauben über) und auch wohl eine andere Schwester namens Audofleda, die den Ostgotenkönig Theoderich heiratete (Anon. Vales. 63; Gregor, Hist., III, 31 [wie Anm. 3], 126,12f.; 127,2). Ian Wood, Gregory of Tours and Clovis (wie Anm. 2), 267, hat diese Ausführungen des Avitus zum Anlass genommen, darüber zu spekulieren, ob Chlodwig nicht sogar erst das Christentum in der homöisch-‚arianischen‘ Form an-
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Chlodwig jedoch, wie es Avitus lobend erwähnt, durch seinen Scharfsinn aufgedeckt habe. Dieser Satz ist bedauernswerterweise die einzige Information über eine Auseinandersetzung um die christliche Konfession im Umfeld von Chlodwig, und daraus auf irgendeine weitergehende theologische Kompetenz des Herrschers zu schließen, ist sehr spekulativ. Der maßgebliche Bischof im Umkreis von Chlodwig war Remigius von Reims, der ihn sicher getauft hat11; aber auch hier existieren keine Informationen über einen theologischen Austausch zwischen den beiden, wie es ihn etwa zwischen Avitus und dem burgundischen Herrscher Gundobad gegeben hat.12 Avitus selbst geht überdies auf Remigius in seinem Brief gar nicht ein. Auch die Darstellung bei Gregor von Tours lässt uns in dieser Frage im Stich, da Gregor das Werben der katholischen Chrodechilde um Chlodwig zwar relativ ausführlich darstellt, es aber inhaltlich ganz nach altkirchlichen apologetischen Argumentationsmustern gestaltet und keinen Exkurs über das Besondere des katholischen im Unterschied zum homöisch-‚arianischen‘ Christentum einfügt.13 So lässt er Chrodechilde gegenüber Chlodwig sagen: genommen habe. Dagegen spricht jedoch die Taufe Chlodwigs, da von katholischer Seite die Konvertitentaufe abgelehnt wurde (siehe oben Anm. 9); ein vorausgehendes Sympathisieren mit der homöisch-‚arianischen‘ Seite kann natürlich nicht ausgeschlossen werden. Auf jeden Fall ist die pauschale Aussage von Anton, Chlodwig (wie Anm. 2), 482: „In Nordgallien gab es keine Arianer“, zu korrigieren. Zum Einfluss der ‚Arianer‘ in Genf vgl. Avitus, Ep. 31 (wie Anm. 1), 62, und dazu Heil, Avitus (wie Anm. 1), 80–85. 11 Vgl. neben der Darstellung bei Gregor, Hist., II, 31 (wie Anm. 3), 77,1–3, die kurze Notiz im Testament des Remigius, er habe Chlodwig getauft bzw. aus dem Taufbecken gehoben (Hinkmar von Reims, Vita Remigii, ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 3. Hannover 1896, 336–339, hier 337,7f.): „Aliud argenteum vas, quod mihi domnus illustris memoriae Hludowicus rex, quem de sacro baptismatis fonte suscepi, donare dignatus est, ut de eo facerem, quod ipse voluissem, tibi, heredi meae aecclesiae supra memoratae, iubeo turibulum et imaginatum calicem fabricari.“ Von Remigius ist noch ein Brief an Chlodwig überliefert, den er an ihn schrieb, als Chlodwig die Herrschaft seines Vaters übernahm (481/82; siehe unten Anm. 71), also noch vor Chlodwigs Taufe (Epistolae Austrasicae, ep. 2, ed. Wilhelm Gundlach, in: CCSL 117. Turnhout 1957, 408f. = MGH Epp. 3. Berlin 1892, 113). Er ermahnt ihn hierin, tugendhaft und im Einvernehmen mit den Bischöfen als Ratgeber (consiliarios) zu regieren. Wohl nach Chlodwigs Taufe starb die (katholische) Schwester Chlodwigs namens Albofledis, weshalb Remigius ihm kondoliert (ebd. ep. 1, CCSL 117, 407 = MGH Epp. 3, 112f.) und zugleich ermuntert, seine Amtsgeschäfte weiterzuführen: „[…] manet vobis regnum administrandi et, Deo auspice, properandi“ (112,28). 12 Vgl. darüber die in Anm. 1 erwähnte Literatur. 13 Die homöische Theologie entstand im Rahmen des trinitarischen Streits um die Gottheit Christi und des heiligen Geistes im Verhältnis zur Gottheit des Vaters, der auch nach der Synode von Nizäa 325, auf der extreme Thesen des alexandrinischen Presbyters Arius anathematisiert wurden, andauerte. Ende der fünfziger Jahre des 4. Jh. hatte sich die Kontroverse in mehrfacher Hinsicht zugespitzt: a) Seit der gescheiterten Synode von Serdica 343 war die Kirche zwischen Vertretern einer Drei-Hypostasen-Lehre im Osten und einer EinHypostasen-Lehre im Westen mit Ägypten gespalten. b) Hinzu kam eine neue Auseinandersetzung um Ansichten des Aëtius, der die Verschiedenheit und Unterordnung des Wesens des Sohnes zum Vater betonte. c) Es entstand eine neue und äußerst intensive Debatte über die Relevanz des Nizänums von 325 und über die Deutung des darin aufgenommenen Begriffs „wesenseins“ / ὁμοούσιος. Kaiser Konstantius, Alleinherrscher seit 351, war sehr daran gele-
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Uta Heil Nichts sind die Götter, die ihr verehrt, denn sie können sich und anderen nicht helfen. Sie sind nämlich Gebilde aus Stein, Holz oder Erz. Und die Namen, die ihr ihnen beilegt, gehörten einst Menschen an, nicht Göttern.
Sowohl dieses euhemeristische Argument als auch der anschließende Hinweis auf den fragwürdigen Lebenswandel der Götter wie Saturn, Jupiter, Mars und Merkur gehören zum Repertoire der apologetischen Schriften seit dem 2. Jahrhundert. Chrodechilde gestehe den Göttern also nur Zauberkünste, aber keine wahre göttliche Macht zu: „Wie viel mehr muss der verehrt werden, der Himmel und Erde, Meer und alles, was darinnen ist, durch sein Wort aus nichts geschaffen hat […]“ – so nach Gregor ihr Verweis auf den allmächtigen Schöpfergott.14 Die vielen Unklarheiten bezüglich der Taufe Chlodwigs haben ihre Ursache also hauptsächlich in der schlechten Quellenlage. Neben dem Brief des Avitus, der kurzen Notiz im Testament des Remigius15 und dem Bericht bei Gregor von Tours gibt es nur einen weiteren relativ zeitnahen, aber nur kurzen Hinweis auf gen, diese theologischen Differenzen beizulegen. Auf der von ihm einberufenen Doppelsynode von Rimini und Seleucia 359 einigte man sich nach langen Verhandlungen auf eine theologische Erklärung, die in schlichter biblischer Terminologie die einfache Gleichheit (ὅμοιος) des Sohnes mit dem Vater beschrieb (vgl. Phil 2,6) und die Verwendung umstrittener philosophischer Begriffe wie „Wesen“ / οὐσία oder „Hypostase“ / ὑπόστασις (damit auch das nizänische ὁμοούσιος) als unbiblisch verbot. Während der nächsten zwanzig Jahre, in denen die homöische Theologie die offizielle Lehre war, übernahmen gotische Gruppen (die sog. Kleingoten mit ihrem Bischof Wulfila sowie die 376 im Reich angesiedelten späteren Westgoten unter ihrem Anführer Fritigern) das Christentum in dieser homöischen Form, die sie auch nach der theologischen Wende zum „Neunizänismus“ beibehielten und an andere gentes (Ostgoten, Sueben, Burgunder, Vandalen) vermittelten. Vgl. zum trinitarischen Streit Volker Henning Drecoll (Hrsg.), Trinität. (UTB 3432.) Tübingen 2011 (dort weitere Literatur); ferner Knut Schäferdiek, Germanenmission (wie Anm. 9); ders., Zeit und Umstände des westgotischen Übergangs zum Christentum [1979], in: Knut Schäferdiek, Schwellenzeit. Beiträge zur Geschichte des Christentums in Spätantike und Frühmittelalter, hg. von Winrich A. Löhr/Hanns Christof Brennecke. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 64.) Berlin/New York 1996, 89–96; ders., Die Anfänge des Christentums bei den Goten und der sog. gotische Arianismus, in: ZKG 112, 2001, 295–310. 14 Die Rede von Chrodechilde bei Gregor, Hist., II, 29 (wie Anm. 3), 74,5–18: „Nihil sunt dii quos colitis, qui neque sibi neque aliis potuerunt subvenire. Sunt enim aut ex lapide aut ex ligno aut ex metallo aliquo sculpti. Nomina vero quae eis indedistis homines fuere, non dii, ut Saturnus, qui a filio ne a regno depelleretur, per fugam elapsus adseritur. ut ipse Iovis omnium stuprorum spurcissimus perpetratur, incesta tur virorum, propinquarum derisor, qui nec ab ipsius sororis propriae potuit abstenere concubitum, ut ipsa ait: Iovisque et soror et coniux. Quid Mars Mercuriusque potuere? Qui potius sunt magicis artibus praediti, quam divini nominis potentiam habuere. Sed ille magis coli debit, qui caelum et terram, mare et omnia quae in eis sunt verbo ex non extantibus procreavit, qui solem lucere fecit et caelum stillis ornavit, qui aquas reptilibus, terras animantibus, aera volatilibus adimplivit, cuius nutu terrae frugibus, pomis arbores, uvis vineae decorantur, cuius manu genus humanum creatum est, cuius largitione ipsa illa creatura omnes homini suo, quem creavit, et obsequio et benefitio famulatur.“ Vgl. auch ebd., II, 10. Die Übersetzung der Gregor-Texte stammt von Rudolf Buchner, Zehn Bücher Geschichten, Bd. 1: Buch 1–5 (= Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 2). 5. Aufl. Darmstadt 1977, 115. 15 Siehe oben Anm. 11.
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dieses Ereignis: Um 564 erinnerte Nicetius von Trier Chlodwigs Enkelin Chlodoswinde, als sie mit dem Langobardenkönig Alboin vermählt wurde, daran, dass ihre Großmutter Chrodechilde sich sehr um Chlodwigs Bekehrung zum katholischen Christentum bemüht habe, und wünschte sich Ähnliches nun von ihr.16 Es sind also keine entsprechenden schriftlichen Äußerungen von Chlodwig selbst überliefert.17 Überdies ist es eigentlich unmöglich, ein Psychogramm einer historischen Persönlichkeit zu erstellen und die Beweggründe für ihr Handeln zu rekonstruieren. Angesichts dessen ist der Brief des Avitus ein herausragendes zeitgeschichtliches Dokument von hoher Bedeutung. Dennoch sollte grundsätzlich berücksichtigt werden, dass der Brief mehr von den Ansichten des Avitus zu erkennen gibt als von denen Chlodwigs. Man kann versuchen, den Brief des Avitus sozusagen 16 Epp. Austr., ep. 8 (wie Anm. 11), CCSL 117, 422,118–126 = MGH Epp. 3, 122,1–7: „Audisti, ava tua, domna bone memoriae Hrodehildis, qualiter in Francia venerit, quomodo domnum Hlodoveum ad legem catholicam adduxerit, et, cum esset homo astutissimus, noluit adquiescere, antequam vera agnosceret. Cum ista, quae supra dixi, probata cognovit, humilis ad domni Martini limina cecidit et baptizare se sine mora promisit, qui baptizatus quanta in hereticos Alaricum vel Gundobadum regum fecerit, audisti, qualia dona ipse vel filii sui in saeculo possiderunt, non ignoratis.“ Der Absicht des Briefes entsprechend werden hier die Bemühungen der Chrodechilde in den Mittelpunkt gestellt; zentral ist ferner das Taufversprechen „vor Martin“ (von Tours). 17 Es gibt nur einen Brief von Chlodwig, der an die Bischöfe seines Machtbereichs gerichtet ist (Chlodowici regis ad episcopos epistola, ed. Alfred Boretius, in: MGH Capit. 1. Hannover 1882, Nr. 1, 1f.), über den Schutz kirchlicher Personen und derjenigen, die in Gefangenschaft gerieten, für die sich aber kirchliche Personen aussprechen. Hier empfiehlt sich Chlodwig also als neuen Schutzherrn der Kirche. Überliefert ist darüber hinaus, dass sich Chlodwig um eine Neustrukturierung der katholischen Kirche in seinem Reich gekümmert hat, besonders nach den massiven Gebietsgewinnen durch seinen Sieg über die Westgoten 507. Die Kanones der Synode von Orléans aus dem Jahr 511 geben hier einen gewissen Einblick. So heißt es in Kanon 5 (Concilium Aurelianense a. 511, can. 5, ed. Charles de Clercq, in: CCSL 148A. Turnhout 1963, 6,54–62): „De oblationibus uel agris, quos domnus noster rex ecclesiis suo munere conferre dignatus est uel adhuc non habentibus deo sibi inspirante contulerit, ipsorum agrorum uel clericorum inmunitate concessa, id esse iustissimum definimus, ut in reparationibus ecclesiarum, alimoniis sacerdotum et pauperum uel redemtionibus captiuorum, quidquid deus in fructibus dare dignatus fuerit, expendatur et clereci ad adiutorium ecclesiastici operis constringantur. Quod si aliqui sacerdotum ad hanc curam minus sollicitus ac deuotus extiterit, publice a conprouincialibus episcopis confundatur.“ Chlodwig hat also den eroberten Besitz von den Westgoten neu verteilt und offenbar auch in großem Stil die Kirche bedacht. Dabei hat er den Kirchen die Vermögenswerte nicht einfach so überlassen, sondern über deren konkrete Verwendung Vorgaben gemacht: Es ging um Instandsetzung von Gebäuden und um Gewinnung finanzieller Mittel für den Gefangenenrückkauf, die soziale Haupttätigkeit der Bischöfe in jener Zeit (siehe unten Anm. 59). Es ist offenbar mehrfach – sonst bestünde kein Anlass, dies auf die Tagesordnung einer Synode zu setzen – vorgekommen, dass sich Bischöfe nicht daran gehalten haben; vielleicht war diese missbräuchliche Verwendung von Eigentum einer der Gründe für die Einberufung der Synode, auf die Chlodwig offenbar gedrungen hatte, wie es sich aus dem kurzen Anschreiben der Synode an Chlodwig ergibt. Chlodwigs Landzuweisungen hatten ferner dazu geführt, dass der König von Klerikern jeden Ranges mit einer Flut von Bitten um beneficia konfrontiert wurde, wie es ein anderer Kanon erkennen lässt (Kanon 7).
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rückwärts zu lesen und in ihm indirekt Informationen über das vorausgegangene Schreiben von Chlodwig finden. Darum hat sich vor allem Wolfram von den Steinen in seiner sehr detaillierten Analyse des Schreibens bemüht, und das ist sicher ein notwendiger Weg. Es ist jedoch nicht einmal möglich, eindeutig herauszufinden, ob dieser vorauszusetzende Brief Chlodwigs ein Exemplar eines allgemeinen Rundbriefs oder ein Brief an Avitus persönlich gewesen ist.18 Daher werden in den folgenden Ausführungen die Ansichten des Avitus selbst im Zentrum stehen, die er in seinem Brief zu erkennen gibt. Zu beachten ist, dass im Fall von Chlodwig ein Herrscher, und zwar eine bedeutende, mächtige, aufstrebende Führungsgestalt der Franken, das Christentum annahm. So ist eigentlich nicht allein danach zu fragen, was Chlodwig sich davon versprochen hat, (katholischer) Christ zu werden, sondern konkreter, ein christlicher Herrscher zu werden. Was kann hierzu der Brief des Avitus beitragen? Zwei Aspekte sind anscheinend von Bedeutung und werden im Folgenden behandelt: einerseits die offenbar von Chlodwig erhoffte Unterstützung des christlichen Gottes natürlich insbesondere bei weiteren militärischen Aktivitäten und die Meinung des Avitus darüber, andererseits die in dem Schlussabschnitt des Briefs von Avitus eingeforderten Pflichten eines christlichen Herrschers. Die Ausführungen des Avitus sind, da er ein gebildeter gallischer Bischof und Theologe war, in den Kontext des lateinischen Christentums vor allem des 4. und 5. Jahrhunderts zu stellen. Vornehmlich Ambrosius von Mailand und Augustinus von Hippo Regius sind hier relevant, da Avitus diese beiden bedeutenden Bischöfe zu Rate gezogen hat und auch bei theologischen Fragen in deren Tradition steht. Gewiss ist De civitate Dei von Augustinus eine Referenz19, noch bedeutsamer waren aber anscheinend die Briefe des Mailänder Bischofs Ambrosius und besonders seine Grabrede auf Kaiser Theodosius De obitu Theodosii. Dieser Text ist nicht nur als bedeutender, sondern als erster lateinischer christlicher Fürstenspiegel überhaupt zu betrachten.20 18 Für Letzteres votiert Schäferdiek, Chlodwigs Religionswechsel (wie Anm. 2), aufgrund des Satzes in dem Brief: „An forte humilitatem, quam iam dudum nobis devotione impenditis, quam nunc primam professione debitis?“ / „Oder etwa die Demut, die Ihr uns schon längst in Ergebenheit bezeigt, die Ihr uns nunmehr von Glaubens wegen schuldig seid?“ (Avitus, Ep. 46 [wie Anm. 1], 76,5–7). Es ist jedoch meines Erachtens nicht eindeutig, ob Avitus mit dieser „uns gezeigten Ergebenheit“ sich persönlich oder kirchliche Würdenträger allgemein angesprochen hat. Anders als Schäferdiek urteilt Becher, Merowinger und Karolinger (wie Anm. 2), 6: „Möglicherweise versprach er sich für die bevorstehende Auseinandersetzung mit den im südlichen Gallien herrschenden arianischen Westgoten einen Vorteil, denn er ließ seinen Übertritt zum katholischen Christentum überall bekannt machen.“ 19 Aug. civ. V über gelungene Herrschaft bzw. das Glück eines Kaisers (bes. § 24), was Augustinus anhand von Konstantin und Theodosius erläutert. Vgl. Pierre Hadot, Fürstenspiegel, in: RAC 8, 1972, 555–632, hier 618. 20 Ambrosius von Mailand, De obitu Theodosii (395 n. Chr.), ed. Otto Faller, in: CSEL 73. Wien 1955, 371–401. Vgl. Hadot, Fürstenspiegel (wie Anm. 19), 617–623 zum Fürstenspiegel im lateinischen Westen. Hadot schreibt (617): „Die nach dem Tod des Kaisers Theodosius gehaltene Trauerrede ‚De obitu Theodosii‘ ist der erste Fürstenspiegel, der im wahren Sinne christlich ist, d.h. seine Gedanken nur aus der Hl. Schrift schöpfen will.“
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II. DIVINA PROVISIO Avitus beschreibt Chlodwig, was auch als captatio benevolentiae zu verstehen ist, als einen tatkräftigen Mann der Entscheidung21, der ohne Ratgeber regiere, mit seinem scharfen Geist falsche Ratschläge durchschaue (siehe oben), so auf Erden herrsche22 und eigentlich schon längst ein glanzvoller König sei.23 Dennoch stehen für Avitus natürlich das Geschehen und die Geschicke der Menschheit generell unter dem Vorzeichen der göttlichen Vorsehung (divina provisio), wie er es selbst formuliert.24 Die Bedeutung seiner Entscheidung für die katholische Taufe unterstreicht Avitus, indem er zu Beginn seines Briefes zwei Fronten beschreibt, gegen die sich Chlodwig durchgesetzt habe: Er habe sich erstens gegen andere christliche Sekten für den seiner Ansicht nach wahren, katholischen Glauben entschieden25 und sich zweitens gegen die Traditionen und Bräuche seiner Vorfahren gewandt.26 In der Mitte zwischen der Beschreibung dieser beiden Fronten steht der berühmte Satz: „Indem Ihr für Euch wählt, gebt Ihr das Urteil für alle; so ist Euer Glaube unser Sieg.“27 Avitus misst der Entscheidung von Chlodwig also eine außerordentliche Bedeutung bei. Sein Glaube sei der Sieg des katholischen Glaubens und der katholischen Kirche. In seinem Entscheidungskampf habe die katholische Kirche den Sieg davongetragen, und umgekehrt bedeute seine Wahl für die Ausbreitung 21 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 75,6. 13–15: „Invenit quippe tempori nostro arbitrium quendam divina provisio. […] Vos de toto priscae originis stemmate sola nobilitate contentus, quicquid omne potest fastigium generositatis ornare, prosapiae vestrae a vobis voluistis exurgere.“ / „Ja, hat für unsere Zeit die göttliche Vorsehung einen Mann der Entscheidung gefunden. […] Ihr, dem von dem ganzen uralten Stammbaum der bloße Adel genug ist, Ihr habt gewollt, dass alles, was den Gipfel der Hoheit irgend zu zitieren vermag, für Eure Nachkommenschaft bei Euch Ausgang nehme.“ 22 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 75,15f.: „Habetis bonorum auctores, voluistis esse meliorum. Respondetis proavis, quod regnatis in saeculo; instituistis posteris, ut regnetis in caelo.“ / „Gutes habt Ihr geerbt, Besseres wolltet Ihr vererben. Ihr verantwortet Euch vor den Vorfahren dahin, dass Ihr auf Erden regiert. Ihr gabt es den Nachfahren zum Gesetz, dass Ihr im Himmel regieren möget.“ 23 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 75,18f.: „Illustrat tuum quoque orbem claritas sua, et occiduis partibus in rege non novi iubaris lumen effulgurat.“ / „Deren Helle verklärt auch hier die Erde, und dem Abendland erschimmert Licht an einem längst glanzvollen König.“ Diese rhetorische Stilisierung Chlodwigs wird einmal durchbrochen durch die indirekt erwähnten Ratgeber in folgendem Satz des Avitus (ebd. 75,7–10): „Solent plerique in hac eadem causa, si pro expetenda sanitate credendi aut sacerdotum hortatu aut quorumcumque sodalium ad suggestionem moveantur, consuetudinem generis et ritum paternae observationis obponere.“ / „Es pflegen die meisten in einem solchen Fall, wenn Mahnung der Priester oder Zuspruch irgendwelcher Genossen sie dahin bringt, da sie im Glauben Gesundung suchen, die Gewohnheit ihres Geschlechts und den Brauch von vatersher entgegenzusetzen.“ 24 Siehe oben Anm. 21. 25 Die oben zitierte Passage in Anm. 1. 26 Die Passage wird unten Anm. 51 zitiert. 27 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 75,7: „Dum vobis eligitis, omnibus iudicatis; vestra fides nostra victoria est.“
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des katholischen Christentums einen wichtigen Schritt – seine Entscheidung sei quasi ein Urteil stellvertretend für alle. Avitus verwendet hier einen Begriff aus dem Kontext der Kriegsrhetorik, jedoch in einer gebrochenen Art und Weise. Er formuliert nicht, dass sein Glaube Chlodwig einen Sieg – in einem Kampfgeschehen – eingetragen habe oder eintragen werde, sondern dass sein Glaube ein Sieg für das (katholische) Christentum bedeute: „So ist euer Glaube unser Sieg!“ Das ist umso auffälliger, als Avitus hier eine Formulierung von Ambrosius von Mailand (374–397)28 aus dessen berühmter Gedenkrede aus dem Jahr 395 an Kaiser Theodosius I. (379–395)29 aufzugrei28 Vgl. zu Ambrosius allgemein: Neil Brendan McLynn, Ambrose of Milan. Church and Court in a Christian Capital. (The Transformation of the Classical Heritage 22.) Berkeley u.a. 1994; Daniel H. Williams, Ambrose of Milan and the End of the Nicene-Arian Conflicts. Oxford 1995; zu Ambrosius als Theologe: Christoph Markschies, Ambrosius von Mailand und die Trinitätstheologie. Kirchen- und theologiegeschichtliche Studien zu Antiarianismus und Neunizänismus bei Ambrosius und im lateinischen Westen (364–381 n. Chr.). (Beiträge zur historischen Theologie 90.) Tübingen 1995; Daniel H. Williams, The Anti-Arian Campaigns of Hilary of Poitiers and the Liber contra Auxentium, in: ChH 61, 1992, 7–22; zu seinen politisch wichtigen Reden: Heinz Bellen, Christianissimus Imperator. Zur Christianisierung der römischen Kaiserideologie von Constantin bis Theodosius (1994), in: Heinz Bellen, Politik – Recht – Gesellschaft. Studien zur Alten Geschichte. (Historia Einzelschriften 115.) Stuttgart 1997, 151–166; Martin Biermann, Die Leichenreden des Ambrosius von Mailand. Rhetorik, Predigt, Politik. (Hermes Einzelschriften 70.) Stuttgart 1995; Kirsten Groß-Albenhausen, Imperator christianissimus. Der christliche Kaiser bei Ambrosius und Johannes Chrysostomus. (Frankfurter althistorische Beiträge 3.) Frankfurt a.M. 1999; Hartmut Leppin, Das Alte Testament und der Erfahrungsraum der Christen. Davids Buße in den Apologien des Ambrosius, in: Andreas Pečar (Hrsg.), Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne. (HZ Beiheft 43.) München 2007, 119–134; ders., Zum politischen Denken des Ambrosius – Das Kaisertum als pastorales Problem, in: Therese Fuhrer (Hrsg.), Die christlich-philosophischen Diskurse der Spätantike: Texte, Personen, Institutionen. Akten der Tagung vom 22.–25. Februar 2006 am Zentrum für Antike und Moderne der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. (Philosophie der Antike 28.) Stuttgart 2008, 33–49; ders., Ein Bischof redet dem Kaiser ins Gewissen – Ambrosius und Theodosius, in: Mariano Delgado/Volker Leppin/David Neuhold (Hrsgg.), Ringen um die Wahrheit. Gewissenskonflikte in der Christentumsgeschichte. (Studien zur christlichen Religions- und Kulturgeschichte 15.) Freiburg i.Ü./Stuttgart 2011, 83–93; J.H.G.W. Liebeschuetz (Hrsg.), Ambrose of Milan. Political Letters and Speaches Translated with an Introduction. (Translated Texts for Historians 43.) Liverpool 2005; Giacomo Raspanti, Clementissimus Imperator. Power, Religion, and Philosophy in Ambrose’s De obitu Theodosii and Seneca’s De clementia, in: Andrew Cain/Noel Lenski (Hrsgg.), The Power of Religion in Late Antiquity. Selected Papers from the Seventh Biennial Shifting Frontiers in Late Antiquity Conference, University of Colorado at Boulder, 22–25 March 2007. Farnham/Burlington (VT) 2009, 45–55. 29 Theodosius starb am 17.1.395 und hinterließ seine beiden Söhne als Erben, den zehnjährigen Honorius im Westen (395–423) und den siebzehnjährigen Arkadios im Osten (395–408). Ambrosius hielt seine Rede vierzig Tage nach dem Tod des Theodosius am 25.2.395 im Rahmen eines Gedenkgottesdienstes; es war ein großer Staatsakt in der Mailänder Hauptkirche. Vgl. zu Theodosius allgemein Jörg Ernesti, Princeps christianus und Kaiser aller Römer. Theodosius der Große im Lichte zeitgenössischer Quellen. Paderborn/München/Wien 1998; Hartmut Leppin, Theodosius der Große. (Gestalten der Antike.) Darmstadt 2003; ders., Theo-
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fen scheint, die bislang noch nicht zur Interpretation des Briefs des Avitus herangezogen wurde. Hier erinnert Ambrosius an die wundersame Wendung im Kampfgeschehen gegen den Usurpator Eugenius (September 394) am Fluss Frigidus (Slowenien) durch einen plötzlich aufgekommenen heftigen Wind30 mit folgenden Worten: Ihr erinnert euch doch, welche Triumphe euch der Glaube des Theodosius errungen hat. Da infolge des engen Geländes und der Behinderungen durch den Tross das Heer etwas zu spät in die Schlacht eintrat und der Feind infolge der Verzögerung des Kampfes zum Sturm überzugehen schien, sprang der Kaiser vom Ross, trat allein vor die Schlachtreihe und rief: „Wo ist der Gott des Theodosius?“ Schon stand er Christus ganz nahe, da er dies sprach. Wer könnte denn auch so sprechen, wenn er sich nicht als Anhänger Christi fühlte? Durch diesen Ruf nun begeisterte er alle, durch sein Beispiel wappnete er alle. Gewiß, er stand an Jahren bereits im Greisenalter, kraft des Glaubens aber im kräftigen Mannesalter. Der Glaube des Theodosius war also euer Sieg (Theodosii ergo fides fuit vestra victoria); euer Glaube und eure Treue sei die Stärke seiner Söhne!31 [– Angesprochen sind die anwesenden Militärs und die Aristokratie.]
dosius der Große und das christliche Kaisertum. Die Teilung des römischen Reichs, in: Mischa Meier (Hrsg.), Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, 27–44; Adolf Lippold, Theodosius I., in: RE Suppl. 13, 1973, 837– 961; ders., Theodosius I., in: Manfred Clauss (Hrsg.), Die römischen Kaiser. 55 historische Portraits von Caesar bis Justinian. 4. Aufl. München 2010, 368–373; Konrad Vössing, Theodosius I., in: RGA2 30, 2005, 434–439. 30 Die Machterhebung des Eugenius im Jahr 392 (vgl. den Brief des Ambrosius an Eugenius von 394: Ambrosius von Mailand, Epistolae extra collectionem, ep. 10 [Maur. 57], ed. Michaela Zelzer, in: CSEL 82/3. Wien 1982) war verbunden mit einem Wiederaufleben des heidnischen Kults, unterstützt vom stadtrömischen Senat; so wurde die Auseinandersetzung als Entscheidung zwischen Heidentum und Christentum stilisiert; vgl. Michele Renee Salzman, Ambrose and the Usurpation of Arbogastes and Eugenius: Reflections on PaganChristian Conflict Narratives, in: JECS 18, 2010, 191–223. Vgl. Jochen Straub, Eugenius, in: RAC 6, 1966, 860–877; Ferdinand Heinzberger, Heidnische und christliche Reaktionen auf die Krisen des weströmischen Reichs in den Jahren 395–410 n. Chr. Diss. Bonn 1976. Der Königsmacher Arbogast und Eugenius’ militärischer Anführer Flavianus begingen Selbstmord, Eugenius selbst wurde in der Schlacht getötet. 31 Ambrosius, De obitu Theodosii, c. 7f. (wie Anm. 20), 375: „Recognoscitis nempe, quos vobis Theodosii fides triumphos adquisiverit. Cum locorum angustiis et inpedimentis calonum agmen exercitus paulo serius in aciem descenderet et inequitare hostis mora belli videretur, desiluit equo princeps et ante aciem solus progrediens ait: ‚Ubi est Theodosii deus?‘ Iam hoc Christo proximus loquebatur. Quis enim posset hoc dicere, nisi qui Christo se adhaerere cognosceret? Quo dicto excitavit omnes, exemplo omnes armavit, et iam certe senior aetate, sed validus fide. Theodosii ergo fides fuit vestra victoria: vestra fides filiorum eius fortitudo sit.“ Übersetzung aus Johannes Niederhuber, Des Heiligen Kirchenlehrers Ambrosius von Mailand Pflichtenlehre und ausgewählte kleinere Schriften. (BKV 32.) München 1917. Vgl. auch ebd., c. 23 (wie Anm. 20), 383: „Non enim potuisset vincere, nisi eum, qui certantes adiuvat, invocasset.“ / „Denn er hätte den Sieg nicht erringen können, wenn er nicht den angerufen hätte, der den Streitern hilft.“; und ebd., c. 25 (wie Anm. 20), 383: „Ille vincit, qui gratiam dei sperat, non qui ‚de sua virtute praesumit‘.“ / „Der ist Sieger, der auf die Gnade Gottes hofft, nicht wer auf eigene Kraft vertraut.“ Das Motto der gesamten Rede ist: Gott bestraft perfidia, belohnt dagegen pietas (vgl. c. 2). Ambrosius lobt hier die christliche Kaiserherrschaft und beschreibt die gerechten Siege eines christlichen Herrschers. In diesem Abschnitt spielt er mit
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Mischa Meier schreibt darüber: Theodosius’ Sieg in der Schlacht am Frigidus gehört zu den großen militärischen Wundern der Antike, vergleichbar etwa dem Regenwunder unter Marc Aurel (173 n. Chr.) und insbesondere auch dem Sieg Konstantins an der Milvischen Brücke im Jahr 312.32
Da dies also ein Ereignis von hoher Bedeutung war und in allen Berichten als göttliches Eingreifen erinnert wurde33, da ferner Theodosius sich bekanntlich als rechtgläubiger Kaiser inszenierte und auch von Ambrosius entsprechend in Erinnerung gehalten wurde, und da Avitus auch in anderen Bereichen Ambrosius rezipiert zu haben scheint34, ist es durchaus möglich, dass er hier auch in Erinnerung an diese markanten Formulierungen des Ambrosius seine Worte gewählt haben könnte. Allerdings zeigt sich bei Avitus nach gut einhundert Jahren eine größere Vorsicht, den rechten Glauben mit einem sicheren Sieg im Krieg zu verbinden35, sowie eine geänderte Wahrnehmung der ‚Barbaren‘ als noch bei Ambrosius. So for-
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der Doppeldeutigkeit der Begriffe fides („Glaube“/„Treue“) und verbindet so den christlichen Glauben mit der Treue der Soldaten, um auch Loyalität und treue Ergebenheit gegenüber den Söhnen des Theodosius einzufordern. Mischa Meier, Der christliche Kaiser zieht (nicht) in den Krieg. „Religionskriege“ in der Spätantike?, in: Andreas Holzem (Hrsg.), Krieg und Christentum. Religiöse Gewalttheorien in der Kriegserfahrung des Westens. (Krieg in der Geschichte 50.) Paderborn u.a. 2009, 254– 278, hier 256. Die Berichte betonen zunehmend das Wundersame. Die Darstellung bei Ambrosius ist die älteste; vgl. auch Aug. civ. V 26; Ioh. Chrys. hom. 6 adv. catharos (PG 63, 491f.); Oros. hist. VII 35,14–22; Theod. hist. eccl. V 24; Sokr. V 25; Soz. VII 22–24; Rufin. h.e. XI 33. Vgl. dazu Straub, Eugenius (wie Anm. 30), 872–874 und Meier (wie Anm. 32), 256–260 mit neuerer Literatur. Vgl. dazu Heil, Avitus von Vienne (wie Anm. 1). Schäferdiek, Chlodwigs Religionswechsel (wie Anm. 2), 115: „Die religiöse Überzeugung von einem göttlichen Beistand im Kampf ist uralt und allgemein verbreitet“ mit Verweis auf Wolfgang Speyer, Die Hilfe und Epiphanie einer Gottheit, eines Herrn und eines Heiligen in der Schlacht, in: Pietas. Festschrift Bernd Kötting. (JbAC Erg.-Bd. 8.) Münster 1980, 55–77, hier 76: „Seitdem Konstantin unter dem wunderbaren Zeichen des himmlischen Kreuzes über Maxentius von Rom gesiegt hatte, konnten die Christen mit dem wunderbaren Schutz Gottes in der Schlacht retten.“ Vgl. exemplarisch Eus. vita Const. IV 9: „τούτου τοῦ θεοῦ τὴν δύναμιν ἔχων σύμμαχον, ἐκ τῶν περάτων τοῦ ᾿Ωκεανοῦ ἀρξάμενος πᾶσαν ἐφεξῆς τὴν οἰκουμένην βεβαίοις σωτηρίας ἐλπίσι διήγειρα, ὡς ἅπαντα ὅσα ὑπὸ τοσούτοις τυράννοις δεδουλωμένα ταῖς καθημεριναῖς συμφορεῖς ἐνδόντα ἐξίτηλα ἐγεγόνει, ταῦτα προσλαβόντα τὴν τῶν κοινῶν ἐκδικίαν ὥσπερ ἔκ τινος θεραπείας ἀναζωπυρηθῆναι. τοῦτον τὸν θεὸν πρεσβεύω, οὗ τὸ σημεῖον ὁ τῷ θεῷ ἀνακείμενος μου στρατὸς ὑπὲρ τῶν ὤμων φέρει, καὶ ἐφ᾿ ἅπερ ἂν ὁ τοῦ δικαίου λόγος παρακαλῇ κατευθύνεται· ἐξ αὐτῶν δ᾿ ἐκείνων περιφανέσι τροπαίοις αὐτίκα τὴν χάριν ἀντιλαμβάνω.“ / „Gestützt im Kampf auf die Macht Gottes habe ich, von den äußersten Grenzen des Ozeans angefangen, der Reihe nach den ganzen Erdkreis durch sicher Hoffnung auf Heil aufgerichtet – diesen Gott bekenne ich, sein Zeichen trägt mein Heer auf den Schultern, und wozu nur immer die Rücksicht auf Gerechtigkeit ruft, dahin zieht es und sofort erhalte ich auch dafür in den herrlichsten Siegen den Dank.“ Übersetzung aus Johannes Maria Pfättisch/Andreas Bigelmair, Des Eusebius Pamphili Bischofs von Cäsarea ausgewählte Schriften. (BKV 9.) München 1913.
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derte Ambrosius zum Beispiel im Jahr 380 in seinem Werk „Über den Glauben“ (De fide ad Gratianum) den damaligen Kaiser des Westens, Gratian, auf: Schreite voran ohne Umstände, ausgestattet mit dem Schild des Glaubens und das Schwert des Geistes (Eph 6,16f.) in den Händen haltend, schreite voran zu dem in früheren Zeiten verheißenen und durch göttliche Weissagungen vorhergesagten Sieg (über die Barbaren)!36
Gemeint waren die damaligen Goten unter Fritigern, die Zuflucht vor den Hunnen im Römischen Reich suchten. Sie wurden vom Kaiser des Ostens, Valens, zwar 376 im Römischen Reich angesiedelt, zogen aber dann plündernd und brandschatzend über den Balkan, nachdem sie die versprochene Unterstützung mit Sold und Nahrungsmitteln nicht erhalten hatten. Schließlich konnten sie sogar 378 dem oströmischen Heer unter Kaiser Valens bei Adrianopel (= Edirne) eine massive Niederlage bereiten; der Leichnam des Kaisers wurde nie gefunden.37 Ambrosius erwartete also von Kaiser Gratian, gegen die Goten erneut in den Kampf zu ziehen, da deren Niederlage schon in der Schrift verheißen worden sei38 – vorausgesetzt, Gratian kämpfe für den wahren, nizänischen Glauben, wie ihn Ambrosius in seinem mehrbändigen Werk De fide dem Kaiser darlegt. Dann werde Gratian mit Hilfe der ewigen Kraft der Gottheit die Siegestrophäe des Glaubens gegen die barbarischen Feinde erringen. Auch den Kaiser Theodosius erinnerte Ambrosius mehrmals daran, dass er seine Erfolge zweifellos Gott verdanke. So rief er zum Beispiel in seinem Brief von 389 – wie einst der Prophet Nathan dem König David – dem Kaiser ins Gedächtnis, dass Christus ihn erwählt, zum König gemacht, seine Siege herbeigeführt und ihn aus kritischen Situationen befreit habe.39 36 Ambrosius von Mailand, De fide ad Gratianum, II, 16, 136, ed. Christoph Markschies, in: Fontes Christiani 47/2. Turnhout 2005, 346): „Progredere plane ‚scuto fidei‘ saeptus et ‚gladium spiritus‘ habens [vgl. Eph 6,16f.], progredere ad victoriam superioribus promissam temporibus et divinis oraculis profetatam.“ 37 Zur Rekonstruktion des Schlachtverlaufs jetzt Dariusz Brodka, Einige Bemerkungen zum Verlauf der Schlacht bei Adrianopel (9. August 378), in: Millennium-Jahrbuch 6, 2009, 265– 280. 38 Mit der göttlichen Weissagung bezieht sich Ambrosius auf Ezechiel 38f. über Gog aus Magog. „Dieser Gog“, so Ambrosius, „ist der Gote, der, wie wir sehen, schon aufgebrochen ist, über den wird uns ein künftiger Sieg verheißen.“ / „Gog iste Gothus est, quem iam videmus exisse, de quo promittitur nobis futura victoria dicente domino“ (es folgt Ez 39,10–12). 39 Ambrosius wollte damit erreichen, dass Theoderich sein Urteil über den Bischof, der mit verantwortlich für die Zerstörung der Synagoge im syrischen Callinicum war, zurücknahm. Die lange Reihe der „göttlichen Hilfeleistungen“ lautet (Ambrosius, Epp. extra coll., ep. 1a [Maur. 40], c. 22 [wie Anm. 30], 172f.): „Et quid te cum posthac Christus loquetur? Non recordaris quid David sancto per Nathan prophetam mandaverit? Ego te de fratribus tuis minorem elegi et de privato imperatorem feci. Ego de fructu seminis tui in sede imperiali locavi. Ego tibi subieci nationes barbaras, ego tibi pacem dedi, ego tibi inimicum tuum in potestatem tuam captivum deduxi. Frumentum non habebas ad exercitus alimoniam, ipsorum hostium manu patefeci tibi portas, aperui horrea; dederunt tibi hostes tui commeatus suos quos sibi paraverant. Ego perturbavi hostis tui consilia ut se ipse nudaret. Ego exercitum tuum ex multis indomitis convenam nationibus quasi unius gentis fidem et tranquillitatem et concordiam servare praecepi. Ego cum periculum summum esset ne Alpes infida barbarorum penetrarent
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Zurückhaltender formuliert jedoch Avitus. Das kann ein Blick auf eine andere Textpassage verdeutlichen, in der Avitus in einem Gespräch mit dem burgundischen König Gundobad40 die Gleichsetzung eines Sieges im Kriegsgeschehen mit einem göttlichen Urteil über eine gerechte Sache infrage stellte. Gundobad hatte angemerkt41, dass doch in der Regel Streitfragen zwischen Reichen oder auch Einzelpersonen in einem Kampf entschieden werden und der Sieg sich göttlichem Urteil verdanke, der die gerechte Sache dem Erfolg zuführe.42 Avitus reagierte darauf zunächst mit einem Verweis auf eine Schriftstelle (Ps 67,31 LXX): „Zerstreue die Völker, die gerne Krieg führen!“, um davor zu warnen, Gottes Urteil im Krieg zu suchen. Gundobad möge sich lieber zu Herzen nehmen, dass geschrieben stehe (2Kön 6,22 = Röm 12,19): „Die Rache ist mein; ich will vergelten!“ Es liege also an Gott, ein Urteil zu fällen, und nicht am Menschen, dieses gezielt im Kampf herbeizuführen oder herauszufordern. Überdies würden nicht alle Angelegenheiten mit Waffen entschieden. Schließlich weist Avitus sogar darauf hin, dass auch die unterlegene Seite im Recht sein könne, wie man gegenwärtig oft erfahre.43 Das irdische Geschehen gebe also keineswegs unmittelbar und für alle ersichtlich darüber Auskunft, ob eine vor Gott gerechte Angelegenheit verfolgt werde. Diese Aussagen passen gut zu seiner Bemerkung in der zu Beginn zitierten Brieferöffnung, dass ein Urteil über den wahren Glauben allein Gott im Endgericht fällen werde, so dass Avitus es der „Ewigkeit überlassen“ möchte, in welcher Meinung die Wahrheit zu finden sei. In seinem Brief an Chlodwig schildert Avitus den Frankenherrscher zwar auch vornehmlich als Kriegsherrn. So sind seine zur Taufe abgelegten Kleider der
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consilia, intra ipsum Alpium vallum victoriam tibi contuli ut sine damno vinceres. Ego ergo te triumphare feci de inimico tuo et tu de plebe mea das meis inimicis triumphum!“ Deutlich auch in: Ambrosius, Epp. extra coll., ep. 2 (Maur. 61), c. 3. 6; 3 (Maur. 62), c. 4; 4 (Maur. 10 = Gesta concilii Aquileiensis ep. 2), c. 1. 8. 12, ebd. 325,142–144: „[…] ut et vos deo praesule triumfetis, qui paci ecclesiarum quietique consulitis“. Avitus von Vienne, Fragment 3A, ed. Rudolf Peiper, in: MGH Auct. ant. 6/2. Berlin 1883, 2,20–3,3), von Agobard von Lyon überliefert. Der vorangehende Kontext, aus dem diese Anfrage erwächst, ist wegen des fragmentarischen Charakters nicht bekannt. Gundobad: „Quid est quod inter regna et gentes, et etiam inter personas saepe singulas, dirimendae praeliis causae divino iudicio committuntur, et ei maxime parti cui iustitia competit, victoria succedit?“ (Avitus, Fragm. 3A [wie Anm. 40], 2,32–34). Avitus: „An forte sine telis et gladiis causarum motus aequitas superna non iudicat, cum saepe, ut cernimus, pars aut iuste tenens, aut iusta deposcens, laboret in praeliis, et praevaleat iniquae partis, vel superior fortituto, vel furtiva subreptio?“ (Avitus, Fragm. 3A [wie Anm. 40], 3,1–3). Auf welche „unterlegene Seite“ er hier anspielt, ist nicht eindeutig: Meint er tatsächlich einen gescheiterten Kriegszug Gundobads selbst, wenn Gundobad in seiner Anfrage von einem Sieg als Gottesurteil sprach? Dann würde das Gespräch aus einem verlorenen Krieg erwachsen und der König hätte Avitus eventuell angefragt, ob Gottes Fürsorge ihn nun verlassen habe. Dafür spricht, dass Avitus wohl kaum Gundobad in diesem Gespräch als iniquae partis (ebd. 3,3) ansprechen würde. Oder ist dieses Gespräch eher theoretischer Natur und ohne realen Hintergrund? Wie auch immer der Kontext und der Hintergrund dieses Fragments zu verstehen ist, deutlich ist die Kritik des Avitus an der Gleichsetzung von Kriegsglück und Gottesurteil.
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Kriegshelm und der Panzer, außerdem ist unter dem Panzer ein Haupt, vor dem sich die Völker fürchten44, und er wünscht ihm schließlich: Möge diese weiche Gesinnung, so wie Ihr, blühendster der Könige, es glaubt, bewirken, dass Euch die starren Waffen fortab nur um so kräftiger helfen, und was bisher das Glück geschenkt hat, die Heiligkeit wird es nun vermehren.45
Auch dieser Wunsch zeigt jedoch eine leichte Distanz des Avitus, da er offenbar eher derjenige des Chlodwig war als der des Bischofs. Mit der Wendung sicut creditis wird nämlich darauf hingewiesen, dass sich Avitus hier auf eine Äußerung von Chlodwig bezieht46, und natürlich wagt es Avitus nicht, ihm in dieser Sache offen zu widersprechen. Außerdem scheint die Formulierung, dass der bisherige Kriegserfolg des Chlodwig vor seiner Taufe unbestimmt als Glück (felicitas) zu deuten sei und noch nicht auf christlicher sanctitas beruhe, darauf hinzuweisen, dass Avitus entweder einen mit göttlicher Hilfe errungenen Sieg, wie ihn Gregor von Tours als ausschlaggebend für die ‚Bekehrung‘ beschreibt, nicht kennt oder es wenigstens nicht derart deutet. Und in den beiden letzten Sätzen fordert Avitus Chlodwig überdies nicht zu Eroberungsfeldzügen zur Verbreitung des wahren christlichen Glaubens oder zum Krieg gegen seine ‚arianischen‘ häretischen Nachbarn auf, sondern zur Entsendung von Botschaftern zu entfernten Heidenvölkern, die das Christentum noch nicht kennen.47 44 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 75,29–33: „Conferebamus namque nobiscum tractabamusque, quale esset illud, cum adunatorum numerosa pontificum manus sancti ambitione servitii membra regia undis vitalibus confoveret, cum de servis dei inflecteret timendum gentibus caput, cum sub casside crinis nutritus salutarem galeam sacrae unctionis undueret, cum intermisso tegmine loricarum immaculati artus simili vestium candore fulgerent.“ / „Wir besprachen nämlich untereinander den Hergang und stellten uns alles vor: wie die zahlreiche Schar der versammelten Bischöfe im Eifer ihres heiligen Dienstes die Königslieder in den Lebenswogen wärmte, wie vor den Knechten Gottes das den Völkern furchtbare Haupt sich beugte, wie das unter dem Kriegshelm gepflegte Haar sich nun mit geweihter Ölung behelmte, wie der Panzer einmal abgelegt wurde und die makellosen Glieder im makellosen Weiß der Taufkleider glänzten.“ 45 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 75,33–76,3: „Faciet, sicut creditis, regum florentissime, faciet inquam indumentorum ista mollities, ut vobis deinceps plus valeat rigor armorum, et quicquid felicitas usque hic praestiterat, addet hic sanctitas.“ Shanzer übersetzt in Shanzer/Wood, Avitus of Vienne (wie Anm. 1), 372, felicitas mit „good luck“. 46 Vgl. auch Von den Steinen, Chlodwigs Übergang (wie Anm. 2), 488. 47 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 76,8–14: „Unum est, quod velimus augeri: ut, quia deus gentem vestram per vos ex toto suam faciet, ulterioribus quoque gentibus, quas in naturali adhuc ignorantia constitutas nulla pravorum dogmatum germina corruperunt, de bono thesauro vestri cordis fidei semina porrigatis. nec pudeat pigeatque etiam directis in rem legationibus adstruere partes dei, qui tantum vestras erexit. Quatenus externi quique populi paganorum pro religionis vobis primitus imperio servituri, dum adhuc aliam videnter habere proprietatem, discernantur potius gente quam principe […].“ / „Nur eines wünschten wir gemehrt: Wenn nun Gott Euren Stamm durch Euch ganz und gar zu dem Seinen machen wird, so streut aus dem reichen Schatz Eures Herzens die Glaubenssaat auch unter die ferner wohnenden Stämme, die bisher in natürlicher Unwissenheit leben und nicht durch Keime von Irrlehren verdorben sind. Frisch und ohne Scheu vertretet, auch durch eigens entsendete Botschafter, die Sache Gottes, der die Eure so hoch erhöht hat. Auf dass all die Heidenvölker draußen vorerst
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Fasst man diese Beobachtungen zusammen, so scheint vor allem Chlodwig selbst vom christlichen Gott Unterstützung bei seinen Feldzügen und Waffengängen erwartet zu haben. Die Bedeutung, die Chlodwig einem mächtigen göttlichen Helfer im Kampf zugemessen hat, wirkte später nach in der Beschreibung der Alemannenschlacht bei Gregor von Tours, in der er Chlodwig den Christengott gegenüber seinen früheren, ohnmächtigen Göttern anrufen lässt: Gewährst du mir jetzt den Sieg über diese meine Feinde und erfahre ich so jene Macht, […] so will ich an dich glauben und mich taufen lassen auf deinen Namen.48
Avitus griff eine entsprechende Rhetorik auf, die ihm auch durch Ambrosius sehr vertraut war, formulierte jedoch zurückhaltender. Dazu zwang ihn schon eine politische Rücksichtnahme, da er als Bischof einer Stadt im Herrschaftsgebiet der Burgunder an den Herrscher der Franken schrieb; so konnte Avitus wohl kaum einen benachbarten König zum Angriff auf Gundobad motivieren. In diesem Sinn kommentierte schon Von den Steinen: Jedenfalls gab er damit eher überdeutlich zu wissen, daß die wichtigste Aufgabe des Katholiken nicht der Ketzerkrieg sei, daß er von Chlodwig nicht eine Befreiung vom burgundischen Joche erwarte.49
Darüber hinaus scheint er jedoch durchaus grundsätzlich den Zusammenhang zwischen rechtem Glauben und Kriegsglück infrage gestellt zu haben50, und so um des christlichen Glaubens willen Euch dienen und, während sie noch getrenntes Eigentum zu behalten scheinen, doch eher dem Stamme als dem Herrscher nach geschieden seien.“ Hier argumentiert Avitus also anders als zum Beispiel Euseb von Cäsarea in seiner Darstellung Konstantins: Der Kaiser habe die Völker unterworfen, um ihnen den Glauben zu bringen (Eus. vita Const. I 4; 6; 8). Es ist bemerkenswert, dass Avitus überhaupt andere Völker als Missionsaufgabe in den Blick nimmt und nicht mehr als kulturlose ‚Barbaren‘ verachtet. Eine gezielte Mission durch die Kirche tritt erst später unter Gregor dem Großen (590–604) in Erscheinung. 48 Gregor, Hist., II, 30 (wie Anm. 3), 75,20–22: „[…] ut, si mihi victuriam super hos hostes indulseris et expertus fuero illam virtutem, quam de te populus tuo nomine dicatus probasse se praedicat, credam tibi et in nomine tuo baptizer.“ 49 Von den Steinen, Chlodwigs Übergang (wie Anm. 2), 487. 50 Es wäre denkbar, dass Avitus darin auch Augustinus rezipiert hat, der zum Beispiel in Aug. civ. V 21–26 darauf hinweist, dass Gott durchaus auch gottlosen Herrschern Macht gewährt. Zu beachten ist jedoch, dass Avitus an einen anderen Adressaten in eigener Sache durchaus ähnlich wie Ambrosius formulieren konnte. So richtete er in Ep. 91 an den burgundischen, inzwischen katholischen Herrscher Sigismund, der in den Krieg gezogen war, die Bitte, auf sein Leben aufzupassen, und merkt an, dass er um seine heile Rückkehr bete. In Ep. 92 an Sigismund bittet er ihn um ein Lebenszeichen und ruft alle Katholiken dazu auf, für den Erfolg seines Kriegszugs zu beten, damit in dieser schwierigen Situation Christus für Sigismund vorangehe und kämpfe, so dass er den gewünschten Sieg und Frieden erreiche: „[…] sicque in rerum necessitate multiplici ambifariam vobis Christo propugnante contingat et pax, quae cupitur, et victoria, quae debetur“ (Avitus, Ep. 92 [wie Anm. 1], 99,21f.). Ferner verbindet Avitus in Ep. 45 an Sigismund mit einem Sieg im Krieg den Triumph der Wahrheit: „Quod superest, egressi felices, ite sospites, redite victores“ (Avitus, Ep. 45 [wie Anm. 1], 74,27f.). Sigismund solle seinen Glauben in die Waffen einpflanzen (fidem vestram telis inserite 74,28), um göttliche Hilfe bitten (auxilia caeli precibus exigite) und seine Waffen mit Gebe-
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verbindet er die Taufentscheidung von Chlodwig nicht mit einem Sieg im Namen des christlichen Gottes, wie es Gregor von Tours berichtet. Insgesamt erfährt man aus diesem Brief also mehr über Avitus und nur wenig über Chlodwig selbst. Das ist umso bedauerlicher, als auch die sonstigen Informationen über den Glauben und die Überzeugungen, die Chlodwig mit seinem Schritt aufgegeben hat, rar sind. So fehlt der fränkisch-pagane Hintergrund, mit dem die Art und Weise, wie Avitus einen christlichen Herrscher profiliert, kontrastiert werden könnte. In dem relevanten Abschnitt aus dem Brief des Avitus erfährt man sehr allgemein, dass Chlodwig die Traditionen der Vorfahren aufgegeben und sich mit seiner reinen nobilitas zufrieden gegeben habe: Es pflegen die meisten in einem solchen Fall, wenn Mahnung der Priester oder Zuspruch irgendwelcher Genossen sie dahin bringt, dass sie im Glauben Gesundung suchen, die Gewohnheit ihres Geschlechts und den Brauch von vatersher entgegenzusetzen. So stellen sie zum Verderben ihre Scham über ihr Heil, und indem sie ihren Eltern in Bewahrung des Unglaubens unnütze Verehrung erweisen, bekennen sie, dass sie eigentlich gar nicht wissen, worum die Wahl geht. […] Ihr, dem von dem ganzen uralten Stammbaum der bloße Adel genug ist, Ihr habt gewollt, dass alles, was den Gipfel der Hoheit irgend zu zitieren vermag, für Eure Nachkommenschaft bei Euch Ausgang nehme. Gutes habt Ihr geerbt, Besseres wolltet Ihr vererben. Ihr verantwortet Euch vor den Vorfahren dahin, dass Ihr auf Erden regiert. Ihr gabt es den Nachfahren zum Gesetz, dass Ihr im Himmel regieren möget.51
Man hat daraus eine besondere Ahnenverehrung der Franken herauslesen wollen und die Bemerkungen des Avitus mit einem sakralen Königtum der Franken verbunden.52 Inzwischen ist jedoch mehrfach diese traditionelle Deutung infrage geten gürten (iacula vestra votis armate 74,29). Der Herr möge schließlich ihm, Avitus, gewähren, anlässlich eines Sieges eine Rede des Triumphes zu halten: „Dabit deus, ut bellorum trophaea, quae vobis ipse praestiterit, cuiuscumque sermonis obsequio sub materia eius, quem dudum expecto, triumphi pretiosioris exaggerem“ (ebd. 74,30f.). Vgl. zu diesen Briefen Shanzer/Wood, Avitus of Vienne (wie Anm. 1), 233–235; 238–241. 51 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 75,7–16: „Solent plerique in hac eadem causa, si pro expetenda sanitate credendi aut sacerdotum hortatu aut quorumcumque sodalium ad suggestionem moveantur, consuetudinem generis et ritum paternae observationis obponere. Ita saluti nocenter verecundiam praeferentes, dum parentibus in incredulitatis custodia futilem reverentiam servant, confitentur, se quoddamodo nescire, quid eligant. […] Vos de toto priscae originis stemmate sola nobilitate contentus, quicquid omne potest fastigium generositatis ornare, prosapiae vestrae a vobis voluistis exurgere. Habetis bonorum auctores, voluistis esse meliorum. Respondetis proavis, quod regnatis in saeculo; instituistis posteris, ut regnetis in caelo.“ 52 Vgl. die allgemeinen Überlegungen von Franz-Reiner Erkens (der allerdings trotz der fehlenden Quellen aufgrund von Analogieschlüssen nicht darauf verzichten möchte) und Ulrich Nonn sowie die dort genannte Literatur: Franz-Reiner Erkens, Reflexionen über das sakrale Königtum germanischer Herrschaftsverbände, in: Matthias Becher/Stefanie Dick (Hrsgg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter. (MittelalterStudien 22.) Paderborn 2010, 87–95; Ulrich Nonn, Das Königtum der Merowinger und seine christliche Legitimierung, ebd. 97–111. Vgl. zum früheren Stand: Karl Hauck, Lebensnormen und Kultmythen in germanischen Stammes- und Herrschergenealogien, in: Saeculum 6, 1955, 186–223; Theodor Mayer (Hrsg.), Das Königtum. Seine geistigen und rechtlichen Grundlagen. (Vorträge und Forschungen 3.) Konstanz 1956, ND Darmstadt 1965 (relevant darin: Otto Höfler, Der Sakralcharakter des germanischen Königtums, ebd. 75–104; Rudolf Bucher, Das merowingische Königtum, ebd. 143–154). Bereits vorsichtiger formuliert Marc Reydellet, La royauté (wie
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stellt worden. Besonders Alexander Gallander Murray hat die hier zusätzlich relevante kurze Stelle aus der Chronik des Fredegar einer sehr kritischen Relektüre unterzogen.53 Auch Matthias Becher distanziert sich in seinem neuen ChlodwigBuch von dieser Forschungsmeinung und stellt ein Sakralkönigtum bei den Franken infrage.54 Avitus spricht überdies sehr allgemein die Gewohnheit des Geschlechts und die überkommenen Traditionen an, ohne konkreter zu werden. Ähnlich argumentiert Avitus nämlich auch in einem Brief an den burgundischen Herrscher Gundobad (ep. 6): Wenn jemand nämlich die alte Gewohnheit oder Sekte der Eltern für einen besseren Glauben auswechselt und nicht vom Vorrecht der Gewohnheit gehalten wird, weil die Wahrheit ihn zur Sorge um sein Heil auffordert, so verlässt dieser besser Eltern, Brüder und Schwestern wie z.B. auch Abraham […].55
Avitus betont also in beiden Fällen den Bruch und die Neuheit des christlichen Glaubens und stellt dem Aufgeben des Herkommens das Setzen einer neuen Tradition gegenüber, so dass Chlodwig nun Stammvater – wie Abraham – eines neuen großen christlichen Volks werde. Die Parallelen zwischen diesen beiden Briefabschnitten sprechen dafür, dass die Sätze an Chlodwig nicht als Hinweis auf ein Sakralkönigtum der Merowinger überinterpretiert werden sollten.
Anm. 2), 106f., unter Verweis auf die Kritik von František Graus, Volk, Herrscher und Heiliger im Reich der Merowinger. Studien zur Hagiographie der Merowingerzeit. Prag 1965, 313f. 53 Alexander Gallander Murray, Et postea vocantur Merohingii: Fredegar, Merovech and “Sacral Kingship”, in: Alexander Gallander Murray, After Rome’s Fall. Narrators and Sources of Early Medieval History. Festschrift Walter Goffart. Toronto 1998, 121–151. Er kommt zu einem neuen Verständnis der Darstellung der Geburt Merowechs bei Fredegar (Chronik, III, 9) aus dem 7. Jh., die zentral für ein eventuelles sakrales Königtum der Franken ist; er versteht sie eher als eine Persiflage über die verachteten Merowinger aus späterer Zeit. 54 Matthias Becher, Chlodwig (wie Anm. 2), 115–119; vgl. auch seinen kritischen Hinweis in ders., Merowinger und Karolinger (wie Anm. 2), 6. Vgl. auch Ian N. Wood, Defining the Franks. Frankish Origins in Early Medieval Historiography, in: Thomas F.X. Noble (Hrsg.), From Roman Provinces to Medieval Kingdom. London 2006, 110–119. 55 Avitus, Ep. 6 (wie Anm. 1), 34,33–36: „Si quis enim antiquam parentum consuetudinem sive sectam melius credendo commutet nec teneatur privilegio consuetudinis, cum veritas provocat ad dilectionem salutis, utiliter his parentes, fratres sororesque dimittit: velut Abraham dives […].” Avitus beantwortet hier eine Anfrage Gundobads, wie nach Mt 19,27–30 ein christliches Opfer zu bringen sei. Er betont, dass es nicht auf die Quantität, sondern die Qualität ankomme. So werde auch ein Martyrium hundertfach belohnt. Wenn aber keine Zeit der Verfolgung sei, so könne das Martyrium anders nachgeahmt werden, nämlich durch ein vollständiges Bekenntnis (plene confessio). Er fordert den Burgunderherrscher also indirekt auf, zum katholischen Christentum überzutreten, was Gott noch mehr belohnen würde als eine großzügige materielle Spende.
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III. DIE DREI HERRSCHERPFLICHTEN FIDES, HUMILITAS UND MISERICORDIA Avitus rät in seinem Brief dem getauften Chlodwig, dass zu seiner nobilitas auch eine sanctitas hinzukommen müsse. So wolle er nun ein Wort der Ermahnung anschließen.56 Was folgt, ist aber kein Fürstenspiegel, wie man ihn etwa bei Augustinus in De civitate Dei (V 24) lesen kann. Vielmehr stellt Avitus geschickt drei rhetorische Fragen zusammen, womit er den erhobenen Zeigefinger senken, aber dennoch seiner Ansicht nach Notwendiges vortragen kann: a) Chlodwig brauche keine Nachhilfe im Glauben (fides), da er ihn schon gesehen habe57; b) auch brauche er nicht an die Demut (humilitas) erinnert zu werden, die der Herrscher als katholischer Christ wegen seines Glaubens den Bischöfen schulde58; c) schließlich leite Chlodwig die Barmherzigkeit (misericordia), die er beispielhaft bereits in einem Akt der Gefangenenbefreiung gezeigt habe.59 Das wird in drei knappen, aber pointierten rhetorischen Fragen angesprochen, die Avitus an den Schluss seines Briefes platziert, und es wäre hilfreich, näher eingrenzen zu können, woher Avitus genau diese drei Aspekte bezieht. Interessan56 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 76,3f.: „Vellem vero praeconiis vestris quiddam exhortationis adnectare, si aliquid vel scientiam vestram vel observantiam praeteriret.” / „Ich wollt wohl Eurem Preise ein Wort der Ermahnung anschließen, wenn etwas Eurem Wissen oder Eurer Aufmerksamkeit entginge.“ 57 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 76,4f.: „Numquid fidem perfecto praedicabimus, quam ante perfectionem sine praedicatore vidistis?“ / „Sollen wir dem Vollkommenen den Glauben predigen, den Ihr schon vor der Vollkommenheit ohne Prediger gesehen habt?“ Es ist nicht einfach zu deuten, was Avitus hier mit dem „gesehenen Glauben“ meint. Handelt es sich um eine Anspielung auf ein Wunder, dann kämen die Alemannenschlacht oder auch die Wunder am Martinsheiligtum in Tours in Frage. Oder ist einfach die Gegenwart seiner katholischen Ehefrau Chrodechilde gemeint? Die Interpretation ist abhängig davon, was jeweils als ausschlaggebend für Chlodwigs ‚Bekehrung‘ angesehen wird (siehe oben Anm. 5–7; 11). 58 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 76,5–7: „An forte humilitatem, quam iam dudum nobis devotione impenditis, quam nunc primam professione debitis?“ / „Oder etwa die Demut, die Ihr uns schon längst in Ergebenheit bezeigt, die Ihr uns nunmehr von Glaubens wegen schuldig seid?“ 59 Avitus, Ep. 46 (wie Anm. 1), 76,7f.: „An misericordiam, quam solutus a vobis adhuc nuper populus captivus gaudiis mundo insinuat, lacrimis deo?“ / „Oder die Barmherzigkeit, die die bislang gefangene, nun von Euch freigelassene Schar durch ihre Freude der Welt, durch ihre Tränen Gott verkündigt?“ Die Befreiung von Kriegsgefangenen war seit dem 4. Jh. ein wichtiges soziales Engagement der Christen; vgl. die Aufforderung von Ambrosius, kirchliche Mittel dafür einzusetzen (Ambrosius von Mailand, De officiis, II, 15, 70f., ed. Maurice Testard, in: CCSL 15. Turnhout 2000, 122; II, 28, 138f., ebd. 147f.). Auch Avitus selbst war hier beteiligt, vor allem aber sein Zeitgenosse Caesarius von Arles (vgl. z.B. Vita Caesarii, I, 32f., edd. Germain Morin/Marie-José Delage, Vie de Césaire d’Arles. [SC 536.] Paris 2010, 190– 192; I, 37, ebd. 198–200; II, 8f., ebd. 252–256; vgl. Marie-José Delage, Introduction, ebd. 61–64; William Klingshirn, Charity and Power. Caesarius of Arles and the Ransoming of Captives in Sub-Roman Gaul, in: JRS 75, 1985, 183–203). Avitus fordert also Chlodwig auf, wie ein Bischof mild und barmherzig zu herrschen und sich als christlicher Herrscher ebenfalls um das Los der Kriegsgefangenen zu bemühen. Vgl. dazu auch Shanzer, Dating the Baptism of Clovis (wie Anm. 2), 42–50.
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terweise scheint sich Avitus auch hier erneut an Ambrosius orientiert zu haben, der vom Kaiser neben dem rechten Glauben stets die demütige Ergebenheit vor Gott und der Kirche bzw. den Bischöfen sowie barmherziges Verzeihen gegenüber seinen Untertanen eingefordert hatte. Exemplarisch sei noch einmal aus dem Nachruf an Theodosius zitiert, in dem Ambrosius nach der fides und misericordia ebenfalls die humilitas des Kaisers betont: Eines frommen Kaisers, eines barmherzigen Kaisers, eines glaubensstarken Kaisers. Ihm gilt das nicht geringe Lob, das die Schrift mit den Worten ausgesprochen: „Etwas Großes und Ehrwürdiges ist es um einen barmherzigen Menschen, schwierig aber, einen gläubigen Mann zu finden“. (Prov 20,6) […] Was gibt es Herrlicheres als den Glauben eines Kaisers, den die Macht nicht übermütig, der Stolz nicht hochfahrend, sondern der Frommsinn demütig macht? Von ihm gilt das prächtige Wort Salomos: „Das Dräuen eines sündigen Königs gleicht dem Brüllen des Löwen; aber wie Tau auf dem Grase, also ist auch seine Freundlichkeit.“ Welche 60 Größe, die dräuende Gewalt abzulegen und Huld und Gnade zur Schau zu tragen!
Und eben diese großartige Demut des Kaisers unterstreicht Ambrosius im Nachruf später durch einen Vergleich mit dem sündenbekennenden David: Ein großes Gut ist die Demut, welche die in Gefahr Schwebenden rettet, die am Boden Liegenden aufrichtet. Sie kannte jener [David], der ausrief: „Sieh, ich bin es, der gesündigt hat, ich der Hirte, der Böses getan hat: doch diese in der Herde hier, was haben sie getan? Wider mich kehre sich Deine Hand!“ (2Kön 24,17) Mit gutem Grund spricht er so, nachdem er seine Krone Gott zu Füßen legte, Buße tat, seine Sünde bekannte und um Verzeihung bat: Auch er [Theodosius] hat durch Demut das Heil erlangt. Christus erniedrigte sich (Phil 2,8), um alle 61 zu erhöhen. Auch er ist zur Ruhe Christi gelangt, der dem demütigen Christus folgte.
Den historischen Kontext bildet die von Ambrosius geforderte Kirchenbuße, der sich Theodosius zu unterziehen hatte – wohl nach dem Massaker im Zirkus, zu dem es gekommen war, als der Kaiser die Bestrafung derjenigen gefordert hatte, die 390 einen gotischen Militärbefehlshaber namens Buterich erschlagen hatten. Denn in dem entsprechenden Brief, den Ambrosius in dieser Angelegenheit damals (390) an Theodosius geschickt hatte, zog er ebenfalls einen Vergleich mit dem büßenden David und empfahl den alttestamentlichen König als Vorbild für
60 Ambrosius, De obitu Theodosii, c. 12 (wie Anm. 20), 377,1–11: „[I]mperatoris pii, imperatoris misericordis, imperatoris fidelis, de quo non mediocre locuta est scriptura dicens: ‚Magnum et honorabile est homo misericors, invenire autem virum fidelem difficile est.‘ […] Quid praestantius fide imperatoris, quem non extollat potentia, superbia non erigat, sed pietas inclinet? De quo praeclare Salomon inquit: Regis minitatio similis rugitui leonis, sicut autem ros in herba, sic et hilaritas eius.“ 61 Ambrosius, De obitu Theodosii, c. 27 (wie Anm. 20), 384,1–385,8: „Bona igitur humilitas, quae liberat periclinantes, iacentes eregit. Novit eam ille, qui dixit: Ecce sum ego; peccavi, cavi, et ego pastor male feci, et isti in hoc grege quid fecerunt? Fiat manus tua in me. Bene hoc dicit, qui regnum suum deo subiecit et paenitentiam gessit et peccatum suum confessus veniam postulavit. Ipse per humilitatem pervenit ad salutem. Humiliavit se Christus, ut omnes elevaret. Ipse ad Christi pervenit requiem, qui humilitatem fuerit Christi secutus.“ Vgl. auch c. 33 und c. 34!
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die höchste Demut.62 Ambrosius memoriert in dem Brief in § 7–9 das Vergehen und das Sündenbekenntnis Davids und folgert in § 9: Itaque ea humilitate acceptior deo factus est; non enim mirandum peccare hominem, sed illud reprehensibile si non se cognoscat errasse, non humiliet deo.63
Diese humilitas werde in der christlichen Kirche jedoch nicht durch ein Opfer wie noch zur Zeit von David, sondern durch Reue und Buße in der Kirche vollzogen64 – ansonsten müsse er den Kaiser von der Eucharistiefeier ausschließen (§ 13). Nur diese Demut fehle ihm noch, dem sonst so vorbildlich frommen und barmherzigen (§ 12 pietas, clementia) Kaiser, der doch unmöglich keinen Schmerz über den Tod so vieler Menschen empfinden könne.65 Ambrosius eröffnete dem getauften Theodosius mit dieser humilitas einen Weg, aus dem Stand der Sünde herauszufinden und zur eucharistischen Gemeinschaft zurückzukehren: Er könne die blutigen Konsequenzen seiner Entscheidungen, die ihn unweigerlich selbst mit Sünde belasteten, in der Kirche bekennen, bereuen, dafür büßen und so wieder am Gottesdienst teilnehmen. Theodosius schlug dann auch diesen Weg ein, bekannte seine Sünde öffentlich und empfing schließlich die eucharistischen Gaben aus der Hand des Ambrosius: Et ideo, quia humilem se praebuit Theodosius imperator et, ubi peccatum, veniam postulavit, conversa est anima eius in requiem suam, sicut habet scriptura, quae dicit: Convertere, anima mea, in requiem tuam, quia dominus benefivit mihi.66
Diese Demut ist also nicht demütigend oder erniedrigend gemeint, sondern ist vielmehr „eine Quelle der Erhöhung“.67 62 Ambrosius. Epp. extra coll., ep. 11 (Maur. 51), c. 7 (wie Anm. 30), 214,57f.: „An pudet te, imperator, hoc facere quod rex propheta auctor Christi secundum carnem prosapiae fecit David?“ 63 Ambrosius, Epp. extra coll., ep. 11 (Maur. 51), c. 9 (wie Anm. 30), 215,88–91. 64 Ambrosius, Epp. extra coll., ep. 11 (Maur. 51), c. 11 (wie Anm. 30), 216,105–108 Zelzer: „Peccatum non tollitur nisi lacrimis et poenitentia. Nec angelus potest nec archangelus dominus ipse, qui solus potest dicere: Ego vobis cum sum, si peccaverimus nisi poenitentiam deferentibus non relaxat.“ 65 Auch in seinem Brief an Theodosius nach seinem Sieg über den Usurpator Eugenius aus dem Jahr 394 begegnen diese drei Aspekte: Ambrosius, Epp. extra coll., ep. 2 (Maur. 61), c. 5f. (wie Anm. 30), 179f. Die beiden Tugenden der Milde bzw. Nachsicht (clementia bzw. indulgentia) und der Frömmigkeit (pietas) sind dagegen durchaus traditionell. Vgl. zu Verbindungen zwischen Ambrosius und Seneca: Raspanti, Clementissimus Imperator (wie Anm. 28). Die Tugend der clementia ließ sich gut mit der christlichen Forderung nach Barmherzigkeit (misericordia) verbinden, wie man es bei Ambrosius erkennen kann. Er verwendet in De obitu Theodosii nur zweimal clementia (§ 1 und 14) und bevorzugt an anderen Stellen (14x) misericordia (§ 12; 16; 25f.; 33; 39). Ambrosius betont in seiner Rede (wie schon in den Epp. extra coll., ep. 2 [Maur. 61] [wie Anm. 30], 178–180; 3 [Maur. 62], ebd. 180f.) auch deswegen die clementia, um eine Amnestie der Anhänger der Usurpation des Eugenius zu erreichen. Zu der Konkretisierung der misericordia im Brief des Avitus als Befreiung von Kriegsgefangenen siehe oben Anm. 59. 66 Ambrosius, De obitu Theodosii, c. 28 (wie Anm. 20), 73, 385,8–14. 67 Heinz Bellen, Christianissimus Imperator. Zur Christianisierung der römischen Kaiserideologie von Constantin bis Theodosius, in: Rosmarie Günther/Stefan Rebenich (Hrsgg.), E fonti-
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Diese Texte des Ambrosius sind insofern von Bedeutung, als es wohl ihm zuzuschreiben ist, die christliche Tugend der Demut überhaupt in den Kanon der kaiserlichen Tugenden mit aufgenommen zu haben, worauf Heinz Bellen hingewiesen hat: Für die Demut gab es ja keinen Anknüpfungspunkt bei den alten Kaisertugenden. […] Die humilitas mußte vielmehr in das Kaisertum regelrecht hineinprojiziert werden. […] Dazu verhalf ihr Ambrosius mit dem Theodosius auferlegten Bußakt von Mailand. Jetzt war sie als neue Kaisertugend etabliert – und König David als neuer Ahnherr des Kaisertums gewonnen.68
Auch Hartmut Leppin hat in mehreren Beiträgen auf diese Tatsache hingewiesen: „Theodosius inszenierte damit eine neue, nur in einem christlich geprägten Reich vorstellbare Kaisertugend.“69 Der besondere Punkt war die Tatsache, dass Kaiser Theodosius 380 wegen einer schweren Krankheit getauft worden (Sokr. V 6) und damit wie die anderen Gemeindeglieder auch an die Bußgewalt des Bischofs verwiesen war: Entscheidend war die Frage, wie der Kaiser als Person in der Kirche einzugliedern sei, zumal der getaufte Kaiser. Denn durch die Taufe unterlag der Herrscher in ganz anderer Weise der Bußgewalt des Bischofs als ein Katechumene, ein Taufanwärter.70
Und hier liegt meines Erachtens die Verbindung zu Chlodwig. Avitus schrieb ja seinen Brief anlässlich der Taufe des Frankenherrschers, was ihn offenbar dazu veranlasst hat, unter Rückgriff auf Gedankengut des Ambrosius seine Empfehlungen am Schluss seines Briefes zu formulieren. Mit der Taufe waren ein Sündenbekenntnis und die Sündenvergebung verbunden, und durch die Taufe war Chlodwig an eine christliche Lebensweise verwiesen. Die humilitas ist daher auch bei Avitus wohl nicht nur als eine allgemeine respektvolle Haltung gegenüber den Bischöfen gemeint71, sondern explizit mit Buße und Sündenbekenntnis verbun-
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bus haurire. Beiträge zur römischen Geschichte und zu ihren Hilfswissenschaften. Festschrift Heinrich Chantraine. Paderborn/München 1994, 3–19, wieder in: Heinz Bellen, Recht – Politik – Gesellschaft. Studien zur Alten Geschichte. (Historia Einzelschriften 115.) Stuttgart 1997, 151–166. Vgl. auch Biermann, Leichenreden (wie Anm. 28), 110–114. Bellen, Christianissimus Imperator (wie Anm. 67), 165. Vgl. auch Albrecht Dihle, Demut, in: RAC 3, 1957, 735–778, hier 737: „Die Demut als Tugend ist der gesamten antiken Ethik fremd.“ Demut (ταπεινότης oder humilitas) wird durchweg negativ betrachtet („armselig“); Demut ist aber besonders seit Origenes die christliche Tugend schlechthin. Leppin, Ein Bischof redet dem Kaiser ins Gewissen (wie Anm. 28), 91. Leppin, ebd. In diesem Sinn forderte Bischof Remigius von Reims (siehe oben Anm. 11) von Chlodwig, als dieser nach seinem Vater die Herrschaft über die Franken übernahm, humilitas und Respekt gegenüber den Bischöfen. Er solle sie zu seinen Ratgebern zählen, dann könne er bei gutem Einvernehmen mit ihnen das Land besser regieren: „Et beneficium tuum castum et honestum esse debet, et sacerdotibus tuis debebis deferre et ad eorum consilia semper recurre, quodsi tibi bene cum illis convenerit, provincia tua melius potest constare“ (Epp. Austr., ep. 2 [wie Anm. 11], CCSL 117, 409,10–13 = MGH Epp. 3, 113,21–23). In dem Brief des Remigius ist humilitas eine von vielen Tugenden, die er aufzählt, und eher als allgemeine Ehrerbietung gemeint. In der exponierten Trias fides, humilitas, misericordia bekommt humilitas bei
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den, da Chlodwig ebendies gerade unmittelbar vor der Taufe getan hatte – Avitus redet deswegen bereits zuvor von Chlodwigs erhabenster Demut vor der Taufe72 – und sich eben durch die Taufe zu einer christlichen Lebensweise verpflichtet hat. Genau dies ist auch gemeint, wenn Avitus formuliert: An forte humilitatem, quam iam dudum nobis devotione impenditis, quam nunc primam professione debitis? / Oder etwa die Demut, die Ihr uns schon längst in Ergebenheit bezeigt, die Ihr uns nunmehr von Glaubens wegen schuldig seid?73
So wie Ambrosius Theodosius also als gläubig, barmherzig und demütig darstellte, so forderte es Avitus jetzt von Chlodwig mit seinem knappen, pointierten Hinweis auf die nötige humilitas neben dem Glauben und der Barmherzigkeit eines christlichen Herrschers. Es handelt sich bei Chlodwig zwar nicht um den römischen Kaiser, sondern um einen zur Zeit von Ambrosius noch als ‚Barbaren‘ verachteten Herrscher der Franken, aber immerhin um einen doch glanzvollen König, den Avitus neben den Kaiser des Ostens als katholischen König im Abendland stellt. So zieht Avitus hier mit seinen drei rhetorischen Fragen eine Verbindung zu den Elementen der christlichen Kaisertugenden und besonders zu den von Ambrosius entwickelten Gedanken. Das ist insofern bemerkenswert, als Avitus damit die Bedeutung der Taufe Chlodwigs sehr hoch anzusetzen scheint. Chlodwig wird nicht nur mit dem östlichen Kaiser parallelisiert, sondern auch insofern in die Nachfolge der großen christlichen (katholischen) Kaiser wie Theodosius gerückt, als an ihn nun die gleichen Maßstäbe angelegt werden, wie sie Ambrosius an Theodosius angesetzt hatte. Hans Hubert Anton urteilte mit Verweis auf Avitus, „daß schon den Zeitgenossen die polit. Tragweite des Vorgangs bewußt war“.74 Diese Aussage wird durch diese Beobachtungen gestützt und gestärkt. Wie Chlodwig den Brief des Avitus aufgenommen hat, ist nicht bekannt. Weitere Schreiben sind nicht überliefert, und andere Quellen geben darüber keine Auskunft. Die Assoziationen zwischen Avitus und Ambrosius und damit indirekt zwischen Chlodwig und Theodosius geben wohl Auskunft über den theologischen Horizont des Avitus; es ist jedoch unwahrscheinlich, dass Chlodwig selbst das durchschauen konnte. Auch ist meines Wissens nichts davon bezeugt, dass Chlodwig sich an den letzten Rat und Wunsch des Avitus gehalten und in irgendeiner Form christliche Missionare oder Botschafter ausgesandt hat. Nicht durchgesetzt hat sich ferner der Vorbehalt des Avitus gegenüber einem unerschütterliAvitus einen anderen Rang und wird verständlich, wenn das literarische Erbe des Ambrosius, besonders seine Schriften an Theodosius, mit berücksichtigt wird. 72 Avitus, Ep. 46 (wie Anm 1), 75,24–28: „Cuius ministeriis si corporaliter non accessi, gaudiorum tamen communione non defui, quandoquidem hoc quoque regionibus vestris divina pietas gratulationis adiecerit, ut ante baptismum vestrum ad nos sublimissimae humilitatis nuntius, qua competentem vos profitebamini, pervenerit.“ / „Wenn ich mich zu deren Begehung persönlich nicht eingefunden habe, so war ich doch Teilnehmer ihrer Freuden, zumal ja die göttliche Güte unserem Lande die Festlichkeit dadurch gemehrt hat, daß vor Eurer Taufe ein Bote Eurer hocherhabenen Demut zu uns kam, durch den Ihr Euch als Taufbewerber bekanntet.“ 73 Siehe oben Anm. 58. 74 Anton, Chlodwig (wie Anm. 2), 482.
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chen Glauben an einen siegbringenden Gott im Kampfgeschehen. Gregor von Tours knüpft wieder an die heilsgeschichtliche Deutung an, wie man sie bei Ambrosius lesen konnte, und schildert ganz unter diesen Vorzeichen den Sieg Chlodwigs gegenüber den häretischen Westgoten (II 37f.). Avitus selbst hat zwar auch die Taufe Chlodwigs als „Sieg“ bezeichnet, aber die Erfahrung der schnell wechselnden politischen Machtverhältnisse im Gallien seiner Zeit hat ihn dazu bewogen, bei Chlodwig eher an die christlichen Tugenden eines Herrschers zu erinnern als auf einen ‚Sieg‘ der Kirche mit Waffengewalt zu spekulieren.75
75 Das deckt sich mit seiner Ablehnung, nach der Machtübernahme des katholischen Sigismund im Burgunderreich ‚arianische‘ Kirchengebäude zu beschlagnahmen, um keine Racheakte ‚arianischer‘ Nachbarherrscher oder eventuell ‚arianischer‘ Nachfolger von Sigismund zu provozieren; stattdessen sollten neue Bauten errichtet werden: Avitus, Ep. 7 (wie Anm. 1), 35–39; vgl. Heil, Avitus (wie Anm. 1), 92–111.
II. UNIVERSALE HERRSCHAFT: ANSPRÜCHE UND AUSGESTALTUNGSMÖGLICHKEITEN
ZWEI REICHE PROKOPIOS VON GAZA UND PRISCIAN VON CAESAREA ZU ANASTASIOS* Hartmut Leppin Das Thema dieses Aufsatzes passt, so mag es scheinen, gar nicht zu diesem Sammelband. Denn Chlodwig kommt in den Texten, die ich behandele, nicht vor – aber auch, was ungesagt bleibt, kann ja, wie der Historiker weiß, von Interesse sein. Diese Bemerkung gilt besonders für jene Gattung, mit der ich mich auseinandersetze: Ich wende mich zwei Panegyriken zu. Beide feiern Kaiser Anastasios (491–517).1 Der eine stammt von Prokopios von Gaza, nicht zu verwechseln mit dem gleichnamigen Historiographen aus Caesarea (Kaisareia) Maritima. Der Autor des anderen Panegyrikus war Priscian, ebenfalls aus einem Caesarea. Diese Texte sind mit wenigen Jahren Abstand voneinander entstanden: Der des Prokopios wird auf 502 datiert2, jener Priscians ist vermutlich um die gleiche Zeit anzusetzen; aber auch eine Spätdatierung um 513 wird nicht ohne Grund vertreten.3 Obwohl durch ihren Charakter als Panegyriken verbunden, handelt es sich *
Für hilfreiche Lektüre danke ich Muriel Moser und Sophie Röder (beide Frankfurt am Main). Zu ihm Fiona K. Haarer, Anastasius I. Politics and Empire in the Late Roman World. (ARCA 46.) Cambridge 2006; Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches. Stuttgart 2009; zur literarischen Kultur Fiona K. Nicks, Literary Culture in the Reign of Anastasius I, in: Stephen Mitchell/Geoffrey Greatrex (Hrsgg.), Ethnicity and Culture in Late Antiquity. Swansea 2000, 183–203, 184f.; 188–194 zu Priscian; 186; 192–194 zu Prokopios; sie sieht die Christianisierung als einen linearen Prozess, bei dem Prokop weniger progressive sei als Priscian; mir scheint, dass man mehr mit Ungleichzeitigkeiten rechnen muss. Zur Datierung des Panegyrikus des Prokopios Alain Chauvot, Procope de Gaza, Priscien de Césarée, Panégyriques de l’empereur Anastase Ier. (Antiquitas 1/35.) Bonn 1986, 95–97, wobei die Abschaffung des Chrysargyron 498 den terminus post quem, die Nicht-Erwähnung der Perserkriege (502–506) den terminus ante quem bildet; Haarer, Anastasius (wie Anm. 1), 277f. plädiert für eine Datierung des Prokopios etwas später als Priscian (503/4). Chauvots Werk bietet neben zuverlässigen Übersetzungen sachliche, vergleichende Erläuterungen zu den Panegyriken (insbes. zum Kaiserbild 174–209), die streckenweise den Charakter eines Kommentars annehmen, auf den immer wieder dankend zurückgegriffen wurde, auch wo es nicht explizit erwähnt wird. Es liegt in der Natur der Sache, dass an manchen Stellen, wo die Forschung große Fortschritte erlebt hat (etwa bei der Rolle der Städte), Chauvots Arbeit nicht mehr auf dem aktuellen Stand ist. Priscians Frühdatierung beruht auch im Wesentlichen auf einem argumentum e silentio, dass er nämlich das Ende der Perserkriege und die Errichtung der monumentalen Befestigung von Dara nicht erwähnt, sowie auf der Betonung des Chrysargyron und der Isaurierkriege, s. Haa-
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um zwei sehr unterschiedliche Texte. Das beginnt bei Äußerlichkeiten: Der eine ist auf Griechisch und in Prosa verfasst, der andere auf Latein und in Versen; der eine entstand in der Provinz, der andere vermutlich in der Kapitale. Vor allem aber repräsentieren sie, wie mir scheint, durchaus unterschiedliche Herrschaftskonzeptionen. Die Funktion der Panegyrik ist in den letzten Jahren viel behandelt worden. Konsens besteht, soweit ich sehe, darüber, dass die Reden nicht einfach als kaiserliche Propaganda bewertet werden können, dass sich vielmehr in ihnen ein komplexes Wechselspiel zwischen dem Redner mit der von ihm repräsentierten Gruppe und dem Herrscher niederschlägt. Die Werke Prokops und Priscians dokumentieren so bestimmte, im Gestus loyale Wahrnehmungen des Kaisertums des Anastasios. Da sie überliefert worden sind, dürften ihre Verfasser nicht völlig danebengegriffen haben, ohne dass man die Äußerungen ohne weiteres als einen Spiegel eines kaiserlichen Programms, gar als kaiserliche Verlautbarungen lesen könnte. Auffällig ist in beiden Reden, wie mit dem Christentum umgegangen wird, besonders auffällig, wenn man bedenkt, dass sie unter einem Kaiser entstanden, der wesentliche Teile seiner Zeit und Energie darauf verwendete, eine Lösung im Miaphysitischen Streit zu finden. Es wird auch unter diesem Gesichtspunkt bei meinen Überlegungen nicht nur darauf ankommen, was erwähnt wird, sondern auch darauf, was unerwähnt bleibt. Damit lassen sich zudem Spuren christlicher Zeitdeutung identifizieren, die nicht traditionsstiftend geworden sind. Um die Unterschiede zwischen ihnen zu verdeutlichen, behandle ich die Reden getrennt: Den Kontext der Rede des Prokopios4 bildet ein städtisches Fest zu rer, Anastasius (wie Anm. 1), 272–277; Meier, Anastasios (wie Anm. 1), 367, Anm. 151 mit weiterer Lit., unter der Alan Cameron, The Date of Priscian’s De laude Anastasii, in: GRBS 15, 1974, 313–316, besonders wichtig ist; Christopher P. Jones, Procopius of Gaza and the Water of the Holy City, in: GRBS 47, 2007, 455–467 datiert den Text 456 auf 501/2; Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2), 98–107 schlägt hingegen eine Spätdatierung (513) vor; ähnlich Patricia Coyne, Priscian of Caesarea’s De laude Anastasii Imperatoris. (Studies in Classics 1.) Lewiston (ME) 1991, 7–16, die den Panegyrikus wenig überzeugend mit dem Sieg über Vitalian in Zusammenhang bringt, sowie Claudia Schindler, „Per carmina laudes“. Untersuchungen zur spätantiken Verspanegyrik von Claudian bis Coripp. (Beiträge zur Altertumskunde 253.) Berlin/New York 2009, 216 mit Literatur; ebenfalls zu einer Spätdatierung neigt Guglielmo Ballaira, Prisciano e i suoi amici. Turin 1989, 21–27 mit einem Überblick über die einschlägigen Argumente. – Im Allgemeinen auf Kaiser Zenon bezogen wird das Enkomion P. Gr. Vindob. 29788C; vgl. Ronald C. McCail, P. Gr. Vindob. 29788C. Hexameter Encomium on an Un-Named Emperor, in: JHS 98, 1978, 38–63. Ein Bezug auf Anastasios lässt sich nicht ausschließen. Das Hauptargument gegen eine Zuschreibung an Anastasios scheint mir das Fehlen der Erwähnung der Aufhebung des Chrysargyron zu sein (McCail, P. Gr. Vindob., 40) – allerdings ist der Text unvollständig; die Beschreibung des Krieges gegen die Isaurier ähnelt stark der in den Panegyriken. Zu ihrer Deutung außer Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2), passim; Maria Minniti Colonna, La politica di Anastasio I nel Panegirico di Procopio di Gaza, in: Koinonia 6, 1982, 15– 30, die sich dem Text eher deskriptiv nähert, sowie Gianluca Ventrella, L’ideologia imperiale in Procopio, in: Eugenio Amato (Hrsg.), Rose di Gaza. Gli scritti retorico-sofistici e le Epistole di Procopio di Gaza. (Hellenica 35.) Alessandria 2010, 107–119 (zum ideengeschicht-
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Ehren des Kaisers, anscheinend anlässlich der Einweihung einer kaiserlichen Statue; schon damit ist die Perspektive der Polis vorgegeben.5 Diese Polis, Gaza, war in jener Zeit eine zwar administrativ nachrangige, aber wirtschaftlich prosperierende und kulturell lebendige Stadt.6 Die sogenannte Schule von Gaza, zu der man auch Prokopios zählte, gehörte zu den wichtigsten sozialen Räumen der Spätantike, in denen man dezidiert an die klassische Kultur anknüpfte. Gleich zu Beginn bekundet Prokopios den Stolz seiner Polis auf die Leistung des Kaisers. Sie sehne sich danach, für ihr Wohlergehen Dank abzustatten. Denn der Kaiser sei ebenso erfolgreich darin, den Untertanen Wohltaten zu erweisen, wie darin, Feinde zu besiegen, beide übertreffe er an Tugendhaftigkeit. Die gesamte Bevölkerung sei begeistert, sein Abbild zu erblicken, und habe Prokopios einmütig als Sprecher ausersehen. Er könne nur hoffen, angesichts der Größe des Stoffes nicht zu versagen (1). Danach kommt der Redner zur Sache: Als habe die Tyche eine Vorahnung gehabt, habe sie Anastasios alle erforderlichen Eigenschaften für das Herrscheramt verliehen. Das gelte schon in Hinblick auf die Geburtsstadt Epidamnos, die der Attizist Prokopios natürlich nicht in neumodischer Weise Dyrrhachion nennen möchte. Zu Recht habe Apollon den Platz für eine griechische Apoikie ausgewählt: Die Stadt könne mit Athen rivalisieren, gehe auf die Phaiaken zurück, die
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lichen Hintergrund), ferner ders., Procopio panegirista. Struttura e topoi del Panegirico per l’imperatore Anastasio, in: Amato (Hrsg.), Rose di Gaza (wie Anm. 4), 94–106 (zur Rhetorik). Prokop ist in jüngerer Zeit mehrerer Editionen gewürdigt worden: Giuseppina Matino, Procopio di Gaza, Panegirico per l’imperatore Anastasio, introduzione, testo critico, traduzione e commentario. (Quaderni dell’Accademia Pontaniana 41.) Neapel 2005 (kritisch zu Edition und Übersetzung Gianluca Ventrella, A proposito di una recente edizione del panegirico per l’imperatore Anastasio di Procopio di Gaza, in: Byzantion 80, 2010, 461–484); Eugenio Amato, Procopius Gazaeus. Opuscula rhetorica et oratoria. Berlin/New York 2009 (Op. XI = Or. 2); ders. (Hrsg.), Rose di Gaza. Gli scritti retorico-sofistici e le Epistole di Procopio di Gaza. (Hellenica 35.) Alessandria 2010, 240–287; das Corpus kann immer noch wachsen, vgl. jüngst Eugenio Amato, Sei epistole mutuae inedite di Procopio di Gaza ed il retore Megezio, in: ByzZ 98, 2005, 367–382; Aldo Corcella, Tre nuovi testi di Procopio di Gaza. Una dialexis inedita e due monodie già attribuite a Coricio, in: Revue des études tardo-antiques 1, 2011– 2012, 1–14; Eugenio Amato, Un discorso inedito di Procopio di Gaza: In Meletis et Antoninae nuptias, in: Revue des études tardo-antiques 1, 2011–2012, 15–69. S. etwa Raymond van Dam, From Paganism to Christianity in Late Antique Gaza, in: Viator 16, 1985, 1–20; Carol A. M. Glucker, The City of Gaza in the Roman and Byzantine Periods. (BAR, Int. ser. 325.) Oxford 1987 (auch zu archäologischem Material); Claudia Tiersch, Zwischen Hellenismus und Christentum – Transformationsprozesse der Stadt Gaza vom 4.–6. Jh. n. Chr., in: Millennium 5, 2008, 57–92. Jan Stenger, Chorikios und die Ekphrasis der Stephanoskirche von Gaza. Bildung und Christentum im städtischen Kontext, in: JbAC 52, 2010, 81–103 bietet vor dem Hintergrund der Konstellationsforschung einen Neuansatz. – Zum intellektuellen Hintergrund des Prokopios Bas ter Haar Romeny, Procopius of Gaza and his Library, in: Hagit Amirav/Bas ter Haar Romeny (Hrsgg.), From Rome to Constantinople. Studies in Honour of Averil Cameron. (Late Antique History and Religion 1.) Leuven/Paris/Dudley (MA) 2007, 173–190, der betont, wie stark der Bereich der Rhetorik und der Religion voneinander getrennt waren. Zur älteren Forschung: Vladimiro Valdemberg, Le idee politiche di Procopio di Gaza e di Menandro Protettore, in: SBN 4, 1935, 67–80.
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Bevölkerung sei korinthischer Herkunft; sie besitze spartanischen Ehrgeiz und zähle Herakles, damit auch Zeus, zu ihren Ahnherren (2). Anastasios wird somit seiner geographischen Herkunft nach ganz in die historische Tradition Griechenlands eingebettet. Seine Vorfahren aber übertreffe er an Tugend, wobei er Frömmigkeit – was darunter zu verstehen ist, wird nicht spezifiziert – über alles gestellt habe.7 Konstantinopel habe ihn zu einem Priesteramt erheben wollen8 – und das sei anders als bei der mythologischen Gestalt des Eumolpos nicht nach dem politischmilitärischen Scheitern geschehen, sondern aufgrund seiner Tugenden (3f.). Doch kam die Weihung offenbar nicht zustande, so dass Prokopios sie als Vorspiel zum Kaisertum interpretieren kann: Die beiden größten Würden, die Stellung des Kaisers und die Position des Bischofs, seien in Anastasios vereint (5). Diese Passage ist in mehrerlei Weise aufschlussreich. Das beginnt auf der faktologischen Ebene, denn es wird hier eine nicht ganz leicht bestimmbare Episode aus dem Leben des Anastasios überliefert: Wenn man Prokopios trauen darf, war er einmal für ein Priesteramt designiert. Andere Notizen könnten auf dasselbe Ereignis anspielen: So gibt es Berichte, denen zufolge Anastasios 488 für das Bischofsamt von Antiochia vorgesehen war9, doch Prokopios lokalisiert die Geschehnisse ausdrücklich in der Stadt der Kaiser. Obgleich Antiochia im 4. Jahrhundert zeitweilig kaiserliche Residenz gewesen war, wäre eine solche Wendung um 500 für diese Stadt unpassend, vielmehr verweist sie gewiss auf Konstantinopel, für das ebenfalls eine Episode überliefert ist, die hinter den Äußerungen des Prokopios stehen könnte: Manche Quellen behaupten, dass Anastasios in der Hagia Sophia aufgrund seiner theologischen Kompetenz die Gemeinde aufgewiegelt und Bischof Euphemios (489–495) provoziert habe10 – es ist vorstellbar, dass die begeisterte Gemeinde ihn in dem Kontext als Priester akklamiert hat, doch davon wird in diesen Quellen nicht ausdrücklich berichtet. Die Überlieferung eines solchen Ansinnens könnte der Beitrag des Prokopios sein, wenn er sich denn tatsächlich auf dieses Ereignis bezieht. Überdies kann Prokopios bei diesem Thema seine mythologische Kennerschaft zur Schau stellen, indem er den Mythos des thrakischen Königs Eumolpos in einer ungewöhnlichen Version heranzieht. Laut ihr wurde der Thraker, nachdem er den Eleusiniern im Krieg gegen die Athener vergebens zur Hilfe geeilt 7
Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2), ad l. scheint dies auf Anastasios’ christliche Frömmigkeit zu beziehen. 8 Ventrella, Recente edizione (wie Anm. 5), 467f. schlägt 71–75 mit Amato vor, das im codex unicus erhaltene ἀνήγου beizubehalten statt der von Villoison vorgeschlagenen Korrektur ἀνάγουσα. 9 Theod. Anag. Ep. 445 (125 H.); Theoph. AM 5983 (135 de B.); Kedr. 621; Nik. Kal. 16,20; darauf bezogen etwa von Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2), 184–186; Matino, Panegirico (wie Anm. 5), 90. 10 Theod. Anag. KG 33; Ep. 441; Theoph. AM 5982 (134 de B.); Georg. Mon. 623f. de B.; Suda, s.v. ί. Zu den Vorgängen Meier, Anastasios (wie Anm. 1), 61, der vermutet, dass Anastasios Predigten gehalten habe.
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war, dennoch Priester in Eleusis.11 Es liegt auf der Hand, dass Anastasios ihn mit seiner Annäherung an das Priesteramt überbietet, da diese nicht auf einem Misserfolg beruht. Bemerkenswerter scheint mir indes etwas anderes: Mit dieser Episode wird das priesterliche Amt, das in seiner Ausgestaltung etwa in Hinblick auf die Lebensführung und soziale Sonderstellung zu den Besonderheiten des Christentums gehörte, in eine Kontinuität zum paganen Priestertum gestellt.12 Prokops Darstellung hat ferner Rückwirkungen auf das Bild vom Kaisertum, für welches die Designation zum Priester lediglich ein Vorspiel bildet. Konsequent weitergedacht würde dies implizieren, dass ein solcher Kaiser eine überlegene Stellung gegenüber dem Priester besitze: Doch muss man hier die rhetorische Strategie in Rechnung stellen und sollte den Text nicht als theoretisch konsistenten Traktat lesen. Denn Prokopios betont auch, dass die beiden Ämter sich gegenseitig aufwerten; gerade durch seinen Durst nach Frömmigkeit ziehe Anastasios alle Tugenden auf sich. Diese Verse sollen gewiss keine Antwort auf das geben, was um dieselbe Zeit Papst Gelasius (488–492) zum Verhältnis von Priesteramt und Königtum vortrug, indem er den hohen Rang des sacerdos gegenüber dem Herrscher, für dessen Seelenheil er verantwortlich sei, grell hervorhob.13 Es bezeugt aber, gerade wenn man die Passage als rhetorische Geste nimmt, dass dieses Problem, so brisant es um 500 war, nicht alles politische Denken durchdrang. Zurück zum Verlauf der Rede: Nach der Frömmigkeit und in Verbindung mit ihr wird der bekannte Kanon weiterer kaiserlicher Tugenden entfaltet; unerwähnt bleibt aber die neue, seit der Theodosianischen Zeit immer wichtiger werdende Tugend der Demut (4).14 Das folgende Kapitel rühmt in lieblichen Worten das Wohlergehen der Untertanen unter Anastasios. Anschließend und somit relativ spät schildert der Rhetor dessen Wahl als Ergebnis des Konsenses von Volk, Senat – und Kaiserin, basilís (5). Hier liegt eine Besonderheit vor, die sich aus der historischen Situation ergibt: Weder war Anastasios Erbe Zenons gewesen noch von seinem Vorgänger designiert worden, vielmehr hatte Kaiserin Ariadne in der Tat eine Schlüsselrolle bei der Einsetzung 11 Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2), 29. 12 Coll. Av. 113 (II 506,20, 28. Juli 516) nennt Anastasios sich in einer traditionalistischen Titulatur pontifex inclitus. Dieses singuläre Zeugnis aber muss vom Panegyrikus getrennt werden, nicht nur weil es später ist, sondern auch weil es in einen spezifischen Kommunikationskontext gehört: Der Kaiser gebraucht gegenüber dem Senat, den er auffordert, seinen Vertretern in einem innerchristlichen Streit, dem Akakianischen Schisma, zu glauben, bewusst eine anachronistische, aufwändige Titulatur. 13 Gel., Epist. 12,2f. Dazu demnächst Jan-Markus Kötter, Zwischen Kaisern und Aposteln. Das Akakianische Schisma (484–519) als kirchlicher Ordnungskonflikt in der Spätantike (im Druck). 14 S. etwa Mischa Meier, Die Demut des Kaisers. Aspekte der religiösen Selbstinszenierung bei Theodosius II. (408–450 n.Chr.), in: Andreas Pecar/Kai Trampedach (Hrsgg.), Die Bibel als politisches Argument. Voraussetzungen und Folgen biblizistischer Herrschaftslegitimation in der Vormoderne. München 2007, 135–158; Hartmut Leppin, Power from Humility: Justinian and the Religious Authority of Monks, in: Andrew J. Cain/Noel E. Lenski (Hrsgg.), The Power of Religion in Late Antiquity. Farnham 2009, 155–164.
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des neuen Herrschers gespielt – doch diese Besonderheit wird weder gerechtfertigt noch zum Gegenstand des Lobes für den Edelmut der Kaiserin gemacht, sondern einfach erwähnt, ohne dass auch nur auf Ariadnes Status als Witwe und Tochter eines Kaisers angespielt wird.15 An dieser Stelle scheinen die Künste des Rhetors zu versagen oder er wollte diese Episode nicht zu sehr ausschmücken, da eine solche Entscheidung einer Frau möglicherweise schwer in ein klassisches Paradigma einzupassen war. Es folgt immerhin angesichts der unkaiserlichen Herkunft des nunmehrigen Throninhabers der Hinweis, dass gebürtige Thronfolger sich oft ihrer Stellung als unwürdig erwiesen hätten – Arkadios und Theodosios II. werden manchem in den Sinn gekommen sein, aber auch eventuelle Ansprüche aus dem Umfeld der Olybrii als Verwandter von Kaisern ließen sich mit diesem Argument zurückweisen. Demgegenüber betont der Redner, dass Anastasios ohne Gewalt ins Amt gelangt sei und die Erwartungen übertroffen habe (6). Sogleich habe der neue Herrscher seinen Blick auf das gelenkt, was nicht zum Reich passte, gemeint sind Einfälle von Arabern im Osten, die er beendet und damit die Freiheit seiner Untertanen verteidigt habe (7). Doch er habe auch den inneren Frieden herstellen wollen, was Prokopios nicht auf die (gescheiterten) Versuche des Anastasios bezieht, religiöse Streitigkeiten beizulegen, sondern auf die Isaurier, die er in der Nomenklatur der Mythologie Solymer nennt (8f.).16 Die Isaurier, die seit Jahrhunderten in schwer zugänglichen Gebieten des östlichen Kleinasiens siedelten, waren von den Römern nie nachhaltig unterworfen worden; einige hatten im 5. Jahrhundert namentlich dank militärischer Verdienste erhebliche Macht in Ostrom gewonnen; Kaiser Zenon selbst war isaurischer Herkunft. Nur in einem mehrjährigen Krieg (491–498) konnte Anastasios sie unterwerfen.17 Von diesem mühevoll errungenen Sieg des Anastasios, der zu Recht über diese Menschen erzürnt gewesen sei, erzählt Prokop in großer Breite und wenig konkret, unter ständigem Rekurs auf das klassische Griechenland, sei es Athen oder Alexander der Große, der von Anastasios noch übertroffen worden sei (9f.). Danach wendet der Redner sich Werken des Friedens zu: der Bekämpfung von Ämterkauf (11f.), der Aufhebung der Steuer des Chrysargyron (13f.), der Abschaffung der venationes der Städte18 und des Pantomimus (15f.), den großzügigen 15 Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2), 196. 16 Zu diesem Sprachgebrauch neben den Kommentaren Jones, Water (wie Anm. 3). 17 Zu ihnen Hugh Elton, The Nature of the Sixth-Century Isaurians, in: Geoffrey Greatrex/Stephen Mitchell (Hrsgg.), Ethnicity and Culture in Late Antiquity. London u.a. 2000, 293–307; Karl Feld, Barbarische Bürger. Die Isaurier und das Römische Reich. (Millennium-Studien 8.) Berlin u.a. 2005; Meier, Anastasios (wie Anm. 1), 75–84. 18 Zum Verständnis der Passage Eugenio Amato, Procopio di Gaza e il dies rosarum, in: Erudition Antiqua 2, 2010, 17–46; 35f. Zum politischen Hintergrund Chris Epplett, Anastasius and the Venationes, in: Nikephoros 17, 2004, 221–230, der vermutet, dass vor allem die damnatio ad bestias eingeschränkt worden und die Maßnahme von kurzer Dauer gewesen sei; grundlegend jetzt Mischa Meier, Die Abschaffung der venationes durch Anastasios im Jahr 499 und die ‚kosmische‘ Bedeutung des Hippodroms, in: Hans Beck/Hans Ulrich Wiemer (Hrsgg.), Feiern und Erinnern. Geschichtsbilder im Spiegel antiker Feste. (Studien zur Alten Geschich
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Unterstützungsleistungen in einzelnen Städten (17), wie einem Aquädukt in Jerusalem (18)19, einem Hafen im palästinischen Kaisareia (19)20, Reparaturen am Pharos zu Alexandreia (20); schließlich folgt die Landmauer vor Konstantinopel (21). Hier erfährt der Hörer mithin etwas über Bauten, die in einem weiteren Sinne logistisch notwendig waren, von Kirchen hört er nichts. Der Umgang des Anastasios mit anderen sei von Freundlichkeit geprägt; man müsse keine Angst haben, sein Anliegen vorzutragen, und die Rechtsprechung sei von Wohlwollen getragen (22), des Kaisers ganze Lebensführung vorbildlich (23), überhaupt sei er im Vergleich mit den großen Monarchen der Vergangenheit – Kyros, Agesilaos und Alexander treten auf – überragend (25–27). So seien alle Städte glücklich und könnten feiern, genössen inneren wie äußeren Frieden (28– 30). In dieser Jubelstimmung endet der Panegyrikus. Wenn ein Leser sich bei dieser Zusammenfassung zumal gegen Ende hin gelangweilt hat, ist dies nicht überraschend. Was man hier vorfindet, sind überwiegend die üblichen Topoi der Panegyrik; Prokopios schreibt, sprachlich durchaus gewandt, nach den Handbuchempfehlungen, wie sie im 3. Jahrhundert Menander Rhetor festgehalten hat. Es wird, wie üblich in der Panegyrik, der Eindruck der Normalität auf höchstem Niveau erweckt, der exemplarischen Ausfüllung der kaiserlichen Rolle. Einige Punkte verdienen indes nähere Betrachtung. Das Reich, das Prokopios im Blick hat, ist das Ostreich, und dieses Reich konstituiert sich über Poleis. Provinzen oder Präfekturbezirke, die für den administrativen Alltag durchaus von Bedeutung waren, spielen keine Rolle. Indem Prokopios die Bauten in Jerusalem, in Caesarea Maritima und im ägyptischen Alexandreia, schließlich die Landmauer von Konstantinopel rühmt, spricht er verschiedene Regionen an, deren Zusammenschau einen Eindruck von der Weite des verbleibenden Reiches gibt, legt aber einen klaren Akzent auf der näheren Umgebung seiner Heimat. Der Teil tiefer im Osten, der durch die Araber gefährdet ist, wird als der bedeutendere, erhabenere (semnóteron) Teil des Reiches bezeichnet (7) – vielleicht wegen der Nähe zur Heimat des Redners. Dass in Italien die Ostgoten herrschen, bleibt unerwähnt; Chlodwig oder die Franken tauchen nicht einmal als Bittsteller oder potentielle Feinde auf. Als Prokopios von Jerusalem spricht, erwähnt er Besucher aus Indien und aus Skythien, aber nicht solche aus Italien oder Gallien.21 Die historische Referenz ist das klassische und mythologische Griechenland sowie der zeitgeschichtliche Rahmen. Wie auch sonst in der gräkophonen kaiser te 12.) Berlin 2009, 203–232 (zu Epplett, Venationes 204–206, indem Meier darauf hinweist, dass die Panegyriker es natürlich vermieden, über die unpopulären Aspekte der venationes zu sprechen). Meier trägt starke Argumente dafür vor, dass diese Maßnahme der finanziellen Entlastung der Städte dienen sollte. 19 So überzeugend (da Jerusalem durch einen Wassermangel gekennzeichnet war) Jones, Water (wie Anm. 3), gegen ältere Deutungen, die die Stadt mit Hierapolis identifizierten. 20 Zum archäologischen Hintergrund Robert L. Hohlfelder, Anastasius I, mud, and foraminifera: conflicting views of Caesarea Maritima’s harbor in late antiquity, in: BASO 317, 2000, 41– 62; zu Prokopios 44–47. 21 Darauf weist Jones, Water (wie Anm. 3), 462f., hin.
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zeitlichen Panegyrik gilt das klassische Athen als traditionsstiftend für das Kaiserreich – wobei der demokratische Politiker Aristides und der Tyrann Peisistratos in einer Reihe genannt werden können. Nicht, was andere römische Kaiser getan haben, dient als Exempel für Anastasios’ Wirken, sondern es geht um Könige der griechischen Welt: Alexander, Agesilaos, ja der exemplarische Perser Kyros tauchen auf. Sie erscheinen, nicht aber Augustus oder Trajan, die man gerne in solchen Texten als Vorbilder bemühte – auch in einem Epigramm der Anthologia Palatina auf Anastasios.22 Anastasios ist im Kampf gegen die Barbaren bezeichnenderweise ein Vorkämpfer der Freiheit (7) und nicht so sehr der Größe oder der zivilisatorischen Bedeutung Roms. Auch so steht er in der Tradition der nichtchristlichen griechischen Literatur; intertextuelle Bezüge zu Homer und Aelius Aristides, auch zu anderen Autoren sind an verschiedenen Stellen zu greifen.23 Dass es sich bei der Herrschaft des Anastasios um ein christliches Kaisertum handelt, lässt Prokopios nicht durchblicken. Die Christianisierung unterliegt vielmehr einer Kontinuitätsbehauptung. Selbst eine Reform, die sich mit christlichen Motiven in Verbindung bringen lässt (aber sicherlich nicht muss) – die Abschaffung der venationes –, wird im Zeichen religiös unspezifischer Humanität gedeutet, der Pantomimus lediglich als Kunst, die den Geschlechtergrenzen zuwiderläuft, und als Auslöser von Unruhen getadelt, nicht als widerchristliche Kunst, wie es ansonsten oft getan wurde. Jerusalem wird zwar, der griechischen Namensform Hierosolyma entsprechend, als heilige, von vielen Völkern besuchte Stadt angeführt, doch der Aquädukt, den Prokop erwähnt, dient weltlichen Interessen, von Kirchenbauten ist nicht die Rede. Die kaiserlichen Maßnahmen werden so in Motive übersetzt, die für Christen und Nicht-Christen gleichermaßen akzeptabel waren – wobei Prokopios, den Anforderungen der Panegyrik entsprechend, von den Unruhen im Hippodrom schweigt. Ebenso wenig findet Anastasios’ Engagement in den christologischen Auseinandersetzungen Beachtung, obgleich diese auch in Gaza tobten.24 Die Kaisertugenden sind nicht christlich gekleidet, Demut kommt, wie erwähnt, gar nicht vor. An zwei Stellen ist erwogen worden, dass eine Anspielung auf ein christliches Motiv vorliege:25 Als er vom Herrschaftsantritt des Anastasios spricht, verwendet Prokop die Formel: Das Dunkel der Welt verging (5)26, für die Ventrella zahlreiche Parallelen aus christlichen, allerdings nicht aus biblischen Texten beibringt, 22 AP 9,210. In 9,656 bildet Hadrian den Vergleich. 23 Jones, Water (wie Anm. 3), 461; vgl. im Allgemeinen insbesondere die Belege bei Matino, Panegirico (wie Anm. 5), und Amato, Rose (wie Anm. 4). 24 S. etwa Aryeh Kofsky, What Happened to Monophysite Monasticism of Gaza, in: Brouria Bitton-Ashkelony/Aryeh Kofsky (Hrsgg.), Christian Gaza in Late Antiquity. Leiden/Boston 2004, 183–194. Daher sollte man die Rede des Prokopios auch nicht als ein Indiz für die Stärke der Miaphysiten in Gaza nehmen, wie es Yakov Ashkenazi, Sophists and Priests in Late Antique Gaza According to Coricius the Rhetor, ebd. 195–208, 204f. tut. 25 Jones, Water (wie Anm. 3), 459 meint, dass Prokop πανηγυρίζειν in dem Zusammenhang doppeldeutig verwendet, so dass man es auf christliche und heidnische Feste beziehen könne. Grundsätzlich gilt, dass viele Passagen sich auch christlich auslegen lassen, doch das ist gewöhnlich nicht die Deutung, die der Kontext suggeriert. 26 „ἡ δὲ τῶν πραγμάτων ἀχλὺς διελύετο“ (5).
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ohne dass sich daraus zwingend ein christliches Verständnis ergäbe; wenige Worte vorher hatte der Redner noch das aus der klassischen Tragödie stammende Bild des deus ex machina bemüht27, ohne dass sich daraus zwingend ein christliches Verständnis ergäbe. Gegen Ende sagt der Redner, dass Helm, Speer und Schwert in Pflüge umgewandelt seien (28), was man mit dem berühmten Wort aus dem alttestamentlichen Propheten Micha28 zusammenbringen könnte, doch hatte schon Themistios dieses Motiv verwendet; es dürfte in der Rhetorik etabliert gewesen sein.29 Dagegen, in diesem Zitat einen prononciert christlichen Zug zu sehen, spricht zudem, dass Prokopios gleich eine Wendung aus Hesiod anfügt.30 Es ist ein merkwürdiges Bild, das in dem Panegyrikus des Prokopios entsteht: Das Reich, das diese Rede zelebriert, erscheint nicht wie ein Römisches Reich, sondern wie ein spätgriechisches, Anastasios schon durch seine Herkunft als Verkörperung der besten Eigenschaften eines Griechen und nicht als ein römischer Staatsmann. Schaut man allein auf diesen Text, der auch unabhängig von der Christianisierung des Reiches funktionieren würde, so meint man ein Milieu zu greifen, dessen Bedeutung jüngst etwa Anthony Kaldellis beleuchtet hat: ein heidnisches, oft klandestin wirkendes Milieu, das sich der Christianisierung des Reiches verweigert, das möglicherweise in seinem Inneren oppositionell gegenüber einem christlichen Kaisertum fühlt.31 Doch wenn man sich erlaubt, biographistisch auf den Verfasser zu schauen, gerät man in Schwierigkeiten. Prokopios ist auch anderweitig bekannt: Zum einen, ganz passend, durch die Beschreibung eines Gemäldes, das den Mythos von Phaidra und Hippolytos darstellt. Auch sie verrät keine Spur von christlichen Einflüssen.32 Der Gemäldezyklus wird gedeutet als Warnung vor der Macht der Liebe, was aber ganz traditionell, ohne spezifisch christlichen Zungenschlag (andererseits natürlich auch nicht anti-christlich) geäußert wird. Überdies kennt man Prokopios auch als Verfasser von Briefen, die klassisches Bildungsgut geistvoll nutzen33, vor allem aber auch als Verfasser theologischer 27 28 29 30 31
S. Ventrella, L’ideologia imperiale (wie Anm. 4), 119, Anm. 89. 4,3: „Und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden“ (nach Zürcher Bibel). Them. Or. 16, 211 b. Hesiod, Erga 235: „Die Frauen gebären Kinder, die ihren Vätern gleichen“. S. etwa Anthony Kaldellis, Procopius of Caesarea. Tyranny, History, and Philosophy at the End of Antiquity, Philadelphia/PA 2004; ders., Classicism, Barbarism, and Warfare: Prokopios and the Conservative Reaction to Later Roman Military Policy, in: AJAH n.s. 3–4, 2004–2005, 2007, 189–218. 32 Paul Friedländer, Ein spätantiker Gemäldezyklus in Gaza. (Studi e Testi 89.) Città del Vaticano 1939; Rina Talgam, The Ekphrasis Eikonos of Procopius of Gaza. The Depiction of Mythological Themes in Palestine and Arabia during the Fifth and Sixth Centuries, in: Brouria Bitton-Ashkelony/Aryeh Kofsky (Hrsgg.), Christian Gaza in Late Antiquity. Leiden u.a. 2004, 209–234; s. auch für einen verwandten Text Hermann Diels, Über die von Prokop beschriebene Kunstuhr von Gaza. Mit einem Anhang enthaltend Text und Übersetzung der ‚Ekphrasis horologiu‘. (Abhandlungen der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften: Philosophisch-Historische Klasse 1917/7.) Berlin 1917. 33 Zur Edition mit Übersetzung und Kommentar Amato, Rose (wie Anm. 4) 288–503.
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Schriften, namentlich von Kommentaren zu biblischen Werken. Seine Bibelkenntnisse sollen so gründlich gewesen sein, dass man ihn, behauptet sein Schüler Chorikios, für einen Priester hätte halten können, wäre er nur anders gekleidet gewesen.34 Ähnlich wie im Œuvre des Claudian oder Nonnos haben wir es also mit einem Nebeneinander von Werken christlicher und nicht-christlicher, in diesem Sinne heidnischer Prägung zu tun; zu erinnern ist auch an Sidonius Apollinaris, der Panegyrici schreibt, die von Mythologie erfüllt und von spezifisch Christlichem frei sind.35 Auffällig ist dabei allerdings, dass Prokopios sich offenbar zu den theologischen Kernfragen der Zeit – besonders auffällig ist dies beim Miaphysitischen Streit – auch in seinem theologischen Œuvre nicht äußert. Wir greifen hier eine Welt, die uns in den erhaltenen Quellen ansonsten nur selten entgegentritt. Es ist eine christliche Welt, die die Gesamtheit der klassischen Tradition als eine Einheit begreift und das Christentum dort verortet. Ein Wechsel zwischen christlichen und nicht-christlichen Diskursen scheint für den einzelnen Akteur unverkrampft möglich, so dass je nach Gattung und Kontext in diesem Sinne Heidnisches und Christliches geäußert wird, dass ein und derselbe Autor in beiden Traditionen schreiben kann. Es wird letztlich eine neutrale Welt beschworen, bei der religiöse Fragen, die Prokopios ausblendet, dem Anschein nach keine Differenzen auslösten, das Christentum vielmehr einen inklusiven Charakter hat, indem es ältere Traditionen in den verschiedenen Bedeutungen des Wortes aufhob.36 Es war eine Welt, deren Untergang sich unter Justinian vollziehen sollte. * Priscian von Caesarea, der zweite Panegyriker, der hier zur Rede steht, ist wenig bekannt und doch der vielleicht wirkmächtigste Autor der Antike. Ohne dass sein Name offengelegt würde, begegnen ihm unsere Kinder oft bereits in der Grundschule, spätestens im Gymnasium, wenn sie etwa Ausdrücke wie Pronomen, Präposition, Adverb usw. eingebläut bekommen, denn er hat sie über seine vielgelesenen Institutiones grammaticae der abendländischen Tradition vermittelt.
34 Choric. In Proc. (8) 21, was 22–25 mit der Lebensführung, nicht mit der theologischen Gelehrsamkeit begründet wird; vgl. dazu Claudia Greco (Hrsg.), Coricio di Gaza. Due orazioni funebri (orr. VII–VIII Foerster, Richtsteig). (Hellenica 36.) Alessandria 2010, die die Kapitel 22f. auf die fehlende theologische Positionierung der Rhetorenschule bezieht. 35 Zu den Schwierigkeiten, von Heidentum in der Spätantike zu sprechen, jetzt fundamental Alan Cameron, The Last Pagans of Rome. Oxford 2011, der 789 zu Recht empfiehlt, lieber von den Grenzen der Christianisierung als von der Beharrungskraft des Heidentums zu sprechen. 36 Eugenio Amato, Paganesimo e cristianesimo in Procopio di Gaza. A proposito di un’incompresa allegoria del vino eucaristico, in: Athenaeum 98, 2010, 519–529 zeigt eindringlich, wie Prokopios das Opfer des Adonis als Präfiguration des Opfers Jesu behandelt.
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Priscian verfasste daneben weitere grammatikalische Schriften, aber auch jenen Panegyrikus auf Kaiser Anastasios.37 Dieser schreibt sich ein in die Gattung der spätantiken Verspanegyrik, deren wichtigster Vertreter Claudian ist.38 Während das Proömium in iambischen Trimetern gehalten ist39, besteht der Hauptteil aus Hexametern. Diese Dichtung ist offenbar in Konstantinopel entstanden, wo Priscian wirkte und auch gut vernetzt war: Seine Institutiones widmete er dem Konsul Iulianus, der ihn zu der Arbeit aufgefordert habe.40 Ob Priscian indes tatsächlich aus dem mauretanischen Caesarea stammt, wie man seit Niebuhr immer behauptet, steht dahin und ist m.E. sogar fraglich.41 Der Panegyriker beginnt topisch mit einer Selbstverpflichtung auf Wahrheit, die er mit der pietas (pr. 5) des Kaisers begründet, welche das Leitmotiv der Verse bleibt. Doch werde er sich zurückhalten: Wer den Sterblichen Himmlisches zuschreibe, den verdamme das Urteil der Weisen (pr. 7f.). Priscian will mithin jegliche Vergöttlichung des Herrschers vermeiden, womit er bereits einen christlichen Akzent setzt. Dies gesagt, ruft Priscian Gott um Hilfe an und erinnert an die Milde des princeps (pr. 19–22).42 37 Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2) sowie Coyne, Priscian (wie Anm. 3), die an vielen Stellen die durch seine christliche Orientierung bedingten Besonderheiten dieses Panegyrikus nachweist. 38 Zur Gattungsgeschichte Heinz Hofmann, Überlegungen zu einer Theorie der nichtchristlichen Epik der lateinischen Spätantike, in: Philologus 132, 1988, 101–159; Schindler, Per carmina (wie Anm. 3), 15–58. Zur Entwicklung des Genos bei Venantius Fortunatus Judith W. George, Venantius Fortunatus. A Latin Poet in Merovingian Gaul. Oxford 1992, 35–61, die keinen Bezug auf Priscian nimmt. 39 Priscian scheint damit eine Versform aufgegriffen zu haben, die an dieser Stelle eher in griechischer Dichtung üblich war, s. Coyne, Priscian (wie Anm. 3), 63. 40 Prisc., Inst. 1pr. (p. 1–3 K); 6pr. (p. 194 K); Maciej Salamon, Priscianus und sein Schülerkreis in Konstantinopel, in: Philologus 123, 1979, 91–96 betont eher die Integration Priscians in Konstantinopel; er vermutet, dass es sich um den ehemaligen Prätoriumspräfekten handele, der auch als Epigrammatiker bekannt ist (Iulianus 11 in PLRE III A 733); zu Priscians Wirken in Konstantinopel nicht ohne Spekulationen Ballaira, Amici (wie Anm. 3), insbes. 35– 53; zu Iulianus 81–85, wobei er an den PPO von 530/1 denkt (Iulianus 4 in PLRE III A 729f.). 41 Barthold G. Niebuhr, De historicis quorum reliquiae in hoc volumine continentur. (Corpus scriptorum historiae byzantinae 19.) Bonn 1929, XIV–XXXVI, XXXIV, der meint, dass im 6. Jh. ein Grieche nicht mehr ein solches Interesse am Lateinischen habe entwickeln können wie zuvor Ammian und Claudian; Grundlage seiner Argumentation bilden ferner die eher allgemeinen Verse 242–247, die als Hinweis auf ein Migrationsschicksal gelesen werden können, aber weder Genaueres über eine Herkunftsregion sagen noch zwingend auf Priscian zu beziehen sind; Niebuhr folgen Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2), 92; Ballaira, Amici (wie Anm. 3), 17–19, der darauf hinweist, dass Priscianus seine römische Identität betone, was über seine geographische Herkunft nichts besagt, ferner ders., La patria di Prisciano, in: Quaderni del dipartimento di filologia, linguistica e tradizione classica A. Rostagni. Turin 2002, 291–318. Skeptisch Patricia Coyne in ihrer Rezension zu Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2), in: JRS 79, 1989, 262f., hier: 263 sowie dies., Priscian, 6f. unter Berufung auf einen Vortrag von Mary Taylor Davis, der jedoch anscheinend nicht publiziert worden ist. 42 Zum Proömium Guglielmo Ballaira, Osservazioni sulla Praefatio del De laude Anastasi imperatoris di Prisciano di Cesarea, in: Giovanni Bàrberi Squarotti u.a. (Hrsgg.), Voce di molte
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Als römisches carmen (1) bezeichnet Priscian sodann seine Dichtung; der eigentliche Dank gelte aber Gott, dem der Kaiser alles schulde. Anastasios sei Nachkomme des Pompeius, den er noch übertreffe (15)43, zumal dieser viel Leid über die Römer gebracht habe. Gegen alles Leid der eigenen Zeit habe Gott hingegen Anastasios gestellt, der sämtliche Tugenden früherer Herrscher in sich vereine – wobei hier die humilitas ebenso wenig eine Rolle spielt wie bei Prokop. Ausführlich gerühmt wird der Sieg über die Isaurier, wie bei Prokopios als Solymer (81) bezeichnet (50–132), wobei Priscian die Region mit dem Provinznamen Isauria (51) belegt. Anastasios übertreffe Bellerophon, der die Solymer besiegte44, und Servilius Isauricus Vatia (cos. 79 v. Chr.), der in der Zeit der Republik gegen die Isaurier insofern erfolgreich gekämpft hatte, als er den Siegesbeinamen erhielt. Mit Hilfe Gottes – als numen bezeichnet (102) – habe Anastasios die Isaurier besiegt, dank seiner pietas (103), so dass auch die Naturkräfte ihm gegen die Isaurier zur Seite standen. Eindringlich bejubelt Priscian die vielen Toten, die die Gewässer rot färbten und die Fische sättigten (115–118). Das Volk sei vernichtet, dank Gott als Rächer, dessen Sieg sie bekennen müssen (128). Alles aber übertreffe die Milde des Kaisers, die Anastasios sowohl auf die Feinde als auch besonders auf die Untertanen bezieht. Denunziationen würden unterbunden (136). Wie die Pythia in Delphi Vergangenheit und Zukunft überblicke, ohne es klar zum Ausdruck bringen zu können, vermöge Priscian nicht alle Großtaten des Anastasios ausdrücklich anzuführen, sondern nur die höchsten (142–148). Hier ist tatsächlich die Mitte des Gedichts erreicht: Untertanen würden nicht bedrängt, das Chrysargyron sei aufgehoben – auch dies eine Tat, die das Seelenheil des Anastasios befördert (153–155). Dem Zeus, der Anastasios das Zepter verliehen habe, würden nun als Opfer die auf dem Scheiterhaufen verbrannten Zensuslisten dargebracht (162–170)45, am angemessenen Ort, dem Hip acque. Miscellanea di studi offerti a Eugenio Corsini. Turin 1994, 277–292, auch zur Textkonstitution. Stark betont die christlichen oder eher biblischen Motive Rosalba Ficarra, Motivi ed orientamenti cristiani nel De Laude Imperatoris Anastasii di Prisciano, in: Enrico Livrea/G. Aurelio Priviteria (Hrsgg.), Studi in onore di Anthos Ardizzoni. Rom 1978, 357–371. 43 Zur Bedeutung des Pompeius für die Selbstdarstellung des Anastasios Brian Croke, Poetry and Propaganda: Anastasius I as Pompey, in: GRBS 48, 2008, 447–466, insbes. 449, der allgemein auf die Präsenz der Erinnerung an Pompeius im Osten hinweist; Meier, Anastasios (wie Anm. 1), 83f.; vgl. etwa AP 2,398–406 (Christodoros); 9,210; 9,656. 44 Zum Bild des Bellerophon bei Christen, die in der Tötung der Chimaera den Sieg gegen das Böse wiedererkannten, Marcel Simon, Bellérophon Chrétien, in: Jacques Heurgon/William Seston/Gilbert Charles-Picard (Hrsgg.), Mélanges offerts à Jérôme Carcopino, Verdome 1966, 889–903; George M.A. Hanfmann, The Continuity of Classical Art. Culture, Myth, and Faith, in: Kurt Weitzmann (Hrsg.), The Age of Spirituality – A Symposium. New York 1980, 75–99, 85–87; Nicks, Literary Culture (wie Anm. 1), 192, wobei Bellerophon sich wegen seines Sieges über die Solymer unabhängig von der christlichen Tradition anbot. Coyne, Priscian (wie Anm. 3), 107 verweist darauf, dass Dyrrhacchium korinthische Kolonie war und der korinthische Held Bellerophon auch insofern mit Anastasios verbunden war. 45 Zu der Szene Nicks, Literary Culture (wie Anm. 1), 190f.; Coyne, Priscian (wie Anm. 3), 132f., meint, dass Anastasios hier als Priesterkönig im christlichen Sinne gezeichnet werde. Diese Deutung geht aber zu weit, denn der Autor bewegt sich in einer ganz paganen Bilder
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podrom, wo sonst die Tyrannen vorgeführt wurden. Anastasios überbiete Aemilius Paullus (cos. 182, 168 v. Chr.), der den entthronten makedonischen König Perseus auf das Kapitol zu Jupiter geführt habe, da der Kaiser dem höchsten Gott gefalle (174–179). Der Umgang mit Jupiter ist an dieser Stelle aufschlussreich. Er überreicht nach Priscian das Zepter. Dies steht für den Dichter offenbar nicht im Widerspruch zu der Aussage, dass der Christengott die Königswürde verleihe. Jupiter ist hier traditionsstiftend, wird aber am Ende doch vom Christengott überboten. Dieser ist allmächtig, während das Kapitol die eingeschränkte Sphäre Jupiters darstellt. Damit werden auch die großen Namen der römischen Tradition, die sich allein auf Jupiter bezogen, überboten. Der christliche Gott habe Anastasios zur Erneuerung den Erdkreis anvertraut, den Priscian eindringlich beschreibt: Gerechtigkeit kehrt zurück, die Bitten des Volkes werden erhört, die Seeleute stechen in See und gehen vor Anker im Vertrauen auf die Frömmigkeit des Kaisers (183–192). Bauern erhalten Schutz vor Übergriffen der Kurialen, die Statthalter vermögen sich durchzusetzen (193–197). Diese Bemerkungen lassen sich möglicherweise mit verschiedenen Verwaltungsreformen des Anastasios in Verbindung bringen wie der Einführung der vindices und anderer administrativer Regelungen, bleiben aber zu allgemein, um eine präzise Zuordnung zu erlauben.46 Anastasios sei ein gerechter Richter (198–203), leibhaftige Rekruten gebe es jetzt (204–205) – also nicht nur Ablösungszahlungen im Sinne des aurum tironicum, mit dem die Stellung von Rekruten durch Goldzahlungen abgelöst werden konnte. Auch für eine verlässliche Lebensmittelversorgung und damit für Ruhe sorge der Kaiser (206–222), und bei diesem Thema fügt Priscian ein bemerkenswertes Exempel ein, den alttestamentlichen Joseph, der dasselbe für Ägypten geleistet habe (211–217). Sodann kommt der Redner auf das Verbot von venationes zu sprechen (223–227), ohne von den Pantomimen zu reden. Viele Wohltaten gewähre Anastasios den Armen insgeheim, und er habe denen verziehen, mit denen er vor der Thronbesteigung in Streit geraten sei (228–238). Ausnehmend klug sei er in der Auswahl der Mitarbeiter, denn besonders fördere er die Gelehrten (239– 253).47 Deswegen wehre Gott alle seine Feinde ab wie die vertragsbrüchigen Perser, die, zumal wenn man an die verbosen Ausführungen zu den Isauriern denkt, in wenigen Versen (254–260) abgehandelt werden, obgleich diese Auseinandersetzungen das Römische Reich lange umtrieben – vielleicht wollte Priscian sich angesichts des offenen Ausgangs zurückhalten. So werde es allen gehen, die das Reich im Osten oder im Westen herausfordern. Ausdrücklich auf beide Roms kommt Priscian zu sprechen, die, wie er erhofft (265) – dem Kaiser gehorchten, dank der Hilfe des höchsten Vaters. Ihm errichte er im ganzen Erdkreis Kirchen welt, innerhalb deren eine Priesterstellung harmlos war; gerade Brandopfer, wie hier geschildert, wurden von christlichen Priestern ja nicht dargebracht. 46 Meier, Anastasios (wie Anm. 1), 135; vgl. zu weiteren Deutungen Coyne, Priscian (wie Anm. 3), 143–147. 47 Dazu Nicks, Literary Culture (wie Anm. 1), 183f.
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(267–269).48 Die Stiftung solcher, christlicher Bauten manifestiert hier politisch Ansprüche. Gottes Fürsorge für den Kaiser zeige sich auch darin, dass er ihn erst kürzlich aus einem Schiffsunglück gerettet habe (270–279). Biblische Beispiele – Priscian spricht hier von der sancta scriptura (280) – belegten, dass Gott die Frömmsten so ehre und seine Hilfe nicht, wie es beim Olympischen Gott der Fall sei, unverhofft komme (285). Zudem kümmere Anastasios sich auch um seine Verwandtschaft, insbesondere um den militärisch erfolgreichen Neffen Hypatios, wie ein wahrer Vater (289–300). Schließlich erwähnt Priscian die Kaiserin, und zwar in der männlichen Form als auctor dieser guten Handlungen. Sie wird also nicht ausdrücklich als auctor imperii bezeichnet, der sie faktisch für Anastasios war, inhaltlich aber doch, insofern als ihr die Taten, die sich aus der Herrschaft ergaben, zugerechnet wurden. Ariadne habe sich nicht von Lust leiten lassen, sondern den Besten für das Reich ausersehen, in dieser Weise vorausschauender, als bei ihrem Geschlecht zu erwarten (301–308). Priscian beschließt seine Rede mit einer Anrufung Gottes, er möge die wilden Barbarenländer dazu bringen, die römische Herrschaft anzuerkennen und die Wünsche des Volkes und des erhabenen Senats zu erfüllen (309–312). Wie bei Prokopios und wie eigentlich auch nicht anders zu erwarten, haben wir es bei Priscian mit einer prononcierten Kontinuitätsbehauptung des christlichen Reiches zu tun. Doch ist es eben kein spätgriechisches, sondern ein Römisches Reich, das er evoziert. Das bestätigt noch einmal der Abschluss des Panegyrikus, bei dem der Redner sich auf das Volk und den Senat beruft, also die republikanische Tradition heraufbeschwört. Dass die Kontinuitätsbehauptung Priscians dezidiert römisch ist, belegen auch andere Passagen. Es ist ein römisches carmen, das Priscian vorträgt; am Kaiser hängen die leges Latiae als Inbegriff der öffentlichen Ordnung, wie Priscian anlässlich des Schiffbruchs vermerkt (276), es sind Ausonia regna (310), also ein italisches Reich, um das es hier geht. Es ist dann auch kein Reich der Poleis. Zwar kommen die Kurialen vor, doch vor allem, weil ihren perversi mores (194) ein Ende gemacht wird. Wichtig für Priscian sind vielmehr die gelehrten Eliten; sie repräsentieren bei ihm gemeinsam mit dem Senat und dem städtischen Volk das Reich. Dieses Reich wird durch den Lateiner als ein Reich mit einem Ost- und einem Westteil gesehen. Das ältere Rom, über das Theoderich der Große (493–526) gebot, ist zumindest dem Anspruch nach ein Teil des Reiches des Anastasios und hat dem Kaiser zu gehorchen. Die merkwürdig vage Formulierung an der Stelle (der Gebrauch von sperare in 265) zeigt, dass die Ansprüche auf den Westen nicht aufgegeben waren, deutet aber gewiss nicht auf eine unmittelbar bevorstehende Aggression hin. Der mächtiger werdende Franke Chlodwig (481/2–511) gelangt allerdings auch nicht in den Blick dieser Lobrede, obwohl sie weitaus mehr auf den Westen ausgerichtet ist als der des Prokopios. 48 Zu dieser Stelle Coyne, Priscian (wie Anm. 3), 12; 181–186; allerdings vermag ich keine Anspielung auf Vitalian zu erkennen.
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Priscians Panegyrikus ist schließlich im Vergleich zu Prokopios, aber auch zu den einschlägigen Werken Claudians weitaus stärker christlich durchdrungen: An die Stelle des Musenanrufs ist die Anrufung Gottes getreten. Die Baupolitik reduziert sich auf den Kirchenbau.49 Exempel stammen auch aus biblischen Schriften, der alttestamentliche Joseph kann als Vorbild eines Herrschers gehandelt werden. Die Verspanegyrik ist der epischen und mythologischen Elemente entkleidet. Sofern „Heidnisches“ überhaupt Erwähnung findet, ist es nicht historische Referenz, sondern Gegenstand der Überbietung. Das gilt auch für Bellerophon, den ersten Sieger über die Solymer. Jupiters Existenz wird nicht geleugnet, doch wird seine Leistung von dem Christengott übertroffen, den seine Allmacht auszeichnet. Bei Claudian waren die Götter immer noch als „Vehikel panegyrischer Aussagen“ erschienen, indem ihr Handeln die Leistungen des Helden herausstrich; bei Priscian haben sie auch diese Funktion eingebüßt.50 Wir sind in der Welt einer christlichen Panegyrik, deren Held sich durch Frömmigkeit – Demut allerdings wird nicht erwähnt – auszeichnet und Gottes Fürsorge gewürdigt wird. Es ist zwar kein aggressiv zerstörerisches, aber doch ein triumphierendes Christentum und insofern weitaus weniger inklusiv, als es bei Prokopios erscheint. Obgleich beide Panegyriken, die hier vorgestellt wurden, im Abstand allenfalls weniger Jahre entstanden und demselben Herrscher galten, sind sie sehr unterschiedlich. Darin zeigt sich die Gestaltungsfreiheit der Panegyrik auch noch in der Spätantike, wobei die Spielräume möglicherweise fern dem Zentrum in Gaza größer waren als in der Nähe der Macht. Es sind – das gilt mit Sicherheit für Prokopios, mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch für Priscian – nicht Dokumente, von denen aus ohne weiteres auf die Selbstdarstellung des Anastasios geschlossen werden kann; es sind Dokumente für seine Perzeption bzw. dafür, wie man mit seiner Selbstdarstellung umzugehen versuchte, insofern auch für die Interpretationsspielräume, die sein Wirken ließ. Sie zeigen auch die Vielfalt der Spielarten des Christentums jenseits einer gepflegten theologischen Semantik. Theologisch lässt sich nämlich keiner der beiden innerhalb der christologischen Kämpfe der Zeit verorten, und dies sollte nicht allein als eine Fehlanzeige gewertet werden. Sie vermeiden eine Stellungnahme dazu, Prokopios offenbar sogar in seinen theologischen Schriften; diese innerchristliche Neutralität ist ihnen gemeinsam, obgleich sie unterschiedliche Vorstellungen vom Christentum haben. Besonders auffällig ist gerade in Hinblick auf die Fragestellung des Bandes, wie unterschiedlich sich das Reichsbewusstsein in den beiden Panegyriken darbietet. Während Priscian den Westen mitdenkt, verschwindet er für Prokopios offenbar im Dunst des Mittelmeers. Den Balkan, auf dem Anastasios viele Kämpfe auszustehen hatte und somit viele Ressourcen gebunden waren51, erwähnen sie allenfalls am Rande. Chlodwig liegt außerhalb des Horizontes der beiden, anders 49 Vielleicht mit Ausnahme von 184f., wo es jedoch bei allgemeinen Bemerkungen bleibt. 50 Vgl. insgesamt zur Gattung im lateinischen Bereich Schindler, Per carmina (wie Anm. 3); zu Priscian 215–226; zu Claudian 59–172, das Zitat 171. 51 Meier, Anastasios (wie Anm. 1), vor allem 137–141.
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als Theoderich ist sein Name nicht einmal conspicuously absent. Der wichtigste militärische Erfolg ist für beide, und das scheint der Selbstdarstellung des Anastasios zu entsprechen, die Niederwerfung der Isaurier, die in die Tradition der Siege gegen äußere Feinde gestellt wird; die Auseinandersetzungen an der Ostgrenze spielen eine Rolle, bleiben aber blass. Die Armee als solche, deren Bedeutung für die Kaisererhebung des Anastasios Konstantinos Porphyrogennetos benennt52, spielt in keinem der beiden Texte eine Rolle, auch nicht bei den Andeutungen zur Kaisererhebung.53 Das kann man natürlich darauf zurückführen, dass sie aus zivilen, Distinktion durch Bildung favorisierenden Milieus stammen; doch auch diese Erklärung würde zeigen, wie groß der Abstand zwischen diesen Säulen des Kaisertums war. Keiner der beiden Panegyriker erwähnt ferner den Patriarchen.54 Im Akt der Ausrufung des Kaisers wird jeweils eine vormonarchische und nicht-christliche Ordnung evoziert. Auch darin liegt eine deutliche, für die Panegyrik aber charakteristische Kontinuitätsbehauptung, die man nicht als Kritik an aktuellen politischen Zuständen lesen muss. Ebenso wenig sollte man darin, dass man vom sacerdotium schwieg, den Wunsch erblicken, die religiöse Stellung des Kaisers zu überhöhen: Gattungskonvention und Kontinuitätssuggestion waren entscheidend. Die Weglassungen bedeuten genauso wenig Kritik wie die Nicht-Erwähnung des Christentums bei Prokopios. Das Christentum spielt in beiden Reden eine Rolle, eine deutlich größere bei Priscian, besonders sichtbar in seiner auf Kirchenbauten fixierten Behandlung der Baupolitik. Die Behauptung, dass alles Gott oder einem Gott zu verdanken sei, ist nicht neu in der Panegyrik, sie wird hier aber in ungewöhnlicher Intensität vorgetragen. Auffälligerweise wird dennoch auch hier die im christlichen Kaiserdiskurs und in der Performanz des spätantiken Kaisertums immer wichtiger werdende Tugend der humilitas/tapeinophrosyne nicht erwähnt oder auch nur angedeutet – vermutlich war diese Tugend mit dem Bild des allüberlegenen Kaisers nicht vereinbar, der den Kern der Panegyrik ausmachte. Hier waren dem Genos Grenzen gesetzt. Auffällig ist ferner, dass die Unruhen, welche die christologischen Streitigkeiten auslösten, keine Rolle spielen, auch nicht in dem Sinne, dass dem Kaiser ein konsequenter Kampf für den wahren Glauben nachgerühmt wird.55 Das muss zumindest im unruhigen Konstantinopel ein sehr hörbares Schweigen gewesen sein. Weniger auffällig hingegen ist, dass beide Redner die persistierenden Zirkusunruhen schweigend übergehen. Als Auslöser von Unruhen gelten Spiele, die 52 Const. Porph., Caer. 1,92. 53 Zur unzureichend erforschten Bedeutung von Bildung unter Anastasios Meier, Anastasios (wie Anm. 1), 120f. 54 Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2), 202; vgl. für Prokopios auch Ventrella, L’ideologia imperiale (wie Anm. 4), 117f., der im Gegensatz zu mir zu einer politischen Deutung neigt. 55 Falls Priscian tatsächlich auf 513 zu datieren wäre, so hätte kurz davor der StaurotheisAufstand stattgefunden, in dessen Verlauf Areobindus zum Kaiser erhoben werden sollte: Chauvot, Panégyriques (wie Anm. 2), 138; grundlegend zum Aufstand Mischa Meier, Staurotheís di’hemás – Der Aufstand gegen Anastasios im Jahr 512, in: Millennium 4, 2007, 157– 237.
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Anastasios den Panegyrikern zufolge zu einem erheblichen Teil einschränkt. Sie durfte es nicht mehr geben, und so beschwieg man sie. Wie kann man die Differenzen erklären? Erheblich verschieden sind die kulturellen Prägungen: Bei Prokop eine blühende, fortwährend auf die klassische Zeit rekurrierende rhetorisch-literarische Tradition, bei Priscian die Welt jener, die in der Kapitale vorankommen wollten und eines sicheren Lateins bedurften. Die Redner lebten in Orten, die vermutlich in einem unterschiedlichen Maße christlich geprägt waren; Gaza dürfte erheblich mehr Freiräume für Varianten des Christentums geboten haben als Konstantinopel. Es handelt sich ferner einmal um einen hauptstädtischen Text, das andere Mal um einen provinzialen; deutlich spürbar ist dies an der so unterschiedlichen Behandlung der Poleis, die Prokopios hervorhebt, und der funktionalen Eliten, die Priscian am Herzen liegen, so dass der lokale Unterschied auch einen sozialen zu bedingen scheint, insofern als ganz andere gesellschaftliche Gruppen in den Horizont der Autoren treten. Die unterschiedlichen griechischen und lateinischen literarischen Traditionen sind präsent – man hat indes das Gefühl, als seien sie jetzt stärker getrennt als in der Kaiserzeit, und das obwohl Priscian in einer gräkophonen Umgebung lebt. Damit stellt sich die Frage, wie abgeschottet das lateinische Milieu in der Residenz eigentlich war. Kann man gar, obgleich Priscian in Konstantinopel wirkt, von einer westlichen Perspektive sprechen, die er hier wählt? Chlodwig spielt jedenfalls auch bei ihm keine Rolle. Doch unabhängig davon bezeugen beide Redner die Vielfalt der spätantiken religiösen und politischen Vorstellungswelt, die hinter den antagonistischen christologischen Auseinandersetzungen, die das Bild beherrschen, zu verschwinden droht.
DRINNEN UND DRAUSSEN DIE HERRSCHAFT DES KAISERS ÜBER KONSTANTINOPEL UND DAS REICH Rene Pfeilschifter 1. DAS STÄDTISCHE AKZEPTANZSYSTEM KONSTANTINOPELS Spricht man vom Kaiser von Konstantinopel, so ist damit der Herrscher gemeint, der für mehr als tausend Jahre den östlichen Teil des Römischen Reiches, dann das Römische Reich im Ganzen und schließlich das Byzantinische Reich regierte. Konstantinopel ist dabei zunächst nur eine Ortsangabe, denn irgendwo musste der Kaiser ja sitzen, so wie sich die schwedische Regierung in Stockholm befindet oder die japanische in Tokio. Natürlich sind Hauptstädte nie zufällig ausgesucht, die Wahl ergibt sich aus der politischen Entwicklung, oft auch aus geographischen Gründen. Mit der Hauptstadtfunktion gehen Vorteile einher, finanzielle, wirtschaftliche, selten rechtliche, immer prestigefördernde. Ein politisches Übergewicht ergibt sich in modernen Flächenstaaten aber nicht daraus. Selbst in einem recht straff geführten Zentralstaat wie Frankreich ist Paris nicht wichtiger als die übrige Republik. Das verhindern die Mehrzahl an Wählerstimmen außerhalb der Metropole und, in nicht auf Wahlentscheidungen gestützten Systemen, die politische Zusammenbindung durch moderne Transport- und Kommunikationsmittel. So haben auch die Ereignisse in der Peripherie Bedeutung für das Zentrum und können entfernte Landesteile auf das Geschehen in der Hauptstadt einwirken, anstatt nur im Nachhinein davon zu hören. Im Altertum, generell in der Vormoderne galten andere Bedingungen. Die griechisch-römische Antike gibt deshalb ein gutes Beispiel ab, weil in ihr Politik kleinräumig organisiert war, im Stadtstaat. Das galt nicht nur für die Polis, sondern auch für das republikanische Rom, ja für dieses sogar ganz besonders: Die imperiale Republik herrschte über das Mittelmeer, aber sie wurde bis in ihre letzten Tage mit dem Regierungsapparat einer Kleinstadt verwaltet. Man muss sich die These Montesquieus nicht zu eigen machen, nach der die Überlastung dieser städtischen Strukturen die Republik untergehen ließ. Es war jedoch eine der wesentlichen Neuerungen des Prinzipats, dass der Raum außerhalb Roms eine größere Rolle zu spielen begann, anders ausgedrückt: Er war nicht bloßes Herrschaftsobjekt – was allerdings seine primäre Funktion blieb –, er wirkte nun auch auf die Herrschaftsetablierung und -behauptung ein. Die Legionen an den Reichsgrenzen wurden wesentliche politische Faktoren. Das zeigte sich schon in der Meuterei der Rheinarmee nach Augustus’ Tod 14 n. Chr., der potentiell entscheidende Einfluss
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wurde dann das erste Mal im reichsweiten Bürgerkrieg nach Neros Tod realisiert. Die Kaiser trugen dem durch eine intensive Pflege ihrer Beziehung zu den Soldaten Rechnung, die öfters in gemeinsamen Feldzügen gipfelte. Das heißt nun nicht, dass Rom politisch bedeutungslos geworden wäre: Senatsaristokratie und stadtrömisches Volk blieben wesentliche soziopolitische Gruppen, der militärische Einfluss lag im ersten Jahrhundert mehr bei den Prätorianern als bei den Legionen, schlicht weil die Prätorianer in Rom stationiert waren und damit nah am Kaiser. Doch der Kaiser konnte es sich erlauben, die Stadt für längere Zeit zu verlassen, auch wenn der Grund der Abwesenheit kein Krieg war – man denke nur an Tiberius auf Capri oder die Reisen Hadrians durchs Reich. Die Herrschaft wurde dadurch noch nicht gefährdet. Im Laufe des zweiten Jahrhunderts begann die außenpolitische Lage prekärer zu werden, Mark Aurel war ganze sieben Jahre lang nicht in der Stadt, in der Reichskrise zerbrach dann die Bindung zwischen dem Kaiser und der Stadt Rom: Der Herrscher zog mit seinem Heer von einem Krisenherd zum nächsten, entsprechend war es nun die Armee, die Kaiser machte und absetzte. Senat und Volk blieben in Rom zurück, die geographische Ferne raubte ihnen jeden nennenswerten Einfluss auf die Ausübung der Herrschaft. Rom blieb das ehrwürdige Zentrum des Imperiums, die Kaiser aber waren nur noch Besucher in ihrer eigenen Stadt.1 Dabei blieb es über die Restabilisierung des Reiches unter Diokletian und Konstantin hinaus. Noch Theodosius I. war ein Reisekaiser, der sich zwar neun seiner 16 Regierungsjahre in Konstantinopel aufhielt, aber die restlichen sieben Jahre woanders: in Feldzügen gegen innere und äußere Feinde. Dieser Aggregatzustand des politischen Systems änderte sich beim Tode Theodosius’ 395 sehr schnell. Ich meine nicht die Teilung des Reiches in Ost und West, sondern den plötzlichen Rückzug der beiden Söhne in ihre jeweilige Residenzstadt. Das war zunächst nur Zufall: Jugend, Abneigung gegen und Untauglichkeit zum Kriegsdienst, eine gewisse Trägheit zweier nicht schlechter, aber nicht gerade hervorragender Herrscher auf dem Caesarenthron. Honorius blieb zunächst in Mailand, 402 siedelte er nach Ravenna über.2 Schon bald wurde der Westen des Reiches seiner Feinde aber nicht mehr Herr, eine unruhige politische Entwicklung mündete in einen Überlebens-, schließlich in einen Todeskampf, der eine langfristige Stabilisierung des stationären Kaisertums nicht mehr erlaubte. Im Osten aber prägten Honoriusʼ Bruder Arkadios und noch mehr dessen Sohn Theodosios II. eine ganze Epoche: In 13 Regierungsjahren besuchte Arkadios lediglich ein paarmal zur Sommerfrische Kleinasien, insgesamt verbrachte er wohl kaum länger als ein Jahr außerhalb Konstantinopels. Theodosios hielt sich 1
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Helmut Halfmann, Itinera principum. Geschichte und Typologie der Kaiserreisen im Römischen Reich. (Heidelberger althistorische Beiträge und epigraphische Studien 2.) Stuttgart 1986, gibt ein Itinerar bis 284 und analysiert auch die Wahl der Aufenthaltsorte und die Umstände kaiserlichen Reisens. Alle Angaben im Folgenden zu den kaiserlichen Itineraren bis 476 stützen sich auf Otto Seeck, Regesten der Kaiser und Päpste für die Jahre 311 bis 476 n. Chr. Vorarbeit zu einer Prosopographie der christlichen Kaiserzeit. Stuttgart 1919. Nur kurze Abstecher in andere, meist nahe Städte unterbrachen bis 402 Honorius’ Aufenthalt in Mailand, Norditalien verließ er nicht. In den 21 Jahren von 402 bis zu seinem Tod 423 verbrachte Honorius wahrscheinlich nur zweieinhalb Jahre nicht in Ravenna.
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nicht mehr als eineinhalb Jahre außerhalb der Stadt auf – bei einer Regierungszeit von 42 Jahren. Ein Feldzug war nicht darunter. Dabei hätte er wenigstens einmal einen dringenden, für frühere Kaiser unabweisbaren Grund zu einer Kampagne gehabt. Sein Onkel Honorius starb im Jahr 423 kinderlos, und so wurde das gesamte Reich in Theodosios’ Hand vereint. Er hätte nun dringend nach Italien reisen und sich seinen neuen Untertanen präsentieren müssen. Stattdessen blieb er in Konstantinopel und versuchte seine Herrschaft über den Westen durch eine Art Vizekönig, Honorius’ letzten Heermeister Castinus, zur Geltung zu bringen. Aber schon nach vier Monaten wurde in Rom ein gewisser Johannes zum Kaiser proklamiert. Auch jetzt setzte sich Theodosios keineswegs an die Spitze seiner Armee und marschierte nach Italien. Vielmehr verabschiedete er sich ohne weiteres von der Alleinherrschaft und suchte nur den Westen für seine Familie zu retten. Der Kaiser besaß einen fünfjährigen Cousin namens Valentinian, der gleichfalls Honorius’ Neffe und sogar am Hof in Ravenna geboren, von Theodosios aber bislang ignoriert worden war. Diesen ließ er nun in Thessalonika zum Caesar proklamieren (ohne sich selbst dorthin zu begeben), verlobte ihn mit seiner Tochter Eudoxia und schickte ihn mitsamt dessen Mutter Galla Placidia und einem ansehnlichen Heer nach Italien, zum erfolgreichen Feldzug gegen Johannes.3 War Theodosios träge und ein Feigling? Es mag sein, dass er die Bedürfnisse der Menschen und die Schwierigkeit der sachlichen Anforderungen verkannte, als er über einen Stellvertreter zu regieren versuchte. Von einem einzigen Punkt aus war die Mittelmeerwelt schon seit dem dritten Jahrhundert nicht mehr zu regieren gewesen. Selbst Alleinherrscher, die von einer Ecke des Imperiums in die andere eilten, hatten es nur mit Mühe vermocht, und sogar dann nur für kurze Zeit. Theodosios hätte das Reisekaisertum wiederaufnehmen müssen, verbunden mit einer Wiederaufwertung der Akzeptanzgruppe Militär. Nichts deutet darauf hin, dass er diese Option erwog. Das war aber keine Faulheit, sondern politische Vernunft. Die Stabilität der eigenen, bescheideneren Herrschaft genoss unbedingten Vorrang vor dem Vabanquespiel, in Person die Macht über den Mittelmeerraum auszuüben. Theodosios’ Stadt war Konstantinopel, aus Neigung und inzwischen wohl auch aus Notwendigkeit. Ging er allzu lang nach Italien oder Gallien, um die dortigen Provinzen in die Hand zu bekommen, dann lief er Gefahr, unterdessen den Osten zu verlieren. Der Rückzug nach Konstantinopel hatte es dem Kaiser erlaubt, sich von der Dominanz der Soldaten und von den Ansprüchen der Generäle zu befreien. Wenn der Herrscher sich sicher in Konstantinopel hielt, fern von der Armee, kam nicht mehr so viel auf Popularität beim Heer und auf die Meinung der Truppen an. In 3
Olymp. fr. 43,1; Philost. 12,13; Sokr. 7,23,1–10; Hyd. s. a. 424. Zu den Ereignissen Ernest Stein, Histoire du Bas-Empire, Bd. 1: De l’État romain à l’État byzantin (284–476). Édition française par Jean-Remy Palanque. 2. Aufl. o. O. 1959, 282–285; J. B. Bury, History of the Later Roman Empire from the Death of Theodosius I. to the Death of Justinian (A.D. 395 to A.D. 565), Bd. 1. London 1923, 221–224; Stewart Irvin Oost, Galla Placidia Augusta. A Biographical Essay. Chicago u. a. 1968, 178–193; Timo Stickler, Aetius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich. (Vestigia 54.) München 2002, 27– 35.
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Konstantinopel selbst aber waren keine regulären Einheiten stationiert. Dass die Stadt am Bosporus Hauptstadt geworden war, war zuerst wohl nur der Neigung Theodosius’ I. geschuldet. Anders als die Provinzstadt Ravenna eignete Konstantinopel sich aber auch dafür, auf Dauer den Kaiser und seinen Hof aufzunehmen. Es gab einen Palast und einen Hippodrom, einen Senat und eine Stadtverwaltung, vor allem aber war Konstantinopel eine Metropole. Konstantin der Große hatte seine Gründung als Residenz konzipiert, seine Nachfolger hatten sie weiter ausgebaut. Die Stadt war damals die dynamischste der Welt. Die Bevölkerungszahl hatte sich seit der Gründung 326 vervielfacht, um die Mitte des fünften Jahrhunderts lebten wohl an die 200 000 Menschen am Bosporos, überall wurde gebaut, gehandelt, versorgt, gelebt und von staatlicher Seite mit Mühe reguliert, um die Entwicklung der Metropole halbwegs in den Griff zu bekommen. Seit Konstantins Tod aber hatte kein Herrscher mehr für längere Zeit in Konstantinopel residiert, dabei war keine Stadt des östlichen Mittelmeerraums so sehr für die Funktion einer Hauptstadt geeignet: wegen der Infrastruktur, wegen der geographischen Lage an den Verkehrswegen, vor allem wegen der Bevölkerung. Kaum etwas neutralisiert militärische Macht so sehr wie eine Großstadt mit lebendigem Leben, zahllosen Menschen und engen Gassen.4 In Konstantinopel etablierte sich ein politisches System, wie es während der ersten beiden nachchristlichen Jahrhunderte in der Stadt Rom existiert hatte. Egon Flaig hat die soziopolitische Ordnung des Prinzipats als Akzeptanzsystem beschrieben. Der Begriff meint eine Herrschaft, die sich der verlierbaren Unterstützung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen verdankt, im Gegensatz zu einer Legitimität, die als unverlierbar oder von einer autoritativen Instanz verliehen gedacht ist. Die Dauerhaftigkeit der Regierung eines Monarchen ruht nicht auf der Abstammung (dynastisches Prinzip) oder einer transzendenten Legitimation (Gottesgnadentum), sondern auf der Unterstützung der maßgeblichen soziopolitischen Gruppen. Diese Unterstützung wird nicht ein für allemal verliehen, sondern muss vom Herrscher wieder und wieder eingeworben werden, sie kann ihm also versagt werden. Akzeptanz ist ein flüchtiges Gut. Deshalb vermag auch jederzeit ein Herausforderer im Werben um diese Unterstützung aufzutreten: Der Herrscher kann von einem Usurpator gestürzt werden.5 Dass sich in Konstantinopel ein ähnliches System ausbildete, hatte nichts mit Tradition und historischer Reminiszenz zu tun. Die Kontinuität war durch die mehr als 150 Jahre des Reisekaisertums abgerissen. Die Gesellschaft war sich aber so weit gleich geblieben, die Bedingungen der Metropolen so identisch, die
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Eine ausgezeichnete Skizze der Entwicklung Konstantinopels gibt Hans-Georg Beck, Großstadt-Probleme: Konstantinopel vom 4.-6. Jahrhundert, in: ders. (Hrsg.), Studien zur Frühgeschichte Konstantinopels. (Miscellanea Byzantina Monacensia 14.) München 1973, 1–26, hier 7–12. Zur Bevölkerungszahl vgl. David Jacoby, La population de Constantinople à l’époque byzantine: un problème de démographie urbaine, in: Byzantion 31, 1961, 81–109, hier 102–109. Egon Flaig, Den Kaiser herausfordern. Die Usurpation im Römischen Reich. (Historische Studien 7.) Frankfurt am Main u. a. 1992.
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Kaiserherrschaft so unverändert, dass sich in einem ähnlichen Rahmen eine vergleichbare Ordnung ausbildete. Gegen ein solches Weitergelten ähnlicher Bedingungen sprechen auf den ersten Blick die inzwischen erfolgte Christianisierung, der größere Abstand des spätantiken Kaisers zu seinen Untertanen und das Erbprinzip. Die Überzeugung des christlichen Kaisers, von Gott eingesetzt zu sein, stand tatsächlich in einer gewissen Spannung zu den Grundlagen des Akzeptanzsystems. Diese wurde aber dadurch aufgehoben, dass dem Kaiser nie eine Immunisierung seiner Stellung gelang. Der Kaiser besaß kein Deutungsmonopol, was den Willen des Himmels betraf. Von Gott war ihm die Verantwortung für das Reich übertragen. Handhabte er sie schlecht, stand jedem christlichen Untertanen ein Urteil darüber zu. Die zeremonielle Abgeschlossenheit des Kaisers, der in der Spätantike nie den Palast verlassen und dem so die Gelegenheit zur Begegnung mit seinen Untertanen gefehlt habe, ist ein Konstrukt der Forschung. Der Kaiser war in seiner Repräsentation zwar stark abgehoben, aber er war in Konstantinopel regelmäßig unterwegs und interagierte mit der Bevölkerung. Der dynastische Gedanke schließlich wirkte auch in Konstantinopel, wie in jeder Monarchie. Abstammung oder einvernehmliche Herrschaftsübertragung durch den Vorgänger – die monarchische Solidarität – schützten den Kaiser aber nie vor einer Usurpation, die Art der Ausübung der Herrschaft war wichtiger als ihre Herkunft. Das Erbprinzip blieb stets eingebettet in die Bedingungen des Akzeptanzsystems. Die bestimmenden Akzeptanzgruppen waren, wie in Rom, die Soldaten, die Eliten und das Volk. Innerhalb der Mauern stand kein Heer, die Garden und die Sicherheitskräfte waren zahlen- und kräftemäßig schwach, außerdem standen sie in einer besonders engen Loyalitätsbeziehung zum Kaiser. Ihre Akzeptanz war deshalb relativ leicht zu gewinnen, gleichzeitig konnten sie die Stadt nicht militärisch kontrollieren. Die Eliten standen als Funktionsadel dem Kaiser einzeln gegenüber, er bestimmte über ihr politisches und gesellschaftliches Avancement. Daher bestimmte Konkurrenz statt Solidarität das Verhältnis zu den übrigen Aristokraten. Geschlossen stemmten sie sich dem Kaiser nie entgegen, die übliche Form des Akzeptanzentzugs war nicht die Adelsfronde, sondern die Verschwörung. Außerdem versuchten einzelne Mächtige gerade im späteren fünften Jahrhundert, den Kaiser zu dominieren und als eine Art Hausmeier die Akzeptanz auf ihre Person zu übertragen. Diese Versuche scheiterten über kurz oder lang, weil die Loyalität der soziopolitischen Gruppen auf das Kaisertum ausgerichtet war. Am wichtigsten war das Volk. Nur diese Akzeptanzgruppe trat dem Kaiser mit offener Kritik gegenüber, sie artikulierte ihre Anliegen klar und erstaunlich geschlossen. Da der einzelne in der Masse unterging, schützte ihn die Anonymität – der Kaiser konnte nicht weite Teile des Volkes zur Rechenschaft ziehen. Der Widerstand gegen ihn äußerte sich in Worten, aber auch in Taten. Gewalttätigkeit war geradezu ein Kennzeichen der Willensäußerungen des Volkes. Es fehlte nämlich an institutionalisierten Mechanismen zur Konfliktschlichtung. Widerstand wurde nicht nur im Hippodrom geleistet, sondern überall in der Stadt, er ging nicht nur von den Zirkusparteien aus, sondern vom Volk insgesamt. Das Kollektiv
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des Volkes diente als permanentes Verhaltenskorrektiv, der Kaiser musste sich um die städtische Masse ganz besonders bemühen. Im christlichen Imperium spielte natürlich auch der Klerus eine große Rolle. Doch die Geistlichkeit – Bischof, Mönche, fromme Asketen – bildete keine Akzeptanzgruppe. Ihr Widerstand war als solcher nicht anerkannt, wurde also nur repressiv beantwortet, oder er trat wegen seiner Strukturvoraussetzungen so sporadisch auf, dass er für das Funktionieren des Akzeptanzsystems unerheblich war. Heilige Männer konnten ihr Renommee nur einmal in die Waagschale werfen, zur Ausübung längeren Drucks auf den Kaiser waren sie nicht imstande. Trotz der bedeutenden Einflussmöglichkeiten gerade des Volkes war die Stellung des Kaisers keineswegs schwach. Verhielt er sich einigermaßen gemäß christlichen Normen, bekannte er sich zur Orthodoxie, kam er seiner Fürsorgepflicht gegenüber den Untertanen nach, dann konnte er sich auf dem Thron behaupten. Das Akzeptanzsystem in Konstantinopel war insofern eine starke gesellschaftliche Ordnung, als es das Unvermögen eines Kaisers lange tolerierte. Der Herrscher musste schon mehrere schwere Fehler in der Statusanerkennung und Interaktion begehen, um seinen Thron zu gefährden. Deshalb wurde der Kaiser im spätantiken Konstantinopel relativ selten gestürzt, nur wenige Usurpatoren traten auf und setzten sich durch. Ich habe das Funktionieren des Akzeptanzsystems anderswo ausführlich beschrieben.6 Hier will ich einen anderen Aspekt in den Vordergrund stellen: die gegenüber der Stadt Rom weit stärkere, fast ausschließliche Konzentration der soziopolitischen Ordnung auf Konstantinopel. Sie zeigte sich deutlich in der viel ausgeprägteren Bindung des Kaisers an die Stadt. Theodosios’ Nachfolger setzten dessen Gewohnheiten nämlich fort. Kaiser Markian führte zu Anfang seiner Regierung einen kurzen Feldzug auf dem Balkan, danach begleitete für 140 Jahre kein Kaiser mehr eine Armee ins Feld.7 Erst Kaiser Maurikios brach 590 oder 592 mit dem Herkommen und führte in Person eine Kampagne auf dem Balkan durch. Die Umstände des Feldzugs zeigen, wie unumstößlich die Bindung an Konstantinopel inzwischen geworden war: Die vornehmsten Senatoren, der Patriarch und schließlich die eigene Ehefrau versuchten Maurikios von seinem Vorhaben abzubringen, vergeblich. Der Feldzug war geprägt von militärischer Erfolglosigkeit – der Feind kam kein einziges Mal in Sicht – und ominösen Begebenheiten: eine Sonnenfinsternis, ein Seesturm, ein rasendes Wildschwein, eine fischschwänzige Missgeburt, ein Meuchelmord. Das Eintreffen einer persischen Gesandtschaft nötigte den Kaiser bald nach dem Aufbruch zu einer zwischenzeitlichen Rückkehr, die Ankunft weiterer Unterhändler erzwang später sogar den vorzeitigen Abbruch des Feldzugs. Der Widerstand einflussreicher Gruppen und Personen 6 7
Rene Pfeilschifter, Der Kaiser und Konstantinopel. Kommunikation und Konfliktaustrag in einer spätantiken Metropole. (Millennium-Studien 44.) Berlin u. a. 2013. ACO II 1,1 p. 27–30; 1,2 p. 16, 29; 3,1 p. 21, 23; Theod. Lect. epit. 360. Auf die Nachricht einer hunnischen Invasion hin brach Markian im Spätsommer 451 auf den westlichen Balkan auf. Schon nach kurzer Zeit konnte er einen glücklichen Ausgang der Kampagne melden. Wie weit der Kaiser gekommen war und ob er den Feind überhaupt zu Gesicht bekommen hatte, ist unsicher.
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mag ebenso wie die bösen Vorzeichen von der Überlieferung ausgestaltet sein, aber gerade in der Übertreibung wird klar, welchen Verstoß gegen die gottgewollte Ordnung der Krieg des starrsinnigen Maurikios darstellte. Die Omina sollten ihn dazu bringen, sich nicht selbst ins Unglück zu stürzen, erst als der Kaiser endlich, fast in letzter Stunde, auf weitere Abenteuer (auf der Suche nach den Awaren) verzichtete, war alles wieder gut. Die Gesandtschaften machen auf der anderen Seite deutlich, dass auch funktional der Kaiser Konstantinopel nicht verlassen konnte: Einen Stellvertreter, der die Unterhändler empfangen konnte, gab es nicht, der Kaiser durfte solche Geschäfte nicht delegieren, er musste sie persönlich erledigen – in der Hauptstadt.8 Maurikios blieb nach dieser Erfahrung für den Rest seiner Regierung zu Hause. Erst Kaiser Herakleios begab sich 612 wieder zur Truppe, doch der kommandierende General, der Heermeister Priskos, beschied ihn im östlichen Kleinasien, in Kaisareia: „Ein Kaiser darf den Palast nicht verlassen und sich bei den weitentfernten Heeren aufhalten.“ Priskos bezahlte für diese Äußerung bald mit seinem Sturz, aber der Anlass war ein anderer. Im Lager blieb dem Kaiser zunächst nichts anderes übrig, als die Unverschämtheit seines Feldherrn zu dulden – die Soldaten sahen die Sache offenbar genauso wie dieser. Herakleios erfüllte die Verhaltensanforderungen nicht, die seine Untertanen an ihn stellten. Die volle Ausübung der kaiserlichen Macht war vom Maß der Akzeptanz abhängig, und fern von Konstantinopel vermochte Herakleios, eben weil er fern von Konstantinopel war, nur wenig auszurichten. In Kaisareia machte er die Erfahrung, dass seine Autorität wenig galt, wenn die Akzeptanzgruppen der Hauptstadt sie nicht stützten. Bezeichnenderweise vermochte er Priskos erst in Konstantinopel abzusetzen.9 Ein weiterer Feldzug im Jahr darauf endete mit dem Verlust Syriens, Herakleios’ Prestige war schwer beschädigt, an eine erneute Übernahme des Kommandos war nicht zu denken.10 Im nächsten Jahrzehnt folgten aber die schwersten Katastrophen seit Menschengedenken: Die Perser besetzten Syrien, Teile Kleinasiens und Ägypten, auf dem Balkan gaben die Awaren den Ton an, Hunger und Seuchen plagten Konstantinopel, das Reich stand vor dem Untergang. Als Herakleios ein afrikanisches Unternehmen plante, soll ihm der Patriarch Sergios in der Kirche zwar den Eid
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Theoph. Sim. hist. 5,16,1–6,3,8; Theoph. a. m. 6083 (p. 268f.). Zum Kontext vgl. L. Michael Whitby, Theophanes’ Chronicle Source for the Reigns of Justin II, Tiberius and Maurice (A.D. 565–602), in: Byzantion 53 (1983), 312–345, hier 331f.; ders., The Emperor Maurice and his Historian: Theophylact Simocatta on Persian and Balkan Warfare. (Oxford Historical Monographs.) Oxford 1988, 156f. 9 Nikeph. brev. 2: „οὐκ ἐξὸν βασιλεῖ ἔφασκε καταλιμπάνειν βασίλεια καὶ ταῖς πόρρω ἐπιχωριάζειν δυνάμεσιν“; Vita Theod. 152–155; Seb. 33f. (p. 112f.); Chron. Pasch. p. 703. Zum historischen Kontext vgl. Walter Emil Kaegi, New Evidence on the Early Reign of Heraclius, in: ByzZ 66, 1973, 308–330, hier 324–328. 10 Seb. 34 (p. 114f.); Vita Theod. 166. Vgl. Kaegi, Evidence (wie Anm. 9), 328f.; Andreas N. Stratos, La première campagne de l’Empereur Héraclius contre les Perses, in: JÖByz 28, 1979, 63–74, hier 67–73.
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abgenommen haben, die Stadt nicht zu verlassen.11 Doch im Jahr 622 war die Lage dann so verzweifelt, dass sich kein nennenswerter Widerstand mehr erhob, als Herakleios nach Kleinasien in den Krieg aufbrach. Immerhin ging er nicht nach Afrika, und nach der Feldzugssaison kehrte der Kaiser zurück. Zwei Jahre später kehrte er Konstantinopel dann aber für fünf Jahre Kriegsführung den Rücken, er ließ die Stadt sogar während einer gefährlichen Belagerung allein.12 So löste sich die Bindung des Kaisers an Konstantinopel. Doch nur in der äußersten Not vermochte ein Kaiser mit dem Herkommen zu brechen und damit auch mit dem etablierten Herrschaftssystem: Im Feld setzte er sich ja wieder dem bestimmenden Einfluss der Armee aus. Auch wenn es nicht um Feldzüge ging, verließ der Kaiser die Stadt nur selten. Religiöse Motive, etwa die Erfüllung eines Gelübdes, ließen Abwesenheiten offenbar annehmbar erscheinen, aber die Überlieferung spricht selten von ihnen.13 Ansonsten finden wir den Kaiser lediglich im unmittelbaren Einzugsgebiet, in suburbanen Palästen in Europa oder am anderen Ufer der Propontis. Von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen entfernte er sich von der Stadt nicht weiter als wenige Stunden: Er konnte also jederzeit zurückkehren und auf unvorhergesehene Entwicklungen vor Ort reagieren.14 Ich meine nicht nur auswärtige Gesandte. Es konnte zu Verschwörungen und Aufständen kommen, die nichts so gut erstickte wie persönliches Eingreifen des Kaisers. Als Tiberios für dreißig Tage einen Palast vor der Stadt aufsuchte, um bei der Weinlese dabei zu sein, bereiteten seine 11 Nikeph. brev. 8. 12 622: Theoph. a. m. 6113 (p. 302–306); Nikeph. brev. 12; Theod. Sync. obsid. 12 (p. 302); 14 (p. 303); Seb. 38 (p. 124) (mit James Howard-Johnston, in: Sebeos, The Armenian History Attributed to Sebeos. Translated, with notes, by R. W. Thomson. Historical Commentary by James Howard-Johnston. Assistance from Tim Greenwood, Bd. 2 [Translated Texts for Historians 31.] Liverpool 1999, 213); Georg. Pis. exp. Pers. 1,108–157; 2,8–3,340; Bon. 5–9; Patr. Const. 2,53. Vgl. Andreas N. Stratos, Byzantium in the Seventh Century, Bd. 1: 602– 634. Translated by Marc Ogilvie-Grant. Amsterdam 1968, 126f.; Walter Emil Kaegi, Heraclius. Emperor of Byzantium. Cambridge 2003, 107–112; Nicolas. Oikonomidès, A Chronological Note on the First Persian Campaign of Heraclius (622), in: BMGS 1, 1975, 1–9. Aufbruch 624: Chron. Pasch. p. 713f.; Theoph.a. m. 6114 (p. 306); Seb. 38 (p. 123f.); Theod. Sync. obsid. 11f. (p. 302f.). Vgl. Ernst Gerland, Die persischen Feldzüge des Kaisers Herakleios, in: ByzZ 3, 1894, 330–373, hier 331–337, 349f.; Stratos, 363f.; Michael Whitby/Mary Whitby, in: Chronicon Paschale 284–628 AD. Translated with Notes and Introduction. (Translated Texts for Historians 7.) Liverpool 1989, 167 Anm. 452, 204f.; Howard-Johnston, 213f. 13 Anastasios reiste 515 nach dem Sieg über Vitalian an den mittleren Bosporus, zum Sosthenion, wo der Rebell sein Lager gehabt hatte, und dankte viele Tage lang in der Kapelle des Erzengels Michael (Mal. 16,16; Johan. Nik. 89,87). Justinian besuchte 563 in Erfüllung eines Gelübdes eine Kirche im nordgalatischen Germia (Theoph. a. m. 6056 [p. 240]). Religiöse Gründe waren 552 wohl auch für den Besuch Justinians in Athyras, über 30 Kilometer westlich von Konstantinopel, ausschlaggebend: Der Kaiser schlief in einer Kirche (Eustr. Vita Eutych. 676–683). 14 Die Residenzen lagen entweder innerhalb eines Zehnkilometerradius von der Stadt oder waren binnen kurzem bequem zur See erreichbar. Eine Liste der suburbanen Paläste Konstantinopels gibt R. Janin, Constantinople byzantine. Développement urbain et répertoire topographique. (Archives de l’Orient Chrétien 4a.) 2. Aufl. Paris 1964, 138–153.
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Gegner einen Putsch vor. Tiberios musste zurückrasen, um das Schlimmste zu verhindern.15 Es war also nicht lediglich so, dass Konstantinopel, wie andere Hauptstädte, von seiner Residenzfunktion profitierte und darin seine eigentliche Raison d’être gewann. Auch der Kaiser war an die Stadt gebunden, in Konstantinopel stand nicht nur ein Palast: Das Ausüben, ja die Existenz des Kaisertums war nur in der Stadt möglich. Dass sich in Konstantinopel ebenfalls ein Akzeptanzsystem ausbildete, war sicher nicht zwingend, aber es war, angesichts der Ähnlichkeit mit Rom, auch nicht überraschend. Überraschend ist jedoch die Konzentration, die Verdichtung dieses Systems auf die eine Stadt, auf kaum mehr als 14 Quadratkilometer. Das übrige Riesenreich, der ‘Rest’, wenn man so will, er gehörte zum politischen System nicht dazu. Woher kam diese extreme Trennung zwischen drinnen und draußen? Und welche Konsequenzen hatte sie für die römische Welt außerhalb Konstantinopels? Mit diesen beiden Fragen werde ich mich in den verbleibenden Abschnitten des Aufsatzes beschäftigen. 2. DER MAUERBAU UND SEINE FOLGEN Schon das alte Byzantion war gesegnet gewesen durch seine Lage.16 Am Bosporus kreuzten sich die Seeroute vom Schwarzen Meer zu Ägäis und Mittelmeer und der Landweg von Nordwesteuropa nach Asien. Trotzdem war die Stadt in gewisser Weise isoliert: Von den Städten Kleinasiens trennte sie die See, das europäische Hinterland war von den Griechen nicht besiedelt worden, hier lebten thrakische Völker, die von Byzantion durch eine geringere Urbanisierung, kulturelle Differenzen und einen anderen ethnischen Hintergrund getrennt waren. Das änderte sich zwar seit der römischen Provinzialisierung im ersten Jahrhundert n. Chr., der Grad der Urbanisierung stieg stark an, aber nie erreichte er ein Ausmaß wie in den Kernländern der Mittelmeerkulturen, also Griechenland, Italien oder auch Africa. Als Byzantion durch und nach Konstantin dem Großen dann zur Metropole aufstieg, bildete sich ein viel stärkerer Kontrast zwischen Hauptstadt und Umgebung aus als in Latium. Hier die urbanisierte, über Jahrhunderte prosperierende, von Roms Funktion als Haupt des Imperiums profitierende Kernregion des Imperiums, dort das an Konstantinopels plötzlicher Erhebung weit schwächer partizipierende Thrakien. Das lag nicht nur daran, dass sich in Italien über 500 Jahre herausgebildet hatte, was sich am Bosporus in nicht einmal einem Jahrhundert entwickelte. Rom lag im Binnenland, mitten in Latium, auf dem Land von allen Seiten gut erreichbar, nur über den Tiber ans Meer angebunden. Konstanti15 Greg. Tur. 5,30. 16 Polyb. 4,38,1–39,6; 42,8–45,10. Der für Sicherheit wie Wirtschaft ausgezeichneten, insbesondere durch die günstige Meeresströmung gesegneten Lage zur See stellt Polybios eine ebenso nachteilige zu Land gegenüber. Doch diese besteht nicht in geographischen oder topographischen Faktoren, sondern in der Nachbarschaft der Thraker. Dieser Umstand hatte sich in der Spätantike längst geändert.
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nopel befand sich an der Peripherie Europas, meerumschlossen, lediglich vom Westen her zu Fuß zu erreichen. Die Impulse, die von dort ausgingen, wirkten in Thrakien vergleichsweise schwach. Der Wanderer auf dem Weg nach Rom durchquerte eine Kulturlandschaft, er sah Orte, die ihm einen Vorgeschmack auf die Wunder der ewigen Stadt boten. Der Übergang gestaltete sich vergleichsweise sanft, die Ankunft in Rom war keine plötzliche, selbst nach dem Bau der Aurelianischen Stadtmauer im dritten Jahrhundert. Sehr viel karger verlief die Reise durch Thrakien. Ganz am Ende des Festlandwegs lag Konstantinopel, abrupt schnitten seine Wälle in die Landschaft ein, die Tore müssen wie die Passage von einer Welt zur anderen gewirkt haben. Lage und Landesnatur separierten das neue Rom also weit mehr von seiner Umgebung als die Tiberstadt oder auch Karthago und Antiocheia. Nur Alexandreia mit seiner Lage zwischen Meer und Mareotissee war ähnlich isoliert. Die Ptolemaierkönige vermochten relativ unabhängig von ihrem Hinterland zu agieren, und es ist wohl kein Zufall, dass auch Alexandreia keine natürlich gewachsene Hauptstadt war, sondern durch bewusste Entscheidung Herrscherresidenz geworden war. Die Trennung zwischen drinnen und draußen wurde in Konstantinopel erheblich vertieft durch einen zunächst scheinbar kaum einer Erwähnung bedürfenden, in Wirklichkeit aber entscheidenden Faktor: die Stadtmauern. In den fast 900 Jahren zwischen der Gründung durch Konstantin und dem Vierten Kreuzzug wurde die Stadt nicht einmal mit Gewalt eingenommen. Das lag nicht nur an der günstigen Lage und an der Faulheit der Feinde – Eroberungsversuche gab es durchaus –, sondern an der Stärke der Verteidigungsanlagen. Das Dreieck, auf das sich der Grundriss von Konstantinopel mit etwas gutem Willen reduzieren lässt, war auf zwei Seiten vom Meer umgeben, im Norden vom Goldenen Horn, im Süden von der Propontis. Hier kam es nur darauf an, eine Landung des Feindes zu verhindern. Besonders gefährdete Uferabschnitte wurden mit Fortifikationen geschützt – dazu gleich mehr –, solange aber die römische Flotte die See beherrschte und nicht revoltierte, war hier wenig zu fürchten. In der Spätantike war dies fast immer der Fall, erst die islamischen Angreifer attackierten bewusst die langen Küsten. Die gefährdete Seite war die nach Westen hin, wo sich der Landvorsprung, auf dem Konstantinopel lag, bald nach Norden und Westen ausweitete, zur thrakischen Provinz und zum europäischen Kontinent wurde. Hier lag der Schwerpunkt der Verteidigungsanlagen. Die erste Stadtmauer, die Konstantinische, war in einer Zeit errichtet worden, in der niemand ernstlich einen organisierten Angriff auf den Bosporus erwartet hatte.17 Tatsächlich plünderten sowohl vor als auch nach der Katastrophe bei Adrianopel 378 gotische Verbände die Vorstädte, gegen die Mauern unternahmen
17 Die Mauer ist heute vollständig verschwunden, über ihre Beschaffenheit sagen die literarischen Quellen kaum etwas. Nur der Verlauf lässt sich in etwa rekonstruieren. Vgl. Janin, Constantinople (wie Anm. 14), 26–31, 263–265.
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sie aber, wenn überhaupt, nur halbherzige Attacken.18 Gegen Ende des vierten Jahrhunderts wurden die Herausforderungen schwieriger. Die Konstantinische Mauer bot gewissen Schutz, aber sie stellte offensichtlich kein unüberwindbares Bollwerk dar. Als Alarich 395 vor der Stadt erschien, scheint er über einen Sturm auf Konstantinopel zwar nicht einmal nachgedacht zu haben. Aber es ging ihm nicht um unversöhnliche Konfrontation oder um einen Sturz der Regierung, sondern um Erfüllung seiner Forderungen, wahrscheinlich materielle und finanzielle Unterstützung. Die Plünderung der Umgebung bot sich da als besseres Druckmittel an.19 Ging es jedoch um mehr, war auch wesentlich mehr zu erreichen. Als im Jahre 399 der aufständische Tribigild mit seinen Truppen durch Kleinasien zog, war der Oberhofeunuch Eutropios, damals der leitende Minister, um den Schutz der Hauptstadt nicht weniger besorgt als um das Leiden der Provinzen: Eine Armee sollte Tribigild entgegentreten, die andere Konstantinopel decken. Als Tribigild sich später tatsächlich dem Hellespont zu nähern schien, grassierte derartige Furcht in Konstantinopel, dass Kaiser Arkadios auf seine (angebliche) Forderung – Eutropios’ Entlassung – einging.20 Im Jahr darauf war die eine römische Armee vernichtet, die andere, unter Gainas, kooperierte offen mit Tribigild. Dem Kaiser standen zunächst also keine Truppen zur Verfügung, als Tribigild im April am Hellespont erschien, Gainas am Bosporus.21 Arkadios fand sich zu einer Unterredung in Chalkedon ein und erfüllte alle Forderungen, einschließlich der Auslieferung des Prätorianerpräfekten Aurelian, Gainas’ Erhebung zum Generalissimus und der Stationierung von dessen gotischen Soldaten in Konstantinopel. Niemand 18 Vor Adrianopel: Eun. hist. fr. 42; Sokr. 4,38,1–5; Soz. 6,39,2; Zos. 4,22,1–3; Johan. Ant. fr. 277. Vgl. François Paschoud, in: Zosime, Histoire nouvelle. Texte établi et traduit, Bd. II 2. (Collection des Universités de France.) Paris 1979, 378f.; Noel Lenski, Failure of Empire. Valens and the Roman State in the Fourth Century A.D. Berkeley u. a. 2002, 335f. mit Anm. 94. Nach Adrianopel: Amm. 31,16,4–7; Sokr. 5,1; Consul. Constant. s. a. 378; Soz. 7,1,1f. Trotz der Aufregung in der Stadt vermochte Valens die militärische Lage mit Hilfe einiger mitgebrachter sarazenischer Hilfstruppen schnell zu stabilisieren und zur entscheidenden Begegnung mit dem Feind auszuziehen. Nach der Schlacht reichten die Konstantinopolitaner, gerüstet mit improvisierten Waffen und bezahlt aus der kaiserlichen Kasse, und die Sarazener völlig aus, die Barbaren aus der Umgebung der Stadt zu vertreiben. 19 Claud. Ruf. 2,70–75; Zos. 5,5,4f. Zu Alarichs mutmaßlichen Forderungen vgl. J. H. W. G. Liebeschuetz, Barbarians and Bishops. Army, Church, and State in the Age of Arcadius and Chrysostom. Oxford 1990, 57f.; Thomas S. Burns, Barbarians within the Gates of Rome. A Study of Roman Military Policy and the Barbarians, ca. 375–425 A.D. Bloomington u. a. 1994, 166. Sobald der erste Minister Rufinus einen annehmbaren Vorschlag gemacht hatte, zog Alarich unverzüglich ab. 20 Zos. 5,14,1f.; 17,3–18,1. Vgl. Gerhard Albert, Goten in Konstantinopel. Untersuchungen zur oströmischen Geschichte um das Jahr 400 n. Chr. (Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums NF I 2.) Paderborn u. a. 1984, 102. 21 Die Truppen an der persischen Grenze, die später unter Fravittas Führung Gainas vernichten sollten, waren im Moment schlicht zu weit entfernt. Vgl. Alan Cameron/Jacqueline Long (with Lee Sherry), Barbarians and Politics at the Court of Arcadius. (The Transformation of the Classical Heritage 19.) Berkeley u. a. 1993, 224–226, 325. Cameron, 230f., geht meiner Meinung nach jedoch zu weit, wenn er selbst für dieses späte Stadium eine Kooperation zwischen Gainas und Tribigild bestreitet, gegen die Quellen.
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am Hof erwog eine Verteidigung der Stadt. Der Kaiser hatte recht früh aufgesteckt – immerhin hatte Gainas noch nicht einmal den Bosporus überschritten –, aber wir sind nicht wirklich in der Position, die Aussichten für gewaltsamen Widerstand auf den Mauern besser einzuschätzen als die Zeitgenossen.22 Die Besetzung endete zwar schon nach wenigen Monaten, aber die Erinnerung an die Machtlosigkeit des Sommers 400 machte dem zivilen Establishment Konstantinopels sicher noch einige Zeit zu schaffen. Im Jahr 405 sorgte der Prätorianerpräfekt Anthemios, damals wohl der einflussreichste Mann des Reiches, für Abhilfe. Er ließ eine neue Mauer zwischen Goldenem Horn und Propontis errichten, welche die gleiche Funktion erfüllte wie die Konstantinische Mauer. Aber sie lag etwa knapp 1,5 Kilometer weiter im Westen, in günstigerem, höhergelegenem Terrain, und wurde deutlich besser befestigt. 413 waren die etwa sechseinhalb Kilometer langen Mauern, die Theodosianischen, fertiggestellt.23 An besonders gefährdeten Stellen waren Gräben angelegt, bis zu 20 Meter breit und bis zu sieben Meter tief. Die Mauern selbst waren durchgängig: An den acht Meter hohen Außenwall mit 92 kleineren Türmen und an einen kleinen Zwischenraum schloss
22 Zos. 5,18,4–9; Sokr. 6,6,7–12; Soz. 8,4,3–5; [Mart.] 48; Philost. 11,8; Eun. hist. fr. 67,11. Als Gainas und seine Goten etwa zehn Wochen später die Hauptstadt verließen, kam es zu einer spontanen Auseinandersetzung zwischen den Goten auf der einen Seite und den Stadtbewohnern und Gardesoldaten auf der anderen. In deren Verlauf gelang es den Römern, die Tore zu schließen und gegen diejenigen Germanen zu behaupten, welche die Stadt bereits verlassen hatten, nun aber ihren zurückgebliebenen Landsleuten zu Hilfe eilten (Zos. 5,19,3; Sokr. 6,6,26). Der ungeordnete Kampf – die Goten hatten ihre Familien bei sich, und ihnen standen keine Belagerungsmaschinen zur Verfügung – lässt sich aber nicht mit der vorbereiteten Erstürmung oder Belagerung vergleichen, die Arkadios und seine Berater im April wohl befürchtet hatten. Als Gainas später Thrakien plünderte, versuchte er nicht einmal die Städte anzugreifen, als er sah, dass sie wohlbefestigt und gut verteidigt waren (Zos. 5,19,6f.). Doch einige Monate zuvor, als es um Konstantinopel ging, mag ihm Belagerungsgerät zur Verfügung gestanden haben, das ihm nun fehlte. 23 Sokr. 7,1,3; ILS 5339. Die Communis opinio ging seit dem Aufsatz von Paul Speck, Der Mauerbau in 60 Tagen. Zum Datum der Errichtung der Landmauer von Konstantinopel mit einem Anhang über die Datierung der Notitia urbis Constantinopolitanae, in: Hans-Georg Beck (Hrsg.), Studien zur Frühgeschichte Konstantinopels. (Miscellanea Byzantina Monacensia 14.) München 1973, 135–178, 227, hier 135–143, dahin, dass die Mauer 408 oder bald danach begonnen und 413 fertiggestellt wurde. Dazu passte gut, dass 408 ein Hunneneinfall in Thrakien zwar früh scheiterte, aber zweifellos die Gefährdung der Hauptstadt einmal mehr in Erinnerung rief (Cod. Theod. 5,6,3; Soz. 9,5; vgl. Kenneth G. Holum, Theodosian Empresses. Women and Imperial Dominion in Late Antiquity. [The Transformation of the Classical Heritage 3.] Berkeley u. a. 1982, 88f.; William N. Bayless, The Preatorian [sic!] Prefect Anthemius: Position and Policies, in: Byzantine Studies 4, 1977, 38–51, hier 47f.). Eine neuentdeckte Bauinschrift bezeugt jedoch eine neunjährige Bauzeit (Denis Feissel, BÉ Nr. 720, in: REG 108, 1995, 566–568, hier 567). Da das Jahr 413 durch Cod. Theod. 15,1,51 gesichert ist, bleibt nur, den Beginn entsprechend vorzuverlegen, in das erste Jahr von Anthemios’ Prätorianerpräfektur. Vgl. Wolfgang Dieter Lebek, Die Landmauer von Konstantinopel und ein neues Bauepigramm (Θευδοσίου τόδε τεῖχος), in: EA 25, 1995, 107–154, hier 112–114, 117.
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sich die Hauptbefestigung an, die Innenmauern, elf Meter hoch, knapp fünf Meter dick, mit etwa 95 Türmen in Abständen von 40 bis 60 Metern.24 Die neuen Mauern bezogen das bislang eigenständige Blachernai in die Stadt ein, vor allem aber erweiterten sie die Fläche erheblich und trugen so dem Wachstum Konstantinopels Rechnung. Aber das trifft nicht in dem Sinne zu, dass die Bevölkerung dringend neuen Wohnraums bedurft hätte: Die durchgängige Besiedlung blieb im fünften und sechsten Jahrhundert (und das gesamte Mittelalter hindurch) auf das Areal innerhalb der Konstantinischen Mauern beschränkt. Weiter draußen entstanden nur wenige Vorstädte, statt dessen prägten grüne Landschaften die Außenbezirke, in die ein gelegentliches Kloster, Villen und Güter der Elite, Friedhöfe, Gärten und Zisternen eingelassen waren. Anthemios hatte freilich kaum die Schaffung eines Naherholungsgebiets vorgeschwebt. Eine Erklärung für den Befund mag schlicht darin liegen, dass die Stadtbevölkerung nicht so stark wuchs wie vermutet. Cyril Mango hat noch ein anderes Motiv wahrscheinlich gemacht, und dieses hat mit den Zisternen zu tun. Die drei riesigen, offenen Wasserspeicher Konstantinopels wurden im fünften Jahrhundert erbaut, und sie befanden sich alle zwischen den beiden Mauerringen. Einen topographischen Nachteil hatte Konstantinopel nämlich: Die natürlichen Wasserreserven reichten für die rasch wachsende Bevölkerung bei weitem nicht aus. Ein ausgeklügeltes System von Aquädukten – das längste der römischen Welt! – und zahlreiche kleinere, geschlossene Zisternen wirkten dem Mangel entgegen. Das Gelände für die neuen offenen Zisternen lag aber, wie schon gesagt, höher, was nicht nur die Befestigungen abweisender machte, sondern auch die Wasserversorgung der bewohnten Gebiete erleichterte. Zudem gab es in dem neuerschlossenen Gebiet genügend freie Fläche. Eine Anlage weiter im Stadtzentrum, auf den meist dichtbesiedelten Hügeln, hätte Schwierigkeiten gemacht. Vor allem aber verschafften die neuen Zisternen Konstantinopel eine Wasserreserve, die es zuvor nicht gehabt hatte. Starke Mauern helfen wenig, wenn die Belagerten dahinter verdursten. Und da auf den Wiesen Nutztiere weiden konnten, wurde sogar die Lebensmittelversorgung in Notzeiten verbessert.25 24 Vgl. Janin, Constantinople (wie Anm. 14), 265–283; Neslihan Asutay-Effenberger, Die Landmauer von Konstantinopel-İstanbul. Historisch-topographische und baugeschichtliche Untersuchungen. (Millennium-Studien 18.) Berlin u. a. 2007, 1–5, 13–35, 61–106, 148–169; Wolfgang Müller-Wiener, Bildlexikon zur Topographie Istanbuls. Byzantion – Konstantinupolis – Istanbul bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts unter Mitarbeit von Renate und Wolf Schiele mit einem Beitrag von Nezih Fıratlı. Tübingen 1977, 286f., 297, 301. Unverzichtbar ist die Baubeschreibung von B. Meyer-Plath/A. M. Schneider, Die Landmauer von Konstantinopel, Bd. 2: Aufnahme, Beschreibung und Geschichte. (Denkmäler antiker Architektur 8.) Berlin 1943, 22–95. Einen ausgezeichneten Eindruck von der Anlage vermitteln die Zeichnungen von Fritz Krischen, Die Landmauer von Konstantinopel, Bd. 1: Zeichnerische Wiederherstellung mit begleitendem Text. Lichtbilder von Theodor von Lüpke. (Denkmäler antiker Architektur 6.) Berlin 1938. 25 Vgl. Cyril Mango, Le développement urbain de Constantinople (IVe-VIIe siècles). (Travaux et Mémoires du Centre de Recherche d’Histoire et Civilisation de Byzance, Monographies 2.) 3. Aufl. Paris 2004, 42, 46–50. Die Zisternen sind die von Aetius (421), von Aspar (459) und bei der Mokioskirche (unter Anastasios). Vgl. James Crow/Jonathan Bardill/Richard Bayliss,
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Die Theodosianischen Mauern stärkten also in mehr als einer Hinsicht die Verteidigungsfähigkeit der Stadt. Funktionen, die für andere Großstädte das Hinterland übernahm, hatte Konstantinopel zu einem guten Teil ‘eingemeindetʼ. Gemüse und Obst wurden natürlich auch aus dem Hinterland bezogen, aber innerhalb der Mauern standen wenigstens zwei bis drei Quadratkilometer für den Anbau zur Verfügung.26 Ohnehin war die Stadt schon seit dem vierten Jahrhundert viel zu groß, als dass sie selbst im Frieden vollständig aus dem Hinterland ernährt hätte werden können. Über längere Strecken transportfähige Güter wurden von weither in die Hauptstadt gebracht: Nur ein kleiner Teil des Getreides stammte aus der Region, das Gros wurde auf dem Seeweg eingeführt, vor allem aus Ägypten.27 Zurück zu den neuen Mauern: Der erste Test ließ auf sich warten. Der Hunnenkönig Rua drohte 422 zwar mit einer Belagerung, doch es blieb bei der Geste, die Hunnen gaben sich mit einem Friedensvertrag und jährlichen Subsidien zufrieden. Es wäre verständlich, wenn Theodosios II. die Festigkeit der nach ihm benannten Mauern lieber nicht erproben wollte (zumal die römischen Truppen durch einen Perserkrieg gebunden waren, der nun eilig beendet werden musste) und deshalb einlenkte. Andererseits traf die Regierung danach keinerlei Anstalten, die Fortifikationen weiter zu stärken, was doch zu erwarten gewesen wäre, hätte die Sicherheit Konstantinopels immer noch als prekär gegolten. Ich halte es daher für wahrscheinlicher, dass Theodosios weniger die potentielle Belagerung schreckte als die gerade stattfindenden Plünderungen in Thrakien.28 Als Geiserich 439 Karthago einnahm und im Hafen zahlreiche Kriegsschiffe in seine Gewalt brachte, endete nach einem halben Jahrtausend die uneingeschränkte römische Seeherrschaft im Mittelmeer. Wahrscheinlich in Reaktion darauf befahl Theodosios II., Konstantinopel auch zum Meer hin zu befestigen.
The Water Supply of Byzantine Constantinople. With Additional Contributions by Paolo Bono and with the Assistance of Dirk Krausmüller and Robert Jordan. (Journal of Roman Studies Monograph 11.) London 2008, bes. 122f., 128–132; Kâzım Çeçen, The Longest Roman Water Supply Line. o. O. 1996, bes. 28–41; Müller-Wiener, Bildlexikon (wie Anm. 24), 278f.; Janin, Constantinople (wie Anm. 14), 201–205. 26 Vgl. Johannes Koder, Fresh Vegetables for the Capital, in: Cyril Mango/Gilbert Dagron (mit Geoffrey Greatrex) (Hrsgg.), Constantinople and its Hinterland. Papers from the TwentySeventh Spring Symposium of Byzantine Studies. Oxford, April 1993. (Society for the Promotion of Byzantine Studies Publications 3.) Aldershot 1995, 49–56, hier 51–54. Für das Hinterland kalkuliert Koder mit wenigstens 12 Quadratkilometern einschließlich der asiatischen Gegenküste. 27 Jean Durliat, Lʼapprovisionnement de Constantinople, in: Mango/Dagron, Constantinople (wie Anm. 26), 19–33, hier 23–25. 28 Theod. HE 5,37,4; Marcell. chron. II p. 75; Olymp. fr. 27; Prisk. fr. 2. Die schwachen Indizien für die Ereignisse von 422 hat Brian Croke, Evidence for the Hun Invasion of Thrace in A.D. 422, in: GRBS 18, 1977, 347–367, hier 347–355, 358–367, analysiert und in einen schlüssigen Zusammenhang gebracht.
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Diese Seemauern schützten wohl nicht das komplette Ufer, sondern nur die Abschnitte, die man für besonders gefährdet hielt.29 Damit war die Fortifikation der Stadt abgeschlossen. In Zukunft wurden die vorhandenen Mauern nur noch ergänzt oder erneuert. Das konnte freilich erheblichen und plötzlichen Aufwand erfordern: 447 zerstörte ein heftiges Erdbeben weite Teile der Land- und Seemauern, insbesondere den Außenwall, und die Hunnen fielen in Thrakien ein – das war wohl kein Zufall, vermutlich hatte erst die Nachricht von der Zerstörung die Feinde auf den Plan gerufen. Eilig wurde Zenon herbeibefohlen, der Heermeister des Ostens, damit er mit seinen isaurischen Truppen die Stadt decke. Gleichzeitig ließ der Prätorianerpräfekt Konstantinos in der Rekordzeit von 60 Tagen die Mauern wiederherstellen, unterstützt von der Bevölkerung (darunter die Zirkusparteien). Einwohner wie Regierung waren sich der strategischen Bedeutung der Mauern sehr wohl bewusst.30 479 trat eine ähnliche Situation ein, aber verschärft dadurch, dass ein Usurpationsversuch die Stadt ins Chaos gestürzt hatte. Ende September hatte ein verheerendes Erdbeben die Mauern heftig beschädigt, alle Türme sollen zusammengebrochen sein. Kaiser Zenon rief eilig seinen fähigsten Feldherrn, den magister officiorum Illus, aus Isaurien zurück. Aber gerade Illus’ Ankunft führte zu einer innenpolitischen Krise, die ein paar Wochen später in einem Usurpationsversuch des Heermeisters Markian gipfelte. Illus gelang es, den Aufstand mit isaurischen Truppen niederzuschlagen. Dann aber trat ein, was Zenon befürchtet hatte. Der Gotenführer Theoderich Strabo suchte die Situation zu nutzen. Acht Jahre früher hatte er sich schon einmal gegen Konstantinopel gewandt, war aber zurückgeschlagen worden, offenbar noch ehe er die Mauern erreichte. Diesmal rechnete er 29 Chron. Pasch. p. 583. Den Zusammenhang mit dem Fall Karthagos sah schon Bury, History (wie Anm. 3), Bd. 1, 254. Theodosios ordnete zwar eine vollständige Umschließung an, aber noch bei der Belagerung von 626 scheint die dem Goldenen Horn zugewandte Seite ohne Mauern gewesen zu sein. Sichere Reste der Theodosianischen Seemauern sind bislang nicht gefunden worden, hinzu kommt das Problem, dass Erdaufschüttungen die Küstenlinie schon in der Spätantike deutlich verschoben haben. Verlauf und Ausdehnung der Seemauern bleiben daher ungewiss. Vgl. Cyril Mango, The Shoreline of Constantinople in the Fourth Century, in: Nevra Necipoǧlu (Hrsg.), Byzantine Constantinople. Monuments, Topography and Everyday Life. (The Medieval Mediterranean 33.) Leiden u. a. 2001, 17–28; ders., Développement (wie Anm. 25), 25 Anm. 12; K. R. Dark, The Eastern Harbours of Early Byzantine Constantinople, in: Byzantion 75, 2005, 152–163; Whitby/Whitby, Chronicon Paschale (wie Anm. 12), 72. Zur Überlieferung Speck, Mauerbau (wie Anm. 23), 137f. 30 ILS 823; Anth. Gr. 9,690f.; Feissel, BÉ (wie Anm. 23), 567; Marcell. chron. II p. 82; Chron. Pasch. p. 586; Callin. Vita Hyp. 52,3–8; Evagr. hist. 1,17; Patr. Const. I 73; II 58; Nest. Her. p. 321f. Zenon: Prisk. fr. 14. Vgl. Brian Croke, Two Early Byzantine Earthquakes and their Liturgical Commemoration, in: Byzantion 51, 1981, 122–147, hier 131–140; Speck, Mauerbau (wie Anm. 23), 139f.; Alan Cameron, Circus Factions. Blues and Greens at Rome and Byzantium, Oxford 1976, 111f.; Gilbert Dagron, Naissance d’une capitale. Constantinople et ses institutions de 330 à 451. (Bibliothèque byzantine Études 7.) 2. Aufl. Paris 1984, 356f. Die Debatte um den Charakter von Konstantinos’ Maßnahme (Wiederaufbau oder Ersterrichtung des Außenwalls) ist neu entbrannt: Lebek, Landmauer (wie Anm. 23), 107–153; AsutayEffenberger, Landmauer (wie Anm. 24), 35–61. Vgl. dazu meine Bemerkungen in einer Besprechung der letztgenannten Arbeit, in: JRA 23, 2010, 793–798, hier 794f.
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auf mehr Erfolg: Die Mauern waren noch nicht instand gesetzt, die Lage in Konstantinopel unübersichtlich. Strabo hoffte, ob zu Recht oder zu Unrecht, auf die Unterstützung des Volkes gegen die unbeliebten Isaurier. Darauf war sein Auftreten abgestimmt: Er erschien nicht als Feind, sondern als Helfer von Kaiser und Stadt. Zenon konnte auf derartige Unterstützung gut verzichten, dankte dem Goten für seine Bemühungen und befahl ihm abzuziehen, zur Vermeidung neuer Unruhen. Strabo ging sein Vorwand abhanden, er spielte aber auf Zeit und erklärte, seine Leute bräuchten erst einmal etwas Ruhe. Mit Geld, Versprechungen von Geld und Drohungen gelang es Zenon schließlich, die Goten zu überreden. Zu diesem Erfolg trug zweifellos der Umstand bei, dass die Isaurier zu allem entschlossen waren und angeblich die Stadt lieber in Brand stecken als aufgeben wollten. An ihrer Schlagkraft und am Einsatz des Volkes hätte sich entschieden, ob Konstantinopel damals, Ende 479, wirklich hätte besetzt werden können. Dass es diese Möglichkeit überhaupt gab, lag aber nur an der Funktionsuntüchtigkeit der Befestigungen.31 481 griff Theoderich Strabo Konstantinopel ein drittes Mal an: Leicht hätte er die Kaiserstadt eingenommen, so berichtet Johannes von Antiocheia – wenn nicht Illus die Tore gesichert hätte. Strabo hatte offenbar einen Überraschungsangriff versucht. Die Fortifikationen waren inzwischen wiederhergestellt. Von Sykai, also von jenseits des Goldenen Horns her, machte er einen zweiten Versuch. Der Übergang scheiterte. Dann verlegte Strabo sich auf Kleinasien. Doch die Römer behielten in einem Seegefecht die Oberhand und hinderten die Goten an der Überquerung des Bosporus. Endlich hatte Strabo genug und zog nach Westen ab, nur um dort wenig später bei einem Unfall sein Leben zu verlieren.32 Der andere Theoderich, der spätere König Italiens, versuchte sich nur einmal an der Stadt. 487 besetzte er Rhegion, etwa 18 Kilometer westlich von Konstantinopel, und verwüstete von dort aus die Umgegend. Den Höhepunkt des Zugs stellte die Besetzung Sykais dar. Theoderich hatte aus dem Fehler seines Vorgängers gelernt und begann gar nicht erst einen direkten Angriff. Stattdessen unterbrach er einen der Aquädukte, die ins Hinterland führten. Dies war der Moment, in dem sich die Anlage der großen Zisternen auszahlte. Zenon erkaufte sich zwar den Abzug Theoderichs und lieferte ihm dessen Schwester aus. Aber das tat er nicht aus existentieller Not, sondern, wie so oft in diesen Jahren, weil er die Plünderungen Thrakiens beenden wollte. Malalas sagt ausdrücklich, dass Theoderich dem Kaiser nicht zu schaden vermochte. Die Konstantinopolitaner hatten damals längst unerschütterliches Vertrauen in die Festigkeit der Wälle entwickelt. Im Jahr
31 Johan. Ant. fr. 303; Malch. fr. 22; Chronogr. M. fr. 2; Theoph. a. m. 5970 (p. 125f.); Marcell. chron. II p. 92. 471: Theoph. a. m. 5964 (p. 117). 32 Johan. Ant. fr. 303; Marcell. chron. II p. 92. Nach Evagr. hist. 3,25 und Theoph. a. m. 5970 (p. 126) brach Strabo den Angriff ab, als er erfuhr, dass einige seiner Verwandten seine Ermordung planten (auf Zenons Anstiftung hin?). Das lässt sich mit der Version Johannes’ von Antiocheia vereinbaren. Zu Strabos Beweggründen für den Angriff vgl. P. J. Heather, Goths and Romans 332–489. (Oxford Historical Monographs.) Oxford 1991, 298.
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darauf überredete Zenon den Goten, nach Italien zu ziehen – zum beiderseitigen Vorteil.33 Kaiser Anastasios hatte gegen Ende seiner Regierung mit einem gefährlichen Aufstand in Thrakien zu kämpfen. Der Anführer war der comes foederatorum Vitalian, der über beträchtliches militärisches Können verfügte und die kaiserlichen Heere mehr als einmal besiegte. Vitalian usurpierte nicht, sondern erhob zwei Forderungen: Anastasios müsse seine miaphysitenfreundliche Kirchenpolitik im chalkedonischen Sinne ändern und das Unrecht wiedergutmachen, das die Soldaten in Thrakien von ihren kommandierenden Offizieren erfahren hatten (es ging unter anderem um gekürzte Naturalleistungen). Tatsächlich lag auf dem Balkan einiges im Argen, denn Vitalian gelang es binnen kürzester Zeit, ein gigantisches Aufgebot von angeblich 50 000 Soldaten und Provinzialen aus dem Boden zu stampfen. Dreimal marschierte er auf Konstantinopel. 513 umschloss er die Landmauern von See zu See, er selbst rückte auf das Goldene Tor vor. Dann aber wurde verhandelt, mit Geld und guten Worten brachte der Kaiser den Rebellen binnen einer Woche zum Abzug. Bei seinem zweiten Versuch, im Jahr darauf, besetzte Vitalian mit einer Land- und Seestreitmacht das Sosthenion, einen Ort am mittleren Bosporus. Ohne weiter vorzudringen, akzeptierte er sofort Gespräche. Wieder erkaufte Anastasios den Frieden, diesmal verbunden mit Vitalians Ernennung zum Heermeister Thrakiens. Das dritte Mal, 515, bezog Vitalian ebenfalls beim Sosthenion sein Standquartier. Es kamen aber keine kaiserlichen Boten, dafür ein paar Verräter. Wahrscheinlich gegen seine ursprüngliche Absicht, dafür von neuen Hoffnungen getrieben, stieß Vitalian zu Wasser und zu Land nach Süden vor. Doch Anastasios war wohlgerüstet: Bei Sykai, also noch vor dem Goldenen Horn, stellten sich den Rebellen kaiserliche Truppen entgegen, die Schiffe wurden, als sie den südlichen Ausgang des Bosporus passieren wollten, attackiert und zum Rückzug gezwungen. Vitalian bekam Konstantinopel nicht einmal zu sehen. Er floh Hals über Kopf, sogar die Toten und Verletzten ließ er zurück. Er war nicht entscheidend besiegt und behauptete sich über Anastasios’ Tod hinaus in Thrakien. Gegen die Stadt ging er aber nie mehr vor. Vitalian verstand etwas vom Kriegführen, und er kommandierte eine zwar in weiten Teilen ungeübte, aber dennoch überlegene Streitmacht. Dennoch verzichtete er 513 und 514 auf jeden Angriff auf die Befestigungen. Offenbar hielt er eine solche Attacke für aussichtslos. Unterstützung in der Stadt besaß er nicht, über geeignete Belagerungsmaschinen, sofern solche überhaupt existierten, verfügte er nicht. Vitalian wollte mit seinen beiden Vorstößen Eindruck machen und den Kaiser unter Druck setzen, an eine Erstürmung Konstantinopels dachte er nicht. Erst 515, als Anastasios nicht mehr verhandeln wollte, legte er es doch noch auf eine direkte Attacke an. Das bedeutet aber nicht, dass er die Fortifikationen plötzlich für überwindbar hielt. Vitalian setzte, zu Unrecht, auf Verrat.
33 Mal. XV 9; Johan. Ant. fr. 306; Johan. Nik. 88,48f.; Marcell. chron. II p. 93; Theoph. a. m. 5977 (p. 131). Zenon richtete generell auf die Wasserversorgung Konstantinopels besonderes Augenmerk: Cod. Iust. 11,43,8–10; 12,3,3,1; 3,4,1.
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Was Anastasios betrifft, fragt sich, warum er zunächst überhaupt Zugeständnisse machte, wenn die Stadt doch uneinnehmbar war. Er musste keineswegs, wie Mommsen glaubte, „jede Bedingung annehmen, die Vitalianus zu stellen beliebte“.34 Die Zeiten eines Arkadios waren vorbei. Trotzdem soll der Kaiser es mit der Angst zu tun bekommen haben, anstatt Vitalians Übungen in der Umgebung entspannt zuzusehen. Doch ebenso wenig wie Theodosios II. und Zenon durfte er einen Feind vor den Mauern ignorieren, auch wenn dieser Konstantinopel selbst nichts anhaben konnte. Vitalian beherrschte das Umland und plünderte es, Anastasios saß in der Stadt und konnte wenig ausrichten. Das tat dem Image des Kaisers nicht gut, bei einer längeren Fortdauer dieses Stand-offs bestand die Gefahr, dass Anastasios’ Rückhalt bei den Akzeptanzgruppen bröckelte. Auf diesem indirekten Weg vermochte Vitalian Konstantinopel nicht zu erobern, aber den Kaiser zu schwächen. Deshalb verhandelte Anastasios, deshalb vergaß er seine Versprechungen, sobald Vitalian abgerückt war. Erneute Märsche an den Bosporus nahm er damit in Kauf. Sie bedeuteten einen gewissen Gesichtsverlust und ein mittelfristiges Risiko, aber keine unmittelbare Gefahr für den Thron.35 Im weiteren sechsten Jahrhundert führten die ruhigeren Zeitläufte dazu, dass sich kein Feind mehr an der Stadt selbst erprobte. Nur die Langen Mauern wurden angegriffen. Diese bildeten eine weitere Fortifikation, welche Anastasios etwa 65 Kilometer westlich von Konstantinopel hatte errichten lassen. Sie liefen auf 56 Kilometern von Küste zu Küste, von der Propontis bis zum Schwarzen Meer. Die Mauern erreichen, abhängig vom Gelände, heute noch eine Höhe von zwei bis fünf Metern, ursprünglich waren sie vielleicht bis zu zehn Metern hoch. Gräben waren nicht durchgängig vorhanden, Türme in unregelmäßigen Abständen eingelassen; einige Forts schützten besonders gefährdete Partien.36 Sie bildeten einen
34 Theodor Mommsen, Bruchstücke des Johannes von Antiochia und des Johannes Malalas, in: Hermes 6, 1872, 323–383, hier 356. 35 Johan. Ant. fr. 311; Marcell. chron. II p. 98f.; Mal. 16,16; Vict. Tunn. s. a. 514; Evagr. hist. 3,43; Anth. Gr. 15,50; 16,347; 350. Vor Vitalians erstem Marsch auf die Stadt ließ Anastasios über den Stadttoren Bronzekreuze anbringen, die Aufschriften mit den aus seiner Sicht tatsächlichen Gründen für den Aufstand trugen. Diese Kreuze müssen außen angebracht gewesen sein, um auf die Angreifer zu wirken, sie dienten nicht, wie die Forschung einhellig annimmt, der Propaganda in Konstantinopel. Dafür wären die Stadttore ein arg peripherer Ort gewesen (Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches. Stuttgart 2009, 298, erkennt dies indirekt an, wenn er von öffentlich ausgehängten Pamphleten spricht, aber das gibt der Text Johannes’ von Antiocheia nicht her). Vgl. insgesamt zu Vitalian Meier, Anastasios, 295–311; F. K. Haarer, Anastasius I. Politics and Empire in the Late Roman World (Arca 46.) Cambridge 2006, 164–179 (mit Lit.); Bury, History (wie Anm. 3), Bd. 1, 447–452; Ernest Stein, Histoire du Bas-Empire, Bd. 2: De la disparition de l’Empire d’Occident à la mort de Justinien (476–565). Publié par Jean-Remy Palanque. Paris u. a. 1949, 178–185. 36 Eine Bestandsaufnahme der Reste geben James Crow/Alessandra Ricci, Investigating the Hinterland of Constantinople: Interim Report on the Anastasian Long Wall, in: JRA 10, 1997, 235–262, hier 236–253. Die Abschlusspublikation des ‘Anastasian Wall Project’ steht noch aus, vgl. einstweilen http://www.shc.ed.ac.uk/projects/longwalls. Zur Datierung vgl. Brian Croke, The Date of the ‘Anastasian Long Wall’ in Thrace, in: GRBS 23, 1982, 59–78, hier
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zusätzlichen Wall um Konstantinopel, einen, der das suburbane Gebiet sicherte und eine erste Herausforderung für Feinde darstellte, die zum Bosporus strebten. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Die Mauern an sich waren durchaus überwindbar, und die ausgedehnte Länge machte, wie schon Prokop kritisierte, eine gleichmäßig dichte Bemannung schwierig; meist wurden die Langen Mauern ad hoc geschützt. Das konnten die Römer sich leisten, weil diese Anastasianischen Mauern nicht als undurchdringliche Barriere gedacht waren, sondern als (formidables) Annäherungshindernis. Die eigentliche Bedeckung stellten nach wie vor die Theodosianischen Mauern dar.37 Bei den Umstürzen von 602 und 610 kamen die Usurpatoren zwar von außen, aber die Stadt wurde nicht erstürmt, sondern begrüßte freiwillig den neuen Kaiser. 623 stellten die Awaren Herakleios eine Falle, als dieser zum Friedensschluss nach Selymbria, bei den Langen Mauern, kam. Der Kaiser entkam, mit der Krone unter dem Arm, aber der Überraschungsschlag führte die Awaren an die Theodosianischen Mauern. Sie begnügten sich jedoch mit der Verwüstung einiger außerhalb liegender Kirchen, einen Sturm auf die Stadt versuchten sie nicht, sie waren dafür auch gar nicht ausgerüstet.38 Drei Jahre später, 626, war dies anders. Die Awaren schlossen die Stadt ein, während die Perser das gegenüberliegende Bosporusufer besetzten. In einer zehntägigen Belagerung überstanden die Befestigungen diese schwerste Prüfung glänzend. Konstantinopel war uneinnehmbar.39
59–74; anders Michael Whitby, The Long Walls of Constantinople, in: Byzantion 55, 1985, 560–583 (letzte Jahre Theodosios’ II., gegen 450). 37 Prok. aed. 4,9,6–13; Prok. Gaza Anast. 21; Evagr. hist. 3,38; Chron. Pasch. p. 610. Die Justinianische Instandsetzung und Verbesserung schützte in erster Linie die Wächter – wenn der Feind bereits auf die Innenseite der Langen Mauern gelangt war! James G. Crow, The Long Walls of Thrace, in: Mango/Dagron, Constantinople (wie Anm. 26), 109–124, hier 122, bewertet die Effektivität der Mauern ähnlich wie ich. Günstiger urteilen Haarer, Anastasius (wie Anm. 35), 108f., und Meier, Anastasios (wie Anm. 35), 142f. Croke, Date (wie Anm. 36), 69–71, und Crow/Ricci, Hinterland (wie Anm. 36), 239f., stellen die Invasionen zusammen, bei denen die Langen Mauern eine Rolle spielten. Als ein Erdbeben 559 die Langen Mauern teilweise zum Einsturz brachte, ließ Justinian sie und die Stadtmauern mit allem, was er aufzubieten hatte, gegen die angelockten Kotriguren und Slawen bemannen; Belisar verhinderte einen Angriff auf die Stadt (Theoph. a. m. 6051 [p. 233f.]; Const. Porph. exped. milit. p. 138–140 [p. 497f. Reiske]; Agath. hist. 5,11,1–25,6). 584 und 598 sicherte Kaiser Maurikios die Langen Mauern persönlich gegen Slawen und Awaren. Zu Kämpfen an den Mauern oder gar vor der Stadt kam es jedoch nicht (Theoph. Sim. hist. 1,7,2; 7,15,7; Theoph. a. m. 6076 [p. 254]). 38 Chron. Pasch. p. 712f.; Nikeph. brev. 10; Theoph. a. m. 6110 (p. 301f.); Theod. Sync. dep. 2– 4; obsid. 10 (p. 301); Isid. chron. II p. 490. 39 Chron. Pasch. p. 716–726; Nikeph. brev. 13; Georg. Pis. Avar.; Theod. Sync. obsid. 7–37 (p. 300–313); Theoph. a. m. 6117 (p. 315f.); 6118 (p. 323f.); Seb. 38 (p. 123). Vgl. James D. Howard-Johnston, The Siege of Constantinople in 626, in: Mango/Dagron, Constantinople (wie Anm. 26), 131–142; F. Barišić, Le siège de Constantinople par les Avares et les Slaves en 626, in: Byzantion 24 (1954), 371–395; Walter Pohl, Die Awaren. Ein Steppenvolk in Mitteleuropa 567–822 n. Chr. (Frühe Völker.) 2. Aufl. München 2002, 248–255; Whitby/Whitby, Chronicon Paschale (wie Anm. 12), 170–181.
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Seit der Fertigstellung der Theodosianischen Mauern konnte die Stadt, wenn ihre Bewohner einig waren und sich nur halbwegs umsichtig verteidigten, nicht mehr erobert werden. Das ist natürlich in der Forschung oft gesehen worden.40 Damit ist das Entscheidende aber noch nicht gesagt. Denn die Uneinnehmbarkeit und bald auch das Wissen darum prägten das soziopolitische System und das Selbstbewusstsein der Bewohner wesentlich. Wegen der unbezwingbaren Wälle bezog sich das Akzeptanzsystem der Spätantike in viel stärkerem Maße auf Konstantinopel als das des Prinzipats auf Rom. So bildete sich die Tradition aus, wonach Herrscher nur der war, der in der Stadt saß und sie kontrollierte. Gleichzeitig konnte der Kaiser von außen nicht gestürzt oder vertrieben werden. Deshalb zählten die Feldarmee und die sonstigen Untertanen wenig im Vergleich zu den Konstantinopolitanern. Diese allein waren die Kaiserstürzer und die Kaisermacher. Konstantinopel war eine politische Welt für sich. Auf Erschütterungen von außen reagierte sie nur, wenn derlei Störungen den Wünschen und Bedürfnissen wenigstens einer Akzeptanzgruppe entgegenkamen. 3. EIN ERSTES BEISPIEL: BASILISKOSʼ RELIGIONSPOLITIK FÜR DAS REICH Wie schlug sich die strukturelle Trennung des Reichs von Konstantinopel nun in konkreten politischen Entscheidungen nieder? Ich will das an zwei Beispielen erläutern, an einer religionspolitischen Auseinandersetzung und an einer Usurpation. Die Religionspolitik eignet sich besonders gut zur Illustration, denn der rechte Glaube ging jeden Christen an, egal, wer er war, ob er im Fayum lebte, an der Donau oder in Konstantinopel. Da die Zufälligkeit der Geographie – drinnen oder draußen – für die Sache also keine Rolle spielte, sind politische Unterschiede in erster Linie auf die Bedingungen des Akzeptanzsystems zurückzuführen. Durch und nach dem Konzil von Chalkedon 451 hatte sich der schon länger ausgetragene Streit um die Natur Christi zu einer religiösen Spaltung vertieft. Der Bischof von Rom und mit ihm der Westen, Kaiser Markian, weite Teile des Balkans und Kleinasiens bekannten sich zu dem Konzil und seiner ausgleichenden Lehre von den zwei Naturen in Christus, der gleichermaßen wahrer Gott und wahrer Mensch gewesen sei. Verworfen wurde in Chalkedon dagegen die miaphysitische Richtung, welche die göttliche Natur weit stärker betonte. Dieses Bekenntnis überwog im Nahen Osten, mit Syrien und Ägypten als Schwerpunkten. In Konstantinopel gab es eine miaphysitische Gemeinde, gegen die Übermacht der chalkedonischen Bevölkerung konnte sie sich aber kaum Gehör verschaffen. Der Streit war nicht bloß ein Problem der Kirche, sondern eins des ganzen Reiches und besonders des Kaisers. Dies nicht nur, weil die teils gewaltsam ausgetragenen Auseinandersetzungen den öffentlichen Frieden gefährdeten, sondern 40 Vgl. etwa Walter Emil Kaegi, Byzantine Military Unrest 471–843. An Interpretation, Amsterdam 1981, 19f.; Peter Schreiner, Konstantinopel. Geschichte und Archäologie. (C. H. Beck Wissen in der Beck’schen Reihe 2364.) München 2007, 31–37.
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auch, weil er selbst Christ war, vom rechten Bekenntnis also auch sein Seelenheil abhing. Vor allem aber war der Kaiser von Gott eingesetzt, er stand ihm näher als jeder andere Sterbliche. Ihm hatte Gott die höchste Schutzgewalt auf Erden anvertraut. Daraus erwuchsen Recht und Verpflichtung des Kaisers, Eintracht und Unversehrtheit der Kirche zu bewahren. Mangelnde Frömmigkeit der Untertanen, insbesondere der Geistlichen, zog den Zorn Gottes daher nicht nur auf die jeweiligen Individuen, sondern auch auf das Reich im ganzen und insbesondere auf den Kaiser. Umgekehrt profitierte der Kaiser von nichts so sehr wie von den Gebeten der Kleriker und Mönche. Diejenigen, die seiner Glaubensrichtung nicht anhingen, betrachteten ihn zwar nicht als illegitim, aber sie beteten nicht mehr für sein Heil – ein schweres Handicap für das Jenseits wie für das Diesseits. Markian und sein Nachfolger Leon versuchten Chalkedon durchzusetzen, mit Gewalt und, als diese keine Wirkung zeigte, zunehmend auch mit Kompromissangeboten. Doch ein Kompromiss in Fragen des Glaubens war so gut wie ausgeschlossen, zumal die Chalkedonier nicht bereit waren, vom Kern ihres Bekenntnisses Abstriche zu machen. Auch Zenon, der Anfang 474 auf den Thron gekommen war, verfolgte eine chalkedonische Linie. Doch schon im Januar 475 wurde er vom Heermeister Basiliskos gestürzt, Zenon musste in seine Heimat, ins kleinasiatische Isaurien fliehen. Die Gründe für seinen Sturz liegen im Dunkeln. Das Ganze scheint eine Elitenverschwörung gewesen zu sein, deren Ausmaß Zenon vielleicht überschätzte. Entscheidend hier ist nur, dass Zenon zwar überlebte, aber nicht mehr Kaiser war, sich selbst wohl auch gar nicht mehr als solchen betrachtete. Basiliskos kontrollierte Konstantinopel und fand überall im Reich Anerkennung. Der erfolgreiche Usurpator wurde ohne weiteres der akzeptierte Kaiser. Dies ist deshalb so wichtig, weil Basiliskos seinerseits nach nur 20 Monaten den Thron verlor, und zwar ausgerechnet an Zenon. Antike wie Moderne haben Basiliskos daher als bloßen Usurpator abgestempelt, aber man darf die Dinge nicht von ihrem Ausgang her betrachten.41 Zenon bekam seine zweite Chance nur, weil 41 Vita Dan. 68f.; Johan. Ant. fr. 302; Mal. 15,2f.; Cand. fr. 1; Theod. Lect. epit. 401f.; Theoph. a. m. 5967 (p. 120f.); Vict. Tunn. s. a. 475; Anon. Vales. 41; Marcell. chron. II p. 91; Prok. bell. 3,7,18; Evagr. hist. 3,3. Ich äußere mich dazu ausführlich in meiner Anm. 6 erwähnten Studie. Zenon stempelte Basiliskos nach seiner Rückkehr natürlich als Rebellen ab, der nie wirklich Kaiser gewesen sei (Cod. Iust. 1,2,16; Zach. Rhet. hist. eccl. 5,5). In den literarischen Quellen wird Basiliskos ab und zu als Usurpator und Tyrann beschrieben, aber sie sind nach seiner kurzen Herrschaft geschrieben (Marcell. chron. II p. 91; Prok. bell. 3,7,18f.). Evagr. hist. 3,8 spricht nur ganz am Schluss seiner Darstellung von Basiliskos’ Regierungszeit vom Tyrannen, und auch dann lediglich in Erläuterung der Aufhebungsmaßnahmen des zurückgekehrten Zenon; davor nennt er ihn schlicht beim Namen. Mal. 15,3–5 spricht sogar selbstverständlich vom βασιλεύς Basiliskos, erst beim Anmarsch Zenons verweigert er ihm den Titel. Und sogar das zenonfreundliche Leben Daniels geht in dieser Hinsicht glimpflich mit Basiliskos um: Vita Dan. 85 wird betont, dass 476 der Kaiser Zenon und die Kaiserin Ariadne, die kaiserlicher Abstammung war, zurückkehrten. Die bessere Genealogie macht Basiliskos aber nicht zu einem Usurpator. Daniel wirft ihm zwar einmal seine τυραννική βασιλεία vor (71) und die Vita spart auch nicht mit unfreundlichen Bezeichnungen für den verdorbenen Menschen und Häretiker (etwa δυσώνυμος [70] oder ἀλαζών [75]), doch der Verfasser nennt Basiliskos auch regelmäßig βασιλεύς (einmal auch durch Daniels Mund
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Basiliskos die zunächst gewonnene Akzeptanz schnell verspielte. Das tat er auf dem Feld der Kirchenpolitik. Schon bald nach seiner Thronbesteigung vollzog er eine scharfe Wende in der bis dahin zuverlässig chalkedonischen Regierungspolitik. Sie vollzog sich auf kirchlichem wie auf dogmatischem Gebiet. Zunächst wurde Timotheos Ailuros, der auf die Krim verbannte miaphysitische Bischof von Alexandreia, nach 15 Jahren zurückgerufen und in Alexandreia wiedereingesetzt; ebenso durfte Petros der Walker auf den Stuhl von Antiocheia zurückkehren.42 Ein kaiserliches Rundschreiben, das sogenannte Enkyklion, legte gleichzeitig die Grundlagen des Glaubens fest, nicht indem es diesen selbst definierte, sondern indem es die Kirchenversammlungen sanktionierte, auf denen er korrekt formuliert worden war. Dies waren die Konzile von Nikaia, Konstantinopel und Ephesos (beide), ausdrücklich verworfen wurde Chalkedon. Die rühmenswerten kaiserlichen Vorgänger hießen Konstantin und Theodosios II., mit Schweigen wurden Markian, Leon und Zenon abgestraft.43
[76]). Nirgends äußert er Zweifel an dessen Rechtmäßigkeit. Der ἀλλότριος in Kapitel 85 ist kein „usurper“ (Übersetzung von Elizabeth Dawes/Norman H. Baynes, in: Three Byzantine Saints. Contemporary Biographies Translated from the Greek. Oxford 1948), sondern ein Ketzer (G. W. H. Lampe [Hrsg.], A Patristic Greek Lexicon. Oxford 1968, 77 s. v. ἀλλότριος A 1). 42 Zach. Rhet. hist. eccl. 5,1; 4f.; Theod. Lect. epit. 402–405; 409f.; Avell. 99,17.25; Evagr. hist. 3,4–6; Vict. Tunn. s. a. 475; Nikeph. Kall. hist. 16,2 (PG 147,120b-c). 43 Evagr. hist. 3,4; Eduard Schwartz, Codex Vaticanus gr. 1431. Eine antichalkedonische Sammlung aus der Zeit Kaiser Zenos. (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-philol. und hist. Klasse, Bd. 32,6.) München 1927, 49–51; Zach. Rhet. hist. eccl. 5,1f.; Theod. Lect. epit. 405; 407. Seit Schwartz wird in der Forschung darüber debattiert, ob Evagrios’ Version des Enkyklions oder die des Codex Vaticanus die ursprüngliche ist. Im Codex wird das zweite Konzil von Ephesos ausdrücklich gebilligt und neben der Glaubensformulierung werden die Kanones von Nikaia stärker betont. In den Kanones war aber die episkopale Hierarchie des frühen 4. Jh. festgelegt, in der Konstantinopel naturgemäß noch keine Rolle spielte. Diese Version ist deshalb wahrscheinlich die spätere, verschärft mit dem Ziel, Bischof Akakios unter Druck zu setzen (Schwartz, Publizistische Sammlungen zum Acacianischen Schisma. [Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Abt., NF 10.] München 1934, 186 mit Anm. 4; Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 2,1: Das Konzil von Chalcedon (451). Rezeption und Widerspruch (451–518). 2. Aufl. Freiburg u. a. 1991, 273–275; anders Schwartz, Codex, 133f.; Michael Whitby, in: The Ecclesiastical History of Evagrius Scholasticus. Translated with an Introduction. [Translated Texts for Historians 33.] Liverpool 2000, 133 Anm. 9). Doch die Unterschiede sind überschaubar, nichts steht in dieser Fassung, was nicht schon in der ersten impliziert ist. Beide Versionen sind authentischer Ausdruck von Basiliskos’ Religionspolitik. Bekanntgemacht wurde das Enkyklion nach den ersten Monaten der neuen Regierung, ich verstehe aber nicht, warum das ausgerechnet zu Ostern 475 geschehen sein soll (so Seeck, Regesten [wie Anm. 1], 421, gefolgt von Michael Redies, Die Usurpation des Basiliskos (475–476) im Kontext der aufsteigenden monophysitischen Kirche, in: Antiquité tardive 5 [1997], 211–221, hier 215, 220, und Philippe Blaudeau, Alexandrie et Constantinople (451– 491). De l’histoire à la géo-ecclésiologie. [Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 327.] Rome 2006, 173). Zur Festsetzung des Glaubens durch kaiserliches Dekret vgl.
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Was trieb Basiliskos zu diesen Initiativen? Einen aktuellen Anlass gab es nicht. Meiner Meinung nach bestimmten drei Motive Basiliskos’ Handeln. Einmal war er zweifellos von der Richtigkeit seines Handelns überzeugt. Die Quellen betonen den Einfluss alexandrinischer Mönche und der Kaiserin Zenonis44, und in der Tat mag diese eine besonders eifrige Miaphysitin gewesen sein, aber nichts deutet darauf hin, dass ein widerstrebender Kaiser erst mühsam von seiner Umgebung überredet werden musste. Zweitens konnte sich Basiliskos hier deutlich von seinem Vorgänger absetzen und der Welt zeigen, warum ihm und nicht diesem Gottes Gnade galt. Denn auch wenn Zenon vor seiner Thronbesteigung miaphysitische Neigungen gezeigt hatte, als Kaiser hatte er sich an die bisherige Orthodoxie gehalten, und sei es nur, um bösen Gerüchten die Grundlage zu entziehen. Basiliskos’ offener Bruch mit Chalkedon bewies da einen ganz neuen Stil, er markierte die größtmögliche Distanzierung von Zenon.45 Schließlich, drittens und hier wesentlich, hoffte Basiliskos darauf, der dogmatischen Zerrissenheit des östlichen Mittelmeerraums ein Ende zu setzen. Als Grund für seinen Schwenk zum Miaphysitismus gab der Kaiser den Einsatz für den Zusammenhalt der christlichen Gemeinden an, der die unzerstörbare Grundlage und die unerschütterliche Mauer seiner Herrschaft sei.46 Ohne Frieden in der Kirche konnte es keinen Frieden für das Reich geben. Dass Basiliskos mit seinem Engagement recht hatte, zeigt sich schon darin, dass auch seine Nachfolger, von Zenon bis Tiberios, über das nächste Jahrhundert hinweg den Ausgleich mit dem Miaphysitismus suchten, auch wenn keiner so weit gehen sollte wie er. Ebenso wenig verkannte Basiliskos die Realitäten im Reich: Die neue Personalpolitik und das Enkyklion wurden an den meisten Orten akzeptiert oder wenigstens hingenommen, es gab kaum Demonstrationen und nirgends Aufstände. Die Mischung aus religiösem Angebot und entschiedenem kaiserlichem Druck verfing bei den meisten. Die Miaphysiten des Orients aber waren begeistert.47 Basiliskos hatte viele Jahre in höchsten Ämtern verbracht, und so wusste er, dass er einen Preis zahlen musste. Die Akzeptanz des Miaphysitismus würde den Westen brüskieren, der Bischof von Rom den neuen Kurs sicherlich nicht billigen. Das war bedauerlich, aber es zählte wenig gegenüber den Nöten von Basiliskos’ unmittelbarem Herrschaftsbereich, und Rom konnte die Grundlagen von Basiliskos’ Macht nicht erschüttern. Das galt nicht für die andere Hochburg der chalke-
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Elio Dovere, L’Ἐγκύκλιον Βασιλίσκου. Un caso di normativa imperiale in Oriente su temi di dogmatica teologica, in: SDHI 51, 1985, 153–188, hier 158, 167–178, 184–188. Theod. Lect. epit. 402; Zon. XIV 2,8. Dies gegen Redies, Usurpation (wie Anm. 43), 213, der mit Zenons Thronbesteigung „eine signifikante Veränderung in der religiösen Machtbalance Ostroms“ gegen Chalkedon gekommen sieht. Bemerkenswerterweise fasst Nikeph. Kall. hist. 16,2 (PG 147,120b) Basiliskos’ Drang, sich von den Vorgängern abzusetzen, in Worte: „ἀλλ’ εἰ μὴ ἀπ’ ἐναντίας τῷ τε Ζήνωνι καὶ τοῖς πρὸ αὐτοῦ βασιλεύσασι διαγένοιτο, μηδὲ βασιλεύειν ᾤετο δεῖν.“ Das ist kaum authentische Überlieferung, aber gute Interpretation des Verfassers. Evagr. hist. 3,4. Vita Petri Iber. p. 76 (= 161). Vgl. W. H. C. Frend, The Rise of the Monophysite Movement. Chapters in the History of the Church in the Fifth and Sixth Centuries. Cambridge 1972, 173.
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donischen Orthodoxie: Konstantinopel. In ihrer überwältigenden Mehrheit war die Bevölkerung chalkedonisch, insbesondere die meinungsbildende Schicht der Kleriker und Mönche.48 Basiliskos glaubte den Protest seiner Stadt aushalten zu können. Dies war ein Fehler. Ich kann hier die Ereignisse in Konstantinopel nicht im Einzelnen nachzeichnen. Die Entwicklung war eine allmähliche, die religiöse Konfrontation vermengte sich aufs unglücklichste mit den kaiserlichen Forderungen nach Abgaben der Kirche – die Staatskasse war leer. Im Juli 476 eskalierte die Situation: Nach den Mönchen, Teilen seines Klerus und zahlreichen Laien entzog der Bischof Akakios dem Kaiser seine Unterstützung, es folgte der Stylit Daniel, ein Heiliger Mann, der eigens für den Kampf gegen Basiliskos seine Säule verließ und damit weite Teile des Volkes mitriss. Auch bei den Eliten und bei den Garden verlor Basiliskos an Akzeptanz, bis nach einer Alternative gesucht wurde. Sie fand sich, eher zufällig, in dem Ex-Kaiser Zenon, der sich in einer isaurischen Festung gegen ein kaiserliches Heer wehrte. Basiliskos versuchte in letzter Stunde zu retten, was zu retten war: Er unterwarf sich Daniel und widerrief das Enkyklion. Der Sinneswandel kam zu spät, als dass er glaubwürdig wirkte. Als Zenon Ende August Konstantinopel erreichte, war Basiliskos von allen städtischen Unterstützern verlassen. Er legte sein Diadem auf dem Altar der Großen Kirche nieder und wurde mit seiner Familie in die Verbannung geschickt. Zenon ließ ihn bald darauf verhungern.49 Die Sympathien, die Basiliskos im Osten genoss, halfen ihm nichts, die Meinungslage dort beeinflusste die Entscheidungen in Konstantinopel nicht. Doch es war nun nicht so, dass die Römer außerhalb Konstantinopels nur ohnmächtige Zuschauer und schließlich Opfer waren. Sie versuchten sehr schnell, die Situation auszunutzen, die ein offenbar nicht auf Konstantinopel fixierter Kaiser geschaffen hatte. Deutlich zeigte sich das in der Not des Bischofs Akakios. Dieser war kein Mann der sturen Opposition gegen seinen Kaiser, Akakios war flexibel und sah durchaus die Zwänge der Kirchenpolitik, die ein starres Festhalten am Dogma nicht immer geraten sein ließen. Mit Timotheos Ailuros, der vor seiner Rückkehr nach Alexandreia in Konstantinopel Station machte, verkehrte er daher freundschaftlich. Die Rücksicht auf die Stimmung in seiner Gemeinde hielt ihn gleich-
48 Der miaphysitische Schwenk war also gerade kein naheliegendes Mittel, die Herrschaft kurzfristig zu stabilisieren, wie Redies, Usurpation (wie Anm. 43), 215, und Blaudeau, Alexandrie (wie Anm. 43), 173, annehmen. Dafür, dass der Kaiser schon zu Anfang seiner Regierung „kaum Rückhalt in der Bevölkerung“ hatte und dringend seine Isolierung und „la sourde hostilité sénatoriale“ überwinden musste, gibt es ohnehin keine Belege. 49 Vita Dan. 70–85; Theod. Lect. epit. 406–408; 412–414; Zach. Rhet. hist. eccl. 5,4f.; Theoph. a. m. 5968 (p. 122); 5969 (p. 124); Cand. fr. 1; Evagr. hist. 3,7f.; 24; Cedr. p. 616–618; Prok. bell. 3,7,19–22.24f.; Mal. 15,5; 12; Suda Β 164; Ε 2494; Johan. Nik. 88,37–41; Zon. 14,2,13; Schwartz, Codex (wie Anm. 43), 52; Avell. 56–59. Zu den Ereignissen vgl. zuletzt Redies, Usurpation (wie Anm. 43), 215–220; Blaudeau, Alexandrie (wie Anm. 43), 184–188. Meine in manchem von diesen abweichende Rekonstruktion gebe ich in meinem Buch (wie Anm. 6), 564–584.
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zeitig davon ab, dem Vorkämpfer der Miaphysiten die Kirchen der Stadt zu öfföffnen. Das Enkyklion vermied er zu unterzeichnen.50 Basiliskos hatte nicht viel Rücksicht auf seinen Bischof genommen. Das Konzil von Chalkedon hatte er schlicht für aufgehoben erklärt, ohne irgendeine Qualifizierung. In Chalkedon war aber auch der Primat des Bischofs von Konstantinopel über Thrakien und Kleinasien akzeptiert worden. Fiel er, dann wurde der bislang unaufhaltsam erscheinende Aufstieg Konstantinopels in der Kirchenhierarchie plötzlich auf den Stand des vierten Jahrhunderts zurückgeworfen. Jeder Kaiser hatte sich bislang darum bemüht, die institutionelle Stellung seines Bischofs zu stärken. Ich sehe keinen Grund, warum Basiliskos der Hauptstadt hätte schaden wollen, und tatsächlich minderte er die Rechte und Privilegien des Stuhls nicht explizit. Aber seine pauschale Ablehnung des Konzils weckte Hoffnungen und Bestrebungen bei all jenen, denen der Aufstieg des früheren Provinzbischofs seit jeher ein Dorn im Auge gewesen war. Timotheos Ailuros, dessen Verhältnis zu Akakios nun wieder abgekühlt war, machte auf seinem Weg nach Alexandreia in Ephesos Station und präsidierte dort im September 475 einer Synode. Er setzte einen antichalkedonischen Bischof ein und stellte die Rechte von Ephesos wieder her, so wie sie vor Chalkedon bestanden hatten, also auf Kosten der Hauptstadt. Die versammelten kleinasiatischen Bischöfe billigten den kirchenpolitischen Schwenk – und forderten gleich die Absetzung des Bischofs von Konstantinopel, der sein Amt erwiesenermaßen nicht fromm ausübe.51 Basiliskos’ Antwort kennen wir nicht, aber ebenso wenig wie er dem Wunsch Folge leistete – Akakios blieb zunächst Bischof –, wies er ihn scharf zurück. Die Gerüchte um Akakios’ Sturz blieben, und später versuchte er sehr wohl, den Bischof abzusetzen. Basiliskos’ Vagheit in der ganzen Angelegenheit war Methode: Er wollte den Stuhl Konstantinopels nicht tatsächlich seiner Prärogative berauben und sich damit ins eigene Fleisch schneiden, sondern durch mehr oder weniger subtile Drohungen den störrischen Akakios dazu bringen, dem Enkyklion zuzustimmen. Vergebens. Gerade dadurch trieb er Akakios zum offenen Widerstand. Als sein Thron wankte, halfen ihm die Bischöfe Kleinasiens und Timotheos Ailuros wenig. Die meisten Miaphysiten waren weit weg, und deshalb fehlte es Basiliskos, als es darauf ankam, entscheidend an Unterstützung.
50 Zach. Rhet. hist. eccl. 5,1; Theod. Lect. epit. 404; 406f.; Avell. 56,5; 57,1; 58,2; 59,5.7; Nikeph. Kall. hist. 16,2 (PG 147,120c); 6 (PG 147,128c). Vgl. Blaudeau, Alexandrie (wie Anm. 43), 174f.; Schwartz, Sammlungen (wie Anm. 43), 185f. Hanns Christof Brennecke, Chalkedonense und Henotikon. Bemerkungen zum Prozess der östlichen Rezeption der christologischen Formel von Chalkedon, in: ders., Ecclesia est in re publica. Studien zur Kirchenund Theologiegeschichte im Kontext des Imperium Romanum. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 100.) Berlin u. a. 2007, 259–290, hier 271–274, stilisiert Akakios dagegen zum entschlossenen Vorkämpfer von Chalkedon, aber das gelingt nur, weil er die schwierige kirchenpolitische Situation in der Stadt außer Acht lässt. 51 Evagr. hist. 3,5–7; Zach. Rhet. hist. eccl. 5,2–5. Vgl. Schwartz, Sammlungen (wie Anm. 43), 186f. Zur Datierung der Synode und zum fortgesetzten Zögern von Akakios vgl. Redies, Usurpation (wie Anm. 43), 216f.
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Basiliskos hatte sich um die Religion gekümmert, aus persönlicher Überzeugung wie aus Sorge um den Zusammenhalt der östlichen Mittelmeerwelt. Der Kaiser hatte an das Wohl des Reichs gedacht, durchaus auch an das der Hauptstadt: Nur ein ruhiges Alexandreia garantierte ihre Getreideversorgung. Die Meinung Konstantinopels hatte ihn zunächst aber nicht interessiert. Auch als diese Meinung in passive Opposition und schließlich in offenen Widerstand überging, ließ sich Basiliskos nicht beirren. Ermutigt wurde er wahrscheinlich dadurch, dass der religionspolitische Kurswechsel allerorten ohne großes Murren vollzogen wurde. Falls er gehofft hatte, das würde einen ausreichenden Ausgleich bilden, so täuschte er sich. Alexandreia und Antiocheia bewahrten keine Kaiser, Konstantinopel schon. Erst ganz am Schluss, als er mit dem Rücken zur Wand stand, versuchte Basiliskos das Ruder erneut herumzureißen. Doch er handelte zu spät, als dass er noch überzeugen hätte können. Dieser Kaiser verkannte die Grundlagen seiner Stellung. Er stellte die Interessen des Reiches über die der Stadt. Das machte seinen Sturz unausweichlich. 4. EIN ZWEITES BEISPIEL: LEONTIOSʼ USURPATION AUSSERHALB KONSTANTINOPELS Zwischen 395 und 624 erhoben sich im Osten sieben Usurpatoren, nur einer davon außerhalb Konstantinopels. Das geschah ebenfalls zur Zeit Kaiser Zenons, im Jahr 484, in ihrem Zentrum stand nicht der Usurpator Leontios, sondern der (oben schon erwähnte) Heermeister Illus. Die kurze Geschichte dieser Erhebung lässt einen schnell begreifen, warum es nur dieses eine Mal zu einer Usurpation in der Provinz kam. Illus war nach der Vernichtung Basiliskosʼ der große Gegenspieler seines Kaisers geworden. Wie dieser war er Isaurier, er war politisch und militärisch überaus fähig, er verfügte über die Loyalität der nahe der Hauptstadt stehenden (isaurischen) Truppen, er bekleidete die Schlüsselstellung des magister officiorum, der Bruder und die Mutter des Kaisers befanden sich in seiner Gewalt. All das hatte Illus eigene Ressourcen verschafft, die Zenons Verfügungsgewalt aushöhlten und diesem das letzte Wort nahmen. Aber: Zenon wurde nicht irrelevant. Das lag daran, dass er sich auf einen gewissen Rückhalt bei den Akzeptanzgruppen stützen konnte. Der Kaiser war zwar nicht beliebt, aber nicht ganz so unbeliebt wie Illus, beim Volk, bei den Eliten und bei den (nichtisaurischen) Garden. Als, nicht zum ersten Mal, ein Attentat auf Illus verübt wurde, das ihn beinahe das Leben kostete, fühlte sich der magister officiorum seines Lebens in Konstantinopel nicht mehr sicher. Nicht zu Unrecht, denn die Kaiserin Ariadne hatte den Anschlag eingefädelt, und ihr Ehemann geriet so sehr in Verdacht, dass er es für nötig hielt zu schwören, dass er nichts von dem Plan gewusst habe. Illus war das Ganze zu unsicher. Er bat den Kaiser darum, in den Osten geschickt zu werden. Er sei krank und brauche eine Luftveränderung. Zenon stimmte zu, löste ihn als magister officiorum ab und ernannte ihn zum
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Heermeister des Ostens. Ende 481 brach Illus nach Antiocheia auf, begleitet von einer stattlichen Entourage von Senatoren.52 Es war nicht so, dass Illus damit auf jeden Einfluss in Konstantinopel verzichtete. Immer noch verfügte er über Freunde und Unterstützer, an der Spitze sein Bruder Trokundes, der 480 Heermeister des Hofes geworden und zum Konsul des Jahres 482 designiert war. Aber unter den Bedingungen des Akzeptanzsystems war nur derjenige mächtig, der in Konstantinopel präsent war. Bezeichnenderweise ging die Initiative auf Zenon über. Während Illus zwei Jahre unspektakulär den Osten verwaltete, scheint Zenon seine Akzeptanz in Konstantinopel verstärkt zu haben. Ende 483 oder Anfang 484 forderte er von Illus die Freilassung seines Bruders Longinos. Zenon war klar, dass Illus darauf nicht eingehen konnte. Vielleicht ohne eine Antwort abzuwarten, bestellte er ihm einen Nachfolger im Kommando. Dem Volk legte er in einer Rede, sicher im Hippodrom, die Gründe für seine Feindschaft gegen Illus dar. Das Echo ist nicht überliefert, aber es muss sehr ermutigend ausgefallen sein: Ohne Mühe konnte Zenon die Anhänger seines Gegners aus der Stadt treiben und ihr Vermögen konfiszieren. Das prominenteste Opfer war Trokundes. Die Einnahmen ließ der Kaiser isaurischen Städten zukommen, ein Versuch, Illus’ Basis zu schwächen. Die Gelder den Konstantinopolitanern zukommen zu lassen war unnötig. Dort rührte niemand mehr eine Hand für Illus.53 Ein erster Versuch, Illus endgültig auszuschalten, war zu dieser Zeit aber bereits gescheitert. Zenon hatte den thrakischen Heermeister Leontios nach Antiocheia geschickt, um Illus entweder dingfest zu machen oder, falls er sich wehre, zu töten. Ein letztes Mal erwies sich Illus als überlegen: Er zog Leontios auf seine Seite, mit Geld und mit der Aussicht auf den Thron. Dazu bediente er sich der Ex-Kaiserin Verina, der Witwe Kaiser Leons und Schwiegermutter Zenons. Verina war eine Großmeisterin der Intrige, sie hatte bei Zenons Sturz genauso mitgewirkt wie bei Basiliskosʼ Ende. Illus, einer ihrer Gegner, hatte selbst für ihre Internierung im hinteren Kleinasien gesorgt. Nun ließ er Verina aus ihrer Festung holen und wieder mit dem Purpur bekleiden. In Tarsos rief sie Leontios zum Augustus aus, vor dem Heer, es folgte eine Zeremonie in einer Kirche. Man schrieb den Juli 484. In einem Schreiben an die Heere, Amtsträger und Städte Syriens und Ägyptens gerierte sie sich als eine Art Treuhänderin des Imperiums, die einst Zenon zum Kaiser gemacht habe, ihm nun aber, da er die allgemeinen Erwartungen enttäuscht habe, die Würde entziehe und sie Leontios gewähre.54 Illus und Verina griffen also zu einem legalistischen Konstrukt, um 52 Mal. 15,13; p. 313; Theoph. a. m. 5972 (p. 127f.); Johan. Nik. 88,68–76; Ios. Styl. 13f.; Evagr. hist. 3,27; Marcell. chron. II p. 92. Suda Π 137 bezeugt Illus’ Unbeliebtheit im Volk. Zur Chronologie E. W. Brooks, The Emperor Zenon and the Isaurians, in: EHR 8, 1893, 209– 238, hier 222; Stein, Histoire (wie Anm. 35), 19 Anm. 1. 53 Johan. Ant. fr. 306. Vgl. Brooks, Emperor (wie Anm. 52), 223. 54 Ios. Styl. 14; Iord. Rom. 352; Mal. 15,13; p. 313f.; Johan. Nik. 88,75–83; Theoph. a. m. 5972–5974 (p. 128f.); Johan. Ant. fr. 306; Theod. Lect. epit. 437; Evagr. hist. 3,27; Cand. fr. 1; Marcell. chron. II p. 92. Bei Malalas und Johannes von Nikiu (und angedeutet bei Evagrios) begleitet Leontios 481 Illus nach Antiocheia. Dagegen spricht zweierlei: Illus sollte
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Akzeptanz ging es nicht, konnte es auch gar nicht gehen. In Ermangelung der hauptstädtischen Kulisse musste eine wacklige Anbindung über die monarchische Solidarität (zwischen Leon, Verina und Leontios) genügen, die freilich unter dem Defizit litt, dass Leontios weder mit Verina noch mit irgendeinem Kaiser verwandt war. Der neue Augustus kehrte nach Antiocheia zurück und fand dort, in Illus’ Hauptquartier, ohne weiteres Gehorsam. Leontios bestellte erst einmal seine Amtsträger, nach zwölf Tagen aber musste er in den Krieg ziehen. Das nicht gerade bedeutende Städtchen Chalkis, im syrischen Binnenland gelegen, weigerte sich, Leontios’ Bild in Empfang zu nehmen. Eineinhalb Monate hielten die Chalkidier ihren Widerstand aufrecht, Leontios musste ergebnislos abziehen. Das war ein schlechter Auftakt für die Regierung. Illus setzte derweil alle Hebel in Bewegung, Geld floss nach Isaurien, Schiffe wurden gerüstet. Odoakar, der Herrscher Italiens, wurde ebenso wie die Perser und die Armenier um Hilfe gebeten. Doch der erste lehnte ab, die anderen antworteten höflich und guckten zu. Einige armenische Führer sollen beschlossen haben, gemeinsame Sache mit dem Usurpator zu machen, aber bei dem Beschluss blieb es auch. Von irgendeiner Unterstützung aus Ägypten und dem südlichen Syrien ist nichts bekannt. Verinas Ruf verhallte ohne Resonanz. Die Aufständischen kontrollierten lediglich das nördliche Syrien und das südöstliche Kleinasien bis nach Isaurien hinein. Zenon setzte dagegen große und vor allem schnelle Rüstungen ins Werk: Gotische Verbündete unter Theoderich wurden losgeschickt, isaurische Offiziere wurden bestellt (wohl weniger um ihrer überragenden militärischen Fähigkeiten willen, als um sich leichter in Isaurien durchsetzen zu können), Johannes der Skythe, der neue Heermeister des Ostens, kommandierte ein Heer, eine Flotte wurde entsandt. Illus wurde überrascht und musste auf Antiocheia zurückgehen. Da zeigte sich, wie groß der Rückhalt des neuen Herrschers war. Die Antiochener fürchteten eine Belagerung und forderten Leontios und Illus auf, vor der Stadt die Entscheidung zu suchen. Angesichts solcher Untertanen wollte Illus sich weiter zurückziehen, nach Edessa, jenseits des Euphrats – an die Reichsgrenzen also! Die Edessener wollten aber nicht. Sie wiesen eine vorausgeschickte Kavallerieabteilung ab und machten die Mauern kriegstüchtig. Unter diesen Umständen ließen die Rebellen sich doch auf eine Schlacht gegen Johannes den Skythen ein. Sie erlitten eine entscheidende Niederlage. Das Heer wurde zwar nicht vernichtet, aber es löste sich auf. Die Soldaten traten zu den Siegern über oder kehrten in ihre Heimat zurück. 2000 Mann verblieben. Mit den treuesten von ihnen warfen sich Illus und Leontios in eine isaurische Festung und wurden dort von Johannes belagert, vier Jahre lang. Illus war in die gleiche Lage geraten wie seinerzeit Zenon, mit dem Unterschied, angeblich Verina an Leontios übergeben, dieser sie nach Konstantinopel geleiten. Warum sollte Illus das tun? Tatsächlich blieb Verina interniert. Weiterhin ist in dieser Version unklar, warum Illus ausgerechnet Leontios für den Thron aussuchte. Ein politisches Geschäft, wie es Josua Stylites beschreibt, macht eher Sinn. Vgl. auch Brooks, Emperor (wie Anm. 52), 225; PLRE II 670f. s. v. Leontius 17. Anders Schwartz, Sammlungen (wie Anm. 43), 201 Anm. 2; Adolf Lippold, RE X A, 1972, 149–213 s. v. Zenon 17, hier 179.
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dass er weniger Glück hatte. 488 wurde die Festung durch Verrat eingenommen, Usurpator und Rebell wurden hingerichtet. Nun kehrte Illus nach Konstantinopel zurück – sein Kopf wurde auf einer Stange durch den Hippodrom paradiert und anschließend öffentlich zur Schau gestellt.55 Leontios’ Kaisertum hatte 60 Tage gewährt. Mit der Rebellion verband sich keine Sache, wie man oft in der Forschung angenommen hat, ein Eintreten für die chalkedonische Orthodoxie etwa oder gar eine Rückkehr zum Heidentum.56 Sie war lediglich das letzte Stadium eines Machtkampfs, wie er im Römischen Reich mit seiner personen- statt sachorientierten Politik üblich war. Die Auseinandersetzung konnte Illus aber nicht mehr gewinnen, denn das Zentrum des Reiches, Konstantinopel, hatte er längst verloren. Das sah man auch in der Provinz so. Antiocheia hatte seit dem vierten Jahrhundert keinen Kaiser mehr in seinen Mauern gehabt, man hätte erwarten können, dass sich die Stadt energisch für den im Osten erhobenen Augustus einsetzte. Dass das nicht der Fall war, kann nicht nur mit der militärischen Überlegenheit Zenons erklärt werden. Illus war kein Dilettant, er verfügte trotz der schleppenden Mobilisierung über beträchtliche Ressourcen, ein Sieg war ihm ohne weiteres zuzutrauen. Die Antiochener und erst recht die Chalkidier besaßen dieses Zutrauen nicht, auch für sie konnte ein Kaiser nur aus Konstantinopel kommen. Ein regionales Kaisertum, so vorteilhaft es für die Menschen vor Ort auch sein mochte, war undenkbar geworden.
55 Johan. Ant. fr. 306; Mal. p. 314f.; 15,13f.; Ios. Styl. 15–17; Johan. Nik. 88,84–91; Theoph. a. m. 5976f. (p. 129–131); 5980 (p. 132); Iord. Rom. 352f.; Prok. aed. 3,1,24–26; Theod. Lect. epit. 438; Marcell. chron. II p. 93; Cand. fr. 1. Vgl. Stein, Histoire (wie Anm. 35), 29–31; Schwartz, Sammlungen (wie Anm. 43), 201 Anm. 4; Lippold, Zenon (wie Anm. 54), 185f. 56 Das zeigt sich schon daran, dass man für beide Möglichkeiten mit gleich guten oder besser gleich schlechten Gründen eintreten kann: etwa Stein, Histoire (wie Anm. 35), 23–25; Bury, History (wie Anm. 3), Bd. 1, 397–399; Hugh Elton, Illus and the Imperial Aristocracy under Zeno, in: Byzantion 70, 2000, 393–407, hier 401–404; Karl Feld, Barbarische Bürger. Die Isaurier und das Römische Reich. (Millennium-Studien 8.) Berlin u. a. 2005, 272–275. Doch die Hoffnungen, die manche Pagane wegen Pamprepios’ prominenter Beteiligung in die Usurpation setzten (etwa Zach. Rhet. Is. p. 7; Sev. p. 40; Damasc. Vita Isid. epit. Phot. 109 Zintzen [= 77b Athanassiadi]; fr. 303 Zintzen [= 115a Athanassiadi]), sagen nichts über die Absichten der Protagonisten aus (vgl. schon Rudolf Asmus, Pamprepios, ein byzantinischer Gelehrter und Staatsmann des 5. Jahrhunderts, in: ByzZ 22, 1913, 320–347, hier 342f.). Auf der anderen Seite vermag ich aus Verinas Schreiben keine Werbung um die Chalkedonier herauszulesen, wie es Brooks, Emperor (wie Anm. 52), 227, tut. Allgemeine Hinweise auf die Frömmigkeit des christlichen Kaisers waren doch selbstverständlich. Die Unterstützung des Chalkedoniers Kalandion beweist wenig: Als Bischof von Antiocheia hätte er sich Illus’ Sache nur unter erheblichen Risiken entziehen können (Zach. Rhet. hist. eccl. V 9; Evagr. hist. 3,16; 27; Liberat. 125f.). Ebenso stammten alle übrigen chalkedonischen Bischöfe, die Zenon wegen angeblicher Unterstützung der Usurpation absetzte, aus Illus’ Machtbereich (Theoph. a. m. 5982 [p. 133f.]; vgl. Schwartz, Sammlungen [wie Anm. 43], 209).
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5. DIE TRENNUNG ZWISCHEN DRINNEN UND DRAUSSEN UND IHRE BEDEUTUNG FÜR DAS REICH Die beiden Beispiele haben zweierlei gezeigt: Die Peripherie konnte nicht entscheidend auf die Ereignisse in Konstantinopel einwirken, und die Belange des Reiches hatten hinter denen der Hauptstadt zurückzustehen. Diese Umstände stabilisierten das Akzeptanzsystem enorm. Es blieb übersichtlich, in einem ganz simplen räumlichen Sinne, aber natürlich auch in den Anforderungen, die es an den Kaiser stellte. Faktoren außerhalb der Stadtmauern, die angesichts der Ausdehnung und der Komplexität des Imperiums eher unberechenbar waren, spielten für die Akzeptanzgewinnung und -erhaltung keine wesentliche Rolle. Solange sie sich über dieses wesentliche Strukturmerkmal nicht, wie Basiliskos, täuschten, wurde das System dadurch auch für Herrscher mittleren Formats handhabbar. Die Abschottung Konstantinopels trug so entscheidend zur Langlebigkeit des spätantiken Reichs im Osten bei. Die Ausnahmestellung Konstantinopels war auch von den Leidtragenden in den Provinzen anerkannt. Anders lassen sich die eine Usurpation außerhalb der Stadt und ihr klägliches Scheitern nicht erklären. Aber es ist doch zu fragen, ob die Konzentration der politischen Entscheidungsprozesse die Bindung der BevölBevölkerung an Konstantinopel und an das Reich auf Dauer nicht schwächte. Natürlich darf man hier nicht moderne Vorstellungen von wünschenswerten Partizipationsgraden zugrunde legen. Auch war es nicht so, dass die Menschen überhaupt nicht in das politische System eingebunden waren. Man denke nur daran, was es für eine Gemeinde bedeuten konnte, wenn das Bildnis eines neuen Kaisers eintraf.57 Ob dies freilich den Einzug des Kaisers selbst wirklich ersetzte? Für die meisten Einwohner des Imperiums war der Kaiser nicht weniger weit weg als Gott selbst. Ein gewaltiges Abbild des Augustus dürfe dieses Gefühl noch verstärkt haben. Für die Soldaten des Heeres stellte sich das Problem noch dringender. Sie hatten keinen kaiserlichen Feldherrn mehr, der mit ihnen Strapazen und Erfolge teilte. Doch hatten schon während des frühen Prinzipats, als die Kaiser in Rom residierten, die Chancen eines Soldaten an Rhein oder Euphrat, jemals seinem Herr57 Ankunft des Bildes Anastasiosʼ in Gaza: Prok. Gaza Anast. 1; 29. Das Bild Justins II. in der Thebais: Leslie S. B. MacCoull, Dioscorus of Aphrodito. His Work and his World. (The Transformation of the Classical Heritage 16.) Berkeley u. a. 1988, 72–75. Zum Fehlen des Kaisers in den Provinzen und den Versuchen, die Lücke zu kaschieren, vgl. Jochen Martin, Zum Selbstverständnis, zur Repräsentation und Macht des Kaisers in der Spätantike, in: Saeculum 35, 1984, 115–131, hier 128f.; ders., Spätantike und Völkerwanderung. (Oldenbourg Grundriss der Geschichte 4.) 3. Aufl. München 1995, 101f.; ders., Das Kaisertum in der Spätantike, in: François Paschoud/Joachim Szidat (Hrsgg.), Usurpationen in der Spätantike. Akten des Kolloquiums „Staatsstreich und Staatlichkeit“ 6.-10. März 1996 Solothurn/Bern. (Historia Einzelschriften 111.) Stuttgart 1997, 47–62, hier 59; Clifford Ando, Imperial Ideology and Provincial Loyality in the Roman Empire. (Classics and Contemporary Thought 6.) Berkeley u. a. 2000, 228–235, 250–253. Das Material zum Aussenden der Kaiserbilder ist gesammelt bei Helmut Kruse, Studien zur offiziellen Geltung des Kaiserbildes im römischen Reiche. (Studien zur Geschichte und Kultur des Altertums 19,3.) Paderborn 1934, 34–50.
Drinnen und draußen
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scher ins Gesicht zu sehen, denkbar schlecht gestanden. Disziplin, Sold, erträgliche Lebensumstände, die Ungewissheiten einer Rebellion und schließlich ein bisschen Gemeinsinn hatten dennoch dafür gesorgt, dass die Zahl der Meutereien und Usurpationen sich in einem erträglichen Rahmen hielt. Die gleichen Bedingungen wirkten in der Spätantike. Der Kaiserkult freilich, der die Soldaten an den regierenden Augustus band und nicht bloß an das Reich schlechthin, war deutlich abgeschwächt worden. Doch das Christentum hatte für einen ziemlich guten Ersatz gesorgt, den Kaiser, der als Mittler zwischen Himmel und Erde für seine Truppen betete. Zum Allmächtigen flehen konnte er auch in Konstantinopel, das Wissen um den gewährten Beistand Gottes spornte auch die weit weg kämpfenden Soldaten an.58 Wenn der aber ausblieb, wie zunehmend seit der zweiten Hälfte des sechsten Jahrhunderts, fehlte das persönliche Vorbild des Anführers, das helfen kann, so manchen Rückschlag zu verarbeiten, umso stärker. Wie die Bevölkerung der Provinzen in das spätantike Imperium integriert wurde, bedarf weiterer Untersuchungen. Ein Mangel an Einbindung war jedenfalls nicht schuld am Kollaps des städtischen Akzeptanzsystems, den besorgte der existenzbedrohende Einbruch der Perser. Dass bald darauf durch den Verlust des Nahen Ostens an die Araber das antike Reich selbst zugrunde ging, steht damit sicherlich nicht in kausaler Verbindung, eher ließe sich das Gegenteil vermuten: Das über mehr als zwei Jahrhunderte bestehende politische System hatte Syrien und Ägypten dem Kaisertum entfremdet. Tatsächlich hat die ältere Forschung, neben der Expansionskraft des frühen Islams und der römischen Erschöpfung nach dem Perserkrieg, die Distanz der miaphysitischen Bevölkerung zu Konstantinopel als wesentlich für den schnellen und vielerorts fast lautlosen Zusammenbruch einer jahrhundertealten Ordnung benannt: Die Ungläubigen waren willkommener als der häretische Verfolgerkaiser. Das Bild ist allerdings uneindeutig. Die Miaphysiten empfingen die Eroberer keineswegs mit offenen Armen. Einen von der Religion unabhängigen, jedoch vielleicht entscheidenden Faktor stellt der allgemeine, insbesondere ökonomische Niedergang der Städte dar, des Rückgrats der griechisch-römischen Kultur. Viele Angehörige der Eliten waren regional orientiert. Weite Teile der nicht griechischsprachigen, also syrischen und ägyptischen Bevölkerung standen dem Kaiser, zumal nach der Erfahrung von dessen Ohnmacht gegenüber der persischen Invasion, nicht feindselig, aber doch selbstbewusst gegenüber. Die miaphysitische Kirche war seit dem späten sechsten Jahrhundert gefestigt, und zwar gegen den Widerstand des Staates.59 Hier spannt sich nun tatsächlich ein Bogen, von der vergebli58 S. etwa Sokr. 7,18,15–18; 23,9f. (Theodosios II.). 59 Vgl. nur Friedhelm Winkelmann, Ägypten und Byzanz vor der arabischen Eroberung, in: ByzSlav 40, 1979, 161–182, bes. 168–170, 176–178, 181: „Es ist weniger eine aktive ablehnende Haltung gegenüber dem byzantinischen Staat festzustellen als ein Defätismus bei den Ausgebeuteten und Regionalismus und Durchsetzung eigener Interessen in Kreisen der Oberschicht, weniger eine antihellenistische kulturelle Haltung als ein selbstbewusst werden der eigenen Kultur“. Das Ausmaß des Niedergangs der Städte und Siedlungen Syriens ist umstritten. Dem Bild Hugh Kennedys, The Last Century of Byzantine Syria: a Reinterpretation, in: ByzF 10, 1985, 141–183, der einen umfassenden Verfall schon Mitte des 6. Jh. ansetzt, steht
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chen Initiative Basiliskosʼ über die Entfremdung der Miaphysiten bis zu ihrem lauen Widerstand gegen die Araber. Nicht in dem Sinne, dass die Orientalen und die Miaphysiten – die beiden Gruppen waren keineswegs deckungsgleich – bereitwillig kollaboriert oder gar als fünfte Kolonne agiert hätten. Es war wohl eher so, dass den Menschen das Reich vielerorts fern, schlimmer noch: gleichgültig geworden war. Und Gleichgültigkeit bereitet über kurz oder lang jeder politischen Ordnung den Garaus. In diesem Sinne trug die strikte Trennung zwischen drinnen und draußen, die das Kaisertum so lange stabilisiert hatte, letztlich zum Ende des spätrömischen Reiches bei.
die optimistische Einschätzung von Clive Foss, Syria in Transition, A.D. 550–750: an Archaeological Approach, in: DOP 51, 1997, 189–269, hier 258–264, gegenüber, der erst die persische Okkupation für einen beträchtlichen, wenn auch nicht allzu tiefen Einschnitt hält.
NACHDENKEN ÜBER ‚HERRSCHAFT‘ DIE BEDEUTUNG DES JAHRES 476* Mischa Meier I. EINLEITUNG Die nachfolgenden Überlegungen umgreifen einen Zeitraum, der sich über mehr als ein Jahrhundert erstreckt; sie sind daher notgedrungen holzschnittartig und können eine Reihe von Aspekten lediglich andeuten. Ich möchte die These entwickeln, dass das Ende des weströmischen Kaisertums im Jahr 476 ein grundsätzliches neues Nachdenken über ‚Herrschaft‘ in der spätantiken Welt um 500 erzwungen hat. Dieses Nachdenken jedoch erfolgte im lateinisch geprägten Westen des ehemaligen Imperium Romanum in ganz anderer Weise als im griechischsprachigen Osten. Insgesamt soll deutlich werden, dass es sich bei der Absetzung des Romulus Augustulus 476 durchaus um ein Ereignis von erheblicher Tragweite gehandelt hat – auch wenn die Folgen auf einer anderen Ebene anzusiedeln sind, als dies insbesondere von der älteren Forschung, die dem Jahr 476 zunächst noch besonderen Zäsurcharakter zugewiesen hatte, vermutet worden ist. Während man bis vor etwa drei Jahrzehnten noch gerne auf das Datum 476 zu verweisen pflegte und damit sogar weitreichende Assoziationen wie das ‚Ende der Antike‘ verband1, ist in den letzten Jahren größere Zurückhaltung eingekehrt. *
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Sebastian Scholz hat mir freundlicherweise Einsicht in sein zunächst noch unveröffentlichtes Manuskript „Das Papsttum und die theokratischen Ansprüche der Herrscher im frühen Mittelalter“ gewährt. Verschiedene Diskussionen mit Simone Blochmann und Steffen Patzold haben zur Korrektur und Präzisierung mancher Einzelaspekte geführt. Wertvolle Hilfe bei der Quellen- und Literaturrecherche verdanke ich Katerina Georgousaki. Exemplarisch sei verwiesen auf: Otto Seeck, Regesten der Kaiser und Päpste für die Jahre 311 bis 476 n. Chr. Stuttgart 1919; ders., Geschichte des Untergangs der antiken Welt, Bd. 6. Stuttgart 1920, ND Darmstadt 1966, 379f.; Ernst Stein, Geschichte des spätrömischen Reiches, Bd. 1: Vom römischen zum byzantinischen Staate (284–476 n. Chr.). Wien 1928, 589f.; ders., Histoire du bas-empire, tome II, publié par J.-R. Palanque. Paris/Bruges 1949, ND Amsterdam 1968 (vgl. den Untertitel: „De la disparition de l’Empire d’Occident à la mort de Justinien [476–565]“); Helmut Castritius, Das Problem des Epochenbewußtseins am Beispiel der Reaktion auf die Vorgänge des Jahres 476 n. Chr., in: Mitteilungen der Technischen Universität Carolo-Wilhelmina zu Braunschweig 10.2, 1975, 13–18; Ernst Kornemann, Geschichte der Spätantike, hrsg. von Hermann Bengtson. München 1978, 156; Jochen Martin, Spätantike und Völkerwanderung. 4. Aufl. München 2001, 49; Hartwin Brandt, Das Ende der Antike. Geschichte des spätrömischen Reiches. München 2001, 83f.; Peter Heather, Der Un-
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Zum einen beließ das in den beiden vergangenen Dekaden vorherrschende Paradigma von der allmählichen Transformation der antiken Welt nur noch wenig Raum, um scharfe Zäsuren zu ziehen2; zum anderen wurde darauf verwiesen, dass die betroffenen Zeitgenossen angesichts der schon länger anhaltenden Probleme des weströmischen Kaisertums, die u.a. auch mit wiederholten Interregna einhergingen, die Absetzung des Romulus Augustulus zunächst kaum als gravierenden Einschnitt wahrgenommen haben dürften. Dazu passten jüngere Forschungsergebnisse, die zeigten, dass unser frühestes Zeugnis für ein angebliches Bewusstsein vom Ende des Kaisertums im Westen und damit auch vom Ende des Westreichs als politischer Größe – ein berühmter Passus aus der Chronik des Marcellinus Comes3 – wohl nicht die Haltung weströmischer Aristokraten wiedergibt (wie zuvor vermutet)4, sondern eine im Ostteil des ehemaligen Gesamtreiches verwurzelte Wahrnehmung spiegelt.5 Mittlerweile ist man vereinzelt sogar noch weiter
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tergang des Römischen Weltreichs. Stuttgart 2007, 493 („Dieser folgenschwere Akt setzte einem Jahrtausend Reichsgeschichte ein Ende“); 494ff. Zuletzt hat Ingemar König, Die Spätantike. Darmstadt 2007, seine Darstellung mit dem Jahr 476 enden lassen; vgl. auch die Diskussion bei Alexander Demandt, Die Spätantike. Römische Geschichte von Diocletian bis Justinian 284–565 n. Chr. 2. Aufl. München 2007, 213–217. Demandt hat zudem vor einigen Jahren ein hilfreiches Kompendium der wichtigsten Argumente in der seit dem 5. Jh. anhaltenden Diskussion um das Ende des Römischen Reiches präsentiert: Alexander Demandt, Der Fall Roms. Die Auflösung des Römischen Reiches im Urteil der Nachwelt. München 1984. Exemplarisch vgl. etwa Glen W. Bowersock, The Vanishing Paradigm of the Fall of Rome, in: Bulletin of the American Academy of Arts and Sciences 49.8, 1996, 29–43, bes. 42: „Now, in 1995, it is probably fair to say that no responsible historian of the ancient or medieval world would want to address or acknowledge the fall of Rome as either fact or paradigm. It has ended up as a construction that has its own place in modern history […]“. Für das Transformations-Paradigma sei stellvertretend das von der ‚European Science Foundation‘ finanzierte Projekt „The Transformation of the Roman World“ genannt, aus dem zwischen 1999 und 2004 insgesamt 14 Bände in der gleichnamigen Reihe hervorgegangen sind; ferner sei verwiesen auf die Reflexionen über das in diesem Zusammenhang zentrale Buch von Peter Brown, The World of Late Antiquity. London 1971, in einem Sonderheft der ‚Symbolae Osloenses’: The World of Late Antiquity Revisited. With Comments by G. W. Bowersock, A. Cameron, E. A. Clark, A. Dihle, G. Fowden, P. Heather, Ph. Rousseau, A. Rousselle, H. Torp, I. Wood, and an Extensive Bibliography, in: Symbolae Osloenses 72, 1997, 5–90. Marc. Com. ad ann. 476,2 p. 91 Mommsen. So noch Marinus A. Wes, Das Ende des Kaisertums im Westen des Römischen Reichs. ‘s-Gravenhage 1967; Castritius, Epochenbewußtsein (wie Anm. 1). Die grundlegende Arbeit ist Brian Croke, A.D. 476: The Manufacture of a Turning Point, in: Chiron 13, 1983, 81–119 (zu den mehrmaligen Interregna seit dem Tod Valentinians III. im Jahr 455 s. ebd., 83–85); ferner Stefan Krautschik, Zwei Aspekte des Jahres 476, in: Historia 35, 1986, 344–371. Vgl. auch Andreas Goltz, Das ‚Ende‘ des Weströmischen Reiches in der frühbyzantinischen syrischen Historiographie, in: Andreas Goltz/Hartmut Leppin/Heinrich Schlange-Schöningen (Hrsgg.), Jenseits der Grenzen. Beiträge zur spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung. Berlin/New York 2009, 169–198; Hartmut Leppin, Justinian. Das christliche Experiment. Stuttgart 2011, 161; Edwards Watts, John Rufus, Timothy Aelurus, and the Fall of the Western Roman Empire, in: Ralph W. Mathisen/Danuta Shanzer
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gegangen und hat die Vermutung geäußert, dass Marcellinus nicht einmal für den Osten als repräsentativ angesehen werden könne, sondern dass seine kurzen Anmerkungen aus einer ganz spezifischen Situation um die Mitte der 520er Jahre erklärt werden müssten.6 Träfe diese These zu, dann wäre dem Jahr 476 jegliche Anmutung einer universalen Bedeutung entzogen. Ob die Absetzung des Romulus Augustulus tatsächlich ein derart geringes Echo unter den Mitlebenden ausgelöst hat, wie mittlerweile verschiedentlich gemutmaßt wird7, kann im Kontext meiner Überlegungen zunächst einmal dahingestellt bleiben. Wichtiger erscheint mir die Frage, ob sich die ‚Bedeutung‘ eines Ereignisses überhaupt unmittelbar aus Anzahl, Herkunft, Tendenz usw. des erhaltenen Quellenmaterials ableiten lässt, so wie es bisher zumeist betrieben wurde; denn Zeitgenossen und heutige Historiker dürften durchaus unterschiedliche Kri
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(Hrsgg.), Romans, Barbarians, and the Transformation of the Roman World. Cultural Interaction and the Creation of Identity in Late Antiquity. Farnham/Burlington 2011, 97–106. Dirk Henning, Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5–493 n. Chr. Stuttgart 1999, sieht in den Jahren seit 454/55 eine einzige Dauerkrise. Zuletzt David Potter, The Unity of the Roman Empire, in: Scott McGill/Cristiana Sogno/Edward Watts (Hrsgg.), From the Tetrarchs to the Theodosians. Later Roman History and Culture, 284–450 CE. Cambridge 2010 (= YCS 34, 2010), 13–32, hier 14: „Indeed, why should the failure of an Italian regime be especially relevant?“. Zur Diskussion s. auch Richard Klein, Die Auflösung des Weströmischen Reiches. Zeitliche Entwicklung – Selbstverständnis – Deutung, in: Raban von Haehling/Klaus Scherberich (Hrsgg.), Richard Klein. Roma versa per aevum. Ausgewählte Schriften zur heidnischen und christlichen Spätantike. Hildesheim/Zürich/New York 1999, 91–127, bes. 104; Guy Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568. Cambridge 2007, 281–283; 352ff. Andreas Goltz, Marcellinus Comes und das ‚Ende‘ des Weströmischen Reiches im Jahr 476, in: Dariusz Brodka/Michal Stachura (Hrsgg.), Continuity and Change. Studies in Late Antique Historiography. Krakau 2007 (= Electrum 13 [2007]), 39–59. Goltz stellt die These auf, „daß Marcellinus Comes’ berühmtes und wirkmächtiges Statement zum Untergang des Weströmischen Reiches im Jahr 476 mit hoher Wahrscheinlichkeit einer ganz spezifischen Situation in Konstantinopel Mitte der 520er Jahre geschuldet ist und nicht als generelle Einschätzung der Lage im Westen des Imperium Romanum verallgemeinert werden sollte“ (55). Im Hintergrund dieser Auffassung steht die Vermutung, dass Marcellinus, der dem Umfeld Justinians zuzuordnen ist, möglicherweise vor dem Hintergrund des justinianischen restauratioGedankens die Zäsur des Jahres 476 überbetont haben könnte, um damit die Darstellung des Kaisers zu untermauern, dass Italien von fremdstämmigen Barbaren beherrscht werde (45– 47). Dadurch hätten die Entwicklungen im Westen während des ausgehenden 5. Jh. bei Marcellinus eine in anderen Quellen nicht zu beobachtende Dramatisierung erfahren (49). Diese These steht und fällt freilich mit der von Goltz vorgeschlagenen Datierung der Marcellinus-Chronik in die Mitte der 520er Jahre, anstelle der traditionellen Ansetzung zeitnah zum Tod des Anastasios 518 (54). Dazu s. auch Andreas Goltz, Barbar – König – Tyrann. Das Bild Theoderichs des Großen in der Überlieferung des 5. bis 9. Jahrhunderts. Berlin/New York 2008, 95–116. Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang lediglich auf Beat Näf, Das Zeitbewußtsein des Ennodius und der Untergang Roms, in: Historia 39, 1990, 100–123, der mit Blick auf Ennodius zu dem Schluss kommt, dass durchaus von einem Bewusstsein bei den Zeitgenossen für die gravierenden politischen Umwälzungen um das Jahr 476 auszugehen sei.
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terien für das, worin sie Bedeutung sehen, anlegen. Offenkundig wurde jedenfalls mit der Ausschaltung des Kaisertums als Institution im Westen – ganz unabhängig von der Frage, ob man diese in der Absetzung des Romulus 476 oder dem Tod des exilierten Julius Nepos 480 erblicken möchte – ein Ordnungsrahmen tangiert, der bis dahin über Jahrhunderte hin für die Zeitgenossen als zentraler handlungsleitender und ideeller Bezugspunkt – als Denkfigur, wie ich es nennen möchte – gewirkt hatte. Das konnte nicht ohne Konsequenzen bleiben. Allerdings stellt es m.E. einen methodischen Kurzschluss dar, davon auszugehen, man könne diese Konsequenzen direkt über eine Analyse der zeitnahen Quellenzeugnisse zum Datum 476 greifen. Zwar lässt sich damit bis zu einem gewissen Grad eine Kommunikation über die Bedrohung der bestehenden Ordnung erfassen. Doch als wesentliche Konstituenten dieser ‚Ordnung‘ hätten Zeitgenossen sicherlich andere Aspekte identifiziert als moderne Historiker, die aus der Retrospektive und aufgrund ihrer wissenschaftlichen Vorannahmen auf differente Zusammenhänge blicken und dabei u.a. im angedeuteten Sinne zwischen dem Kaisertum als Institution und als Denkfigur trennen sollten. Das führt letztlich auf die Frage, wonach man eigentlich tatsächlich fragt, wenn man der Bedeutung des Jahres 476 nachgeht. Zwei Aspekte scheinen mir in diesem Zusammenhang von besonderer Relevanz zu sein: Zum einen die Tatsache des Fortfalls des Kaisertums als Institution im Westen, zum anderen die damit im Zusammenhang stehende Übernahme der Herrschaft durch Personen, die gemäß zeitgenössischer Zuordnungskategorien nicht mehr als Römer, sondern als Barbaren galten und damit wiederum für die Ausübung von Herrschaft schlechthin – nämlich in Form des (nunmehr im Westen inexistenten) Kaisertums – nicht qualifiziert waren und zuvor andere Wege hatten beschreiten müssen.8 Die Tatsache, dass aus dem Ende des Kaisertums in jenen wenigen Gebieten, die von ihm zuletzt noch nominell kontrolliert wurden, keine Anarchie resultierte und auch die überkommenen Verwaltungsstrukturen anfänglich weitgehend überlebten, verdeutlicht zunächst einmal, dass weiterhin 8
Die Frage, ob Barbaren im Römischen Reich tatsächlich als nicht herrschaftsfähig galten und ab wann diese Haltung möglicherweise aufgegeben wurde, beschäftigt die Forschung schon seit längerem. Von besonderer Bedeutung erscheint mir in diesem Zusammenhang eine dem magister militum Aspar (PLRE II 164–169 [Fl. Ardabur Aspar]) zugeschriebene und wahrscheinlich auf das Jahr 457 zu beziehende, allerdings erst in einem Anagnosticum Theoderichs d.Gr. für eine römische Synode im Jahr 501 überlieferte Aussage zu sein, wonach der Heerführer das ihm vom Senat angetragene Kaisertum abgelehnt habe, um keinen Präzedenzfall zu schaffen: timeo, ne per me consuetudo in regno nascatur (Th. Mommsen [Ed.], Acta Synhodorum Habitarum Romae, a. CCCCXCVIIII. DI. DII, in: Th. Mommsen [Ed.], Cassiodori Senatoris Variae. [MGH Auct. ant. XII.] Berlin 1894, ND Dublin/Zürich 1970, 393–455, hier 425,24). Dazu s. bes. Raban von Haehling, ‚Timeo, ne per me consuetudo in regno nascatur‘. Die Germanen und der römische Kaiserthron, in: M. Wissemann (Hrsg.), Roma renascens. Beiträge zur Spätantike und Rezeptionsgeschichte. Frankfurt a.M./Bern u.a. 1988, 88–113. Ich habe die Gründe, warum ich diese Aussage auf das ‚Barbarentum‘ Aspars beziehe und in dessen Diktum ein wichtiges Zeugnis sehe, andernorts dargelegt, vgl. Mischa Meier, Ostrom-Byzanz, Spätantike-Mittelalter. Überlegungen zum ‚Ende‘ der Antike im Osten des Römischen Reiches, in: Millennium 9, 2012, 187–253, bes. 206–209, mit Anm. 61–66.
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eine Form von Herrschaft in einem institutionellen Rahmen ausgeübt wurde, in dieser Hinsicht also Kontinuität bestand und nicht lediglich schwer fassbare, weitgehend amorphe Machtbeziehungen den Alltag gestalteten.9 Die Tatsache hingegen, dass die neuen Herrscher als Barbaren galten, dürfte es unumgänglich gemacht haben, diese Herrschaft in verschiedensten Bereichen neu zu organisieren und zu konzeptionalisieren. Diese Erfordernis betrifft natürlich unmittelbar den viel diskutierten, wahrscheinlich jedoch insbesondere von der deutschsprachigen Forschung letztlich überbewerteten Aspekt der ‚Rechtsstellung‘ der neuen Potentaten;10 sie betrifft andererseits aber auch weite Felder wie Repräsentation und Herrschaftspraxis – kurzum: Der Fortfall des Kaisertums überführte die betroffenen Personen und Territorien nicht in einen Zustand der An-archie, aber die arché – d.h. die Herrschaft im konkreten Wortsinn – war neu zu fassen. Die Liquidation einer jahrhundertealten Institution bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung einer ihrer Zentralfunktionen – Ausübung von Herrschaft – musste zwangsläufig Reflexionen darüber einleiten, wie diese Zentralfunktion den veränderten Rahmenbedingungen angepasst werden konnte. Diese Problematik wiederum lässt sich auf zwei Ebenen und mit Blick auf unterschiedliche Akteursgruppen untersuchen: Zum einen sahen sich Personen wie Odoaker, Theoderich oder auch Chlodwig auf einer praktischen Ebene der Herausforderung gegenüber, als Barbaren und Anführer heterogener, mehrheitlich barbarischer Verbände ihre neu erworbene Herrschaft, die sich jetzt auch über Personen und Gebiete erstreckte, die (zumindest formal) unmittelbar zuvor noch dem Kaiser unterstanden hatten, so einzurichten und zu legitimieren, dass ein möglichst hohes Maß an Akzeptanz und Stabilität erreicht werden konnte (das konnte u.a. durch eine Orientierung am Vorbild solcher Regionen erreicht werden, aus denen sich das Kaisertum als Ordnungsfaktor schon zuvor hatte zurückziehen 9
Ich unterscheide hier und im Folgenden analytisch zwischen Macht und Herrschaft, wobei ich für letztere im Zusammenhang meiner Überlegungen einen – wie auch immer zu fassenden – institutionellen Rahmen voraussetze; näher dazu s.u. 10 Vgl. etwa die mittlerweile uferlose Diskussion über die ‚Rechtsstellung‘ Theoderichs, z.B. Wilhelm Enßlin, Theoderich der Große. 2. Aufl. München 1959, 74ff.; Arnold H. M. Jones, The Constitutional Position of Odoacer and Theoderic, in: JRS 52, 1962, 126–130; Stein, Histoire (wie Anm. 1), 116ff.; Evangelos K. Chrysos, Die Amaler-Herrschaft in Italien und das Imperium Romanum. Der Vertragsentwurf des Jahres 535, in: Byzantion 51, 1981, 430–474; Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. 3. Aufl. München 1990, 286ff.; ders., Theoderich der Große, in: RGA 30, 2005, 415–419, bes. 416f.; John Moorhead, Theoderic in Italy. Oxford 1992, 39ff.; Jan Prostko-Prostyński, Utraeque res publicae. The Emperor Anastasius I’s Gothic Policy. Poznań 1994, 131ff.; Dorothee Kohlhas-Müller, Untersuchungen zur Rechtsstellung Theoderichs des Großen. Frankfurt a.M. u.a. 1995; Frank M. Ausbüttel, Theoderich der Große. Darmstadt 2003, 68ff.; Wolfgang Giese, Die Goten. Stuttgart 2004, 74ff.; Fiona K. Haarer, Anastasius I. Politics and Empire in the Late Roman World. Cambridge 2006, 80ff. Eine knappe Zusammenfassung wichtiger Forschungspositionen bietet Jan ProstkoProstyński, Die gotische Politik des Byzantinischen Reiches zur Zeit Anastasios I. (491–518), in: Eos 80, 1992, 331–335, hier 331f.
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müssen, ferner durch eine Übernahme und Modifikation diverser Formen kaiserlicher Repräsentation).11 Zum anderen aber stellte die Institution des Kaisertums, wie angedeutet, auch eine zentrale Denkfigur dar, mit der sich für Zeitgenossen insbesondere die Assoziation einer funktionierenden irdischen Ordnung verband und in der die Forschung ein zentrales Signum des Imperium Romanum identifiziert. Der Fortfall des materiellen Bezugspunktes dieser Denkfigur im Westen wird demzufolge zwangsläufig erhebliche Verunsicherungen ausgelöst haben, aus dem ein grundsätzliches Nachdenken über Herrschaft resultieren musste, und zwar – und dies ist für mich im Folgenden der entscheidende Punkt – nicht nur auf der Seite der neuen barbarischen Herren (wo dies letztlich eine erwartbare Konsequenz aus ihren unmittelbar zuvor erlangten Positionen war), sondern insbesondere auch auf der Seite der etablierten Herrschaftsträger, namentlich des Papstes im Westen und des verbliebenen Kaisers im Osten. Dieses Nachdenken spiegelt sich u.a. in dem Konstrukt eines nunmehr von Konstantinopel aus allein herrschenden Kaisers, der zu den barbarischen Potentaten in unterschiedliche Verhältnisse treten konnte, um deren Position jeweils anzuerkennen, zu festigen oder auch zu schwächen – so etwa der Vertrag, in dem Zenon 474 den Vandalen den Besitz der von ihnen okkupierten Gebiete zugestand12, die Ernennung Chlodwigs zum ‚Ehrenkonsul‘ oder patricius im Jahr 50813 oder auch das lange Zögern, das Anastasios der Anerkennung der Stellung Theoderichs in Italien im Jahr 497 vorausge 11 Ich kann an dieser Stelle nur pauschal auf die entsprechende Forschungsliteratur verweisen. Zu Odoaker s. den Beitrag von Hans-Ulrich Wiemer im vorliegenden Band; zu Theoderich sei hingewiesen auf die kurze Skizze von Hans-Ulrich Wiemer, Theoderich der Große und das ostgotische Italien. Integration durch Separation, in: Mischa Meier (Hrsg.), Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, 156–175; 349; ferner Moorhead, Theoderic (wie Anm. 10); umfassende Auswertung des Materials bei Goltz, Barbar (wie Anm. 6). Zu Chlodwig s. Bernhard Jussen, Chlodwig und die Eigentümlichkeiten Galliens. Ein warlord im rechten Augenblick, in: Meier, a.a.O., 141–155; 348f.; zuletzt Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt. München 2011; ferner die Beiträge von Matthias Becher und Bernhard Jussen im vorliegenden Band. Wichtig ist darüber hinaus: Egon Flaig, Wie im Westen des Imperiums ein neues politisches System entstand, in: Bernhard Jussen (Hrsg.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit. München 2005, 1–13; 369f.; Bernhard Jussen, Wie die poströmischen Könige sich in Selbstdarstellung übten, ebd., 14–26; 370f.; s. auch Michael McCormick, Eternal Victory. Triumphal Rulership in Late Antiquity, Byzantium and the Early Medieval West. Cambridge/Paris 1986, ND 1990. 12 Vgl. Vict. Vita 1,51; Prok. BV 1,7,26–27. Christian Courtois, Les Vandales et l’Afrique. Paris 1955, 204; Helmut Castritius, Die Vandalen. Stuttgart 2007, 121f. 13 Vgl. Greg. Tur. Hist. 2,38. Dazu s. Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches. 2. Aufl. Stuttgart 2010, 231–233; 404f., Anm. 53–67 (weitere Literatur); Helmut Castritius, Chlodwig und der Tag von Tours im Jahre 508, in: Matthias Becher/Stefanie Dick (Hrsgg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter. München 2010, 113–120; Ralph W. Mathisen, Clovis, Anastasius, and Political Status in 508 CE: The Frankish Aftermath of the Battle of Vouillé, in: Ralph Mathisen/Danuta Shanzer (Hrsgg.), Vouillé, 507 CE: Where France Began. Berlin/New York 2012, 79–110.
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hen ließ.14 Mithin: Auch das Konzept der translatio imperii ließe sich zumindest partiell als Konsequenz eines neuen Nachdenkens über Herrschaft um 500 interpretieren. Doch auch wenn man nicht ganz so weit gehen möchte – unabhängig von den alltäglichen Bedürfnissen der Organisation des Zusammenlebens mussten nach 476 grundsätzliche Prinzipien und Mechanismen von Herrschaft neu konzeptionalisiert werden. Der unmittelbare Quellenbefund zu diesem Problemkomplex ist indes wenig aussagekräftig, da sich kaum explizite Zeugnisse für entsprechende theoretische Reflexionen und Hinweise auf deren Ursachen erhalten haben, so dass im Folgenden einige Umwege beschritten werden müssen, um die eingangs formulierte These zu begründen. Damit der Rahmen der vorliegenden Untersuchung nicht allzu sehr überdehnt wird, soll dies mit einem besonderen Fokus auf den Bischof von Rom und den Kaiser in Konstantinopel geschehen. II. VORSPIEL: DAS JAHR 410 UND DIE FOLGEN Um Missverständnissen vorzubeugen, sei zunächst darauf hingewiesen, dass ‚Herrschaft‘ im Folgenden dezidiert von ‚Macht‘ abgegrenzt werden soll. Über beide Begriffe, die sich nicht in allen Sprachen ebenso klar trennen lassen wie im Deutschen, ist in unterschiedlichen Zusammenhängen viel räsoniert worden.15 Dabei hat sich primär herauskristallisiert, dass ‚Macht‘ in einer deutlich komplexeren Weise die Gestaltung von Sozialbeziehungen umschreibt, als dies mit dem Herrschafts-Begriff möglich wäre.16 So können sich Machtverhältnisse mitunter in Form von Herrschaft manifestieren (aber nicht umgekehrt), womit – wie schon Max Weber festgehalten hat – ‚Herrschaft‘ analytisch der präzisere Begriff ist.17 Aufbauend auf Webers klassischer Definition von Herrschaft als „Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden“18, und mit Blick auf spezifische Strukturen der Antike hat Walter Eder vor einigen 14 Vgl. Haarer, Anastasius (wie Anm. 10), 80ff.; Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 92ff. 15 Verwiesen sei lediglich auf Michel Foucault, Analytik der Macht. 4. Aufl. Frankfurt a.M. 2011. Über den Herrschaftsbegriff wird insbesondere in der Mediävistik seit Jahrzehnten eine Debatte geführt, vgl. die Skizze bei Walter Pohl, Herrschaft, in: RGA 14, 1999, 443–457. Ein Überblick über antike Herrschaftskonzepte und die Anwendung des Herrschaftsbegriffs auf die Antike findet sich bei Peter Stockmeier, Herrschaft, in: RAC 14, 1988, 877–935. 16 Vor wenigen Jahren hat Georg Zenkert, Die Konstitution der Macht. Kompetenz, Ordnung und Integration in der politischen Verfassung. Tübingen 2004, auf die schwierigen theoretischen Probleme eines adäquaten Zugriffs auf den Machtbegriff hingewiesen und Macht sehr weit als „Inbegriff der Gestaltungsmöglichkeiten der sozialen Welt“ intepretiert (15). Macht sei dabei „überhaupt nur als verfaßte Macht möglich und kann abgelöst von ihrer Verfassung nur als amorphe Erscheinung wahrgenommen werden“ (ebd.). Herrschaft wird in diesem Kontext als Teilaspekt von Macht verstanden, der mit Begriffen wie Zwang und Kontrolle assoziiert wird (11). 17 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie. 5. Aufl. Tübingen 1972, ND 1980, 29. 18 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 17), 28.
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Jahren folgende Arbeitsdefinition entwickelt: Eine „wechselseitige soziale Beziehung, die zur Herstellung und dauerhaften Bewahrung der gesellschaftlichen Ordnung in politischen Verbänden dient. H[errschaft] ruht auf festen Regeln, die sowohl für den oder die Träger der H[errschaft] als auch für die Beherrschten gelten; dabei steht der Autorität des oder der Herrscher in der Regel eine unreflektierte Zustimmung, zumindest jedoch eine tendenzielle Toleranz der Beherrschten gegenüber“.19 Meinen nachfolgenden Überlegungen möchte ich diese Definition zugrunde legen, sie allerdings insoweit präzisieren bzw. modifizieren, als ich die von Eder erwähnten ‚Regeln‘ möglichst weit zu fassen gedenke, so dass auch ritualisierte Formen von Kommunikation und sozialem Handeln darunter fallen.20 Insbesondere ist mir wichtig, dass Herrschaft sich – anders als Macht – in einem institutionellen Korsett manifestiert, das Vorgaben zur Ausgestaltung sozialer Beziehungen generiert und vermittelt; dieses Korsett kann durchaus Veränderungen unterworfen sein, bleibt aber für die Ausübung von Herrschaft unverzichtbar. Neu war die Frage nach Herrschaft im 5. Jahrhundert nicht. Sie dürfte vor allem im Kontext der Ereignisse um die Eroberung Roms durch Alarich am 24. August 410 in drastischer Weise aufgeworfen worden sein.21 Nachdem Alarichs Truppen drei Tage lang die Ewige Stadt geplündert hatten – die erste Einnahme der Urbs durch auswärtige Gegner seit dem Keltenüberfall im Jahr 387 v. Chr. –, entbrannte bekanntlich eine erbitterte Debatte um die Ursachen für das katastrophale Ereignis, das Zeitgenossen u.a. (aber nicht nur) auf eine Auseinandersetzung zwischen Christen und Altgläubigen um die ‚Schuldfrage‘ zuspitzten.22 Dass 19 Walter Eder, Herrschaft I, in: Der Neue Pauly 5, 1998, 487f. (das Zitat 487). Mit dem letzten Teil der Definition scheint Eder den Versuch unternommen zu haben, die von Weber vorgeschlagenen Idealtypen legitimer Herrschaft exakter auf Strukturen der Antike zu beziehen. 20 Zu diesem Komplex s. etwa Gerd Althoff, Inszenierte Herrschaft. Geschichtsschreibung und politisches Handeln im Mittelalter. Darmstadt 2003; ders., Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter. Darmstadt 2003; ders., Rituale als ordnungsstiftende Elemente, in: W. Pohl (Hrsg.), Der Frühmittelalterliche Staat. Europäische Perspektiven. Wien 2009, 391–398; Egon Flaig, Ritualisierte Politik: Zeichen, Gesten und Herrschaft im alten Rom. 2. Aufl. Göttingen 2004; Kai Trampedach, Kaiserwechsel und Krönungsritual im Konstantinopel des 5. und 6. Jahrhunderts, in: Marion Steinicke/Stefan Weinfurter (Hrsgg.), Investiturund Krönungsrituale. Herrschaftseinsetzungen im kulturellen Vergleich. Köln/Weimar/Wien 2005, 275–290; Philippe Buc, The Dangers of Ritual. Between Early Medieval Texts and Social Scientific Theory. Princeton 2001; ders., The Monster and the Critics: A Ritual Reply, in: Early Medieval Europe 15, 2007, 441–452. 21 Michael Kulikowski, Die Goten vor Rom. Darmstadt 2009. 22 Zu diesem Diskussionszusammenhang s. Johannes Straub, Christliche Geschichtsapologetik in der Krisis des Römischen Reiches, in: ders., Regeneratio Imperii. Aufsätze über Roms Kaisertum und Reich im Spiegel der heidnischen und christlichen Publizistik. Darmstadt 1972, 240–270; Ferdinand Heinzberger, Heidnische und christliche Reaktion auf die Krisen des Weströmischen Reiches in den Jahren 395–410 n. Chr. Diss. Bonn 1976; Otto Zwierlein, Der Fall Roms im Spiegel der Kirchenväter, in: ZPE 32, 1978, 45–80; Barbara Feichtinger, Glaube versus Aberglaube. Der Untergang Roms in den Augen von Zeitgenossen, in: Chartulae. Festschrift für Wolfgang Speyer. Münster 1998, 145–166; Arnaldo Marcone, Il sacco di Roma del 410 nella riflessione di Agostino e di Orosio, in: RSI 114, 2002, 851–867; Stefan
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mit den Geschehnissen um die Eroberung Roms aber nicht nur das Glaubensproblem tangiert wurde, sondern auch grundsätzliche Fragen nach Herrschaft sowie ihrer Ausübung und Organisation, lässt sich an verschiedenen Indizien festmachen, etwa an dem Umstand, dass Rutilius Namatianus, im Jahr 414 selbst praefectus urbi, in seinem Gedicht De reditu suo noch einmal in bemerkenswert markanten Tönen die Rolle Roms als Beherrscherin des Erdkreises apostrophierte23, aber auch daran, dass man versuchte, die Verantwortung für das Unheil an einzelnen Personen festzumachen, die mit der Ausübung von Herrschaft befasst waren und hierin versagt zu haben schienen. So konnte der magister militum Stilicho, bis zu seiner Ermordung 408 die einflussreichste Figur im Westen, als halbbarbarischer Verräter diskreditiert werden24, während der Kaiser Honorius mit dem Stigma der grenzenlosen Unfähigkeit geschlagen wurde.25 Mangels zuverlässiger Quellen können wir über die Geschehnisse in jenen drei Augusttagen, in denen Alarichs Truppen die Stadt Rom plünderten, kaum sichere Aussagen treffen; umso nachhaltiger gestalten sich jedoch die wirkungsgeschichtlichen Konsequenzen, die das Ereignis nach sich zog und die den 24. August 410 zu einem zentralen Fluchtpunkt der europäischen Geschichte geraten ließen.26 Über all den Assoziationen, die sich in späteren Diskursen über die Jahrhunderte hin mit der Eroberung Roms verbanden, dürfen jedoch die unmittelbaren Folgen nicht übersehen werden. Nachdem sich „dasselbe Bild des Todes allen“ gezeigt hatte (eadem omnibus imago mortis), wie Pelagius, unser einziger Augenzeuge, lakonisch überliefert27, verbreitete sich ein Flüchtlingsstrom über die Mit
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Rebenich, Christian Asceticism and Barbarian Incursion: The Making of a Christian Catastrophe, in: Journal of Late Antiquity 2, 2009, 49–59; zuletzt Umberto Roberto, Roma capta. Il Sacco della città dai Galli ai Lanzichenecchi. Rom/Bari 2012, 83ff. Zusammenfassend: Mischa Meier/Steffen Patzold, August 410 – Ein Kampf um Rom. 2. Aufl. Stuttgart 2010. PLRE II 770f. (Rutilius Claudius Namatianus). Vgl. Rut. Nam. 1,47–164. Dazu Hagith S. Sivan, Rutilius Namatianus, Constantius III and the Return to Gaul in Light of New Evidence, in: Mediaeval Studies 48, 1986, 522–532; Hans A. Gärtner, Der Fall Roms. Literarische Verarbeitung bei Heiden und Christen, in: Johannes van Oort/Dietmar Wyrwa (Hrsgg.), Heiden und Christen im 5. Jahrhundert. Leuven 1998, 160–179; Vincent Zarini, Histoire, panégyrique et poésie: trois éloges de Rome l’éternelle autour de l’an 400 (Ammien Marcellin, Claudien, Rutilius Namatianus), in: Ktema 24, 1999, 167–179; Rutilius Namatianus, Sur son retour. Nouvelle édition. Texte établi et traduit par É. Wolff avec la collaboration de S. Lancel pour la traduction et de J. Soler pour l’introduction. Paris 2007; Meier/Patzold, August 410 (wie Anm. 22), 69ff. Zu den vermeintlich verräterischen Umtrieben Stilichos (PLRE I 853–858 [Flavius Stilicho]) s. Eunap. fr. 62,1 Blockley; Oros. 7,38; Rut. Nam. 2,41–60 (v. 2,42: proditor arcani quod fuit imperii); Philostorg. HE 12,1–3; vgl. auch Hieron. epist. 123,16 (a. 408: semibarbarus proditor); Iord. Get. 115. Zu Stilicho: Tido Janßen, Stilicho. Das weströmische Reich vom Tode des Theodosius bis zur Ermordung Stilichos (395–408). Marburg 2004. Zur Beurteilung des Honorius durch Zeitgenossen und Spätere s. Meier/Patzold, August 410 (wie Anm. 22), 89ff. Vgl. den Überblick bei Meier/Patzold, August 410 (wie Anm. 22). Pelag. epist. ad Demetriadem 30 PL 30,44B.
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telmeerwelt.28 Auch in Afrika landeten ehemalige Bewohner der Urbs an, und das Grauen, das sie erfahren haben müssen – indirekt vielfach greifbar in Augustins Predigten und in seiner Gottesstadt29 –, veranlasste den Bischof von Hippo Regius dazu, vertieft über die an ihn herangetragenen Grundfragen nachzudenken, die sich u.a. um die Erschütterung der Herrschaft Roms (und seiner Institutionen) über die Oikumene drehten. Dabei ist deutlich eine Entwicklung zu beobachten, die von der unmittelbaren Bewältigung der Geschehnisse und der damit zusammenhängenden Fragen – greifbar in den auf Alarichs Handstreich bezugnehmenden Predigten (September 410 – Anfang 412) und in den ersten fünf Büchern der Gottesstadt (ab 412/13)30 – zu grundsätzlichen geschichtstheologischen Erörterungen, insbesondere im 2. Teil der Gottesstadt (B. 11–22), hinführt.31 Schon in den ersten, zeitnahen Äußerungen, in denen neben unmittelbar apologetischen und erbaulichen Argumenten32 u.a. Aspekte wie Prüfung, Zurechtweisung und Strafe (vgl. das Bild von der Ölpresse)33, die Unterscheidung von ‚bloßer‘ Züchtigung 28 Vgl. Timothy D. Barnes, Aspects of the Background of the City of God, in: Revue de l’Université d’Ottawa/University of Ottawa Quarterly 52, 1982, 64–80, bes. 72f. 29 Joseph Fischer, Die Völkerwanderung im Urteil der zeitgenössischen kirchlichen Schriftsteller Galliens unter Einbeziehung des heiligen Augustinus. Heidelberg 1948, 40ff.; Franz G. Maier, Augustin und das antike Rom. Stuttgart/Köln 1955, 59ff.; Heinrich SchlangeSchöningen, Augustinus und der Fall Roms: Theodizee und Geschichtsschreibung, in: Andreas Goltz/Hartmut Leppin/Heinrich Schlange-Schöningen (Hrsgg.), Jenseits der Grenzen. Beiträge zur spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung. Berlin/New York 2009, 135–152, bes. 144ff. 30 Zu Datierung und Aufbau von De civitate Dei s. Johannes van Oort, De ciuitate dei (Über die Gottesstadt), in: Volker H. Drecoll (Hrsg.), Augustin Handbuch. Tübingen 2007, 347–363; Gerard J. P. O’Daly, Ciuitate dei (De –), in: Augustinus-Lexikon 1, 1986, 969–1010; Serge Lancel, Saint Augustin. Paris 1999, 547ff. Vgl. ferner Christian Tornau, Zwischen Rhetorik und Philosophie. Augustins Argumentationstechnik in De civitate Dei und ihr bildungsgeschichtlicher Hintergrund. Berlin/New York 2006 (zu Augustin. civ. 1–5). 31 Bei den Predigten handelt es sich um serm. 24 (Germain Morin [Ed.], Miscellanea Agostiniana 1: Sancti Augustini Sermones post Maurinos Reperti. Rom 1930, 141–155) [25. Sept. 410]; serm. 81 (PL 38, 499–506) [wohl Ende 410]; serm. 296 (Germain Morin [Ed.], Miscellanea Agostiniana 1: Sancti Augustini Sermones post Maurinos Reperti. Rom 1930, 401–412) [29. Juni 411]; serm. 105 (PL 38,618–625) [Sommer 411]; serm. de exc. urb. (Marie-Vianney O’Reilly [Ed.], Sancti Aurelii Augustini De Excidio Urbis Romae Sermo. (CCSL 46.) Turnhout 1969, 243–262) [wohl Winter 411/12]. Vgl. dazu Jean-Claude Fredouille (Hrsg.), Saint Augustin, Sermons sur la chute de Rome. Paris 2004; ferner Maier, Augustin (wie Anm. 29), 59ff.; Zwierlein, Fall Roms (wie Anm. 22), 58–80; John K. Coyle, Augustine and Apocalyptic: Thoughts on the Fall of Rome, the Book of Revelation, and the End of the World, in: Florilegium 9, 1987, 1–34, bes. 5–8. 32 Vgl. etwa Augustin. serm. 24,10–11 p. 150–152 Morin; serm. 296,9–11 p. 407–409 Morin; serm. 81,7–9 PL 38,503–506; serm. 105,11,12–105,10,13 PL 38, 623–625. Theodore S. de Bruyn, Ambivalence within a „Totalizing Discourse“: Augustine’s Sermons on the Sack of Rome, in: Journal of Early Christian Studies 1, 1993, 405–421. 33 Z.B. Augustin. serm. 24,3–4 p. 143–145; 24,12–14 p. 152–154 Morin; serm. 296,12 p. 409– 410 Morin; serm. 81,2 PL 38,499–500; serm. de exc. urb. 2,1 p. 250; 3,3–4,4 p. 252–255; 8,9 p. 261 O’Reilly. – Ölpresse: Augustin. serm. 24,11 p. 151 Morin; serm. 81,2 PL 38,499–500.
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und Zerstörung der Stadt34, die Vergänglichkeit weltlicher Institutionen35, das Alter der Welt36, die Differenzierung zwischen Rom als Stadt und seinen Einwohnern37, die Notwendigkeit, Gottes Willen zu akzeptieren (vgl. das HiobExempel)38, u.v.m. angeführt werden39, ist die Tendenz erkennbar, aktuelles irdisches Geschehen mit Blick auf das himmlische Heil radikal zu entwerten.40 So fragt Augustin etwa im Sommer 411: „Warum erschrickst Du, da irdische Reiche zugrundegehen? Darum ist Dir das himmlische Reich verheißen, auf dass Du nicht mit den irdischen zugrunde gehest“41, um wenig später hinzuzufügen: „Getroffen worden sind sie [sc. unsere Leute] im irdischen Reich: Aber das Reich der Himmel haben sie nicht verloren. Ja sogar um es zu erlangen, wurden sie in der Leidensübung zu Besseren gemacht“.42 Folgerichtig erscheint dem Kirchenvater auch jede Form irdischer Herrschaft bedeutungslos, wie er in der Gottesstadt wiederholt deutlich macht: „Was nämlich dieses Leben der Sterblichen angeht, das wenige Tage andauert und dann beendet wird, was bedeutet es schon, unter wessen Herrschaft (sub cuius imperio) ein Mensch lebt, da er doch sterben muss – wenn die Herrscher ihn nicht zu gottlosen und ungerechten Taten zwingen?“.43 34 Z.B. Augustin. serm. 81,9 PL 38,505; serm. de exc. urb. 2,2 p. 251–252; 7,8 p. 260 O’Reilly. 35 Z.B. Augustin. serm. 81,8–9 PL 38,504–505; serm. 105,2,2 PL 38,619; 105,6,8–105,7,9 PL 38,621–622; 105,8,11–105,11,12 PL 38,623–624; serm. de exc. urb. 4,4 p. 254–255 O’Reilly; s. auch Augustin. civ. 4,7. 36 Z.B. Augustin. serm. 81,8 PL 38,504–505. 37 Z.B. Augustin. serm. 81,9 PL 38,505; serm. 105,7,9; serm. de exc. urb. 6,6 p. 258 O’Reilly. 38 Z.B. Augustin serm. 296,1–8 p. 401–406 Morin. – Hiob: Augustin. serm. 81,4 PL 38,501; serm. de exc. urb. 1,1 p. 249; 3,3–4,4 p. 252–255 O’Reilly. 39 De Bruyn, Ambivalence (wie Anm. 32). 40 Z.B. Augustin. serm. 81,5 PL 38,502–503; 81,7 PL 38,503–504; serm. 105,7,9–105,8,11 PL 38,622–623; serm. de exc. urb. 6,6 p. 257–258 O’Reilly. 41 Augustin. serm. 105,7,9 PL 38,622: „Quid expavescis, quia pereunt regna terrena? ideo tibi coeleste promissum est, ne cum terrenis perires.“ 42 Augustin. serm. 105,10,13 PL 38,625: „Afflicti sunt in regno terreno: sed regnum coelorum non perdiderunt. imo ad illud capessendum exercitatione tribulationum meliores effecti sunt.“ 43 Augustin. civ. 5,17: „Quantum enim pertinet ad hanc vitam mortalium, quae paucis diebus ducitur et finitur, quid interest sub cuius imperio vivat homo moriturus, si illi qui imperant ad impia et iniqua non cogant?“ Vgl. auch Augustin. civ. 4,28: „Illi [sc. civitati] in principibus eius vel in eis quas subiugat nationibus dominandi libido dominatur; in hac [sc. civitate] serviunt invicem in caritate et praepositi consulendo et subditi obtemperando. illa in suis potentibus diligit virtutem suam; haec dicit Deo suo: Diligam te, Domine, virtus mea.“ Ferner Augustin. civ. 1,30–31; 14,15; 19,15 (zur libido dominandi und ihren fatalen Folgen). Zur Radikalkritik Augustins an weltlicher Herrschaft s. auch Zenkert, Konstitution der Macht (wie Anm. 16), 116ff., bes. 119 („denn die Anmaßung weltlicher Herrschaft erweist sich in der Tat als Verkehrung der himmlischen Ordnung, in der die natürliche Gleichheit der Menschen zerstört wird“); 120 („Politische Herrschaft […] rückt in die Nähe der Sklaverei, die als Unterwerfung des Menschen durch den Menschen ein Resultat der Sünde ist“); 121 („Im Gottesstaat wird die Grundlage aller weltlichen Politik, die Herrschsucht, abgelöst durch die Gottesliebe“). Daneben vgl. auch Maier, Augustin (wie Anm. 29), 117ff. Bei aller Kritik an irdischer Herrschaft und traditioneller Politik insgesamt, die Augustin in De civitate Dei und andernorts äußert, darf aber nicht übersehen werden, dass daraus keine prinzipielle Reichs
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Vielmehr habe man zu blicken auf „jene Stadt, in der uns zu herrschen verheißen ist“.44 Letztlich vollzieht Augustin an diesen Stellen einen radikalen Bruch mit der Tradition antiker politischer Theorie, in der Fragen nach irdischer Herrschaft, ihrer Organisation und Ausgestaltung stets eine zentrale Rolle gespielt hatten45, und ersetzt diese durch das Leitbild „jener Stadt“. Mit „jener Stadt“ (illa civitas) zielt der Bischof von Hippo auf die civitas Dei, den Fluchtpunkt seines theologisch-historischen Denkens in den Jahren nach 410 und den Kern des von ihm im Nachgang der Eroberung Roms entwickelten Krisenbewältigungskonzepts.46 In der Augustin-Rezeption wurde die civitas Dei mit oder Romfeindlichkeit des Bischofs von Hippo abzuleiten ist. Vielmehr erkannte er das Imperium Romanum, seine Institutionen und Repräsentanten nicht nur an, sondern war durchaus auch dazu bereit, mit römischen Amtsträgern zu kooperieren – und dies auch aus eigener Initiative heraus; so befürwortete er etwa phasenweise (seit etwa 400) ein (auch gewaltsames) Eingreifen der römischen Institutionen im donatistischen Streit. Vgl. zu diesem Diskussionskomplex Maier, Augustin (wie Anm. 29); François Paschoud, Roma aeterna. Études sur le patriotisme romain dans l’occident latin a l‘époque des grandes invasions. Neuchâtel 1967, 234–275; Johannes A. Straub, Vom Herrscherideal in der Spätantike. Stuttgart 1939, 141ff.; Klaus Thraede, Das antike Rom in Augustins De civitate Dei. Recht und Grenzen eines verjährten Themas, in: JbAC 20, 1977, 90–148; Werner Suerbaum, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff. Über Verwendung und Bedeutung von res publica, regnum, imperium und status von Cicero bis Jordanis. 3. Aufl. Münster 1977, 190ff., mit Anm. 59; ErnstWolfgang Böckenförde, Geschichte der Rechts- und Staatsphilosophie. Antike und Mittelalter. Tübingen 2002, 208ff. 44 Augustin. civ. 5,17: „[…] illa civitas, in qua nobis regnare promissum est […]“. 45 So dezidiert Zenkert, Konstitution der Macht (wie Anm. 16), 116 („eine Revolution der politischen Begriffsbildung“); 117 („ein[…] wirkliche[r] Bruch mit der klassischen Tradition“). Ähnlich auch Peter Weber-Schäfer, Einführung in die antike politische Theorie. Zweiter Teil: Von Platon bis Augustinus. 2. Aufl. Darmstadt 1992, 158; Henning Ottmann, Geschichte des politischen Denkens, Bd. 2: Römer und Mittelalter, Teilband 2: Das Mittelalter. Stuttgart/Weimar 2004, 23f.; 30. 46 Augustin hat bereits vor 410, insbesondere im Zusammenhang der Auseinandersetzungen mit den Donatisten und selbst beeinflusst von Gedanken des Donatisten Tyconius, über die Ausdifferenzierung zweier Reiche nachgedacht, die Ausarbeitung dieser Lehre erfolgte jedoch erst im Kontext seines Hauptwerks De civitate Dei, vgl. Yves M.-J. Congar, Die Lehre von der Kirche. Von Augustinus bis zum Abendländischen Schisma. (Handbuch der Dogmengeschichte III.3.c.) Freiburg/Basel/Wien 1971, 6. U.a. aufgrund der Tatsache, dass Augustin sich schon vor 410 mit Grundideen, die später in der Gottesstadt ausgearbeitet wurden, auseinandergesetzt hatte, hat Barnes, Aspects (wie Anm. 28), 64–80, die These aufgestellt, dass „Augustine would have written a City of God even if Alaric had not sacked Rome“ (67). Barnes ordnet das Werk in einen größeren Kontext heidnisch-christlicher Auseinandersetzungen im 4. und 5. Jh. ein, bei dem die Eroberung Roms lediglich einen von zahlreichen Diskussionspunkten dargestellt habe, aber seine zentrale Relevanz verliere (69ff.); die Gottesstadt sei ohnehin weniger als Verteidigungsschrift für das Christentum gegen pagane Vorwürfe denn als protreptisches Werk mit Blick auf gelehrte Altgläubige konzipiert gewesen (vgl. 80). Beide Positionen schließen sich indes, wie die neuere Forschung mittlerweile hervorhebt, keineswegs aus. Überdies wird man zweifellos neben den unmittelbaren Ereignissen des Jahres 410 auch den größeren Kontext der pagan-christlichen Auseinandersetzungen sowie die schon längere Beschäftigung Augustins mit der Idee der zwei civitates berücksichtigen müs
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unter mit der Kirche identifiziert,47 eine Deutung, die dem Umstand Rechnung trägt, dass der Kirchenvater parallel zum Entwurf der Gottesstadt auch seine Ekklesiologie ausdifferenziert hat.48 Doch eine unmittelbare Gleichsetzung von ecclesia und civitas Dei greift zu kurz: Wie angedeutet, ist für die Lehre von den zwei civitates die rigorose Herabstufung der irdischen Verhältnisse, insbesondere irdischer Reiche und damit auch irdischer Herrschaft, zugunsten der civitas Dei von grundlegender Bedeutung49 – dies im Übrigen der entscheidende Unterschied zwischen der Geschichtstheologie Augustins und jener seines Schülers Orosius.50 Die Entwertung des irdischen Daseins sollte u.a. einer Relativierung der Ereignisse des Jahres 410 im Lichte des göttlichen Heilsplanes dienen. Seine besondere Komplexität gewann dieses Konzept aus der Annahme einer gleichzeitigen, paral
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sen. Dies führt jedoch nicht unweigerlich zu dem Schluss, dass der Bischof von Hippo De civitate Dei auch ohne die Eroberung Roms 410 hätte schreiben müssen; er hätte das Werk jedenfalls nicht – und dies scheint mir entscheidend zu sein – in der heute vorliegenden Form konzipiert, sondern sicherlich andere Akzente gesetzt. Augustin selbst sah auch später noch in der Eroberung Roms durch Alarich den eigentlichen Anlass für die Abfassung der Gottesstadt, vgl. Augustin. retract. 2,63 p. 124 Mutzenbecher. Durch diesen Kontext, aus dem das Werk sich letztlich nicht lösen lässt, entwickelte die Zwei-Reiche-Lehre sich nicht nur zu einem Teil des von Augustin angebotenen Konzepts zur Bewältigung der existenziellen Krise, sondern bildete schließlich deren Angelpunkt. S. etwa Heinrich Scholz, Glaube und Unglaube in der Weltgeschichte. Ein Kommentar zu Augustinus De civitate Dei. Leipzig 1911, 109ff., bes. 117ff.; 121; Robert Frick, Die Geschichte des Reich-Gottes-Gedankens in der alten Kirche bis zu Origenes und Augustin. Gießen 1928, 141. Vgl. zu dieser Frage auch Yves M.-J. Congar, „Civitas Dei“ et „Ecclesia“ chez Saint Augustin, in: REA 3, 1957, 1–14, sowie die Diskussion bei Bernhard Lohse, Zur Eschatologie des älteren Augustin (DE CIV. DEI 20,9), VigChr 21 (2967), 221–240, Émilien Lamirande, L’Église céleste selon Saint Augustin. Paris 1963, 88ff., bes. 94, und Robert A. Markus, Saeculum: History and Society in the Theology of St Augustine. Cambridge 1970, 117ff. Überblick über ältere Forschungen zur Ekklesiologie Augustins: Michael A. Fahey, Augustine’s Ecclesiology Revisited, in: Joanne McWilliam (Hrsg.), Augustine. From Rhetor to Theologian. Waterloo (Ontario) 1992, 173–181. Aktuelle Überblicksdarstellungen: Émilien Lamirande, Ecclesia, in: Augustinus-Lexikon 2, 1996–2002, 687–720; Pamela Bright, Ekklesiologie und Sakramentenlehre, in: Volker H. Drecoll (Hrsg.), Augustin Handbuch. Tübingen 2007, 506–518. Vgl. etwa Augustin. civ. 4,4 (irdische Reiche [regna] ohne Gerechtigkeit [iustitia] sind nichts anderes als „große Räuberbanden“ [magna latrocinia]. Vgl. Ottmann, Geschichte (wie Anm. 45), 26; Therese Fuhrer, Augustinus. Darmstadt 2004, 138. S. Hans-Werner Goetz, Die Geschichtstheologie des Orosius. Darmstadt 1980; Reinhart Herzog, Orosius oder die Formulierung eines Fortschrittskonzepts aus der Erfahrung des Niedergangs, in: Peter Habermehl (Hrsg.), Reinhart Herzog. Spätantike. Studien zur römischen und lateinisch-christlichen Literatur. Göttingen 2002, 293–320; Justus Cobet, Orosius‘ Weltgeschichte: Tradition und Konstruktion, in: Hermes 137, 2009, 60–92; Mischa Meier, Alarich – Die Tragödien Roms und des Eroberers. Überlegungen zu den Historien des Orosius, in: Horst Carl/Hans-Jürgen Bömelburg (Hrsgg.), Lohn der Gewalt. Beutepraktiken von der Antike bis zur Neuzeit. Paderborn u.a. 2011, 73–101; Peter Van Nuffelen, Orosius and the Rhetoric of History. Oxford 2012.
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lelen Existenz der terrena civitas und der Gottesstadt, die sich in der Gegenwart gleichsam durchdringen, obwohl die Zuordnung jedes Einzelnen zu einer der beiden civitates bereits von Anbeginn feststehe; tatsächlich sichtbar und damit wirksam würden diese Zugehörigkeiten jedoch nicht vor dem Ende der irdischen Geschichte.51 Vor diesem Hintergrund waren Verwechslungen mit Augustins ecclesiaKonzept geradezu vorprogrammiert. Denn ähnlich der wechselseitigen Durchdringung der beiden civitates betont Augustin ebenfalls mit Nachdruck die „vermischte Verfaßtheit der Kirche als corpus permixtum“52, nämlich als Kirche, die auch Sündern und Gefallenen offen stehe, da sie für ihn einen Ort der Vergebung und eine Zeit der Umkehr darstellt, einen Raum „der von Liebe getragenen Gegenseitigkeit“.53 In dieser Kirche erfolge die Trennung von Unkraut und Weizen erst in der Endzeit.54 Dadurch erfuhr Augustins Ekklesiologie eine hochgradig
51 Zentral ist Augustin. civ. 1,35: „Perplexae quippe sunt istae duae civitates in hoc saeculo invicemque permixtae, donec ultimo iudicio dirimantur.“ Vgl. auch Augustin. civ. 15,1; 18,54. 52 Vgl. Augustin. bapt. 1,5: „Toto terrarum orbe diffunditur et extenditur usque ad fines terrae, quae crescens inter zizania et in taedio scandalorum requiem futuram desiderans dicit in psalmis: A finibus terrae ad te exclamaui, cum taederet anima mea: in petra exaltasti me [Ps 60,3 LXX]. Petra autem erat Christus, in quo nos iam resuscitatos et in caelo considentes dicit apostolus nondum in re, sed in spe“; civ. 18,48. Bright, Ekklesiologie (wie Anm. 48), 515. Zahlreiche Belege für Augustins Konzept der ecclesia (per)mixta bei Congar, Lehre (wie Anm. 46), 4, Anm. 11; Walter Simonis, Ecclesia visibilis et invisibilis. Untersuchungen zur Ekklesiologie und Sakramentenlehre in der afrikanischen Tradition von Cyprian bis Augustin. Frankfurt a.M. 1970, 84ff. 53 Bright, Ekklesiologie (wie Anm. 48), 515; vgl. Simonis, Ecclesia (wie Anm. 52), 78f. 54 Vgl. bes. Augustin civ. 20,9: „[…] et de ecclesia collecturi sunt zizania messores illi, quae permisit cum tritico simul crescere usque ad messem – und weiter ebd.: Regnant itaque cum illo etiam nunc sancti eius, aliter quidem, quam tunc regnabunt; nec tamen cum illo regnant zizania, quamvis in ecclesia cum tritico crescant.“ S. daneben auch Augustin. civ. 20,25. Bright, Ekklesiologie (wie Anm. 48), 515. – Augustin unterscheidet, um die Differenz zwischen der gegenwärtigen Kirche als corpus permixtum und der Kirche nach der endzeitlichen Scheidung von Unkraut (zizania) und Weizen (triticum) zu verdeutlichen, zwischen einer ecclesia nunc und einer ecclesia tunc, vgl. neben der zitierten Passage auch Augustin. civ. 20,9: „Ac per hoc ubi utrumque genus es, ecclesia est, qualis nunc est; ubi autem illud solum erit, ecclesia est, qualis tunc erit, quando malus in ea non erit.“ Weitere Belege zum nunctunc-Gegensatz in Augustins Ekklesiologie bei Pasquale Borgomeo, L’Eglise de ce temps dans la prédication de saint Augustin. Paris 1972, 285ff.; Congar, Lehre (wie Anm. 46), 4, Anm. 13, und Lamirande, Ecclesia (wie Anm. 48), 694, Anm. 61; s. auch Lancel, Saint Augustin (wie Anm. 30), 402. Das Bild vom Weizen und Unkraut geht auf das Gleichnis Mt 13,24–30 zurück und war schon bei den frühen christlichen Autoren beliebt, vgl. Erich Altendorf, Einheit und Heiligkeit der Kirche. Untersuchungen zur Entwicklung des altchristlichen Kirchenbegriffs im Abendland von Tertullian bis zu den antidonatistischen Schriften Augustins. Berlin/Leipzig 1932, 103f.; 155; Simonis, Ecclesia (wie Anm. 52), 85.
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eschatologische Aufladung55, und erst als eschatologisch konnotierte Projektion einer zukünftigen, vollkommenen Endzeitkirche lässt sich ecclesia mit der civitas Dei in Übereinstimmung bringen – keinesfalls aber in der Gegenwart.56 Zwar würden civitas Dei und terrena civitas ebenfalls erst im Angesicht des Jüngsten Tages voneinander geschieden, die Gottesstadt sei dabei jedoch von Vornherein stets und ausschließlich den für Gott bereits feststehenden Erwählten, die auf der Erde nur Pilger sind, vorbehalten57, nicht hingegen allen Mitgliedern der Kirche. In Augustins Vorstellung konnte man also durchaus der Kirche angehören, gleichzeitig aber Bürger der terrena civitas und damit aus der civitas Dei ausgeschlossen sein.58 Anders als im Fall der Ausdifferenzierung der Zwei-Reiche-Lehre, deren Kontext die Eroberung Roms durch Alarich schuf, standen im Hintergrund der Entwicklung der augustinischen Ekklesiologie neben konkreten Anforderungen, die sich aus dem pastoralen Alltag ergaben59, insbesondere die Auseinandersetzungen mit dem Donatismus60, die gerade in den Jahren um 410 einen neuerlichen Höhepunkt erreicht hatten und in die sich Augustin tatkräftig einschaltete – so etwa im Kontext des Religionsgesprächs von Karthago (Juni 411).61 Der Kirchenvater, der die Probleme um den Donatismus mitunter sogar für gefährlicher erachtete als die Barbareninvasionen in das Imperium Romanum62, suchte nach Möglichkeiten, dem unnachgiebigen Rigorismus der Donatisten ein versöhnliches und integratives, insbesondere aber auch universales Konzept von Kirche entgegenzu 55 Vgl. in diesem Sinne auch Wilhelm Kamlah, Ecclesia und regnum Dei bei Augustin (Zu De civitate Dei XX, 9), in: Philologus 93, 1938, 248–264; Lamirande, Ecclesia (wie Anm. 48), 699; Bright, Ekklesiologie (wie Anm. 48), 515; van Oort, De ciuitate dei (wie Anm. 30), 358. 56 Vgl. van Oort, De ciuitate dei (wie Anm. 30), 358. Anders Lohse, Eschatologie (wie Anm. 47), 221ff., der die eschatologischen Aspekte in Augustins Kirchenbegriff überbetont sieht und konstatiert, dass die Kirche bei Augustin „auch“ civitas Dei sein könne, nämlich dann, wenn man auf ihr „wahres Wesen“ blicke (239f.). 57 Frick, Geschichte (wie Anm. 47), 142. Einzige Ausnahme: Augustin. civ. 1,35, vgl. van Oort, De ciuitate dei (wie Anm. 30), 358. Pilgerstatus der civitas Dei und ihrer Angehörigen: z.B. Augustin. civ. 1,35; 15,18; 17,3; 18,51; 18,54. 58 Ottmann, Geschichte (wie Anm. 45), 27f. 59 Vgl. Congar, Lehre (wie Anm. 46), 2; Bright, Ekklesiologie (wie Anm. 48), 516. 60 Vgl. Altendorf, Einheit und Heiligkeit (wie Anm. 54), 158ff.; Simonis, Ecclesia (wie Anm. 52), 75ff. 61 Vgl. William H. C. Frend, The Donatist Church. A Movement of Protest in Roman North Africa. Oxford 1971, 227ff.; Charles Piétri, Die Schwierigkeiten des neuen Systems im Westen: Der Donatistenstreit (363–420), in: Charles Piétri/Luce Piétri (Hrsgg.), Das Entstehen der einen Christenheit (250–430) (= Die Geschichte des Christentums, Bd. 2). Freiburg/Basel/Wien 1996, 507–524, bes. 513ff.; Lancel, Saint Augustin (wie Anm. 30), 211ff.; 404ff.; Peter Brown, Augustinus von Hippo. Eine Biographie. Erweiterte Neuausgabe. München 2000, 184ff.; Pamela Bright, Augustin im Donatistischen Streit, in: Volker H. Drecoll (Hrsg.), Augustin Handbuch. Tübingen 2007, 171–178; s. auch Fuhrer, Augustinus (wie Anm. 49), 38–43. 62 Schlange-Schöningen, Augustinus und der Fall Roms (wie Anm. 29), 140–144. Vgl. auch Maier, Augustin (wie Anm. 29), 51.
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stellen63, das auf sakramentaler Basis Einheit zu stiften und zu stärken vermochte und zugleich auch den Sündern und Glaubensschwachen einen Hafen bot64 – dadurch, dass die strikte Scheidung von Unkraut und Weizen erst in der Endzeit erfolgen sollte. Aus diesen Erfordernissen erwuchs das Konzept der Kirche als corpus permixtum mit seiner eschatologischen Perspektive, das „dann auch außerhalb der donatistischen Kontroverse tragend“ wurde65 und – insofern erklärbar – bereits den ersten Worten der Gottesstadt mit ihrer Evokation des endzeitlichen iudicium zugrundeliegt: „Die höchst ruhmreiche Stadt Gottes, sei es in diesem Lauf der Zeiten, wenn sie – aus Glauben lebend – unter Gottlosen pilgert, sei es in jener Beständigkeit des ewigen Sitzes, den sie nun geduldig erwartet, bis die Gerechtigkeit umgesetzt wird in einem Urteil, und den sie demnächst erreichen wird in vortrefflicher Weise im äußersten Sieg und in vollendetem Frieden […], [diese Stadt] zu verteidigen […], habe ich auf mich genommen […]“.66 Während somit ein zentrales Anliegen der Gottesstadt in der Entwertung irdischer Herrschaft – ja der Politik insgesamt67 – im Lichte der civitas Dei als eigentlichem Bezugspunkt menschlichen Strebens besteht und dieses Anliegen zugleich auch noch in ein historisches Verlaufsmodell von der Entstehung der zwei civitates, ihrer temporären Parallel-Existenz und ihrer endzeitlichen Konturierung gegossen wird, zieht sich durch das gesamte Werk darüber hinaus eine ekklesiologische Figur, die ebenfalls auf die Endzeit ausgerichtet ist und damit, wie schon angedeutet, Gleichsetzungen bzw. Verwechslungen beider Assoziationen geradezu provozieren musste. Derartige Vermengungen wurden überdies dadurch erleichtert, dass auch Augustin selbst aus einer eschatologischen Perspektive heraus nicht immer scharf zwischen ecclesia und civitas Dei trennte (er nahm mehrere Entwicklungsstufen der Kirche bis zur Endzeit an)68 und in seinem Werk über die 63 Vgl. Augustin. Cath. fr. 2 PL 43,391–392 (= M. Petschenig [Ed.], Sancti Aureli Augustini Scripta contra Donatistas, Pars II. Wien/Leipzig 1909, p. 232): „Quaestio certe inter nos uersatur ubi sit ecclesia, utrum apud nos an apud illos. quae utique una est quam maiores nostri catholicam nominarunt, ut ex ipso nomine ostenderent quia per totum est; ‚secundum totum‘ enim καθ‘ ὅλον Graece dicitur.“ 64 Vgl. Lamirande, Ecclesia (wie Anm. 48), 688: „Dès avant 400, l’affrontement avec les Donatistes l’oblige à développer un concept d’Eglise qui tienne compte de la présence des pécheurs […]“; ferner ebd., 706: „A. affirme d’innombrables fois l’unité de l’Eglise“; s. auch Congar, Lehre (wie Anm. 46), 3; Simonis, Ecclesia (wie Anm. 52), 77f.; 79–83; Lancel, Saint Augustin (wie Anm. 30), 397ff. 65 Bright, Ekklesiologie (wie Anm. 48), 515. 66 Augustin. civ. 1 pr.: „Gloriosissimam civitatem Dei sive in hoc temporum cursu, cum inter impios peregrinator ex fide vivens, sive in illa stabilitate sedis aeternae, quam nunc expectat per patientiam, quoadusque iustitia convertatur in iudicium, deinceps adeptura per excellentiam Victoria ultima et pace perfecta […] defendere […] suscepi […].“ 67 So dezidiert Ottmann, Geschichte (wie Anm. 45), 23ff., bes. 26f.; 30. 68 Vgl. Augustin. en. Ps. 47,1: „[…] non debemus intellegere nisi ecclesiam Christi; sed ecclesiam Christi in sanctis, ecclesiam Christi in his qui scripti sunt in caelo, ecclesiam Christi in his qui mundi huius tentationibus non cedunt. […] ergo ecclesia in his qui firmi sunt […]“; Augustin. Io. eu. tr. 26,15: „[…] quod est sancta ecclesia in praedestinatis et uocatis, et iusti
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Gottesstadt letztlich die Ekklesiologie benötigte, um die Lehre von den beiden civitates versteh- und erfahrbar zu gestalten. Die dabei entstandenen Überlappungen in einer höchst umfangreichen Schrift, deren vorrangige Qualität ohnehin nicht unbedingt in ihrer ausgereiften Systematik beruhte69, konnten rasch den Boden für Missverständnisse und Fehlinterpretationen bereiten. Ich habe den Eindruck, dass diese Form der Fehldeutung, die später eine der Grundlagen des ‚politischen Augustinismus‘ schuf70, bereits die AugustinRezeption im 5. Jahrhundert beeinflusst hat, insbesondere auf Seiten der römischen Bischöfe und explizit seit dem Ende des weströmischen Kaisertums. Sie erfolgte im Kern dadurch, dass die eschatologische Dimension des augustinischen ecclesia-Konzepts schlichtweg ausgeblendet wurde71, was eine oberflächliche Gleichsetzung von civitas Dei und Kirche im Sinne der ecclesia nunc, der gegenwärtigen, sichtbaren Kirche, ermöglichte. Um sich das Potential dieser Denkfigur ficatis, et glorificatis sanctis, et fidelibus eius“. Passagen wie diese, insbesondere aber auch wie civ. 20,8 („[…] ecclesia […] praedestinata et electa ante mundi constitutionem; vgl. civ. 20,7: praedestinata […] ecclesia“), dürften aus der Perspektive der vollendeten Kirche der Endzeit nach den Vorstellungen Augustins zu deuten sein, vgl. Lamirande, Ecclesia (wie Anm. 48), 696. – Zum Problem ecclesia – civitas Dei vgl. van Oort, De ciuitate dei (wie Anm. 30), 357: „In seinen Schriften und in ciu. setzt Augustin die ciuitas dei oft mit der ecclesia (der Kirche) gleich. Doch fragt sich, was hierbei genauer mit ecclesia gemeint ist. […] Sicherlich unterscheidet Augustin zwischen der empirischen und der heiligen Kirche, der Kirche, wie sie jetzt ist, und der Kirche, wie sie einst in Vollkommenheit sein soll […]. Die Existenz der Kirche ist ‚mehrschichtig‘: Es gibt die sichtbare katholische Kirche, die sich durch die gemeinsame Teilhabe an den Sakramenten auszeichnet, es gibt die für uns unsichtbare Kirche als die communio sanctorum (die Gemeinschaft der Heiligen), und es gibt einen allein Gott bekannten certus numerus praedestinatorum (eine sichere Anzahl der Vorherbestimmten). Diese verschiedenen Kreise liegen aber nicht disjunkt nebeneinander, sondern als konzentrische Kreise ineinander. Der Begriff ecclesia ist bei Augustin ein vor allem eschatologischer Begriff: Die Kirche wird schon jetzt heilig genannt, weil sie einmal vollkommen sein wird. Aus diesem Blickwinkel muß man auch die öfter bei Augustin vorkommende Gleichsetzung von ciuitas dei und Kirche sehen. […] Erst von dieser prinzipiellen eschatologischen Gleichheit her kann nun auch die ecclesia mit der ciuitas dei identifiziert werden“. S. auch Hermann Häring, Eschatologie, in: Volker H. Drecoll (Hrsg.), Augustin Handbuch. Tübingen 2007, 540–547, hier 545: „Nur wenige Male und wie in zufälligen Zusätzen wird die mystisch genannte Stadt Gottes (vgl. ciu. 15,1) mit der Kirche identifiziert (vgl. ciu. 8,24)“; nachdrücklicher Congar, Lehre (wie Anm. 46), 7: „In einer Fülle von Texten gebraucht Augustinus ‚Kirche‘ und ‚Civitas Dei‘ gleichwertig, oder er wechselt mit beiden Begriffen ab“. Derartige Identifikationen finden sich z.B. Augustin. civ. 8,24 („aedificatur enim domus Domino civitas Dei, quae est sancta ecclesia“; 13,16 „[…] philosophi, contra quorum calumnias defendimus civitatem Dei, hoc est eius ecclesiam […]“); 16,2; 20,9. 69 Vgl. O’Daly, Ciuitate dei (De –) (wie Anm. 30), 980. 70 Vgl. Gordon Leff, Augustin/Augustinismus II, in: TRE 4, 1979, 699–717, bes. 716. 71 Ähnlich bereits Frick, Geschichte (wie Anm. 47), 146, der mit sichtbar kritischem Impetus festhält: „Diesen Weg ist dann die Papstkirche mit ihren Weltmachtansprüchen zu Ende gegangen, in ihr ist die eschatologische Erwartung der Gottesherrschaft von einem Eingreifen Gottes vollends verdrängt von dem Gedanken, daß die Kirche die Gottesherrschaft herbeiführt, indem sie Gott, d.h. sich selbst die Welt untertan macht“.
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bewusst zu machen, muss man sich vergegenwärtigen, dass auch die Kaiser und ihre Amtsträger Angehörige der Kirche waren – das hatte schon Ambrosius von Mailand mit äußerster Vehemenz betont72, und Augustin tat es ihm gleich, so etwa, als er das 5. Buch der Gottesstadt markant mit einem Lob Theodosius‘ I. beschloss, da dieser Kaiser sich vorbildlich innerhalb der kirchlichen Ordnung bewegt hatte, denn: „Dass er ein Glied dieser Kirche war, erfreute ihn mehr als irdische Herrschaft“.73 Ganz ähnlich sah es auch Papst Leo I. in einem Brief an Kaiser Leon I. (der Kaiser erscheint hier als Sohn der Kirche, was schon Ambrosius als Signal für dessen Einordnung in die ecclesia galt).74 Die Kaiser hatten sich 72 Vgl. Ambros. Contra Auxentium (= epist. 75a) 36 PL 16,1018 (= Michaela Zelzer [Ed.], Sancti Ambrosi Opera, Pars X. Wien 1982, p. 106: „Imperator enim intra ecclesiam, non supra ecclesiam est; bonus enim imperator quaerit auxilium ecclesiae, non refutat.“ Walter Ullmann, Gelasius I. (492–496). Das Papsttum an der Wende der Spätantike zum Mittelalter. Stuttgart 1981, 10–20; Kirsten Groß-Albenhausen, Imperator christianissimus. Der christliche Kaiser bei Ambrosius und Johannes Chrysostomus. Frankfurt a.M. 1999; Hartmut Leppin, Theodosius der Große. Darmstadt 2003, 153ff.; ders., Zum politischen Denken des Ambrosius – Das Kaisertum als pastorales Problem, in: Therese Fuhrer (Hrsg.), Die christlichphilosophischen Diskurse der Spätantike: Texte, Personen, Institutionen. Stuttgart 2008, 33– 49, bes. 42ff.; ders., Politik und Patoral – Politische Ordnungsvorstellungen im frühen Christentum, in: Friedrich W. Graf/Klaus Wiegandt (Hrsgg.), Die Anfänge des Christentums. Frankfurt a.M. 2009, 308–338, bes. 327. 73 Augustin. civ. 5,26: „cuius ecclesiae se membrum esse magis quam in terris regnare gaudebat“. 74 Leo epist. 164 PL 54,1148–1149 = ACO II 4, Nr. 103 p. 110,27–29 [JK 541, 17. August 458]: „agnosce igitur, uenerabilis imperator, in quantum totius mundi praesidium diuina sis prouidentia praeparatus, et quid auxilii matri tuae ecclesiae debeas, quae te filio maxime gloriatur“. Vgl. Ambros. Contra Auxentium (= epist. 75a) 36 PL 16,1018 = p. 106 Zelzer. Vgl. auch Wilhelm Kissling, Das Verhältnis zwischen Sacerdotium und Imperium nach den Anschauungen der Päpste von Leo d. Gr. bis Gelasius I. (440–496). Paderborn 1921, 92: „Der Kaiser ist für Leo ein hervorragendes Glied der Kirche, der geborene Vertreter der kirchlichen Interessen, die das wichtigste Fundament für das Wohl und Wehe des Staates bilden“. Zur erstmalig bei Ambrosius nachweisbaren Bezeichnung des Kaisers als filius und den damit einhergehenden Implikationen vgl. Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 10ff., bes. 13: „Denn als Christ war er [sc. der Kaiser, M.M.] […] ein Filius der Kirche und konnte vermöge seiner Inkorporation in die Kirche nicht mehr über ihr stehen, sondern nur in ihr existieren. […] Es war ein kühner Griff, der dem (christlichen) Kaiser seinen Platz in einem ekklesiologisch verstandenen Gemeinwesen anwies. […] Man darf allerdings bei Ambrosius von dieser grundsätzlichen Feststellung noch nicht auf eine rechtliche Minderung der Kaisermacht schließen. Die Bedeutung dieser Aussage liegt darin, daß sie, historisch gesehen, einen Ansatz für die spätere Entwicklung darstellt“. Filius als direkte Anrede eines Kaisers durch den Papst ist erstmals bei Simplicius in einem Schreiben an Basiliskos belegt (Simplic. epist. 3,2 p. 180 Thiel [JK 573, 10. Januar 476]): „Functus igitur, gloriosissime ac clementissime fili imperator Auguste, munere salutandi, quae in ecclesiis Orientis per haereticorum latrocinia recidiva rursus dicuntur scandala concitari, nec debere silere nec possum.“ Unter Papst Felix III. (II.), dessen Kanzlei bereits vom späteren Pontifex Gelasius geführt wurde, erscheint filius mehrfach in weitaus prominenterer Position und nicht mehr in ehrerbietige Epitheta eingelegt; zu den Belegen vgl. Arthur S. McGrade, Two Fifth-Century Conceptions of Papal Primacy, in: William M. Bowsky (Hrsg.), Studies in Medieval and Renaissance History, Vol. VII. Lincoln
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also grundsätzlich in demselben Ordnungsrahmen wie die Priester und alle übrigen Christen zu bewegen, und ihre Stellung geriet dadurch im 5. Jahrhundert zunehmend prekär. Denn eines der zentralen Charakteristika der nunmehr ekklesiologisch verstandenen civitas Dei bestand – wie gezeigt – in der radikalen Entwertung irdischer Herrschaft, wodurch sich die Möglichkeit ergab, innerhalb der Kirche als Gemeinschaft der Gläubigen, d.h. innerhalb eines ekklesiologischen Rahmens, die Kompetenzen neu zuzuschneiden: Irdische Herrschaft konnte jetzt konsequent zu einem nachgeordneten Gut im Angesicht der dereinst anstehenden Trennung von Unkraut und Weizen erklärt werden. Die pastorale Vorbereitung jener Trennung jedoch oblag den Priestern, die für die Bewährung jedes einzelnen Individuums mit Blick auf dessen Seelenheil zuständig waren. Damit bekam das aufstrebende Papsttum plötzlich ein schlagkräftiges und von einer angesehenen Autorität vermeintlich vorformuliertes Argument an die Hand, um sich im Ringen um den Primat unter den Bischöfen sowie insbesondere auch in der Auseinandersetzung mit den weltlichen Autoritäten zu profilieren. Vor diesem Hintergrund sehe ich eine grundlegende Bedeutung der Ereignisse des Jahres 410 für die Folgezeit: Sie hatten Augustin zur Ausgestaltung seiner Zwei-Reiche-Lehre bewogen, die mit der ursprünglich vorwiegend antidonatistisch ausgerichteten Entwicklung einer neuen Ekklesiologie einherging. Die auf einem Missverständnis basierende Rezeption beider, insbesondere in der Gottesstadt niedergelegten Konzeptionen ermöglichte eine direkte Verbindung von ecclesia und imperium und damit eine Entwertung irdischer Angelegenheiten im Gesamtrahmen der Kirche – mit schwerwiegenden Konsequenzen für die nachfolgenden Jahrhunderte. „Augustin hat“, so resümierte bereits 1928 Robert Frick, „ohne das zu wollen, der Kirche auf ihrem Wege Vorschub geleistet. […] Was fortwirkt, ist die Gleichsetzung der hierarchischen Heilsanstalt mit der civitas Dei auf Erden. Augustins Gedanken von der Vollendung der Kirche in der Endzeit treten vollends zurück. […] Es ist Augustins tragisches Schicksal, daß er […] so gerade zum Wegbereiter des Papsttums geworden ist“.75 1970, 1–45, hier 11f., Anm. 13; Walter Ullmann, Der Grundsatz der Arbeitsteilung bei Gelasius I., in: Historisches Jahrbuch 97/98, 1978, 41–70, hier 58f., mit Anm. 59. Vgl. auch Erich Caspar, Geschichte des Papsttums. Von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft, Bd. 2. Tübingen 1933, 64; Christian Hornung, Die Sprache des römischen Rechts in Schreiben römischer Bischöfe des 4. und 5. Jahrhunderts, in: JbAC 53, 2010, 20–80, hier 62. Besonders nachdrücklich formuliert Gelasius seinen Standpunkt hinsichtlich der Stellung des Kaisers in einem Rundschreiben an die Bischöfe des Ostens: Gelas. epist. 1,10 p. 292–293 Thiel = Eduard Schwartz (Ed.), Publizistische Sammlungen zum Acacianischen Schisma, Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Abteilung, N.F. 10. München 1934, p. 35,31–32 [JK 611, a. 489 (?)]: filius est, non praesul ecclesiae. Vgl. auch Philip A. McShane, La Romanitas et le pape Léon le Grand. L’apport culturel des institutions imperials à la formation des structures ecclésiastiques. Tournai/Montréal 1979, 215ff. – S.u. Anm. 238. 75 Frick, Geschichte (wie Anm. 47), 151f.
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III. FEHLGELEITETE AUGUSTIN-REZEPTION, DIE PÄPSTE UND DAS JAHR 476 Den historischen Kontext für diese unzulängliche Augustin-Rezeption bildete zum einen der Aufstieg des Bischofs von Rom zum Papst – eine Entwicklung, die man gemeinhin in der Ausgestaltung einer ersten konsistenten Papst-Theorie durch Leo I. (440–461) kulminieren sieht76 –, zum anderen die Erosion des westlichen Kaisertums, gipfelnd in der Absetzung des Romulus im Jahr 476. Beide Zusammenhänge lassen sich zwar nur schwer entflechten77, doch ist für unsere Überlegungen vor allem das Verhältnis des römischen Bischofs zum Kaisertum als höchster Instanz irdischer Herrschaft von besonderer Relevanz.78 Denn mir scheint, dass das Potential, das die missverstandene Augustin-Auslegung mit ihrer unhinterfragten Gleichsetzung von civitas Dei und sichtbarer, irdischer ecclesia beinhaltete, zwar schon vor 476 prinzipiell abrufbar gewesen wäre – dies deutet sich im Schrifttum Leos I. an (z.B. in einem Brief an Kaiser Theodosios II. nach der ‚Räubersynode‘ von Ephesos 449)79 –, aber erst nach diesem Datum aktuali 76 Vgl. Erich Caspar, Geschichte des Papsttums. Von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft, Bd. 1. Tübingen 1930, 423ff.; Hans M. Klinkenberg, Papsttum und Reichskirche bei Leo d. Gr., in: ZRG (Kanon. Abt.) 38, 1952, 37–112, bes. 112; Walter Ullmann, Leo I and the Theme of Papal Primacy, in: JThS 11, 1960, 25–51, bes. 33; 46; ders., Gelasius (wie Anm. 72), 67; Jochen Martin, Leo II (Leo d. Gr.), in: RAC 22, 2008, 1189–1204, bes. 1196; ders., Der Weg zur Ewigkeit führt über Rom. Die Frühgeschichte des Papsttums und die Darstellung der neutestamentlichen Heilsgeschichte im Triumphbogenmosaik von Santa Maria Maggiore in Rom. Stuttgart 2010. Einen Überblick über die Entwicklung des päpstlichen Primatsanspruches seit dem 3. Jh. gibt Michele Maccarrone, „Sedes apostolica – vicarius Petri“. La perpetuità del primato di Pietro nella sede e nel vescovo di Roma (secoli III-VIII), in: Michele Maccarrone (Hrsg.), Il primato del vescovo di Roma nel primo millennio. Ricerche e testimonianze. Città del Vaticano 1991, 275–362. 77 Dies hat zuletzt die Monographie von Martin, Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), noch einmal deutlich gemacht. – Den weiten Bogen der Entwicklung des päpstlichen Primats im 5. Jh. in elementaren Grundzügen darzustellen, ist Adolf von Harnack in einer kunstvollen Fußnote gelungen, vgl. Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Bd. 3: Die Entwicklung des kirchlichen Dogmas, 5. Aufl. Tübingen 1932, 237, Anm. 2. 78 Vgl. in diesem Sinne auch Claire Sotinel, Emperors and Popes in the Sixth Century: The Western View, in: Michael Maas (Hrsg.), The Cambridge Companion to the Age of Justinian. Cambridge 2005, 267–290, hier 267: „The eclipse of imperial authority in the West during the fifth century created new conditions for its churches and demanded new definitions of their relation to the emperor“. 79 Vgl. Leo epist. 44 PL 54,827–831 = ACO II 4, Nr. 18 p. 19–21 [JK 438, 13. Oktober 449]: Schon hier wird dem Kaiser indirekt mit dem Verlust des Seelenheils gedroht für den Fall, dass er den Anliegen des römischen Bischofs (Rücknahme der Beschlüsse der Synode von 449 und Einberufung eines neuen Konzils) nicht nachkomme („[…] remouete, quaesumus, a uestrae pietatis conscientia periculum religionis et fidei quodque in saecularibus negotiis legum uestrarum aequitate conceditur, in rerum diuinarum pertractatione praestate […]. ecce ego, Christianissime et uenerabilis imperator, cum consacerdotibus meis implens erga reuerentiam clementiae uestrae sinceri amoris officium, cupiensque uos placere per omnia deo, cui pro uobis ab ecclesia supplicatur, ne ante tribunal domini rei de silentio iudicemur, ob
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siert und zu einer Waffe in der Auseinandersetzung mit weltlichen Autoritäten geformt wurde – insbesondere in der sog. Zweigewaltenlehre des Gelasius I. (dazu s.u.). Es ist hinreichend bekannt, dass die Bischöfe von Rom (und vielfach nicht nur sie) schon früh damit begonnen haben, Repräsentationsformen und Funktionen, die dem Kaisertum (und den damit zu verbindenden Amtsträgern) entlehnt waren, zu übernehmen.80 Erinnert sei lediglich schlagwortartig an wichtige Stationen wie die Anerkennung der römischen Bischöfe als Appellationsinstanz in Verfahren um abgesetzte Bischöfe nach dem Konzil von Serdica 342/43, die in Analogie zum römischen Supplikationsverfahren erfolgte81, oder auch die (spätestens?)82 secramus […]“), PL 54,829 = ACO II 4, Nr. 18 p. 20,13–19; dazu Ullmann, Gelasius [wie Anm. 72], 77f.; vgl. auch Sebastian Scholz, Das Papsttum und die theokratischen Ansprüche der Herrscher im frühen Mittelalter, in: Kai Trampedach/Andreas Pečar (Hrsgg.), Theokratie und theokratischer Diskurs. Die Rede von der Gottesherrschaft und ihre politisch-sozialen Auswirkungen im interkulturellen Vergleich. Tübingen 2013, 255–278, hier 260. Gleichzeitig betont Leo die Einheit von Kirche und Reich, macht dabei allerdings deutlich, dass das Wohl von Kaiser und Reich in den Händen der Obwalter der res divinae liegt: „cum enim ecclesiae causas tum regni uestri agimus et salutis“ (PL 54,831 = ACO II 4, Nr. 18 p. 21,6; deutlicher noch die griechische Version: „[…] τῆς ὑμετέρας εὐσεβείας, καὶ σωτηρίας φροντίζομεν“, PL 54,832 = ACO II 1.1 Nr. 12 p. 27,15–16). – Identifikation von civitas sancta und ecclesia Dei: Leo serm. 66,3 (= Antonius Chavasse [Ed.], Sancti Leonis Magni Romani Pontificis Tractatus Septem et Nonaginta. Turnhout 1973, p. 403: „Contremiscat in Redemptoris sui supplicio terrena substantia, rumpantur infidelium mentium petrae, et qui mortalitatis grauabantur sepulcris, discussa obstaculorum mole prosiliant. Appareant nunc quoque in ciuitate sancta, id est in Ecclesia Dei, futurae resurrectionis indicia, et quod gerendum est in corporibus, fiat in cordibus“ [vgl. Mt 27,53]); Leo epist. 162 PL 54,1143–1144 = ACO II 4, Nr. 99 p. 105,20–23 [JK 539, 21. März 458]: „ut […] dissensiones quae de terrenarum opinionum uarietate nascuntur, a soliditate illius petrae, supra quam ciuitas dei aedificatur, abigantur“ (Brief Leos an Kaiser Leon I.; civitas Dei steht hier aufgrund der Anspielung auf Mt 16,18 [tu es Petrus et super hanc petram aedificabo ecclesiam meam] für ecclesia). Dass Leo im Gegensatz zu Augustin ecclesia vornehmlich im Hinblick auf irdische Verhältnisse konzipiert (und damit enteschatologisiert), betonen etwa Germain Hudon, L’Église dans la pensée de saint Léon, in: Église et Théologie 14, 1983, 305–336, und Peter Stockmeier, Universalis ecclesia. Papst Leo der Große und der Osten, in: Wolf-Dieter Hauschild/Carsten Nicolaisen/Dorothea Wendebourg (Hrsgg.), Kirchengemeinschaft – Anspruch und Wirklichkeit. Festschrift für Georg Kretschmar zum 60. Geburtstag. Stuttgart 1986, 83–91, hier 90: „Im übrigen zeichnet sich bei Leo dem Großen – in unverkennbarer Distanz zu Augustin – die Tendenz ab, die irdische Konkretheit der Kirche zu betonen“. 80 Vgl. allgemein zur „politischen Dimension“ des Bischofsamtes in der Spätantike Christoph Markschies, Die politische Dimension des Bischofsamtes im vierten Jahrhundert, in: Joachim Mehlhausen (Hrsg.), Recht – Macht – Gerechtigkeit. Gütersloh 1998, 438–469, bes. 441–443. Zum Bischof von Rom ist immer noch unverzichtbar Caspar, Geschichte des Papsttums II (wie Anm. 74). 81 Vgl. Klaus Martin Girardet, Kaisergericht und Bischofsgericht. Studien zu den Anfängen des Donatistenstreites (313–315) und zum Prozeß des Athanasius von Alexandrien (328–346). Bonn 1975, 120ff.; ders., Appellatio. Ein Kapitel kirchlicher Rechtsgeschichte in den Kanones des vierten Jahrhunderts, in: ders., Kaisertum, Religionspolitik und das Recht von Staat und Kirche in der Spätantike. Bonn 2009, 217–249, bes. 237ff.; Maccarrone, „Sedes aposto
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unter Siricius (384–390) eingeführten Dekretalen, die formal vor allem an kaiserliche Reskripte angelehnt waren.83 Einen „historischen Markstein“ im „Prozeß der Verkirchlichung des Reiches“ hat man schließlich in der 17. Novelle Valentinians III. vom 8. Juli 445 gesehen, die als Manifest der „Gleichsetzung der Interessen des Reiches (oder des Kaisers) mit jenen der Gesamtkirche“ bzw. als „Identifizierung der kaiserlich-römischen mit der ekklesiologischen Gemeinschaft“ interpretiert wurde.84 Der Kaiser weist in diesem Dokument den Bischof Hilarius von Arles zurecht, der sich den Anordnungen des Papstes Leo widersetzt und in Gallien eine Vorrangstellung beansprucht hatte85, und schreibt unmissverständlich den Primat der sedes apostolica innerhalb der Kirche fest, nicht ohne hinzuzufügen, dass, wer dieser Anordnung zuwider handele, nicht nur den Glauben, sondern auch „die Ehrfurcht vor unserer Herrschaft“ (reverentia nostri […] imperii) ver
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lica – vicarius Petri“ (wie Anm. 76), 280; Martin, Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), 54f., bes. 55: „Um den Kaiser aus der kirchlichen Gerichtsbarkeit auszuschalten und ungeregelten Streit um abgesetzte Bischöfe zu vermeiden, wurde also eine kaiserliche Kompetenz auf den Bischof von Rom übertragen. Dieser wurde dadurch nicht zu einer übergeordneten Gerichtsinstanz, erhielt aber eine herausragende Stellung als Kontroll- und verfahrensregulierende Instanz“. Die These, dass bereits Damasus sich des Instruments des Dekretale bedient haben könnte, vertritt Ursula Reutter, Damasus, Bischof von Rom (366–384). Tübingen 2009, 192ff. Vgl. Caspar, Geschichte des Papsttums II (wie Anm. 74), 215f.; 261ff.; McShane, Romanitas (wie Anm. 74), 337ff.; Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 23–25; Martin, Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), 70f. Die enge begriffliche und formale Anlehnung der Schreiben römischer Bischöfe an kaiserliche Konstitutionen seit dem späten 4. Jh. hat Hornung, Sprache (wie Anm. 74), 20–80, im Einzelnen nachgewiesen, vgl. bes. ebd., 29; 53–61; 73. Hornung interpretiert dies explizit als Mittel „zum Ausbau der kirchlichen Hierarchie“ mit dem Papst an der Spitze. – Ein vermeintlicher Übergang des seit dem späten 4. Jh. von den Kaisern nicht mehr geführten Titels pontifex maximus auf die Päpste, den die Handbuchliteratur zumeist ohne Belege mit Leo I. in Verbindung bringt (so z.B. Georg Schwaiger, Papsttum I, in: TRE 25, 1995, 647–676, hier 647), gehört allerdings nicht in diese Reihe. Rudolf Schieffer, Der Papst als Pontifex Maximus. Bemerkungen zur Geschichte eines päpstlichen Ehrentitels, in: ZRG (Kanon. Abt.) 57, 1971, 300–309, konnte zeigen, dass nicht nur keine stichhaltigen Belege dafür existieren, dass Leo I. (oder auch Gregor I., der in der Literatur ebenfalls häufig angeführt wird) sich pontifex maximus genannt haben soll, sondern dass eine Übernahme dieses Titels durch spätantike Päpste sogar unwahrscheinlich ist (wegen seiner weiterhin heidnischen Konnotation). Die Annahme des Titels erfolgte offenbar erst zögerlich seit den Jahren um 1400. Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 66. Vgl. auch Caspar, Geschichte des Papsttums II (wie Anm. 74), 446f. Zum historischen Hintergrund (sog. Chelidonius-Affäre) vgl. Ralph W. Mathisen, Hilarius, Germanus, and Lupus: The Aristocratic Background of the Chelidonius Affair, in: Phoenix 33, 1979, 160–169; Martin Heinzelmann, The ‚Affair‘ of Hilary of Arles (445) and GalloRoman Identity in the Fifth Century, in: John Drinkwater/Hugh Elton (Hrsgg.), Fifth-Century Gaul: A Crisis of Identity? Cambridge 1992, 239–251; Timo Stickler, Aëtius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich. München 2002, 211– 223.
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letze.86 In der Tat erscheinen hier imperium und ecclesia als weitgehend deckungsgleiche Größen: Aufrührerische Bischöfe wie Hilarius handeln contra imperii maiestatem et contra reverentiam apostolicae sedis87, doch ist gleichfalls zu berücksichtigen, dass weiterhin „die Kaisermacht zumindest ein Bedingungsgrund für den römischen Primat“ bleibt.88 „Noch ist es bei Leo ein Nebeneinanderstellen, aber der Keim der Überordnung ist bereits vorhanden“ – mit diesen Worten bringt Hans Martin Klinkenberg die Situation auf den Punkt.89 Es war von hier aus jedenfalls nur noch ein kleiner Schritt, bis die von Augustins civitates-Lehre bereitgestellte Karte der Abwertung eines jeglichen irdischen imperium zugunsten der ecclesia und ihres höchsten Vertreters, der in Valentinians Novelle auch explizit als solcher positioniert wird, ausgespielt werden konnte. Leo selbst, der seine Stellung u.a. als principatus ansah90, deutet dies wenige Jahre später (449) gegenüber Theodosios II. bereits an, wenn er betont, dass regnum und salus des Kaisers vom Handeln der Vertreter der ecclesia abhängig seien91; andernorts relativiert er die irdische Herrschaft des Römischen Reiches vor dem Hintergrund der religio diuina.92 86 Vgl. Nov. Valent. 17,2: Ausibus enim talibus fides et reverentia nostri violatur imperii. 87 Nov. Valent. 17,2. Valentinian beschränkt sich in dieser Novelle auf die Festlegung einer jurisdiktionellen Gewalt des römischen Bischofs über alle anderen Bischöfe. In einem Brief an Theodosios II. (22. Februar 450) hatte er dies jedoch explizit auch auf Glaubensfragen ausgeweitet, als er ganz im Sinne Leos an den Ostkaiser die Bitte richtete, er möge respektieren, dass der Papst „die Möglichkeit habe, über Glauben und Priester sein Urteil zu fällen“ ([…] habeat […] facultatem de fide et sacerdotibus iudicare, vgl. Valentinian [Leo] epist. 55 PL 54,859 = ACO II 3.1, Nr. 19 p. 14,9). 88 Martin, Spätantike und Völkerwanderung (wie Anm. 1), 134; relativierend hinsichtlich der Bedeutung der Novelle bereits Wilhelm Enßlin, Valentinians III. Novellen XVII und XVIII von 445. Ein Beitrag zur Stellung von Staat und Kirche, in: ZRG (Rom. Abt.) 57, 1937, 367– 378, bes. 374ff. In neueren Arbeiten wird Valentinians Politik gegenüber der Kirche günstiger beurteilt und eher von einer engen Kooperation zwischen Kaiser und Bischof von Rom ausgegangen, die nicht unbedingt im Sinne einer Schwächung des Kaisers interpretiert werden müsse, vgl. Meaghan McEvoy, Rome and the Transformation of the Imperial Office in the Late Fourth-Mid Fifth Centuries AD, in: Papers of the British School in Rome 78, 2010, 151– 192, bes. 185ff.; Mark Humphries, Valentinian III and the City of Rome (425–55): Patronage, Politics, Power, in: Lucy Grig/Gavin Kelly (Hrsgg.), Two Romes. Rome and Constantinople in Late Antiquity, Oxford 2012, 161–182. 89 Klinkenberg, Papsttum und Reichskirche (wie Anm. 76), 48. 90 Im Kontext der Auseinandersetzung mit Hilarius: Leo epist. 65,2 PL 54,881 = Wilhelm Gundlach (Ed.), Epistolae Merowingici et Karolini Aevi, Tom. I. (MGH Epp. III.1.) Berlin 1892, Nr. 12 p. 19,7. Vgl. Ullmann, Leo I (wie Anm. 76), 38; ders., Gelasius (wie Anm. 72), 74. 91 Leo epist. 44 PL 54,831 = ACO II 4, Nr. 18 p. 21,6 [JK 438, 13. Oktober 449]. 92 Mit subtiler Ersetzung der pax Romana durch eine pax christiana: Leo serm. 82,1 p. 509 Chavasse: „latius praesideres religione diuina quam dominatione terrena. Quamuis enim multis aucta uictoriis ius imperii tui terra marique distenderes, minus tamen est quod tibi bellicus labor subdidit quam quod pax christiana subiecit“. Vgl. Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 75: „Die ekklesiologische Gemeinschaft unterschied sich in ihrem Inhalt, Ursprung und Ziel fundamental von einem Reich, wie es das zeitgenössische römische Reich war. Als eine von
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Entscheidend aber waren für diesen Zug, bei dem letztlich der Kerngedanke der Zwei-Reiche-Lehre umgeformt wurde, insofern innerhalb eines umfassenden ekklesiologischen Rahmens nunmehr die Unterordnung weltlicher Herrschaft gegenüber den Vertretern der Kirche postuliert wurde, offenbar äußere Umstände: Die zunehmende Agonie des Kaisertums im Westen führte dazu, dass die Kaiser ihrer Funktion als Beschützer der (vom römischen Bischof geleiteten) Kirche nicht mehr nachzukommen vermochten93 – ja schlimmer noch: Die sedes apostolica hatte jetzt selbst fortwährend ehemalige Aufgaben der weltlichen Herrscher zu übernehmen – die legendenhaft überlieferte Geschichte von Papst Leo I., der 452 dem in Italien eingefallenen Hunnenherrscher Attila entgegen gezogen sein und ihm Einhalt geboten haben soll94, mag stellvertretend für diese Entwicklung stehen.95 Als das Kaisertum im Jahr 476 dann tatsächlich erloschen war, war es an der Zeit, daraus die nötigen Konsequenzen zu ziehen: Allseits war der Verfall der höchsten Repräsentanz irdischer Herrschaft im Westen jetzt sichtbar; dies fügte sich in geradezu gespenstischer Passgenauigkeit zu den vermeintlichen Vorgaben Augustins: Allein die Kirche bot sämtlichen Akteuren jetzt noch einen übergeord Gott gestiftete Gemeinschaft war sie ganzheitlich und ergriff den Christen in seiner Ganzheit“. 93 Die Funktion des Kaisers als Beschützer der von Rom aus geleiteten Kirche hat besonders Leo mit Nachdruck hervorgehoben, vgl. etwa Leo epist. 156 PL 54,1130 = ACO II 4, Nr. 97 p. 102,36–103,1 [JK 532, 1. Dezember 457] („[…] debes incunctanter aduertere, regiam potestatem tibi non ad solum mundi regimen, sed maxime ad ecclesiae praesidium esse collatam“), mit Klinkenberg, Papsttum und Reichskirche (wie Anm. 76), 48; 100f.; 110; ähnlich Leo epist. 78 PL 54,909 = ACO II 4, Nr. 36 p. 38,28–29 [JK 458, 13. April 451] („qui uos, ut res ipsa demonstrat, ad hoc ut fides catholica ab insidiis inimicorum suorum defenderetur, elegit“); Leo epist. 126 PL 54,1069–1070 = ACO II 4, Nr. 72 p. 81–82 [JK 502, 9. Januar 454]; Leo epist. 164 PL 54,1148–1149 = ACO II 4, Nr. 103 p. 110,27–29 [JK 541, 17. August 458]. Vgl. Kissling, Verhältnis (wie Anm. 74), 88; 95; 101; 146f.; Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 77–87; Hans Feichtinger, Die Gegenwart Christi in der Kirche bei Leo dem Großen. Frankfurt a. M. u.a. 2007, 113f.; 119. 94 Prosp. Tiro chron. 1367 ad ann. 452 p. 482 Mommsen; Iord. Get. 223; Stickler, Aëtius (wie Anm. 85), 145ff., bes. 149f., der die Bedeutung der Leo-Gesandtschaft relativiert. Wenige Jahre später (455) erwirkte Leo gegenüber dem Vandalenkönig Geiserich ein milderes Vorgehen bei der Plünderung Roms, Prosp. Tiro chron. 1375 ad ann. 455 p. 484 Mommsen. 95 Vgl. Harald Zimmermann, Kaisertum und Papsttum, in: TRE 17, 1988, 525–535, hier 526: „Das Ende des weströmischen Kaisertums (476) nutzte das Papsttum zu weiterer Emanzipation“. Jochen Martin hat zuletzt mehrfach darauf hingewiesen, dass insbesondere an der Basilika Santa Maria Maggiore unter Leo Elemente Verwendung gefunden haben, die klar auf Anleihen bei der kaiserlichen Repräsentation verweisen, vgl. Martin, Leo II (wie Anm. 76), 1201; ders., Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), 109ff., bes. 131f.: „Leo übernimmt also die römische Herrschaftsvorstellung und wendet sie ins Christliche. Ebenso ist der Stuhl Petri ganz römisch konzipiert: Das imperiale Selbstverständnis seiner Inhaber wird auf dem Mosaik im reichlichen Gebrauch der römischen imperialen Zeichen und im Universalitätsanspruch der römischen Kirche offenbar, wie auch die römischen Bischöfe seit Damasus römische Herrschaftsmittel und Zeremonien übernommen haben“.
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neten Handlungsrahmen, und innerhalb dieses Rahmens konnte es nur um Aufgabenverteilungen gehen. In dieser Hinsicht befanden sich die Obwalter der divina gegenüber den weltlichen Autoritäten in einer ungleich günstigeren Position, da sie sich ja um deren Seelenheil zu sorgen hatten. Den Transmissionsriemen für diese Umgestaltung älterer Denkfiguren gewährte das Bild vom Körper und seinen Gliedern, das Paulus im 1. Korintherbrief entworfen hatte (1 Kor 12) und dessen zentrale Aussage darin bestand, dass jedem noch so unscheinbaren Glied des Körpers eine spezifische Funktion für das Gesamte zukomme, so dass kein Glied nutzlos sei und nur das einträchtige Miteinander aller Glieder den Körper erhalte; die Einheit der Kirche zeige sich somit in ihrer einmütigen Vielfalt. Augustin war keineswegs der erste gewesen, der die Kirche u.a. unter Rückgriff auf dieses Bild beschrieben hat.96 Programmatisch hatte er Theodosius I. ja ein „Glied der Kirche“ (ecclesiae […] membrum) genannt.97 Insbesondere im 5. Jahrhundert griffen die römischen Bischöfe die paulinische Metapher auf, um einerseits die Stellung Roms als caput des Leibes (= der Kirche) zu illustrieren, andererseits aber auch innerhalb der Kirche den einzelnen membra Aufgaben und Funktionen zuzuweisen.98 Die Konsequenzen, die sich aus den Geschehnissen des Jahres 476 ergaben, waren dementsprechend vielgestaltig: Irdische Herrschaft war nicht völlig erloschen, zumal in Konstantinopel weiterhin ein Kaiser residierte und auch im Wes 96 Das Bild ist freilich deutlich älter und erfreute sich schon in vorchristlicher Zeit sichtbarer Beliebtheit, vgl. insbesondere die Fabel des Menenius Agrippa vom Streit der Glieder mit dem Magen (bes. Liv. 2,32,8–12), die auf Einflüsse der griechischen politischen Theorie zurückgeht. Dazu s. Michael Hillgruber, Die Erzählung des Menenius Agrippa. Eine griechische Fabel in der römischen Geschichtsschreibung, in: A&A 42, 1996, 42–56; Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther. 3. Teilband: 1Kor 11,17–14,40. (EvangelischKatholischer Kommentar zum Neuen Testament VII.3.) Zürich/Düsseldorf 1999, 219f. Zur christlichen Rezeption vor Augustin sei etwa auf Cyprian verwiesen (vgl. Simonis, Ecclesia [wie Anm. 52], 7f., mit Belegen). Augustin: ep. Io. tr. 10,3; 10,8 (= Paul Agaësse [Ed.], Saint Augustin. Commentaire de la Première Épître de S. Jean. Paris 1961, p. 412–416; 430–432); serm. 267,4 PL 38,1231; de div. quaest., q. 69,10 (= Almut Mutzenbecher [Ed.], Sancti Aurelii Augustini De Diversis Quaestionibus Octoginta Tribus – De Octo Dulcitii Quaestionibus. Turnhout 1975, p. 195,253–196,269); Enarr. in Ps. XXX,II, S. 1,4 (= Eligius Dekkers/Johannes Fraipont [Edd.], Sancti Aurelii Augustini Enarationes in Psalmos I-L. Turnhout 1956, p. 193,21–32); vgl. Simonis, Ecclesia (wie Anm. 52), 91ff.; Bright, Ekklesiologie (wie Anm. 48), 512; 514; Lamirande, Ecclesia (wie Anm. 48), 702; Hornung, Sprache (wie Anm. 74), 21. 97 Augustin. civ. 5,26. 98 Vgl. dazu Congar, Lehre (wie Anm. 46), 11–15. Indirekt folgt daraus, dass ein Angriff auf ein einziges Glied der Kirche einem Angriff auf die Kirche insgesamt gleichkommt, vgl. Leo epist. 44 PL 54,829 = ACO II 4, Nr. 18 p. 20,5–6 [JK 438, 13. Oktober 449]: […] ut dum homo unus impetitur, in omnem ecclesiam saeuiretur. Dass es innerhalb eines ekklesiologischen Rahmens letztlich nur noch um Funktions- bzw. Aufgabenzuweisungen gehen kann, betont mit großem Nachdruck Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), passim, bes. 77: „Die leoninische Petrinologie ermöglichte die Zuweisung von bestimmten Funktionen an den Kaiser innerhalb des ekklesiologischen Rahmens“.
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ten – wie angedeutet – keine Anarchie ausbrach. Aber die neuen Herren der ehemals weströmischen Territorien waren ‚Arianer‘ und somit keine Angehörigen der Kirche. Aus der Perspektive eines strikt ekklesiologischen Denkens konnte die Herabsetzung ihrer Herrschaft, namentlich unter Heranziehung des paulinischen Bildes vom Körper und seinen Gliedern, somit nicht funktionieren. Folgerichtig finden sich tatsächlich kaum Attacken gegen die ‚arianischen‘ Barbarenherrscher seitens der Päpste, die jener Diktion vergleichbar wären, derer sie sich gegenüber den oströmischen Kaisern bedienten (dazu s.u.).99 Vor diesem Hintergrund wäre zu überlegen, ob das strikte Festhalten eines Theoderich am ‚Arianismus‘ nicht möglicherweise auch als Strategie gedeutet werden könnte, sich auf diese Weise den Ansprüchen der römischen Bischöfe elegant zu entziehen und eine von diesen unabhängige Herrschaft zu konstituieren. Insbesondere die Zurückhaltung, die Theoderich im Laurentianischen Schisma (498–506/14) gezeigt hat, bei dem die entscheidende Intervention des Königs erst in dem Moment erfolgte, in dem sich aufgrund spezifischer Entwicklungen im Osten die politische Großwetterlage insgesamt verändert hatte, könnte für diese Deutung sprechen.100 Gleichzeitig wäre dann zu überprüfen, ob die Annahme des katholischen Christentums durch Chlodwig nicht aus ähnlich politischen Motiven erfolgt sein könnte: dem Versuch einer (letztlich ja auch erfolgreichen) Annäherung an Konstantinopel, bei dem der Franke die Tatsache, dass er dadurch in den Dunstkreis päpstlicher Ansprüche geraten konnte, entweder nicht hinreichend realisiert oder als beherrschbar oder auch als erträgliches Übel gegenüber all den Vorteilen seiner Entscheidung angesehen haben mag.101 99 Vgl. Kissling, Verhältnis (wie Anm. 74), 107: „Die Augen der Päpste waren nach Osten gerichtet“; Matthias Maser, Die Päpste und das oströmische Kaisertum im sechsten Jahrhundert, in: Klaus Herbers/Jochen Johrendt (Hrsgg.), Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia. Berlin/New York 2009, 39–68, hier 39; 44f. 100 Theoderich hat sich in dem lange schwelenden Streit erst 506 klar erklärt und die Anerkennung des Symmachus verfügt. Ich habe diese Entscheidung und ihren Zeitpunkt an anderer Stelle mit einer Neuorientierung der kaiserlichen Religions- und Kirchenpolitik in Verbindung gebracht: Nach dem Ende des römisch-persischen Krieges sah Anastasios sich offenbar dazu gezwungen, stärker auf die Miaphysiten zuzugehen. Diese Entwicklung erleichterte es Theoderich möglicherweise, im römischen Senat eine weitgehend einheitliche Frontstellung gegen Konstantinopel aufzubauen und insofern gestärkt nun auch das römische Schisma aufzulösen, ohne damit rechnen zu müssen, dass größere Senatorengruppen sich seiner Entscheidung widersetzten, vgl. Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 238ff., bes. 241–243. 101 Freilich sind diese Überlegungen nicht als Pauschalerklärung für religionspolitische Entscheidungen der Barbarenherrscher gedacht. In den einzelnen Reichen muss weiterhin sehr genau mit Blick auf die jeweiligen Kontexte differenziert werden. Insbesondere die Vandalen dürften grundsätzlich andere Motive für ihr Festhalten am ‚Arianismus‘ während der ersten Jahrzehnte ihrer Herrschaft in Afrika gehabt haben als etwa Theoderich, vgl. etwa Peter Heather, Christianity and the Vandals in the Reign of Geiseric, in: John Drinkwater/Benet Salway (Hrsgg.), Wolf Liebeschuetz Reflected. London 2007, 137–146; Tankred Howe, Vandalen, Barbaren und Arianer bei Victor von Vita. Frankfurt a.M. 2007; Andreas Schwarcz, Religion und ethnische Identität im Vandalenreich, in: Guido M. Berndt/Roland Steinacher (Hrsgg.), Das Reich der Vandalen und seine (Vor-)Geschichten. Wien 2008, 227–231.
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Mit derselben Konsequenz, mit der die ekklesiologisch argumentierenden Päpste die ‚arianischen‘ Herrscher letztlich übergingen, wandten sie sich nach 476 hingegen den Kaisern im Osten zu und formulierten ihre Ansprüche in zunehmender Drastik und Schärfe.102 Was die Gleichsetzung der augustinischen ZweiReiche-Lehre mit der ecclesia grundgelegt und was Leo I. zunächst einmal nur angedeutet hatte, wurde nun zugespitzt und offen ausgesprochen: Im Rahmen der Kirche hatte sich der Kaiser den Obwaltern der divina strikt zu unterwerfen. Exemplarisch für diese Haltung sei ein Schreiben des Papstes Felix III. (II.) (483– 102 Mit der Entwicklung päpstlicher Positionen und Argumentationsformen gegenüber den Kaisern zwischen Leo I. und Gelasius I. hat sich McGrade, Conceptions (wie Anm. 74), ausführlich befasst. Er beobachtet in seiner gedankenreichen Arbeit ebenfalls einen deutlichen Unterschied zwischen der Art, in der Leo mit den Kaisern kommunizierte, und späteren Entwicklungen unter den Päpsten Felix III. (II.) und insbesondere Gelasius. Während Gelasius unmissverständlich die Unterordnung weltlicher Autoritäten unter den Papst fordere (11f.), lasse sich bei Leo geradezu noch eine „cooperative attitude“ erkennen (31). In „Leo’s cooperative approach“ (34) fehle „the tone of superiority“ völlig (32). Überhaupt erweise sich „the considerable body of Leo’s sermons“ als „almost entirely free of politics, either secular or ecclesiastical“ (25), während Felix und Gelasius Argumentationsmuster, die Leo schon kannte, erst in die politische Sphäre übernommen hätten (20). McGrade möchte den Übergang von leoninischen zu gelasianischen Positionen jedoch ausdrücklich nicht als organische Entwicklung gedeutet sehen, sondern sieht darin zwei qualitativ letztlich unterschiedliche Haltungen wirken: Gelasius habe einen „papalist or exclusive sense of Petrinology“ vertreten, „affirming the juristic primacy of the papacy within the precincts of the Christian faith and denying the validity of any principle of action disapproved of by the papacy“ (25). Leo hingegen wird ein „ecumenical sense of Petrinology“ zugeschrieben, „in asserting a juristic primacy for the pope – a unique status among bishops with respect to the government of the church – which would not, however, rule out any other principle of action simply because it might lead to conflict with the papacy“ (25). Die Frage nach den Gründen für diesen qualitativen Sprung hält McGrade für schwer zu beantworten (42–45), doch hebt er unter den möglichen Faktoren, die eine Rolle gespielt haben könnten, ausdrücklich das Ende des römischen Kaisertums im Westen hervor: „The political turmoil in the west between the pontificates of Leo and Gelasius, turmoil which was in sharp contrast with the stability of the papacy in the same period, must also have had an influence“ (42). Immerhin weist er an anderer Stelle darauf hin, dass gerade in dem Moment, in dem das Kaisertum im Westen erlosch, Papst Simplicius Kaiser Zenon mit auffälligem Nachdruck darauf hinwies, dass Gott einem Kaiser die Herrschaft durchaus auch wieder nehmen könne, wenn dieser sie nicht gottgefällig ausübe – ein Argument, das in der Kommunikation zwischen Papst und Kaiser bis dahin keine sonderliche Prominenz besessen hatte und hinter dem letztlich die Prämisse steht, dass allein der Papst beurteilen könne, welche Handlungen des Kaisers gottgefällig sind und welche nicht (16f., mit Hinweis auf Simplic. epist. 3 p. 181 Thiel = Coll. Avell. 56 [JK 573, 10. Januar 476]: „Respicite, quaeso, ad divina beneficia, et quae sint vobis collata perpendite, atque ut haec prospera valeant permanere, propitiandum esse censete auctorem muneris, non laedendum. inter quaslibet enim occupationes publicas a religioso principe magnopere procurandum est, quod eius protegit principatum, et praeferenda cunctis rebus est coelestis observantia rectitudo, sine qua recte nulla consistunt.“ Prinzipiell fällt allerdings auf, dass der Papst nirgendwo explizit auf das Ende des Kaisertums im Westen eingeht, vgl. Kissling, Verhältnis (wie Anm. 74), 107: „Es ist auffallend, daß nirgends in den Aeußerungen des Papstes auch nur eine Spur davon sich findet“.
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492) an Kaiser Zenon (474–491) aus dem Jahr 484 angeführt, das bereits vom späteren Pontifex Gelasius als Vorsteher der päpstlichen Kanzlei formuliert worden ist.103 Es gehört in die Zeit des beginnenden Akakianischen Schismas (484– 519) und besitzt daher eine besondere Schärfe, doch die Grundgedanken treten dadurch nur umso klarer hervor:104 Felix teilt Leos Haltung, wonach der Papst sich um regnum und salus des Kaisers kümmere105, und hält gleich eingangs fest: „Ich gestehe, dass ich Angst habe um Euer regnum genauso wie um Eure salus“ ([…] timere me fateor regno uestro pariter et saluti).106 Dann die grundsätzliche Position des Papstes: „Dies eine steht fest: Es ist auch für Eure eigenen Angelegenheiten [nämlich die res humanae, M.M.] höchst heilsam, wenn Ihr Euch bemüht, in allen Fragen, die Gott betreffen, Euren kaiserlichen Willen, wie es Gottes Gesetz verlangt, unter die Bischöfe Christi zu beugen (subdere) und nicht über sie hinauszurecken. Die heiligen Mysterien habt Ihr nicht zu lehren, sondern von ihren Verwaltern zu lernen. […] Gott selbst hat es gewollt, dass Eure Maiestät dieser Kirche in frommer Hingebung den Nacken beugt. […] Nach diesen Darlegungen spreche ich vor dem Richterstuhl Christi mein Gewissen frei von jeder weiteren Verantwortung. Es liegt nun ganz bei Euch, je und je zu erwägen, dass wir alle schon in diesem Erdenleben ganz unter dem göttlichen Gericht stehen und dermaleinst nach vollendetem Lebenslauf vor Gottes Richtstuhl treten müssen“ (Übers.: Hugo Rahner).107 103 Gelasius als Vorsteher der päpstlichen Kanzlei: Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 116–127; 135–150. Vgl. insbesondere auch Hugo Koch, Gelasius im kirchenpolitischen Dienste seiner Vorgänger, der Päpste Simplicius (468–483) und Felix III. (483–492). Ein Beitrag zur Sprache des Papstes Gelasius I. (492–496) und früherer Papstbriefe, in: Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Abteilung, Jg. 1935, Heft 6. München 1935. 104 Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 146, hebt die besondere Bedeutung dieses Schreibens hervor, „weil hier das Papsttum zum ersten Mal die Herrscheridee im ekklesiologischen Zusammenhang grundsätzlich umreißt“. 105 Vgl. Leo epist. PL 44,831 = ACO II 4, Nr. 18 p. 21,6 [JK 438, 13. Oktober 449]. 106 Felix epist. 8 p. 247 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 81,9 [JK 601, 1. August 484]. 107 Felix epist. 8 p. 250 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 82,18–27 [JK 601, 1. August 484]: „Certum est enim hoc rebus uestris esse salutare, ut cum de causis agitur Dei, iuxta ipsius constitutum regiam uoluntatem sacerdotibus Christi studeatis subdere, non praeferre, et sacrosancta per eorum praesules discere potius quam docere. […] [ecclesia], cui Deus uoluit clementiam tuam piae deuotionis colla summittere. […] et ex hoc quidem de his omnibus conscientiam meam ante tribunal Christi causam dicturus absoluo: uestrae mentis intererit magis ac magis cogitare et in rerum praesentium statu sub diuina nos examinatione subsistere ac post huius uitae cursum ad diuinum consequenter uenturos esse iudicium.“ – Der Anspruch der Bischöfe gegenüber den Kaisern, sie seien in kirchlichen Angelegenheiten ihre Lehrer (der Gegensatz docere – discere), wird schon von Ambrosius formuliert, wird jedoch im Kontext des von den Päpsten im späten 5. Jh. ausgeweiteten ekklesiologischen Konzepts mit einem geradezu universalen Geltungspostulat aufgeladen. Vgl. dazu McGrade, Conceptions (wie Anm. 74), 12; Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 16; 148, sowie Index s.v. Discere-docere.
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„Es dürfte wenige Herrschaftsprogramme geben, die in so prägnanter, profilierter und gedrängter Weise ihre Grundzüge festzulegen imstande waren“.108 Das unbedingte Postulat einer Vorrangstellung des Bischofs gegenüber dem weltlichen Herrscher kommt hier bereits unmissverständlich zum Ausdruck. Aber diese läuft nicht, wie immer wieder fälschlich zu lesen ist, auf die Dichotomie Kirche und ‚Staat‘ hinaus, sondern ist ekklesiologisch begründet: Alle katholisch getauften Christen sind Angehörige der Kirche (also auch die Inhaber weltlicher Gewalten) und haben innerhalb der ecclesia bestimmte Aufgaben zu erfüllen; die Aufgaben der Verwalter der divina jedoch betreffen mittelbar die Interaktion mit Gott und von ihnen hängt das Seelenheil aller Autoritäten, auch der Kaiser, ab. Aus diesem Grund hat der Kaiser fromm den Nacken zu beugen – bei Felix noch vor der Kirche, bei seinem Nachfolger Gelasius dann vor ihren Amtsträgern und damit vor dem Papst.109 All dies aber war nur dadurch möglich, dass man Augustins Entwertung jeglicher irdischer Herrschaft mit einer radikal enteschatologisierten Form seines ecclesia-Konzepts kombinierte, und all dies konnte nur im lateinischen Westen des Imperium Romanum funktionieren: Denn nur hier hatte die Eroberung Roms durch Alarich einen Donnerhall ausgelöst, der zur neuen Ausformung von Konzepten geführt hatte, die angesichts der desolaten politischen Lage letztlich darauf zielten, irdisches Leben auch ohne das, was man traditionellerweise mit Herrschaft assoziiert hatte, zu ermöglichen. Um es noch einmal in Erinnerung zu rufen: Augustins Zwei-Reiche-Lehre ist – zumindest in ihrer Ausgestaltung in der Gottesstadt – im Kern ein Krisenbewältigungskonzept. Damit war es für den Westen von aktueller Bedeutung (wenngleich seine Rezeption letztlich auf eine kleine Anzahl gebildeter Elitenangehöriger beschränkt gewesen sein dürfte, unter denen für unsere Überlegungen die römischen Bischöfe von besonderer Bedeutung sind). Im Osten hingegen wurde es schlichtweg nicht benötigt. Denn dort spielten die Ereignisse des Jahres 410 allenfalls eine marginale Rolle. Auch wenn mit Olympiodor von Theben (Ägypten) ein griechischsprachiger Autor die wohl ausführlichste Beschreibung der Ereignisse um das Jahr 410 verfasst haben dürfte (die allerdings nur noch fragmentarisch vorliegt)110, so zeigt sich doch gerade an der weiteren Rezeption im Osten, wie gering dort die Bedeutung der Einnahme Roms veranschlagt wurde. Als in den 440er Jahren der Kirchenhistoriker Sokrates auf die Geschehnisse Bezug nahm, konnte dies bereits unter gänzlicher Ausblendung des politischen Hintergrundes geschehen. Alarichs Handstreich erscheint als göttliche Strafe für die gewaltsame Herrschaftsausübung der römischen Bischöfe 108 Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 147. 109 Gelas. epist. 12 p. 352 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 20,9 [JK 632, a. 494]. Vgl. Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 147f. 110 Zu Olympiodor s. Wolf Liebeschuetz, Pagan Historiography and the Decline of the Empire, in: Gabriele Marasco (Hrsg.), Greek and Roman Historiography in Late Antiquity. Fourth to Sixth Century A.D. Leiden/Boston 2003, 177–218, bes. 201–206; Meier/Patzold, August 410 (wie Anm. 22), 83f.
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Innozenz I. (401–417) und Coelestin I. (422–432), die den Novatianern (mit denen Sokrates sympathisierte) die Kirchen genommen hätten; der Gote selbst habe sich erst zur Flucht gewandt, als sich die Kunde verbreitete, der Ostkaiser Theodosios II. habe ein Entsatzheer nach Rom entsandt. Deutlicher lässt sich die Verlagerung der Perspektive gegenüber den Zeugnissen aus dem lateinischen Westen nicht illustrieren: Für Sokrates kam die Rettung Roms aus dem Osten.111 Es ist daher nicht sonderlich erstaunlich, dass der Kirchenhistoriker Sozomenos, dessen u.a. auf Sokrates basierendes Werk ebenfalls in den 440er Jahren entstand, die Eroberung der Urbs insbesondere zur Illustration der phasenweise chaotischen Verhältnisse im Westen schildert, die nur durch das fromme Handeln des Honorius hätten stabilisiert werden können.112 Demgegenüber dient die schonungslose, in apokalyptische Assoziationsmuster eingebettete Darstellung der Geschehnisse beim homöischen Kirchenhistoriker Philostorgios (nach 425) insbesondere der Kritik an Honorius als einem Angehörigen des vom Autor verabscheuten theodosianischen Kaiserhauses.113 Der ebenfalls um die Mitte des 5. Jahrhunderts wirkende Kirchenhistoriker Theodoret, seit 423 Bischof von Kyrrhos, hat die Einnahme Roms nicht einmal einer Erwähnung wert erachtet. Vollends bezeichnend für die Rezeption der Ereignisse im Osten ist jedoch deren literarische Darstellung seit dem 6. Jahrhundert: Bemerkenswerte Unkenntnis der Sachverhalte geht nunmehr mit dem Bemühen einher, die Vorgänge als Reservoir vielgestaltiger Anekdoten auszunutzen.114 Im Osten, wo Konstantinopel sich gerade in den Jahren um 400 fest als neues Zentrum etablierte, benötigte man jedenfalls keine Zwei-Reiche-Lehre zur Bewältigung existenzieller Bedrohungen und Unheilserfahrungen. Hier gruppierten sich Konzeptionen von Reich, Herrschaft usw. zunehmend um die christliche Metropole und den dort residierenden Kaiser, während das entfernte Rom allmählich aus dem unmittelbaren Blickfeld geriet. Folgerichtig wurde Augustins Gottesstadt hier auch nicht rezipiert, und ebenso folgerichtig kam es auch nicht zu einer vergleichbaren Ausformung ekklesiologischen Denkens wie im Westen. Eine ekkle 111 Sokr. HE 7,10–11; Meier/Patzold, August 410 (wie Anm. 22), 85–87. Grundlegend zu den sog. orthodoxen Kirchenhistorikern des 5. Jh. (Sokrates, Sozomenos, Theodoret) ist Hartmut Leppin, Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. Das christliche Kaisertum bei den Kirchenhistorikern Socrates, Sozomenus und Theodoret. Göttingen 1996; s. auch Peter van Nuffelen, Un héritage de paix et de piété: étude sur les histoires ecclésiastiques de Socrate et de Sozomène. Leuven 2004. 112 Soz. HE 9,6–10; Meier/Patzold, August 410 (wie Anm. 22), 87–89. 113 Philostorg. HE 12,2–3; Bruno Bleckmann, Die Eroberung Roms durch Alarich in der Darstellung Philostorgs, in: Helga Scholten (Hrsg.), Die Wahrnehmung von Krisenphänomenen. Fallbeispiele von der Antike bis in die Neuzeit. Köln u.a. 2007, 97–109; ders., Apokalypse und kosmische Katastrophen: Das Bild der theodosianischen Dynastie beim Kirchenhistoriker Philostorg, in: Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder (Hrsgg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen. Berlin/New York 2008, 13–40. 114 Dazu s. den Überblick bei Meier/Patzold, August 410 (wie Anm. 22), 94ff.
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siologisch begründete Unterordnung des Kaisers unter eine kirchliche Autorität war hier also schlichtweg unvorstellbar. IV. UNTERSCHIEDLICHES VERSTÄNDNIS VON ÄMTERN UND FUNKTIONEN IM WESTEN UND IM OSTEN Unvorstellbar war im Osten eine Akzeptanz derartiger Forderungen auch aus einem anderen Grund: Der Argumentation der Päpste lag ein Verständnis von Amtsautorität zugrunde, das man am Bosporus bestenfalls mit Befremden zur Kenntnis genommen haben wird, weil es den dort geläufigen Traditionen nicht annähernd entsprach. Diese Diskrepanz gehört zu den basalen Unterschieden zwischen der griechischen und der römischen Welt der Antike, die bis in die spätrömische Geschichte hinein wirksam blieben und die Jochen Martin unter dem Motto der „Zwei Alten Geschichten“ vor einigen Jahren brillant analysiert hat.115 Sie beziehen sich im für uns relevanten Fall auf ein grundsätzlich differentes Amtsverständnis, das Martin aus dem Umstand ableitet, dass es im griechischen Osten – anders als im römischen Westen – niemals zur Entwicklung eines „objektiven Amts- noch eine[s] objektiven Institutionenbegriff[s]“ gekommen sei.116 Dies gelte nicht nur für die entsprechenden Einrichtungen der griechischen Polis und der römischen res publica, sondern gerade auch für den kirchlichen Bereich: „In der frühen Christenheit entstand im Laufe des 2. Jahrhunderts überall der monarchische Episkopat, aber die Vorstellungen, die mit dem Amt verbunden waren, variierten beträchtlich zwischen dem Osten und dem Westen des Reiches. Im Westen wurde das Amt praktisch zur ausschließlichen Autoritätsform, während im Osten neben dem Amt nicht nur Theologen, sondern auch lebende Heilige und Mönche, nicht zuletzt auch der Kaiser Autorität in der Kirche ausübten. Im Westen gewann die Tradition in der Auslegung der Hl. Schriften besondere Bedeutung, während im Osten die theologisch-philosophische Spekulation blühte. Im Westen schließlich entwickelte sich eine organisatorisch geprägte Einheitsvorstellung (mit dem entstehenden Papsttum an der Spitze), die im Osten fehlte“.117 Es ist hier nicht der Ort, den unterschiedlichen Ausprägungen von Amtsverständnis im Westen und im Osten im Einzelnen nachzugehen. Die prinzipiellen Differenzen sind in der Forschung bekannt und wurden bereits zu Beginn der 1950er Jahre von Hans von Campenhausen auf die Dichotomie von Amtsautorität (Westen) und „Geistesgabe, das Charisma“ (Osten) zugespitzt.118 Als Theologe 115 Jochen Martin, Zwei Alte Geschichten. Vergleichende historisch-anthropologische Betrachtungen zu Griechenland und Rom, in: Winfried Schmitz (Hrsg.), Jochen Martin. Bedingungen menschlichen Handelns in der Antike. Stuttgart 2009, 291–310 (erstmals publ.: 1997). 116 Martin, Zwei Alte Geschichten (wie Anm. 115), 304; vgl. 309. 117 Martin, Zwei Alte Geschichten (wie Anm. 115), 310. 118 Hans von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten. 2. Aufl. Tübingen 1963 (1. Aufl. 1953), passim, bes. 324f.
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ging von Campenhausen davon aus, dass der idealtypische Zusammenfall von amtlicher und charismatischer Autorität sich lediglich in der Person Jesu habe realisieren können.119 Ansonsten sei die Entwicklung in der christlichen Antike zunächst stets von Spannungen gekennzeichnet gewesen: „Die Ausschaltung der einen wie der anderen Größe muß […] zwangsläufig zu einer Störung seiner [sc. Christi, M.M.] Herrschaft und zu einer autoritären oder schwärmerischen Verzerrung des Kirchenbegriffs führen“.120 Letztlich habe sich im Westen bis zum 3. Jahrhundert eine Prävalenz des Amtes gegenüber der charismatischen Komponente durchgesetzt121 – was von Campenhausen am Beispiel Cyprians von Karthago zu illustrieren sucht122 –, wohingegen im Osten weiterhin eine „charismatische Gesamtauffassung der Kirche“ vorgeherrscht habe123, die mit einer „Relativierung der amtlichen Autorität“ einhergegangen sei124 – von Campenhausen sieht diesen Ansatz insbesondere in der Person des Origenes verwirklicht.125 Auch wenn die skizzierte Problematik keineswegs mit Cyprian im Westen und Origenes im Osten einen Abschluss gefunden hat und sich ohnehin ungleich komplexer gestaltet, als von Campenhausen sie nachzeichnen konnte126, so hat der 119 120 121 122
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Von Campenhausen, Kirchliches Amt (wie Anm. 118), 325. Von Campenhausen, Kirchliches Amt (wie Anm. 118), 325. Von Campenhausen, Kirchliches Amt (wie Anm. 118), 330. Von Campenhausen, Kirchliches Amt (wie Anm. 118), 292ff., bes. 292 („[…] vertreten Origenes und Cyprian, die Theologen der östlichen und der westlichen Kirche, immer noch zwei verschiedene Richtungen christlichen Denkens […]: die Autorität der geistlichen und der amtlichen Vollmacht“); 298 („Cyprian fügt sich […] jener Linie des amtlichen Denkens ein, die […] im Ersten Klemensbriefe beginnt“); 300 („Jeder Mann hat den Bischof um seines Amtes willen zu verehren“); 313 („[…] entscheidend ist doch das Gewicht der amtlichen Stellung und Berufung“). Vgl. etwa Cyprian. epist. 33,1; 57,1. Von Campenhausen, Kirchliches Amt (wie Anm. 118), 281. Von Campenhausen, Kirchliches Amt (wie Anm. 118), 287. Von Campenhausen, Kirchliches Amt (wie Anm. 118), 272ff., bes. 287–289; 281 („Überall, wo Gottes Geist zu wirken beginnt, wo sich der Glaube der Menschen seiner Offenbarung öffnet, da entsteht von selbst die Gemeinschaft des Führens und des Sich-führen-lassens […]“); 283 („Man darf an Origenes nicht die Frage stellen, welche Bedeutung das Amt, abgesehen von den persönlichen Qualitäten seines Trägers, als solches für die Kirche besitzen mag und ob es dann überhaupt noch irgendeine geistliche Bedeutung besitzt. Derartige kirchenrechtliche und amtsdogmatische Fragen interessieren ihn nicht“); 287f. („Es hängt […] alles am persönlichen, sittlichen Leben, und auf die amtliche Ordnung kommt daneben wenig oder gar nichts an“); 289 („zuletzt gilt auch der Amtsträger immer nur so viel, wie er als Geistesmensch in seinen amtlichen Auftrag hineinlegen kann“). Die prinzipielle Unterscheidung einer westlichen und einer östlichen ‚Sphäre‘ mit Blick auf das differente Amtsverständnis schließt natürlich Ausnahmen nicht aus, so dass man z.B. auch im Westen auf vereinzelte Zeugnisse für eine Auseinandersetzung mit der charismatischen Komponente trifft (vgl. Richard P. C. Hanson, Amt/Ämter/Amtsverständnis V. Alte Kirche, in: TRE 2, 1978, 533–552, bes. 546–549). Allerdings scheinen mir diese an den grundsätzlichen Gewichtungen nicht viel zu ändern. So dürfte etwa der nordafrikanische Donatismus, um nur ein mögliches Gegenbeispiel anzuführen, nur bei oberflächlicher Betrachtung die These einer besonderen Betonung des Amts (anstelle des Individuums) im Westen erschüttern, da die Donatisten mit ihrer rigoristischen Einstellung gegenüber einzelnen Perso-
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Kirchenhistoriker doch im Grundsatz das Richtige gesehen: Insbesondere im Bereich der sich entfaltenden christlichen Kirche(n) muss für den lateinischen Westen und den griechischsprachigen Osten von einem grundsätzlich unterschiedlichen Verständnis der Funktion und Bedeutung von Ämtern ausgegangen werden – mit entscheidenden Konsequenzen, die namentlich in der Spätantike manifest werden. Jochen Martin hat die Entwicklung vor kurzem anschaulich nachgezeichnet und aufgewiesen, wie bereits im 1. Clemensbrief (der in spätdomitianischer Zeit entstand und einem römischen Umfeld zuzuordnen ist) kirchliche Ämter (Presbyterat und Episkopat) entsprechend römischen Amtsvorstellungen konstruiert werden127, wie Irenaeus von Lyon die Autorität von Amtsträgern in ganz römischer Tradition über historische Exempla zu begründen versucht128, wie insbesondere das römische Recht auf Tertullians Vorstellungen von der Kirche, ihren Amtsträgern und seine „nüchterne, fast säkulare Begründung des Amtes“ eingewirkt hat129, wie die Amtsautorität in der Traditio Apostolica als ein zentrales nen, ihrem Verhalten und ihren moralischen Qualitäten letztlich ja auf deren Amtsfähigkeit zielten, wodurch unweigerlich das Amt im Zentrum der Auseinandersetzungen stand. 127 Vgl. Martin, Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), 17: „Der Presbyterat bzw. Episkopat werden, obwohl beide schon in der christlichen Überlieferung begegnen, wie ein römisches Amt verstanden. Auch römische Amtsträger wurden vom Volk gewählt, waren während ihrer Amtszeit unabsetzbar, und ihnen kamen aufgrund ihres Amtes ‚Wirkungsmöglichkeiten (Macht)‘ und ‚gesellschaftliches Ansehen‘ zu“; Martin verweist überdies auf den spezifischen Umgang mit Vergangenheit im 1. Clemensbrief und bezieht diesen auf römische Traditionen: „Ebenso kann man den Umgang der Römer mit ihrer Vergangenheit, den Rekurs auf handlungsleitende historische exempla […] charakterisieren. Dazu wird Geschichte im Sinne einer legitimierenden Abfolge von Gott bis zu den Amtsträgern der Gegenwart wichtig“. Wichtig für Martins Argumentation ist insbesondere Tassilo Schmitt, Paroikie und Oikoumene. Sozial- und mentalitätsgeschichtliche Untersuchungen zum 1. Clemensbrief. Berlin/New York 2002, 79– 83 (zur Datierung des 1. Clemensbriefes s. ebd., 117–122). Christoph Markschies, Apostolizität und andere Amtsbegründungen in der Antike, in: Theodor Schneider/Gunther Wenz (Hrsgg.), Das kirchliche Amt in apostolischer Nachfolge I: Grundlagen und Grundfragen. (Dialog der Kirchen 12.) Freiburg/Göttingen 2004, 296–334, nimmt ebenfalls gravierende Unterschiede bzw. eine deutliche Inhomogenität im altkirchlichen Amtsverständnis wahr, betont in diesem Zusammenhang aber vor allem eine „Pluralität“ der Vorstellungen, dies insbesondere verbunden mit einer Kritik am allzu einseitigen Paradigma der Apostolizität (deren Bedeutung als Argument er überschätzt sieht) sowie der Anregung, über die auf Max Weber zurückgehenden Kategorien ‚Amt‘ und ‚Charisma‘ hinaus zu gelangen. 128 Vgl. Martin, Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), 21–23, der diese Haltung mit dem Amtsbegriff des Ignatios von Antiocheia kontrastiert, der – eher am Modell der hellenistischen Polis ausgeformt – „die Suche nach konkreten, klar festgelegten Vollmachten des Bischofs vergeblich“ mache (19). Der Westen jedenfalls sei „einen ganz anderen Weg gegangen“ (20). Zu Ignatios‘ Amtsverständnis vgl. Allen Brent, Ignatius of Antioch and the Second Sophistic. A Study of an Early Christian Transformation of Pagan Culture. Tübingen 2006. Brents Untersuchungen bilden die Basis der von Martin gezogenen Schlussfolgerungen. 129 Vgl. Martin, Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), 25–30, bes. 30 (das Zitat 28), mit Verweis auf Josef Fellermayr, Tradition und Sukzession im Lichte des römisch-antiken Erbdenkens. Untersuchungen zu den lateinischen Vätern bis zu Leo dem Großen. München 1979, 44–59, und Alexander Beck, Römisches Recht bei Tertullian und Cyprian. Eine Studie zur frühen Kir
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Element erscheint130 und wie sich „Cyprians Vorstellung von der Bischofsgewalt […] in der Terminologie und in der Sache an die staatsrechtlich definierte Amtsgewalt des römischen Oberbeamten an[lehnt]. Beide Gewalten werden als potestas bezeichnet; das Amt geht unmittelbar vom Vorgänger auf den Nachfolger über bzw. wird von Nachbarbischöfen übertragen, ohne an das Volk zurückzufallen. Die Bischöfe verwalten ‚rechtmäßig‘ (legitime) ein Amt (honos, munus, officium); Cyprian spricht auch von administratio ecclesiae, episcopatum gerere. Ihre Anordnungen – Cyprian greift mit ihnen auf die ‚Terminologie der magistratischen Kundgebungen‘ zurück – sind Vorschriften (praecepta und mandata), welche unmittelbar auf die unveränderbare lex divina, d.h. die Botschaft Christi, das Alte Testament und die Anordnungen der Apostel, zurückgehen. Das Leben der Kirche beruht also auf einer umfassenden Rechtsordnung, wobei die praktischethischen Forderungen als disciplina bezeichnet werden, die mit der lex in einer engen Beziehung steht“.131 Aus dieser Perspektive nimmt die bereits erwähnte Anlehnung des römischen Bischofs an kaiserliche Repräsentationsformen nicht wunder, sah dieser doch im Kaisertum offenbar ein ‚Amt‘, das eine eminente Autorität ausstrahlte, und diese ließ sich zumindest partiell auch rechtlich begründen: Nach dem römischen ius publicum waren die Kaiser als pontifices maximi die höchsten Obwalter der religiösen Angelegenheiten und ihrer Vertreter (sacra und sacerdotes).132 U.a. an diesem Punkt setzten die Bischöfe von Rom im Ringen um den Primat an und konnten dabei mit einem strikt an römischer Tradition und am römischen Recht ausgerichteten, präzisen Amtsverständnis argumentieren – man denke nur an die Einführung der Dekretalen im späten 4. Jahrhundert (s.o.). Als dann das Kaisertum im Westen sichtbar erodierte und die Päpste auch in der Praxis kaiserliche Aufgaben zu übernehmen hatten, war jener Zeitpunkt gekommen, zu dem der Anspruch, die theoretischen Konstrukte und die politische Praxis tatsächlich zusammenfielen – personifiziert in der Person Papst Leos I. (440–461), der in seiner Papsttheorie die bis dahin noch eher unverbundenen Argumente für einen Primat Roms zusammenfügte und dabei insbesondere auf das römische Erbrecht rekurrierte. Nachdem sich bereits seit Damasus (366–384) – u.a. in Auseinandersetzung mit der Rangerhöhung Konstantinopels im Konzil von 381 – die Formel von der sedes apostolica in Verbindung mit der berühmten Bibelstelle Mt 16,18–19 allmählich etabliert hatte und Rom so von einem Apostolischen Stuhl zu dem Apostolischen Stuhl aufgestiegen war (für das Jahr 382 ist erstmals der Terminus pri chenrechtsgeschichte. Halle 1930, ND Aalen 1967. Zur Kontroverse über die Frage, inwieweit Tertullians Verwendung juristischer Termini auf vertiefte Kenntnisse des römischen Rechts schließen lassen, vgl. Henrike M. Zilling, Tertullian. Untertan Gottes und des Kaisers. Paderborn 2004, 33–36. 130 Vgl. Martin, Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), 31–35. 131 Martin, Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), 38. 132 Vgl. Dig. 1,1,1,2: „publicum ius est quod ad statum rei Romanae spectat […]. publicum ius in sacris, in sacerdotibus, in magistratibus consistit“ (Ulpian). Dazu Ullmann, Arbeitsteilung (wie Anm. 74), 43f.; ders., Gelasius (wie Anm. 72), 1ff.
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matus in diesem Zusammenhang belegt)133, beseitigte Leo die weiterhin bestehende Argumentationsunsicherheit der römischen Bischöfe, wenn es darum ging, plausible Begründungen dafür zu finden, dass auch die Nachfolger des Petrus mit denselben Vollmachten ausgestattet sein sollten wie dieser selbst: Hatte man bis dahin auf einen möglicherweise im frühen 3. Jahrhundert gefälschten Brief des römischen Bischofs Klemens I. rekurrieren müssen, in dem dieser als Rechtsnachfolger Petri direkt vom Apostel eingesetzt erschien134, so machte sich Leo die 133 Im Jahr 382 heißt es im Synodalschreiben einer Synode, die unter dem Vorsitz des Damasus in Rom tagte: „Putauimus quod quamuis uniuersae per orbem catholicae diffusae ecclesiae unus thalamus Christi sit, sancta tamen Romana ecclesia nullis synodicis constitutis ceteris ecclesiis praelata est sed euangelica uoce domini et saluatoris nostri primatum obtenuit“ [es folgt Mt 16,18–19] (Cuthbert H. Turner, Latin Lists of the Canonical Books. I. The Roman Council under Damasus, A.D. 382, in: JThS 1, 1900, 554–560, hier 560). Dazu s. Caspar, Geschichte des Papsttums I (wie Anm. 76), 242–251, bes. 247ff.; Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 20ff.; Martin, Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), 72ff.; Reutter, Damasus (wie Anm. 82), 468ff., bes. 482ff. [Text: 474]. Im Kanon 3 des Konzils von Konstantinopel 381 war festgelegt worden, „dass der Bischof von Konstantinopel den Vorrang an Ehre nach dem Bischof von Rom haben soll, weil dieses [= Konstantinopel] das neue Rom ist“ („τὸν μέντοι Κωνσταντινουπόλεως ἐπίσκοπον ἔχειν τὰ πρεσβεῖα τῆς τιμῆς μετὰ τὸν Ῥώμης ἐπίσκοπον διὰ τὸ εἶναι αὐτὴν νέαν Ῥώμην“), vgl. Josef Wolmuth (Ed.), Conciliorum Oecumenicorum Decreta, Bd. 1: Konzilien des ersten Jahrtausends. Vom Konzil von Nizäa (325) bis zum vierten Konzil von Konstantinopel (869/70). 2. Aufl. Paderborn u.a. 1998, 32. Damasus hielt der ausschließlich aus seiner politischen Bedeutung als Kaiserresidenz resultierenden Aufwertung Konstantinopels nachdrücklich die Apostolizität Roms entgegen und weitete diese sogar zur Doppelapostolizität aus (auch mit Blick auf andere Städte, die sich ebenfalls einer apostolischen Tradition rühmen konnten, wie Alexandreia [Markus] und Antiocheia [Petrus], aber auch Korinth, Philippi, Thessalonike [Paulus] und Ephesos [Johannes]), indem er die Bedeutung von Petrus und Paulus betonte. In diesem Kontext gewann auch die später immer wieder zitierte Bibelstelle Mt 16,18–19 an Bedeutung, denn sie verdeutlichte, dass die Stellung Roms vor allem gegenüber Konstantinopel nicht auf menschliche Beschlüsse zurückging, sondern auf ein explizites Herrenwort. Damit war die Formel von der sedes apostolica fundiert, die bereits im Jahr 378, „ohne Zweifel von Damasus […] inspiriert“ (Ullmann, Gelasius [wie Anm. 72], 22), von einer römischen Synode gebraucht worden war (Caspar, a.a.O., 242; Maccarrone, „Sedes apostolica – vicarius Petri“ [wie Anm. 76], 282): Relatio 1 (= Michaela Zelzer [Ed.], Sancti Ambrosi Opera, Pars X. Wien 1982, p. 191). 134 Dazu s. Walter Ullmann, The Significance of the Epistola Clementis in the PseudoClementines, in: JThS 11, 1960, 295–317, ND in: ders., The Church and the Law in the Early Middle Ages. London 1975, II; ders., Gelasius (wie Anm. 72), 29–31, bes. 30: „Formal handelt es sich um einen Einsetzungsbericht, dessen Gegenstand die testamentarische Verfügung Petri war. Hier lag der gültige Rechtstitel vor, der jeden Papst zum vollblütigen juristischen Nachfolger Petri machte, denn Petrus unterließ es nicht, die Nachfolger Klemens‘ miteinzuschließen. […] Mit diesem Kunstgriff sollte das schwierigste Problem des frühen Papsttums – seine Petrinität – gelöst werden. Gewiß, die beiden anderen ‚petrinischen‘ Stühle (Alexandria und Antiochia) blieben als solche bestehen, aber Petrus bestimmte nur einen einzigen Nachfolger, den römischen Bischof“. Vgl. auch Maccarrone, „Sedes apostolica – vicarius Petri“ (wie Anm. 76), 276f. –
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strikte Auffassung des römischen Episkopats als Amt zunutze und konstruierte die Petrusnachfolge der Bischöfe nach dem römischen Erbrecht, wobei er zugleich den Vorrang des Petrus unter den Aposteln emphatisch hervorhob:135 Christus habe die Gewalt an Petrus weitergegeben, dieser an die Apostel.136 Jeder römische Bischof erbt das Amt direkt von Petrus und amtiert an dessen Stelle (cuius uice).137 Dass es dabei ausschließlich um eine Amtsnachfolge geht, die unabhängig von der Person und ihrer moralischen Qualität zu sehen ist, drückte Leo durch die Formel indignus haeres aus:138 Lediglich die Erbfolge und damit Amt und Funktion sind von Relevanz, der Bischof selbst kann als Person durchaus indignus sein. Jeder Papst erhält in dieser Herleitung seine Amtsgewalt direkt von Petrus und ist so stets dessen direkter Nachfolger – nicht der seines unmittelbaren Vorgängers.139
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Das zur Gestalt des Klemens verfügbare Material hat Mario Ziegler, Successio. Die Vorsteher der stadtrömischen Christengemeinde in den ersten beiden Jahrhunderten. Bonn 2007, 69ff., zusammengetragen – nicht immer mit überzeugenden Schlussfolgerungen. Dazu s. im Einzelnen Caspar, Geschichte des Papsttums I (wie Anm. 76), 423ff.; Maccarrone, „Sedes apostolica – vicarius Petri“ (wie Anm. 76), 317ff. Grundlegend zur erbrechtlichen Konstruktion des Papsttums bei Leo I. sind die Arbeiten von Ullmann, Leo I (wie Anm. 76), bes. 33f.; ders., Gelasius (wie Anm. 72), 61ff. Vgl. auch McShane, Romanitas (wie Anm. 74), 122ff.; Eckhard Wirbelauer, Leo der Große und die Entstehung des Papsttums. Der Stellvertreter Petri in Rom, in: Mischa Meier (Hrsg.), Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, 78–92; 344f., bes. 87f.; Martin, Leo II (wie Anm. 76), 1195f.; ders., Weg zur Ewigkeit (wie Anm. 76), 96ff. Die römischen Bischöfe als Erben (haeredes) des Amtes (administratio) des Apostels Petrus bereits bei Siricius in seiner ersten Dekretale aus dem Jahr 385, vgl. Siricius epist. 1 PL 13,1133: „Portamus onera omnium qui gravantur: quin immo haec portat in nobis beatus apostolus Petrus, qui nos in omnibus, ut confidimus, administrationis suae protegit et tuetur haeredes“ [JK 255, 10. Februar 385]. Vgl. dazu auch Scholz, Papsttum (wie Anm. 79), 257. Das sog. doppelte per: Leo serm. 83,3 p. 521 Chavasse: „In Petro ergo omnium fortitudo munitur, et diuinae gratiae ita ordinatur auxilium, ut firmitas quae per Christum Petro tribuitur, per Petrum apostolis conferatur.“ Vgl. Klinkenberg, Papsttum und Reichskirche (wie Anm. 76), 42f. Leo serm. 3,4 p. 14 Chavasse. Leo greift damit auch einen Gedanken Cyprians auf, spitzt diesen allerdings in signifikanter Weise zu: Cyprian hatte noch alle Priester als Stellvertreter Christi angesehen, vgl. Cyprian epist. 63,14: „[…] sacerdos uice Christi uere fungitur […]“. Ullmann, Leo I (wie Anm. 76), 25, mit Anm. 8. Leo serm. 3,4 p. 13; vgl. 2,2 p. 8; 5,4 p. 24 Chavasse. Zum indignus haeres s. auch Ullmann, Leo I (wie Anm. 76), 35: „[…] hence the indignus haeres, which concept clearly distinguishes between the person and his office“; ders., Gelasius (wie Anm. 72), 67ff. (67: „ein juristischer Begriff, der biblisch verankert war“). Vgl. auch Hartmut Georgi, Die Kirche als Abbild Christi nach Leo dem Großen. Diss. Würzburg 1960, 156f. Klinkenberg, Papsttum und Reichskirche (wie Anm. 76), 43; Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 67ff., bes. 69; 73. Vgl. auch Martin, Leo II (wie Anm. 76), 1196: „Es handelt sich um eine Amtsnachfolge, in der das privilegium des Petrus bestehen bleibt, also alles, quod in Petro Christus instituit (serm. 3,2; 83,2)“. Vgl. Dig. 50,17,59 (Ulpian): „heredem eiusdem potestatis iurisque esse, cuius fuit defunctus, constat.“
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Ganz anders gestaltete sich die Situation hingegen im Osten, wo jemand, der im Ruf stand, indignus zu sein, niemals längerfristig auf einem prominenten Bischofsstuhl akzeptiert worden wäre – ganz unabhängig von etwaigen Amtsvollmachten und Funktionen. Dies konnte gravierende Folgen haben. So merkt etwa Epiphanios von Salamis in den 370er Jahren mit Blick auf die streng asketische Gruppe der (als Häretiker geltenden) Aerianer in Kleinasien an: „Wo aber keiner gefunden werden konnte, der des Bischofsamtes würdig war, blieb der Ort ohne Bischof“.140 Bei den Aerianern handelt es sich ohne Zweifel um einen extremen Fall, der nicht verallgemeinerbar ist, aber die in diesem Exemplum aufgewiesene und ins Extreme gesteigerte Grundtendenz scheint mir doch signifikant zu sein: Die kirchlichen Amtsträger konkurrierten im Osten stets mit Asketen, Holy Men, Mönchen, angesehenen Persönlichkeiten – und nicht zuletzt mit weltlichen Autoritäten, an deren Spitze der Kaiser stand. Entscheidend für den Erfolg waren letztlich die jeweilige persönliche Durchsetzungskraft und das Charisma der Akteure.141 Dies führte wiederholt zu brisanten Situationen: Zum einen zu Auseinandersetzungen zwischen regulären kirchlichen Amtsträgern (Bischöfen) und charismatischen Persönlichkeiten, deren Ausgang keineswegs vorprogrammiert war. So sei etwa, um nur ein besonders prägnantes Beispiel anzuführen, an Johannes‘ von Ephesos Beschreibung des miaphysitischen Asketen Sergios erinnert, der – von Anhängern des Chalcedonense vertrieben – eines Tages (in den 520er Jahren) in seine Heimatstadt Amida zurückkehrte, während des Gottesdienstes das Kirchentor aufriss, schweigend in seinen zerlumpten Gewändern mit dem Kreuz auf den Schultern zum Altar schritt, das Kreuz aufstellte und den chalkedonischen Priester einfach packte, verprügelte und hinauswarf.142 Auch der Besuch eines charismatischen Mönches wie z.B. des Severos, des späteren Patriarchen von Antiocheia, in Konstantinopel konnte einen hochrangigen Kleriker wie den Patriarchen der Hauptstadt massiv unter Zugzwang setzen.143 Zum anderen konnte es mitunter auch zu scharfen Konflikten zwischen Kaisern und Patriarchen kommen, in denen die Vertreter der Kirche keine ekklesiologischen Argumente anführen konnten, um ihre Autorität und Position zu fundieren. Doch auch die Kaiser besaßen – anders als das für den Osten immer wieder verwendete missverständliche Schlagwort vom Caesaropapismus suggeriert144 – keineswegs unbeschränkte Handlungs 140 Epiphan. haer. 75,4,6 (= Karl Holl [Ed.], Epiphanius III: Panarion haer. 65–80 – De fide. 2., bearbeitete Auflage hg. von Jürgen Dummer. Berlin 1985, p. 336,21–22): „ὅπου δὲ οὐχ εὑρέθη τις ἄξιος ἐπισκοπῆς, ἔμεινεν ὁ τόπος χωρὶς ἐπισκόπου“. Vgl. dazu auch Markschies, Apostolizität (wie Anm. 127), 308ff. 141 Vgl. Daniel Caner, Wandering, Begging Monks. Spiritual Authority and the Promotion of Monasticism in Late Antiquity. Berkeley/Los Angeles/London 2002. 142 Joh. Eph. Vita 5 PO 17,101–103; Susan Ashbrook Harvey, Asceticism and Society in Crisis. John of Ephesus and the Lives of the Eastern Saints. Berkeley/Los Angeles/London 1990, 72f. 143 Haarer, Anastasius (wie Anm. 10), 143ff.; Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 250ff. 144 Zur Diskussion: Gilbert Dagron, Empereur et prêtre: étude sur le „césaropapisme“ byzantin. Paris 1996.
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spielräume, weil die Bischöfe je nachdem, wie sich ihr Ansehen gestaltete, mitunter schlagkräftige Anhängerschaften zu mobilisieren verstanden, die gefährliche Situationen heraufbeschwören konnten, und weil sich der Herrscher ohnehin nicht nur mit einem einzigen, aufgrund seines Amtes herausragenden Gegenüber, wie es im Westen der Papst war, konfrontiert sah, sondern sich stets mit verschiedenen charismatischen Individuen unterschiedlichster Provenienz gleichzeitig zu arrangieren hatte. Dadurch entstand im Osten – zumal in Konstantinopel – ein ausgesprochen labiles Gleichgewicht der Kräfte, das aufrecht zu erhalten letztlich im Interesse aller beteiligten Akteure lag.145 Die Absetzung eines Patriarchen von Konstantinopel durch den Kaiser muss jedenfalls nicht zwangsläufig als Indiz für eine grundsätzlich übergeordnete Stellung des letzteren gewertet werden, wie z.B. die jüngsten Diskussionen um die Exilierung des Patriarchen Makedonios im Jahr 511 zeigen.146 Gerade gegenüber besonders charismatischen Persönlichkeiten musste es den Kaisern um gute Beziehungen bzw. um geschickte Strategien in der sichtbaren Kommunikation gehen – ganz unabhängig davon, ob es sich dabei um kirchliche Amtsträger handelte oder nicht. Wiederholt finden sich daher Nachrichten darüber, dass Kaiser sich demonstrativ als ‚Freunde‘ der Mönche gegeben haben.147 Bekannt ist die Ehrerbietung, mit der mehrere oströmische Herrscher – Leon I., Zenon und Anastasios – dem Styliten Daniel, der vor den Mauern Konstantinopels residierte, begegnet sein sollen.148 Anastasios trat dem palästinischen 145 Mit Recht hat jüngst Rene Pfeilschifter, Der Kaiser und Konstantinopel. Kommunikation und Konfliktaustrag im hauptstädtischen Interessengeflecht vom späten vierten bis zum frühen siebten Jahrhundert. Habil.-Schr. Dresden 2010, die Kaiserresidenz Konstantinopel in der Phase ca. 400–620 unter soziopolitischen Gesichtspunkten als Akzeptanzsystem bezeichnet, in dem gerade die Labilität des Gleichgewichts der Kräfte einen entscheidenden Faktor darstellte. Allerdings hat er bei der Analyse der unterschiedlichen Akzeptanzgruppen m.E. den Klerus und seine Wirkungsmöglichkeiten unterschätzt. Das mag auch damit zusammenhängen, dass ‚Klerus‘ im Osten ein deutlich unschärferer Begriff ist als im Westen – eben weil Funktionen und Ämter gegenüber ‚weichen‘ Faktoren wie persönlicher Ausstrahlung und Ansehen eine deutlich geringere Rolle spielten als im Westen. 146 Vgl. Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 259–269; Jitse Dijkstra/Geoffrey Greatrex, Patriarchs and Politics in Constantinople in the Reign of Anastasius (with a Reedition of O.Mon.Epiph. 59), in: Millennium 6, 2009, 223–264. 147 So z.B. Anastasios: Theod. Anagn. 478 p. 136 Hansen. Kyrill von Skythopolis nennt Anastasios explizit einen „Freund der Mönche“ (φιλομόναχος), vgl. Kyrill. Skyth. Vita Sabae p. 142,20 Schwartz; s. auch Vita Danielis c. 91 p. 86 Delehaye (Anastasios bringt den Mönchen Frieden und Freiheit); Alois Grillmeier, Jesus der Christus im Glauben der Kirche, Bd. 2.1: Das Konzil von Chalcedon (451). Rezeption und Widerspruch (451–518). 2. Aufl. Freiburg/Basel/Wien 1991, 303, Anm. 117. Zu Justinian und den Mönchen s. demnächst Alexandra Hasse-Ungeheuer, Das Mönchtum in der Religionspolitik Justinians (in Vorbereitung); ferner Hartmut Leppin, Power from Humility: Justinian and the Religious Authority of Monks, in: Andrew Cain/Noel Lenski (Hrsgg.), The Power of Religion in Late Antiquity. Farnham/Burlington 2009, 155–164. 148 Hanns Christof Brennecke, Wie man einen Heiligen politisch instrumentalisiert. Der Heilige Simeon Stylites und die Synode von Chalkedon, in: Uta Heil/Annette von Stockhausen/Jörg Ulrich (Hrsgg.), Hanns Christof Brennecke. Ecclesia est in re publica. Studien zur Kirchen
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Asketen Sabas, der 511 als Identifikationsfigur der Chalkedonier in Konstantinopel erschien, mit ausgesuchter Höflichkeit entgegen.149 Der Chalkedon-treue Kaiser Justinian ließ sich vom miaphysitischen Asketen Zooras bis an den Rand der Demütigung zurechtweisen und richtete dem Miaphysiten Mare eine prachtvolle Bestattung in Konstantinopel aus.150 All dies verweist bereits auf den Umstand, dass jene Sphären, die wir nur unzureichend mit den Begriffen ‚Staat‘ und ‚Kirche‘ umgreifen, im spätantiken Osten untrennbar miteinander verflochten waren. Lassen sich beide Bereiche schon im Westen nur schwer voneinander separieren, so muss man für den Osten geradezu von einer wechselseitigen Durchdringung ausgehen. Dies resultiert zum einen daraus, dass ‚Heiligkeit‘ bzw. – weniger emphatisch ausgedrückt – eine besondere Autorität hier direkt mit den Personen selbst verknüpft war und weniger an ihren Ämtern und Funktionen hing; dadurch waren diese Eigenschaften aber auch einem viel größeren Personenkreis zugänglich, konnten regelrecht erworben werden und waren weniger abhängig von hierarchischen oder gar institutionellen Strukturen.151 Zum anderen gab es im Osten seit dem frühen 4. Jahrhundert wesentlich geringere Widerstände gegenüber der Etablierung einer Reichskirche, die insbesondere dem Kaiser gravierende Vollmachten auch in kirchlichen Belangen und Theologiegeschichte im Kontext des Imperium Romanum. Berlin/New York 2007, 291– 314; ders., Die Styliten als Römer, ebd., 315–335; ders., Heiligkeit als Herrschaftslegitimation, in: Berndt Hamm/Klaus Herbers/Heidrun Stein-Kecks (Hrsgg.), Sakralität zwischen Antike und Neuzeit. Stuttgart 2007, 115–122. 149 Vgl. Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 134; 219; 266. 150 Vgl. Ashbrook Harvey, Asceticism (wie Anm. 142), 84–86; Mischa Meier, Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert n. Chr. 2. Aufl. Göttingen 2004, 435; Leppin, Power from Humility (wie Anm. 147), 159ff.; Leppin, Justinian (wie Anm. 5), 173f.; 187–189; 215; 244. 151 Vgl. dazu auch Mischa Meier, Sind wir nicht alle heilig? Zum Konzept des „Heiligen“ (sacrum) in spätjustinianischer Zeit, in: Millennium 1, 2004, 133–164. Zentral zu dieser Thematik sind die Arbeiten Peter Browns, vgl. etwa Peter Brown, The Rise and Function of the Holy Man in Late Antiquity, in: JRS 61, 1971, 80–101; ders., Town, Village and Holy Man: The Case of Syria, in: Peter Brown, Society and the Holy in Late Antiquity. Berkeley/Los Angeles 1982, 153–165; ders., The Saint as Exemplar in Late Antiquity, in: Representations 2, 1983, 1–25; ders., Authority and the Sacred. Aspects of the Christianisation of the Roman World. Cambridge 1995, 57–78; ders., Holy Men, in: Averil Cameron/Bryan Ward-Perkins/Michael Whitby (Hrsgg.), The Cambridge Ancient History, Vol. XIV: Late Antiquity: Empire and Successors, A.D. 425–600. Cambridge 2000, 781–810. Aus der Rückschau: Peter Brown, The Rise and Function of the Holy Man in Late Antiquity, 1971– 1997, in: Journal of Early Christian Studies 6, 1998, 353–376. Zu Browns Konzept des Holy Man s. auch Mark Vessey, The Demise of the Christian Writer and the Remaking of „Late Antiquity“: From H.-I. Marrou’s Saint Augustine (1938) to Peter Brown’s Holy Man (1983), in: Journal of Early Christian Studies 6, 1998, 377–411, bes. 403ff.; Averil Cameron, On Defining the Holy Man, in: James Howard-Johnston/Paul A. Hayward (Hrsgg.), The Cult of Saints in Late Antiquity and the Middle Ages. Essays on the Contribution of Peter Brown. Oxford 1999, 27–43.
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zugestand.152 Der Kirchenhistoriker Sokrates hat es im 5. Jahrhundert auf den Punkt gebracht: „Seit sie [sc. die Kaiser, M.M.] angefangen haben, Christen zu sein, hingen von ihnen die Angelegenheiten der Kirche ab und die größten Synoden geschahen und geschehen nach ihrem Willen“.153 Dementsprechend berief der Kaiser seit Konstantin Konzilien ein, eröffnete sie, wohnte den Sitzungen bei und sanktionierte ihre Beschlüsse.154 Er fungierte als Appellationsinstanz nicht zuletzt für theologische Probleme und konnte direkt in Glaubensfragen Stellung beziehen. So meinte etwa Leon I., im Kontext der Wirren um Timotheos Ailuros und die Besetzung des alexandrinischen Patriarchats mittels einer Umfrage unter den Bischöfen des Römischen Reiches (so Euagrios) hinsichtlich der Gültigkeit der Beschlüsse des Konzils von Chalkedon Klarheit über seine weiteren kirchenpolitischen Aktionen gewinnen zu können (458)155, und Zenon versuchte mit seinem Henotikon (482) die Unzufriedenheit über seinen kirchenpolitischen Kurs insbesondere in Ägypten aufzufangen.156 Anastasios provozierte im Jahr 512 mit einem von ihm angeordneten Zusatz zum populären Trisagion-Hymnus einen der schwersten Aufstände, die das spätantike Konstantinopel gesehen hat.157 Justinian schließlich ging am weitesten: Er betätigte sich nicht nur selbst über rein kirchenpolitische Pragmatik hinaus als theologischer Schriftsteller, sondern gab für das 5. Ökumenische Konzil in Konstantinopel 553 sogar die gewünschten Ergebnisse 152 Das bedeutet freilich nicht, dass es im Osten überhaupt keine Widerstände gab; verwiesen sei in diesem Zusammenhang lediglich auf die Konflikte, die Constantius II. auszufechten hatte, vgl. Richard Klein, Constantius II. und die christliche Kirche. Darmstadt 1977. 153 Sokr. HE 5 pr. 9: […] ἀφ’ οὗ χριστιανίζειν ἤρξαντο, τὰ τῆς ἐκκλησίας πράγματα ἤρτητο ἐξ αὐτῶν καὶ αἱ μέγισται σύνοδοι τῇ αὐτῶν γνώμῃ γεγόνασίν τε καὶ γίνονται. 154 Vgl. aus der reichhaltigen Literatur etwa Kissling, Verhältnis (wie Anm. 74); Girardet, Kaisergericht (wie Anm. 81); ders., Kaisertum, Religionspolitik und das Recht von Staat und Kirche in der Spätantike. Bonn 2009; Hanns Christof Brennecke, Bischofsversammlung und Reichssynode. Das Synodalwesen im Umbruch der konstantinischen Zeit, in: Uta Heil/Annette von Stockhausen/Jörg Ulrich (Hrsgg.), Hanns Christof Brennecke. Ecclesia est in re publica. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte im Kontext des Imperium Romanum. Berlin/New York 2007, 25–48, bes. 41ff. 155 Liberat. brev. 15 (= ACO II 5 p. 124,23–30). Text der entsprechenden Rundschreiben (ἐγκύκλια γράμματα): Euagr. HE 2,9 (griech.); ACO II 5, Nr. 6 p. 11 (lat.). Vgl. Ps.-Zach. HE 4,5; Theod. Anagn. fr. 372 p. 105 Hansen; Theoph. a.m. 5952 p. I 111,23–112,3 de Boor; Joh. Nik. 88,17–21; Vict. Tonn. ad ann. 468 p. 187–188 Mommsen. Dazu s. Hanns Christof Brennecke, Das akakianische Schisma: Liberatus, Breviarium 15–18, in: Volker H. Drecoll/Mischa Meier (Hrsgg.), Das ‚Breviarium‘ des Liberatus von Karthago. Berlin/New York 2010, 74–95, hier 76f., mit Anm. 19 (weitere Lit.). 156 Hanns Christof Brennecke, Chalkedonense und Henotikon. Bemerkungen zum Prozess der östlichen Rezeption der christologischen Formel von Chalkedon, in: Uta Heil/Annette von Stockhausen/Jörg Ulrich (Hrsgg.), Hanns Christof Brennecke. Ecclesia est in re publica. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte im Kontext des Imperium Romanum. Berlin/New York 2007, 259–290; Rafal Kosiński, The Emperor Zeno. Religion and Politics. Krakau 2010, 125ff. 157 Mischa Meier, Σταυρωθεὶς δι’ ἡμᾶς – Der Aufstand gegen Anastasios im Jahr 512, in: Millennium 4, 2007, 157–237; Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 269ff.
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vor und zwang den Papst mit erheblicher Gewalt dazu, diesen schließlich auch zuzustimmen; der gebrochene Bischof von Rom starb 555 in Syrakus während seiner Rückreise aus Konstantinopel nach Rom.158 Im Osten stieß das konstantinisch-eusebianische Konstrukt eines streng hierarchisch organisierten, Reich und Kirche in der Person des Herrschers integrierenden christlichen Imperiums auf deutlich weniger Kritik als im lateinischen Westen. Die römische Monarchie, darin waren sich alle im Wesentlichen einig, bildete letztlich die universale Herrschaft Christi ab, und der Kaiser hatte aus der imitatio der himmlischen Gottesherrschaft seine Legitimation zu beziehen. Im Osten wurde dies namentlich von den Herrschern dahingehend interpretiert, dass das von ihnen regierte Reich seine Einheit und die Voraussetzungen für seinen Fortbestand insbesondere in einem gemeinsamen Glauben fand, dessen Schutz und Bewahrung traditionell die gemeinsame Aufgabe der Kaiser und Bischöfe war.159 Im Westen sah man dies hingegen ganz anders: Der Papst als Inhaber der sedes apostolica verstand sich dort selbst als höchste Instanz, nicht über ein irdisches Reich, sondern – weitaus mehr noch – über die gesamte Kirche, in der das Imperium Romanum als weltliches Herrschaftsgebilde gleichsam aufging. Dem Kaiser wurde in diesem Denkmodell mit Blick auf die Aufgabenverteilung lediglich die Verfügungsgewalt über die res humanae zugestanden, nicht aber über die ungleich wichtigeren res divinae – eine Unterscheidung, die dem Denken der Zeitgenossen im Osten in dieser Präzision fremd war. Dies war mit eine der Ursachen für den Ausbruch des Akakianischen Schismas (484–519): Was für den Herrscher am Bosporus selbstverständlich war – eine Stellungnahme zu Glaubensfragen, d.h. zu Interna der Kirche und damit zu den res divinae, wie z.B. in Form des Henotikon –, musste der sedes apostolica als unerhörte Einmischung erscheinen. Der Konflikt, der die Kirchen des Ostens und des Westens zum ersten Mal für mehrere Jahre spaltete, wurde also nicht nur durch aktuelle Anlässe und 158 Die von nahezu permanenten persönlichen Interventionen gekennzeichnete Religions- und Kirchenpolitik Justinians ist jüngst von Leppin, Justinian (wie Anm. 5), eindringlich behandelt worden, der zu Recht den „totalisierende[n] Ansatz in der Politik Justinians“ hervorhebt (105; vgl. 101; 181) und festhält: „Justinian definierte sich als Exekutor des wahren Glaubens, er beanspruchte die Kontrolle darüber, ob in der Kirche alles gemäß den Lehren der Apostel geschah, ein überaus hoher Anspruch, der der Kirche die Luft zum Atmen nehmen konnte, da die kaiserliche Autorität einen allumfassenden Anspruch erhob“ (108). Zu Justinians Umgang mit Papst Vigilius s. ebd., 293ff.; Caspar, Geschichte des Papsttums II (wie Anm. 74), 234ff.; Sotinel, Emperors and Popes (wie Anm. 78), 280ff.; Maser, Päpste (wie Anm. 99), 59–61; Leppin, Justinian (wie Anm. 5), 293–308. 159 Schon bei Eusebios wird Konstantin vage als „Bischof des (der?) Äußeren“ (ἐπίσκοπος τῶν ἐκτός) umschrieben (Euseb. VC 4,24); vgl. Francis Dvornik, Early Christian and Byzantine Political Philosophy. Origins and Background, Vol. II. Washington, DC 1966, 751ff.; Dagron, Empereur et prêtre (wie Anm. 144), 141ff.; Klaus Martin Girardet, Das christliche Priestertum Konstantins d. Gr. Ein Aspekt der Herrscheridee des Eusebius von Caesarea, in: ders., Kaisertum, Religionspolitik und das Recht von Staat und Kirche in der Spätantike. Bonn 2009, 107–134; Claudia Rapp, Imperial Ideology in the Making: Eusebius of Caesarea on Constantine as „Bishop“, in: JThS 49, 1998, 685–695.
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tagespolitische Auseinandersetzungen verursacht, sondern wurzelte durchaus in tieferen strukturellen Differenzen. V. DAS JAHR 476 UND DIE FOLGEN Vor dem so skizzierten Hintergrund kommt dem Jahr 476 m.E. eine spezifische Bedeutung zu. Das westliche Kaisertum fiel damals fort, zum einen als Institution, zum anderen aber auch als Denkfigur; gerade letzteres darf nicht unterschätzt werden, denn als Denkfigur war das Kaisertum im Westen eng mit seinem Pendant im Osten verbunden – und deshalb musste die Erschütterung auf dieser Ebene zwangsläufig auch den Osten erreichen. Ich komme später darauf zurück. Zunächst einmal jedoch waren die neuen barbarischen Potentaten dazu gezwungen, ihre Herrschaft zu verankern – und zwar unter Verzicht auf ein westliches Kaisertum, zu dem man in irgendeiner Weise hätte in Beziehung treten können (z.B. durch ein foedus). Diese Verankerung erfolgte u.a. über verschiedene Varianten der imitatio imperii, auf die ich hier nicht näher eingehen muss.160 Wichtig erscheint mir in diesem Zusammenhang vor allem das Beispiel der Münzprägung: „Odoacer […] selbst tritt numismatisch so gut wie gar nicht in Erscheinung“, und auch die gotischen Münzen „tragen Bild und Namenszug des Kaisers“.161 Ohnehin wurde mit Nachdruck eine Rückbindung der eigenen Position an das noch verbliebene Kaisertum im Osten verfolgt. Auch wenn eine italische Senatsgesandtschaft im Auftrag Odoakers 476 in Konstantinopel ausrichten ließ, dass man im Westen fortan keinen Kaiser mehr benötige, sondern dass Zenon Odoaker mit dem patricius-Titel ausstatten und ihm die Verwaltung Italiens übertragen solle162, so bezeugen doch gerade dieser Akt und sein Adressat, dass der Kaiser (und damit das Kaisertum) dennoch als zentraler Bezugspunkt für die Konzeption neuer Herrschaftsformen erhalten blieb. Wenig erstaunlich ist vor 160 Ausgangspunkt zahlreicher Diskussionen um die imitatio imperii (die als heuristisches Konzept freilich modern ist) bildet ein viel zitiertes Diktum Theoderichs in Cassiodors Variae: „Regnum nostrum imitatio vestra est, forma boni propositi, unici exemplar imperii“ (Cass. var. 1,1,3; dazu Suerbaum, Staatsbegriff [wie Anm. 43], 249ff.). Vgl. Becher, Chlodwig (wie Anm. 11), 235ff. Prominent wurde die imitatio imperii als Konzept durch die Untersuchungen von Percy E. Schramm, Sacerdotium und Regnum im Austausch ihrer Vorrechte: „imitatio imperii“ und „imitatio sacerdotii“. Eine geschichtliche Skizze zur Beleuchtung des „Dictatus papae“ Gregors VII., in: ders., Kaiser, Könige und Päpste. Gesammelte Aufsätze zur Geschichte des Mittelalters, Bd. IV.1. Stuttgart 1970, 57–106. Problematisierung des Konzepts der imitatio imperii bei Jussen, Poströmische Könige (wie Anm. 11), 17ff. 161 Wolfgang Hahn, Moneta Imperii Byzantini, Teil 1: Von Anastasius I. bis Justinianus I. (491– 565) einschließlich der ostgotischen und vandalischen Prägungen. Wien 1973, 77; 79. 162 Malch. fr. 14,5–10 Blockley: Wτὸν μέντοι Ὁδόαχον ὑπ’ αὐτῶν προβεβλῆσθαι ἱκανὸν ὄντα σώζειν τὰ παρ’ αὐτοῖς πράγματα, πολιτικὴν ἔχοντα σύνεσιν ὁμοῦ καὶ μάχιμον· καὶ δεῖσθαι τοῦ Ζήνωνος πατρικίου τε αὐτῷ ἀποστεῖλαι ἀξίαν καὶ τὴν τῶν Ἰταλῶν τούτῳ ἐφεῖναι διοίκησιν. ἀφικνοῦνται δὴ ἄνδρες τῆς βουλῆς τῆς ἐν Ῥώμῃ τούτους εἰς Βυζάντιον κομίζοντες τοὺς λόγους […].“
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diesem Hintergrund die Tatsache, dass Odoaker um 490/93 seinen Sohn Thela zum Caesar erhob und damit innerhalb der Kategorien, die durch die Tradition der römischen Kaiserherrschaft zur Verfügung gestellt wurden, zum Nachfolger designierte.163 Ganz in eben jener Tradition bewegte sich auch das Angebot, das die verzweifelten Ostgoten 540 an Belisar richteten, als sie ihm das Kaisertum des Westens antrugen, um ihren eigenen Untergang abzuwenden; Belisar nahm die Offerte zum Schein an und konnte dadurch die ostgotische Königsstadt Ravenna für Justinian sichern.164 Noch deutlicher wird die Anlehnung der neuen Herren im Westen an das Kaisertum in dem intensiven Bemühen Theoderichs um formale Anerkennung durch die oströmische Regierung; insgesamt drei italische Gesandtschaften des Goten erschienen am Bosporus, bis Anastasios ihm im Jahr 497 schließlich symbolisch die Akzeptanz gewährte.165 Zunächst einmal jedoch generierten diese Gesandtschaften lediglich eine Kette von Missverständnissen. Dies resultierte vor allem aus dem Umstand, dass beide Seiten mit dem Anliegen Theoderichs offenbar ganz unterschiedliche Assoziationen verbanden. Nach dem Untergang des westlichen Kaisertums sowie im Zuge seiner eigenen Etablierung als Herrscher über Italien und angrenzende Gebiete suchte der Gote lediglich eine Rückbindung an die höchste noch verbliebene weltliche Autorität – wie diese im Einzelnen aussehen sollte, dürfte einer der geplanten Verhandlungspunkte gewesen sein. Als ‚Arianer‘ der Autorität des Papstes nicht unterstehend, agierte und argumentierte Theoderich nicht innerhalb des oben beschriebenen ekklesiologischen Rahmens; gleichfalls wird zumindest seinen italischen Gesandten die Selbstverständlichkeit, mit der ihre Gesprächspartner am Bosporus ‚weltliche‘ und ‚kirchliche‘ Angelegenheiten als Einheit betrachteten, nicht bewusst gewesen sein. Da ich die Kommunikationsprobleme im Kontext der TheoderichGesandtschaften nach Konstantinopel bereits andernorts ausführlicher behandelt habe166, kann ich mich im Folgenden kurz fassen und auf das Wesentliche kon 163 Joh. Antioch. fr. 307 Roberto; Anon. Vales. 55; PLRE II 1064. Vgl. dazu Ingemar König, Aus der Zeit Theoderichs des Großen. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar einer anonymen Quelle. Darmstadt 1997, 127f.; Henning, Periclitans res publica (wie Anm. 5), 68; Henning Börm, Das weströmische Kaisertum nach 476, in: Henning Börm/Norbert Erhardt/Josef Wiesehöfer (Hrsgg.), Monumentum et instrumentum inscriptum. Beschriftete Objekte aus Kaiserzeit und Spätantike als historische Zeugnisse. Stuttgart 2008, 47–69, hier 52f.: „Wenn der rex gentium (Iord. Get. 243) Odoacer um 490 tatsächlich seinen Sohn Thela zum Caesar erhob, so ist dies ein starkes Indiz dafür, dass eine kaiserliche Legitimation für jemanden, der den Kern des alten Westreiches kontrollieren wollte, noch immer erforderlich schien“ (53). 164 Prok. BG 2,29,17–41; Leppin, Justinian (wie Anm. 5), 219. 165 S. dazu Enßlin, Theoderich (wie Anm. 10), 68; 74ff.; Kohlhas-Müller, Untersuchungen (wie Anm. 10), 144ff.; Haarer, Anastasius (wie Anm. 10), 80ff.; Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 92ff. 166 Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 92ff.; ders., „Von fremd zu fremd“. Gelasius I., Anastasios und die verlorene Einheit der Mittelmeerwelt, in: Robert Rollinger/Kordula Schnegg (Hrsgg.), Kulturkontakte in antiken Welten. Vom Denkmodell zur Fallstudie. Proceedings des
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zentrieren: Die Anerkennung der Position Theoderichs in Italien durch die oströmische Seite erforderte, wie angedeutet, insgesamt drei Gesandtschaften. Eine erste, von dem angesehenen caput senatus Flavius Rufius Postumius Festus (cos. 472)167 geleitete Delegation, die noch während der Belagerung Odoakers durch Theoderich nach Konstantinopel aufbrach, konnte nur noch den Tod des Kaisers Zenon feststellen und wurde von dessen Nachfolger Anastasios ohne konkrete Ergebnisse entlassen.168 Wahrscheinlich bereits 492/93 wurde die nächste Gesandtschaft auf den Weg gebracht, wiederum unter der Führung eines prominenten römischen Senators, des Konsuls des Jahres 490 Flavius Anicius Probus Faustus Iunior Niger.169 Im Kontext seiner Verhandlungen mit der oströmischen Regierung ereignete sich die angedeutete Kette von Missverständnissen. Denn anstatt eine konkrete Antwort auf Theoderichs Anliegen, nämlich formale Anerkennung seiner Stellung in Italien, zu erhalten, wurde die Delegation des Faustus von Anastasios mit den Problemen des Akakianischen Schismas konfrontiert, also einem (aus westlicher Perspektive) vornehmlich kirchenpolitischen Problem, das für Theoderich zu diesem Zeitpunkt eine eher marginale Rolle gespielt haben dürfte, zumal er – wie gesagt – als ‚Arianer‘ ohnehin nicht die Interessen des Papstes vertreten oder gar repräsentieren konnte.170 Für die östliche Seite hingegen stellte die Vermengung beider Aspekte aus den angeführten Gründen eine schlichte Selbstverständlichkeit dar. Da die Unterredung damit aus Sicht der italischen Gesandtschaft plötzlich auf eine gänzlich neue Ebene transferiert worden war, musste Faustus sich mit der veränderten Sachlage zunächst erst einmal eingehend auseinandersetzen. Er ließ daher die Verhandlungen unterbrechen und wandte sich bezeichnenderweise nun nicht in erster Linie an Theoderich, sondern sandte einen Statusbericht an Papst Gelasius I., den er nach der überraschenden Wendung der Gespräche als zuständige Instanz ansah, und bat um Anleitungen, wie er sich weiterhin verhalten solle.171 Gelasius jedoch erblickte in dieser Anfrage eine willkommene Gelegenheit, einmal mehr seine eigene Position im Kontext der seit einem guten Jahrzehnt schwelenden massiven Konflikte zwischen Papst und Kaiser zu stärken – d.h. konkret: den unantastbaren Anspruch der sedes apostolica Rom auf den Primat innerhalb der ecclesia zu bekräftigen –, und übersandte Faustus eine schriftliche Handreichung (das so genannte Commonitorium), in der er jegliche Kompromissbereitschaft mit der oströmischen Führung kategorisch
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internationalen Kolloquiums aus Anlass des 60. Geburtstages von Christoph Ulf, 26.-30. Jänner 2009. Innsbruck/Leuven 2012 (im Druck). PLRE II 467–469 (Fl. Rufius Postumius Festus). Anon. Vales. 53; Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 94. PLRE II 545–456 (Fl. Anicius Probus Faustus iunior Niger 9). Anon. Vales. 53. Die Datierung der Gesandtschaft ist nicht ganz sicher, vgl. dazu Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 94; 369, Anm. 202. Zu entnehmen ist dies dem sog. Commonitorium des Gelasius: Gelas. epist. 10 p. 341 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 16,4–6 [JK 622, 1. November 493]. Vgl. dazu auch Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 74), 220f. Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 74), 166f., Nr. 80.
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ausschloss.172 Dabei hatte er weniger die Position Theoderichs – also den konkreten Ausgangspunkt der Diskussionen – im Blick als das Verhältnis von Papst und Kaiser, und ein Kerngedanke der später von ihm noch prägnanter ausformulierten sog. Zweigewaltenlehre – die Unterordnung des Kaisers unter den Bischof – klingt im Commonitorium bereits markant an.173 Für Gelasius ging es vor allem darum, die diesbezügliche Haltung Roms markant zuzuspitzen und den italischen Gesandten des Goten klarzumachen, dass die „Griechen“,174 die er ohnehin für „verrückt“ (capti mente) erklärte,175 den Primat Roms zu akzeptieren und sich sogar in weltlichen Angelegenheiten dem Urteil kirchlicher Autoritäten zu beugen hätten;176 Anastasios wurde dabei explizit die Exkommunikation angedroht (sedis apostolicae perpetua constitutione damnentur).177 Für Faustus hingegen sei die Angelegenheit erledigt; er solle wohlbehalten zurückkehren.178 Dies bedeutete zugleich, dass das ursprüngliche Anliegen Theoderichs zu einer Marginalie degradiert worden war.179 172 Gelas. epist. 10 p. 341–348 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 16,1–19,16 [JK 622, 1. November 493]. Gelasius behauptet in diesem Zusammenhang, dass der Bischof von Konstantinopel nicht nur hinter Rom, sondern auch hinter Alexandreia und Antiocheia zurückzustehen habe, vgl. Gelas. epist. 10 p. 345 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 17,34–37. 173 Gelas. epist. 10 p. 347 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 18,34–19,4 [JK 622, 1. November 493]: „quaero tamen ab his, iudicium quod praetendunt, ubinam possit agitari? an apud ipsos, ut idem sint inimici testes et iudices? sed tali iudicio nec humana debent committi negotia, nedum diuinae legis integritas. si quantum ad religionem pertinent, non nisi apostolicae sedi iuxta canones debetur totius summa iudicii; si quantum ad saeculi potestatem, ille a pontificibus et praecipue a beati Petri uicario debet cognoscere quae diuina sunt, non ipse eadem iudicare. nec sibi hoc quisquam potentissimus saeculi qui tamen Christianus est, uindicare praesumit, nisi religionem forsitan persequentes.“ 174 Gelas. epist. 10 p. 341 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 16,3 [JK 622, 1. November 493]. 175 Gelas. epist. 10 p. 347 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 18,33 [JK 622, 1. November 493]. 176 Gelas. epist. 10 p. 347 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 18,35–36 [JK 622, 1. November 493]: „sed tali iudicio nec humana debent committi negotia, nedum diuinae legis integritas.“ 177 Gelas. epist. 10 p. 348 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 19,11 [JK 622, 1. November 493]. 178 Gelas. epist. 10 p. 348 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 19,13–16 [JK 622, 1. November 493]. 179 Gelasius erwähnt die Theoderich-Delegation lediglich als Anlass der „Griechen“, den katholischen Glauben zu untergraben (vgl. Gelas. epist. 10 p. 341 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 16,5–6 [JK 622, 1. November 493]: „[…] sed potius per occasionem legationis regiae catholicam fidem moliuntur euertere […]“). Bezeichnenderweise geht es ihm im Folgenden dann auch lediglich um die Haltung des römischen Senates (in Glaubensfragen), nicht aber um das eigentliche Anliegen Theoderichs, das keine Erwähnung mehr findet (vgl. Gelas. epist. 10 p. 342 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 16,14–16: „ad senatum uero pertinet Romanum ut memor fidei quam a parentibus suscepisse se meminit, con
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Bringt man die Vorgänge auf den Punkt, so ergibt sich die Schlussfolgerung, dass die Anfrage Theoderichs hinsichtlich seiner Stellung in Italien, d.h. letztlich die Frage danach, in welcher Beziehung zur Herrschaft des oströmischen Kaisers seine eigene Herrschaft anzusiedeln sei, von der oströmischen Seite im Rahmen einer umfassenden, Imperium und Kirche integrierenden Konzeption angegangen wurde, auf die Faustus nicht anders zu reagieren vermochte, als die seiner Ansicht nach dafür nun zuständige Instanz – den Papst – einzuschalten. Dieser jedoch verfolgte aufgrund der oben skizzierten Herausbildung eines ekklesiologisch begründeten Anspruchs der sedes apostolica auf Vorrang selbst gegenüber den höchsten Vertretern weltlicher Autorität, wie sie sich seit der Fehlrezeption der augustinischen civitas Dei herausgebildet hatte, erkennbar eigene Interessen gegenüber Ostrom, die wiederum nichts mit dem Anliegen Theoderichs zu tun hatten, der für ihn als ‚arianischer‘ Barbarenherrscher zumindest keine zentrale Rolle spielte. Aus diesem Grund riet er Faustus, die Angelegenheit als erledigt zu betrachten und nach Italien zurückzukehren. Erst eine dritte Gesandtschaft, dieses Mal wieder unter der Leitung des Festus, sollte im Jahr 497 die Anerkennung Theoderichs erwirken.180 Was von der Faustus-Gesandtschaft blieb, war hingegen die deutliche Manifestation eklatanter Kommunikationsprobleme zwischen der östlichen und der westlichen Sphäre – weitaus mehr als lediglich verschieden gelagerte Interessen, denn jede Akteursgruppe dachte und argumentierte auf einer grundsätzlich anderen Ebene, so dass eine gemeinsame Verständnisbasis fehlte. Die insbesondere durch die Intervention des Papstes verursachte Konfusion wurde durch damit einhergehende diplomatische Scharmützel noch ausgeweitet: Da Gelasius seinem Boten an Faustus lediglich das Commonitorium mitgegeben hatte, nicht aber auch einen Brief an den Kaiser, wie es sich gehört hätte, reagierte dieser verstimmt mit einer Beschwerde an den Pontifex, was wiederum dazu führte, dass Gelasius im Jahr 494 mit einem Schreiben an Anastasios replizierte, das für die weitere europäische Geschichte von höchster Bedeutung ist, weil es die sog. Zweigewaltenlehre enthält.181 Ich komme darauf noch zurück. tagia uitet communionis externae, ne a communione sedis apostolicae, quod absit, reddatur externus.“). 180 Anon. Vales. 64: „facta pace cum Anastasio imperatore per Festum de praesumptione regni, et omnia ornamenta palatii, quae Odoacer Constantinopolim transmiserat, remittit.“ Vgl. Prostko-Prostyński, Utraeque res publicae (wie Anm. 10), 151ff.; ders., Gotische Politik (wie Anm. 10), 333; König, Aus der Zeit Theoderichs des Großen (wie Anm. 163), 157f. (dort auch zur Frage, was unter ‚Ornat’ zu verstehen ist); Telemachos C. Lounghis/Basilike Blysidu/Stelios Lampakes, Regesten der Kaiserurkunden des Oströmischen Reiches von 476 bis 565. Nicosia 2005, 98 Nr. 245. – Börm, Weströmisches Kaisertum (wie Anm. 163), 54f., vermutet, dass Anastasios die Rücksendung der ornamenta palatii 497 „als Aufforderung oder zumindest Ermunterung gemeint [habe], einen Kaiser für das Hesperium Imperium zu erheben“ (54). 181 Gelas. epist. 12 p. 349–358 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 19,17–24,18 [JK 632, a. 494].
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Vorerst bleibt festzuhalten: Das Jahr 476 hat offenbar in dreifacher Weise zu einem neuen Nachdenken über Herrschaft geführt: 1. Die barbarischen Potentaten, die faktisch an die Stelle des fortgefallenen Kaisertums im Westen traten, kamen bei der notwendigen Konzeption ihrer Herrschaft zwar zunächst ohne die Institution eines Augustus im Westen aus, nicht jedoch ohne das Kaisertum als Denkfigur, und bemühten sich dementsprechend intensiv darum, mit diesem in eine Beziehung zu treten. Dies gilt nicht nur für Odoaker und Theoderich, sondern auch für Chlodwig und andere. 2. Für die Päpste ergaben sich nach 476 neue Handlungsspielräume, da nunmehr weitere bis dahin kaiserliche Funktionen von ihnen übernommen werden und sie sich zugleich in der von Augustin so pointiert propagierten Abwertung aller irdischen Herrschaft bestätigt sehen konnten. Auf der Grundlage der von den Päpsten vertretenen Ekklesiologie, die Kirche und civitas Dei ineins setzte, und vor dem Hintergrund der massiven Erschütterung der Institution des Kaisertums konnten sie sich nunmehr offensiv mit den Herrschern am Bosporus auseinandersetzen und diese mit ebenso konkreten wie scharfzüngigen Forderungen konfrontieren. 3. Die oströmischen Kaiser. Sie wurden einerseits durch ein zunehmend selbstbewusstes Papsttum unter Druck gesetzt – gipfelnd in den Ansprüchen eines Gelasius I. Zum anderen wird ihr Kaisertum – wie angedeutet – auch als Denkfigur starken Erschütterungen ausgesetzt gewesen sein, da es untrennbar mit seinem Pendant im Westen verknüpft war. Diese Erschütterungen lassen sich m.E. in der im späteren 5. Jahrhundert wohl allmählich sich durchsetzenden Erkenntnis zuspitzen, dass Herrschaft über Römer auch ohne einen römischen Kaiser grundsätzlich möglich war. Dies wiederum musste dann auch ganz konkrete Konsequenzen für Kaiser und Kaisertum zeitigen. Da ich auch dies an anderer Stelle bereits ausführlicher behandelt habe182, beschränke ich mich erneut auf einen kurzen Abriss. Bereits bei einem flüchtigen Blick auf die politische Geschichte des ausgehenden 5. Jahrhunderts183 fällt der ‚Ereignisreichtum‘ dieser Jahre auf – man kann dies 182 Vgl. Mischa Meier, Ariadne – Der ‚Rote Faden‘ des Kaisertums, in: Anne Kolb (Hrsg.), Augustae. Machtbewusste Frauen am römischen Kaiserhof? Herrschaftsstrukturen und Herrschaftspraxis II. Berlin 2010, 277–291; ders., Ostrom-Byzanz (wie Anm. 8), 206ff. 183 Überblicke zur ersten Orientierung: Brian Croke, Dynasty and Ethnicity: Emperor Leo I and the Eclipse of Aspar, in: Chiron 35, 2005, 147–203; Gereon Siebigs, Kaiser Leo I.: Das oströmische Reich in den ersten drei Jahren seiner Regierung (457–460 n. Chr.), 2 Bde. Berlin/New York 2010 (Leon I.). Ferner Karl Feld, Barbarische Bürger. Die Isaurier und das Römische Reich. Berlin/New York 2005; Goltz, Barbar (wie Anm. 6); Kosiński, Emperor Zeno (wie Anm. 156) (Zenon). Generell zur Ereignis- und Politikgeschichte der 2. Hälfte des 5. Jh. im Osten: Allen D. Lee, The Eastern Empire: Theodosius to Anastasius, in: Averil Cameron/Bryan Ward-Perkins/Michael Whitby (Hrsgg.), The Cambridge Ancient History, Vol. XIV: Late Antiquity: Empire and Successors, A.D. 425–600. Cambridge 2000, 33–62; kurz Demandt, Spätantike (wie Anm. 1), 217ff.
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auch prägnanter fassen und schlicht von ‚Chaos‘ sprechen. Dieses ‚Chaos‘ wird vor allem durch zwei Aspekte gekennzeichnet: Zum einen gerieten die Kaiser massiv unter Druck. Leon I. (457–474) gelang es nur mit Mühe, sich durch das Massaker an dem magister militum Aspar und seinen Gefolgsleuten (die ihn zuvor überhaupt erst auf den Thron gebracht hatten) im Jahr 471 temporär gewisse Handlungsspielräume zu erkämpfen;184 Zenon (474–491) hatte sich im Verlauf seiner Herrschaft insgesamt drei schwerer Usurpationen zu erwehren (Basiliskos 475/76, Markianos 479, Illus/Leontios 484–488) und wurde dabei in einem Fall sogar für mehrere Monate aus Konstantinopel vertrieben (durch Basiliskos 475/76);185 Anastasios musste zur Festigung seiner zunächst ausgesprochen labilen Position einen langwierigen Bürgerkrieg gegen die Isaurier ausfechten (491–498).186 Zum anderen ist die generelle politische Instabilität im Osten während der Jahre seit ca. 476 bemerkenswert; sie manifestiert sich in einem hohen Maß an Seitenwechseln, fluktuierenden Allianzen und einem Grad an Illoyalität, der innerhalb der römischen Kaiserzeit seinesgleichen sucht. Insbesondere unter Zenon erreichte dieses Phänomen eine bis dahin nicht gekannte Qualität, Dichte und Brisanz: So stand etwa, um nur ein Beispiel anzuführen, der prominente isaurische Feldherr Illus zunächst loyal auf der Seite des Isauriers Zenon, verbündete sich aber 475 mit dem Usurpator Basiliskos und anderen Aristokraten gegen den Kaiser und wirkte bei dessen temporärer Vertreibung aus der Hauptstadt mit. Nachdem sich bei Illus ein hohes Maß an Unzufriedenheit mit Basiliskos eingestellt hatte, wechselte er erneut die Seiten und eskortierte Zenon zurück nach Konstantinopel, ja er stiftete ihn sogar zum Mord an seinem bisherigen engen Vertrauensmann Armatus an, behielt zugleich aber auch Zenons Bruder Longinos als Geisel und Unterpfand für die Loyalität des Kaisers. Wenig später überlebte Illus ein Attentat, hinter dem Zenons Schwiegermutter Verina stand, zwang den Kaiser zu deren Auslieferung und nahm sie in Gewahrsam; trotzdem hielt er Zenon weiterhin die Treue und kämpfte für ihn 479 den Usurpator Markianos nieder. Nach weiteren Verwicklungen kam es dann 484 zur offenen Rebellion des Illus gegen Zenon, wobei die bis dahin noch von ihm arrestierte Verina, deren Freilassung selbst ihre Tochter Ariadne, die Ehefrau Zenons, zuvor nicht erreicht hatte, den Insurgenten nunmehr tatkräftig unterstützte.187 184 Croke, Dynasty and Ethnicity (wie Anm. 183); Henning Börm, Herrscher und Eliten in der Spätantike, in: Henning Börm/Josef Wiesehöfer (Hrsgg.), Commutatio et contentio. Studies in Late Roman, Sasanian, and Early Islamic Near East. In Memory of Zeev Rubin. Düsseldorf 2010, 159–198, bes. 161f. 185 Vgl. Feld, Barbarische Bürger (wie Anm. 183), 236ff.; Joachim Szidat, Usurpator tanti nominis. Kaiser und Usurpator in der Spätantike (337–476 n. Chr.). Stuttgart 2010, 341f., mit Anm. 1460. Zu beachten ist dabei, dass es im Osten zwischen 366 und 475 – also über mehr als ein Jahrhundert hin – zu keinen Usurpationen gekommen war. 186 Haarer, Anastasius (wie Anm. 10), 21ff.; Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 75ff. 187 PLRE II 586–590 (Illus 1); Hugh Elton, Illus and the Imperial Aristocracy under Zeno, in: Byzantion 70, 2000, 393–407; Meier, Ariadne (wie Anm. 182), 280ff.
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Während die Kaiser somit von einer Verlegenheit in die nächste taumelten, scheinen die militärischen Führer und warlords im Dunstkreis des Oströmischen Reiches eine Aufwertung, jedenfalls eine signifikante Stärkung erfahren zu haben, so dass sie ihre Wirkungsfelder in wachsender Unabhängigkeit von den Kaisern zu organisieren vermochten. Dies gilt sowohl für jene Gruppe, die ausgestattet mit hohen Ämtern und Titeln und somit als Teil der Reichseliten agierte (wie z.B. Aspar oder auch Zenon vor seiner Thronbesteigung), als auch für andere, die statt dessen plündernd über den Balkan zogen und dabei auch der Hauptstadt Konstantinopel mitunter gefährlich naherücken konnten, wie z.B. Theoderich Strabo oder sein Konkurrent Theoderich, Sohn des Thiudimir, der spätere Herrscher über Italien.188 Das sich in diesen Verhältnissen manifestierende ‚Chaos‘, das den Verlauf der oströmischen Geschichte im ausgehenden 5. Jahrhundert prägt, ist in der Forschung längst gesehen worden und wurde insbesondere auf zwei Ursachen zurückgeführt: Zum einen auf einen jahrzehntelangen Konflikt zwischen zwei barbarischen Gruppen, die am Hof um Macht und Einfluss konkurrierten und die Kaiser dabei regelrecht lähmten – der ‚germanischen Fraktion‘ und der ‚Isaurier‘;189 zum anderen auf die persönliche Unfähigkeit einzelner Herrscher, insbesondere Zenons, unter dessen Regierung die Unruhen und Tumulte in der Tat ihren Höhepunkt erreichten.190 Beide Erklärungen vermögen indes nicht zu überzeugen, wie ich an anderer Stelle bereits näher ausgeführt habe. Die Germanen-IsaurierDichotomie geht von ethnisch induzierten, festen Blockbildungen am Kaiserhof aus, doch ist die Existenz dieser Blöcke mittlerweile plausibel infrage gestellt worden.191 Die Rückführung der chaotischen Verhältnisse auf vermeintlich schwache Kaiser hingegen macht sich unkritisch die Polemik unserer Gewährs 188 PLRE II 1073–1076 (Theodericus Strabo 5); II 1077–1084 (Fl. Theodericus 7). Vgl. Meier, Ostrom-Byzanz (wie Anm. 8), 214f. 189 So erstmals mit großem Nachdruck Ernest W. Brooks, The Emperor Zenon and the Isaurians, in: EHR 8 (1893), 209–238; zuletzt Demandt, Spätantike (wie Anm. 1), 222. 190 Zum Zenon-Bild in den Quellen s. Avshalom Laniado, Some Problems in the Sources for the Reign of the Emperor Zeno, in: BMGS 15, 1991, 147–173; ferner Feld, Barbarische Bürger (wie Anm. 183), 278–284. Exemplarisch für die Einschätzung Zenons in der Forschung vgl. etwa Brooks, Emperor Zenon (wie Anm. 189), 238 („an Isaurian chief reigned almost as a foreign conqueror over the eastern empire“) oder auch John B. Bury, History of the Later Roman Empire from the Death of Theodosius I. to the Death of Justinian, Vol. I. London 1923, ND 1958, 401 („He was indolent and in many respects weak“). Vgl. zuletzt noch Szidat, Usurpator (wie Anm. 185), 341f.: „Erst unter Zenon gab es dann zwei Usurpationen und mehrere Usurpationsversuche, was seinen Grund in der schwachen Legitimation dieses Kaisers hatte und nicht in besonderen außenpolitischen Problemen“. 191 Vgl. Meier, Ostrom-Byzanz (wie Anm. 8), 211f.; ders., Anastasios (wie Anm. 13), 75ff.; ders., Anastasios und die ‚Geschichte‘ der Isaurier, in: Walter Pohl/Clemens Gantner/Richard Payne (Hrsgg.), Visions of Community in the Post-Roman World. The West, Byzantium and the Islamic World, 300–1100. Farnham/Burlington 2012, 281–300. S. ferner Elton, Illus (wie Anm. 187), 393–407, sowie – besonders wichtig – Croke, Dynasty and Ethnicity (wie Anm. 183), passim, bes. 200–203.
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leute zu eigen und gewinnt daraus psychologisierende Erklärungsmuster, die als Grundlage für die Deutung der Politik und Ereignisgeschichte mehrerer Jahrzehnte nicht tragfähig sind.192 Demgegenüber plädiere ich für einen strukturellen Ansatz, der von einer prinzipiellen Schwächung des Kaisertums ausgeht und diese als indirekte Folge der Ereignisse des Jahres 476 im Westen interpretiert. Für diese Herangehensweise spricht eine Reihe von Indizien: 1. Während der einflussreiche magister militum Flavius Ardabur Aspar193 nach dem Tod des Kaisers Markian im Jahr 457 die ihm vom Senat angetragene Kaiserkrone noch abgelehnt hatte, um als Barbar keinen Präzedenzfall zu schaffen (timeo, ne per me consuetudo in regno nascatur) – da er sich offenbar bewusst war, dass er sich aufgrund seiner Herkunft wohl nicht längerfristig auf dem Thron hätte halten können194 –, wurde die ‚skythische‘ (= gotische?) Abkunft des auf den Kaiserthron schielenden Insurgenten Vitalian in den Jahren 514–515 offenbar nicht mehr als Einschränkung empfunden und daher in den Quellen in diesem Zusammenhang auch gar nicht näher thematisiert.195 Bereits die Erhebung Thelas durch seinen Vater Odoaker zum Caesar um 490/93 verweist in eine ähnliche Richtung (s.o.), und Jordanes konnte schließlich um die Mitte des 6. Jahrhunderts den aus Thrakien stammenden Kaiser Maximinus (235–238) ganz selbstverständlich als gotischstämmig bezeichnen, wohingegen in der Historia Augusta (4. Jahrhundert) noch behauptet wird, Maximinus habe seine angeblich gotisch-alanische Herkunft verheimlichen lassen.196 Offenkundig wurde der Zugang zum Kaisertum zwischen ca. 450 und 500 auch für Barbaren geöffnet – ein konzeptioneller Neuansatz, der sicherlich nicht nur durch die zwischenzeitliche Herrschaft des ‚Isauriers‘ Zenon bedingt worden ist, da der Faktor ‚Isauriertum‘, wie die For 192 Meier, Ostrom-Byzanz (wie Anm. 8), 215f. 193 PLRE II 164–169 (Fl. Ardabur Aspar). 194 Das Diktum ist als Zitat durch Theoderich in einem Schreiben, das im Jahr 501 auf einer Synode in Rom vorgelesen wurde, überliefert, s.o. Anm. 8. Zur Datierung des Ausspruchs in das Jahr 457 vgl. die Argumente bei Stein, Histoire (wie Anm. 1), 353f. Dass Aspar damit auf seine barbarische Herkunft verwiesen hat und einen Präzedenzfall vermeiden wollte, ist aus verschiedenen Gründen wahrscheinlich, die ich andernorts ausführlich dargelegt habe, vgl. Meier, Ostrom-Byzanz (wie Anm. 8), 206–209, mit Anm. 61–66. Zur Diskussion s. insbesondere auch von Haehling, Timeo (wie Anm. 8). 195 PLRE II 1171–1176 (Fl. Vitalianus 2). Joh. Antioch. fr. 311 Roberto (τύραννος: fr. 311,83; 311, 109; 311,116 Roberto). Marc. Com. ad ann. 514,1 p. 98; 519,3 p. 101 Mommsen bezeichnet Vitalian mehrfach als Scytha, ohne dies in irgendeiner Weise zum Argument zu machen (ähnlich Iord. Rom. 357). Malal. p. 329,11 Thurn: „Thraker“ (ebenfalls ohne weiteren Kommentar zur Abkunft; ähnlich Euagr. HE 3,43; Zon. 14,3,28); Ps.-Zach. HE 7,13: „Gote“. 196 Iord. Rom. 281: „Maximinus genere Gothico, patre Micca Ababaque Alana genitus matre […]“; vgl. Get. 83. HA Max. 1,5–7: „hic de vico Threiciae vicino barbaris, barbaro etiam patre et matre genitus, quorum alter e Gothia, alter ex Alanis genitus esse perhibetur. et patri quidem nomen Micca, matri Hababa fuisse dicitur. sed haec nomina Maximinus primis temporibus ipse prodidit, postea vero, ubi ad imperium venit, occuli praecepit, ne utroque parente barbaro genitus imperator esse videretur.“
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schungen der letzten Jahre gezeigt haben, in der Vergangenheit erheblich überschätzt worden ist197 und da auch weitere Indizien für grundlegende Veränderungen innerhalb des oströmischen Kaisertums sprechen. 2. Dem Kirchenhistoriker Euagrios zufolge soll Anastasios in einer Ansprache während des für ihn ausgesprochen gefährlichen Staurotheis-Aufstandes 512 in Konstantinopel angeboten haben, die Herrschaft freiwillig niederzulegen, allerdings mit dem Hinweis, „dass es ein Ding der Unmöglichkeit sei, dass alle Zugang zu ihr [sc. der Herrschaft] erhielten, da sie keineswegs viele ertrage, dass nach ihm jedoch sicherlich ein Einzelner sie erlangen werde, um dann zu regieren“.198 Zeitgenossen des 6. Jahrhunderts waren also in der Lage, sich Alternativen zur traditionellen Monarchie immerhin vorzustellen und diese auf reale politische Ereignisse zu beziehen.199 Dabei ist es unerheblich, ob Anastasios dieses Argument tatsächlich vorgebracht hat oder nicht; entscheidend ist allein die Möglichkeit seiner Artikulation im politischen Diskurs. Auch lässt sich der Passus nicht mit Verweis auf Euagrios‘ Wirkungszeit gegen Ende des 6. Jahrhunderts als allzu späte Erfindung abtun, denn es lassen sich zeitnahe Parallelen beibringen, so etwa die Anwürfe, mit denen Vertreter der Zirkusgruppe der Grünen im Vorfeld des Nika-Aufstandes 532 einen Bevollmächtigten Justinians attackierten und die in einer radikalen Infragestellung des göttlichen Herrschaftsauftrags dieses Kaisers kulminierten („Ich wollte denen widersprechen, die behaupten, durch Gottes Auftrag werde das Reich verwaltet“)200, sowie die Distanz, die der Historiker Prokop ausgerechnet in einem Panegyricus auf Justinian gegenüber dessen Rückführung seiner Herrschaft auf Gott aufbaut.201 Auch in diesen Zeugnissen spiegelt sich m.E. ein Ringen um eine Neukonzeption von Kaiserherrschaft bzw. Kaisertum im Oströmischen Reich um 500. 197 Elton, Illus (wie Anm. 187); Croke, Dynasty and Ethnicity (wie Anm. 183). 198 Euagr. HE 3,44: „[…] τῶν ἀδυνάτων δὲ καθεστάναι πάντας ἐπὶ ταύτην ἀναβῆναι, ἥκιστα πολλῶν ἀνεχομένην, ἕνα δὲ πάντως τυγχάνειν τὸν μετ’ αὐτὸν ταύτην διακυβερνήσοντα“. Zum historischen Hintergrund (Staurotheis-Aufstand): Meier, Σταυρωθεὶς δι’ ἡμᾶς (wie Anm. 157); ders., Anastasios (wie Anm. 13), 269–288; Dijkstra/Greatrex, Patriarchs and Politics (wie Anm. 146). 199 Dies ist im Kontext der römischen Kaiserzeit keinesfalls selbstverständlich, vgl. etwa Leppin, Justinian (wie Anm. 5), 23; 40. 200 Theoph. a.m. 6024 p. I 183,21–22 de Boor: „ἤθελον ἀντιβάλαι τοῖς λέγουσιν ἐκ θεοῦ διοικεῖσθαι τὰ πράγματα“ (aus den Akta dia Kalopodion, einem Streitgespräch zwischen den Grünen [und später auch den Blauen] und einem kaiserlichen Mandator. Zu Kontext und Zuordnung dieses bei Theophanes und (stark gekürzt) im Chronicon Paschale überlieferten Dialogs – in der Forschung kontrovers diskutiert – vgl. Mischa Meier, Die Inszenierung einer Katastrophe: Justinian und der Nika-Aufstand, in: ZPE 142, 2003, 273–300, bes. 278–283, mit dem Versuch, eine Verortung des Textes im Vorfeld (und kausalen Zusammenhang) des Nika-Aufstandes wahrscheinlich zu machen. 201 Prok. aed. 2,6,6: „ἐφάνη τοίνυν Ἰουστινιανὸς βασιλεὺς τοῦτο πρὸς τοῦ θεοῦ κεκομισμένος ἀξίωμα, πάσης ἐπιμελεῖσθαι καὶ ὡς ἔνι μάλιστα μεταποιεῖσθαι τῆς Ῥωμαίων ἀρχῆς.“
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3. Mit Zenon vermochte im Jahr 474 erstmals ein magister militum den Thron zu besteigen.202 Gerade jene Gruppe häufig gefährlich eigenständiger warlords, die den Kaisern des 5. Jahrhunderts insgesamt vielfach große Probleme bereitet hatten, gewann dadurch eine nochmalige Statusaufwertung, die Nachahmungseffekte nach sich ziehen konnte.203 4. Es gelang den Kaisern im späten 5. und frühen 6. Jahrhundert nicht mehr, stabile Dynastien auszubilden, analog der Konstantinischen im 4. Jahrhundert oder der Theodosianischen in der 1. Hälfte des 5. Jahrhunderts.204 Zenons Bruder Longinos vermochte sich im Jahr 491 trotz einer mehr als passablen Ausgangsposition (cos. 486, cos. II 490; Bekleidung des Amtes des magister militum praesentalis; hervorragende Vernetzung in der Führungselite)205 nicht gegen den betagten silentiarios Anastasios durchzusetzen, dem wiederum keiner seiner drei prominenten Neffen Hypatios, Pompeios und Probos nachfolgte – ganz gegen die allgemeine Erwartung in der Bevölkerung.206 Erst mit Justin I. (518–527), seinem Neffen Justinian (527–565) und dessen Neffen Justin II. (565–578) begann sich dynastisches Denken wieder zu stabilisieren, doch gelang erst Herakleios (610–641) die Etablierung einer langfristig herrschenden Dynastie, die mit Justinian II. (685–695 und 705–711) endete. Die Schwächung dynastischen Denkens in den Jahren um 500 fügt sich auffällig zu den bereits erwähnten fluiden Loyalitäten, die in dieser Zeit grundsätzlich zu beobachten sind und auch das engste familiäre Umfeld der Kaiser betrafen.207 All diese Faktoren verweisen m.E. auf eine grundsätzliche strukturelle Offenheit des Kaisertums, die neu war. Aus dieser Offenheit folgt zunächst einmal eine neue Qualität der Bedrohung, welcher ein Kaiser stets ausgesetzt war; seit dem späteren 5. Jahrhundert sanken die bis dahin geltenden Hemmschwellen für Angriffe auf den Herrscher beträchtlich. Der Kaiser verlor einen Teil seiner ohnehin prekären 202 Vgl. Szidat, Usurpator (wie Anm. 185), 192; 227. 203 In diesem Sinne könnte man die Usurpationen des Basiliskos (475/76) und des Markianos (479) deuten. Einen anderen Weg ging hingegen der magister militum Illus: Er könnte sich an den Verhältnissen im Westen orientiert haben und erhob 484–488 mit Leontios einen Marionettenkaiser, der von ihm abhängig war (in Analogie zu den letzten weströmischen Kaisern). Es ist vor diesem Hintergrund bezeichnend, dass Illus eine Delegation nach Italien zu Odoaker gesandt haben soll, vgl. Joh. Antioch. fr. 306 Roberto. Erst unter Anastasios gelang eine erneute Stabilisierung, in der Weise, dass nunmehr wieder eine stärkere Loyalität der magistri militum gegenüber den Herrschern erkennbar wird, vgl. dazu den Beitrag von Anne Poguntke im vorliegenden Band. 204 Zu diesem Problemkomplex s. Mischa Meier, Flavios Hypatios. Der Mann, der Kaiser sein wollte, in: Steffen Patzold/Karl Ubl (Hrsgg.), Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1000). Berlin/New York 2014 (im Druck). 205 PLRE II 689f. (Fl. Longinus 6). 206 Vgl. Anon. Vales. 74–78; Prok. BP 1,11,1; Euagr. HE 4,1, zur allgemeinen Erwartungshaltung. Die Thronbesteigung Justins I. galt als Überraschung. 207 Man denke in diesem Zusammenhang nur an die wechselvollen politischen Aktionen der ‚Kaiserfrauen‘ Verina und Ariadne, vgl. Meier, Ariadne (wie Anm. 182).
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Sicherheit, weil offenkundig das Kaisertum insgesamt erschüttert worden war.208 Zumindest in der zeitgenössischen Wahrnehmung hatte der Kaiser einen Teil seiner Unantastbarkeit verloren, seine Position erschien offener, zugänglicher, und dies setzte gefährliche Dynamiken in Gang, steigerte die Ambitionen mächtiger Kriegsherren und führte dadurch phasenweise zu chaotischen Zuständen. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass magistri militum – unabhängig von ihrer Herkunft – ihre Handlungsspielräume massiv auf Kosten der Herrscher ausweiten konnten, bis schließlich Illus sogar auf das im Westen zuletzt gängige Modell eines von ihm abhängigen Marionettenkaisers (Leontios) zurückgriff. Dies alles verweist darauf, dass das Kaisertum in den Jahrzehnten um 500 disponibel geworden zu sein scheint – und darin wiederum scheint mir die für den Osten entscheidende Folge des Untergangs des Kaisertums im Westen zu liegen. Wie angedeutet, wurde man sich zunehmend des Umstandes bewusst, dass Herrschaft über Römer auch ohne einen römischen Kaiser funktionieren konnte; damit entfiel auch im Osten zumindest temporär der Kaiser als Fluchtpunkt der Aktionen ambitionierter Individuen, woraus ein Ringen aller gegen alle resultierte, das nicht nur den Bestand des oströmischen Kaisertums phasenweise gefährdete, sondern damit auch die Existenz des Oströmischen Reiches insgesamt. Anders als im Westen ging das Kaisertum in dieser prekären Phase jedoch nicht verloren, sondern vermochte sich zu stabilisieren: Zenon gelang es immerhin, eines natürlichen Todes zu sterben, was in seiner Situation bereits eine beachtliche Leistung darstellte; nach seinem Tod wurde es ruhiger. Über seine Witwe Ariadne, die 491 Zenons Nachfolger Anastasios ehelichte, wurde Kontinuität gewährleistet, zumal auch Ariadne selbst nunmehr in ihren politischen Aktionen deutlich ruhiger und berechenbarer wurde als noch unter Zenon.209 Die administrativen Reformen des Anastasios schufen eine weitere Basis für Stabilisierungsprozesse und eröffneten den Kaisern allmählich wieder neue Handlungsspielräume. Den eigentlich entscheidenden Stabilisierungsfaktor möchte ich indes in einem markanten Sakralisierungsprozess sehen, der bereits unter Anastasios eingeleitet wurde und unter der Herrschaft Justinians seine äußerste Intensität erreichte.210 Er spiegelt sich in den uns zur Verfügung stehenden Zeugnissen in vielfältiger Weise und vollzog sich ganz offensichtlich nicht vorrangig als gezielt von den Herrschern gesteuerte Entwicklung, sondern im Wechselspiel mit der oströmischen Bevölkerung, deren erhöhten Drang nach Sicherheit er zu reflektieren scheint. Möglicherweise gehört in diesen Kontext bereits die Forderung nach einem orthodoxen und römischen Kaiser, die das Volk von Konstantinopel im Hip 208 Eine „Phase, in der [das Kaisertum] als Institution gefährdet war“, erkennt für die Herrschaftszeit Zenons auch Flaig, Westen des Imperiums (wie Anm. 11), 13. 209 Meier, Ariadne (wie Anm. 182), 286–291. 210 Zu diesem Sakralisierungsprozess s. Meier, Zeitalter (wie Anm. 150), 608ff.; ders., OstromByzanz (wie Anm. 8), 220ff.; ders., Liturgification and Hyper-Sacralization: The Declining Importance of Imperial Piety in Constantinople between the 6th and 7th Centuries A.D. (im Druck); Leppin, Justinian (wie Anm. 5).
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podrom vor der Erhebung des Anastasios artikulierte211; sicherlich jedoch wird man die Tatsache, dass mit Anastasios im Jahr 491 erstmals ein Kaiser durch den Patriarchen von Konstantinopel gekrönt worden ist, als Element des nunmehr zunehmend deutlicher zutage tretenden Sakralisierungsschubes interpretieren dürfen.212 Die sakrale Aura des spätantiken Kaisers213 sollte von nun an über die nächsten Jahrzehnte hin eine bemerkenswerte Verdichtung erfahren: Justinian liquidierte die – zumindest in der Vorstellungswelt noch gepflegte – traditionelle ‚doppelte‘ Herleitung des Kaisertums aus der Wahl durch das Volk und einer Beauftragung durch Gott zugunsten einer einseitigen und ausschließlichen Einsetzung des Herrschers durch Gott.214 Bereits sein Onkel und Vorgänger Justin I. hatte in seiner Krönungsanzeige gegenüber dem Papst an erster Stelle seine Bestimmung durch Gott angeführt – sicherlich eine programmatische Akzentuierung.215 Justinian zog aus dieser Fokussierung die Konsequenz und erhob den Terminus ὑπήκοοι (‚Untertanen‘) nunmehr zur allgemeinen Bezeichnung der Angehörigen der Reichsbevölkerung, deren Aufbegehren verächtlich als „Hundegebell“ verhöhnt werden konnte.216 Wie bereits angedeutet, wäre es allerdings verfehlt, den sich in diesen Reflexen spiegelnden Sakralisierungsprozess als einseitig von den Kaisern betriebene Entwicklung zu interpretieren. Vielmehr verbanden sich dabei offenkundig Erfordernisse seitens der Herrscher – darunter ganz individuelle Bedürfnisse, wie etwa die Überkompensation einer niedrigen Herkunft im Fall Justins und Justinians217 – mit Anliegen, die aus der Bevölkerung kamen und sich vielfach als Resultate kontingenter Faktoren gestalteten, wie z.B. die Zunahme der Marienverehrung als
211 De caerim. 1,92 p. 418,16–419,7 Reiske. 212 Friedhelm Winkelmann, Zur Rolle der Patriarchen von Konstantinopel bei den Kaiserwechseln in frühbyzantinischer Zeit, in: Klio 60, 1978, 467–481. Gegen ältere Thesen, wonach bereits Leon I. im Jahr 457 vom Patriarchen gekrönt worden sei, vgl. ebd., 470f.; Siebigs, Kaiser Leo I. (wie Anm. 183), II 707–727. S. auch Ralph-Johannes Lilie, Die Krönung des Kaisers Anastasios I. (491), in: ByzSlav 56, 1995, 3–12. 213 Dazu s. Wilhelm Enßlin, Gottkaiser und Kaiser von Gottes Gnaden, in: SBAW Jg. 1943, VI. München 1943; ders., Der Kaiser in der Spätantike, in: HZ 177, 1954, 449–468; Otto Treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell. Jena 1938, ND 3. Aufl. Darmstadt 1969; Jochen Martin, Das Kaisertum in der Spätantike, in: François Paschoud/Joachim Szidat (Hrsgg.), Usurpationen in der Spätantike. Stuttgart 1997, 47–62, ND in: Winfried Schmitz (Hrsg.), Jochen Martin. Bedingungen menschlichen Handelns in der Antike. Stuttgart 2009, 543–558. 214 Einzelheiten und Belege dazu bei Meier, Zeitalter (wie Anm. 150), 115ff. 215 Coll. Avell. 141 (Justin an Papst Hormisdas, 1. August 518): „[…] proinde sanctitati uestrae per has sacras declaramus epistolas, quod primum quidem inseparabilis trinitatis fauore, deinde amplissimorum procerum sacri nostri palatii et sanctissimi senatus nec non electione fortissimi exercitus ad imperium nos licet nolentes ac recusantes electos fuisse atque firmatos“. 216 „Untertanen“: Meier, Zeitalter (wie Anm. 150), 120. „Hundegebell“: Agapet. Ekth. 1. 217 Vgl. Meier, Zeitalter (wie Anm. 150), 124–133.
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Folge der Pest 541/42 und die Aufnahme dieser Haltung durch Justinian218; dabei muss nicht immer von reflektiertem Handeln ausgegangen werden, sondern vielfach eher von situativem Reagieren. Die Komplexität der Entwicklung spiegelt sich jedenfalls in ihrem Ergebnis: einem weitreichenden gesellschaftlichen Neuformierungsprozess seit der Spätzeit Justinians, der von einer umfassenden religiösen Verdichtung und Durchdringung des gesamten öffentlichen und privaten Lebens (soweit für uns erfassbar) mit christlichen Elementen gekennzeichnet ist und in der Forschung unter der Bezeichnung ‚Liturgisierung‘ verhandelt wird.219 Der für das Kaisertum zu konstatierende Sakralisierungsschub stellt lediglich einen Teilaspekt dieses weitaus umfassenderen Phänomens dar. Er gipfelte in der Selbstrepräsentation Justinians als Heiliger Mann, ja als Reliquie mit wunderwirkenden Kräften (Heilung schwerer Krankheiten)220, sowie in seiner punktuellen Parallelisierung mit Christus.221 Ich vermute, dass diese extreme Sakralisierung – eine regelrechte ‚Hypersakralisierung‘ – eine der Ursachen für die bemerkenswerte Brutalität gewesen ist, mit der dann zu Beginn des 7. Jahrhunderts gegen Kaiser vorgegangen wurde (Ermordung des Maurikios 602 und des Phokas 610); man wird hier eine partielle Gegenreaktion gegen einen Anspruch auf Sakralität sehen dürfen, der für die Herrscher letztlich nicht mehr einlösbar war und dadurch Widerstände evozierte.222 Mit dieser über lange Jahre sich hinziehenden Transformation hin zu einem sakral hochgradig aufgeladenen Kaisertum (auch im Vergleich zu den zurückliegenden Jahrzehnten in der Spätantike) ist es den oströmischen Herrschern letztlich nicht nur gelungen, die von den Ereignissen im Westen um 476 ausgelösten Er 218 Dazu s. Mischa Meier, Kaiserherrschaft und „Volksfrömmigkeit“ im Konstantinopel des 6. Jahrhunderts n. Chr. Die Verlegung der Hypapante durch Justinian im Jahr 542, in: Historia 51, 2002, 89–111. 219 Zur Liturgisierung s. Averil Cameron, Images of Authority: Elites and Icons in Late SixthCentury Byzantium, in: P&P 84, 1979, 3–35, ND in: Averil Cameron, Continuity and Change in Sixth-Century Byzantium. London 1981, XVIII; Meier, Sind wir nicht alle heilig? (wie Anm. 151), 133–164, mit weiterer Literatur (133, Anm. 1). 220 Prok. aed. 1,7,7–12; 1,7,15–16; HA 13,28–30; vgl. 12,24–27; dazu Meier, Zeitalter (wie Anm. 150), 620–638; ders., Liturgification (wie Anm. 210). 221 Hingewiesen sei in diesem Zusammenhang insbesondere auf das Konsulardiptychon des Justinus aus dem Jahr 540, auf dem Justinian und Theodora auf gleicher Ebene mit Christus dargestellt sind (Wolfgang F. Volbach, Elfenbeinarbeiten der Spätantike und des frühen Mittelalters. 3. Aufl. Mainz 1976, 41 Nr. 33 Taf. 17). „Sofort ergibt sich eine unausweichliche Analogie, besser: ein wechselseitiger Verweis zwischen dem Bildnis der göttlichen und dem Bildnis der kaiserlichen Person. Das Auge der Zeitgenossen war für ein solches Bildmanifest sensibel. Man muß sich folgendes vor Augen halten: Die beiden Kaiserbilder waren hochverehrte Kultobjekte, die in vielen Exemplaren kursierten und Gegenstand zahlreicher Riten waren. Das Christusbild wird jetzt mit ihnen auf eine Stufe gestellt“ (Hans Belting, Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. 2. Aufl. München 1991, 125– 129). Vgl. dazu (und zu weiteren Zeugnissen) auch Meier, Zeitalter (wie Anm. 150), 608ff.; ders., Liturgification (wie Anm. 210). 222 So meine These in Meier, Liturgification (wie Anm. 210).
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schütterungen und Bedrohungen aufzufangen und ihr Kaisertum als Institution wieder nachhaltig zu festigen; sie haben damit zugleich die Grundlage für die Bewältigung der schweren Herausforderungen gelegt, denen das Oströmische bzw. Byzantinische Reich dann im 6. und 7. Jahrhundert ausgesetzt gewesen ist. Insgesamt bleibt damit festzuhalten, dass eine – freilich nur indirekt greifbare – Auswirkung des Fortfalls des weströmischen Kaisertums in einer massiven Erschütterung seines Pendants im Osten gesehen werden muss. Diese wiederum erzwang geradezu auch im Osten ein neues Nachdenken über Herrschaft und führte primär zu der Erkenntnis, dass durchaus Alternativen zur Herrschaft eines Kaisers möglich waren. Sie generierte dann aber – auf der Gegenseite – ebenfalls Überlegungen, wie eine neue Stabilisierung erreicht werden könnte, was letztlich wiederum in den massiven Sakralisierungsschub mündete, der seit der Herrschaft des Anastasios zu beobachten ist. Dass auch dieser wiederum neue Diskussionen und damit noch weiteres Nachdenken über Herrschaft ausgelöst haben muss, liegt auf der Hand und lässt sich auch in den Quellen bestätigen. Als wichtigstes Zeugnis möchte ich den unter der Herrschaft Justinians entstandenen philosophisch-politischen Dialog-Traktat Περὶ πολιτικῆς ἐπιστήμης/De scientia politica anführen, der u.a. mit der Forderung aufwartet, ein guter Herrscher (βασιλεὺς ἀγαθός) habe sich um die unerschütterliche Behütung (ἀσάλευτος φυλακή) der Gesetze zu sorgen, und damit wahrscheinlich die Autokratisierung des Kaisertums im 6. Jahrhundert zu attackieren versucht, indem das Gegenbild eines philosophisch gebildeten, die Interessen der Eliten achtenden βασιλεὺς ἀγαθός entworfen wird.223 VI. OSTEN UND WESTEN GEHEN UNTERSCHIEDLICHE WEGE In die Frühphase der Herrschaft des Anastasios fällt jener im Jahr 494 verfasste Brief des Gelasius, in dem der Papst den Kaiser mit der sog. Zweigewaltenlehre konfrontiert.224 Anastasios befand sich damals in einer schwierigen Situation: Seine Position war alles andere als gefestigt; der Bürgerkrieg gegen die Isaurier dau 223 De scientia 5,21 (= Carlo M. Mazzucchi [Ed.], Menae patricii cum Thoma referendario De scientia politica dialogus. Quae exstant in codice Vaticano palimpsesto. Mailand 1982, p. 20 = Carlo M. Mazzucchi [Ed.], Menae patricii cum Thoma referendario De scientia politica dialogus. Iteratis curis quae exstant in codice Vaticano palimpsesto. Mailand 2002, p. 23). Zu diesem Dialogfragment s. jetzt die vorzügliche Arbeit von Peter Bell (mit englischer Übersetzung, Einleitung und Aufarbeitung der Forschung): Three Political Voices from the Age of Justinian. Agapetus, Advice to the Emperor – Dialogue on Political Science – Paul the Silentiary, Description of Hagia Sophia. Translated with Notes and an Introduction by Peter N. Bell. Liverpool 2009, bes. 49ff. Dort finden sich auch Überlegungen zur Datierung des Textes, der bisher zumeist in der frühjustinianischen Zeit verortet wurde, den Bell jedoch eher in die Spätzeit dieses Kaisers setzen möchte (26). 224 Gelas. epist. 12 p. 349–358 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 19,17–24,18 [JK 632, a. 494].
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erte bereits seit 491 an, in Konstantinopel gab es Widerstände gegen den Kaiser, dem man seine Orthodoxie nicht abnahm. An der Spitze der Gegner stand der chalkedonische Patriarch Euphemios.225 Er wäre im Streit mit dem Herrscher ein natürlicher Verbündeter des Gelasius gewesen, wurde jedoch von diesem nicht minder geringschätzig behandelt als der Kaiser selbst.226 Dies zeigt, dass es dem Papst um Grundsätzliches ging und sein Brief nicht lediglich der Tagespolitik geschuldet war, zumal er die darin formulierten Gedanken auch schon andernorts geäußert hatte227 – wenngleich nicht mit derselben Prägnanz wie im Schreiben an Anastasios. Ich habe die sog. Zweigewaltenlehre des Gelasius bereits andernorts ausführlich behandelt228, möchte aber auch an dieser Stelle noch einmal darauf eingehen. Denn m.E. handelt es sich dabei um einen Schlüsseltext, an dem sich verschiedene Aspekte, die im vorliegenden Beitrag erörtert wurden, gleichsam in nuce spiegeln und mit dessen Hilfe sich die verschiedenen Fäden, die in dieser Untersuchung ausgelegt wurden, wieder zusammenführen lassen. Die ‚Zweigewaltenlehre‘ – und ihre (Nicht-)Rezeption im Osten – steht sinnbildlich für die Konsequenzen des Jahres 476 mit Blick auf ein neues Nachdenken über Herrschaft; sie demonstriert zudem überaus eindrucksvoll, in welcher Weise bereits grundsätzliche Voraussetzungen zum Verständnis der gelasianischen Gedanken die ganz spezifische Tradition und Situation des lateinischen Westen zugrundelegen und damit im griechischen Osten letztlich überhaupt nicht verstanden werden konnten. Insofern illustriert die ‚Zweigewaltenlehre‘ überdies, dass die nach 476 im Osten und im Westen erzwungenen Reflexionen über Herrschaft jeweils ganz unterschiedlichen Charakter aufweisen mussten. Die entscheidenden, viel zitierten Sätze des Gelasius lauten wie folgt: Zwei [Kräfte] sind es ja, Imperator Augustus, durch die diese Welt grundsätzlich regiert wird: das geheiligte Ansehen der Priester (auctoritas sacrata pontificum) und die königliche Macht (regalis potestas); unter diesen ist das Gewicht der Priester umso schwerwiegender, als sie auch für die Könige selbst vor dem göttlichen Gericht Rechenschaft ablegen müssen. Du weißt ja, mildester Sohn, dass Du – magst Du auch dem menschlichen Geschlecht (humano generi) durch Deine Würde (dignitas) vorstehen – dennoch den Vorstehern der göttlichen Dinge (divina) demütig den Nacken beugst (colla summittis) und von ihnen die Grundlegungen Deines Heiles erbittest; Du erkennst auch, dass Du beim Empfang der himmlischen Sak-
225 Zur Situation des Kaisers in der 1. Hälfte der 490er Jahre vgl. Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 75ff. 226 Vgl. Gelas. epist. 3 p. 321–321 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 49,7–55,26 [JK 620, 1. März 492]. Dazu s. Caspar, Geschichte des Papsttums II (wie Anm. 74), 44ff.; Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 165ff. 227 So etwa im Commonitorium (s.o.), vgl. Gelas. epist. 10 p. 347 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 18,34–19,4 [JK 622, 1. November 493]; ferner auch Gelas. epist. 1,10 p. 292–293 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 35,29–36,4 [JK 611, a. 489 (?)]; Gelas. epist. 43 p. 478 Thiel [JK 702, a. 495/96]; Gelas. tract. 4 p. 567–568 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 14,3–23 [JK 701, a. 495/96]; s. auch Felix epist. 8 p. 250 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 82,12–27 [JK 601, 1. August 484]. 228 Vgl. Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 109ff.; ders., „Von fremd zu fremd“ (wie Anm. 166).
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Mischa Meier ramente und bei ihrer angemessenen Verteilung Dich der Ordnung der Religion unterwirfst anstatt ihr vorzustehen, dass Du also dabei vom Urteil jener abhängig bist und nicht jene Deinem Willen unterwerfen willst. […] Wie viel eher muss man dem Vorsteher jenes Stuhles Zustimmung gewähren, von dem der höchste Gott (divinitas summa) wollte, dass er alle Priester überragt, und den in der Folgezeit die Frömmigkeit der gesamten Kirche andauernd verehrt hat? […] Nicht möge Dich belasten, das bitte ich Dich, was für die Ewigkeit Deines Heiles gesagt wird.229
Gelasius pocht in diesen Zeilen nicht nur auf den Führungsanspruch innerhalb der christlichen Priesterschaft (quem cunctis sacerdotibus […] diuinitas summa uoluit praeminere) – d.h. auch gegenüber dem Patriarchen von Konstantinopel und allen anderen kirchlichen Würdenträgern des Ostens –, sondern er fordert selbst vom Kaiser als Vertreter der regalis potestas, gegenüber den Obwaltern der res diuinae in Demut den Nacken zu beugen. Diese strenge Hierarchisierung, verbunden mit der Unterscheidung einer auctoritas sacrata der Priester und einer regalis potestas der weltlichen Autoritäten, hat den Gedanken des Gelasius die geläufige Bezeichnung ‚Zweigewaltenlehre‘ eingebracht, die allerdings irreführend ist, da der Pontifex nirgendwo zwischen zwei „Gewalten“ differenziert.230 Mit der Unterscheidung zwischen priesterlicher auctoritas und herrscherlicher potestas bezieht er sich vielmehr auf zwei Größen (auch dieser Terminus ist ein Hilfskonstrukt), die bereits Augustus, der erste römische Princeps, in seinem Tatenbericht als komplementäre Grundpfeiler seiner einzigartigen Stellung identifiziert hatte.231 Erst aus dem Zusammenwirken beider Größen hatte sich für Augustus die Singularität seiner Stellung abgeleitet, wobei er offenbar den Faktor auctoritas höher als die potestas gewichtet hatte.232 Die Tatsache, dass Gelasius nun ausgerechnet das Kaisertum mit dem Terminus potestas zu erfassen sucht, könnte (wenn man dem 229 Gelas. epist. 12 p. 350–353 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 20,5–12; 20,20– 22; 21,11–12 [JK 632, a. 494]: „duo sunt quippe, imperator auguste, quibus principaliter mundus hic regitur, auctoritas sacrata pontificum et regalis potestas, in quibus tanto grauius pondus est sacerdotum quanto etiam pro ipsis regibus hominum in diuino reddituri sunt examine rationem. nosti etenim, fili clementissime, quoniam licet praesedeas humano generi dignitate, rerum tamen praesulibus diuinarum deuotus colla summittis atque ab eis causas tuae salutis expetis hincque sumendis caelestibus sacramentis eisque, ut competit, disponendis subdi te debere cognoscis religionis ordine potius quam praeesse, itaque inter haec illorum te pendere iudicio, non illos ad tuam uelle redigi uoluntatem. […] quanto potius sedis illius praesuli consensus est adhibendus quem cunctis sacerdotibus et diuinitas summa uoluit praeminere et subsequens ecclesiae generalis iugiter pietas celebrauit? […] non sint grauia, quaeso te, quae pro tuae salutis aeternitate dicuntur.“ 230 Gelasius spricht lediglich von „zwei“ (duo), ohne dies näher zu spezifizieren – ich habe dies in meiner Übersetzung durch die Wendung „zwei Kräfte“ näher zu fassen versucht. Dies ist allerdings nur ein Hilfskonstrukt; denkbar wäre etwa auch „zwei Prinzipien“, „zwei Grundsätze“ oder schlicht „zwei Dinge“. 231 Res gestae divi Augusti 34, mit Alan Cottrell, Auctoritas and potestas: A Reevaluation of the Correspondence of Gelasius I on Papal-Imperial Relations, in: Mediaeval Studies 55, 1993, 95–109. 232 Vgl. Dietmar Kienast, Augustus. Princeps und Monarch. 4. Aufl. Darmstadt 2009, 84f., mit Anm. 25; 205; 212; 388–390, Anm. 35; Klaus Bringmann, Augustus. Darmstadt 2007, 122ff.
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Pontifex ein solches Maß an Subtilität zu unterstellen bereit ist) insofern darauf verweisen, dass bereits in der Terminologie eine hierarchische Ordnung festgelegt werden sollte. In jedem Fall aber deutet die Wendung regalis potestas an, dass Gelasius im Kaisertum ein präzise bestimmbares Amt mit exakt festgelegten Kompetenzen – und eben keinesfalls mehr – erkennen möchte. Den gelehrten Referenzrahmen für die Umschreibung des Verhältnisses zwischen Papst und Kaiser bildet demzufolge jedenfalls der frühe Prinzipat (an dem sich möglicherweise bereits Cyprian von Karthago mit seiner berühmten Apostrophierung der sacerdotalis auctoritas et potestas orientiert hatte)233, keinesfalls aber – entgegen verbreiteter Auffassung234 – eine spezifische Vorstellung, wie ‚Staat‘ und ‚Kirche‘ voneinander abzugrenzen seien; um diese Größen, die ein antiker Zeitgenosse wohl kaum in unserem Sinne überhaupt hätte erkennen oder gar einander gegenüberstellen können, geht es nirgendwo in Gelasius‘ Schrifttum. Für den Papst sind vielmehr die Akteure von Bedeutung – Personen, die innerhalb des Gesamtrahmens der christlichen Kirche, der „Versammlung der Gläubigen“ (congregatio fidelium), ihren Platz zu finden haben. Insofern werden bei Gelasius (wie zuvor schon bei Cyprian) über die sicherlich nicht ohne Bedacht gewählten235 Begriffe auctoritas und potestas geradezu die Angelpunkte der Anfänge der römischen Monarchie aufgegriffen, um diese in einem übergeordneten Rahmen zu verankern: der Kirche. Gelasius denkt – dies herausgearbeitet zu haben, ist das
233 Cyprian. epist. 59,5. Zum biblischen Hintergrund: Rolf Noormann, Ad salutem consulere. Die Paränese Cyprians im Kontext antiken und frühchristlichen Denkens. Göttingen 2009, 334ff. 234 Diese findet sich besonders prägnant bei Kissling, Verhältnis (wie Anm. 74), 144f. 235 Anders hingegen Bernard Moreton, Gelasius I., in: TRE 12, 1984, 273–276, hier 274; Aloysius K. Ziegler, Pope Gelasius I and His Teaching on the Relation of Church and State, in: Catholic Historical Review 27, 1942, 412–437, hier 431f., Anm. 66; vgl. Francis Dvornik, Pope Gelasius and Emperor Anastasius I., in: ByzZ 44, 1951, 111–116, hier 114; eine vermittelnde Position nimmt Wilhelm Enßlin, Auctoritas und Potestas. Zur Zweigewaltenlehre des Papstes Gelasius I., in: Historisches Jahrbuch 74, 1954, 665–668, ein, indem er festhält, dass Gelasius die Begriffe zwar nicht strikt voneinander abhebe, sie aber dennoch komplementär verstanden wissen wolle. Aus der Tatsache, dass Gelasius im 4. Traktat sowohl kaiserliche als auch päpstliche Einflusssphären als potestas bezeichnet (potestatis utriusque: Gelas. tract. 4 p. 568 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 14,16 [JK 701, a. 495/96]), lässt sich m.E. nicht ableiten, dass er nicht klar zwischen auctoritas und potestas unterschieden habe: Bekanntermaßen handelt es sich beim 4. Traktat um ein skizzenhaftes, nicht überarbeitetes Fragment. Überdies wird man mit Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 206, konstatieren dürfen, dass die beiden von Gelasius angeführten potestates keineswegs auf derselben Stufe stehen. Zum Wortgebrauch s. auch Cottrell, Auctoritas and potestas (wie Anm. 231), 95ff., der ebenfalls auf die wohl bedachte Formulierung hinweist und die unterschiedlichen Bedeutungsnuancen herausarbeitet. Zur Diskussion s. auch Pierre Toubert, La doctrine gélasienne des deux pouvoirs. Propositions en vue d’une révision, in: Cosimo D. Fonseca/Vito Sivo (Hrsgg.), Studi in onore di Giosuè Musca. Bari 2000, 519–540, bes. 522–524. – Zum Fortwirken der von Gelasius gewählten Formulierung s. Gaetano Mancuso, Auctoritas sacrata pontificis e auctoritas principis, in: Apollinaris 68, 1995, 193–204.
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große Verdienst Walter Ullmanns – streng ekklesiologisch.236 Jedes Individuum hat innerhalb der ecclesia den ihm zukommenden Platz und entsprechende Funktionen einzunehmen.237 Dass es dabei zu den angesprochenen Hierarchisierungen kommt (die sich auch in der programmatischen Anrede des Kaisers als „Sohn“ [fili clementissime] spiegeln)238, hat nichts mit einer etwaigen Überordnung der ‚Kirche‘ über den ‚Staat‘ zu tun, sondern ist letztlich Resultat der missverstandenen Rezeption augustinischer Ekklesiologie, wie ich sie eingangs nachzuzeichnen versucht habe.239 Dementsprechend sieht Gelasius den Kaiser auch keineswegs als Repräsentanten einer ‚staatlichen‘, von der Kirche zu separierenden Sphäre, sondern als Person, die sich – ebenso wie alle anderen Gläubigen auch – in einen Gesamtzusammenhang einzufügen hat, der ausschließlich durch die Kirche vorgegeben wird. Alleiniger Herrscher über die Kirche jedoch ist Christus, und neben ihm kann es keine weiteren ‚Gewalten‘ geben (schon aus diesem Grund erweist sich der Terminus ‚Zweigewaltenlehre‘ als unangemessen). Allerdings besteht die Möglichkeit – ja sogar die Notwendigkeit –, innerhalb des ekklesiologischen Gesamtrahmens und unterhalb der Herrschaft Christi spezifische Aufgaben und Funktionen zuzuweisen. Nur deshalb kann Gelasius die aus der Ordnung des frühen Prinzipats gewonnenen Begriffe auctoritas und potestas, die letztlich auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt sind, mit Papst und Kaiser zusammenbringen. Als Terminus des römischen Rechts verweist potestas – wie angedeutet – auf fest definierte institutionell erfassbare Kompetenzen, wohingegen auctoritas eher im Umfeld von Ansehen, Charisma usw. zu verorten ist.240 Diese unterschiedlichen 236 Vgl. Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), bes. 189ff. Ähnlich Zimmermann, Kaisertum und Papsttum (wie Anm. 95), 526. 237 Ullmann, Arbeitsteilung (wie Anm. 74) 1978, 51; 53; ders., Gelasius (wie Anm. 72) 1981, 211. 238 S.o. Anm. 74. Ich verweise insbesondere auf Gelas. epist. 1,10 p. 292–293 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 35,31–32 [JK 611, a. 489 (?)]: „filius est, non praesul ecclesiae.“ 239 Zentraler Angelpunkt für die Ausformulierung der gelasianischen Postulate ist die priesterliche Bußgewalt, die den christlichen Herrscher gleichsam in die Hände des Bischofs legt (s.u.); ein gezielter Rückgriff auf Augustins Lehre von den zwei civitates wäre vor diesem Hintergrund prima facie gar nicht nötig gewesen, um das von Gelasius entworfene Hierarchiegefüge zu rechtfertigen. Allerdings wird es doch des Hintergrundes einer missverstandenen Augustin-Rezeption bedurft haben, um die in Gelasius‘ Anmutungen implizierte Herabwürdigung irdischer Herrschaft und die damit verbundene direkt-provokative Stoßrichtung gegen den Kaiser in der vorliegenden Schärfe auszugestalten. – Dass die sog. Zweigewaltenlehre des Gelasius „auf Augustin fuße[…]“, merkt auch Zimmermann, Kaisertum und Papsttum (wie Anm. 95), 526, an, ohne allerdings näher auf die Form der Augustin-Rezeption einzugehen. 240 Cottrell, Auctoritas and potestas (wie Anm. 231), 98–104. Zur insgesamt letztlich fruchtlosen Diskussion, den Terminus auctoritas mit einem konkreten Rechtsinhalt zu füllen, vgl. die Literatur bei Kienast, Augustus (wie Anm. 232), 84f., Anm. 25. S. auch Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 251: „Entscheidend ist bei ihm [sc. Gelasius, M.M.] der Begriff der auctoritas und der potestas. Die gelasianische auctoritas ist unzertrennlich verbunden mit Wissen, Bildung
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semantischen Ebenen verhindern geradezu, dass beide Termini konkurrierend nebeneinander gestellt werden können; vielmehr bilden sie ein Komplementärpaar, sie ergänzen sich und verweisen damit auf unterschiedliche Aufgabenbereiche, die von den ihnen zugehörigen Personen zu verwalten sind. Nur vor diesem Hintergrund einer unterschiedlichen Aufgabenverteilung innerhalb des ekklesiologischen Gesamtrahmens lässt sich die von Gelasius postulierte Sonderstellung der Priester – darunter insbesondere diejenige des Bischofs von Rom – begründen und plausibel legitimieren. Denn die Handlungsbezüge der Priester beruhen in den res divinae, während dem Kaiser ‚nur‘ die res humanae unterstehen. Einmal mehr sei wiederholt, dass es auch dabei nicht um ‚Staat‘ und ‚Kirche‘ geht, sondern um Bezugsgrößen für das Wirken herausgehobener Akteure innerhalb der congregatio fidelium. Das gegenüber den res humanae ungleich höhere Gewicht der res divinae erklärt sich u.a. aus dem Umstand, dass jeder Mensch – und damit auch der Kaiser – das Seelenheil nach seinem Tod erstrebt, doch dieses fällt in den Bereich der res divinae. Selbst der höchste Verwalter der res humanae ist damit – unabhängig von der generell höheren Bedeutung der res divinae – stets dazu gezwungen, sein Handeln an den divina auszurichten und sich den Händen ihrer Verwalter zu überantworten. Insofern ist der Kaiser, wenngleich er zunächst einmal der oberste Sachwalter der irdischen, äußeren Angelegenheiten der Menschen ist, doch immer auch auf den Rat der Obwalter der res divinae angewiesen; all seine Kompetenzen sind in den teleologischen Rahmen eingebettet, den die divina repräsentieren, und aus diesem Grund kann nicht einmal ein Kaiser ohne die stete Anleitung durch die Priester existieren. Gelasius folgert daraus konsequent eine Überordnung des Priesters über den Kaiser, denn die res humanae sind – ekklesiologisch gedacht – nur vor dem Hintergrund der res divinae zu bewältigen, und diese wiederum liegen jenseits des kaiserlichen Zugriffs. Im Kern spricht der Papst damit dem weltlichen Herrscher jegliche Autonomie ab und bindet ihn an den Rat der Priester.241 Damit werden nicht nur Hierarchien innerhalb der ecclesia neu austariert, sondern auch – insbesondere mit Blick auf die politischen Implikationen des Akakianischen Schismas – zentrale Aspekte von Herrschaft zur Diskussion gestellt. Der entscheidende Punkt für das Verständnis der Postulate des Gelasius gegenüber Anastasios ist das hinter ihnen stehende ekklesiologische Denken. Verankert man die vom Pontifex apostrophierten Größen – die auctoritas sacrata pontificum und die regalis potestas – innerhalb dieses Rahmens, wird aus den vermeintlichen zwei ‚Gewalten‘ ein subtil kalkuliertes Prinzip der Arbeits- und Aufgabenverteilung innerhalb der Kirche.242 Hinter diesem Prinzip steht das bereits erwähnte Bild des Apostels Paulus, wonach jeder Körper seine Existenz al und Charisma, während für die potestas das Können und die erzwingbare Macht bestimmend sind“. 241 Vgl. Ullmann, Arbeitsteilung (wie Anm. 74), 52f.; 62; ders., Gelasius (wie Anm. 72), 211. 242 Dies hat insbesondere Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 210f., zu Recht mit großem Nachdruck betont.
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lein daraus bezieht, dass all seine Glieder die ihnen zugewiesene Funktion erfüllen.243 Als Priester übernahm Gelasius die gängige Deutung dieses Bildes als Metapher für die Kirche, als juristisch gebildeter Papst übertrug er es auf ihre Körperschaft, als Politiker schließlich spitzte er es raffiniert zu: Dadurch dass er seine Vorstellungen mit dem Primatanspruch Roms verband und dabei den Kaiser nicht nur generell den Obwaltern der divina, sondern im Besonderen der sedes apostolica unterordnete, machte er sich selbst faktisch zum Herrn über seine bischöflichen Rivalen und den weltlichen Herrscher. Denn nur unter der Leitung des Papstes (der im Auftrag Christi agiert) kann seiner Auffassung zufolge die Kirche ihr göttlich vorbestimmtes Ziel erreichen. Erst eine Deutung, die das ekklesiologische Denken der Päpste als Referenzrahmen einbezieht und damit ältere Vorstellungen überwindet, wonach Gelasius versucht habe, die Sphären von ‚Staat‘ und ‚Kirche‘ zugunsten letzterer voneinander abzugrenzen, ist in der Lage, das hinter der sog. Zweigewaltenlehre des Papstes stehende Anliegen in seiner ganzen Tragweite zu erfassen: Es ging um eine Aufgabenverteilung innerhalb der congregatio fidelium, bei der sich die Sachwalter der res humanae schon um ihres eigenen Seelenheiles willen den Priestern als Verwaltern der res divinae unterzuordnen hatten – dies wiederum verknüpft mit den besonderen Ansprüchen der sedes apostolica innerhalb der Priesterschaft. Diese markante Hierarchisierung innerhalb der ecclesia wurde ermöglicht durch eine Gleichsetzung der Kirche mit der augustinischen civitas Dei, denn dadurch wurde die Entwertung irdischer Herrschaft als Teil der res humanae so konzeptualisiert, dass man daraus in letzter Konsequenz Ansprüche der Kirchenvertreter ableiten konnte. Die Handlungsräume, die dem Papst nach 476 zufielen, ermöglichten es Gelasius, diese Gedanken, deren Ansätze sich schon bei Leo I. abzeichnen (s.o.), zu scharfen Postulaten auszuarbeiten und einem oströmischen Kaiser entgegenzuhalten, der nach dem Ende des weströmischen Kaisertums auch in der Wahrnehmung des Papstes erheblich geschwächt erscheinen musste. Anastasios hingegen dürfte nur wenig von dem, was der Pontifex ihm abverlangte, überhaupt verstanden haben.244 Der ekklesiologische Rahmen der päpstlichen Argumentation als Grundlage für deren Verständnis wird ihm fremd gewesen sein. Im Osten stieß Gelasius‘ Vorstellung einer transzendenten Herrschaft Christi über die alles umfassende Kirche auf ein gerade seit Anastasios und später insbesondere unter Justinian zunehmend sakral aufgeladenes, universales Kaisertum, das in Form der Nachahmung Christi die himmlische Gottesherrschaft auf Erden abbildete und daraus entsprechende Ansprüche auch gegenüber den Vertre-
243 Vgl. 1 Kor 12. Ullmann, Arbeitsteilung (wie Anm. 74), 49; ders., Gelasius (wie Anm. 72), 208. 244 In diesem Sinne vgl. auch Sotinel, Emperors and Popes (wie Anm. 78), 270: „In Constantinople, the emperor Anastasius did not understand the Roman position“.
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tern der Kirche(n) ableitete.245 Umso anmaßender müssen auf den Kaiser daher Formulierungen wie rerum […] praesulibus diuinarum deuotus colla summittis gewirkt haben. Aus der Perspektive des Ostens erhob sich hier lediglich ein arroganter Bischof nicht nur in höchst ungehöriger Weise über seine Kollegen, sondern attackierte überdies auch noch in nicht hinnehmbarem Ton den Herrn der Oikumene. Schließlich entsprach auch die von Gelasius vorgenommene strikte Trennung der humana von den divina in keiner Weise den Denktraditionen in der griechischsprachigen Welt. Sie konnte von Gelasius und seinen Vorgängern letztlich nur deshalb in solch scharfer Prägnanz vorgenommen werden, weil man im Westen in der Lage war, auf klare Bestimmungen von Ämtern und Institutionen zurückzugreifen, die ebenso konkrete Aufgaben- und Funktionszuweisungen ermöglichten. Im Osten jedoch spielten – wie aufgezeigt – derartige Definitionen eine weitaus geringere Rolle. Wenn Kaiser sich um die Gunst von Asketen wie des Styliten Daniel (Leon I., Zenon, Anastasios), Petros des Iberers (Zenon) oder auch des Zooras (Justinian) bemühten, wenn sie Mönche, Holy Men und charismatische Persönlichkeiten umwarben, dann trafen sie häufig gerade nicht auf Exponenten des Amtsklerus, sondern auf gesellschaftliche Außenseiter, die ihre besondere Autorität gerade aus dieser Position heraus bezogen. Keineswegs war die Verwaltung der res divinae in der Welt des Anastasios ein Privileg ausschließlich der Priester, wie insbesondere die Interventionen Justinians belegen. Ohnehin besaß der Oströmische Kaiser weitgehende Verfügungsrechte innerhalb der Kirche, die ihm im Westen niemals zugestanden worden wären. Ich halte es vor diesem Hintergrund daher nicht für ausgeschlossen, dass die Exilierung des Patriarchen von Konstantinopel Euphemios im Jahr 496, eine Konsequenz des völlig zerrütteten Vertrauensverhältnisses zwischen Bischof und Kaiser, auch eine Machtdemonstration in Richtung des Papstes darstellen sollte.246 Ebenso sollte man vorsichtig damit sein, reine Nostalgie darin zu sehen, wenn Anastasios sich im Jahr 516 in einem Schreiben an den römischen Senat (senatui suo!) in der Kaisertitulatur u.a. als pontifex inclitus bezeichnet.247 Hier wird noch einmal die oströmische 245 Vgl. Treitinger, Oströmische Kaiser- und Reichsidee (wie Anm. 213); Dvornik, Early Christian and Byzantine Political Philosophy (wie Anm. 159), 724ff.; Dagron, Empereur et prêtre (wie Anm. 144). Die Unterschiedlichkeit der im Osten und im Westen des (ehemaligen) Imperium Romanum vorherrschenden Auffassungen betont jetzt auch Claudia Tiersch, Ein Reich – ein Glaube? Konsequenzen des christlichen Monotheismus für den römischen Staat der Spätantike, in: Peter Eich/Sebastian Schmidt-Hofner/Christian Wieland (Hrsgg.), Der wiederkehrende Leviathan. Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit. Heidelberg 2011, 249–281. 246 Zu den Ereignissen s. Haarer, Anastasius (wie Anm. 10), 136ff.; Meier, Anastasios (wie Anm. 13), 87ff. Zur These, dass die Absetzung des Euphemios möglicherweise auch eine demonstrative Reaktion auf die Ansprüche des Papstes dargestellt haben könnte, vgl. Meier, „Von fremd zu fremd“ (wie Anm. 166). 247 [Hormisd.] epist. 12 p. 765–766 Thiel = Coll. Avell. 113. Dazu s. Caspar, Geschichte des Papsttums II (wie Anm. 74), 141f.; Haarer, Anastasius (wie Anm. 10), 100f. Der pontifexTitel erscheint hier bezeichnenderweise nicht in der geläufigen ‚paganen’ Kombination mit dem Attribut maximus, sondern wird durch das Epitheton inclitus ergänzt, vgl. Gerhard
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Tradition deutlich, auch die christlichen Kaiser immer wieder in die Nähe von Priestern zu rücken248, eine Tradition, gegen die Gelasius sich im Übrigen ebenfalls entschieden verwahrt hat.249 Auf das Schreiben des Gelasius im Jahr 494 hat Anastasios wahrscheinlich nicht geantwortet – jedenfalls ist keine Reaktion überliefert, und angesichts des Unverständnisses, das der Papst mit seinen Zeilen in Konstantinopel hervorgerufen haben dürfte, ist eine angemessene Replik auch kaum vorstellbar.250 Allerdings wurde die Frage nach dem Verhältnis von Kaiser und Priester wenige Jahrzehnte später, im Jahr 535, von Justinian erneut aufgegriffen (jedoch ohne Bezug auf den Gelasius-Brief), in einer an den Patriarchen von Konstantinopel gerichteten Novelle, die den Weg zur Ordination von Klerikern regeln sollte: Die größten Geschenke Gottes unter den Menschen sind die von der himmlischen Milde erbrachten Größen sacerdotium und imperium; jenes dient den göttlichen Dingen, dieses aber steht den menschlichen vor und lässt sorgfältige Umsicht walten. Aus ein und demselben Ursprung geht beides hervor und ziert das menschliche Leben. Daher wird nichts so sehr im Bemühen der Kaiser liegen wie die Ehrenhaftigkeit der Priester, da diese ja auch für jene selbst stets Gott anflehen. Denn wenn dieses [sc. das Priestertum/sacerdotium] überall unbescholten ist und Gott volles Vertrauen haben kann, die Herrschaft (imperium) aber das ihr übergebene Gemeinwesen (rempublicam) recht und angemessen ziert, dann wird eine gewisse gute Harmonie (consonantia/symphonía) bestehen, die dem Menschengeschlecht alles Nützliche bietet. Wir [sc. der Kaiser] ergehen uns deshalb in größter Sorgfalt (maxima sollicitudo) um die wahren Glaubenssätze Gottes und um die Ehrenhaftigkeit der Priester […]“.251
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Rösch, ΟΝΟΜΑ ΒΑΣΙΛΕΙΑΣ. Studien zum offiziellen Gebrauch der Kaisertitel in spätantiker und frühbyzantinischer Zeit. Wien 1978, 30f., der die altertümelnde Kaisertitulatur in Anastasios’ Brief an den römischen Senat für „eine Geste der Höflichkeit“ hält (33). Zu den für Anastasios belegten Formen von Kaisertitulaturen vgl. ebd., 166f. Vgl. dazu Dvornik, Early Christian and Byzantine Political Philosophy (wie Anm. 159), 751ff.; Dagron, Empereur et prêtre (wie Anm. 144), 141ff.; Girardet, Christliches Priestertum (wie Anm. 159); Rapp, Imperial Ideology (wie Anm. 159); Leppin, Von Constantin dem Großen zu Theodosius II. (wie Anm. 111), 194ff. Vgl. Gelas. tract. 4 p. 567–570 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 14,3–15,31 [JK 701, a. 495/46]. Zur Rezeption der sog. Zweigewaltenlehre im lateinischen Westen s. Toubert, La doctrine gélasienne (wie Anm. 235); Steffen Patzold, Episcopus. Wissen über Bischöfe im Frankenreich des späten 8. bis frühen 10. Jahrhunderts. Ostfildern 2008, 155f. Nov. Iust. 6, pr.: „Μέγιστα ἐν ἀνθρώποις ἐστὶ δῶρα θεοῦ παρὰ τῆς ἄνωθεν δεδομένα φιλανθρωπίας ἱερωσύνη τε καὶ βασιλεία, ἡ μὲν τοῖς θείοις ὑπηρετουμένη, ἡ δὲ τῶν ἀνθρωπίνων ἐξάρχουσά τε καὶ ἐπιμελομένη, καὶ ἐκ μιᾶς τε καὶ τῆς αὐτῆς ἀρχῆς ἑκατέρα προϊοῦσα καὶ τὸν ἀνθρώπινον κατακοσμοῦσα βίον. ὥστε οὐδὲν οὕτως ἂν εἴη περισπούδαστον βασιλεῦσιν ὡς ἡ τῶν ἱερέων σεμνότης, εἴγε καὶ ὑπὲρ αὐτῶν ἐκείνων ἀεὶ τὸν θεὸν ἱκετεύουσιν. Εἰ γὰρ ἡ μὲν ἄμεμπτος εἴη πανταχόθεν καὶ τῆς πρὸς θεὸν μετέχοι παρρησίας, ἡ δὲ ὀρθῶς τε καὶ προσηκόντως κατακοσμοίη τὴν παραδοθεῖσαν αὐτῇ πολιτείαν, ἔσται συμφονία τις ἀγαθή, πᾶν εἴ τι χρηστὸν τῷ ἀνθρωπίνῳ χαριζομένη γένει. ἡμεῖς τοίνυν μεγίστην ἔχομεν φροντίδα περί τε τὰ ἀληθῆ τοῦ θεοῦ δόγματα περί τε τὴν τῶν ἱερέων σεμνότητα […]“ – „Maxima quidem in hominibus sunt dona dei a superna collata clementia sacerdotium et imperium, illud quidem divinis ministrans, hoc autem humanis praesidens ac
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Liest man das Schreiben des Gelasius ohne den ekklesiologischen Hintergrund und stellt es dieser Novelle an die Seite, so scheint es, als habe Justinian die Verhältnisse schlichtweg umgedreht:252 Auch der Kaiser spricht von divina und humana, auch er weist diese dem weltlichen Herrn (imperium/βασιλεία), jene den Priestern (sacerdotium/ἱερωσύνη) zu, versteht unter beiden Größen aber offensichtlich etwas anderes als Gelasius, da er dessen strikte Scheidung zwischen externa und interna der Kirche (die das Verständnis von humana und divina vorprägt) nicht nachvollzieht.253 Einmal mehr erscheinen die Priester als diejenigen, die im Interesse der Herrscher zu Gott beten. Ganz anders aber sind die Schlussfolgerungen, die Justinian daraus ableitet: Umso wichtiger sei deshalb die Ehrenhaftigkeit (honestas/σεμνότης) der Priester, um welche der Kaiser selbst sich in höchstem Maße zu bemühen habe. Dass damit ebenso wie bei Gelasius eine klare Hierarchisierung verbunden ist, freilich in umgekehrter Richtung, braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Erst vor diesem Hintergrund kann die von Justinian avisierte „gewisse gute Harmonie“ (consonantia quaedam bona/συμφωνία τις ἀγαθή) realisiert werden. Spezifisch justinianisch ist schließlich der Hinweis, dass mit diesen Bemühungen selbstverständlich auch die kaiserliche Sorge um die dogmata verbunden sei. Damit widerspricht die herrscherliche Position diametral derjenigen des Papstes, der ja eigens darauf verwiesen hatte, dass der Kaiser in Glaubensfragen zu lernen habe, nicht aber zu lehren.254 Ohne Zweifel bilden Kaiser und Bischöfe in dieser Konzeption eine untrennbare und im Idealfall vollkommen harmonische Einheit (consonantia/συμφωνία). Doch ebenso wie Gelasius in der sog. Zweigewaltenlehre behält sich in diesem Konzept Justinian eine privilegierte Stellung vor. Diese erwächst u.a. aus der gerade im Fall dieses Kaisers mit größtem Nachdruck betonten Herleitung der eigenen Herrschaft aus einem göttlichen Auftrag255 und umfasst nicht nur die Aufsicht über die Priester, sondern explizit auch ein Eingriffsrecht in Glaubenssätze. Der Einheitsgedanke, der bei Gelasius durch den übergreifenden Rahmen der ecclesia
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diligentiam exhibens; ex uno eodemque principio utraque procedentia humanam exornant vitam. Ideoque nihil sic erit studiosum imperatoribus, sicut sacerdotum honestas, cum utique et pro illis ipsis semper deo supplicant. Nam si hoc quidem inculpabile sit undique et apud deum fiducia plenum, imperium autem recte et competenter exornet traditam sibi rempublicam, erit consonantia quaedam bona, omne quicquid utile est humano conferens generi. Nos igitur maximam habemus sollicitudinem circa vera dei dogmata et circa sacerdotum honestatem […]“. Dazu s. auch Manfred Clauss, Die symphonía von Kirche und Staat zur Zeit Justinians, in: Karlheinz Dietz/Dieter Hennig/Hans Kaletsch (Hrsgg.), Klassisches Altertum, Spätantike und frühes Christentum. Adolf Lippold zum 65. Geburtstag gewidmet. Würzburg 1993, 579– 593. Treffend Scholz, Papsttum (wie Anm. 79), 265: „Hier scheint die Zweigewaltenlehre des Gelasius durch, die aber auf den Kopf gestellt wird“. Zur Unterscheidung von interna und externa s. Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), passim. Gelas. epist. 1 p. 293 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 35,32 [JK 611, a. 489 (?)]. Vgl. etwa auch Felix epist. 8 p. 250 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 82,20 [JK 601, 1. August 484]. Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), Index s.v. Discere-docere. Dazu s.o.
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zum Tragen kam, erscheint auch bei Justinian, wird für ihn aber in Form eines harmonischen Zusammenwirkens von imperium und sacerdotium unter kaiserlicher Anleitung verwirklicht.256 Wie sehr beide Größen für den oströmischen Kaiser zusammengehören, geht aus einem Passus in der 7. Novelle hervor: Dort wird sogar behauptet, dass eigentlich kaum ein Unterschied zwischen imperium und sacerdotium bestehe, weil ja auch die Kirchen letztlich von der kaiserlichen Großzügigkeit (imperiales munificentiae) abhängig seien.257 Vergleicht man beide Konzeptionen, so zeigt sich, dass sie miteinander vollkommen inkompatibel sind.258 Gelasius‘ ekklesiologisch determinierte Vorstellungen einer Vormachtstellung des Bischofs gegenüber dem Kaiser bieten nicht die geringsten Anknüpfungspunkte für Justinians reichskirchliches Denken, das eine enge Verbindung von imperium und sacerdotium nur unter der Ägide des Kaisers zulässt. Eine über die Ämter vermittelte Autorität der Priester spielt für Justinian nicht die geringste Rolle; dadurch, dass er selbst sich die Fürsorge für die Ehrenhaftigkeit der Priester vorbehält, avanciert er selbst indirekt auch zum Obwalter der divina. Wie man sich im Osten die Hierarchien der kirchlichen und weltlichen Herren vorstellte, illustriert auch eine Passage des zwischen 555 und 556 wirkenden lateinischen Kirchenhistorikers Liberatus von Karthago, dessen Breviarium Causae Nestorianorum et Eutychianorum in der Forschung zwar bislang zumeist als antijustinianische Streitschrift interpretiert worden ist259, der aber wohl eher das Anliegen verfolgt hat, den afrikanischen Klerikern, die seit der Rückeroberung der vandalischen Gebiete durch Belisar 533/34 nunmehr Angehörige des Oströmischen Reiches waren, im Sinne Justinians zu erklären, wie Kirchenpolitik im Os 256 Vgl. auch Klaus Bringmann, Imperium und Sacerdotium. Bemerkungen zu ihrem ungeklärten Verhältnis in der Spätantike, in: Peter Kneissl/Volker Losemann (Hrsgg.), Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption. Festschrift für Karl Christ zum 75. Geburtstag. Stuttgart 1998, 61–72, hier 65ff. 257 Nov. Iust. 7,2,1 [a. 535]: „Καὶ γὰρ οὐδὲ πολλῷ διεστᾶσιν ἀλλήλων ἱερωσύνη τε καὶ βασιλεία, καὶ τὰ ἱερὰ πράγματα τῶν κοινῶν τε καὶ δημοσίων· ὅπου γε πᾶσα ταῖς ἁγιωτάταις ἐκκλησίαις εὐπορία τε καὶ σύστασις ἐκ τῶν παρὰ τῆς βασιλείας φιλοτιμιῶν διηνεκῶς ἐπιδίδοται.“ – „Utique cum nec multo differant ab alterutro sacerdotium et imperium, et sacrae res a communibus et publicis, quando omnis sanctissimis ecclesiis abundantia et status ex imperialibus munificentiis perpetuo praebetur.“ 258 So auch Bringmann, Imperium und Sacerdotium (wie Anm. 256), 69: „Dieser [sc. des Gelasius, M.M.] Auffassung hat Kaiser Iustinian in Theorie und Praxis widersprochen“. 259 Vgl. etwa Otto Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur, Bd. 5: Die letzte Periode der altkirchlichen Literatur mit Einschluß des ältesten armenischen Schrifttums. Freiburg 1932, ND 2. Aufl. 1962, 2007, 328; Averil Cameron, Byzantine Africa: The Literary Evidence, in: John H. Humphrey (Hrsg.), Excavations at Carthage 1978. Ann Arbor 1982, 1–51, hier 28; Beate Suchla, Liberatus, Diakon von Karthago, in: Siegmar Döpp/Wilhelm Geerlings (Hrsgg.), Lexikon der antiken christlichen Literatur. 3. Aufl. Freiburg/Basel/Wien 2002, 456; Michael Whitby, The Church Historians and Chalcedon, in: Gabriele Marasco (Hrsg.), Greek and Roman Historiography in Late Antiquity. Fourth to Sixth Century A. D. Leiden/Boston 2003, 449–495, hier 472–477.
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ten funktionierte, um ihren Widerstand gegen die permanenten kaiserlichen Interventionen in kirchliche Angelegenheiten zu beenden.260 Liberatus beschreibt in seinem kurzen kirchenhistorischen Abriss, dass Papst Leo I. nach dem für ihn desaströsen Ausgang des Konzils von Ephesos 449, der sog. Räubersynode, auf die Einberufung eines neuen Konzils gedrängt und dem Bemühen dadurch Nachdruck verliehen haben soll, dass er gemeinsam mit zahlreichen Bischöfen Kaiser Valentinian III. und seine Gattin Eudoxia auf Knien darum gebeten habe, den Ostkaiser Theodosios II. um die Einberufung einer weiteren Synode anzugehen.261 Eindrücklicher lässt sich das im Osten herrschende Selbstverständnis nicht auf den Punkt bringen: Der Papst wendet sich mit großer Entourage kniefällig an den Kaiser im Westen; dieser wiederum erkennt den Vorrang des Ostkaisers an und leitet die Bitte nach Konstantinopel weiter, wo die endgültige Entscheidung gefällt werden soll. Wenngleich Gelasius und Justinian zu elementar unterschiedlichen Resultaten gelangt sind, so haben sie sich dennoch mit demselben Thema beschäftigt, nämlich mit dem grundsätzlichen Problem des Verhältnisses zwischen kirchlichen und weltlichen Autoritäten. Allerdings bleibt zu betonen, dass die Ausführungen des Kaisers keine Antwort auf die Forderungen des Papstes darstellen, und es ist unklar, ob Justinian den Brief des Gelasius überhaupt kannte. Dieser Umstand verweist darauf, dass beide Akteure die Motivation für die Niederlegung ihrer Gedanken aus ganz unterschiedlichen Umständen und Kontexten bezogen haben. Gelasius steht in einer Tradition der Formierung eines insbesondere gegenüber der Kaiserherrschaft zunehmend selbstbewussten Papsttums im 5. Jahrhundert, die ihre Argumente vornehmlich aus einer missverstandenen Augustin-Rezeption bezieht und mit dem Fortfall des Kaisertums im Westen eminent an Schlagkraft gewinnt. Justinian kann im Jahr 535 ebenfalls voller Selbstbewusstsein argumentieren. Die temporäre Schwächeperiode des Kaisertums im Osten, ausgelöst durch das Ende seines Pendants im Westen, ist nahezu überwunden – doch anders als für Gelasius ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen weltlicher und kirchlicher Autorität für den Kaiser kein großes Thema; er rekurriert eher okkasionell darauf 260 Zu dieser Deutung des Breviarium Causae Nestorianorum et Eutychianorum in Abgrenzung von der traditionellen Sichtweise vgl. Mischa Meier, Das Breviarium des Liberatus von Karthago: Einige Hypothesen zu seiner Intention, in: Mischa Meier/Volker H. Drecoll (Hrsgg.), Das ‚Breviarium‘ des Liberatus von Karthago. Berlin/New York 2010 (= Zeitschrift für antikes Christentum 14.1 [2010]), 130–148. 261 Liberat. brev. 12 (= ACO II 5, p. 119,19–23): „Valentinianum autem imperatorem et Eudoxiam coniugem eius ad memoriam beati Petri cum multis episcoporum genibus prouolutus Romanus pontifex deprecatus est ut imperatorem Theodosium hortarentur aliam fieri synodum ad retractandum illa quae a Dioscoro male acta atque perpetrata fuerant in damnatio Flauiani episcopi et orthodoxorum episcoporum depositione.“ In der Tat hatte Leo bei Valentinian III. darauf hingewirkt, dass dieser Theodosios II. um die Einberufung eines Konzils bat, vgl. Valentinian [Leo] epist. 55 PL 54,859 = ACO II 3.1, Nr. 19 p. 13,28–14,20; Ullmann, Gelasius (wie Anm. 72), 79ff.
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und formuliert seine normativen Prinzipien geradezu deskriptiv – nicht jedenfalls als dringendes Postulat. Gelasius wurde also – stellvertretend für die päpstliche Seite – durch die Ereignisse des Jahres 476 dazu angeleitet, in verstärktem Maße über das Thema ‚Herrschaft‘ zu reflektieren; die spezifische Situation im Westteil des ehemaligen Imperium Romanum seit 410 sowie die Interessenlage des sich im 5. Jahrhundert an der Spitze der Kirche etablierenden Papsttums führten dazu, dass die römischen Bischöfe aus dem Ende des Kaisertums im Westen verstärkte Impulse bezogen, um über ihre eigene Position zu reflektieren, was unweigerlich in eine Zuspitzung der Auseinandersetzungen mit dem verbliebenen Kaiser im Osten münden musste. Hatte das Jahr 476 für Justinian als oströmischen Kaiser dagegen überhaupt keine Bedeutung? Die Frage lässt sich mit einem entschiedenen ‚doch!‘ beantworten, allerdings zielte der Reflexionsprozess, den die Ereignisse des Jahres 476 im Osten ausgelöst haben, auf andere Bereiche. Dort blieb das Kaisertum erhalten, erfuhr jedoch zunächst eine nachhaltige Erschütterung als indirekte Konsequenz aus dem Ende seines Pendants im Westen. Die dadurch ausgelösten Reflexionsprozesse mussten daher zunächst einmal auf die Konsolidierung des Kaisertums (als Institution und als Denkfigur) zielen sowie – nachdem diese erfolgt war – auf den Umgang mit der durch einen Sakralisierungsschub neugefassten Herrschaft im 6. Jahrhundert. Eine Antwort auf die Anmutungen des Papstes konnte aus dieser Perspektive nicht generiert werden; ohnehin hatte die oströmische Regierung zu Beginn des 6. Jahrhunderts wichtigere Probleme, als intensiv über die Ansprüche des Bischofs von Rom zu reflektieren. Als die Konsolidierung des Kaisertums im Wesentlichen vollzogen war und Raum für eine intellektuelle Auseinandersetzung mit dem Papsttum vorhanden gewesen wäre, befand sich dieses aufgrund der Gotenkriege bereits in einer derart geschwächten Position, dass es in dieser Hinsicht als Diskussionspartner faktisch ausfiel. „Nach der Rückeroberung Italiens (535–552) durch Justinian“, so resümiert Sebastian Scholz, „verlor nicht nur das Land mit der Pragmatischen Sanktion (554) seine Sonderstellung, sondern der Papst wurde als Patriarch des Westens ganz in die byzantinische Kirche eingebunden. Vor allem die Konfrontation mit Justinian, der sich wie kein anderer Kaiser vor ihm theokratischer Argumente bediente und zudem massiven Druck auf die Päpste ausübte, bewirkte offenbar ein neues Unterordnungsverhältnis zwischen Papst und Kaiser“.262 262 Scholz, Papsttum (wie Anm. 79), 273. Die Frage, warum die ekklesiologisch geprägte Argumentationsweise und die daraus abgeleiteten Postulate des Gelasius im 6. Jh. keine breit gelagerte Kontinuität finden, kann an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden. Wie angedeutet, befand sich das Papsttum spätestens nach dem Tod Agapets im Jahr 536 gegenüber Konstantinopel weithin in der Defensive (Caspar, Geschichte des Papsttums II [wie Anm. 74], 230ff.; Sotinel, Emperors and Popes [wie Anm. 78], 276ff.; Maser, Päpste [wie Anm. 99], 58ff.; Leppin, Justinian [wie Anm. 5], 181–205); Ansprüche, wie sie Gelasius zuvor in seinem Brief an Anastasios formuliert hatte, wären somit angesichts der politischen Rahmenbedingungen gar nicht zu erwarten gewesen. In den Jahren vor 536 war es hingegen zu einer
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Erst Gregor der Große wagte es im Zuge des Streits um den Titel ‚ökumenischer Patriarch von Konstantinopel‘ sowie im Kontext der Langobardenpolitik, neue Konflikte mit der oströmischen Seite zu riskieren.263 VII. ZUSAMMENFASSUNG Damit sind wir zu den Resultaten unserer Überlegungen gelangt. Unter der Fragestellung nach der Bedeutung des Jahres 476, mit dem traditionell das Ende des römischen Kaisertums im Westen des ehemals ungeteilten Imperium Romanum assoziiert wird, haben wir den Bogen von der Eroberung Roms durch Alarich 410 bis in das 6. Jahrhundert geschlagen. Ziel war es dabei, die These zu begründen, dass durch den Fortfall des Kaisertums als Institution in verschiedenen Bereichen sowie auf unterschiedlichen Ebenen ein neues grundsätzliches Nachdenken über Herrschaft erzwungen worden ist, das sich in vielfältiger Weise manifestiert und insbesondere mit vergleichendem Blick auf die Verhältnisse im Osten und im Westen des Römischen Reiches divergente Ausprägungen und Konsequenzen zeitigte. Aktuellen Tendenzen in der Forschung, die Relevanz des Jahres 476 eher skeptisch zu beurteilen, wäre vor diesem Hintergrund entgegenzuhalten, dass die deutlichen Annäherung zwischen Rom und Konstantinopel gekommen, die 519 nicht nur die Auflösung des Akakianischen Schismas gebracht hatte, sondern in deren Kontext Justinian letztlich sämtlichen Forderungen Roms zunächst einmal nachgegeben hatte (vgl. Maser, Päpste [wie Anm. 99], 52: „bedingungslose Kapitulation“; Leppin, Justinian [wie Anm. 5], 65); im Jahr 533 gestand Justinian dem Papst sogar die Ehre des caput […] omnium sanctarum ecclesiarum zu (Coll. Avell. 84,8 = Cod. Iust. 1,1,8,11; Luigi Magi, La sede Romana nella corrispondenza degli imperatori e patriarchi bizantini (VI-VII sec.). Rom/Louvain 1972, 111f.). Eine dezidierte Fortführung der gelasianischen Postulate wäre insofern ohnehin nur für dessen unmittelbare Nachfolger – jedenfalls vor dem Jahr 519 – opportun gewesen, und in der Tat finden sich m.E. zumindest bei Symmachus entsprechende Belege dafür, der in einem Antwortschreiben auf eine nicht erhaltene Attacke des Kaisers festhält: „conferimus autem honorem imperatoris cum honore pontificis, inter quos tantum distat quantum ille rerum humanarum principatum gerit, iste diuinarum. tu, imperator, a pontifice baptismum accipis, sacramenta sumis, orationem poscis, benedictionem speras, paenitentiam rogas. postremo tu humana amministras, ille tibi diuina dispensat. itaque ut non dicam superior, certe aequalis honor est, nec te putes mundi pompa praecellere […]“ (Symm. epist. 10 p. 703 Thiel = Schwartz, Publizistische Sammlungen p. 154,31,36 [JK 761, a. 506–512]). Ekklesiologische Argumentationsmuster im hier beschriebenen Sinne finden sich auch bei Hormisdas, vgl. Hormisd. epist. 80 p. 880 Thiel = Coll. Avell. 169: „nunc enim misericordia procurante diuina in unius corporis uultum dissipata olim Christi membra conueniunt et ab iniquissimis direpta latronibus annuntiata propheticis uocibus domini nostri redintegratur hereditas et uere in huius petrae fide, id est apostolorum principis firmitate, Orientalis ecclesiae fundamenta solidantur.“ 263 Vgl. Robert A. Markus, Gregory the Great and His World, Cambridge 1997, 83ff.; 97ff.; Maser, Päpste (wie Anm. 99), 66. Vgl. auch Eugen H. Fischer, Gregor der Große und Byzanz. Ein Beitrag zur Geschichte der päpstlichen Politik, in: ZRG (Kanon. Abt.) 36, 1950, 15–144.
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Konsequenzen der damaligen Geschehnisse möglicherweise nicht unmittelbar, aber doch mittel- und längerfristig durchaus beträchtlich gewesen sind. Beschäftigt man sich mit dem spätrömischen Kaisertum, so wird man zwischen der Institution und der Denkfigur unterscheiden müssen. Das westliche Kaisertum verschwand im Jahr 476 zwar als Institution, als Denkfigur hingegen spielte es weiterhin eine wichtige Rolle: Für die neuen barbarischen Herren stellte es weiterhin einen zentralen Bezugspunkt für die Definition der eigenen Stellung dar; für die Kaiser im Osten führte die Absetzung des Romulus Augustulus und die damit verbundene Beeinträchtigung der geläufigen Denkfigur zu gravierenden Erschütterungen der dort fortbestehenden Institution selbst; das aufstrebende Papsttum schließlich konnte sich nach dem Fortfall des westlichen Kaisertums in seiner seit Augustin unter einem ekklesiologischen Rahmen forcierten grundsätzlichen Entwertung irdischer Herrschaft bestätigt sehen und diese Einschätzung kaiserlicher Herrschaft – insbesondere in Relation zur Position des Bischofs von Rom – nunmehr offensiv in die Auseinandersetzungen mit der oströmischen Führung einbringen. Damit wird deutlich, dass die Geschehnisse des Jahres 476 letztlich drei zentrale Akteursgruppen – von denen insbesondere zwei, Päpste und Kaiser, Gegenstand dieser Untersuchung waren – zu grundlegenden Reflexionsprozessen über Herrschaft gezwungen haben. 1. Die neuen Herren im Westen: Aufgrund ihrer barbarischen Abkunft konnten sie nicht selbst den Kaiserthron besteigen und damit eine Kontinuität der Institution gewährleisten. Nach einer längeren Abfolge weitgehend machtloser Marionettenkaiser unter der Ägide einflussreicher barbarischer Heermeister zog Odoaker schließlich die Konsequenz, indem er das Kaisertum liquidierte und sich selbst als rex installierte. Damit war zwar die Institution im Westen beseitigt, aber die Denkfigur blieb als zentraler Bezugspunkt für die Definition und Ausübung von Herrschaft erhalten. Diese Problematik zeigt sich auf unterschiedlichen Ebenen, insbesondere in den Versuchen der Barbarenherrscher, in ein – wie auch immer geartetes – Verhältnis zum Kaiser im Osten zu treten, ferner aber auch an Phänomenen wie der imitatio imperii, aber auch in theoretischen Konstrukten, wie z.B. der von Theoderich propagierten Formel von dem weiterhin bestehenden einen Reich, das nunmehr inter utrasque res publicas aufgeteilt sei.264 2. Die Bischöfe von Rom: Das Ende des weströmischen Kaisertums fällt zusammen mit der endgültigen Durchsetzung des päpstlichen Primatanspruches im Westen, der seit Leo I. auf einem soliden argumentativen Fundament steht. Mit der Etablierung der Führungsrolle der sedes apostolica in der Kirche ging auch ein äußerer Machtzuwachs einher, der durch die Schwäche des weströmischen Kaisertums im 5. Jahrhundert mitbedingt wurde und sich phasenweise auch im Einvernehmen mit den Kaisern vollzog (vgl. die 17. Novelle Valentinians III., s.o.). Das Papsttum gewann damit nicht nur innerhalb der 264 Cass. var. 1,1; Suerbaum, Staatsbegriff (wie Anm. 43), 248ff.
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kirchlichen Strukturen an Autorität, sondern auch darüber hinaus, nämlich innerhalb des Kreises der höchsten weltlichen Potentaten. Um ihre Position im Konzert dieser Größen zu festigen und auszubauen, griffen die Päpste auf Augustins Abwertung jeglicher irdischer Herrschaft zurück, die dieser in seiner Gottesstadt als Reaktion auf die Eroberung Roms 410, d.h. als Krisenbewältigungsinstrument, propagiert hatte. Die Tatsache, dass der Kirchenvater gleichzeitig und damit eng verflochten, jedoch letztlich aus anderen Motiven heraus (Auseinandersetzung mit den Donatisten), auch eine differenzierte Ekklesiologie in der Gottesstadt präsentiert und dabei selbst auf eine hinreichend scharfe Trennung zwischen ecclesia und civitas Dei verzichtet hatte, verleitete die Päpste dazu, über eine radikale Enteschatologisierung des augustinischen Kirchenbegriffs eine Gleichsetzung von ecclesia und civitas Dei vorzunehmen, was ihnen die strikte Einbindung der Kaiser in einen ekklesiologischen (und damit von den Priestern zu verwaltenden) Gesamtrahmen bei gleichzeitiger Entwertung ihrer irdischen Herrschaft ermöglichte. Die paulinische Metapher vom Körper und seinen Gliedern erlaubte dabei eine klare Aufgabenverteilung unter den Angehörigen der Kirche. Schon bei Leo I. zeichnet sich ab, dass die Priester als die für das Seelenheil der Gläubigen zuständigen Vermittler potentiell in eine dem Kaiser überlegene Position treten könnten; letztere hingegen erscheinen innerhalb des Aufgabenspektrums unter den membra im corpus als Beschützer der Kirche. Als im Jahr 476 die höchste Instanz für die Repräsentation irdischer Herrschaft im Westen tatsächlich fortfiel, bezogen die Päpste daraus neue Impulse, um den seit der missverstandenen Augustin-Rezeption vorgezeichneten Weg fortzubeschreiten. Nunmehr konnte das ekklesiologische Konzept mit seiner strikten Einbindung des Kaisers in die congregatio fidelium so weit zugespitzt werden, dass aus der Zuständigkeit der Priester für das Seelenheil der Kaiser konkrete Ansprüche mit Blick auf das Verhältnis zwischen Kaiser und Priestern abgeleitet werden konnten. Die strenge Trennung zwischen res humanae und res divinae ermöglichte es Gelasius I. dabei, die aus der paulinischen Metapher gewonnenen Aufgaben- und Funktionszuteilungen aus einem klar definierten Amtsverständnis heraus insoweit zu präzisieren, dass die Unterordnung des Kaisers unter den Bischof – und dabei insbesondere den Inhaber der sedes apostolica – aus der Perspektive des lateinischen Westens augenfällig und folgerichtig war. Dass die Päpste zugleich mit dem Fortfall des westlichen Kaisertums auch faktisch verschiedene Funktionen der Kaiser übernahmen, musste sie in ihren Ansprüchen gegenüber den verbliebenen Augusti im Osten noch zusätzlich bestärken. Gegenüber den ‚arianischen‘ Barbarenherrschern wurden hingegen ähnliche Postulate nicht erhoben, da sie keine Angehörigen der Kirche waren und sich somit über das zentrale ekklesiologische Argument nicht einbinden ließen. Möglicherweise war dies einer der Gründe für die Beibehaltung des ‚arianischen‘ Bekenntnisses durch Theoderich, der sich dadurch den Ansprüchen der Päpste entziehen konnte. 3. Die Kaiser im Osten: Auf den ersten Blick scheinen die am Bosporus residierenden Augusti die Ereignisse des Jahres 476 unbeschadet überstanden zu ha-
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ben, doch dieser Schein trügt. Zwar ist die These, dass mit dem Handstreich Odoakers im Westen und dem Basiliskos-Putsch (475/56) im Osten eine Großfamilie die Herrschaft über das Gesamtreich habe übernehmen wollen, längst widerlegt265, doch dürfte die Absetzung des Romulus für die Herrscher in Konstantinopel tatsächlich erhebliche Konsequenzen gezeitigt haben. Diese lassen sich allerdings nur indirekt fassen, nämlich in Form von Indizien, die auf eine massive Erschütterung des Kaisertums rückschließen lassen. Offenkundig setzte sich nach 476 auch im Osten die Erkenntnis durch, dass Herrschaft auch ohne einen römischen Kaiser möglich war, wodurch Dynamiken freigesetzt wurden, die Leon I., Zenon und auch noch Anastasios mit gewaltigen Herausforderungen konfrontierten. Das Kaisertum war als Denkfigur beschädigt und geriet im ausgehenden 5. Jahrhundert deshalb auch als Institution in eine schwerwiegende Bedrohungslage. Zu den Indizien, die diesen Schluss zulassen, gehört neben dem augenfälligen politischen ‚Chaos‘, das sich insbesondere in den zahlreichen Usurpationen, Loyalitätswechseln und den erweiterten Wirkungsmöglichkeiten einflussreicher warlords manifestiert, auch die Tatsache, dass der Kaiserthron nunmehr auch für Barbaren verfügbar gewesen zu sein scheint – damit war vielleicht gerade durch den Handstreich Odoakers eben jenes ermöglicht worden, was Odoaker selbst noch nicht gewagt hatte: Als Barbar selbst den Kaiserthron zu besteigen. Mit einer derart gefährlichen Erschütterung des Kaisertums konfrontiert, wurden auch die Augusti im Osten nunmehr gezwungen, verstärkt über eine Neujustierung ihrer Herrschaft nachzudenken. Dieser Reflexionsprozess schlägt sich vor allem in einem nachhaltigen Sakralisierungsschub nieder, der das oströmische Kaisertum im 6. Jahrhundert zwar gestärkt, aber auch nachhaltig verändert aus der Bedrohungslage hervorgehen ließ. Durch die damit einhergehende Autokratisierung wurden danach weitere Reflexionsprozesse ausgelöst, die sich punktuell in den Quellen nachweisen lassen und die das durch die Geschehnisse des Jahres 476 eingeleitete Nachdenken über Herrschaft bis weit in das 6. Jahrhundert hinein fortgesetzt haben. Aus diesen Überlegungen ergibt sich, dass die Relevanz des Jahres 476 nicht unterschätzt werden sollte – jedenfalls dann nicht, wenn man die Frage nach zeitgenössischen Konzeptionen von Herrschaft stellt, die infolge der Absetzung des Romulus offenbar von zentraler Bedeutung gewesen ist. Festzuhalten bleibt aber auch, dass sich das so konstatierte neue Nachdenken über Herrschaft nicht nur auf unterschiedlichen Ebenen vollzog, sondern letztlich auch über die jeweiligen Akteure und ihre unmittelbaren Wirkungskreise nicht hinausgelangte – jedenfalls nicht in Form eines übergreifenden Kommunikationszusammenhangs, der den lateinischen Westen ebenso wie den griechischen Osten umgriffen hätte. Bereits die italische Faustus-Gesandtschaft, die um 492/93 im Auftrag Theoderichs am Bosporus über dessen Stellung verhandeln sollte, produzierte eine Kette von 265 Zu dieser These s. Krautschik, Zwei Aspekte (wie Anm. 5). Widerlegung: Wolfram Brandes, Familienbande? Odoaker, Basiliskos und Harmatios, in: Klio 75, 1993, 407–437.
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Missverständnissen. Das Anliegen des Goten, seine Herrschaft durch ein klar definiertes Verhältnis zum Kaiser in ihrem Zuschnitt zu präzisieren, scheiterte daran, dass sich im Osten eine Diskussion über grundsätzliche Fragen nach Herrschaft automatisch mit kirchenpolitischen Sachverhalten verband, die für Faustus aber keine Rolle hätten spielen sollen. Die daraufhin erfolgte Einbindung des Papstes in die Erörterungen führte lediglich zu noch weiterer Konfusion, da dieser gegenüber Ostrom eigene Interessen verfolgte, die sich unter das Stichwort ‚Herrschaft‘ fassen lassen, bei denen aber wiederum das ursprüngliche Anliegen Theoderichs zu einer Marginalie verkam. Auch die letztlich aus diesen Konflikten hervorgegangene scharfe Zuspitzung der sog. Zweigewaltenlehre im Brief des Gelasius an Anastasios aus dem Jahr 494 verweist zunächst einmal auf grundsätzliche Kommunikationsschwierigkeiten zwischen Osten und Westen, selbst in zentralen Fragen wie derjenigen nach Herrschaft. Wer seine Sozialisierung im griechischsprachigen Osten erfahren hatte, hatte gar keine Chance, den ekklesiologischen Rahmen zu erfassen, den Gelasius als Grundlage seiner Argumentation voraussetzte; dieser war – wie gesagt – weitgehend ein Produkt der Fehlrezeption augustinischer Ekklesiologie in Verbindung mit der Zwei-Reiche-Lehre in der Gottesstadt, ging mithin auf ein Krisenbewältigungsinstrument zurück, das man im Osten jedoch nie benötigt hatte und somit auch nicht kannte. In gleicher Weise musste die präzise Bestimmung der res humanae und res divinae, wie Gelasius sie vorgenommen hatte, im Osten Befremden auslösen, da sie ein weitgehend objektiviertes Amtsverständnis voraussetzte, das im Osten nicht geläufig war. Aus diesem Grund konnte später auch Justinian, der zwar gleichfalls humana und divina voneinander schied, diese aber wohl ganz anders als Gelasius verstand, sich selbst unter Ausblendung institutioneller Strukturen zum Bewahrer der priesterlichen honestas erklären und damit indirekt in den Bereich der divina eingreifen, ein Vorrecht, das er sich mit seiner Verfügungsgewalt über die dogmata ohnehin explizit sicherte. Alles in allem hatten nach 476 sowohl die neuen barbarischen Herren im Westen als auch die Päpste und die im Osten verbliebenen Kaiser, so scheint es, mit ähnlich gelagerten grundsätzlichen Problemen, die sich um den Begriff ‚Herrschaft‘ gruppierten, zu ringen. Systematische Abstimmungen wären insofern sinnvoll gewesen. Aber die Problematik einer fortgeschrittenen Entfremdung zwischen dem West- und dem Ostteil des ehemals umfassenden Imperium Romanum verhinderte bereits in Ansätzen, dass ein angemessener Kommunikationsprozess darüber zustande kommen konnte. Aus dieser Perspektive betrachtet haben die Geschehnisse des Jahres 476 nicht nur bedeutsame Reflexionsprozesse ausgelöst; sie lassen sich überdies dazu heranziehen, zu illustrieren, wie weit sich um 500 der lateinische Westen und der griechische Osten bereits voneinander entfernt hatten.
ZWISCHEN BYZANZ UND RAVENNA DAS PAPSTTUM AN DER WENDE ZUM 6. JAHRHUNDERT Hanns Christof Brennecke I. DAS THEMA In einer völkisch grundierten Interpretation des Mittelalters war es seit Ende des 19. Jahrhunderts in Deutschland zunehmend verbreitet, den homöischen Arianismus1 der meisten germanischen Herrschaftsbildungen auf dem Boden des ehemaligen weströmischen Reiches als die den germanischen Völkern angemessene und artgemäße Form des christlichen Glaubens anzusehen.2 In einer noch vom Kulturkampf geprägten Situation wurde dieser sogenannte germanische Arianismus3 auch als von Rom unabhängig, als romfrei charakterisiert.4 Der Übertritt der Westgoten zum nizänischen Katholizismus wie der Katholizismus der Franken
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Vgl. Hanns Christof Brennecke, Homéens, in: DHGE 24, 1994, 429–441; ders., Arius/Arianismus, in: RGG4 1, 1998, 738–743. Dazu Hanns Christof Brennecke, Der sogenannte germanische Arianismus als „arteigenes“ Christentum. Die völkische Deutung der Christianisierung der Germanen im Nationalsozialismus, in: Thomas Kaufmann/Harry Oelke (Hrsgg.), Evangelische Kirchenhistoriker im „Dritten Reich“. (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 21.) Gütersloh 2002, 310–329; ders., Christianisierung der Germanen oder „Germanisierung des Christentums“, in: Klaus Manger (Hrsg.), Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt, Geisteswissenschaftliche Klasse. (Sitzungsberichte 5, Klassenvorträge 2002–2004.) Erfurt 2006, 153–172. Dass die dabei aus der altkirchlichen antiarianischen Polemik vor allem des Alexander von Alexandrien und seines Nachfolgers Athanasius konstruierte Form von Arianismus weder etwas mit dem historischen Arius noch mit dem späteren Arianismus der Germanen inhaltlich etwas zu tun hatte, habe ich in meiner Erlanger Abschiedsvorlesung am 28. Januar 2013 zu zeigen versucht: Hans Christof Brennecke, „Arianismus“. Inszenierung eines Konstrukts. (Erlanger Universitätsreden, 3. Folge 83.) Erlangen 2014. Ebd.; Hanns Christof Brennecke, Lateinischer oder germanischer „Arianismus“? Zur Frage einer Definition am Beispiel der religiösen Konflikte im nordafrikanischen Vandalenreich, in: Hildegund Müller/Dorothea Weber/Clemens Weidmann (Hrsgg.), Collatio Augustini cum Pascentio. (Sitzungsberichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften 779.) Wien 2008, 125–144. Brennecke, Arteigenes Christentum (wie Anm. 2), 324 und 326. Diesen Aspekt hatte besonders Kurt Dietrich Schmidt, Die Bekehrung der Germanen zum Christentum, Bd. 1: Die Bekehrung der Ostgermanen zum Christentum (Der ostgermanische Arianismus). Göttingen 1939, 280, (unter Berufung auf Hans von Schubert) betont.
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wird in dieser Interpretation zu einer neuen Romhörigkeit, was durchaus pejorativ zu verstehen war.5 Und der römische Katholizismus der Neuzeit hat nun natürlich positiv den Katholizismus des Frankenreiches als in besonderer Weise römisch und mit dem Papsttum verbunden gesehen. Frankreich gilt in Verlautbarungen der Päpste immer wieder als die älteste Tochter Roms, so verschiedentlich Papst Johannes Paul II. anlässlich des 1500. Jahrestages der Bekehrung Chlodwigs, der übrigens in Deutschland im Unterschied zu Frankreich fast keine Rolle gespielt hat, schon gar nicht im deutschen Protestantismus.6 Auch für Walter Ullmann und andere hatte Chlodwig den christlichen Glauben in seiner römischen Form angenommen.7 Daraus ergeben sich folgende Fragen: 1. Was ist oder könnte eigentlich eine so selbstverständlich vorausgesetzte Institution namens Papsttum in Rom um 500 sein angesichts einerseits eines über viele Jahre andauernden Schismas zwischen Rom und der griechischen Kirche8, andererseits der Herrschaft des häretischen Arianers Theoderich über Italien und damit eben auch über Rom? 2. Welche Rolle spielt ein Papsttum für die katholischen Romanen in den übrigen gentilen Herrschaftsbildungen auf dem Boden des bisherigen weströmischen Reiches? 3. Und wie verhalten sich der fränkische König Chlodwig und die katholische Kirche seines Reiches zu einer Institution Papsttum? Hatte Chlodwig den christlichen Glauben wirklich in einer römischen Form angenommen?
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Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 4), 301–315. Als ich in den neunziger Jahren den 1 500. Jahrestag der Bekehrung der Franken zum Christentum den evangelischen Kirchenhistorikern der Sektion Kirchengeschichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie als Anlass für eine Tagung vorschlug, habe ich ziemlich Prügel bezogen und bin nationalistischer und schlimmerer Tendenzen verdächtigt worden, wogegen das tausendjährige Jubiläum der Christianisierung Russlands zum Christentum 1988 gerade in Deutschland unter protestantischen Kirchengeschichtlern enorme Aufmerksamkeit erfahren hatte. Walter Ullmann, Kurze Geschichte des Papsttums im Mittelalter. Berlin 1978, 32f.: „Während jedoch die Kirchenpolitik des wahren Konstantin auf altrömischen Strukturen ruhte, wurden die Franken im Lauf der Zeit zu unentbehrlichen Werkzeugen in der Hand des Papstes. Der römische Ursprung der fränkischen Auffassung von Religion und Kirche verhinderte den Ausbruch ähnlich tiefer christologischer und anderer theologischer Kontroversen, wie sie die östliche Reichshälfte zerrissen hatten. Obwohl der ‚neue Konstantin‘ die militärischen und weltlichen Reste römischer Herrschaft in seinem Reiche tilgte, akzeptierte er doch vollständig die römischen Organisationsformen der Kirche. Historisch gesehen verschaffte die Bekehrung Chlodwigs dem Papsttum eine Ausgangsstellung, die ihm Sicherheit gewährte und von der aus es seine Strategie entfalten konnte.“ So im Prinzip auch Klaus Herbers, Geschichte des Papsttums im Mittelalter. Darmstadt 2012, 28. Zum akakianischen Schisma vgl. unten S. 221–223 und die in Anm. 25 angegebene Literatur.
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II. PROLEGOMENA In der Kirche des sich immer mehr christlich verstehenden Imperium Romanum seit Konstantin hatten die Bischöfe Roms eigentlich keine besondere Rolle gespielt.9 Angesichts von Konstantins Selbstverständnis als unmittelbar von Gott beauftragter Bischof und Priester, vielleicht sogar als Stellvertreter Christi so verstehe ich jedenfalls das Ensemble seiner von ihm geplanten Bestattung im Kreise der Apostel, was Euseb dann durch eine neue Interpretation des Kaisers als des 13. Apostels theologisch zu entschärfen versucht hatte10 gab es eigentlich keinen Platz für einen Primat des Bischofs von Rom. Bischof Miltiades († 10./11. Januar 314) von Rom11 leitete im Auftrag des Kaisers 314 eine kleine Synode in Rom, die als kaiserliches Gericht in der Frage des donatistischen Schismas gesehen werden muss.12 Eine besondere Stellung des römischen Bischofs für Konstantin wird in dieser Beauftragung gerade nicht deutlich. In den folgenden Jahren hat er durchaus andere Bischöfe mit der Durchführung solcher Bischofsgerichte betraut. Bischof Silvester, dessen Pontifikat von 314–335 fast mit der Epoche der Herrschaft Konstantins im Westen zusammenfällt13, spielt für Konstantin keinerlei Rolle und ist an den großen theologischen und kirchenpolitischen Auseinandersetzungen des konstantinischen Zeitalters, vor allem am Konzil von Nizäa überhaupt nicht beteiligt.14 Das setzt sich im Grunde bei seinen Nachfolgern fort. Dieser später als schmerzlich empfundene Mangel hat dann vermutlich zur Ausgestaltung der Silvesterlegende15 Anlass gegeben. Auch wenn seit Damasus (366–384)16 ein Primatsanspruch des römischen Stuhles immer deutlicher wird, kann man eigentlich erst seit Leo I.17 und dem 9 10
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Anders Richard Krautheimer, Rom. Schicksal einer Stadt 312–1308. 2. Aufl. München 1996, 13–42. (Die englische Originalausgabe erschien unter dem Titel: Rome. Profile of a City, 312–1308. Princeton 1980; die dt. Übers. von Toni Kienlechner und Ulrich Hoffmann.) Hanns Christof Brennecke, Constantin und die Idee eines Imperium christianum, in: Friedrich Schweitzer (Hrsg.), Religion, Politik und Gewalt. (Veröffentlichungen der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie 29.) Gütersloh 2006, 561–572. Ich verweise summarisch auf die zahlreichen Arbeiten von Klaus Martin Girardet aus den vergangenen dreißig Jahren zu dieser Thematik, zuletzt Klaus Martin Girardet, Die konstantinische Wende. Darmstadt 2006; ders., Kaiser Konstantin der Große. Bonn 2007; ders., Kaisertum, Religionspolitik und das Recht von Staat und Kirche in der Spätantike [Aufsatzsammlung]. Bonn 2009; ders., Der Kaiser und sein Gott. Berlin/Boston 2010. Charles Piétri/Luce Piétri (Hrsgg.), Prosopographie de l’Italie chrétienne. (Prosopographie chrétienne du Bas-Empire 2.) 2 Bde. Rom 1999–2000, hier Bd. 2, 1513. Seit der Bonner Dissertation von Klaus Martin Girardet, Kaisergericht und Bischofsgericht. (Antiquitas I 21.) Bonn 1975, muss das als opinio communis gelten. Piétri/Piétri (Hrsgg.), Prosopographie (wie Anm. 11), Bd. 2, 2071. Auf dem Konzil von Nizäa nahmen nur zwei römische Presbyter teil; vgl. Heinrich Gelzer/Heinrich Hilgenfeld/Otto Cuntz, Patrum Nicaenorum Nomina [mit einem Nachwort von Christoph Markschies]. Stuttgart/Leipzig 1995, LX. Actus Silvestri, CPL 2235; Wilhelm Pohlkamp, Silvester, in: LexMA 7, 1995, 1905–1907; Herbers, Papsttum (wie Anm. 7), 46. Erich Caspar, Geschichte des Papsttums. Von den Anfängen bis zur Höhe der Weltherrschaft. 2 Bde. Tübingen 1930–1933, hier Bd. 1, 196–256; Jean Guyon, Die Kirche Roms vom
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gleichzeitigen Niedergang des weströmischen Kaisertums von einer wirklichen Theorie eines Papsttums sprechen. Zumindest sind die römischen Bischöfe jetzt die Patriarchen des Abendlandes, der Osten hat bekanntlich einen römischen Primat zu keiner Zeit akzeptiert.18 Das Dekret des Konzils von Chalkedon über die Ranggleichheit von Rom und Konstantinopel als das neue Rom19 hatte zu einer zunehmenden Entfremdung zwischen Ost und West geführt, die 484 im sogenannten akakianischen Schisma ihren vorläufigen Höhepunkt fand. In dieser Situation des Schismas zwischen Rom und dem Osten hatte Gelasius auf Leo aufbauend und ihn weiterführend unüberhörbar den Anspruch der (einzigen!) sedes apostolica auf den Primat in der Gesamtkirche und vor allem auch gegen den zwar nicht exkommunizierten, aber doch zumindest tendenziell als häretisch angesehenen Kaiser Anastasios formuliert.20 Und Gelasius formulierte das gegenüber dem Kaiser in Konstantinopel in einer Situation, als es im Westen keinen Kaiser mehr gab, sondern der Arianer Theoderich mit dem Arianer Odoaker um die Herrschaft in Italien kämpfte und nach dessen Ermordung für drei Jahrzehnte Italien beherrschte21, auch wenn an der Theorie vom Fortbestand des ganzen Imperium Romanum sowohl von Rom als auch von Konstantinopel noch grundsätzlich festgehalten wurde.22
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Anfang des 4. Jahrhunderts bis zu Sixtus III., in: Charles Piétri/Luce Piétri (Hrsgg.), Das Entstehen der einen Christenheit (250–430). (Geschichte des Christentums. Religion – Politik – Kultur 2.) Freiburg 1996, 888–898. Zu Damasus vgl. Piétri/Piétri (Hrsgg.), Prosopographie (wie Anm. 11), Bd. 1, 530; Charles Piétri, Roma Christiana. 2 Bde. Rom 1976, hier Bd. 1, 407–884; Ursula Reutter, Damasus, Bischof von Rom. (Studien und Texte zu Antike und Christentum 55.) Tübingen 2009. Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 1, 423–564; Walter Ullmann, Leo I and the Theme of Papal Primacy, in: JTS n.s. 11, 1960, 21–51; ders., Papsttum (wie Anm. 7), 15–23; Basil Studer, Leo I., in: TRE 20, 1990, 737–741. Christiane Fraisse-Coué, Die zunehmende Entfremdung zwischen Ost und West (451–518), in: Luce Piétri (Hrsg.), Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642). (Geschichte des Christentums. Religion – Politik – Kultur 3.) Freiburg 2005, 158–210. Der sog. can. 28 von Chalkedon, ed. Eduard Schwartz, in: ACO 2/1/3. Berlin/Leipzig 1935, 88f.; Der römische Protest: Ebd. 99. Nach der kritischen Rekonstruktion von Eduard Schwartz, in: ACO 2/3/3. Berlin/Leipzig 1937, 102, der Text jetzt ed. Ekkehard Mühlenberg, in: CCCOGD 1. Turnhout 2006, 150f. Zu Gelasius vgl. die umfassende Monographie von Walter Ullmann, Gelasius I. (492–496). Das Papsttum an der Wende der Spätantike zum Mittelalter. (Päpste und Papsttum 18.) Stuttgart 1981, und unten S. 224f. Vgl. dazu den Beitrag von Hans-Ulrich Wiemer in diesem Band. Ebd.
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III. DAS AKAKIANISCHE SCHISMA Von dem nicht wirklich zu Recht mit dem Namen des Patriarchen Akakios von Konstantinopel23 verbundenen Schisma zwischen Rom und den Kirchen des Ostens, das 35 Jahre bis zum Jahr 519 dauern sollte, ist eine Fülle von Dokumenten überliefert und durch Eduard Schwartz meisterhaft erschlossen worden, die er als publizistische Erzeugnisse zu verstehen versucht hat.24 Auch wenn man in der Interpretation des überlieferten Materials Schwartz nicht immer folgen will und kann, wird man ihm zustimmen können und vielleicht müssen, dass es nicht in erster Linie um einen dogmatischen Konflikt, sondern um das Verhältnis der römischen Bischöfe zum Bischof von Konstantinopel und vor allem zum Kaiser ging. Die Geschichte des akakianischen Schismas ist von historischer wie theologischer Seite in den letzten Jahrzehnten vielfach und sehr differenziert unter ganz verschiedenen Gesichtspunkten dargestellt worden25, daher nur ein paar Andeutungen. 23 Venance Grumel, Les regestes de 381 à 715. (Les regestes du Patriarchat de Constantinople 1/1.) 2. Aufl. Paris 1972, 112–126; vgl. auch CPG 3, 5990–5994. Anders Eduard Schwartz, Publizistische Sammlungen zum Acacianischen Schisma. (Abh. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Abt. N.F. 10.) München 1934, 161. 24 Eduard Schwartz, Codex Vaticanus gr. 1431. Eine antichalkedonische Sammlung aus der Zeit Kaiser Zenos. (Abh. der Bayerischen Akademie der Wissenschaften Philosoph.-philolog. u. hist. Kl. 32/6.) München 1927; Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23); wichtige Quellen auch in der Collectio Avellana, ed. Otto Günther, in: CSEL 35/1–2. Wien 1895– 1898. 25 Schwartz, Publizistische Sammlung (wie Anm. 23), 161–303; Fritz Hofmann, Der Kampf der Päpste um Konzil und Dogma von Chalkedon von Leo dem Großen bis Hormisdas (451– 519), in: Aloys Grillmeier/Heinrich Bacht (Hrsgg.), Entscheidung um Chalkedon. (Das Konzil von Chalkedon. Geschichte und Gegenwart 2.) Würzburg 1953, 13–94; Rhaban Haacke, Die kaiserliche Politik in den Auseinandersetzungen um Chalkedon (451–553), ebd. 95–177; Alois Grillmeier, Das Konzil von Chalkedon (451). Rezeption und Widerspruch (451–518). (Jesus der Christus im Glauben der Kirche 2/1.) 2. Aufl. Freiburg/Basel/Wien 1991, 326–358; William H.C. Frend, The Rise of the Monophysite Movement. Chapters in the History of the Church in the Fifth and Sixth Century. Cambridge 1972, 143–220; Patrick T.R. Gray, The Defence of Chalcedon in the East (451–553). (Studies in the History of Christian Thought 20.) Leiden 1979, 25–53; Hanns Christof Brennecke, Chalkedonense und Henotikon. Bemerkungen zum Prozess der östlichen Rezeption der christologischen Formel von Chalkedon, in: Hanns Christof Brennecke, Ecclesia est in re publica. Studien zur Kirchen- und Theologiegeschichte im Kontext des Imperium Romanum, hg. von Uta Heil/Annette von Stockhausen/Jörg Ulrich. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 100.) Berlin/New York 2007, 259–290 (zuerst erschienen in: Johannes van Oort/Johannes Roldanus [Hrsgg.], Chalkedon: Geschichte und Aktualität. Studien zur Rezeption der christologischen Formel von Chalkedon. Leuven 1997, 24–53); Pierre Maraval, Die Rezeption des Chalcedonense im Osten des Reiches, in: Piétri (Hrsg.), Westen und Osten (wie Anm. 18), 120–157; Christiane Fraisse-Coué, Entfremdung (wie Anm. 18); Pierre Blaudeau, Alexandrie et Constantinople (451–491) de l’histoire à la géo-ecclésiologie. (Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome 327.) Rom 2006; ders., Le siège de Rome et l’Orient (448–536). Étude géo-ecclésiologique. (Collection de l’École française de Rome 460.) Rom 2012; Hanns Christof Brennecke, Das
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Im Osten waren nach der Synode von Chalkedon die Auseinandersetzungen um die Christologie heftiger als vorher entbrannt.26 Vor allem in Ägypten, aber auch in den Patriarchaten von Antiochien und Jerusalem wurden die dogmatischen Beschlüsse von Chalkedon in erheblichem Umfang abgelehnt. Von den östlichen Patriarchen stand eigentlich nur Akakios von Konstantinopel zu Chalkedon27 und mit ihm Kaiser Zenon!28 Der Usurpator Basiliskos29 stieß mit antichalkedonischen Parolen und einer miaphysitischen Glaubens-Enkyklia durchaus auf Zustimmung.30 Um den drohenden Zerfall des Reiches und der Kirche im Osten aufzuhalten, hatte Akakios von Konstantinopel im Auftrage des Kaisers das Henotikon (edictum Zenonis) formuliert31, das vor allem für die Ägypter etwas vorsichtiger als Chalkedon die Zweinaturenlehre formuliert, also theologisch eher an Kyrill als an Leo orientiert war. Inhaltlich lehnt sich das Henotikon ganz an die Unionsformel von 433 an32, die bekanntlich auch die Grundlage der theologischen Erklärung von Chalkedon gebildet hatte.33 Um die alexandrinische Kathedra in Besitz nehmen zu dürfen, musste Petrus Mongos das Henotikon unterschreiben.34 Das Henotikon, eine vom Kaiser allein und nicht durch eine Synode35 promulgierte Glaubensdefinition, bot Rom den Anlass, die Gemeinschaft mit der
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akakianische Schisma: Liberatus, Breviarium 15–18, in: ZAC 14, 2010, 74–95; Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des byzantinischen Reiches. Stuttgart 2009, 103–117; 311– 319. Brennecke, Chalkedonense und Henotikon (wie Anm. 25), 259–268; vgl. zur Darstellung des Liberatus ders., Liberatus (wie Anm. 25), 74–80. Brennecke, Chalkedonense und Henotikon (wie Anm. 25). Hier kann ich Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 171–187, nicht folgen, der darin nur politisches Kalkül sieht. Für Schwartz geht es Akakios ausschließlich um die Rechte des Stuhles von Konstantinopel. PLRE 2, 2000, 1200–1202; Adolf Lippold, Zenon (17), römischer Kaiser, in: RE 10A, 1972, 149–213. Zu Zenon als Vertreter der Beschlüsse von Chalkedon Brennecke, Chalkedonense und Henotikon (wie Anm. 25), 274–278. PLRE 2, 2000, 212–214. Das antichalkedonensische Enkyklion des Basiliskos CPG 5997, ediert nach Cod. Vat. gr. 1431 von Schwartz, Codex Vaticanus gr. 1431 (wie Anm. 24), 49–51. Zur Überlieferung Brennecke, Chalkedonense und Henotikon (wie Anm. 25), 271, Anm. 61. CPG 5999 (9122). Eine kritische Edition der griechischen Überlieferung nach Cod. Vat. gr. 1431 bei Schwartz, Codex Vaticanus gr. 1431 (wie Anm. 24), 52–54; die lateinische Überlieferung bei Liberatus, ebd. 54–56 (= ACO 2/5, Berlin/Leipzig 1936, 127,17–129,2). Der Text ist außerdem überliefert bei Evagrius, h.e. III 14; syrisch bei (Ps.-)Zacharias, h.e. V 8. Vgl. Grillmeier, Das Konzil von Chalkedon (wie Anm. 25), 285–287. Ich habe zu zeigen versucht, dass das Henotikon als Ausdruck einer als chalkedonensisch zu interpretierenden Kirchenpolitik des Zenon zu verstehen ist; Brennecke, Chalkedonense und Henotikon (wie Anm. 25), 276–287; ders., Liberatus (wie Anm. 25), 81–84; 92–95. Brennecke, Chalkedonense und Henotikon (wie Anm. 25), 279–282. ACO 1/1/4, Berlin/Leipzig 1928, 8,27–9,8. Theodoros Anagnostes, h.e., epit. 423 (117,16–18 Hansen). Das Henotikon (ebenso wie das Enkyklion des Basiliskos) steht damit in einer Tradition kaiserlicher Glaubensdekrete, die nicht einmal mehr der Form nach von einer Synode erlassen
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östlichen Kirche aufzukündigen.36 Viel wichtiger aber als das Henotikon, das bei der Entstehung des Schismas eine außerordentlich geringe Rolle spielt, war die Tatsache, dass Rom in Johannes Talaia den rechtmäßigen alexandrinischen Bischof sah, in Petrus Mongos dagegen einen miaphysitischen Häretiker.37 Für Liberatus von Karthago, der aus westlicher Sicht und auf der Basis römischer Quellen das akakianische Schisma beschreibt38, und der hier Simplicius von Rom folgt, ist Petrus Mongos ein Häretiker und Akakios eben auch, weil er mit Petrus in Gemeinschaft stand, nachdem der das Henotikon unterschrieben hatte.39 Der eigentliche Grund für die Aufhebung der kirchlichen Gemeinschaft besteht für Liberatus eben im Ungehorsam des Akakios gegenüber Rom. Dabei handelt es sich natürlich um eine Kategorie, die dem Osten und natürlich vor allem dem Bischof von Konstantinopel völlig fremd war. 484 war in Rom Felix III.40 nach dem Tode des Simplicius41 auf die cathedra Petri gefolgt, der die Situation noch verschärfte. Mischa Meier hat darauf hingewiesen, wie Rom und Konstantinopel hier aneinander vorbei redeten.42 489 war Akakios von Konstantinopel gestorben.43 Dass seine Nachfolger Fravitas und dann Euphemios auch von Rom als konsequente Anhänger Chalkedons angesehen wurden, änderte nichts an der Kirchenspaltung.44 Ein Jahr später, 490, war auch Petrus Mongos gestorben45, 491 Kaiser Zenon.46 So wird man das akakianische Schisma wohl kaum als Kampf um die Geltung der Beschlüsse der Synode von Chalkedon, sondern eher als Auseinandersetzung um einen römischen Jurisdiktions- und Lehrprimat in der ganzen Kirche aus Ost und West begreifen können und wohl auch müssen. Und damit geht es auch um das Verhältnis des römischen Bischofs zum Kaiser in Konstantinopel.
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wurden, und die nach meiner Auffassung mit dem Edikt Cunctos populos (CTh XVI 1,2) des Theodosius beginnt. Vgl. vor allem Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 161–303, und die in Anm. 25 genannten Arbeiten. Liberatus, Breviarium 16–17; vgl. Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 195–199; Brennecke, Liberatus (wie Anm. 25), 77–84; 92. Liberatus, Breviarium 15–18. Zu Liberatus von Karthago vgl. Mischa Meier/Volker Henning Drecoll (Hrsgg.), Das ‚Breviarium‛ des Liberatus von Karthago (= ZAC 14, 2010). Berlin/New York, 3–249. Liberatus, Breviarium 17 (129,21–23 Schwartz): „Simplicius suscipiens huiusmodi litteras contristatur adversus Acaciumeique scribit quod non bene fecerit contra sententiam apostolicae sedis ad communionem haereticum hominem suscipere.“ Ebd. (131,8f. Schwartz): „Ubi ergo ad plenum detectus est Acacius haereticus […].“ Piétri/Piétri (Hrsgg.), Prosopographie (wie Anm. 11), Bd. 1, 777 (Felix 28). Piétri/Piétri (Hrsgg.), Prosopographie (wie Anm. 11), Bd. 2, 2081 (Simplicius 4). Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 115, spricht von „Kommunikationsproblemen zwischen Osten und Westen“. Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 211, Anm. 2. Grumel, Regestes (wie Anm. 23), Nr. 173–180a. (Ps.-)Zacharias, h.e. VI 4; vgl. Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 213, Anm. 4. PLRE 2, 2000, 1202; Lippold, Zenon (wie Anm. 28), 195, 48–64.
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IV. DER HÖHEPUNKT SPÄTANTIKER PAPSTTHEORIE BEI GELASIUS Gelasius47, 492–496 römischer Bischof und Nachfolger des Felix, der schon während des Pontifikats seines Vorgängers aktiv an den Auseinandersetzungen mit dem Osten beteiligt war48, hat auf dem Hintergrund dieses weiterbestehenden Schismas zwischen Rom und dem Osten dem neuen Kaiser Anastasios gegenüber in bisher so nicht begegnender Klarheit und Schärfe das Verhältnis von römischem Papst und Kaiser im Sinne einer Papstmonarchie definiert. Der neue römische Bischof Gelasius hatte seine Wahl traditionell dem Kaiser mitgeteilt, nicht aber dem nicht mit Rom in Kirchengemeinschaft stehenden Konstantinopler Patriarchen Euphemios.49 Anlässlich einer Gesandtschaft König Theoderichs nach Konstantinopel hatte Kaiser Anastasios die Wiederherstellung der Kirchengemeinschaft gefordert.50 Die Gesandten Theoderichs informierten den neuen römischen Bischof Gelasius über diese Forderungen des Kaisers.51 Die Antwort des Gelasius – nicht etwa an den Kaiser, sondern an die Gesandten Theoderichs – war strikt ablehnend.52 Auch der Kaiser habe sich dem Urteil der Kirche zu fügen.53 Nachdem dieses commonitorium eine gewisse Irritation in Konstantinopel ausgelöst hatte, schrieb 494 Gelasius seinen berühmten Brief über das Verhältnis der geistlichen zur weltlichen Gewalt, der in die mittelalterliche Kanonistik einging und dann zu einer Grundlage mittelalterlicher Papsttheorie wurde.54 Dem apostolischen Stuhl gebührt unbedingt der Vorrang in der Gesamtkirche, ihm ist die Wacht über den rechten Glauben anvertraut.55 47 Piétri/Piétri (Hrsgg.), Prosopographie (wie Anm. 11), Bd. 1, 906 (Gelasius 2); JK 619–743; CPL 1667–1675 (CPL 1667 die Briefe); Liber pontificalis, LI, ed. Louis Duchesne, Le Liber pontificalis. Texte, introduction et commentaire, 3 Bde. Paris 1955–1957, ND Paris 1981, hier Bd. 1, 255–257; Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 10–81; Ullmann, Gelasius (wie Anm. 20); ders., Papsttum (wie Anm. 7), 28–31; Herbers, Papsttum (wie Anm. 7), 39–45. 48 Ullmann, Gelasius (wie Anm. 20), 135–162. 49 JK 619. Der Brief ist nicht erhalten, sondern nur in JK 622 erwähnt; Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 166 (Nr. 77); 219; Ullmann, Gelasius (wie Anm. 20), 164–171. 50 Zu erschließen aus JK 622 (Schwartz, Publizistische Sammlungen [wie Anm. 23], 16,4–6); Schwartz, ebd. 217–221; Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 92–95. 51 Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 166f. (Nr. 80). 52 JK 622 (Schwartz, Publizistische Sammlungen [wie Anm. 23], 16–19); Ullmann, Gelasius (wie Anm. 20), 162–198; Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 95f. 53 Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 18,36–19,2: „[S]i quantum ad religionem pertinet, non nisi apostolicae sedi iuxta canones debetur totius summa iudicii; si quantum ad saeculi potestatem, ille a pontificibus et praecipue a beati Petri vicario debet cognoscere quae divina sunt, non ipse eadem iudicare.“ Vgl. Ullmann, Gelasius (wie Anm. 20), 172–178. 54 JK 632; Text: Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 19–24. Dazu Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 64–77; 755–758 (auch über die mittelalterliche Wirkungsgeschichte); Ullmann, Gelasius (wie Anm. 20), 198–216; Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 109–113. 55 Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 20,18–22: „[E]t si cunctis generaliter sacerdotibus recte divina tractantibus fidelium convenit corda submitti, quanto potius sedis illius praesuli consensus est adhibendus quem cunctis sacerdotibus et divinitas summa voluit
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Zwei [Kräfte? Gewalten? – ein Substantiv fehlt im Text] sind es, durch die die Welt vornehmlich hier [auf Erden] regiert wird, die geheiligte Autorität der Bischöfe (auctoritas sacrata pontificum) und die königliche Gewalt (regalis potestas), wobei der auctoritas sacrata pontificum ein höheres Gewicht (gravius pondus) zukommt, da sie auch für die Könige im Gericht Rechenschaft ablegen muss.56
Dieser Text ist unendlich analysiert, diskutiert und manchmal auch problematisch interpretiert worden. Wichtig ist der für römisches Denken wichtige Unterschied zwischen auctoritas und potestas57, wodurch im Grunde ein gemeinsames Konzept von aufeinander bezogener und sich ergänzender weltlicher und geistlicher Macht umschrieben wird, in dem der geistlichen aber das höhere Gewicht zukommt. Zu Recht hat Mischa Meier darauf hingewiesen, dass der übliche Name Zweigewaltentheorie die Sache gerade nicht trifft.58 In der Kombination mit dem absoluten Vorrang des römischen Stuhles in der Kirche bekommt dieses Konzept nun seine Brisanz: Der Papst in Rom steht letztlich über dem Kaiser in Konstantinopel. Aber weder zu Gelasius’ Lebzeiten noch für seine Nachfolger unter zunächst gotischer, dann byzantinischer Herrschaft hatte dieses Konzept einer die Welt regierenden Zweiheit aus hierarchisch eindeutig einander zugeordnetem Kaiser und Papst auch nur irgendeine Chance auf Realisierung. Die Frage ist: War die Papsttheorie des Gelasius Orientierung oder Leitlinie für seine unmittelbaren Nachfolger? Spielte sie in der Spätantike überhaupt irgendeine Rolle? V. EIN BLICK AUF DEN WESTEN Das Ende des weströmischen Kaisertums und die Entstehung gentiler Reiche auf dem Boden der Westhälfte des Imperium hatten die Stellung des römischen Bischofs völlig verändert. Waren die römischen Bischöfe als Inhaber der einzigen sedes apostolica im Abendland die Patriarchen der lateinischen Kirche59 mit einem deutlich darüber hinausgehenden Anspruch eines Primates in der Gesamtkirche geworden, so war im Westen inzwischen die Identität zwischen Imperium und Reichskirche zerbrochen. Ein erheblicher Teil katholischer Romanen lebte nun unter zwar auch christlicher, aber eben doch häretischer germanischer Herrschaft. Die auf dem Boden des ehemaligen weströmischen Reiches entstandenen Reiche
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praeminere et subsequens ecclesiae generalis iugiter pietas celebravit?“ Ebd. 23,9–11: „[A]postolicae vero sedis auctoritas quod cunctis saeculis Christianis ecclesiae praelata sit universae, et canonum serie paternorum et multiplici traditione firmatur.“ Ebd. 20,5–8: „[D]uo sunt quippe, imperator auguste, quibus principaliter mundus hic regitur, auctoritas sacrata pontificum et regalis potestas, in quibus tanto gravius pondus est sacerdotum quanto etiam pro ipsius regibus hominum in divino reddituri sunt examine rationem.“ Dazu zuletzt und absolut überzeugend Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 110–113. Ebd. 111f. Wilhelm de Vries, Rom und die Patriarchate des Ostens. Freiburg 1963; Ferdinand R. Gahbauer, Die Pentarchietheorie. Ein Modell der Kirchenleitung von den Anfängen bis zur Gegenwart. (Frankfurter Theologische Studien 42.) Frankfurt 1993.
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verstanden sich zwar als christlich, bekannten sich aber zum antinizänischen homöischen Arianismus, wie er nach dem Konzil von Konstantinopel 381 in der theodosianischen Gesetzgebung ja eigentlich als vom Kaiser zu verfolgende Häresie definiert worden war.60 Die Glaubensgrundlage dieses Arianismus waren die theologischen Erklärungen der von Kaiser Konstantius II. einberufenen Reichssynoden von Rimini (359) und Konstantinopel (360).61 In diesem Zusammenhang ist zu betonen, dass an diesem Arianismus, den man gerne als germanischen Arianismus bezeichnet, nichts Germanisches war.62 Da für die erst auf Reichsboden wirklich zu Völkern werdenden gentilen Gruppen dieser Arianismus offenbar identitätsbildend war, waren diese arianischen Kirchen strikt von der ecclesia catholica der Romanen getrennt. Außer bei den Vandalen in Nordafrika63 scheinen germanische Arianer und romanische Katholiken weithin einigermaßen konfliktfrei nebeneinander gelebt zu haben. Unter diesen Bedingungen konnte nun allerdings der römische Papst das einigende geistliche Band für die unter germanischer Herrschaft lebenden katholischen Romanen werden. Interessanterweise spielt die Herrschaft germanischer Könige für die Päpste in den erhaltenen Korrespondenzen fast keine Rolle, obwohl sie in der Tradition der römischen Kaiser durchaus auch in Angelegenheiten der katholischen Kirche der romanischen Untertanen eingreifen konnten.64 In der Theorie gingen die Päpste weiterhin von der Fiktion des Imperium Romanum als Ganzem aus, wie vor allem die Auseinandersetzungen des späten 5. Jahrhunderts um ein gallisches Vikariat Roms deutlich machen. Im Grunde waren die Auseinandersetzungen zwischen Arles und Vienne gegenstandslos: Vienne war die Metropole des Burgunderreiches, Arles gehörte zunächst zum Westgotenreich und kam nach dessen militärischer Katastrophe unter die Herrschaft Theoderichs.65
60 Z.B. CTh XVI 1,3; 5,6. 8. 11. 12. 13. 61 Hanns Christof Brennecke u.a. (Hrsgg.), Dokumente zur Geschichte des arianischen Streites, 4. Lieferung. (Athanasius Werke 3/1/4.) Berlin/Boston 2014, Nr. 59, 1–11; 61, 1–6. 62 Brennecke, Lateinischer oder germanischer ‚Arianismus‘ (wie Anm. 3), 143f. 63 Konrad Vössing, ‚Barbaren‘ und Katholiken. Die Fiktion der Collatio sancti Augustini cum Pascentio Arriano und die Parteien des vandalischen Kirchenkampfes, in: Müller/Weber/ Weidmann (Hrsgg.), Collatio Augustini cum Pascentio (wie Anm. 3), 173–206. 64 Gelasius richtete mehrere Briefe an Theoderich, der über Italien herrschte (JK 641; 652; 722); dazu Ullmann, Gelasius (wie Anm. 20), 216–222. Zum Eingreifen Theoderichs in das laurentianische Schisma siehe unten und vor allem mit der neuesten Literatur den Beitrag von Hans-Ulrich Wiemer in diesem Band. 65 Vgl. unten Anm. 122.
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VI. ANASTASIUS II. Die kompromisslose Haltung des Gelasius gegenüber Byzanz und seine daraus formulierte Papsttheorie scheint in Rom nicht nur auf Zustimmung gestoßen zu sein, vor allem in senatorischen Kreisen, die z.T. der Herrschaft des Barbaren und Häretikers Theoderich kritisch gegenüberstanden und sich nach Konstantinopel orientierten. Ihnen lag an einer Überwindung des Schismas.66 Die Wahl des auf einen Ausgleich sowohl mit dem Kaiser als auch den Patriarchen des Ostens bedachten Anastasius’ II. (496–498)67, dem deswegen ein äußerst negatives Image seit dem Liber pontificalis anhängt68, scheint ein deutliches Zeichen dafür zu sein. Die wenigen Nachrichten aus dem kurzen Pontifikat Anastasius’ II. machen jedenfalls deutlich, dass es ihm um einen Ausgleich mit dem Osten ging, wie vor allem schon seine Wahlanzeige an Kaiser Anastasios zeigt.69 Grundsätzlich hält Anastasius am Primat des römischen Stuhles in der ganzen Kirche fest.70 Gegenüber dem Kaiser signalisiert er allerdings ein gewisses Entgegenkommen, indem er nur fordert, dass der Name des Akakios nicht mehr öffentlich genannt werden sollte.71 Dass der Senator Festus dem Kaiser signalisiert habe, dass Anastasius unter Umständen auch zur Anerkennung und Übernahme des Henotikon in Rom bereit gewesen sei, wie Theodoros Anagnostes berichtet72, gehört wohl eher in den Bereich der späteren Polemik gegen Anastasius. Es geht bei Anastasius aber nicht nur um einen Ausgleich mit Konstantinopel und die Wiederherstellung der Einheit der Kirche, sondern er scheint auch ein anderes Konzept vom römischen Bischofsamt als Gelasius vertreten zu haben. Aus der römischen Tradition seit Ende des 4. Jahrhunderts übernimmt Anastasius die primatialen Ansprüche Roms auf Leitung der Weltkirche, aber eben nicht die Theorie des Gelasius von der Lenkung dieser Welt durch Papst und Kaiser. Ganz gegen Gelasius kann er den Kaiser in seinem Brief als vicarius Christi73 ansprechen. Die Auffassung, die bei Anastasius nur ein Aufweichen der Papsttheorie des Gelasius sehen will, trifft – 66 Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 82; vgl. auch den Beitrag von Hans-Ulrich Wiemer in diesem Band. 67 Piétri/Piétri (Hrsgg.), Prosopographie (wie Anm. 11), Bd. 1, 112f. (Anastasius 3?); Lib. pont., LII (wie Anm. 47), Bd. 1, 258f.; JK 744–751; Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 82–87. 68 Lib. pont., LII (wie Anm. 47), Bd. 1, 258: „Eodem tempore multi clerici et presbiteri se a communione ipsius erigerunt, eo quod communicasset sine consilio presbiterorum vel episcoporum vel clericorum cunctae ecclesiae catholicae diacono Thesalonicense, nomine Fotino, qui communis erat Acacio et quia voluit occulte revocare Acacium et non potuit.“ 69 JK 744; vgl. Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 226–230; Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 116f. 70 Ebd. 71 Ebd. 72 Theodoros Anagnostes, h.e., epit. 461 (130,13–15 Hansen): Φῆστος δέ, ὡς λόγος, συνέθετο λάθρα τῷ βασιλεῖ τὸν Ῥώμης ἐπίσκοπον τῷ ἑνωτικῷ Ζήνονος ὑπογράφειν. Vgl. dazu aber Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 230, Anm. 2. 73 I 620 Thiel.
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soweit man hier überhaupt Schlüsse ziehen kann – den erkennbaren Sachverhalt nicht ganz. Es geht offensichtlich um eine ganz bewusste Korrektur an der Papsttheorie des Gelasius. VII. DAS LAURENTIANISCHE SCHISMA. PAPSTTHEORIE BEI SYMMACHUS UND IM KREIS UM LAURENTIUS Nicht nur die Frage nach einem Ausgleich mit Konstantinopel, sondern dahinter eben auch verschiedene Konzepte von Papsttum führten nach dem frühen Tod Anastasius’ II. im Jahre 498 zur Doppelwahl des Diakons Symmachus74 und des Archipresbyters Laurentius75 als Nachfolger des Anastasius. Diese folgenreiche Spaltung der römischen Kirche ist als das laurentianische Schisma in die Papstgeschichte eingegangen.76 Nach einer schon meisterhaften Auswertung aller Quellen durch Erich Caspar hat zuletzt Eckhard Wirbelauer77 die gesamte Überlieferung neu gesichtet. Hier soll es weder um eine erneute Einzelanalyse der hochinteressanten und für die weitere Geschichte der Institution Papsttum bis in die Gegenwart wichtigen Quellen noch um eine komplette Darstellung des Ablaufes dieses die stadtrömische Kirche im Grunde bis zum Tode des Symmachus im Jahre 51478 spaltenden Schismas mit allen sich daraus ergebenden Folgen gehen, sondern eigentlich nur um die Frage, ob auch ganz unterschiedliche Konzepte von Papsttum hinter diesem Schisma erkennbar sind, und welche Auswirkungen es sowohl auf die Kirchen des Ostens als auch auf die des Westens hatte. Eine Doppelwahl eines Bischofs in Rom musste jede Theorie eines Papsttums und alle daraus abgeleiteten Ansprüche grundsätzlich in Frage stellen und offenbarte auch die Schwäche eines römischen Bischofsamtes angesichts eines Schismas mit dem Osten und unter der Herrschaft eines ostgotischen arianischen Königs. 74 Piétri/Piétri (Hrsgg.), Prosopographie (wie Anm. 11), Bd. 2, 2145f.; Lib. pont., LIII (wie Anm. 47), Bd. 1, 260–268; vgl. dazu Bd. 3, 87–89; JK 752–769; CPL 1678–1682 (die Briefe CPL 1678); Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 87–129; 758–761; Ekkart Sauser, Symmachus, in: BBKL 11, 1996, 359–363. 75 Piétri/Piétri (Hrsgg.), Prosopographie (wie Anm. 11), Bd. 2, 1244–1246 (Laurentius 23). 76 Zum laurentianischen Schisma liegt eine nur noch schwer zu überschauende Menge an Untersuchungen vor (vgl. auch den Beitrag von Hans-Ulrich Wiemer in diesem Band). Hier ist vor allem zu nennen Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 87–123; 758–761; Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 230–238; Jeffrey Richards, The Popes and the Papacy in the Early Middle Ages 476–752. London 1979, 55–135. 77 Eckhard Wirbelauer, Zwei Päpste in Rom. Der Konflikt zwischen Laurentius und Symmachus (498–514). Studien und Texte. (Quellen und Forschungen zur antiken Welt 16.) München 1993. Wirbelauer bietet auch eine vorläufige Edition der überlieferten Dokumente und der Publizistik beider Seiten; die von ihm angekündigte kritische Edition ist bisher nicht erschienen. Für den Bezug zum Osten ist außerdem jetzt unbedingt heranzuziehen Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 238–249. 78 Cassiodor, Chronica ad a. 514, ed. Theodor Mommsen, in: MGH Auct. ant. 11. Berlin 1894, 160 (vgl. Anm. 95).
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Symmachus vertrat einen kompromisslosen Kurs gegen Konstantinopel im akakianischen Schisma, Laurentius dagegen ging es im Grunde als Fortsetzer der Bemühungen des Anastasius um einen Ausgleich mit dem Osten. Hinter Laurentius stehen die um eine Annäherung an den Osten bemühten Kräfte des Senats, also diejenigen, die in Felix Dahns einst außerordentlich populärem Roman „Ein Kampf um Rom“ als antigotische Finsterlinge erscheinen.79 Laurentius selbst wird uns kaum irgendwie deutlich. Die Forschung der letzten Jahre hat deutlich herausgearbeitet, dass dieser Konflikt auf keinen Fall wie früher oft ausschließlich als Auseinandersetzung um die Stellung zu Byzanz und in erster Linie theologischer Konflikt gedeutet werden darf. Es geht dabei auch um innerrömische Auseinandersetzungen um den Einfluss in der stadtrömischen Kirche.80 Aufschlussreich und natürlich mit der Papsttheorie eines Gelasius eigentlich völlig unvereinbar ist, dass beide Parteien sich sofort an den arianischen, also eigentlich häretischen König zur Klärung der verfahrenen Situation wenden. Theoderich, dessen Herrschaft in Italien inzwischen konsolidiert und auch vom Kaiser de facto akzeptiert war81, reagiert wie die christlichen Kaiser seit Konstantin und bestätigt nach rein formalen Kriterien (zeitliche Priorität der Wahl und Mehrheit des römischen Klerus) die Wahl des Symmachus.82 Auf einer von Symmachus als Metropolit Italiens 499 einberufenen Synode83 wird Symmachus bestätigt. Laurentius scheint die Entscheidung des Königs akzeptiert zu haben, wie seine Unterschrift zeigt.84 Kurz danach wird er von Symmachus in einem kirchenrechtlich fragwürdigen Verfahren als Bischof nach Nuceria abgeschoben.85 79 Felix Dahn, Ein Kampf um Rom. Leipzig 1876 (seither viele Auflagen). 80 So Hans-Ulrich Wiemer, S. 324 mit Anm. 143, in diesem Band. Da dieser in der Tat sehr wichtige Aspekt, durch den die ältere Forschung nicht unerheblich korrigiert wird, für meine Fragestellung nach verschiedenen Konzepten eines römischen Bischofsamtes, eines Papsttums eher unwichtig ist, belasse ich es hier mit einem Hinweis. Meinem Erlanger Kollegen Hans-Ulrich Wiemer danke ich für den Hinweis, dass dies in der Vortragsform nicht deutlich genug geworden war. 81 Vgl. den Beitrag von Hans-Ulrich Wiemer in diesem Band. 82 Lib. pont., LIII (wie Anm. 47), Bd. 1, 260,4–8: „Et facta intentione hoc constituerunt partes ut ambo ad Ravennam pergerent, ad iudicium regis Theodorici. Qui dum ambo introissent Ravennam, hoc iudicium aequitatis invenit ut qui primo ordinatus fuisset, vel ubi pars maxima cognosceretur, ipse sederet in sedem apostolicam. Quod tamen aequitas in Symmachum invenit cognitio veritatis et factus est praesul Symmachus.“ Die Anhänger des Laurentius behaupteten, dass bei dieser Entscheidung auch Bestechung eine Rolle gespielt habe; vgl. das sog. Fragmentum Laurentianum, ed. Louis Duchesne, Le Liber pontificalis (wie Anm. 47), Bd. 1, 43–46, hier 44: „Tunc coguntur utrique, Symmachus scilicet et Laurentius, regium subituri iudicium petere comitatum: ibi Symmachus multis pecuniis optinet […]“; vgl. Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 10. Zur Rolle Theoderichs in diesem Konflikt vgl. ebd. 12f. und vor allem Hans-Ulrich Wiemer, der die gesamte ältere Literatur verarbeitet hat. 83 Acta synodi a. CCCCXVIII, ed. Theodor Mommsen, in: MGH Auc. ant. 12. Berlin 1894, ND München 1981, 399–415; vgl. Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 13–15. Symmachus heißt hier übrigens immer episcopus ecclesiae catholicae urbis Romae, nur im vermutlich sekundären Titulus Papa. 84 Ebd. 401; 410.
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Das Problem der Doppelwahl schien durch die Entscheidung des Königs gelöst. Nachdem Symmachus nach Arles einen in den Augen seiner Gegner falschen Ostertermin für das Jahr 501 mitgeteilt hatte86, nahmen die Gegner dies (inwieweit Laurentius selbst daran aktiv beteiligt war, scheint unklar) zum Anlass, ihn deswegen und anderer Verfehlungen wie Verschleuderung von Kirchengut und sexueller Eskapaden beim König zu verklagen.87 Die Chronologie der Ereignisse ist im Einzelnen nicht ganz klar, was aber für die hier interessierende Frage keine entscheidende Rolle spielt.88 König Theoderich setzte Petrus von Altinum als Visitator in Rom ein und berief 501/2 mehrere Synoden nach Rom, die sich mit dem Fall des Symmachus zu befassen hatten. Entscheidend ist in dem ganzen in seinen Einzelheiten verwickelten Prozess, dass hier allein Theoderich als Handelnder erscheint. Bei den von ihm einberufenen Synoden handelt es sich um ausschließlich italische Synoden. Nachdem 502 eine römische Synode89 Symmachus von allen Anklagepunkten allein mit der Begründung freigesprochen hatte, dass „geringere Bischöfe keinen Höheren verurteilen dürften“90, was Caspar unter Berufung auf Duchesne nicht zu Unrecht als Freispruch in contumaciam91 bezeichnet hat, brach nun wirklich in Rom ein Schisma zwischen Anhängern des inzwischen nach Rom zurückgeholten Laurentius und Symmachus aus92, das erst Jahre später und auch nur scheinbar wieder durch ein Machtwort des Königs beendet wurde, der befahl, alle Kirchen Symmachus zu übergeben.93 Laurentius zog sich auf ein Landgut des Festus zurück und scheint bald verstorben zu sein.94 Dennoch hat zumindest nach Auffas85 Fragmentum Laurentianum (wie Anm. 82), 44: „Laurentius ad gubernandam ecclesiam Nucerinam, Campaniae civitatem, plurimis coactus minis promissionibusque dirigitur.“ 86 JK 754; Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 17f. 87 Fragmentum Laurentianum (wie Anm. 82), 44. 88 Dazu Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 18–27. 89 Quarta synodus habita Romae Palmaris, ed. Theodor Mommsen, in: MGH Auct. ant. 12. Berlin 1894, ND München 1891, 426–437; Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 25–34 (34 eine Chronologie der Synoden in der Angelegenheit des Symmachus; ich folge hier Wirbelauer; vgl. auch Wiemer, unten S. 324–328). 90 Quarta synodus habita Romae Palmaris (wie Anm. 89), 426,16–427,5: „Memorati pontifices, quibus allegandi inminebat occasio, suggesserunt ipsum, qui dicebatur impetitus, debuisse synhodum convocare, scientes, quia eius sedi primum Petri apostoli meritum vel principatus, deinde secuta iussione domini conciliorum venerandorum auctoritas singularem in ecclesiis tradidit potestatem nec ante dictae sedis antistitem minorum subiacuisse iusicio in propositione simili facile forma aliqua testaretur“; vgl. Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 33. 91 Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 100 (unter Verweis auf Louis Duchesne, L’église au VIe siècle. Paris 1925, 120: „C’était ce qu’on pourrait appeler une absolution par contumace.“). 92 Fragmentum Laurentianum (wie Anm. 82), 45f.: „Sic Laurentius ad urbem veniens per annos circiter quattuor Romanam tenuit ecclesiam; per quae tempora quae bella civila gesta sint, vel quanta homicidia perpetrata, non est praesenti relatione pandendum.“ Vgl. damit die symmachianische Sicht in der Vita des Symmachus im Lib. pont., LIII, 5 (wie Anm. 47), Bd. 1, 260,20–261,10; vgl. Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 47), 34–43. 93 Fragmentum Laurentianum (wie Anm. 82), 46. 94 Fragmentum Laurentianum (wie Anm. 82), 46.
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sung der Anhänger des Laurentius aber auch für Cassiodor das Schisma bis zum Tode des Symmachus 514 fortbestanden.95 Über die Hintergründe der Politik Theoderichs, der diese römische Kirchenspaltung jahrelang geduldet hatte, ist viel spekuliert worden.96 Auffallend erscheint, dass dieses Schisma der Kirche Roms außerhalb kaum zur Kenntnis genommen worden ist. Für Kaiser Anastasios war Symmachus als Bischof von Rom illegitim.97 In Kreisen der kirchenpolitischen Opposition gegen Anastasios hat es allerdings auch in Konstantinopel Anhänger des Symmachus gegeben.98 Avitus von Vienne hatte sich über diese innerrömische Auseinandersetzung informiert und wie die Synode von 502 die Auffassung vertreten, dass Niedere nicht einen Höheren richten dürfen: Zwar befiehlt uns der himmlische Richter den Obrigkeiten dieser Welt untertan zu sein, und schärft uns ein, dass wir vor den Königen und Fürsten in mancher Anklage stehen würden, aber nicht leicht ist zu verstehen, nach welchem Grundsatz oder Gesetz der Höhere von Geringeren gerichtet werden soll. Denn des Apostels bekannter Befehl lautet, dass sogar gegen einen Presbyter keine Anklage erhoben werden dürfe (1Tim 5,19), was ist davon zu halten ob gegen den Prinzipat der allgemeinen Kirche Anschuldigungen gestattet seien?99
Gerade für die auch immer wieder bedrängten katholischen Christen unter barbarischer und häretischer Herrschaft ist Rom das einigende Band, das sie mit der Gesamtkirche verbindet.100 Interessant erscheint für die Frage nach einem Papstverständnis bei Symmachus die in diesem Zusammenhang entstandene Publizistik, bei der es sich um fingierte Texte angeblicher Synoden und Entscheidungen früherer Päpste handelt, über deren Erfolg in der aktuellen Auseinandersetzung sich kaum etwas sagen lässt, die aber für die Zukunft sehr folgenreich werden sollten.101 95 Cassiodor, Chron. ad a. 514 (wie Anm. 78), 160: „Me etiam consule in vestrorum laude temporum adunato clero vel populo Romanae ecclesiae rediit optata concordia.“ 96 Vgl. den Beitrag von Hans-Ulrich Wiemer in diesem Band. 97 Epistula Symmachi ad Anastasium imperatorem (JK 761); Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 154,21: „Dicis me non ordine consecratum […].“ (Der ganze Brief 153–157.) 98 Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 118–122; Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 247– 249. 99 Avitus von Vienne, Ep. 34, ed. Rudolf Peiper, in: MGH Auct. ant. 6/2. Berlin 1883, 64,19– 23: „Quia sicut subditos nos esse terrenis potestatibus iubet arbiter caeli, staturos nos ante reges et principes in quacumque accusatione praedicens: ita non facile datur intellegi, qua vel ratione vel lege ab inferioribus eminentior iudicetur. Nam cum celebri praecepto apostolus clamet accusationem vel in presbyterum recipi non debere, quid in principatum generalis ecclesiae criminationibus licere censendum est?“ Übersetzung nach Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 105 (dort eine Interpretation des ganzen Briefes); Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 61–65. 100 Uta Heil, Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder. (Patristische Texte und Studien 66.) Berlin/Boston 2011, 39; 41. 101 Eine vorläufige Edition der symmachianischen Fälschungen mit deutscher Übersetzung bei Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 226–342; seine angekündigte kritische Edition ist bisher nicht erschienen.
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Eckehard Wirbelauer hat in der Einzelanalyse dieser Texte gezeigt, dass und wie sie ganz auf die gegen Symmachus erhobenen Anklagen hin fingiert sind.102 Da Symmachus in diesen Texten gleichsam durch prominente Vorgänger (vor allem natürlich Silvester, aber auch Liberius, Marcellinus und Sixtus) rehabilitiert wird, erhebt sich die Frage nach einer Papsttheorie in diesen Fälschungen bzw. bei Symmachus und seinem Kreis.103 Ohne das hier an allen Beispielen im Einzelnen durchführen zu können, ist auffallend, dass bei dem angeblich treuen Fortsetzer der Papsttheorie des Gelasius diese hier auf den einen Grundsatz zusammengeschmolzen ist: „Prima sedes a nemine iudicatur.“104 Wahrscheinlich erst nach dem endgültigen Urteil Theoderichs für Symmachus ist ein sehr heftiger Brief des Kaisers an Symmachus ergangen, in dem der Kaiser Symmachus’ Episkopat als illegitim ansieht.105 In seiner Antwort versucht Symmachus im Anschluss an Gelasius eine Papsttheorie zu entwerfen, was ihm aber gründlich misslingt. Im Unterschied zu Gelasius’ Differenzierung von auctoritas und potestas vergleicht Symmachus kaiserlichen und päpstlichen honor, um beide letztlich gleichzusetzen – ein ziemlich groteskes Missverständnis der Theorie des Verhältnisses von Kaiser und Papst, wie es Gelasius entworfen hatte: Wir wollen die Ehrenstellung des Kaisers mit der des Bischofs vergleichen; zwischen ihnen besteht ein Abstand in soweit, als jener die menschlichen Dinge leitet, dieser die göttlichen. Du, Kaiser, empfängst vom Bischof die Taufe, erhältst die Sakramente, forderst das Gebet, erhoffst die Segnung, erbittest die Buße. Schließlich verwaltest Du die menschlichen Angelegenheiten, jener aber teilt Dir das Göttliche zu. Deswegen ist die Ehrenstellung ich will nicht sagen höher, aber sicherlich gleich. … Denn vornehmlich durch diese zwei Ämter wird das Menschengeschlecht regiert …106
Aus Konstantinopel ist keine Reaktion auf diese merkwürdige Anknüpfung an Gelasius überliefert, und wohl auch angesichts der Wendung der Kirchenpolitik des Anastasios zu einem deutlicher miaphysitischen Kurs nicht zu erwarten.107 Am ehesten wird man den vermutlich im Auftrag der römischen Synode von 502, die Symmachus rehabilitiert hatte, von dem Mailänder Kleriker Ennodius
102 Ebd. 66–169. 103 Ich gestehe, dass ich Wirbelauers Vorschlag, den negativ besetzten Begriff Fälschungen durch Dokumente zu ersetzen, nicht so ganz überzeugend finde; vgl. Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 6. 104 Das zieht sich als eine Art cantus firmus durch alle gefälschten Synodalakten. 105 Aus der Antwort des Symmachus (JK 761) nur noch zu erschließen (vgl. Anm. 97). 106 Schwartz, Publizistische Sammlungen (wie Anm. 23), 154,31–155,6: „[C]onferimus autem honorem imperatoris cum honore pontificis, inter hos quantum distat quantum ille rerum humanarum principatum gerit, iste divinarum. Tu imperator, a pontifice baptismum accipis, sacramenta sumis, orationem poscis, benedictionem speras, paenitentiam rogas. Postremo tu humana amministras, ille tibi divina dispensat. Itaque ut non dicam superior, certe aequalis honor est […] quia his praecipue duobus officiis regitur humanum genus […].“ 107 Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 248f.
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verfassten Liber adversus eos qui contra synodum scribere praesumpserunt108 als ein Plädoyer in Anknüpfung an die Papsttheorie des Gelasius ansehen können.109 Ennodius hatte diese Schrift gegen einen aus den Kreisen um Laurentius in Rom verbreiteten anonymen Traktat Adversus synodum absolutionis incongruae gerichtet. Leider ist diese offenbar ziemlich polemische kleine Schrift verloren und nur in Grundzügen aus der Erwiderung des Ennodius zu rekonstruieren.110 Nach meinem Eindruck ging es hier nicht nur um die aktuelle Frage der Doppelwahl und die sich daraus ergebenden Folgen eines stadtrömischen Schismas, sondern in dieser verlorenen Schrift wird eine ganz andere Vorstellung vom römischen Bischofsamt deutlich, die nicht von Gelasius herkommt und nichts mit ihm zu tun hat. Der oder die Verfasser betonen, dass selbstverständlich der römische Bischof gerichtet werden kann und eventuell auch muss: Sie sagen nämlich: „Wenn die Behauptung der Bischöfe wahr ist, dass noch niemals ein Vorsteher des apostolischen Stuhles dem Urteil Geringerer unterworfen gewesen ist, warum ist er dann mit strikter Ladung zum Gericht geführt worden?“111
Die Privilegien des apostolischen Stuhles können kein Freibrief zum Sündigen sein: Wir sind nicht der Auffassung, dass der glückselige Petrus, wie ihr behauptet, oder seine Nachfolger vom Herrn mit den Privilegien seines Sitzes auch die Freiheit zu sündigen erhalten habe.112
Natürlich kann nicht nur der Inhaber der cathedra Petri Synoden einberufen, sonst wären alle Provinzialsynoden ungültig: Folglich haben die Synoden der Priester, die nach den Gesetzen der Kirche jährlich in den Provinzen beschlossen werden, deswegen, weil sie die Anwesenheit des Papstes nicht haben, ihre Gültigkeit verloren?113
108 Ennodius, Libellus pro synodo [CPL 1493], ed. Friedrich Vogel, in: MGH Auct. ant. 7. Berlin 1885, 48–67; vgl. Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 103f.; Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 150–154. Ich danke meinem Kollegen Hans-Ulrich Wiemer, der mir seine vorläufige deutsche Übersetzung zur Verfügung gestellt hat, die ich hier dankbar benutzt habe. 109 Die für Gelasius typischen terminologischen Differenzierungen fehlen aber auch hier weithin. 110 Bei Andreas Thiel, Epistulae Romanorum Pontificum genuinae. I. A. S. Hilaro usque ad S. Hormisdam. Ann. 461–523. Brunsberg 1868, 734–737; dazu Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 101–103. Der Titel des anonymen Traktates nach Ennodius, Liber pro synodo, 7 (wie Anm. 108), 49,29: Liber adversus eos qui contra synodum scribere praesumpserunt. 111 Ennodius, Libellus pro synodo, 32 (wie Anm. 108), 53,16–18: „[A]iunt enim: ‚si vera est episcoporum adsertio, sedis apostolicae praesulem minorum numquam subiacuisse sententiae, cur ad iudicium districta conventione productus est?‘“ 112 Ennodius, Libellus pro synodo, 24 (wie Anm. 108), 52,13–15: „[N]on nos beatum Petrum, ‚sicut dicitis‘, a domino cum sedis privilegiis vel successores eius peccandi iudicamus licentiam suscepisse.“ 113 Ennodius, Libellus pro synodo, 80 (wie Anm. 108), 60,7–9: „[E]rgo concilia sacerdotum ecclesiasticis legibus quotannis decreta per provincias, quia praesentiam papae non habent, valitudinem perdiderunt?“
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Deutlich ist, dass hier auch dem römischen Bischof im Grunde die Institution Synode vorgeordnet ist. Auch Cassiodor114 und Eugipp115, der mit dem laurentianischen Presbyter Paschasius116 in Briefwechsel stand, müssen m.E. als Kritiker in jedem Fall des Symmachus, vielleicht aber auch seiner Vorstellung von einem Papsttum angesehen werden.117 Bei aller Unsicherheit im Einzelnen wird in den bei Ennodius polemisch überlieferten Fragmenten der anonymen Schrift Adversus synodum absolutionis incongruae ein Konzept eines römischen Bischofsamtes zumindest in Umrissen deutlich, das kaum mehr etwas mit Gelasius gemein hat und bei dem man fragen kann, ob es sich überhaupt um ein Konzept eines Papsttums in Anknüpfung an Theorien eines Papsttums in der Tradition eines Damasus, Leo und vor allem Gelasius handelt, oder ob es sich hier nicht sogar um eine nicht papale Sicht eines römischen Bischofsamtes handelt. VIII. DIE KIRCHE DES FRÄNKISCHEN REICHES UND DAS PAPSTTUM Nach Walter Ullmann war die seit Chlodwigs Bekehrung zum Christentum an der Wende zum 6. Jahrhundert entstehende katholische Kirche des fränkischen Reiches, die die Strukturen der vorfränkischen gallischen Kirche in vieler Hinsicht aufnahm und nun allerdings im Sinne einer fränkischen Reichskirche fortsetzte, eine römische Kirche. Die Franken, so Ullmann, wurden so „zum Werkzeug in der Hand des Papstes“.118 In der Korrespondenz der römischen Bischöfe Gelasius, Anastasius und Symmachus hat aber die Bekehrung der Franken zum Katholizismus keinerlei Spuren hinterlassen.119 Dieses Defizit hat den natürlich an einer engen Rombindung der französischen Kirche zum Papsttum interessierten französischen Oratorianer Jérôme Vignier im 17. Jahrhundert veranlasst, ein Glückwunschschreiben
114 Cassiodor, Chron. (wie Anm. 78), 160, erwähnt anlässlich des Rombesuchs Symmachus mit keinem Wort. Vgl. dagegen Anonymus Valesianus [= Excerpta Valesiana], c. 65, ed. Jacques Moreau. Leipzig 1968, 19,14–18: „[P]ost factam pacem in urbis ecclesia ambulavit rex Theodoricus Romam et occurrit beato Petro ac si catholicus. Cui Papa Symmachus et cunctus senatus vel populus Romanus cum omnio gaudio extra urbem occurentes.“ – Ingmar König, Aus der Zeit Theoderichs des Großen. (Texte zur Forschung 69.) Darmstadt 1997, 161, übergeht in seinem Kommentar zur Stelle diesen eklatanten Widerspruch zwischen Cassiodor und dem Anonymus Valesianus. 115 Piétri/Piétri (Hrsgg.), Prosopographie (wie Anm. 11), Bd. 2, 676–679. 116 Piétri/Piétri (Hrsgg.), Prosopographie (wie Anm. 11), Bd. 2, 1606 (Paschasius 14); vgl. die in der Überlieferung der Vita Severini vorangestellten Briefe: Eugipp, Vita Severini, ed. Philipp Régerat, in: SC 374. Paris 1991, 146–161. 117 So im Prinzip auch Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 77), 17. 118 Ullmann, Papsttum (wie Anm. 7 ), 32f. 119 JK 619–769.
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von Papst Anastasius II. an Chlodwig anlässlich dessen Bekehrung zu fabrizieren, das übrigens noch heute gelegentlich als echt angesehen wird.120 Noch Symmachus schreibt nach Arles an die gallischen Bischöfe als eine Einheit.121 Der Vikariat von Arles122, den Symmachus zu erneuern versuchte, war angesichts der verschiedenen politischen Herrschaftsbildungen auf dem Boden Galliens im Grunde ein Anachronismus, dies umso mehr, als Arles seit 507 zum italischen Herrschaftsbereich Theoderichs gehörte. 511, im Jahr seines Todes, berief Chlodwig die einzige während seiner Herrschaft bezeugte Synode der Kirche des fränkischen Reiches nach Orléans ein123, das bis 507 noch westgotisch gewesen war. Die Synodalakten beginnen mit einem devoten Brief der Bischöfe an den König, der als allein Handelnder vorgestellt wird.124 Die Synodalakten lassen keinerlei Verbindungen zum römischen Bischof, geschweige denn eine Unterordnung der fränkischen Kirche unter Rom erkennen. Für die katholische fränkische Kirche ist ein ihr irgendwie übergeordnetes Papsttum nicht erkennbar.125 Gregor von Tours zeichnet Chlodwig in Parallele zu Kaiser Konstantin, was aber keine Erfindung Gregors gewesen zu sein scheint: Er ging, ein neuer Konstantin, zum Taufbade hin, sich rein zu waschen von dem alten Aussatz126 und sich von den schmutzigen Flecken, die er von alters her gehabt, im frischen Wasser zu reinigen.127
In deutlicher Anspielung auf Konstantin hatte Chlodwig sich in Paris eine Apostelkirche als Grabstätte errichtet.128 Für Gregor ist Remigius von Reims129, der 120 JK 745. Dazu Caspar, Papsttum (wie Anm. 16), Bd. 2, 762 (dort auch über die Verteidigung der Echtheit des Briefes bis in das 20. Jh.); vgl. Luce Piétri, Die Durchsetzung des nicänischen Bekenntnisses in Gallien, in: Piétri (Hrsg.), Westen und Osten (wie Anm. 18), 359 mit Anm. 53. Über Vignier als Fälscher von Papstbriefen Hugo Rahner, Die gefälschten Papstbriefe aus dem Nachlass von Jerôme Vignier. Freiburg 1935. 121 JK 753; 754; 769. 122 Luce Piétri, Die Kirche des regnum Francorum, in: Piétri (Hrsg.), Westen und Osten (wie Anm. 18), 794–850. 123 Concilium Aurelianense a. 511, ed. Charles de Clercq, in: CCSL 148A. Turnhout 1963, 3– 19. Außer der Adresse an Chlodwig sind 31 canones und eine in der handschriftlichen Überlieferung unterschiedliche Subskriptionsliste überliefert. 124 Conc. Aurel. (wie Anm. 123), 4,1–10: „Domno suo catholicae ecclesiae filio Chlothouecho gloriosissimo regi omnes sacerdotes, quos ad concilium uenire iussistis. Qui tanta ad religionis catholicae cultum gloriosae fidei cura uos excitat, ut sacerdotalis mentis affectum sacerdotes de rebus necessariis tractaturos in unum collegi iusseritis, secundum uoluntates uestrae consultationem et titulos, quos dedistis, ea quae nobis uisum est definitione respondimus; ita ut, si ea quae nos statuimus etiam uestro recta esse iudicio conprobantur, tanti consensus regis ac domini maiori auctoritate seruandam tantorum firmet sententiam sacerdotum.“ 125 Piétri, Gallien (wie Anm. 120), 352–375; 794–850. 126 Anspielung auf die Actus S. Silvestri (Konstantin durch Silvester vom Aussatz geheilt); vgl. Anm. 15. 127 Gregor von Tours, Historiarum libri decem, II, 31, ed. Rudolf Buchner, in: Zehn Bücher Geschichten, Bd. 1. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 2.) 4. Aufl. Darmstadt 1970, 118,15–17: „Procedit novus Constantinus ad lavacrum, deleturus leprae veteris morbum sordentesque maculas gestas antiquitus recenti latice deleturus.“ Die deutsche Übersetzung nach Buchner, ebd. 119,19–21.
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Chlodwig getauft hatte, Silvester von Rom (für ihn der Täufer Konstantins) ebenbürtig: Es war nämlich der heilige Bischof Remigius ein Mann von hoher Wissenschaft und besonders in der Kunst der Beredsamkeit erfahren, aber auch durch Heiligkeit zeichnete er sich aus, dass er an Wundertaten dem Silvester gleich kam.130
Weder das akakianische noch das laurentianische Schisma scheinen für die fränkische Kirche irgendeine Bedeutung gehabt zu haben, wie gerade auch die guten politischen Beziehungen Chlodwigs zu Byzanz deutlich machen.131 Auch der katholische Metropolit im benachbarten Burgunderreich, Avitus von Vienne132, der angesichts seiner ganz anderen Situation durchaus einen römischen Primat als einigendes Band für die unter arianischer Herrschaft lebenden Katholiken angesehen hatte, scheint über das akakianische Schisma nicht genauer informiert gewesen zu sein. In seinem Glückwunschschreiben an Chlodwig freut er sich darüber, dass es nun neben dem rechtgläubigen Kaiser in Konstantinopel auch im Westen einen rechtgläubigen König gebe.133 Auch in der späteren fränkischen Geschichtsschreibung eines Gregor oder Fredegar ist keinerlei Bezug der fränkischen Kirche nach Rom erkennbar. In diesem Zusammenhang erscheint eine Episode in der Vita des Remigius interessant (VI–VIII): Die Eltern eines besessenen Mädchens wenden sich nach Rom, wo am Grabe des heiligen Petrus, also in St. Peter, ein Gottesmann Wunderheilungen vollbringen kann. Aber der vermag bei dem kranken Mädchen nichts zu erreichen, nur Remigius in Reims kann Hilfe bringen.134 Die Distanz der fränkischen Kirche zu Rom kann wohl kaum deutlicher ausgedrückt werden. Die fränkische Kirche hat also den christlichen Glauben nicht in seiner römischen 128 Gregor von Tours, Hist., II, 43 (wie Anm. 127), 140,7–9: „His ita transactis, apud Parisius obiit, sepultusque in basilica sanctorum apostolorum, quam cum Chrodechilde regina ipse construxerat.“ Zur Apostelkirche in Konstantinopel als das von Konstantin für sich errichtete Mausoleum vgl. Euseb, Vita Constantini IV, 58–60. 129 Knut Schäferdiek, Remigius von Reims. Kirchenmann einer Umbruchszeit, in: Knut Schäferdiek, Schwellenzeiten. Beiträge zur Geschichte des Christentums in Spätantike und Frühmittelalter, hg. von Winrich A. Löhr/Hanns Christof Brennecke. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 64.) Berlin/New York 1996, 305–328 (zuerst erschienen in: ZKG 94, 1983, 256–278). 130 Gregor von Tours, Hist., II, 31 (wie Anm. 127), 118,19–21: „Erat autem sanctus Remegius episcopus egregiae scientiae et rethoricis adprimum inbutus studiis, sed et sanctitate ita praelatus, ut Silvestri virtutebus equaretur.“ Die deutsche Übersetzung nach Buchner, ebd. 119,24–27. 131 Gregor von Tours, Hist., II, 38 (wie Anm. 127); vgl. dazu ausführlich Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 227–238. 132 Heil, Avitus von Vienne (wie Anm. 100). 133 Avitus von Vienne, Ep. 46, ed. Rudolf Peiper (wie Anm. 99), 75,17–19: „Gaudeat equidem Graecia principem legisse nostrum: sed non iam quae tanti muneris donum sola mereatur. Illustrat tuum quoque orbem claritas sua, et occiduis partibus in rege non novi iubaris lumen effulgurat.“ Vgl. dazu Piétri, Gallien (wie Anm. 120), 359; Meier, Anastasios I. (wie Anm. 25), 235f. 134 Vita Remigii, c. 6–8, ed. Bruno Krusch, in: MGH Auct. ant. 4/2. Berlin 1885, 66f.; Schäferdiek, Remigius von Reims (wie Anm. 129), 305–307.
Zwischen Byzanz und Ravenna
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Form angenommen, sondern in der seit Kaiser Theodosius für das Imperium Romanum verbindlichen Form der nizänischen Orthodoxie, die eben auch von der römischen Kirche (d.h. der Kirche der Stadt Rom!) vertreten wurde. Ein römischer Primat spielt für die fränkische Kirche seit Chlodwig für mehr als zwei Jahrhunderte noch keine Rolle. Sakraler Bezugspunkt für die Franken sind der heilige Martin und sein Grab in Tours135, dann Genovefas Grab in Paris.136 FAZIT Kann man angesichts dieses Befundes überhaupt um 500 von einem Papsttum sprechen? Sicher nicht im Sinne des Mittelalters und auch nicht des heutigen Codex Iuris Canonici.137 Hinsichtlich des akakianischen Schismas stellt sich auch die Frage, ob man überhaupt von einem Schisma zwischen Ost und West sprechen sollte, oder nicht besser von einem Schisma zwischen Rom und dem Osten, da offenbar auch im lateinischen Westen dieses Schisma außerhalb Roms noch nicht einmal einem Avitus von Vienne wirklich bekannt war. Mit Gelasius war sicher der Höhepunkt einer Papsttheorie in der Spätantike erreicht, die systematisch ältere Versatzstücke neu zu einer Lehre vom Papsttum vereint hatte. Angesichts der politischen Situation des Imperium Romanum an der Wende zum 6. Jahrhundert und vor allem des ehemaligen weströmischen Reiches hatte diese Papsttheorie eigentlich keinen Bezug zur Realität. Offenbar hat Gelasius’ Theorie vom Papsttum bei seinen Nachfolgern auch keine Rolle mehr gespielt. Symmachus ist kein Vertreter der gelasianischen Papsttheorie, der laurentianische Kreis – über Laurentius selbst lässt sich kaum etwas sagen – hat die Vorstellungen des Gelasius sogar erheblich zu korrigieren versucht und – so erscheint es jedenfalls – einen Episkopalismus vertreten, bei dem dem römischen Bischof kein Jurisdiktions- und Lehrprimat zukam. Am nächsten scheint noch Ennodius, der spätere Bischof von Pavia, den Gedanken des Gelasius gestanden zu haben. Wie die Anfänge der katholischen Kirche des fränkischen Reiches und dann vor allem auch die am Ende des Jahrhunderts zum Katholizismus konvertierten Westgoten deutlich machen, wird man im 6. Jahrhundert auch nur sehr eingeschränkt von einem Papsttum als führender kirchlicher Kraft im Abendland sprechen können.
135 Piétri, Gallien (wie Anm. 120), 257f. 136 Ebd. 367. 137 CIC, 1983, can. 330–367.
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Dennoch sind die Texte aus der Zeit, in der man eigentlich nicht von einem Papsttum sprechen kann, für die Ausformulierung des mittelalterlichen Papsttums von ungeheurer Bedeutung gewesen138, aber das lag um 500 und dann noch eine ganze Weile in weiter Ferne.
138 Sie sind dann in das Corpus Iuris Canonici eingegangen; vgl. Salvatore Vacca, Prima sedis a nemine iudicatur. Rom 1993.
DER NIKA-AUFSTAND, SENATORENFAMILIEN UND JUSTINIANS BAUPROGRAMM Wolfram Brandes I. VORBEMERKUNGEN Auch die lange Regierungszeit Justinians (527–565)1 erlebte einige Verschwörungen, Umsturzversuche und andere Vorkommnisse, die seitens des Kaisers durch Hochverratsprozesse beendet und durch die die Beteiligten (ob zu Recht oder auch nicht, ist eine andere Frage) sanktioniert wurden. Eines der bekanntesten Ereignisse dieser Zeit, der sog. Nika-Aufstand und seine Folgen, stehen im Zentrum dieser Untersuchung. Einige Studien zu einer Anzahl derartiger Prozesse (maiestas, καθοσίωσις, auch ἀσέβεια)2 wurden bereits publiziert, insbesondere über die Hochverratspro 1
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Siehe zu ihm Mischa Meier, Das andere Zeitalter Justinians. Kontingenzerfahrung und Kontingenzbewältigung im 6. Jahrhundert. (Hypomnemata 147.) 2. Aufl. Göttingen 2004; James A. S. Evans, The Emperor Justinian and the Byzantine Empire. Westport, CT/London 2005; und jetzt Hartmut Leppin, Justinian. Das christliche Experiment. Stuttgart 2011 (mit ausführlicher und aktueller Bibliographie). Von den älteren Darstellungen sind immer noch wichtig (trotz aller Vorbehalte): Berthold Rubin, Das Zeitalter Justinians, I–II. Berlin 1960/1995; und natürlich die einzelnen Beiträge in: Michael Maas (Hrsg.), The Cambridge Companion to the Age of Justinian. Cambridge 2005; sowie Averil Cameron/Bryan Ward-Perkins/Michael Whitby (Edd.), Cambridge Ancient History, XIV: Late Antiquity: Empire and Successors, A.D. 425–600. Cambridge 2000; dazu jetzt der sehr nützliche Sammelband: Mischa Meier (Hrsg.), Justinian. (Neue Wege der Forschung.) Darmstadt 2011. Die Vielzahl neuerer Justinianmonographien listet Hartmut Leppin, (K)ein Zeitalter Justinians – Bemerkungen aus althistorischer Sicht zu Justinian in der jüngeren Forschung, a. a. O., 33 mit Anm. 10, auf. Klassisch bleiben die Handbücher von Ernst Stein, Histoire du Bas-Empire II. Paris/Brüssel 1949 (Ndr. Amsterdam 1968) und Arnold H.M. Jones, The Later Roman Empire (184–602), I–III. Oxford 1964 (diverse Nachdrucke). Extensive Bibliographie bei Karl L. Noethlichs, in: Reallexikon für Antike und Christentum 19, 2001, 668–763 (s.v. Iustinianus). Die umfangreiche Monographie von Georges Tate, Justinien: L’épopée de l’Empire d’Orient (527–565). Paris 2004 ist mir momentan nicht zugänglich. Für nützliche Hinweise danke ich Arne Effenberger und ganz besonders Hans-Ulrich Wiemer. Siehe zur Vorgeschichte des „Hochverrats“ in der römischen Rechtsgeschichte etwa Christoph H. Brecht, Perduellio. Eine Studie zu ihrer begrifflichen Abgrenzung im römischen Strafrecht bis zum Ausgang der Republik. (Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte 29.) München 1938; ders., Perduellio und Crimen maiestatis, in: ZRG RA 64, 1944, 544–559; Bernhard Kübler, in: RE XIV, 1930, 544–559 (s.v. maiestas); Martin Avenarius, in: Realenzyklopädie für Antike und Christentum XXIII, 2010, 1135–1156
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zesse gegen Maximos Homologetes und Papst Martin I. in der Mitte des 7. Jahrhunderts und über diverse Verfahren aus dem 9. bis 13. Jahrhundert, bei denen die Benutzung verschiedener Formen von Kaiservaticinien und eigens fabrizierter (pseudo-) apokalyptischer Schriften mit einer gegen die jeweilig regierenden Kaiser gerichteten Tendenz eine zentrale Rolle spielten.3 In diesen Fällen verfügen wir über z.T. ausführliche Berichte über den Verlauf, die Anklagepunkte, die Zusammensetzung des Gerichts und den allgemeinen politischen und sozialen Hintergrund. Die hier behandelten Vorgänge in den 30er Jahren des 6. Jahrhunderts sind erstaunlicherweise viel schlechter dokumentiert, zumindest bezüglich der konkreten Vorgehensweise des Kaisers bzw. seiner zuständigen Behörden und deren Repräsentanten. Als Akteur tritt in den einschlägigen Quellen – Prokop insbesondere, aber auch Johannes Malalas und den anderen4 – vor allem der Kaiser auf.5 Dieser
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(s.v. maiestas [crimen maiestatis]) (mit neuerer Literatur); Theodor Mommsen, Römisches Strafrecht. Leipzig 1899, bes. 537ff.; kurz zur byzantinischen Zeit Karl E. Zachariae von Lingenthal, Geschichte des griechisch-römischen Rechts. 3. Aufl. Aalen 1955, 336f.; Spyros Troianos, Ὁ „ποινάλιος“ τοῦ Ἐκλαδίου. (Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte 6.) Frankfurt am Main 1980, bes. 10–12; Kalliope A. Mpurdara, Καθοσίωσις καὶ τυραννὶς κατὰ τοὺς μέσους βυζαντινοὺς χρόνους. Μακεδονικὴ δυναστεία (867–1076). Athen 1981; dies., Τὸ ἒγκλημα καθοσιώσεως τὴς περὶοδο τῆς εἰκονομαχίας, in: Vassiliki A. Leontaritou/Kalliopi A. Bourdara/Eleftheria Sp. Papagianni (Hrsgg.), Antecessor. Festschrift für Sypros N. Troianos zum 80. Geburtstag. Athen 2013, 1035–1110 mit weiterer Literatur in Anm. 6 (S. 1037); neuere Literatur und einschlägige Belege bei Edmond Frézouls, De la ‚maiestas populi Romani’ à la maiesté impériale, in: Heinz Duchhardt/Richard A. Jackson/David Sturdy (Hrsgg.), European Monarchy. Its Evolution and Practice from Roman Antiquity to Modern Times. Stuttgart 1992, 17–25; Jürgen Weitzel, Das Majestätsverbrechen zwischen römischer Spätantike und fränkischem Mittelalter, in: Jürgen Weitzel (Hrsg.), Hoheitliches Strafen in der Spätantike und im frühen Mittelalter. Köln/Weimar/Wien 2002, 47–83, bes. 47–50. Wolfram Brandes, „Juristische“ Krisenbewältigung im 7. Jahrhundert? Die Prozesse gegen Martin I. und Maximos Homologetes, in: Fontes Minores 10, 1998, 141–212; ders., Kaiserprophetien und Hochverrat. Apokalyptische Schriften und Kaiservaticinien als Medium antikaiserlicher Propaganda, in: Wolfram Brandes/Felicitas Schmieder (Hrsgg.), Endzeiten. Eschatologie in den monotheistischen Weltreligionen. (Millennium-Studien 16.) Berlin/New York 2008, 157–200. Siehe bes. die Hauptquellen: Ioannis Malalae Chronographia, rec. Johannes Thurn. (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 35.) Berlin/New York 2000, 394–401; vgl. die deutsche Übersetzung Johannes Malalas, Weltchronik, übersetzt von Johannes Thurn (†)/Mischa Meier. (Bibliothek der griechischen Literatur 69.) Stuttgart 2009, 489–497; Procopii Caesariensis opera omnia, rec. Jakob Haury, I: De bellis libri I–IV. Leipzig 1962, 123,6–134,3 (Bell. Pers. I.24); Marcellini Chronicon, ed. Theodor Mommsen. (MGH Auctores antiquissimi XI = Chronica Minora II.) Berlin 1904, 103,14–25, auch in: Brian Croke, The Chronicle of Marcellinus. (Byzantina Australiensia 7.) Sydney 1995, 44 (vgl. auch den Kommentar a.a.O. 125f.); Chronicon Paschale, rec. Ludwig Dindorf. Bonn 1832, 620–626; vgl. auch Mary Whitby/Michael Whitby, Chronicon Paschale, 284 – 628 AD. (Translated Texts for Historians 7.) Liverpool 1989, 114–126 (mit nützlichen Anmerkungen); Theophanis Chronographia, rec. Carl de Boor, I. Leipzig 1883, 181,24–186,2; vgl. auch Cyril Mango/Roger Scott, The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History, AD 284–813. Oxford
Der Nika-Aufstand
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Eindruck ist auf der einen Seite sicher den realen Machtverhältnissen geschuldet. Dem Kaiser kam die endgültige Entscheidung in Hochverratsprozessen zu.6 Auf der anderen Seite galt das römische Recht, und ein regulärer Prozess sollte nach den gültigen rechtlichen Bestimmungen verlaufen. Der Kaiser befahl die Verbannung und Enteignung tatsächlicher oder vermeintlicher Hochverräter. Dass diese Befehle von den zuständigen Behörden exekutiert wurden, und dass dies auch im vom Römischen Recht vorgesehen Rahmen geschah, kann man getrost voraussetzen – vergessen wir nicht, dass wir gerade von den Jahren sprechen, in denen das Corpus Iuris Civilis entstand und die Rechtswissenschaft in hoher Blüte stand. Es genügt, an Tribonian und seine juristische Kommission, die Digesten, den Codex Iustinianus und die Institutionen zu erinnern.7 Mit anderen Worten: Man hat mit einem funktionierenden Rechtssystem zu rechnen, und entsprechend sind die Regularien des Römischen Rechts in einer Analyse der hier behandelten historischen Vorgänge (der Nika-Aufstand und sein historisches Umfeld) einzubeziehen. Im Zentrum dieser Ausführungen stehen der Nika-Aufstand, seine Folgen für einen Teil der sog. Senatsaristokratie8 und – in diesem Kontext – bestimmte Vorgänge in einigen Bereichen der Finanzverwaltungen und einige legislative Maß
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1987, 276–280; Geoffrey Greatrex/Cornelia B. Horn (Edd.), The Chronicle of PseudoZachariah Rhetor. Church and War in Late Antiquity. (Translated Texts for Historians 55.) Liverpool 2011, 343; Übersicht über die Quellen (nebst eingehender Analyse) bei Mischa Meier, Die Inszenierung einer Katastrophe: Justinian und der Nika-Aufstand, in: ZPE 142, 2003, 273–300 und bei Geoffrey Greatrex, The Nika Riot a Reappraisel, in: JHS 177, 1997, 60–86; siehe schon John B. Bury, The Nika Riot, in: JHS 17, 1897, 92–119; Christian Gizewski, Zur Normativität und Struktur der Verfassungsverhältnisse in der späteren römischen Kaiserzeit. (Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte 81.) München 1988, 153ff. und passim; Franz Tinnefeld, Die frühbyzantinische Gesellschaft. München 1977, bes. 77ff. Siehe jetzt auch Télemaque C. Lounghis, La sédition de Nika d’ après les sources Byzantines, in: Antecessor (wie Anm. 2), 917–936 sowie Peter N. Bell, Social Conflict in the Age of Justinian. Oxford 2013. Zum Kaisertum in der hier behandelten Phase der Regierung Justinians (in die auch das große Kodifikationsprojekt fällt) siehe Leppin, Justinian (wie Anm. 1), 116–126; Meier, Das andere Zeitalter Justinians (wie Anm. 1), 101–179, jeweils mit der älteren Literatur. Siehe Zachariä von Lingenthal, Geschichte (wie Anm. 2), 336f.; Mommsen, Strafrecht (wie Anm. 2), 588; Bernardo Santalucia, Diritto e processo penale nell’antica Roma. 2. Aufl. Milano 1998, 216f., 256f.; vgl. auch Noethlichs, in: Reallexikon für Antike und Christentum 19, 2001, 705–708. Zum Verfahren siehe Dieter Simon, Untersuchungen zum justinianischen Zivilprozeß. (Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und antiken Rechtsgeschichte 54.) München 1969. Siehe Leopold Wenger, Die Quellen des römischen Rechts. Wien 1953, 570ff.; Thomas Honoré, Tribonian. London 1978; Herman J. Scheltema, L’enseignement de droit des antécesseurs. Leiden 1970; Leppin, Justinian (wie Anm. 1), 167–170. Zum Begriff der „Senatsaristokratie“ und den damit verbundenen Problemen siehe John Haldon, Social Élites, Wealth and Power, in: John Haldon (Hrsg.), The Social History of Byzantium. Oxford 2009, 168–211, bes. 175f.; siehe jetzt auch Aleksandra A. Čekalova, Senat i senatorskaja aristokratija Konstantinopolja IV – pervaja polovina VII veka. Moskau 2010.
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Wolfram Brandes
nahmen Justinians, die – allgemein gesprochen – mit Geld, Krediten und Zinsen zu tun hatten. Es geht darum zu zeigen (was eigentlich selbstverständlich ist), dass Justinians Innenpolitik, insbesondere seine Finanzpolitik, mit anderen Komponenten derselben eng verflochten war, und dass eine Beschränkung der Behandlung des Nika-Aufstandes auf die „bloßen“ Ereignisse diesem zentralen Ereignis der ersten Phase9 der Regierungszeit Justinians nicht gerecht wird. Alle politischen Maßnahmen, die insbesondere in der Gesetzgebung – auch wenn diese scheinbar und auf den ersten Blick keine Relevanz für bestimmte politische Entscheidungen und Maßnahmen hatte – ihren Ausdruck fanden, sind als interdependente Phänomene zu sehen und müssen entsprechend behandelt werden. Das klingt wie eine billige Binsenweisheit, und doch wurde dies zu oft unterlassen. II. DER FINANZBEDARF JUSTINIANS Schon während früherer Untersuchungen zur früh- bzw. mittelbyzantinischen Finanzverwaltung10 suchte ich nach Zeichen eines Einflusses des gigantischen Bauprogramms Justinians, mit der Hagia Sophia als allbekanntes und herausragendes Beispiel an führender Stelle, auf die Verwaltungsentwicklung der verschiedenen Finanzressorts (Prätorianerpräfekturen, die comitiva sacrarum largitionum und der res privata) gerade der 30er Jahre des 6. Jahrhunderts.11 Unglaublich große Summen mussten dafür aufgebracht werden, soviel war klar.12 Mussten diese Ausgaben nicht Auswirkungen auch auf die Heeresfinanzierung und den allgemeinen Staatshaushalt gehabt haben? Doch trotz aller Bemühungen konnte ich solche Auswirkungen nicht finden. Woher kamen also die Mittel für das Bauprogramm? Sicher, Justin I. und Anastasios hatten Justinian (angeblich) jeweils große Geldsummen 9
Ich gehe mit Mischa Meier (siehe ders., Das andere Zeitalter Justinians [wie Anm. 1], passim; so auch Leppin, Justinian [wie Anm. 1], bes. 206–250) davon aus, dass die Pest (neben anderen Katastrophen) eine deutliche Zäsur der Regierungszeit Justinians darstellt. 10 Wolfram Brandes, Finanzverwaltung in Krisenzeiten. Untersuchungen zur byzantinischen Administration im 6.–9. Jahrhundert. (Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte 25.) Frankfurt am Main 2002. 11 Siehe den Überblick bei Brandes, Finanzverwaltung (wie Anm. 10), 18–62. 12 Cécile Morrisson/Jean-Pierre Sodini, The Sixth-Century Economy, in: Angeliki E. Laiou (Hrsg.), Economic History of Byzantium. From the Seventh through the Fifteenth Century. (Dumbarton Oaks Studies 39.) Washington D.C. 2002, 171–220, hier 188: mehr als 1 Million Solidi. Stein, Histoire II (wie Anm. 1), 459f. ging von den bei Agnellus (Agnelli liber pontificalis ecclesiae Ravennatis, ed. Oswald Holder-Egger. [MGH Scriptores rerum Langobardicarum et Italicarum.] Hannover 1878, 319,1 [cap. 59]) genannten 26 000 Solidi aus, die der argentarius Julianus (vgl. Salvatore Cosentino, Le fortune di un banchiere tardoantico. Giuliano argentario e l’economia di Ravenna nel VI secolo, in: Andrea Augenti/Carlo Bertelli (Edd.), Santi banchieri re. Ravenna e Classe nel VI secolo San Severo il tempio ritrovato. Milano 2006, 43–48) für den Bau von San Vitale in Ravenna ausgegeben habe und meinte, man könnte das vierzig- bis sechzigfache annehmen, also 1 040 000 bzw. 1 560 000 Nomismata, was mir ebenfalls zu gering erscheint.
Der Nika-Aufstand
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hinterlassen13, die genutzt wurden. Der erfolgreiche Vandalenkrieg Belisars brachte den vandalischen Königsschatz nach Konstantinopel. Er war sicher sehr umfangreich, obwohl man seinen Geldwert nicht schätzen kann.14 Wenn man aber Johannes Lydos und Prokop glauben kann (was man in diesem Fall sollte!),15 dann wurde die finanzielle Hinterlassenschaft des Kaisers Anastasios sehr schnell ausgegeben (bzw. verschwendet).16 Unmittelbar nach den umfassenden Verheerungen des Zentrums der oströmischen Hauptstadt, die der Nika-Aufstand bewirkte, begann der Wiederaufbau der Hagia Sophia und zahlreicher weiterer – ebenfalls ausgesprochen kostenintensiver – Gebäude bzw. Gebäudekomplexe.17 Dass gerade der gigantische Bau der Hagia Sophia – was immer auch gigantische Kosten bedeutet – für Justinian eine herausragende, ja zentrale, Bedeutung für sein kaiserliches Selbstverständnis hatte, braucht hier nicht eigens nachgewiesen zu werden. Insofern ist die profan anmutende Frage nach der Finanzierung dieses Bauwerkes (und zahlloser anderer) nicht müßig. Schon die Byzantiner der sog. mittelbyzantinischen Zeit (nach dem 7. Jahrhundert) beschäftigte offenbar die Frage, wie der große Justinian18 all die kostbaren Materialien zusammengebracht hatte, um die Hagia Sophia zu errichten. Auch die kühne Planung vermochte man nicht mehr nachzuvollziehen. Engel hatten mithin Justinian den Bauplan insinuiert. Besonders aber fragte man sich nach der Herkunft der Geldmittel für ihren Bau. Da wirkliche Kenntnisse über die finanzpolitischen und Verwaltungsrealitäten der justinianischen Zeit verloren waren, konnten nur „Wunder“ angeführt werden. All dies findet sich in konzentrierter Form in der sog. Narratio de structura Sanctae Sophiae, wohl aus dem 9. Jahrhundert stammend.19 Abgesehen von frommen Spendern, die größere Geldsum 13 Dazu unten bei Anm. 16 sowie 47–49. 14 Matthias Hardt, Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend. (Europa im Mittelalter 6.) Berlin 2004, bes. 34–36. 15 Vgl. Michael Maas, John Lydus and the Roman Past. Antiquarianism and Politics in the Age of Justinian. London/New York 1992. 16 Jean le Lydien, Des magistratures de l’état romain, texte établi, traduit et commenté par Jacques Schamp, II/2. Paris 2006, 106 (III.51,5): „..., ἅπας μὲν ὁ πλοῦτος Ἀναστασίου εἰς ἀπείρους μυριάδας χρυσίου λιτρῶν συναγόμενος διερρύη, ...“; Procopii Caesariensis opera omnia, rec. Jakob Haury, III: Historia quae dicitur arcana. Leipzig 1963, 121,5–9 (XIX.7); Noethlichs, in: Reallexikon für Antike und Christentum XIX, 2001, 724. Vgl. Jones, Later Roman Empire (wie Anm. 1), 283 (mit Anm. 31 im Bd. III, 55). 17 Siehe dazu unten bei Anm. 63–72 und Leppin, Justinian (wie Anm. 1), 191–202. Zum Ausmaß der Zerstörungen siehe den von Leppin a.a.O. 148 zitierten Johannes Lydos. 18 Zum Justinianbild in diesen Jahrhunderten siehe Günter Prinzing, Das Bild Justinians I. in der Überlieferung der Byzantiner vom 7.–15. Jahrhundert, in: Fontes Minores 7, 1986, 1–112. 19 Narratio de structura templi S. Sophiae („Διήγησις περὶ τῆς οἰκοδομῆς τοῦ ναοῦ τῆς μεγάλης τοῦ θεοῦ ἐκκλησίας τῆς ἐπονομαζομένης ἁγίας Σοφίας“), rec. Theodor Preger, Scriptores originum Constantinopolitanarum. Fasc. 1. Leipzig 1902, 74–108; französische Übersetzung bei Gilbert Dagron, Constantinople imaginaire. Paris 1984, 196–211; englische Teilübersetzung bei Cyril Mango, The Art of the Byzantine Empire 312–1453. Englewood Cliffs 1972,
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men beigebracht hätten, habe ein frommer Eunuch einen enormen Schatz gefunden (576 000 Nomismata) und Justinian für den Bau der Hagia Sophia zur Verfügung gestellt.20 Und selbst in einer anonymen Konstantinsvita (BHG 365n)21, die ins 9. oder 10. Jahrhundert datiert wurde und die eventuell sogar außerhalb des Byzantinischen Reiches entstand22, wird vom Fund eines großen Schatzes (aus der Zeit der Kämpfe der ionischen Städte Kleinasiens gegen die Perser!) berichtet. Justinian habe den Reichtum für τὸν τοὺ Θεοῦ ναόν, womit zweifellos die Hagia Sophia gemeint ist, verwendet.23 Bereits während der Regierungszeit Justins I. standen die letzten Angehörigen der theodosianischen Dynastie, mit Juliana Anicia an der Spitze, im Gegensatz zu diesem Kaiser vom Balkan, nebst seinem Neffen Justinian. Juliana hatte gehofft, dass ihr Sohn Olybrios24 Nachfolger des Kaisers Anastasios werde. Es kam bekanntlich anders. Aber auch der Familie des Anastasios, insbesondere dessen Neffen Hypatios, gelang es nicht, an die Macht zu kommen. Diese Familien – und vermutlich noch andere senatorischen Ranges, die mit diesen verbunden waren – stellten ein ständiges Oppositionspotential dar, auch wenn es eher unwahrscheinlich ist, von einer klar strukturierten und organisierten Opposition auszugehen. Diese Clans hatten über viele Generationen hinweg enorme Reichtümer (nicht nur an Land) angesammelt.25 In großem Umfang hatten sie außerdem staatliches
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96–102; zuletzt zu diesem Text Leslie Brubaker, Taking about the Great Church: ekphrasis and the Narration on Hagia Sophia, in: Vladimir Vavřínek/Paolo Odorico/Vlastimil Drbal (Edd.), Ekphrasis. La représentation des monuments dans les littératures byzantine et byzantinino-slaves. Réalités et imaginaires. (Byzantinoslavica – Suppl. 3.) Prag 2011, 80–87 (mit neuerer Literatur). Ebenda 89; Dagron a.a.O. 202. François Halkin, Une nouvelle vie de Constantin dans un Légendier de Patmos, in: Analecta Bollandiana 77, 1959, 63–107 (Text: 73–105); ders., Les deux derniers chapitres de la nouvelle vie de Constantin, ebenda 370–372 (auch in: François Halkin, Études d’épigraphie grecque et d’hagiographie byzantine. London 1973, Nr. XIII); vgl. Friedhelm Winkelmann, Ein Ordnungsversuch der griechischen hagiographischen Konstantinviten und ihrer Überlieferung, in: Johannes Irmscher/Peter Nagel (Hrsgg.), Studia Byzantina, II. (Berliner Byzantinistische Arbeiten 44.) Berlin 1973, 267–284, hier 271 (auch in: Friedhelm Winkelmann, Studien zu Konstantin dem Großen und zur byzantinischen Kirchengeschichte. Ausgewählte Aufsätze, hg. von Wolfram Brandes/John Haldon. Birmingham 1993, Nr. XII); ders., Das hagiographische Bild Konstantins I. in mittelbyzantinischer Zeit, in: Vladimir Vavřínek (Hrsg.), Beiträge zur byzantinischen Geschichte im 9.–11. Jahrhundert. Prag 1978, 179–203, hier 182f. (auch in: ders., Studien Nr. XIV). So Halkin, Une nouvelle vie de Constantin (wie Anm. 21), 70 und 371. Ebenda 372. John R. Martindale, Prosopography of the Later Roman Empire. Bd. 2. Cambridge 1980, 795 (Olybrius 3); weiter als PLRE II zitiert. John Haldon, The Fate of the Late Roman Senatorial Élite, in: John Haldon/Lawrence I. Conrad (Edd.), The Byzantine and Early Islamic Near East, VI: Elites Old and New in the Byzantine and Early Islamic Near East. (Studies in Late Antiquity and Early Islam 1.) Princeton 2004, 179–234 sowie ders., Social Élites, Wealth and Power (wie Anm. 8), 168–211, jeweils mit reichen Literaturangaben; Dennis P. Kehoe, Aristocratic Dominance in the Late
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und/oder kaiserliches Land gepachtet (oft in Form der ἐμφύτευσις).26 Sie hatten Kaiser im Stammbaum, wie das berühmte Beispiel der Anicier mit Juliana Anicia zeigt27, oder sie reklamierten bedeutende Persönlichkeiten der römischen Geschichte als Vorfahren, wie etwa die Familie des Kaisers Anastasios den großen Pompeius († 48 v. Chr.).28 Überhaupt bezeugen die archäologischen Hinterlassenschaften, dass im 6. Jahrhundert große materielle Reichtümer akkumuliert wurden, noch heute sichtbar nicht zuletzt angesichts der reichen Schätze an liturgischem Gerät.29 Die Errichtung der Polyeuktos-Kirche durch Juliana Anicia30 von 524 bis 527 mit ihrer bekannten Inschrift, die nicht nur auf den salomonischen Tempel verwies, sondern auch das „kaiserliche Blut“ der Juliana pries31, wird allgemein –
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Roman Agrarian Economy and the Question of Economic Growth, in: JRA 16, 2003, 711– 721. John Haldon, in: Companion to Justinian (wie Anm. 1), 40 bzw. Jones, Later Roman Empire (wie Anm. 1), 412–427; Stein, Histoire II (wie Anm. 1), 423ff., 472ff., 748ff.; zur emphyteusis siehe Dieter Simon, Das frühbyzantinische Emphyteuserecht, in: Joseph Modrzewskij/Detlef Liebs (Hrsgg.), Symposion 1977. Vorträge zur griechischen und hellenistischen Rechtsgeschichte (Chantilly, 1.–4. Juni 1977). Köln/Wien 1982, 365–422. August Knecht, System des justinianischen Kirchenvermögensrechtes. (Kirchenrechtliche Abhandlungen 22.) Stuttgart 1905, passim. Jairus Banaji, Agrarian Change in Late Antiquity. Gold, Labour, and Aristocratic Dominance. Oxford 2001, bes. 134ff. (ignoriert leider zentrale Arbeiten, die – horribile dictu – auf Deutsch oder Italienisch erschienen); Peter Sarris, Rehabilitating the Great Estate: Aristocratic Property and Economic Growth in the Late Antique East, in: William Bowden/Luke Lavan/Carlos Machado (Edd.), Recent Research on the Late Antique Countryside. (Late Antique Archaeology 2.) Leiden/Boston 2004, 55–71; siehe auch die kritischen und die Übertreibungen der genannten Autoren korrigierenden Bemerkungen von Todd M. Hickey, Aristocratic Landholding and the Economy of Byzantine Egypt, in: Roger S. Bagnall (Hrsg.), Egypt in the Byzantine World, 300–700. Cambridge 2009, 288–308; in einer allgemeineren (mediterranen) Perspektive Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean 400–800. Oxford 2005, bes. 154–258. Zu den Anicii (sowie anderen aristokratischen Häusern) siehe jetzt (mit einem Schwerpunkt auf dem lateinischen Westen) Alan Cameron, Anician Myths, in: JRS 102, 2012, 133–171, bes. 152f. und 166 zu den „östlichen“ Anicii (und ihrem großen Reichtum), die bereits vor 455 in den Osten gezogen waren; zu Iuliana Anicia siehe bes. 161. Siehe Alan Cameron, The House of Anastasius, in: GRBS 19, 1978, 259–276, hier bes. 259f.; Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches. Stuttgart 2009, 83; François Chausson, Les lignages mythiques dans quelques revendications généalogiques sous l’empire romain, in: Généalogies mythiques (Actes du VIIIe colloque du Centre des Recherches Mythologiques de l’Université Paris-X [Chantilly, 14–16 Septembre 1995]), réunie par Danièl Auger. Paris 1998, 395–417. Marlia Mundell Mango, The Uses of Liturgical Silver, 4th–7th Century, in: Rosemary Morris (Hrsg.), Church and People in Byzantium. Birmingham 1990, 245–261. PLRE II, 635f. (Anicia Iuliana 3); Carmelo Capizzi, Anicia Giuliana: la committente (c. 463– c. 528). Milano 1997. Anthologia Graeca 1, 10 (Anthologia Graeca, Bd.1. Griechisch-Deutsch, ed. Hermann Beckby, 2. Aufl. München u.a. [1965], 126–130); vgl. Alan Cameron, The Greek Anthology from Meleager to Planudes. Oxford 1993, 113f.; Leppin, Justinian (wie Anm. 1), 77.
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verkürzt gesprochen – als Demonstration eines eigenen Machtanspruchs dieser kaiserlichen Familie angesehen, eine Provokation in den Augen Justins I. und Justinians. Entsprechend interpretiert man den von der Narratio vom Bau der Hagia Sophia überlieferten Ausspruch Justinians, „Salomon, ich habe dich besiegt“32, als Triumph über Juliana und ihre bis dahin größte und reichste Kirche Konstantinopels und damit über seine aristokratischen Opponenten. Der Salomonbezug Justinians jedenfalls ist hinlänglich gut belegt, man denke nur an Corippus.33 Es ist weiterhin bemerkenswert, dass nach Flavius Josephus der Bau des salomonischen Tempels 7 Jahre dauerte.34 Justinian hatte also auch in dieser Beziehung Salomon übertroffen, realisierte er doch den Bau seiner Kirche in kürzerer Zeit. Vor wenigen Jahren hat Jonathan Bardill den Bau der Polyeuktos-Kirche neu datiert – auf der Basis der verwendeten Ziegel, deren Datierung erst seit kurzer Zeit gesichert zu sein scheint. Danach sei die Kirche zwischen 517/518 und 520/521 gebaut worden – zunächst also als Demonstration gegenüber Anastasios, der in den Augen der von Kaisern abstammenden Juliana Anicia ebenfalls ein homo novus war.35 Ob dies zutrifft, mögen die zuständigen Experten entscheiden. Wurden die hergestellten Ziegel sofort verbaut, oder könnte man nicht auch an eine bestimmte Zeit der Lagerung denken? Dennoch sollte man deshalb den berühmten (angeblichen?) Ausspruch Justinians nicht anders deuten als bisher üblich, selbst wenn die ihn überliefernde Quelle spät und legendär ist. Falls er nicht authentisch sein sollte, ist er wenigstens treffend (und situationsbezogen passend) erfunden worden.36 Die bloße Existenz dieser bis dahin größten und am reichsten ausgestatteten Kirche Konstantinopels und deren ideologische Botschaft beschäftigten sicher auch Justin I. und seinen Neffen Justinian!
32 Narratio, ed. Preger (wie Anm. 19), 105,4f.; vgl. Dagron, Constantinople imaginaire (wie Anm. 19), 208. 33 Corippus, In laudem Iustini Augusti minoris IV, 264–284 (Corippe [Flavius Cresconius Corippus], Éloge de l’empereur Justin II. texte établi et traduit par Serge Antès. Paris 1981, 83f.), hier der explizite Bezug auf Salomon in l. 283 (S. 84). 34 Antiquitates Iudaeorum 8.4.1 (Flavii Iosephi opera, ed. Benedikt Niese, II. 2. Aufl. Berlin 1955, 198,2); vgl. Klaus Nickau, Justinian und der Nika-Aufstand bei Romanos dem Meloden, in: ByzZ 95, 2003, 603–620, hier 617. 35 Jonathan Bardill, A New Temple for Byzantium: Anicia Juliana, King Solomon, and the Gilded Ceiling of the Church of St. Polyeuktos in Constantinople, in: William Bowden/Adam Gutteridge/Carlos Machado (Edd.), Social and Political Life in Late Antiquity. (Late Antique Archaeology 3/1.) Leiden/Boston 2006, 339–370. 36 Siehe Martin Harrisson, Ein Tempel für Byzanz. Die Entdeckung und Ausgrabung von Anicia Julianas Palastkirche in Istanbul. Stuttgart/Zürich 1990, 137ff.; zur Rolle Salomos siehe jetzt auch Robert Ousterhout, New Temples and New Solomons: The Rhetoric of Byzantine Architecture, in: Paul Magdalino/Robert Nelson (Edd.), The Old Testament in Byzantium. Washington D.C. 2010, 223–253; Johannes Koder, Justinians Sieg über Salomon, in: Θυμίαμα στη μνήμη της Λασκαρίνας Μπούρα, Bd. 1. Athen 1994, 135–142.
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Justinian muss die Polyeuktos-Kirche sehr häufig gesehen haben, lag sie doch in unmittelbarer Nähe zur Apostelkirche37, deren Bedeutung hier nicht näher erläutert werden muss. Schon die Vielzahl der Prozessionen, die dahin führten und an denen – zumindest an den wichtigsten – der Kaiser teilnahm, führte ihm immer wieder dieses grandiose Bauwerk vor Augen. Mindestens 20 solcher Gelegenheiten hat man für Justinians Zeit ermittelt38, von den nichtkirchlichen Anlässen, in diese Region der Hauptstadt zu kommen, ganz zu schweigen. Leider wissen wir nicht genug über die anderen extrem reichen Familien der senatorischen Aristokratie. Klar ist natürlich auch, dass längst nicht alle dieser Familien justinianfeindlich oder kritisch eingestellt waren. Es genügt, an die ägyptischen Apionen zu erinnern, die dem Kaiser gegenüber offenbar loyal waren und über die wir dank der Papyri recht gut informiert sind. Deutlich wird, dass sie nach den 30er/40er Jahren zunehmend an Bedeutung – und damit auch an Reichtum – gewannen.39 Unmittelbar nach dem Brand der Hagia Sophia im Januar 532 begannen die Arbeiten für den Neubau. Über die Kosten, die gigantisch gewesen sein müssen, kann man natürlich nur spekulieren. Verstreute Nachrichten in verschiedenen Quellen sind zwar in mehrfacher Hinsicht interessant, doch erlauben sie kein Gesamtbild. Allein die silberne Dekoration des Hauptaltars (θυσιαστήριον) kostete 40 000 Pf. Silber, was 288 000 Nomismata entspricht.40 Nach Johannes Lydos trug der praefectus praetorio Phokas (der nur 532 amtierte und dann Johannes dem Kappadoker Platz machen musste) mit 4 000 Pf. Gold jährlich (= 288 000 Nomismata) zum Bau bei41, was – hochgerechnet auf die mehr als sechsjährige Bauzeit – die stolze Summe von 1 728 000 Nomismata ausmachte. Doch auch diese Summe dürfte nicht gereicht haben. Außerdem muss man 37 Raymond Janin, La géographie ecclésiastique de l’Empire byzantin, première partie: Le siège de Constantinople et le patriarcat œcuménique, III : Les églises er les monastères. Paris 1969, 41–50, bes. 47 zu Justinians Bauaktivitäten; Albrecht Berger, Untersuchungen zu den Patria Konstantinupoleos. (Ποικίλα Βυζαντινά 8.) Bonn 1988, 510–512. 38 John F. Baldovin, S.J., The Urban Character of Christian Worship. The Origins, Development, and Meaning of Stational Liturgy. (Orientalia Christiana Analecta 228.) Rom 1987, 180. 39 Jean Gascou, Les grands domaines, la cité et l’état en Égypte byzantine, in: Travaux et Mémoires 9, 1985, 61–74; Sarris, Rehabilitating the Great Estates (wie Anm. 27), 64–68 (mit weiterer Literatur); Roberta Mazza, L’archivio degli Apioni. Terra, lavoro e proprietà senatoria nell’Egitto tardoantico. (Studia storici sulla Tarda Antichità 17.) Bari 2001; mit Apion II., Sohn des Strategios (siehe unten Anm. 98) begann der enorme Aufstieg der Apionen. Siehe u.a. Bernhard Palme, Flavius Strategius Paneuphemos und die Apionen, in: ZRG RA 115, 1998, 289–322, bes. 293ff. 40 Procopii Caesariensis opera omnia, rec. Jakob Haury, IV: De aedificiis. Leipzig 1964, 15,14– 16 (I.1,65); vgl. Marlia Mundell Mango, The Monetary Value of Silver Revetments and Objects Belonging to Churches, A.D. 300–700, in: Susan A. Boyd/Marlia Mundell Mango (Edd.), Ecclesiastical Silver Plate in Sixth-Century Byzantium. Dumbarton Oaks 1993, 123– 136; Roques, Constructions (wie Anm. 62), 112 (Anm. 47). 41 Jean le Lydien, Des magistratures, ed. Schamp (wie Anm. 16), 140 (III.76,9); vgl. Michael Hendy, Studies in the Byzantine Monetary Economy, c. 300 – 1450. Cambridge 1985, 200f.
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davon ausgehen, dass die Finanzierung nicht allein von der praefectura praetorio per Orientem getragen wurde. Auch die anderen mit Finanzen befassten Behörden müssen involviert gewesen sein. Die administrative Logik legt es nahe, dass auch die res privata und die comitiva sacrarum largitionum Geldmittel für Justinians Bauprogramm beisteuerten. Die Narratio de structura sanctae Sophiae nennt die largitiones ausdrücklich.42 Keinen Wert hat die Mitteilung der viel späteren (9. Jahrhundert43) Narratio44, dass die Aufwendungen für den Bau der großen Kirche insgesamt 3 200 kentenaria (= 320 000 Pf. Gold = 23 040 000 Nomismata) betragen hätten. Nicht inbegriffen in diese Summe sind die Kosten für die höchst opulente Ausstattung sowie die Schenkungen an die Kirche.45 Insbesondere letztere sollte man nicht aus dem Auge verlieren, denn die Hagia Sophia – wie fast jede byzantinische Kirche auch – war ja auch ein reiches und prosperierendes Wirtschaftsunternehmen. Leider ist die genannte enorme Summe schon aus dem Grunde verdächtig46, weil sie identisch mit der ist, die von einigen (sehr guten) Quellen als die finanzielle Hinterlassenschaft Kaiser Anastasios’ angegeben wird.47 Diese enorme Summe48 wurde angeblich von Justin I. übertroffen, der in nur 7 Jahren 4 000 kentenaria angesammelt haben soll, so Prokop in den Anekdota.49 Das ergibt die – m.E. völlig unglaubwürdige – Summe von 28 800 000 Nomismata! Vermutlich enthält die Summe die 3 200 kentenaria, die angeblich Kaiser Anastasios hinterlassen hat. Dieser wurde wohl mit Recht für seine erfolgreiche Finanzpolitik gerühmt. Gerade unter ihm wurde die adaeratio, die Umwandlung von Natural- in Geldsteuern, 42 Narratio, ed. Preger (wie Anm. 19), 78,13–79,1; 84,10–85,1; vgl. Dagron, Constantinople imaginaire (wie Anm. 19), 198, 200. 43 Zum Datum siehe Dagron, Constantinople imaginaire (wie Anm. 19), 265–269. 44 Zu diesem Text siehe grundlegend Dagron, Constantinople imaginaire (wie Anm. 19), 191– 314 (196–211: französische Übersetzung). Siehe schon oben Anm. 19. 45 Narratio, ed. Preger (wie Anm. 19), 102,3–6: „... Ὁ δὲ ναὸς ὅλος σὺν τῶν ἔξω καὶ τῶν πέριξ ἔχει ἔξοδον χωρὶς τῶν ἱερῶν σκευῶν καὶ τῶν λοιπῶν εἰδῶν καὶ τῶν κατὰ δωρεὰν προσελθόντων ἀπὸ πάσης τῆς βασιλείας χρυσοῦ χάραγμα ὁμοῦ κεντηνάρια ͵γσʹ.“ 46 So schon Stein, Histoire II (wie Anm. 1), 459. 47 Brandes, Finanzverwaltung (wie Anm. 10), 72 mit Anm. 60; Jones, Later Roman Empire (wie Anm. 1), 468; Proc., Hist. arc., ed. Haury (wie Anm. 16), 121,7–9 (XIX.7): 3200 kentenaria; Johannes Lydos spricht nur von „Myriaden Goldpfund“ (Lean le Lydien, Des magistratures, ed. Schamp [wie Anm. 16], 106 : „... μυριάδας χρυσίου λιτρῶν ...“ [III.51,6]). 48 Ein kentenarion entspricht 100 römischen Pf., in Gold sind das ca. 32 kg; vgl. Gilbert Dagron/Cecile Morrisson, Le kentènarion dans les sources byzantines, in: Revue numismatique 6e sèrie 17, 1975, 145–162, passim. Zu den Preisen vel sim. im fraglichen Zeitraum siehe Cecile Morrisson, Monnaie et prix à Byzance du Ve au VIIe siècle, in: Hommes et richesses dans l’Empire byzantin, I: IVe–VIIe siècle. Paris 1989, 239–260; Erich Schilbach, Byzantinische Metrologie. (Handbuch der Altertumswissenschaft, 12. Abt., 4. Teil.) München 1970, 109, 147; ders., in: Alexander Kazhdan (Hrsg.), Oxford Dictionary of Byzantium. New York/Oxford 1991, 1121. 49 Proc., Hist. arc., ed. Haury (wie Anm. 16), 121,12 (XIX.8).
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weitgehend durchgesetzt.50 Johannes Lydos und Prokop bemerkten jedoch, dass bereits unter Justin I. die von Anastasios hinterlassenen Geldmittel verschwenderisch ausgegeben wurden.51 Die desaströse Vandalenexpedition des Jahres 468 kostete nach Priskos 1 300 kentenaria, was über lange Jahre hinweg zu erheblichen Schwierigkeiten des oströmischen Staatshaushaltes führte.52 Kandidos (überliefert in der Suda) berichtet andere Zahlen: 47 000 Pf. Gold von den praefecti praetorio per Illyricum und per Orientem, 17 000 Pf. Gold sowie 700 000 Pf. Silber vom comes sacrarum largitionum, dazu Mittel aus Konfiskationen (ἐκ τῶν δημευσίμων ἀρχόντων) und vom Westkaiser Anthemios53, während Johannes Lydos 65 000 Pf. Gold und ebenfalls 70 000 Pf. Silber nennt.54 Diese Summen, deren Verlust zu einer viele Jahre anhaltenden Finanzkrise führte, zeigen im Vergleich zu den für die Hagia Sophia genannten, dass auch der Bau der schönen, neuen und weltgrößten Kirche eigentlich zu einer Finanzkrise geführt haben müsste, trotz der (angeblichen) finanziellen Hinterlassenschaften des Anastasios und Justins I. (immer vorausgesetzt, die in den Quellen genannten Zahlen stimmen). Vermutlich standen diese Mittel 532 gar nicht mehr zur Verfügung (so, wie gesagt, Johannes Lydos und Johannes Malalas). Immerhin könnte man auf den erwähnten Vandalenschatz verweisen. Ich verzichte an dieser Stelle, auf die diversen Schätzungen des Steueraufkommens im Oströmischen Reich Justinians einzugehen. All die Debatten vor gut 90 Jahren (Andreas Andreades, Ernst Stein u.a.) um den Umfang des Staatshaushaltes sind so müßig wie die jüngeren Phantasien eines Warren Treadgold.55 Man kann höchstens bestimmte Relationen ermitteln, etwa wenn man sich die Angaben 50 Wenn auch nicht vollständig. Siehe Brandes, Finanzverwaltung (wie Anm. 10), 72 (und die dort in Anm. 59 gegebenen Verweise); Karl L. Noethlichs, Spätantike Wirtschaftspolitik und adaeratio, in: Historia 34, 1985, 102–116. 51 Siehe oben Anm. 16. 52 Priskos frgm. 53.1 (Robert C. Blockley, The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire, II. Liverpool 1983, 360) = Theophanis Chronographia, rec. C. de Boor, I. Leipzig 1883, 115,8; die gleiche Summe nennt Prokop in seinem „Vandalenkrieg“ (Procopii Caesariensis opera omnia, rec. Jakob Haury, I: De bellis libri I–IV. Leipzig 1962, 335,18 [I.6.1]). 53 Kandidos frgm. 2 (Blockley [wie Anm. 52], 470) = Suda Χ 245 (Svidae Lexicon, ed. Ada Adler, pars IV. [Lexicographi Graeci I/4] Stuttgart 1971, 801,13–17). 54 Jean le Lydien, De magistratures, ed. Schamp (wie Anm. 16), 97 (III.43,5). 55 Vgl. Ernst Stein, Rezension zu Andreas Andréadès, Le montant du budget de l’Empire byzantin (in: Revue des études grecques 34, 1921, 20–56), in: ByzZ 24, 1924, 377–387 (auch in: ders., Opera minora selecta. Amsterdam 1968, 425–435); Warren T. Treadgold, The Byzantine State Finances in the Eighth and Ninth Centuries. New York 1982 – dazu vgl. RalphJohannes Lilie, Die byzantinischen Staatsfinanzen im 8./9. Jahrhundert und die στρατιωτικὰ κτήματα, in: Byzantinoslavica 48, 1987, 49–55; Wolfram Brandes, Rezension zu Warren Treadgold, A History of the Byzantine State and Society. Stanford 1997, in: ByzZ 95, 2002, 716–725; vgl. noch Hendy, Studies in the Byzantine Monatary Economy (wie Anm. 41), 164– 172.
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Prokops vor Augen führt, bei denen von kentenaria die Rede ist, wie dies Gilbert Dagron und Cécile Morrisson unternahmen.56 Hinzu kommt noch ein gravierender Umstand, der nicht außer Acht gelassen werden darf. Während der fast sechsjährigen Bauzeit der Hagia Sophia (und den zahlreichen anderen Bauaktivitäten, die gleich noch erwähnt werden) ging die „normale“ Finanzpolitik einfach weiter. Das Heer musste seinen Sold bekommen, wie auch die zahlreiche Beamtenschaft, insgesamt einige hunderttausend in allen Teilen des Reiches. Den größten Posten der staatlichen Ausgaben machte zweifellos das Heer aus. Mit großer Eindeutigkeit drückte dies der anonyme Autor der militärtheoretischen Schrift Περὶ στρατηγίας aus der Mitte des 6. Jahrhunderts aus: „Das Finanzwesen wurde eingerichtet, um allgemeine Probleme von öffentlicher Bedeutung, wie der Schiffsbau und die Errichtung von Befestigungsanlagen, zu lösen. Vor allen anderen Dingen jedoch ist es mit der Bezahlung der Soldaten befasst. Für diesen Zweck wird alljährlich der größte Teil der öffentlichen Einnahmen ausgegeben.“57 Während der Jahre, in denen an der Hagia Sophia gebaut wurde (man begann angeblich bereits am 23. Februar 53258; und nach nur 5 Jahren, 11 Monaten und 10 Tagen konnte die Kirche geweiht werden), wurde eine lange Reihe weiterer sehr ambitionierter – und damit auch ausgesprochen kostenintensiver – Bauprojekte realisiert. In diesen Jahren gab es außerdem zahlreiche andere Anlässe, die den Staat enorme Summen kosteten. Einige Beispiele: Im Jahre 532 wurde der sog. „ewige Friede“ mit den Persern geschlossen, was Byzanz 110 kentenaria Gold = 11 000 litrai = 792 000 Nomismata kostete.59 Andere Zahlungen an diverse Nachbarstaaten kamen hinzu. Allerdings sollte man die Bedeutung dieser Summen für den römischen Staat nicht überbewerten.60 Und dann kam auch noch das Katastrophenjahr 536, als durch einen Vulkanausbruch oder ein kosmisches Ereignis die Sonne für mehr als ein Jahr verdunkelt
56 Siehe Dagron/Morrisson, Le kentènarion (wie Anm. 48), 156. 57 Περὶ στρατηγίας, ed. George T. Dennis, Three Military Treatises. (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 25.) Washington D.C. 1985, 12,18–21: „Τὸ δὲ χρηματικὸν ἔστι μὲν ὅτε καὶ ἄλλων ἕνεκεν κοινωφελῶν πραγμάτων ἐπινενόηται, οἷον ναυπηγίας, τειχοποιίας, μάλιστα δὲ διὰ τὰ ἀναλώματα τῶν στρατιωτῶν. τῶν γὰρ κατ’ ἔτος δημοσίων εἰσόδων ἐνταῦθα τὰ πλεῖστα καταναλίσκεται.“ 58 Stein, Histoire II (wie Anm. 1), 458. 59 Rubin, Justinian I (wie Anm. 1), 296; Stein, Histoire II (wie Anm. 1), 294f.; Averil Cameron, in: Cambridge Ancient History XIV (wie Anm. 1), 71; Telemachos C. Lounghis/Basiliki Blysidu/Stelios Lampakes, Regesten der Kaiserurkunden des Oströmischen Reiches von 476 bis 565. Nicosia 2005 (weiter als RKOR zitiert), Nr. 964 (S. 243f.); Geoffrey Greatrex, Rome and Persia at War, 502–532. (ARCA. Classical and Medieval Texts, Papers and Monographs 37.) Leeds 1998, 213–215. 60 Colin D. Gordon, Procopius and Justinian’s Financial Policies, Phoenix 13, 1959, 23–30.
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war, was in der gesamten Welt, von China bis Irland, zu verheerenden Missernten, Hungersnöten und damit zu erheblichen Steuerausfällen führte. 61 Aber klar ist weiterhin, dass Justinians Bauaktivitäten sich keineswegs auf die Hagia Sophia beschränkten. Dank Prokops De aedificiis – abgesehen von sonstigen Quellenbelegen und archäologischen Forschungen – wissen wir von einer großen Anzahl von gleichzeitigen Bauprojekten in allen Teilen des Reiches.62 Hier nur einige Beispiele: Die Sergios-und-Bakchos-Kirche, gebaut nach traditioneller Ansicht etwa 530–536 (oder wohl doch eher 524/525)63, die aufwendige Restaurierung der Apostelkirche (mit dem Mausoleum für Justinian), die etwa 550 abgeschlossen werden konnte64, umfangreiche Arbeiten für die Wasserversorgung Konstantinopels65; im Osten wurden Amida und insbesondere Dara (und zahlreiche andere Städte und castra) umfassend neu befestigt66, in Ephesos wurde die riesige Johannes-Kirche gebaut. Baubeginn war 535.67 Ebenfalls in diesen Jahren wurde Justiniana Prima (Caričin Grad) auf der grünen Wiese errichtet.68 Die neue 61 Joel D. Gunn, The Years without Summer, Tracing 536 A.D. and its Aftermath. Oxford 2000; Antti Arjava, The Mystery Cloud of 536 CE in the Mediterranean Sources, in: Dumbarton Oaks Papers 59, 2005, 73–94. 62 Siehe insbesondere Antiquité tradive 8, 2000, bzw. die hier versammelten Artikel zu Prokops De aedificiis und jetzt insbesondere Procope de Césarée, Constructions de Justinien Ier. Introduction, traduction, commentaire et index par Denis Roques. (Hellenica 39.) Alessandria 2011, zur Hagia Sophia siehe a.a.O. 104–113. 63 Siehe u.a. Jonathan Bardill, The Church of Sts. Sergius and Bacchus in Constantinople and the Monophysite Refugees, in: Dumbarton Oaks Papers 54, 2000, 1–11; Brian Croke, Justinian, Theodora, and the Church of Saints Sergius and Bacchus, in: Dumbarton Oaks Papers 60, 2006, 25–63 (mit früherer Datierung); Roques, Constructions (wie Anm. 61), 121–123 (mit weiterer Literatur). Arne Effenberger plädiert mit Nachdruck für die Frühdatierung. Mithin könnte man diesen Kirchenbau aus der obigen Liste streichen. 64 Die Arbeiten begannen jedoch viele Jahre früher. Siehe Ann Warthon Epstein, The Rebuilding and Redecoration of the Holy Apostles in Constantinople, in: GRBS 23, 1982, 79–92; Roques, Constructions (wie Anm. 62), 124–126. 65 James Crow/Jonathan Bardill/Richard Bayliss, The Water Supply of Byzantine Constantinople. (Journal of Roman Studies Monographies 11.) London 2008, bes. 17–19 zu Justinians Bauaktivitäten im fraglichen Zeitraum. 66 Marcell Restle, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst 1, 1966, 134–137 (Amida); Marlia Mundell Mango, in: Oxford Dictionary of Byzantium (wie Anm. 48), 588; James Crow, Procopius and Dara, in: JRS 73, 1983, 141–159; Roques, Constructions (wie Anm. 62) – zu Amida a.a.O. 174f., 178 und 180f., zu Dara a.a.O. 175, 178f. und 180f. 67 Clive Foss, Ephesus after Antiquity: a Late Antique, Byzantine and Turkish City. Cambridge 1979, 88ff.; Sabine Ladstätter/Andreas Pülz, Ephesus in the Late Roman and Early Byzantine Perios: Changes in its Urban Character from the Third to the Seventh Century AD, in: Andrew G. Poulter (Hrsg.), The Transition to Late Antiquity. On the Danube and Beyond. (Proceedings of the British Academy 141.) Oxford 2007, 391–433; Andreas Thiel, Die Johanneskirche in Ephesos. Wiesbaden 2005; Roques, Constructions (wie Anm. 62), 370f. 68 Bernard Bavant, Caričin Grad and the Changes in the Nature of Urbanism in the Central Balkans in the Sixth Century, in: Andrew G. Poulter (Hrsg.), The Transition to Late Antiquity (wie Anm. 67), 337–374 (mit guter Bibliographie).
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Kirche in Sergiupolis (Resafa)69 und diverse Bauten am und im Sinai-Kloster kommen hinzu. Umfangreiche Kirchenbauten in Jerusalem70 usw. usw.71 Geoffrey Greatrex hat in seinem grundlegenden Aufsatz über den NikaAufstand alle Informationen über die zerstörten Gebäude gesammelt. Hier eine Auswahl: Das Praetorium des Stadteparchen, Teile des Hippodroms, die Säulenhallen des Zeuxippos-Bades, die Chalke, die Säulenhalle der Scholarii etc., das Haus des Senats, das Augustaeum, das praetorium des praefectus praetorio per Orientem, das Alexander-Bad, die Hagia Eirene, die Basilika des Ullus, das Sampsonkrankenhaus, das Oktagon, der Triumphbogen auf dem Konstantinsforum, die Magnaura und noch viele andere mehr.72 Alle diese Gebäude, die z.T. von zentraler Bedeutung für den Staat waren, mussten restauriert oder neu errichtet werden. Und das wurden sie auch – und das in wenigen Jahren! Die Kosten waren zweifellos riesig. In sehr wenigen Jahren wurden Gebäude erneuert oder umgebaut, für deren Errichtung man Jahrhunderte gebraucht hatte. Und zusätzlich zu diesen Ausgaben verfügte Justinian über genügend finanzielle Ressourcen, um für diverse Städte Steuernachlässe zu gewähren.73 Er zahlte größere Summen an die Merowingerkönige Childebert I., Theudebert I. und Chlothar I. (im Jahre 535), damit diese sich gegen die Ostgoten in Italien engagierten.74 Das eben neueroberte Nordafrika wurde nun zunehmend eine recht teure 69 Marlia Mundell Mango, in: Oxford Dictionary of Byzantium (wie Anm. 48), 1877f.; siehe die Literaturangaben bei Gunnar Brands, Die Bauornamentik von Resafa-Sergiuspolis. Studien zur spätantiken Architektur und Bauausstattung in Syrien und Nordmesopotamien. (Resafa 6.) Mainz 2002. 70 Zum Sinai siehe Roques, Constructions (wie Anm. 62), 385–388. Einen umfassenden Überblick der justinianischen Bauaktivitäten in Jerusalem bieten Klaus Bieberstein/Hanswulf Bloedhorn, Jerusalem. Grundzüge der Baugeschichte vom Chalkolithikum bis zur Frühzeit der osmanischen Herrschaft (Beihefte zum Tübinger Atlas des Vorderen Orients, Reihe B 100/1– 3.) Wiesbaden 1994, hier bes. Bd. I, 162 (zur Nea Maria und weiteren Bauaktivitäten Justinians), Bd. III, 292f. (zur Nea Maria); zur Nea Maria, errichtet 534 oder 535 siehe zuletzt Susan I. Graham, ‘I have bested you, Salomon’: Justinian and the Old Testament, in: Studia Patristica 48, 2010, 153–157, die die Bezüge zum Salomonischen Tempel beleuchtet. Siehe auch Roques a.a.O. 381f. 71 Zu den Bauaktivitäten Justinians in diesen Jahren siehe neben dem in Anm. 62 genannten Band der Antiquité tardive noch Leppin, Justinian (wie Anm. 1), bes. 191–202 mit den Anm. auf S. 379f.; zu einigen Einzelfällen Marlia Mundell Mango, in: Cambridge Ancient History XIV (wie Anm. 1), u.a. 934, 947, 963; Cécile Morrisson, in: Le monde byzantin, I: L’Empire romain d’Orient 330–641. Paris 2004, u.a. 190f.; Bernard Flusin, in: ebenda, 247f.; Noethlichs, in: Reallexikon für Antike und Christentum XIX, 2001, 701–703 und Roques, Constructions (wie Anm. 62), passim. 72 Greatrex, The Nika Riot (wie Anm. 4), 86; zu den einzelnen Gebäuden vgl. Raymond Janin, Constantinople byzantin. Paris 1964, passim und Berger, Patria (wie Anm. 37), passim. 73 Z.B. RKOR 994 (S. 249). 74 RKOR 1047 (S. 261) – nach Proc., Bell. Goth., ed. Haury (wie Anm. 4), 26,11–22 (I,5,8–10); Stein, Histoire II (wie Anm. 1), 332; Eugen Ewig, Die Merowinger und das Imperium. (Rheinisch-Westfälische Akademie der Wissenschaften, Geisteswissenschaften, Vorträge, G 261.) Opladen 1983, 12.
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Angelegenheit. Festungen wurden gebaut und die Konflikte mit den einheimischen Maurousioi nahmen kein Ende. III. DIE HERKUNFT DIESER MITTEL Es bleibt die Frage: Wo kam all dieses Geld her? Waren die Steuereinnahmen und das Erbe Anastasios’ und Justins I. wirklich so riesig (obwohl Prokop und Johannes Lydos das Gegenteil behaupteten)? Es gibt hunderte (wenn nicht mehr) Bücher über die Hagia Sophia. Aber nur sehr wenige Forscher bedachten diese Frage. Anlass für den Neubau der Hagia Sophia – oder sollte man vielleicht sagen: willkommener Anlass? – war der Nika-Aufstand.75 Über diesen wurden in den letzten Jahren einige neue und bemerkenswerte Untersuchungen veröffentlicht. Hinzuweisen ist in dem Zusammenhang auf Geoffrey Greatrex und Mischa Meier, der bereits 2003 in seinem „Anderen Zeitalter Justinians“ und dann ausführlicher in einem eigenen Artikel eine wirklich neue Sicht auf dieses so wichtige historische Ereignis entwickelte. Kurz: Nach Mischa Meier war dieser Aufstand von Justinian selbst geplant und herbeigeführt worden. Justinian war also kein Opfer der Ereignisse und ein Getriebener, wie etwa Prokop insinuiert.76 Der Kaiser selbst provozierte einen Aufstand der Zirkusparteien, mit dem Ziel, bei dieser Gelegenheit seine politischen Feinde identifizieren zu können – was die Voraussetzung dafür war, sie schließlich auszuschalten. Nach reiflicher Überlegung habe ich mich schon vor Jahren der Deutung Mischa Meiers angeschlossen. Seine Argumente – die ich hier nicht wiederhole – erscheinen mir schlüssig. Es sind zu viele scheinbare Zufälle (man denke nur an den Zusammenbruch zweier Galgen zu Beginn der Revolte oder die „zufällige“ Anwesenheit größerer Kontingente von Feldtruppen unter Belisar und Mundus in [!] der ansonsten entmilitarisierten Stadt und an diverse Ungereimtheiten bei der Rekonstruktion der Ereignisse), die man hinnehmen müsste, folgte man der traditionellen Sicht auf den Aufstand. Viele Anhänger – wenn überhaupt – fand Mischa Meiers Sicht auf den NikaAufstand bisher nicht.77 Immerhin wurde ihm kürzlich eine „brillante Argumentation“ zugestanden, auch wenn der entsprechende Kollege mit Hinweis auf das extreme Risiko, das Justinian eingegangen wäre, sich gegen sie aussprach. „Es ist 75 Greatrex, The Nika Riot (wie Anm. 4); Bury, The Nika Riot (wie Anm. 4); siehe noch Michael Jeffreys, Bury, Malalas and the Nika Riot, in: Pauline Allen/Elizabeth Jeffreys (Edd.), The Sixth Century. End or Beginning? (Byzantina Australiensia 10.) Brisbane 1996, 42–51; siehe auch Nickau, Justinian und der Nika-Aufstand (wie Anm. 34). 76 Meier, Justinian und der Nika-Aufstand (wie Anm. 4), 273–300. 77 Siehe Leppin, (K)ein Zeitalter Justinians (wie Anm. 1), 659–686 (auch in: Meier [Hrsg.], Justinian [wie Anm. 1], 13–38). Greatrex referiert neuerdings Meiers Deutung immerhin (zustimmend?) – siehe The Chronicle of Pseudo-Zachariah Rhetor (wie Anm. 4), 343 mit Anm. 175.
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schwer zu erklären, warum der Kaiser gerade zu Beginn des Aufstands so ungeschickt reagierte und warum der Wiederaufbau so rasch vonstatten ging.“78 Das sind zweifellos berechtigte Fragen. Aber vielleicht kann man, betrachtet man die Ereignisse im Januar 532 von einer anderen Warte her, die Sicht Mischa Meiers stützen bzw. ergänzen? Nach dem Aufstand, so erfahren wir bei Prokop, wurde das Eigentum von 18 Senatoren konfisziert und diese exiliert. Hinzu kommt das Vermögen von Hypatios und Pompeios, den Verwandten des Anastasios79, die hingerichtet worden sind. Damit erhielt Justinian das kaiserliche Privatvermögen des Anastasios – aller Wahrscheinlichkeit nach ein sehr reiches Erbe. Ob diese Maßnahmen gemäß dem geltenden Recht vonstatten gingen, also reguläre Hochverratsprozesse durchgeführt wurden, wissen wir nicht. Zumindest kenne ich keine Quelle die das expressis verbis mitteilt. Vermutlich gab es sie dennoch. Es galt die berüchtigte Lex quisquis (C. 9.8.5 = CTh. 9.14.3 [4.9.397 in Ankyra erlassen durch Arkadios])80, nach der nicht nur Aufrührer, Verschwörer usw. (schuldig eines Majestätsverbrechens [maiestas]) hinzurichten und zu enteignen sind, sondern auch deren Familien. Es ist also davon auszugehen, dass nicht „nur“ (mindestens) 18 Senatoren enteignet wurden, sondern (mindestens) 18 Clans mit mehr oder weniger umfangreichem Besitz. Betroffen war also eine sehr große, wenn auch nicht genau zu beziffernde, Anzahl aristokratischer Personen. Man leitete also vermutlich das Verfahren der sog. publicatio bonorum ein, d.h. der behördlichen Beschlagnahmung des Eigentums des Delinquenten.81 Nach C. 10.10.3 hatten die rationales der res privata alles sofort zu inventarisieren.82 Dies berichtet auch das Chronicon Paschale: „[...] und ihre (scil. die der enteigneten Senatoren) Häuser wurden versiegelt.“83 Bereits im Jahre 533 durften Olybrios und Probos (so nur bei Malalas erwähnt) aus ihrem Exil zurückkehren, wie auch die anderen verbannten Senato-
78 Leppin, Justinian (wie Anm. 1), Anm. 158 auf S. 372f. 79 Zu ihrem genealogischen Verhältnis zum Kaiser Anastasios siehe insbes. Cameron, The House of Anastasius (wie Anm. 28), passim bzw. das Stemma auf S. 274. 80 Laura Solidoro Maruotti, La disciplina del crimen maiestatis tra tardo antico e medioevo, in: Cosimo Cascione/Carla Masi Doria (Hrsgg.), Diritto e giustizia nel processo. Prospettive storiche, costituzionali e comparatistiche. Napoli 2002, 361–446, hier bes. 418ff. (mit neuerer Literatur); Richard A. Bauman, Some Problems of the Lex Quisquis, in: Antichthon 1, 1967, 49–59; Bernhard Kübler, in: RE XIV, 1928, 558; Martin Avenarius, in: Reallexikon für Antike und Christentum XXIII, 2010, 1154f. 81 Manfred Fuhrmann, in: RE XXIII, 1959, 2484–2515 (s.v. publicatio bonorum). 82 Ausführliche Beschreibung dieser Vorgänge bei Roland Delmaire, Largesses sacrées et res privata. L’Aerarium impérial et son Administration du VIe au VIe siècle. (Collection de l’École française de Rome 121.) Rom 1989, 597ff. 83 Chronicon Paschale, ed. Dindorf (wie Anm. 4), 628,6f.: „... καὶ ἐσφραγίσθησαν οἱ οἶκοι αὐτῶν“.
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ren.84 Nach Johannes Malalas hätten sie ihr gesamtes Vermögen (πάντα) zurückerhalten.85 Dem folgt in der Regel die Forschung.86 Prokop jedoch, in seiner Geheimgeschichte, berichtet einen weiteren interessanten Umstand: „Bis zum Nika Aufstand glaubten sie die Vermögen der Wohlhabenden nur in Einzelfällen für sich beanspruchen zu dürfen. Doch als dieser Aufstand ausbrach, [...] , konfiszierten sie den Besitz beinahe sämtlicher Senatoren und verfügten über allen Hausrat und die schönsten Landgüter/Dörfer (χωρία) nach Gutdünken; was aber harter und schwerer Besteuerung unterlag, wählten sie klüglich aus und gaben es unter dem Schein der Milde und Menschenliebe (φιλανθρωπία) an die früheren Besitzer zurück. So mussten diese, von Steuerbeamten bedrängt und von immerwährenden Schuldzinsen aufgerieben, in steter Todesangst ein unfrohes Leben führen.“87 Hier beschreibt Prokop m.E. den Kern der Maßnahmen Justinians, die die Ausschaltung oppositioneller Teile der Senatsaristokratie zum Ziel hatten. Bisher wurde dies kaum beachtet! Und in seinem Werk über die Perserkriege, nach dem Bericht über den NikaAufstand und die Tötung von Hypatios und Pompeios, notierte er: „ [...], während der Kaiser ihr Vermögen dem δημόσιον überschreiben ließ. Ebenso verfuhr er gegenüber allen, die für sie Partei ergriffen hatten. In der Folgezeit aber gab er allen anderen und so auch den Kindern des Hypatios und Pompeios die früheren Würden zurück; dazu auch ihr Vermögen, sofern er es (noch) nicht an seine Freunde gegeben hatte.“88 Der hier aufscheinende Begriff δημόσιον ist so allgemein, dass es mit hinreichender Sicherheit nicht möglich ist, die exakte Behörde zu nennen, an die diese enormen Vermögenswerte gingen. Der Bericht des Johannes Malalas folgt einer offiziellen Version, die von Justinian selbst
84 Malalas, Chronographia, ed. Thurn (wie Anm. 4), 403,44f.: „..., ἀνακαλεσάμενος τοὺς πατρικίους Ὀλύβριον καὶ Πρόβον ὄντας ἐν ἐξορίᾳ, δεδωκὼς πάντα τὰ ὑπάρχοντα αὐτῶν“. 85 Zur restitutio in integrum siehe Anm. 92. 86 Siehe – pars pro toto – RKOR Nr. 986 (auf S. 247): „ ... ihr gesamtes Vermögen wird ihnen zurückerstattet.“ Delmaire, Largesses sacrées (wie Anm. 82), 621 betont hingegen (richtig), dass die Rückgabe nur „partiellement“ erfolgte. 87 Proc., Hist. arc., ed. Haury (wie Anm. 40), 79,5–17 (XII.12): „Ἀλλὰ μέχρι οὖν ἡ τοῦ Νίκα καλουμέμη στάσις ἐγένετο, κατὰ μίαν διαλέγεσθαι τὰς τῶν εὐδαιμόνων οὐσίας ἠξίουν· ἐπεὶ δὲ ταύτην, ... , γενέσθαι χυνέβη, τότε δὴ ἀθρόας σχεδόν τι εἰπεῖν ἁπάντων τῶν ἀπὸ τῆς συγκλήτου βουλῆς τὰς οὐσίας δημοσιώσαντες, τὰ μὲν ἔπιπλα πάντα καὶ τῶν χωρίων ὅσα κάλλιστα ἦν ᾗπερ ἐβούλοντο διεχείρισαν, ἀπολέξαντες δὲ τὰ φόρου πικροῦ τε καὶ βαρυτάτου ὑποτελῆ ὄντα, φιλανθρωπίας προσχήματι τοῖς πάλαι κεκτημένοις ἀπέδοντο. διὸ δὴ πρός τε τῶν φορολόγων ἀγχόμενοι καὶ ἀποκναιόμενοι τόκοις ὀφλημάτων ἀειρρύτοις τισὶ δυσθανατοῦντες ἀκούσιοι διεβίωσαν.“ 88 Proc., Bell. Pers., ed. Haury (wie Anm. 4), 133,21–134,3 (1,24,57–58): „βασιλεὺς δὲ αὐτῶν τε τὰ χρήματα ἐς τὸ δημόσιον ἀνάγραπτα ἐποιήσατο καὶ ἄλλων τῶν ἐκ βουλῆς ἁπάντων, οἳ δὴ τὴν γνώμην ξὺν αὐτοῖς ἔθεντο. ἔπειτα μέντοι τοῖς τε ἄλλοις ἅπασι καὶ τοῖς ῾Υπατίου καὶ Πομπηίου παισὶ τά τε ἀξιώματα, οἷς πρότερον ἐχρῶντο, ἀπείδωκε καὶ τῶν χρημάτων ὅσοις τῶν ἐπιτηδείων τινὰς οὐκ ἔτυχε δωρησάμενος.“
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veranlasst wurde, wie zuletzt Mischa Meier herausgestellt hat.89 Diese wurde, so Malalas, in alle Städte versandt.90 Es ist jedoch davon auszugehen, dass es sich bei dem δημόσιον in Prokops Text um die res privata handelte, denn diese Finanzbehörde war für die Verwaltung der bona damnatorum vel proscriptorum zuständig.91 Offensichtlich – und ich sehe keinen Grund, an den einschlägigen Quellenaussagen (Malalas, Prokop und die späteren, von ihnen abhängigen Autoren) zu zweifeln – bekamen die betroffenen Senatoren ihren Besitz zurück, nach dem römischen Recht trat die restitutio in integrum in Kraft.92 Folgt man jedoch Prokop – und auch hier sehe ich keinen berechtigten Zweifel an seiner Aussage –, dann geschah das auf eine sehr raffinierte Weise, die in der Konsequenz zur Neutralisierung eines beträchtlichen Teils der senatorischen Opposition führte, ohne dass diese physisch vernichtet werden musste. Deren Macht und Einfluss basierte in erster Linie auf ihrem riesigen Reichtum, nicht zuletzt auf ihrem umfangreichen Landbesitz in allen Teilen des Reiches93, der allerdings der allgemeinen Steuerpflicht unterworfen war. Indem diesen Familien nur das Land, nicht ihr Geld und die sicher zahllosen wertvollen Gegenstände, zurückgegeben wurden, gerieten diese in eine extrem prekäre ökonomische Situation. Prokop, wie eben zitiert, beschrieb diese Notlage durchaus richtig. Für den Landbesitz waren die regulären 89 Meier, Justinian und der Nika-Aufstand (wie Anm. 4), 277; Roger R. Scott, Malalas, the Secret History, and Justinian’s Propaganda, in: Dumbarton Oaks Papers 39, 1985, 99–109 (auch in: Meier [Hrsg.], Justinian [wie Anm. 1], 58–77). 90 Malalas, ed. Thurn (wie Anm. 4), 400,4f.; vgl. auch Chronicon Paschale, ed. Dindorf (wie Anm. 4), 628,17ff. (siehe auch Whitby/Whitby, Chronicon Paschale [wie Anm. 4], 127); RKOR 929 (S. 243). 91 Siehe gleich bei Anm. 127; vgl. zu den verschiedenen Bedeutungen von δημόσιον Delmaire, Largesses sacrées (wie Anm. 82), 15–17, hier 16 zur Bedeutung res privata. Vgl. z.B. Proc., Bell. Pers., ed. Haury (wie Anm. 4), 133,22 (I,24, 57) (Konfiskation des Vermögens von Hypatios und Pompeios – siehe oben bei Anm. 79); 140,5 (1,25,32) (Konfiskation des Vermögens Johannes‘ des Kappadokers); C.1.5.18.7–9 (RKOR Nr. 597 [S. 170f.], datiert auf 529); N.131.14 (RKOR Nr. 1305 [S. 319], a. 545); N. 142.1 (RKOR Nr. 1423 [S. 341], a. 558); N.17.15 (RKOR Nr. 1061 [S. 265], a. 535); N. 28.5 (RKOR Nr. 1076 [S. 268f.], a. 535); N. 29.4 (RKOR Nr. 1077 [S. 269], a. 535); interessant ist B.60.54.30, wo das πριβάτα von C.1.10.1 als δημόσιον wiedergegeben wird (vgl. Bibliotheca iuris canonici veteris. Ex antiquis codicibus mss. bibliothecae Christophori Justelli, horum maior pars nunc primum in lucem prodit, cum versionibus Lat., praef., notis, & ind. ... Opera & studio Gulielmi Voelli et Henrici Justelli. Paris 1661, 1296). 92 Das beschlagnahmte Vermögen konnte zurückgegeben werden. Dafür war nach C.9.51.2 eine besondere kaiserliche Verfügung nötig – siehe Georg Kleinfeller, in: RE IX, 1916, 1378– 1380 (s.v. indulgentia), bes. 1379f. Siehe die ausführliche Darstellung dieses Vorgangs bei Fritz Klingmüller, in: RE II. R. I, 1914, 676–685 (s.v. restitutio), bes. 685 zur restitutio in integrum; Delmaire, Largesses sacrées (wie Anm. 82), 620f. 93 Vgl. auch die von Pierre Arsac, La dignité sénatoriale au Bas-Empire, in: Revue historique de droit français 47, 1969, 198–243, bes. 232ff. gesammelten diesbezüglichen Belege (in erster Linie aus den Rechtsquellen).
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Steuern zu bezahlen.94 Senatorisches Land durfte nicht veräußert werden, so dass die betroffenen senatorischen Familien sich nicht einfach durch Landverkauf ihrer Bürden entledigen konnten.95 Wie aber konnten die Betroffenen ohne verfügbare Geldmittel (oder wertvolle Gegenstände, wie sie typisch für senatorische Häuser waren, die man leicht verkaufen konnte) die zweimal im Jahr fälligen Steuern bezahlen? Im September und März mussten die auf den Ländereien lastenden Steuern entrichtet werden.96 Unsere Quellen, die von der Rückgabe des Vermögens bzw. nur des enteigneten Landes berichten, nennen kein exaktes Datum, wann dies geschah. Es wäre schön, wenn wir wenigstens den Monat oder die Jahreszeit kennen würden. Geerntet wurde normalerweise im Mai und Juni. Dann brauchte man einige Zeit, um die Ernte zu verkaufen, um zu Geld zu kommen, damit die am 1. September (Beginn der indictio) fälligen Steuern bezahlt werden konnten. Erfolgte die Rückgabe des konfiszierten Landes vor Mai/Juni oder nach dem 1. September, kam der unglückselige landbesitzende – aber eben bargeldlose – Senator in ernste Probleme. Da der Verkauf von senatorischem Land verboten war, waren die „armen“ Senatoren gezwungen, sich anderweitig mit Geld zu versorgen. Sie konnten natürlich bei Freunden und Verwandten borgen. Aber auch diese Gelder (inklusive Zinsen) mussten irgendwann zurückgezahlt werden. Oder aber, sie mussten sich an die Banker in Konstantinopel (und in anderen größeren Städten) wenden. Hier, bei den Bankern (ἀργυρoπράται/argentarii), hatten sie natürlich ebenfalls Zinsen zu zahlen. Kann man Justinians Novelle 136 vom 1. April 53597, adressiert an den comes sacrarum largitionum Strategios (I., amtierte 525–539, † 541)98, damit in einem Zusammenhang sehen? Zu Beginn seiner Regierung versuchte Justinian – sicher im Rahmen seiner christlichen Weltsicht und unter Beachtung des alttestamentlichen Zinsverbots bzw. gemäß den Bestimmungen des kanonischen Rechts (etwa Kanon 17 Nikaia I)99 –, Zinsen so niedrig wie möglich zu halten. Deutlich wird 94 Jones, Later Roman Empire (wie Anm. 1), 456f. Senatoren waren in justinianischer Zeit nur den normalen Steuern (insbesondere der annona und diversen Sondersteuern, bezogen auf Landbesitz) unterworfen. 95 Zum senatorischen Landbesitz und seiner Entwicklung siehe Gilbert Dagron, Naissance d’une capitale. Constantinople et ses institutions de 330 à 451. (Bibliothèque byzantine – études 7.) Paris 1974, bes. 177ff. 96 Hendy, Studies in the Byzantine Monetary Economy (wie Anm. 41), 160. 97 Vgl. RKOR Nr. 1055 (S. 263) mit älterer Literatur; siehe bes. Aleksandra A. Čekalova, Konstantinopol’skie argiropraty v epochu Iustiniana, in: Vizantijskij Vremennik 34, 1973, 15–21. 98 PLRE II, 1034–1036 (Fl. Strategius 9) bzw. John R. Martindale, Prosopography of the Later Roman Empire. Bd. 3. Cambrige, 1992, 1200f.; Roland Delmaire, Les responsables des finances impériales au Bas-Empire romain (IVe – VIe s.). (Collection Latomus 203.) Bruxelles 1989, 262–266; Mazza, L’archivio degli Apioni (wie Anm. 39), bes. 56–59. Siehe auch oben Anm. 39. 99 Ex 22,25; Lev 25,26; Dtn 23,19; Ps 15,5. Vgl. Grégoire Cassimatis, Les intérêts dans la législation de Justinien et dans le droit byzantin. Paris 1931, 33–36. Zu den einschlägigen Kanones
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das in C. 4.32.26 (a. 528)100, wo die maximale Höhe der Zinsen auf 6 % (bzw. 6,25%) festgelegt wurde. Die illustres und andere hochgestellte Persönlichkeiten durften maximal 4 % (bzw. 4,25 %) Zinsen nehmen. Nun aber wird den argentarii/ἀργυρoπράται erlaubt, 8% Zinsen zu nehmen. In bestimmten Ausnahmefällen, den sog. Seedarlehen, waren sogar 12% möglich. Diese Novelle 136 ist aber in noch einer weiteren Hinsicht interessant. Im Proöm wird behauptet, die Vertreter der in einer „Zunft“ organisierten Banker (οἱ ἐκ τοῦ συστήματος τῶν ἀργυροπρατῶν)101, hätten sich an den Kaiser gewandt, damit dieser ihre Angelegenheiten ordne. Die Neuordnung bestand nun aber darin, dass die „Bankerzunft“ (σύστημα) nunmehr dem comes sacrarum largitionum unterstellt wurde. Unter „normalen“ Umständen unterstanden diese „zunftähnlichen“ Vereinigungen dem Stadteparchen! Nunmehr wurden sie also einer der wichtigsten Finanzbehörden unterstellt.102 Der in der Adresse genannte comes sacrum largitionum Strategios gehörte zur Apionenfamilie, die projustinianisch orientiert war. Nach der – wie gesagt, späten (9. Jahrhundert) – Narratio vom Bau der Hagia Sophia103 hatte er intensiv mit den Bauarbeiten an der Hagia Sophia zu tun.104 Folgt man diesen – zugegeben, hypothetischen – Überlegungen, kann man sich vorstellen, dass die Erhöhung der Zinsen die fraglichen Senatoren in weitere finanzielle Probleme trieb. Die Beschreibung des wirtschaftlichen Ruins dieser Leute, die Prokop gibt, wird vor dem Hintergrund dieser Überlegungen immer wahrscheinlicher.
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siehe Périclès-Pierre Joannou, Discipline generale antique (IIe–IXe s.). Bd. 1/1. Grottaferrata 1962, 38 (Kanon 17 Nikaia I), Bd. 1/2, 30 (Apostelkanon 44), 132 (Laodikeia Kanon 4). RKOR Nr. 570 (S. 165) – teilweise irreführend!; vgl. Gustav Billeter, Geschichte des Zinsfusses im griechisch-römischen Altertum bis auf Justinian. Leipzig 1898; zuletzt Demetrios Gofas, The Byzantine Law of Interest, in: Laiou (Hrsg.), The Economic History of Byzantium, Bd. 3 (wie Anm. 12), 1095–1104, 1096f.; Cassimatis, Les intérêts dans la législation de Justinien (wie Anm. 99), 48 und passim. Vgl. Brandes, Finanzverwaltung (wie Anm. 10), 622–627 (Appendix XIII); auch in Alexandreia und in anderen Städten (z.B. Korykos in Kilikien) waren sie derartig organisiert – siehe Albert Stöckle, Spätrömische und byzantinische Zünfte. (Klio-Beiheft 9.) Leipzig 1911, 21, 24; Raymond Bogaert, Les banques à Alexandrie aux époques gréco-romaine et byzantine, in: Ancient Society 23, 1992, 31–42; ders., La banque en Égypte byzantine, in: ZPE 116, 1997, 85– 140. Siehe demnächst Wolfram Brandes, Anmerkungen zur Rolle der argentarii/ἀργυρoπράται zur Zeit Justinians. Erfüllungsgehilfen kaiserlicher Finanzpolitik und Hochverräter, in: Antecessor (wie Anm. 2), 217–226; siehe demnächst auch Salvatore Cosentino, Banking in Early Ravenna, in: Cahiers de recherches médiévales et humanistes (im Druck). Vgl. schon Brandes, Finanzverwaltung (wie Anm. 10), 623f. Inzwischen erschien Salvatore Cosentino, La legislazione di Giustiniano sui banchieri e la carriera di Triboniniano, in: Polidoro. Studi offerti ad Antonio Carile, a cura di Giorgio Vespignani. (Collectana 29.) Spoleto 2013, 347–362, ein wichtiger Aufsatz, auf den ausdrücklich verwiesen sei. Siehe oben bei Anm. 19. Narratio, ed. Preger (wie Anm. 19), 78,13–79,2; 86,3; 89,2; 105,6; Patria Konstantinoupoleos, ed. Theodor Preger, Scriptores originum Constantinopolitanarum. Fasc. 2. Leipzig 1907, 260,1; Dagron, Constantinople imaginaire (wie Anm. 19), 198, 200, 202, 285.
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Und Justinian konnte diese Aktion für seine Propaganda nutzen. Indem er das konfiszierte Land retournierte, konnte er einmal mehr seine φιλανθρωπία unter Beweis stellen!105 IV. EXKURS: WEITERE NACH DEM NIKA-AUFSTAND VERURTEILTE SENATOREN Eine der erbaulichen Geschichten über ägyptische Mönche, die der heilige Daniel Sketiotes im letzten Viertel des 6. Jahrhunderts verfasste106, bietet zusätzliche Informationen zum Nika-Aufstand bzw. zu einem Angehörigen der Oberschicht, der in seiner Folge durch Justinian enteignet wurde. Es handelt sich um die Geschichte von Eulogios, dem Steinbrecher.107 Eulogios hatte bei seiner Arbeit in einem Steinbruch einen Schatz gefunden.108 Da er fürchtete, dass der ἄρχων (Provinzgouverneur, Pagarch?) ihm den Schatz abnehmen würde, beschloss er mit seinem Reichtum nach Konstantinopel zu fliehen.109 Dort herrschte gerade Ioustinos ὁ γέρων (also Justinos I. [regierte 518–527]). Gegen große Geldzahlungen wäre er zum ἔπαρχος τῶν ἱερῶν πραιτωρίων ernannt worden (wenn überhaupt, dann Honorarpräfekt oder praefectus vacans).110 Er kaufte sich ein großes Haus, das noch „heute“ (also am Ende des 6. Jahrhunderts) τἀ Αἰγύπτου genannt wird.111 Dass dieses Haus in keiner anderen Quelle genannt wird112, mag bedenklich stimmen. Dieses Phänomen ist jedoch nicht ohne Parallelen, sodass dieser Umstand nicht unbedingt gegen die Historizität des Eulogios ins Feld geführt werden sollte.113 Angeblich brachte er es sogar zum patrikios.114 Er führte ein ausschweifendes Luxusleben. Daniel in der ägyptischen Sketis erfuhr dann, 105 Siehe auch Herbert Hunger, Prooimion. Elemente der byzantinischen Kaiseridee in den Arengen der Urkunden. Wien 1964, 143–153; Otto Treitinger, Die oströmische Kaiser- und Reichsidee. Darmstadt 2. Aufl. 1956, 229ff. 106 Hans-Georg Beck, Kirche und theologische Literatur im Byzantinischen Reich. (Byzantinisches Handbuch im Rahmen des Handbuchs der Altertumswissenschaften II/1.) München 1959, 396f.; ältere Ausgabe: Vie (et récits) de L’abbé Daniel le Scétiote (VIe siècle), publ. par Léon Clugnet. Paris 1901; neue Edition mit englischer Übersetzung und (ungenügendem) Kommentar: Britt Dahlman, Saint Daniel of Sketis. A Group of Hagiographic Texts with Introduction, Translation, and Commentary. (Acta Universitatis Upsaliensis 10.) Uppsala 2007. 107 Περὶ Εὐλογίου τοῦ λατόμου, ed. Dahlman (wie Anm. 106), 148–165; BHG 618; PLRE II, 420 (Eulogius 9). 108 Gelegentlich hat man den Eindruck, dass die Byzantiner von Schatzfunden „besessen“ waren. Siehe schon eingangs bei Anm. 22. Dazu Cécile Morrisson, La découverte des trésors à l’époque byzantine. Paris 1981. 109 Περὶ Εὐλογίου τοῦ λατόμου, ed. Dahlman (wie Anm. 106), 154,96–106. 110 Περὶ Εὐλογίου τοῦ λατόμου, ed. Dahlman (wie Anm. 106), 154,108–109. 111 Περὶ Εὐλογίου τοῦ λατόμου, ed. Dahlman (wie Anm. 106), 154,109–110. 112 Vgl. etwa Janin, Constantinople byzantin (wie Anm. 72). 113 Das gilt letztlich auch für den Umstand, dass Eulogios in keiner anderen Quelle auftaucht. 114 Περὶ Εὐλογίου τοῦ λατόμου, ed. Dahlman (wie Anm. 106), 156,131 und 160,192f.
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Wolfram Brandes
dass Hypatios, Dexikrates, Pompeios und der Präfekt Eulogios sich gegen den neuen Kaiser Justinian erhoben hätten.115 Drei von ihnen wurden festgenommen, hingerichtet und ihr Vermögen konfisziert. Letzteres traf auch auf Eulogios zu, der aber fliehen konnte und so dem Tode entging. Der Kaiser habe befohlen, ihn, falls er ergriffen werden sollte, ebenfalls hinzurichten.116 Eulogios entkam jedenfalls und kehrte nach Ägypten zurück, wo er wieder als Steinbrucharbeiter ein gottgefälliges Leben führte. Eulogios – immer vorausgesetzt diese „Geschichte“ hat einen historischen Kern – war kein Angehöriger der „alten“ Senatsaristokratie, bestenfalls ein Neureicher, der sich diverse Titel gekauft hatte. Trotzdem wurde er enteignet, weil er wirklich oder vermutet in gegen Justinian gerichtete oppositionelle Gruppierungen involviert war. Das könnte ein Hinweis darauf sein, dass die auf die wirklichen Senatoren konzentrierte Sicht des Prokop117 die eigentlichen Vorgänge zu verengt wiedergibt und die antijustinianische Opposition sich nicht allein aus den „alten“ Senatorenfamilien rekrutierte. Dunkel bleibt die Person des im Zusammenhang mit Eulogios erwähnten Dexikrates.118 Sollte es sich um den Konsul des Jahres 503 handeln? Man meinte, es handele sich um eine Verwechslung mit dem bei Prokop genannten Probos. Doch erscheint es mir wahrscheinlicher zu sein, dass wir hier einen weiteren Namen eines hochrangigen Senators erfahren, der ein Opfer der Maßnahmen Justinians nach dem Nika-Aufstand wurde. Auch das Chronicon Paschale berichtet über umfangreichere Verfolgungen von Angehörigen der Oberschicht und einem umfassenden „kaiserlichen Terror“ und erwähnt Thomas, a secretis und Leibarzt Justinians, der enthauptet wurde, sowie einen kandidatos Ephraem, der nach Alexandreia verbannt wurde (eine sehr gnädige Strafe). Beide waren in die Erhebung des Hypatios zum Kaiser während des Aufstandes verwickelt und gehörten vermutlich keiner der großen senatorischen Familien an.119
115 Περὶ Εὐλογίου τοῦ λατόμου, ed. Dahlman (wie Anm. 106), 160,183–195: „... ἀνταίρουσιν αὐτῷ ῾Υπάτιος καὶ Δεξικράτης καὶ Πομπήϊος καὶ Εὐλόγιος ὁ ὕπαρχος“. 116 Ebenda: „καὶ οἱ μὲν τρεῖς κρατηθέντες ἀπεκεφαλίσθησαν καὶ διηρπάγςσαν πάντα τὰ αὐτῶν καὶ ἡ οὺσία Εὐλογίου … καὶ κελεύει ὁ βασιλεὺς ἵνα ὅπου εὑρεθῇ ὁ Εὐλόγιος ἀποθάνῃ“. 117 Averil Cameron, Procopius and the Sixth Century. Berkeley/Los Angeles 1985, 64 und passim. 118 PLRE II, 357 (Fl. Dexicrates). 119 Chronicon Paschale, ed. Dindorf (wie Anm. 4), 628 (vgl. Whitby/Whitby, Chronicon Paschale [wie Anm. 4], 126); PLRE II, 444 (Ephraemius) und 1315 (Thomas 5); siehe auch Meier, Justinian und der Nika-Aufstand (wie Anm. 4), 277f.
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V. ADMINISTRATIVE REFORMEN IM ZUSAMMENHANG MIT DEM NIKA-AUFSTAND Alle diese Maßnahmen, die Konfiskation und Verwaltung des Eigentums der inkriminierten Senatoren (und anderer involvierter Reiche) fielen in die Zuständigkeit einer weiteren Finanzbehörde, der Comitiva rerum privatarum. Das konfiszierte Vermögen verurteilter Verbrecher (also auch der des Hochverrats Schuldigen), die bona damnatorum vel proscriptorum120, gingen, wie bereits ausgeführt,121 an diese Verwaltung. War es ein weiterer Zufall, dass Ende 531, vor dem 27. November, mithin wenige Wochen vor dem Ausbruch des Nika-Aufstandes, Justinian eine scheinbar periphere – und entsprechend in der Forschung kaum beachtete122 – Reform der Verwaltung des comes rerum privatarum vornehmen ließ? Hauptzeuge dafür ist das Gesetz C. 7.37.3 (27.11.531), adressiert an Phloros123, der nunmehr (und erstmalig) die Funktionen eines comes rerum privatarum mit dem nun eingeführtem Amt124 des curator dominicae domus kombinierte. Die eigentliche kaiserliche Verfügung, die diese administrative Wandlung in Gang brachte, ist nicht überliefert, was nicht ungewöhnlich ist. Das Gesetz vom 27. November 531 ist somit terminus ante quem. Dies bedeutete auch – so die einschlägigen Forschungen –, dass nunmehr die existierenden divinae domus (eine riesige Landmasse, verteilt über alle Provinzen des Reiches) nunmehr von einer zentralen Stelle aus verwaltet wurden. Auch wenn in dem erwähnten Gesetz nicht eigens erwähnt, ist mit einer erheblichen Aufstockung des Personalbestandes zu rechnen. Nach Roland Delmaire (der wiederum Ernst Stein folgte), dem m.E. zuzustimmen ist, ist die Adresse von C. 7.37.3 nur so zu verstehen, dass Phloros als comes rerum privatarum gleichzeitig für die kaiserlichen Domänen und die damit verbundenen Eigentumstitel zustän 120 CTh 9.42.7 (369) = C.9.49.7; CTh 10.9.1 (369) = C.10.10.3; CTh 10.16.3. (377); CTh 15.2.4 (389) = C.11.43.2; C.10.2.5; CTh 9.42.17 (401); CTh 10.10.23 (401) = C.5.5.4; Delmaire, Largesses sacrées (wie Anm. 82), 598ff.; Johannes Karayannopulos, Das Finanzwesen des byzantinischen Staates. (Südosteuropäische Arbeiten 52.) München 1958, 71; grundlegend ist Wolfgang Waldstein, in: RE Suppl. X (1965) 96–119 (s.v. bona damnatorum). 121 Siehe oben bei Anm. 91. 122 RKOR 928 (S. 236) – mit verfehlter Inhaltsangabe; vgl. aber Delmaire, Largesses sacrées (wie Anm. 82), 231f.; Michel Kaplan, Byzance. Villes et campagnes. (Les médiévistes français 7.) Paris 2006, 142f.; Ernst Stein, Studien zur Geschichte des byzantinischen Reiches vornehmlich unter den Kaisern Justinus II und Tiberius Constantinus. Stuttgart 1919, 170ff., bes. 173f.; ders., Histoire II (wie Anm. 1), 423, 433; Brandes, Finanzverwaltung (wie Anm. 10), 35 mit Anm. 112 und 140. 123 „Imp. Justinianus A. Floro comiti rerum privatarum et curatori dominicae domus et Petro viro illustri curatori divinae domus serenissimae Augustae et Macedonio viro illustri curatori et ipsi dominicae domus“; siehe noch PLRE III 490 (Florus 1) – mit einigen Irrtümern!; Delmaire, Les responsables (wie Anm. 82), 261f. 124 So PLRE loc. cit.; Stein, Histoire II (wie Anm. 1), 423; Brandes, Finanzverwaltung (wie Anm. 10), 35.
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dig war. Wegen dieser Kompetenzakkumulierung habe er jedoch die Zuständigkeit an den neu geschaffenem und ihm unterstellten curator delegiert („à cause de ses occupations, il doit déléguer cette charge à un curateur […]“, so Delmaire).125 Phloros hatte beide Funktionen nur eine kurze Zeit inne – ein Umstand, der dafür spricht, dass die erwähnte Reform kurz vor C. 7.37.3 durchgeführt wurde – und bald firmierte er nur noch als comes rerum privatarum.126 Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass C. 7.37.3 in inhaltlicher Hinsicht – es geht um die Ausdehnung eines Privilegs des Kaisers Zenon für „staatliche Ländereien“ auf die res dominica – eine eindeutige Vermengung der eigentlich seit Anastasios geschiedenen Gütermassen des kaiserlichen Privatvermögens und der res privata bedeutete, wobei C. 7.37.3 in sich durchaus widersprüchlich ist.127 Hier findet sich auch ein „Selbstzeugnis“ des Kaisers, der eine Unterscheidung (differentia) der beiden Vermögensmassen als inrationabile bezeichnet, da ohnehin alles (omnia) als dem Kaiser gehörend erscheint ([...], cum omnia principis esse intellegantur). Wie schon Rudolf His im Jahre 1896 herausstellte, stand nunmehr die Verwaltung der divina domus „durchweg als gleichberechtigt“ neben denen der res privata und des sacrum patrimonium.128 Entsprechend wird in diversen Gesetzen der folgenden Jahre τὸ θεῖον πατριμόνιον, τὰ θεῖα πρίβατα sowie ὁ θεῖος οἶκος deutlich geschieden.129 Die res privata und deren regionale und lokale Verwaltungseinheiten im Reich hatten somit die Verwaltung der domus divina abgegeben, was gleichzeitig ihre Kapazitäten für neue Aufgaben erhöhte. Und diese neuen Aufgaben bestanden m.E. vor allem in der Verwaltung der alsbald anfallenden konfiszierten Güter der enteigneten Senatorenfamilien. Phloros hat seine Aufgaben offenbar zur vollsten Zufriedenheit des Kaisers absolviert. Als einziger comes rerum privatarum der Geschichte der Spätantike wurde er zum Honorarkonsul (März 536) ernannt. Auffällig ist außerdem, dass Phloros sein Amt genau in den Jahren ausübte, während deren die Hagia Sophia errichtet wurde. Im Jahre 536 wurde dann die domus divina von den res privatae separiert und dem sacrum cubiculum unterstellt.130 Diese Behörde und ihr Behördenchef hatten ihre Aufgabe erfolgreich erfüllt, und eine erneute Behördenreform konnte sie für neue Aufgaben umstrukturieren. Was ist also von dieser Reform im Oktober oder November 531, so kurz vor dem Ausbruch des Nika-Aufstandes, zu halten? Gibt es einen Zusammenhang?
125 Delmaire, Largesses sacrées (wie Anm. 82), 231; siehe schon Rudolf His, Die Domänen der römischen Kaiserzeit. Leipzig 1896, 79f. 126 Delmaire, Les responsables (wie Anm. 98), 261. 127 Vgl. in diesem Sinne schon Stein, Studien (wie Anm. 122), 174. 128 His, Domänen (wie Anm. 125), 80. 129 Ed.4.2 (ca. 535/537; N.102 (a. 536) und Ed.8.2 (a. 548). 130 Delmaire, Largesses sacrées (wie Anm. 82), 232.
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Oder haben wir es schon wieder mit der Kategorie Zufall, etwas vornehmer: Kontingenz, zu tun?131 Wir kennen kein spezielles Ereignis oder eine langfristigere Entwicklung, die diese Reform Ende 531 erklären könnten. Das besagt natürlich zunächst noch gar nichts, denn von den zahlreichen reformerischen Gesetzen und Novellen gerade der 30er Jahre des 6. Jahrhunderts sind die eigentlichen Anlässe oft – nicht immer – unbekannt bzw. können nur mühsam erschlossen werden.132 Sollte Justinian in weiser Voraussicht eine in naher Zukunft zu erwartende besondere Beanspruchung der Beamtenschaft der res privata antizipiert und diese durch eine Verwaltungsreform in die Lage versetzt haben, große Mengen an bona damnatorum zu verwalten und für das nach dem Januar 532 einsetzende riesige Bauprogramm nutzbar zu machen? VI. ZWISCHENÜBERLEGUNG133 Dass die Bauarbeiten an dem für gut tausend Jahre größten Bauwerk der Christenheit so schnell nach den verheerenden Ereignissen des Nika-Aufstandes aufgenommen werden konnten und dass dieses in einer so erstaunlich kurzen Zeit vollendet wurde, war nur möglich, wenn bereits fertige Pläne vorlagen. Offensichtlich hatte Justinian schon sehr früh (vielleicht sogar vor seinem eigentlichen Herrschaftsantritt) die Planung einer gigantischen Kirche in Auftrag gegeben, die die Polyeuktos-Kirche übertreffen sollte.134 Die Architekten (und herausragenden Naturwissenschaftler) Anthemios von Tralles, der bereits 534 (während der laufenden Bauarbeiten) starb und Isidoros von Milet135 waren sicher ganz vorzügliche Fachleute. Doch sie konnten nicht in wenigen Wochen Baupläne vorlegen, die so weit fortgeschritten waren, dass man bereits mit dem Bau beginnen konnte. Außerdem stellte die Koordinierung von vielen tausend Bauarbeitern und das Herbeischaffen und Verwalten gigantischer Mengen an Baumaterial eine so ungeheure logistische Herausforderung dar, dass auch das nicht in wenigen Wochen erledigt worden sein konnte. Man geht also nicht zu weit – auch wenn ich keine Quelle zu nennen vermag, die das expressis verbis mitteilt –, anzunehmen, dass der so schnelle und erfolg 131 Vgl. zur Problematik des „Zufalls“ (mit umfangreichen Literaturangaben) Historisches Wörterbuch der Philosophie 4, 1976, bes. 1031–1034 (s.v. Kontingenz); ebenda 12, 2002, bes. 1416– 1419 (s.v. Zufall). 132 Siehe Stein, Histoire II (wie Anm. 1), 417ff. 133 Die folgenden Überlegungen gehen auf Anregungen von Urs Peschlow zurück. Ihm sei auch an dieser Stelle aufs herzlichste gedankt! 134 Zur Rolle der Polyeuktos-Kirche siehe oben bei Anm. 30–38. 135 Siehe zu ihnen John Warren, Greek Mathematics and the Architects to Justinian. London 1976; PLRE III, 88f. (Anthemius 2) und 734 (Isidorus 4); Friedrich Hultsch, in: RE I, 1894, 2368 und Ernst Fabricius, in: RE IX, 1916, 2081; Marcell Restle, in: Reallexikon zur byzantinischen Kunst 3, 1978, 505–508.
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reiche Bau der Hagia Sophia nur nach jahrelangen Vorarbeiten erfolgt sein konnte. Beim Ausbruch des Nika-Aufstandes verfügte Justinian bereits über die fertigen Pläne für den Neubau der Hagia Sophia, der die Polyeuktos-Kirche übertreffen sollte. Diese Überlegungen wurden m.W. bisher nicht bzw. nicht so in der Forschung ventiliert. Und doch scheinen auch sie mir geeignet, die schon mehrfach angesprochene Ansicht von Mischa Meier über den inszenierten Charakter des Ausbruchs des Nika-Aufstandes zu stützen. VII. RESÜMEE Hier konnten (mit einigen Ausnahmen) nur Hypothesen geäußert werden, die sich – notgedrungen – durch andere Hypothesen konterkarieren lassen. Und doch scheinen mir einige finanzpolitische Maßnahmen Justinians – die Reform der res privata und die Erhöhung der Zinsen (was Justinians sonstigem christlichem Gestus durchaus widersprach) – in Verbindung mit dem wichtigsten innenpolitischen Ereignis der frühen 30er Jahre – insbesondere dem Nika-Aufstand und dessen Folgen – sowie dessen schlüssiger Deutung durch Mischa Meier, geeignet, die Hintergründe bestimmter Gesetze des Kaisers besser zu begreifen als zuvor. Das Ergebnis dieser Maßnahmen war jedenfalls das Verschwinden einiger der bedeutendsten und reichsten großen Senatorenfamilien. Von den Anicii hört man im weiteren 6. Jahrhundert kaum noch etwas, wie auch von der Familie des Kaisers Anastasios.136 Potentielle oder tatsächliche Feinde des Kaisers waren eliminiert worden – nicht durch Todesurteile, sondern durch deren wirtschaftlichen Ruin, ein Umstand, den Prokop völlig klar gesehen und beschrieben hat. Man hat ihm nur nicht so richtig geglaubt. Der Kaiser kam zu riesigen Geldmitteln und konnte so sein gigantisches Bauprogramm – mit der Hagia Sophia als Kernstück – realisieren und einen lange vorbereiteten Plan erfüllen. Am Ende der 30er Jahre, so wurde festgestellt137, kam es als Folge des NikaAufstandes bzw. der Dezimierung des Senatorenstandes zu interessanten Wandlungen der Aufgaben, der Rekrutierung und auch der Titulaturen der Angehörigen dieser sozialen Gruppe. In N. 62 (a. 537) werden Aufgaben und Kompetenzen der Senatoren umfassend neu geregelt. Unter anderem sollten sie nunmehr verstärkt in Prozessen aktiv werden. Streng wurde nun zwischen Senatoren, die in aktiver Weise eine Funktion wahrnahmen, und denen, die dies eben nicht taten, unterschieden. Beat Näf schrieb zutreffend von einer Reduktion der Bedeutung des 136 Siehe jedoch Cameron, The House of Anastasius (wie Anm. 28). 137 Haldon, Fate (wie Anm. 25), 189; ders., in: Maas (Hrsg.), Companion to Justinian (wie Anm. 1), 39f.; Stein, Histoire II (wie Anm. 1), 429–432; Jones, Later Roman Empire (wie Anm. 1), 333ff., 529–533; Beat Näf, Senatorisches Standesbewußtsein in spätrömischer Zeit. (Paradosis 40.) Freiburg 1995, bes. 265f.; siehe bes. Paolo Garbarino, Contributo allo studio del senato in età giustinianea. (Memorie dell’Istituto Giuridico, ser. 4,2.) Napoli 1992, passim.
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Senats zum bloßen „Konsultativorgan“.138 Ein Jahr später erlaubte die N. 70 sogar den Zugang von Kurialen in den Senatorenstand. Das bedeutete auf der einen Seite eine Entwertung, auf der anderen Seite zeigte dies die Notwendigkeit einer personellen Verstärkung des reduzierten Senatorenstandes. Man könnte meinen, ich unterstelle Justinian einen perfiden Plan und mache ihn zu einem skrupellosen Politiker. Der war er sicher auch. Doch meine ich, dass der eigentliche Schöpfer dieses Planes zur Neutralisierung gefährlicher politischer Gegner – falls es ihn denn wirklich gab – Johannes der Kappadoker war. Als praefectus praetorio per Orientem, als mächtigster und wichtigster Finanzbeamter bis zum Nika-Aufstand und nach einer kurzen Pause dann erneut, hatte er den Überblick und verfügte über die notwendigen Informationen, um derartiges zu ersinnen. Er hätte heute sicher einen sehr erfolgreichen Investmentbanker oder Vorstand eines hedge-fonds abgegeben. Leider gibt es keine monographische Untersuchung seines Wirkens139, das von Prokop, Johannes Lydos und anderen Autoren in den schwärzesten Farben gemalt wird, die die tatsächliche historische Bedeutung dieses Mannes erhellen könnte.
138 Näf a.a.O. 265. 139 Siehe aber bes. Stein, Histoire II (wie Anm. 1), 433–449, 463–483; Paolo Lamma, Giovanni di Cappadocia, in: ders., Oriente et Occidente nell’ alto medioevo. Padua 1968, 59–81.
III. JENSEITS DES KAISERS (1): NEUE HERRSCHAFTSRÄUME
ROMS „ARABISCHE“ GRENZE HERRSCHAFTSORGANISATION AN DER OSTGRENZE DES REICHES Julia Hoffmann-Salz Als Nachfolger der Seleukiden wurden die Römer im Nahen Osten zu Nachbarn arabischer Völker, die bereits seit langer Zeit mit hellenistischem Kulturgut in Berührung gekommen waren und auf Kosten des untergehenden Seleukidischen Reiches eigene Territorialherrschaften in Syrien errichtet hatten.1 Nicht alle dieser lokalen Herrschaftsbereiche wurden aufgelöst und in römische Provinzen eingegliedert, denn sie konnten wichtige Sicherungsaufgaben gegenüber den anderen Stämmen in der Wüste übernehmen. So ließ Pompeius einen Kranz von Klientelstaaten um die neu eingerichteten Ostprovinzen bestehen, die als Puffer gegenüber den Stämmen der Wüste aber auch gegenüber den Parthern fungieren sollten.2 Seit der Kaiserzeit kam es dann zu einer Abkehr von dem Prinzip der Klientelstaaten, die über kurz oder lang den römischen Provinzen zugeschlagen wurden.3 Die Annexion des Nabatäerreiches 106 n. Chr. markierte dabei den vorläufigen Höhepunkt dieser Entwicklung.4 Sie sorgte nicht nur für eine immense Gebietserweiterung und für die Inkorporation einer großen arabischen Bevölkerung in das Reich, sie brachte auch wichtige Veränderungen im Umgang Roms mit seiner arabischen Grenze. Denn nun grenzte das Römische Reich direkt an die Stämme der Arabischen Halbinsel, deren Interaktion mit der Mittelmeerwelt zuvor durch ihre hellenisierten nördlichen Nachbarn kontrolliert worden war. Um hier die notwendigen Sicherungsaufgaben nun selbst wahrnehmen zu können, errichtete man mit der via nova Traiana von Ayla nach Bosra eine durch Straßentrasse, Kastelle und Wach-
1 2 3 4
Vgl. Jean Paul Rey-Coquais, La Syrie romaine de Pompée à Diocletien, in: JRS 68, 1978, 44ff; Maurice Sartre, D’Alexandre à Zénobie. Histoire du Levante antique. IVe siècle av. J.C.–IIIe siècle ap. J.-C. Paris 2001, 436ff. Vgl. Strab. 16,1,28. Vgl. Greg Fisher, Between Empires. Arabs, Romans, and Sasanians in Late Antiquity. Oxford 2011, 73–74; vgl. Rey-Coquais, La Syrie romaine (wie Anm. 1), 48ff. Peter Funke, Die syrisch-mesopotamische Staatenwelt in vorislamischer Zeit. Zu den arabischen Macht- und Staatenbildungen an der Peripherie der antiken Großmächte im Hellenismus und in der römischen Kaiserzeit, in: Bernd Funck (Hrsg.), Hellenismus. Beiträge zur Erforschung von Akkulturation und politischer Ordnung in den Staaten des hellenistischen Zeitalters. Akten des internationalen Hellenismus-Kolloquiums 1994 in Berlin. Tübingen 1996, 224–226.
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türme geprägte Grenzlinie, an die sich östlich eine weitere Strecke mit Kastellen von Amman nach Ma’ān anschloss.5 Das 3. Jahrhundert n. Chr. sollte zeigen, dass diese Vorsichtsmaßnahmen gerechtfertigt waren – aber nicht ausreichten. Und dies musste insbesondere dann gelten, wenn zusätzlich zu den nomadischen Stämmen der Syrischen wie Arabischen Wüste6 Gefahr von einer anderen Macht drohte, nämlich den Sassaniden, die als Nachfolger der Parther eine wesentlich aggressivere Politik gegenüber Rom betrieben. In dieser Bedrohungslage gelang es Odainath von Palmyra gleichermaßen die Herrschaftsansprüche Roms wie die der Sassaniden in Syrien für kurze Zeit zu unterbinden. Zwar gehörte Palmyra seit augusteischer Zeit zum Römischen Reich, aber unter Odainaths Witwe Zenobia gelang es palmyrenischen Truppen zwischen 270 und 271, Syrien, Arabien, Ägypten und Teile Anatoliens zu erobern und dort einen eigenständigen Machtbereich aufzubauen. Nach mehreren Niederlagen in Feldschlachten konnte Aurelian schließlich Zenobia gefangen nehmen und 272 n. Chr. auch Palmyra einnehmen.7 Mit der Rückeroberung und dann Zerstörung Palmyras 273 n. Chr. stellte sich Rom nun erneut das Problem der Sicherung der arabischen Grenze, für die seit dem 4. Jahrhundert durch Allianzen mit arabischen Stammesführern eine neue Lösung gefunden wurde.8 Parallel zu dieser politischen Entwicklung kam es auch zu einem Wandel der Begrifflichkeiten. Denn bis zur Spätantike hatten die griechisch-römischen Quellen die Bezeichnung Araber für eine Reihe von Gemeinschaften verwendet, denen sie dieses „Etikett“ offenkundig primär wegen ihres nomadischen und oft räuberischen, „unzivilisierten“ Lebenswandels zuschrieben. Der Begriff „Araber“ wurde also meist synonym zum modernen Begriff „Beduine“ gebraucht.9 Ab dem 4. Jahrhundert beziehen die antiken Quellen diesen Namen dann nur noch auf die Bewohner der Provinz Arabien, während arabische Stämme außerhalb Arabiens 5 6
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Vgl. Philip Mayerson, The Saracens and the Limes, in: BASOR 262, 1986, 36–42; Irfan Shahîd, Rome and the Arabs. A Prolegomenon to the Study of Byzantium and the Arabs. Washington 1984, 20. Vgl. Ursula Hackl, Einige Gedanken zur Geschichte der vorislamischen Araber, in: Robert Rollinger/BrigitteTruschnegg (Hrsgg.), Altertum und Mittelmeerraum: Die antike Welt diesseits und jenseits der Levante. Festschrift für Peter W. Haider zum 60. Geburtstag. Stuttgart 2006, 121132, hier 124. Zur Geschichte des Palmyrenischen Sonderreiches vgl. Udo Hartmann, Das Palmyrenische Teilreich. (Oriens et Occidens 2.) Stuttgart 2001. Vgl. Robert G. Hoyland, Arab Kings, Arab Tribes and the Beginnings of Arab Historical Memory in Late Roman Epigraphy, in: Hannah M. Cotton et al. (Hrsgg.), From Hellenism to Islam. Cultural and Linguistic Change in the Roman Near East. Cambridge 2009, 380–381. Daneben tritt mit Diodor und Strabon eine geographische Verortung des Raums „Arabien“ im Gebiet der heutigen arabischen Halbinsel; vgl. Sylvie Honigman, Les divers sens de l’ethnique `‘ΑΡΑΨ dans les sources documentaires grecques d’Égypte, in: Ancient Society 32, 2002, 45–48; Henry I. MacAdam, Strabo, Pliny the Elder and Ptolemy of Alexandria: Three Views of Ancient Arabia and its Peoples, in: Toufic Fahd (Hrsg.), L’Arabie préislamique et son environment historique et culturel. Actes du colloque à Strasburg 1987. Leiden 1989, 289–320. Zur Begriffsdefinition vgl. auch David Cook, Syria and the Arabs, in: Philip Rousseau (Hrsg.), A Companion to Late Antiquity. Chichester 2009, 467–468.
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und allgemein Nomaden jetzt als „Sarazenen“ bezeichnet werden.10 So nennt Ammianus Marcellinus jeweils als Anwohner des Roten Meeres die „skenitischen Araber, die wir jetzt Sarazenen nennen“ und an anderer Stelle die „skenitischen Araber, die man später Sarazenen nannte“.11 Bedeutung und Etymologie des Begriffs „Sarazenen“ sind in der Forschung umstritten – ebenso wie die Gründe für den Begriffswandel.12 In der altsyrischen Literatur der Spätantike werden die arabischen Stämme als Tayoye, tyy, bezeichnet, doch auch hier ist die Herkunft des Begriffs ebenso wie auch sein genauer Inhalt unklar.13 Während die zeitgenössischen spätantiken und byzantinischen Quellen nur geringes Interesse an den arabischen Stämmen zeigen und nur selten Informationen etwa über ihre Organisation oder genaue Lokalisierung liefern, zeichnet die spätere arabische Historiographie das Bild einer Abfolge von arabischen Stammesföderationen im Bündnis mit den Römern, beginnend mit Gadhīma, den Herrschern von Palmyra, Lakhme, Tanūh, Salīh und schließlich Ghassān.14 Diese werden von vielen Forschern als verbündete Föderationen begriffen, denen Rom und dann Byzanz Herrschaftsaufgaben übertrug. Insbesondere die Rolle der arabischen Verbündeten in der Grenzverteidigung wird immer wieder betont, so dass sich Rom und Byzanz dank der Verbündeten aus der aktiven Grenzsicherung hätten zurückzuziehen können.15 10 Hoyland, Arab kings (wie Anm. 8), 392–393. 11 Amm. 22,15,1 u. 23,6,13, Übersetzung: Ammianus Marcellinus, Römische Geschichte. Lateinisch und Deutsch und mit einem Kommentar versehen von Wolfgang Seyfarth, Dritter Teil, Buch 22–25. Berlin 1970. Auch in der rabbinischen Literatur des 3. Jh. n. Chr. und der Historia Augusta findet sich eine Differenzierung zwischen Arabern und Sarazenen vgl. Jan Retsö, The Arabs in Antiquity. Their History from the Assyrians to the Umayyads. London 2003, 529. 12 Hier werden u.a. eine seit dem 2. Jh. n. Chr. auftretende Dominanz eines spezifischen Stammes diesen Namens, der dann für alle Stämme verwendet wird, ferner eine Bedeutung im Sinne von Plünderern und Räubern in Abgrenzung zu den friedlicheren Stämmen im Reich, Ableitungen von arabischen oder aramäischen Begriffen für „Ost“ oder „leer“ als Hinweis auf die Herkunft der Stämme aus der Wüste oder ein Hinweis auf deren neue Organisationsform in Föderationen diskutiert. Vgl. Shahîd, Rome and the Arabs (wie Anm. 5), 123–141; Michael C.A. Macdonald, Quelques réflexions sur les Saracènes, l’inscription de Rawwāfa et l’armée romaine, in: Hélène Lozachmeur (Hrsg.), Présence arabe dans le croissant fertile avant l’Hégire. Actes de la table ronde internationale organisée au Collège de France 1993. Paris 1995, 93–98; Ulf Scharrer, The Problem of Nomadic Allies in the Roman Near East, in: Ted Kaizer/Margherita Facella (Hrsgg.), Kingdoms and Principalities in the Roman Near East. (Oriens et Occidens 19.) Stuttgart 2010, 259–260; Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 76. 13 Fergus Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity. Conceptions and Representations from within the Frontiers of the Empire, in: Henning Börn/Josef Wiesehöfer (Hrsgg.), Commutatio et contentio: Studies in the Late Roman, Sassanian and Early Islamic Near East in Memory of Zeev Rubin. Düsseldorf 2010, 201. Möglicherweise liegt hier eine Ähnlichkeit zu der in der rabbinischen Literatur verwendeten Begrifflichkeit, vgl. Retsö, The Arabs in Antiquity (wie Anm. 11), 526. 14 Vgl. Sartre, D’Alexandre à Zénobie (wie Anm. 1), 986. 15 Vgl. Maurice Sartre, The Arabs and the Desert Peoples, in: CAH XII², 2005, 518–520; Walter Pohl, Justinian and the Barbarian Kingdoms, in: Michael Maas (Hrsg.), The Cambridge
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Diese Deutung wirft zahlreiche Fragen auf und ist entsprechend nicht unwidersprochen geblieben. Der vorliegende Beitrag möchte sich auf die Suche nach der Herrschaftsorganisation Roms und Byzanz’ an seiner „arabischen Grenze“ vom 4. bis ins frühe 6. Jahrhundert begeben und fragen, wer hier für welche Herrschaftsaufgaben herangezogen wurde und ob sich Rom bzw. Byzanz dabei tatsächlich aus einer so kardinalen Herrschaftsaufgabe wie der Grenzsicherung zurückzog. Dazu wird zunächst ein Blick auf die Organisation der Grenzverteidigung an der „arabischen Grenze“ geworfen und hierbei auch nach der Ausrichtung dieser Grenze gefragt. In einem zweiten Schritt soll es dann darum gehen zu zeigen, wen man für die an dieser Grenze anfallenden Aufgaben eigentlich als Verbündeten benötigte und wie diese Verbündeten dann an Rom bzw. Byzanz gebunden wurden. Dabei soll gezeigt werden, dass die Ausrichtung der „arabischen Grenze“ primär gegen das Sassanidische Reich Bündnisse mit großen Stammesverbänden, die dann ähnlich den germanischen foederati auch auf Reichsgebiet angesiedelt wurden, nicht nötig machte. Vielmehr waren Führungspersönlichkeiten aus dem Milieu der Stämme gesucht, die durch die Aufstellung eigener Aufgebote paramilitärische Aktionen gegen die Sassaniden ausführen sollten. Sie standen dabei neben der regulären Grenzsicherung durch Rom und Byzanz, aber nicht anstelle dieser. Denn während des gesamten Untersuchungszeitraums lassen sich Maßnahmen der Kaiser entlang der Ostgrenze nachweisen: Diese wurde zunächst unter Diokletian umfassend reorganisiert, indem entlang einer Linie von Sura am Euphrat über Palmyra, Damaskus und Bosra bis nach Ayla am Golf von Aqaba zahlreiche Kastelle und Lager angelegt wurden. Für diese neue Verteidigungslinie ist der Name strata Diocletiana durch mehrere Meilensteine belegt, doch die Ausbaustufen und Nutzungsdaten der archäologisch nachweisbaren Kastelle entlang dieser Linie und ihrer vielleicht konstantinischen Erweiterung entlang des Euphrat sind in der Forschung umstritten.16 Diokletian veränderte auch die Zuschnitte der Provinzen, indem er aus der trajanischen Provinz Arabia den Süden mit Petra, dem Negev und dem Hedschas herauslöste und zu Palestina gab. Dieser Raum wurde nun als Palestina Tertia verwaltet, während die alte Restprovinz den Namen Arabia behielt.17 Auch im 5. wie 6. Jahrhundert sind zahlreiche administrative wie bauliche Companion to the Age of Justinian. Cambridge 2005, 499–500; Irfan Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 6th Century Bd. 2.1. Washington D.C. 2005, 21ff. 16 Fergus Millar, The Roman Near East 31 BC – AD 337. Cambridge M.A./London 1993, 180– 190; Benjamin Isaac, The Limits of Empire. The Roman Army in the East. Oxford 1990, 162ff.; vgl. auch Francis E. Peters, Romans and Bedouin in Southern Syria, in: Journal of Near Eastern Studies 37.4, 1978, 319ff. 17 Irfan Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 4th Century. Washington D.C. 1984, 488–489. Für Mayerson ist bedeutsam, dass die einzige Legion, die den drei palästinischen Provinzen zugewiesen war, an deren südlichstem Ende stationiert war, denn die Hafenstadt Ayla war sowohl strategisch als auch ökonomisch ein Einfallstor in das Reichsgebiet: Mayerson, The Saracens and the Limes (wie Anm. 5), 42. Nach Bowersock trug Diokletian mit seinen Maßnahmen vor allem geostrategischen Überlegungen Rechnung, da der Norden der alten Provinz mit Bosra, Gerasa, Philadelphia und Adaraa nach Damaskus und die Kommunikationsroute von Damaskus zum Wadi Sirhān ausgerichtet gewesen sei, während der Süden und damit die
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und strategische Maßnahmen der Kaiser entlang dieser Grenze nachweisbar.18 Unklar ist, warum vorgeschobene Außenposten römischer Einheiten wie etwa in Hegra oder Dumat al-Jandal aufgegeben wurden.19 So sehen einige Forscher auch hier die Aufgabe der arabischen Verbündeten, den Rand des Reiches an Steppe und Wüste zu schützen, während sich Rom selbst aus diesem Gebiet zurückgezogen habe.20 Die archäologisch nachweisbare Auflassung vorgeschobener Kastelle muss dabei aber nicht zwangsläufig dafür sprechen, dass Rom bzw. Byzanz sich aus der Grenzsicherung zurückzogen und diese Aufgabe den arabischen Verbündeten überließen, denn dazu stünden ja dann die Maßnahmen der Kaiser entlang der Grenzlinie im Widerspruch. Es ist daher zu fragen, gegen wen die Grenzlinie und ihre Sicherung eigentlich gerichtet waren und welche speziellen Anforderungen diese Ausrichtung möglicherweise an das Grenzsystem stellte. Dank der Zweiteilung in kleinere Grenztruppen und gleichzeitiger Stationierung größerer Truppeneinheiten an Knotenpunkten entlang der Grenzlinie konnte flexibel auf Bedrohungen von Osten wie Süden reagiert werden.21 Und diese Aus-
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neue Provinz mit dem natürlichen Zentrum in Petra eher an die Kommunikationsroute vom Wadi Araba durch den Negev zum Mittelmeer bei Gaza oder Rhinocolura angebunden gewesen sei: Glen W. Bowersock, Roman Arabia. Cambridge M.A. 1983, 142–144. Zum Wadi Sirhān als Einfallstor nomadischer Stämme in das besiedelte Land Syriens und Arabiens vgl. auch Peters, Romans and Bedouin in Southern Syria (wie Anm. 16), 317f. Irfan Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 5th Century. Washington D.C. 1989, 502–503; Pohl, Justinian and the Barbarian Kingdoms (wie Anm. 15), 499–500; vgl. die Sammlung von Quellen zur Ostgrenze bei Geoffrey Greatrex/Samuel N.C. Lieu (Hrsgg.), The Roman Eastern Frontier and the Persian Wars. A Narrative Sourcebook. Part II AD 363–630. London/New York 2002, 20–61. Sartre, D’Alexandre à Zénobie (wie Anm. 1), 984–985. Sartre, The Arabs and the Desert Peoples (wie Anm. 15), 518–520; Pohl, Justinian and the Barbarian Kingdoms (wie Anm. 15), 499–500. Vgl. Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 6th Century (wie Anm. 15), 21ff. Eine wichtige „Einfallsroute“ für die zum Ende des 5. Jh. vermehrt einfallenden arabischen Stämme in das Reichsgebiet war hier das Wādī Sirhān, das direkt auf den limes Arabicus zulief. Ob dieser Raum durch reguläre römische Truppen wie etwa Abordnungen der legio III Cyrenaica, die durch eine Inschrift hier belegt ist, oder aber durch die Verbündeten kontrolliert und patrouilliert wurde, bleibt in der Forschung umstritten. Und dies gilt auch für den nördlich anschließenden Abschnitt des limes Arabicus von Philadelphia zum Wādī Hasā im Süden, denn hier scheint archäologisch ein Auflassen der römischen Kastelle im 5. Jh. nachweisbar. Älteren Forschungsmeinungen folgend möchte Shahîd von einem inneren und einem äußeren Schild arabischer Föderaten für das Reich ausgehen, die die orientalische Grenze des Reiches gegen Einfälle anderer arabischer Stämme und auch der Sassaniden schützen sollten. Die Verbündeten des Inneren Schildes hätten sich auf Reichsterritorium befunden und seien in den Grenzregionen angesiedelt worden. Um diesen Inneren Schild habe ein Äußerer Schild gelegen, bestehend aus Stämmen, die außerhalb des Reichsgebietes siedelten und dort in loserer Form an Rom bzw. Byzanz gebunden waren. Sie hätten für eine Art „Vorfeldsicherung“ der Grenzregion gesorgt und den Einfluss Roms weit über seine eigentlichen Grenzen hinaus ausgedehnt: Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 5th Century (wie Anm. 18), 504–509. Diese Vorstellung wird etwa von Mayerson abgelehnt, der den offenen Charakter des limes betont und keinerlei Quellenbasis für eine zweigeteilte Verteidigungslinie sieht: Mayerson, The Saracens and the Limes (wie Anm. 5), 44–45. Isaac, The Limits of Empire (wie Anm. 16), 169; vgl. dazu Malalas 12,40.
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richtung zeigt auch die Einschätzung in den antiken Quellen. So berichtet Ammianus Marcellinus, die Reorganisation der Grenzbefestigung unter Diokletian sei gegen die Sassaniden gerichtet gewesen, während Malalas betont, die Feinde der Römer seien Sassaniden und Sarazenen gewesen.22 Allerdings betont Mayerson, dass der Ausbau von Kastellen und insbesondere auch die zunehmende Befestigung der Städte bzw. Wiederherstellung ihrer Mauern nicht gegen nomadische Sarazenen sondern gegen die militärisch gut organisierten Sassaniden und deren Belagerungsmaschinen gerichtet gewesen sein müssen.23 Aber die Quellen zeigen doch immer wieder Konflikte mit nicht verbündeten arabischen Stämmen.24 Deren Einfälle konnten dabei offenbar bis tief in das Gebiet der Provinz reichen. So zeigt etwa eine Inschrift aus der Umgebung von Emesa aus dem 4. Jahrhundert die Sorge der Einwohner vor Unrecht durch Aktivitäten der Sarazenen.25 Auch an der Grenze scheint es häufiger zu Zwischenfällen mit der nomadischen Bevölkerung gekommen zu sein, so errichtete man in Transjordanien ein bewachtes Wasserreservoir, weil zuvor Personen beim Wasserholen in Hinterhalte der Sarazenen geraten und getötet worden waren.26 Dieses oft zitierte Beispiel zeigt allerdings einen „typischen“ Konflikt zwischen sesshafter und nomadischer Bevölkerung um die wichtigste Ressource Wasser und kann daher kaum als Indikator für weitreichende Einfälle der Sarazenen verwendet werden. Die angesprochenen Grenzanlagen konnten also nicht zu einer hermetischen Abriegelung des Reichsgebietes führen, die gegenüber mobilen Gruppen mit den vorhandenen Mitteln auch nicht möglich gewesen wäre. Sie hatten schon allein wegen der Länge und besonderen geographischen Situation der zu kontrollieren22 Amm. 23,5,2; Malalas 12,40 zu Diokletians Reformen und 12,48 zu Sassaniden und Sarazenen als Feinden Roms: „Während seiner Regierung entbot er den Maximus Licinianus mit einem großen Heer; er sollte die Landstiche des Ostens in Anbetracht der Perser und der Einfälle der Sarazenen schützen. Sie beunruhigten nämlich zuvor den Osten bis hin nach Äypten.“ Übersetzung: Johannes Malalas, Weltchronik. Übersetzt von Johannes Thurn/Mischa Meier, mit einer Einleitung von Claudia Drosihn, Mischa Meier u. Stefan Priwitzer. Stuttgart 2009. Möglicherweise kämpfte etwa Diokletian bei seinem Aufenthalt in Syrien, der der Reorganisation der Grenzbefestigung vorausging, auch gegen Sarazenen. Die Details dieser Auseinandersetzung sind aber unklar: Pan. Lat. III/II,5,4–5 nach Michael H. Dodgeon/Samuel N.C. Lieu, The Roman Eastern Frontier and the Persian Wars AD 226–363. A Documentary History. London/New York 1991. 23 Philip Mayerson, Saracens and Romans: Micro-Macro Relationships, in: BASOR 274, 1989, 76. Auch Scharrer betont, dass noch bis ins 4. Jh. kaum von einer gesteigerten nomadischen Bedrohung des Reiches zu sprechen sei und der Ausbau der Grenzbefestigungen daher eher auf die zunehmende Bedrohung durch die Sassaniden zurückgeführt werden müsse: Scharrer, The Problem of Nomadic Allies (wie Anm. 12), 277 mit Quellenangaben; 287 u. 325. 24 Z.B. bei Malalas. So berichtet er, schon Tiberius habe durch eine Stadtmauer Antiochia „vom Angriff seitens der barbarischen Sarazenen und Perser“ geschützt: Malalas 10,9. Diokletian errichtete eine Waffenfabrik in Antiochia wegen der „Einfälle der Sarazenen“, Malalas 12,38. Später ernennt Justinian einen neuen magister militum per Orientem, denn „er sollte die östlichen Bereiche vor den Sarazeneneinfällen schützen“, Malalas 17,20 (übersetzt v. J. Thurn/M. Meier). 25 IGLS V 2501bis. 26 AE 1948, 136.
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den Grenzlinie einen offenen, aber überwachenden Charakter und dienten dem kleinräumigen Schutz der Siedlungen, Städte, Klöster und Güter in den Provinzen vor Überfällen.27 Kastelle und Anlagen der Grenzlinie übernahmen dabei vor allem Polizeifunktionen zur Sicherung der Kommunikation entlang der parallel zur Grenze verlaufenden Straßentrassen und zum Schutz von Reisenden sowie Handeltreibenden vor Überfällen von Nomaden und Banditen.28 Graf verknüpft den Grenzausbau dagegen mit allgemeinen Bewegungen der Revolte indigener Bevölkerungsgruppen gegen Rom, die sich im 3. Jahrhundert in verschiedenen Teilen des Reiches ausmachen ließen: „the forts and garrisons strung throughout the province of Arabia are to be percieved as inward looking, not outward, monuments to the resistance of a rebellious citizenry to Roman imperial authority and administration.“29 Auch hier ginge es dann aber um die innere Sicherheit der Provinz und ihrer Kommunikationsrouten und sicher wird hier die Abwehr „provinzialer“ Banditen ebenso wichtig wie die „externer“ Räuber gewesen sein. Es ist also durchaus möglich, dass die Militäreinheiten auch ein Auge auf die lokale Bevölkerung werfen sollten, ihre primäre Funktion wird aber doch die Abwehr äußerer – oder besser vielleicht allgemein mobiler, nicht an Grenzen gebundener – Feinde gewesen sein. Und diese Feinde standen auch häufiger im Reichsgebiet als sassanidische Heere – aber zwischen beiden bestand durchaus ein Zusammenhang. Seit dem 4. Jahrhundert zeigen nämlich verstreute Berichte in den literarischen Quellen, dass die Sassaniden sich nomadische Verbündete zunutze machten, um mit Guerillataktiken und Beutezügen die römischen Grenzprovinzen zu destabilisieren. Bei Ammianus Marcellinus findet sich etwa der Hinweis auf sassanidische Truppen, die bis nach Antiochia vordrangen und nach Brandschatzungen und Verwüstungen „beutebeladen und unbehelligt in ihr Land zurück“ kehrten.30 Ähnlich berichtet er dann im Kontext des Perserfeldzuges Julians über Podosacis, „Phylarch der assanitischen Sarazenen, ein Straßenräuber von berüchtigtem Ruf, der lange mit aller Grausamkeit unsere Grenzgebiete durchzogen hatte“.31 Und schließlich findet sich etwa bei Prokop eine fiktive Rede des Alamundaros / al-Mundīr, in der dieser dem sassanidischen Herrscher unter anderem rät, angesichts der guten römischen Befestigungen in Mesopotamien und der Osrhoene lieber das unbefestigte Syrien mit Beutezügen anzugreifen. Alamundaros wird dann beschrieben als: König der Sarazenen […], ein sehr kluger und kriegserfahrener Mann […], ein Feind, der etwa fünfzig Jahre lang die Römer in die Knie gehen ließ. Angefangen von den Grenzgebieten Ägyptens bis nach Mesopotamien plünderte er die Ländereien und raubte alles, was ihm so in die Hände fiel. […] Niemand auf der ganzen Welt aber wagte ihm entgegen zu treten. Ver27 Mayerson, The Saracens and the Limes (wie Anm. 5), 36–40, Zitat 36. 28 Isaac, The Limits of Empire (wie Anm. 16), 213–215; Millar, The Roman Near East (wie Anm. 16), 188–189. 29 David F. Graf, Rome and the Saracenes: Reassessing the Nomadic Menace, in: Toufic Fahd (Hrsg.), L’Arabie préislamique et son environment historique et culturel. Actes du colloque à Strasburg 1987. Leiden 1989, 343 (Datierung), 378–379; 387ff., Zitat 400. 30 Amm. 23,5,3. 31 Amm. 24,2,4.
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Julia Hoffmann-Salz mied er doch jeden unvorsichtigen Angriff, ging vielmehr so schnell und geschickt zu Werke, dass er meistens mit der ganzen Beute schon davon war, wenn die Feldherren und Soldaten erst das Geschehene zu erfassen und sich gegen ihn zu sammeln begannen. […] Zusammenfassend darf man sagen: dieser Mann war der allerschwierigste und gefährlichste Feind der Römer.32
Hier zeigt sich die Taktik der Sassaniden, über ihre eigenen arabischen Verbündeten, die Lahmiden, immer wieder Guerillaaktionen gegen Rom bzw. Byzanz durchführen zu lassen. Die Lahmiden, zu denen auch al-Mundīr gehörte, waren seit dem 4. Jahrhundert n. Chr. die wichtigsten arabischen Verbündeten der Sassaniden und allen anderen arabischen Stämmen auf sassanidischer Seite vorgesetzt.33 Um diese Truppen an sich zu binden, war es wichtig, durch die eigene Führung den Anhängern materielle Vorteile zu verschaffen, und da boten sich Raubzüge ins Römische bzw. Byzantinische Reich förmlich an. So kommt Isaac zu dem Schluss, dass sich die Art der militärischen Auseinandersetzungen zwischen Rom und Persien seit dem 4. Jahrhundert wandelte, da sie nun weniger durch offene Eroberungszüge als durch permanente Raubzüge auf gegnerisches Territorium geprägt gewesen seien. Daher hätten auch die Römer bzw. Byzanz die arabischen Verbündeten als Banditenbanden eingesetzt, die schnelle Raubzüge auf sassanidisches Territorium verübten und sich dann wieder zurückzogen.34 Dies wird etwa auch durch Ammianus Marcellinus bestätigt, der im Zusammenhang der Verteidigung Konstantinopels gegen die Goten über die arabischen Truppenteile berichtet, sie seien „eher für Husarenstückchen als zu Schlachten in Reih und Glied geeignet“.35 Für eine solche Tätigkeit waren arabische Verbündete sicher besser geeignet als reguläre römische Truppen und dies aus mehreren Gründen. Zum einen waren solche Raubzüge trotz der daraus zu ziehenden materiellen Gewinne negativ konnotiert und mit dem Unwesen wilder Barbaren verbunden, wie auch die obigen Beispiele zeigen. Das konnte man also schlecht durch reguläre römische Truppen ausführen lassen. Zum anderen waren die arabischen Verbündeten als Nomaden an einen mobilen Lebens- und Kampfstil gewöhnt; Raubzüge um Beute gehören dabei in nomadischen Gesellschaften
32 Prokop, BP 1,17,29–45. Übersetzung: Prokop, Perserkriege. Griechisch – Deutsch von Otto Veh, München 1970. Vgl. Malalas, 18,32: „Zu nämlicher Zeit [529 n. Chr.] aber kam Alamundaros, der Sarazene auf persischer Seite, mit einer persischen und sarazenischen Streitmacht herbei und plünderte Syria I bis zu den Stadtgrenzen von Antiocheia hin aus; er verheerte auch Ortschaften dieses Gebietes mit Feuer. […] Sie nahmen ihre ganze Beute und flohen über den äußeren Limes“ (übersetzt v. J. Thurn/M. Meier). 33 Vgl. Funke, Die syrisch-mesopotamische Staatenwelt in vorislamischer Zeit (wie Anm. 4), 232; Roger Paret, Notes sur un passage de Malalas concernant les phylarches arabes, in: Arabica 5.3, 1958, 262. Die Lahmiden waren allerdings eine Familie und keine Stammesgruppe, weshalb sie für Bosworth ihre Autorität nicht auf ein eigenes Stammesaufgebot, sondern auf Söldner und Truppen aus Mitgliedern anderer Stämme sowie persische Truppen stützten: Charles E. Bosworth, Iran and the Arabs before Islam, in: CHI III.1, 1983, 593612, hier 599–600. 34 Isaac, The Limits of Empire (wie Anm. 16), 237, 241f. 35 Amm. 31,16,5.
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als alternative Einkommensquelle zur Viehhaltung dazu.36 Und schließlich waren die arabischen Verbündeten auf römischer Seite in Bewaffnung und Kampftechnik ihren Gegnern auf sassanidischer Seite ebenbürtig, da sie ebenfalls die für den geographischen Raum üblichen Techniken mit dem Gebrauch von Pferd und Kamel sowie Pfeil und Bogen beherrschten.37 Damit waren die arabischen Verbündeten aber klar nicht anstelle römischer Militäreinheiten in die Grenzsicherung eingebunden, es erfolgte also kein Rückzug Roms aus der Grenzverteidigung, vielmehr stellten die Verbündeten eine zusätzliche und komplementäre Sicherung dar, die auf die besondere Form der Bedrohungslage an dieser Grenze durch räuberische Stämme im Dienste der Sassaniden ausgerichtet war. Vor diesem Hintergrund lässt sich dann aber auch neues Licht auf eine Reihe von bislang in der Forschung unzureichend beantworteten Problemen zu den arabischen Verbündeten werfen. Dies gilt zunächst für die Frage, mit wem Rom eigentlich verbündet war. Waren hier wirklich die dynastisch organisierten Stammesföderationen, die uns die islamische Historiographie präsentiert, die entscheidenden Bündnispartner? Für Shahîd stellte gerade die Neuorganisation der Stämme in größeren Verbänden die Voraussetzung dafür dar, das diese nun als militärisch schlagkräftige Bündnispartner für Rom nutzbar gemacht werden konnten. Als Verbund hätten sie dank ihrer somit erhöhten Mannstärke ein wesentlich schlagkräftigeres politisches wie militärisches Potenzial nutzen und als Nachfolger der Klientelherrscher in die Sicherung der Wüstengrenze eingebunden werden können.38 Der Nachweis solcher Stammesföderationen als ethnische Einheit mit dynastischer Führung, wie dies Shahîd in der Folge des arabischen Historiographen al-Tabarī annimmt, ist jedoch schwierig.39 Über die Tanūh berichtet der islamische Historiograph al-Tabarī, zunächst habe Gadhima von den Banu Wabar geherrscht und ihm hätten sich dann andere Stämme angeschlossen, die ihm auch Tribut gezahlt hätten. Gadhima habe seinen Herrschaftsbereich vom Irak bis in den Hedschas ausgedehnt und nach seinem Tod sei dieser zunächst an seinen Sohn und einen Sohn seiner Schwester gefallen, bevor das Reich später wieder vereint wurde. Auch wenn die genaue Organisation dieser Herrschaft unklar und in der Forschung umstritten ist, so scheint al-Tabarī zumindest zu belegen, dass es sich bei den Tanūh um eine Föderation handelte.40 Dies bestätigt auch die Grabinschrift für Imru al-Qays, den Sohn und Nachfolger 36 Vgl. Philip C. Salzman, Multi-Resource Nomadism in Iranian Baluchistan, in: William G. Irons/Neville Dyson-Hudson (Hrsgg.), Perspectives on Nomadism. Leiden 1972, 60–68, hier 66. 37 Shahîd, Rome and the Arabs (wie Anm. 5), 32. 38 Shahîd, Rome and the Arabs (wie Anm. 5), 32. 39 Als frühester Beleg für eine Föderation könnte eine Inschrift aus Rawwāfa gelten, in der ein ethnos der Thamūd auftritt, zu dem offenbar Untereinheiten wie ein Stamm der Rhobathoi gehören. Dies ließe sich interpretieren als Föderation der Thamudenoi, zu denen als Untergruppen eine Reihe von Stämmen gehören würde: Scharrer, The Problem of Nomadic Allies (wie Anm. 12), 261. Allerdings liest Macdonald diese Inschrift als Beleg für eine Militäreinheit der Thamudenoi, da er ethnos hier parallel zum lateinischen natio als Hilfstruppeneinheit versteht: Macdonald, Quelques réflexions sur les Saracènes (wie Anm. 12), 99–100. 40 Scharrer, The Problem of Nomadic Allies (wie Anm. 12), 290–292.
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des Schwestersohns von Gadhima, aus Namāra.41 In dieser – im Detail umstrittenen und in der Lesung unsicheren – Inschrift zählt Imru al-Qays eine Reihe von Stämmen auf, über die er herrschte, womit der Status der Tanūh als Föderation bestätigt scheint. Allerdings werden die Tanūh in der Inschrift nicht erwähnt, Imru al-Qays gibt auch keine Herkunftsbezeichnung außer dem Vatersnamen an. Umstritten an der Inschrift ist insbesondere die Rolle Imru al-Qays’ im Konflikt zwischen Rom und Persien, denn seine Grabinschrift beschreibt, dass er von beiden Großmächten Herrschaftsansprüche zugestanden bekam. Zunächst hatte er wohl als Statthalter der Sassaniden über nordarabische Stämme im Irak agiert und dabei seinen Einfluss im Süden bis in den Hijāz ausgedehnt.42 Während Shahîd und Sartre dann einen Seitenwechsel zu den Römern annehmen, wo er – vielleicht nach seiner Konversion zum Christentum – als Klientelherrscher über arabische Stämme eingesetzt wurde und mit seinem Stamm in der Nähe des syrischen Chalkis angesiedelt wurde43, lehnen etwa Scharrer und Fisher diese Vorstellung ab. Scharrer glaubt, Imru al-Qays habe bis zu seinem Tod in sassanidischen Diensten gestanden, aber dank seiner militärischen Schlagkraft und seines weiten Einflussbereichs eine gewisse Autonomie genossen, die ihm auch begrenzte Aktionen gemeinsam mit Rom ermöglichten. Er sieht in ihm ein Beispiel für sein Konzept der „frontier warriors“ die dank ihrer besonderen Stellung als Sicherer der Grenze ein gewisses Maß an Autonomie entwickelten. Imru al-Qays habe daher auch in hellenistischer Tradition nach militärischen Erfolgen das Königsdiadem selbst angenommen und dieses nicht von Römern oder Sassaniden erhalten.44 Fisher ist noch vorsichtiger in der Bewertung der Beziehungen Imru al-Qays’ zu Römern und Sassaniden und fragt, ob er überhaupt mit einem der beiden in einem formalen Bündnisverhältnis stand. Er betont aber auch, dass es seine Beziehung zu den beiden Großmächten war, die ihm eine prominente Rolle in der Region bescherte und es ihm ermöglichte, eine monumentale Grabinschrift mit der Aufzählung seiner Leistungen aufzustellen.45 In jedem Fall gebot Imru al-Qays aber über eine Reihe von Stämmen, und so sieht Scharrer in seiner Grabinschrift auch das Zeugnis einer mit dem Erscheinen der Tanūh einsetzenden Entwicklung, bei der kleinere ethnische Einheiten durch Eingliederung und Eroberung in größeren Einheiten, den Föderationen, aufgingen.46 41 Erstpublikation: R. Dussaud, Inscription nabatéo-arabe d’En Namâra, in: Révue archéologique 2, 1902, 409–421. 42 Bosworth, Iran and the Arabs before Islam (wie Anm. 33), 597–598. 43 Sartre, The Arabs and the Desert Peoples (wie Anm. 15), 519–520; Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 4th Century (wie Anm. 17), 540–543. So auch Bowersock, Roman Arabia, 138–142. 44 Scharrer, The Problem of Nomadic Allies (wie Anm. 12), 329–334. 45 Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 77–78. Ähnlich glaubt auch Peters, Romans and Bedouin (wie Anm. 17), 326, nicht an ein Bündnisverhältnis. 46 Scharrer, The Problem of Nomadic Allies (wie Anm. 12), 292. Auch für die im 5. und 6. Jh. an den römischen Grenzen auftauchenden Kinda scheinen epigraphische Quellen aus dem Jemen den Status einer Föderation von verschiedenen Stämmen, also die Überordnung der Kinda über kleinere Stammeseinheiten, zu bestätigen. Die Kinda waren 502 unter Führung des Arethas, Sohn des ‘Amr, in ein Bündnisverhältnis mit Byzanz getreten, nachdem dieser
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Allerdings zeigt das Beispiel der Tanūh, dass die zeitgenössischen Quellen weniger Föderationen denn prominente Führungspersönlichkeiten als Bündnispartner der Römer anführen. Selbst Imru al-Qays nennt seine angebliche Föderation in seiner eigenen Grabinschrift nicht. Und auch die wichtigsten Verbündeten von Byzanz im 6. Jahrhundert, nämlich die sog. Jafniden oder Ghassaniden,47 waren wohl weniger eine mit Rom verbündete Stammesföderation als ein „Familienbetrieb“, der nach dem Bündnis Jabalas mit Byzanz auch in weiteren Generationen Aufgaben übernahm. Dies gilt insbesondere, als der Begriff der Ghassaniden nicht durch zeitgenössische Quellen, sondern erst durch die bereits genannte islamische Historiographie überliefert ist.48 Um 530 n. Chr. gab Justinian Jabalas Sohn al-Harith/Arethas umfangreiche neue Kompetenzen, um ihn zu einem wirksamen Gegengewicht gegen den bereits erwähnten al-Mundīr, den arabischen Verbündeten auf sassanidischer Seite, aufzubauen: Dieser Mann [Alamundaros] war der allerschwierigste und gefährlichste Feind der Römer. Der Grund aber lag darin, dass Alamundaros als König allein über sämtliche Sarazenen in Persien gebot und so mit dem ganzen Heer jederzeit jeden beliebigen Teil des Römischen Reiches angreifen konnte. Keiner aber von den römischen Truppenbefehlshabern – sie werden dux genannt – und ebenso auch kein Führer der mit den Römern verbündeten Sarazenen – sie tragen die Bezeichnung Phylarchen – war imstande, mit seinen Leuten dem Alamundaros entgegen zu treten; denn kein Gebiet verfügte über eine den Feinden angemessene Verteidigung. Aus diesem Grund stellte Kaiser Justinian den Arethas, den Sohn des Gabalas, den Herrscher über die Sarazenen in Arabien, an die Spitze möglichst vieler Stämme und verlieh ihm die Königswürde (axioma basileos), eine Auszeichnung, die bei den Römern zuvor unbekannt war.49
Al-Mundīr hatte also nach dem Urteil des Prokop dank seiner Führungsrolle gegenüber den mit den Sassaniden verbündeten Sarazenen eine ausreichend große Streitmacht zur Verfügung, um der byzantinischen Seite eine Menge Ärger zu machen. Und hier sollte also offenbar Arethas in eine Position gebracht werden, um wirksam gegen diese Bedrohung vorgehen zu können. Viele Aspekte dieser vielleicht zunächst in sassanidischen Diensten gestanden hatte. Die Föderation der Kinda umfasste auch eine Reihe von Stämmen auf der Arabischen Halbinsel, sodass Byzanz über ein Bündnis mit ihnen seinen Einfluss weit über die eigenen Grenzen hinaus sichern konnte: Vgl. Retsö, The Arabs in Antiquity (wie Anm. 11), 563; Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 6th Century (wie Anm. 15), 33–35. Zu den Kinda auf der Arabischen Halbinsel vgl. auch Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 84–91. 47 Aber sie seien keine Nomaden gewesen, sondern im Gegenteil sesshaft, wie dies auch die arabischen und islamischen Quellen betonen. Sie hätten dabei zunächst im Süden der Arabischen Halbinsel gelebt und dort im Kontakt mit den sesshaften Reichen wie Himyar einen sesshaften Lebensstil angenommen. Aus unklaren Gründen wanderten die Ghassaniden entlang der Westküste der Arabischen Halbinsel nach Norden, wobei Teile ihrer Stammesgruppe an den drei Stationen des Stammesverbandes auf dieser Reise, in Najrān, Mekka und Medina, jeweils als sesshafte Ackerbauern zurückblieben. Im dritten Schritt gelangten sie dann an die Grenze des Byzantinischen Reiches und hätten hier ihr sesshaftes Leben wieder aufgenommen, indem sie sich auf Reichsgebiet niederließen: Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 6th Century (wie Anm. 15), 1–6. 48 Vgl. Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 83. 49 Prokop, BP 1,17, 45–47 (übersetzt v. O. Veh).
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Neuregelung sind allerdings unklar, etwa die Bedeutung des axioma basileos. Offenbar führte Arethas nämlich schon vor dieser Maßnahme Justinians den Königstitel, denn in einem arabischen Graffiti von 528/29 aus dem Djebel Seys 100km östlich von Damaskus wird er als mlk, König, bezeichnet.50 Das ist allerdings nichts ungewöhnliches, denn literarische wie epigraphische Belege machen deutlich, dass die arabischen Stammesführer ihren Stämmen gegenüber eine königliche Stellung einnahmen. Die Bezeichnung arabischer Stammesführer als Könige findet sich in den klassischen Quellen seit republikanischer Zeit. So begegnete Lucullus bei seinen Feldzügen gegen Tigranes von Armenien bereits „Königen der Araber“, die ihn gegen Tigranes unterstützen.51 Auch die nabatäischen Herrscher wurden in nabatäischen Quellen als Könige, mlk, bezeichnet – eine Stellung, die etwa Strabon dann mit dem griechischen Äquivalent basileus wiedergibt.52 Als Könige verstanden sich auch die Herrscher von Hatra, die sich in Inschriften zunächst als mry, Herren, bezeichnet hatten und dann in der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts n. Chr. den Titel König, mlk, in ihre Selbstbezeichnung aufnahmen.53 In ähnlicher Weise hatte sich auch die Titulatur der Herrscher von Edessa geändert, die zunächst in den Quellen als Phylarchen geführt werden, bevor Tacitus 49 n. Chr. den edessischen Herrscher Abgar V. Ukkāmā als rex Arabum bezeichnet.54 Dass die arabischen Stämme Könige an ihrer Spitze hatten, belegen auch sabäische Inschriften aus dem Jemen, die einen König der Kinda bezeugen.55 Spätantike Quellen nennen die Anführer der Sarazenen dann immer wieder Könige. So werden im 4. Jahrhundert Mavia und ihr verstorbener Mann ebenso wie Imru’al-Qays in den Quellen als Könige betitelt.56 Und Prokop beschreibt alMundīr, den Führer der mit den Sassaniden verbündeten Araber, als „König der Sarazenen“.57 Bei Malalas wird schon Zenobia, die Anführerin der Palmyrener aus dem 3. Jahrhundert, als „Sarazenenkönigin“ bezeichnet58. In dieser Tradition steht dann auch die in der altsyrischen Literatur gebrauchte Bezeichnung des Arethas/al-Harith als „König der Tayoye“, mlk dtyy.59 Arethas/al-Harith hatte also schon vor seiner Auszeichnung durch Justinian eine aus seinem eigenen Stammeskontext hervorgehende herausgehobene Stellung, auf die Justinian nun zu50 Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity (wie Anm. 13), 210 mit Quellenbelegen. 51 Plut. Luc. 25,6 und 29,5. Cassius Dio, der die gleiche Begebenheit beschreibt, bezeichnet einen von ihm namentlich genannten arabischen Stammesführer als „Dynasten“: Cass. Dio 36,2,5. 52 Strab. 16,4,21 und dazu Ursula Hackl/Hanna Jenni/Christoph Schneider, Quellen zur Geschichte der Nabatäer. Textsammlung mit Übersetzung und Kommentar. (NTOA 51.) Göttingen 2003, 61f. mit Quellenangaben. 53 Vgl. Scharrer, The Problem of Nomadic Allies (wie Anm. 12), 305–308 mit Quellen und weiterer Literatur. 54 Tac. Ann. 12,12,2, vgl. Scharrer, The Problem of Nomadic Allies (wie Anm. 12), 300–301 mit Quellen und weiterer Literatur. 55 Vgl. Retsö, The Arabs in Antiquity (wie Anm. 11), 563. 56 Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 4th Century (wie Anm. 17), 540–543. 57 Prokop, BP 1,17,29. 58 Malalas, 12,26f. 59 Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity (wie Anm. 13), 210–213 mit Quellenbelegen.
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rückgreifen konnte. Die königlichen Ehren, mit denen er Arethas bedachte, werden also eher der Sichtbarmachung der neuen Sonderstellung des Arethas gedient, als für diesen tatsächlich eine Statusänderung bedeutet haben. Vielleicht handelte es sich dabei auch um tatsächliche Herrschaftsinsignien wie ein königliches Diadem, das am Ende des 6. Jahrhunderts nach dem Zeugnis des Johannes von Ephesos dem Nachkommen des Arethas, al-Mundīr, durch Tiberius II. verliehen wurde.60 In diesen Kontext gehört auch die Auszeichnung mit dem Titel patricius, der für Arethas in literarischen wie epigraphischen Zeugnissen belegt ist.61 Beides diente der Sichtbarmachung der politischen Unterstützung für Arethas durch Justinian und seiner deutlichen Hervorhebung gegenüber anderen lokalen Würdenträgern – arabischen wie byzantinischen. Aber welche Rolle sollte Arethas genau gegenüber den anderen Stämmen einnehmen? Für Shahîd wurde er als Archephylarch über alle Araber als wichtigste Abwehr gegen die Sassaniden und ihre arabischen Verbündeten im Norden und Osten der Ostgrenze eingesetzt.62 Mayerson bezweifelt allerdings, dass Justinian in der Lage gewesen sei, aus seiner eigenen Autorität heraus Arethas über die anderen arabischen Stämme zu stellen. Vielmehr habe dieser selbst mit den unterschiedlichen Stämmen und Stammesgruppen über eine Heeresfolge verhandeln müssen.63 Dies wäre eine sinnvolle Erklärung der von Prokop gewählten Formulierung, Arethas „an die Spitze möglichst vieler Stämme“ zu stellen. Ähnlich glaubt Paret, dass weder al-Harith noch seine Nachkommen durch ihre Titel zu den ersten unter den arabischen Stammesführern wurden, ihnen also nicht übergeordnet waren – das war nur der byzantinische Kaiser.64 Auch für Fisher habe Justinian nicht die Möglichkeit gehabt, direkten Einfluss auf die Stämme zu nehmen und sich daher mit al-Harith einen lokal sicher schon einflussreichen Phylarchen herausgegriffen, den er dann durch zusätzliche Ehren und Finanzmittel stärkte. Die Anerkennung durch Justinian habe den Jafniden geholfen, mithilfe dieses deutlichen politischen Signals der Unterstützung ihren Status gegenüber anderen arabischen Gruppen in der weiteren Region zu erhöhen geholfen, auch wenn nicht klar sei, wie weit der Einfluss der Jafniden wirklich reichte und ob er auch außerhalb des Reichsgebietes Geltung hatte. Und auch ob sie dabei tatsächlich als die Anführer einer ghassanidischen Föderation zu sehen sind, sei unklar, denn es gab 60 Joh. Eph. HE 220 (3.4.39), vgl. Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 122. 61 Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity (wie Anm. 13), 210–213 mit Quellenbelegen. 62 In einer Inschrift wird al-Harith und später dann in einer weiteren auch sein Enkel Numān als stratelates, dem griechischen Äquivalent von magister, bezeichnet, weshalb Shahîd die Position des Arethas als parallel zu der der beiden magistri im Osten sehen möchte: Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 6th Century (wie Anm. 15), 26ff. mit Quellenbelegen und weiterer Literatur; Inschriften: IGLS IV 1550 u. IGLS V 2553. 63 Philip Mayerson, The Use of the Term ‚phylarchos‘ in the Roman-Byzantine East, in: ZPE 88, 1991, 294. Auch Hoyland sieht in der von Prokop gewählten Formulierung eine defensive Rolle des Kaisers, in die er durch die äußeren Umstände gedrängt worden war, vgl. Hoyland, Arab Kings (wie Anm. 8), 382–383; 394. 64 Vgl. Paret, Notes sur un passage de Malalas (wie Anm. 33), 255–257, 259 mit den Quellenbelegen.
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eine Reihe von Gruppen, die unter ihrer Führung an Militäroperationen teilnahmen, ohne dass aus den Quellen hervorgehe, woher diese kamen.65 Die Karrieren des Imru al-Qays und des Arethas heben die Rolle starker Führungspersönlichkeiten im Umgang Roms mit seinen arabischen Verbündeten hervor und zeigen, dass es weniger um Stämme und Föderationen in der Funktion von wie auch immer organisierten Kampfeinheiten als um fähige Anführer ging, die durch ihre Herkunft über Rekrutierungsnetzwerke verfügten, die den römischen und byzantinischen Kaisern nicht direkt offen standen. So erscheinen die Anführer in den Quellen denn auch als Personen mit bewaffnetem Anhang, aber ohne eine spezifische Stammeszugehörigkeit.66 Eine offenbar hervorgehobene Herkunft und politische Unterstützung durch Rom und Byzanz ermöglichten es dann den Führungspersönlichkeiten, aus dem eigenen Stamm – aber sicher auch aus anderen Stämmen – Personen anzuwerben, die ihnen militärische Schlagkraft und damit auch politisches Gewicht zur Übernahme bestimmter Herrschaftsaufgaben gaben. Und offenbar verließ man sich dabei in Rom und Byzanz gerne auf Personen, die diese Rolle schon beim Gegner ausgeübt hatten und daher umfangreiche Erfahrung mitbrachten, denn einige Beispiele zeigen, dass diese zunächst in sassanidischem Dienst gestanden hatten, so etwa die Karrieren des Aspestos und des Amorkesos. Beide hatten zunächst den Sassaniden gedient und traten dann auf die römische Seite über. Aspestos war zunächst Verbündeter der Sassaniden gewesen und hatte sich dann aufgrund deren brutalen Vorgehens gegen die Christen auf die römische Seite gestellt. Wohl um 420 trat Aspestos auf römische Seite über. Nach Kyril von Skythopolis wurde er dabei zum Phlyarchen der römischen Föderierten in Arabia ernannt, was ihn in eine bislang nicht dagewesene Sonderstellung gegenüber anderen Stämmen und möglichen Phylarchen erhoben hätte.67 Aspestos und seine Anhänger wurden darüber hinaus wohl in Palästina in einem Lager angesiedelt und traten zum Christentum über. Aspestos wirkte später unter seinem neuen Namen Petrus als Bischof seiner Stammesgemeinschaft.68 Auch Amorkesos hatte zunächst in sassanidischen Diensten gestanden und sich dann aus unklaren Gründen vom Großkönig losgesagt und in Nordarabien mehrere erfolgreiche Heereszüge unternommen. Schließlich besetzte er die eigentlich von den Römern gehaltene Insel Iotabe und vertrieb den dortigen römischen Steuereintreiber. Offenbar wünschte er aber keinen eigenen, unabhängigen Machtbereich, sondern bot sich Kaiser Leon als Verbündeter an. Angesichts dessen hoher Verluste bei dem erfolglosen Unternehmen gegen die Vandalen und seinen möglichen Ambitionen in Richtung der arabischen Halbinsel und des Indischen Ozeans nahm dieser das Angebot an. So kam es 473 in Konstantinopel tatsächlich zu einem Vertragsschluss und Amorkesos wurde zum Phylarchen von Palestina Tertia 65 66 67 68
Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 96–98. Vgl. Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity (wie Anm. 13), 200–202, Zitat 202. Kyril von Skythopolis, Vita Euthymii, ed. Schwartz, 20f. Isaac, The Limits of Empire (wie Anm. 16), 246; Dimitrios G. Letsios, The Case of Amorkesos and the Question of the Roman Foederati in Arabia in the Vth Century, in: Toufic Fahd (Hrsg.), L’Arabie préislamique et son environment historique et culturel. Actes du colloque à Strasburg 1987. Leiden 1989, 527.
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ernannt.69 Teil des Abkommens war auch die Kontrolle über die gewinnbringende Zollstation auf der Insel Iotabe, derer sich Anastasios 498 wieder zu bemächtigen suchte. Die folgende Revolte seiner Nachkommen unter Jabala, gepaart mit einem gleichzeitigen Einfall des schlagkräftigen Stammes der Kinda auf byzantinisches Territorium und den seit 502 wieder aufflammenden militärischen Konflikten mit den Sassaniden, führten aber dazu, dass Anastasios 502 mit Jabala und den Kinda Bündnisse schloss.70 Dies führt zurück zu der eingangs angestellten Überlegung über die Art der Kriegsführung bzw. den Einsatz der arabischen Verbündeten als Räuberbanden. Denn offenbar stellte man doch hier Personen in den Dienst Roms bzw. Byzanz’, die zuvor genau diese Art der Taktik bestens kennengelernt hatten. Damit waren sie in besonderer Weise geeignet, nun als Verbündete der Römer den Sassaniden entgegenzutreten. Diese Führungspersönlichkeiten wurden mit einem formalen Bündnisvertrag an Rom bzw. Byzanz gebunden.71 Allerdings betont Fisher, dass es aufgrund des Fehlens eines Vertragstextes in den Quellen unklar sei, wie arabische Stämme in römische Dienste treten konnten und ob hier überhaupt formale Bündnisse eingegangen wurden. Diese seien zwar wahrscheinlich, hätten aber vielleicht einen anderen Charakter als jene Bündnisse mit den westlichen „Barbaren“ gehabt.72 Seit dem 4. Jahrhundert muss es aber wie auch immer geartete Absprachen zwischen Rom und arabischen Stämmen gegeben haben. Nur so ist erklärlich, warum einige Sarazenen offenbar regelmäßig Zahlungen und Geschenke von Rom erhielten, die sich Julian dann weigerte weiterhin zu leisten.73 Und auch wenn sich ein Bündnisvertrag nicht erhalten hat, so wird doch etwa über Mavia und ihren Mann gesagt, dass sie Verbündete, hypospondoi, der Römer gewesen seien.74 Es gab also offenbar formale Absprachen, aber diese bestanden eben vielleicht nicht zwischen Staat und Stamm, sondern zwischen dem Staat und Einzelpersönlichkeiten. Dazu würde auch passen, dass das Bündnis offenbar personalisiert war und mit dem Tod einer der beiden Verhandlungspartner erlosch bzw. neu mit dessen Nachfolger verhandelt werden musste.75 Diese Form des Bündnisses macht insbesondere Sinn, wenn man eben von Vereinbarungen zwischen dem Reich und einer Führungspersönlichkeit ausgeht, die dann selbstständig die Kräfte zur Erfüllung der ihr übertragenen oder überlassenen Aufgaben anzuwerben hatte. Umstritten ist dann, ob diese Verbündeten ein Amt erhielten, denn mit dem Ende des 4. Jahrhunderts n. Chr. setzte sich die Bezeichnung phylarchos für einen 69 70 71 72
Letsios, The Case of Amorkesos (wie Anm. 68), 525–526. Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 5th Century (wie Anm. 18), 487–497. Shahîd, Rome and the Arabs (wie Anm. 5), 32. Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 77–79. Auch Mayerson, The Saracens and the Limes (wie Anm. 5), 43f. betont, dass sich keine Bündnisverträge erhalten haben und daher die genauen Absprachen, Rechte, Pflichten etc. solcher Bündnisse nicht nachvollzogen werden können. 73 Amm. 25,6,10. 74 Vgl. Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity (wie Anm. 13), 202–203 mit Quellenangaben. 75 Shahîd, Rome and the Arabs (wie Anm. 5), 32.
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arabischen Stammesführer im Bündnis mit Rom durch und diese Bezeichnung beschreibt für Shahîd ein Amt.76 Die Vorstellung des Phylarchats als byzantinisches Amt geht u.a. auf die bereits zitierte Stelle bei Prokop zurück, in der er über „Führer der mit den Römern verbündeten Sarazenen – sie werden Phylarchen genannt“ schreibt.77 Allerdings verwendet Ammianus Marcellinus den Begriff phylarchus Saracenorum auch für Podosacis, Verbündeten der Perser.78 Der Begriff des Phylarchen als Bezeichnung für einen Stammesführer ist seit republikanischer Zeit gebräuchlich. So bezeichnet Cicero Iamblichus, Herrscher über Emesa, als phylarchus Arabum und auch bei Strabon wird dieser als Phylarch der Emesener tituliert79. Strabon berichtet außerdem von Phylarchen im Zweistromland, die dort eigenständige Herrschaften inne hätten und teils zu Rom, teils zu Persien hielten.80 Die Bedeutung des Begriffs in Republik und Kaiserzeit ist jedoch umstritten, da unklar ist, ob es sich um von Rom oder Parthien vergebene Ämter, eigene Herrschaften oder eigene Herrschaftsbezeichnungen handelt. Dies gilt ebenfalls für die in der Kaiserzeit epigraphisch belegten ethnarchoi und strategoi nomadon, die in der Forschung teils als römische Titel für indigene nomadische Stammesführer, teils als Eigenbezeichnungen dieser Stammesführer, die dann von Rom anerkannt wurden, verstanden werden.81 Grouchevoy etwa sieht dabei einen Bedeutungswandel des Begriffs phylarchos hin zu einer Amtsbezeichnung schon in trajanischer Zeit, als nach der Annektion des Nabatäischen Reiches die Kontakte zu den arabischen Stämmen intensiver wurden und entsprechend bestimmte Personen von Rom als Verantwortliche für bestimmte nomadische Gruppen designiert worden seien. In der Spätantike habe sich der Begriff dann als Amtsbezeichnung für die Führer der mit Byzanz verbündeten arabischen Stämme durchgesetzt, bei denen die Phylarchen der einzelnen Stämme denen der Provinzen unterstellt gewesen seien, die wiederum unter den Phylarchen aller Araber, eingeführt von Justinian, gestanden hätten.82 Dagegen argumentiert Paret, dass mit dem Begriff 76 77 78 79 80 81
Shahîd, Rome and the Arabs (wie Anm. 5), 31. Prokop BP 1,17, 46, (übersetzt v. O. Veh). Amm. 24,2,4. Cic. Fam. 15,1,2; Strab. 16, 2,10. Strab. 16,1,27–28. Scharrer betont dabei, dass diese Ämter vielleicht tatsächlich an indigene Führer vergeben wurden, deren nomadischer Ursprung ebenso wie ihr Verhältnis zu Rom durch den Titel aber nicht geklärt werden könne: Scharrer, The Problem of Nomadic Allies (wie Anm. 12), 322– 324; vgl. auch die Zusammenstellung und Diskussion der Quellen bei Alexandre G. Grouchevoy, Trois ‚niveaux‘ de phylarques Ètude terminologique sur les relations de Rome et de Byzance avec les Arabes avant l’Islam, in: Syria 72, 1995, 106–119. Vgl. außerdem die Diskussion um ähnlich schwierige Begrifflichkeiten für die nomadischen Verbündeten der Römer in Nordafrika: Ariel Lewin, The Organization of a Roman Territory: the Southern Section of Provincia Arabia, in: Edward Dąbrowa (Hrsg.), The Roman and Byzantine Army in the East. Proceedings of a Colloquium Held at the Jagiellonian University, Kraków in September 1992. Krakau 1994, 114ff. 82 Grouchevoy, Trois ‚niveaux‘ de phylarques (wie Anm. 81), 128. Dieser Vorstellung eines sich zu einem Amt entwickelnden Phylarchats folgt in der neueren Forschung etwa Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 79–80. Auch Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 5th Century (wie Anm. 18), 497–502, glaubt an den Amtscharakter.
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kein byzantinisches Amt verbunden werden könne, da er in den byzantinischen Quellen nicht exklusiv für arabische Verbündete, sondern etwa auch für einen slawischen Stammesführer oder für die arabischen Stammesführer im Bunde mit den Sassaniden gebraucht werde. Der Begriff an sich bezeichne also einen indigenen Stammesführer, beziehe dessen Autorität jedoch nicht auf eine durch Byzanz verliehene Amtsgewalt sondern auf dessen Rolle im Stamm selbst, die dann von Byzanz nur noch anerkannt werden konnte.83 Diese Auffassung vertritt auch Mayerson, der in den Phylarchen ebenfalls indigene Stammesführer sieht, die ihre Autorität durch eine ererbte Rolle innerhalb der Stämme erhielten und deren Position dort dann von den antiken Quellen mit dem griechischen Begriff des phylarchos umschrieben wurde. Erst durch eine offizielle Vereinbarung mit Rom und die dafür erhaltenen Leistungen der annona habe dann eine Verpflichtung des Phylarchen Rom oder Byzanz gegenüber bestanden.84 Eine solche allgemeinere Bedeutung des Phylarchats im Sinne einer Stammesführerschaft, die ihre Autorität aus diesem Stamm und nicht aus der Hand des römischen oder byzantinischen Kaisers erhielt, muss dabei nicht im Widerspruch etwa zur Reise des Arethas/alHarith nach Konstantinopel stehen, der dort dem Kaiser mitteilte, welcher seiner Söhne seine Phylarchie nach seinem Tod übernehmen sollte.85 Denn Arethas stand in einem persönlichen Bündnisverhältnis zu Byzanz, und darum ging es bei dieser Reise sicher auch – also um die Festlegung der Weiterführung des Bündnisses auch mit seinem Nachfolger und eben nicht um die Frage, ob dieser die Herrschaftsansprüche des Arethas gegenüber den ihm folgenden Stammesgruppen übernehmen durfte. So kann denn auch der Argumentation Shahîds nicht gefolgt werden, der schreibt: „Literally, phylarch meant the commander or chief of a phyle, a tribe, and this immediately presented the image of the tribal society of the nomads and pastoralists of the Arabian Peninsula. Only specialists understood that phylarchos had ceased to be so understood and meant a foreign chief or lord in treaty relationship to Byzantium. Phylarchos had acquired a new semantic dimension that regulated the relationship of Byzantium with the gentes, which was what the term meant when applied to the Ghassānids.“86 Wenn aber nur Spezialisten wussten, dass sich die Begriffsbedeutung gewandelt hatte – wie hätte dann das Amt als politischer Auftrag und Prestigegewinn für die Träger wirken können? Doch gerade dies scheint das entscheidende Element im Umgang Roms mit den arabischen Verbündeten gewesen zu sein: das Angebot einer prestigeträchtigen Position, die mit materiellen wie sozialen Gewinnen für Führungspersönlichkeiten aus der Welt der Stämme verbunden war. Diesen Personen wurden Herrschaftsaufgaben anvertraut, für deren Ausübung sie auf ihre Gemeinschaften zurückgreifen mussten. Aber ihre Tätigkeiten sowohl innerhalb als auch außerhalb der Provin83 Paret, Notes sur un passage de Malalas (wie Anm. 33), 252–253. 84 Mayerson, The Use of the Term ‚phylarchos‘ (wie Anm. 63), 291–295. Ähnlich auch bei Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 97. 85 Theoph. I 240,11–22, vgl. Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity (wie Anm. 13), 213. 86 Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 6th Century (wie Anm. 15), 10.
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zen waren dabei nicht anstelle einer eigenen Herrschaftsaktivität Roms gedacht, sondern komplementäres Element einer komplexen Sicherungspolitik an einer von mobilen Gemeinschaften geprägten Steppen- und Wüstengrenze. Die Phylarchen besaßen dabei schon vor der Beauftragung durch Rom innerhalb der Gemeinschaft der arabischen Stämme eine vermutlich durch Abstammung entstandene herausgehobene Position, bezogen daher ihre Autorität auch als Phylarchen im Bündnis mit Rom nicht allein aus diesem Bündnis. Rom und Byzanz machten sich also – wie in allen anderen Reichsteilen – die lokalen Eliten zunutze, indem sie diesen auch innerhalb des römischen Systems Ehren und Kompetenzen zuwiesen. Eine individuelle Absprache zwischen Reich und Phylarch war dabei vielleicht gewinnbringender als standardisierte Amtstätigkeiten. Ein solch flexibles Konzept entspricht etwa auch den Vorstellungen Scharrers, der in den arabischen Verbündeten „frontier warriors“ mit großen Freiräumen sieht, die zwar wie die Tanūh formale Bündnisse mit den Sassaniden hätten eingehen können, gleichzeitig aber unabhängig genug waren, eigene politische und militärische Entscheidungen zu treffen und so etwa Truppen auf römischer Seite gegen Palmyra kämpfen zu lassen.87 Sowohl für die lokalen Führungspersönlichkeiten als auch für ihre Anhängerschaft hatte dieser Dienst für Rom zahlreiche offensichtliche Vorteile: So konnten sie materiell von dem Bündnis profitieren, da ihnen nun Subsidien in Form von Geld oder Sachleistungen zuteilwurden und sie außerdem die Beute aus militärischen Aktionen etwa gegen andere nicht verbündete Stämme behalten durften.88 Wie wichtig dieser finanzielle Aspekt war, wird deutlich in der Tatsache, dass Konflikte zwischen Rom und den arabischen Verbündeten nur über religiöse Fragen oder eben das Ausbleiben der Subsidien ausbrachen.89 Durch die politische Anerkennung hatten die Führungspersönlichkeiten außerdem die Möglichkeit, ihre Stellung gegenüber anderen Stammesmitgliedern und Stämmen zu verbessern und ihren Status zu erhöhen.90 Denn erst die Beauftragung durch Rom und Byzanz führte dazu, dass sich aus lokalen Größen Führungspersönlichkeiten entwickeln konnten, deren Familien dann teils auch über mehrere Generationen wichtige Aufgaben für das Reich übernahmen.91 Und erst der Kontakt mit Rom und Byzanz ließ in den eigentlich egalitär organisierten Stämmen solche Führungspersönlichkeiten aufsteigen, die zwar einen Teil ihres Ansehens aus ihrer Familienund Stammesidentität bezogen, einen wichtigen weiteren Teil aber eben aus den durch den Zentralstaat ausgegebenen Ehren und politischen Aufträgen erlangten. Denn diese Aufträge brachten ihnen die Möglichkeit, etwa durch Beute oder Subsidien Leistungen für ihre Gefolgschaft anzubieten, die diese an sie band.92 Trotz87 88 89 90 91
Scharrer, The Problem of Nomadic Allies (wie Anm. 12), 332–335. Isaac, The Limits of Empire (wie Anm. 16), 236. Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 4th Century (wie Anm. 17), 532–537. Mayerson, Saracens and Romans (wie Anm. 23), 77. Zur Rolle der Interaktion mit dem Staat bei der Stratifizierung nomadischer Gesellschaften vgl. auch A.M. Khazanov, Nomads and the Outside World. 2. Aufl. Madison/London 1994, 179–184. 92 Vgl. Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 83.
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dem scheinen sich daraus keine für die Zeitgenossen sichtbaren „Dynastien“ ergeben zu haben, so werden weder Dynastie-Namen noch überhaupt spezifische Stammeszugehörigkeiten in den Quellen genannt.93 Auch für die Stammesmitglieder, die sich hier für den Dienst für Rom bzw. Byzanz anwerben ließen, boten sich dank der Aussicht auf Beute und Subsidien Vorteile. Politische Unruhen durch den Konkurrenzkampf verschiedener Königreiche um Herrschaft und Kontrolle über die lukrativen Handelsrouten94 oder auch ökologische Faktoren wie ein möglicher Einbruch der Produktivität der Landwirtschaft im südlichen Arabien95 sorgten für die Wanderung arabischer Stammesgruppen ins Reichsgebiet. Seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. lässt sich dabei das langsame Einsickern arabischer Stammesgruppen nachweisen, parallel dazu kann ein Anstieg der Bevölkerung im gesamten Levante-Raum vom 4. bis 6. Jahrhundert n. Chr. aufgezeigt werden, der einher ging mit einer deutlichen Intensivierung der ökonomischen Aktivitäten, insbesondere in der Landwirtschaft. Gerade das 5. und 6. Jahrhundert n. Chr. können für das östliche Reich als eine Zeit der ökonomischen Blüte verstanden werden.96 Und diese Entwicklung lässt sich auch an der „arabischen Grenze“ des Reiches ausmachen: So stammt etwa die Mehrzahl der Bauinschriften aus Bosra aus der Zeit vom 3. bis 6. Jahrhundert n. Chr. und dokumentiert damit die Attraktivität der Stadt in dieser Periode.97 Und auch im benachbarten Hauran lässt sich bis in byzantinische Zeit eine Zunahme der Besiedlung mit reger Bautätigkeit und intensiver landwirtschaftlicher Nutzung der Region nachweisen.98 Ob dies aber auf die Einwanderung und Ansiedlung nomadi93 Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity (wie Anm. 13), 218–219. 94 Denn schon im 1. Jh. n. Chr. hatte die nabatäische Kontrolle des Arabienhandels nachgelassen, das römische Ägypten hatte dank der Fortschritte in der Seefahrt über die Küstenschifffahrt weite Teile des Handels usurpiert. Dies hatte auch Folgen für die südarabischen Reiche, hier verschob sich das Mächtegewicht weg von den alten Königreichen Ma’an, Sheba und Qataban an der inländischen Wüstengrenze hin zu dem Reich von Himyar im nördlichen Hochland, das die Kontrolle über den Seehandel auf dem Roten Meer an sich brachte. Vgl. Retsö, The Arabs in Antiquity (wie Anm. 11), 536–566; Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 4th Century (wie Anm. 17), 488–489; Warick Ball, Rome in the East. Transformations of an Empire. London 2000, 64. 95 Bosworth, Iran and the Arabs before Islam (wie Anm. 33), 604. So berichtet etwa auch der islamische Historiograph al-Tabarī über das Land der Araber, dessen Einwohner in besonderer Weise auf Zuwendungen und Siedelland angewiesen seien, weil sie unter einer schlechten Versorgungslage litten. Daher seien sie in Scharen aus Bahrein und anderen Regionen der Arabischen Halbinsel nach Persien gekommen und hätten dort Vieh, Korn und andere Lebensmittel von den Einwohnern geraubt. Erst Shapur II. hätte nach seiner Volljährigkeit diesem Treiben ein Ende setzen können, Al-Tabarī, Annalen, 836–837. 96 Hoyland, Arab Kings (wie Anm. 8), 387–390. 97 Vgl. Isaac, The Limits of Empire (wie Anm. 16), 349ff. 98 Maurice Sartre, Le peuplement et le développement du Hauran antique à la lumière des inscriptions grecques et latines, in: Jean Marie Dentzer (Hrsg.), Hauran I. Recherches archéologiques sur la Syrie du Sud a l'époque hellénistique et romaine. Paris 1985, 197–198. Graf lehnt allerdings die Vorstellung einer Einwanderung nomadischer Völker von der arabischen Halbinsel ins Reichsgebiet bis ins 4. Jh. ab. Er führt anhand von epigraphischen Quellen aus, dass es keine großen Bevölkerungsbewegungen von Süden nach Norden in die römi-
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scher Stämme zurückzuführen ist, bleibt umstritten.99 So möchte etwa Letsios gegen Shahîd nicht davon ausgehen, dass die mit den arabischen Verbündeten geschlossenen Bündnisse immer die Ansiedlung eines Stammes im Reichsgebiet zur Folge hatten, und verweist darauf, dass etwa unklar sei ob die Sarazenen unter der Kontrolle des Amorkesos tatsächlich im Reichsgebiet angesiedelt worden seien oder sich auch außerhalb des Reiches aufhielten.100 Einzig für Aspestos und seine Anhänger scheint Kyril von Skythopolis eine Ansiedlung in Palästina zu belegen.101 Interessant dabei ist, dass Aspestos und seine Anhänger offenbar in einem Lager, parembolé, lebten, was weniger auf eine tatsächliche Ansiedlung in einem vertraglich überlassenen Landstrich als auf eine Stationierung zur weiteren Verwendung schließen lässt.102 Möglicherweise gibt es aber archäologische Belege für Zuweisung von Siedlungsland an arabische Verbündete. So glaubt Gaube, in der Umgebung von Namāra, bei Khirbet al-Baydā, dank der besonderen Hausarchitektur und dem auffälligem Dekor den Siedlungsraum einer im 6. Jahrhundert dort angesiedelten ehemaligen nomadischen Gemeinschaft gefunden zu haben.103 Auch neuere Surveys bemühen sich, in spezifischen Siedlungsformen die Sesshaftwerdung arabischer Nomaden nachzuvollziehen.104 Fisher möchte im Hauran bei Nawa und Kafr Shams angesichts der dort anders als im restlichen Gebiet gestalteten Hausarchitektur die Häuser jafnidischer Reiterkrieger und deren Elite sehen.105 Möglich wäre hier die Zuweisung von Ländereien und Gütern
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sche Provinz gegeben habe, sondern lediglich Einwanderungen von Osten her nachweisbar seien. So betont er, dass die nordarabischen Nomaden die sog. „safaitischen“ Inschriften hinterließen, während ihre südlichen Nachbarn die sog. „thamudischen“ Inschriften und Graffiti produzierten und beide Textgruppen distinkte, klar trennbare Eigenheiten aufwiesen, die „little interaction or relationship if any between these regions“ zeigten. Wenn beides aber sprachlich so getrennte Räume darstellten, könne es zwischen ihnen auch nicht zu einer größeren Durchmischung von Bevölkerungsgruppen gekommen sein; Graf, Rome and the Saracenes (wie Anm. 29), 379–380. Graf glaubt allerdings, in den Autoren der sog. Safaitischen Inschriften die Sarazenen der antiken Quellen zu finden, die in seiner Deutung als eine zumindest teilweise sesshafte Bevölkerung mit Heimat im syrischen Hauran verstanden werden (357 u. 367ff.). Allerdings kann Macdonald zeigen, dass die Autoren der sog. Safaitischen Inschriften nicht identisch mit der sesshaften Bevölkerung des Hauran waren, vgl. Michael C.A. Macdonald, Nomads and the Hawrān in the Late Hellenistic and Roman Periods: a Reassessment of the Epigraphic Evidence, in: Syria 70, 1993, 303–403. Vgl. Isaac, The Limits of Empire (wie Anm. 16), 215f. Letsios, The Case of Amorkesos (wie Anm. 68), 533. Kyril von Skythopolis, Vita Euthymii, ed. Schwartz, 25. Diese Lager werden aber auch als Vorläufer fester Siedlungen arabischer Stämme angesehen, die auch in der Nähe zu urbanen Zentren entstehen konnten, vgl. Donald Whitcomb, Archaeological Evidence of Sedentarization: Bilad al-Sham in the Early Islamic Period. in: Stefan R. Hauser (Hrsg.), Die Sichtbarkeit von Nomaden und saisonaler Besiedlung in der Archäologie. Multidisziplinäre Annäherungen an ein methodisches Problem. (Orientwissenschaftliche Hefte 21/Mitteilungen des SFB „Differenz und Integration“ 9.) Halle 2006, 27–43, hier 28ff. Heinz Gaube, Arabs in Sixth-Century Syria: Some Archaeological Observations, in: Bulletin of the British Society for Middle Eastern Studies 8.2, 1981, 93–98. Whitcomb, Archaeological Evidence of Sedentarization (wie Anm. 102), 28ff. Fisher, Between Empires (wie Anm. 3), 113ff. mit weiterer Literatur. Vgl. auch Ball, Rome in the East (wie Anm. 94), 198.
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an die Führungseliten, die diese dann auch an die eigene Anhängerschaft weiterverteilen konnten. Landschenkungen wären dann aber weniger im Sinne einer Ansiedlungspolitik zur Grenzsicherung, wie etwa bei den germanischen Verbündeten an der Nordgrenze, zu verstehen, sondern als Teil der Bemühungen Roms, die lokalen Führungspersönlichkeiten in die Lage zu versetzen, der eigenen Anhängerschaft Vorteile zu verschaffen und damit die eigene Position – und letztlich also auch die Position Roms – zu stärken. Für die arabischen Stämme sprachen also eine Reihe von Gründen für einen Dienst für Rom und Byzanz. Geht man davon aus, dass die Mehrheit der über diese Bündnisse in römische Dienste gelangten Stammesmitglieder Nomaden waren, so sollten gerade die materiellen Vorteile von großer Bedeutung gewesen sein. Denn durch einen – indigen organisierten – Militärdienst und die hier über Subsidien und Beute zu erzielenden Gewinne entstanden alternative Einkommen zur Pastoralwirtschaft, die als Mittel der Risikoreduzierung eines pastoralnomadischen Lebens und alternative Einnahmequelle sicher willkommen waren.106 In gleicher Weise war die Partnerschaft mit Rom aber auch für lokale Führungspersönlichkeiten aus dem Milieu der Stämme von Interesse, da damit ein über den begrenzten lokalen Raum hinausgehender Führungsanspruch erreicht werden konnte, der den eigenen Status deutlich erhöhte. Und auch für Rom bzw. Byzanz bot eine solche Heranziehung lokaler Führungspersönlichkeiten mit ihrer Anhängerschaft viele Vorteile, gerade wenn man von einer veränderten Form der Auseinandersetzungen mit den Sassaniden ausgeht. Hier spielte sicher das große Potential an Mannstärke eine wichtige Rolle.107 Denn die arabischen Verbündeten konnten dank ihrer Herkunft auf ein wesentlich größeres Netzwerk an Kontakten zur Werbung von Soldaten zurückgreifen. Damit waren sie in der Lage, die Schlagkraft des römischen Aufgebots vor Ort deutlich zu erhöhen und so die Verteidigung der Grenze wesentlich zu verbessern. Gleichzeitig waren sie aber auch in besonderer Weise für die neue Form der Auseinandersetzung zwischen Rom und Persien geeignet, denn für die Durchführung von Raubzügen und Plünderungen auf feindliches Gebiet benötigte man zwar schlagkräftige, aber nicht unmäßig
106 Diese Entwicklung zeigt sich etwa bei der Ausbreitung des Islam, als die Eroberung von Territorien bis in den Irak für neue Einkommensmöglichkeiten nomadischer Stämme aus der Arabischen Halbinsel sorgte, die sich hier als Soldaten und Siedler verdingen konnten. Ihren Lebensunterhalt erhielten die Stämme über den Sold für ihre Militärdienste: Richard Bulliet, Sedentarization of Nomads in the 7th Century: The Arabs in Basra and Kufa, in: Philip C. Salzman (Hrsg.), When Nomads Settle, Processes of Sedentarization as Adaptation and Response. New York 1980, 38–39. 107 Natürlich nutzten Rom und Byzanz auch in ihren regulären Heeren arabische Hilfstruppeneinheiten wie auch Araber, die als Legionäre angeworben wurden. Möglicherweise bestand aber gerade an der Ostgrenze ein Rekrutierungsproblem, das durch die Anwerbung von Verbündeten bei den arabischen Stämmen überwunden werden konnte. Vgl. Sartre, The Arabs and the Desert Peoples (wie Anm. 15), 518; Shahîd, Rome and the Arabs (wie Anm. 5), 27 u. 51; Scharrer, The Problem of Nomadic Allies (wie Anm. 12), 317–320, 328; Mayerson, Saracens and Romans (wie Anm. 23), 76. Graf, Rome and the Saracenes (wie Anm. 29), 383– 384 passim.
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große Truppen und diese wurden in Teilen bereits durch ihre „Arbeit“ und die dabei gemachte Beute honoriert.108 Die Vernetzung der arabischen Verbündeten in eine über das Reichsgebiet hinausreichende Gemeinschaft war aber auch auf einer anderen Ebene für Rom und Byzanz von Interesse. So versuchte man über die Verbündeten etwa den südarabischen Raum zu beeinflussen, wo wichtige ökonomische Interessen an den Handelsrouten für Weihrauch aber auch Waren aus dem Indienhandel bestanden – und diese brachten Rom und Byzanz wieder einmal in Konkurrenz zu den Sassaniden, die mit gleicher Interessenslage hier ebenfalls Einfluss durch arabische Verbündete suchten109, um damit insbesondere Einfluss und Steuereinnahmen aus dem Karawanenhandel vom Süden der Arabischen Halbinsel in den Iran und nach Syrien zu erhalten. Auf sassanidischer Seite hatte man hier über die Lahmiden vor allem an der Ostküste der Halbinsel direkten wie indirekten Einfluss auf die Handelsroute von Mekka in den Iran erworben und besaß Zollstationen entlang dieser Route.110 Und schließlich waren einige arabische Stämme und ihre Anführer als Bündnispartner attraktiv, weil sie Christen waren bzw. wurden. Die Übernahme des Christentums scheint dabei als eine Art „Eintrittsticket“ in den Dienst des Reiches funktioniert zu haben, denn es berichten eine Reihe von spätantiken Autoren über die Konversionen arabischer Stammesführer, die danach als Phylarchen in den Dienst Roms traten und teils auch das Amt des Bischofs für ihre Gemeinschaft übernahmen.111 So war die Annahme des Christentums für die Führer der Stämme eine Möglichkeit, durch die Übernahme des Bischofsamtes oder zumindest aber durch die Förderung des neuen Glaubens zusätzliches Prestige auf die eigene Person zu ziehen. Für Byzanz dagegen bedeutete die Christianisierung der arabischen Verbündeten einerseits die Chance, über Bischofsämter, Teilnahme an Konzilen etc. Prestige schaffende Posten zu vergeben,112 andererseits aber sicherte man sich eben die Loyalität der Konvertiten, da die Sassaniden sich immer wieder durch Christenverfolgungen hervortaten.113 Dass die Übernahme des Christentums einen
108 Isaac, The Limits of Empire (wie Anm. 16), 237; 241f. 109 Vgl. Alfred Schlicht, Die Araber und Europa. 2000 Jahre gemeinsamer Geschichte. Stuttgart 2008, 15; Letsios, The Case of Amorkesos (wie Anm. 68), 529–530. 110 Bosworth, Iran and the Arabs before Islam (wie Anm. 33), 600–604. 111 Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity (wie Anm. 13), 203–206. 112 Vgl. Isaac, The Limits of Empire (wie Anm. 16), 246. 113 Für Letsios zeigen die Beispiele der Konvertierungen der Sarazenen und ihrer Anführer vor deren offizieller Aufnahme als Verbündete und Phylarchen ins Reichsgebiet „the constant efforts of the Byzantines to christianize the nomad Arabs in order to secure their loyalty and use their military abilities.“: Letsios, The Case of Amorkesos (wie Anm. 68), 527. Doch übernahmen die arabischen Stämme überwiegend ein miaphysitisches Christentum, dem ja nicht alle Kaiser anhingen. Vielleicht ist dies einer der Gründe dafür, warum offenbar keiner der arabischen Föderaten sichtbar in die höheren Ränge der römischen Militär- oder auch Ziviladministration aufstieg: Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 4th Century (wie Anm. 17), 518–519, der aber vor allem die höhere Bedeutung der zu diesen Ämtern aufgestiegenen germanischen Verbündeten betont. Allerdings glaubt Shahîd, im 5. Jh. seien arabische Ver-
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Seitenwechsel zu den Römern mit sich brachte, zeigt etwa eine Anekdote über Simeon Stylites, zu dem auch eine Reihe von Sarazenen aus dem gerade bei Damaskus kampierenden persischen Verbündeten Naaman kamen. Naamans Stammesführer forderten ein Verbot dieser Besuche, da sie fürchteten, durch die Übernahme des Christentums würden die Sarazenen auf die römische Seite übertreten.114 Die Christianisierung bot aber für Byzanz auch die Möglichkeit, über die Entsendung eines Bischofs für die Anhängerschaft eines Phylarchen einen an diesem vorbei reichenden Einfluss auf diese Anhängerschaft zu erwirken. Dies ist sicher auch einer der Gründe, weshalb etwa Aspestos dieses Amt gleich selbst übernahm. Und auch das Beispiel der Revolte arabischer Stämme unter Mavia macht dies deutlich: Mavia trat nach dem Tod ihres Mannes unter Valens in offene Revolte zum Kaiser, um die Konsekration eines orthodoxen Bischofs für ihren Stamm durchzusetzen. Es gelang ihr, das römische Heer in mehreren Schlachten zu schlagen, bis Valens zu einem Friedensschluss und zur Umsetzung der Forderungen bereit war. Ihre Anhänger erhielten den gewünschten Einsiedler als Bischof, der durch Exilbischöfe geweiht wurde.115 Ein solcher alternativer Einfluss auf die Anhängerschaft der Phylarchen musste insbesondere wünschenswert sein, wenn diese primär als eine Art paramilitärische Räuberbanden zur Destabilisierung der Grenzregion des Gegners eingesetzt wurden. Denn solche meist ja gewollt mobilen und gleichzeitig schlagkräftigen Gruppen konnten sich leicht auch gegen ihre ehemaligen Bündnispartner wenden, wenn etwa Zusagen und Absprachen nicht eingehalten wurden. Und hier zeigt das Beispiel der Auseinandersetzung mit Mavia, wie schwer es Rom in einem solchen Fall fiel, die eigenen Ansprüche militärisch durchzusetzen. Hielten sich aber beide Seiten an die Absprachen, dann konnten die arabischen Verbündeten die ihnen übertragenen Herrschaftsaufgaben wie Polizeiaufgaben, innere Sicherheit, Abwehr größerer Überfälle anderer Stämme und insbesondere Raubzüge gegen Persien und dessen verbündete Stämme ausführen.116 Damit waren die arabischen Verbündeten dann aber eben nicht anstelle römischer Militäreinheiten in die Grenzsicherung eingebunden, es erfolgte also kein Rückzug Roms aus der Grenzverteidigung, vielmehr stellten sie eine zusätzliche und komplementäre Sicherung dar, die auf die besondere Form der Bedrohung an dieser Grenze ausgerichtet war. Und weil dort die Konflikte der Großmächte über ihre arabischen Verbündeten ausgetragen wurden, konnten diese hier für beide Seiten in der Grenzsicherung Herrschaftsaufgaben übernehmen, die sie zu Teilhabern der Macht werden ließen.
bündete von einigen Kaisern als „Gegengewicht“ gegen die germanischen – arianischen – Verbündeten an das Kaiserhaus gebunden worden, 487f. 114 Nach Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity (wie Anm. 13), 204–205. 115 Shahîd, Byzantium and the Arabs in the 4th Century (wie Anm. 17), 532–534. 116 Vgl. Millar, Rome’s „Arab“ Allies in Late Antiquity (wie Anm. 13), 212–213 mit Quellenangaben; vgl. auch Isaac, The Limits of Empire (wie Anm. 16), 243ff; Cook, Syria and the Arabs (wie Anm. 9), 468–469.
ODOVAKAR UND THEODERICH HERRSCHAFTSKONZEPTE NACH DEM ENDE DES KAISERTUMS IM WESTEN1 Hans-Ulrich Wiemer I. EINFÜHRUNG Dass das Königtum Odovakars die Herrschaft Theoderichs in Italien in allem wesentlichen vorwegnahm, diese Auffassung ist in der Forschung seit Theodor Mommsen weit verbreitet. In seinen bahnbrechenden und bis heute grundlegenden „Ostgothischen Studien“ aus dem Jahre 1889 dekretierte der princeps historicorum: „Das römisch-germanische Italien, welches uns als das ostgothische Reich und Schöpfung des Theoderich zu gelten pflegt, ist in seiner Eigenart vielmehr eine Schöpfung Odovacars, der Eintritt Theoderichs in dessen Stellung lediglich ein personaler Wechsel“.2 Diese Einschätzung ist seitdem in abgewandelter Form häufig wiederholt worden.3 In Herwig Wolframs klassischer Goten-Geschichte 1
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Ich danke den Teilnehmern an der Weingartner Tagung für die lebhafte Diskussion; Ein herzlicher Dank für Rat und Hilfe geht an Guido Berndt, Henning Börm, Wolfram Brandes, Uta Heil, Agnes Luk und Philipp von Rummel. Es versteht sich, dass im Rahmen dieses Aufsatzes moderne Literatur nur in Auswahl zitiert werden kann. Auf die beiden grundlegenden Monographien zu Theoderich dem Großen sei bereits hier verwiesen: Wilhelm Ensslin, Theoderich der Große. München 1947 (2. Aufl. 1959); John Moorhead, Theoderic in Italy. Oxford 1992. – Abkürzungen: PLRE II = John Martindale, The Prosopography of the Later Roman Empire, Bd. 2: A.D. 395–527. Cambridge 1980. PCBE II = Charles Piétri/Luce Piétri (Hrsgg.), Prosopographie chrétienne du Bas-Empire 2: Prosopographie de l’Italie chrétienne (313–604), 2 Bde. Rom 2000. Theodor Mommsen, Ostgothische Studien, in: NA 14, 1889, 223–249; 451–544, hier: 245, auch in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. 6: Historische Schriften. Dritter Band. Berlin 1910, 362–484, hier: 383. Ähnlich zuvor bereits Heinrich von Sybel, Entstehung des deutschen Königthums, 2. Aufl. Frankfurt/Main 1881, 293. Zum wissenschaftsgeschichtlichen Kontext vgl. Maria Cesa, Il regno di Teodorico nella valutazione della storiografia tedesca dell’Ottocento, in: Edoardo d’Angelo (Hrsg.), Atti della Seconda Giornata Ennodiana. (Pubblicazioni del Dipartimento di Filologia Classica dell’Università degli Studi di Napoli Federico II 22.) Neapel 2003, 15–36. Z.B. Johannes Sundwall, Abhandlungen zur Geschichte des ausgehenden Römertums, Helsinki 1919, 180f.: „Auch hier also wie in vieler Hinsicht war die Regierungszeit des Odovacar für die folgende Zeit bahnbrechend“; Ernest Stein, Histoire du Bas-empire, Bd. 2, Brüssel 1949, 108: „le royaume des Ostrogoths en Italie a pu adopter presque sans changements les institutions en vigeur sous la domination de Odoacre …“; ebenso Edward Arthur Thompson, A.D. 476 and after, in: ders., Romans and Barbarians. The Decline of the Western Empire.
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heißt es: „Theoderichs italisches Reich ist das stabilere, reichere und stärkere Regnum Odoakers“.4 Odovakar gilt also nicht bloß als Wegbereiter, sondern zugleich auch als Vorbild für den gotischen König. Das Herrschaftskonzept Theoderichs war demnach durch den Mann vorgeprägt, ja ausgebildet worden, den der gotische König aus dem Weg räumte, um selbst die Herrschaft in Italien übernehmen zu können. Worin freilich die Gemeinsamkeit der politischen Konzeption bestanden habe, wird durchaus unterschiedlich bestimmt. Für Mommsen herrschten beide, Odovakar und Theoderich, als Amtsträger des römischen Kaisers, als magistri militum praesentales et patricii, und diese Auffassung ist nicht nur in der deutschsprachigen Forschung lange Zeit vorherrschend geblieben, wenngleich sie in jüngerer Zeit nur noch selten vertreten wurde.5 Entschiedenen Widerspruch gegen die Deutung Mommsens erhob 1962 der britische Althistoriker A. H. M. Jones, der meinte, Odovakar und Theoderich seien wie andere barbarische Könige ganz einfach Könige – „kings pure and simple“ – gewesen.6 Die Ablehnung des Amtsträger-Modells ist inzwischen selbst zur communis opinio geworden, denn Theoderich hat den Titel eines magister militum niemals geführt, seit er in Italien herrschte. Jones’ Schlussfolgerung jedoch, Odovakar und Theoderich seien ganz einfach Könige gewesen, hat die Forschung weniger überzeugt, aus dem einfachen Grund, dass die Bestimmung dieses Königtums selbst alles andere als einfach ist.7 Die Frage, ob Odovakar Wegbereiter und Vorbild Theoderichs war, zielt freilich nicht allein auf die rechtliche Gestaltung des Verhältnisses zum Kaiser. Vielmehr bezieht sie sich auch auf das Institutionengefüge, in welchem die Herrschaft dieser beiden Könige Gestalt annahm, und auf ihr Verhältnis zu den Eliten in Armee, Gesellschaft und Kirche, zu denjenigen sozialen Gruppen also, deren Kooperation ein Herrscher brauchte, wenn er sich in Italien auf Dauer behaupten wollte. Denn entscheidend waren in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts nicht die breiten Massen der Bevölkerung in den Städten und auf dem Lande, sondern die Soldaten, die Senatoren und die römisch-katholischen Bischöfe. Auch in diesen Be
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Madison (WI) 1982, 61–76, hier: 70: „the Germanic Italy of the earlier sixth century which we tend to regard as a creation of Theoderic the Ostrogoth was in fact brought into being by Odoacer“. Herwig Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts, 5. Aufl. München 2009, 290 = ders., Gotisches Königtum und römisches Kaisertum von Theodosius dem Großen bis Justinian I., in: FMSt 13, 1979, 1–28, hier: 17 (auch in: ders., Gotische Studien. Volk und Herrschaft im frühen Mittelalter. München 2005, 139–173, hier: 160). Auf Mommsens Spuren wandeln László Várady, Epochenwechsel um 476. Odoaker, Theoderich d.Gr. und die Umwandlungen. Budapest/Bonn 1984, 19–30; Maria Cesa, Il regno di Odoacre. La prima dominazione germanica in Italia, in: Barbara Scardigli/Piergiuseppe Scardigli (Hrsgg.), Germani in Italia. Rom 1994, 307–320, hier: 314. Arnold Hugh Martin Jones, The Constitutional Position of Odoacer and Theoderic, in: JRS 52, 1962, 126–130, hier: 126 (= ders., The Roman Economy. Studies in Ancient Economic and Administrative History. Oxford 1974, 365–374, hier: 365): „In my opinion Odoacer and Theoderic were kings pure and simple, in the same position as the other barbarian kings“. Kurzer Forschungsbericht bei Jan Prostko-Prostynski, Utraeque res publicae. The Emperor Anastasius I.’s Gothic Policy (491–518). Posen 1994, 21–32.
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reichen ist die Politik Odovakars häufig als Prototyp derjenigen Theoderichs apostrophiert worden. Die folgenden Ausführungen haben zum Ziel, die Politik der Könige Odovakar und Theoderich gegenüber diesen vier Faktoren, Kaiser, Heer, Senat und römisch-katholischer Kirche, vergleichend zu betrachten. Es geht also um die Frage, wie weit die Gemeinsamkeiten tatsächlich reichen und worin die Unterschiede bestehen. Der Begriff Herrschaftskonzept soll dabei nicht mehr bedeuten als eine über längere Zeit durchgehaltene Leitlinie politischen Handelns gegenüber einer der vier genannten Gruppen. Eine programmatische Formulierung der am Verhalten ablesbaren Maxime kann, aber muss nicht, hinzutreten. Bevor jedoch in die eigentliche Untersuchung eingetreten werden kann, sind einige Bemerkungen zur Quellenlage erforderlich. Der historische Vergleich steht, wie man weiß, nur dann auf sicherer Grundlage, wenn die Phänomene, die verglichen werden sollen, in der Überlieferung gleichermaßen gut zu greifen sind. Es muss daher schon zu Anfang eingestanden werden, dass diese Voraussetzung im vorliegenden Fall nur in eingeschränktem Maße gegeben ist. Bekanntlich fließen die Quellen für die Herrschaft Odovakars viel spärlicher als für diejenige Theoderichs. Das größte Manko liegt darin, dass uns für die Herrschaft Odovakars eine den „Varien“ Cassiodors vergleichbare Sammlung von Urkunden aus der königlichen Kanzlei fehlt. Eine als Abschrift überlieferte Schenkungsurkunde aus dem Jahre 489 ist bislang das einzige Zeugnis, das uns unmittelbaren Einblick in die Kanzlei Odovakars gewährt.8 Viele Aspekte der Zentral- und Provinzialverwaltung sind daher in den Quellen für die Herrschaft Odovakars nicht greifbar. Auch der prosopographische Befund lässt sich nur bedingt vergleichen, denn die Menge und geographische Verteilung der Daten sind sehr ungleich: Während die Fasti über einhundert Personen verzeichnen, die unter Theoderichs Herrschaft zivile Ämter bekleideten,9 weiß die Forschung für die Zeit Odovakars maximal 40 zivile und militärische Amtsträger zu benennen,10 und diese sind nicht einmal alle sicher datiert. Diese Schwierigkeit hängt damit zusammen, dass ein großer Teil der Informationen, die wir über den Senat zur Zeit Odovakars besitzen, aus Sitzinschriften im Colosseum stammt, die André Chastagnol vor einem halben Jahrhundert als Teile einer Serie gedeutet und allesamt auf die Zeit zwischen 476 und 486 datiert hat. Diese Datierung wurde lange Zeit allgemein akzeptiert und liegt daher fast allen Untersuchungen zugrunde, die dem Senatorenstand des späten 5. und 8
P.Italiae 10–11, ediert und kommentiert von Jan-Olof Tjäder (Hrsg.), Die nichtliterarischen lateinischen Papyri Italiens aus der Zeit 445–700, Bd. 1, Lund 1954, 279–293; vgl. auch Leo Santifaller, Die Urkunde des Königs Odovacar vom Jahre 489, in: MIÖG 60, 1952, 1–30. 9 Bahnbrechend war Sundwall, Abhandlungen (wie Anm. 3), 84–177. Eine Prosopographie der weströmischen Senatoren unter gotischer Herrschaft findet man bei Christoph Schäfer, Der weströmische Senat als Träger antiker Kontinuität unter den Ostgotenkönigen (490–540 n.Chr.). St. Katharinen 1991, 9–117. 10 Diese Schätzung beruht auf der Prosopographie von Dirk Henning, Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des weströmischen Reiches 454/5–493 n.Chr. (Historia Einzelschriften 133.) Stuttgart 1999, 104–115. Wie sich zeigen wird, sind aus seiner Liste mindestens zwei Amtsträger zu streichen.
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frühen 6. Jahrhunderts gewidmet worden sind;11 sie muss seit der Neubearbeitung des Materials durch Silvia Orlandi jedoch als zumindest fragwürdig gelten, da sich gezeigt hat, dass noch unter Theoderich neue Sitzinschriften angebracht wurden.12 Es ist daher möglich, dass auch andere Senatoren, die auf den Sitzen genannt werden, nicht in die Zeit Odovakars, sondern in diejenige Theoderichs gehören. Erschwerend kommt hinzu, dass die norditalischen Eliten in der Überlieferung für die Herrschaft Odovakars stark unterrepräsentiert sind,13 während sie zur Zeit Theoderichs durch das Briefcorpus des Ennodius, das von 501 bis 513 reicht, recht gut zu fassen sind.14 Freilich weisen die Fasten auch unter Theoderich beträchtliche Lücken auf, weil Cassiodor, dessen „Variae“ wir die meisten Daten verdanken, zwischen 511 und 523 kein Amt bekleidet hat.15 Diese Überlieferungslage wirft die Frage auf, ob Institutionen, die für das Gotenreich in Italien belegt sind, für das Reich Odovakars postuliert werden dürfen, auch wenn es für ihre Existenz vor Theoderich keine Zeugnisse gibt, wie es in der Forschung seit Mommsen üblich ist.16 Wer die Herrschaftskonzepte Odovakars 11 André Chastagnol, Le sénat romain sous le règne d’Odoacre. Recherches sur l’épigraphie du Colisée au Ve siècle. Bonn 1966. Auf Chastagnols Datierung beruhen die entsprechenden Lemmata in PLRE II, bei Schäfer, Senat (wie Anm. 9) und Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10). Ergänzungen zu Chastagnol brachte Stefano Priuli, Nuove attestazioni senatorie nell’Anfiteatro flavio, in: Epigrafia e ordine senatorio. Atti del colloquio internazionale AIEGL, Roma 14–20 maggio 1981. (Tituli 4.) Rom 1982, 573–589 (= AE 1985, Nr. 45–46). Methodologische Kritik äußerten frühzeitig Alan Cameron/Diane Schauer, The Last Consul. Basilius and his Diptych, in: JRS 72, 1982, 126–145, hier: 144f. 12 Sitzinschriften für Arcadius Placidus Magnus Felix, cos. 511, und Iobius Philippus Ymelcho Valerius, cos. 521: Silvia Orlandi, Epigrafia anfiteatrale dell’occidente romano. VI. Roma. Anfiteatri e strutture annesse con una nuova edizione e commento delle iscrizioni del Colosseo. (Vetera 15.) Rom 2005, 480–482 Nr. 70; 517f. Nr. 173. 13 Orlandi, Epigrafia anfiteatrale (wie Anm. 12), bes. 191–198; 286–306; 545–550; zu den historischen Implikationen vgl. auch Alan Cameron, Basilius and his diptych again, in: JRA 25, 2012, 513–530, hier: 515–519. 14 Die Forschung übernimmt für die Schriften des Ennodius in der Regel die zeitlichen Ansätze von Sundwall, Abhandlungen (wie Anm. 3), 1–83, bes. 72–83 (Schema), die auf der Annahme beruhen, dass die Schriften des Ennodius in chronologischer Folge überliefert seien. Diese These ist jedoch nicht unumstritten – vgl. z.B. Richard Bartlett, The Dating of Ennodius’ Writings, in: d’Angelo, Seconda Giornata Ennodiana (wie Anm. 2), 53–74 – und wird auch in der neuen Ausgabe der Briefe von Stephane Gioanni (Hrsg.), Ennode de Pavie, Lettres. Introduction, texte latin, traduction et notes, 2 Bde. Paris 2006–2010 (bislang nur Buch I–IV) nicht geteilt. 15 Die Chronologie der Varien beruht auf Mommsens Ausgabe; Vorschläge zur Präzisierung findet man bei Stefan Krautschick, Cassiodor und die Politik seiner Zeit. Bonn 1983, 50–106. 16 Odovakar wird darum auch fast immer im Zusammenhang mit Theoderich behandelt: Ludwig Schmidt, Geschichte der deutschen Stämme bis zum Ausgang der Völkerwanderung, Bd. 2: Die Ostgermanen. 2. Aufl. München 1941, 317–336; Várady, Epochenwechsel um 476 (wie Anm. 5), 19–61; Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 6–11; Dorothee Kohlhas-Müller, Untersuchungen zur Rechtsstellung Theoderichs des Großen. Frankfurt/Main 1995, 44–59. Bei Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 58–70 ist Odovakar der letzte in der Reihe weströmischer Herrscher, bei John M. O’Flynn, Generalissimos of the Western Roman Empire. Edmonton (AB) 1983, 136–149 der letzte der großen Heermeister. Ausnahmen sind sel
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und Theoderichs vergleichend betrachten möchte, sollte diese Methode mit großer Vorsicht anwenden, da sie ein Maß an institutioneller Kontinuität voraussetzt, das erst zu beweisen wäre. Wer dem Einwand entgehen möchte, eine petitio principii zu begehen, muss die Kontinuität im konkreten Einzelfall durch zusätzliche Argumente begründen. II. HEER Beginnen wir mit den Soldaten. Odovakar und Theoderich sind beide durch Gewalt an die Macht gekommen. Theoderich brauchte freilich vier volle Jahre, um die alleinige Herrschaft in Italien zu erringen. Bereits auf dem Weg nach Italien musste er im Winter 488/9 den Widerstand der Gepiden überwinden, die sich ihm am Fluss Ulca, einem Nebenfluss der Donau, entgegenstellten;17 ein siegreiches Gefecht gegen Sarmaten folgte. Ende September 489 besiegte Theoderich Odovakar bei Verona in offener Feldschlacht, worauf dieser sich nach Ravenna zurückzog.18 Aber der Krieg war damit noch lange nicht entschieden. Odovakar startete im Sommer des Folgejahres eine Gegenoffensive, lieferte Theoderich im August 490 am Fluss Addua (Adda) bei Mailand zum zweiten Mal eine offene Feldschlacht und wurde erneut besiegt.19 Erst danach konnte Theoderich seinen Gegner in Ravenna dauerhaft einschließen. Die Belagerung dauerte indessen zweieinhalb Jahre, da Theoderich zunächst nicht in der Lage war, die Stadt vom Meer abzuschneiden. Dies gelang erst nach der Eroberung von Ariminum (Rimini) Ende August 492.20 Theoderichs Einzug in Ravenna erfolgte am 5. März 493.21 Theoderich und Odovakar waren jedoch keineswegs die einzigen Kriegsherren, die in dieser Zeit in Italien ihren Vorteil suchten. Odovakars Heermeister Tufa fiel nach der Schlacht bei Verona zu Theoderich ab, kehrte dann aber zu seinem alten Herrn zurück und machte sich schließlich selbständig; dabei schloss er sich mit dem rugischen König Friderich zusammen, der mit Theoderich nach Italien gekommen war. Diese Allianz dauerte bis 493, als die beiden sich zerstritten und offenbar gegenseitig ausschalteten.22 Auch westgotische Krieger kamen damals nach Norditalien; eine unbekannte Anzahl kämpfte in der Schlacht an der 17 18 19 20 21 22
ten und meist gattungsbedingt: Assunta Nagl, Odoacer 1, in: RE XVII, 1937, 1888–1896; Cesa, Odoacre (wie Anm. 5); Herwig Wolfram, Odowakar, in: RGA XXI, 2002, 573–575. Ennod. Pan. 28–34. Zur Lokalisierung Heinrich Löwe, Theoderichs Gepidensieg im Winter 488/489, in: Historische Forschungen und Probleme. Festschrift für Peter Rassow. Wiesbaden 1961, 1–16, der die Ulca mit der Vulca identifiziert. Auct. Haun. s.a. 490; Cass. Chron. s.a. 489; Ennod. Pan. 37–47; Jord. Get. 292–293; Anon. Val. II 50. Auct. Haun. s.a. 490; Cass. Chron. s.a. 490; Jord. Get. 293; Anon. Val. II 53. Auct. Haun. s.a. 493; Fasti Vind. pr. s.a. 493; Agnellus 39. Fasti Vind. pr. s.a. 493; Agnellus 39. Fasti Vind. pr. s.a. 493; Auct. Haun. s.a. 493, § 2. Ende Friderichs: Ennod. Pan. 55. Rugier in Pavia: Ennod. V.Epif. 118–119.
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Addua auf Theoderichs Seite.23 Zur selben Zeit scheinen vandalische Krieger Sizilien unsicher gemacht zu haben; ihre Angriffe endeten jedoch 491.24 Schließlich war auch der burgundische König Gundobad in nicht näher bestimmbarer Weise an den Kampfhandlungen beteiligt. Eindeutig überliefert ist jedoch, dass er während der Auseinandersetzung zwischen Theoderich und Odovakar in Ligurien 6 000 Gefangene machte, die er in sein Reich verschleppte.25 Da uns keine zusammenhängende Schilderung des Krieges überliefert ist, können weder sein Verlauf noch seine Folgen im Einzelnen rekonstruiert werden. Die Verwüstungen, die er in Ligurien anrichtete, hat Ennodius wiederholt eindringlich beklagt und als tiefen Einschnitt in seiner persönlichen Biographie beschrieben.26 Auch Venetien war Schauplatz der Auseinandersetzungen zwischen Theoderich und Odovakar. Eine Reihe von verstreuten Hinweisen lässt indessen erkennen, dass sich die Kampfhandlungen in diesen vier Jahren keineswegs auf Venetien und Ligurien beschränkten. Aus der Korrespondenz des Papstes Gelasius, der sein Amt in der Endphase des Krieges, am 1. März 492, angetreten hatte,27 geht mit großer Deutlichkeit hervor, dass auch weite Teile Mittel- und Süditaliens unter Kriegsfolgen zu leiden hatten. So gestattete der Papst den Bischöfen von Lukanien, Bruttium und Sizilien unter Hinweis auf die Verheerungen des Krieges, vakante Klerikerstellen unter Missachtung der geltenden Intervalle zu besetzen.28 In einem Brief an die Bischöfe von Picenum erklärte er, bislang habe er vor allem 23 Anon. Val. II 53: „venerunt Wisigothae in adiutorium Theoderici“. Über Umstände und Hintergründe ist nichts überliefert: Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 16), 497; Ensslin, Theoderich (wie Anm. 1), 68. 24 Cass. Chron. s.a. 491: „Tunc etiam Vandali pace suppliciter postulata a Siciliae solita depraedatione cessarunt“; cf. Ennod. Pan. 70; Cass. Var. 1, 3, 3. Vgl. dazu Ludwig Schmidt, Geschichte der Vandalen. München 19422, 110; Christian Courtois, Les Vandales et l’Afrique. Paris 1955, 192f.; Andreas Goltz, Sizilien und die Germanen in der Spätantike, in: Kokalos 43/44, 1998, 209–242, hier: 229–232. 25 Ennod. V.Epif. 136–177; Pan. 54. 26 Ennod. opusc. 5, 20: „tempore quo Italiam optatissimus Theoderici regis resuscitavit ingressus, cum omnia ab inimicis eius inexplicabili clade vastarentur et, quod superesset gladiis, fames necaret, cum excelsa montium castrorumque arces penuria perrumperet et in culminibus locatos armis saevior egestas obsideret“; vgl. V.Epif. 109–121, bes. 121: „post ruinam omnium Liguriae civitatum“; dict. 1, 18–19. Münzschatzfunde bei Zeccone (Prov. Pavia) und Braone (Prov. Brescia) werden mit den Kämpfen zwischen Odovakar und Theoderich verbunden: Volker Bierbrauer, Die ostgotischen Grab- und Schatzfunde in Italien (Centro Italiano di Studi Sull’Alto Medioevo Spoleto. Biblioteca degli Studi medievali 7). Spoleto 1975, 215. 27 Über seinen Pontifikat vgl. Erich Caspar, Geschichte des Papsttums, Bd. 2: Das Papsttum unter byzantinischer Herrschaft. Tübingen 1933, 10–81; Walter Ullmann, Gelasius I. (492– 496). Das Papsttum an der Wende der Spätantike zum Mittelalter. (Päpste und Papsttum 18.) Stuttgart 1981, 135–259 (in historicis nicht immer zuverlässig). 28 Gelas. Ep. 14 Thiel (= JK 636), bes. § 1: „per diversas Italiae partes ita belli famisque consumpsit incursio, ut in multis ecclesiis (sicut fratris et coepiscopi nostri Johannis Ravennatis ecclesiae sacerdotis frequenti relatione comperimus) usquequaque deficiente servitio ministrorum, nisi remittendo paulisper ecclesiasticis promotionibus antiquitus intervalla praefixa, remaneant sacris ordinibus ecclesiae funditus destitutae“.
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darunter gelitten, dass die Rom benachbarten Provinzen durch die Einfälle der Barbaren und die Kriegshandlungen verwüstet würden, jetzt aber erfahre er, dass der Teufel den Seelen der Gläubigen noch größeren Schaden zugefügt habe als die Wildheit der Feinde ihren Körpern.29 Einen Bischof in der Provinz Tuscia forderte er auf, einen Priester wieder in sein Amt einzusetzen, der sich auf der Flucht vor den Barbaren eine schwere Verletzung am Unterleib zugezogen hatte, als er versuchte, einen Zaun aus Pfählen zu überspringen. Gelasius fügte hinzu, dass diese Provinz mehr als jede andere durch die streitenden Barbaren verwüstet worden sei.30 Eine illustris femina bat er darum, dafür zu sorgen, dass der römischen Kirche Landgüter zurückerstattet würden, die, obwohl zur Versorgung der Armen bestimmt, inzwischen „von Barbaren oder Römern“ in Besitz genommen worden seien, und wies dabei auf die große Anzahl von mittellosen Personen hin, die nach Rom gekommen seien, weil ihre Heimatprovinzen durch den Krieg verwüstet worden seien.31 Angesichts dieser Zerstörungen überrascht es nicht, wenn wir hören, dass während des Krieges in Italien die Prophezeiung umlief, das Kommen des Anti-Christ stehe unmittelbar bevor.32 Im Gegensatz zu Theoderich gelang Odovakar die Übernahme der Herrschaft geradezu handstreichartig. Die Erhebung zum König erfolgte am 23. August 476;33 fünf Tage später wurde der Heermeister Orestes bei Placentia (Piacenza) gefangen und getötet.34 Nachdem Odovakar am 4. September auch Orestes’ Bruder Paulus, der sich in Ravenna verschanzt hatte, umgebracht hatte,35 räumte der minderjährige Kaiser Romulus seinen Thron und zog sich auf ein Landgut bei Neapel zurück, wo er, großzügig abgefunden, noch eine Weile gelebt zu haben scheint. Im Falle Odovakars war der Kampf um die Macht also innerhalb von 29 Gelas. Ep. 6 Thiel (= JK 621), bes. § 1: „Barbaricis hactenus dolebamus incursibus maxime vicinas Urbi provincias et bellorum saeva tempestate vastari; sed quantum inter ipsa recentium calamitatum ferventia pericula comperimus, perniciosiorem diabolus Christianorum mentibus labem, quam corporibus hostilis feritas irrogavit.“ 30 Gelas. Frag. 9 Thiel (= JK 706): „Sed nuper propter provinciae vastitatem, quam Tusciae prae omnibus barbarorum feritas diversa sectantium et ambiguitas invexit animorum, cum imminentes gladios evadere fugae praesidio niteretur.“ Zum Adressaten vgl. PCBE II, 1572–1573 Palladius 5. 31 Gelas. Frag. 35 Thiel (= JK 685): „si praedia, quae vel a barbaris vel a Romanis inconvenienter invasa sunt, vestris dispositionibus egentium victui reformentur, Cujus tanta de provinciis diversis, quae bellorum clade vastatae sunt, Romam multitudo confluxit, ut vix dei Deo teste sufficere valeamus.“ Die Adressatin Firmina war mit Ennodius befreundet: PLRE II, 470. Von einer Hungersnot (famis) in Rom ist im Lib. Pont. 51, 3 sowie bei Gelas. Tract. 6, 8 Thiel = Coll. Avell. 100, 8 (= JK 627) die Rede. Gegenüber den Bischöfen in der Provinz Dardania entschuldigte Gelasius die verspätete Anzeige seiner Wahl mit den dauernden Kämpfen: Gelas. Ep. 7, 1 Thiel (= JK 623). 32 Pasch. Camp. s.a. 493. 33 Datum der Erhebung Odovakars: Fasti Vind. pr. s.a. 476; Pasch. Camp. s.a. 476; Auct. Haun. ordo pr. s.a. 476; ordo post. s.a. 476. 34 Cass. Chron. s.a. 476; Anon. Val. II 37; Jord. Get. 242; Rom. 344; Proc. BG 1, 1, 4–6. Quellen für das Todesdatum des Orestes: PLRE II, 811f. Orestes 2. 35 Todesdatum des Paulus (PLRE II, 852 Paulus 23): Fasti Vind. pr. s.a. 476; Auct. Haun. ord. post. margo s.a. 476.
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zwei Wochen entschieden.36 Zu größeren Kampfhandlungen scheint es nicht gekommen zu sein, weshalb sich der Schaden für die Zivilbevölkerung in engen Grenzen gehalten haben dürfte. Wenn der Abtretung der Provence an den westgotischen König Eurich bald nach der Machtübernahme tatsächlich Feindseligkeiten vorhergingen, wie man vermutet hat, so wurden diese jedenfalls sehr schnell beendet.37 Allerdings ist überliefert, dass Odovakar in den Jahren 477 und 478 Männer tötete, die offenbar aus seinen eigenen Reihen stammten, sich seiner Herrschaft aber widersetzten. Beide Male trugen die Rebellen germanische Namen; einer wird ausdrücklich als comes und nobilis bezeichnet.38 Die näheren Umstände sind uns ebenso verborgen wie die Hintergründe. Klar ist jedoch, dass es danach nicht mehr zu Rebellionen gegen Odovakar kam. Seine Herrschaft war in Italien seit spätestens 478 unangefochten. Das Heer, dem Odovakar seine Macht verdankte, ist eine weitgehend unbekannte Größe, und das nicht bloß im rein quantitativen Sinn. Alle Quellen beschreiben es als barbarisches, also nicht-römisches Heer, aber die Angaben darüber, welche Ethnien ihm angehörten, differieren erheblich: Im sogenannten Anonymus Valesianus stürzt Odovakar Orestes mit Hilfe der gens Scirorum.39 Dagegen spricht Prokopios von Skiren, Alanen und „anderen gotischen Völkerschaften (ethne)“, die Odovakar an die Macht gebracht hätten.40 Der oströmische Autor Marcellinus Comes wiederum verwendet für Odovakar dieselbe Bezeichnung wie für Theoderich, nämlich rex Gothorum.41 Jordanes bezeichnet Odovakar als rex 36 Absetzung des Romulus: Anon. Val. II 38; Jord. Get. 242; Rom. 344; Proc. BG 1, 1, 7; Marc. Com. s.a. 476, § 2. Cass. Var. 3, 35 könnte an ihn gerichtet sein. Nicht mehr als eine Möglichkeit ist auch, dass die von Eug. V.Sev. 46, 1–2 als Stifterin eines Mausoleums für den heiligen Severin im castellum Lucullanum erwähnte illustris femina Barbaria seine Mutter war. 37 Zur Abtretung der Provence siehe unten Anm. 91. Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 16), 493 mit Anm. 2; Karl Friedrich Stroheker, Eurich. König der Westgoten. Stuttgart 1937, 85 mit Anm. 104 beziehen Chron. Gall. a. 511 nr. 653 (Chron. Min. I, 665) auf die Zeit nach dem Sturz des Romulus: „Vincentius vero ab Eurico rege quasi magister militum missus est ab Alla et Sindila comitibus Italia occiditur.“ Dagegen setzen Ernest Stein, Histoire du Bas-Empire, Bd. 1, Brüssel 1959, 585 mit 604 Anm. 178; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 99 das Unternehmen auf 473 an. 38 Marc. Com. s.a. 477: „Bracilam comitem Odoacer rex apud Ravennam occidit“; Auct. Haun. ordo pr. s.a. 477: „Odoachar virum nobilem suo regimini adversantem Brachilanem nomine interfecit“; ähnlich ordo posterior s.a. 477; Auct. Haun. ordo pr. s.a. 478: „Adaric adversum Odoacrem rebellans devictus cum matre et fratre occiditur XIII k. Decemb“; ähnlich ordo post. s.a. 478 und ordinis post. margo s.a. 478. Zu den Namen vgl. Max Schönfeld, Wörterbuch der altgermanischen Personen- und Völkernamen nach der Überlieferung des klassischen Altertums bearbeitet. (Germanische Bibliothek. IV. Reihe: Wörterbücher 2.) Heidelberg 1911, 24 s.v. Ardaricus; 53 s.v. *Brahvila. 39 Anon. Val. II 37: „superveniente Odoacre cum gente Scirorum“. Über die Skiren vgl. Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 16), 97–99; Helmut Castritius/Stefan Zimmer, Skiren, in: RGA XXV, 2003, 353–358. 40 Proc. BG 1, 1, 3: „ἐτυγχάνον δὲ Ῥωμαῖοι χρόνῳ τινὶ πρότερον Σκίρους τε καὶ Ἀλανοὺς καὶ ἄλλα ἄττα Γοτθικὰ ἔθνη ἐς συμμαχίαν ἐπαγαγόμενοι.“ 41 Marc. Com. s.a. 476: „Odoacar rex Gothorum Romam obtinuit“.
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der rätselhaften Torcilingen,42 der mit Hilfe von Skiren und Herulern sowie Hilfstruppen verschiedener anderer gentes Orestes besiegt habe,43 schreibt ihm an anderer Stelle indessen rugische Abstammung zu44 und nennt ihn an einer dritten geradezu rex gentium.45 In Quellen, die letztlich auf eine in Ravenna geführte Chronik zurückgehen,46 wird Odovakar dagegen von Herulern zum König erhoben und auch ausdrücklich rex Herulorum genannt.47 Alle diese Angaben sagen uns im Grunde wenig, weil die Größe, Zusammensetzung und innere Gliederung dieser ethnisch definierten Gruppen unbekannt sind, lassen aber doch immerhin den einen Schluss zu, dass Odovakar nicht als König einer einzelnen Ethnie verstanden wurde. Man darf wohl noch einen Schritt weitergehen und annehmen, dass er so auch nicht verstanden werden wollte.48 42 Das Ethnikon T(h)orcilingi kommt nur bei Jordanes vor (aus dem Paul. Diac. hist. Rom. 14, 2; 15, 8 geschöpft hat). Hypothesen zur Etymologie referieren Alexander Sitzmann/Friedrich E. Grünzweig, Die altgermanische Ethnonymie. Ein Handbuch zu ihrer Etymologie. (Philologica Germanica 29.) Wien 2008, 275. Helmut Castritius, Zur Sozialgeschichte der Heermeister des Westreiches, in: MIÖG 92, 1984, 1–33, hier: 25–30; Wolfram Brandes, Familienbande? Odoaker, Basiliskos und Harmatios, in: Klio 75, 1993, 407–436, hier: 427–429; ders., Thüringer/Thüringerinnen in byzantinischen Quellen, in: Helmut Castritius (Hrsg.), Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte. Berlin 2009, 291–328, hier: 292– 299 vertreten unter Berufung auf Malch. F 8a Cresci (= F 13 Blockley) die These, Odovakar sei Thüringer gewesen, und halten die Angaben des Jordanes für einen Überlieferungsfehler. Da die T(h)orcilingi indessen sowohl in den „Getica“ als auch in den „Romana“ begegnen, setzt diese Erklärung voraus, dass Jordanes in beiden Werken derselben Quelle folgt, die diesen Fehler bereits enthielt. 43 Jord. Get. 241: „Odoacer, Torcilingorum rex, habens secum Sciros, Herulos diversarumque gentium auxiliarios, Italiam occupavit.“ 44 Jord. Get. 291 (Rede Theoderichs): „urbs illa caput orbis et domina, quare nunc sub Thorcilingorum Rugorumque tyrannide fluctuatur?“; Rom. 345: „Odoacer genere Rogus Thorcilingorum Scirorum Herulorumque turbas munitus Italiam invasit.“ 45 Jord. Get. 241: „Odoacer, rex gentium“. 46 Marinus A. Wes, Das Ende des Kaisertums im Westen des Römischen Reichs. Den Haag 1967, 56–68; Roger S. Bagnall/Alan Cameron/Seth R. Schwartz/Klaas A. Worp, Consuls of the Later Roman Empire. Atlanta (GA) 1986, 48–50. 47 Auct. Haun. ordo pr. s.a. 476: „Intra Italiam Eruli, qui Romano iuri suberant, regem creant nomine Odoacrem X k. Sept.“; ähnlich ord. post. margo s.a. 476; Auct. Haun. ordo pr. s.a. 487: „regem Herulorum Odoachrem“; ordo post. s.a. 487: „Odoachar rex Herulorum“. Heruler werden dann noch einmal im Zusammenhang mit Odovakars versuchtem Ausbruch aus Ravenna im Jahre 492 erwähnt: Fasti Vind. pr. s.a. 491; Auct. Haun. s.a. 491; Anon. Val. II 54; vgl. Ennod. Pan. 53: „quid Herulorum agmina fusa commemorem?“ Zu den Herulern vgl. neben Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 16), 548–564 und Gunter Neumann/Matthew Taylor, Heruler, in: RGA XIX, 1999, 468–474 jetzt auch Roland Steinacher, The Herules. Fragments of a History, in: Florin Curta (Hrsg.), Neglected Barbarians. (Studies in the Early Middle Ages 32.) Turnhout 2011, 321–364. 48 Titulatur Odovakars: P.Italiae 10–11, I, Z. 1; 10; II, Z. 11f.; Acta syn. III, § 4, MGH AA XII, 445; vgl. Cass. Chron. s.a. 476 („nomenque regis adsumpsit cum tamen neque purpura nec regalibus uteretur insignibus“); Euagr. HE 2, 16 („τῆς μὲν βασιλέως προηγορίας ἑαυτὸν ἀφελών, ῥῆγα δὲ προσειπών“). Dazu Andrew Gillett, Was Ethnicity politicised in the Earliest Medieval Kingdoms?, in: ders. (Hrsg.), On Barbarian Identity. Critical Approaches to Ethnicity in the Early Middle Ages. (Studies in the Early Middle Ages.) Turnhout 2002, 85–122,
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In dieser fehlenden Eindeutigkeit liegt, wie man schon immer gesehen hat, ein wesentlicher Unterschied gegenüber Theoderich, der als gotischer König nach Italien kam und sein Heer als einen ethnischen Verband behandelte. Die offizielle Sprachregelung lautete, dass der König über zwei Völker herrsche, die in einem Verhältnis funktionaler Arbeitsteilung zueinander stünden: Die Goten stünden unter Waffen und verteidigten das Reich, die Römer übten die Künste des Friedens und zahlten Steuern. So formulierte Cassiodor im Namen und Auftrag Theoderichs: So höre jedes der beiden Völker, was wir lieben: Die Römer sollen euch, wie sie euch mit ihren Besitzungen benachbart sind, so auch durch Liebe verbunden sein. Ihr aber, Römer, müsst die Goten mit großem Eifer lieben, die im Frieden eure Bevölkerung zahlreich machen und im Krieg den gesamten Staat verteidigen.49
Theoderich konnte seine Herrschaft folglich als eine Art Doppelherrschaft konstruieren: Heer und zivile Gesellschaft wurden als getrennte Sphären behandelt, die nach einem ethnischen Kriterium geschieden waren. Für die gotischen Untertanen waren eigene Amtsträger zuständig, die comites Gothorum und saiones, die selbst wieder nach einem ethnischen Kriterium ausgewählt wurden.50 Im Reich Theoderichs gab es keinen exercitus Romanus mehr, denn die Verteidigung der Romani oblag einem exercitus Gothorum.51 Gewiss handelte es sich dabei um eine Ideologie, aber um eine, die eben deshalb wirksam war, weil sie den sozialen Realitäten nicht willkürlich übergestülpt wurde. Indem Theoderich Einwanderern und bes. 97f., der zeigt, dass ethnische Königstitel im Frühmittelalter die Ausnahme und nicht die Regel waren. Steinacher, Herules (wie Anm. 47), 344 meint dagegen, dass Odovakar aus den in den Quellen bezeugten ethnischen Königstiteln je nach situativem Kontext ausgewählt habe. 49 Cass. Var. 7, 3, 3: „audiat uterque populus quod amamus: Romani vobis sicut sunt possessionibus vicini, ita sint et caritate coniuncti. vos autem, Romani, magno studio Gothos diligere debetis, qui et in pace numerosos vobis populos faciunt et universam rem publicam per bella defendunt“; vgl. Var. 2, 16, 5: „amicitiae populis per damna creverunt et parte agri defensor adquisitus est.“ Lob gotischer Kriegstüchtigkeit: Var. 1, 24, 1; 1, 38, 1; 3, 34, 1; 3, 49, 2; 5, 23, 1; 8, 3, 4; 8, 10, 4f.; 9, 14, 9; 9, 25, 10; 11, 1, 10; 12, 5, 4f.; Ennod. Pan. 83. Gut analysiert von Patrick Amory, People and Identity in Ostrogothic Italy, 489–554. (Cambridge Studies in Medieval Life and Thought 4th Series 33.) Cambridge 1997, 50–78 und Christina Kakridi, Cassiodors Variae: Literatur und Politik im ostgotischen Italien. (Beiträge zur Altertumskunde 223.) München 2005, 299–301. 50 comites Gothorum: Cass. Var. 7, 3 mit Kayoko Tabata, I comites Gothorum e l’amministrazione municipale in epoca ostrogota, in: Jean-Michel Carrié/Rita Lizzi Testa (Hrsgg.), Humana sapit. Études d’antiquité tardive offerts à Lellia Cracco Ruggini. (Bibliothèque de l’Antiquité tardive 3.) Turnhout 2002, 67–78; vgl. auch Gideon Maier, Amtsträger und Herrscher in der Gothia Romana. Vergleichende Untersuchungen zu den Institutionen der ostgermanischen Völkerwanderungsreiche. (Historia Einzelschriften 181.) Stuttgart 2005, 216–218, wo jedoch die seit Mommsen übliche Identifikation der comitiva Gothorum per singulas civitates mit der comitiva diversarum civitatum (Var. 7, 26–28) zu Unrecht abgelehnt wird. Maier, ebd., 169–181 behandelt auch die saiones. 51 Cass. Var. 1, 4, 17: „candidatus noster Gothorum semper armat exercitus“; Var. 3, 38, 2: „vivat noster exercitus civiliter cum Romanis“; Var. 12, 5, 4: „dum belligeret Gothorum exercitus, sit in pace Romanus“.
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Einheimischen komplementäre Aktionsfelder zuwies, die sich berührten, aber nicht überlappten, beanspruchte er für sich selbst eine Stellung, die von beiden unabhängig war. Indem er das Heer als einen ethnischen Verband definierte, schloss er aus, dass das Oberkommando in Zukunft wieder einem Römer zufallen könne. Das Heer sollte gotisch sein, die zivile Gesellschaft römisch. Im Gegensatz zu Theoderich hat Odovakar keine ideologische Barriere gegen den Dienst von Römern im Heer errichtet. Ob daraus zu folgern ist, sein Heer sei tatsächlich offener oder gemischter gewesen als dasjenige Theoderichs, steht selbstverständlich auf einem anderen Blatt, zumal wir nicht abschätzen können, ob es auf römischer Seite eine nennenswerte Nachfrage gegeben hat. In der Forschung wird die Frage, ob im Heer Odovakars Römer dienten, denn auch keineswegs einheitlich beantwortet.52 Konkrete Anhaltspunkte vermag allein die Prosopographie zu liefern: Unter Odovakars Herrschaft sind drei Heermeister bezeugt; zwei davon tragen germanische Namen: Livila53 und Valila.54 Der Name des dritten Heermeisters, Tufa, ist von dem lateinischen Wort für den Helmbusch abgeleitet, was auf römische Herkunft deuten kann, aber natürlich nicht muss.55 Aus dem Spiel bleiben muss hingegen der in der einschlägigen Literatur auf die Zeit Odovakars datierte magister militum Aemilianus, der in einem Brief erwähnt wird, der früher Papst Gelasius I. (492–496) zugeschrieben wurde, in Wahrheit aber von Pelagius II. (556–561) stammt.56 Odovakars comes domesticorum Pierius, der nachweislich Truppen kommandierte, wird aufgrund seines Namens, der auch im senatorischen Adel begegnet, wohl mit Recht als Römer angesprochen.57 52 Mommsen, Ostgothische Studien (wie Anm. 2), 465f. (= 403); vgl. 497 (= 436) ging davon aus, dass Römern das Tragen von Waffen verboten war. Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 16), 327f. formulierte, Odovakar habe Römer zwar „grundsätzlich“ vom Heeresdienst ausgeschlossen, aber Ausnahmen zugelassen. Ähnlich Sundwall, Abhandlungen (wie Anm. 3), 183; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 184f.; Wilhelm Ensslin, Zu den Grundlagen von Odoakers Herrschaft, in: Serta Hoffileriana. Zagreb 1937, 381–388, hier: 387f. vertrat hingegen die Auffassung, dass von einem grundsätzlichen Ausschluss der Römer vom Heeresdienst unter Odovakar keine Rede sein könne. Paul. Diac. HL 1, 19 spricht davon, Odovakar sei mit mehreren gentes, die seit langem seiner Herrschaft unterstanden – „Turcilingis, et Herulis Rugorumque parte… nec non etiam Italiae populis“ – ins Rugiland gezogen. Bedeutung und Glaubwürdigkeit dieser Aussage sind fraglich. 53 PLRE II, 681; zum Namen vgl. Schönfeld, Wörterbuch (wie Anm. 38), 156 s.v. *Livila. 54 PLRE II, 1147; zum Namen vgl. Schönfeld, Wörterbuch (wie Anm. 38), 252 s.v. Valila. Er ist bereits unter Kaiser Anthemios als magister militum bezeugt: Carta Cornutiana 1 (datiert auf den 17. April 471), ediert von Louis Duchesne, Le Liber Pontificalis. Texte, introduction et commentaire, Bd. 1. 2. Aufl. Rom 1955, CXLVIf. 55 PLRE II, 1131; zum Namen vgl. Schönfeld, Wörterbuch (wie Anm. 38), 242f. s.v. Tufa. Möglicherweise hatte auch Odovakars Bruder Onoulf zeitweise das Amt eines magister militum inne. 56 Pelag. Ep. 25 Gassó/Battle, früher als Gelas. Frag. 3 Thiel (= JK 988) zitiert. Dadurch überholt PLRE II, 15 Aemilianus 5; Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 9f. Nr. 3; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 108. Richtig PCBE II, 33f. Aemilianus 3. 57 Sundwall, Abhandlungen (wie Anm. 3), 149; PLRE II, 885–886 Pierius 5; Marco Sannazaro, Un’epigrafe di Garlate, il comes domesticorum Pierius e la battaglia dell’Adda del 490, in: MEFR 105, 1993, 189–219; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 111. Pierius
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Die Handbücher führen außerdem drei Stadtrömer auf, die, so heißt es, auf Sitzinschriften im Colosseum mit dem Titel eines ex comite domesticorum oder comes domesticorum genannt seien, diesen Titel also nach Chastagnols Datierung spätestens im Jahre 483 führten: Anastasius,58 Venantius Severinus Faustus59 und Victorius.60 Von diesen dreien muss Victorius jedoch ausscheiden, weil der ihm zugeschriebene Titel auf einer unhaltbaren Lesung und Ergänzung beruht.61 Bei den beiden anderen kann nicht ausgeschlossen werden, dass sie den Titel ehrenhalber führten, wie es unter Theoderich üblich wurde.62 Wenn ihre Inschriften unter Odovakar aufgezeichnet wurden, ist das jedoch wenig wahrscheinlich, denn Pierius fiel im Kampf gegen Theoderich, und Prokopios berichtet, dass Theoderich die Palastgarden in eine Paradetruppe ohne militärische Funktion verwandelt habe; demnach gehörten sie unter Odovakar noch zur kämpfenden Truppe.63 Der erste Senator, der die comitiva domesticorum ehrenhalber führte, scheint Turcius Rufius Apronianus Asterius gewesen zu sein, der den Titel zwar vor 492, aber nicht lange davor erhalten zu haben scheint.64 Auch wenn Gewissheit nicht zu erlangen ist, legt dieser Befund die Annahme doch zumindest nahe, dass unter Odovakar Römer und Nicht-Römer als Soldaten dienten. Der ideologischen Unbestimmtheit entsprach also wahrscheinlich eine
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überwachte 488 die Räumung der Provinz Noricum Mediterraneum (Eug. V.Sev. 44, 5) und fiel am 4. August 490 in der Schlacht an der Addua: Anon. Val. II 53; Auct. Haun. s.a. 491, Chron. Min. I, 319. Sein Grabstein ist erhalten: AE 1993, Nr. 803a. Er könnte ein Nachfahre des gleichnamigen Stadtpräfekten gewesen sein, der am 9. Juni 440 N.Val. 8 empfing (PLRE II, 885 Pierius 4). PLRE II, 82 Anastasius 16. Orlandi, Epigrafia anfiteatrale (wie Anm. 12), 441f. Nr. 160C zeigt freilich gegen Chastagnol, L’épigraphie du Colisée (wie Anm. 11), 74, dass der Name Anastasius nicht zum Träger des Titels gehört, dieser also für uns ein Anonymus ist. Dies ist im vorliegenden Fall jedoch unerheblich. PLRE II, 456f. Faustus 10; Orlandi, Epigrafia anfiteatrale (wie Anm. 12), 478f. Auf die Zeit Odovakars weist die Titulatur: [come]s domest(icorum) ex p(raefecto) u(rbi) at[que patricius]: CIL VI 32212 = Orlandi, Epigrafia anfiteatrale (wie Anm. 12), 436 Nr. 151B. So Roland Delmaire, Les responsables des finances impériales au Bas-Empire romain (IVe– VIe s.). Études prosopographiques. (Collection Latomus 203.) Brüssel 1989, 230f. Nr. 145, der in CIL VI 32213 ex [com. dom.] vor com. rei [privatae] ergänzt; akzeptiert von Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 109. Ohne diese Ergänzung PLRE II, 696 Victorius M… Orlandi, Epigrafia anfiteatrale (wie Anm. 12), 404f. Nr. 108C. Formel: Cass. Var. 6, 11. Ernennungsschreiben: Var. 2, 15; 2, 16; 11, 31. Dazu Cameron, JRA 2012 (wie Anm. 13), 516f. Proc. HA 26, 27–28. PLRE II, 173–174 Asterius 11; Delmaire, Finances impériales (wie Anm. 60), 235–237 Nr. 153. Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 111 hält es für möglich, dass Asterius wie seine Vorgänger ein militärisches Kommando innehatte. Das ist deswegen unwahrscheinlich, weil er eine rein zivile Ämterlaufbahn absolviert hat, die uns aus der subscriptio zu einer Ausgabe der Eklogen Virgils bekannt ist: Emil Baehrens (Hrsg.), Poetae latini minores, Bd. 5, Leipzig 1883, 110; ihm gehörte wohl auch die Sitzinschrift CIL VI 32203; 32200 = Orlandi, Epigrafia anfiteatrale (wie Anm. 12), 340f. Nr. 32E. Da Asterius vor seinem Konsulat im Jahre 494 comes rei privatae und praefectus urbi war, dürfte er die comitiva domesticorum spätestens 492 erlangt haben.
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tatsächliche Offenheit. Im Falle Theoderichs dagegen ist zwar einzuräumen, dass die ideologische Dichotomie zwischen gotischen Soldaten und römischen Zivilisten die soziale Realität insofern verzeichnet, als der König nachweislich wehrfähige Gruppen in seine Dienste genommen hat – namentlich die Rugier, aber auch andere –, die sich selbst nicht oder jedenfalls nicht primär als Goten verstanden.65 Aber für Theoderich waren die Rugier eben Goten, und nur als solche hatten sie Anspruch auf die materiellen Vergünstigungen, die den Soldaten des Königs gewährt wurden.66 Odovakar stand die Option, sein Königtum als Herrschaft über zwei Völker zu konstruieren, nicht zur Verfügung, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen war er durch Herkunft und Lebensweg keiner Ethnie eindeutig verbunden: Sein Vater Edeko, der von Priskos als Skythe und Hunne bezeichnet wird, hatte zur Führungsschicht im Reiche Attilas gehört und nach dessen Ende als Anführer skirischer Krieger in einem multiethnischen Heer erfolglos gegen die „pannonischen“ Goten gekämpft.67 Odovakar begab sich darauf nach Italien, wo er 471/2 für Rikimer gegen Anthemios kämpfte und 476 zu den Leibwächtern des Romulus gehörte.68 Es war daher möglich, Odovakar wahlweise als Skiren, Rugier oder Go 65 Rugier: Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 16), 117–126; Peter J. Heather, Disappearing and Reappearing Tribes, in: Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hrsgg.), Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities, 300–800. Leiden u.a. 1998, 95–111; Thomas Andersson/Walter Pohl, Rugier, in: RGA XXV, 2003, 452–458. Gepiden: Cass. Var. 5, 10 mit Walter Pohl, Die Gepiden und die gentes an der mittleren Donau nach dem Zerfall des Attilareiches, in: Herwig Wolfram/Falko Daim (Hrsgg.), Die Völker an der unteren und der mittleren Donau im fünften und sechsten Jahrhundert. (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschriften 145.) Wien 1980, 239–301, hier: 297f. Breonen: Cass. Var. 1, 11. Alemannen: Cass. Var. 3, 50. 66 Jährliches Donativ: Cass. Var. 4, 14, 2; 5, 27; 5, 36, 2; vgl. 5, 26, 2; 8, 26, 4. 67 Grundlegend ist Brandes, Klio 1993 (wie Anm. 42). Priskos (F 8, 11 Carolla = 11, 2 Blockley), der zwischen Οὔννοι und Σκύθαι unterscheidet (Roger C. Blockley, The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire. Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus. [Arca. Classical and Medieval Texts, Papers and Monographs 6.] Bd. 1, Liverpool 1981, 53) bezeichnet Edekon (PLRE II, 385f.) im Gegensatz zu Orestes, der seiner Darstellung zufolge ebenfalls zu den λογάδες Attilas gehörte (F 8, 23), als hervorragenden Krieger hunnischer Abstammung (τοῦ Οὔννου γένους). Dagegen findet sich in der „Suda“ die wohl aus Malchos geschöpfte Angabe (Malch. F 8a Cresci = F 13 Blockley), Odovakars Bruder Onoulf (Joh. Ant. F 209 Müller = F 301, Z. 4–7 Roberto) habe auf Vaterseite von Thüringern, auf Mutterseite von Skiren abgestammt. Wie man die beiden Angaben vereinigen kann, steht dahin. Edeko wird nach der Schlacht an der Bolia (Jord. Get. 277) nicht mehr erwähnt. Onoulf (PLRE II, 806) versuchte sein Glück nach der Niederlage in Konstantinopel, wo er sich dem magister militum per Illyricum Armatus anschloss, den er später tötete: Malch. F 8 Cresci (= F 9, 4 Blockley), Z. 30–35. Daraufhin übernahm er dessen Heermeisteramt, in welchem er ca. 477–480 nachweisbar ist. Später ging er nach Italien und diente dort seinem Bruder, in dessen Auftrag er 488 die Rugier besiegte (Eug. V.Sev. 44, 4–5). Onoulf stand bis zuletzt an Odovakars Seite und wurde bei derselben Gelegenheit wie dieser getötet: Joh. Ant. F 214a Müller = F 307 Roberto, Z. 13; Chron. Gall. a. 511 nr. 670 (Chron. Min. I, 665). 68 Eug. V.Sev. 6, 6–7, 1; Joh. Ant. F 209 Müller = F 301 Roberto, Z. 4–7; Proc. BG 1, 1, 6. Die Frage, ob Odovakar mit dem von Gregor von Tours (HF 2, 18f.) als Anführer von Sachsen in
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ten, als König der Heruler, der Skiren oder Torkilingen zu apostrophieren.69 Zum anderen aber schloss der multiethnische Charakter seiner Anhängerschaft das Konstrukt einer Doppelherrschaft über zwei Völker geradezu aus. Gewiss waren die verschiedenen Ethnien, auf die sich Odovakars Gefolgsleute verteilten, keine zeitlosen und unwandelbaren Größen; vermutlich hatten sie sich durch Zu- und Abgänge in der jüngeren Vergangenheit immer wieder umgebildet und würden dies auch weiterhin tun.70 Aber es existierte unter den Anhängern Odovakars im Jahre 476 eben auch keine Ethnie, die stark genug gewesen wäre, die anderen gewissermaßen aufzusaugen. Odovakar musste diesem Umstand Rechnung tragen, weil er ihn nicht ändern konnte, zumal er im Gegensatz zu Theoderich nicht auf erprobte Loyalitäten zählen konnte, als er die Herrschaft in Italien erwarb. Denn auch wenn er tatsächlich die Stellung eines comes domesticorum innegehabt haben sollte, als er König wurde, wie man vermutet hat,71 so hatte das Oberkommando über das Heer bis dahin doch bei einem anderen gelegen. Noch schwächer war aber seine Position, wenn er zum Zeitpunkt der Erhebung lediglich einer unter vielen Leibgardisten war. Die erwähnten Rebellionen der Jahre 477 und 478 belegen zudem, dass es in Odovakars Gefolge Leute gab, die seine Herrschaft auch später nicht akzeptierten. Theoderich dagegen hatte seit 474 die alleinige Führung eines gotischen Kriegerverbands inne, den er von seinem Vater übernommen und 484 mit den Goten des Theoderich Strabon vereinigt hatte.72 Das Heer, das Theoderich 488 69
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Gallien erwähnten Adovacrius identisch ist, wie man seit Edward Gibbon häufig vermutet hat, mag hier auf sich beruhen. Odovakar Skire: Joh. Ant. F 209 Müller = F 301, Z. 5 Roberto; Rugier: Jord. Rom. 345. Gote: Theoph. a.m. 5965. Die Auffassung, Odovakar sei Hunne gewesen, begegnet hingegen ausschließlich in der modernen Forschung: Robert L. Reynolds/Robert S. Lopez, Odovacer: German or Hun?, in: AHR 52, 1946, 36–53; akzeptiert von Thompson, Romans and Barbarians (wie Anm. 3), 61 mit 273f. Anm. 2. Es ist hier nicht der Ort, auf die endlose Debatte über Ethnogenese und Ethnizität in Spätantike und Frühmittelalter einzugehen, doch soll das bahnbrechende Werk von Reinhard Wenskus, Stammesbildung und Verfassung: das Werden der frühmittelalterlichen gentes. Köln/Graz 1961 (2. Aufl. 1977) nicht ungenannt bleiben. Die aktuelle Position der „Wiener Schule“ formuliert Walter Pohl, Telling the Difference: Signs of Ethnic Identity, in: Pohl/Reimitz, Strategies of Distinction (wie Anm. 65), 17–69. Scharfe, teilweise überzogene Kritik daran üben viele der bei Gillett, Barbarian Identity (wie Anm. 48) versammelten Autoren; vgl. dagegen jedoch im selben Band die brillante Replik von Walter Pohl, Ethnicity, Theory and Tradition: A Response, 221–240. Vermutet z.B. von Cesa, Odoacre (wie Anm. 5), 311f.; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 59f. Odovakar kann diese Stellung frühestens unter der Herrschaft des Glycerius erlangt haben, der sie selbst bekleidete, als er Kaiser wurde: Joh. Ant. F 209 Müller = F 301 Roberto, Z. 21–23. Diese Phase in der Geschichte Theoderichs und der von ihm geführten Goten ist uns vor allem durch die Fragmente aus dem zeitgenössischen Geschichtswerk des Malchos von Philadelpheia bekannt, das ich an anderer Stelle eingehend analysiert habe: Hans-Ulrich Wiemer, Kaiserkritik und Gotenbild bei Malchos von Philadelpheia, in: Andreas Goltz/Hartmut Leppin/Heinrich Schlange-Schöningen (Hrsgg.), Jenseits der Grenzen. Beiträge zur spätantiken und frühmittelalterlichen Geschichtsschreibung. (Millennium-Studien 25.) Berlin 2009, 25–
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nach Italien führte, hatte daher einen mehrere tausend Mann starken Kern, der mit seinem König über viele Jahre sozusagen durch Dick und Dünn gegangen war; er war durch gemeinsame Erfahrungen, Erfolge und Misserfolge, geprägt und auf einen Anführer eingeschworen.73 Odovakars Stellung gegenüber seinen Kriegern war unvergleichlich schwächer; er verdankte ihnen alles und hatte daher keine Gelegenheit, das Heer, das ihn zum König erhob, nach seinen Vorstellungen zu formen. Eine Antwort auf die Frage, wie es Odovakar unter diesen Umständen gelang, die Soldaten, denen er die Herrschaft verdankte, an sich zu binden, findet sich lediglich in einer einzigen Quelle. Bekanntlich berichtet Prokopios in der Einleitung zu seiner Darstellung der Gotenkriege Justinians, barbarische Soldaten, die von den Römern als Hilfstruppen nach Italien geholt worden waren, hätten Orestes aufgefordert, ihnen ein Drittel des Ackerlandes abzutreten, und diesen, als er sich geweigert habe, kurzerhand erschlagen. Daraufhin heißt es bei Prokopios wörtlich (1, 1, 6–8): Unter ihnen befand sich ein Mann namens Odoaker, der zu den Leibwächtern (doryphoroi) des Kaisers gehörte. Der erklärte sich bereit, ihnen das Versprechen zu erfüllen, wenn sie ihn an die Macht brächten. Nachdem er so die Herrschaft als Tyrann (tyrannis) übernommen hatte, tat er dem Kaiser (basileus) sonst weiter nichts Böses, sondern ließ ihn als Privatmann weiter leben. Indem er den Barbaren den dritten Teil der Äcker gewährte, band er sie dadurch ganz fest an seine Person (bebaiotata hetairisamenos); und so befestigte er die Herrschaft als Tyrann für zehn Jahre.74
60; ders., Malchos von Philadelpheia, die Vandalen und das Ende des Kaisertums im Westen, in: Bruno Bleckmann/Timo Stickler (Hrsgg.), Griechische Profanhistoriker des fünften nachchristlichen Jahrhunderts. (Historia Einzelschriften 228.) Stuttgart 2013, 157–211. Hinzu kommen Angaben bei Jord. Get. 282–288 und einigen anderen Autoren. Zu den Ereignissen vgl. auch Karl Martin, Theoderich der Große bis zur Eroberung Italiens, Diss. Freiburg 1888, 19ff.; Wolfram, Goten (wie Anm. 4), 259–278; Peter J. Heather, Goths and Romans 332– 489. Oxford 1991, 225–308; Andreas Schwarcz, Die Goten in Pannonien und auf dem Balkan nach dem Ende des Hunnenreiches bis zum Italienzug Theoderichs des Großen, in: MIÖG 100, 1992, 50–83. 73 Die Gesamtzahl der Personen, die von Theoderich nach Italien geführt wurden, wird in der Forschung meist auf ca. 100 000 veranschlagt; so z.B. von Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 16), 293; Ensslin, Theoderich (wie Anm. 1), 62f.; Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 66–68. Die Zahl der wehrfähigen Männer dürfte demnach ungefähr 20 000 bis 25 000 betragen haben. Prokopios’ Angaben zum römisch-gotischen Krieg, soweit sie nicht auf römischer Propaganda beruhen, lassen sich mit dieser Schätzung gut vereinbaren, wenn man annimmt, dass zwischen 489 und 535 ein Zuwachs zu verzeichnen war: Knud Hannestad, Les forces militaires d’après la Guerre Gothique de Procope, in: Classica & Mediaevalia 21, 1960, 136–183, hier: 155–171 kalkuliert die Stärke des gotischen Heeres zu Beginn des römisch-gotischen Krieges auf etwa 30 000 Mann. 74 Proc. BG 1, 1, 6–8: „ἦν δέ τις ἐν αὐτοῖς Ὀδόακρος ὄνομα, ἐς τοὺς βασιλέως δορυφόρους τελῶν· ὃς αὐτοῖς τότε ποιήσειν τὰ ἐπαγγελλόμενα ὡμολόγησεν, ἤνπερ αὐτὸν ἐπὶ τῆς ἀρχῆς καταστήσονται. οὕτω τὴν τυραννίδα παραλαβὼν ἄλλο μὲν οὐδὲν τὸν βασιλέα κακὸν ἔδρασεν, ἐν ἰδιώτου δὲ λόγῳ βιοτεύειν τὸ λοιπὸν εἴασε. καὶ τοῖς βαρβάροις τὸ τριτημόριον τῶν ἀγρῶν παρασχόμενος τούτῳ τε τῷ τρόπῳ αὐτοὺς βεβαιότατα ἑταιρισάμενος τὴν τυραννίδα ἐς ἔτη ἐκρατύνετο δέκα.“ Auf die Landnahme durch die Soldaten Odovakars be-
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Dieser Bericht ist sehr knapp, aber in seiner Aussage eindeutig; wer ihm nicht folgen will, muss ihn in toto verwerfen. Stichhaltige Gründe gegen seine Glaubwürdigkeit sind jedoch bislang nicht beigebracht worden.75 Gewiss ist Prokopios’ Darstellung der weströmischen Geschichte nicht fehlerfrei, aber er kannte Italien aus eigener Anschauung und dürfte daher befähigt gewesen sein, sich über die Formen des Landbesitzes ein Urteil zu bilden.76 Odovakar wurde demnach König nicht aufgrund einer besonderen, durch Erfolge nachgewiesenen Befähigung und erst recht nicht aufgrund seiner Abstammung oder Herkunft, sondern allein deswegen, weil er bereit war, die ökonomischen Forderungen der Soldaten auch gegen den Willen des obersten Heermeisters und damit des Kaisers durchzusetzen. Für Odovakars politisches Überleben war es daher unerlässlich, dass er die Forderung nach einer Landverteilung tatsächlich erfüllte. Wie er das im Einzelnen getan hat, ist Prokopios’ Bericht nicht zu entnehmen; fest steht lediglich, dass es zu einer Umverteilung von Land gekommen ist, die nominell ein Drittel der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche erfasste. Wir wissen einfach nicht, wie die Anhänger Odovakars zu Grundeigentümern wurden, wo ihre Landgüter lagen und auf welche Weise sie bewirtschaftet wurden. Für Theoderich sprudeln die Quellen auch in dieser Hinsicht reichlicher; sie lassen kaum einen Zweifel, dass auch er seine Gefolgsleute materiell abgesichert hat, indem er sie mit Land ausstattete.77 Prokopios berichtet, die Gefolgsleute zieht sich offenbar die zwischen 507 und 511 getroffene Entscheidung Theoderichs, ein Barbar, der einem Römer nach 489 sine delegatoris cuiuspiam pittacio ein Landgut (praedium) weggenommen habe, solle es zurückgeben; wenn er es hingegen seit mindestens 30 Jahren besitze, dürfe er es behalten: Cass. Var. 1, 18. 75 Walter Goffart, Barbarians and Romans: the techniques of accommodation AD 418–584, Princeton (NJ) 1980, 62–70 argumentiert, Prokopios verdiene in keiner Hinsicht Glauben, weil seine Darstellung der weströmischen Geschichte nicht fehlerfrei ist; das ist methodisch unzulässig. Herwig Wolfram, Das Reich und die Germanen. Zwischen Antike und Mittelalter. Berlin 1994, 265f. und Steinacher, Herules (wie Anm. 47), 342 gehen davon aus, dass Prokopios die Vorgänge falsch verstanden habe; da er jedoch die einzige Quelle ist, bleibt ihr eigener Vorschlag, die in Italien stehenden „Barbaren“ hätten die wirtschaftliche Gleichstellung mit „dem römischen Heer“ verlangt, unverbindlich. 76 Grundlegend ist die Monographie von Averil Cameron, Procopius and the Sixth Century. London 1985 (zum Gotenkrieg: 188–206). 77 Das von Goffart, Barbarians and Romans (wie Anm. 75), 58–102 entwickelte und von Jean Durliat, Le salaire de la paix sociale dans les royaumes barbares (Ve–VIe siècles), in: Herwig Wolfram/Andreas Schwarcz (Hrsgg.), Anerkennung und Integration: Zu den wirtschaftlichen Grundlagen der Völkerwanderungszeit. Wien 1988, 21–72 mit erheblichen Modifikationen übernommene Modell, demzufolge die Goten in Italien nicht ein Drittel des Landes, sondern ein Drittel der Steuereinnahmen erhielten, hat vor allem in der mediävistischen Forschung Anklang gefunden – z.B. bei Wolfram, Goten (wie Anm. 4), 295–299 oder Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 32–35. Wie nach Maria Cesa, Hospitalitas o altre techniques of accommodation? A proposito di un libro recente, in: Archivio Storico Italiano 140, 1982, 539–552 und Sam J. B. Barnish, Taxation, Land and Barbarian Settlement in the Western Empire, in: Proceedings of the British School at Rome 54, 1986, 170–195 vor allem J. H. Wolfgang G. Liebeschuetz, Cities, Taxes and the Accomodation of the Barbarians: the theories of Durliat and Goffart, in: Walter Pohl (Hrsg.), Kingdoms of the Empire: the integration of barbarians in late antiquity. Leiden 1997, 142–151 gezeigt hat, hält dieses Modell indessen einer Überprü
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Theoderichs hätten lediglich den Teil der Ländereien unter sich verteilt, den Odovakar zuvor seinen Anhängern (stasiotai) überlassen hatte. Zeitgenössische Zeugnisse sprechen ebenfalls von einer Realteilung des Landes zwischen Goten und Römern. So rühmt Cassiodor in einem an den Senat gerichteten Schreiben den mit der Durchführung dieser Maßnahme betrauten Senator Liberius78 im Namen und Auftrag Theoderichs mit folgenden, unmissverständlichen Worten: Gerne berichten wir, auf welche Weise er bei der Zuweisung der Drittel (tertiae) sowohl die Besitzungen (possessiones) als auch die Sinne von Goten und Römern verband. Denn wohingegen Menschen aufgrund der Nachbarschaft aneinander zu geraten pflegen, scheint ihnen der gemeinsame Besitz von Landgütern (praedia) Grund zur Eintracht gegeben zu haben. So nämlich ist es gekommen, das jedes der beiden Völker (utraque natio), indem es gemeinschaftlich lebt, sich auf einen Willen einigt. Sieh’ an, etwas Neues und überaus Lobenswürdiges! Die Gunst der Eigentümer (domini) ist durch die Teilung des Bodens (cespitis divisio) verbunden worden; die Freundschaft zwischen den Völkern ist durch Verluste gewachsen, und mit einem Teil des Ackers (ager) wurde ein Beschützer erworben, so dass die Sicherheit des Vermögens (substantia) ungeschmälert erhalten bleibt.79
Dieselben Euphemismen begegnen in einem Schreiben des Ennodius, das an Liberius selbst gerichtet ist: Nach Gott wird es Dir verdankt, dass wir unter einem äußerst mächtigen und überall siegreichen Herrn unbesorgt unseren Reichtum deklarieren. Denn der Wohlstand der Untertanen ist dann sicher, wenn der Herrscher keinen Mangel leidet. Wie hast Du jene unzählbaren Haufen von Goten durch eine reichliche Übertragung von Landgütern (praedia) reich gemacht, während die Römer es kaum bemerkten? Denn die Sieger verlangen nicht nach mehr, und die Besiegten haben keinen Verlust gespürt.80
fung an den Quellen nicht stand. An diesem status quaestionis hat auch die polemische retractatio bei Walter Goffart, Barbarian Tides. The Migration Age and the Later Roman Empire, Philadelphia (PA) 2006, 119–186 (vgl. Appendix 3 auf 257–262) nichts geändert. Auch Francesco Porena, L’insediamento degli Ostrogoti in Italia. Rom 2012 spricht sich nach eingehender Überprüfung aller Zeugnisse und Argumente wiederum für die Annahme aus, dass im Reich Theoderichs einzelnen Goten Landgüter zugewiesen wurden. 78 PLRE II, 677–681 Liberius 3; Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 79–83 Nr. 65; PCBE II, 1299– 1301 Liberius 4; vgl. auch James O’Donnell, Liberius the Patrician, in: Traditio 37, 1981, 31– 72. 79 Cass. Var. 2, 16, 5: „Iuvat nos referre quemadmodum in tertiarum deputatione Gothorum Romanorumque et po ss es s ion es iunx it et animos (sc. Liberius). nam cum se homines soleant de vicinitate collidere, istis p ra ed ioru m c o mmun io causam videtur praestitisse concordiae: sic enim contigit, ut utraque natio, dum communiter vivit, ad unum velle convenerit. en factum novum et omnino laudabile: gratia dominorum de c e s p i t i s d iv is io n e coniuncta est; amicitiae populis per damna creverunt et parte agri defensor adquisitus est, ut substantiae securitas integra servaretur“; vgl. Var. 1, 18, 2; 3, 35, 2: „quidquid ex nostra ordinatione patricium Liberium tibi matrique per pittacium constiterit deputasse, in suo robore debeat permanere.“ 80 Ennod. Ep. 9, 23, 5: „tibi (sc. Liberio) post deum debetur quod apud potentissimum dominum et ubique victorem (sc. Theodericum) securi divitias confitemur. tuta enim tunc est subiectorum opulentia quando non indiget imperator. quid quod illas innumeras Gothorum catervas vix scientibus Romanis la rga pr aed iorum c o n la tione ditasti. nihil enim amplius victores cupiunt et nulla senserunt damna superati.“
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Allerdings legen diese Aussagen die Annahme nahe, dass Theoderichs Gefolgsleute nicht einfach in die Rechte der vertriebenen Anhänger Odovakars eintraten. Für diese Vermutung spricht jedenfalls, dass der Prätoriumspräfekt Liberius bei der Ansiedlung der Goten in Italien eine maßgebliche Rolle gespielt hat; das wäre wohl nicht erforderlich gewesen, wenn es sich um eine bloße Übernahme gehandelt hätte. Theoderich hat also in dieser Hinsicht die Politik Odovakars tatsächlich fortgesetzt: Beide haben ihr Heer in eine Klasse von Grundbesitzern umgewandelt. Zu dieser Politik gab es für Theoderich aus mehreren Gründen keine praktikable Alternative: Erstens waren die Aspirationen seiner Anhänger bereits seit langem darauf gerichtet, als Grundeigentümer ein sorgenfreies Leben führen zu können; dieses Ansinnen war ja schon Ende der 470er Jahre an Kaiser Zenon gerichtet worden.81 Zweitens konnte Theoderich über das Land verfügen, das er den Anhängern Odovakars abnahm, und drittens hätte die Verwandlung eines Gefolgschaftsverbands in ein stehendes Heer enorme Kosten verursacht, wenn dieses Heer aus laufenden Steuereinnahmen hätte unterhalten werden müssen. Im Reich Theoderichs wurde jedoch weder die im Westen unter Valentinian III. letztmalig belegte Rekrutensteuer (aurum tironicum)82 noch die auf senatorischem Grundbesitz lastende collatio glebalis erhoben.83 Die Voraussetzung dafür war offenbar die Verwandlung des Heeres in eine Klasse von Grundeigentümern. Insofern nützte die Landverteilung langfristig gerade den zivilen Eliten, insbesondere den Senatoren, auch wenn sie ihnen zunächst Lasten aufgebürdet haben muss. Wenn diese Überlegung das Richtige trifft, darf man vermuten, dass Theoderich auch in dieser Hinsicht Maßnahmen fortführte, die bereits Odovakar ergriffen hatte.84 81 Malch. F 16 Cresci (= F 18, 3 Blockley), Z. 5–8; F 18 Cresci (= F 20 Blockley), Z. 55–58 (Pautalia); 234–249 (Dardania). 82 Die Erhebung des aurum tironicum ist im Westen zuletzt im Jahre 444 belegt: N.Val. 6, 3, 1. Auch im Osten hört man nach 465 (P.Oxy XVI 2001) nichts mehr davon. Da die diesbezüglichen Gesetze nicht in den „Codex Justinianus“ aufgenommen wurden, scheint die Erhebung bald danach auch im Osten eingestellt worden zu sein. Vgl. dazu Arnold Hugh Martin Jones, The Later Roman Empire 284–602. A social, economic and administrative survey. Oxford 1964, Bd. 2, 615f.; Roland Delmaire, Largesses sacrées et res privata. L’Aerarium impérial et son administration du IVe au VIe siècle. (Collection de l’École française de Rome 121.) Rom 1989, 321–328. – Johannes Karayannopoulos, Das Finanzwesen des frühbyzantinischen Staates. (Südosteuropäische Arbeiten 52.) München 1958, 119–123, hier: 121 bezieht Joh. Mal. 16, 3, 394 Dindorf und Euagr. HE 3, 42 auf diese Steuer und rechnet daher mit ihrer Wiedereinführung unter Kaiser Anastasios. 83 Der letzte Beleg für die Erhebung der collatio glebalis in Ost und West ist N.Marc. 2, 4 vom Jahre 450. Fünf Jahre später schaffte Markian die Steuer im Osten ganz ab: CJ 12, 2, 2. Vgl. dazu Jones, Later Roman Empire I (wie Anm. 82), 465; II 537; Karayannopoulos, Finanzwesen (wie Anm. 82), 126–129; Delmaire, Largesses sacrées (wie Anm. 82), 374–386. 84 So nach Johannes Sundwall, Weströmische Studien. Berlin 1915, 158f.; ders., Abhandlungen (wie Anm. 3), 178f. vor allem Stein, Histoire du Bas-Empire II (wie Anm. 3), 43. Durch P.Italiae 1, Z. 61 ist im Jahre 445 eine Kasse namens fiscus barbaricus bezeugt, aus der vermutlich Zahlungen an nicht-römische Truppenkörper geleistet wurden; dazu Mommsen, Ostgothische Studien (wie Anm. 2), 501 (= 440); Stein, Histoire du Bas-Empire II (wie Anm. 3),
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III. SENAT UND SENATOREN Wie aber stand es um die zivilen Eliten? In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts gab es in Italien wohl mehr als tausend Personen, die berechtigt waren, den Titel eines vir clarissimus zu führen, und insofern zum ordo senatorius gehörten. Aber nur wenige hundert von ihnen dürften längere Zeit in Rom verbracht haben, und noch viel weniger, vermutlich deutlich weniger als 100 Personen, hatten Sitz und Stimme im Senat.85 Dafür war der Rang eines illustris erforderlich, den man nur auf zwei Arten erlangen konnte: indem man eines der wenigen hohen Ämter bekleidete, das seinem Inhaber diesen Rang einbrachte, oder durch Verleihung, die bis dahin nur der Kaiser hatte vornehmen können.86 Dennoch waren diese wohl etwa 60 bis 80 Senatoren eine politische Größe, mit der Odovakar und Theoderich rechnen mussten. Das hatte nichts mit irgendwelchen Befugnissen zu tun, die dem Senat als Gremium zugekommen wären. Wenn der Senat an politischen Entscheidungen überhaupt beteiligt wurde, beschränkte sich seine Rolle darauf, vorgefasste Beschlüsse zu bekräftigen. Vielmehr beruhte die politische Bedeutung des Senats zur Zeit Odovakars und Theoderichs darauf, dass er im Laufe des 5. Jahrhunderts zu einer Art Standesvertretung der wohlhabendsten und einflussreichsten Männer Italiens geworden war.87 Sie alle besaßen palastartige Häuser in Rom, die 42 Anm. 2. Im Ostreich ist für das Jahr 478 ein Schatzmeister der Gotenkasse (τοῦ Γοτθικοῦ ταμίας) bezeugt: Malch. F 18 Cresci (= F 20 Blockley), Z. 208f. 85 Chastagnol, L’épigraphie du Colisée (wie Anm. 11), 47 schätzt die Anzahl der illustres zur Zeit Odovakars und Theoderichs auf 60 bis 80. Diese Schätzung beruht freilich auf der durch Orlandi, Epigrafia anfiteatrale (wie Anm. 12) widerlegten Voraussetzung, dass die spätantiken Sitzinschriften im Colosseum allesamt aus dieser Zeit stammen. Gleichwohl dürfte die Größenordnung stimmen, denn Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 8 hat insgesamt 110 Senatoren illustren Ranges ermittelt, die im Zeitraum von 490 bis 540 aktiv waren. Chastagnols Vermutung, dass etwa 300 bis 600 Sitzplätze für Angehörige des Senatorenstandes reserviert waren, hat keine tragfähige statistische Basis. Sicher scheint aber, dass die Zahl der clarissimi und spectabiles diejenige der illustres am Ende des 5. Jahrhunderts um ein Vielfaches übertraf, zumal viele Träger dieses Rangs nicht in Rom, sondern in den Provinzen residierten. Ein belastbares Indiz liefert die Nachricht, dass die Zahl der Senatoren von Konstantinopel im Jahre 359 von 300 auf 2 000 erhöht wurde (Them. Or. 34, 13). Demnach hatte auch der weströmische Senat zu diesem Zeitpunkt 2 000 Mitglieder, und die Zahl der Chargen, die den clarissimatus einbrachten, hatte seitdem kontinuierlich zugenommen: Jones, Later Roman Empire I (wie Anm. 82), 524–526; André Chastagnol, Le sénat romain à l’époque impériale. Paris 1992, 261–265. 86 Insofern blieb der römische Senat stets die Standesvertretung eines Amtsadels. Das betont mit Recht John Weisweiler, The Price of Integration: State and Élites in Symmachus’ Correspondence, in: Peter Eich/Sebastian Schmidt-Hofner/Christian Wieland (Hrsgg.), Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit. Heidelberg 2011, 346–375. Grundlegend zur Entwicklung der senatorischen Laufbahn seit Diokletian: André Chastagnol, La carrière sénatoriale du Bas-Empire (depuis Dioclétian), in: Epigrafia e Ordine Senatorio (wie Anm. 11), 167–194. 87 So mit Recht bereits Sundwall, Weströmische Studien (wie Anm. 84), 152: „Während der ersten Hälfte des fünften Jahrhunderts vollzieht sich also die Umwandlung der obersten Klasse des Senats zu einer italischen Peerskammer, in deren Hand außerdem noch der größte Teil des Grund und Bodens des Landes vereinigt war“.
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Mehrzahl daneben auch Villen in Kampanien, doch ihr Grundbesitz war meist über mehrere Provinzen verteilt. Ein großer Teil des Landes befand sich im Besitz dieser happy few, und die Zahl ihrer Sklaven, Kolonen und Klienten ging jeweils in die Tausende.88 Wie konnte es Odovakar und Theoderich gelingen, diese kleine, aber einflussreiche und selbstbewusste Schicht für sich zu gewinnen? Für Odovakar war die Aufgabe besonders schwierig, denn er war nicht bloß ein Barbar, der als Rebell gegen einen Kaiser von freilich zweifelhafter Legitimität an die Macht gekommen war, sondern rührte durch die Landverteilung auch an die geheiligten Rechte römischer Grundeigentümer. Wenn die Abschaffung der collatio glebalis und/oder des aurum tironicum, die unter Theoderich nachweislich nicht mehr erhoben wurden, bereits auf ihn zurückgeht, dann hat er den Senatoren die bittere Pille der Landabtretungen zwar versüßt, indem er Steuern abschaffte, die zu zahlen die Senatoren bis dahin verpflichtet gewesen waren. Dennoch war der Eingriff in die Eigentumsverhältnisse schwerlich dazu angetan, ihm unter den Senatoren Sympathien zu gewinnen. Gleichwohl haben sich Odovakar schon unmittelbar nach der Machtübernahme Senatoren zur Verfügung gestellt und mit ihm dann über mehr als ein Jahrzehnt kooperiert. Dabei dürfte eine Rolle gespielt haben, dass Odovakar schon kurz nach der Machtergreifung Geiserich bewegen konnte, seine Ansprüche auf Sizilien aufzugeben, indem er dem vandalischen König die Zahlung eines jährlichen Tributs zusicherte und die Benutzung eines oder mehrerer Stützpunkte auf der Insel einräumte.89 Diese Vereinbarung sicherte die Insel vor vandalischen Angriffen und entsprach daher den ökonomischen Interessen senatorischer Familien, die auf der Insel seit alters umfangreichen Grundbesitz besaßen.90 Auf der anderen 88 Die Senatoren Italiens scheinen den Verlust Nordafrikas und Galliens gut verkraftet zu haben; über ihren Grundbesitz in der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts vgl. Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 118–143. Über ihr Vermögen und ihren Lebensstil im 4. und 5. Jahrhundert vgl. John F. Matthews, Western Aristocracies and Imperial Court, A.D. 364–425. 2. Aufl. Oxford 1990, bes. 1–31; 352–376; André Chastagnol, Fortune et genre de vie des sénateurs (IVe–Ve siècles), in: ders., Sénat romain (wie Anm. 85), 325–344. Die langfristige Entwicklung behandeln Jones, Later Roman Empire I (wie Anm. 82), 554–562; Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages. Europe and the Mediterranean, 400–800. Oxford 2005, 161–164. 89 Vict. Vit. 1, 14: „… Siciliam, Oduacro Italiae regi postmodum tributario iure concessit (sc. Geisericus); ex qua eis Oduacer singulis quibusque temporibus ut dominis tributa dependit, aliquam tamen sibi reservantibus partem“. Geiserich starb am 25. Januar 477. Vgl. CIL X 7232; Proc. BV 1, 8, 11. Dazu Goltz, Sizilien (wie Anm. 24), 230–232; Frank M. Clover, A Game of Bluff. The Fate of Sicily after A.D. 476, in: Historia 48, 1999, 235–244. 90 Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 45; 122f., der für das 6. Jahrhundert allerdings nur für die Cassiodori einen Beleg (Cass. Var. 1, 3, 3) anführt. Vgl. jedoch P.Italiae 1 (445/6); P.Italiae 10– 11 (489); Ennod. Ep. 4, 5 (505?); Pelag. II Ep. 33 Gassó/Battle (= JK 992 vom Jahr 559). Vgl. allgemein Wilhelm Ensslin, Zur Verwaltung Siziliens vom Ende des weströmischen Reiches bis zum Beginn der Themenverfassung, in: Atti del VIII congresso internazionale di studi bizantini (Palermo 1951). Rom 1953, 353–364; Lellia Cracco Ruggini, La Sicilia e la fine del mondo antico (IV–VI secolo), in: Emilio Gabba/Georges Vallet (Hrsgg.), La Sicilia antica, Bd. 2, 2. Neapel 1980, 483–524 (Agrarverhältnisse); Goltz, Sizilien (wie Anm. 24), passim (Ereignisgeschichte).
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Seite musste Odovakar jedoch die Provence, wo senatorischer Grundbesitz ebenfalls verbreitet war, den Westgoten überlassen.91 Entscheidend war daher zweifellos, dass Odovakar nicht allein die hergebrachten Strukturen der Munizipal- und Provinzialverwaltung, sondern auch die Ämter der Hof- und Präfekturverwaltung übernahm und dass er deren Führungspositionen weiterhin mit Senatoren besetzte. Gerade Angehörige stadtrömischer Familien wurden von ihm mit illustren Ämtern geradezu überhäuft.92 Indem Odovakar die Leitung der Zivilverwaltung Senatoren überließ, respektierte er nicht bloß die sozialen Privilegien ihres Standes, sondern sorgte auch dafür, dass dessen innere Hierarchie nach wie vor durch den Dienst für den Herrscher reproduziert wurde. Für die Senatoren bedeutete seine Politik die Anerkennung und Absicherung ihrer überkommenen Vorrangstellung, aber auch die Möglichkeit, den Anspruch auf die Bewahrung einer mehr als tausendjährigen Tradition öffentlich zu erheben. So gestattete der König dem Senat die Prägung von Bronzemünzen, deren Legenden die Sieghaftigkeit und den Ruhm Roms und der Römer feiern und sich durch die Abkürzung SC für s(enatus) c(onsulto) auf die Autorität des Senats berufen.93 Wenn die unter Theoderich nachweisbare Stellung eines caput senatus bereits unter Odovakar eingeführt wurde, was zumindest wahrscheinlich ist, hat der König dem Senat zudem insofern eine gewisse Autonomie zugestanden, als er den rangältesten Konsular als Vorsteher des Senats anerkannte.94 Auch die Entscheidung, nicht in Rom selbst zu 91 Proc. BG 1, 12, 20; Cand. F 1, Z. 84–88 Blockley; Auct. Haun. ordo pr. s.a. 476, 1; Chron. Gall. a. 511 nr. 657 (Chron. Min. I, 665); Jord. Get. 244. Datierung auf 476/7: Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 322 Anm. 204. Gallo-römische Senatoren: Karl Friedrich Stroheker, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Reutlingen 1948, 43–83; Jill Harries, Sidonius Apollinaris and the Fall of Rome. Oxford 1994, 23–168; Giulia Marconi, Ennodio e la nobilità Gallo-romana nell’Italia ostrogota. (Testi, Studi, Strumenti 27.) Spoleto 2013. 92 Chastagnol, L’épigraphie du Colisée (wie Anm. 11), 44–56; Cameron, JRA 2012 (wie Anm. 13), 516 spricht für die Jahre 470 bis 500 von einem „Indian summer of the aristocratic career“. Die Personen sind bei Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 106–111 aufgelistet, der für die Belege auf PLRE II verweist. 93 Die Vorderseite zeigt Kaiser Zenon, die Rückseite eine nach rechts schreitende Victoria. Die Datierung auf 477/8 bei Franz Ferdinand Kraus, Die Münzen Odovakars und des Ostgotenreiches in Italien, Halle 1928, 56 Nr. 24; Chastagnol, L’épigraphie du Colisée (wie Anm. 11), 53; Philip Grierson/Mark Blackburn, Medieval European Coinage, with a Catalogue of the Coins in the Fitzwilliam Museum. Cambridge, Bd. 1: The Early Middle Ages (5th–10th centuries). Cambridge 1986, 31ff.; Wolfgang Hahn, Die Münzstätte Rom unter den Kaisern Julius Nepos, Zeno, Romulus und Basiliscus (474–491), in: Rivista Italiana di Numismatica 90, 1988, 349–364, hier: 354–358; Kay Ehling, Wann beginnt die Eigenmünzung Odovacars?, in: Schweizer Münzblätter 48, 1998, 33–37, hier: 36; Michael Andreas Metlich, The Ostrogothic Coinage in Italy from A. D. 476. London 2003, 47. Anders freilich John P. C. Kent, The Roman Imperial Coinage, Bd. 10: The Divided Empire and the Fall of the Western Parts 395–491. London 1994, 218f., der die Prägungen auf 489/90 datieren möchte. 94 Caput senatus: Mommsen, Ostgothische Studien (wie Anm. 2), 489–491 (= 428–430). Für die Einführung unter Odovakar spricht die Tatsache, dass ein caput senati (sic) bereits für das Jahr 490 bezeugt ist: Anon. Val. II 53 mit Ernst Stein, Untersuchungen zum Staatsrecht des Bas-Empire, in: ZRG RA 41, 1920, 195–251, hier: 235–239 (auch in: ders., Opera minora se
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residieren, wie es die letzten weströmischen Kaiser, beginnend mit Valentinian III., häufig getan hatten, kam dem Senat entgegen: Odovakar, der nur in Ravenna nachgewiesen werden kann,95 überließ den stadtrömischen Senatoren eine Art Bühne, auf der sie ihre traditionellen Rollen spielen konnten, ohne in direkte Konkurrenz zum neuen Machthaber zu treten. Res publica und senatus konnten den Senatoren unter diesen Bedingungen weiterhin als ideelle Orientierungspunkte dienen, auch wenn man nun einem Barbaren zu gehorchen hatte. Nur beim Konsulat haperte es zunächst, weil Odovakar es nicht wagte, ohne die Zustimmung Zenons Konsuln zu ernennen. Das änderte sich jedoch in dem Jahr, in welchem Kaiser Nepos in seinem dalmatischen Exil ermordet wurde, und bis zum Jahr 490 einschließlich haben dann insgesamt 12 weströmische Aristokraten den Gipfel einer senatorischen Laufbahn, wie sie sich damals gestaltete, erklommen:96
477 478 479 480 481 482 483 484 485 486 487 488 489 490
Occidens
Oriens
p.c. Basilisci et Armati sine collega sine collega Basilius iunior Placidus Severinus iunior Faustus Venantius Symmachus Decius iunior Boethius Dynamius (West) Probinus Faustus iunior
p.c. Basilisci et Armati Illus Zenon Augustus sine collega sine collega Trokundes sine collega Theoderich sine collega Longinos sine collega Sifidius (West) Eusebios Longinos II
In dieser Liste begegnen gleich drei Mitglieder der gens Decia, der mächtigsten senatorischen Familie dieser Zeit:97 Caecina Decius Maximus Basilius, cos. 480, lecta. Amsterdam 1968, 71–127, hier: 111–115); vgl. ders., Histoire du Bas-Empire II (wie Anm. 3), 44; Chastagnol, L’épigraphie du Colisée (wie Anm. 11), 54. 95 Andrew Gillett, Rome, Ravenna and the Last Western Emperors, in: Proceedings of the British School at Rome 69, 2001, 131–167, bes. 155f. 96 Die Aufstellung beruht auf den Angaben bei Bagnall u.a., Consuls of the Later Roman Empire (wie Anm. 46), 486–513 und Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 104f. Gegen die Verwechslung spätrömischer gentes mit politischen Parteien und die Überschätzung der gens Anicia wendet sich mit guten Argumenten Alan Cameron, Anician Myths, in: JRS 102, 2012, 133–171. 97 Zu den Decii vgl. neben Cameron/Schauer, JRS 1982 (wie Anm. 11), 127–129 und John Moorhead, The Decii under Theoderic, in: Historia 33, 1984, 107–115 jetzt vor allem Cameron, JRS 2012 (wie Anm. 96), 152f., 158f.
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der Sohn des Fl. Caecina Decius Basilius, cos. 463, war Patron der „Grünen“ in Rom und bekleidete 483 die italische Präfektur. Sein Bruder Decius Marius Venantius Basilius, cos. 484, erlangte den Konsulat im selben Jahr, in welchem er auch die Stadtpräfektur bekleidete. Der dritte im Bunde, Caecina Mavortius Basilius Decius, cos. 486, hatte die Prätoriums- und die Stadtpräfektur schon vor seinem Konsulat erlangt. Der Konsul des Jahres 485, Q. Aurelius Memmius Symmachus iunior, war das Oberhaupt der Symmachi und wurde von Odovakar zum Stadtpräfekten ernannt;98 unter Theoderich sollte er dann lange Zeit die Stellung eines caput senatus innehaben. Manlius Boethius, cos. 487, kam unter Odovakar sogar auf drei Präfekturen, indem er einmal die Prätoriums- und zweimal die Stadtpräfektur übernahm.99 Aus der gens Petronia stammten die Konsuln der Jahre 481 und 489: Rufius Achillius Maecius Placidus, cos. 481, und sein Sohn Petrus Probinus, cos. 489. Anicius Acilius Aginatius Faustus iunior albus, cos. 483, ein Mitglied der gens Anicia, erlangte unter Odovakar die Stadtpräfektur. Rufius Acilius Sifidius, aus der Familie der Acilii Glabriones, amtierte 488 als consul posterior mit dem sonst unbekannten consul prior Dynamius; im selben Jahr war Sifidius zudem auch Stadtpräfekt. Severinus iunior, cos. 482, war allem Anschein nach der Sohn des Fl. Severinus, cos. 461. Der Konsul des Jahres 490 schließlich, Fl. Anicius Petronius Faustus iunior Niger, gehörte zur Familie der Corvini; er war der Sohn des Gennadius Avienus, cos. 450.100 Theoderich hatte es leichter als Odovakar, die Senatoren auf seine Seite zu ziehen, denn er hatte nicht nur selbst einmal den Konsulat bekleidet, sondern verfügte auch über ein kaiserliches Mandat zur Beseitigung des Odovakar.101 Tatsächlich haben sich führende Senatoren Theoderich angeschlossen, lange bevor der dreijährige Krieg gegen Odovakar entschieden war. Bereits nach der Schlacht an der Addua (490) führte das caput senatus Festus eine Gesandtschaft nach Konstantinopel, die im Namen Theoderichs bei Zenon vorstellig wurde.102 Freilich war die Parteinahme für Theoderich zu diesem Zeitpunkt offenbar keineswegs einhellig, denn der gotische König hat den Anhängern Odovakars nach dem Sieg zunächst das Recht entzogen, Verfügungen über ihr Vermögen zu treffen, was 98 Zu den Symmachi vgl. Cameron, JRS 2012 (wie Anm. 96), 153–156. 99 Über Boethius’ Verwandtschaft vgl. jetzt Cameron, JRS 2012 (wie Anm. 96), 156–159. 100 Zu den Acilii Glabriones vgl. Cameron, JRS 2012 (wie Anm. 96), 148–150, zu den Corvini ebd., 150–153. 101 Anon. Val. II 49: „cui (sc. Zenoni) Theodericus pactuatus est, ut, si victus fuisset Odoacar, pro merito laborum suorum loco eius, dum adveniret, tantum praeregnaret“. Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 35f. und Andreas Goltz, Barbar – König – Tyrann. Das Bild Theoderichs des Großen in der Überlieferung des 5. bis 9. Jahrhunderts. (Millennium-Studien 12.) Berlin/New York 2008, 486–493 bezweifeln die Existenz eines Abkommens zwischen Zenon und Theoderich, doch ist die Aussage des Textes eindeutig und glaubwürdig. Die Modalitäten im einzelnen sind hier nicht von Bedeutung; vgl. dazu etwa Kohlhas-Müller, Rechtsstellung Theoderichs (wie Anm. 16), 28–44; Prostko-Prostynski, Utraeque res publicae (wie Anm. 7), 103–129. John Moorhead, Theoderic, Zeno and Odovacer, in: ByzZ 77, 1984, 261–266 diskutiert die Frage, ob die Initiative von Theoderich oder Zenon ausging. 102 Anon. Val. II 53.
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Senatoren besonders empfindlich traf.103 Theoderich hat die Senatoren auf diese Art eingeschüchtert und sich zugleich die Möglichkeit verschafft, seine Milde zu demonstrieren, wenn man sich gefügig zeigte, was auch geschah. Der Gedanke, sich zu verweigern oder zu widersetzen, dürfte schon deswegen nicht aufgekommen sein, weil die Senatoren während des vierjährigen, verheerenden Krieges, der weite Teile Italiens in Mitleidenschaft gezogen hatte, erfahren hatten, wie leicht Italien zur Beute von Kriegsherren werden konnte, die an seinen Grenzen lauerten. Auch Rom war vor ihnen nicht sicher; die älteren Senatoren dürften sich noch an die neunmonatige Belagerung und schließliche Eroberung durch Ricimer erinnert haben.104 Theoderichs Politik gegenüber dem Senat war wie diejenige Odovakars nicht auf Konfrontation, sondern auf Kooperation angelegt. Aus diesem Grund hielt er an der Regel fest, die hohen Posten der Zivilverwaltung mit Angehörigen des Senatorenstandes zu besetzen, und bevorzugte dabei im ersten Jahrzehnt seiner Herrschaft den stadtrömischen Adel, wie es auch Odovakar getan hatte. Mitglieder der großen Familien erhielten illustre Ämter, Konsulate und Gesandtschaften.105 Die königliche Kanzlei richtete Schreiben von ausgesuchter Höflichkeit an den Senat als Gremium und an einzelne seiner Vertreter und pflegte einen Diskurs, der die Selbstverpflichtung des Königs auf die geltenden Gesetze betonte; sein Leitbegriff civilitas entstammte dem politischen Vokabular des Senatorenstandes.106 103 Ennod. V.Epif. 122: „Interea subita animum praestantissimi regis Theoderici deliberatio occupavit, ut illis tantum Romanae libertatis ius tribueret, quos partibus ipsius fides examinata iunxisset; illos vero, quos aliqua necessitas diviserat, ab o mn i ius s it e t te s tand i e t ord in a tionu m s uaru m a c vo lun ta tu m lic en tia submo v er i, qua sententia promulgata et legibus circa plurimos tali lege calcatis universa Italia lamentabili iustitio subiacebat.“ Vgl. dazu Wilhelm Ensslin, Der erste bekannte Erlass Theoderichs des Großen, in: RhM 92, 1944, 266–280, der mit Recht betont, dass Theoderich ein kaiserliches Prärogativ beanspruchte, als er das Urteil über die Anhänger Odovakars abmilderte. 104 Joh. Ant. F 209 Müller = F 301 Roberto, Z. 1–15 (= Priskos F 64, 1 + F 65 Blockley); Joh. Mal. 14, 45, 374 Dindorf; Paul. Diac. HR 15, 3. 105 Die Belege sind über die Fasten in PLRE II und die Tabellen bei Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 299–307 leicht auffindbar. Senatoren wurden bevorzugt mit Gesandtschaften an den Kaiser beauftragt: Andrew Gillett, Envoys and Political Communication in the Late Antique West, 411–533. Cambridge 2003, 172–219, bes. 185f. 106 Marc Reydellet, Théoderic et la civilitas, in: Antonio Carile (Hrsg.), Teoderico e i Goti tra Oriente e Occidente (Ravenna, 28 settembre–2 ottobre 1992). Ravenna 1995, 285–296; Amory, Ostrogothic Italy (wie Anm. 49), 43–85; Kakridi, Cassiodors Variae (wie Anm. 49), 339– 347; wichtig ist der Hinweis von Arnaldo Marcone‚ A proposito della „civilitas“ nel tardo impero: una nota, in: RSI 97, 1985, 969–982, hier: 982 (auch in: ders., Di tarda antichità. Scritti scelti. Mailand 2008, 29–40, hier: 40), dass das Wort civilitas der kaiserlichen Gesetzgebung fremd ist. Reydellet ist jedoch entgangen, dass civilitas im Sprachgebrauch Theoderichs schon 501 nachweisbar ist: praeceptio regis III, MGH AA XII, 422, Z. 6. In diesem Kontext ist wohl auch die Renovierung des Senatsgebäudes zu interpretieren, die in die Jahre 507 bis 517 gehören dürfte: Alfonso Bartoli, Lavori nella sede del Senato romano al tempo di Teoderico, in: Bullettino della Commissione archeologica comunale di Roma 73, 1949/50, 74–88 = AE 1953, Nr. 68 = CIL VI 8, 2, 40807; vgl. Cass. Var. 9, 7, 2 (curiam reparans) und zur Datierung Delmaire, Finances impériales (wie Anm. 60), 240f. Nr. 158.
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Die respektvollen Formeln der königlichen Kanzlei entsprachen insofern auch der praktischen Politik, als Theoderich die Regelung stadtrömischer Angelegenheiten dem Senat oder zumindest führenden Senatsmitgliedern überließ, solange es nicht zu gravierenden Störungen der öffentlichen Ruhe und Ordnung kam, wie bei den Theater-Unruhen des Jahres 509.107 Wie es wahrscheinlich bereits Odovakar getan hatte, beschränkte auch Theoderich seine persönliche Präsenz auf Norditalien – der Rombesuch des Jahres 500 war die Ausnahme, welche die Regel bestätigt.108 Die senatorische Lebenswelt blieb also ungestört durch die Anwesenheit eines barbarischen Herrschers mit seinem Hof. Auch in die Besetzung des römischen Bistums, an welchem der Senat in dieser Zeit erheblichen Anteil nahm – worauf noch einzugehen sein wird –, hat der König bis in die 520er Jahre hinein nur ausnahmsweise und dann nicht auf eigenen Wunsch hin eingegriffen; Felix IV., der seinen Pontifikat erst nach dem Tode Theoderichs antrat, war der erste Papst, den der König von sich aus bestimmte.109 Theoderich beachtete auch die strafrechtlichen Privilegien des Senatorenstandes, indem er Anklagen gegen Senatoren einem Standesgericht übertrug.110 Allerdings gewann Theoderich im Laufe seiner langen Regierung allmählich größeren Handlungsspielraum gegenüber den alten, in Rom ansässigen Senatorenfamilien. Nachdem die Konsolidierung der Herrschaft gelungen war, zog er zunehmend Angehörige norditalischer Familien für hohe Ämter heran, die nicht auf illustre Vorfahren zurückblicken konnten, aber diesen Rang durch des Königs Gunst nun für sich selbst erlangten.111 Außerdem plazierte er zumindest phasen 107 Cass. Var. 1, 20; 1, 27; 1, 30–33. Zur Interpretation vgl. Valérie Fauvinet-Ranson, Decor civitatis, decor Italiae. Monuments, travaux publics et spectacles au VIe siècle d’après les Variae de Cassiodore. (Munera. Studi storici sulla Tarda Antichità 23.) Bari 2006, 394–408 gegen Charles Piétri, Le Sénat, le peuple chrétien et les partis du cirque à Rome sous le pape Symmaque (498–514), in: MEFR 78, 1966, 123–139, hier: 123–128 (auch in: ders., Christiana respublica. Éléments d’une enquête sur le christianisme antique, Bd. 2. Rom 1997, 771– 787). 108 Cass. Chron. s.a. 500; Anon. Val. II 65; Ferrand. VFulg. 9, S. 55 Lapeyre; vgl. dazu Massimiliano Vitiello, Teoderico a Roma. Politica, amministrazione e propaganda nell’adventus dell’anno 500 (considerazioni sull’Anonimo Valesiano II), in: Historia 53, 2004, 73–120; ders., Momenti di Roma ostrogota: adventus, feste, politica. (Historia Einzelschriften 188.) Stuttgart 2005, 56–71. 109 Lib. Pont. 56, 2 (Epit. Feliciana et Cononiana); Cass. Var. 8, 15. Vgl. dazu unten Teil IV. 110 Standesgericht: CTh 9, 1, 13 (376); CTh 2, 1, 12 (423); Sid. Ap. Ep. 1, 7, 9 mit Charles Henry Coster, The Iudicium quinquevirale. (Monographs of the Medieval Academy of America 10.) Cambridge (MA) 1935; Stein, Histoire du Bas-Empire II (wie Anm. 3), 70f. Unter Theoderich ist der Magie-Prozess gegen die Senatoren Basilius und Praetextatus sicher in dieser Form geführt worden (Cass. Var. 4, 22; 4, 23; Greg. Dial. 1, 4); ob Boethius durch ein iudicium quinquevirale oder im consistorium des Königs verurteilt wurde, ist nicht ganz sicher; vgl. dazu unten Anm. 113. 111 Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 170–211, bes. 208–212, 299–307 (Tabellen); Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 147–172. Freilich sollte man diese Tendenz nicht überschätzen, zumal die prosopographischen Daten sehr ungleich verteilt sind und große Lücken aufweisen. Schäfer zählt 74 Senatoren, deren „Stammsitz“ zu ermitteln sei; von ihnen spricht er 50 als Stadtrömer, 16 als Norditaliker und 8 als Süditaliker an.
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weise eine Art Sonderbeauftragten in Rom, der ihm persönlich Bericht erstattete und über Zwangsmittel verfügte; diese Stellung ist für den gotischen comes Arigern im ersten Jahrzehnt des 6. Jahrhunderts gut belegt.112 Zu einem offen ausgetragenen Konflikt mit führenden Mitgliedern des Senats kam es jedoch erst am Ende der langen Herrschaft Theoderichs, als sich das ungeklärte Nachfolgeproblem immer dringlicher bemerkbar machte. Der BoethiusProzess wurde durch Anklagen in Gang gesetzt, die ein Hofbeamter Theoderichs gegen einen hochrangigen Senator, Faustus, den Konsul des Jahres 493, vorbrachte.113 Die Hinrichtung des Boethius muss das Vertrauen der Senatoren in die civilitas Theoderichs erschüttert haben, auch wenn das Urteil wahrscheinlich von einem Standesgericht gesprochen wurde, zumal ein Jahr später mit Symmachus, dem Schwiegervater des Boethius, noch ein zweites hochrangiges Senatsmitglied – das caput senatus! – verurteilt und hingerichtet wurde.114 Gleichwohl ist festzuhalten, dass der Senat sich nicht mit den Angeklagten solidarisierte, sondern bis zum Beginn des römisch-gotischen Krieges mit gotischen Königen kooperierte.115 IV. RÖMISCH-KATHOLISCHE KIRCHE Wer am Ende des 5. Jahrhunderts danach strebte, seine Herrschaft in Italien auf Dauer zu stellen, musste sich um ein gutes Verhältnis zu den Bischöfen und Klerikern bemühen, die sich der römisch-katholischen Kirche zurechneten, gleichgül 112 Cass. Var. 3, 36; 3, 45; 4, 16; 4, 22–23; 4, 43; weitere Belege in PLRE II, 141f. Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 7f. schließt Arigern von der Betrachtung aus, weil er meint, er habe als Gote trotz seines illustren Ranges keinen Zutritt zum Senat erlangen können, während Amory, Ostrogothic Italy (wie Anm. 49), 361 umgekehrt die gotische Identität des Arigern in Zweifel zieht. Diese ist jedoch sowohl wegen des Namens – Schönfeld, Wörterbuch (wie Anm. 38), 26 – als auch wegen der Stellung als maior domus wahrscheinlich. 113 Anon. Val. II 85–87; Boeth. Cons. 1, 4. Zum Boethius-Prozess vgl. etwa Coster, Iudicium quinquevirale (wie Anm. 110), 40–63; 77–81; Stein, Histoire du Bas-Empire II (wie Anm. 3), 254–258; Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 219–235; Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 240– 262; 309–314; Goltz, Bild Theoderichs (wie Anm. 101), 355–376. Coster, Stein, Schäfer und Goltz (S. 358–360) treten für die Annahme ein, dass Boethius von einem Standesgericht verurteilt wurde, während Giovanni Battista Picotti, Il senato romano e il processo di Boezio, in: Archivio storico italiano Ser. 7, 15/89, 1931, 205–228, hier: 225f., John F. Matthews, Anicius Manlius Severinus Boethius, in: Margaret Gibson (Hrsg.), Boethius. His Life, Thought and Influence. Oxford 1981, 15–43 (auch in: John F. Matthews, Political Life and Culture in late Roman society. London 1985, Nr. V), hier: 23 (mit 41 Anm. 23) und Sam J. B. Barnish, The Anonymus Valesianus II as a Source for the Last Years of Theoderic, in: Latomus 42, 1983, 572–596, hier: 593 sie ablehnen; unentschieden bleibt Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 223. Für das iudicium quinquevirale spricht vor allem die Beteiligung des Stadtpräfekten Eusebius: Anon. Val. II 87. Joachim Gruber, Kommentar zu Boethius, De consolatione philosophiae. (Texte und Kommentare 9.) 2. Aufl. Berlin 2006, 12f. bezieht in dieser Frage nicht Stellung. 114 Anon. Val. II 92; Proc. BG 1, 1, 32; Agnellus 39; Mar. Avent. s.a. 525; Fasti Vind. post. s.a. 523; Lib. Pont. 55, 5; Greg. Dial. 4, 31. 115 Sundwall, Abhandlungen (wie Anm. 3), 259–301.
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tig, ob er dieser Religionsgemeinschaft selbst angehörte oder nicht.116 Freilich war diese Kirche noch keine das ganze Land umfassende, zentralisierte und hierarchisch gegliederte Organisation, auch wenn sie im Bischof von Rom ein spirituelles Oberhaupt besaß, das seit dem Pontifikat Leos des Großen offensiv eine Führungsrolle in der Gesamtkirche beanspruchte.117 Nur im Süden des Landes, in der Italia suburbicaria, wurde dem römischen Bischof eine disziplinarische Amtsgewalt über seine Kollegen allgemein zugestanden. Im Norden dagegen, in der Italia annonaria, hatte der römische Bischof in den Metropoliten von Mailand, Aquileia und Ravenna Konkurrenten, die ihm solche Vollmachten nicht ohne weiteres zugestehen wollten.118 Gleichwohl genoss der römische Bischof als Amtsnachfolger des Apostels Petrus in Italien und im poströmischen Westen große Autorität. In Rom selbst leitete er eine Organisation, die inzwischen mehrere hundert Personen umfasste und über großen Reichtum verfügte. Dieses Vermögen war aus Stiftungen entstanden, die seit Konstantin von Kaisern, aber auch und seit deren unrühmlichem Verschwinden aus Italien überwiegend von Angehörigen des Senatorenstandes errichtet worden waren.119 Nicht zuletzt aus diesem Grund besaßen die Senatoren ein vitales Interesse daran, wie das Bistum ihrer Stadt, die für sie noch immer das caput mundi war, besetzt und vor allem geführt wurde, und legten Wert auf die Feststellung, dass auch Laien zur Kirche gehörten. Für Odovakar
116 Auf Theoderichs Politik gegenüber den Juden kann im Rahmen dieses Aufsatzes nicht eingegangen werden; vgl. dazu Hanns Christof Brennecke, Imitatio – reparatio – continuatio. Die Judengesetzgebung im Ostgotenreich Theoderichs des Großen als reparatio imperii?, in: ZAC 4, 2000, 133–148. 117 Walter Ullmann, Leo I and the Theme of Papal Primacy, in: JThS n.s. 11, 1961, 21–51; ders., Gelasius I. (wie Anm. 27), 61–87. Zur Gelasianischen Zweigewaltentheorie vgl. neben Ullmann, Gelasius I. (wie Anm. 27), 178–212 jetzt auch Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des byzantinischen Reiches. Stuttgart 2009, 110–114. Eine stärkere Berücksichtigung des historischen Kontexts fordert mit Recht Jeffrey Richards, The Popes and the Papacy in the Early Middle Ages. London 1976, 9–28. 118 Charles Piétri, Roma christiana. Recherches sur l’église de Rome, son organisation, sa politique, son idéologie de Miltiade à Sixte III (311–440), Bd. 2. Rom 1978, 887–966; Claire Sotinel. Rom und Italien am Übergang vom Römischen Reich zum Gotenreich, in: Luce Piétri (Hrsg)., Der lateinische Westen und der byzantinische Osten (431–642). (Die Geschichte des Christentums 3.) Freiburg/Basel/Wien 2001, 300–342, hier: 324–333. 119 Zum Kirchenvermögen grundlegend Charles Piétri, Evergétisme et richesses ecclésiastiques dans l’Italie du IVe à la fin du Ve s.: l’exemple romain, in: Ktema 3, 1978, 317-337 (auch in: ders., Christiana Respublica [wie Anm. 107], 813–833); für die Zeit Gregors des Großen vgl. auch Richards, Popes (wie Anm. 117), 307–322. Zum römischen Klerus vgl. Richards, Popes (wie Anm. 117), 289–306; Piétri, Roma christiana I (wie Anm. 118), 696–728. Genaue Zahlen sind nicht zu ermitteln. In der Mitte des 3. Jh. wurden 154 Personen zum Klerus des römischen Bischofs gezählt (Euseb. HE 6, 43, 11), seitdem hatte sich die Zahl der Presbyter ungefähr verdoppelt, und es waren administrative Chargen hinzugekommen. Die Anwesenheitslisten der römischen Synoden von 487 (Felix, Ep. 13 Thiel, 259f.) und 499 (MGH AA XII, 398– 402) wurden von 67 bzw. 75 Presbytern unterzeichnet.
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ebenso wie für Theoderich war das Verhältnis zum Bischof von Rom daher immer auch eine Dimension ihres Verhältnisses zum Senat.120 Die Ausgangsbedingungen waren für Odovakar und Theoderich insofern gleich, als beide aus der Sicht der römisch-katholischen Kirche „Arianer“ waren, also außerhalb der Religionsgemeinschaft standen, zu der sich die große Mehrheit der Bevölkerung Italiens bekannte.121 Im Unterschied zu Odovakar allerdings gehörte Theoderich einer Religionsgemeinschaft an, die sich als „Kirche des gotischen Gesetzes“, als ecclesia legis Gothicae, verstand, und sich damit explizit auf das Heer des Königs, den exercitus Gothorum, bezog.122 Diese Kirche war ähnlich aufgebaut wie andere christliche Konfessionen; sie besaß eigene Kulträume, eine eigene Liturgie (in gotischer Sprache) und einen eigenen Klerus, an dessen Spitze in Ravenna, aber auch anderswo, ein Bischof stand.123 Theoderichs Königtum war darum im Kult einer Kirche verankert, der seine eigenen Soldaten angehörten, auch wenn wir über die Formen nichts Näheres wissen.124 Odovakars Königtum 120 Zur „Osmose“ zwischen Klerus und Senatorenstand vgl. Charles Piétri, Aristocratie et société cléricale dans l’Italie chrétienne au temps d’Odoacre et de Théodoric, in: MEFRA 93, 1981, 417–467 (auch in: ders., Christiana Respublica [wie Anm. 107], 1007–1057). 121 Anon. Val. II 48: „Odoacar rex … Arrianae sectae favorem praebebat“. 122 P.Italiae 33–34 mit Knut Schäferdiek, Die Ravennater Papyrusurkunde Tjäder 34, der Codex argenteus und die ostgotische arianische Kirche, in: ZKG 120, 2009, 215–231; vgl. Proc. BG 7, 9, 21: „τῶν Ἀρειανῶν τοὺς ἱερέας“ in Rom. Es gab vor Gregor dem Großen mindestens zwei „arianische” Kirchen in Rom: Greg. Magn. Reg. 3, 19 (= JK 1223); Reg. 4, 19 (= JK 1291); Dial. 3, 30; Lib. Pont. 66, 4 mit Jacques Zeiller, Les églises ariennes de Rome à l’époque de la domination gothique, in: MEFRA 24, 1904, 17–33. Die von Rikimer gestiftete Kirche Sant’Agata dei Goti behandeln Christian Huelsen u.a., S. Agata dei Goti. Rom 1924; Richard Krautheimer, Corpus Basilicarum Christianarum Romae. Le basiliche christiane antiche di Roma, Bd. 1. Città del Vaticano 1937, 2–12; Maria Cecilia Cartocci, S. Agata dei Goti, in: Lexicon topographicum urbis Romae I, 1993, 24f. Zur Inschrift in der Apsis vgl. Silvia Orlandi, L’iscrizione di Flavius Ricimer in S. Agata dei Goti a Roma, in: Marcello Rotili (Hrsg.), Tardo Antico e Alto Medioevo: filologia, storia, archeologia, arte. Neapel 2009, 215– 223. 123 Zur Organisationsstruktur der gotischen Kirche Italiens vgl. Georg Pfeilschifter, Der Ostgotenkönig Theoderich der Große und die katholische Kirche. Münster 1896, 47–54; Jacques Zeiller, Étude sur l’arianisme en Italie à l’époque gothique et à l’époque lombarde, in: MEFRA 25, 1905, 127–146, hier: 127–136. Ralph W. Mathisen, Barbarian Bishops and the Churches ‘in barbaricis gentibus’ during Late Antiquity, in: Speculum 72, 1997, 664–697, hier: 689f. behauptet dagegen, es habe im ostgotischen Italien nur einen einzigen homöischen Bischof gegeben, den der Residenzstadt Ravenna. Vgl. jedoch Anagnosticum regis, MGH AA XII, 425, Z. 16–18; P.Italiae 49; Cass. Var. 1, 26, 3. Gegen Mathisens Auffassung der Verfassung homöischer Kirchen wendet sich auch Uta Heil, Avitus von Vienne und die homöische Kirche der Burgunder. (Patristische Texte und Studien 66.) Berlin/New York 2011, 108–110. Siehe auch Amory, Ostrogothic Italy (wie Anm. 49), 236–276. 124 Über Theoderichs persönliche Kultpraxis wissen wir kaum etwas; er war jedenfalls in der Lage, mit Bibelstellen zu argumentieren: Anagnosticum regis, MGH AA XII, 425. Man wird sich aber wohl vorzustellen haben, dass er täglich betete, wie es Sidonius Apollinaris für den westgotischen König Theoderich II. (453–456) beschreibt: Ep. 1, 2 mit Helga Köhler, C. Sollius Apollinaris Sidonius, Briefe, Buch 1. Einleitung – Text – Übersetzung – Kommentar. Heidelberg 1995, 119–165. Zum Bildprogramm der „Palastkirche“ des Ostgoten Theoderich
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dagegen kann eine solche kultische Verankerung nicht besessen haben, weil sein Heer eben weder ein „Volk“ noch eine Kirche bildete. Wir wissen wenig Konkretes über das Verhältnis Odovakars zur römischkatholischen Kirche.125 Eugippius berichtet, er habe den in Noricum wirkenden Severin geschätzt, doch spielte dieser heilige Mann in Italien kaum eine Rolle, bevor sein Leichnam im Jahre 488 dorthin überführt wurde.126 Mit Epiphanius, dem Bischof von Mailand, verstand Odovakar sich offenbar gut.127 Andererseits erklärte Papst Gelasius nach dem Tode des Königs in einem Brief an die Bischöfe Dardaniens, er habe nicht näher bezeichneten Anordnungen des „häretischen Barbaren” Odovakar den Gehorsam verweigert.128 Da unklar bleibt, worauf diese Aussage zielt, lassen sich aus ihr jedoch keine belastbaren Schlüsse ziehen.129 Angesichts dieser Überlieferungslage hängt die Antwort auf die Frage nach Odovakars Verhältnis zum römischen Bistum und der Rolle, die den Senatoren dabei zukam, vor allem davon ab, wie man die sogenannte scriptura beurteilt, die der gewesene Konsul und amtierende Prätoriumspräfekt Basilius130 nach dem Tode des Papstes Simplicius am 10. März 483, aber vor der Wahl Felix’ III. am 13. März desselben Jahres verkündete.131 Basilius, der in der Präambel als Stellvertre 125 126 127
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in Ravenna (Sant’Apollinare Nuovo) vgl. Deborah Mauskopf Deliyannis, Ravenna in Late Antiquity. Cambridge 2010, 146–173. Pfeilschifter, Theoderich (wie Anm. 123), 17–21; Giovanni Battista Picotti, Sulle relazioni fra re Odoacre e il senato e la chiesa di Roma, in: RSA Ser. 5, vol. 4, 1939, 363–386; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 185–187. Eug. V.Sev. 32, 12; vgl. 6, 6–7. Zu den Anfängen des Severinskultes in Italien vgl. Ennod. V.Ant. 9; Eug. V.Sev. 44, 5–46, 6; Eug. Ep. ad Pasch.; Pasch. Ep. ad Eug. Ennod. V.Epif. 101: „adscitus in regnum Odovacris tanto cultu insignem virum (sc. Epiphanium) coepit honorare, ut omnium decessorum suorum circa eum officia pracederet“; vgl. 109: „post multas tamen quas ad Odovacrem regem legationes violentia supplicationis exegit (sc. Epiphanius)“. Gelas. Ep. 26 Thiel (= JK 664), 11: „Nos quoque Odoacri barbaro haeretico regnum Italiae tunc tenenti, quu m aliqu a non facienda pr aecip eret, Deo praestante nullatenus paruisse manifestum est.“ Schwer zu bewerten ist auch die im „Synaxarium“ der Kirche von Konstantinopel überlieferte Nachricht, Sunigild, die Gattin Odovakars, habe eine vornehme Matrone in Rom gegen ihren Willen zur arianischen Wiedertaufe genötigt, dann aber verbrennen lassen, weil sie den Bischof von Mailand, der sie getauft habe, als Badediener beleidigt habe: Hippolyte Delehaye (Hrsg.), Synaxarium ecclesiae Constantinopolitanae (Propylaeum ad Acta Sanctorum Novembris). Brüssel 1902, 287–289; vgl. dazu Wolfgang Lackner, Übersehene Nachrichten zur Kirchenpolitik Hunerichs und Odoakars im Synaxarium Ecclesiae Constantinopolitanae, in: Historia 21, 1972, 762–764, der meint, die Nachricht gehe auf ein verlorenes, aber zeitnahes Geschichtswerk zurück. Über Fl. Caecina Decius Maximus Basilius iunior vgl. PLRE II, 217 Basilius 12; Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 36–38 Nr. 27; PCBE II, 262f. Die Aufzeichnung ist deswegen überliefert, weil sie auf der von Papst Symmachus geleiteten römischen Synode des Jahres 502 vollständig verlesen wurde: Acta syn. a. 502, § 4f.; § 7; § 10, MGH AA XII, 445–448. Die Präambel (§ 4) lautet: „Cum in mausoleo quod est apud beatissimum Petrum apostolum resedissent, sub limi s e t e min e n tis s imus v ir, p r ae f e c tu s p r ae to r io a tq u e p a tr i c iu s, ag en s et i a m v i c e s p r ae c e l len t is s i mi reg is Odoacris Ba silius dixit.“
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ter Odovakars bezeichnet wird, erklärte damals in einer Versammlung, die offenbar von Laien dominiert wurde,132 Simplicius habe vor seinem Tod verfügt, dass über seine Nachfolge nicht entschieden werden solle, ohne den Prätoriumspräfekten zu konsultieren, und missbilligte Versuche, sich darüber hinwegzusetzen.133 Zugleich verbot er die Veräußerung von immobilem Kirchenbesitz für alle Zukunft und verfügte die Rückerstattung aller Grundstücke, die in den vergangenen beiden Generationen aus dem Besitz der Kirche in den von Privatleuten übergegangen seien; zudem ordnete er an, dass Zimelien, die nicht für liturgische Zwecke benötigt würden, zu veräußern seien.134 Diese von Basilius selbst als lex bezeichnete Anordnung entsprach insofern den Interessen wohlhabender Laienstifter, als sie die wirtschaftliche Autonomie des römischen Bischofs beschränkte.135 Da Basilius als Stellvertreter Odovakars fungierte, ist davon auszugehen, dass er nicht gegen dessen erklärten Willen handelte. Odovakar hat es demnach gebilligt, dass ein hochrangiger Senator bestimmenden Einfluss auf die Wahl des römischen Bischofs nahm und Verfügungen über die Verwendung von Kirchenbesitz traf. Der König hingegen verzichtete darauf, eine solche Regelung im eigenen Namen zu erlassen, und bestimmte auch den Nachfolger des Simplicius nicht selbst.136 Die Wahl fiel auf den Presbyter Felix – den ersten Inhaber der cathedra Petri, der senatorische Vorfahren hatte.137 In seinen Pontifikat fällt der Beginn des soge 132 Acta syn. a. 502, § 22, MGH AA XII, 444: „scripturam quamdam illustris memoriae Basilium quasi pro ecclesiasticae amore substantiae conscripsisse, in qu a nu llu s Ro ma na e ec c lesiae nec in te rfu it nec sub scrip sit an tistites“; § 10, 448: „in apostolica sede non extante presule … a laicis, licet consentientibus quantis episcopis … praesumptum fuisse cognoscitur“. Gemeint sind offenbar Senatoren; vgl. § 11, 448: „laicis quamvis religiosis vel potentibus“. Ein halbes Jahrhundert später ernannte Papst Felix IV. unter Mitwirkung von Senatoren den Archidiakon Bonifatius durch ein praeceptum zu seinem Nachfolger, und der Senat verbot in Form einer an Presbyter, Diakone und den gesamten Klerus gerichteten contestatio, zu Lebzeiten eines Papstes Vereinbarungen über die Wahl des Nachfolgers zu treffen: Theodor Mommsen, Actenstücke zur Kirchengeschichte aus dem Cod. Cap. Novar. 30, in: NA 11, 1886, 361–368, hier: 367f. Nr. III. Nach dem Tode des Bonifatius beschloss er ein Verbot von Wahlversprechen: Cass. Var. 9, 15, 3; 9, 16, 1. Dazu Adolf von Harnack, Der erste deutsche Papst (Bonifatius II., 530/32) und die beiden letzten Dekrete des römischen Senats, in: Sbb. d. Preuß. Akad. d. Wiss. 1924, 24–42; auch in: ders., Kleine Schriften zur Alten Kirche, Leipzig 1980, Bd. 2, 655–673. 133 Acta syn. a. 502, § 4, MGH AA XII, 445: „admonitione beatissimi viri papae nostri Simplicii, quam ante oculos semper habere debemus, hoc nobis meministis sub dei contestatione fuisse mandatum ut praeter ullum strepitum et venerabilis ecclesiae detrimentum, s i eu m de h ac lu ce tr ansire con tig er it non sine no stra consu ltatione cu iuslib et celebr e tur e l e c t io.“ 134 Acta syn. a. 502, § 5; § 7; § 10, MGH AA XII, 445–448. 135 Grundlegend ist die Interpretation von Picotti, RSA 1939 (wie Anm. 125), 363–378; vgl. Piétri, MEFRA 1981 (wie Anm. 120), 403–434; Sotinel, Rom und Italien (wie Anm. 118), 308f. 136 So mit Recht Pfeilschifter, Theoderich (wie Anm. 123), 19f.; Caspar, Papsttum II (wie Anm. 27), 24–26; anders Sundwall, Abhandlungen (wie Anm. 3), 184; Eduard Schwartz, Publizistische Sammlungen zum Acacianischen Schisma. (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Abt., N.F. 10.) München 1934, 202. 137 Richards, Popes (wie Anm. 117), 235–237; PCBE II, 777 Felix 28.
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nannten Akakianischen Schismas und damit der Bruch der Kirchengemeinschaft zwischen Rom und Konstantinopel.138 Odovakar wird darüber nicht unglücklich gewesen sein, zumal es den Papst zwang, stärker als zuvor Rückhalt beim Machthaber Italiens zu suchen. Der König hat jedoch zumindest nicht verhindert, dass sein magister officiorum et consiliarius Andromachus, den er in offizieller Mission nach Konstantinopel geschickt hatte, dort im Auftrag des Papstes auf den Patriarchen Akakios einzuwirken versuchte.139 Theoderich hat die Politik Odovakars insofern fortgesetzt, als auch er sich erfolgreich um ein gutes Verhältnis zum Bischof von Rom bemühte. Der König respektierte die rechtlichen Privilegien des römischen Stuhls, indem er einen Kleriker, der sich als Laien ausgegeben hatte, zurück an das Gericht des Papstes verwies.140 Umgekehrt hat Papst Gelasius I. nicht bloß Empfehlungsbriefe an Theoderich gerichtet und ihn über dessen katholische Mutter um eine Spende für die Armen gebeten,141 sondern ihn gegenüber Klerikern und gotischen Laien geradezu als „meinen Sohn und Herrn“ tituliert.142 Dass Gelasius sich seines Einflusses bei Theoderich sicher war, zeigt ein Brief, in welchem er einem gotischen comes drohte, er werde sich beim König über ihn beschweren, wenn er nicht aufhöre, einem defensor ecclesiae namens Faustus Schwierigkeiten zu machen: Wir ermahnen Deine Hoheit (nobilitas) dringend, dass sie geruhen möge, sich von kirchlichen Streitigkeiten und Angelegenheiten fernzuhalten, und gestatten möge, dass die Regel der
138 Zum Akakianischen Schisma vgl. etwa Caspar, Papsttum II (wie Anm. 27), 10–81; 130–160; Schwartz, Schisma (wie Anm. 136), 171–262; William H. C. Frend, The Rise of the Monophysite Movement. Chapters in the History of the Church in the Fifth and Sixth Centuries. Cambridge 1972, 221–254; Pierre Maraval, Die Rezeption des Chalcedonense im Osten des Reiches, in: Piétri, Westen und Osten (wie Anm. 118), 120–159; Meier, Anastasios I. (wie Anm. 117), bes. 103–117, 311–316; Hanns Christof Brennecke, Das akakianische Schisma: Liberatus, Breviarium 15-18, in: ZAC 14, 2010, 74–95. 139 Der Aufenthalt des Andromachus in Konstantinopel ist durch Gelas. Ep. 10, 7 Thiel = Coll. Veron. Nr. 7, p. 18 Schwartz (= JK 622) bezeugt; der Zeitraum wird durch den Tod des Akakios am 26. November 489 begrenzt. Andromachus – PLRE II, 89 Andromachus 3; Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 22 Nr. 13; PCBE II, 137 Andromachus 1 – ist im März 489 durch P.Italiae 10–11, II Z. 4 als magister officiorum et consiliarius Odovakars bezeugt; er dürfte dieses Amt indessen bereits innegehabt haben, als er die Reise antrat. Schwartz, Schisma (wie Anm. 136), 264–266 hält die „Gesta de nomine Acaci“ für die von Gelasius verfasste Instruktion, die Papst Felix Andromachus mit auf den Weg gegeben habe: Gelas. Tract. 1 Thiel = Coll. Avell. 99. 140 Ep. Theod. Var. Nr. V (= JK 721); Nr. VI (= JK 722); Nr. VII (= JK 723); Nr. VIII (= JK 743), MGH AA XII, 390f. 141 Empfehlungsbriefe: Ep. Theod. Var. Nr. I (= JK 641); Nr. III (= JK 652), MGH AA XII, 388f. Spende für die Armen: Nr. IV (= JK 683), MGH AA XII, 390. 142 Die lateinischen Formeln variieren: domnus filius meus: Ep. Theod. Var. Nr. II (= JK 659), MGH AA XII, 390; dominus filius meus excellentissimus rex: Nr. IV (= JK 683), MGH AA XII, 390; dominus filius noster rex: Nr. VII (= JK 723), MGH AA XII, 391; praecellentissimus filius meus rex: Nr. VIII (= JK 743), MGH AA XII, 391. Dazu Goltz, Bild Theoderichs (wie Anm. 101), 307–310. Die Echtheit der aus der „Collectio Britannica“ stammenden Stücke – bestritten von Ullmann, Gelasius I. (wie Anm. 27), 218 Anm. 3, 225f. – wird von Amory, Ostrogothic Italy (wie Anm. 49), 200 Anm. 22 mit Recht verteidigt.
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Hans-Ulrich Wiemer Religion ohne jede Störung eingehalten werde, zumal du ohne Zweifel einer anderen Gemeinschaft (communio) angehörst und deine Person sich in Dinge nicht einmischen darf, die sie nichts angehen, gleichgültig was ihre Absicht ist. Sonst zwingst du uns, wie wir oben gesagt haben, über all dies unserem Herrn und König, meinem Sohn Theoderich, schriftlich Bericht zu erstatten, weil es, da er selbst in seiner Weisheit kirchlichen Angelegenheiten in keiner Weise entgegenstehen will, nur gerecht ist, dass einer, der unter dessen Herrschaft lebt, nachahmt, was der prachtvolle (magnificus) König tut, auf dass er nicht über dessen Willen hinauszutrachten scheine.143
Es war Theoderich jedoch nicht sehr lange vergönnt, sich aus den Angelegenheiten des römischen Bistums herauszuhalten. Als es drei Tage nach dem Tod des Papstes Anastasius am 22. November 498 zu einer Doppelwahl kam, die als Beginn des Laurentianischen Schismas gilt,144 wurde der König von den streitenden Parteien als Richter angerufen. Er entschied aufgrund formaler Kriterien zugunsten des Diakons Symmachus und gegen den Archipresbyter Laurentius, obwohl hinter diesem einflussreiche Senatoren standen.145 Damit schien das Schisma abgewendet, und Symmachus hielt in Rom eine Synode ab, die eine Art Papstwahlordnung verabschiedete; die Synodalen stellten Wahlabsprachen zu Lebzeiten 143 Ep. Theod. Var. Nr. II (= JK 659), MGH AA XII, 389f. 144 Die Literatur zum Laurentianischen Schisma ist kaum zu überschauen; wichtige Beiträge stammen von Pfeilschifter, Theoderich (wie Anm. 123), 55–125; Louis Duchesne, L’église au VIe siècle. Paris 1925, 109–155; Caspar, Papsttum II (wie Anm. 27), 88–118; Giovanni Battista Picotti, I sinodi romani nello scisma laurenziano, in: Studi storici in onore di Gioacchino Volpe, Bd. II. Florenz 1958, 743–786; Ensslin, Theoderich (wie Anm. 1), 113–127; Piétri, MEFR 1966 (wie Anm. 107), 128–139; Richards, Popes (wie Anm. 117), 69–113; Piétri, MEFRA 1981 (wie Anm. 120), 444–467; Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 212–239; Eckhard Wirbelauer, Zwei Päpste in Rom. Der Konflikt zwischen Laurentius und Symmachus (498– 514). München 1993, bes. 9–65; Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 114–139; Sotinel, Rom und Italien (wie Anm. 118), 311–317. – Die ältere Forschung hat die Doppelwahl und das folgende Schisma auf eine außenpolitische Lagerbildung in Senat und Klerus zurückgeführt: Symmachus sei der Kandidat einer anti-byzantinischen, „gotischen“ Partei gewesen, Laurentius derjenige einer pro-byzantinischen, „nationalrömischen“: so z.B. Pfeilschifter, Theoderich (wie Anm. 123), 55f.; Sundwall, Abhandlungen (wie Anm. 3), 199–202; Schwartz, Schisma (wie Anm. 135), 230f.; Caspar, Papsttum II (wie Anm. 27), 87f.; Stein, Histoire du Bas-Empire II (wie Anm. 3), 134f. Tatsächlich besteht kein Zweifel, dass das caput senatus Festus für eine Verständigung zwischen dem römischen Stuhl und der Reichskirche eintrat (Theod. Lect. Epit. 461) und dass Symmachus gegenüber dem Patriarchen von Konstantinopel als „hardliner“ agierte: Symm. Ep. 10 Thiel = Schwartz, Schisma (wie Anm. 136), 151– 157 (= JK 761). Piétri, Richards und Moorhead haben jedoch gezeigt, dass die Interessen und Motive der Akteure vielschichtiger waren und dass die Opposition gegen Symmachus einen stadtrömischen Hintergrund hatte: Den Senatoren ging es vor allem darum, ihren Einfluss in der Kirche zu sichern, während das Streben nach kirchlicher Autonomie einerseits die Macht des Papstes, andererseits aber auch die Stellung des Klerus und die Versorgung der Armen sicherte. 145 Dass die Mehrheit der Senatoren bis zur Palmensynode für Laurentius eintrat, beweisen neben Lib. Pont. 53, 5 vor allem die von Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 144), 226–346 edierten, sogenannten Symmachianischen Fälschungen („Gesta de Xysti purgatione et Polychronii accusatione“, „Gesta Liberii“), doch kann die Stellung einzelner Senatoren nur in wenigen Fällen mit Sicherheit bestimmt werden: Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 212–239; Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 144), 57–65; Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 129–133.
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eines Papstes (ambitus) unter Strafe und billigten diesem zugleich das Recht zu, seinen eigenen Nachfolger zu designieren.146 Die Gegner des Symmachus, denen sich auch viele römische Kleriker anschlossen, ließen jedoch nicht locker; sie erhoben bald darauf schwere Vorwürfe gegen den Papst und veranlassten Theoderich, ihn von seinem Amt zu suspendieren und eine Synode einzuberufen, die in Rom über ihn zu Gericht sitzen sollte.147 Diese Synode erklärte sich nach langem Drehen und Winden schließlich für unbefugt, über den Nachfolger Petri zu befinden und setzte Symmachus im Oktober 502 wieder in seine alten Rechte ein.148 Diese Entscheidung entsprach insofern nicht dem Wunsch des Königs, als dieser die Synodalen gedrängt hatte, Symmachus entweder freizusprechen oder zu verurteilen, und stieß bei einflussreichen Senatoren, Teilen des römischen Klerus und zahlreichen Vertretern des norditalischen Episkopats auf Widerstand.149 Theoderich hat der Synode die Entscheidung für Symmachus jedoch keineswegs aufgezwungen, obwohl dieser jedem Kompromiss gegenüber der Reichskirche abgeneigt war, und vor allem keine Anstalten unternommen, das Urteil der Synode in Rom durchzusetzen; vielmehr gestattete er, dass Laurentius nach Rom zurückkehrte und die wichtigsten Kirchen der Stadt in Besitz nahm. So amtierten von 502 bis 506, vier volle Jahre lang, zwei Bischöfe in Rom, deren Anhänger sich regelrechte Straßenschlachten lieferten.150 Erst im Herbst 506 entschloss Theoderich sich dann doch zur Intervention, indem er das caput senatus Festus beauftragte, Laurentius abzusetzen und durch Übergabe der stadtrömischen Kirchen an Symmachus das Urteil der Palmensynode tatsächlich zu vollziehen.151 146 Acta Synodi a. 499, § 4, MGH AA XII, 403f. 147 Acta Synodi palmaris, MGH AA XII, 426; Frag. Laur., MGH AA XII, X; Ennod. Lib. pro syn. 72–76. 148 Acta synodi palmaris, MGH AA XII, 426–437, hier: §23, 431f. Die Datierung der Palmensynode war lange umstritten, da sowohl 501 als auch 502 ein Konsul namens Avienus amtierte. Ich folge mit Richards und Wirbelauer gegen Duchesne, Mommsen und Caspar der von Friedrich Vogel, Die römische Kirchensynode v. J. 502, in: HZ 50, 1883, 400–412 und Pfeilschifter, Theoderich (wie Anm. 122), 71–74 begründeten Datierung der von Theoderich einberufenen Synode auf 502; ebenso Schwartz, Schisma (wie Anm. 136), 232 mit Anm. 4; Ernst Stein, La période byzantine de la papauté, in: Catholic Historical Review 21, 1935/36, 129–163, hier: 136f. (auch in: ders., Opera minora selecta. Amsterdam 1968, 501–535, hier: 508f.); ders., Histoire du Bas-Empire II (wie Anm. 3), 793f. 149 Die Anwesenheitsliste der römischen Synode von 499 verzeichnet 74 Presbyter, diejenigen der „Siegessynode“ von 502 dagegen nur 37. An der „Palmensynode“ nahmen nach Lib. Pont. 53, 4 ursprünglich 115 Bischöfe teil; das Urteil unterzeichneten jedoch nur 76. Zu den Gegnern im Episkopat gehörte mit Marcellianus von Aquileia auch ein Metropolit. Ennodius’ „Libellus pro synodo“ richtet sich primär gegen senatorische Gegner des Symmachus: 128– 138 (Rede der Roma). 150 Frag. Laur., MGH AA XII, X: „sic Laurentius ad urbem veniens per annos circiter quattuor Romanam tenuit ecclesiam. per quae tempora quae bella civilia gesta vel quanta homicidia perpetrata, non est praesenti relatione pandendum“; Lib. Pont. 53, 5. 151 Frag. Laur., MGH AA XII, X: „ad hanc insinuationem regis animus delinitus patricio Festo praecepta dirigit admonens, ut omnes ecclesiae tituli Symmacho reformentur et unum Romae pateretur esse pontificem“; Theod. Lect. Epit. 462.
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Ob man Theoderichs Intervention befriedigend erklären kann, indem man sie mit dem seit 505 andauernden Konflikt mit Kaiser Anastasios verknüpft, wie es die Forschung häufig getan hat, scheint fraglich: Die Annahme, der König habe Symmachus gegen Laurentius durchgesetzt, weil er geglaubt habe, sich auf diese Art und Weise die Unterstützung des Senats gegen den Kaiser sichern zu können, setzt voraus, dass die Mehrheit der Senatoren in der Zwischenzeit von Laurentius zu Symmachus übergegangen war, was nicht zu beweisen ist, und lässt außer Acht, dass das Schisma bis zum Tod des Symmachus andauerte.152 Entscheidend ist im vorliegenden Zusammenhang etwas anderes: Theoderich ist im Laurentianischen Schisma nicht auf eigene Initiative hin aktiv geworden und hat sich selbst dann noch geweigert, ein Urteil über Symmachus zu fällen, als die Synodalen ihn darum baten. Der König hat sein Verhalten in einem Schreiben an die Teilnehmer der Synode mit grundsätzlichen Erwägungen motiviert: Wir wundern uns darüber, erneut konsultiert worden zu sein, da wir, wenn wir vom Hof aus vorher ein Urteil in der Angelegenheit hätten sprechen wollen, in Beratung mit unseren Edlen (proceres) zur Wahrheitsfindung mit Gottes Unterstützung einen Weg der Gerechtigkeit hätten finden können, der wohl weder dem gegenwärtigen Zeitalter noch der Zukunft missfallen hätte. Da wir vielmehr meinten, es sei nicht unsere Aufgabe, in kirchlichen Angelegenheiten etwas zu befinden, deswegen haben wir euch aus den verschiedenen Provinzen herbeirufen lassen, auf dass der ganze strittige Rechtsfall durch eure Verfügung in der Furcht vor dem göttlichen Urteil zu Ende gehe und unserer Stadt mit Gottes Gunst durch euch die erwünschte Eintracht wiedergegeben werde.153
Auch nachdem die Synode Symmachus von allen Anklagen freigesprochen hatte, wartete Theoderich vier Jahre ab, und als er schließlich im Sinne der Synode handelte, übertrug er die Ausführung dem höchstrangigen Senator. Als ihn der Senat danach bat, ein allgemeines Verbot der Veräußerung von Kirchengut zu bestätigen, wies er die patres conscripti darauf hin, dass es seiner Bestätigung in diesem Fall nicht bedurft hätte, weil „nach der ehrwürdigen Synode für Beschlüsse dieser Art die Anordnung ihres Urteils allein genüge“.154 Es überrascht nicht, dass ein so prominenter Anhänger des Symmachus wie Ennodius Theoderich gerade in dieser Zeit als Schutzherrn der Kirche gepriesen hat; so führt Ennodius in einem Brief, den er nach der Eroberung der Provence durch Theoderich an einen gallischen 152 In diesem Sinn etwa Pfeilschifter, Theoderich (wie Anm. 123), 104–111; Sundwall, Abhandlungen (wie Anm. 3), 212; Caspar, Papsttum II (wie Anm. 27), 116; Stein, Histoire du BasEmpire II (wie Anm. 3), 138f.; Ensslin, Theoderich (wie Anm. 1), 125f.; dagegen Richards, Popes (wie Anm. 117), 78–80; skeptisch Piétri, MEFRA 1966 (wie Anm. 107), 135f.; Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 124f. 153 Praeceptio regis, MGH AA XII, 424: „nosque miramur denuo fuisse consultos, cum, si nos de praesenti ante voluissemus iudicare negotio, habito cum proceribus nostris de inquirenda veritate tractatu viam deo auspice potuissemus invenire iustitiae, quae nec praesenti saeculo nec futurae forsitan displicere potuisset aetati. sed quia non nostrum iudicavimus de ecclesiasticis aliquid censere negotiis, ideoque vos de diversis provinciis fecimus evocari, ut sub divini timore iudicii totius certaminis vobis disponentibus causa transiret et urbi nostrae deo favente optata per vos concordia redderetur.“ 154 Praeceptum regis, Ep. Theod. Var. Nr. IX, MGH AA XII, 392: „post venerabilem synodum ad huiusmodi decreta vestri sufficiat ordinatio sola iudicii.“
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Bischof richtete, die militärischen Erfolge des Königs ausdrücklich auf dessen Duldsamkeit gegenüber dem Glauben der römisch-katholischen Kirche zurück: Und das geschieht mit Unterstützung des Himmels zum Ausgleich dafür, dass unser Glaube (fides nostra) bei ihm, obwohl er selbst etwas anderem anhängt, in einem sicheren Hafen ist. Bewundernswerte Duldsamkeit (patientia), da er, obwohl er an seinem Vorsatz (propositum) festhält, den Glanz des fremden (Vorsatzes) nicht verdunkelt! Denn auch wenn es um das Vermögen unserer Kirchen geht, stöhnt er, wenn es (an uns) zurückfällt, ohne vermehrt zu werden. So ist es geschehen, dass die reichen Vermögen der Armen ihren Stand halten und die mittelmäßigen zu größter Fülle gelangen. In den Priestern (sacerdotes) ehrt er Tugenden, die angeboren sind, und flößt sie ein, wo er sie nicht findet.155
Theoderich hat das römische Bistum also zunächst als eine Angelegenheit der Römer behandelt, was den Senatoren großen Spielraum ließ. Erst die Unfähigkeit der lokalen Instanzen, des römischen Klerus und des Senates, zu einer einvernehmlichen Lösung der strittigen Fragen zu gelangen, bewog ihn wenige Jahre nach der Machtübernahme, viel stärker einzugreifen, als dies unter Odovakar jemals der Fall gewesen war. Sobald die gewalttätigen Unruhen – wenngleich nicht das Schisma, das bis mindestens 514 andauerte156 – durch die Vertreibung des Laurentius aus den stadtrömischen Kirchen jedoch ein Ende gefunden hatten, kehrte Theoderich zu einer Politik der Nicht-Einmischung zurück. Insbesondere hat er die durch den Tod des Kaisers Anastasios ermöglichten Unionsverhandlungen, die Papst Hormisdas mit Kaiser Justin und dem neuen Patriarchen Konstantinopels führte, nicht behindert; die Gesandtschaften, die damals ausgetauscht wurden, haben nachweislich das königliche Placet erbeten und erhalten.157 Dieses Entgegenkommen ist Theoderich gewiss dadurch erleichtert worden, dass Justin sich seinerseits bereit erklärte, Eutharich als Nachfolger des Königs zu akzeptieren; im selben Jahr, in welchem das Schisma zwischen Rom und Konstantinopel beendet wurde, feierte Eutharich in Rom und dann noch einmal in Ravenna mit großem Pomp und unter Beteiligung einer oströmischen Gesandtschaft seinen Konsulat.158 Dieses wechselseitige Einvernehmen hatte freilich nicht bis zum Ende der Regierung Theoderichs Bestand. Kurz vor seinem Tod erteilte Theoderich Johan 155 Ennod. Ep. 9, 30, 7: „et haec quidem caelesti praeparantur pro hac repensione suffragio, quia fides nostra apud eum, alius ipse sectetur, in portu est. Mirabilis patientia, quando tenax propositi sui claritatem non obumbrat alieni: nam et ecclesiarum nostrarum patrimonia relabi, nisi aucta fuerint, ingemescit. Sic factum est, ut et statum suum locupletes pauperum substantiae teneant et mediocres ad supremam opulentiam convalescant. In sacerdotibus virtutes et innatas colit et non repertas inspirat.“ Zur Datierung vgl. Benedikt Hasenstab, Studien zu Ennodius. Ein Beitrag zur Geschichte der Völkerwanderung. München 1890, 22–26. 156 Dazu ausgezeichnet Wirbelauer, Zwei Päpste (wie Anm. 144), 40–43; 155–159 (Bildnis des Laurentius in S. Paolo fuori le mura). 157 Lib. Pont. 54, 2; Coll. Avell. 147, 5 (Brief Justinians an Papst Hormisdas). 158 Konsulat Eutharichs: Cass. Chron. s.a. 519; Anon. Val. II 80 mit Vitiello, Roma ostrogota (wie Anm. 107), 71–83. Cassiodor hielt aus diesem Anlass eine Rede: Cass. Var. 9, 25, 2; Cassiodori orationum reliquiae, MGH AA XII, 465ff. Die Hochzeit mit Amalasvintha lag damals bereits vier Jahre zurück: Cass. Chron. s.a. 515; Jord. Get. 298. Eutharich wurde von Justin außerdem als Waffensohn adoptiert: Cass. Var. 8, 1, 3.
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nes, dem amtierenden Stellvertreter Petri, den Auftrag, sich gemeinsam mit einer senatorischen Gesandtschaft beim Kaiser für die Rückgabe von Gotteshäusern einzusetzen, die man den „Arianern“ im Reich genommen hatte, und darüber hinaus zu erwirken, dass ehemaligen „Arianern“, denen der Übertritt zum „Katholizismus“ aufgezwungen worden war, die Rückkehr zu ihrem alten Glauben gestattet werde.159 Dieser Auftrag lief dem Selbstverständnis und den Machtinteressen des Papsttums diametral zuwider und stellte dadurch eine Voraussetzung des gotisch-römischen Kompromisses in Frage. Zugleich stellte er eine Einmischung in die Angelegenheiten des Kaisers dar. Wie einige andere Maßnahmen in den letzten Lebensjahren, lässt sich Theoderichs Auftrag an Papst Johannes nicht auf ein Herrschaftskonzept zurückführen, das auf Dauer angelegt ist, sondern muss kurzfristigen Antrieben persönlicher Art, vielleicht einem verletzten Gerechtigkeitsgefühl, entsprungen sein. Als Johannes bald nach seiner Rückkehr von der für ihn demütigenden Gesandtschaftsreise nach Konstantinopel starb, suchte Theoderich zum ersten Mal in seiner über dreißigjährigen Herrschaft den Nachfolger selbst aus und setzte ihn gegen den Wunsch des Senates durch.160 Wenn die kirchenpolitische Leitlinie des Odovakar also vor allem die NichtEinmischung war, die senatorischer Einflussnahme großen Raum ließ, hat Theoderich diese Linie nur in den ersten Jahren seiner Herrschaft konsequent eingehalten, als es ihm vor allem um Konsolidierung zu tun sein musste. Das römische Schisma zwang ihn wiederholt, wenngleich gegen seinen Willen, zur Intervention. Im letzten Jahrzehnt seiner Regierung ist sein Verhalten gegenüber dem römischen Stuhl von großen Schwankungen zwischen Gewährenlassen und Bestimmenwollen geprägt, die sich aus wechselnden Konstellationen erklären, aber nicht auf eine Maxime zurückführen lassen. V. KAISER Das Verhältnis zum Kaiser war für Odovakar und Theoderich aus zwei Gründen von großer Bedeutung. Zum einen war der Kaiser der mächtigste Herrscher der Mittelmeerwelt. Italien war nur dann auf Dauer gegen Bedrohungen von außen zu schützen, wenn man den Kaiser nicht gegen sich hatte. Zum anderen aber war die Anerkennung des Kaisers auch innenpolitisch bedeutsam, weil die zivilen Eliten 159 Marc. Com. s.a. 525; Lib. Pont. 55, 1–6; Anon. Val. II 88–91; 93. Dazu Caspar, Papsttum II (wie Anm. 27), 184–191; Aleksandr Aleksandrovich Vasiliev, Justin the First. An Introduction to the Epoch of Justinian the Great. Cambridge (MA) 1950, 212–221; Heinz Löwe, Theoderich der Große und Papst Johannes I., in: HJb 72, 1953, 83–100. Wilhelm Ensslin, Papst Johannes I. als Gesandter Theoderichs bei Kaiser Justinos I., in: ByzZ 44, 1951, 127–134 betont gegen Caspar, dass Justin sich vor Johannes nicht einseitig erniedrigte. 160 Lib. Pont. 56, 2 (Epit. Feliciana et Cononiana); Cass. Var. 8, 15. Die Behauptung des „Anonymus Valesianus“ (II 94–95; vgl. Greg. Tur. Glor. mart. 39), Theoderich habe kurz vor seinem Tode die Konfiskation aller römisch-katholischen Kirchen angeordnet, ist jedoch unglaubwürdig; andernfalls hätte Amalasvintha die Regierung ihres Sohnes nicht als bruchlose Fortsetzung derjenigen ihres Vaters propagiert.
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und die Kirche von Rom dem Imperium Romanum durch persönliche Beziehungen und tief verwurzelte Denkmuster noch immer eng verbunden waren. Die Päpste gingen nach dem Verschwinden des Kaisertums im Westen davon aus, dass es nur noch einen obersten weltlichen Herrscher und Schutzherrn der einen allgemeinen und rechtgläubigen Kirche gebe; Simplicius und Felix korrespondierten mit Kaiser Zenon, ohne Odovakar auch nur einmal zu erwähnen.161 Die senatorischen Familien Italiens führten ihre Stammbäume bis in die Zeit der Republik zurück,162 und sie besaßen Verwandte und Freunde in Konstantinopel. Für Odovakar stellte sich das Problem, wie sich seine Herrschaft mit der Existenz des Kaisertums vereinbaren ließ, in akuter Form, denn er brach als erster mit einer etwa ein Jahrhundert alten Tradition, als er nicht bloß Romulus absetzte, sondern das westliche Kaisertum für überflüssig und deshalb abgeschafft erklärte. Gewiss stellt sich die Errichtung eines barbarischen Königtums in Italien aus der Rückschau als Ergebnis einer langfristigen Entwicklung dar, in welcher die Kaiser immer mehr Macht an ihre barbarischen Heermeister verloren hatten.163 Die Heermeister Ricimer und Gundobad hatten nicht bloß mehrfach Kaiser eingesetzt, sondern ebenso auch wieder abgesetzt und getötet. Kaiser, die versuchten, ihren obersten Heermeister zu bändigen und wieder selbst die Regierung auszuüben, hatten dies mit dem Leben bezahlt; zuletzt 472 Anthemios. Seit dem Ende der valentinianischen Dynastie im Jahre 455 war es wiederholt zu Interregna gekommen, die stets mehrere Monate, in zwei Fällen – nach der Absetzung des Avitus und nach der des Libius Severus164 – sogar länger als ein Jahr dauerten. Die Frage, wofür man einen eigenen Kaiser in Italien noch brauchte, war unabweisbar ge 161 Bemerkt von Schwartz, Schisma (wie Anm. 136), 215. Unicum in te superest prisci nomen imperii, formuliert 483 Papst Felix III. in einem Schreiben an Kaiser Zenon: Ep. 1, 5 Thiel (= JK 591). Er bezeichnet den Kaiser als fidei custos et defensor orthodoxae – Ep. 4, 1 Thiel (= JK 595) – und als Inhaber des humanarum rerum fastigium: Ep. 8, 5 Thiel (= JK 601). 162 François Chausson, Les lignagnes mythiques dans quelques revendications généalogiques sous l’empire romain, in: Danièle Auger/Suzanne Saïd (Hrsgg.), Généalogies mythiques (Actes du VIIIe Colloque du Centre de recherches mythologiques de l’Université de Paris X, Chantilly, 14–16 septembre 1995). Paris 1998, 395–417; Cameron, JRS 2012 (wie Anm. 96), 163f. 163 Auf die durch Wes, Ende des Kaisertums (wie Anm. 46) ausgelöste Debatte über die Genese des Epochendatums 476 in der antiken Historiographie ist hier nicht einzugehen; vgl. dazu etwa Arnaldo Momigliano, La caduta senza rumore di un impero nel 476 D.C., in: RSI 85, 1973, 5–21; auch in: ders., Sesto contributo alla storia degli studi classici e del mondo antico, Bd. 1. Rom 1980, 159–179; Emilienne Demougeot, Bedeutet das Jahr 476 das Ende des Römischen Reiches im Okzident?, in: Klio 60, 1978, 371–381; Robert A. Markus, The End of the Roman Empire: A note on Eugippius, Vita Sancti Severini, 20, in: Nottingham Medieval Studies 26, 1982, 1–7; auch in: ders., Sacred and Secular. Studies on Augustine and Latin Christianity, Aldershot 1994, Nr. VI; Brian Croke, A.D. 476: The Manufacture of a Turning Point, in: Chiron 13, 1983, 81–119; Giuseppe Zecchini, Il 476 nella storiografia tardoantica, in: ders., Ricerche di storiografia latina tardoantica. Rom 1993, 65–90; Andreas Goltz, Marcellinus Comes und das ‚Ende‘ des Weströmischen Reiches, in: Electrum 13, 2007, 39– 59. 164 Die Ereignisse schildern Stein, Histoire du Bas-Empire I (wie Anm. 37), 365–399; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 28–70; 277–324.
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worden. Mehr noch: Für die westlichen Heermeister war das Kaisertum seit dem Ende der Theodosianischen Dynastie zu einer Belastung geworden. Denn die Trennung zwischen realer Macht und nomineller Herrschaft lud zu Versuchen ein, den Kaiser gegen den obersten Heermeister auszuspielen, und erforderte daher eine strenge Kontrolle seiner Person. Zudem bestand immer die Möglichkeit, dass der Kaiser selbst sich mit der Rolle eines Statisten auf die Dauer eben doch nicht zufrieden gab und irgendwann versuchte, seinen obersten Heermeister zu entmachten. In beiden Fällen drohten Bürgerkrieg und Machtverlust.165 Dennoch hatte es bis dahin noch niemand gewagt, das westliche Kaisertum für abgeschafft zu erklären. Genau das aber tat Odovakar. Unsere einzige Quelle, das berühmte Fragment 10 (nach Müllers Zählung) aus der „Byzantinischen Geschichte“ des Malchos von Philadelpheia, berichtet darüber folgendermaßen: Als Augustus der Sohn des Orestes hörte, dass Zenon die Kaiserherrschaft im Osten wieder zurückgewonnen und Basiliskos vertrieben hatte, zwang er den Senat, eine Gesandtschaft an Zenon zu schicken, um zu erklären, dass sie einer eigenen Kaiserherrschaft nicht bedürften, vielmehr ein gemeinsamer Herrscher auch alleine für beide Teile genüge. Sie hätten Odovakar ausgewählt, weil er sich als fähig erwiesen habe, ihre Angelegenheiten zu schützen – er verfüge nämlich über einen politischen und zugleich wehrhaften Verstand –, und bäten Zenon, ihm die Würde eines patricius zu senden und die Verwaltung Italiens zu übertragen.166
Die Gesandten haben ihrem Anliegen wahrscheinlich dadurch Nachdruck verliehen, dass sie Zenon während des Aufenthalts am Kaiserhof, vielleicht sogar bei der Audienz selbst, im Namen Odovakars die Herrschaftsinsignien des weströmischen Kaisers (ornamenta palatii) übergaben. Da ihr Gesuch lautete, Zenon möge Odovakar den Patriziat und die Verwaltung Italiens übertragen, hat Odovakar für sich offenbar an das Amt eines obersten Heermeisters gedacht, vermutlich erwei 165 Diesen Aspekt betont jetzt mit Recht Henning Börm, Westrom. Von Honorius bis Justinian. Stuttgart 2013, der mir schon vor der Drucklegung Einblick in sein Manuskript gewährt hat, wofür ich ihm auch an dieser Stelle herzlich danken möchte. 166 Malch. F 10 Cresci (= F 14 Blockley), Z. 1–10: „Ὅτι ὁ Αὔγουστος ὁ τοῦ Ὀρέστου υἱὸς ἀκούσας Ζήνωνα πάλιν τὴν βασιλείαν ἀνακεκτῆσθαι τῆς ἕω τὸν Βασιλίσκον ἐλάσαντα, ἠνάγκασε τὴν βουλὴν ἀποστεῖλαι πρεσβείαν Ζήνωνι σημαίνουσαν, ὡς ἰδίας μὲν αὐτοῖς βασιλείας οὐ δέοι, κοινὸς δὲ ἀποχρήσει μόνος ὢν αὐτοκράτωρ ἐπ’ ἀμφοτέροις τοῖς πέρασι, τὸν μέντοι Ὀδόαχον ὑπ’ αὐτῶν προβεβλῆσθαι ἱκανὸν ὄντα σώζειν τὰ παρ’ αὐτοῖς πράγματα, πολιτικὴν ἔχοντα σύνεσιν ὁμοῦ καὶ μάχιμον · καὶ δεῖσθαι τοῦ Ζήνωνος πατρικίου τε αὐτῷ ἀποστεῖλαι ἀξίαν καὶ τὴν τῶν Ἰταλῶν τούτῳ ἐφεῖναι διοίκησιν. Zenons Antwort folgt in Z. 18–30: Ζήνων δὲ τοῖς ἥκουσι τοῖς μὲν ἀπὸ τῆς βουλῆς ἀπεκρίνατο ταῦτα, ὡς δύο ἐκ τῆς ἕω βασιλέας λαβόντες τὸν μέν ἐξεληλάκασιν, Ἀνθέμιον δὲ ἀπέκτειναν· καὶ νῦν τὸ ποιητέον αὐτοὺς ἔφη γινώσκειν· οὐ γὰρ ἂν βασιλέως ἔτι ὄντος ἑτέραν ηγήσεσθαι γνώμην ἢ κατιόντα προσδέχεσθαι· τοῖς δὲ ἐκ τοῦ βαρβάρου ὅτι καλῶς πράξειε παρὰ τοῦ βασιλέως Νέπωτος τὴν ἀξίαν τοῦ πατρικίου δεξάμενος Ὀδόαχος· ἐκπέμψ ἂν γὰρ αὐτόν, εἰ μὴ Νέπως ἐπεφθάκει. ἐπαινεῖν δὲ ὡς ἀρχὴν ἐπιδέδεικται ταύτην τοῦ τὸν κόσμον φυλάττειν τὸν τοῖς Ῥωμαίοις προσήκοντα, καὶ πιστεύειν ἐντεῦθεν ὡς καὶ τὸν βασιλέα τὸν ταῦτα τιμήσαντα καταδέξοιτο θᾶττον, εἰ ποιεῖν θέλοι τὰ δίκαια.“ Zur Konstitution und Interpretation des schwierigen Textes vgl. meinen Aufsatz, Ende des Kaisertums (wie Anm. 72), 154–156.
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tert um einige Befugnisse, insbesondere die Ernennung der zivilen Beamten.167 Malchos’ Bericht lässt keinen Zweifel, dass ihm Zenon diesen Gefallen nicht getan hat, und nichts berechtigt uns zu der Annahme, dass er es später getan habe; wäre es anders, würde Odovakar nicht versäumt haben, Amt und Rang in seiner Titulatur zum Ausdruck zu bringen. Odovakar hat den Titel patricius jedoch niemals getragen; er wurde urkundlich als rex und in stadtrömischen Inschriften auch ganz einfach als dominus tituliert.168 Gewiss weisen viele Indizien darauf hin, dass sich Kaiser Zenon spätestens seit 480 mit der Herrschaft Odovakars in Italien arrangiert hat: So überliefert Malchos, dass Theoderich Kaiser Zenon 479 den Vorschlag unterbreitete, Iulius Nepos nach Italien zurückzuführen,169 und der Gang der Ereignisse lehrt, dass Zenon von diesem Angebot keinen Gebrauch machte. Seit 480 wurden Jahr für Jahr westliche Senatoren zu Konsuln ernannt und wenigstens teilweise auch im Osten bekannt gemacht.170 Wie Denis Feissel gezeigt hat, erließ der Inhaber der orientalischen Prätoriumspräfektur am 1. August 480 ein Edikt, dessen Intitulatio nach seinem eigenen Namen und demjenigen des Inhabers der illyrischen Präfektur auch den praefectus praetorio Italiae, Flavius Boethius, nannte.171 In Rom ließ der Stadtpräfekt Symmachus ein Bronzetäfelchen nach Zenon und Odovakar datieren, wobei freilich nur der Kaiser dominus noster, der König hingegen lediglich dominus heißt.172 Ein zweites sicheres Beispiel für eine solche Doppeldatierung in der Stadt Rom ist kürzlich hinzugekommen.173 Auch die vielzitierte, fragmentarische Inschrift, in welcher von der Reparatur eines stadtrömischen Gebäudes für 167 Anon. Val. II 64: „omnia ornamenta palatii, quae Odoacar Constantinopolim transmiserat“; vgl. Cass. Chron. s.a. 476: „nomenque regis Odovacar adsumpsit, cum tamen ne c purpur a n ec r eg alibu s u ter e tur ins ign ibu s .“ Wann genau die ornamenta palatii (zum Begriff vgl. CJ 1, 27, 6f.) nach Konstantinopel gekommen waren, sagt der Bericht nicht, doch liegt ein Zusammenhang mit unserer Gesandtschaft nahe; in diesem Sinn z.B. Stein, Histoire du Bas-Empire II (wie Anm. 3), 46; Prostko-Prostynski, Utraeque res publicae (wie Anm. 7), 158; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 62. 168 Vgl. oben Anm. 48 und unten Anm. 169–171. 169 Malch. F 18 Cresci (= F 20 Blockley), Z. 259f.: „ἕτοιμος δέ, εἰ προστάξειε ὁ βασιλεύς, καὶ εἰς Δαλματίαν ἀπελθεῖν ὡς Νέπωτα κατάξων.“ In diesen Kontext passt auch die lapidare Nachricht in Photios’ Exzerpt aus dem Geschichtswerk des Kandidos, die „westlichen Gallier“ hätten Zenon um Hilfe gegen Odovakar gebeten, der Kaiser aber habe Odovakar zugeneigt: Cand. F 1 Blockley = Phot. Cod. 79. 170 Cameron/Schauer, JRS 1982 (wie Anm. 11), 131–133; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 211. 171 SEG 44, Nr. 909, übersetzt und kommentiert von Denis Feissel, L’ordonnance du préfet Dionysios inscrite à Mylasa en Carie (1er août 480), in: TM 12, 1994, 263–297, bes. 275–297; auch in: ders., Documents, droit, diplomatique et l’Empire romain tardif. Paris 2010, 429– 476, hier: 444–476. Das Datum der Präfektur des Flavius Boethius ist bei PLRE II, 232f. Boethius 4; Schäfer, Senat (wie Anm. 9), 39f. Nr. 29; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 105 nachzutragen. 172 AE 1904, Nr. 148 = ILS 8955. 173 Silvia Orlandi, L’epigrafia romana sotto il regno di Odoacre, in: Giorgio Bonamente/Rita Lizzi Testa (Hrsgg.), Istituzioni, carismi ed esercizio del potere (IV-VI secolo). Bari 2010, 331–338, hier: 335f.
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Schauspiele unter Odovakar die Rede ist, bietet genügend Platz für die Erwähnung des Kaisers.174 Odovakars Verhältnis zum Kaiser blieb gleichwohl stets prekär.175 Im Osten wurde er von vielen als potentieller Gegner des Kaisers betrachtet. So suchte der Usurpator Illus im Jahre 484 bei Odovakar Unterstützung gegen Zenon, indem er den gescheiterten Usurpator Marcianus nach Italien schickte, und später suchte auch Procopius, ein Bruder des Marcianus, Zuflucht beim Herrscher Italiens.176 Umgekehrt stand Zenon im Ruf, die Rugier 487 zum Angriff auf Odovakar aufgehetzt zu haben.177 Odovakar hat daraufhin noch einmal versucht, die Anerkennung des Kaisers zu gewinnen, indem er ihm einen Anteil an der Siegesbeute schickte, wie es kaiserliche Feldherren zu tun pflegten, sein Ziel aber nicht erreicht.178 Im Herbst 488 erteilte der Kaiser Theoderich schließlich den Auftrag, mit seinen Goten nach Italien zu ziehen, um Odovakar, der nun offen als Usurpator deklariert wurde, abzusetzen.179 Theoderich kam also im Gegensatz zu Odovakar mit einem klar umrissenen Mandat nach Italien; er sollte Odovakar stürzen und dann solange eigenverantwortlich regieren (praeregnare), bis Zenon einmal selbst nach Italien kommen werde.180 Dann aber starb Kaiser Zenon, und Theoderich ließ sich nach der Beseitigung Odovakars zum König über Goten und Römer ausrufen, ohne abzuwarten, wie sich der neue Herr am Bosporos dazu stellen würde.181 Es sollte einige Jahre 174 AE 1967, Nr. 7 = Orlandi, Epigrafia anfiteatrale (wie Anm. 12), 536–539 Nr. 35. Für die Erwähnung des Kaisers spricht das Wort clementia in b3. 175 Ich lasse die Frage hier auf sich beruhen, ob Odovakar Iulius Nepos zwischen 477 und 479 nominell anerkannt hat, wie John P. C. Kent, Julius Nepos and the Fall of the Western Empire, in: Corolla memoriae Erich Swoboda dedicata. Köln/Graz 1966, 146–150; ders., RIC X (wie Anm. 92), 207; 431f.; 442 aufgrund einer stilistisch begründeten Datierung in Italien geprägter Goldmünzen mit dem Namen des Nepos angenommen hat; akzeptiert z.B. von Ehling, Schweizer Münzblätter 1998 (wie Anm. 92), 36; Henning, Kaisertum und Eliten (wie Anm. 10), 65; 207. 176 Marcianus: Joh. Ant. F 214 Müller = F 306 Roberto, Z. 6–10; Procopius: Theoph. a.m. 5971. 177 Joh. Ant. F 214 Müller = F 306 Roberto, Z. 56f. Rugier siedelten damals in Thrakien (Jord. Get. 266) und kämpften für Zenon gegen Illus: Joh. Ant. F 214 Müller = F 306 Roberto, Z. 26f. mit Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 16), 119. 178 Joh. Ant. F 214 Müller = F 306 Roberto, Z. 57–59 mit Michael McCormick, Odoacer, Emperor Zeno and the Rugian victory legation, in: Byzantion 47, 1977, 212–222. Wie es scheint, war der Senator Andromachus einer der Gesandten Odovakars; vgl. oben Anm. 138. 179 Vgl. oben Anm. 101. Odovakar dagegen vollzog den Bruch offenbar erst nach dem Beginn des Krieges gegen Theoderich, indem er seinen Sohn Thela zum Caesar ernannte (Joh. Ant. F 214a Müller = F 307 Roberto, Z. 14f.); in diese Zeit gehört wohl die Prägung von Bronzeund Silbermünzen mit eigenem Bild und Namen: Ehling, Schweizer Münzblätter 1998 (wie Anm. 92), passim; anders Kent, RIC X (wie Anm. 92), 212. 180 Anon. Val. II 49: „Zeno itaque recompensans beneficiis Theodericum, quem fecit patricium et consulem, donans ei multum et mittens eum ad Italiam. Cui Theodericus pactuatus est, ut, si victus fuisset Odoacar, pro merito laborum suorum loco eius, dum adveniret, tantum praeregnaret. ergo superveniente Theoderico patricio de civitate Nova cum gente Gothica missus ab imperatore Zenone de partibus Orientis ad defendendam sibi Italiam.“ 181 Anon. Val. II 57: „Theodericus enim, qui in legationem direxerat Faustum Nigrum ad Zenonem, at ubi cognita morte eius antequam legatio reverteretur, ut ingressus est Ravennam et
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dauern, bis die daraus resultierende Verstimmung überwunden werden konnte. Eine Gesandtschaft, die erneut von dem caput senatus Festus angeführt wurde, konnte 497/8 jedoch eine vertragliche Anerkennung Theoderichs als Herrscher in Italien aushandeln.182 Anastasios schickte Theoderich die ornamenta palatii zurück, die Odovakar einst nach Konstantinopel übersandt hatte, und brachte damit zum Ausdruck, dass er nicht beabsichtigte, das Kaisertum im Westen von sich aus zu erneuern.183 Das gegenseitige Einverständnis auf der Grundlage der 497 getroffenen Vereinbarungen hielt bis 505, als es in Pannonien zu militärischen Auseinandersetzungen kam, nachdem Theoderich den Gepiden die Stadt Sirmium in occidit Odoacrem, Gothi sibi confirmaverunt Theodericum regem, non expectantes iussionem novi principis.“ Es ist hier nebensächlich, ob diese Gesandtschaft tatsächlich vor dem Bekanntwerden des Todes Zenons am 9. April 491 abging. Sundwall, Abhandlungen (wie Anm. 3), 118; Ensslin, Theoderich (wie Anm. 1), 74 datieren die Entsendung der Gesandtschaft auf 492 und gehen von einer Verwechslung zwischen Zenon und Anastasios aus. Dafür spricht, dass Papst Gelasius I. ein commonitorium für den Gesandten Faustus verfasste: Gelas. Ep. 10 Thiel = Coll. Veron. Nr. 7 Schwartz (= JK 622). 182 Anon. Val. II 64; Theod. Lect. Epit. 461; Theoph. a.m. 5992. Die Stipulationen des Vertragsentwurfs, den Theodahad im Jahre 535 Justinian unterbreitete (Proc. BG 1, 6, 2–5) lassen erkennen, wie weit die Befugnisse Theoderichs ungefähr reichten; vgl. Cass. Var. 1, 1, 3; 9, 1, 5. Dazu ausführlich, wenngleich nicht durchweg überzeugend Evangelos Chrysos, Die Amaler-Herrschaft in Italien und das Imperium Romanum. Der Vertragsentwurf des Jahres 535, in: Byzantion 51, 1981, 430–474; Prostko-Prostynski, Utraeque res publicae (wie Anm. 7), 151–212. Proc. BG 2, 6, 13–22 lässt Gesandte des Witigis die gotische Rechtsposition gegenüber Belisar formulieren. – Die im Reich Theoderichs geprägten Münzen tragen den Namen des Anastasios oder den Justins: Kraus, Münzen (wie Anm. 92), 65–104; John P. C. Kent, The Coinage of Theoderic in the Name of Anastasius and Justin I, in: Robert A. G. Carson (Hrsg.), Mints, Dies and Currency. Essays dedicated to the memory of Albert Baldwin. London 1971, 67–74 mit Taf. VIII–IX; Metlich, Ostrogothic Coinage (wie Anm. 92), passim. 183 Anon. Val. II 64: „Facta pace cum Anastasio imperatore per Festum de praesumptione regni, et omnia ornamenta palatii, quae Odoacar Constantinopolim transmiserat, remittit.“ Es bleibe dahingestellt, ob die an dieser Stelle genannten ornamenta palatii mit der vestis regia zu identifizieren sind, um die Theoderich nach Anon. Val. II 53 im Jahre 490 Kaiser Zenon gebeten hatte, wie ein Teil der Forschung annimmt; so z.B. Ensslin, Theoderich (wie Anm. 1), 77–79; Wolfram, Gotische Studien (wie Anm. 4), 141; Dietrich Claude, Zur Königserhebung Theoderichs des Großen, in: Karl Hauck/Hubert Mordek (Hrsgg.), Geschichtsschreibung und geistiges Leben im Mittelalter. Festschrift für Heinrich Löwe zum 65. Geburtstag. Köln/Wien 1978, 1–13, hier: 4f.; Dietrich Claude, Die ostgotischen Königserhebungen, in: Herwig Wolfram/Falko Daim (Hrsgg.), Die Völker an der unteren und mittleren Donau im fünften und sechsten Jahrhundert. (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschriften 145.) Wien 1980, 149–186, hier: 155f., 177f.; Kohlhas-Müller, Rechtsstellung Theoderichs (wie Anm. 16), 143–160. Auf Jord. Get. 295 kann man sich für die Identifikation freilich nur berufen, wenn man annimmt, dass der Autor die Maßnahme missverstanden und falsch eingeordnet hat, denn er berichtet, Theoderich habe im dritten Jahr seiner Ankunft in Italien in Absprache mit Zenon den privatus habitus suaeque gentis vestitus abgelegt und stattdessen quasi iam Gothorum Romanorum regnator einen regius amictus angenommen. Prostko-Prostynski, Utraeque res publicae (wie Anm. 7), 131–150 nimmt Jordanes hingegen beim Wort, hält den regius amictus für ein kaiserliches Gewand und folgert, dass Theoderich seit 491 eine Art vizekaiserlicher Tracht getragen habe.
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der ehemaligen Provinz Pannonia Secunda weggenommen hatte.184 Im letzten Quartal des Jahres 507 verwüstete eine kaiserliche Flotte sogar die Küsten Süditaliens.185 Der Konflikt konnte jedoch binnen weniger Jahre beigelegt werden. Für diese Annahme sprechen die beiden Briefe Theoderichs an Anastasios, die Cassiodor in seine „Varien“ aufgenommen hat. Gewiss sind uns die Antworten des Kaisers nicht überliefert. Aber Cassiodor hätte die beiden Briefe schwerlich in seine Sammlung aufgenommen, wenn Theoderichs Initiativen beim Kaiser auf Ablehnung gestoßen wären. Der berühmte Brief an Anastasios, der die Sammlung eröffnet, muss zwischen 508 und 511 verfasst worden sein.186 In sorgfältig abgezirkelten Formulierungen erkennt der König dem Kaiser einen Ehrenvorrang zu, beansprucht aber zugleich eine kaiserähnliche Herrschaft als König (regnum), die sich über Römer erstreckt, und betont, dass zwischen „den beiden Gemeinwesen“ (inter utrasque res publicas), die in der Vergangenheit stets einen Körper (unum corpus) gebildet hätten, keine Zwietracht bestehen dürfe; das römische Reich (Romanum regnum) solle stets einen Willen haben.187 Die Wendung von „den beiden Gemeinwesen“ war ein sprachlicher Kunstgriff, der es ermöglichen sollte, die faktische Trennung mit dem Gedanken der Einheit zu vereinbaren.188 184 Zur Einnahme Sirmiums und der anschließenden Schlacht gegen den magister militum per Illyricum Sabinianus vgl. etwa Ensslin, Theoderich (wie Anm. 1), 128–131; Brian Croke, Mundo the Gepid: From Freebooter to Roman General, in: Chiron 12, 1982, 125–135; Pohl, Gepiden (wie Anm. 65), 288–294; Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 174f.; ProstkoProstynski, Utraeque res publicae (wie Anm. 7), 215–246. 185 Marc. Com. s.a. 508; Jord. Rom. 356 mit Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 182f. Den Terminus ante quem liefert der Gallien-Feldzug, der nach Cass. Var. 1, 24 am 24. Mai 508 beginnen sollte. 186 Die Datierung auf 508 geht auf Mommsen zurück; ebenso Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 16), 349f.; Krautschick, Cassiodor (wie Anm. 15), 50f.; Moorhead, Theoderic (wie Anm. 1), 45. Dagegen datieren Ensslin, Theoderich (wie Anm. 1), 149f.; Wolfram, Goten (wie Anm. 4), 322; Prostko-Prostynski, Utraeque res publicae (wie Anm. 7), 238–241 den Brief auf 510 oder 511; eine Verbindung mit der Gesandtschaft des Agapitus (Cass. Var. 2, 6) im Zeitraum 509/511 wäre dann wahrscheinlich. 187 Cass. Var. 1, 1, 3: „Regnum nostrum imitatio vestra est, forma boni propositi, unici exemplar imperii: qui quantum vos sequimur, tantum gentes alias anteimus“; § 4–5: „quia pati vos non credimus in ter u trasque res pub licas, qu aru m semp er unu m corpus sub an tiqu is pr in c ip ibus fu isse d ec lar a tur, aliquid discordiae permanere. Quas non solum oportet inter se otiosa dilectione coniungi, verum etiam decet mutuis viribus adiuvari. Romani regni unum velle, una semper opinio sit. quicquid et nos possumus, vestris praeconiis applicetur.“ 188 Cass. Var. 2, 1, 4: „Nos autem, qui bonis redimimur institutis, quos probitas inspecta conciliat, curules infulas praestitimus candidato, ut virtutum desideria possimus provocare per munera: quia non deficit rei studium, quae praemium largius habet. Atque ideo vos, qui utriusque rei publicae bonis indiscreta potestis gratia delectari, iungite favorem, adunate sententiam: amborum iudicio dignus est elegi, qui tantis meretur augeri.“ In den gleichzeitig an Arcadius Felix und den Senat gerichteten Schreiben (Cass. Var. 2, 2; 2, 3) wird der Kaiser jedoch ebensowenig erwähnt wie in der formula consulatus (Var. 6, 1). Die Ernennung war also nicht von einer Bestätigung durch den Kaiser abhängig, wie Proc. BG 2, 6, 19–20 nahelegen könnte. Wie sich Malalas 15, 9, 383 Dindorf damit vereinbaren lässt, steht dahin; vgl. Goltz, Bild Theoderichs (wie Anm. 101), 188–196. Mit der Person des Konsuls beschäftigt sich Ralph W.
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Dass Theoderichs Kanzlei sie in der Erwartung verwendete, dass der Kaiser sie nicht rundheraus ablehnen würde, belegt die Tatsache, dass sie auch in dem Brief begegnet, in welchem Theoderich Anastasios im Jahre 510 bat, der Wahl des Galliers Arcadius Felix zum consul für dieses Jahr beizutreten.189 Tatsächlich erkannte der Kaiser 516 in einem Brief an den Senat die Herrschaft Theoderichs in Italien noch einmal ausdrücklich und öffentlich an, indem er Theoderich nicht bloß gloriosissimus rex und excelsus rex nannte, sondern auch ausdrücklich davon sprach, dass ihm die „Amtsgewalt und Fürsorge“ (potestas vel sollicitudo) übertragen worden sei, den Senat zu regieren; obendrein sprach er von „den Gliedern jedes der beiden Gemeinwesen“ (utriusque rei publicae membra) und übernahm damit den Sprachgebrauch Theoderichs.190 Das gute Verhältnis zum Imperium Romanum hat auch nach dem Tod des Anastasios zunächst fortbestanden, denn Kaiser Justin hat Eutharich, den destinierten Thronerben Theoderichs, nicht bloß als Kollegen im Konsulat akzeptiert (519), sondern sogar als Waffensohn adoptiert.191 Es war am Ende Theoderich, der den Kaiser herausforderte, indem er Justin um die Rücknahme der gegen die „Arianer“ des Ostens gerichteten Maßnahmen ersuchte. VI. RESÜMEE Odovakar hat nicht bloß den letzten römischen Kaiser in Pension geschickt, sondern auch das weströmische Kaisertum abschaffen wollen und schließlich auch tatsächlich abgeschafft. Diese Entscheidung impliziert den bewusst vollzogenen Bruch mit einer Tradition, die immerhin mehr als einhundert Jahre alt war. Nichts deutet indessen darauf hin, dass Odovakar diesen Schritt von langer Hand geplant hätte. Er bekam durch eine Entwicklung, die er selbst nicht steuern konnte, unverhofft die Chance, die faktische Herrschaft in Italien zu übernehmen, und er ergriff sie. Dass das Kaisertum in Italien durch ein barbarisches Königtum ersetzt wurde, lag nicht in seiner Absicht, sondern ergab sich daraus, dass der Kaiser nicht bereit Mathisen, „Qui genus, unde patres?“ The Case of Arcadius Placidus Magnus Felix, in: Medieval Prosopography 24, 2003, 55–71. 189 Zur Formel vgl. Werner Suerbaum, Vom antiken zum frühmittelalterlichen Staatsbegriff. Über Verwendung und Bedeutung von Res Publica, Regnum, Imperium und Status von Cicero bis Jordanis. 3., erweiterte Aufl. Münster 1977, 247–267, bes. 248–252, der freilich ihre handlungsleitende Verbindlichkeit überschätzt. 190 Coll. Avell. 113, § 3–4. Der Senat griff die Wendung in seinem Antwortschreiben an den Kaiser auf: Coll. Avell. 114, § 7: „ut animo quam benigno in utraque re publica concordanda fuisti (sc. Anastasius)“. Zum Kontext vgl. Caspar, Papsttum II (wie Anm. 27), 141f.; Schwartz, Schisma (wie Anm. 136), 253f.; Richards, Popes (wie Anm. 117), 102f.; Meier, Anastasios I. (wie Anm. 117), 317f. Dass Anastasios mit diesem Schreiben versuchte, den Senat gegen Papst Hormisdas zu instrumentalisieren, ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. 191 Cass. Var. 8, 1, 3 mit Dietrich Claude, Zur Begründung familiärer Beziehungen zwischen dem Kaiser und barbarischen Herrschern, in: Evangelos Chrysos/Andreas Schwarcz (Hrsgg.), Das Reich und die Barbaren. Wien/Köln 1989, 25–56, hier: 28–31.
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war, ihn mit der Herrschaft über Italien formell zu beauftragen. Odovakar verdankte die Herrschaft einem bunt zusammengewürfelten Heer, das er nur dadurch an sich binden konnte, dass er seine Forderung nach Landverteilung erfüllte. Die zivilen Eliten gewann er, indem er ihre privilegierte Stellung garantierte, den zivilen Staatsapparat in vollem Umfang aufrecht erhielt und auf eine Einmischung in Belange des römischen Bistums weitgehend verzichtete. Wegen der fehlenden Anerkennung durch den Kaiser blieb ihre Loyalität jedoch an die Bedingung geknüpft, dass dieser seine Rechte nicht selbst ausüben konnte. Theoderich hat das Institutionengefüge, das Odovakar ihm hinterlassen hatte, übernommen, ihm aber eine eigene, nur für seine gotischen Untertanen zuständige administrative Struktur an die Seite gestellt. Im Gegensatz zu Odovakar konstruierte er sein Königtum als Herrschaft über zwei Völker. Diese Konstruktion lässt sich nicht auf die Absprachen zurückführen, die Theoderich vor seinem Aufbruch mit Kaiser Zenon getroffen hatte, sondern muss als seine originäre Leistung begriffen werden. Aus ihr resultierte eine neue Qualität des Königtums, das nunmehr auf zwei Säulen ruhte. Theoderich konnte je nach Situation die eine oder die andere Seite seines Königtums betonen, nicht nur im Innern, sondern auch nach außen. Dass Theoderich im diplomatischen Verkehr mit gentilen Herrschern die gotische Seite seines Königtums hervorkehrte, beweist die Korrespondenz, die er im Jahre 507 zur Abwendung des bevorstehenden fränkisch-westgotischen Krieges geführt hat.192 Wie Odovakar suchte und gewann Theoderich die Kooperation der Senatoren. Dabei war die Ausgangslage für ihn erheblich günstiger, weil er mit einem kaiserlichen Mandat nach Italien kam. Zudem hatte der fast vierjährige, verheerende Krieg, in welchem Theoderich die Macht errungen hatte, die Senatoren gelehrt, wie leicht Italien eine Beute barbarischer Invasoren werden konnte, wenn ein starker Herrscher fehlte. Da Theoderich jedoch über 30 Jahre regierte und in dieser langen Zeit bedeutende außenpolitische Erfolge erzielte, die ihm großes Prestige einbrachten und auch neue Einnahmequellen erschlossen, konnte er es sich in späteren Jahren erlauben, stärkeren Einfluss auf die Zusammensetzung des Senatorenstandes zu nehmen, indem er homines novi mit illustren Ämtern betraute. Vor allem die Eroberung der Provence im Jahre 508193 und die wenig später herbeigeführte Union mit dem Westgotenreich in Spanien194 hat den finanziellen 192 Cass. Var. 3, 1–4 mit Dietrich Claude, Universale und partikulare Züge in der Politik Theoderichs des Großen, in: Francia 6, 1978, 19–58. 193 Vgl. dazu z.B. Schmidt, Ostgermanen (wie Anm. 16), 154–158; Justin Favrod, Histoire politique du royaume burgonde. Lausanne 1997, 386–406; Reinhold Kaiser, Die Burgunder. Stuttgart 2004, 64–66; Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt. München 2011, 223–234. 194 Proc. BG 1, 12, 43–54; Jord. Get. 302; Chron. Caesaraug. s.a. 507–513 (Chron. Min. II, 223); Chron. Gall. a. 511 nr. 688–691 (Chron. Min. I, 665f.); Isid. Hist. Goth. 37–39 (Chron. Min. II, 282f.); Lat. reg. Visigoth. 16–18 (Chron. Min. III, 465); Cass. Var. 5, 35; 5, 39. Zur Integration Hispaniens ins Reich Theoderichs vgl. Pablo C. Diaz/Rosario Valverde, Goths Confronting Goths: Ostrogothic political relations in Hispania, in: Sam J. Barnish/Federico
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Handlungsspielraum Theoderichs beträchtlich vergrößert. Da der König über die Steuereinnahmen aus diesen Gebieten verfügte und den westgotischen Königsschatz nach Italien überführen ließ, konnte er es sich leisten, seine Krieger durch jährliche Zahlungen noch fester an sich zu binden.195 Odovakar hingegen konnte in seiner 16jährigen Herrschaft nur wenige Siege und keinerlei Eroberungen vorweisen. Theoderich herrschte nicht nur mehr als doppelt so lang, er war vor allem viel erfolgreicher als sein Vorgänger. Wie Odovakar hat auch Theoderich es zunächst vermieden, sich in Angelegenheiten der römisch-katholischen Kirche einzumischen. Im Laufe seiner langen Regierung ist er von dieser Linie jedoch wiederholt und zuletzt massiv abgewichen. Dieses Eingreifen war zunächst durch die Betroffenen selbst veranlasst. Theoderich wurde nach der Doppelwahl von 498 als Schiedsrichter angerufen und entschied für Symmachus; drei Jahre später berief er auf Bitten der Gegner des Symmachus eine Synode ein, die über den Papst zu Gericht sitzen sollte. Er weigerte sich jedoch, das Urteil der Synode, die zugunsten des Symmachus entschied, zu vollstrecken, ja er gestattete dem „Gegenpapst“ Laurentius die Rückkehr nach Rom und führte damit ein Schisma herbei, das von gewaltsamen Unruhen begleitet war, die volle vier Jahre andauerten. Kurz vor seinem Tode provozierte Theoderich jedoch einen schweren Konflikt mit der römisch-katholischen Kirche Italiens, indem er Papst Johannes I. beauftragte, sich bei Kaiser Justin für die „Arianer“ des Ostens einzusetzen. Nach Johannes’ Rückkehr und Tod bestimmte er gegen den Willen des römischen Senats dessen Nachfolger und beanspruchte damit eine Oberaufsicht über das römische Bistum. Die Wendung zu einer konfrontativen Politik gegenüber der römischkatholischen Kirche Italiens ist nicht die einzige Maßnahme, die erkennen lässt, dass sich der König in seinen letzten Jahren nicht mehr an die Konzepte der Konsolidierungsphase gebunden fühlte. Vielmehr zeigen sein Verhalten im BoethiusProzess und die darauf folgende Hinrichtung des Symmachus, dass Theoderich damals nicht mehr gewillt war, die Privilegien der Senatoren in vollem Umfang zu respektieren. Mit diesen Todesurteilen gegen hochrangige Senatoren wurde die zweite Säule des gotisch-römischen Kompromisses in Frage gestellt. Dieses Abweichen von den auf Kooperation zielenden Maximen, die Theoderichs Politik bis in die frühen 520er Jahre bestimmt hatten, ist vor dem Hintergrund eines steigenden innen- und außenpolitischen Problemdrucks zu deuten, den der König nicht mehr zu bewältigen vermochte. Im Vandalenreich schlug König Hilderich 523 eine anti-gotische und prorömische Politik ein; Theoderichs Schwester Amalafrida, die Witwe König Thrasamunds, wurde in Haft genommen.196 In Spanien führte Theudis als Statthalter Marazzi (Hrsgg.), The Ostrogoths from the Migration Period to the Sixth Century: an Ethnographic Perspective. San Marino 2007, 353–376 (vgl. auch die Diskussion auf 376–386). 195 Proc. BG 5, 12, 49; vgl. 5, 13, 71f.; dazu Matthias Hardt, Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend. (Europa im Mittelalter. Abhandlungen zur historischen Komparatistik 6.) Berlin 2004, 32–37. 196 Vgl. dazu etwa Schmidt, Vandalen (wie Anm. 24), 117–120; Courtois, Vandales (wie Anm. 24), 267–269; Hans-Joachim Diesner, Die Auswirkungen der Religionspolitik Thrasamunds
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des Königs ein eigenmächtiges Regiment.197 Im Inneren warf der frühe Tod Eutharichs alle Planungen Theoderichs über den Haufen. Die Frage, wer dem betagten König einmal nachfolgen solle, war plötzlich erneut offen.198 Auch die Möglichkeit, dass Italien nach dem Tode Theoderichs an den Kaiser zurückfalle, stand nun wieder im Raum. Boethius behauptet, der König habe bei den Verhandlungen, die dem Prozess gegen den Philosophen vorhergingen, den gesamten Senat der Illoyalität (maiestas) bezichtigt; das deutet auf ein gestörtes Vertrauensverhältnis hin.199 Im Falle der Fortsetzung des gotischen Königtums in Italien war keineswegs ausgemacht, dass Theoderichs Nachfolger ein Amaler sein musste, zumal dieser sich nicht entschließen konnte, einen seiner beiden Neffen zum Nachfolger zu designieren, obwohl zumindest der eine – Amalarich, der Sohn Alarichs II. und der Theodegotha – im Jahre 523 nach gotischen Vorstellungen alt genug war, um selbst zu regieren, während Athalarich, der Sohn Eutharichs und der Amalaswintha, damals erst fünf oder sieben Jahre zählte.200 Die Entscheidung für Athalarich fiel offenbar erst wenige Wochen oder Tage vor dem Tod Theoderichs am 30. August 526. Dass sie vom gotischen Adel akzeptiert wurde, war nicht zuletzt dem erfolgreichen Heerführer Tuluin zu verdanken, der darauf verzichtete, eigene Ansprüche zu erheben, und sich auf die Seite des Enkels Theoderichs stellte. Die neue Regierung verpflichtete sich öffentlich auf die Prinzipien, die Theoderich über Jahrzehnte befolgt, aber am Ende seines Lebens missachtet hatte.201 Über die Konflikte der letzten Jahre ging man dabei stillschweigend hinweg. Cassiodor legte Theoderich in seiner vor 533 publizierten „Gotengeschichte“ als letzten Willen in den Mund, die Goten sollten ihren König ehren, den Senat und das römische Volk lieben und sich den Herrscher des Ostens immer nächst Gott als gnädigen Freund bewahren.202
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und Hilderichs auf Ostgoten und Byzantiner. (SAW. Sbb. d. phil.-hist. Kl. 113, 3.) Berlin-Ost 1967, 18–23. Proc. BG 5, 12, 51–54. Das Todesdatum ist nicht überliefert, muss aber vor dem Boethius-Prozess liegen. Boeth. Cons. 1, 4, 21; 32: „Veronae cum rex avidus exitii communis maiestatis crimen in Albinum delatae ad cunctum senatus ordinem transferre moliretur.“ Jord. Get. 304 setzt Athalarichs Geburt ins Jahr 516; Proc. BG 5, 2, 1 und Jord. Rom. 367 datieren sie dagegen auf 518. Amalarich muss vor dem Tod seines Vaters im Jahre 507 geboren sein. Cass. Var. 8, 1–15. Mit der Nachfolgekrise werde ich mich an anderer Stelle ausführlich beschäftigen. Vgl. einstweilen die knappe, aber scharfsinnige Analyse bei Peter J. Heather, Theoderic, King of the Goths, in: Early Medieval History 4, 1995, 145–173, hier: 167–172. Tuluin wurde mit dem Rang eines patricius praesentalis belohnt: Cass. Var. 8, 9–11. Jord. Get. 304: „convocans Gothos comites gentisque suae primates, Athalaricum infantulum adhuc vix decennem … regem constituit, eisque in mandatis ac si testamentali voce denuntians ut regem colerent, senatum populumque Romanum amarent principemque Orientalem placatum semper propitiumque haberent post deum“. Einen terminus ante quem für die Veröffentlichung der „Gotengeschichte“ liefert Cass. Var. 9, 25.
NORDWESTGALLIEN UM 500 VON DER MILITARISIERTEN SPÄTRÖMISCHEN PROVINZGESELLSCHAFT ZUR ERWEITERTEN MILITÄRADMINISTRATION DES MEROWINGISCHEN KÖNIGTUMS Stefan Esders Ein unbefangener Betrachter der politischen Landkarte Galliens um das Jahr 500 hätte sich schon ein wenig in die Zeit Caesars zurückversetzt fühlen können: Ganz Gallien schien in drei Teile aufgeteilt zu sein, deren ersten die Wisigoten bewohnten, den zweiten die Burgunder und den dritten schließlich diejenigen, die in lateinischer Sprache Barbaren oder Germanen, in ihrer eigenen dagegen Franken genannt wurden. Und, damit nicht genug, unterschieden sich die drei Völker auch noch nach Sprache, Gebräuchen und Recht erheblich untereinander, wie bereits ein flüchtiger Blick auf Codex Euricianus, Liber constitutionum und Lex Salica lehren konnte. Und von diesen allen schienen die Franken die Tapfersten zu sein, weil sie nicht nur von den Segnungen der römischen Provinzkultur am weitesten entfernt schienen, sondern auch vom Fernhandel, der ihre Entartung beschleunigt hätte, während sie am Rhein fortwährend vorzugsweise mit Alemannen und anderen Franken Krieg führten. Eine gentilizische Sicht, wonach Gallien von Völkern beherrscht worden sei, mochte um 500 oberflächlich betrachtet wieder angesagt sein, doch wäre nichts verkehrter als die Annahme, dass sich nunmehr ‚Völker‘ die Herrschaft in Gallien gleichsam zurückgeholt hätten. Die um 500 feststellbaren Veränderungen in der politischen Nomenklatur führen ins Herz jenes Prozesses, den Walter Pohl als die „ethnische Wende des Frühmittelalters“ bezeichnet und in seinem Voraussetzungsreichtum und seiner Vielschichtigkeit eingehend analysiert hat.1 Erfolg und Nachhaltigkeit der auf ethnischer Denomination neu formierten Reiche sind demzufolge nur erklärlich, wenn man ihre Genese aus dem Milieu des spätrömischen Heeres und ihre Synthese mit provinzialrömischen Gesellschaften nachvollzieht, denn beides verlieh ihnen ein unverzichtbares institutionelles Substrat. Vor allem das spätrömische Militär war aufgrund seiner Zusammensetzung und der Benennung seiner Kampfverbände auch eine große „Ethnisierungsmaschine“.2 Vor die1 2
Walter Pohl, Die ethnische Wende des Frühmittelalters und ihre Auswirkungen auf Ostmitteleuropa. (Oskar-Halecki-Vorlesung – Jahresvorlesung des Geisteswissenschaftlichen Zentrums Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas 2006.) Leipzig 2008. Guy Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568. Cambridge 2007, 35–62; 455–498.
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sem Hintergrund war die Etablierung der fränkischen Monarchie in Gallien weder eine bloße ‚Landnahme‘3 noch einfach die Übernahme der Zivilgewalt durch eine Militärmacht, die längst von römischer Seite anerkannt war.4 Ein allzu leichtfertiges Postulieren von ‚Kontinuitäten‘ würde zudem verdecken, dass sich in dem halben Jahrhundert zwischen ca. 460 und 510 in Gallien nicht nur die politische Landkarte, sondern auch die Legitimitätskonstruktion politischer Herrschaft und die über mehrere Ebenen erfolgende Umsetzung politischer Entscheidungen grundlegend veränderten. Betrachtet man die Genese des merowingischen Königtums und die Etablierung seiner Herrschaft im früheren 6. Jahrhundert, so lässt allein schon dessen geographische Expansion von Toxandrien über die spätere Francia ins nordwestliche Gallien, nach Osten zum Rhein und in die Mosellande sowie nach Süden zur Integration Aquitaniens, Burgunds und der Provence erahnen, dass die politische, kulturelle, rechtliche und soziale Verschiedenheit dieser Regionen sich fundamental auf das Bemühen des Königtums auswirken musste, vor Ort Anerkennung zu finden, um das mit militärischer Gewalt Errungene dauerhaft zu behaupten.5 Im vorliegenden Beitrag soll mit dem nordwestlichen Gallien ein Großraum im Mittelpunkt stehen, der gegenüber den anderen Regionen Galliens und Germaniens seit spätrömischer Zeit ein durchaus eigenes Gepräge besaß. Während die südlichen Gebiete Galliens, vor allem Aquitanien und das spätere Burgund, durch den fortwirkenden Einfluss senatorischer Führungsschichten in weltlichen und kirchlichen Ämtern bestimmt waren6, lässt sich etwas Vergleichbares für den Norden nicht konstatieren. Überdies war die Entwicklung im nördlichen Gallien weitaus stärker von verteidigungspolitischen Erfordernissen geprägt.7 Vor diesem Hintergrund sollen im Folgenden die militärischen Strukturen im nördlichen und nordwestlichen Gallien, die unter Chlodwig relativ gut zu 3 4 5
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Zur Problematik des Begriffs vgl. Reinhold Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich. (Enzyklopädie deutscher Geschichte 26.) 3. Aufl. München 2004, 100f.; 106f. So Karl Ferdinand Werner, Die Ursprünge Frankreichs bis zum Jahr 1000. (Geschichte Frankreichs 1.) Stuttgart 1989 (zuerst frz. 1984), 303. Für Aquitanien vgl. Michel Rouche, L’Aquitaine des Wisigoths aux Arabes (418–781). Essai sur le phénomène régional. 2 Bde. Lille 1977; für Burgund vgl. Stefan Esders, Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum. Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6. und 7. Jahrhundert. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 134.) Göttingen 1997. Karl Friedrich Stroheker, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien. Tübingen 1948; Martin Heinzelmann, Bischofsherrschaft in Gallien. Zur Kontinuität römischer Führungsschichten vom 4. bis zum 7. Jahrhundert: Soziale, prosopographische und bildungsgeschichtliche Aspekte. (Beihefte der Francia 5.) München 1976; differenzierend für den Episkopat jetzt Steffen Patzold, Zur Sozialstruktur des Episkopats und zur Ausbildung bischöflicher Herrschaft in Gallien zwischen Spätantike und Frühmittelalter, in: Matthias Becher/Stefanie Dick (Hrsgg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter. (MittelalterStudien 22.) München 2010, 121–140. Eine moderne Gesamtdarstellung der Geschichte Galliens im 5. Jh. fehlt. Vgl. überblicksweise Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West (wie Anm. 2), 220–262; 300–319; 346–356.
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fassen sind, in eine längerfristige Entwicklungsperspektive eingebettet werden.8 An deren Ende steht die fränkische politische Raumordnung, auf deren Grundlage sich ein Gebiet verfestigte9, welches seit dem 7. Jahrhundert als „Neu-Westreich“ (Neustria) bezeichnet wurde.10 I. DIE MILITARISIERUNG DER GALLISCHEN GESELLSCHAFT IN SPÄTRÖMISCHER ZEIT Zum Kriegsdienst sind sie in jeder Altersstufe sehr geeignet, und gleich beherzt zieht der Greis in den Kampf wie der Jüngling. Denn ihre Glieder sind durch Frost und fleißige Arbeit abgehärtet, und sie verachten vieles, was sonst Furcht erregt. Bei ihnen schneidet sich niemand aus Furcht vor dem Kriegsdienst den Daumen ab wie in Italien, wo man solche Leute in manchen Gegenden ‚Verstümmelte‘ nennt.11
Auch wenn es manchem auf den ersten Blick anders klingen mag: Weder handelt es sich um Tacitus, dem wir diese Beschreibung verdanken, noch ist hier von Germanen die Rede. Ammianus Marcellinus, aus dessen „Römischer Geschichte“ der Passus stammt, legte im späteren 4. Jahrhundert großen Wert darauf, „Gallien“ und seine Bewohner im Kontrast zur Bevölkerung Italiens darzustellen. Trotz ihrer groben, eigentlich auf Italien verweisenden Zuspitzung verweist Ammians Aussage auf eine Besonderheit der gallischen im Vergleich mit anderen spätrömischen Provinzen, die auch zu den Voraussetzungen der 100 Jahre später erfolgten fränkischen Reichsbildung gehört, nämlich die tiefgreifende Militarisierung der gallischen Gesellschaft seit dem späteren 4. Jahrhundert. Unmittelbar sichtbar wird sie im 5. Jahrhundert an der hohen Usurpationsrate12, an der wiederholten Ansiedlung von Föderaten und Laeten13, am Wirken der gallischen Heermeister14, 8 9 10 11
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Vgl. in dieser Perspektivierung neuerdings Laury Sarti, Perceiving War and the Military in Early Christian Gaul (ca. 400–700 A.D.). (Brill’s Series on the Early Middle Ages 22.) Leiden 2013. Zur weiteren Entwicklung vgl. Jean-Pierre Brunterc’h, Le duché du Maine et la marche de Bretagne, in: Atsma (Hrsg.), La Neustrie (wie Anm. 10), Bd. 1, 29–127. Hartmut Atsma (Hrsg.), La Neustrie. Les pays du nord de la Loire de 650 à 850. (Beihefte der Francia 16.) 2 Bde. Sigmaringen 1989; zusammenfassend Bernd Schneidmüller, Neustrien, in: LexMA 6, 1993, 1110f. Amm. XV, 12, 3: „Ad militandum omnis aetas aptissima et pari pectoris robore senex ad procinctum ducitur et adultus gelu duratis artubus et labore assiduo multa contempturus et formidanda. Nec eorum aliquando quisquam ut in Italia munus Martium pertimescens pollicem sibi praecidit, quos localiter murcos appellant“ (Ammianus Marcellinus, Historia Romana, ed. Wolfgang Seyfarth, Römische Geschichte. 4 Bde. Darmstadt 1968–1971, hier Bd. 1, 150; die dt. Übers. ebd. 151). François Paschoud/Joachim Szidat (Hrsgg.), Usurpationen in der Spätantike. (Historia Einzelschriften 111.) Stuttgart 1997. Vgl. dazu, mit z.T. völlig unterschiedlichen Erklärungsansätzen Bernard S. Bachrach, The Alans in Gaul, in: Traditio 23, 1967, 476–489; ders., Another Look at the Barbarian Settlement in Southern Gaul, ebd. 25, 1969, 354–358; Rigobert Günther, Germanische Laeten, Foederaten und Gentile im nördlichen und nordöstlichen Gallien in der Spätantike, in: Heinz Grünert (Hrsg.), Römer und Germanen in Mitteleuropa. Berlin 1975, 225–234; Edward
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an der Befestigung städtischer und ländlicher Siedlungen15 und schließlich am kriegerischen Auseinanderdriften regionaler Herrschaften nach der Ermordung des Aetius und seines kaiserlichen Herrn, Valentinians III. (454/55).16 Ammians Lob der Gallier und seine Kritik an den degenerierten, vom Mut verlassenen Bewohnern Italiens lässt als konkreten militärischen Hintergrund vor allem den Rekrutenmangel erkennen, der schon in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts unübersehbar geworden war. Seit dieser Zeit mehren sich die Indizien dafür, dass das römische Heer in ständig wachsendem Maße durch flächenmäßig organisierte Aushebungen unter Wehrpflichtigen ergänzt werden musste. Die Dringlichkeit des Rekrutierungsproblems wird bereits daran erkennbar, dass in strikter Abkehr von der Praxis der früheren Kaiserzeit seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert auch die Bewohner der Domänen und übrigen Fiskalgüter als militärdienstpflichtig behandelt wurden.17 Doch die Maßnahmen gingen weit darüber hinaus. Unter Androhung drakonischer Strafen untersagten kaiserliche Erlasse wiederholt, sich selbst, seine Kinder oder seine Abhängigen wehruntauglich zu machen, indem man sie verstümmelte (etwa durch Abhauen des Daumens):18 Hochverrätern gleich sollte, wer so etwas wagte, dafür bei lebendigem Leibe verbrannt werden.19 Im Jahr 381 wurde Grundbesitzern in den Provinzen sogar eingeräumt, anstelle eines gesunden Rekruten zwei verstümmelte zu präsentieren.20 Auf diese Zusammenhänge scheint sich Ammian bezogen zu haben, als er betonte, dass man in Gallien Wehrfähigkeit und Militärdienst schätzte und sich nicht den Daumen abschlug. Zugleich verweist dies auf eine tiefer liegende Problematik, deren Bedeutung für Gallien uns die im 7. Buch des theodosianischen Codex unter dem Titel De tironibus versammelten, z.T. schon angesprochenen Rekrutie-
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Arthur Thompson, Romans and Barbarians. The Decline of the Western Empire. London 1982, 23–37. Eine nach wie vor nützliche Belegsammlung zur Ansiedlung von Barbaren im römischen Imperium bietet Geoffrey E.M. de Ste. Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World from the Archaic Age to the Arab Conquests. London 1981, 509–518. Timo Stickler, Aetius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich. (Vestigia 54.) München 2002. Harald von Petrikovits, Fortifications in the North-Western Roman Empire from the Third to the Fifth Centuries A.D., in: JRS 61, 1971, 178–218. Hugh Elton, Defence in Fifth-Century Gaul, in: John Drinkwater/Hugh Elton (Hrsgg.), FifthCentury Gaul: A Crisis of Identity? Cambridge 1992, 167–176; Dirk Henning, Periclitans res publica. Kaisertum und Eliten in der Krise des Weströmischen Reiches 454/5–493 n. Chr. (Historia Einzelschriften 133.) Stuttgart 1999. CTh VII, 13 (De tironibus), 12 (vom Jahr 397), edd. Theodor Mommsen/Paul M. Meyer, Theodosiani libri XVI cum Constitutionibus Sirmondianis et Leges Novellae ad Theodosianum pertinentes, Bd. 1/2. Berlin 1905, ND Berlin 1954, 339. Dazu mit Belegen Lothar Wierschowski, Kriegsdienstverweigerung im römischen Reich, in: Ancient Society 26, 1995, 205–239, hier 221–226. Vgl. CTh VII, 13 (De tironibus), 5 (um 370): Theodosiani libri, Bd. 1/2 (wie Anm. 17), 336. Zur Behandlung dieses Delikts als Majestätsverbrechen vgl. Wierschowski, Kriegsdienstverweigerung im römischen Reich (wie Anm. 18), 225, Anm. 74. Vgl. CTh VII, 13 (De tironibus), 10 (vom Jahr 381): Theodosiani libri, Bd. 1/2 (wie Anm. 17), 338.
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rungsgesetze zumindest erahnen lassen.21 Kaiser Valens (364–375) hatte in einem – zunächst für den Osten des Reiches bestimmten, dann aber auch im Westen praktizierten – Gesetz bestimmen lassen, dass die Rekrutenaushebung mit dem Modus der Steuererhebung korreliert werden sollte. Wenn in einer bestimmten Provinz Rekruten ausgehoben werden sollten, dann hatte dies auf der Grundlage der Grundsteuer (iugatio) zu geschehen; in denjenigen Provinzen, in denen man zeitgleich keine Rekruten aushob, sollte stattdessen eine Wehrersatzabgabe erhoben werden, das aurum tironicum, dessen Erhebung freilich auf der Veranlagung zur Kopfsteuer, der capitatio, basieren sollte.22 Die beiden wichtigsten Grundeinheiten des spätrömischen Steuersystems, das caput und das iugum, wurden dafür direkt miteinander korreliert, um mit dieser Finanzierungsmethode den Rekrutennachschub des Militärs reichsweit zu organisieren und zu kompensieren. Das zweigleisige Modell, entweder wehrpflichtige Rekruten oder das aurum tironicum zu verlangen, mochte auf den ersten Blick flexibel und gerecht erscheinen, doch lief es letztlich darauf hinaus, dass in manchen Gebieten regelmäßig das Modell der Rekrutierung und in anderen Gegenden durchgängig der Einzug von Wehrersatzabgaben praktiziert wurde.23 Auch Ammian wies auf diesen Aspekt hin, als er den römischen Kaiser Valens anlässlich der von ihm lancierten Ansiedlung der Goten in Thrakien dafür kritisierte, er habe die Goten nur ansiedeln lassen, um sie als Soldaten zu verpflichten und dafür im Gegenzug von den Römern das Rekrutengold abzukassieren.24 Schon ein Gesetz des Jahres 370 unterschied provinciae, a quibus corpora flagitantur, von solchen, in quibus pretia postulantur.25 Dieser Zusammenhang zwischen Rekrutenaushebung und Militäransiedlung von Laeten, Föderaten und Grenztruppen (limitanei) auf der einen und dem römischen Steuersystem auf der anderen Seite sollte sich gerade für Gallien als äußerst folgenreich erweisen. Faktisch führte dieses Verfahren nämlich, wie Ammian 21 CTh VII, 13 (De tironibus): Theodosiani libri, Bd. 1/2 (wie Anm. 17), 335–341. 22 CTh VII, 13 (De tironibus), 7 (vom Jahr 375): Theodosiani libri, Bd. 1/2 (wie Anm. 17), 337f.; dazu Constantin Zuckerman, Two Reforms of the 370s: Recruiting Soldiers and Senators in the Divided Empire, in: REB 56, 1998, 79–139; Noel Lenski, Failure of Empire. Valens and the Roman State in the Fourth Century A.D. Berkeley u.a. 2002, 313–320; Stefan Esders, „Öffentliche“ Abgaben und Leistungen im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter: Konzeptionen und Befunde, in: Theo Kölzer/Rudolf Schieffer (Hrsgg.), Von der Spätantike zum frühen Mittelalter: Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde. (Vorträge und Forschungen 70.) Ostfildern 2009, 189–244, hier 207–210. 23 Vgl. Arnold Hugh Martin Jones, The Later Roman Empire, 284–602. A Social, Economic, and Administrative Survey. Oxford 1964, 615. 24 Amm. XXXI, 4, 4: Ammianus Marcellinus, Historia Romana (wie Anm. 11), Bd. 4, 254; vgl. dazu auch Zuckerman, Two Reforms (wie Anm. 22), 113, sowie Lenski, Failure of Empire (wie Anm. 22), 318f. 25 CTh VII, 13 (De tironibus), 2 (um das Jahr 370): Theodosiani libri, Bd. 1/2 (wie Anm. 17), 336. Die anfangs zitierte Kritik hat Ammian nur in andere Worte gekleidet, als er darauf hinwies, dass viele Provinzbewohner lieber Geld als ihren eigenen Körper gäben, vgl. Amm. XIX, 11, 7: Ammianus Marcellinus, Historia Romana (wie Anm. 11), Bd. 2, 72; dazu bereits Albert Müller, Militaria aus Ammianus Marcellinus, in: Philologus 64, 1905, 573–632, hier 629.
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schon zu ahnen schien, in einen gefährlichen Teufelskreis, demzufolge der römische Staat Steuereinkünfte aus den zentralen Gebieten dazu verwandte, um an der Peripherie Rekruten auszuheben.26 Für die gallischen Provinzen, die als bevorzugte Aushebungsregionen galten, bedeutete dies zwar das Einfließen hoher Einkünfte in Form von Steuergeldern, die in anderen Provinzen erhoben worden waren und nun in den wachsenden militärischen Apparat flossen. Entgegen der Praxis der früheren Kaiserzeit, als Soldaten nicht an ihrem Aushebungsort eingesetzt, sondern im Rahmen der reichsweit operierenden Funktionselite des römischen Heeres bewusst ortsfremd eingesetzt wurden, wurde damit jedoch tendenziell das militärische Spannungsgebiet zum Ort der Truppenaushebung, wodurch sich das Gravitationszentrum politisch-militärischer Macht in diese Regionen verschob und die angesprochene Militarisierung der Provinzkultur Galliens zusätzlich verschärfte.27 Die zahlreichen Konflikte und Usurpationen im Gallien des 5. Jahrhunderts sind nicht zuletzt vor diesem Hintergrund zu sehen. Brent Shaw hat diese Tendenz prägnant zusammengefasst: Given the demographic resources and modes of social organization along this frontier, the massive militarization of this periphery by the Roman state only contributed to its final destabilization. The prolonged internal or civil wars of the empire drew in one ethnic group after another – a process which finally led to the disintegration of the part of the Roman state that directly faced its frontier. The vortices of internal conflict within the northern war zone, as well as their relationship to conflicts within the central state, compelled the fragmentation of the basic operational units of war into smaller regional units. The end of the process was marked by the emergence of independent local warlords of the type perhaps best attested for 5th and 6th century Gaul.28
II. DIE INTEGRATION DER IN NORDWESTGALLIEN STATIONIERTEN RÖMISCHEN TRUPPEN UM 500 Die fränkische Reichsgründung lässt sich so betrachtet auch als der erfolgreiche Versuch verstehen, die militarisierten Provinzgebiete des nördlichen Gallien unter die Kontrolle einer militärisch konstituierten Monarchie zu bringen. Unter wel26 Amm. XXXI, 4, 4: Ammianus Marcellinus, Historia Romana (wie Anm. 11), Bd. 4, 254. 27 Vgl. Dietrich Hoffmann, Die Gallienarmee und der Grenzschutz am Rhein in der Spätantike, in: Nassauische Annalen 84, 1973, 1–18, hier 11, der die Angaben Ammians mit den der Notitia dignitatum zu entnehmenden Angaben zur Rekrutierung von Truppen in Gallien und zu deren nachfolgender Stationierung am Rhein abgleicht. 28 Brent D. Shaw, War and Violence, in: Glenn W. Bowersock/Peter Brown/Oleg Grabar (Hrsgg.), Late Antiquity. A Guide to the Postclassical World. Cambridge (MA) u.a. 1999, 130–169, hier 162. Zum Prozess der Militarisierung vgl. auch Edward James, The Militarization of Roman Society, 400–700, in: Anne Nørgård Jørgensen/Birthe L. Clausen (Hrsgg.), Military Aspects of Scandinavian Society in a European Perspective, AD 1–1300. Kopenhagen 1997, 19–24, und demnächst Laury Sarti, Die spätantike Militärpräsenz und die nordwesteuropäische Grenzgesellschaft, in: Christoph Rass (Hrsg.), Krieg, Militär und Mobilität von der Antike bis in die Gegenwart. Studien zur Historischen Migrationsforschung. Paderborn 2013 (im Druck).
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chen Bedingungen nun konnte Chlodwig die römischen Strukturen, die er in den seinem Reich zugeschlagenen Gebieten vorfand, sinnvoll in seine Herrschaft integrieren, nachdem diese von ihrer Einbindung in reichsweit operierende Zusammenhänge gleichsam entkoppelt worden waren? In seinem Exkurs zur Geschichte Galliens um 500 gibt der oströmische Geschichtsschreiber Prokop einen interessanten Bericht über das Schicksal der in Nordwestgallien verbliebenen römischen Truppen, der schon verschiedentlich das Interesse der Forschung beansprucht hat: Gallien ist, wie zu erwarten, viel breiter als Hispanien, da sich ja Europa, ursprünglich schmal, je weiter umso riesenhafter ausdehnt. Dieses Land wird auf zwei Seiten vom Meer begrenzt, im Norden vom Ozean, im Süden vom Tyrrhenischen Meer. Gallien wird neben anderen Strömen auch von Rhone und Rhein durchflossen. Ihre Richtung ist entgegengesetzt: Die Rhone ergießt sich in das Tyrrhenische Meer, der Rhein in den Ozean. Dort gibt es viele Sümpfe, wo ehedem die Germanen wohnten, ein Barbarenvolk, das ursprünglich keine bedeutende Rolle spielte, heutzutage aber den Namen Franken trägt. An sie grenzten die Arborycher an, die samt dem übrigen Gallien und auch Hispanien früher römische Untertanen waren. Östlich von ihnen siedelte der Barbarenstamm der Thüringer, die vom ersten Kaiser Augustus ihr Gebiet erhalten hatten. Nicht weit von ihnen in südlicher Richtung saßen die Burgunder, über die Thüringer noch hinaus die volkreichen Stämme der Sueben und Alamannen. Alle diese wohnten dort von Urzeiten her als freie Völker. Im Laufe der Jahre stürzten die Westgoten die römische Herrschaft und brachten ganz Hispanien und Gallien westlich der Rhone als abgabenpflichtige Länder in ihre Gewalt. Die Arborycher standen damals im römischen Heeresdienst. Dieses Volk nun wollten die Germanen, da es ihnen benachbart war und seine alte Verfassung geändert hatte, sich unterwerfen; nach anfänglichen Raubzügen eröffneten sie schließlich mit ihrem ganzen Aufgebot den Krieg. Die Arborycher indessen, welche sich gegenüber den Römern als tüchtig und wohlgesinnt gezeigt hatten, bewährten sich in diesem Krieg als tapfere Männer, und da die Germanen sie nicht bezwingen konnten, trugen sie ihnen schließlich Bündnis und Blutsbrüderschaft an. Die Arborycher gingen gerne darauf ein – beide Völker waren ja Christen –, und so gelangten sie durch Vereinigung zu großer Macht. Es standen noch weitere römische Soldaten zum Schutz in den äußersten Teilen Galliens. Da diese weder die Möglichkeit hatten, nach Rom zurückzukommen, noch sich den Feinden, die Arianer waren, anschließen wollten, ergaben sie sich samt Feldzeichen und dem Lande, das sie seit alters für die Römer bewachten, den Arborychern und Franken. An ihre Nachkommen aber überlieferten sie alle von den Vätern ererbten Sitten, und diese halten auch jetzt noch in Ehrfurcht daran fest. Bis zum heutigen Tag werden sie noch nach den männlichen Stammrollen geführt, nach denen sie einst auszogen, und rücken so mit eigenen Feldzeichen in den Kampf. Sie haben auch immer noch die ererbten Gesetze. Ebenso halten sie an der römischen Tracht in allen Einzelheiten fest, auch was die Fußbekleidung anlangt.29
29 Prok. BG I, 12, 9: „Ῥῆνος δὲ ἐς τὸν ὠκεανὸν τὰς ἐκβολὰς ποιεῖται. λίμναι τε ἐνθαῦτα πολλαί, οὗ δὴ Γερμανοὶ τὸ παλαιὸν ᾤκηντο, βάρβαρον ἔθνος, οὐ πολλοῦ λόγου τὸ κατ’ ἀρχὰς ἄξιον, οἳ νῦν Φράγγοι καλοῦνται. τούτων ἐχόμένοι Ἀρβόρυχοι ᾤκουν, οἳ ξὺν πάσῃ τῇ ἂλλῃ Γαλλίᾳ καὶ Ἱσπανίᾳ Ῥωμαιόων κατήκοοι ἐκ παλαιοῦ ᾐσαν. μετὰ δὲ αὐτοὺς ἐς τὰ πρὸς ἀνίσχοντα ἥλιον Θόριγγοι βάρβαροι, δόντος Αὐγούστου πρώτου βασιλέως, ἱδρύσαντο. καὶ αὐτῶν Βουργουζίωνες οὐ πολλῷ ἄποθεν πρὸς νότον ἄνεμον τετραμμένοι ᾤκουν, Σούαβοί τε ὑπὲρ Θορίγγων καὶ Ἀλαμανοὶ, ἰσχυρὰ ἔθνη. οὗτοι αὐτόνομοι ἅπαντες ταύτῃ τὸ ἀνέκαθεν ἵδρυντο. Προϊόντος δὲ χρόνου Οὐισίγοτθοι τὴν Ῥωμαίων ἀρχὴν βιασάμενοι Ἱσπανίαν τε πᾶσαν καὶ Γαλλίας τὰ ἐκτὸς Ῥοδανοῦ ποταμοῦ κατήκοα σφίσιν ἐς φόρου ἀπαγωγὴν ποιησάμενοι ἔσχον. ὲτύγχανον δὲ Ἀρβόρυχοι τότε Ῥωμαίων στρατιῶται γεγενημένοι. οὓς δὴ Γερμανοὶ κατηκόους
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Die Glaubwürdigkeit von Prokops Bericht, die vor allem Ferdinand Lot bezweifelt hatte30, wird in der jüngeren Forschung recht hoch eingeschätzt – und zwar ungeachtet des tendenziösen Charakters seiner Darstellung, auf den zunächst einzugehen ist.31 Prokop unterscheidet von den Franken, die er als Γερμανοί bezeichnet, einerseits die Arborycher, die einmal Soldaten der Römer (Ῥωμαίων στρατιῶται) gewesen seien, und andererseits „andere Soldaten der Römer zum Schutz in den äußersten Teilen Galliens“ (στρατιῶται δὲ Ῥωμαίων ἕτεροι ἐς Γάλλων τὰς ἐσχατὶας φυλακῆς). Die Arborycher seien Nachbarn der Franken und „samt dem übrigen Gallien und auch Hispanien früher römische Untertanen gewesen“ (τούτων ἐχόμένοι Ἀρβόρυχοι ᾤκουν, οἳ ξὺν πάσῃ τῇ ἂλλῃ Γαλλίᾳ καὶ Ἱσπανίᾳ Ῥωμαιόων κατήκοοι ἐκ παλαιοῦ ᾐσαν). Er lokalisiert sie als westliche Nachbarn der Thüringer, welche ehedem von Kaiser Augustus ihr Siedlungsland erhalten hätten und sich von den autochthonen Völkern der Sueben und Alemannen abgrenzten.32 Historisch sind seine – offenkundig von der Rheingrenze perspektivierten – geographischen Angaben zwar nicht bis ins letzte überprüfbar33,
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σφίσιν ἐθέλοντες ἅτε ὁμόρους ὄντας καὶ πολιτείαν ἣν πάλαι εἶχον μεταβαλόντας, ποιήσασθαι ἐλνίζοντό τε καὶ πανδημεὶ πολεμησείοντες ἐπ’ αὐτοὺς ᾔεσαν. Ἀρβόρυχοι δὲ ἀρετήν τε καὶ εὔνοιαν ἐς Ῥωμαίους ἐνδεικνύμενοι ἄνδρες ἀγαθοἰ ἐν τῷδε τῷ πολέμῳ ἐγένοντο, καὶ ἐπεὶ βιάζεσθαι αὐτοὺς Γερμανοὶ οὐχ οἷοί τε ἧσαν, ἑταιρίζεσθαι τε ἠξίουν καὶ ἀλλήλοις κηδεσταὶ γίνεσθαι. ἃ δὴ Ἀρβόρυχοι οὔτι ἀκούσιοι ἐνεδέχοντο. Χριστιανοὶ γὰρ ἀμφότεροι ὄντες ἐτύγχανον, οὕτω τε ἐς ἕνα λεὼν ξυνελθόντες δυνάμεως ἐπὶ μέγα ἐχώρησαν. καὶ στρατιῶται δὲ Ῥωμαίων ἕτεροι ἐς Γάλλων τὰς ἐσχατὶας φυλακῆς ἕνεκα ἐτετάχατο. οἳ δὴ οὔτε ἐς Ῥώμην ὅπως ἐπανήζουσιν ἔχοντες οὐ μὴν οὔτε προσχωρεῖν Ἀρειανοῖς οὖ τοῖς πολεμίοις βουλόμενοι, σφᾶς τε αὐτοὺς ξὺν τοῖς σημείοις καὶ χώραν ἣν πάλαι Ῥωμαίοις ἐφύλασσον Ἀρβόρυχοις τε καὶ Γερμανοῖς ἔδοσαν, ἔς τε ἀπογόνους τοὺς σφετέρους ξύμπαντα παραπέμψαντες διεσώσαντο τὰ πάτρια ἤθη, ἃ δὴ σεβόμενοι καὶ ὲς ἐμὲ τηρεῖν ἀξιοῦσιν. ἔκ τε γὰρ τῶν καταλόγων ἐς τόδε τοῦ χρόνου δηλοῦνται, ἐς οὓς τὸ παλαιὸν τασσόμενοι ἐστρατεύοντο, καὶ σημεῖα τὰ σφέτερα ἐπαγόμενοι οὕτω δὴ ἐς μάχην καθίστανται, νόμοις τε τοῖς πατρίοις ἐς ἀεὶ χρῶνται. καὶ σχῆμα τῶν Ῥωμαίων ἔν τε τοῖς ἄλλοις ἅπασι κἀν τοῖς ὑποδήμασι διασώζουσιν.“ (Prokop, Bellum Goticum, ed. Otto Veh, Gotenkriege, griechisch-deutsch [= Prokop, Werke II]. München 1966, 94–97). Ferdinand Lot, La conquête du pays d’entre Seine-et-Loire par les Francs. La ligue armoricaine et les destinées du duché du Maine, in: RH 165, 1930, 241–253. Vgl. besonders Bernard S. Bachrach, Procopius and the Chronology of Clovis’s Reign, in: Viator 1, 1970, 21–31; Hans Ditten, Zu Prokops Nachrichten über die deutschen Stämme, in: Byzantinoslavica 36, 1975, 1–14; 184–191. Zur Lokalisierung des Thüringerreichs vgl. Heike Grahn-Hoek, Gab es vor 531 ein linksrheinisches Thüringerreich?, in: Zeitschrift des Vereins für Thüringische Geschichte 55, 2001, 13–55; zu den fränkisch-thüringischen Beziehungen dies., Stamm und Reich der Thüringer nach den frühen Schriftquellen, ebd. 56, 2002, 7–90 (deren ethnische Gleichsetzungen ich allerdings nicht teile). Grahn-Hoeks Auffassung, es habe kein linksrheinisches Thüringerreich gegeben, widerspricht (unter Hinweis auf die von dieser nicht herangezogene Prokopstelle) Wolfram Brandes, Thüringer/Thüringerinnen in byzantinischen Quellen, in: Helmut Castritius/Dieter Geuenich/Matthias Werner (Hrsgg.), Die Frühzeit der Thüringer. Archäologie, Sprache, Geschichte. (RGA Erg.-Bd. 63.) Berlin u.a. 2009, 291–327, hier 300. Vgl. jedoch Ditten, Zu Prokops Nachrichten über die deutschen Stämme (wie Anm. 31), 2f.; 23, der hierin einen Hinweis auf die unter Augustus angesiedelten Hermunduren sieht, worüber Cass. Dio 55, 10a, 2 berichtet.
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aber die damit verbundene Aussage ist umso klarer: Die Gebiete, in denen diese Völker seit alters her siedelten, waren römische Gebiete (oder es wenigstens früher einmal gewesen) und die dort lebenden Völker waren römische Untertanen bzw. Föderaten oder hätten es wenigstens sein sollen, da sie Land und Siedlung römischer Autorität verdankten und ihre Freiheit darin bestand, dass sie nicht den Franken unterworfen waren.34 Prokop, der diesen Exkurs an den Beginn seiner Darstellung des justinianischen Gotenkrieges gestellt hat, wollte damit anzeigen, dass nach dem durch den Kriegsausbruch erzwungenen Verzicht des Ostgotenkönigs Witigis auf die Provence und die nordalpinen Gebiete diese samt der dort ansässigen Alemannen und Sueben35 nunmehr von den Franken unter Theudebert I. (534–548) unter ihre Kontrolle gebracht wurden, die dann als – eher unverlässliche – Verbündete Ostroms in das Kriegsgeschehen in Italien eingreifen sollten.36 Der Name der Arborycher mutet fast wie ein Hapax legomenon an, da er singulär bei Prokop in dem zitierten Abschnitt bezeugt ist. Die Forschung hat daher schon früh Prokop eine sprachliche Ungenauigkeit unterstellt und in den Arborychern die Armorikaner gesehen, also das Grenzheer und die Bevölkerung des einstigen tractus Armoricanus.37 Einem dux tractus Armoricani et Nervicani unterstellt, war dieses Gebiet Teil einer Verteidigungsorganisation, die bis zum beginnenden 5. Jahrhundert auch jenseits des Kanals das litus Saxonicum umfasste. Die um diese Zeit oder etwas später entstandene Notitia dignitatum zeigt38, dass die Mehrzahl der Limitaneinheiten aus dem tractus Armoricanus Anfang des 5. Jahrhunderts als sog. Pseudo-comitatenses in das Bewegungsheer des Mainzer Dukates verlegt worden waren, um dort den durch den Rheinübertritt des Jahres 406/7 zerstörten Grenzschutz wiederherzustellen39, möglicherweise auch infolge
34 Ditten, Zu Prokops Nachrichten über die deutschen Stämme (wie Anm. 31), 4, der auch auf die übrigen hier genannten Völker eingeht. 35 Zur Erklärung dieser merkwürdigen Differenzierung vgl. ebd. 4–10. 36 Ebd. 13f. 37 Lot, La conquête du pays d’entre Seine-et-Loire (wie Anm. 30), 241; vgl. auch Hagith Sivan, The Appropriation of Roman Law in Barbarian Hands: Roman-Barbarian Marriage in Visigothic Gaul and Spain, in: Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hrsgg.), Strategies of Distinction: The Construction of Ethnic Communities, 300–800. (The Transformation of the Roman World 2.) Leiden u.a. 1998, 189–204, hier 197. Zusammenfassend Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich. 4. Aufl. Stuttgart u.a. 2001, 61. 38 Notitia dignitatum, occ. 37, ed. Otto Seeck, Notitia dignitatum accedunt Notitia urbis Constantinopolitanae et Latercula prouinciarum. Berlin 1876, 204–206, verzeichnet die Truppen des dux tractus Armoricani. Einzelne dieser Truppen begegnen aber auch in den Kapiteln 5 und 7 der Notitia dignitatum, welche die dem magister peditum praesentalis unterstellten Verbände verzeichnen sowie die räumliche Verteilung der numeri angeben. Siehe dazu die in der nächsten Anm. aufgeführte Forschungsliteratur, welche die Entstehungszeit und den Hintergrund dieser inneren Widersprüche kontrovers diskutiert. 39 Vgl. dazu Herbert Nesselhauf, Die spätrömische Verwaltung der gallisch-germanischen Länder. (Abh. der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl., 1938, 2.) Berlin 1938, 37–42, Hoffmann, Die Gallienarmee und der Grenzschutz am Rhein (wie Anm. 27), 5; 15, sowie Ralf Scharf, Der Dux Mogontiacensis und die Notitia dignitatum. Eine Studie zur
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eines mit dem Abzug der römischen Truppen aus Britannien und der Verlegung der Kaiserresidenz von Gallien nach Italien zusammenhängenden Strategiewechsels.40 In jedem Fall haben sich Bevölkerung und (Rest-)Heer des tractus Armoricanus bereits in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts wiederholt vom Imperium losgesagt und wurden von Aetius als Föderaten anerkannt.41 Zu ihnen zählten vermutlich auch Gruppen der im frühen 5. Jahrhundert von den britischen Inseln her kommend auf dem Kontinent einwandernden Bretonen.42 Prokop betont, dass die Arborycher bis zuletzt gegenüber den Römern Treue (εὔνοια) gezeigt hätten; die Franken hätten sie vergeblich zu bezwingen versucht, als diese ihre alte ‚Verfassung‘ änderten. Dabei wird nicht deutlich, was er genau mit πολιτεία an dieser Stelle meint, doch erscheint gut vorstellbar, dass sich dies auf den erwähnten Verselbständigungsprozess gegenüber Rom bezog, der die Arborycher der Gefahr direkter fränkischer Bedrohung aussetzte. In jedem Fall hätten sie den Franken widerstanden, so dass diese ihnen zuletzt ein Bündnis und verwandtschaftliche Bande (ἑταιρίζεσθαι τε ἠξίουν καὶ ἀλλήλοις κηδεσταὶ γίνεσθαι) angeboten hätten, worauf erstere eingegangen seien, da beide Völker Christen waren: „[U]nd so gelangten beide Völker durch Vereinigung zu großer Macht“, so die zitierte Übersetzung von Otto Veh. Wörtlich heißt es sogar ἐς ἕνα λεὼν ξυνελθόντες δυνάμεως ἐπὶ μέγα ἐχώρησαν, was diesen Prozess sogar noch etwas deutlicher hervortreten lässt: „Sie sind zu einem einzigen Volk zusammengekommen und schafften sich Raum für die Macht“ lautet eine genauere Übersetzung, welche die fränkische Ethnogenese im nordwestlichen Gallien doch in einem etwas anderen Lichte erscheinen lässt. Prokop betonte also die Bedeutung des connubium für diesen Prozess, wofür er wiederum den gemeinsamen christlichen Glauben zur Voraussetzung nahm.43 Offenbar handelte es sich um eine Art Konföderation, die nicht gegen die Römer gerichtet gewesen sein kann – sonst hätte Prokop den Arborychern wohl Verrat vorgeworfen und nicht ihre Treue betont. Franken und Arborycher hatten allem Anschein nach einen anderen gemeinsamen Gegner, und hier kommen eigentlich nur die Westgoten in Frage.44 Sie beschreibt Prokop in der Zeit ihrer größten Ausdehnung vor der Schlacht von Vouillé, erwähnt ihren – in seiner eigenen Zeit, kurz nach 550, wich-
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spätantiken Grenzverteidigung. (RGA Erg.-Bd. 48.) Berlin u.a. 2005, 285–289, mit z.T. unterschiedlichen Erklärungen dieses Prozesses. So Hoffmann, Die Gallienarmee und der Grenzschutz am Rhein (wie Anm. 27), 14. Patrick Galliou, The Defence of Armorica in the Later Roman Empire: A Tentative Synthesis, in: William S. Hanson/Lawrence J.F. Keppie (Hrsgg.), Roman Frontier Studies 1979. (British Archeological Reports, International Series 71.) Bd. 2. Oxford 1980, 397–422. Noël-Yves Tonnerre, L’Armorique à la fin du Ve siècle, in: Michel Rouche (Hrsg.), Clovis. Histoire et mémoire, Bd. 1: Clovis et son temps, l’événement. Paris 1997, 141–155; Howard M. Wiseman, A British Legion Stationed Near Orléans c. 530? Evidence for Brittonic Military Activity in Late Antique Gaul in the Vita Sancti Dalmatii and Other Sources, in: Journal of the Australian Early Medieval Association 7, 2011, 9–31. Vgl. auch Heike Grahn-Hoek, Zu Mischehe, Namengebung und Personenidentität im frühen Frankenreich, in: ZRG GA 121, 2004, 100–157, hier 113–115. Weniger dagegen die Burgunder, da sie von Ostrom anerkannt waren.
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tigen – Besitz der iberischen Halbinsel45 und spielt zugleich auf die Allianz zwischen Ost- und Westgoten an.46 Dazu fügt sich sein Hinweis, dass die anderen römischen Soldaten in Nordgallien, also die zweite Gruppe, weder nach Rom zurückkehren konnten noch sich den Feinden, die Arianer waren, anschließen wollten. Das lässt darauf schließen, dass sich die Konzentrationsprozesse militärischer Macht in Nordgallien in Abgrenzung und Ausrichtung gegen die Westgoten vollzogen oder dass es zu einem bestimmten Zeitpunkt Sinn machte, die religiöse Trennlinie besonders hervorzuheben. Jedenfalls will Prokop dies seine Leser glauben machen, und seine Aussage passt zu der Annahme, dass Chlodwig seinen Krieg gegen die Westgoten als religiös motivierten Krieg habe führen lassen47, wie auch zu dem Befund, dass dabei oströmische Unterstützung mit im Spiel war.48 Was diese Aussage für das Datum der Taufe Chlodwigs bedeutet, soll hier außen vor bleiben49; auch soll nicht behauptet werden, dass Prokop hinsichtlich seiner Angaben zur gallischen Chronologie und Geographie als absolut zuverlässiger Gewährsmann gelten kann; möglicherweise hat er auch, wie unlängst Matthias Becher vermutete, einfach geglaubt, die Franken seien von Anfang an Christen gewesen.50 Was hier vor allem bemerkenswert erscheint, ist Prokops Insistieren auf dem doppelten vertraglichen Charakter sowohl der Vereinigung von Arborychern und Franken als auch der Integration der weiteren in Nordgallien verbliebenen römischen Truppen in dieselbe. Diese hätten sich, so Prokop, der Konföderation aus Arborychern und Franken ergeben, und zwar „mitsamt den Feldzeichen und dem Land, das sie seit alters her für die Römer bewachten“ (σφᾶς τε αὐτοὺς ξὺν τοῖς σημείοις καὶ χώραν ἣν πάλαι Ῥωμαίοις ἐφύλασσον). Formal scheint dies auf eine Kapitulation, eine deditio hinzudeuten, die nach römischer Auffassung den Ausgangspunkt für eine anschließende vertragliche Neuregelung des Verhältnisses zwischen den nunmehrigen Partnern bildete.51 Der ausgesprochene römische Traditionalismus, den die Soldaten auch im fränkischen Dienst Prokop zufolge zu bewahren vermochten, lässt vermuten, dass sie zu privilegierten Bedingungen kapituliert haben müssen. Denn an ihre Nachkommen überlieferten sie ihre ererbten Sitten, trügen noch immer römische Fuß45 Vgl. dazu Margarita Vallejo Girvéz, The Treaties between Justinian and Athanagild and the Legality of the Byzantine Possessions on the Iberian Peninsula, in: Byzantion 66, 1996, 208– 218. 46 So Ditten, Zu Prokops Nachrichten über die deutschen Stämme (wie Anm. 31), 17. 47 Michel Rouche, Clovis. Suivi de vingt et un documents traduits et commentés. Paris 1996, 440–453. 48 Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich (wie Anm. 3), 21f.; Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt. München 2011, 231. 49 Zu dieser alten Diskussion vgl. aus jüngerer Zeit etwa Danuta Shanzer, Dating the Baptism of Clovis: The Bishop of Vienne vs. the Bishop of Tours, in: EME 7, 1998, 29–57 (mit Spätdatierung); eine frühe Datierung vertrat jüngst Becher, Chlodwig I. (wie Anm. 48), 174–203. 50 Becher, Chlodwig I. (wie Anm. 48), 157. 51 Zur spätrömischen deditio vgl. Raimund Schulz, Die Entwicklung des römischen Völkerrechts im vierten und fünften Jahrhundert n. Chr. (Hermes Einzelschriften 61.) Stuttgart 1993, 133– 148.
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bekleidung, würden weiterhin nach den alten Stammrollen geführt und lebten nach ihrem ererbten Recht. Bei den Ländereien, welche sie den Franken und Arborychern übergaben, wird es sich nicht einfach um das von ihnen bewachte Territorium gehandelt haben, sondern vor allem um die terrae limitanae52, welche die Soldaten nun wieder zurückerhielten bzw. bestätigt bekamen. Höchstwahrscheinlich handelte es sich um militärisches Land, welches wohl ursprünglich fiskalischer Herkunft war, speziellen Nutzungsvorbehalten unterlag und deswegen auch einem besonderen, nämlich Frauen ausschließenden Erbgang folgte – insofern von terrae laeticae53 oder auch terra salica54 nicht grundsätzlich verschieden. Die Stammrollen zeigen, dass man hier die Regimentstradition eines erblichen Soldatenstandes fortzuführen suchte. Und ihr eigenes Recht wird vermutlich auf eine besondere Form von Militärrecht zu beziehen sein. Auch hier erweist sich ein fließender Übergang zum frühen fränkischen Recht der Lex Salica, deren militärrechtliche Grundlage in den letzten Jahren vermehrt betont wurde, als durchaus möglich.55 Dabei ist zu berücksichtigen, dass die Gebiete nördlich der Loire bereits vor Ankunft der Franken eine vom römischen Provinzialrecht distinkte Rechtskultur entwickelt hatten, die im früheren 5. Jahrhundert in der Komödie Querolus unter dem Stichwort ius gentium unverhohlen karikiert wurde. Dem unzufriedenen Querolus empfahl der Lar familiaris ein Räuberleben (latrocinium) an der Loire mit den Worten:
52 Zu den limitanei und ihren Ländereien vgl. die Belegzusammenstellung bei Johannes Karayannopulos, Die Entstehung der byzantinischen Themenordnung. (Byzantinisches Archiv 10.) München 1959, 71–80, weiterhin die in den nächsten beiden Anm. angeführte Literatur. 53 Zur Definition von terrae laeticae vgl. C.J. Simpson, Laeti in the Notitia dignitatum. ‘Regular’ Soldiers vs. ‘Soldier-Farmers’, in: RBPH 66, 1988, 80–85; Joachim Szidat, Terrae laeticae (Cod. Theod. 13, 11, 10), in: Marlis Weinmann-Walser (Hrsg.), Historische Interpretationen. Gerold Walser zum 75. Geburtstag dargebracht von Freunden, Kollegen und Schülern. (Historia Einzelschriften 100.) Stuttgart 1995, 151–159. 54 Thomas Anderson, Roman Military Colonies in Gaul, Salian Ethnogenesis and the Forgotten Meaning of Pactus Legis Salicae 59.5, in: EME 4, 1995, 129–144; Matthias Springer, Gab es ein Volk der Salier?, in: Dieter Geuenich/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (Hrsgg.), Nomen et gens. Zur historischen Aussagekraft frühmittelalterlicher Personennamen. (RGA Erg.-Bd. 16.) Berlin u.a. 1997, 58–73; Bernard S. Bachrach, Military Lands in Historical Perspective, in: Haskins Society Journal 9, 1997, 95–122; jüngst Ralph Mathisen, Provinciales, Gentiles, and Marriages between Romans and Barbarians in the Late Roman Empire, in: JRS 99, 2009, 140–155. 55 Jean-Pierre Poly, La corde au cou. Les Francs, la France et la loi Salique, in: Henri Bresc u.a. (Hrsgg.), Genèse de l’état moderne en méditerranée. Approches historique et anthropologique des pratiques et des représentations. (Collection de l’École française de Rome 168.) Rom 1993, 287–320; Elisabeth Magnou-Nortier, Remarques sur la genèse du Pactus Legis Salicae et sur le privilège d’immunité (IVe–VIIe siècles), in: Rouche (Hrsg.), Clovis. Histoire et mémoire, Bd. 1 (wie Anm. 42), 495–538; Soazick Kerneis, Le pacte et la loi. Droit militaire et conscience Franque à la fin de l’Empire romain, in: Giles Constable/Michel Rouche (Hrsgg.), Auctoritas. Mélanges offerts à Olivier Guillot. Paris 2006, 129–141; dies., L’ancienne loi des Bretons d’Armorique. Contribution à l’étude du droit vulgaire, in: RHDFE 73, 1995, 175– 200.
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Dort lebt man nach Barbarenrecht, dort gibt es keine Advokatenkünste, dort fällt man Kapitalurteile an der Eiche und zeichnet sie auf Knochen. Dort halten Bauern Plädoyers und Laien sitzen zu Gericht, dort ist alles erlaubt.
Als Querolus dem entgegenhielt: „Weder bin ich reich noch will ich was von Eichen wissen. Ich mag nicht dieses Hinterwäldlerrecht“, riet ihm der Lar familiaris: „So such dir etwas Zahmeres, Gesitteteres aus, wenn du für solche Händel nicht zu haben bist.“56 Noch in der Übertreibung ist erkennbar, dass die Nähe dieser Praktiken zu denjenigen des frühen fränkischen Rechts beträchtlich gewesen sein könnte.57 Im nördlichen und nordwestlichen Gallien scheint sich schon früh eine eher ländliche Rechtskultur entwickelt zu haben, welche die Veränderung der dortigen Lebensgewohnheiten spiegelte. Auch lokale Traditionen des Militärrechts, wie Prokop sie schilderte, könnten hierauf zurückzuführen sein.58 Prokops Bericht ist auch aussagekräftig für die Frage, wie Chlodwig sich in Nordostgallien durchsetzte, nämlich weniger durch Unterwerfung (trotz anfänglicher Versuche in dieser Richtung) als vielmehr durch den Abschluss von Verträgen und gegen die Zusicherung weitgehender Autonomie, was es ihm ermöglichte, die maßgeblichen militärischen Kräfte für seine Sache, d.h. gegen die Westgoten, zu gewinnen. Auch die übrigen römischen Truppen kapitulierten nur, um unter fränkischer Herrschaft ihre Privilegien und ihre partielle Autonomie weiterhin genießen zu können. Die Beibehaltung ihrer Formation, ihrer Heerzeichen, ihrer Militärgüter und ihres eigenen Rechtes sollte ihnen offenkundig das Bewusstsein geben, mit der fränkischen Sache in gewisser Weise auch der römischen zu dienen. Denn wenn Prokops Bericht etwas zu suggerieren versuchte, dann doch wohl, dass die ehemaligen römischen Truppen sich auch unter fränkischer Herrschaft ganz römisch gerierten und ihren Unterhalt nicht durch Plünderei o.ä. verdienten. Das ist etwas anderes als eine klassische Eroberungs56 Querolus I, 2, 16, V. 8–18: „L.f.: Illic iure gentium vivunt homines. Ibi nullum est praestigium; ibi sententiae [de robore] capitales proferuntur et scribuntur in ossibus. Hic rustici etiam perorant et privati iudicant; ibi totum licet. […] Q: Neque dives ego sum, cupio uti neque robore. Nolo iura haec silvestria. L.f.: Igitur aliquid mitius pete honestiusque, si iurgare nequis.“ Hier zitiert nach der alten Edition: Querolus, ed. Louis Havet, Querolus. Comédie Latine anonyme. (Bibliothèque de l’École des hautes études, sciences philosophiques et historiques 41.) Paris 1880, 217f.; dt. Übers. aus: Querolus, ed. Willi Emrich, Griesgram oder Die Geschichte vom Topf. Querolus sive Aulularia. (Schriften und Quellen der Alten Welt 17.) Berlin 1965, 69. Vgl. hierzu Paul Thomas, Le Querolus et les justices de village, in: Mélanges offerts à Louis Havet par ses anciens élèves et ses amis. Philologie et linguistique. Paris 1909, 529– 535, sowie Marie-Bernadette Bruguière, Réflexions sur la crise de la justice en occident à la fin de l’antiquité: l’apport de la littérature, in: La giustizia nell’alto medioevo (secoli V–VIII). (Settimane di studio del Centro Italiano di studi sull’alto medioevo 42.) Bd. 1. Spoleto 1995, 165–218, hier 166; 195f.; 210–215. 57 Vgl. bereits François Louis Ganshof, Note sur le sens de Ligeris au titre XLVII de la Loi Salique et dans le Querolus, in: John G. Edwards (Hrsg.), Historical Essays in Honour of James Tait. Manchester 1933, 111–120. 58 Zu der gegenwärtig diskutierten Frage nach der Bedeutung des Militärrechts für das Provinzialrecht im nördlichen Gallien wie auch für mögliche Einflüsse auf das fränkische Recht vgl. Kerneis, Le pacte et la loi (wie Anm. 55), sowie mit Blick auf die Lex Salica den Beitrag von Karl Ubl in diesem Band.
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geschichte, sondern verweist auf eine römische Legitimität der Kriegshandlungen Chlodwigs, soweit sie sich gegen Südwestgallien und die Westgoten richteten. Die Ehrungen von Tours im Jahr 508, in denen man sogar die Anerkennung einer Art imperialer Stellvertreterschaft Chlodwigs durch Kaiser Anastasios gesehen hat, ordnen sich hier ein.59 III. DIE AUFGABE DER RÖMISCHEN PROVINZEINTEILUNG UND DIE MILITARISIERUNG DER POLITISCHEN RAUMGLIEDERUNG IM FRANKENREICH Bereits jene Machtbildungen also, die sich in Gallien im 5. Jahrhundert vollzogen, orientierten sich nur noch bedingt an den alten römischen Provinzgrenzen, sondern nahmen ihren Ausgang von verschiedenen militärisch geprägten Formationen, die man in letzter Zeit wiederholt ausgehend vom Konzept des „warlordism“ zu beschreiben versucht hat.60 Seit der Mitte des 5. Jahrhunderts ist eine regionalisierte Herausbildung neuartiger Gefüge zu beobachten, die sämtlich an staatlichmilitärischen Einrichtungen und Ressourcen des spätrömischen Imperium partizipierten, letztlich jedoch die althergebrachte Provinzgliederung zersetzten bzw. entbehrlich machten.61 Dies trifft für den erwähnten tractus Armoricanus62, das – 59 Michael McCormick, Clovis at Tours, Byzantine Public Ritual and the Origins of Medieval Ruler Symbolism, in: Evangelos K. Chrysos/Andreas Schwarcz (Hrsgg.), Das Reich und die Barbaren. (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 29.) Wien u.a. 1989, 155–180; Ralph Mathisen, Clovis, Anastase et Grégoire de Tours: consul, patrice et roi, in: Rouche (Hrsg.), Clovis. Histoire et mémoire, Bd. 1 (wie Anm. 42), 395–407; Olivier Guillot, Clovis « Auguste », vecteur des conceptions romano-chrétiennes, ebd. 705– 737; zuletzt Ralph Mathisen, Clovis, Anastasius, and Political Status in 508 C.E.: The Frankish Aftermath of the Battle of Vouillé, in: Ralph Mathisen/Danuta Shanzer (Hrsgg.), The Battle of Vouillé, 507 CE. (Millennium-Studien 37.) Berlin u.a. 2012, 79–110. 60 Vgl. etwa Dick Whittaker, Landlords and Warlords in the Later Roman Empire, in: John Rich/Graham Shipley (Hrsgg.), War and Society in the Roman World. (Leicester-Nottingham Studies in Ancient Society 5.) London u.a. 1993, 277–302; Dick Harrison, The Development of Elites: From Roman Bureaucrats to Medieval Warlords, in: Walter Pohl/Max Diesenberger (Hrsgg.), Integration und Herrschaft. Ethnische Identitäten und soziale Organisation im Frühmittelalter. (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 3.) Wien 2002, 289–300; Penny MacGeorge, Late Roman Warlords. Oxford 2003; Bernhard Jussen, Chlodwig und die Eigentümlichkeiten Galliens. Ein warlord im rechten Augenblick, in: Mischa Meier (Hrsg.), Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, 141–155. Die mit dem Begriff „warlord“ verbundene Grundvorstellung ist freilich stellenweise unscharf und wird m.E. den spezifischen spätrömischen Grundlagen (foedera, Ansiedlung, offizielle Titulatur, Zugriff auf öffentliche Ressourcen) militärisch konstituierter ‚Herrschaften‘ nicht immer gerecht. 61 Zur spätrömischen Administration Galliens vgl. Nesselhauf, Die spätrömische Verwaltung der gallisch-germanischen Länder (wie Anm. 39); Ulrich Nonn, Zur Verwaltungsorganisation in der nördlichen Galloromania, in: Dieter Geuenich (Hrsg.), Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/497). (RGA Erg.-Bd. 19.) Berlin u.a. 1998, 82–94. 62 Er erstreckte sich hauptsächlich über die Provinzen Gallia Lugdunensis II und III.
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mit diesem möglicherweise verbundene63 – Syagriusreich sowie das Reich des comes Arbogast ebenso zu wie für die aus einstiger Reichsintegration expandierten regna der Westgoten und Burgunder, und natürlich nicht minder für die verschiedenen fränkischen Herrschaften, von denen diejenige Childerichs und Chlodwigs samt ihrer Nachfolger sich letztlich durchsetzen sollte.64 Im 6. Jahrhundert gab es daher in den merowingischen regna oberhalb der civitates keine dauerhaften Zwischeninstanzen mehr65, so dass die alte römische Provinzeinteilung ihre wichtigste Fortsetzung in der kirchlichen Raumgliederung finden sollte.66 Was neu entstand, war ein ziemlicher Flickenteppich, auf dem sich Raumordnungen, Machtbildungen und territoriale Ansprüche vielfältig überschneiden konnten – deutlich erkennbar bei den Versuchen der Gründung neuer Bistümer67, der Aufteilung einzelner Gebiete und civitates68, der Durchführung von Reichsteilungen samt territorialer Bereinigung und der Entfremdung kirchlichen Streubesitzes.69 Hinzu kommt eine zweite wichtige Veränderung. Als Gallien in den 460erund 470er-Jahren aufhörte, Teil des weströmischen Reiches zu sein, musste dort auch der Zufluss von Steuern endgültig zum Erliegen kommen. Natürlich konnten lokale Mächte weiterhin die örtliche Bevölkerung Galliens besteuern – die Westgoten haben dies in Südgallien im 5.70, die Franken im 6. Jahrhundert in ihrem Herrschaftsgebiet nachweislich getan.71 Aber Gallien war nicht mehr Teil jenes auf reichsweiten Austauschleistungen beruhenden römischen Militärfiskalismus, 63 Vgl. Becher, Chlodwig I. (wie Anm. 48), 157f. 64 Vgl. überblicksweise Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich (wie Anm. 3), 17– 19; 82–86. 65 Dukate als Zusammenfassung mehrerer civitates waren zu dieser Zeit im Kerngebiet des Frankenreichs noch nicht verfestigt, im Unterschied zu den Grenzgebieten, wo die ersten Ansätze dazu bereits vor der Mitte des 6. Jh. begegnen. Vgl. dazu Rolf Sprandel, Dux und comes in der Merowingerzeit, in: ZRG GA 74, 1957, 41–84, bes. 47–54, sowie Archibald Ross Lewis, The Dukes in the Regnum Francorum, 550–751, in: Speculum 51, 1976, 381–410; zusammenfassend Michael Borgolte, Dux, Dukat II. Vorkarolingische Zeit, 2: Merowingisches Frankenreich, in: LexMA 3, 1986, 1488–1490; neuerdings Stefan Esders, Spätantike und frühmittelalterliche Dukate. Überlegungen zum Problem historischer Kontinuität und Diskontinuität, in: Hubert Fehr/Irmtraut Heitmeier (Hrsgg.), Die Anfänge Bayerns. Von Raetien und Noricum zur frühmittelalterlichen Baiovaria. (Bayerische Landesgeschichte und europäische Regionalgeschichte 1.) St. Ottilien 2012, 425–462. 66 Jill Harries, Church and State in the Notitia Galliarum, in: JRS 68, 1978, 26–43. 67 Reinhold Kaiser, Bistumsgründungen im Merowingerreich im 6. Jahrhundert, in: Rudolf Schieffer (Hrsg.), Beiträge zur Geschichte des Regnum Francorum. (Beihefte der Francia 22.) Sigmaringen 1990, 9–35. 68 Exemplarisch hierfür steht die Geschichte der Provence, vgl. Rudolf Buchner, Die Provence in merowingischer Zeit. Verfassung, Wirtschaft, Kultur. (Arbeiten zur deutschen Rechts- und Verfassungsgeschichte 9.) Stuttgart 1933. 69 Dazu demnächst Stefan Esders, Gallic Politics in the Sixth Century, in: Alexander Callandar Murray (Hrsg.), A Companion to Gregory of Tours (im Druck). 70 Prok. BG I, 12; siehe oben Anm. 29. 71 Reinhold Kaiser, Steuer und Zoll in der Merowingerzeit, in: Francia 7, 1979, 1–17; Walter Goffart, Old and New in Merovingian Taxation, in: PP 96, 1982, 3–21.
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und das förderte die Regionalisierung der in Gallien stationierten Truppenverbände und forcierte die Suche nach neuen Quellen, um militärisches Personal zu rekrutieren, dessen Unterhalt zu bezahlen und sich seiner Loyalität zu versichern.72 Beides, die Aufgabe der Provinzordnung und die Regionalisierung des Steuerund Militärwesens, gehört zu den wichtigsten strukturellen Voraussetzungen der fränkischen Reichsgründung. So hat Eugen Ewig auf die mögliche Bedeutung der angesprochenen Armorikaner für die Aushebungspraxis der Merowinger in Gallien hingewiesen: „Die Eingliederung ihrer Truppen ins fränkische Heer mag der erste Schritt zur Ausdehnung der Wehrpflicht auf alle Gallorömer des Merowingerreiches gewesen sein.“73 An anderer Stelle hat Ewig zudem vermutet, dass im Frankenreich „die Heranziehung der Romani zum Wehrdienst […] die Hauptursache für die Vereinigung der zivilen wie der militärischen Kompetenzen in der Hand eines einzigen, für Germanen wie Romanen zuständigen Amtsträgers” gewesen sei.74 Beiden Aussagen liegt die Erkenntnis zugrunde, dass der militärischen Rekrutierung der Romanen eine für die Ausgestaltung der politischen Ordnung des Frankenreiches ausschlaggebende Bedeutung zukam.75 Tatsächlich erscheinen nach Aufgabe der gallorömischen Provinzeinteilung die comites überall als die maßgeblichen weltlichen Funktionsträger. Die merowingische Administration lässt sich zuvorderst als erweitere Militärverwaltung verstehen76, innerhalb derer offenkundig den comites die zentrale Rolle zufiel, vor Ort den königlichen Willen durchzusetzen.77 Denn sie waren es, die letztlich die Bevölkerung zum Kriegsdienst heranzuziehen hatten; sie bereiteten die Vereidigung der Bevölkerung vor, deren Treueid ihre Militärdienstpflicht konkretisierte.78 Die implizite Voraussetzung dafür war zum einen die im ersten 72 Grundsätzlich Jean-Michel Carrié, L’état à la recherche de nouveaux modes de financement des armées (Rome et Byzance, IVe–VIIIe siècles), in: Averil Cameron (Hrsg.), States, Resources and Armies. (The Byzantine and Early Islamic Near East 3/Studies in Late Antiquity and Early Islam 1.) Princeton (NJ) 1995, 27–60. 73 Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich (wie Anm. 37), 61f. 74 Eugen Ewig, Die Stellung Ribuariens in der Verfassungsgeschichte des Merowingerreiches (1969), in: Eugen Ewig, Spätantikes und fränkisches Gallien. Gesammelte Schriften (1952– 1973). (Beihefte der Francia 3/1.) Bd. 1. Zürich u.a. 1976, 450–503, hier 453. 75 Dies scheint schon für die Heere Chlodwigs charakteristisch gewesen zu sein, vgl. Bernard S. Bachrach, Quelques observations sur la composition et les caractéristiques des armées de Clovis, in: Rouche (Hrsg.), Clovis. Histoire et mémoire, Bd. 1 (wie Anm. 42), 689–703. Auch Prokop betont wiederholt, dass besiegte oder unterworfene Truppen fortan auf Chlodwigs Seite kämpften – es war also keineswegs so, dass die Franken ganz Gallien überrannt hätten. Grundsätzlich Bernard S. Bachrach/Charles R. Bowlus, Heerwesen, § 2 (Strategie); 3 (Taktik); 4 (Heeresstärken), in: RGA2 14, 1999, 122–136, hier 133: „Die Herrscher der römischgermanischen Nachfolgereiche zogen als Menschenpotential für ihre Armeen weitestgehend die bereits militarisierte einheimische Bevölkerung heran.“ 76 Alexander Callander Murray, From Roman to Frankish Gaul: Centenarii and centenae in the Administration of the Merovingian Kingdom, in: Traditio 44, 1988, 59–100, hier 73. 77 Alexander Callander Murray, The Position of the Grafio in the Constitutional History of Merovingian Gaul, in: Speculum 61, 1986, 787–805. 78 Stefan Esders, Les implications militaires du serment dans les royaumes barbares (Ve–VIIe siècles), in: Marie-France Auzepy/Guillaume Saint-Guillain (Hrsgg.), Oralité et lien social au
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Abschnitt angesprochene Tatsache, dass gerade Gallien in spätrömischer Zeit als bevorzugte Aushebungsregion galt. Zum anderen gehörten zum römischen Militärwesen neben in Listen und Stammrollen erfassten Wehrpflichtigen und Soldaten auch Waffen, Militärgüter sowie Infrastrukturen wie Straßen und Brücken, dazu das Personal und der Anspruch auf Dienstleistungen zu deren Instandhaltung und Betrieb79, weiterhin Einrichtungen zur Versorgung, Ausrüstung und Belieferung des Heeres im weiteren Sinne (fabricae80, Gynaeceen81, Bäckereien usw.).82 Gerade weil die römische Zivilverwaltung auf Provinzebene nicht mehr fortgeführt wurde, wurde der comes zum entscheidenden Akteur auf der darunter liegenden lokalen Ebene. Bereits im ausgehenden 5. Jahrhundert sind im südlichen Gallien comites civitatis bezeugt, also wörtlich „Stadtgrafen“, die an die Spitze der römischen Städte traten und direkt ihrem König verantwortlich waren, ohne dass es noch irgendwelche Zwischeninstanzen gegeben hätte.83 Die hinter dieser Umorganisation liegenden Zusammenhänge werden noch deutlicher, wenn man über die einzelnen civitates hinaus den Blick auf die ländlichen Gebiete wirft, die in römischer Zeit als pagi den Städten zugeordnet und von diesen mitverwaltet worden waren.84 Tatsächlich waren es die pagi, innerhalb derer in spätrömischer Zeit die verschiedenen militärischen Aufgaben koordiniert worden waren. Der pagus diente der steuerlichen Erfassung der ländlichen Bevölkerung und deren Heranziehung zu bestimmten Leistungen (munera publica), unter denen in spätrömischer Zeit die Rekrutierung zum Militärdienst besondere Bedeutung hatte, darüber hinaus wurde die Instandhaltung der Straßen und die Produktion von Kleidung und Ausrüstung über die pagi organisiert. Eigentlich war der pagus in römischer Zeit als Unterbezirk der civitas definiert gewesen, an seiner Spitze hatten in der Spätantike sog. praepositi pagi ge-
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Moyen Âge (Occident, Byzance, Islam): Parole donnée, foi jurée, serment. (Centre de recherche d’histoire et civilisation de Byzance, Monographies 29.) Paris 2008, 17–24. Vgl. etwa zum paraveredus: Esders, „Öffentliche“ Leistungen und Abgaben (wie Anm. 22), 189–203. Simon James, The fabricae: State Arms Factories of the Later Roman Empire, in: Jonathan C.N. Coulston (Hrsg.), Military Equipment and the Identity of Roman Soldiers. (British Archaeological Reports, International Series 394.) Oxford 1988, 257–331. John Peter Wild, The gynaecea, in: Roger Goodburn/Philip Bartholomew (Hrsgg.), Aspects of the Notitia Dignitatum. (British Archeological Reports, Suppl. Series 15.) Oxford 1976, 51–58. Vgl. auch Jennifer A. Sheridan, Columbia Papyri IX: The Vestis Militaris Codex. (American Studies in Papyrology 39.) Atlanta (GA) 1998, 106–134. Vgl. Peter Herz, Die Versorgung des römischen Heeres mit Waffen und Ausrüstung, in: Armin Eich (Hrsg.), Die Verwaltung der kaiserzeitlichen römischen Armee. Studien für Hartmut Wolff. (Historia Einzelschriften 211.) Stuttgart 2010, 111–132. Für die civitates ist dies bereits etwas früher im westgotischen Südgallien bezeugt, vgl. Dietrich Claude, Untersuchungen zum frühfränkischen Comitat, in: ZRG GA 81, 1964, 1–69, hier 4–11. Vgl. zuletzt Stefan Esders, Zur Entwicklung der politischen Raumgliederung im Übergang von der Antike zum Mittelalter: Das Beispiel des pagus, in: Ortwin Dally u.a. (Hrsgg.), Politische Räume in vormodernen Gesellschaften. Gestaltung – Wahrnehmung – Funktion. (Menschen – Kulturen – Traditionen. Studien aus den Forschungsclustern des Deutschen Archäologischen Instituts 6.) Berlin 2013, 195–211, auch zum Folgenden.
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standen. In Südgallien nun lassen sich bereits um 500 einige bedeutsame Veränderungen des pagus beobachten. Schon dem burgundischen Liber constitutionum, um oder kurz nach 500 verfasst, ist ein Gerichtsgesetz vorangestellt, welches von 31 comites unterzeichnet wurde. Hier wurde allen Optimaten und Funktionsträgern (optimates, consiliarii, domestici, maiores domus, cancellarii) unter Androhung der Todesstrafe untersagt, sich an strittigen Gütern zu bereichern oder Geschenke anzunehmen. Besonders hervorheben ließ der König in diesem Zusammenhang die burgundischen und römischen comites in Stadt und Land, die iudices deputati und alle Diensttuenden (militantes).85 In diesem Text wurden nebeneinander comites civitatis und comites pagi genannt, also „Stadtgrafen“ und „Gaugrafen“. Danach zu urteilen, waren hier militärische Funktionsträger an die Spitze der wichtigsten lokalen Verwaltungseinheiten (civitas und pagus) getreten. Die Folge war, dass allein aufgrund des Titels comes nicht mehr unbedingt erkennbar war, dass der pagus der civitas untergeordnet war. Das ist für Burgund allerdings nur eine Vermutung, da uns für diese Region weitere Informationen über die comites pagi vollkommen fehlen.86 Doch gerade für das nördliche und östliche Gallien ist zu beobachten, dass die pagi vielerorts administrativ von den civitates getrennt wurden und unter der Führerschaft von comites oder grafiones eigene militärische ‚Formationen‘ bildeten, die dem fränkischen König unterstellt waren.87 Während unter fränkischer Herr85 Lex Burgundionum, Prima Constitutio 5–6, ed. Ludwig Rudolf von Salis, in: MGH LL nat. Germ. 2/1. Hannover 1892, 31f.: „Sciant itaque optimates, consiliarii, domestici et maiores domus nostrae, cancellarii etiam, Burgundiones quoque et Romani civitatum aut pagorum comites vel iudices deputati, omnes etiam et militantes: nihil se de causis his, quae actae aut iudicatae fuerint, accepturos aut a litigantibus promissionis vel praemii nomine quaesituros; nec partes ad compositiones, ut aliquid vel sic accipiant, a iudice conpellantur. Quod si quis memoratorum corruptus contra leges nostras, aut etiam iuste iudicans, de causa vel iudicio praemium convictus fuerit accepisse, ad exemplum omnium probato crimine capite puniatur.“ 86 Auf die comites pagorum wird in der Literatur zur burgundischen Verwaltung zumeist nicht weiter eingegangen, der zitierte Beleg ist auch der einzige für das Burgunderreich. Vgl. Reinhold Kaiser, L’entourage des rois du regnum Burgundiae aux époques burgonde et mérovingienne, in: Alain Marchandisse/Jean-Louis Kupper (Hrsgg.), A l’ombre du pouvoir. Les entourages princiers au moyen âge. (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège 283.) Genf 2003, 77–95, hier 85f.; Herbert Heftner, Comites, iudices, iudices deputati: Untersuchungen zum Gerichtswesen im südgallischen Burgunderreich (443– 534), in: Concilium medii aevi 5, 2002, 119–141, hier 122f.; 125. Unklar ist daher auch, wo die comites pagi im Burgunderreich hauptsächlich fungierten. Zur Grafenliste im Liber constitutionum, die fast ausschließlich germanische Personennamen enthält, vgl. Wolfgang Haubrichs, Akkulturation und Distanz. Germanische und romanische Personennamen im regnum der Burgunden, in: Becher/Dick (Hrsgg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter (wie Anm. 6), 191–222, hier 195–199. 87 Eugen Ewig, Civitas, Gau und Territorium in den Trierischen Mosellanden (1952), in: Eugen Ewig, Spätantikes und fränkisches Gallien, Bd. 1 (wie Anm. 74), 504–522. Vgl. zusammenfassend Ulrich Nonn, Gau, § 2: Historisches, in: RGA2 10, 1998, 471–479; Thomas Bauer, Raumeinheiten und Raumbezeichnungen: Die pagi und Gaue des Mittelalters in landeskundlicher Perspektive, in: Heinz-Peter Brogiato (Hrsg.), Geographische Namen in ihrer Bedeutung für die landeskundliche Forschung und Darstellung. Trier 1999, 43–65; ders., Die mittelalterlichen Gaue. (Geschichtlicher Atlas der Rheinlande, Beiheft 4/9.) Köln 2000.
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schaft die pagi in weiten Teilen Südgalliens wie ehedem in römischer Zeit weiterhin als Unterbezirke der civitates behandelt wurden, lösten sie sich in Nord- und Ostgallien häufig aus ihrer Zuordnung zu einer Stadt heraus und bildeten civitasgleiche Verwaltungsbezirke88, denen comites bzw. grafiones vorgesetzt wurden.89 In diesen Gebieten begann sich das Stadt-Land-Verhältnis dramatisch zu verändern. Bereits in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts ist festzustellen, dass vielerorts kleinere militärische Organisationsformen innerhalb der pagi ausgebildet wurden, sog. centenae bzw. „Hundertschaftsbezirke“, häufig auch vicariae genannt, die einen gebietskörperschaftlichen Charakter besaßen und neben militärischen auch ‚polizeiliche‘ und andere Sicherungsfunktionen übernahmen.90 Es ist zwar nicht sicher nachzuweisen, ob dies flächendeckend im gesamten Frankenreich geschah, häufig ist jedoch auch ein Anknüpfen an ältere Vorgängereinheiten (condita, ager, territorium) erkennbar91, was den auf der ‚Grafschaftsebene‘ gewonnenen Eindruck unterstreicht, dass die Franken gleichsam von oben an die Spitze der bestehenden Raumordnung eine Militärhierarchie stellten, die den gewandelten militärischen und administrativen Erfordernissen Rechnung trug. Häufig bildeten römische castra den Ausgangspunkt solcher Entwicklungen. Im Gebiet zwischen Seine und Loire ist dieser Prozess besonders gut fassbar, z.B. in Chartres, Bayeux, Coutances, Rennes und Angers, da die merowingischen Könige hier unterschiedlichste spätrömische Vorgängerstrukturen militärischer Art aufgreifen konnten92 und zudem die Möglichkeit besaßen, hierfür auf römisches Fiskalgut zurückzugreifen.93 Die in der im 6. Jahrhundert geschaffenen bretonischen Mark gelegenen pagi wurden dem comes bzw. dux von Maine unterstellt.94 Interessanterweise treten seit dem späteren 6. Jahrhundert viele vici als Hauptorte der pagi auch als Münzprägeorte in Erscheinung und werden auf Münzen namentlich angeführt. Für das merowingische Münzwesen ist eine Vervielfachung der Prägestätten zu beobachten, in deren Folge auf ländlicher Ebene zahl-
88 Für den Moselraum vgl. Ewig, Civitas, Gau und Territorium (wie Anm. 87), 506–510. 89 Vgl. zusammenfassend Wolfgang Huschner, Pagus, in: LexMA 6, 1993, 1625–1627, hier 1626, sowie Roland W.L. Puhl, Die Gaue und Grafschaften des frühen Mittelalters im SaarMosel-Raum. Philologisch-onomastische Studien zur frühmittelalterlichen Raumorganisation anhand der Raumnamen und der mit ihnen spezifizierten Ortsnamen. (Beiträge zur Sprache im Saar-Mosel-Raum 13.) Saarbrücken 1999, 4. 90 Murray, From Roman to Frankish Gaul (wie Anm. 76), 75–98. 91 Vgl. Dietrich Claude, Untersuchungen zum frühfränkischen Comitat, in: ZRG GA 81, 1964, 1–79, hier 18. Zahlreiche Quellenbelege für Untereinheiten der ‚Grafschaften‘ (allerdings mit z.T. problematischer Herleitung) bietet Rudolph Sohm, Die altdeutsche Reichs- und Gerichtsverfassung, Bd. 1: Die fränkische Reichs- und Gerichtsverfassung. Weimar 1871, 191–201. 92 Vgl. dazu Brunterc’h, Le duché du Maine et la marche de Bretagne (wie Anm. 9), 30f.; 34–38 u.ö., sowie 84–126 mit reicher Dokumentation. 93 Ebd. 30–38. Zum Fiskalgut vgl. Josiane Barbier, Aspects du fisc en Neustrie (VIe–Xe siècles), in: Atsma (Hrsg.), La Neustrie (wie Anm. 10), Bd. 1, 129–142. 94 Brunterc’h, Le duché du Maine et la marche de Bretagne (wie Anm. 9), 30–38.
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reiche Prägeorte nachzuweisen sind.95 Diese Veränderung ist nicht mit nachlassender wirtschaftlicher Aktivität zu erklären, sondern in erheblichem Maße mit der bereits angesprochenen Vervielfachung der Grafschaften durch Ausgliederung der pagi aus den civitates in Verbindung zu bringen. Offenkundig dienten die Münzen dazu, die Naturalabgaben der pagenses vor Ort zu adaerieren, d.h. in Münzgeld zu kommutieren. Durchaus denkbar erscheint es daher, dass dies mit militärischen Erfordernissen zusammenhing, berücksichtigt man die Funktionalität des pagus. Die civitas Le Mans, an der Kreuzung zweier Römerstraßen gelegen, schon in der Notitia dignitatum als Laetenstandort bezeugt und offenkundig zum tractus Armoricanus gehörig, mag diese Prozesse exemplarisch illustrieren.96 Die politische Bedeutung der civitas wird daran sichtbar, dass Le Mans bereits im 6. Jahrhundert als wichtiger Bischofssitz in Erscheinung tritt, dessen Inhaber Domnolus, Badegisil und Berthram enge Beziehungen zu den im Norden residierenden Merowingerkönigen unterhielten.97 Dies führte zu Spannungen, da das Bistum der römischen Provinzverwaltung folgend kirchlich dem Erzbistum Tours unterstand.98 Nach der Aufteilung des Charibertreiches im Jahr 568 scheint die civitas als Aufmarschgebiet für König Chilperich gedient zu haben, um gegen seine Brüder gerichtete Expansionspläne im Südwesten militärisch zu realisieren99; welche Rolle sie genau bei der Formierung der in den Quellen als limes und ducatus bezeichneten bretonischen Mark spielte, wird aus den frühen Quellen allerdings nicht recht deutlich100, während sie in karolingischer Zeit als deren militärischer Stützpunkt im Hinterland deutlich in Erscheinung tritt.101 Während im 6. Jahrhundert noch ein comes für Le Mans bezeugt ist102, scheinen sich spätestens seit dem 7. Jahrhundert regionale Einheiten im Umfeld der civitas, die in der urkundlichen 95 Vgl. Jürgen Strothmann, Königsherrschaft oder nachantike Staatlichkeit? Merowingische Monetarmünzen als Quelle für die politische Ordnung des Frankenreiches, in: MillenniumJahrbuch 5, 2008, 353–381, sowie neuerdings Jörg Jarnut/Jürgen Strothmann (Hrsgg.), Die Merowingischen Monetarmünzen als Quelle zum Verständnis des 7. Jahrhunderts in Gallien. (MittelalterStudien 27.) München 2014, auch zum Folgenden. 96 Grundlegend dazu die Studie von Rolf Sprandel, Grundbesitz- und Verfassungsverhältnisse in einer merowingischen Landschaft: die Civitas Cenomannorum, in: Josef Fleckenstein/Karl Schmid (Hrsgg.), Adel und Kirche. Gerd Tellenbach dargebracht von Freunden und Schülern. Freiburg u.a. 1968, 26–51, die nur teilweise durch jüngere Forschungen überholt ist. Vgl. insbesondere Margarete Weidemann, Spätantike Traditionen in der Wirtschaftsführung frühmittelalterlicher Grundherrschaften, in: Kölzer/Schieffer (Hrsgg.), Von der Spätantike zum frühen Mittelalter (wie Anm. 22), 287–318, mit der Feststellung breiter Kontinuität. 97 Margarete Weidemann, Bischofsherrschaft und Königtum in Neustrien vom 7. bis zum 9. Jahrhundert am Beispiel des Bistums Le Mans, in: Atsma (Hrsg.), La Neustrie (wie Anm. 10), Bd. 1, 161–193. 98 Hinzuweisen ist hier nur auf die tendenziösen Beschreibungen der Bischöfe von Le Mans bei Gregor von Tours, Historiarum libri decem, VI, 9; VIII, 39, ed. Bruno Krusch/Wilhelm Levison, in: MGH SS rer. Merov. 1/1. 2. Aufl. Hannover 1951, 279; 405f. 99 Sprandel, Grundbesitz- und Verfassungsverhältnisse (wie Anm. 96), 31. 100 Vgl. etwa Gregor von Tours, Hist., IX, 18 (wie Anm. 98), 431f. 101 Brunterc’h, Le duché du Maine et la marche de Bretagne (wie Anm. 9), 30–36. 102 Sprandel, Grundbesitz- und Verfassungsverhältnisse (wie Anm. 96), 32.
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Überlieferung als pagus, condita und territorium bezeichnet werden, verselbständigt zu haben. Allein in der näheren Umgebung von Le Mans sind für die merowingische Zeit über 20 Münzprägeorte nachgewiesen, die meisten davon in den vici der angrenzenden Bezirke, einige wenige auch in villae.103 In späteren Merowingerdiplomen ist für das Gebiet von Le Mans auch ein aurum pagense bezeugt, also eine auf Gauebene eingehobene Goldabgabe, bei der es sich möglicherweise um eine Wehrersatzabgabe handelte.104 Ein späteres Entwicklungsstadium dokumentiert ein urkundliches Zeugnis aus Le Mans, in dem acht iuniores im Jahr 721 der Bischofskirche von Le Mans garantierten, dass sie die von den pagenses einer villa an die Domkirche zu leistenden Abgaben – sie wurden im Text inferenda, exactus und an einer Stelle auch annocia (= annona) genannt und beliefen sich auf insgesamt 400 solidi – eintreiben und zu einem festgesetzten Termin der Kirche zahlen würden. Sie beriefen sich dafür u.a. auf Gewohnheiten (consuetudines) und auf ein breve, welches sich im Besitz der Domkirche befand und die Leistungspflichten (servitium) für jeden einzelnen Mann festhielt.105 Der Text dokumentiert ein späteres Entwicklungsstadium, nachdem bestimmte Personengruppen aus dem pagus mitsamt ihren Verpflichtungen infolge von Immunitätsverleihungen der Grund- und Bannherrschaft der Domkirche von Le Mans übertragen worden waren.106 Gleichwohl macht er deutlich, dass römische Fiskalstrukturen in diesem Gebiet auf lokaler Ebene in erheblichem Umfang weitergeführt worden sein müssen. Am pagus ist somit nachzuverfolgen, wie sich die politische Raumgliederung unter fränkischer Herrschaft veränderte, nämlich militarisierte und regionalisierte. Dies hatte einerseits damit zu tun, dass die Reichsgründung der Franken viel stärker aus einem militärischen Kontext heraus erfolgt, aber auch damit, dass Gallien vom Steuerzufluss aus dem Reich abgekoppelt worden war. Dies ist ein Faktum, dessen Bedeutung bei aller Betonung fiskalischer Kontinuität leicht übersehen zu werden droht. Die Franken konnten in Gallien zwar weiterhin Steuern erheben, aber angesichts des Wegfallens zentraler Geldzuflüsse war das Ausgangsniveau viel geringer. Interne Ressourcen, menschliche wie finanzielle, mussten viel konsequenter mobilisiert werden und die zu beobachtenden Regionalisierungs- und Dezentralisierungsprozesse sollte man m.E. hiermit in Verbindung bringen. Den 103 Sprandel, Grundbesitz- und Verfassungsverhältnisse (wie Anm. 96), 34 (Karte); 40. 104 Esders, „Öffentliche“ Leistungen und Abgaben (wie Anm. 22), 225–227. 105 „[…] de ipsa [in]ferenda, in integrum nobis iunxit, quod ipsi pagenses nostri hoc reddebant, vel nos cum ipsis vel ipsos pagenses exinde convictus esse faciat […] vobis per hanc epistolam caucionis [s]pondemus ut medio Iulio ipsa inferenda, quod superius est intimatum quod unusquisque de sua parte reddere debet, sicut superius est insertum et apud nos cognitum est, quod exigere petimus, sicut diximus, medio mense Iulii, ipsa vobis in integrum transsolvere [s]pondemus, ut gratiam vestram exinde adimplere debemus. Similiter et de illis fidefactis, quod nostri pagenses, qui hoc contempserunt et vobis de ipsis vicis hoc vobis spopondimus, ut per unumquemque hominem de suo servicio, iuxta quod vobis quidem fecerunt et vester brevis loquitur, ipso die in integrum exinde apud nos satisfacere debeamus.“ Text nach: Margarete Weidemann, Geschichte des Bistums Le Mans von der Spätantike bis zur Karolingerzeit, Bd. 2: Die Urkunden. (Monographien des RGZM 56.) Mainz 2002, Nr. 22, 244f. 106 Vgl. Weidemann, Spätantike Traditionen in der Wirtschaftsführung (wie Anm. 22), 313–315.
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aktuellen politisch-militärischen Bezugspunkt der Neuausrichtung bildete hierbei vor allem die Errichtung eines Grenzschutzes, der in den Quellen als limes Brittanicus bezeichnet wurde, sowie der schon im 6. Jahrhundert einsetzende Aufbau des lokalen Bischofs zum Funktionär des Königs.107 ZUSAMMENFASSUNG Die fränkische Inbesitznahme Nordwestgalliens muss ohne die vorhergehende Militarisierung der spätrömischen Provinzgesellschaft unverständlich bleiben. Die Integration der im nördlichen und nordwestlichen Gallien stationierten römischen und ‚poströmischen‘ Truppen erfolgte zu besonderen Bedingungen, die ein nicht unerhebliches Maß an zugestandener Autonomie erkennen lassen. Das merowingische Königtum erfasste diese Gebiete nach Art einer erweiterten Militäradministration, indem es die spätrömische Trennung von Militär- und Zivilverwaltung aufgab und comites als wichtigste Funktionsträger vor Ort einsetzte. Die Militarisierung der Raumordnung bei Wegfall der (weltlichen) Provinzeinteilung vollzog sich gerade in Nordwestgallien auf einer niedrigeren lokalen Ebene, nämlich als Ausgliederung der pagi aus der Zuständigkeit der civitates, was auf eine Verselbständigung der ländlichen Gebiete schließen lässt, die ihrerseits verteidigungspolitische Hintergründe hatte. In der Regionalisierung der Münzprägung ließ sich sodann erkennen, dass zahlreiche mit dem Militärwesen zusammenhängende Prozesse ökonomischer und fiskalischer Art nun auf der Ebene der ‚Grafschaften‘ organisiert wurden. Dabei konnten die comites außer auf spätrömische Ressourcen vielfach auch auf Leistungen der Bevölkerung zurückgreifen, die schon in spätrömischer Zeit bestanden hatten. Erfolg und Dauerhaftigkeit der fränkischen Inbesitznahme einstiger gallischer und germanischer Provinzen erklären sich somit gerade nicht aus der bruchlosen Fortführung der spätrömischen Provinzverwaltung, sondern eher aus der Integration darunter befindlicher lokaler spätrömischer Strukturen, die man vielleicht am besten als „Substrukturen“108 bezeichnen kann, in eine sich neu ausdifferenzierende politische Raumordnung. Die Integration solcher Substrukturen erfolgte über die den comites unterstellten Bezirke in Stadt und Land, die in den nördlichen Gebieten Galliens zunehmend gleichberechtigt nebeneinander traten. Im letzten Regierungsjahr Chlodwigs waren auf dem Konzil von Orléans interessanterweise die Bistümer des nordwestlichen Gallien bereits stark vertreten, woran ersichtlich wird, welche Bedeutung der Konversion Chlodwigs und dem Fortleben der römischen Provinzverwaltung im institutionellen Rahmen der Kir107 Vgl. Reinhold Kaiser, Königtum und Bischofsherrschaft im frühmittelalterlichen Neustrien, in: Friedrich Prinz (Hrsg.), Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 33.) Stuttgart 1988, 83–108. 108 Zum Begriff vgl. Esders, Spätantike und frühmittelalterliche Dukate (wie Anm. 65), 427; 439–443.
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che zukommen musste.109 Doch nicht nur das verwies auf die Zukunft. Mit dem Auseinandertreten von kirchlicher und weltlicher Raumordnung, der Ausgliederung vieler pagi aus den civitates, der Vervielfachung der Grafschaften, der Emanzipation der ländlichen Gebiete, der leihweisen Wiederausgabe von Militärgütern, der aufkommenden Rechtsvielfalt, den ersten Immunitätsverleihungen und dem über mehrere Teilreiche verstreuten Besitz kirchlicher und weltlicher Magnaten kündigte sich in Nordwestgallien in vielen Hinsichten bereits um 500 eine typisch ‚mittelalterliche‘ Konstellation an.
109 Vgl. Becher, Chlodwig I. (wie Anm. 48), 249 (Karte); zuletzt dazu Gregory I. Halfond, Vouillé, Orléans (511), and the Origins of the Frankish Conciliar Tradition, in: Mathisen/Shanzer (Hrsg.), The Battle of Vouillé (wie Anm. 59), 151–166.
IV. JENSEITS DES KAISERS (2): NEUE HERRSCHAFTSFORMEN
CHILDERICH UND CHLODWIG FRÄNKISCHE HERRSCHAFTS- UND GESELLSCHAFTSORGANISATION UM 500 Stefanie Dick Die Frage nach dem fränkischen Königtum, nach seinen Ursprüngen und seiner Entwicklung ist trotz einer langen und intensiven Forschungstradition weiterhin von besonderem Interesse. Zum einen, weil das Frankenreich aufgrund seiner über die Spätantike hinausweisenden langen Dauer geradezu als Erfolgsmodell gentiler Reichsbildungen gilt.1 Zum anderen, weil die genauen Bedingungen der Herausbildung dieses regnum Francorum in der Forschung nach wie vor nicht zufriedenstellend geklärt und in manchen Punkten umstritten sind.2 Ohne die einzelnen Positionen hier im Detail entfalten zu wollen, sei zumindest angedeutet, dass ein zentrales Problem in dem Umstand liegt, dass die Franken gleich in mehrfacher Hinsicht einen Sonderfall darstellen, woraus sich hinsichtlich der Bewertung gewisse Spielräume ergeben: So ist bei ihnen – im Vergleich mit den anderen reichsbildenden spätantiken gentes – keine spektakuläre Migrationsbewegung erkennbar3, weshalb sich das klassische Ethnogenesemodell
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Vgl. etwa Ian Wood, The Merovingian Kingdoms 450–751. New York 1994, 5. Aus der Fülle einschlägiger Literatur seien hier nur einige Titel genannt, über welche die weitere Forschung und die unterschiedlichen Positionen gut erschließbar sind: Erich Zöllner, Geschichte der Franken bis zur Mitte des 6. Jahrhunderts. München 1970; Reinhardt Schneider, Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter. Untersuchungen zur Herrschaftsnachfolge bei den Langobarden und Merowingern. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 3.) Stuttgart 1972, bes. 64–72 mit der älteren Literatur; Hans K. Schulze, Vom Reich der Franken zum Land der Deutschen. Merowinger und Karolinger. (Siedler Deutsche Geschichte 2.) Berlin 1987; Waltraut Bleiber, Das Frankenreich der Merowinger. Wien/ Köln/Graz 1988; Edward James, The Franks. (The Peoples of Europe.) Oxford 1988; Wood, Merovingian Kingdoms (wie Anm. 1); Reinhold Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich. (Enzyklopädie Deutscher Geschichte 26.) 3. Aufl. München 2004; Eugen Ewig, Die Merowinger und das Frankenreich. 6. Aufl. Stuttgart 2012; sowie zuletzt Ulrich Nonn, Die Franken. Stuttgart 2010; Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt. München 2011; Reinhold Kaiser/Sebastian Scholz, Quellen zur Geschichte der Franken und der Merowinger. Vom 3. Jahrhundert bis 751. Stuttgart 2012. Vgl. hierzu auch Wood, Merovingian Kingdoms (wie Anm. 1), 35; Bleiber, Frankenreich (wie Anm. 2), 9; Kaiser, Das römische Erbe (wie Anm. 2), 80–84, zur Forschungsdiskussion; Michael Schmauder, The Relationship between Frankish Gens and Regnum: A Proposal Based on the Archaeological Evidence, in: Hans-Werner Goetz/Jörg Jarnut/Walter Pohl (Hrsgg.),
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nur sehr eingeschränkt auf die fränkischen Verhältnisse beziehen lässt und dementsprechend zur Beschreibung bzw. Erklärung fränkischer Gesellschaftsentwicklung nur bedingt geeignet ist.4 Hinzu kommt, dass sich die Formierung jener fränkischen Gesellschaft, die schließlich in eine Reichsbildung mündete, in einem zunächst noch funktionierenden römischen Umfeld vollzog. Während etwa die Goten, Vandalen oder auch die Langobarden zu dem Zeitpunkt ihrer Ansiedlung auf römischem Boden bereits über eine gentile Identität verfügten, also eine soziale, wirtschaftliche und im weitesten Sinne auch politische Gemeinschaft darstellten, scheint sich dieser Prozess bei den Franken erst innerhalb der provinzialrömischen Umgebung, in der sie uns spätestens seit der Mitte des 4. Jahrhunderts begegnen5, entwickelt zu haben.6 Diese Besonderheiten – zu denen auch die Annahme des Christentums nach katholischem Bekenntnis zu rechnen wäre7 – haben zweifellos zur Entstehung sowie zur langfristigen Etablierung des regnum Francorum beigetragen und seine im Hinblick auf die Verhältnisse im Mittelalter konstituierende Bedeutung mit bedingt. Unsicher ist jedoch, wie man sich die konkreten Modalitäten der hier angesprochenen Entwicklungsprozesse und Transformationen vorzustellen hat.8 Es versteht sich von selbst, dass im Folgenden keine erschöpfenden Antworten für die zahlreichen in diesem Zusammenhang offenen Fragen angeboten werden können. Es soll aber versucht werden, zumindest ausschnitthaft zu zeigen, wie Herrschaft innerhalb der fränkischen Gesellschaft um 500 organisiert war, welche Grenzen den Herrschern gesetzt waren und aus welchen Quellen sie ihre Legitimation bezogen, um auf diese Weise die Qualität der frühen fränkischen Königsherrschaft etwas konkreter zu bestimmen. Grundlage sind dabei die bereits in anderem Kontext dargelegten Bedingungen gentiler Herr-
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Regna and Gentes. The Relationship between Late Antique and Early Medieval Peoples and Kingdoms in the Transformation of the Roman World. (The Transformation of the Roman World 13.) Leiden/Boston 2003, 271–306; Hans-Werner Goetz, Gens, Kings and Kingdoms: the Franks, ebd., 307–344, bes. 308f. Vgl. etwa Walter Pohl, Alemannen und Franken. Schlußbetrachtungen aus historischer Sicht, in: Dieter Geuenich (Hrsg.), Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/97). (RGA Erg.-Bd. 19.) Berlin/New York 1998, 636–651, hier 649f. Ausführlicher hierzu Kaiser/Scholz, Quellen (wie Anm. 2), 48–51. Dahingehend bereits Bleiber, Frankenreich (wie Anm. 2), 34f.; sowie Bernhard Jussen, Chlodwig und die Eigentümlichkeiten Galliens. Ein warlord im rechten Augenblick, in: Mischa Meier (Hrsg.), Sie schufen Europa. Historische Portraits von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, 141–155, hier 150f. Kaiser, Römisches Erbe (wie Anm. 2), 20, spricht von einer „universalhistorischen Bedeutung“; vgl. auch Patrick Geary, Die Merowinger. Europa vor Karl dem Großen. München 1996, 92f. (engl. Ausgabe: Before France and Germany. The Creation and Transformation of the Merovingian World. New York/Oxford 1988); Kaiser/Scholz, Quellen (wie Anm. 2), 11f.; sowie Martina Hartmann, Die Merowinger. München 2012, 20. Vgl. in diesem Kontext auch den anregenden Beitrag von Hagen Keller, Strukturveränderungen in der westgermanischen Welt am Vorabend der fränkischen Großreichsbildung. Fragen, Suchbilder, Hypothesen, in: Dieter Geuenich (Hrsg.), Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/97). (RGA Erg.-Bd. 19.) Berlin/New York 1998, 581–607.
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schafts- und Gesellschaftsentwicklung9, die im Folgenden aber nicht mehr im Einzelnen entwickelt werden. Die wichtigste Quelle für die Erforschung der fränkischen Geschichte im 5. und 6. Jahrhundert stellen die wohl Mitte 570 begonnenen und um die Mitte der 590er-Jahre beendeten Historiarum libri decem Gregors von Tours dar, deren Aussagewert jedoch umstritten und im Einzelfall oftmals nur schwer zu bestimmen ist.10 Der Bischof von Tours hat seine „Frankengeschichte“ offenbar in hohem Maße durchkomponiert, weshalb davon ausgegangen wird, dass das Werk stark von seinen persönlichen Vorstellungen geprägt ist und ganz eigenen Intentionen folgt, die sich aus heutiger Sicht nicht immer klar erkennen lassen. Ein wichtiges Gestaltungsmerkmal ist dabei die ausgeprägte Bezugnahme auf den christlichen Glauben, der gewissermaßen als Grundlage, Movens und Ziel der Geschichtserzählung fungiert. Daneben treten aber immer wieder auch tagespolitische Aspekte und Motive zutage, an denen deutlich wird, dass Gregor als Bischof und Angehöriger der zeitgenössischen Machteliten im Frankenreich mit seinen Ausführungen auf aktuelle Ereignisse reagiert und zu diesen Stellung bezogen hat. Während die Darstellung der von Gregor selbst erlebten Zeitspanne vor diesem Hintergrund hinsichtlich der sozio-politischen Strukturen der fränkischen Gesellschaft über einen vergleichsweise hohen Authentizitätsgrad verfügen dürfte, ist der Realitätsgehalt seiner Schilderung der Verhältnisse im 5. Jahrhundert, insbesondere aber das von ihm kolportierte Chlodwigbild kritisch zu hinterfragen. Schon Wallace-Hadrill hat in diesem Zusammenhang konstatiert, dass Chlodwig, so wie wir ihn kennen, in erster Linie Gregors Chlodwig sei und mit der historischen Persönlichkeit womöglich wenig gemein habe.11 Das Bild des Frankenkönigs und auch die in den Historiarum libri decem geschilderten Episoden sind zweifellos in hohem Maße konstruiert.12 Dennoch ist anzunehmen, dass Gregor auf allgemein bekannte, mündlich kursierende Erzähltraditionen Rücksicht nehmen und diese einbeziehen musste. Die episodenhafte Art der Darstellung ohne
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Stefanie Dick, Der Mythos vom germanischen Königtum. Studien zur Herrschaftsorganisation bei den germanischsprachigen Barbaren bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit. (RGA Erg.-Bd. 60.) Berlin/New York 2008, bes. Kap. 6 und 7. 10 Zu Gregor, seinem Werk und seinem Leben vgl. insbesondere Jean Verdon, Grégoire de Tours. Le Coteau 1989; sowie Adriaan H.B. Breukelaar, Historiography and Episcopal Authority in Sixth-Century Gaul. The Histories of Gregory of Tours Interpreted in their Historical Context. (Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte 57.) Göttingen 1994; Martin Heinzelmann, Gregor von Tours (538–594), „Zehn Bücher Geschichte“. Historiographie und Gesellschaftskonzept im 6. Jahrhundert. Darmstadt 1994; ders., Gregor von Tours, in: RGA2 12, 1998, 612–615. – Eine knappe Zusammenfassung des Forschungsstandes bieten Kaiser/Scholz, Quellen (wie Anm. 2), 23–25, mit weiterer Literatur. 11 John Michael Wallace-Hadrill, The Long-Haired Kings and Other Studies in Frankish History. London 1962, 163. 12 Kathleen Mitchell, Marking the Bounds: The Distant Past in Gregory’s History, in: Kathleen Mitchell/Ian Wood (Hrsgg.), The World of Gregory of Tours. (Cultures, Beliefs and Traditions 8.) Leiden/Boston/Köln 2002, 295–306, bes. 295.
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konkrete zeitliche Einbettung deutet darauf hin, ebenso die Kerninhalte der einzelnen Geschichten, wie die Beuteteilung von Soissons, der Tag von Tours, die Ausschaltung benachbarter fränkischer Machthaber oder die legendäre Taufe Chlodwigs. Als Bestandteile der kollektiven Erinnerung seiner Zeitgenossen konnte der Bischof von Tours diese Geschehnisse weder übergehen noch allzu stark umformen, ohne seine Glaubwürdigkeit aufs Spiel zu setzen. Lediglich durch die Art ihrer Einbettung in den von ihm gestalteten Erzählrahmen sowie durch Kommentierungen hat er versucht, sie in seinem Sinne zu deuten und einzuordnen, worauf wohl manche der Eigentümlichkeiten und Unausgewogenheiten des gregorianischen Chlodwigbildes zurückzuführen sind. Bezogen auf die Glaubwürdigkeit dieser Nachrichten ist letztlich festzuhalten, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit über einen historischen Kern verfügen und dass ihre Darstellung in den Historiarum libri decem zumindest für die Zeitgenossen Gregors überzeugend und nachvollziehbar gewesen sein muss. Sie spiegeln dementsprechend in erster Linie die Vorstellungen der Menschen des 6. Jahrhunderts wider und erlauben auf dieser Basis schließlich auch vorsichtige Rückschlüsse auf vorangegangene Zeiten.13 Da unsere zweite Quelle für die frühe fränkische Geschichte, die sogenannte Fredegar-Chronik und ihre Fortsetzungen, aus dem 7. Jahrhundert stammt und für die hier verfolgte Fragestellung keine eigenständigen Nachrichten bietet, sondern im Wesentlichen Gregor von Tours kompiliert, wird sie im Folgenden allenfalls ergänzend herangezogen. Nach der schriftlichen Überlieferung war in der Zeit um 500 das Königtum die zentrale Instanz fränkischer Herrschaftsorganisation. Spätestens Chlodwig (reg. ~482–511) wird ganz selbstverständlich als rex bezeichnet und auch für seinen um 481/82 verstorbenen Vater Childerich14 ist eine königliche Stellung unter den Franken anzunehmen, wie der in seinem Grab gefundene Siegelring mit der Aufschrift Childerici regis bezeugt. Freilich ist auch hier jeweils danach zu fragen, was Königtum im 5. Jahrhundert genau bedeutet hat, und welche Kompetenzen bzw. welche konkreten Möglichkeiten Herrschaft auszuüben (also inwiefern im Weber’schen Sinne die Chance bestand, dass ein gegebener Befehl auch ausgeführt wurde) in dieser Zeit mit der Bezeichnung rex verbunden waren. In anderem Zusammenhang konnte gezeigt werden, dass der rex-Titel bezogen auf gentile Verbände bis ins 4. Jahrhundert eine rein römische Perspektive widerspiegelt.15 Im ausgehenden 5. Jahrhundert befanden sich die römischen
13 Die von Wood herausgearbeitete Individualität Gregors von Tours steht dem nicht entgegen, vgl. Ian Wood, The Individuality of Gregory of Tours, in: Kathleen Mitchell/Ian Wood. (Hrsgg.), The World of Gregory of Tours. (Cultures, Beliefs and Traditions 8.) Leiden/Boston/Köln 2002, 29–46, bes. 46. 14 Zur Datierung vgl. die kritischen Überlegungen von Guy Halsall, Childeric’s Grave, Clovis’ Succession, and the Origins of the Merovingian Kingdom, in: Ralph W. Mathisen/Danuta Shanzer (Hrsgg.), Society and Culture in Late Antique Gaul. Revising the Sources. Aldershot 2001, 116–133. 15 Dick, Mythos (wie Anm. 9), bes. 203–214.
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Verwaltungsstrukturen im ehemaligen westlichen Teil des imperium Romanum jedoch bereits in einem Prozess der Auflösung und Transformation, so dass nunmehr von deutlich veränderten Rahmenbedingungen auszugehen ist. Während der auf besagtem Siegelring befindliche rex-Beleg für Childerich noch in einem stark römischen Kontext steht, indem er auf die römische Rechts- und Verwaltungspraxis verweist, lässt das Königtum Chlodwigs diesen engen Rombezug nicht mehr erkennen und erscheint primär als eigenständige Größe. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden auf der Grundlage der Darstellung des Bischofs von Tours näher untersucht werden. Gleich im zweiten Buch seiner „Zehn Bücher Geschichten“ kommt Gregor auf das fränkische Königtum zu sprechen, dessen Ursprünge er freilich nicht so recht ausmachen kann: Wer aber von den Frankenkönigen der erste gewesen ist, ist vielen unbekannt. Denn obwohl das Geschichtswerk des Sulpicius Alexander vieles von den Franken berichtet, nennt er doch den ersten König derselben nicht, sondern spricht davon, dass sie duces hatten.16
Den Umstand, dass diese zunächst als duces ausgewiesenen Personen, nämlich Gennobaudes, Marcomer und Sunno, an einer anderen Stelle seiner Vorlage als regales bezeichnet werden, kommentiert Gregor durchaus kritisch. Er bemerkt hierzu: Wenn der Geschichtsschreiber aber jene hier ‚Königliche‘ (regales) nennt, so wissen wir nicht, ob sie Könige waren oder nur die Stelle von Königen vertraten.17
Anschließend führt er noch zwei weitere Stellen an: Einmal spricht Sulpicius Alexander die bereits genannten Anführer Sunno und Marcomer als ‚Kleinkönige‘ (subregulos) an, während in dem anderen Fall ganz allgemein von Alamannorum et Francorum reges die Rede ist.18 Bei Renatus Profuturus Frigeridus, einem weiteren von Gregor herangezogenem Gewährsmann, gibt es ihm zu denken, dass dieser, „[…] der hier Könige der anderen Völker nennt, bei den Franken keinen König erwähnt“.19 Und auch bei Orosius vermisst der Turonenser Bischof die Nennung fränkischer Könige.20 Nachdem die für Gregor grundsätzlich in hohem Maße glaubwürdigen schriftlichen Quellen mit Ausnahme einer Konsulliste, die einen Frankenkönig namens Theudomer erwähnt, keine zufriedenstellenden Auskünfte geben, greift er auf die zeitgenössische mündliche Überlieferung zurück („tradunt enim multi […]“). Da-
16 Gregor von Tours, Libri Historiarum decem, II, 9, edd. Bruno Krusch/Wilhelm Levison, in: MGH SS rer. Merov. 1/1. 2. Aufl. Hannover 1951, 52; ed. Rudolf Buchner, Gregor von Tours, Zehn Bücher Geschichten, Bd. 1: Buch 1–5. (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters 2.) 8. Aufl. Darmstadt 2000, 81 (danach – hier und im Folgenden – die dt. Übers.). 17 Gregor, Hist., II, 9 (wie Anm. 16), 85. 18 Gregor, Hist., II, 9 (wie Anm. 16), 87. 19 Gregor, Hist., II, 9 (wie Anm. 16), 87. 20 Gregor, Hist., II, 9 (wie Anm. 16), 89.
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nach hätten die Franken, nachdem sie den Rhein überquert und sich in Thoringiam niedergelassen hätten, nach Gauen und Stadtbezirken gelockte Könige (die legendären reges criniti) über sich gesetzt. Anschließend nennt Gregor noch Chlogio, aus dessen Stamm Merovech entsprossen, dessen Sohn wiederum Childerich gewesen sei.21 An dieser vielzitierten Quellenstelle lassen sich einige grundsätzliche Beobachtungen zur fränkischen Herrschaftsorganisation im 5. und 6. Jahrhundert festmachen: Zunächst einmal zeigt sich, dass für den im ausgehenden 6. Jahrhundert wirkenden Bischof Gregor von Tours das Königtum als herrschaftliche Zentralinstanz bereits eine Selbstverständlichkeit darstellte.22 Umso mehr irritiert es ihn, dass er selbiges trotz erheblicher Anstrengungen kaum weiter als drei Generationen zurückverfolgen kann. Hier kollidieren ganz offensichtlich überkommene römische Vorstellungen von dynastischem Königtum mit den Realitäten gentiler Gesellschaftsentwicklung. Es wird zweitens deutlich, dass Gregor mit der changierenden Terminologie, welche die ansonsten von ihm hochgeschätzten antiken Autoritäten für die Bezeichnung fränkischer Anführer verwenden, also mit Begriffen wie regales oder subreguli nicht wirklich etwas verbinden kann. Sie spiegeln eine römische Wahrnehmungsperspektive, die offenbar schon im ausgehenden 6. Jahrhundert auch von den der römischen Kultur noch am nächsten stehenden gesellschaftlichen Eliten nicht mehr geteilt und auch nicht mehr verstanden wurde. Gregors Frage nach dem ersten Frankenkönig läuft letzthin ins Leere, so dass er – wie wir gesehen haben – etwas ratlos auf im Volksmund kursierende Erzählungen zurückkommt, die zwar immerhin noch einige Namen bieten, aber keine in sich stimmigen historischen Zusammenhänge mehr erkennen lassen. Betrachtet man die von Gregor von Tours als unserem Kronzeugen der fränkischen Geschichte zusammengetragenen Nachrichten über die Franken jedoch genauer, dann erweist es sich, dass sich diese trotz mancher Widersprüchlichkeiten und chronologischen Probleme erstaunlich gut in das Bild unserer Gesamtüberlieferung der Verhältnisse bei den germanischsprachigen gentes einfügen. So findet sich die bereits angesprochene wechselhafte Bezeichnung barbarischer Anführer23 in nahezu allen römischen Quellen und ist vor allem Ausdruck eines römischen Bezugsrahmens sowie römischer Interessen.24 Mit den tatsächlich gegebenen herrschaftlichen Strukturen der jeweiligen gens haben diese der römischen Verfassungs- und Rechtssphäre entlehnten Begriffe wenig bis nichts zu tun. Dies gilt sicher für die Zeit bis zum Ende des 4. Jahrhunderts – danach sind, wie gerade am Beispiel der Franken deutlich wird, Veränderungen erkennbar. Wenn Gregor von Tours jedenfalls im ausgehenden 6. Jahrhundert nach dem ersten König der Franken, dem primus rex Francorum, fragt, dann meint er damit ein institutionalisier21 Gregor, Hist., II, 9 (wie Anm. 16), 91. 22 Vgl. auch Alheydis Plassmann, Origo gentis. Identitäts- und Legitimationsstiftung in frühund hochmittelalterlichen Herkunftserzählungen. (Orbis Mediaevalis 7.) Berlin 2006, 125. 23 Vgl. die Zusammenstellung bei Ewig, Merowinger (wie Anm. 2), 10. 24 Dick, Mythos (wie Anm. 9), 48–50; 203–209; 212f.
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tes Königtum, wie es zu seiner Zeit bereits in Grundzügen ausgebildet war und für das Mittelalter typisch werden sollte. Die Anstrengungen, die er unternimmt, seine auf das späte 6. Jahrhundert bezogenen Vorstellungen vom fränkischen Königtum mit der ihm zugänglichen Überlieferung über das 5. und frühe 6. Jahrhundert in Einklang zu bringen, ermöglichen dabei zumindest punktuelle Einblicke in die entsprechenden gesellschaftlichen Entwicklungsprozesse, die sich gerade in diesem Zeitraum vollzogen haben müssen. Auch die seitens des von Gregor zitierten Sulpicius Alexander verwendeten Bezeichnungen für die Anführer germanischsprachiger Kriegergruppen – duces, regales, subreguli – stehen in einschlägigen Traditionen und vermitteln in erster Linie einen Eindruck von dem Unbehagen der Römer, die sich im Falle notwendiger Verhandlungen vielfach mit mehreren Anführern auseinandersetzen mussten, deren gleichrangige Autorität dann mit solchen Ausdrücken umschrieben wurde.25 Im Hinblick auf die Frage nach den Modalitäten fränkischer Herrschaftsorganisation ergibt sich hieraus aber immerhin ein Hinweis darauf, dass die Franken im ausgehenden 4. Jahrhundert, auf die sich die zitierte Stelle bezieht, wohl noch nicht geeint unter der Führung eines Königs standen, sondern vielmehr eine Vielzahl von Gruppierungen/Verbänden oder auch nur Siedlungsgemeinschaften darstellten26, die jeweils eigene militärische Anführer hatten.27 Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die folgende, bereits in anderem Kontext erwähnte Nachricht Gregors von Tours: Viele erzählen aber, die Franken seien aus Pannonien gekommen, und hätten sich zuerst an den Ufern des Rheins niedergelassen, dann seien sie über den Rhein gegangen und nach Thoringien gezogen; dort hätten sie nach Gauen und Stadtbezirken gelockte Könige über sich gesetzt, aus ihrem ersten und sozusagen adligsten Geschlecht.28
Im Hinblick auf die angenommene Herkunft der Franken aus Pannonien weist diese Stelle unzweifelhaft einige Verzerrungen auf. Dennoch enthält sie zwei zentrale Informationen: Zum einen besagt sie, dass die Franken nicht seit alters her ihre damaligen Sitze in der Gallia innehatten, was sich auch auf der Grundlage anderer Quellen verifizieren lässt.29 Viel wichtiger aber ist, dass darüber hinaus angedeutet wird, wie sich die Herrschafts- und Gesellschaftsorganisation in der Zeit nach der Ansiedlung dargestellt hat. Es ist bezeichnend, dass Gregor diese Nachricht mit dem Hinweis untermauert, die Siege Chlodwigs über benachbarte
25 Dick, Mythos (wie Anm. 9), 212f. 26 Schneider, Königswahl (wie Anm. 2), 64; 69, spricht in diesem Kontext in Anlehnung an Wenskus von „Stammesschwarm“; vgl. dazu indes jüngst Kaiser/Scholz, Quellen (wie Anm. 2), 49. Zur Kleinräumigkeit der Gesellschaftsorganisation vgl. ferner Jussen, Chlodwig (wie Anm. 6), 152; und zuletzt Kaiser/Scholz, Quellen (wie Anm. 2), 54; 66. 27 Nonn, Franken (wie Anm. 2), 63–67, fasst diese Anführer noch als Könige auf. 28 Gregor, Hist., II, 9 (wie Anm. 16), 89. 29 Vgl. hierzu grundlegend Helmut Castritius, Überlegungen zu Herkunft und Ethnogenese der Franken, in: Historia archaeologica. (RGA Erg.-Bd. 70.) Berlin/New York 2009, 217–224; sowie Nonn, Franken (wie Anm. 2).
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reges der Franken wie Sigibert, Chararich und Ragnachar würden dies beweisen.30 Ganz offensichtlich bringt der Bischof von Tours die noch im ausgehenden 5. Jahrhundert bezeugte Existenz mehrerer fränkischer Verbände unter jeweils eigener Anführerschaft mit dieser ursprünglichen Form kleinräumiger Siedlungsund Gesellschaftsorganisation in Verbindung. Ob es sich dabei tatsächlich schon um Königtümer im Sinne institutionalisierter Herrschaft gehandelt hat, ist fraglich und für die Zeit der unter Kaiser Julian 358 erfolgten Ansiedlung in Toxandrien31 angesichts des in der Mitte des 4. Jahrhunderts erreichten sozio-kulturellen Entwicklungsstandes der germanischsprachigen Gesellschaften insgesamt eher unwahrscheinlich.32 Für das ausgehende 5. Jahrhundert indes ist die Frage nach dem Königtum deutlich schwerer zu beantworten. Sowohl Chlodwig als auch die von ihm bezwungenen benachbarten fränkischen Machthaber sind klar als etablierte militärische Anführer erkennbar. Der Umstand, dass Gregor von Tours, der freilich mit dem rex-Begriff des 6. Jahrhunderts operiert, sie sämtlich als reges bezeichnet, verweist auf die grundsätzliche Gleichrangigkeit ihrer Positionen bezüglich der von ihnen angeführten Verbände. Wenn wir also Chlodwig zu diesem Zeitpunkt bereits als König auffassen, dann müssten Sigibert, Chararich und Ragnachar ebenfalls Könige gewesen sein. Es wäre freilich auch denkbar, dass gerade dadurch, dass es Chlodwig gelang, diese gleichrangigen konkurrierenden Machthaber auszuschalten, unterschiedliche fränkische Gruppierungen zu einem großen Verband zusammenzuschließen und damit die Kleinräumigkeit zu überwinden, erst die Grundlage für die dauerhafte Etablierung des Königtums als Institution geschaffen wurde. In diesem Zusammenhang drängt sich ein Vergleich mit der Situation der Langobarden in Italien auf. Nach der erfolgreichen Landnahme 568 und einer ersten Phase der Konsolidierung langobardischer Herrschaft wurde nach der Ermordung Clephs 574 zunächst kein neuer König eingesetzt. Vielmehr zerfiel die während der Migrationsphase geeint agierende gens in zahlreiche kleinere Einheiten, die sich – wie schon bei den Franken etwa zweihundert Jahre zuvor gut erkennbar – an der Struktur der römischen civitates orientierten und entsprechend gliederten. Paulus Diaconus berichtet in seiner Historia Langobardorum von mehr als dreißig duces mit jeweils eigenen Herrschaftsgebieten:
30 Gregor, Hist., II, 9 (wie Anm. 16), 89. 31 Amm. Marc. 17,8,3–5. Ausführlicher hierzu Bleiber, Frankenreich (wie Anm. 2), 20–26; Kaiser/Scholz, Quellen (wie Anm. 2), 89; zum archäologischen Befund vgl. Horst Wolfgang Böhme, Söldner und Siedler im spätantiken Nordgallien, in: Die Franken – Wegbereiter Europas, Bd. 1: Vor 1500 Jahren: König Chlodwig und seine Erben. Mainz 1996, 91–101, bes. 92; ferner Schmauder, Relationship (wie Anm. 3), 284. 32 Dick, Mythos (wie Anm. 7), 167–202. Das von Schmauder, Relationship (wie Anm. 3), 289– 292, konstatierte soziale Differenzierungsniveau ist militärischen Ursprungs, wie gerade an dem von ihm als Beispiel angeführten Fallward-Fund ablesbar ist.
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Nach seinem [Clephs] Tod waren die Langobarden zehn Jahre lang ohne König und wurden von duces regiert. Jeder dieser duces hatte eine Stadt inne (suam civitatem obtinebat).33
Bei den Langobarden hatte sich das im Zuge der Wanderung aus militärischen Erfordernissen entstandene Königtum nach der auf Dauer angelegten Ansiedlung zunächst nicht halten können. Erst eine Situation massiver Bedrohung von außen führte zu einem erneuten Zusammenschluss langobardischer Verbände auf italischem Boden und – mit dem Königtum Autharis – gewissermaßen zu einer ReInstallation königlicher Zentralgewalt.34 Bei den Franken waren die Rahmenbedingungen grundsätzlich anders gelagert. In der Gallia erfolgte ihre Ansiedlung mit römischer Billigung in einem Umfeld noch funktionierender römischer Provinzorganisation. Da im Vorfeld keine großräumigen Migrationen stattgefunden hatten, ist auch nicht von dadurch bedingten protomonarchischen Herrschaftsstrukturen auszugehen, wie sie etwa bei den Langobarden schon vor der Landnahme in Italien fassbar sind. Stattdessen erscheint es hier in hohem Maße plausibel anzunehmen, dass die größer angelegten Beutezüge, von denen in den römischen Quellen jener Zeit so eindrücklich berichtet wird35, durch temporär zusammengeschlossene Kriegerverbände durchgeführt wurden, die – im Falle der Franken – nach ihrer Ansiedlung in römischem Gebiet ganz selbstverständlich in ihre ursprünglichen, überschaubaren Einheiten zurückfielen und jeweils eigene Siedlungsgemeinschaften bildeten, die sich an den vorhandenen Strukturen der römischen Provinzverwaltung, den pagi et civitates, orientierten. Sowohl bei den Langobarden als auch bei den Franken ist das Moment kleinräumiger Organisationsstrukturen als ältere, ursprüngliche Gesellschaftsform mit lokal und regional agierenden Anführern gut erkennbar. Gerade das langobardische Beispiel zeigt, dass diese Organisationsform ganz offensichtlich keine Grundlage für ein Königtum bot, sondern dass es für die Einrichtung einer solchen Zentralgewalt des verbindlichen Zusammenschlusses dieser kleineren Einheiten bedurfte. Nach Paulus Diaconus haben sich die Langobarden in einer Situation existentieller Not gezielt für das Königtum entschieden, und die zahlreichen regionalen Anführer, die duces, waren sogar dazu bereit, jeweils die Hälfte des von ihnen beherrschten Gebietes mitsamt der dazugehörigen Einkünfte an den neu zu bestimmenden König abzutreten.36 Bei den Franken liegen die fraglichen Er-
33 Paulus Diaconus, Historia Langobardorum, II, 32, ed. Georg Waitz, in: MGH SS rer. Germ. [48], Hannover 1878, 108. 34 Vgl. etwa Schneider, Königswahl (wie Anm. 2), 25; sowie Stefanie Dick, Langobardi per annos decem reges non habentes, sub ducibus fuerunt. Formen und Entwicklung der Herrschaftsorganisation bei den Langobarden. Eine Skizze, in: Walter Pohl/Peter Erhardt (Hrsgg.), Die Langobarden. Herrschaft und Identität. (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschr. 329/Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 9.) Wien 2005, 335–343. 35 Hierzu ausführlicher Castritius, Überlegungen (wie Anm. 29). 36 Paulus, Hist. Lang., III, 16 (wie Anm. 33), 123.
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eignisse im Dunkeln. Aber es fällt immerhin auf, dass auch hier das Königtum erst zur Entfaltung kam, nachdem die kleinräumigen Formen gesellschaftlicher Organisation überwunden waren. In diesem Zusammenhang ist noch einmal auf Childerich, den Vater Chlodwigs, zurückzukommen, der ja durch die Aufschrift seines Siegelrings unzweifelhaft als rex ausgewiesen ist – und dies, bevor Chlodwig die Franken unter seiner Führung geeint hatte. Wären wir für die Beurteilung Childerichs ausschließlich auf die schriftliche Überlieferung angewiesen, dann würden uns einige wesentliche Informationen fehlen. Durch die 1653 erfolgte Auffindung seines Grabes jedoch und die für diese Zeit außerordentlich gute Dokumentation der Funde, die inzwischen größtenteils verschollen sind37, verfügen wir über selten aussagekräftiges, unsere Kenntnisse ergänzendes Material, das wertvolle Einblicke in das Leben und Sterben eines fränkischen Anführers in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts ermöglicht.38 Besonders glücklich ist dabei der Umstand, dass das Grab durch die Aufschrift des darin aufgefundenen Siegelrings eindeutig zugeordnet werden kann, und zwar einer Gestalt, die uns auch in den schriftlichen Quellen begegnet. Die einzelnen Fundstücke und Bedingungen der insgesamt sehr aufwändigen Bestattung sind bereits vielfach dargelegt und diskutiert worden, so dass es an dieser Stelle genügen mag, einige wenige Aspekte anzusprechen: Für die hier untersuchte Fragestellung von Bedeutung ist dabei vor allem das Nebeneinander von Signaturen einerseits einer römischen Militärlaufbahn, wie sie in dem als paludamentum (römischer Offiziersmantel) gedeuteten golddurchwirkten Gewand39, vor allem aber in der goldenen Zwiebelkopffibel zum Ausdruck kommen, und andererseits der Stellung eines Angehörigen der fränkischen Machteliten, wie sie sich etwa in der als monumentales Hügelgrab ausgeführten Bestattung, den am Rand des Grabes befindlichen Pferdegräbern mit den Überresten von insgesamt einundzwanzig Tieren, dem Armreif aus massivem Gold, wie er sich auch in anderen sogenannten germanischen Prunkgräbern findet40, sowie zahlreichen weiteren kunstvoll gearbeiteten mit Granaten besetzten goldenen Schmuck- und Zierstücken und nicht zuletzt den zum Teil sehr kostbaren Waffen zeigt, die dem Verstorbenen mit ins Grab gegeben worden waren. Das eindrucksvollste Zeugnis dieser kulturellen Hybridstellung Childerichs ist der bereits erwähnte Siegelring.41 37 Vgl. z.B. Hartmann, Merowinger (wie Anm. 6), 16. 38 Zu den Funden vgl. Kurt Böhner, Childerich von Tournai, in: RGA2 4, 1981, 441–460; Patrick Périn/Michel Kazanski, Das Grab Childerichs I., in: Die Franken – Wegbereiter Europas, Bd. 1: Vor 1500 Jahren: König Chlodwig und seine Erben. Mainz 1996, 173–182. 39 Nonn, Franken (wie Anm. 2), 111. 40 Vgl. etwa Alfred Wieczorek/Patrick Périn (Hrsgg.), Das Gold der Barbarenfürsten. Schätze aus Prunkgräbern des 5. Jahrhunderts n. Chr. zwischen Kaukasus und Gallien. Stuttgart 2001. 41 Vgl. insbesondere Michael Richter, Wozu hatte Childerich einen Siegelring?, in: Dieter Hägermann/Wolfgang Haubrichs/Jörg Jarnut (Hrsgg.), Akkulturation. Probleme einer germanisch-romanischen Kultursynthese in Spätantike und frühem Mittelalter. (RGA Erg.-Bd. 41.) Berlin/New York 2004, 359–366.
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Während der Ring in seiner Funktionalität auf einen eindeutig römischen Kulturkontext verweist, zeugt die Aufschrift Childerici regis von einer auf die fränkische Gesellschaft bezogenen Position des Trägers. Dabei kann nicht ausgeschlossen werden, dass die rex-Titulatur eine vornehmlich römische Sicht auf die Verhältnisse widerspiegelt, aber Childerich wird verstanden und akzeptiert haben, was damit gemeint war. In der Person Childerichs sind römische und fränkische Elemente aufs engste miteinander verbunden oder sogar verschmolzen. Sie waren für die Zeitgenossen auch wohl nicht ernsthaft voneinander zu trennen. Genau in diesem Umstand aber dürfte die eigentliche Keimzelle fränkischen Königtums und damit der fränkischen Herrschaftsorganisation gelegen haben. Die so aufwändig und auf einzigartige Weise inszenierte Bestattung Childerichs zeigt die Bedeutung, die Chlodwig, auf dessen Veranlassung das Grab von Tournai gestaltet worden war, ihr beigemessen haben muss.42 Dementsprechend ist anzunehmen, dass auch die Auswahl der Grabbeigaben sehr gezielt vorgenommen wurde und diese ganz bestimmte Informationen und Werte vermitteln sollten, die in der insgesamt unsicheren Zeit des ausgehenden 5. Jahrhunderts dem Führungsanspruch seines Sohnes und präsumptiven Nachfolgers Stabilität und Legitimation verleihen mochten. Der Umstand, dass Childerich offenbar eine Stellung erlangt hatte, in der er gentile Anführerschaft mit einer offiziellen militärischen Position in der römischen Provinzadministration erfolgreich verbinden konnte, sowie der Umstand, dass es Chlodwig gelungen war, die wesentlichen Funktionen seines Vaters zu übernehmen und weiter auszubauen, dürften grundlegend dazu beigetragen haben, dass sich um 500 vor dem Hintergrund des zerfallenden weströmischen Reiches ein fränkisches Königtum entwickeln konnte. Die von Childerich erreichte Machtstellung ist dabei als Produkt eines länger andauernden Prozesses zu betrachten, der auf die Modalitäten der im 4. Jahrhundert erfolgten Ansiedlung in Toxandrien zurückgeht. Die in den Quellen pauschal als Franken bezeichneten Verbände hatten diese Landzuweisung sicher nicht ohne Gegenleistung erhalten. Vermutlich war daran die Bedingung geknüpft, dass die neuen Provinzbewohner Rom für dieses Privileg mit Truppen bei der Verteidigung der Rheingrenze unterstützen sollten. Das war eine für beide Seiten günstige Regelung: Rom erhielt eine dauerhafte Option auf den stets dringend benötigten militärischen Nachschub und die fränkischen Krieger die Möglichkeit zu einer ihrem Selbstverständnis und Rangbewusstsein gemäßen Beschäftigung. Aufgrund der zu erwartenden römischen Soldzahlungen erreichten sie zugleich eine gewisse ökonomische Absicherung ihres Status, so dass der soziale Differenzierungspro-
42 Vgl. Halsall, Childeric’s Grave (wie Anm. 14), 121f.; 128f.; ferner Guido M. Berndt, Der Rex Francorum Childerich, die Umstrukturierung der Macht in Gallien und ein Grab in Tournai – Indizien für einen Wechsel der Religion?, in: Niklot Krohn/Sebastian Ristow (Hrsgg.), Wechsel der Religionen – Religionen des Wechsels. Tagungsbeiträge der Arbeitsgemeinschaft Spätantike und Frühmittelalter 5: Religion im archäologischen Befund (Nürnberg, 27.– 28. Mai 2010). (Studien zu Spätantike und Frühmittelalter 4.) Hamburg 2012, 167–192, hier 176; 183.
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zess, in dessen Verlauf sie sich als gesellschaftliche Gruppierung aus der ansonsten bäuerlich wirtschaftenden Bevölkerung heraus entwickelt hatten, weiter voranschreiten konnte.43 In diesem Szenario konnten sich die noch relativ jungen, primär auf dem Kriegertum beruhenden Eliten festigen. Darüber hinaus werden die konkreten Erfordernisse, welche die Niederlassung in einer durch römische Strukturen geprägten Umgebung zu den oben umrissenen Konditionen mit sich brachten, auch zu einer Verfestigung zentraler Anführerschaft geführt haben: Zum einen, weil die bei aller gentilen Eigenständigkeit unerlässliche Kommunikation und die Auseinandersetzung mit der römischen Verwaltungsorganisation einen zentralen Ansprechpartner erforderlich machte, vor allem aber, weil fortgesetzte militärische Aktivitäten, das heißt die von Rom geforderte Einbindung fränkischer Kriegertruppen, ohne einen zentralen Befehlshaber gar nicht möglich gewesen wären. Es ist gewiss kein Zufall, dass wir Childerich und die von ihm angeführten fränkischen Krieger in den „Zehn Büchern Geschichten“ Gregors von Tours wiederholt auf der Seite Roms kämpfen sehen.44 Die in seinem Grab aufgefundenen römischen Solidi aus der Zeit des oströmischen Kaisers Leon I. (457–474) und seines Nachfolgers Zenon (474–491) werden mit Recht als Lohn für geleistete Militärdienste angesprochen.45 Eine ebenso interessante wie aussagekräftige Quelle für die erste Zeit nach dem Herrschaftsantritt Chlodwigs stellt der Brief des Bischofs Remigius von Reims aus den 480er-Jahren dar. In diesem wird Chlodwig von Remigius, als einem Vertreter der gallo-römischen Senatorenschicht, zunächst als König bezeichnet, des Weiteren stellt der Reimser Bischof fest: „Es ist zu uns die laute Kunde gelangt, dass Du die Verwaltung (administratio) der Belgica secunda übernommen hast“. 46 Wie Becher in diesem Kontext bereits dargelegt hat47, umschreibt Remigius damit einen Zustand, der mit der ehemals römischen Verwaltungsorganisation nur noch sehr entfernt und allenfalls dem Namen nach zu tun hatte. Weder die Provinzbezeichnung noch die Amtsbezeichnung entsprechen ihrem ursprünglichen Gehalt. Sie waren aber ganz offensichtlich noch als Rahmen von Bedeutung, der ein gewisses Maß an Regelhaftigkeit, Stabilität, Ordnung und Legitimation garantierte oder zu garantieren schien, und zwar nicht nur für die fränkischen Machteliten, sondern auch für die Vertreter der verbliebenen gallo-römischen Oberschicht, die ebenfalls kleinräumig wirksame, regionale Formen von Herrschaft etabliert
43 Vgl. grundlegend zu diesem Prozess Dick, Mythos (wie Anm. 9). 44 Vgl. auch James, The Franks (wie Anm. 2), 38–44. 45 Becher, Chlodwig (wie Anm. 2), 136; ferner Matthias Hardt, Tribute und Jahrgelder in frühmittelalterlichen Königsschätzen als Faktoren der Münzdistribution in Ostmitteleuropa, in: M. Wołoszyn (Hrsg.), Byzantine Coins in Central Europe between 5th and 10th Century. (Moravia Magna, Seria Polona 3.) Krakau 2009, 21–30, bes. 21f. und 24. 46 Epistolae Austrasicae, ed. Wilhelm Gundlach, in: MGH Epp. 3. Hannover 1883, 110–153, hier Nr. 2, 113; Übers. nach Becher, Chlodwig (wie Anm. 2), 153. 47 Becher, Chlodwig (wie Anm. 2), 153–155.
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hatte und sich zusammen mit den Franken mit und in den gegebenen Verhältnissen arrangieren musste.48 Dabei ist es bezeichnend, dass auch hier der rex-Titel als Signum einer gentilen Machtstellung und der Aspekt eines römischen Amtes in der Provinzverwaltung ineinander fließen.49 Versteht man das ChilderichBegräbnis als Bewerbung Chlodwigs für seine Nachfolge, dann erweist der Remigius-Brief diese Strategie als erfolgreich. Als weiteres Beispiel sei hier ein Brief des Ostgotenherrschers an Chlodwig angeführt, der mit folgender Wendung beginnt: „König Theoderich an Chlodwig, König der Franken“.50 An diesem Beispiel wird deutlich, dass der ursprünglich römische Terminus rex um 500 endgültig Eingang in die Verfassungswirklichkeit der gentilen Verbände gefunden hatte. Allem Anschein nach war er geeignet, um die Rolle des militärischen Anführers zu kennzeichnen, der sich – das zeigen gerade die Theoderich-Briefe – inzwischen auch zu einer politischen Führungsgestalt entwickelt hatte und in dieser doppelten Eigenschaft Ansprechpartner in diplomatischen Belangen war – und dies für römische ebenso wie für gentile Amtsträger. Die von Cassiodor im Auftrag Theoderichs verfassten Briefe – es sind noch weitere an den Westgotenkönig Alarich und an den Burgunderkönig Gundobad erhalten – vermitteln darüber hinaus einen Eindruck davon, wie sehr die noch im Stadium der Herausbildung befindlichen Organisationsstrukturen gentiler Herrschaft an dem Vorbild der kulturell überlegenen römischen Gepflogenheiten orientiert waren, für die das eigene sozio-kulturelle Entwicklungsniveau noch kaum hinreichende Ansätze bot. In diesem Zusammenhang sei der sogenannte Tag von Tours 508 wenigstens noch kurz erwähnt, an dem Chlodwig von Kaiser Anastasios zum Konsul ernannt und mit kaiserlichen Würdezeichen, purpurnen Gewändern und einem Diadem, geehrt wurde.51 Bei Gregor von Tours heißt es hierzu weiter:
48 Vgl. hierzu auch Jussen, Chlodwig (wie Anm. 6), 142–149, der dies in Anlehnung an die politische Governance-Forschung als „Typus politischer Organisation mit begrenzter Staatlichkeit“ (145) klassifiziert. Aber selbst wenn die ecclesia zu dieser Zeit als „zentrale[s] politische[s] Medium der Aristokraten“ (149) hervortrat und das Imperium „als Bezugspunkt schon weit weg“ (149) war, muss Letzteres doch noch eine gewisse Bedeutung zumindest im Sinne eines grundsätzlichen Orientierungsangebots besessen haben, sonst ließen sich diese wiederholten Reminiszenzen noch bei Gregor von Tours nicht erklären. 49 Ulrich Nonn, Zur Verwaltungsorganisation in der nördlichen Galloromania, in: Dieter Geuenich (Hrsg.), Die Franken und die Alemannen bis zur „Schlacht bei Zülpich“ (496/97). (RGA Erg.-Bd. 19.) Berlin/New York 1998, 82–94, hier 82. 50 Cassiodor, Variae, II, 41, ed. Theodor Mommsen, in: MGH Auct. ant. 12. Berlin 1894, 73; Übers. nach Becher, Chlodwig (wie Anm. 2), 217. 51 Hierzu unlängst Helmut Castritius, Chlodwig und der Tag von Tours, in: Matthias Becher/Stefanie Dick (Hrsgg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter. (MittelalterStudien 22.) München 2010, 113–120.
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Stefanie Dick Dann bestieg er ein Pferd und streute unter das anwesende Volk […] mit eigener Hand Gold und Silber […] mit der größten Freigebigkeit aus; und von diesem Tag wurde er Konsul oder Augustus genannt.52
Erneut wird die Hybridität der herrschaftlichen Gewalt Chlodwigs sichtbar, die ihre Legitimation zum Teil aus den Relikten römischer Strukturen bezog. Obschon der Konsultitel in den ehemaligen westlichen Provinzen Roms um 500 keine echte Funktion mehr hatte, konnte Chlodwig auf dieser Grundlage seine eigene Machtstellung bekräftigen und gegenüber der gallo-römischen Bevölkerung in den ihr vertrauten Formen darstellen.53 Diese seitens der Forschung zumeist im Sinne einer imitatio imperii54 verstandenen Handlungen oder auch Machtdemonstrationen waren wohl in erster Linie auf die Bedürfnisse der gallo-römischen Bevölkerungsanteile ausgerichtet. Darüber hinaus werden sie dazu beigetragen haben, das herrscherliche Selbstverständnis gentiler Anführer auszubilden und in bestimmten Formen zu etablieren.55 Auch die fränkische Bevölkerung dürfte von dieser Zurschaustellung herrscherlicher Macht in römischem Gewand beeindruckt gewesen sein. Immerhin eine Vorstellung von den Verhältnissen innerhalb der fränkischen Gesellschaft vermittelt jene von Gregor von Tours geschilderte Episode um die Beuteteilung von Soissons, die in ihrer Bedeutung für das Verständnis der fränkischen Herrschaftsorganisation um 500 kaum zu überschätzen ist: Dazumal wurden viele Kirchen von Chlodovechs Heer geplündert, denn er war noch vom heidnischen Aberglauben befangen. So hatten auch die Franken aus einer Kirche einen Krug von wunderbarer Größe und Schönheit nebst den anderen kostbaren Geräten des Gottesdienstes weggenommen. Der Bischof jener Kirche sandte darauf Boten zum König und bat, daß wenn er auch nichts anderes von den heiligen Geräten wiedererlangte, seine Kirche doch
52 Gregor, Hist., II, 38 (wie Anm. 16), 135. 53 Zum legitimatorischen Aspekt vgl. Hans-Hubert Anton, Chlodwig, in: RGA2 4, 1981, 478– 485, hier 484; Kaiser, Das römische Erbe (wie Anm. 2), 22; ferner Becher, Chlodwig (wie Anm. 2), 235–239. 54 Kritisch zu diesem terminologisch auf Hauck zugehenden Konzept unlängst Bernhard Jussen, Um 567 – Wie die poströmischen Könige sich in Selbstdarstellung übten, in: Bernhard Jussen (Hrsg.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit. München 2005, 14–26, hier 17–19. 55 Vgl. hierzu auch die Überlegungen von Steven C. Fanning, Clovis Augustus and Merovingian imitatio imperii, in: Kathleen Mitchell/Ian Wood (Hrsgg.), The World of Gregory of Tours. (Cultures, Beliefs and Traditions 8.) Leiden/Boston/Köln 2002, 321–335. Zu den politischen und administrativen Strukturen sowie eventuellen römischen Kontinuitäten im entstehenden Frankenreich vgl. Stefan Esders, Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum. Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6. und 7. Jahrhundert. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 134.) Göttingen 1997, bes. 358 und passim, der aufzeigt, wie sich das merowingische Königtum infolge des römischen Einflusses veränderte bzw. entwickelte (359 und 438–443) und in vielfacher Weise an die Rechtskonstruktionen des römischen Kaisertums anknüpfte (408 und passim). Vor allem im fiskalischstrafrechtlichen Bereich sind nach Esders (464f.) römische Staatlichkeitstraditionen fortgeführt worden.
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mindestens diesen Krug zurückerhielte. Der König vernahm es und sagte dem Boten: „Folge uns nach Soissons, denn dort muß alles geteilt werden, was erbeutet ist. Und wenn das Los mir jenes Gefäß gibt, so will ich tun, was der Bischof begehrt.“ Darauf kam er nach Soissons, und es wurde die ganze Masse der Beute öffentlich zusammengebracht. „Ich bitte euch, tapfere Krieger, sprach der König, erzeigt mir die Gunst, mir außer meinem Teil auch jenes Gefäß da zu geben.“ Er meinte nämlich den erwähnten Krug. Als der König das sagte, sprachen die Verständigeren: „Alles, was wir sehen, ist dein, ruhmreicher König, auch wir selbst sind deiner Herrschaft unterworfen. Tue jetzt, was dir gefällt; denn keiner kann deiner Macht widerstehen.“ Da sie dies sagten, trieb ein leichtsinniger, neidischer und unbedachtsamer Mensch mit lautem Geschrei seine Streitaxt in den Krug und sagte: „Nichts sollst du davon haben, als was dir nach dem Recht das Los zuteilt.“56
Selbst noch heidnischen Glaubens, respektierte Chlodwig den Bischof, der seine Bitte um die Herausgabe des erbeuteten liturgischen Gefäßes an ihn herantragen ließ, als rangmäßig ebenbürtig und war gewillt, ihm entgegenzukommen. Der Bischof ging ganz selbstverständlich davon aus, dass Chlodwig in seiner Eigenschaft bzw. Funktion als König nicht nur der angemessene Ansprechpartner für sein im weitesten Sinne diplomatisches Anliegen war, sondern dass es auch in seiner Macht stand, den bischöflichen Wunsch zu erfüllen. Einem römischen Feldherrn wäre dies zweifellos möglich gewesen.57 Genau hier aber stieß die königliche Macht Chlodwigs an ihre Grenzen. Auch als siegreicher Anführer fränkischer Kriegereinheiten, als Frankenkönig, konnte er nicht eigenmächtig über die Verteilung der Beute entscheiden, sondern musste wie alle anderen abwarten, bis alles zusammengetragen war, und sich dem darauf folgenden Losentscheid beugen. Der Bote des Bischofs wurde also bis zur offiziellen Beuteteilung in Soissons vertröstet. Es ist durchaus vorstellbar, dass Chlodwig in diesem Rahmen eine Demonstration seiner herrscherlichen Macht geplant hatte, welche die zuvor deutlich gewordenen Grenzen seiner Befehlsgewalt relativiert hätte. Dass er von deren Gelingen überzeugt war, ergibt sich aus der Einladung des Boten der Kirche, der andernfalls wohl kaum zur Teilnahme aufgefordert worden wäre. Die von Chlodwig möglicherweise sehr bewusst inszenierte Darstellung seiner herrscherlichen Gewalt wird von Gregor sehr eindrucksvoll beschrieben: Noch ehe mit der Verteilung der Beute begonnen wurde, bat der König seine Krieger um die zusätzliche Überlassung des von dem Reimser Bischof angefragten Kruges. Ein Teil seiner Gefolgsleute reagierte auch so wie erwartet und war bereit, seine Sonderstellung öffentlich zu bekräftigen und Chlodwig damit eine Machtfülle zuzubilligen, die nach gentilem Verständnis und den Verhältnissen innerhalb der fränkischen Gesellschaft offenbar nicht vorgesehen war. Die Reaktion jenes Kriegers, der schließlich den Krug mit seiner Streitaxt zerhieb, zeigt jedenfalls in aller Deutlichkeit, dass erstens der Prozess der Herausbildung des Königtums als zentraler Institution der Herrschaftsorganisation innerhalb der fränkischen gens nicht auf
56 Gregor, Hist., II, 27 (wie Anm. 16), 111/113. 57 Vgl. James, The Franks (wie Anm. 2), 82.
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uneingeschränkte Akzeptanz stieß. Es gab allem Anschein nach Kritiker, die mit dieser Entwicklung nicht einverstanden waren und ein gewisses Störpotential darstellten.58 Es zeigt sich zweitens, dass der fragliche Prozess im ausgehenden 5. Jahrhundert noch keineswegs abgeschlossen war, wir also weiterhin mit einem Unterschied zwischen den römischen Vorstellungen vom Königtum und den tatsächlichen Gegebenheiten innerhalb der fränkischen Verbände rechnen müssen.59 Für Gregor von Tours war diese Episode wohl vor allem deshalb von Bedeutung, weil er an ihr zeigen konnte, dass Chlodwig bereits vor seiner Taufe für wichtige Anliegen der Kirche ansprechbar war. Zwar war unter seiner Anführerschaft Kirchengut zerstört und geraubt worden, aber durch seine Bereitschaft, das kostbare liturgische Gefäß zurückzugeben, erscheinen die vorangegangenen Plünderungen in etwas milderem Licht. Das später erfolgende Bekenntnis zum Christentum wird durch diese Darstellung gewissermaßen vorbereitet. Dass der gute Wille Chlodwigs durch das Verhalten jenes missgünstigen Kriegers konterkariert wird, spielt für Gregors Erzählabsicht keine Rolle. Vielmehr zeigt aus der Perspektive des Bischofs von Tours wohl gerade der Ausgang des Geschehens, mit welchem Nachdruck sich Chlodwig für die Belange der Kirche eingesetzt hat: Die Zerstörung des Kruges hatte alle Anwesenden in Bestürzung versetzt, […] der König aber trug diese Beleidigung mit Sanftmut und Geduld, nahm den Krug und gab ihn dem Boten der Kirche, bewahrte aber heimlich in der Brust den ihm angetanen Schimpf. Und als ein Jahr verflossen, ließ er das ganze Heer in seinem Waffenschmuck zusammenrufen, um auf dem Märzfeld den Glanz seiner Waffen zu zeigen. Als er aber hier alle durchmusterte, kam er auch an den, der auf den Krug geschlagen hatte, und sprach zu ihm: „Keiner trägt die Waffen so ungepflegt wie du, denn dein Speer, dein Schwert und deine Streitaxt sind nichts nütze.“ Und er nahm dessen Axt und warf sie auf die Erde. Jener neigte sich darauf ein wenig herab, um sie aufzuheben, da holte der König aus und hieb ihm mit der Axt in den Kopf. „So, sagte er, hast Du es zu Soissons einst mit dem Kruge gemacht.“ Als er gestorben war, hieß der König die übrigen nach Hause gehen und gewaltige Furcht jagte er allen durch diese Tat ein.60
Während für Gregor von Tours hier vor allem die religiöse Komponente von Interesse war61, ermöglicht seine Darstellung einen Einblick in die Funktionsweise des fränkischen Königtums im ausgehenden 5. Jahrhundert und vermittelt zumindest einen Eindruck von dem zu diesem Zeitpunkt erreichten Entwicklungsgrad.
58 Bleiber, Frankenreich (wie Anm. 2), 52f., hat diesen Widerstand nicht sehr überzeugend auf unterschiedliche Meinungen der Franken zum Umgang mit der gallo-römischen Bevölkerung („den Unterworfenen“) bezogen. Aber selbst wenn man dieser Deutung folgen wollte, zeigt sich in dieser Episode doch die eingeschränkte Macht des Königs, der zu dieser Zeit zuallererst militärischer Anführer war und als solcher den ‚Spielregeln‘ gentilen Kriegertums unterlag. 59 Aus dieser Episode die absolute Gewalt des Königs über Leben und Tod herauslesen zu wollen (so Hartmann, Merowinger [wie Anm. 7], 61), erscheint angesichts des Umstandes, dass Chlodwig hier gerade nicht nach seinen Vorstellungen agieren konnte, verfehlt. 60 Gregor, Hist., II, 27 (wie Anm. 16), 113. 61 Vgl. zuletzt Becher, Chlodwig (wie Anm. 2), 161.
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Denn unabhängig davon, ob die Beuteteilung von Soissons tatsächlich genau so stattgefunden hat – für die Zeitgenossen Gregors muss die Schilderung glaubwürdig gewesen sein. Man wird daher annehmen dürfen, dass die Praxis und die Modalitäten der Beuteteilung auch im ausgehenden 6. Jahrhundert noch bekannt waren, ebenso wie die damit verbundenen Beschränkungen der Macht des königlichen Militärführers.
THE POLITICAL STRUCTURE OF THE BURGUNDIAN KINGDOM Ian Wood In talking of the Burgundian kingdom I should say at the outset that I am using a convenient phrase. In what follows I will certainly raise issues that question whether we are talking of a kingdom rather than a continuing Roman province. I also have doubts as to whether we are dealing with anything significantly Burgundian, other than the family with which I am most concerned, the Gibichungs. My title, in other words, is nothing but a convenient shorthand. My subject is essentially the nature of rulership in the valleys of the Rhône, Saône and Durance between the 460s and the 530s. The Gibichungs have traditionally been seen as a dynasty of kings, which indeed they may well have been. The Burgundians of the fourth century are sometimes presented as being subject to an archaic pattern of rule. Ammianus Marcellinus, writing in c.380 claimed that they were ruled by a pair of leaders: a hendinos, who was concerned with military affairs, and could be deposed in the event of defeat, and a sinistus, a priestly figure who held power for life.1 Clearly the office of sinistus is unlikely to have survived the christianisation of the people, which took place in the early fifth century.2 More important, Ammianus claims that the hendinos was like the sort of ruler who the Egyptians are accustomed to blame. Since this was clearly not the case in the late fourth century, we must assume that Ammianus, who uses the word solent in the present tense, is here quoting an older source, and that it has no relevance for our understanding of Gibichung rule.3 Another model that has been put forward for understanding the Gibichungs is tanistry4, a term that has been applied to a pattern of rule in which inheritance of the throne passed not from father to son, but to the oldest surviving male in each 1 2
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Ammianus Marcellinus, Res Gestae, XXVIII, 5, 14, ed. J.C. Rolfe. 3 vols. Cambridge (MA) 1963–4. See J. Favrod, Histoire politique du royaume burgonde (443–534). Lausanne 1997, 43–4. On the christianisation of the Burgundians, I.N. Wood, Ethnicity and the ethnogenesis of the Burgundians, in: H. Wolfram/W. Pohl (eds.), Typen der Ethnogenese unter besonderer Berücksichtigung der Bayern, vol. 1. Vienna 1990, 53–69, at 58–61; for an alternative view that denies the value of the evidence of Orosius and Socrates, Favrod, Histoire politique (see n. 1), 50–4. I.N. Wood, Kings, kingdoms and consent, in: P.H. Sawyer/I.N. Wood (eds.), Early Medieval Kingship. Leeds 1997, 6–29, at 27. Favrod, Histoire politique (see n. 1), 154–5.
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generation. It is a pattern that was proposed by the Vandal king Geiseric, when trying to organise the succession at the end of his reign.5 The definition of this as tanistry goes back to Christian Courtois6, though it cannot be said that Vandal practice fits the anthropological model very well. Moreover, Geiseric was quite clearly not attempting to revive some archaic tradition, but was rather setting out to organise the Vandal succession in entirely new circumstances.7 Nor is there much reason for thinking that this model is applicable to the Gibichung set-up. Leaving aside for the moment matters of succession to Roman office, there is one clear case when leadership did pass from brother to brother, when Godomar took power after Sigismund’s death in 523.8 But as far as we know Sigismund was survived by no male heir: certainly he had no adult male heir, and given the crisis situation of the time it is scarcely surprising that the Burgundians turned to an adult of the ruling dynasty. There is one other possible case of fraternal succession among the Burgundian leadership, and that is the establishment of Chilperic in the position that had been held by Gundioc. Here, however, there are a number of problems, not the least of which is identifying whether Chilperic was Gundioc’s brother or his son. We learn from Jordanes that two Burgundian kings, Gundioc and Chilperic, campaigned alongside king Theodoric/Theodorid against the Sueves in or shortly after 455.9 In addition, a law contained in the Liber constitutionum of the Burgundians, talks of Gibica, Godomar, Gislahar, Gundahar and ‘our father and uncle’.10 Since this law was almost certainly issued by Gundobad, it would seem reasonable to identify his father as Gundioc and his uncle as Chilperic. If we turn to Gundobad’s generation, however, we have the evidence of Gregory of Tours, who claimed that Gundioc had four sons, Gundobad, Godegisil, Chilperic and Godomar.11 There would therefore appear to be two Chilperics: a brother and also a son of Gundioc. In addition to these references, both Sidonius Apollinaris and the Vita patrum Iurensium provide information about a governor called Chilperic. Sidonius, writing in the mid 470s, talks of Chilperic as magister militum, and tetrarcha noster, and describes his authority as stretching over Germania Lugdunensis. He also calls him rex and apparently places his court in Lyon.12 The Vita patrum Iu5
Procopius, Wars, III, vii, 29, ed. H.B. Dewing, Procopius, vol. 2. Cambridge (MA) 1916; Victor of Vita, Historia persecutionis Africanae provinciae sub Geiserico et Hunerico regibus, II, 13, ed. M. Petschenig, in: CSEL 7. Vienna 1881. 6 C. Courtois, Les Vandales et l’Afrique. Paris 1955, 238–42; 254–5. 7 I.N. Wood, Royal succession and legitimation in the Roman West, 419–536, in: S. Airlie/W. Pohl/H. Reimitz (eds.), Staat im frühen Mittelalter. Vienna 2006, 59–72, at 59–61. 8 Gregory of Tours, Decem libri historiarum, III, 6, ed. B. Krusch/W. Levison, in: MGH SS rer. Merov. 1/1. Hannover 1951; Marius of Avenches, Chronica, s.a. 524, ed. J. Favrod, La Chronique de Marius d’Avenches (455–581). Lausanne 1991. 9 Jordanes, Getica, 231, ed. F. Giunta/A. Grillone, Iordanis de Origine actibusque Getarum. Rome 1991. 10 Liber constitutionum, 3, ed. L.R. de Salis, in: MGH LL nat. Germ. 2/1. Hannover 1892. 11 Gregory, Hist., II, 28 (see n. 8). 12 Sidonius Apollinaris, Epistolae, V, 7; VI, 6; VI, 12, 3, ed. A. Loyen. 3 vols. Paris 1960–70.
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rensium, written around 515, describes him as vir illustris and patricius, and attributes judicial authority to him, but implies that the magister militum at the time was Ægidius.13 Gregory of Tours who records the same story as that contained in the Vita patrum Iurensium presents Chilperic simply as rex14, but this may well be an anachronistic reading. If the narrative of the Vita patrum Iurensium follows strictly chronological order Chilperic must have been patricius while Ægidius was magister militum, an office the latter held under Majorian, but from which he must have been removed when he refused to acknowledge Libius Severus, after Majorian’s execution in 461.15 Ægidius’ office would seem to have been transferred to Gundioc by 463, as we can see in the dossier of letters relating to the confrontation between Mamertus of Vienne and Hilary of Arles over the consecration of Marcellus as bishop of Die.16 Following the evidence of Sidonius, Chilperic must have taken the title of magister militum by 474. He may have taken over from Gundioc, or just possibly from Gundioc’s son, Gundobad, who, according to John Malalas was magister militum in c.472, when he left to join Ricimer in Italy17, though it has to be said that Malalas’ account is so jumbled at this point that no reliance can be placed on it. In addition, there is the shady figure of Bilimer, whom Paul the Deacon calls rector Galliae, and who died fighting for Anthemius in 472.18 John Martindale argued in the “Prosopography of the Later Roman Empire” that Chilperic might have succeeded Gundobad as magister militum per Gallias about this time, although this seems unlikely.19 One might conjecture that the office of magister militum per Gallias passed from Ægidius to Gundioc to Chilperic, with Bilimer perhaps holding the post briefly between the two Gibichungs. The more significant difficulty for us lies in deciding which of the two possible Chilperics held the office of magister militum in c.474: Gundioc’s brother or son? Martindale claimed that the office was held by the younger Chilperic.20 And it has been assumed in line with this theory that Sidonius in talking of tetrarcha noster must have had in mind one of the four sons of Gundioc, though this places rather a lot of significance on the original meaning of tetrarcha, rather than on its
13 Vita patrum Iurensium, II, 10 (92), ed. F. Martine, Vie des Pères du Jura. (SC 142.) Paris 1968. 14 Gregory of Tours, Liber vitae patrum, I, 5, ed. B. Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 1/2. Hannover 1881. 15 Priscus, fr. 39, ed. R.C. Blockley, The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire: Eunapius, Olympiodorus, Priscus and Malchus, vol. 2. Liverpool 1983; J.R. Martindale, PLRE, vol. 2: AD 395–527. Cambridge 1980, 11–13 (Aegidius). 16 Epistolae Arelatenses genuinae, 19; 21, ed. W. Gundlach, in: MGH Epp. 3. Berlin 1892; Favrod, Histoire politique (see n. 1), 240–2; R.W. Mathisen, Ecclesiastical Factionalism and Religious Controversy in fifth-century Gaul. Washington D.C. 1989, 211–7. 17 John Malalas, Chronicon, XIV, 45, 374–5, in: PG 97; trans. E. Jeffreys/M. Jeffreys/R. Scott, The Chronicle of John Malalas. Melbourne 1986, 207. 18 Paul the Deacon, Historia Romana, XV, 4, ed. A. Crivelluci. Rome 1914. 19 Martindale, PLRE 2 (see n. 15), 230 (Bilimer). 20 Martindale, PLRE 2 (see n. 15), 286–7 (Chiplericus I and II).
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general connotation of regional rulership.21 Moreover, since the Gibichung law book, the Liber constitutionum, assigns jurisdictional significance to Gundioc’s brother22, we must assume that he had held some office, and it is, therefore, more likely that it was he, rather than his nephew, who is referred to by Sidonius and in the Vita patrum Iurensium. Indeed, Danuta Shanzer, in an unpublished paper has gone further and pointed out that our evidence for the younger Chilperic is only to be found in Gregory of Tours (and, of course, those following him), and she has raised the question of whether Gregory transformed Gundioc’s brother into his son. This would have significant implications, for it would mean that Clovis married the cousin of Gundobad, rather than his niece. An objection might be made, that Avitus wrote to Gundobad stating that the Burgundian had wept over the deaths of his brothers23, perhaps acknowledging his responsibility for those deaths – but the brothers in question could easily have been Godegisil (who certainly was killed in the course of a war with Gundobad)24, and Godomar, of whose end we know nothing. Shanzer’s reconstruction may be unprovable, but it is certainly possible. What is important for our purposes, however, is the fact that Gundioc was almost certainly succeeded in his office of magister militum by his brother. This, however, is unlikely to be tanistry, for it was a Roman title that passed from brother to brother, and not any traditional Burgundian office. In fact, the evidence for Burgundian kingship within Gaul can be overstated.25 Burgundian leaders are occasionally called rex in sources dating to the fifth or early sixth centuries. Sidonius once calls Chilperic king, but he talks as frequently of his Roman office.26 The royal title occurs occasionally in the legal texts issued by or with the approval of the Burgundian rulers: it appears in the incipit of the Council of Épaone (where it may be a later addition)27, and in the Liber constitutionum, though in the law book the appellation is rare.28 It also appears in the titles of letters in the collection of Avitus of Vienne, although it is not clear that these headings are authorial. Ennodius talks of Gundobad as king29, as does Cassiodo-
21 Sidonius, Epp., V, 7, 1 (see n. 12). 22 Lib. const., 3 (see n. 10). 23 Avitus of Vienne, Ep. 5, ed. R. Peiper, in: MGH Auct. ant. 6/2. Berlin 1883; see the commentary in: D. Shanzer/I.N. Wood, Avitus of Vienne. Letters and Select Prose. Liverpool 2002, 208–12. 24 Gregory, Hist., II, 33 (see n. 8). 25 I.N. Wood, Gentes, kings and kingdoms – the emergence of states: the kingdom of the Gibichungs, in: H.-W. Goetz/J. Jarnut/W. Pohl (eds.), Regna and Gentes: the relationship between Late Antique and early medieval peoples and kingdoms in the Transformation of the Roman World. Leiden 2003, 243–69, at 254. 26 Sidonius, Epp., V, 6, 2; V, 7, 1; VI, 12, 3 (see n. 12). 27 Council of Épaone, ed. J. Gaudemet/B. Basdevant, Les canons des conciles mérovingiens (VIe–VIIe siècles). (SC 353.) Paris 1989, 96. 28 Lib. const., constitutiones extravagantes, 19, 20 (see n. 10); Wood, Gentes, kings and kingdoms (see n. 25), 254, n. 61. 29 Ennodius, Vita Epiphanii, 164; 171; 174, ed. F. Vogel, in: MGH Auct. ant. 7. Berlin 1885.
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rus in the Variae.30 In the mid sixth century Jordanes refers to Gundioc and Chilperic as kings, but that is from the viewpoint of the mid sixth century.31 In subsequent decades both Marius of Avenches and Gregory of Tours talk of Gundobad and Sigismund as reges. Essentially, it seems that the Gibichungs preferred to present themselves as Roman officials, while contemporaries in neighbouring kingdoms and later writers preferred to see them as kings. Moreover, it is only these outsiders that use the title rex Burgundionum, with its ethnic signifier: the Gibichungs and those associated with them used the more general title rex.32 It is, therefore, worth looking at the history of the Gibichung holding of Roman office. This may start around 410, with the support given by Gunthiarius, or Gundahar, to the usurping emperor Jovinus. Gundahar is described by Olympiodorus as phylarchos: a term which might imply some official position in the Rhineland army, but which might be no more than a description of Gundahar’s leadership of a warband.33 We are on much clearer ground when we reach Gundioc, who, as we have already seen, held the office of magister militum per Gallias after the removal from office of Ægidius. Unfortunately we know very little about Gundioc’s rise. It is assumed that he led the Burgundians at the moment of their settlement in Sapaudia in the early 440s, though it should be noted that our one source for this event does not mention him.34 Indeed, we should be careful not to place too much emphasis on the settlement in Sapaudia. It is only mentioned in one chronicle, that of 452, and there it is one of a cluster of annals (several of them lacking support in any other source) that are clearly intended to give an impression of the destruction of the Roman Empire.35 We do not know how sizeable was the settlement: the archaeology might imply that, in a very mixed population, the proportion of Burgundians was not large.36 It is also pure assumption that the majority of the survivors of the Hunnic onslaught of the 430s were transferred 30 Cassiodorus, Variae, I, 46; III, 2, ed. T. Mommsen, in: MGH Auct. ant. 12. Berlin 1894; P. Amory, Names, Ethnic Identity, and Community in fifth- and sixth-century Burgundy, in: Viator 25, 1994, 1–30, at 13. 31 Jordanes, Getica, 231 (see n. 9). 32 Amory, Names, Ethnic Identity, and Community (see n. 30), 8; 13. 33 Olympiodorus, fr. 18, ed. Blockley, The Fragmentary Classicising Historians, vol. 2 (see n. 15). 34 Chronicle of 452, s.a. 443, ed. R. Burgess, The Gallic Chronicle of 452: a new critical edition with a brief introduction, in: R.W. Mathisen/D. Shanzer (eds.), Society and Culture in Late Antique Gaul: revisiting the sources. Aldershot 2001, 52–84; I.N. Wood, L’histoire événementialle de l’installation des Burgondes dans l’empire romain, in: Y. Rivière/P. Porena, Expropriations et confiscations dans le monde romain. Une approche régionale. (Collection de l’École française de Rome 470.) Rome 2012, 69–90, at 77–9. 35 I.N. Wood, The Fall of the Western Empire and the End of Roman Britain, in: Britannia 18, 1987, 251–62, at p. 255; id., Continuity or Calamity: the Constraints of Literary Models, in: J. Drinkwater/H. Elton (eds.), Fifth-Century Gaul: a Crisis of Identity? Cambridge 1992, 9–18, at 14–5. 36 K. Escher, Genèse et évolution du deuxième royaume burgonde (443–534): les témoins archéologiques. (BAR International series 1402.) Oxford 2005, vol. 2, 654–5, lists only a small number of burials which are identifiably Burgundian.
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from the Rhineland to Sapaudia. It is, therefore, possible that Gundioc belonged to a different branch of Burgundians. Possibly more important than the annal of the Chronicle of 452 on the settlement in Sapaudia is the entry in the Prosper Havniensis for 457, where we hear that Gundioc, with the Burgundian gens and with his whole military following (omne praesidium: an interesting phrase), having gained the approval of the Visigothic king Theodoric and his men, entered Gaul in order to settle.37 Exactly how this fits with Jordanes’ comment on Gundioc and Chilperic joining forces with the Goths to fight the Sueves is unclear.38 It would seem from Marius of Avenches, however, that there was settlement in the Lyon region, and that the settlement had some senatorial approval.39 This arrangement was disrupted by Majorian, who drove the Burgundians out, and imposed a heavy tax on the people of Lyon in 458.40 Majorian’s fall and the removal from office of Ægidius, however, transformed the position of the Burgundians. In 463 we see Gundioc acting as magister militum41, and while his post (and indeed his background) must have meant that he was primarily a military official, his involvement in the ecclesiastical conflict over the appointment of Marcellus of Die reveals him acting in civilian matters, reporting on the affairs of the Church.42 Clearly Gundioc owed his rise in part to Ricimer, who must have approved his appointment to the office held by Ægidius. The bond between the two may have gone back some way, since Gundobad is described by John of Antioch both as Ricimer’s brother, which must be an error, and as his nephew.43 If, as Malalas claims, Gundioc married Ricimer’s sister, and Gundobad was their son44, this has profound chronological implications. Since Gundobad was politically active by the early 470s, this would push his birth to the early 450s if not before, and would suggest that the family tie between Gundioc and Ricimer went back to the 440s, that is perhaps before the Battle of the Catalaunian Plains, when Burgundians fought on the side of Rome45, or perhaps to the period immediately following the battle. It might also strengthen the case for not linking Gundioc too firmly with Sapaudia, but rather for suggesting close associa37 Prosper Havniensis, s.a. 457, ed. T. Mommsen, in: MGH Auct. ant. 9. Berlin 1896; S. Muhlberger, The Copenhagen continuation of Prosper: a translation, in: Florilegium 6, 1984, 71–965, at 78. There is a problem as to the relationship between this notice and that of Fredegar, Chronica, II, 46, ed. B. Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 2. Hannover 1889, and Marius, Chron., s.a. 456 (see n. 8). See also Wood, L’histoire événementialle de l’installation des Burgondes dans l’empire romain (see n. 34). 38 Jordanes, Getica, 231 (see n. 9). 39 Marius, Chron., s.a. 456 (see n. 8); Favrod, Histoire politique (see n. 1), 232–40. 40 J. Harries, Sidonius Apollinaris and the Fall of Rome. Oxford 1994, 85–90. 41 P. Southern/K.R. Dixon, The Late Roman Army. London 2000, p. 52: “The Western emperors never appointed a German magister militum after the removal of Stilicho” is quite simply wrong. 42 Epp. Arelat. gen., 19; 21 (see n. 16). 43 John of Antioch, fr. 209, 1, 2, ed. Blockley, The Classicising Historians of the Later Roman Empire, vol. 2 (see n. 15), 372–5. 44 Malalas, Chron., XIV, 45, 374–5 (see n. 17). 45 Jordanes, Getica, 191 (see n. 9); Lib. const., 17, 1 (see n. 10).
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tion with Ricimer and the imperial court. On the other hand, one might postulate that the descriptions of the relationship between Ricimer and Gundobad in Malalas and John of Antioch are not exact. Meanwhile, and perhaps even before the fall of Ægidius, Chilperic was acting as patricius – and whatever that title may mean, it certainly carried a judicial function, for he was called upon to intervene in a case of unjust oppression inflicted by a leading Roman.46 The title patricius here may not be an honorific for magister militum, despite the fact that they do sometimes go together.47 In fact both offices were held by Burgundian leaders.48 Gundobad was appointed to the patriciate by Olybrius.49 This was before his elevation to the office of magister militum, which followed the death of Ricimer (although Malalas ascribes the title to him already on his arrival in Italy).50 In the sixth century Sigismund held the title of patricius before becoming master of the soldiers.51 We may therefore guess that Chilperic held the office of patricius before he was appointed to the office of magister militum, presumably per Gallias. In this office he would seem to have succeeded his brother, at some point before 474.52 Sidonius, who was clearly apprehensive of the appointment, came to admire the Burgundian, and the close contact between him, his wife and the bishop of Lyon, Patiens.53 The next phase in this Burgundian Verfassungsgeschichte is unfortunately unclear. Gundobad served with his uncle Ricimer in Italy in the early 470s. He was involved in the overthrow of Anthemius, whom he is supposed to have killed.54 Naturally he backed Ricimer’s appointee Olybrius in 472. When Ricimer died, he apparently took over his post of magister militum praesentalis, and when Olybrius died in 473 Gundobad elevated Glycerius as emperor. That his time in Italy was not simply bound up in rivalry at court is implied by comments in Ennodius’ Vita Epiphanii, who talks of his connections with the bishop of Pavia and of his knowledge of Liguria.55 The following year, however, he suddenly left Italy for Gaul for no apparent reason, although it has been suggested that he was reacting
46 V. part. Iur., II, 10 (92–5) (see n. 13). See H. Wolfram, Neglected evidence on the accommodation of barbarians in Gaul, in: W. Pohl (ed.), Kingdoms of the Empire: the Integration of Barbarians in Late Antiquity. Leiden 1997, 181–3. 47 P. Barnwell, Emperor, Prefects and Kings: the Roman West, 395–565. London 1992, 44–7. 48 Barnwell, Emperor, Prefects and Kings (see n. 47), 82–3. 49 Fasti Vindobonenses priores, s.a. 472, ed. T. Mommsen, in: MGH Auct. ant. 9. Berlin 1896; Martindale, PLRE 2 (see n. 15), 524–5 (Gundobadus 1). 50 Malalas, Chron., XIV, 45, 374–5 (see n. 17); John of Antioch, fr. 209, 2 (see n. 43). 51 Avitus, Ep. 9 (see n. 23); see Shanzer/Wood, Avitus of Vienne (see n. 23), 21; Wood, Royal succession and legitimation in the Roman West (see n. 7), 68–9. 52 Sidonius, Epp., V, 6, 2 (see n. 12). 53 Sidonius, Epp., VI, 12, 3 (see n. 12). 54 John of Antioch, fr. 209, 1 (see n. 43); Chronicle of 511, s.a. 471/2, ed. R. Burgess, The Gallic Chronicle of 511: a new critical edition with a brief introduction, in: Mathisen/Shanzer (eds.), Society and Culture in Late Antique Gaul (see n. 34), 85–100, at 98–9; Malalas, Chron., XIV, 45, 374–5 (see n. 17). 55 Ennodius, V. Epiph., 140; 152; 162 (see n. 29).
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to his father’s death.56 At roughly the same time a new Byzantine appointee, Julius Nepos, was sent from Constantinople, and Glycerius was deposed.57 What happened in Gaul when Gundobad returned is totally unclear. We know from Sidonius that the news of Nepos’s appointment was not well received by Chilperic58: and a sentence in the Vita Epiphanii may imply that Gundobad saw Odoacer’s actions in deposing Romulus Augustulus as an attack on the empire59, but we have no information concerning relations between Chilperic and Gundobad. It is possible that the nephew disposed of his uncle: but it is equally possible that the transfer of power was more peaceful.60 There is a lacuna in our evidence for the Gibichungs for the twenty years following 474. All we can say is that by c.494 Gundobad was ruling the province of the Rhône, Saône and Durance valleys, and that his brother Godegisil had established a court at Geneva. Our documentation for this period, the Life of Epiphanius by Ennodius, presents Gundobad as rex and his brother as germanus regis.61 But we also know that Gundobad still held the office of magister militum in 51662: whether he had clung on to his title as magister militum praesentalis or whether he had taken over Chilperic’s title of magister militum per Gallias is unclear. But we need to bear in mind Gundobad’s concern for the office of magister militum if we are to understand the constitutional history of the Burgundian kingdom in the decades up to the 520s.63 The title of magister militum raises the question of the nature of the army led by the Gibichungs. Although there must have been Burgundians in the armies of Gundioc and Gundobad we should not assume that the majority of their military following was ethnically Burgundian. The tale of the destruction of the Burgundians by the Huns in the 430s implies that the survivors were not numerous64, while the archaeological evidence from Sapaudia65 does not suggest a large number of troops who could boast Burgundian blood. When Gundobad left Italy in 474 he may well have been accompanied by troops, and these could well have been the 56 P. Heather, The western empire, 425–76, in: A. Cameron/B. Ward-Perkins/M. Whitby (eds.), The Cambridge Ancient History, vol. 14: Late Antiquity: Empire and Successors, A.D. 425– 600. Cambridge 2000, 1–32, at 26–7. 57 Anonymus Valesianus, 7, 36, ed. Rolfe, Ammianus Marcellinus (see n. 1), vol. 3, 530–1; John of Antioch, fr. 209, 2 (see n. 43); Jordanes, Getica, 241 (see n. 9); Martindale, PLRE 2 (see n. 15), 514. 58 Sidonius, Epp., V, 6, 2 (see n. 12). 59 Ennodius, V. Epiph., 166 (see n. 29). 60 Wood, Royal succession and legitimation in the Roman West (see n. 7), 67–8. 61 Ennodius, V. Epiph., 164; 171; 174 (see n. 29). Favrod, Histoire politique (see n. 1), 304–7. 62 Avitus, Epp. 93–4 (see n. 23). 63 Wood, Royal succession and legitimation in the Roman West (see n. 7), 67–9; id., Gentes, kings and kingdoms (see n. 25), 255–6; id., The Latin culture of Gundobad and Sigismund, in: D. Hägermann/W. Haubrichs/J. Jarnut, Akkulturation. Berlin 2004, 367–80, at 375–7. 64 Prosper, Chronicon, s.a. 435, ed. T. Mommsen, in: MGH Auct. ant. 9. Berlin 1896; Hydatius, Chronicon, s.a. 437, ed. R.W. Burgess, The Chronicle of Hydatius and the Consularia Constantinopolitana: two contemporary accounts of the final years of the Roman Empire. Oxford 1993; Chronicle of 452, s.a. 436 (see n. 34). 65 Escher, Genèse et évolution du deuxième royaume burgonde (see n. 36), 826–8.
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followers of Ricimer. One indication that this is the case could be the emphasis in our texts on the presence of a powerful arian group at Gundobad’s court66: since the evidence for the conversion of the Burgundians seems to suggest that they were initially orthodox, and since there is no indication that Gundioc and Chilperic were arian67, we should perhaps see Gundobad as being converted to the doctrinal position of Ricimer68, and envisage men who had once followed Ricimer as forming the backbone of the arian party at Gundobad’s court. That the nonRoman followers of the Gibichungs were by no means exclusively Burgundian is indicated by the fact that the phrase populus noster and the term barbari are both used regularly as synonyms for Burgundiones in the Liber constitutionum.69 Moreover, it is apparent that the army of the Gibichungs was not regarded as ethnically Burgundian from the evidence of the Vita Eptadii, relating events of the early sixth century, where Sigismund’s troops are described as Romani.70 Further, we know of at least one Roman, Aridius, who was involved in military affairs.71 We should, therefore, probably understand the military following of Gundioc, Chilperic and Gundobad, as being essentially bucellarii, followers constituting private armies of late Roman generals, along the lines of the followers of Stilicho72, rather than as an ethnic warband. Before moving on to the evidence for Sigismund, it is worth pausing for a moment on the position of Gundobad’s brother Godegisil in c.494. He had an established base in Geneva, where he was visited by Epiphanius of Pavia, in the course of a diplomatic mission aimed at securing the release of Italian prisoners. Ennodius, however, who provides us with a near-contemporary account of the mission, talks of Godegisil not as a king but as a brother of the king: germanus regis.73 There is, in other words, no hint here of a divided kingship, but rather of a
66 Gregory, Hist., II, 34 (see n. 8). See Shanzer/Wood, Avitus of Vienne (see n. 23), 163–207. 67 Wood, Ethnicity and the ethnogenesis of the Burgundians (see n. 2), 58–9; id., Gentes, kings and kingdoms (see n. 25), 263–4; id., Assimilation von Romanen und Burgundern im RhoneRaum, in: F. Gallé (ed.), Die Burgunder. Ethnogenese und Assimilation eines Volkes. Worms 2008, 215–36, at 223–8. Favrod, Histoire politique (see n. 1), 50–3, rejects the evidence of Orosius and Socrates. In line with Favrod, with useful documentation, B. Dumézil, La mixité religieuse chez les couples royaux burgondes, in: M. Aurell/T. Deswarte (eds.), Famille, violence et christianisation au Moyen Âge. Mélanges en l’honneur de Michel Rouche. Paris 2005, 57–66. 68 On Ricimer’s arianism, see the inscription from Sta Agatha dei Goti: G.B. de Rossi, Inscriptiones Christianae urbis Romae, vol. 2. Rome 1889, p. 438, n. 127. 69 Wood, Ethnicity and the ethnogenesis of the Burgundians (see n. 2), 61–2; id., Gentes, kings and kingdoms (see n. 25), 260–1; id., The term barbarus in fifth-, sixth-, and seventh-century Gaul, in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 41/164, 2011, 39–50, at 44–5. 70 Vita Eptadii, 12, ed. B. Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 3. Hannover 1896; id., The legislation of Magistri Militum: the laws of Gundobad and Sigismund, in: The legal roots of Europe. clio@themis (forthcoming). 71 Gregory, Hist., II, 32 (see n. 8); Fredegar, Chron., III, 18–19; 23 (see n. 37); see also Avitus, Ep. 50 (see n. 23). 72 Southern/Dixon, The Late Roman Army (see n. 41), 49–50; 72. 73 Ennodius, V. Epiph., 174 (see n. 29).
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hierarchy of rule in which Godegisil had a court of his own, and a certain amount of authority, but without the title of king. Godegisil would seem to have resented this arrangement, and in 500 he plotted with Clovis against his brother, and for a short period of time drove him out.74 Gundobad, however, came to terms with the Franks, and besieged Godegisil in Vienne, which he captured: Godegisil was killed in the course of the taking of the city. As a result of this episode, according to Gregory of Tours, Gundobad issued leges mitiores to the Burgundians to prevent oppression of the Romans.75 Exactly what Gregory had in mind is unclear, but there are a number of laws contained in the later Liber constitutionum which regulate relations between Burgundians and Romans, and one of these, the famous “Loi Gombette”, which subjected Burgundians to trial by battle because they had been abusing the practice of oath-taking, is clearly dated to 501, and could well be a lex mitior.76 It should be noted that such legislation was entirely within the competence of a magister militum. Another possible text which might be attributed to this period, after the defeat of Godegisil, is the so-called Lex Romana Burgundionum, which should probably be called, as de Salis noted, the Forma et expositio legum conscripta, which is cited in the prima constitutio of the Liber constitutionum.77 The reference to the Forma in the prima constitutio makes it clear that this collection antedated what is traditionally called the “Burgundian Code”, which was issued in 517.78 The aftermath of the civil war of 500–1, when Gregory of Tours tells us Gundobad issued law, would seem to be a likely moment for the compilation to have been made. One should, however, also remember that Sidonius talks of his friend Syagrius helping the Burgundians draw up laws.79 Given that Sidonius’ letter was written in 469 in the case of Syagrius we should be thinking either of the magisterial court of Gundioc or that of Chilperic as patricius. The fall of Godegisil takes us to the emergence of Gundobad’s son Sigismund, who may well have taken over his uncle’s Genevan court in 501.80 Sigismund is to be found in Geneva in the letters of Avitus of Vienne, and it would appear that he was strongly influenced while there by bishop Maximus, who seems to have played a significant role in prompting the prince to found the mon-
74 Marius, Chron., s.a. 500; 501 (see n. 8); Gregory, Hist., II, 32–3 (see n. 8). 75 Gregory, Hist., II, 33 (see n. 8). 76 Lib. const., 22; 45; 55 (see n. 10). See I.N. Wood, Le Bréviaire chez les Burgondes, in: M. Rouche/B. Dumézil (eds.), Le Bréviaire d’Alaric. Aux origins du Code civil. Paris 2009, 151– 160, at 153–4; S. Esders, Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum: Zum Rechtscharakter politischer Herrschaft in Burgund im 6. und 7. Jahrhundert. Göttingen 1997, 286–96. 77 Wood, Le Bréviaire chez les Burgondes (see n. 76), 156. 78 I.N. Wood, Disputes in late fifth- and sixth-century Gaul: some problems, in: W. Davies/P. Fouracre (eds.), The Settlement of Disputes in Early Medieval Europe. Cambridge 1986, 7– 22, at 10. 79 Sidonius, Epp., V, 5, 3 (see n. 12). 80 Wood, Royal succession and legitimation in the Roman West (see n. 7), 68–9.
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astery of St-Maurice d’Agaune in 515, while his father was still alive.81 At this time Sigismund already held the title of patricius, as can be seen both in Avitus’ letters and in the Vita abbatum Acaunensium.82 It can only be a guess, but it would seem that Sigismund before 515 held the office that his uncle or greatuncle Chilperic had held, prior to his assumption of the title of magister militum. Sigismund would also acquire the title of magister militum, as we can see in an important series of letters written by Avitus, which reveal that the Burgundian prince attempted to gain imperial approval for him to take over the Roman office held by his father while the latter was still alive.83 In the first of the letters Sigismund goes so far as to say that ‘my people are yours’, ‘we think of ourself as nothing other than your soldiers’, and ‘our country is your sphere’.84 This attempt at transferring Gundobad’s title to his son was checked by Theodoric, who can have had no desire to see possession of the office of magister militum continue among the Gibichungs, for technically it challenged his own status. Although Theodoric was successful in preventing one Burgundian legation from reaching the court of Anastasius in Constantinople, he failed to check a second legation, and in 516 or shortly thereafter Sigismund took over his father’s Roman office. By this time, however, Sigismund had already been elevated to the kingship.85 According to Fredegar, this occurred at Carouge, a suburb of Geneva86, and one that boasted a major Roman building that has been revealed by excavation.87 According to Marius of Avenches, the elevation of Sigismund as king took place, on Gundobad’s command, in 516.88 Unfortunately we do not know whether Fredegar and Marius were talking about the same event. Thus, in the case of Sigismund, we hear that he held court at Geneva during his father’s lifetime, and for at least part of that time he held the patriciate. Although we cannot be sure what authority went with the patriciate at this time, by comparing the early positions of Chilperic and Sigismund, we can see that it was an office of some political and administrative significance within the sub-Roman province: and clearly in origin it was Roman. The histories of Sigismund and of Godegisil in Geneva, and that of Chilperic before his elevation as magister militum, do not provide evidence for continuing double-kingship among the Burgundians, nor indeed of tanistry, but rather of an interest in Roman provincial rule.
81 Avitus, Ep. 31 (see n. 23); Vita abbatum Acaunensium, absque epitaphiis, 3, ed. B. Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 7. Hannover 1920; Marius, Chron., s.a. 515 (see n. 8); Wood, Royal succession and legitimation in the Roman West (see n. 7), 68. 82 Avitus, Ep. 9 (see n. 23); V. abb. Acaun., 3 (see n. 81). 83 Avitus, Epp. 93–4 (see n. 23). 84 Avitus, Ep. 93 (see n. 23). See the commentary in: Shanzer/Wood, Avitus of Vienne (see n. 23), 146–9; Amory, Names, Ethnic Identity and Community (see n. 30), 12. 85 Avitus, Ep. 94 (see n. 23). 86 Fredegar, Chron., III, 33 (see n. 37). 87 L. Blondel, Carouge, villa romaine et burgonde, in: Genava 18, 1940, 54–68. 88 Marius, Chron., s.a. 516 (see n. 8).
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One of Sigismund’s first acts, at the start of the second year of his reign was to issue the Liber constitutionum of the Burgundians.89 This was essentially a collection of laws, most of which had been issued by his father, to which were appended a handful of his own laws. The collection would continue to be expanded throughout the period of Gibichung rule. Again the legislation of Gundobad and Sigismund is perfectly in keeping with their positions as Roman officials90, although the forum in which the law book was issued would seem not to be traditionally Roman, in that the king addressed his nobles, councillors, domestici, maiores domus, cancellarii and comites, both Burgundian and Roman.91 Despite this broad address, all the names of the counts who signed the prima constitutio would seem to be Burgundian, even though the letters of Sidonius and Avitus and the narrative of Gregory of Tours do introduce us to a number of Romans who were present at the royal court – and one might note that the courts of both Gundobad and Sigismund are vividly described by Avitus.92 Perhaps the names of the Burgundian counts are a reminder that the court we are dealing with was that of a magister militum, and that the soldiers of the regime were primarily, although not exclusively, of Germanic origin. Thus, although we occasionally see the Gibichungs as reges surrounded by Germanic followers, for the most part we see them as Roman officials: magistri militum and patricii. And this situation continued beyond 476, right up to the reign of Sigismund, which ended in 523. Unfortunately we know nothing of the authority claimed by his brother Godomar, who ruled during the next decade. For the valleys of the Rhône, Saône and Durance, the empire did not end in 476 – just as it continued in Italy at least up to the reigns of the immediate successors of Theodoric. It is worth asking how this continuity of Roman rule affects how we should understand the broader picture of events in Gaul and Italy, which, of course, includes the reign of Clovis. In conclusion I shall look briefly at the implications that might have followed from the fact that both Gundobad and Sigismund continued to present themselves as Roman officials after 476. The first event of which we have any knowledge is Epiphanius’s mission in c.494 requesting the return of captives taken from Italy.93 The exact circumstances of the raid are unknown, but clearly Gundobad had taken advantage of the conflict between Theodoric and Odoacer. Theodoric’s appeal to the Burgundian followed only shortly after his final victory. His own constitutional position was still unclear, but having himself held the office of magister militum in the eastern Empire between 483 and 48794 he would have been well aware of the significance of Gundobad’s position. This, of course, is left unstated in Ennodius’ account, though the bishop of Pavia does imply that Theodoric and Gundobad were equals, 89 90 91 92 93 94
Wood, Disputes in late fifth- and sixth-century Gaul (see n. 78), 10. Esders, Römische Rechtstradition und merowingisches Königtum (see n. 76), 287–8. Lib. const., prima constitutio (see n. 10). Wood, The Latin culture of Gundobad and Sigismund (see n. 63). Ennodius, V. Epiph., 136–77 (see n. 29); Favrod, Histoire politique, 304–7. Martindale, PLRE 2 (see n. 15), 1077–84, at 1081 (Theodericus 7).
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and not that his own master was superior.95 One outcome of the mission that is implied by Ennodius is the marriage of Sigismund to Ostrogotha Areagni.96 It is worth noting that at this moment in his reign it was by no means clear that Theodoric was the most important ruler in the West, and that Gundobad had a rather more established position, and one that had involved a period of time as magister militum praesentalis in Italy – something which Theodoric, through Cassiodorus, went out of his way to ignore when he later addressed Gundobad as a man who might never have seen a water-clock.97 By contrast Gundobad’s knowledge of Italy is clearly recognised in the Vita Epiphanii, which talks of the Burgundian’s personal knowledge of Liguria.98 It is also worth noting that not long after his marriage Sigismund went on pilgrimage to Rome.99 Some must have been aware that his father had once had very close ties to the imperial city. These few details, together with Avitus’ letters relating to the papacy100, provide the basis for any attempt to understand Gibichung interest in Italy. The evidence for relations between Gundobad and Clovis is equally sketchy, and again we must rely on inference to assess the significance of the Gibichung’s official position. Clearly the Frank totally ignored the Burgundian ruler’s Roman office in 500 when he joined forces with Godegisil against Gundobad101 – though one may wonder how this news was received in Constantinople. Gundobad’s position was surely of significance at the time of the war against Alaric, when the Burgundian leaders joined the Franks.102 From Anastasius’ point of view, the fact that the magister militum was involved in the destruction of the kingdom of Toulouse may have been welcome, especially as it weakened the position of Theodoric at a moment when relations between Constantinople and the Ostrogoths were under strain.103 Indeed, one might wonder whether the emperor had egged Clovis on in a conflict that everyone seems to have agreed had minor causes.104
95 Ennodius, V. Epiph., 155 (see n. 29). 96 Ennodius, V. Epiph., 163 (see n. 29); Shanzer/Wood, Avitus of Vienne (see n. 23), 225–7. 97 Cassiodorus, Variae, I, 45, ed. T. Mommsen, in: MGH Auct. ant. 12. Berlin 1894: see Wood, The Latin culture of Gundobad and Sigismund (see n. 63), 367–8. 98 Ennodius, V. Epiph., 162 (see n. 29). 99 Avitus, Ep. 29 (see n. 23); Shanzer/Wood, Avitus of Vienne (see n. 23), 225–7. 100 Avitus, Epp. 8; 20; 29; 34; 39–42 (see n. 23). 101 Gregory, Hist., II, 32–3 (see n. 8); Marius, Chron., s.a. 500 (see n. 8). 102 I.N. Wood, Les wisigoths et la question arienne, in: L. Bourgeois (ed.), Franks et Wisigoths autour de la bataille de Vouillé (507). Paris 2010, 19–22, or (in English), id., Arians, catholics, and Vouillé, in: R.W. Mathisen/D.R. Shanzer (eds.), The Battle of Vouillé 507: where France began. Berlin 2012, 139–49. 103 J. Moorhead, Theoderic in Italy. Oxford 1992, 177–88. 104 Cassiodorus, Variae, III, 4 (see n. 30); Avitus, Ep. 87 (see n. 23); I.N. Wood, Gregory of Tours and Clovis, in: L.K. Little/B.H. Rosenwein, Debating the Early Middle Ages. Issues and Readings. Oxford 1998, 72–91, at 84.
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Ian Wood
I would suggest that Gundobad’s involvement, as magister militum, in the Visigothic campaigns is an unappreciated factor in Clovis’s famous consulship.105 Clovis had been the senior general and Gundobad and Sigismund his subordinates, despite the fact that Gundobad held one of the highest military offices in the Roman West. Surely one element in Anastasius’s grant in 508 was the need to recognise Clovis as in some way superior to Gundobad, without depriving the latter of his title. This would seem to be reflected in Avitus’ famous letter to Clovis, where he mentions the Frankish king’s dominant status in the West, before carefully presenting it as something that went with his new religious orthodoxy.106 We do not know how Anastasius reacted to news of Theodoric’s victories in southern Gaul in the years after 508, which were to the detriment of the Burgundians rather than to the Franks. But we do know from Avitus’ letters that Anastasius and members of his court were in very close contact with Gundobad and his advisers in 511 and 512, by which time, of course, Clovis was dead, and there was no obvious Frankish ruler to take his place. At precisely this time Anastasius very surprisingly consulted Gundobad on the heresy of Eutyches.107 Moreover, the fact that Gundobad was still magister militum in 515 and that a year or more later the title was passed on to his son, who had already been elevated to the patriciate, must indicate that the Byzantines still saw value in recognising the Gibichungs as their agents in the West. It was, in fact, only the failure of Sigismund that ended what was a remarkable survival of Roman military authority in Gaul. Up until the 520s we need to factor that authority in to an understanding of events, and that affects how we see Clovis.
105 Gregory, Hist., II, 38 (see n. 8); M. McCormick, Clovis at Tours, Byzantine public ritual and the origins of Medieval Ruler symbolism, in: E. Chrysos/A. Schwarcz (eds.), Das Reich und die Barbaren. Vienna 1989, 155–80. 106 Avitus, Ep. 46 (see n. 23); see the commentary in: Shanzer/Wood, Avitus of Vienne (see n. 23), 362–73. 107 Avitus of Vienne, Contra Eutychianam haeresim, ed. R. Peiper, in: MGH Auct. ant. 6/2. Berlin 1883; Shanzer/Wood, Avitus of Vienne (see n. 23), 89–123.
HANDLUNGSSPIELRÄUME (OST-)RÖMISCHER HEERMEISTER UM 5001 Anne Poguntke 1. GRUNDLAGEN Die magistri militum des Römischen Reiches waren stets Herrschaftsträger, zumindest in dem Sinne, dass sie als Durchsetzungsmacht kaiserlicher Herrschaft fungierten und kraft ihres Amtes in militärische, diplomatische und kirchenrechtliche Belange eingriffen. Dabei zeigten sich im Laufe der Jahrhunderte immer wieder verschiedene Spannungsfelder auf, vor allem im Verhältnis zwischen Kaiser und Heermeister. Betrachtet man die Quellen zu den Jahren um 500 n. Chr.2 genauer, lassen sich Rückschlüsse ziehen, in welchen Bereichen die Handlungsspielräume der magistri militum lagen. In der Mitte des 5. Jahrhunderts war es den weströmischen Heermeistern möglich geworden, ihre Handlungsspielräume immer weiter auszudehnen und der Kaiser war schließlich zu einer Spielfigur im Rahmen verschiedenster Konkurrenzkämpfe geworden. Auch im Oströmischen Reich hatten sich Mitte des 5. Jahrhunderts magistri militum wie Aspar oder Zenon weitreichende Handlungsspielräume sichern können. Bis zur Jahrhundertwende hatte sich dieses Bild jedoch geändert. Als Grundlage des folgenden Aufsatzes sollen zunächst einige zentrale Begriffe erläutert werden. Schwierig ist eine genaue Eingrenzung des magisterium militiae.3 Bereits über die Entstehung bzw. Einführung dieses Amtes unter Kon-
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Im Rahmen der wissenschaftlichen Studientagung „Chlodwigs Welt. Organisation von Herrschaft um 500“, die vom 30. September bis zum 02. Oktober 2011 in Weingarten (Oberschwaben) stattfand, konnte ich einen Beitrag zum Unterpunkt V. Regionen leisten. Der sehr weit gefasste Titel meines damaligen Vortrages „Handlungsspielräume römischer Heermeister um 500 n. Chr.“ war der Situation geschuldet, dass das Thema einen Teilaspekt meiner in Arbeit befindlichen Dissertation bildet. Nach ausführlicher Analyse der Quellen und unter Berücksichtigung der allgemeinen historischen Situation des Imperium Romanum um 500, als sich im Westen bereits die ersten gentilen Nachfolgereiche etabliert hatten, entschied ich, den Fokus auf die oströmischen Heermeister zu legen. Folgender Aufsatz ist als Ausarbeitung jenes Vortrages vom 01. Oktober 2011 anzusehen. Ich danke allen Anwesenden für kritische Kommentare und hilfreiche Anmerkungen zum Thema! Im Folgenden handelt es sich bei den Jahresangaben immer um die Zeit nach Christi Geburt, wenn nicht anderweitig gekennzeichnet. Grundlegend zum magisterium militiae ist noch immer der RE-Artikel von Alexander Demandt, der auch einen ausführlichen Überblick über die vorhergehende Forschung (Mommsen, Boak, Stein, Jones etc.) gibt.
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stantin I. gibt es im Grunde nur drei Quellen, die zudem einen recht vagen Bericht liefern.4 So sei das Heermeisteramt laut Zosimos und Johannes Lydos als militärisches Oberkommando geschaffen worden, indem den praefecti praetorio die militärischen Befugnisse entzogen wurden.5 Durch die Einsetzung mehrerer verschiedener Heermeister – zunächst nur nach Waffengattungen getrennt, später durch weitere regionale Kommandos ergänzt – baute Konstantin zugleich Kontrollmechanismen in sein neues System ein.6 Eine genaue Datierung der Einführung ist leider nicht möglich, da keine der Quellen ein konkretes Datum nennt. So lässt sich letztlich nur aus der Gesamtdarstellung erschließen, dass das Heermeisteramt vermutlich in den 330er Jahren etabliert wurde.7 Eine weitere Problematik stellt sich, möchte man das magisterium militiae zu späteren Zeiten untersuchen.8 Nicht nur, dass man wohl kaum eine genaue Jahreszahl findet, die den Endpunkt, das Verlöschen des Amtes, kennzeichnet – und dies weder im östlichen noch im westlichen Teil des Imperium Romanum. Auch die Tatsache, dass es sich keineswegs um ein starres Ämtersystem handelte, sondern im Laufe der Jahre zahlreiche Ver-
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Vgl. Alexander Demandt, Magister militum, in: RE Suppl. XII, 1970, 553–790; ders., Der spätrömische Militäradel, in: Chiron 10, 1980, 609–636. Des Weiteren: Wilhelm Enßlin, Zum Heermeisteramt des spätrömischen Reiches. Teil I: Die Titulatur der magistri militum bis auf Theodosius I., in: Klio 23, 1930, 306–325; Teil II: Die magistri militum des 4. Jahrhunderts, in: Klio 24, 1931, 102–147; Teil III: Der magister utriusque militiae et patricius des 5. Jahrhunderts, in: Klio 24, 1931, 467–502; Helmut Castritius, Zur Sozialgeschichte der Heermeister des Westreichs nach der Mitte des 5. Jahrhunderts n. Chr., in: Ancient Society 3, 1972, 233–243; ders., Zur Sozialgeschichte der Heermeister des Westreichs. Einheitliches Rekrutierungsmuster und Rivalitäten im spätrömischen Militäradel, in: MIÖG 92, 1984, 1–33. Es handelt sich hierbei um Zos. II 33, 3; Joh. Lyd. mag. II 10, III 40 sowie Aur. Vict. Caes. 41, 12. Der Bericht bei Aurelius Victor beschränkt sich auf einen kleinen Hinweis, dass Konstantin eine Stadt gegründet, religiöse Belange geregelt und gleichzeitig das Militär reorganisiert habe. Vgl. Zos. II 33, 3 und Joh. Lyd. mag. II 10, III 40. Ebd. Zos. II 32, 1 berichtet, Konstantin habe nach der Gründung und Niederlassung in Byzanz, als er keine Kriege mehr führte, „die seit langem bestehenden Staatsämter in Unordnung“ gebracht. Joh. Lyd. mag. II 10/III 40 nennt im Vorfeld der Ämterneuordnung den Verlust Skythiens und Mysiens an einfallende Barbaren. Aur. Vict. Caes. 42, 12 nennt im Vorfeld der Reorganisation des Militärwesens die Niederschlagung eines gewissen Calocerus, Kommandant der kaiserlichen Kamelherde, der sich auf Zypern zum Herrscher aufgeschwungen habe. Außerdem habe Konstantin eine Stadt gegründet (wohl Konstantinopel), religiöse Belange geregelt und gleichzeitig das Militärwesen reorganisiert. Die einschlägige, oben genannte Grundlagenforschung blieb bisher auf das Heermeisteramt in der Zeit bis 476 n. Chr. beschränkt. Vgl. dazu Demandt, Magister militum (wie Anm. 3); Enßlin, Zum Heermeisteramt des spätrömischen Reiches. Teile I–III (wie Anm. 3). In letzter Zeit erschienene Einzelmonographien zu ausgewählten Heermeistern beschränkten sich hauptsächlich auf die Heermeister des Westens. Vgl. Timo Stickler, Aetius. Gestaltungsspielräume eines Heermeisters im ausgehenden Weströmischen Reich. München 2002; Tido Janßen, Stilicho. Das weströmische Reich vom Tode des Theodosius bis zur Ermordung Stilichos (395–408). Marburg 2004; Friedrich Anders, Flavius Ricimer. Macht und Ohnmacht des weströmischen Heermeisters in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts. Frankfurt am Main 2010; Penny MacGeorge, Late Roman Warlords. Oxford, New York 2002.
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änderungen erfuhr, ist von Bedeutung. Zudem entwickelten sich die magisteria militiae des Ostens und Westens den gegebenen Rahmenbedingungen entsprechend unterschiedlich.9 Möchte man nun eine Kategorisierung der einzelnen, verschiedenen Heermeisterstellen vornehmen, stößt man unweigerlich auf ein weiteres Dilemma10: In vielen Quellen sind keine konkreten Amtsbezeichnungen zu finden. Gerade die Quellen des Oströmischen Reiches, die größtenteils in griechischer, zum Teil auch in syrischer Sprache verfasst wurden, sind dahingehend schwer einzuschätzen. Oft finden sich lediglich die Bezeichnungen στρατηγός/στρατηλάτης ohne konkretisierenden Zusatz. Gelegentlich verdeutlicht der jeweilige Autor seine Ausführungen durch weitere Einzelheiten. So kann man unter Prokops „οἱ τῶν ἐν Βυζαντίῳ στρατιωτῶν ἄρχοντες“11 die Praesentalheermeister verstehen. Deutlicher wird dies bei der Bezeichnung als „στρατηλάτης τοῦ μεγάλου πραισέντου“12 bzw. „στρατηλάτης πραισέντου“13. Weitere Ergänzungen geben nähere Informationen zu den Einsatzgebieten bzw. Truppen, die von den jeweiligen Heermeistern übernommen wurden. So kann man „ὁ τῆς Θρᾳκῶν στρατηγός“14 bzw. „τὸν στρατηλάτην Θράκης“15 als Heermeister Thrakiens ansehen. Ähnlich wird mit den weiteren „Regionalkommandos“16 verfahren.17 Leider 9
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Ich möchte mich an dieser Stelle lediglich auf eine kurze Darstellung der östlichen magisteria um 500 beschränken, da dies zentral für die Thesen meines Aufsatzes ist. Eine ausführliche Darstellung zu den magisteria militiae soll schließlich in meine Dissertation einfließen. Vgl. zu Entwicklung und Bezeichnung der magisteria militiae Demandt, Magister militum (wie Anm. 3). Nach der grundlegenden, von Mommsen geprägten Auffassung zum magisterium militiae, die auf einer Auswertung der notitia dignitatum basierte, wurden die Bezeichnungen der Amtsträger auch von nachfolgenden Forschern beibehalten und trotz des teilweise abweichenden Quellenbefundes nicht revidiert. Auch Demandt behält die geläufigen Bezeichnungen bei, übt jedoch insofern Kritik, dass es sich beim Heermeisteramt nicht um eine starr strukturierte Institution handele. Auch weist er auf Differenzen innerhalb der griechischen Bezeichnung hin. Leider beschränkt sich Demandts Untersuchung des Heermeisteramtes auf die Zeit bis 476 sowohl im östlichen als auch im westlichen Teil des Römischen Reiches. Vgl. Demandt, Magister militum (wie Anm. 3), 556–560. Prok. BP I 8, 2. Vgl. unter anderem Mal. XVI 9 (= TH 327; DIND 398–399; Eustath. fr. 7): „[…] καὶ Πατρίκιν, στρατηλάτην τοῦ μεγάλου πραισέντου, καὶ Ὑπάτην, στρατηλάτην πραισέντου […]“. Ebd. Vgl. unter anderem Joh. Ant. fr. 242, 3 Mariev. Vgl. unter anderem Mal. XVI 16 (= TH 329; DIND 402): „[…] Ὑπάτιον τὸν στρατηλάτην Θράκης […]“ Ich folge hier der durch Demandt geprägten Bezeichnung, da diese innerhalb der Forschung allgemein bekannt und recht treffend formuliert ist, auch wenn zu bedenken bleibt, dass ein Heermeister nie konsequent auf eine Region beschränkt blieb, sondern im Notfall auch andernorts eingesetzt werden konnte. Vgl. Demandt, Magister militum (wie Anm. 3). Es gibt zahlreiche verschiedene Bezeichnungen für die verschiedenen Regionalkommandos. So wird das Orientkommando unter anderem als „στρατηλάτης ἀνατολῆς“ bei Johannes Malalas (u. a. Mal. XVI 9 [= TH 327; DIND 398–399; Eustath. fr. 7]), Theophanes (u. a. Theoph. a. m. 6016), Kedrenos (u. a. Kedr. I 639) bzw. als „τῆς ἑῷας τότε στρατηγός“ bei Prokop (u. a. Prok. BP I 8, 1) bzw. „στρατηγοῦντος τῆς ἕω καὶ ἐξαρχοῦντος αὐτῆς“ bei Theophanes
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beschränkt sich diese Problematik nicht nur auf die griechischen Quellen, auch in der lateinischen Überlieferung werden häufig „einfache“ Begriffe zur Ämterbezeichnung genutzt. So bezeichnet Marcellinus Comes die drei Heerführer des Anastasios I. im Perserkrieg lediglich als ductores.18 Als einziger Hinweis auf eine möglicherweise offizielle Ämterbezeichnung müssen die Gesetzestexte der jeweiligen Zeit sowie in offiziellem Rahmen entstandene Inschriften wie z.B. die Konsulardiptychen des Areobindos angesehen werden.19 Darin finden sich dann schließlich auch die für unser Verständnis konkreteren Bezeichnungen wie magister militum20 oder magister militum praesentalium21, die innerhalb der modernen Forschung Verwendung finden.22 Leider wurden bei weitem nicht an jeden uns aus der Überlieferung bekannten Heermeister Gesetze erlassen und auch Inschriften lassen sich nur gelegentlich auffinden. Wenn ich im Folgenden dennoch die „gängigen“ Bezeichnungen23 magister militum, magister militum per Orien-
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(u. a. Theoph. a. m. 5997) bezeichnet. Der magister militum per Illyricum lässt sich als „στρατηλάτης τοῦ Ἰλλυρικοῦ“ (vgl. Theoph. a. m. 6032; Kedr. I 652), als „στρατηλάτην τοῦ Ἰλλυριῶν ἔθνους“ (vgl. Mal. XVIII 46 [= TH 379; DIND 451]) oder auch als „Illyricianae utriusque militiae ductor“ (vgl. Marc. Com. ad ann. 530) identifizieren. – Daraus wird ersichtlich, dass die Bezeichnungsvarianten bestimmter Autoren einem bestimmten Muster folgen. So scheint Prokop vorrangig mit längeren Umschreibungen zu arbeiten, was darauf hindeuten könnte, dass er über keinen konkreten Begriff zur Amtsbezeichnung verfügte. Es könnte jedoch auch seinem Anspruch geschuldet sein, seine Werke in der Tradition klassischer antiker Historiographie zu verfassen. Vgl. dazu Mischa Meier, Prokop, Agathias, die Pest und das „Ende“ der antiken Historiographie. Naturkatastrophen und Geschichtsschreibung in der ausgehenden Spätantike, in: HZ 278, 2004, 281–310. Es wird außerdem deutlich, dass auch einzelne Autoren innerhalb ihrer Darstellungsweisen schwanken, so z.B. Theophanes. Marc. Com. ad ann. 503. Erstaunlicherweise schrieb Marcellinus Comes in lateinischer Sprache, obwohl er in Konstantinopel, also im griechischsprachigen Raum lebte, was sich jedoch mit seiner Herkunft aus dem lateinischsprachigen Illyricum erklären lässt. Vielleicht war dies ein Grund für seine zum Teil ungenaue Bezeichnung der römischen Ämter. Andererseits zeigt er bei der Erwähnung anderer Ämter eindeutig seine Kenntnis lateinischer Bezeichnungen, die er sicher auch aus seinem Dienst als cancellarius für Justinian erworben haben dürfte, so zum Beispiel die Bezeichnung des magister officiorum Keler vgl. Marc. Com. ad ann. 503: „[…] iam Celere magistro officiorum sibi cum duobus milibus bellatorum in subsidium destinato.“ – Vgl. Brian Croke, The Chronicle of Marcellinus. A Translation and Commentary. Sydney 1995, xix-xxvii. Elfenbeindiptychen anlässlich des Konsulats des Areobindos 506 n. Chr.: XI 8137; XIII 5245 = 10032.3a = D 1303 = ILCV 71 (vollständig erhalten); XIII 10032.3b, 3d; XIII 10032.3c (unvollständig). Vgl. unter anderem Konsulardiptychen des Areobindos XI 8137; XIII 5245 = 10032.3a = D 1303 = ILCV 71: „V(IR) I(NLUSTRIS); EX C(OMITE) S(ACRI) STAB(ULI) ET M(AGISTRO) M(ILITUM) P(ER) OR(IENTEM); EX C(ONSULE); CO(NSUL) ORD(INARIUS)“; vgl. Corpus Iuris Civilis XII 35, 18: „[…] magnificam magisteriam per orientem […] magistri militum praesentalis […]“ Vgl. unter anderem Corpus Iuris Civilis XII 35, 18: „Anast. A. Iohanni Mag. Mil. Praesentalium.“ Vgl. Stickler, Aetius (wie Anm. 8); Janßen, Stilicho (wie Anm. 8); Anders, Flavius Ricimer (wie Anm. 8). Diese Bezeichnungen entsprechen weitestgehend dem Konsens der Forschung und finden in zahlreichen Werken der Forschungsliteratur Verwendung. Es ist daher davon auszugehen,
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tem, magister militum per Illyricum oder magister militum praesentalis verwende, so geschieht dies der leichteren Verständlichkeit halber. Wo es angebracht erscheint, wird explizit auf den Wortgebrauch des Quellenautors verwiesen. Eine zweite Problematik stellen in diesem Rahmen die Begrifflichkeiten „Handlungsspielräume“ und „Loyalität“ dar. Beide Begriffe sind eher unscharf, kaum fest zu umgrenzen und wohl jeder Leser verbindet seine eigenen Assoziationen damit. Um Missverständnissen vorzubeugen, seien daher vorab noch einige Worte dazu verloren: Unter dem Begriff der „Handlungsspielräume“ verstehe ich die den Heermeistern offenstehenden Möglichkeiten, im Rahmen der ihnen vom Kaiser zugebilligten Funktionen frei agieren zu können.24 Die magistri militum können gewissermaßen als Teilhaber kaiserlicher Herrschaft angesehen werden. So war der Heermeister einer der zahlreichen Repräsentanten kaiserlicher Herrschaft; in den weitläufigen Territorien des Reiches (Regionalkommando) ebenso wie in der Hauptstadt selbst (Praesentalheermeister). Er vertrat den Kaiser sowie seinen herrschaftlichen Anspruch sowohl an den Grenzen des Reiches gegenüber benachbarten Völkern als auch im Reich selbst – gegenüber Usurpatoren, Aufständischen und anderen „Unruhestiftern“.25 Dazu gehörten auch die Leitung von Friedensverhandlungen sowie der Schutz verschiedener, meist den Regionalheermeistern untergeordneter Bereiche.26 Die Übernahme richterlicher Funktionen in Fällen, die römische Soldaten betrafen, gehörte ebenso zum Aufgabenbereich des Heermeisters wie die Regelung kirchenrechtlicher Angelegenheiten, unter anderem die Vermittlung in Kirchenstreitigkeiten.27 Neben diesen diplomatischen Aufträgen diente vor allem der magister militum praesentalis, da er über die nötige Nähe zum Kaiserhof verfügte, als Ratgeber im kaiserlichen silentium.28 Bemerkenswert für das Verhältnis zwischen magister militum und Kaiser ist die Tatsache, dass sowohl Handlungen der Heermeister auf den Herrscher zurückfielen, als auch in entgegengesetzter Richtung das Empfinden der Bevölkerung gegenüber dem Kaiser auf dessen „Vertreter“ projiziert wurde.29 „Loyalität“ bezieht sich auf das Verhältnis zwischen Heermeister und Kaiser, vornehmlich das Verhalten des Amtsträgers gegenüber dem Herrscher. Kennzeichen von Loyalität sind die Erfüllung der zugewiesenen Funktionen und Aufgaben durch den Heermeister – möglichst zur Zufriedenheit des Herrschers –
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dass sie die Verständlichkeit des Textes erleichtern. Maßgeblich dazu: Demandt, Magister militum (wie Anm. 3). Für weitere Literatur vgl. Anm. 22. Zwar wird der Begriff der Handlungsspielräume häufig gerade in neuerer Forschungsliteratur verwendet, jedoch fehlen in den meisten Werken nähere Erklärungen zu seiner Verwendung. Vgl. zur soziologischen Verwendung den Eintrag von Rüdiger Lautmann zum Begriff „Handlungsspielraum“ in: Werner Fuchs-Heinritz u. a. (Hrsgg.), Lexikon zur Soziologie. 5. überarbeitete Auflage. Wiesbaden 2011, 271. Bereich der militärischen Funktionen des Heermeisters. Bereich der diplomatischen Funktionen des Heermeisters. Aufgabenbereich Kirchenrecht. Vgl. Ps.-Zach. HE VII 8h–i p. 259–260 Greatrex/Phenix/Horn. Dies wird im Folgenden noch genauer zu erläutern sein. Vgl. unten S. 412f.
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sowie die Unterstützung und das Festhalten am Herrscher auch in Krisenzeiten.30 Es meint damit aber keinesfalls einen Macht- oder Interessensverzicht seitens des magister militum. Gerade in Krisenzeiten konnten dadurch die Durchführung zugeteilter Aufgaben und die Durchsetzung eigener Bestrebungen zum Interessen-, d.h. Loyalitätskonflikt führen. In solchen Situationen waren es neben der persönlichen Einstellung des Heermeisters (die wir in keinem Fall nachvollziehen können und die daher als Argument im wissenschaftlichen Bereich wegfällt) weitere strukturelle Faktoren, die sein Verhalten beeinflussten. Hierzu zählen vor allem die Bereiche Heer/Soldaten, finanzielle Lage des Reiches sowie soziale Stellung des magister militum. Auch die kaiserliche Autorität und Legitimität/Legitimation sind entscheidende Einflussfaktoren.31 Um zu verdeutlichen, welche Handlungsspielräume den oströmischen magistri militum um 500 zur Verfügung standen und inwieweit sie diese ausnutzen konnten, werde ich fünf Heermeister, die zwischen 483 und 529 im Amt waren, als Beispiele heranziehen. Die Auswahl erfolgte anhand einiger, im Folgenden kurz zu erläuternder Kriterien. Neben der Grundvoraussetzung – den passenden Amtszeiten der ausgewählten Vertreter – sollte ihnen auch eine gewisse historische Bedeutung zugemessen werden können. So wird vorausgesetzt, dass Amtsinhaber mit einer relativ langen Amtszeit innerhalb eines magisterium über mehr Einfluss auf die Politik und Entwicklungen des Römischen Reiches verfügten als solche, die das Amt nur für einen kurzen Zeitraum ausübten. Häufige Wechsel zwischen den verschiedenen magisteria erscheinen ebenfalls als Besonderheit und lassen vermuten, dass neben rein militärisch motivierten Einsätzen32 weitere Einflussfaktoren eine „glatte“ Karriere des betroffenen Amtsinhabers verhinderten. So kann in diesem Zusammenhang das Verhältnis zwischen Kaiser und Heermeister eine entscheidende Rolle bei Einsetzung und Absetzung gespielt haben, was wiederum weitere Rückschlüsse auf die Handlungsspielräume der magistri militum zulässt. Wichtig erscheinen außerdem auch Ehrungen wie das Konsulat oder Patriciat und nicht zuletzt – wie sich an einigen Vertretern zeigen wird – familiäre Herkunft und Verbindungen zur römischen Oberschicht.33 Auch das Potential verschiedener Heermeister, die in Krisenzeiten zum Kaiserkandidaten avancierten, scheint von Bedeutung zu sein. 30 Zum Beispiel während Aufständen, Unruhen in der Bevölkerung oder Usurpationsversuchen. 31 Zu Loyalitätstheorien im soziologischen Kontext vgl. Loyalität nach Mattias Iser, in: Stefan Gosepath/Wilfried Hinsch/Beate Rössler (Hrsgg.), Handbuch der politischen Philosophie und Sozialphilosophie. Bd. 1 A–M. Berlin 2008, 731–733. 32 Gedacht ist hier an akute militärische Notfälle wie z.B. Aufstände/Unruhen im Reich bei gleichzeitiger Belastung der Grenzen durch Konflikte mit auswärtigen Feinden wie den Persern oder bei Barbareneinfällen, die den Einsatz zusätzlicher magistri militum oder aber die schnelle Neubesetzung vakanter Stellen erforderten. Nach Beseitigung der Notlage konnten die betroffenen magistri gegebenenfalls wieder abgesetzt bzw. in andere Gebiete geschickt werden. So machte zum Beispiel der Perserkrieg des Anastasios I. das koordinierte Vorgehen dreier magistri militum notwendig. 33 So zum Beispiel im Falle des Areobindos, der zwar nur relativ kurze Zeit im Amt eines magister militum per Orientem bezeugt ist, aber durch seine Verbindungen zur oströmischen Militär- und weströmischen Senatsaristokratie sowie zum theodosianischen Kaiserhaus wohl
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2. HANDLUNGSSPIELRÄUME (OST-)RÖMISCHER HEERMEISTER UM 500 N. CHR. UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG DES LOYALITÄTSASPEKTES Im Folgenden möchte ich versuchen, anhand der ausgewählten Fallbeispiele die Handlungsspielräume der oströmischen magistri militum um 500 n. Chr. darzustellen. Dies soll unter Berücksichtigung des Aspektes der „Loyalität“ geschehen, weshalb besonders auf das Verhältnis der Heermeister zum Kaiser eingegangen wird. Bestimmte Handlungs- und Reaktionsweisen der Akteure sollen mittels Quellenanalyse genauer betrachtet werden. Von Interesse sind dabei besonders die Situationen, in denen es scheinbar zu Konflikten mit dem Herrscher kam. Gerade sie können aufschlussreich für die Bewertung der Handlungsspielräume römischer Heermeister sein. Die Darstellung soll dabei der Chronologie folgen, soweit dies möglich ist. Nähere Informationen zu den in diesem Aufsatz hauptsächlich verwendeten Quellen sind in den entsprechenden Fußnoten beigefügt, auf einen kritischen Quellenüberblick wird an dieser Stelle verzichtet.34 a) Johannes Kyrtos und Johannes der Skythe Zwar gibt es zu Johannes Kyrtos und Johannes dem Skythen verhältnismäßig wenige Quellenberichte, doch erscheinen sie in diesen als kaisertreue, zuverlässige und erfolgreiche magistri: Johannes der Skythe diente als magister militum per Orientem bereits unter Kaiser Zenon, den er – wie Josua Stylites 15– 17 und weitere Quellen berichten35 – gegen die Usurpatoren Illus und Leontios unterstützte.36 Er behielt sein Amt auch nach Zenons Tod unter dessen Nachfolger Anastasios I. Diesem diente er gemeinsam mit Johannes Kyrtos, der wohl zwischen 492 und 499 magister militum praesentalis gewesen war, gegen die über größeren Einfluss innerhalb der römischen Oberschicht verfügt haben dürfte und damit auch für den Kaiser zu einer wichtigen Bezugsperson geworden sein kann. 34 Eine ausführliche Besprechung der Quellen soll in der Einleitung meiner Dissertation erfolgen. 35 Die Chronik des Josua Stylites entstand zu Beginn des 6. Jh. in Edessa, ist uns aber nur als Teil der Chronik von Zuqnin des Pseudo-Dionysios von Tel-Mahre erhalten. Sie berichtet über Vorgeschichte und Verlauf des Perserkrieges und behandelt dabei den Zeitraum von 494 bis 506. Obwohl die Identität des Autors mit dem Styliten Josua aus dem Kloster von Zuqnin in der Forschung umstritten ist, ist die Chronik aufgrund der Nähe des Verfassers zu den Ereignissen – er war wohl Zeit- und Augenzeuge – von besonderer Bedeutung für die Erforschung der Spätantike. Vgl. Andreas Luther, Die syrische Chronik des Josua Stylites. Berlin, New York 1997, 1–32; Frank R. Trombley; John W. Watt, The Chronicle of Pseudo-Joshua the Stylite. Liverpool 2000, xi–lv. Weitere Quellenberichte zum Orientkommando des Johannes des Skythen: Mal. XV 13–14 (= TH 315; DIND 389; Exc. de insidiis p. 166, 13–28 de Boor); Joh. v. Nikiu 88, 86; Joh. Ant. fr. 236, fr. 237 Mariev; Theoph. a. m. 5976, 5977, 5983, 5985. 36 Usurpation des Illus und Leontios in den Jahren 484–488.
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Isaurier.37 Anschließend wurden beide in den Jahren 498 (Johannes der Skythe) bzw. 499 (Johannes Kyrtos) mit dem Konsulat geehrt.38 Daraufhin brechen die Quellenberichte ab. Dass sie speziell gegen reichsinterne Feinde ins Feld geschickt wurden, spricht für den hohen Grad ihrer Loyalität genauso wie für das Vertrauen, das ihnen der jeweilige Kaiser entgegenbrachte. Bemerkenswert ist die Situation, in der sich beide unter Anastasios als loyal erwiesen, handelte es sich doch um einen Bürgerkrieg, der sich gegen die Leute um Longinos, den Bruder des erst kürzlich verstorbenen Kaisers Zenon, richtete.39 Longinos hatte beim Tod des kinderlosen Zenon40 im Jahr 491 seine Ansprüche auf den Thron laut werden lassen, was – da sie nicht erhört wurden – schließlich in einem Aufstand gipfelte. Zwar wurde Longinos bereits kurz darauf von Anastasios nach Oberägypten verbannt und starb dort, doch führten zahlreiche Isaurier um seine Namensvettern Longinos von Kardala und Longinos aus Selinous die Revolte im eigenen Land fort.41 In einer Zeit, in der es zu zahlreichen Revolten und Usurpationen kam, ist es erstaunlich und selten, dass zwei Heermeister so loyal gegenüber dem Kaiser handelten. Blickt man zurück auf die Regierungszeit Zenons, in der Usurpationen sehr häufig gerade aus dem engsten Umfeld des Kaisers erwuchsen und nicht selten magistri militum beteiligt waren, gewinnt die Loyalität der beiden Johannes zunehmend an Bedeutung.42 Es scheint, sie hätten mehr Loyalität gegenüber dem Kaisertum an 37 Isaurierkrieg des Anastasios I. 492–498. Vgl. Marc. Com. ad ann. 497; Euagr. HE III 35 (= Eustath. fr. 6); Theod. Anagn. 449 p. 126 Hansen; Joh. Ant. fr. 239 Mariev; Theoph. a. m. 5985, 5986, 5988; Kedr. I 627; CJ XII 35, 18; Prok. Anecd. VI 5–9; Mal. XVI 3 (= TH 320; DIND 393; Exc. de insidiis p. 167, 24–168, 10 de Boor). 38 Zum Konsulat des Johannes des Skythen vgl. Marc. Com. ad ann. 498; CJ V 30, 4; X 19, 10; Vict. Tunn. ad ann. 498; Theoph. a. m. 5988. Zu Johannes Kyrtos vgl. Marc. Com. ad ann. 499; CJ V 62, 25; Vict. Tunn. ad ann. 499; Chron. Pasch. ad ann. 499; Theoph. a. m. 5988. 39 Longinos als Bruder Zenons vgl. Marc. Com. ad ann. 485; Mal. XV 12 (= TH 310; DIND 385–386); Joh. Ant. fr. 239 Mariev; Theoph. a. m. 5975, 5983. 40 Zenons Sohn Leon II. war bereits kurz nach seiner eigenen und seines Vaters Erhebung auf den Kaiserthron im Jahre 474 gestorben. Seitdem hatte Zenon allein regiert, weitere Nachkommen sind nicht bekannt. Es besteht die Möglichkeit, dass er evtl. mit seiner ersten Frau Arkadia einen Sohn namens Zenon hatte, der jedoch auch vorzeitig verstarb. Vgl. dazu Suda A 885; Z 84. Zur fehlenden männlichen Nachkommenschaft vgl. Theoph. a. m. 5983. 41 Zum Aufstand der Isaurier vgl. Joh. Ant. fr. 239 Mariev; Euagr. HE III 29, III 35 (= Eustath. fr. 6); Theoph. a. m. 5983, 5984, 5985, 5986, 5988; Theod. Anagn. 449 p. 126 Hansen; Mal. XVI 3 (= TH 320; DIND 393; Exc. de insidiis p. 167, 24–168, 10 de Boor). 42 Unter Zenon kann man von drei Usurpationsversuchen sprechen. Nachdem es Basiliskos im Jahr 475/476 gelungen war, Zenon für knapp zwei Jahre vom Thron und aus Konstantinopel zu vertreiben, erfolgten bald die weniger erfolgreichen Versuche des Markianos 479 sowie des Illus und Leontios 484–488. Bemerkenswert ist, dass nicht nur Zenons Schwiegermutter Verina sondern auch seine Frau Ariadne laut Quellenberichten eine Rolle bei den Umsturzversuchen gespielt hatte. Basiliskos war Bruder der Kaiserin Verina und somit Schwager Leons I. Zwischen 464 und 467/468 war er magister militum per Thracias, 468 vielleicht sogar Präsentalheermeister. Dafür würde zumindest sein Einsatz als leitender Kommandant der prestigereichen Vandalenexpedition sprechen, auch wenn diese schließlich in einer Katastrophe endete. Vgl. zu Basiliskos PLRE II, 212–214 (Fl. Basiliscus 2). Markianos seinerseits war nicht nur Sohn des weströmischen Kaisers Anthemios (467–472), sondern durch seine
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sich bewiesen als gegenüber dessen Inhaber. Ungeachtet der Tatsache, dass mit Longinos ein naher Verwandter des verstorbenen Kaisers – dem zumindest Johannes der Skythe loyal und gerade gegen Usurpatoren gedient hatte (!) – als Thronfolger zur Verfügung stand, unterstützten die beiden magistri den neu erhobenen Anastasios I., dem zumindest zu Beginn der Herrschaft ein gewisses Maß an Legitimität fehlte.43 Da er jedoch formell durch die Eliten des Reiches, die Stadtbevölkerung Konstantinopels sowie das Heer zum Herrscher erhoben worden war, gebührte ihm als Inhaber des Kaisertums die Loyalität der Beamten. Es kam scheinbar weit weniger auf die Person des Throninhabers als auf die Legalität seiner Erhebung an. Beide Johannes sind schließlich aufschlussreiche Beispiele dafür, wie ein Heermeister agieren sollte. Davon zeugen ihre Karrieren sowie ihre positive Darstellung in den Quellen. So gibt es lediglich eine einzige Stelle mit leicht negativem Anklang: Theophanes44 a. m. 5985 erwähnt bei der Darstellung des Isaurierkrieges, dass die Römer einen Fehler gemacht hätten, indem sie sich mehr der Beute widmeten als der Verfolgung ihrer Feinde. Dadurch hätten sie sich verspätet, die Isaurier konnten entkommen und in den Festungen des Taurus Zuflucht finden. Da dieser Kritikpunkt nicht nur der einzige in der kompletten Überlieferung bezüglich der beiden magistri militum ist, sondern zudem aus einer sehr späten Quelle stammt und auf „τοῖς Ῥωμαίοις“45 insgesamt bezogen wird, kann er in diesem Zusammenhang vernachlässigt werden. Es bleibt festzuhalten, dass die beiden Johannes weder den kaiserlichen Herrschaftsanspruch gefährdeten noch versuchten, ihre Einflussbereiche auszudehnen. Im Gegenteil: Sie zeichneten sich gerade in den schwierigen Jahren der Herrschaftssicherung des Anastasios Heirat mit Leons zweiter Tochter, d.h. Ariadnes Schwester Leontia, mit Zenon verbunden. Vgl. dazu PLRE II, 717f. (Fl. Marcianus 17). Illus schließlich hatte bereits 475/476 zunächst Basiliskos’ Usurpation unterstützt, war dann aber wieder auf Seiten Zenons gewechselt. Dass er sich 484 selbst gegen den Kaiser aufschwang und mit Leontios einen Gegenkaiser krönen ließ, zeigt die Wankelmütigkeit des magister militum per Orientem (481–483). Vgl. zu Illus PLRE II, 586–590 (Illus 1). Eine ausführliche Analyse der Usurpationen unter Zenon findet sich bei Karl Feld, Barbarische Bürger. Die Isaurier und das Römische Reich. Berlin/New York 2005, 251–255, 260–262, 269–277. 43 Vgl. zur Wahl des Anastasios Mischa Meier, Anastasios I. Die Entstehung des Byzantinischen Reiches. Stuttgart 2009, 53–118. 44 Bei der Chronik des Theophanes handelt es sich um die Fortsetzung der Weltchronik des Georgios Synkellos, entstanden im frühen 9. Jh. Es ist umstritten, wie groß der Eigenanteil des Theophanes an der Chronik war bzw. inwiefern er lediglich gesammeltes Material des Georgios Synkellos verarbeitete. Als Vorlage dienten zahlreiche, zum Teil noch heute erhaltene Quellen, so unter anderem Prokop. An einigen, auch für diesen Aufsatz wichtigen Stellen gehen die Informationen des Theophanes jedoch über das bekannte Quellenmaterial hinaus. Es bleibt anzunehmen, dass ihm weitere, heute verlorene oder nur fragmentarisch erhaltene Quellen zur Verfügung standen, so zum Beispiel die Historia tripartita des Theodorus Lector oder die Chronik des Johannes Malalas. Problematisch sind häufige Inkonsistenzen und Ungenauigkeiten vor allem bei der Datierung aber auch der Angabe verschiedener Ereignisse. Vgl. ausführlich dazu Cyril Mango/Roger Scott, The Chronicle of Theophanes Confessor. Byzantine and Near Eastern History AD 284–813. New York 1997, xliii–c. 45 Theoph. a. m. 5985.
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gegen dessen reichsinterne Gegner als loyale und zuverlässige Kommandanten aus. Ein regulierendes Eingreifen seitens des Kaisers wurde dadurch zu keiner Zeit nötig. b) Flavios Areobindos Dagalaiphus Areobindos Areobindos, das zweite Fallbeispiel, verfügte über eine beachtliche Ahnenreihe: Als Sohn des Dagalaiphus, Konsul von 461, war er zugleich Enkel des Flavios Areobindos, der seinerseits 434 das Konsulat gemeinsam mit Aspar bekleidet hatte.46 Zeigt sich hier schon eine erste Verbindung dieser beiden großen Familien der oströmischen Militäraristokratie, so wird diese noch deutlicher, betrachtet man Areobindos’ Abstammung mütterlicherseits: Godisthea war eine Tochter Ardaburs und somit ihrerseits Enkelin Aspars.47 Außerdem verband ihn seine Frau Anicia Iuliana mit dem theodosianischen Kaiserhaus sowie der senatorischen Oberschicht Westroms. Ihr Vater, Flavius Anicius Olybrius, war – wenn auch nur für kurze Zeit von März/April bis Oktober/November 472 – weströmischer Kaiser gewesen. Er war dafür durch seine Heirat mit Placidia, einer Tochter Valentinians III., prädestiniert gewesen.48 Diese Faktoren verdienen Beachtung, möchte man Areobindos’ Handlungsspielräume als magister militum unter Anastasios betrachten, denn sie konnten ihn für den Kaiser gefährlich machen. Sicher verschaffte dieses weit verzweigte Netzwerk Areobindos größeren Einfluss als manch anderem Heermeister, doch taucht er vergleichsweise selten in der Überlieferung auf und scheint – ebenso wie die vorangegangenen Beispiele – im Rahmen seiner Befugnisse agiert zu haben.49 Es ist erstaunlich, dass Areobindos trotz seiner engen Verbindungen zur römischen Militäraristokratie kaum als Heermeister in Erscheinung tritt. Lediglich im Perserkrieg des Anastasios50, in den Jahren 503 bis 504 (evtl. 505), taucht er in den Quellen als magister militum per Orientem auf.51 Anschließend erhielt er 506 46 Mal. XVI 9 (= TH 327; DIND 398; Eustath. fr. 7); Theoph. a. m. 5997. 47 Theoph. a. m. 5997. Auch Ardabur hatte die Ehrung des Konsulats (447) erhalten. Damit gehörte Areobindos einer traditionsreichen, ehrwürdigen und seit langem in der Militäraristokratie des Oströmischen Reiches verankerten Familie an. 48 Mal. XVI 9 (= TH 327; DIND 398; Eustath. fr. 7), XVI 19 (= TH 333–334; DIND 407); Prok. BP I 8, 1; Paul.-Hellad. p. 20 Lundström; Chron. Pasch. ad ann. 464, ad ann. 512; Joh. Nik. 89, 65; Theoph. a. m. 6005; Ps.-Dion. ad ann. 818 p. 9 Witakowski. 49 So gibt es kaum mehr Quellenbelege zu ihm als zu den beiden Johannes und im Vergleich zu Hypatios erfahren wir nur wenig. Sehr wertvoll sind die erhaltenen Elfenbeindiptychen anlässlich seines Konsulats, die eine ausführliche Auflistung der von Areobindos übernommenen Ämter enthalten. Zu weiteren Quellen vgl. PLRE II, 143 (Fl. Areobindus Dagalaiphus Areobindus 1). 50 Perserkrieg des Anastasios I. 503–506. 51 Vgl. Elfenbeindiptychen XI 8137; XIII 5245 = 10032.3a = D 1303 = ILCV 71 (vollständig erhalten); XIII 10032.3b, 3d; XIII 10032.3c (unvollständig erhalten). Quellen zu Areobindos’ Rolle im Perserkrieg: Ps.-Zach. HE VII 4–5 p. 242–247 Greatrex/Phenix/Horn; Jos. Styl. 54– 55 p. 63–67, 58–63 p. 71–82, 75 p. 91–93, 87–88 p. 105–108 Trombley/Watt; Marc. Com. ad
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das Konsulat.52 Nach der relativ ausführlichen Berichterstattung zum Perserkrieg schweigen die Quellen zunächst über den weiteren Verbleib des Areobindos. Erst zum Jahr 512 gibt es neue Berichte: Aufgrund der Unzufriedenheit der orthodoxen Bevölkerung Konstantinopels sei es zu Aufständen gegen den Kaiser Anastasios gekommen53 und man habe versucht, Areobindos zum neuen Kaiser auszurufen; dieser sei aber bereits geflohen gewesen.54 Nach dieser letzten Nachricht schweigen die Quellen erneut. Es bleibt zu vermuten, dass Areobindos aufgrund seines hohen Alters bald nach 512 gestorben ist.55 Bezüglich der hier betrachteten Fragestellung sollen Areobindos’ Verhalten im Perserkrieg sowie während des Staurotheis-Aufstandes genauere Betrachtung erfahren. Allen Darstellungen des Perserkrieges ist eines gemeinsam: Sie hinterlassen beim Leser ein eher negatives Bild der römischen Kommandeure, zu denen auch Areobindos gehörte.56 Die Erfolge der Generäle hielten sich in Grenzen und die verschiedenen Berichte – angefangen bei der Chronik des Ps.-Zacharias Rhetor bis hin zu der des Theophanes – sind gekennzeichnet durch die häufige Verwendung von Begriffen der Schwäche, Furcht und Flucht.57 Areobindos gelingen zumindest einige Einfälle in persisches Gebiet, er kann bis Nisibis vorrücken und besiegt sogar einen der größten persischen Generäle. Dass er Schwert und Armreif des Gefallenen an den Kaiser sendet, wertet Theophanes zudem als klares Siegeszeichen der Römer.58 Doch es war nicht nur das: Auch auf die Amtsausübung des Areobindos wirft diese Handlung ein klares Licht. Indem er die Siegeszeichen an den Kaiser weiterleitet, zeigt er seine Loyalität und Zuverlässigkeit. Der Kaiser wird durch diese Vorgehensweise nicht nur über den Fortgang der Dinge im Kriegsverlauf informiert, sondern ebenso als eigentlicher Sieger der Schlacht stili-
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ann. 503; Prok. BP I 8–9; Joh. Lyd. mag. 53; Mal. XVI 9 (= TH 327; DIND 398); Theoph. a. m. 5997, 5998. Konsulardiptychen XI 8137; XIII 5245 = 10032.3a = D 1303 = ILCV 71 (vollständig erhalten); XIII 10032.3b, 3d; XIII 10032.3c (unvollständig erhalten); Marc. Com. ad. ann. 506; Theoph. a. m. 5997. Es handelt sich hier um den Staurotheis-Aufstand gegen Anastasios I. Vgl. dazu weiterführend und ausführlich Mischa Meier, Σταυρωθεὶς δι᾿ ἡμᾶς – Der Aufstand gegen Anastasios im Jahr 512, in: Millennium 4, 2007, 157–237. Zu Areobindos’ Rolle im Staurotheis-Aufstand vgl. Marc. Com. ad ann. 512; Mal. XVI 19 (= TH 333–334; DIND 407); Chron. Pasch. ad ann. 512; Joh. Nik. 89, 65; Ps.-Dion. ad ann. 818 p. 7–9 Witakowski. Vgl. PLRE II, 143 (Fl. Areobindus Dagalaiphus Areobindus 1). So zum Beispiel die Darstellungen bei Pseudo-Zacharias, Prokop und Theophanes, die alle besonders die Schwäche und Feigheit der römischen Generäle betonen. Selbst die recht kurze Notiz in der Chronik des Marcellinus Comes sowie einige Hinweise auf das Verhältnis zwischen Persern und Römern bei Johannes Lydus hinterlassen einen negativen Eindruck. In starkem Kontrast dazu steht lediglich die äußerst positive Darstellung des Areobindos bei Josua Stylites. Vgl. Marc. Com. ad ann. 503 „sine audacia“ = ohne Mut; Joh. Lyd. mag. 53 „δειλία“ = Feigheit; Prok. BP I 8 „φυγή“ = Flucht. Theoph. a. m. 5997. Zu den Erfolgen des Areobindos vor Nisibis vgl. auch Jos. Styl. 55 p. 66–67 Trombley/Watt.
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siert.59 Er, der Herrscher des Römischen Reiches, ist es, der den Krieg gegen die Perser führt. Areobindos hingegen fungiert im Amt des magister militum nur als „Agent“, als ausführende Instanz des Kaisers. Wirft diese Szene schon ein Licht auf das Selbstverständnis des magister militum per Orientem, so gibt das folgende Beispiel größeren Aufschluss über die ihm zustehenden Handlungsspielräume. Als der Perserkönig Kabades schließlich eine große Streitmacht gegen die Römer entsendet, bittet Areobindos die anderen beiden Feldherren – Hypatios und Patrikios – um Hilfe. Sie reagieren jedoch nicht auf sein Gesuch und überlassen ihn und sein Heer ihrem Schicksal.60 Auf die Handlungsweise der beiden magistri militum praesentales wird an späterer Stelle noch genauer einzugehen sein. Hier interessiert zunächst nur das Verhalten des Areobindos, der vor den anrückenden Persern fliehen muss und sich offensichtlich von seinen Kollegen verraten fühlt. Es ist erneut Theophanes, der berichtet, dass der magister militum per Orientem nach dieser Enttäuschung sehr radikal reagiert: Er bricht seine Zelte ab und will direkt nach Konstantinopel zurückreisen, lediglich sein Unterkommandant Apion kann ihn zum Bleiben überreden.61 Mag es auf den ersten Blick wie die Reaktion eines beleidigten Kindes anmuten und mag man ein solches Verhalten von einem angesehenen Heermeister nicht zwangsläufig erwarten, so deutet eben diese Reaktion auch auf seine Handlungsspielräume hin. Areobindos war wohl aufgrund seiner oben genannten Verbindungen zur römischen Oberschicht eine andere Behandlung nicht nur gewohnt, sondern konnte diese auch in gewissem Sinne erwarten. Fraglich ist, ob es im Bereich seiner Möglichkeiten lag, den Feldzug an dieser Stelle abzubrechen und nach Konstantinopel zurückzukehren. Es kann lediglich vermutet werden, dass er beim Kaiser Beschwerde über das Verhalten der anderen Kommandanten einreichen wollte. Sein Bleiben lässt verschiedene Deutungen zu: Zum einen spricht es für das Verhandlungsgeschick Apions, zum anderen aber erneut auch für eine gewisse Zuverlässigkeit und Loyalität des Areobindos gegenüber dem Kaiser. War das römisch-persische Verhältnis seit jeher ein gespanntes, so war die prekäre Lage im Kriegsverlauf des Jahres 503 von besonderer Gewichtigkeit. Gerade nach den vorangegangenen Niederlagen musste die freiwillige Rückkehr eines der Kommandanten – noch dazu eines Angehörigen der seinerzeit wohl bedeutendsten Familien der oströmischen Militäraristokratie – nach Konstantinopel wie Resignation und Aufgabe wirken. Eine solche Handlung hätte ein denkbar schlechtes Licht nicht nur auf den Feldherren, sondern auch auf den Kaiser als eigentlichen Kriegsherren geworfen. Schließlich könnte man Areobindos’ Bleiben auch dahingehend deuten, dass es eben gerade nicht in seinen Handlungsspielräumen lag, über einen Abbruch seines Auftrages frei zu entscheiden. Da er sein Vorhaben schließlich aufgab, lassen sich keine konkreteren Rückschlüsse ziehen. Wahrscheinlich hätte ein Rückzug nach Konstantinopel aber zumindest das Ende der Karriere des Areobindos bedeutet und dem Ruf seiner Familie maß59 Vgl. zu Herrscherideologie und Symbolik Frank Kolb, Herrscherideologie in der Spätantike. Berlin 2001, vor allem 99–102, 116, 123–125. 60 Jos. Styl. 55 p. 66–67 Trombley/Watt; Theoph. a. m. 5997. 61 Theoph. a. m. 5997.
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geblich geschadet. Dass er im Jahre 506 mit dem Konsulat geehrt und wohl für seine Verdienste im Perserkrieg belohnt wurde, schafft eine Verbindung zu den beiden zuvor genannten Johannes. Es impliziert zudem – bedenkt man Areobindos’ nur mäßige Erfolge im Perserkrieg – die große Bedeutung, die ein gutes Verhältnis zu Areobindos für den Kaiser hatte.62 Die zweite interessante Szene in seinem Leben und zugleich die letzte Nachricht, die wir in der Überlieferung über Areobindos erhalten, verdeutlicht das von ihm ausgehende Gefahrenpotential. Im Verlauf des Staurotheis-Aufstandes gegen Anastasios im Jahr 512 zieht die Menge schließlich zum Haus der „hochangesehenen Patrikia Iuliana“63. Neben dem Chronisten Malalas64 berichten zahlreiche weitere Quellen davon, dass die Bevölkerung Konstantinopels nun Areobindos als neuen Kaiser für das Römische Reich gefordert habe.65 Prädestiniert war er dafür durch seine zahlreichen und engen Verbindungen zur römischen Oberschicht, zur Militäraristokratie und zum ehemaligen weströmischen (theodosianischen) Kaiserhaus. Auch die Frömmigkeit und Rechtgläubigkeit seiner Frau Iuliana, auf die in den Darstellungen sehr häufig Bezug genommen wird, wird eine Rolle gespielt haben.66 Jetzt wurde deutlich, wie gefährlich der ex-magister militum dem Kaiser werden konnte: In Krisensituationen, in denen die Herrschaft des Kaisers von verschiedenen Akzeptanzgruppen – der Bevölkerung Konstantinopels, dem Militär sowie den Senatoren bzw. der römischen Oberschicht – in Frage gestellt wurde, konnten andere Potentaten aktiviert werden.67 Dass Areobindos im Jahr 512 kein 62 Ähnlich dazu Geoffrey Greatrex, Flavius Hypatius, quem vidit validum Parthus sensitque timendum. An Investigation of His Career, in: Byzantion 66, 1996, 120–142; Mischa Meier, Σταυρωθεὶς δι᾿ ἡμᾶς – Der Aufstand gegen Anastasios im Jahr 512 (wie Anm. 53); ders., Anastasios I. (wie Anm. 43), 217–218. 63 Mal. XVI 19 (= TH 334; DIND 407); weitere Erwähnung des patricia-Titels für Anicia Iuliana vgl. Chron. Pasch. ad ann. 512. 64 Bei der Chronik des Johannes Malalas handelt es sich um eine Darstellung der Weltgeschichte aus dem 6. Jh., die leider nicht vollständig in ihrer ursprünglichen Form erhalten ist. Von besonderem Interesse sind dabei die Berichte über die Regierungszeiten der Kaiser Anastasios I. (491–518), Justin I. (518–527) sowie Justinian (527–565), da es sich hierbei um Ereignisse handelt, die zu Lebzeiten des Johannes Malalas stattfanden und deren Augenzeuge er gewesen sein kann. Großen Wert haben dabei die zahlreichen und ausführlichen Nennungen verschiedener Amtsinhaber sowie der über andere Autoren des 6. Jh. hinausgehende, weitgehend korrekte Gebrauch verschiedener, die Verwaltung betreffender Begriffe. Vgl. dazu weiterführend Claudia Drosihn, Die Chronik des Johannes Malalas – Ein Forschungsprojekt der Universität Tübingen, in: Dariusz Brodka/Michal Stachura (Hrsgg.), Continuity and Change. Studies in Late Antique Historiography. Krakau 2001, 105–119; Johannes Thurn/Mischa Meier, Johannes Malalas. Weltchronik. Stuttgart 2009, 1–28; Elizabeth Jeffreys (Hrsg.), Studies in John Malalas. Sydney 1990. 65 Mal. XVI 19 (= TH 333–334; DIND 407); Marc. Com. ad ann. 512; Chron. Pasch. ad ann. 512; Joh. Nik. 89, 65; Ps.-Dion. ad ann. 818 p. 9 Witakowski. 66 So stiftete Anicia Iuliana zahlreiche Kirchenbauten, vgl. Anth. Graec. I 10. Vgl. auch Theoph. a. m. 6005; Ps.-Dion. ad ann. 818 p. 7–9 Witakowski. 67 Die zahlreichen Aufstände und Usurpationsversuche bereits unter Kaiser Zenon sind ein Indiz dafür, dass die legitime Herrschaft des Kaisers in Frage gestellt und herausgefordert werden konnte. Unter Anastasios I. setzten sich die Aufstände fort und gerade Vitalian muss als wei-
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Heermeister mehr war, spricht für eine eher geringe Bedeutung des Amtes in diesem Zusammenhang. Ausschlaggebend wird das Ansehen seiner Familie in der Bevölkerung Konstantinopels gewesen sein. Bemerkenswert ist, dass Areobindos sich dem Willen des Volkes nicht stellte, sondern sich durch Flucht der Menge und ihren Forderungen entzog.68 Auch hier eröffnen sich verschiedene Deutungsansätze: Es könnte ein Indiz für seine Loyalität gegenüber dem Kaiser sein, an der er auch nach der Entlassung aus dem Heermeisteramt festhielt. Andererseits könnte die Angst vor den Folgen einer erfolglosen Usurpation, gerade in Anbetracht der erlebten, missglückten Versuche unter Zenon, eine Rolle gespielt haben. Beides würde auch für die Fähigkeiten des Anastasios sprechen, dem es gelang, einen potentiell gefährlichen, weil einflussreichen Angehörigen der römischen Oberschicht in sein Herrschaftssystem einzubinden. Hinzu kommt, dass er als ex-magister militum nicht mehr auf die Unterstützung des Heeres zurückgreifen konnte, dass nun einem anderen Amtsträger unterstellt war. Bedenkt man, dass neben der städtischen Bevölkerung und der Oberschicht Konstantinopels auch das Heer als Machtgrundlage und bedeutender Einflussfaktor zu gelten hat, könnte Areobindos’ Zurückhaltung im Jahre 512 auch dieser Konstellation geschuldet sein. Für die Handlungsspielräume des Areobindos lässt sich festhalten, dass neben dem magisterium militiae andere Faktoren entscheidend mitwirkten. Der Einfluss von Herkunft und Beziehungen schien immer noch gewichtig zu sein. Zumindest sprechen das Verhalten des Anastasios in den kritischen Situationen des Perserkrieges sowie die Verleihung des Konsulats für eine auf Einvernehmen basierende Haltung der beiden Parteien. Auch Areobindos’ Potential, in Krisensituationen zum Kaiserkandidaten zu avancieren, war wohl eher auf seine familiären Verbindungen zurückzuführen. Gerade in seinem Fall scheinen diese anderen Faktoren von größerer Bedeutung gewesen zu sein als das Amt des Heermeisters, das er zudem nur für einen kurzen Zeitraum innehatte.
terer potentieller Kandidat für den Thron gesehen werden. Nach Anastasios’ Tod avancierte sein ehemaliger magister militum praesentalis Patrikios kurzzeitig zum Kaiserkandidaten und schließlich wird Hypatios, der Neffe des Anastasios, während des Nika-Aufstandes unter Justinian zum Kaiser erhoben. 68 Mal. XVI 19 (= TH 333–334; DIND 407); Chron. Pasch. ad ann. 512; Joh. Nik. 89, 65; Ps.-Dion. ad ann. 818 p. 9 Witakowski.
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c) Flavios Patrikios Das dritte Fallbeispiel ist Patrikios, der aus Phrygien stammte und bereits im Jahr 500 das Konsulat erhalten hatte – scheinbar ohne irgendwelche bedeutenden Leistungen vollbracht zu haben.69 Im selben Jahr scheint er auch das Amt des magister utriusque militiae praesentalis erhalten zu haben, welches er bis zum Tod des Anastasios im Jahr 518 innehatte.70 Zu seinen zahlreichen Aufgaben gehörten neben einem Kommando im Perserkrieg auch die Vermittlung in kirchenrechtlichen Angelegenheiten, diplomatische Tätigkeiten während des StaurotheisAufstandes sowie Gesandtschaftsfunktionen in den Verhandlungen mit dem Aufständischen Vitalian.71 Nach dem Tod des Anastasios galt Patrikios sogar kurzzeitig als Kandidat der scholares für die Thronnachfolge. Nach seinem Scheitern half ihm jedoch nur noch die Flucht, in den Quellen wird er nicht mehr erwähnt.72 Gerade seine lange Amtszeit macht Patrikios zu einem interessanten Beispiel im Kontext der Handlungsspielräume oströmischer Heermeister um 500. Sie spricht zudem dafür, dass auch er – ähnlich wie Areobindos und die beiden Johannes – nicht versucht hat, maßgeblich über den ihm vom Kaiser zugebilligten Funktionsrahmen hinaus zu greifen. Aufschlussreich sind einige Szenen seiner Amtszeit, die uns verdeutlichen, in welchen Bereichen die Handlungsspielräume des Patrikios lagen. Ich möchte im Jahr 512 einsetzen und nicht auf seine Beteiligung im Perserkrieg eingehen, da er meines Erachtens in den Streitigkeiten der Generäle nur eine Nebenrolle gespielt hatte und seine erfolgreichen Streifzüge in persisches Territorium den Kaiser von seiner Nützlichkeit überzeugten.73 69 Prok. BP I 8, 2; Mal. XVI 16 (= TH 331; DIND 404); Marc. Com. ad ann. 500; CJ II 4, 43; II 7, 21. 70 P. Strassb. 273; Prok. BP I 8, 2; BP I 9; Mal. XVI 9 (= TH 327; DIND 398–399; Eustath. fr. 7); XVI 16 (= TH 331; DIND 404); Joh. Vita Sev. p. 237 Kugener; Ps.-Zach HE VII 4g p. 242; HE VII 8b p. 256; HE VII 8i p. 259 Greatrex/Phenix/Horn; Sev. Ant. epist. sel. I 1 p. 4 Brooks; Sev. Ant. epist. 118 p. 290–291 Brooks; De caerim. I 93; Theoph. a. m. 5997; Joh. Lyd. mag. III 53; Joh. Ant. fr. 242, 3–4 Mariev. 71 Zum Kommando im Perserkrieg vgl. Ps.-Zach. HE VII 4g p. 242, HE VII 5a p. 243–244 Greatrex/Phenix/Horn; Jos. Styl. 54–57 p. 63–71, 66–67 p. 83–86, 69 p. 87–88, 71 p. 88, 75 p. 91–93, 87 p. 105–107 Trombley/Watt; Marc. Com. ad ann. 503; Prok. BP I 8–9; Joh. Lyd. mag. 53; Mal. XVI 9 (= TH 327; DIND 398–399); Theoph. a. m. 5997, 5998. Zur Vermittlung in kirchenrechtlichen Angelegenheiten vgl. Ps.-Zach. HE VII 8b p. 256, HE VII 8i p. 259–260 Greatrex/Phenix/Horn; Sev. Ant. epist. sel. I 1 p. 3–11 Brooks; Sev. Ant. epist. 118 p. 290–291 Brooks; Chron. Edessen. LXXXVIII p. 9 Guidi; Joh. Vita Sev. p. 237 Kugener; Ps.-Dion. ad ann. 837 p. 25–27 Witakowski. Zu diplomatischen Tätigkeiten während des Staurotheis-Aufstandes vgl. Marc. Com. ad ann. 512. Zu Gesandtschafts-/Vermittlerfunktion in Verhandlungen mit Vitalian vgl. Mal. XVI 16 (= TH 331; DIND 404); Joh. Ant. fr. 242, 3– 4. 72 Vgl. De caerim. I 93. 73 Zu Patrikios’ Rolle im Perserkrieg vgl. Anm. 71. Meines Erachtens gingen die Streitigkeiten hauptsächlich von Hypatios aus, da dieser aufgrund seiner Position als kaiserlicher Neffe (und somit potentieller Nachfolger des doch recht betagten Anastasios) im Gegensatz zu Patrikios eher einen Grund hatte, den in der römischen Oberschicht angesehenen und durch seine Herkunft in gewisser Weise legitimierten Areobindos zu fürchten. Dafür spräche zum Beispiel
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Im Rahmen des Staurotheis-Aufstandes bekam Patrikios eine besondere Rolle von Anastasios zugeteilt, die exemplarisch für die weitreichenden diplomatischen Tätigkeiten des Heermeisters steht. Wie Marcellinus Comes74 berichtet, sollte Patrikios zusammen mit dem magister officiorum Keler die aufgebrachte Menge beruhigen, wozu es jedoch nicht kam, da diese die beiden Senatoren mit einem Steinhagel empfing.75 Es ist bemerkenswert wie hier die Haltungen innerhalb der Bevölkerung gegenüber dem Kaiser auf dessen „Vertreter“76 projiziert werden. Man kann davon ausgehen, dass die beiden – der oberste militärische und der oberste zivile Beamte – als Agenten des Herrschers wahrgenommen wurden und dadurch eine solch heftige Reaktion bei der Menge auslösten. Diese verdeutlicht zudem, dass die konstantinopolitaner plebs in dieser Situation nicht zum Gespräch bereit war – entweder, weil sie den „Vermittlern“ die Anerkennung verweigerte und lediglich mit dem Kaiser selbst zu kommunizieren gedachte, oder aber selbst dem Herrscher gegenüber die Kommunikation vorenthielt. Aufschlussreicher für seine Handlungsspielräume sind jedoch Patrikios’ Einsätze gegen den Aufständischen Vitalian in den Jahren 514 und 515.77 Wie Johannes von Antiocheia78 über die Gesandtschaft des Jahres 514 berichtet, waren die
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auch die Abberufung des Hypatios durch Anastasios, während Patrikios seine Position als magister militum praesentalis bis 518 innehatte. Die Chronik des Marcellinus Comes entstand um 518/19 in Konstantinopel und behandelt die Jahre von 378 bis 534. Sie ist ebenso wie die Malalas-Chronik eine zeitgenössische Darstellung der Regierungszeiten der Kaiser Anastasios I. (491–518), Justin I. (518–527) sowie der frühen Regierungsjahre Justinians (527–565) und daher für die hier behandelten Aspekte von besonderer Bedeutung. Seine Position als cancellarius Justinians um 520 lässt darauf schließen, dass er weitgehende Einblicke in die römische Verwaltung hatte. Bemerkenswert ist, dass er trotz der Kürze der Einträge und einem streng annalistischen Stil nicht auf persönliche Kommentare zu verschiedenen Ereignissen verzichtet und so seine Zu- bzw. Abneigung deutlich macht. Vgl. Brian Croke, The Chronicle of Marcellinus (wie Anm. 18), xix–xxvii. Marc. Com. ad ann. 512. „Vertreter“ meint hier die Art und Weise, in der die beiden Senatoren von der Bevölkerung Konstantinopels wahrgenommen wurden, während sie ihre Funktion als Diplomaten des Kaisers ausübten. Sie vertraten den Herrschaftsanspruch des Kaisers gegenüber der aufgebrachten Menge und sollten diesen auch durchsetzen, indem sie zur Beruhigung der Lage beitrugen. Von der Bevölkerung wurden Patrikios und Keler wohl gerade aufgrund ihrer hier ausgeübten Funktion als „Vertreter“ des Kaisers wahrgenommen. Zum Aufstand des Vitalian vgl. PLRE II, 1171–1176 (Fl. Vitalianus 2) mit den relevanten Quellenstellen. Zu Patrikios’ Einsätzen gegen den Aufständischen vgl. Mal. XVI 16 (= TH 331; DIND 404); Joh. Ant. fr. 242, 3–4 Mariev. Die vermutlich im 7. Jh. entstandene Chronik des Johannes von Antiocheia ist leider nur fragmentarisch erhalten und obwohl mit den Editionen von Roberto und Mariev Übersetzungen in moderne Sprachen mit kritischem Apparat und ausführlicher Einleitung vorliegen, sind noch längst nicht alle Fragen bezüglich dieses Werkes geklärt. Trotzdem sind die erhaltenen Fragmente von großem Wert, geben sie doch Einblicke in andere, zum Teil verlorene Quellen und helfen dadurch, Lücken im Wissen über die Spätantike zu schließen. Für weiterführende Informationen auch bezüglich aktueller Forschungsdebatten vgl. Sergei Mariev, Ioannis Antiocheni fragmenta quae supersunt omnia. Berlin 2008; Umberto Roberto, Ioannis Antiocheni Fragmenta ex Historia Chronica. Berlin 2005; Sotiroudis Panagiotis, Untersuchungen zum Geschichtswerk des Johannes von Antiocheia. Thessalonike 1989.
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Verhandlungen Teil der öffentlichen Pflichten des magister militum. Zudem eignete sich Patrikios durch sein hohes Alter und seine Verdienste für diese Aufgabe.79 Bemerkenswert ist hier, dass Johannes von Antiocheia angibt, Patrikios habe nicht wenig zum Erfolg des Vitalian beigetragen.80 Deutet er damit vielleicht an, der Heermeister habe sich beim Kaiser für den Aufständischen und seine Forderungen eingesetzt? Immerhin scheint er Anastasios gegenüber loyal gewesen zu sein und auch ihn durch seine Verhandlungen zufrieden gestellt zu haben. Darauf deutet der erneute Einsatz des Patrikios gegen Vitalian im Jahr 515 hin, als dieser bereits zum dritten Mal vor Konstantinopel stand.81 Folgt man dem Bericht des Johannes Malalas so wollte Anastasios ursprünglich den Expräfekten Marinos den Syrer gegen den Usurpator entsenden. Dieser bat jedoch den Kaiser, er möge einen der Heermeister mit seinem Heer schicken, woraufhin Anastasios die beiden magistri militum praesentales Patrikios den Phryger und Johannes den Sohn der Valeriana herbeiholen lässt. Als die beiden vom Kaiser den Auftrag bekommen, gegen Vitalian zu ziehen, fallen sie ihm zu Füßen und erklären umständlich ihr Unbehagen: Sie seien – wie jedermann wisse – mit Vitalian und seinem Vater befreundet und es könne ein Unheil geschehen, so dass schließlich – im Falle einer Niederlage gegen den Usurpator – der Verdacht des Verrats aufkommen könne.82 Mit anderen Worten: Weder Marinos noch Patrikios und Johannes wollen gegen Vitalian in die Schlacht ziehen, d.h. sie weigern sich quasi, den kaiserlichen Befehl auszuführen. Anastasios reagiert, wie es nach einem doppelten Rückschlag in einer solch brisanten Lage verständlich ist: Er wirft die beiden Generäle aus dem Palast.83 Dass er dann doch den Syrer Marinos mit dem Auftrag betraut, erscheint zunächst merkwürdig. Wie lässt sich diese Szene deuten? Anastasios befand sich in einer äußerst prekären Lage: Der Aufstand des Vitalian dauerte nunmehr (mit einigen Unterbrechungen) bereits drei Jahre an. Vitalian stand zum dritten Mal mit einem beträchtlichen Heer vor Konstantinopel und hatte sich bereits zum Gegenkaiser ausrufen lassen84 – Indizien für einen großen Zulauf aus der Bevölkerung und möglicherweise Unterstützung seitens einiger Heeres- bzw. Föderatenverbände. Die erste Wahl des Marinos zum Kommandanten gegen den Aufständischen scheint eher dem Zufall geschuldet, folgt man dem Bericht des Malalas: „Und sogleich (εὐθέως) sprach Kaiser Anastasios zum 79 Joh. Ant. fr. 242, 3–4 Mariev. 80 Joh. Ant. fr. 242, 3 Mariev: „Ἢδη δὲ τοῦ Βιταλιανοῦ προσβαλόντος τοῖς τῆς πόλεως προαστείοις καὶ περὶ αὐτὰ τὰ τείχη ἐληλακότος, στέλλεται πρὸς αὐτὸν Πατρίκιος ὁ στρατηγός, ἃμα μεν ὡς προςήκοντός οἱ διὰ τὴν ἀρχὴν τοῦ τοιοῦδε λόγου, ἃμα δὲ καὶ ὡς γέρασι προύχων καὶ ἀξιώσεσιν, καὶ αὐτῷ δὲ τῷ Βιταλιανῷ μέρος οὐ μικρὸν τῆς εὐπραγίας γενόμενος.“ 81 Mal. XVI 16 (= TH 331; DIND 404). 82 Mal. XVI 16 (= TH 329–331; DIND 402–404). 83 Mal. XVI 16 (= TH 331; DIND 404). 84 Zu Vitalian vgl. PLRE II, 1171–1176 (Fl. Vitalianus 2); Greatrex, Flavius Hypatius, quem vidit validum Parthus sensitque timendum (wie Anm. 62), 132–136; Meier, Anastasios I. (wie Anm. 43), 295–311. Wichtige Quellen zu Vitalians drittem Marsch auf Konstantinopel: Mal. XVI 16 (= TH 329–332; DIND 402–406); Joh. Ant. fr. 242 Mariev; Euagr. HE III 43; Theoph. a. m. 6007; Joh. Nik. 89, 78–88.
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Expräfekten Marinos dem Syrer, der bei der Unterredung des Kaisers mit dem Philosophen Proklos anwesend war (ἑστῶτι πλησίον), er solle gegen diesen besagten Vitalianos zu den Waffen greifen, […]“.85 Die Wahl des Anastasios scheint in diesem Zusammenhang nicht sehr bedacht gewesen zu sein. Man erhält den Eindruck, dass er eine schnelle Lösung des Problems anstrebte. Es lässt sich weiter vermuten, dass Marinos es angesichts der offensichtlichen Bedrohung durch Vitalian und der Möglichkeit des Scheiterns für angebracht hielt, den Kaiser an seine magistri militum zu erinnern, in deren Aufgabenbereich die militärische Verteidigung des Reiches gegen innere und äußere Feinde ja im Grunde fiel.86 Dass Anastasios daraufhin sofort nach seinen Praesentalheermeistern schicken lässt und keine Beschwerde über eine Weigerung des Marinos laut wird, deutet darauf hin, dass er seine Äußerung als geschickten Ratschlag an den Kaiser verkleidet hatte. Damit ließe sich auch erklären, dass Anastasios letztlich wieder auf ihn zurückgreift. Die Reaktion der beiden magistri militum praesentales auf den Befehl des Kaisers muss in dieser Situation für Anastasios äußerst besorgniserregend gewesen sein. Mit dem Feind vor der eigenen Haustür war die Lage schon schlimm genug – nun weigerten sich auch noch seine beiden Heermeister, ihn zu verteidigen! Dabei schienen sie auf den ersten Blick wie geschaffen für diesen Einsatz: Beide hatten bereits zuvor als Gesandte in der Kommunikation mit dem Rebellen gedient. Johannes von Antiocheia berichtet über die Verhandlungen des Patrikios sowie über den Einsatz des Johannes, die es beide erreichten, dass Anastasios Zugeständnisse gegenüber den Aufständischen machte, die sich daraufhin zurückzogen.87 Interessanterweise äußert Johannes von Antiocheia, bezogen auf den Heermeister Johannes, dass der Kaiser Versprechungen an Vitalian machte, weil er durch die Belagerung – Vitalian stand vor Konstantinopel – und die Zurückhaltung (ἐποχῇ) seines Heermeisters und Verwandten dazu gezwungen gewesen sei.88 Bringt man nun das Fragment des Johannes von Antiocheia sowie den Malalas-Bericht zusammen, scheint die Loyalität der beiden Praesentalheermeister gegenüber dem Kaiser gar nicht mehr so eindeutig gewesen zu sein. Bei ihren früheren Einsätzen erreichten sie zwar den Abzug der Aufständischen, doch nur indem sie Anastasios dazu brachten, Zugeständnisse zu machen, die er – wie sein weiteres Vorgehen jeweils zeigte – im Grunde nicht bereit war, umzusetzen.89 Dass er 85 Mal. XVI 16 (= TH 330; DIND 403): „Καὶ εὐθέως ὁ βασιλεὺς Ἀναστάσιος εἶπεν Μαρίνῳ τῷ Σύρῳ τῷ ἀπὸ ἐπάρχων ἑστῶτι πλησίον, ὅτε διελέγετο ὁ βασιλεὺς τῷ φιλοσόφῳ Πρόκλῳ, ὁπλίσασθαι κατὰ τοῦ αὐτοῦ Βιταλιανοῦ, ὄντι εἰς τὸ πέραν Κωνσταντινουπόλεως.“ 86 Vgl. Einleitung S. 401f. 87 Joh. Ant. fr. 242, 3–4; fr. 242, 13–14 Mariev. 88 Joh. Ant. fr. 242, 14 Mariev: „Ὡς δὲ ὁ βασιλεὺς τῇ τε τῆς πολιορκίας ἀνάγκῃ καὶ τῇ τοῦ στρατηγοῦ καὶ συγγενοῦς ἐποχῇ πάντα ποιεῖν ὡμολόγει, ἐφέρετο μὲν ἡ τοῦ χρυσίου ποσότης εἰς πεντακισχιλίας τείνουσα λίτρας, ἐδίδοτο δὲ καὶ τὰ τῆς Θρᾳκίας ἀρχῆς σύμβολα παραχρῆμα, ὅρκοι τε περὶ φιλίας παρείχοντο καὶ τὸ τῆς θρησκείας ἀνενεοῦτο κήρυγμα.“ 89 So versprach Anastasios den Aufständischen zunächst zwar, seine Schuldigkeit zu tun und auch Vertreter Roms zur Klärung aktueller Glaubensfragen nach Konstantinopel einzuladen, doch schickte er Vitalian nach dessen Rückzug sofort eine Truppe unter dem neu ernannten
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die beiden in der brisanten Situation des Jahres 515 dennoch erneut auswählte, um dieses Mal rigoroser gegen Vitalian und seine Anhänger vorzugehen, kann mehrere Ursachen gehabt haben. Zum einen waren sie nun einmal aufgrund ihres Amtes als Kommandanten der römischen Armee vorgesehen.90 Zum anderen hatten sie in den vorangegangenen Verhandlungen auch für den Kaiser positive Resultate erzielt, indem sie die Aufständischen zu Verhandlungen und dadurch zum Abzug überreden konnten. Dass Johannes von Antiocheia erwähnt, der magister militum praesentalis Johannes sei zudem ein Verwandter (συγγενοῦς) des Anastasios gewesen, deutet darauf hin, dass der Kaiser vielleicht in den Reihen seiner eigenen Verwandtschaft auf Loyalität und Unterstützung hoffte.91 Zwar weigerten sich die beiden nicht direkt, den Befehl des Kaisers auszuführen, doch muss es für Anastasios zweifellos erschreckend gewesen sein zu erfahren, dass sie offensichtlich nicht bereit waren, seinen Auftrag auszuführen. Es bestand zumindest die Gefahr, dass auch seine beiden Praesentalheermeister zum Feind übergelaufen waren. Zeigen sich hier nun Handlungsspielräume oströmischer Heermeister? In gewissem Sinne schon: Die beiden magistri, vor allem Patrikios, hatten während ihrer zahlreichen Einsätze erlebt, wie weit sie bei Verhandlungen gehen und inwiefern sie eigenmächtige Entscheidungen treffen konnten. In der Situation des Jahres 515, mit dem Feind vor den Toren der Stadt und der Ungewissheit über den Ausgang des Unternehmens, schien es ihnen wohl angebracht, sich nicht auf eine Seite festzulegen – es hätte möglicherweise die falsche sein können. Dass sie nicht zu Vitalian überliefen, nachdem der Kaiser sie aus dem Palast gejagt hatte, spricht zumindest dafür, dass sie sich auch seiner Sache nicht anzuschließen gedachten. Im Rahmen der vorangegangenen Verhandlungen, die einen Kompromiss zwischen Kaiser und Aufständischen zuließen, war es den magistri immerhin möglich gewesen, ihren Einfluss auszuspielen und Entscheidungen zu treffen, die ihrem Ansinnen am ehesten entsprachen. Nun versuchten sie scheinbar ihre Handlungsspielräume auszunutzen, um nicht für eine der beiden Seiten Partei ergreifen zu müssen. Fraglich bleibt, inwiefern man diesen Versuch als gelungen betrachten kann: Zwar zogen sie zunächst den Zorn des Kaisers auf sich, doch behielt zumindest Patrikios sein Amt als magister militum praesentalis bis zum Tode des Anastasios im Jahr 518. Er hatte also keine schwerwiegenden Konsequenzen aufgrund seines Verhaltens erleiden müssen. Im Gegenteil: Gewissermaßen hatte er magister militum per Thracias Kyrillos nach, um sich des Aufständischen ein für allemal zu entledigen. Nachdem dieses Unternehmen fehlgeschlagen war, griff Anastasios zu noch härteren Mitteln: Er unterzog Vitalian einer hostis-Erklärung und schickte eine weitere Armee, dieses Mal unter dem Kommando seines Neffen Hypatios, gegen die Rebellen. Auf den darauf folgenden zweiten Marsch Vitalians vor Konstantinopel reagierte Anastasios erneut mit Zugeständnissen – jedoch wiederum ohne die Absicht, diese auch umzusetzen. Vgl. dazu Joh. Ant. fr. 242 Mariev; Meier, Anastasios I. (wie Anm. 43), 300. 90 Siehe zu Funktion/Aufgabenbereichen römischer Heermeister Einleitung S. 401f. 91 Joh. Ant. fr. 242, 14 Mariev: „Ὡς δὲ ὁ βασιλεὺς τῇ τε τῆς πολιορκίας ἀνάγκῃ καὶ τῇ τοῦ στρατηγοῦ καὶ συγγενοῦς ἐποχῇ πάντα ποιεῖν ὡμολόγει, ἐφέρετο μὲν ἡ τοῦ χρυσίου ποσότης εἰς πεντακισχιλίας τείνουσα λίτρας, ἐδίδοτο δὲ καὶ τὰ τῆς Θρᾳκίας ἀρχῆς σύμβολα παραχρῆμα, ὅρκοι τε περὶ φιλίας παρείχοντο καὶ τὸ τῆς θρησκείας ἀνενεοῦτο κήρυγμα.“
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sogar von seiner Vorgehensweise profitiert. Wie bereits zuvor in den Verhandlungen mit Vitalian war es ihm erspart geblieben, sich für eine der beiden Seiten zu entscheiden. Seine Loyalität gegenüber dem herrschenden Kaiser äußerte sich dabei nicht nur indirekt in der fortgesetzten Amtsinhaberschaft, sondern auch direkt, und zwar darin, dass er sich nicht den Aufständischen anschloss. d) Flavios Hypatios Das letzte Fallbeispiel ist Hypatios, der älteste Neffe des Kaisers Anastasios I.92 Die Verwandtschaft zum Kaiser ließe vermuten, dass er in seinem Heermeisteramt über größere Handlungsspielräume verfügte als seine Kollegen. Allerdings offenbart die Quellenlage ein anderes Bild: Zwar bekleidete er bereits im Jahr 500 das Konsulat – gemeinsam mit obengenanntem Patrikios und ebenso ohne dass wir von großen Leistungen erfahren, die diese Ehrung rechtfertigen würden.93 Jedoch wirkt seine militärische Karriere im Gegensatz zu der des Patrikios weit weniger beständig: Im Jahr 503 kommandierte er im Perserkrieg des Anastasios als magister militum praesentalis, wurde aber bald wegen Streitigkeiten zwischen den Generälen zurückgerufen.94 513 taucht er dann erneut auf, diesmal als Kommandant im Feldzug gegen den Aufständischen Vitalian.95 Zu diesem Zeitpunkt kann er sowohl magister militum per Thracias, als auch Praesentalheermeister gewesen sein.96 Nach Niederlage und Gefangenschaft bekleidete er erneut jeweils in der 92 Vgl. Marc. Com. ad ann. 515, ad ann. 532; Prok. BP I 8; BP I 11; BP I 24; Theod. Anagn. 503 p. 143, 510 p. 145, 518 p. 149 Hansen; Iord. Rom. 358; Vict. Tunn. ad ann. 511, ad ann. 530; Kyrill. Skyth. Vita Sabae 56 p. 151 Schwartz; Joh. Ant. fr. 242, 6 Mariev; Theoph. a. m. 5997, 6005, 6006, 6024; Anon. Vales. XIII 74–76; Kedr. I 647; Zon. XIV 6, 23–29. 93 Zum Konsulat des Hypatios vgl. Marc. Com. ad ann. 500; CJ II 4, 43; II 7, 21. 94 Ps.-Zach. HE VII 4–5 p. 237–247 Greatrex/Phenix/Horn; Jos. Styl. 54–56 p. 63–68, 88 p. 108 Trombley/Watt; Marc. Com. ad ann. 503; Prok. BP I 8–9 (Im Gegensatz zu den übrigen Quellen berichtet Prokop fälschlicherweise von einem Rückruf des Areobindos nach Konstantinopel.); Joh. Lyd. mag. 53; Mal. XVI 9 (= TH 327; DIND 398–399); Theoph. a. m. 5997, 5998. 95 Ps.-Zach. HE VII prol. p. 227, HE VII 13 p. 275–276, HE VIII 2 p. 282–283 Greatrex/Phenix/Horn; Marc. Com. ad ann. 515; Euagr. HE III 43; Joh. Mal. XVI 16 (= TH 329–330; DIND 402); Theod. Anagn. 503 p. 143, 510 p. 145 Hansen; Iord. Rom. 358; Vict. Tunn. ad ann. 511; Kyrill. Skyth. Vita Sabae 56 p. 151 Schwartz; Joh. Nik. 89, 72–77; Joh. Ant. fr. 242, 6–10 Mariev; Theoph. a. m. 6005, 6006. 96 Wie eingangs Seite 398–402 bereits erwähnt, ist eine genaue Amtszuweisung aufgrund der schwierigen Quellenlage nicht immer möglich. So bezeichnet Mal. XVI 16 (= TH 329; DIND 402) Hypatios als „τὸν στρατηλάτην Θρᾴκης“. Im Gegensatz dazu erwähnt Joh. Ant. fr. 242, 3 Mariev zwar einen „τοῦ τῆς Θρᾳκῶν στρατηγοῦ“ mit dem Namen Hypatios, dessen Identität mit dem Anastasios-Neffen in der Forschung jedoch strittig ist. Später, Joh. Ant. fr. 242, 5 Mariev, wird ein gewisser Kyrillos als thrakischer Heermeister genannt. Erst nach dessen Ermordung ernannte der Kaiser „Ὑπάτιον τὸν ἀδελφιδοῦν τὸν ἑαυτοῦ“ (Joh. Ant. fr. 242, 6 Mariev) als „αὐτοκράτορά τε τοῦ πολέμου“ (Joh. Ant. fr. 242, 6 Mariev) und schickte ihn mit einem großen Heer gegen Vitalian. Da im gleichen Abschnitt ein gewisser Alathar als thrakischer Heermeister gekennzeichnet wird (Joh. Ant. fr. 242, 6 Mariev: „Ἄλαθαρ δὲ γένος
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Zeit zwischen 516 und 518, 520 und 525 sowie 527 und 529 das Amt eines magister militum, wohl per Orientem.97 Es wird unter anderem über Verhandlungen mit den Persern berichtet.98 Trotz dieser unbeständigen Karriere trug er ab ca. 525/526 den patricius-Titel.99 Ähnlich wie Areobindos und Patrikios vor ihm wurde er in einer Krisensituation – dem Nika-Aufstand gegen den Kaiser Justinian im Jahr 532 – durch die Bevölkerung Konstantinopels zum Kaiser ausgerufen.100 Da er sich nicht wie Areobindos widersetzte und ihm auch nicht wie Patrikios die Flucht gelang, wurde er nach der Niederschlagung des Aufstandes hingerichtet.101 Obwohl Hypatios in vielerlei Hinsicht von Interesse ist, soll hier nur seine Rolle im Perserkrieg des Anastasios bedacht werden.102 Zunächst spricht für eine
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Σκυθικὸν ἐπὶ τῇ τοῦ στρατηγοῦ τῶν Θρᾳκῶν προσηγορίᾳ ἕπεσθαί οἱ προστάξας“), kann dieses Amt für Hypatios zumindest zu diesem Zeitpunkt ausgeschlossen werden. So könnte dieser Ende des Jahres 513 als Präsentalheermeister fungiert haben, wofür auch die Bezeichnung als „αὐτοκράτορά“ sprechen würde. Vgl. zur Karriere des Hypatios Greatrex, Flavius Hypatius, quem vidit validum Parthus sensitque timendum (wie Anm. 62), 120–142. Vgl. Anm. 96 zur Schwierigkeit der Ämterbezeichnung. Auf ein Orientkommando des Hypatios zwischen 516 und 518 weisen vor allem seine Aufenthalte im Osten hin. Eine genaue Amtsbezeichnung lässt sich in keiner Quelle finden. Vgl. dazu Sev. Ant. epist. sel. I 15 p. 60– 61, I 40 p. 113–115, I 45 p. 125–126 Brooks; Sev. Ant. hymn. 198 p. 661–662 Brooks; Kyrill. Skyth. Vita Sabae 56 p. 151–152 Schwartz; Theoph. a. m. 6005; Theod. Anagn. 518 p. 149 Hansen. Genauere Angaben gibt es erst zum magisterium militiae von 520–525; vgl. dazu Prok. BP I 11 „Στέλλονται τοίνυν ἐκ μὲν Ῥωμαίων Ὑπάτιος, Ἀναστσσίου τοῦ πρώην βεβασιλευκότος ἀδελφιδοῦς, πατρίκιός τε καὶ ἀρχὴν τῆς ἕω τὴν στρατηγίδα ἔχων, […]“. Schließlich findet sich die konkrete Ernennung zum magister militum per Orientem für das Jahr 527 bei Mal. XVII 20 (= TH 352; DIND 423): „Οἱ δὲ αὐτοὶ βασιλεῖς προεχειρίσαντο τὸν πατρίκιον Ὑπάτιον στρατηλάτην ἀνατολῆς εἰς τὸ φυλάξαι τὰς ἐπιδρομὰς τῶν Σαρακηνῶν διὰ τὰ ἀνατολικὰ μέρη.“ Vgl. dazu des Weiteren Theoph. a. m. 6016; Kedr. I 639. Er behielt dieses Amt wahrscheinlich bis 529 inne, da laut Mal. XVIII 34 (= TH 373; DIND 445) und ihm folgend Theoph. a. m. 6021 Hypatios durch Belisar im Amt abgelöst wurde. Prok. BP I 11; Ps.-Zach. HE VIII 5a p. 297–299 Greatrex/Phenix/Horn; Sev. Ant. hymn. 198 p. 661–662 Brooks. Prok. BP I 11; Mal. XVII 20 (= TH 352; DIND 423), XVIII 34 (= TH 373; DIND 445); Theoph. a. m. 6016, 6021; Mar. Avent. ad ann. 532; Chron. Pasch. ad ann. 532. Ps.-Zach. HE IX 14 p. 343–345 Greatrex/Phenix/Horn; Marc. Com. ad ann. 532; Prok. BP I 24; Euagr. HE IV 13; Mal. XVIII 71 (= TH 397–400; DIND 475–476; Exc. de insidiis p. 172, 7–30 de Boor); Iord. Rom. 364; Vict. Tunn. ad ann. 530; Vita Dan. Scet. 9 p. 36 Clugnet; Mar. Avent. ad ann. 532; Chron. Pasch. ad ann. 532; Theoph. a. m. 6024; Kedr. I 647; Zon. XIV 6, 23–29; Mich. Syr. IX 21. Ps.-Zach. HE IX 14 p. 343–345 Greatrex/Phenix/Horn; Marc. Com. ad ann. 532; Prok. BP I 24; Euagr. HE IV 13; Mal. XVIII 71 (= TH 397–400; DIND 475–476; Exc. de insidiis p. 172, 7–30 de Boor); Iord. Rom. 364; Vict. Tunn. ad ann. 530; Vita Dan. Scet. 9 p. 36 Clugnet; Mar. Avent. ad ann. 532; Chron. Pasch. ad ann. 532; Theoph. a. m. 6024; Kedr. I 647; Zon. XIV 6, 23–29; Mich. Syr. IX 21. Hypatios ist nicht nur aufgrund seiner Verwandtschaft zu Kaiser Anastasios I. von Interesse. Die zahlreichen erhaltenen Quellenberichte zeigen ihn als vielschichtige Persönlichkeit und weisen auf seine vielfältigen Tätigkeitsbereiche hin. Neben militärischen Aufgaben übernahm er Funktionen in kirchenrechtlichen Angelegenheiten und taucht unter Justinian als potentieller Kaiserkandidat auf. An dieser Stelle würde eine ausführliche Betrachtung des Hypatios und seiner Karriere jedoch über das angestrebte Ziel hinausgehen.
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Begünstigung durch den Kaiser die frühe Bekleidung des Konsulats sowie die Tatsache, dass Hypatios kurz darauf zum magister militum praesentalis ernannt wurde. Doch verlieren diese Begebenheiten an Besonderheit, bedenkt man die Parallelität zur Karriere des Patrikios. Beachtenswert und aufschlussreich ist dagegen Hypatios’ Verhalten im Perserkrieg sowie die Reaktion des Kaisers. Nachdem die drei Kommandanten Areobindos, Hypatios und Patrikios an verschiedenen Orten Stellung bezogen und bereits kleinere Erfolge erzielt hatten, berichtet Josua Stylites davon, wie Areobindos in Bedrängnis geriet und die beiden magistri militum praesentales um Unterstützung bat. Diese, mit der Belagerung Amidas beschäftigt, hörten nicht auf den Boten, sondern blieben in ihrer Stellung.103 Auch Prokop104 berichtet von Streitigkeiten zwischen den Generälen, die unabhängig voneinander und ohne Absprachen gegen die Perser vorgingen, was seiner Ansicht nach zu den zahlreichen Verlusten führte.105 Theophanes führt den Sachverhalt genauer aus: Hypatios und Patrikios hätten es aufgrund ihrer Eifersucht (διὰ φθόνον) abgelehnt, Areobindos zu unterstützen.106 Was dann passiert, ist bemerkenswert: Anastasios ruft seinen Neffen nach Konstantinopel zurück, enthebt ihn des Heermeisteramtes und schickt an seiner Stelle den magister officiorum Keler als neuen Oberkommandanten in den Krieg.107 Eine sehr harsche Reaktion, bedenkt man, dass es sich immerhin um einen magister militum praesentalis und noch dazu den Neffen des Kaisers handelte! Auch die übrigen magistri militum müssen es als vehementen Eingriff des Kaisers empfunden haben, dass er ihnen den obersten Zivilbeamten als neuen, vorgesetzten Kommandanten präsentierte. Welche Rückschlüsse lassen sich aus diesen Ereignissen ziehen? Bisher war der Perserkrieg wenig erfolgreich verlaufen: Bei der Belagerung Amidas war kein Fortschritt zu sehen, Areobindos hatte sogar vor persischen Truppen fliehen und dabei die Hälfte seines Lagers zurücklassen müssen.108 Es ist fraglich, ob Anastasios von den Streitigkeiten seiner Generäle wusste. Zumindest wird er aber vom getrennten Vorgehen der Kommandanten, der fehlenden Koordination der Truppen und den Verlusten erfahren haben. Die Stagnation und zu103 Jos. Styl. 55 p. 66–67 Trombley/Watt. 104 Prokop, aus Kaisareia stammend, verfasste eine Geschichte der Kriege gegen Perser, Vandalen und Goten (Bella) unter Justinian, veröffentlicht in den 550er Jahren, sowie eine Beschreibung der Bauten des Kaisers (De aedificiis) und eine Geheimgeschichte (Anecdota). Als Zeitgenosse und consiliarius/assessor des wohl seiner Zeit bedeutendsten magister militum Belisar, an dessen Feldzügen er teilweise selbst teilnahm, hatte er direkte Einblicke in die römische Militärverwaltung und ist daher von großem Wert für die Forschung, wenn auch Ungenauigkeiten bei der Verwendung militärischer Terminologie deutlich werden. Vgl. weiterführend Averil Cameron, Procopius and the sixth century. London 1985; Mischa Meier, Prokop, Agathias, die Pest und das ‚Ende’ der antiken Historiographie (wie Anm. 17). 105 Prok. BP I 8. 106 Theoph. a. m. 5997. 107 Zum Rückruf des Hypatios und Einsatz Kelers vgl. Theoph. a. m. 5998; vgl. auch Jos. Styl. 88 p. 108 Trombley/Watt; Mal. XVI 9 (= TH 327; DIND 399). 108 Jos. Styl. 55 p. 66–67 Trombley/Watt; Ps.-Zach. HE VII 5a p. 243–244 Greatrex/Phenix/ Horn; Theoph. a. m. 5997.
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nehmenden Niederlagen im Perserkrieg zwangen den Kaiser zum Handeln. Wollte er eine Wende im Kriegsverlauf erreichen, musste er seine Heermeister wieder auf Kurs bringen. Vielleicht war ihm auch nicht verborgen geblieben, dass Areobindos kurz davor stand, sein Heer sich selbst zu überlassen. Anastasios’ Reaktion deutet zumindest darauf hin, dass der Kaiser über viele der Vorgänge an der Grenze des Reiches informiert und nicht bereit war, ein weiteres Risiko einzugehen. Dass er gerade den magister officiorum in den Osten schickte, der durch seine Nähe zum Kaiser zu einem seiner engsten Vertrauten gezählt haben dürfte, war zwar eine ungewöhnliche, aber effektive Maßnahme und ein deutliches Zeichen: Hypatios hatte eine fatale Fehlentscheidung getroffen, die die zuvor erreichten Erfolge des Areobindos zunichte machte. Durch das getrennte Vorgehen der Generäle war die Lage ohnehin kompliziert, die auftretenden Streitigkeiten schienen sie zusätzlich zu gefährden.109 Indem Anastasios gerade seinen Neffen zurückrief, konnte er die Situation einerseits ein wenig beruhigen und andererseits Stärke demonstrieren.110 Durch den Einsatz Kelers hatte er zudem einen Vertrauensmann vor Ort, der die Angelegenheiten regeln konnte. Bezüglich der Handlungsspielräume spätantiker Heermeister verdeutlicht das Vorgehen des Kaisers, wo deren Grenzen lagen und inwiefern der Kaiser dazu in der Lage war, diese Spielräume weiter einzuengen bzw. für die Einhaltung dieser Grenzen zu sorgen. Hypatios war für den Kaiser als Kommandant im Perserkrieg nach dieser Affäre wohl nicht mehr tragbar. Die übrigen magistri militum wies er vorsorglich in ihre Schranken. Dass es in dieser Situation, die für alle beteiligten Heermeister eine Herabsetzung und Einschränkung ihrer Einflussbereiche bedeutete, zu keinerlei Reaktionen auf das Vorgehen des Kaisers kam, muss als deutliches Zeichen seiner Stärke gedeutet werden.
3. FAZIT Ziel der Untersuchungen war es, einen Einblick in die Handlungsspielräume römischer Heermeister um 500 n. Chr. zu geben; dabei blieb die Auswahl auf die oströmischen Heermeister und einige Beispielfälle begrenzt. Die oströmischen Heermeister in der Mitte des 5. Jahrhunderts – gedacht sei hier vor allem an Aspar 109 Vor allem Prok. BP I 8–9; vgl. auch Ps.-Zach. HE VII 4–5 p. 237–247 Greatrex/Phenix/ Horn; Jos. Styl. 54–57 p. 63–71 Trombley/Watt; Marc. Com. ad ann. 503; Mal. XVI 9 (= TH 327; DIND 398–399); Theoph. a. m. 5997, 5998. 110 Hypatios eignete sich in dieser Situation wahrlich als bestes Mittel der Machtdemonstration: Areobindos hatte selbst schon damit gedroht, nach Konstantinopel zurückzukehren, so dass sein Rückruf sowohl auf ihn als auch auf die anderen beiden magistri eher willkommen als abschreckend gewirkt haben dürfte. Patrikios spielte wie bereits erwähnt m. E. eine untergeordnete Rolle in den Streitigkeiten und wäre daher nur Leidtragender gewesen. Die Situation an sich hätte sein Rückruf wohl kaum verändert. Es ist dabei jedoch fraglich, wie genau der Kaiser in Konstantinopel über die Vorgänge im Osten informiert war und inwiefern er Beweggründe und Erfolgsstreben seines Neffen einschätzen konnte.
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und Zenon – hatten über weitreichende Handlungsspielräume verfügt.111 Gerade verschiedene magistri militum unter Zenon hatten sich als „Problemfälle“ erwiesen und mit zahlreichen Usurpationen immer wieder die Herrschaft des Kaisers bedroht.112 Im Allgemeinen scheinen die Heermeister um 500 keine vergleichbar herausragende Rolle mehr gespielt zu haben. Andererseits konnten sie zunehmend zu Kaiserkandidaten avancieren (Areobindos, Patrikios, Hypatios). Es wäre interessant, an dieser Stelle der Frage nachzugehen, ob sich eine solche Entwicklung eventuell seit bzw. durch die Thronbesteigung Zenons intensiviert hatte oder ob andere Faktoren ausschlaggebend waren. Wie sich vor allem am Beispiel des Patrikios zeigt, lagen die Handlungsspielräume der oströmischen Heermeister um 500 n. Chr. in einem Spannungsfeld: Einerseits erfüllten die magistri zahlreiche Funktionen, die ihnen Freiräume und Entscheidungsfreiheit verschafften.113 Andererseits wurden eben diese Freiheiten durch den Zugriff des Kaisers eingeschränkt.114 Dabei waren auch weitere Einflussfaktoren wie zum Beispiel Herkunft, soziale Stellung und Verbindungen innerhalb der römischen Oberschicht von Bedeutung.115 So verfügten die magistri militum um 500 n. Chr. zwar über zahlreiche Kompetenzen, konnten bei der Ausübung ihres Amtes relativ freie Entscheidungen treffen und wurden auch von der Bevölkerung als „Vertreter“ kaiserlicher Herrschaft wahrgenommen, doch blieben dem Kaiser stets Mittel zum Eingreifen. Während Loyalität, Zuverlässigkeit und Erfolge durch Ehrungen wie das Konsulat belohnt wurden, ging der Kaiser konsequent dagegen vor, sollte ein Heermeister versuchen, über die Grenzen der ihm zugebilligten Handlungsspielräume hinauszugreifen. So hat Anastasios gerade im Perserkrieg gezeigt, dass er jederzeit in der Lage war, regulierend einzugreifen. Der Aspekt der Loyalität sollte in diesem Aufsatz besondere Berücksichtigung erfahren, da er in engem Zusammenhang mit der Ausnutzung heermeisterlicher Handlungsspielräume steht. Die Loyalität eines Heermeisters gegenüber seinem Kaiser zeigte sich vor allem in Krisensituationen: Im Bürgerkrieg, bei Auf111 Es würde zu weit führen, hier genauer auf die Karrieren der beiden einzugehen. Es sei jedoch an dieser Stelle erneut auf meine in Arbeit befindliche Dissertation sowie folgende weiterführende Literatur verwiesen: Brian Croke, Dynasty and Ethnicity. Emperor Leo I and the Eclipse of Aspar, in: Chiron 35, 2005, 147–203; Demandt, Magister militum (wie Anm. 3); ders., Der spätrömische Militäradel, in: Chiron 10, 1980, 609–636; Feld, Barbarische Bürger (wie Anm. 42); E. P. Gluschanin, Der Militäradel des frühen Byzanz. Barnaul 1991; Walter Emil Jr. Kaegi, Byzantine Military Unrest 471–843. An Interpretation. Amsterdam 1981; Gereon Siebigs, Kaiser Leo I. Berlin, New York 2010; PLRE II, 164–169 (F. Ardabur Aspar); PLRE II, 1199f (Fl. Zenon 6). 112 Vgl. S. 404, Anm. 42. 113 Zu den zahlreichen Funktionen der Heermeister vgl. S. 401f. Patrikios schien große Freiräume in den Verhandlungen mit Vitalian gehabt zu haben und auch Hypatios konnte während seiner Gesandtschaften in den Osten des Reiches in verschiedene Bereiche von Kirchenstreitigkeiten eingreifen. 114 Sehr deutlich demonstriert durch die Rückberufung des Hypatios aus dem Perserkrieg und die Vergabe des Oberkommandos an den magister officiorum Keler. 115 Vgl. Areobindos S. 406–410. Im Gegensatz dazu steht die Behandlung des Hypatios durch seinen Onkel Anastasios.
Handlungsspielräume (ost-)römischer Heermeister um 500
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ständen und Usurpationen. Schickte der Kaiser seine magistri militum gegen reichsinterne Feinde, so sprach dies für ein hohes Maß an Vertrauen, das er ihnen entgegenbrachte.116 Gerade in einer Bürgerkriegssituation – zum Beispiel im Isaurierkrieg des Anastasios oder zur Zeit der Aufstände des Vitalian – konnte ein Heermeister seine Treue nicht nur gegenüber der Institution des Kaisertums, sondern auch gegenüber der Person des jeweils amtierenden Kaisers unter Beweis stellen. Ebenso konnte sich Loyalität daran zeigen, dass verschiedene magistri militum ihre Position auch nach dem Tod eines Kaisers unter dessen Nachfolger behielten – ein Zeichen dafür, dass sie sich während ihrer Amtsausübung bewährt hatten. Besonders auffällig ist dies im Falle des Johannes des Skythen. Er blieb im Amt des magister militum per Orientem auch nach dem Tod Zenons und bekämpfte unter dessen Nachfolger Anastasios sogar die Bestrebungen führender Isaurier, selbst einen Thronfolger zu stellen. Sein Beispiel zeigt, dass die Institution „Kaisertum“ nach den Erschütterungen Mitte des 5. Jahrhunderts wieder an Stabilität gewonnen hatte. Natürlich musste – gerade bei fehlender bzw. zweifelhafter Legitimität der Nachfolge – dem Kaiser auch daran gelegen sein, herausragende Persönlichkeiten der römischen Oberschicht in sein Herrschaftssystem einzubinden. Anastasios gelang dies sehr gut, wie das Beispiel des Areobindos zeigt. Auch mit dem Rückruf des Hypatios aus dem Perserkrieg und dem Einsatz des magister officiorum Keler hatte Anastasios Stärke gegenüber seinen Beamten demonstriert und konnte diese – wie unter anderem die lange Amtszeit des Patrikios zeigt – in sein Herrschaftssystem einbinden. Es bleibt die Frage, warum sich das Bild seit der Mitte des 5. Jahrhunderts verändert hatte und die Heermeister um 500 loyaler waren als ihre Amtsvorgänger. Hierzu ist zu konstatieren, dass es eine Vielzahl verschiedener Einflussfaktoren war, die das Verhältnis zwischen magister militum und Kaiser mitbestimmte. Während Zenon seinerzeit aufgrund seiner isaurischen Herkunft nicht nur mit einem zweifelhaften Ruf innerhalb der Bevölkerung zu kämpfen hatte, plagten ihn zudem enorme finanzielle Schwierigkeiten, die wohl maßgeblich dem gescheiterten Vandalenfeldzug von 468 unter Leon I. zuzuschreiben waren. Finanzielle Probleme konnten sich wiederum entscheidend auf das Verhältnis zwischen Kaiser und Heer auswirken – denkt man an ausbleibende Donative und Soldkürzungen, die sicher den Unmut der Soldaten heraufbeschworen – und so den jeweiligen Heermeister in eine Position bringen, die ihm größere Handlungsspielräume eröffnete. Galt die Loyalität des Heeres eher dem magister militum als dem Kaiser, so vergrößerte sich die Gefahr potentieller Unruhen, Aufstände und Usurpationen. Anastasios hingegen gelang es während seiner Regierungszeit, die finanzielle Lage des Reiches zu konsolidieren.117 Ein weiterer bedeutender Einflussfaktor ist in der Religionspolitik des jeweiligen Kaisers zu sehen. Zenons Entscheidung 116 Vgl. Johannes der Skythe unter Zenon, Johannes der Skythe und Johannes Kyrtos im Isaurierkrieg des Anastasios, diplomatische Einsätze des Patrikios. 117 Mein Dank gilt an dieser Stelle besonders Prof. Dr. Wolfram Brandes sowie Prof. Dr. Hans-Ulrich Wiemer für die anregenden und hilfreichen Hinweise zum Thema Finanzpolitik und Einflussfaktoren, die meinen Blick erst in diese Richtung lenkten.
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für das Henotikon mag dem Wunsch nach Beilegung der Kirchenstreitigkeiten, die sich vor allem im Osten des Reiches immer weiter verstärkten, geschuldet gewesen sein, doch brachte sie ihm den Ruf eines unorthodoxen Kaisers und damit die Ablehnung weiter Kreise der Bevölkerung ein. Anastasios wiederum gelang es zumindest zu Beginn seiner Herrschaft, als orthodoxer Kaiser aufzutreten. Als letzter aber nicht minder einflussreicher Umstand sei die Gesamtlage des Imperium Romanum im 5. Jahrhundert genannt.Gerade Mitte des 5. Jahrhunderts hatten sich im westlichen Teil zahlreiche Zerwürfnisse gezeigt, die unter anderem zu einer immer schnelleren Abfolge verschiedenster Kaiser geführt hatten und schließlich in der Beseitigung des weströmischen Kaisertums 476/480 kulminierten. Diese Entwicklung muss zwangsläufig auch das oströmische Kaisertum beeinflusst haben. Das Ende der theodosianischen Dynastie mit dem Tod Theodosios’ II. im Jahr 450, militärische Niederlagen wie der gescheiterte Vandalenfeldzug 468 sowie schließlich die genannten Schwierigkeiten im Westen müssen zur Erschütterung des Kaisertums im Osten beigetragen haben. So bleibt abschließend festzuhalten, dass die Frage der Loyalität immer eine Frage des wechselseitigen Verhältnisses zweier Personen, Parteien oder auch Interessenssphären ist, jedoch nie unabhängig von äußeren Faktoren betrachtet werden kann. Sicher spielten Charisma und persönliche Stärke der verschiedenen Protagonisten eine Rolle, doch wirkten soziokulturelle, finanzielle, religionspolitische und militärische Faktoren bei der Bestimmung dieses Verhältnisses entscheidend mit. Da sich die Rahmenbedingungen um 500 n. Chr. maßgeblich von denen Mitte des 5. Jahrhunderts unterschieden, änderten sich auch die Handlungsspielräume der Heermeister und damit ihr Verhältnis zum Kaiser.
IM BANN DER TRADITIONEN ZUR CHARAKTERISTIK DER LEX SALICA Karl Ubl Wenn Barbaren Gesetze erlassen, herrscht ein „Bild trauriger Dekadenz“.1 So lautete das eiserne Urteil des Rechtshistorikers Ernst Levy. Mit seinem Urteil steht Levy in der Tradition der Humanisten, welche die gesetzgeberischen Bemühungen germanischer Könige abschätzig als leges barbarorum charakterisiert hatten. Diese Kennzeichnung erlebt in der Forschung seit einigen Jahren eine Wiedergeburt2, nachdem die alten Begriffe der Volks- und Stammesrechte in Misskredit gebracht worden waren. Die im 19. und frühen 20. Jahrhundert übliche Identifikation von Staat, Volk und Recht, die in diesen älteren Begriffen zum Ausdruck kam, hat seine Überzeugungskraft längst verloren. Der Begriff der leges barbarorum bleibt aber eine Verlegenheitslösung, und dies nicht nur wegen seiner schweren Verständlichkeit außerhalb von Fachkreisen und wegen der im Wort „Barbaren“ mitschwingenden Degradierung. Auch der Begriff der lex ist nicht ohne Tücken. Denn mit Ausnahme der Lex Salica wird keine der frühen Kodifikationen in den Handschriften als lex betitelt, sondern vielmehr als codex, liber oder edictum. Nur im Frankenreich etablierte sich der lex-Titel dauerhaft. Daneben liegt ein grundsätzlicher Einwand gegen die Kategorie der leges nahe. In der älteren Forschung beruhte die Kategorie auf der Vorstellung, aus den leges des Frühmittelalters ließe sich ein germanisches Recht rekonstruieren, das dem römischen Recht an die Seite gestellt werden könnte. Obwohl der Einfluss des römischen Rechts einem so großen Kenner wie Heinrich Brunner nicht entging, war die Idee des germanischen Rechts um 1900 und noch lange danach
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Ernst Levy, Weströmisches Vulgarrecht. Das Obligationenrecht. (Forschungen zum römischen Recht 7.) Weimar 1956, 325. Der Begriff wurde bevorzugt verwendet von Ruth Schmidt-Wiegand, Die volkssprachigen Wörter der leges barbarorum als Ausdruck sprachlicher Interferenz, in: FMSt 13, 1979, 56– 87. Beispielhaft auch: Gabriele von Olberg, Die Bezeichnungen für soziale Stände, Schichten und Gruppen in den Leges barbarorum. (Arbeiten zur Frühmittelalterforschung 11.) Berlin 1991; Patrick Wormald, The leges barbarorum: Law and Ethnicity in the Post-Roman West, in: Hans-Werner Goetz u.a. (Hrsgg.), Regna and gentes: The Relationship between Late Antique and Early Medieval Peoples and Kingdoms in the Transformation of the Roman World. (The Transformation of the Roman World 13.) Leiden/Boston 2003, 21–53; Hans-Georg Hermann (Hrsg.), Von den leges barbarorum bis zum ius barbarum des Nationalsozialismus. Festschrift für Hermann Nehlsen zum 70. Geburtstag. Köln/Weimar/Wien 2008.
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unbestritten.3 Karl Kroeschell gebührt das Verdienst, erstmals wohlüberlegte Zweifel an diesem Forschungskonzept geäußert zu haben.4 In seinem Aufsatz über „germanisches Recht als Forschungsproblem“ aus dem Jahr 1986 bündelte er die Ergebnisse seiner Untersuchungen und formulierte drei Kritikpunkte am bisherigen Modell. Erstens verwies er auf das Quellenproblem. Kroeschell warnte davor, die Lücken der leges mit Informationen aus Quellen späterer Zeit zu füllen, und plädierte für eine stärkere Berücksichtigung des römischen Vulgarrechts. Zweitens registrierte er ein Auflösen liebgewonnener Institutionen des germanischen Rechts wie der Friedlosigkeit, der Treue, der Gefolgschaft und der Sippe. Drittens stellte er den Germanenbegriff selbst in Frage, da er sich in seinen Augen mehr auf eine sprachliche Einheit als auf eine Einheit des Rechts bezieht.5 Die Kritik Kroeschells steigerte sich in der englischsprachigen Forschung der 90erJahre zu einer Dekonstruktion der deutschen „Historischen Rechtsschule“. Roger Collins und Ian Wood äußerten die These, alle leges des frühen Mittelalters seien nichts anderes als Fortentwicklungen des römischen Vulgarrechts gewesen.6 Wenn somit das Rückgrat für die Kategorie der Volksrechte brüchig geworden ist, stellt sich die Frage, warum diese Kategorie im Gewand der leges barbarorum weiterhin seine Berechtigung haben soll. Die Einheit der Kategorie scheint dann allein darauf zu beruhen, dass die Kodifikationen nach dem Untergang des weströmischen Reichs durch ‚barbarische‘ Könige der Nachfolgereiche erlassen worden sind. Nicht der Inhalt, sondern der Urheber der Gesetzgebung soll dann die Kategorie der leges barbarorum rechtfertigen. Diese Begründung ist glei3
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Rudolf Buchner, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter. Vorzeit und Karolinger, Beiheft: Die Rechtsquellen. Weimar 1953; Richard Schröder/Eberhard Freiherr von Künßberg, Lehrbuch der Deutschen Rechtsgeschichte. 7. Aufl. Leipzig 1932; Hans Planitz/Karl August Eckhardt (Hrsgg.), Deutsche Rechtsgeschichte. 4. Aufl. Köln/Wien 1981. Karl Kroeschell, Die Sippe im germanischen Recht, in: ZRG GA 77, 1960, 1–26; ders., Germanisches Recht als Forschungsproblem, in: Karl Kroeschell (Hrsg.), Festschrift für Hans Thieme. Sigmaringen 1986, 3–19. Wichtig auch die Arbeiten von Hermann Nehlsen, Sklavenrecht zwischen Antike und Mittelalter. Germanisches und römisches Recht in den germanischen Rechtsaufzeichnungen, Bd. 1: Ostgoten, Westgoten, Franken, Langobarden. (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte 7.) Göttingen 1972; ders., Entstehung des öffentlichen Strafrechts bei den germanischen Völkern, in: Karl Kroeschell (Hrsg.), GerichtslaubenVorträge. Freiburger Festkolloquium zum 75. Geburtstag von Hans Thieme. Sigmaringen 1983, 3–16. Als Relikt des ‚germanischen Rechts‘ behauptet sich die Idee einer germanischen Rechtssprache: Daniela Fruscione, Zur Frage eines germanischen Rechtswortschatzes, in: ZRG GA 122, 2005, 1–41; dies., Ansätze übergreifender germanischer Rechtssprachen, in: Gerhard Dilcher/Eva-Marie Distler (Hrsgg.), Leges – Gentes – Regna. Zur Rolle von germanischen Rechtsgewohnheiten und lateinischer Schrifttradition bei der Ausbildung der frühmittelalterlichen Rechtskultur. Berlin 2006, 167–182. Die Abschaffung des historischen Germanenbegriffs forderte jüngst vor allem Jörg Jarnut, Germanisch. Plädoyer für die Abschaffung eines obsoleten Zentralbegriffes der Frühmittelalterforschung, in: Walter Pohl (Hrsg.), Die Suche nach den Ursprüngen. (Denkschr. der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 322.) Wien 2004, 107–113. Vgl. auch Walter Pohl, Die Germanen. (Enzyklopädie deutscher Geschichte 57.) München 2000; Heinrich Beck u.a. (Hrsgg.), Zur Geschichte der Gleichung „germanisch-deutsch“. Sprache und Namen, Geschichte und Institutionen. (RGA Erg.-Bd. 34.) Berlin 2004. Siehe unten Teil II.
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chermaßen anfechtbar. Es ist nicht erwiesen, dass die einzige als lex betitelte Kodifikation, die Lex Salica, tatsächlich von einem merowingischen König erlassen worden ist. Étienne Renard hat unlängst die gar nicht so abwegige These aufgestellt, wesentliche Teile des Gesetzbuchs seien während des Exils Childerichs bei den Thüringern entstanden, d.h. in einer königslosen Zeit.7 Die Gesetze der Alemannen und Bayern fügen sich ebenso wenig in diese Begründung ein, da sie auf die Initiative der Herzöge und nicht der Könige zurückgehen. Schließlich sind die letzten Kodifikationen auf Veranlassung Karls des Großen, eines Kaisers und nicht eines poströmischen Barbarenherrschers, niedergeschrieben worden. Die historischen Situationen, in denen die Rechtsbücher zu Pergament gebracht wurden, unterscheiden sich offensichtlich so sehr, dass die Einheit der Kategorie kaum aufrechterhalten werden kann. Es muss nicht ausführlich gezeigt werden, dass die Frage der Kategorisierung nicht bloß für Liebhaber der Begriffssystematik von Interesse ist. Schließlich setzen alle Debatten, die sich mit dem Schriftrecht des frühen Mittelalters befassen, die Einheit der Kategorie der leges voraus. Dies trifft vor allem für diejenige Debatte zu, die in letzter Zeit am meisten Wellen geschlagen hat – ich meine die Debatte um die Intentionen der Gesetzgeber. Seit dem Jahr 1977, als gleichzeitig und in wechselseitiger Unkenntnis Hermann Nehlsen und Patrick Wormald den Wirklichkeitsbezug der Leges in Abrede stellten, wird weniger über die Inhalte der Rechtsbücher als über ihre Intentionen diskutiert.8 Nur selten erregte die Auffassung Wormalds und Nehlsens Widerspruch9, dass die barbarischen Könige vor allem eines mit ihren Gesetzbüchern im Sinn hatten: Kaiser zu imitieren und Untertanen zu imponieren. Die Einheit der Kategorie der leges wird dabei immer vorausgesetzt. In den folgenden Überlegungen möchte ich hingegen die leges nicht als einheitliche Gattung betrachten, sondern ihre Heterogenität akzentuieren. Bereits die beiden frühesten Texte, die dieser Gattung zugeordnet werden, weichen nämlich in mehrerer Hinsicht fundamental voneinander ab: der Codex – oder besser das Edictum – Eurici und die Lex Salica. Für alle späteren Kodifikationen dienten diese Texte als Vorbilder. Das Rechtsbuch König Eurichs beeinflusste nicht nur den westgotischen Liber iudiciorum des 7. Jahrhunderts, sondern auch den bur7 8
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Ernest Renard, Le « Pactus legis Salicae », règlement militaire romain ou code de lois compilé sous Clovis?, in: BEC 167, 2009, 321–352, hier 349. Hermann Nehlsen, Zur Aktualität und Effektivität germanischer Rechtsaufzeichnungen, in: Peter Classen (Hrsg.), Recht und Schrift im Mittelalter. (Vorträge und Forschungen 23.) Sigmaringen 1977, 449–502; Patrick Wormald, Lex Scripta and Verbum Regis: Legislation and Germanic Kingship from Euric to Cnut, in: Peter H. Sawyer/Ian N. Wood (Hrsgg.), Early Medieval Kingship. Leeds 1977, 105–138. Dezidiert anderer Meinung sind Raymund Kottje, Lex Baiuvariorum – das Recht der Baiern, in: Hubert Mordek (Hrsg.), Überlieferung und Geltung normativer Texte des frühen und hohen Mittelalters. (Forschungen zum Recht im Mittelalter 4.). Sigmaringen 1986, 9–23, hier 18; Rosamond McKitterick, The Carolingians and the Written Word. Cambridge 1989, 37–40; Wilfried Hartmann, Einige Fragen zur Lex Alamannorum, in: Hans Ulrich Nuber u.a. (Hrsgg.), Der Südwesten im 8. Jahrhundert aus historischer und archäologischer Sicht. (Archäologie und Geschichte 13.) Ostfildern 2004, 313–333, hier 333.
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gundischen Liber constitutionum und die Gesetzbücher aus Italien, das Edictum Theodorici und den Edictus Rothari.10 Die Lex Salica wirkte dagegen auf die im Frankenreich und in England entstandenen Texte vorbildhaft11, wobei es auch Wechselwirkungen zwischen den beiden Modellen gab. Der berühmteste Fall ist die Lex Baiuvariorum, welche das Edictum Eurici mit der fränkischen Rechtstradition verknüpfte.12 Da jedoch wörtliche Übernahmen – mit Ausnahme der Lex Baiuvariorum – selten vorkommen, ist die Rekonstruktion solcher Abhängigkeiten nicht über alle Bedenken erhaben. Um die Diversität frühmittelalterlicher Rechtsbücher zu verstehen, muss folglich der Blick auf die Entstehung von Edictum Eurici und Lex Salica gerichtet werden. Die westgotische Kodifikation ist in ihrer Genese leicht verständlich zu machen.13 Als Könige der Goten und Statthalter in Aquitanien sind die westgotischen Herrscher bereits vor der Mitte des 5. Jahrhunderts mit Anfragen aus der Bevölkerung konfrontiert worden, auf die sie mit rechtsverbindlichen Reskripten antworteten. Als das westgotische Reich expandierte und sich vom Imperium lossagte, nahm diese legislative Tätigkeit zu und mündete in die Publikation des Edikts König Eurichs. Trotz seiner fragmentarischen Primärüberlieferung ist aus der sekundären Tradierung zu ersehen, dass König Eurich einen umfassenden Regelungsanspruch verfolgte. Sein Edikt war in über 30 Titel gegliedert und zeichnete sich durch „Streben nach abstrakter und in gewisser Weise auch den Gegenstand umgreifender Regelung“ aus – so die Beurteilung von Harald Siems.14 Das Edikt Eurichs fand sogar die Gnade Ernst Levys, der es zum „best legislative work of the fifth century“15 adelte – aber nur weil der westgotische König auf das 10 Die Vorbildwirkung der Kodifikation Eurichs wurde in der älteren Forschung demonstriert: Heinrich Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd. 1. (Systematisches Handbuch der deutschen Rechtswissenschaft 2/1.) 2. Aufl. Leipzig 1906, 423. 11 Die Wirkung in England postuliert Patrick Wormald, The Making of English Law. King Alfred to the Twelfth Century, Bd. 1: Legislation and its Limits. Oxford 1999, 97; ders., The Leges (wie Anm. 2), 33. 12 Vgl. Isabella Fastrich-Sutty, Die Rezeption des Westgotischen Rechts in der Lex Baiuvariorum. Eine Studie zur Bearbeitung von Rechtstexten im frühen Mittelalter. (Erlanger juristische Abhandlungen 51.) Erlangen 2001; Peter Landau, Die Lex Baiuvariorum. Entstehungszeit, Entstehungsort und Charakter von Bayerns ältester Rechts- und Geschichtsquelle. (Sitzungsberichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 3.) München 2004; Harald Siems, Das Lebensbild der Lex Baiuvariorum, in: Hans-Joachim Hecker u.a. (Hrsgg.), Rechtssetzung und Rechtswirklichkeit in der bayerischen Geschichte. (Zeitschrift für bayerische Landesgeschichte, Beiheft B, 30.) München 2006, 29–74. 13 Unverzichtbar weiterhin Álvaro D’Ors, El Código de Eurico. (Estudios visigóticos 2.) Rom 1960. Vgl. auch Jill Harries, Not the Theodosian Code: Euric’s Law and Late Fifth-Century Gaul, in: Ralph W. Mathisen/Danuta Shanzer (Hrsgg.), Society and Culture in Late Antique Gaul: Revisiting the Sources. Ashgate 2001, 39–51; Detlef Liebs, Römische Jurisprudenz in Gallien (2. bis 8. Jahrhundert). (Freiburger Rechtsgeschichtliche Abhandlungen N.F. 38.) Berlin 2002, 157–163. 14 Harald Siems, Handel und Wucher im Spiegel frühmittelalterlicher Rechtsquellen. (MGH Schriften 35.) Hannover 1992, 126. 15 Ernst Levy, Reflections on the First Reception of Roman Law in Germanic States, in: Ernst Levy, Gesammelte Schriften, Bd. 1. Köln/Graz 1963, 201–209, hier 209 (erstmals 1942).
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Wissen römischer Rechtsgelehrter zurückgegriffen hatte. Mit anderen Worten: Das Gesetzbuch der Westgoten floss fast bruchlos aus der römischen Tradition. Die Lex Salica ist dagegen in ihrer Genese von einem Schleier umgeben, der sich nicht oder nur ansatzweise lüften lässt.16 Dies hängt nicht nur mit den divergierenden Datierungen und Zuschreibungen des Rechtsbuchs zusammen, die in den Begleittexten sowie in historiographischen Quellen kursieren, sondern im gleichen Ausmaß mit der unterschiedlichen Bewertung seiner Charakteristik. Drei Positionen stehen sich in der Forschung gegenüber. In der historischen Rechtsschule deutscher Prägung bestand kein Zweifel darüber, dass die Lex Salica weitgehend unverfälscht das germanische Recht der Frühzeit widerspiegelt. Die Lex Salica war der ‚heilige Gral‘ der deutschen Rechtshistoriker. Mit dem Ende der historischen Rechtsschule ist diese Ansicht aber nicht untergegangen. Selbst ein so scharfer Kritiker dieser Tradition wie Patrick Wormald hielt am germanischen bzw. barbarischen Charakter des Gesetzbuches fest.17 Im 19. Jahrhundert war der Advokat der Gallier, Numa Fustel de Coulanges, der deutlichste Kritiker einer germanischen Lesart der frühen merowingischen Geschichte. In der Lex Salica sah er deshalb auch weniger ein Relikt des germanischen Rechtsdenkens, sondern kasuelle Regelungen auf der Grundlage weitgehender römischer Kontinuität.18 In den letzten Jahrzehnten folgte eine Reihe von französischen Historikern dieser Fährte und betrachtete die Lex Salica geradezu als römisches Militärrecht (droit militaire), welches römische Kaiser den Franken aufgezwungen hätten (JeanPierre Poly, Élisabeth Magnou-Nortier, Soazick Kerneis). Eine dritte Position nahm ebenfalls von der Kritik an der historischen Rechtsschule ihren Ausgang, insbesondere von der Missachtung römischer Einflüsse auf die Lex Salica. Ian Wood und Roger Collins traten dafür ein, die Lex Salica wie die anderen barbarischen Gesetzbücher als einen Niederschlag des römischen Vulgarrechts zu deuten, welches in den römischen Provinzen das gelehrte Recht der Juristen verdrängt hätte. Diese drei Positionen könnten gegensätzlicher kaum sein. Im Folgenden möchte ich einige Argumente und Belege in der Debatte um die Charakteristik der Lex Salica diskutieren, ohne jedoch auf die Frage der historischen Genese des Rechtsbuchs selbst näher einzugehen. Die Frage der Datierung würde eine eigene Untersuchung verdienen, die den Rahmen dieses Aufsatzes sprengen würde. Obwohl in dieser Frage die unterschiedlichsten Vorschläge gemacht worden sind, gibt es dennoch nur wenige Historiker, die eine Entstehung um das Jahr 500 in Zweifel ziehen. Von dieser Datierung wird auch im Folgenden ausgegangen. Der Gewinn der Erörterung soll darin bestehen, die Einheit der Gattung der leges zur Diskussion zu stellen und mehr Klarheit über die Genese poströmischer Rechts16 Vgl. zuletzt im Überblick Karl Ubl, L’origine contestée de la loi salique. Une mise au point, in: Revue de l’Institut français d’histoire en Allemagne 1, 2009, 208–234; Renard, Le Pactus (wie Anm. 7). 17 Wormald, The Leges (wie Anm. 2), 29. 18 Numa Fustel de Coulanges, Histoire des institutions politiques de l'ancienne France, Bd. 3: La Monarchie franque. 2. Aufl. Paris 1905, 99–115; ders., Nouvelles Recherches sur quelques problèmes d’histoire. Paris 1891, 392–395.
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bücher zu gewinnen. Den drei genannten Positionen ist nämlich ein Element gemeinsam: Sie führen die Lex Salica auf präexistente Traditionen zurück und unterschätzen folglich ihre Individualität. I. DIE LEX SALICA UND DAS RÖMISCHE MILITÄRRECHT Ausgangspunkt für die Bezeichnung der Lex Salica als Militärrecht sind römische Quellen über die Niederwerfung der Franken. Ein anonymer Lobredner rühmte Constantius I. für die Niederschlagung der Laeten und der Unterwerfung der Franken unter das Recht.19 Am Ende des 4. Jahrhunderts ehrte der Dichter Claudian den Kaiser Honorius und seinen Heermeister Stilicho mit der Aussage, sie hätten den um Frieden bittenden Germanen Weisungen (responsa) gegeben, die Chauken mit Gesetzen (iura) ausgestattet und den Sueben Satzungen (leges) gegeben.20 Die Chauken zählen manche Historiker zu denjenigen Völkern, die später im Volk der Franken aufgegangen sind.21 Aufgrund solcher Aussagen sind Vermutungen geäußert worden, welche den Ursprung der Lex Salica in einem Erlass römischer Kaiser erblicken. Diese Belege sind zweifelsohne ernst zu nehmen. Sie belegen, dass die römische Zentralverwaltung einen erheblichen Einfluss auf die Organisation der in Grenznähe siedelnden Völker ausübte. Die Einsetzung von Königen durch römische Kaiser, ebenfalls in den Panegyrici belegt, ist schon länger als ein wichtiger Ansatzpunkt dafür gedeutet worden, dass sich bei den Barbaren dauerhaft eine monarchische Verfassung etablieren konnte.22 Trotzdem ist unbestritten, dass der römische Charakter der Lex Salica nicht allein durch solche Belege erwiesen werden kann. Denn wie bei dieser Textsorte nicht anders zu erwarten, soll mit der Unterwerfung unter römisches Recht die vollkommene Befriedung und Zivilisierung der Barbaren unter Beweis gestellt werden. Um die Lex Salica als „droit militaire“ zu erweisen, muss der Text selbst nach Anhaltspunkten dafür durchforstet werden. Der erste Historiker, welcher die Lex Salica als Kriegsrecht bezeichnete, war der streitbare Bruno Krusch. Sein wichtigster Antrieb dafür war weniger der Inhalt des Textes, für den er sich nur vereinzelt interessierte, als vielmehr das Prob19 Panegyrici Latini 8, 21, 1, ed. Roger A.B. Mynors. Oxford 1964, 229. 20 Claudius Claudianus, De consulato Stilichonis, I, 225, ed. Theodor Birt, in: MGH Auct. ant. 10. Berlin 1892, 197. 21 Vgl. zuletzt Ulrich Nonn, Die Franken. Stuttgart 2010, 29–31. Der Panegyrikus des Merobaudes bezieht sich mit der Unterwerfung unter das Recht nicht auf die Franken, wie Soazick Kerneis, Le pacte et la loi: Droit militaire et conscience à la fin de l’empire romain, in: Giles Constable/Michel Rouche (Hrsgg.), Auctoritas: Mélanges offerts à Olivier Guilot. Paris 2006, 129–141, hier 138, will, sondern auf die Einwohner der Aremorica: Merobaudes, Panegyricus II, ed. Friedrich Vollmer, in: MGH Auct. ant. 14. Berlin 1905, 11. 22 Herwig Wolfram, Gotische Studien. Volk und Herrschaft im Frühen Mittelalter. München 2005, 62–65; Stefanie Dick, Der Mythos vom „germanischen“ Königtum: Studien zur Herrschaftsorganisation bei den germanischsprachigen Barbaren bis zum Beginn der Völkerwanderungszeit. (RGA Erg.-Bd. 60.) Berlin 2008, 203–209.
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lem der Datierung der ältesten überlieferten Fassung. Krusch gebührt das Verdienst, die Priorität der A-Fassung erstmals überzeugend nachgewiesen zu haben.23 Ein wichtiges Argument war die Tatsache, dass dieser Text durchgängig heidnischen Charakters ist und daher vor der Taufe Chlodwigs entstanden sein muss. Da Krusch die Taufe in das Jahr 508 setzte, blieb nur das Jahr 507 übrig, da Chlodwig bereits das Gebiet jenseits der Loire in sein Rechtsbuch einbezog, welches er erst nach dem Sieg über Alarich im selben Jahr erobert hatte. Die Lex Salica entstand folglich nach Krusch in einem sehr engen Zeitfenster: zwischen dem Sieg über Alarich und der Taufe in Tours. Er sprach sich deshalb dafür aus, dass das Rechtsbuch auf dem Kriegszug von 507 erlassen worden sei. Krusch hatte sich darüber hinaus einige Gedanken zum Inhalt gemacht, die seine These stützen sollten. Er verwies vor allem auf die Rolle des centenarius, den er als Inhaber einer militärischen Charge römischer Provenienz (centurio) ansah und mit dem thunginus gleichsetzte. Beide Termini begegnen in der Lex Salica tatsächlich nebeneinander. Den militärischen Charakter sieht Krusch auch im Titel 44 bestätigt, nach dem der Gerichtsherr (thunginus aut centenarius) einen Schild bei der Eröffnung des Gerichts bei sich haben muss.24 Einen weiteren Hinweis erblickte Krusch in der Erwähnung von militärischen Zeltgemeinschaften (contubernia) an zwei Stellen der Lex Salica.25 Erstaunlich ist seine Deutung der zentralen Rolle des Tierdiebstahls im Rechtsbuch: Tiere seien ebenso wie Sklaven und Liten mit in die Schlacht gegen die Westgoten geführt worden. Der aufgeführte Tierpark stellt den Troß des fränkischen Heeres beim Einmarsch in das Westgotenreich dar.26
Die Beobachtungen von Krusch sind zum Teil durchaus bedenkenswert. Seine Deutung des centenarius konnte sich auf die Autorität von Fustel de Coulanges berufen und wurde erneut von Alexander C. Murray in einem Aufsatz aus dem Jahr 1988 bestätigt.27 Ob man dagegen den Schild als Zeichen für ein militärisches Standgericht interpretieren darf, erscheint nicht zwingend. Allein die Tatsache, dass sich die Ämter des merowingischen Frankenreichs auf militärische Ämter in der römischen Armee zurückführen lassen, ist noch kein Beleg für ein Militärrecht an sich. Auch die Zeltgenossenschaften der Lex Salica begehen ihre Verbrechen gerade nicht im Rahmen eines Kriegszuges. Der Gesetzgeber behandelt diese Verbrechen der contubernia nicht als Bruch der militärischen Disziplin, sondern auf derselben Ebene wie Verbrechen von Einzelpersonen. Der Mord auf 23 Bruno Krusch, Der Umsturz der kritischen Grundlagen der Lex Salica. Eine textkritische Studie aus der alten Schule, in: NA 40, 1916, 497–579. 24 Bruno Krusch, Die Lex Salica: Textkritik, Entstehung und Münzsystem, in: HVj 31, 1937, 417–437, hier 420f. 25 Krusch, Die Lex Salica (wie Anm. 24), 420. So bereits Georg Waitz, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 1. Kiel/Berlin 1844, 488–492. 26 Bruno Krusch, König Chlodwig als Gesetzgeber in: HVj 29, 1935, 801–807, hier 803. 27 Fustel de Coulanges, Histoire (wie Anm. 18), 224–229; Alexander C. Murray, From Roman to Frankish Gaul: Centenarii and Centenae in the Administration of the Frankish Kingdom, in: Traditio 44, 1988, 59–100.
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Kriegszug (in hoste) wird an anderer Stelle behandelt28 – und zwar ohne Bezug auf ein contubernium. Schließlich ist kaum anzunehmen, dass Chlodwig Jagdtiere oder Bienenvölker mit in den Krieg gegen die Westgoten genommen hätte. Die Vorstellung einer Volksarmee mit gesamter Habe entspricht nicht mehr der gegenwärtigen Forschung über die fränkische Eroberung Galliens.29 Und zu seiner Behauptung, die umfangreiche Behandlung von Viehdiebstahl sei Teil einer „tierschutzfreundlichen Gesetzgebung“30, erübrigt sich jeder Kommentar. Nachdem die Argumente von Krusch durch Karl August Eckhardt und Ruth Schmidt-Wiegand mehr ignoriert als widerlegt worden waren, konnte sich in der deutschen Geschichtsschreibung niemand mehr für seine Thesen erwärmen. In Frankreich wurde zwar Krusch ebenso wenig gelesen, doch die These eines „droit militaire“ hat dort im Historiker Jean-Pierre Poly einen phantasievollen Advokaten gefunden. Auch bei Poly steht die Frage der Datierung im Vordergrund.31 Seiner Meinung nach wurde die Lex Salica in ihrer ursprünglichen Form von römischen Generälen fränkischer Herkunft Ende des 4. Jahrhunderts erlassen. Zu dieser These ist bereits das Nötige gesagt worden.32 Hier interessiert nur seine Deutung des Inhalts. Poly hält die Titel 1–44 für den Kern des ursprünglichen Gesetzbuches, also im Wesentlichen das System der Kompositionen bzw. Bußgeldzahlungen. Poly sieht darin eine bewusste Schöpfung der römischen Autorität: Die Komposition sollte nicht mehr Gegenstand des Aushandelns von Sippenverbänden sein, sondern sei durch den Gesetzgeber ein für alle Mal festgelegt und durch seine Amtsträger erzwungen worden. Die Alternative der Fehde sollte ganz ausgeschaltet werden, um die notwendige militärische Disziplin in der Truppe zu gewährleisten. Nur so sei den fränkischen Königen die Aufstellung einer schlagkräftigen Truppe möglich gewesen. Erst im weiteren Verlauf des 5. Jahrhunderts sei es notwendig geworden, die Lex Salica zu erweitern und eine umfassende Rechtsordnung herzustellen, um die von den Frankenkönigen unterworfenen Völkerschaften einer effektiven Herrschaft zu unterwerfen.
28 Lex Salica 63, ed. Karl August Eckhardt, in: MGH LL nat. Germ. 4/1. Hannover 1962, 239f. 29 Vgl. Reinhold Kaiser, Das römische Erbe und das Merowingerreich. (Enzyklopädie deutscher Geschichte 26.) 3. Aufl. München 2004, 100–108; Guy Halsall, Barbarian Migrations and the Roman West, 376–568. Cambridge 2007, 399–403. Eine nicht unmaßgebliche Migration nimmt hingegen an: Peter Heather, Empires and Barbarians. The Fall of Rome and the Birth of Europe. Oxford 2009, 306–329. 30 Krusch, König Chlodwig (wie Anm. 26), 802. 31 Jean-Pierre Poly, La corde au cou. Les Francs, la France et la Loi Salique, in: Henri Bresc (Hrsg.), Genèse de l’État moderne en Méditerranée. Approches historique et anthropologique des pratiques et des représentations. (Collection de l’École française de Rome 168.) Rom 1993, 287–320. 32 Wolfgang Haubrichs, Namenbrauch und Mythos-Konstruktion. Die Onomastik der LexSalica-Prologe, in: Uwe Ludwig/Thomas Schilp (Hrsgg.), Nomen et fraternitas. Festschrift für Dieter Geuenich zum 65. Geburtstag. (RGA Erg.-Bd. 62.) Berlin/New York 2008, 53–79; Ubl, L’origine contestée (wie Anm. 16), 209–212.
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Die Reflexionen Polys sind in der französischen Forschung auf fruchtbaren Boden gefallen.33 Élisabeth Magnou-Nortier griff die These einer Ur-Lex Salica aus dem 4. Jahrhundert auf, setzte diesen Text jedoch mit Titel 1–43 gleich.34 Die Eigenart des Rechtsbuchs, vor allem die Auswahl der Rechtsmaterien, lässt sich ihr zufolge nur dadurch verständlich machen, dass es sich ursprünglich um einen „simple code militaire“ gehandelt habe. Das Ziel sei es gewesen, die am häufigsten anzutreffenden Übergriffe des Militärs auf die Zivilbevölkerung zu unterdrücken, und zwar Gewalt (d.h. Mord, Körperverletzung) und unrechtmäßige Requisitionen (d.h. Diebstahl). Somit erkläre sich die eigenartige Beschränkung auf diese Auswahl an Rechtsmaterien im ersten Teil der Lex Salica, insbesondere die Ausführlichkeit des Diebstahlkatalogs. Auch die wenigen handwerklichen Berufe, die an zwei Stellen erwähnt werden, seien deshalb berücksichtigt worden, weil sie für die Kriegswirtschaft von Bedeutung gewesen seien. Einer ganz neuen Deutung unterzieht Magnou-Nortier den Titel 46 De acfatmire. Was bislang einfach als Verfahren der Adoption oder Güterübertragung bewertet wurde, stellt die französische Historikerin ebenfalls in den Kontext des Militärrechts. Es sei darin die Gewährung einer außerordentlichen Heeressteuer geregelt worden, welche die Einquartierung von hospites eingeschlossen habe. Magnou-Nortier ist nicht die einzige Historikerin, welche die Einsichten von Poly für eigene Überlegungen nutzbar machte. Auch Thomas Anderson sieht in der militärischen Siedlung der Franken den historischen Kontext der Lex Salica.35 Ausgangspunkt seiner Überlegungen ist der berühmte Titel 59 über den Ausschluss der Frauen von der Erbschaft von Land (De alodis). Anderson deutet diese Vorschrift als einen vollkommenen Ausschluss und führt ihn auf die Ansiedlung der Franken in Militärsiedlungen zurück. Das Land, welches den Franken nach der Unterwerfung durch Kaiser Julian zugewiesen worden sei, habe dazu gedient, Soldaten zum dauerhaften Dienst im römischen Militär zu verpflichten. Aufgrund dessen sei mit dem Land auch der Dienst im Militär verbunden gewesen, weshalb Frauen nicht zum Erbe zugelassen worden seien. Vorausgesetzt wird in dieser Argumentation eine mehr oder wenige bruchlose Kontinuität der sozialen und politischen Organisation zwischen den Saliern der Zeit um 350 und den Franken der Lex Salica. In dieser Hinsicht schließt sich die Deutung Andersons an die Thesen Jean-Pierre Polys an. 33 Zur wohlwollenden Rezeption in Frankreich und außerhalb vgl. Ubl, L’origine contestée (wie Anm. 16), 210, Anm. 5. 34 Elisabeth Magnou-Nortier, Remarques sur la genèse du Pactus Legis Salicae et sur le privilège d’immunité (IV–VII siècles), in: Michel Rouche (Hrsg.), Clovis. Histoire et mémoire, Bd. 1: Le baptême de Clovis, l’événement. Paris 1997, 495–538. 35 Thomas Anderson, Jr., Roman Military Colonies in Gaul, Salian Ethnogenesis and the Forgotten Meaning of Pactus Legis Salicae 59,5, in: EME 4, 1995, 129–144. Zustimmend: Bernard S. Bachrach, Military Lands in Historical Perspective, in: The Haskins Society Journal 9, 1997, 95–122, und Stefan Esders, „Öffentliche“ Abgaben und Leistungen im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter: Konzeptionen und Befunde, in: Theo Kölzer/Rudolf Schieffer (Hrsgg.), Von der Spätantike zum frühen Mittelalter: Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde. (Vorträge und Forschungen 70.) Ostfildern 2009, 189–244, hier 222f.
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Der Ansatzpunkt von Poly und seinen Anhängern ist per se nicht von der Hand zu weisen. Es ist plausibel, dass der Gesetzgeber der Lex Salica genau diejenigen Ziele verfolgte, welche Poly den römisch-fränkischen Feldherren des 4. Jahrhunderts zuschreibt, nämlich die Unterbindung von intrafamiliärer Gewalt. Ebenso ist es plausibel, dass die Gesetzgebung in einem militarisierten Umfeld stattfand, wie es durch die Anwesenheit des centenarius, des contubernium und des scutum als Gerichtssymbol belegt ist. Was jedoch jeder Plausibilität entbehrt, ist die historische Kontextualisierung. Abgesehen von der falschen Identifikation der vier im kurzen Prolog genannten Gesetzgeber mit römisch-fränkischen Generälen ist es mehr als abwegig, ein Gesetzbuch, welches die Romani gegenüber den „Freien“ (ingenui) derart deutlich benachteiligt, als oktroyiertes Gesetzbuch des römischen Imperiums zu bezeichnen. Überdies erscheint es abwegig, eine Kontinuität zwischen der Unterwerfung der Salier durch Julian und den Franken der Lex Salica vorauszusetzen. Schließlich verstehen sich die Franken in ihrem Rechtsbuch als ingenui und grenzen sich entschieden von der unfreien und halbfreien Bevölkerung der servi und laeti/liti ab. Den Status als unterworfene Militärsiedler, welcher nach dem militärischen Sieg Kaiser Julians den Franken aufgenötigt worden sein soll, haben sie zur Zeit der Abfassung also weit hinter sich gelassen.36 Spricht also eine Reihe allgemeiner Erwägungen gegen diese Sichtweise, weisen drei konkrete Probleme von Polys Deutung auf grundsätzliche Defizite: 1. Erstens ist es unmöglich, aus dem überlieferten Textbestand der ältesten Fassung in 65 Titel eine Ur-Lex herauszuschälen. Poly greift auf den Epilog der Handschrift K17 zurück, der den ersten Teil mit Titel 44 enden lässt. Genauso gut könnte man jedoch auch die zweite Überlieferung des Epilogs in A2 heranziehen, welche Titel 62 als Endpunkt nennt – zumal diese Handschrift über 100 Jahre älter ist. Demgegenüber hat jedoch Eckhardt zu Recht den Text emendiert und durch die Titelnummer 65 ersetzt. Denn der Epilog setzt die Version in 65 Titeln voraus und erwähnt dann als erste Ergänzung das sogenannte Capitulare primum (und nicht die Titel 45–65).37 K17 ist überdies ein besonders schlechter Ansatzpunkt, weil diese Handschrift der Zeit um 900 36 Der Status als dediticii wird aus dem Bericht des Ammianus Marcellinus (Amm. 17, 8, 4) gefolgert: Vgl. Nonn, Die Franken (wie Anm. 21), 51; Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt. München 2011, 51f.; Gerhard Wirth, Deditizier, Soldaten und Römer. „Besatzungspolitik“ im Vorfeld der Völkerwanderung, in: BJ 197, 1997, 57–90, hier 81; Poly, La corde au cou (wie Anm. 31), und Kerneis, Le pacte et la loi (wie Anm. 21), 130, betrachten die Lex Salica ausdrücklich als Gesetzbuch der „Francs anciens lètes de l’Empire romain“. Die laeti der Lex Salica sind jedoch die Halbfreien. Eine Kontinuität zu dieser Gruppe wird deshalb gerade nicht hergestellt. Zu den laeti der Spätantike vgl. Ralph Mathisen, Peregrini, Barbari, and Cives Romani. Concepts of Citizenship and the Legal Identity of Barbarians in the Later Roman Empire, in: AHR 111, 2006, 1011–1040, hier 1025f.; Reinhold Kaiser, Spätantike und Frühmittelalter – das Problem der Periodenbildung, Kontinuitäten und Brüche, Konzeptionen und Befunde. Versuch einer Zusammenfassung, in: Kölzer/Schieffer (Hrsgg.), Von der Spätantike (wie Anm. 35), 319–338, hier 328–330. 37 Karl August Eckhardt (Hrsg.), Pactus Legis Salicae, Bd. 1: Einführung und 80-Titel-Text. (Germanenrechte N.F.: Westgermanisches Recht 1.) Göttingen 1954, 146–150.
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nach dem Urteil Mordeks in einem „skandalösen Latein“38 verfasst ist. Andere Anhaltspunkte für die Existenz einer Ur-Lex gibt es nicht. Dieses Dilemma wird durch den Trick von Magnou-Nortier nicht besser, den Titel 44 vom fiktiven Urtext auszuschließen, weil darin Amtsträger erwähnt sind, die im ursprünglichen Militärgesetz noch nicht aktiv gewesen sein dürfen. Der Zirkelschluss ist offensichtlich. 2. Zweitens ist es keineswegs so, dass der fiktive Urtext nur von militärischen Angelegenheiten handelt. Eine römische Armee wurde bekanntlich hauptsächlich durch Getreideprodukte versorgt, während in der Lex Salica der Schwerpunkt eindeutig auf der Viehzucht liegt. Jagdvögel und Bienenzucht waren ebenso wenig ein Anliegen des Militärs. Überhaupt handelt es sich durchgehend um zivile Vergehen, denn der Mord auf Heerzug (in hoste) wird in einem gesonderten Titel am Ende der Lex Salica behandelt. Die Umdeutung von Titel 46 und Titel 59 ist darüber hinaus fragwürdig. Titel 46 handelt von der Grundstücksübertragung über eine Mittelsperson, und nichts deutet darauf hin, dass ein militärischer oder fiskalischer Kontext eine Rolle spielt. Die Einschaltung des Gerichts soll lediglich „maximale Publizität“39 garantieren, um die Übertragung an nicht verwandte Personen gegenüber der Verwandtschaft unanfechtbar zu machen. Titel 59 über den Ausschluss von Frauen ist ebenso wenig geeignet, einen militärischen Siedlungskontext zu suggerieren. Schließlich haben alle späteren Quellen, die sich auf diesen Titel beziehen, nur eine Nachordnung von Frauen in diesen Text hineingelesen. Schwestern durften daher das Land erben, wenn es keine Brüder gab, Töchter bei der Abwesenheit von Söhnen. Der Lex Salica einen vollkommenen Ausschluss von Frauen zu unterstellen, ist durch nichts gerechtfertigt.40 Damit fällt aber auch die Hypothese, die Franken der Lex Salica hätten sich noch als Militärkolonisten des römischen Staates betrachtet. 3. Drittens missachtet die Bezeichnung des Rechtsbuchs als „droit militaire“, dass das römische Militärrecht im fundamentalen Widerspruch zu den Grundprinzipien der Lex Salica stand. Um dies zu erkennen, reicht ein Blick in den Nomos stratiotikos, eine byzantinische Quelle aus dem 7. Jahrhundert, die 38 Hubert Mordek, Bibliotheca capitularium regum Francorum manuscripta. Überlieferung und Traditionszusammenhang der fränkischen Herrschererlasse. (MGH Hilfsmittel 15.) München 1995, 211. 39 Adrian Schmidt-Recla, Kalte oder warme Hand? Verfügungen von Todes wegen in mittelalterlichen Referenzrechtsquellen. (Forschungen zur Deutschen Rechtsgeschichte 29.) Köln/Weimar 2011, 141. 40 Die sorgfältige Argumentation von Alexander C. Murray, Germanic Kinship Structure. Studies in Law and Society in Antiquity and the Early Middle Ages. (Studies and Texts 65.) Toronto 1983, 201–215, wird von Anderson, The Forgotten Meaning (wie Anm. 35) zwar zitiert, aber nicht überzeugend zurückgewiesen. Anderson schließt meines Erachtens das Zeugnis der formulae zu Unrecht aus und missversteht die ziemlich eindeutige Regelung der Lex Ribuaria, die nur eine Nachordnung impliziert: Lex Ribuaria 57, 4, edd. Franz Beyerle/Rudolf Buchner, in: MGH LL nat. Germ. 3. Hannover 1954, 105. Darüber hinaus beruht seine Argumentation auf der fragwürdigen Identifikation von Franken und Laeten (siehe oben Anm. 36).
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teils auf die Digesten, teils auf eine strategische Schrift Kaiser Maurikios’ zurückgreift.41 Militärische Disziplin beruht darin auf der völligen Ermessensfreiheit des Feldherrn und auf einem strikten Strafregiment, welches Ehrenstrafen ebenso einschließt wie schwere Körperstrafen und die Todesstrafe. Behandelt werden Delikte innerhalb einer Berufsarmee wie Ungehorsam, Desertion, Verrat, Meuterei, Aufruhr, Absenz vom Dienst und Bedrückung der Zivilbevölkerung. Diese Tatbestände werden aber in der Lex Salica mit keinem Wort erwähnt, vielmehr setzt das Rechtsbuch überhaupt nicht eine strikte Trennung zwischen Kriegern und Zivilisten voraus. Kurzum, es gibt keine inhaltlichen Berührungspunkte zwischen dem römischen Militärrecht und der Lex Salica. Die Franken der Lex Salica sind folglich keine Berufssoldaten der römischen Armee. Die Charakterisierung als römisches Militärrecht führt meines Erachtens die Forschung in eine Sackgasse. Es kann zwar kein Zweifel darüber bestehen, dass die Gesellschaft Nordgalliens am Vorabend der fränkischen Hegemonie durchgehend militarisiert war und dass sich dieser Zustand auch in der Lex Salica niederschlug. Bezüge zu dem, was in der römischen Welt als Militärrecht galt, sind aber nicht auszumachen. II. DIE LEX SALICA UND DAS PROVINZIALE VULGARRECHT Die Kombinatorik eines Jean-Pierre Poly überzeugte nur wenige Historiker von einer Datierung der Lex Salica in das 4. Jahrhundert.42 Gleichwohl betrachteten namhafte Spezialisten des frühen Mittelalters die Stoßrichtung Polys mit Wohlwollen. Ian Wood möchte die Möglichkeit, römische Autoritäten hätten die Barbaren mit Kodifikationen ausgestattet, nicht vollkommen ausschließen. Vor allem ist Wood einverstanden mit der Abkehr von der Fokussierung auf ‚germanisches‘ Recht und der Hinwendung zum römischen Vulgarrecht als Fundament der barbarischen Gesetzgebung. Einen römischen Ursprung nimmt er beispielsweise für die Institution der Eidhelfer an, die in der Lex Salica als Bürgen für die Integrität einer Person herangezogen werden und die bislang als Teil fränkischen oder germa-
41 Edition in Walter Ashburner, The Byzantine Mutiny Act, in: JHS 30, 1926, 110–121. Die neuere Forschung zitiert bei Ludwig Burgmann, Die Nomoi Stratiotikos, Georgikos und Nautikos, in: Zbornik radova Vizantološkog instituta 46, 2009, 53–64, hier 59–61. Zum Inhalt vgl. auch Clarence E. Brand, Roman Military Law. Austin 1968; zu einer anderen Quelle vgl. Vincenzo Giuffrè, Testimonianze sul trattamento penale dei « milites ». Neapel 1989. Den mit dem Text in der Überlieferung verbundenen Namen des Rufus hält Burgmann für nicht authentisch. Die Spekulationen von Kerneis, Le pacte et la loi (wie Anm. 21), 135–137, sind dann hinfällig. 42 Vgl. dagegen Jean-Pierre Poly, Le premier roi des Francs. La loi salique et le pouvoir royal à la fin de l’empire, in: Constable/Rouche (Hrsgg.), Auctoritas (wie Anm. 21), 97–141, hier 99: „La formation du Pactus legis Salicae dans le cadre de l’empire au IVe siècle paraît aujourd’hui à peu près admise.“
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nischen Gewohnheitsrechts betrachtet wurden.43 Woods Versuch der Kontinuitätsstiftung ist allerdings zu Recht bezweifelt worden, da es sich beim Reinigungseid mit Helfern, wie Stefan Esders überzeugend demonstrierte, um ein Beweisrecht einer „militärischen Gesellschaft“ handelt, in der die „abschreckende Zurschaustellung der Macht“ im Zentrum gestanden habe.44 Römische Vorbilder sind bislang nicht dokumentiert. Auch der These von Magnou-Nortier und Kerneis, das Wergeld und die Kompositionen seien aus römischer Grundlage hervorgegangen, kann ich nichts abgewinnen.45 Geldbußen, welche im römischen Recht durchaus nicht selten sind, unterscheiden sich grundsätzlich vom Wergeld, weil sie sich nicht auf den ‚Wert‘ einer Person beziehen. Roger Collins trieb die Angleichung der Lex Salica an das Vulgarrecht so weit, dass er für die fränkische Kodifikation dieselbe Entstehung annimmt wie für das Edictum Eurici und den burgundischen Liber constitutionum. Collins betrachtet die leges als Kodifikationen von Edikten, welche die barbarischen Könige in der Nachfolge römischer Provinzpräfekten erlassen hätten. In other words, it is easy to conceive of Lex Salica as a systematic collection of early Frankish royal edicts, removed from their original contexts and deprived of any reference to the legislators who issued them. These latter may have extended back at least as far as Clovis’s father Childeric.46
Den Entstehungszeitraum schränkt Collins zwischen König Childerich und der Zeit um 555 ein. Eine Bedeutung für die ethnische Identität der gentes dieser Zeit spricht Collins den Kodifikationen vollkommen ab. Erst in späteren Zeiten hätten die Rechtsbücher eine symbolische Bedeutung für ethnische Verbände erhalten, da in sie der Ursprung und das Recht der ethnischen Gemeinschaft hineingelesen worden seien. 43 Ian Wood, Disputes in Late Fifth- and Sixth-Century Gaul: Some Problems, in: Paul Fouracre/Wendy Davies (Hrsgg.), The Settlement of Disputes in Early Medieval Europe. Cambridge 1986, 7–22. 44 Stefan Esders, Der Reinigungseid mit Helfern. Individuelle und kollektive Rechtsvorstellungen in der Wahrnehmung und Darstellung frühmittelalterlicher Konflikte, in: Stefan Esders (Hrsg.), Rechtsverständnis und Konfliktbewältigung. Gerichtliche und außergerichtliche Strategien im Mittelalter. Köln u.a. 2007, 55–77, hier 60. 45 Magnou-Nortier, Remarques (wie Anm. 34), 502 mit Verweis auf CTh V, 7, 2; V, 17, 2; VI, 8, 1; VI, 22, 7; VI, 28, 8; VI, 30, 10; VI, 31, 1. Diese Gesetze – mit einer Ausnahme nicht ins Breviar aufgenommen – richten sich an römische Amtsträger und verhängen unterschiedlich hohe Geldstrafen. Sie sind daher kaum vergleichbar mit den Kompositionen der Lex Salica. Einen anderen Text zitiert Soazick Kerneis, Garants et compensations: Romanité ou barbarie dans la très ancienne loi des Bretons d’Armorique, in: Alain Dubreucq (Hrsg.), Traditio iuris. Permanence et/ou discontinuité du droit romain durant le haut Moyen Âge. (Cahiers du Centre d’histoire médiévale 3.) Lyon 2005, 77–92, hier 89 mit Verweis auf Cod. 2, 4, 8. Ähnlich P.S. Barnwell, Emperors, Jurists and Kings. Law and Custom in Late Roman and Early Medieval West, in: PP 168, 2000, 6–29, hier 16, der sich auf Gai Inst. 3.223–225 bezieht, wo es aber nur um leichte Körperverletzung geht. 46 Roger Collins, Law and Ethnic Identity in the Western Kingdoms in the Fifth and Sixth Centuries, in: Alfred P. Smyth (Hrsg.), Medieval Europeans. Studies in Ethnic Identity and National Perspectives. Basingstoke 1998, 1–23, hier 15.
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Collins’ These bereitet große Schwierigkeiten. Es ist schwer nachzuvollziehen, was Collins unter einer „systematic collection“ versteht – die Lex Salica zählt sicher nicht dazu. Darüber hinaus gibt es keinen einzigen Satz innerhalb des Gesetzbuches, der auf königliche Herkunft schließen lässt. Während die Gesetze der westgotischen und burgundischen Könige nicht selten in der ersten Person Plural formuliert sind und Verben wie iubemus oder praecipimus enthalten, ist die Lex Salica von Anfang bis Ende unpersönlich verfasst. Nur an einigen Stellen findet sich die Formulierung sicut superius diximus, die aber gerade nicht auf einen königlichen Gesetzgeber hinweist, sondern auf einen Redaktor, der nicht über eigene Autorität verfügt.47 Novellen wie im burgundischen Liber constitutionum sind im fränkischen Rechtsbuch ebenso wenig erkennbar. Étienne Renard ist daher insofern recht zu geben, als eine Entstehung während Childerichs Exils durchaus in Frage kommt: Eine königliche Initiative bei der Niederschrift ist an keiner Stelle zu erkennen. Die Nachricht des kurzen Prologs, nach der die Lex Salica als eine Übereinkunft der Franken durch vier weise Männer aufgezeichnet wurde, ist daher nicht von vornherein von der Hand zu weisen.48 Als Beleg für ein gemeinsames Fundament der leges im römischen Vulgarrecht diente Collins und Wood der byzantinische Nomos georgikos. Collins wies im Jahr 1983 auf Parallelen zwischen den westgotischen Kodifikationen und dem byzantinischen Rechtsbuch hin, die bereits der britische Gelehrte Walter Ashburner bemerkt hatte.49 Ian Wood sieht ebenfalls eine Reihe von Gemeinsamkeiten, und zwar insbesondere in der Behandlung von Unrechtstaten in ländlichen Gesellschaften. Dies wird von beiden Historikern als Beleg dafür angesehen, dass es ein „provinziales Recht im Römischen Reich gegeben habe, welches nachweislich existierte, aber welches nicht greifbar ist“.50 Die Probleme dieses Ansatzes sind eng verknüpft mit dem schwierigen Begriff des „Vulgarrechts“. Für die Historiker des römischen Rechts bedeutet er nämlich etwas anderes als für die Mediävisten. Heinrich Brunner, der Erfinder dieses Konzepts, kennzeichnete damit Phänomene der merowingischen Zeit, insbesondere im Urkundenwesen.51 Ernst Levy verstand hingegen darunter nicht 47 Lex Salica 1, 5 (wie Anm. 28), 20; 6, 3, ebd. 38; 40, 10, ebd. 153; 44, 4, ebd. 170; 45, 2, ebd. 175; 56, 4, ebd. 212. 48 Lex Salica (C) prol. (wie Anm. 28), 2f. 49 Roger Collins, Early Medieval Spain. Unity in Diversity, 400–1000. London 1983, 28. Zustimmend Wood, Disputes (wie Anm. 43), 20; Barnwell, Emperors (wie Anm. 45), 24f.; Halsall, Barbarian Migrations (wie Anm. 29), 464. 50 Ian N. Wood, Roman Law in the Barbarian Kingdoms, in: Alvar Ellegård/Gunilla ÅkerströmHougen (Hrsgg.), Rome and the North. Jonsered 1996, 5–14, hier 9. 51 Heinrich Brunner, Zur Rechtsgeschichte der römischen und germanischen Urkunde, Bd. 1: Die Privaturkunden Italiens. Das angelsächsische Landbuch. Die fränkische Privaturkunde. Berlin 1880, 113f.; 139; ders., Forschungen zur Geschichte des deutschen und französischen Rechtes. Gesammelte Aufsätze. Stuttgart 1894, 607, Anm. 1; ders., Deutsche Rechtsgeschichte (wie Anm. 10), 255; 377f. Vgl. die präzisen Bemerkungen von Detlef Liebs, Roman Vulgar Law in Late Antiquity, in: Adriaan Johan Boudewijn Sirks (Hrsg.), Aspects of Law in Late Antiquity. Dedicated to A.M. Honoré on the Occasion of the Sixtieth Year of His Teaching in Oxford. Oxford 2008, 35–53.
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bloß das Provinzialrecht oder bestimmte barbarische Rechtsbücher des 5. Jahrhunderts, sondern eine Mentalität, welche das gesamte spätantike Recht seit dem frühen 4. Jahrhundert durchzogen habe.52 Nach Levy manifestiert sich das Vulgarrecht nicht allein in den Leges Romanae der Goten und Burgunder, sondern auch in den Kaisergesetzen eines Diokletian und eines Konstantin des Großen. Charakteristisch für diese Mentalität seien ein moralisierender Umgang mit Rechtsnormen und eine rhetorische Einkleidung der Gesetze.53 Beides habe einen Verlust an technischer Präzision des römischen Rechts nach sich gezogen. Wood und Collins wiederum identifizieren dagegen das römische Vulgarrecht mit dem provinzialen Recht im Unterschied zum kaiserlichen Recht der römischen Zentrale. Als Zeugnis für dieses lokale Gewohnheitsrecht berufen sie sich merkwürdigerweise auf den byzantinischen Nomos georgikos.54 Bedenkt man, wie oft der Nomos georgikos in der Literatur zum Recht des frühen Mittelalters auftaucht, überrascht es, wie selten konkrete Parallelen zu den leges herausgearbeitet wurden. Collins und Wood beschränken sich in der Regel auf die Feststellung „offensichtlicher“ Übereinstimmung. Bei näherem Hinsehen überwiegen jedoch die Unterschiede, ja es lässt sich sogar behaupten, dass nur an jenen Stellen Übereinstimmungen zu finden sind, die auf einer gemeinsamen Vorlage aus dem (klassischen) römischen Recht beruhen. Um diese Einschätzung zu begründen, ist es hilfreich, einen kurzen Abriss über den Inhalt des Nomos georgikos zu geben. Im Mittelpunkt des „Bauernrechts“ steht der Bauer, d.h. ein Pächter oder Eigentümer, der das Land selbst bewirtschaftet und davon Abgaben an den Fiskus entrichtet. Der Bauer ist persönlich frei, da er nicht an die Scholle gebunden ist 52 Ernst Levy, Zum Wesen des weströmischen Vulgarrechts, in: Ernst Levy, Gesammelte Schriften, Bd. 1 (wie Anm. 15), 184–200 (erstmals 1935); ders., Römisches Vulgarrecht und Kaiserrecht, ebd. 289–294 (erstmals 1959); Franz Wieacker, Vulgarismus und Klassizismus im Recht der Spätantike. (Sitzungsberichte der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Phil.-hist. Kl. 3.) Heidelberg 1955. 53 Kritisch hierzu Jean Gaudemet, À propos du droit vulgaire, in: Studi in onore di B. Biondi, Bd. 1. Mailand 1963, 271–300; Dieter Simon, Marginalien zur Vulgarismusdiskussion, in: Okko Behrends (Hrsg.), Festschrift für Franz Wieacker zum 70. Geburtstag. Göttingen 1978, 154–173; Wulf Eckart Voss, Recht und Rhetorik in den Kaisergesetzen der Spätantike. Eine Untersuchung zum nachklassischen Kauf- und Übereignungsrecht. (Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte 9.) Frankfurt a.M. 1982; Franz Wieacker, Vulgarrecht und Vulgarismus. Alte und neue Probleme, in: Studi in onore di A. Biscardi, Bd. 1. Mailand 1982, 33– 51; Tony Honoré, Law in the Crisis of Empire, 379–455 A.D. The Theodosian Dynasty and its quaestors. Oxford 1998, 20; Simon Corcoran, The Empire of the Tetrarchs. Imperial Pronouncements and Government, AD 284–324. Oxford 1996, 3. 54 Helga Köpstein, Zu den Agrarverhältnissen, in: Byzanz im 7. Jahrhundert. Untersuchungen zur Herausbildung des Feudalismus. (Berliner Byzantinistische Arbeiten 48.) Berlin 1978, 1– 72, hier 40–60; Leslie Brubaker/John Haldon, Byzantium in the Iconoclast Era (ca. 680–850): The Sources. An Annotated Survey. Aldershot 2001, 290–292; dies., Byzantium in the Iconoclast Era, c. 680–850. A History. Cambridge 2011, 568. Zur Frage der Datierung vgl. Andreas Schminck, Bemerkungen zum sog. „Nomos Mosaikos“, in: Ludwig Burgmann (Hrsg.), Fontes minores 11. (Forschungen zur byzantinischen Rechtsgeschichte 26.) Frankfurt a.M. 2005, 249–268 (9. Jh.), und Burgmann, Die Nomoi (wie Anm. 41).
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und nur durch die Verpflichtungen gegenüber der Dorfgemeinde in seinem Handeln eingeschränkt wird. Dies äußert sich vor allem in der solidarischen Steuerhaft gegenüber dem Fiskus. Darüber hinaus sind verschiedene Formen des Pachtvertrags erwähnt. Im Unterschied zu allen barbarischen Kodifikationen handelt es sich folglich um ein Dorfrecht, das an keiner Stelle den Rahmen einer einzelnen Siedlung überschreitet. In vielen Kapiteln werden Verträge zwischen den Bauern behandelt sowie das Recht der Hirten und die rechtlichen Konsequenzen für flüchtige Bauern. In diesem Teil des Nomos georgikos sind Parallelen zu den leges und insbesondere zur Lex Salica nicht zu bemerken. Auch das gesamte Strafrecht folgt einer anderen Logik. Körperliche Strafen wie das Abschlagen der Hand, die Blendung, das Verbrennen, das Ausreißen der Zunge und das Hängen sind keine Seltenheit. Das Prinzip des Wergelds ist dagegen dem byzantinischen Bauernrecht vollkommen fremd.55 Strafgelder orientieren sich vielmehr am Schaden oder an der vielfachen Summe des Schadens (duplum), was sich aus dem römischen Recht bzw. aus biblischen Vorbildern herleitet. Der weitaus größte Teil des Nomos georgikos weist demnach keine Berührungspunkte zu den leges oder zur Lex Salica im Speziellen auf. Nur ein Thema begegnet sowohl im Westen als auch im Osten, und das sind der Tier- und Flurschaden. Die leges im Westen wenden sich nämlich zum Teil den Sorgen der Landbevölkerung zu und versuchen Konflikte innerhalb bäuerlicher Gemeinschaften einer Regelung zu unterziehen. Entscheidend ist allerdings, dass es sich hier nicht, wie Wood suggeriert, um eine im Untergrund fortwirkende Tradition des „Vulgarrechts“ handelt, sondern um Regelungen des ‚offiziellen‘ römischen Rechts. Nicht umsonst behauptet der Urheber des Nomos georgikos, ein Extrakt aus den Büchern Kaiser Justinians angefertigt zu haben.56 Werfen wir einen näheren Blick auf die Übereinstimmungen zwischen den Rechtsquellen. Das Kapitel 38 des Nomos georgikos behandelt den Fall der Vertreibung eines Rinds, welches einen Schaden auf fremdem Feld verursacht hat.57 Falls der Bauer das Tier bei der Vertreibung aus seinem Feld tötet, hat er Schadensersatz zu leisten. Er muss ein gleichwertiges Tier dem Eigentümer zur Verfügung stellen. Die gleiche Bestimmung findet sich im westgotischen Liber iudiciorum, im burgundischen Liber constitutionum und in der Lex Salica.58 Dies kann aber kaum erstaunen, denn bereits das klassische Recht erlaubte eine Klage auf Schadensersatz in diesem Fall.59 Ähnlich verhält es sich mit Kapitel 36 des Nomos georgikos. Darin geht es um die Nutzung eines Tieres ohne die Erlaubnis seines 55 Bereits Wormald, The leges barbarorum (wie Anm. 2), 30, wies darauf hin, dass die Fehde im Nomos georgikos nicht auftaucht. 56 Ashburner, The Farmer’s Law, Teil 1 in: JHS 30, 1910, 85–108; Teil 2 ebd. 32, 1912, 68–95; hier Teil 1, 97. 57 Ashburner, The Farmer’s Law, Teil 1 (wie Anm. 56), 101. 58 Liber iudiciorum 8, 3, 13, ed. Karl Zeumer, in: MGH LL nat. Germ. 1. Hannover/Leipzig 1902, 327 (vermutlich eine Bestimmung aus dem Edictum Eurici: D’Ors, El Código [wie Anm. 13], 161); Liber constitutionum 64, 1, ed. Rudolf von Salis, in: MGH LL nat. Germ. 2. Hannover 1892, 94; Lex Salica 9, 1 (wie Anm. 28), 46. 59 Dig. 9, 2, 39, 1.
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Eigentümers. Der Übeltäter muss das zweifache Entgelt für die Leihe zahlen oder im Fall des Todes des Tieres einfachen Schadensersatz leisten.60 Das westgotische und burgundische Recht reagieren härter, indem sie die Rückgabe des Tieres und die Stellung eines weiteren verlangen.61 Die Lex Salica verhängt in einem ähnlichen Fall eine pauschale Geldbuße.62 Wieder ist die Gleichförmigkeit nicht verwunderlich, denn das römische Recht betrachtet den Missbrauch anvertrauter Dinge ebenfalls als einen qualifizierten Diebstahl, der mit der Zahlung des zweifachen Wertes zu ahnden ist.63 Der Nomos georgikos erweist sich somit als denkbar ungeeignet, um einen gemeinsamen ‚Untergrund‘ zwischen Provinzialrecht und den leges der Barbaren zu konstruieren. Der größere Teil des Nomos georgikos spiegelt das Milieu einer byzantinischen Dorfgemeinschaft wider und steht in keiner Beziehung zu den im Westen entstandenen Rechtsbüchern. Wo es Übereinstimmungen gibt, gehen sie auf das kodifizierte Recht der römischen Antike zurück. Diese Übereinstimmungen erfassen nicht nur die Rechtsbücher der Goten, Burgunder und Langobarden, sondern auch die Lex Salica. Es ist seit langem bekannt, dass es vereinzelte Parallelen zwischen der Lex Salica und dem römischen Recht gibt, wie es in den westgotischen und burgundischen Kodifikationen weitertradiert und verformt wurde. Es ist allerdings bezeichnend und bislang zu wenig beachtet, dass die Lex Salica in der Regelung der Bußzahlung doch deutlich abweicht. Diesem Thema werde ich mich im dritten Teil zuwenden, da dadurch die Charakteristik des fränkischen Rechtsbuchs offen zu Tage tritt. III. DIE SPEZIFIK DER LEX SALICA Ein wesentliches Ergebnis meiner bisherigen Ausführungen ist die Kluft zwischen dem fränkischen Recht und den anderen Rechtsaufzeichnungen des 5. Jahrhunderts – hinsichtlich des Titels, hinsichtlich des Verschweigens königlicher Beteiligung und hinsichtlich der Textgenese. Obwohl die Lex Salica zwar durchaus einige Berührungspunkte mit anderen Rechtsquellen des 5. Jahrhunderts aufweist, ist sie nicht auf präexistente Traditionen zurückzuführen: weder auf römisches Militärrecht noch auf römisches Provinzialrecht. In diesem Teil will ich einen Schritt weiter gehen und darlegen, inwiefern die Lex Salica einen Sonderstatus einnimmt. Diese These möchte ich anhand einiger Beispiele erhärten. Die Unterschiede stechen umso deutlicher hervor, als es durchaus eine ansehnliche Anzahl von Überschneidungen zwischen den drei in Gallien entstandenen Rechtsbüchern gibt. Nehmen wir die Regelung über die Stutzung eines Pferdes, die nicht nur in der
60 Ashburner, The Farmer’s Law, Teil 1 (wie Anm. 56), 101. 61 Liber iudiciorum 8, 4, 1 (wie Anm. 58), 331 (vermutlich ebenfalls aus dem Edictum Eurici: D’Ors, El Código [wie Anm. 13], 165); Liber constitutionum 4, 8 (wie Anm. 58), 45. 62 Lex Salica 23 (wie Anm. 28), 88. 63 Dig. 47, 2, 40; 47, 2, 77; Inst. 4, 1, 6.
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Lex Salica enthalten ist, sondern auch im Edikt König Eurichs64 und im burgundischen Liber constitutionum. Si quis alieni caballi coma turpaverit aut caudam curtaverit, eiusdem meriti alium cum eo sine dilatione domino restituat.
De caballo etiam curtato […] in potestate sit domini, cuius animal fuerit, utrum ipsum recipere velit et alium, aut si suum recipere noluerit, eius meriti estimationem habeat, aut duos tales caballos ei cuius fuerit dari iubemus ab eo, qui contra interdictum nostrum hoc praesumpserit admittere.
Si quis caballum alienum excurtaverit, mallobergo leodardi hoc est, CXX denarios qui faciunt solidos III culpabilis iudicetur.
Liber iudiciorum 8, 4, 3 (wie Anm. 58), 332.
Liber constitutionum 73, 1–3 (wie Anm. 58), 97.
Lex Salica 38, 14 (wie Anm. 28), 141.
Im Recht der Westgoten wird der Übeltäter dazu verurteilt, das verunstaltete Pferd und ein gleichwertiges zweites dem Geschädigten auszuhändigen. Das Recht der Burgunder sieht in einer weitgehend ähnlichen Regelung vor, dass der Geschädigte wählen kann, ob er das verunstaltete Pferd zurücknimmt und ein zusätzliches erhält oder zwei neue Pferde einfordert. Das salische Recht erwähnt dagegen nur einen Geldbetrag als Strafe. Damit ist bereits ein wichtiges Charakteristikum der Lex Salica genannt: Die Strafen werden nicht in der Form eines Schadensersatzes formuliert, wie es für das Vulgarrecht des 5. Jahrhunderts typisch ist. Ernst Levy machte darauf aufmerksam, dass alle Strafen, die nicht zu den Kriminalstrafen gezählt und daher mit körperlicher Züchtigung geahndet wurden, in die Form des Schadensersatzes gebracht wurden.65 Dieser Wandel spiegelt sich nach Levy in den omnipräsenten Begriffen satisfacere und componere wider. Neu war vor allem der Primat der Entschädigung, der, auch wenn durch die Sühne als Multiplikator um ein Vielfaches vermehrt, in ihrem Wesen als Ersatz doch nicht berührt wurde.66
Dieser Logik scheint die Lex Salica nicht zu folgen, denn die Höhe der Buße wird gerade nicht als ein Vielfaches des Schadens qualifiziert. Die Geldbußen gehen vielmehr oft weit über den Schaden hinaus und unterscheiden sich darin deutlich von den Bußen der anderen Rechte. Hierzu möchte ich ein besonders prägnantes Beispiel nennen: Es handelt sich um den Diebstahl einer Schelle67, die das Leittier einer Herde trägt. 64 65 66 67
Ich folge weitgehend der Textkritik von D’Ors, El Código (wie Anm. 13). Levy, Obligationenrecht (wie Anm. 1), 306–317. Levy, Obligationenrecht (wie Anm. 1), 306–317, hier 309. Die Übereinstimmung bemerkte bereits Ashburner, The Farmer’s Law, Teil 1 (wie Anm. 56), 102.
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Im Bann der Traditionen Si quis tintinabulum involaverit de iumento vel bove, solidum reddat; de vacca tremisses duos, de verbicibus vel quibuscumque pecoribus tremisses singulos cogatur exolvere.
Qui tintinno caballi furto abstulerit, si ingenuus est, caballum alium talem reddat, simili de bove conditione servata.
Si quis tintinno de porcina aliena furaverit, cui fuerit adprobatum, mal. leodardi hoc est, DC den. qui faciunt sol. XV culpabilis iudicetur. Si vero de pecoribus tintinno furaverit, […] sol. III culpabilis iudicetur.
Liber iudiciorum 7, 2, 11 (wie Anm. 58), 293.
Liber constitutionum 4, 5 (wie Anm. 58), 44.
Lex Salica 27, 1–2 (wie Anm. 28), 98.
Bei einem Schwein wird der Dieb in der Lex Salica zur Zahlung von 15 Solidi verdonnert, bei sonstigem Kleinvieh zu drei Solidi. Auch diese Regelung hat Parallelen im westgotischen und burgundischen Recht. Bei den Westgoten wird der Diebstahl bei einem Lasttier mit einem Solidus, bei einer Kuh mit zwei Tremisses und bei Kleinvieh mit einem Tremissis geahndet. Das Recht der Burgunder verurteilt den Dieb dagegen dazu, ein anderes Tier zu stellen. Es ist offensichtlich, dass alle drei Rechte nicht einen Schadensersatz für die Schelle selbst fordern. Dafür sind die Summen zu hoch angesetzt. Es ist vielmehr an die Gefahr gedacht, die dem Eigentümer droht, wenn er aufgrund der fehlenden Schelle das Tier oder die ganze Herde verlieren sollte. Das salische Recht beurteilt diese Gefahr offensichtlich am höchsten und verlangt einen ungleich höheren Betrag, nämlich mehr als das Zehnfache. Dieser Sachverhalt trifft auch für eine andere Regelung zu, in der die Zerstörung von Zäunen unter Strafe gestellt wurde. Qui de sepibus palos inciderit vel incenderit alienos, per singulos palos singulos tremisses conpellatur exolvere; ita ut, si ex fructibus aliquid perierit, ex integro reformetur. Eadem et de ortis sepe conclusis precipimus custodire.
Si quis sepem alienam, nullo inpedito subiecto, inferendi tantum damni studio ruperit, si ingenuus aperuerit, inferat illi, cuius messis est, per singulos palos singulos tremisses. […] Hoc etiam de prato et de vinea praecipimus custodiri.
Si quis uero tres uirgas, unde sepis superligatur uel superextringitur, furaverit aut capulaverit aut tres cambortos involaverit aut excervicaverit uel retorta, unde palum aut sepis continetur, capulaverit, cui fuerit adprobatum, mallobergo leodardi sunt, DC denarios qui faciunt solidos XV culpabilis iudicetur.
Liber iudiciorum 8, 3, 7 (wie Anm. 58), 324.
Liber constitutionum 27, 1–2 (wie Anm. 58), 64.
Lex Salica 34, 1 (wie Anm. 28), 126.
Das salische Recht verlangt 15 Solidi, während das westgotische und das burgundische Recht gleichlautend für jeden ausgerissenen Pfahl einen Tremissis verlangen. Der Unterschied ist erneut frappant: Während bei Westgoten und Burgundern
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die Strafe als Schadensersatz für einen Pfahl betrachtet wurde, ahndet die Lex Salica mit einem Pauschalbetrag. Dieser Pauschalbetrag ist gerade nicht wie im spätantiken Vulgarrecht als die Wiedergutmachung des Schadens gekennzeichnet. Die Lex Salica verhängt vielmehr die Strafe für den sogenannten kleinen Diebstahl, der immer 15 Solidi beträgt. Im römischen Vulgarrecht wird ein solcher Diebstahl hingegen üblicherweise mit dem Vierfachen gebüßt.68 Zwei Punkte bedürfen der Erklärung, zum einen die exorbitante Höhe der Buße und zum anderen ihre einzigartige Pauschalisierung. Der erste Punkt lässt sich am besten durch Beispiele erhellen, in denen die exorbitante Höhe ausdrücklich herabgesetzt wurde. Dafür kennt das salische Recht mehrere Gründe: Wenn beispielsweise jemand fremde Tiere aus seinem Kornfeld vertreibt und dies gesteht, muss er die geschädigten Tiere behalten und sie dem Eigentümer ersetzen – eine Regelung, die sich gleichlautend auch im westgotischen Recht findet und dem Prinzip des Schadensersatzes folgt. Et si pecora, dum per iracundiam expellit, everterit, damnum simpla tantummodo restituat et sibi que debilitavit usurpet.
Si quis animalia aut caballus vel quolibet pecus in messe sua invenerit, penitus eum vastare non debet. Quod si fecerit et hoc confessus fuerit, capitale in locum restituat et debilem ad se recipiat. Si vero confessus non fuerit, […] sol. XV culpabilis iudicetur.
Liber iudiciorum 8, 3, 13 (wie Anm. 58), 327.
Lex Salica 9, 1 (wie Anm. 28), 46.
Die hohe Buße von 15 Solidi tritt nur dann ein, wenn der Täter den Tatbestand leugnet und dann überführt wird.69 Niedriger ist die Buße ebenso bei einem versuchten Verbrechen wie bei versuchtem Sklavendiebstahl. Erst bei der Durchführung des Diebstahls wird die hohe Buße von 35 Solidi fällig. Si quis mancipia aliena sollicitare voluerit, sol. XV culpabilis iudicetur. […] qui eum plagavit, sol. XXXV culpabilis iudicetur. Lex Salica 39, 1 (wie Anm. 28), 142. 68 Max Kaser, Das römische Privatrecht, Abschn. 2: Die nachklassischen Entwicklungen. 2. Aufl. (Handbuch der Altertumswissenschaft 10/3/3/2.) München 1975, 432f. 69 Vgl. auch Lex Salica 65, 1–2 (wie Anm. 28), 232f.
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Ein dritter Fall ist fehlende Absicht. Wenn Tiere ein Kornfeld schädigen, muss der Eigentümer der Tiere bloß den Schaden begleichen und darüber hinaus zehn Denare zahlen. Wenn der Eigentümer seine Tiere „aus Feindschaft oder aus Übermut“ absichtlich ein Kornfeld zerstören lässt, wird dagegen die exorbitante Buße von 30 Schillingen fällig, während das westgotische und burgundische Recht nur einen Solidus pro Tier verlangen: Qui iumenta […] voluntarie in vineam vel messem miserit alienam, damnum, quod fuerit estimatum, cogatur exolvere. Et si maior persona est, pro caballis vel bubos per singula capita singulos solidos reddat.
Si quis sepem alienam aperuerit et caballos suos aut animalia in messem aut in pratum voluntarius miserit, si ingenuus est, per singula animalia inferat pro messis vel prati damno domino solidos singulos.
Si pecora de damnum in clausura fuerint, ille cuius pecora sunt, damnum aestimatum reddat et insuper X den. culpabilis iudicetur. Si vero per inimiciciam aut per superbia sepem alienam aperuerit et in messe, in prato, in vinia vel qualibet laborem pecora miserit, cuius labor est, si convictus fuerit, estimatum damnum reddat et insuper sol. XXX culpabilis iudicetur.
Liber iudiciorum 8, 3, 10 (wie Anm. 58), 325.
Liber constitutionum 27, 4 (wie Anm. 58), 64.
Lex Salica 9, 9 (wie Anm. 28), 50f.
Diese Beispiele legen eine Vermutung nahe: Überall dort, wo exorbitant hohe Bußen erhoben werden, setzt der Gesetzgeber böse Absicht, Vorsatz und Leugnung des Tatbestands voraus. Die Geldbuße ist also nicht bloß eine Wiedergutmachung des Schadens, der in den meisten Fällen viel geringer ausgefallen ist, in ihr drückt sich vielmehr der Versuch des Gesetzgebers aus, ein öffentliches Strafrecht mit einem rationalen Strafzweck zu etablieren. Vorsätzliche Handlungen gegen die öffentliche Ordnung hatten hohe Bußzahlungen zur Folge. Die exorbitante Höhe ist darüber hinaus als Anreiz zu verstehen, das Gericht einzuschalten, da der Kläger hohe Zahlungen erwarten kann. Die Pauschalierung der Geldbußen bezweckt das Gleiche: Es werden einheitliche Maßstäbe für alle Arten von Delikten aufgestellt, die eine Vergleichbarkeit von Rechtsansprüchen unabhängig von der Idee des Schadensersatzes möglich machen.70 Es ist ein Fehlurteil, darin ein be70 Über die Logik des Wergelds vgl. Stefan Esders, „Eliten“ und „Strafrecht“ im frühen Mittelalter. Überlegungen zu den Bußen- und Wergeldkatalogen der Leges barbarorum, in: François Bougard/Hans-Werner Goetz/Régine Le Jan (Hrsgg.), Théories et pratiques des élites au haut Moyen Âge. (Collection Haut Moyen Âge 13.) Turnhout 2011, 261–282; ders., Wergeld und soziale Netzwerke im Frankenreich, in: Steffen Patzold/Karl Ubl (Hrsgg.), Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1100) (im Druck). Vgl. auch Jared Diamond, The World Until Yesterday: What Can We Learn from Traditional Societies? New York 2012, 79–118.
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sonders archaisches System zu sehen – vielmehr setzt es eine höhere Form der Abstraktion voraus als die sonst übliche Vervielfachung des Schadensersatzes. Bei alldem glänzt das fränkische Königtum jedoch durch Abwesenheit. Darin sehe ich eine absichtliche Verschleierung: So wie die unpersönliche Form der Lex Salica die königliche Gesetzgebungsinitiative verschleiert, lässt auch der Inhalt an der Oberfläche nicht die Beteiligung der öffentlichen Gewalt erahnen. Es geht auf den ersten Blick nur um die Austragung von Konflikten zweier Streitparteien, die durch Zahlung von Geldbußen an die Gegenpartei abgewickelt werden. Nur nebenbei wird thematisiert, dass ein Drittel der Geldbußen als Friedensgeld an die Amtsträger des Königs abzuliefern ist.71 Das Gericht ist folglich, auch wenn es als „Volksgericht“72 konstruiert wird, ohne die Beteiligung des fränkischen Königtums nicht denkbar. Gleichermaßen ist die Systematisierung der Geldbußen als ein Werk des Königs anzusehen, da damit klar erkennbare Strafzwecke verfolgt werden, nämlich die Bestrafung von vorsätzlichen Straftaten, die vor Gericht bestritten werden. Ich möchte daher die Lex Salica weder als eine Übernahme vulgarrömischer Traditionen noch als Widerspiegelung archaischer, urgermanischer Zustände bewerten, sondern vielmehr als ein neu geschaffenes, ausgeklügeltes System, welches einen öffentlichen Strafanspruch in ein System des privaten Schadensausgleichs hüllt. Diese These verlangt ein radikales Umdenken in der Bewertung der Lex Salica. IV. FAZIT Es sei zum Abschluss nicht verschwiegen, dass die These noch weiter abgesichert und an anderen Problemfällen der Lex Salica überprüft werden müsste. An der grundsätzlichen Richtung – dort Intentionalität anzunehmen, wo bisher präexistente Traditionen postuliert wurden – scheint mir aber kein Weg vorbei zu gehen.73 Das Modell der Lex Salica war meiner Ansicht nach gerade deshalb so erfolgreich, weil es die Strafinteressen des Königs so geschickt verschleierte und damit eine Möglichkeit schuf, öffentliche Interessen in private Konfliktaustragung hineinzuschleusen. Diese eigenständige Methode des fränkischen Rechtsbuchs 71 Lex Salica 50, 3 (wie Anm. 28), 194. Zum „pönalen“ Charakter vgl. auch Jürgen Weitzel, Vorverständnisse und Eckpunkte in der Diskussion um ein frühmittelalterlich-fränkisches Strafrecht, in: Franz Dorn/Jan Schröder (Hrsgg.), Festschrift für Gerd Kleinheyer zum 70. Geburtstag. Heidelberg 2001, 539–567. 72 Darauf legte insbesondere Franz Beyerle wert: Franz Beyerle, Das Entwicklungsproblem im germanischen Rechtsgang. Sühne, Rache und Preisgabe in ihrer Beziehung zum Strafprozeß der Volksrechte. (Deutschrechtliche Beiträge. Forschungen und Quellen zur Geschichte des Deutschen Rechts 10/2.) Heidelberg 1915. 73 Auch der Edictus Rothari wurde unlängst von Christoph Meyer als „Ausdruck fiktiver Mündlichkeit“ charakterisiert: Christoph H.F. Meyer, Maskierte Wahrheit als Legitimationsstrategie. Zur Rolle von Fiktionen im Übergang von der Antike zum Mittelalter, in: Annette Kehnel/Cristina Andenna (Hrsgg.), Paradoxien der Legitimation. Ergebnisse einer deutschitalienisch-französischen Villa Vigoni-Konferenz zur Macht im Mittelalter. (Micrologus’ Library 35.) Florenz 2010, 307–356.
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erklärt die Heterogenität der leges-Gattung, weil die beiden Modelle, Lex Salica und Edictum Eurici, verschiedene Wege der Errichtung einer Rechtsordnung einschlugen. Unter dieser Voraussetzung stellt sich auch die Frage nach den Intentionen der Gesetzgeber neu. Normative Anliegen treten in den Augen Wormalds, Nehlsens und vieler anderer Historiker ganz zurück hinter dem Streben nach imitatio imperii und königlicher Selbstdarstellung. Problematisch ist hieran nicht nur die Reduktion von Gesetzgebung auf herrscherliche Befehle und herrscherlichen Zwang, wie es der Gesetzestheorie eines John Austin entspricht. Die Debatten rund um das rechtsphilosophische Werk von H.L.A. Hart und Joseph Raz haben jedoch der Ansicht breite Geltung verschafft, wonach Recht primär eine Serviceleistung ist und auf Bedürfnisse der Adressaten reagiert.74 Was die Lex Salica betrifft, hatte eine Deutung entlang von Austins Gesetzestheorie von jeher wenig Erklärungspotential. Der König hat schließlich seinen Anteil an der Gesetzgebung erfolgreich verschleiert. Zur Repräsentation taugte die Lex Salica in der ursprünglichen Fassung gewiss nicht. Sie war vielmehr dazu gedacht, in einem geographisch überschaubaren Raum eine schriftliche Rechtsordnung auf der Grundlage privater Konfliktaustragung zu errichten und damit das Selbstverständnis der fränkischen Kriegerelite ernst zu nehmen. Durch die Bildung des fränkischen Großreichs um 500 wurde die Lex Salica jedoch alsbald von den politischen Ereignissen überrollt. Die weitere Geschichte des Rechtsbuchs ist Rezeption.
74 H.L.A. Hart, The Concept of Law. 2. Aufl. Oxford 1994; Joseph Raz, The Morality of Freedom. Oxford 1986; ders., Between Authority and Interpretation. Oxford 2009, 126–165.
V. LOKALE EINHEITEN: CIVITATES
DIE IBERISCHE HALBINSEL UM 500 – HERRSCHAFT „AM ENDE DER WELT“ EINE GESCHICHTE IN NEUN STÄDTEN Sabine Panzram Ihre Wertschätzung galt den Städten in und den hispanischen Provinzen selbst, die den Säulen des Herkules so nah1 und Rom so fern waren: Tarraco (Tarragona), der urbs opulentissima an der Ostküste2, wo das günstige Klima und der Boden Weine gedeihen ließen, die den ersten der Apennin-Halbinsel in nichts nachstanden und deren Hinterland qualitätvolles Leinen und Spiegelstein hervorbrachte.3 Corduba (Córdoba), das seinen Ruhm und seine Macht dem Baetis (Guadalquivir) verdankte, der sie dives und clarissima sein4 und die Provinz alle anderen an „einer gewissen fruchtbaren und eigentümlichen Schönheit“ übertreffen ließ.5 Und mithin einer Stadt, die als decus auriferae terrae bekannt war, denn flussaufwärts erstreckten sich im Norden die an Blei-, Kupfer-, Silber- und Goldminen reichen Gebirgsrücken des mons Marianus, während im Süden die überaus fruchtbaren Ländereien auffielen.6 Ihre Wertschätzung galt aber auch deren Bewohnern: den Iberern, die nicht zögerten, den römischen Lebensstil anzunehmen und bis zu einem Grade zu verinnerlichen, dass sie sich ihrer eigenen Sprache nicht mehr erinnerten. Also letztlich den togati,7 die die natürlichen Ressourcen der Iberischen Halbinsel in Zeiten der pax Romana gewinnbringend zu nutzen verstanden. Ob Mela, Plinius, Martial, Silius Italicus oder Strabo – das jeweilige Urteil über diese Region und ihre Bewohner war in der Kaiserzeit einhellig positiv. Auch das Augenmerk eines Ausonius oder Prudentius am Ende des 4. Jahrhunderts galt den Städten: Tarraco beeindruckte aufgrund seiner arx potens und Bracara (Braga) durch seinen Reichtum, doch konkurrenzlos schien allein Hispalis (Sevilla), ordnete doch ganz Hispanien dieser Stadt seine Magistrate unter.8 Denn Ausonius 1 2 3 4 5 6 7 8
Mela 3,3–5; zum fretum 1,7, den Columnae Herculis 1,27 bzw. 2,95. Mela 2,90. Plin. nat. 14,71; 19,10; 36,160. Mart. epigr. 9,61,2 bzw. Mela 2,88. Str. 3,2,1 (C 141); Plin. nat. 3,7: „Baetica, a flumine mediam secante cognominata, cunctas provinciarum diviti cultu et quodam fertili ac peculiari nitore praecedit.“ Sil. 3,401 und 16,468–470; vgl. Plin. nat. 34,4. Zur heutigen Campiña bzw. Vega: Str. 3,2,3 (C 142). Str. 3,2,15 (C 151), vgl. 3,1,6 (C 139). Auson. p. 149,81–85 (Decimi Magni Ausonii Burdigalensis opuscula. Ed. Rudolf Peiper. Leipzig 1886 [Ndr. Stuttgart 1976]).
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war in seinem Ordo urbium nobilium nicht die reale Ansicht der Städte, sondern ihre ideelle Wertigkeit von Bedeutung; ihr Rang ergab sich mithin aufgrund ihres Verhältnisses zu Rom und der Qualität ihrer imitatio. Prudentius rühmte in seiner Städteliste im 4. Hymnus des Peristephanon liber vor allen anderen Städten Caesaraugusta (Zaragoza), konnte es doch mit 18 Märtyrern aufwarten9 – und beim Gabenzug der Städte am Jüngsten Tag war der entscheidende Wertmaßstab für Präsenz und Rang einer Stadt die Zahl der Märtyrer, deren Gebeine sie dem Herrn als Geschenk darbrachte. Das Interesse des namentlich nicht bekannten Verfassers der Expositio totius mundi et gentium, der die Handelsgeographie der römischen Welt ebenfalls zu dieser Zeit verfasste, galt dagegen zuvörderst dem Land, seinen Exportgütern und exponierten Lage: „Es ist ein weites, sehr großes und reiches Land, besitzt gelehrte Männer und alle Güter und ist reich an allen Handelswaren.“10 Spania versorge „die ganze Welt“ mit Öl und Fischsauce, Pökelfleisch und Pferden, wertvollem Pfriemengras und Schiffen jedweder Art. Wenn es dennoch von vielen als „ärmlich“ angesehen werde, dann liege das allein an dem Ozean, der sich von da an erstrecke; nur seinetwegen handle es sich um eine öde Gegend – eben „das Ende der Welt“. Erst zu Beginn des 7. Jahrhunderts war es Spania in Gänze, das lobenswert schien – als „die schönste aller Landschaften, die da sind vom Sonnenuntergang bis zum Indus“, als „Königin der Provinzen“, „Zierde und Schmuck des Erdkreises“ rühmte Isidor von Sevilla das personifizierte Land aufgrund von Fruchtbarkeit, Reichtum, Schönheit in seiner Laus Spaniae zu Beginn seiner Historia Gothorum Vandalorum Sueborum, seiner Geschichte eines gotischen Spania, das siegreich aus dem Kampf mit Rom hervorgegangen war.11 Da die deskriptive Dimension derartiger Wertschätzungen, poetisch konstruierter Stadtbilder und Lobpreisungen mit den Jahrhunderten ab- und die topische gemäß dem Genre zunimmt, ist ihr Wahrheitsgehalt sekundär. Entscheidend ist dagegen die Bedeutung, die die Zeitgenossen unabhängig von ihrem jeweiligen Jahrhundert den Städten, den natürlichen Ressourcen der Iberischen Halbinsel und ihrem hohen Grad an Romanisierung respektive Christianisierung beimaßen: Denn sie verweist auf Voraussetzungen und Maßstäbe für Handeln und damit letztlich auch für Herrschaft. Und entscheidend ist ihr Schweigen im 5. und 6.
9 Prud. perist. 4. 10 Expos. mundi 59 (Expositio totius mundi et gentium. Introduction, texte critique, traduction, notes et commentaire par Jean Rougé. [Sources Chrétiennes 124.] Paris 1966, 198–200): „[...] apud multos autem debilis esse videtur. Inde Oceanum esse dicitur et huius partem quam nemo hominum narrare potest. Sed quid ibi esse potest? Est enim desertum et, sicut aiunt, est ibi finis mundi.“ Eine kommentierte deutsche Übersetzung hat Hans-Joachim Drexhage vorgelegt: Die Expositio totius mundi et gentium. Eine Handelsgeographie aus dem 4. Jh. n. Chr., in: Münsterische Beiträge zur antiken Handelsgeschichte 2.1, 1983, 3–41, hier 34–35. 11 Isid. Goth. chron. II p. 267 (Cristóbal Rodríguez Alonso, Las historias de los Godos, Vandalos y Suevos de Isidoro de Sevilla. Estudio, edición crítica y traducción. [Fuentes y estudios de historia Leonesa 13.] León 1975, 168–171). Die Übersetzung ist dem anregenden Beitrag von Mischa Meier/Steffen Patzold, Isidor von Sevilla. Vergangenheitsbewältigung eines Vertriebenen, in: dies., August 410 – Ein Kampf um Rom. Stuttgart 2010, 113–129, hier 125, entnommen.
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Jahrhundert, das es zu einer Herausforderung macht, eben diesen nachzuspüren.12 Angesichts des Einfalls von Sueben, Vandalen und Alanen im Jahre 409 ist es nachvollziehbar, denn der Versuch Roms, sich mit Hilfe der Westgoten dieser Invasion zu erwehren, war nur begrenzt erfolgreich: Einerseits konnten sie die Vandalen und Alanen vertreiben, andererseits aber nicht verhindern, dass die Sueben sich in der Gallaecia einrichteten.13 Und wie hätte Hydatius, Bischof von Aquae Flaviae (Chaves), diese Landnahme seiner Heimat anders ausdrücken sollen als in den wenigen Worten, die das Schweigen brachen – debacchantibus per Hispanias barbaris14 – und die eine Realität apokalyptischen Ausmaßes erahnen lassen? Rom griff fortan immer häufiger auf die Verbände der Westgoten zurück, die vom südlichen Gallien aus operierten. Sie standen bis 455 ausschließlich unter römischem Kommando, konnten dann aber während der Herrschaft des Goten Avitus auf dem römischen Kaiserthron ohne Kontrolle durch die Zentrale gegen die Sueben vorgehen. Solche Voraussetzungen waren nach der Ermordung des Maiorianus 461 ebenfalls gegeben: Bei seiner planmäßigen Eroberung des Landes unterstützte Eurich in einer Umkehrung des vormaligen Kräfteverhältnisses der ranghöchste römische Militär, der dux Hispaniarum Vincentius. Als sich ihm im Jahre 473 auch die Tarraconensis ergab, mit Pampilona (Pamplona) und Caesaraugusta die Städte der letzten Region, die noch Widerstand geleistet hatte,15 schied die Iberische Halbinsel faktisch aus dem römischen Reichsverband aus. Sie war nun Teil des Reiches, das der Westgote seinem Sohn nach achtzehnjähriger Amtszeit bei seinem Tode 484 hinterließ und das sich von der Straße von Gibraltar – mit Ausnahme des Nordwestens der Iberischen Halbinsel – bis zur Loire im Norden und zur Rhône im Osten erstreckerstreckte. Doch konnte Alarich II. die gallischen Gebiete nicht halten, und auch die Verstetigung der Macht auf der Iberischen Halbinsel erwies sich als 12 Der überaus fragmentarische Charakter der Überlieferung ermöglicht es kaum, die kriegerischen Auseinandersetzungen und Machtkämpfe der Magnaten bis in die 560er Jahre auch nur nachzuvollziehen. Dann gewähren zwar die Chroniken – wie jene des Isidor von Sevilla oder des Johannes von Biclaro – Einblick in die Geschichte des Westgotenreiches, aber bereits aus der Perspektive eines territorial unter Leovigild und konfessionell unter Rekkared geeinigten Reiches, zu dieser Problematik Jocelyn Nigel Hillgarth, Historiography in Visigothic Spain, in: La storiographia altomedievale. Spoleto 1969. (Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo. Settimane di Studi 17.) Spoleto 1970, 261–311. 13 Dazu und im folgenden Ana María Jiménez Garnica, Settlement of the Visigoths in the Fifth Century, in: Peter Heather (Hrsg.), The Visigoths from the Migration Period to the Seventh Century. An Ethnographic Perspective. (Studies in Historical Archaeoethnology 4.) San Marino 1999, 93–128; Herwig Wolfram: Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte des sechsten Jahrhunderts. Entwurf einer historischen Ethnographie. 4. Aufl. München 2001, hier 178– 206; Roger Collins, Visigothic Spain. 409–711, Malden (Mass.) 2004, bes. 11–63; Gerd Kampers, Geschichte der Westgoten. Paderborn et al. 2008, hier 122–134. 14 Hyd. chron. II p. 17,46 und 48 (Alain Tranoy [Ed.], Hydace. Chronique. Tome 1: Introduction, texte critique, traduction./Tome 2: Commentaire et index. [Sources Chrétiennes 218– 219.] Paris 1974, 116–177). 15 Isid. Goth. 34 chron. II p. 281: „Qui post captam Pampilonam Caesaraugustam invadit totamque Hispaniam superiorem obtinuit. Terraconensis [sic] etiam nobilitatem, quae ei repugnaverat, exercitus inruptione peremit.“
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langwieriges Unterfangen, musste er doch Ende des 5. Jahrhunderts genau dieseldieselben Regionen erneut angreifen, die sein Vater bereits erobert hatte. Immerhin war er nicht wie einer seiner Nachfolger – Agila – bei der Einnahme einer Stadt gescheitert, weil er im Zuge seines Angriffs die Grabstätte eines ihrer Märtyrer geschändet hatte (Acisclus zwang den Arianer daraufhin vor Corduba zum Abzug16) oder – Theoderich II. – weil eine sacra virgo ihren Schutz übernommen hatte (Eulalia verteidigte Augusta Emerita [Mérida]).17 Aber signifikanterweise ergab sich erst dann eine Konsolidierung der Herrschaft, als es Leovigild gelungen war, im Verlaufe eines Jahrzehnts ein territorial zusammenhängendes Königreich zu schaffen, indem er eine Stadt nach der anderen eroberte und manche – wie Corduba – auch zweimal: eine Tatsache, von der die Legende goldener Trienten (CORDOBA BIS OPTINUIT) kündet.18 Zur Herrschaftsfestigung trug die Konversion seines Sohnes Rekkared auf dem 3. Konzil von Toledo im Jahre 589, die der Problematik des Glaubensgegensatzes zwischen Arianern und Katholiken ein Ende setzte, wesentlich bei. Die Bedeutung der Städte war also ungebrochen. Es waren die Städte, gegen die die gotischen Magnaten wiederholt ihre Heere entsandten und die sie, wohl weil sie auf erheblichen lokalen Widerstand stießen, wiederholt erobern mussten. Es waren die Städte, bei deren Verteidigung laut Hydatius und Isidor Märtyrer einen spirituellen Schutz boten, der sich stets als effizienter als die realen Stadtmauern erwies. Und es waren die Städte, in denen der König selbst präsent war, auf die sich ausweislich des archäologischen Befundes offensichtlich der Nachweis gotischer Kontrolle über die hispanischen Gebiete beschränkte. In konsequenter Umsetzung des von Javier Arce angemahnten Perspektivenwechsels erfolgt die Annäherung an das 5. und 6. und mithin an die traditionell dem Frühmittelalter vorbehaltenen Jahrhunderte, die stets als Vorgeschichte der glorreichen Zeit der reges Visigothorum im 7. Jahrhundert wahrgenommen worden sind, von der römischen Kaiserzeit her.19 Die Fragen nach der Herausbil16 Isid. Goth. 45 und 46 chron. II p. 285f. 17 Hyd. chron. II p. 21,90 und p. 30,182; vgl. auch Isid. Goth. 32 chron. II p. 280. 18 Isid. Goth. 47 und 49 chron. II p. 286f. – George Carpenter Miles (Hrsg.), The Coinage of the Visigoths of Spain. Leovigild to Achila II. (Hispanic Numismatic Series 2.) New York 1952, S. 190/Nr. 30 (Corduba). 19 Mit seinen Studien über „El último siglo de la España romana (284–409)“ (3. Aufl. Madrid 1994, ursprünglich Madrid 1982) provozierte Javier Arce vor nunmehr dreißig Jahren einen Paradigmenwechsel, indem er eine von der historiographischen Überlieferung unabhängige Interpretation der archäologischen Evidenz forderte, Kontinuität statt Wandel bis zum und auch über das Jahr 409 hinaus postulierte und für eine Einordnung der hispanischen Provinzen in den Handlungszusammenhang des Imperiums plädierte. Er hob traditionelle Periodisierungen und Erklärungsschemata auf und bot erstmals eine Analyse von Transformationsprozessen bis zum Jahre 711 aus der Sicht der Alten Geschichte: „Bárbaros y romanos en Hispania (400–507 A.D.)“ (Madrid 2005) und „Esperando a los árabes. Los visigodos en Hispania (507–711)“ (Madrid 2011). Vgl. Michael Kulikowski, Wie Spanien gotisch wurde. Der Historiker und der archäologische Befund, in: Sebastian Brather (Hrsg.), Zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen. (Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde 57.) Berlin/New York 2008, 27–43.
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dung von Herrschaftsformen um 500, ihrer Organisation und Legitimation sowie den sozialen Formationen, die ihnen zugrunde lagen und die sie fortführten oder aber modifizierten, für deren Beantwortung eine Auseinandersetzung mit dem Themenkomplex „Stadt“ konstitutiv ist, verlangen somit in einem ersten Schritt eine Skizzierung der Organisation von Herrschaft in ‚Senecas Welt‘, im Corduba, wie es sich strukturell von der Zeitenwende bis zum Ende 3. Jahrhunderts darstellt. In einem zweiten Schritt werden diese Fragen in ‚Theodosius’ Welt‘ am Beispiel der Balearen, von Bracara und Tingis (Tanger) im 4. Jahrhundert in den Blick genommen. Zwar verdoppelte Diokletian im Zuge der administrativen Reorganisation des Imperiums gegen Ende des 3. Jahrhunderts die Anzahl der kaiserzeitlichen Provinzen auf der Iberischen Halbinsel und fügte ihnen den Norden Afrikas hinzu: Neben die Tarraconensis, die Baetica und die Lusitania traten die Gallaecia, die Carthaginiensis und die Mauretania Tingitana (sowie zeitweise die insulae Baleares), die er fortan von einem so genannten vicarius verwalten ließ, der in Augusta Emerita stationiert war.20 Doch änderte seine Reform nichts an der Bedeutung der Stadt als Grundfeste römischer Herrschaft: Den coloniae und municipia der frühen Kaiserzeit blieb ihr traditioneller Handlungsspielraum erhalten. Ihr jeweiliges Hinterland bestimmte die Aufteilung des Territoriums, ihre Eliten dominierten den politischen Diskurs, besetzten Schlüsselpositionen des sozioökonomischen Beziehungsgeflechts und prestigeträchtige Ämter. Wie aber gestaltete sich Herrschaft dann in der ‚Welt‘ Eurichs und Leovigilds in Tarracona, Merida und Toletum (Toledo) und also ohne die Referenz Rom (400 bis 589 n. Chr.)? Mit Blick auf Gallien hat Bernhard Jussen postuliert, dass sich in einer Zeit politischsozialer Umordnung und Desorientierung und ohne effiziente überlokale Gewalt eine neue politisch-religiöse Lokalherrschaft etabliert habe: die so genannte Bischofsherrschaft.21 Die Bischöfe gelangten zu weltlicher Herrschaft, weil sie einflussreiche Rollen in der Politik übernahmen, im Rechtswesen aktiv waren, ja sich sogar bei der militärischen Verteidigung ihrer Städte engagierten. Sie übernahmen – um die Terminologie der neueren politikwissenschaftlichen Forschung zu bemühen – „Governance-Leistungen“ wie Herrschaft, Sicherheit und Wohlfahrt in einem „Raum begrenzter Staatlichkeit“, das heißt in einer Region, in der das Zentrum seine politischen Entscheidungen nicht mehr durch-
20 Zu den Hintergründen Javier Arce, Los gobernadores de la dioecesis Hispaniarum (Siglos IVV d.C.) y la continuidad de las estructuras administrativas romanas en la Península Ibérica, in: Antiquité Tardive 7, 1999, 73–83; Francisco Javier Lomas Salmonte, El marco políticoadministrativo: de la provincia a la diócesis, in: Ramón Teja Casuso (Hrsg.), La Hispania del siglo IV. Administración, economía, sociedad, cristianización. (Munera 19.) Bari 2002, 19– 40. 21 Bernhard Jussen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und die Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘, in: Historische Zeitschrift 260, 1995, 673–718, bzw. ders., Liturgie und Legitimation, oder: Wie die Gallo-Romanen das Römische Reich beendeten, in: Reinhard Blänkner/ders. (Hrsgg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 138.) Göttingen 1998, 75–136.
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setzen kann und es an „effektiver Gebietsherrschaft“ mangelt.22 Und auf der Iberischen Halbinsel? In welchem Zeitraum, wie und mit welchen Konsequenzen gestaltet sich die „Prozedur politisch-sozialer Umordnung“ dort? Und wie stellt sich ihr Ergebnis in ‚Isidors Welt‘ (589 bis 711 n. Chr.) dar, für die insbesondere die Städte Carthago Nova (Cartagena) und Hispalis relevant waren? Wiederum als „Ordnung“ – aber auf der Grundlage von Beharrungskräften, also lediglich veränderten Vorzeichen, oder tatsächlich von Veränderungspotential? I. ‚SENECAS WELT‘ – CORDUBA VON DER ZEITENWENDE BIS ENDE DES 3. JAHRHUNDERTS Die patria Senecas, des späteren Philosophen und maßgeblichen Erzieher Neros, in der Mitte des 2. vorchristlichen Jahrhunderts am Nordufer des Baetis gegründet, erstreckte sich zur Zeit seiner Geburt (wohl im Jahre 5 oder 4 v. Chr.) über eine ummauerte Fläche von 78ha.23 Er hat sie noch als Kleinkind in der Obhut seiner Tante gen Rom verlassen,24 als die Colonia Patricia Corduba sich im Aus- und Umbau befand, da die Cordobenser sämtliche ihrer Viertel geradezu programmatisch neu und monumental gestalteten. Das Resultat war eine Vielzahl repräsentativ gestalteter Platzanlagen. Die fora wurden jeweils von Portiken eingefasst – ein Bogen bildete den Zugang – und von einem Tempel dominiert, wie im Falle des Mittelpunktes des vicus Hispanus oder des Platzes, der unmittelbar an das Forum des vicus Forensis anschließt.25 Dieses „Forum Adiec22 Die Beiträge in: Internationale Politik 60.9, 2005, bes. Thomas Risse, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit. „Failed States“ werden zum zentralen Problem der Weltpolitik, 6– 12, gewähren Einblick in die Diskussion der Thematik „Zerfallende Staaten“; zur Frage einer sinnvollen Ausweitung auf die Vormoderne s. die konstruktiven Überlegungen von Steffen Patzold, Bischöfe als Träger der politischen Ordnung des Frankenreichs im 8./9. Jahrhundert, in: Walter Pohl/Veronika Wieser (Hrsgg.), Der frühmittelalterliche Staat – europäische Perspektiven. (Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-Historische Klasse. Denkschriften 386/Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 16.) Wien 2009, 255–268. 23 Einen Überblick über die Entwicklung der Forschungen geben jeweils Robert C. Knapp, Roman Córdoba. (University of California Publications. Classical Studies 30.) Berkeley et al. 1983; Sabine Panzram, Stadtbild und Elite: Tarraco, Corduba und Augusta Emerita zwischen Republik und Spätantike. (Historia Einzelschriften 161.) Stuttgart 2002, 129–225; Xavier Dupré i Raventós (Hrsg.), Las capitales provinciales de Hispania. Vol. 1: Córdoba. Colonia Patricia Corduba. (Ciudades Romanas de Hispania 1.) Rom 2004. 24 Sen. dial. 19,2: „Illius manibus in urbem perlatus sum.“ – Gregor Maurach, Seneca. Leben und Werk. 4. Aufl. Darmstadt 2005; Manfred Fuhrmann, Seneca und Kaiser Nero. Eine Biographie. Berlin 1997. 25 Dazu und im folgenden Pilar León Alonso (Hrsg.), Colonia Patricia Corduba: una reflexión arqueológica. Coloquio internacional. Córdoba 1993. Córdoba 1996; Ángel Ventura Villanueva/Pilar León Alonso/Carlos Márquez Moreno, Roman Córdoba in the Light of Recent Archaeological Research, in: Simon Keay (Hrsg.), The Archeology of Early Roman Baetica. (JRA. Suppl. Series 29.) Portsmouth (R.I.) 1998, 87–107; Carlos Márquez Moreno, La decoración arquitectónica de Colonia Patricia. Una aproximación a la arquitectura y urbanismo de Córdoba romana. Córdoba 1998.
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tum/Novum“ verfügte zudem über eine Basilika und vermutlich noch zwei weitere Heiligtümer für den Herrscherkult. Seine Skulpturenausstattung – eine Kolossalstatue des Aeneas und elf überlebensgroße und qualitätvoll gearbeitete togati – und die Bauornamentik („templo de la c/Morería“) legen eine imitatio des Augustus-Forums in Rom nahe. Auch der so genannte „templo de la c/Claudio Marcelo“ mit seiner kalkulierten Prospektwirkung auf die Via Augusta, die ein sich parallel zur Längsachse erstreckender Circus noch verstärkt haben mag, öffnete sich zu einem Platz hin; und noch das Theater umgab ein wahres Ensemble von Plätzen.26 Corduba hatte bereits am Ende der Herrschaftszeit der julisch-claudischen Dynastie sein unverwechselbares Profil ausgebildet, das Seneca nicht mehr sehen und das sich in den folgenden Jahrhunderten nicht substantiell ändern sollte. Neben der formalen Übernahme hauptstädtischer Modelle fällt generell das Bestreben auf, den kultischen Bereich als Handlungsraum für Repräsentation zu instrumentalisieren – zu Ehren Roms und zur Selbstdarstellung: Die Bauten des städtischen wie des provinzialen Herrscherkultes, für die man in Corduba offensichtlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Platzanlagen – von Tiberius bis Nero diente der Komplex in der c/Morería zusammen mit dem extra muros gelegenen Amphitheater als Kultkomplex, ab Vespasian der „templo de la c/Claudio Marcelo“ samt Circus27 – nutzte, prägten die Silhouetten der jeweiligen Städte. Die repräsentativ gestalteten Platz- und Gartenanlagen, monumentalen Tempel und eindrucksvollen Theaterbauten füllten sich im Laufe der Jahrzehnte mit Skulpturen, Herrscherstatuen und solchen für die Angehörigen der domus divina, aber auch mit Ehrenstatuen für und Porträts von gebürtigen Hauptstädtern und Ortsfremden, die sich nur für die Dauer ihrer Amtsübernahme dort aufgehalten hatten. Zahlreiche Stiftungen und Ehrungen spiegelten den politischen Diskurs der Angehörigen der lokalen und provinzialen Elite im Medium epigraphischer Monumente.28 Sie engagierten sich durch die Übernahme von städtischen respektive 26 Dazu grundlegend Ángel Ventura Villanueva/Carlos Márquez Moreno/Antonio Monterroso Checa/Miguel Ángel Carmona Berenguer (Hrsgg.), El teatro romano de Córdoba. Córdoba 2002. 27 So jüngst Ángel Ventura Villanueva, Reflexiones sobre la arquitectura y advocación del templo de la calle Morería en el forum adiectum de Colonia Patricia Corduba, in: Trinidad Nogales Basarrate/Julián González Fernández (Hrsgg.), Culto imperial: política y poder. Congreso internacional. Mérida 2006. (Hispania Antigua. Serie Arqueológica 1.) Rom 2007, 215–237; vgl. Armin Udo Stylow, Apuntes sobre el urbanismo de la Corduba romana, in: Walter Trillmich/Paul Zanker (Hrsgg.), Stadtbild und Ideologie. Die Monumentalisierung hispanischer Städte zwischen Republik und Kaiserzeit. Internationales Kolloquium. Madrid 1987. (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Abhandlungen, Neue Folge 103.) München 1990, 259–282; Pilar León Alonso, Itinerario de monumentalización y cambio de imagen en Colonia Patricia (Córdoba), in: Archivo Español de Arqueología 72, 1999, 39–56. 28 Zu diesem Themenkomplex s. zum Beispiel die grundlegenden Beiträge in den Sammelbänden von Juan Francisco Rodríguez Neila/Francisco Javier Navarro Santana (Hrsgg.), Élites y promoción social en la Hispania romana. (Mundo Antiguo. Nueva Serie 5.) Pamplona 1999
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provinzialen Ämtern, durch beneficia in ihrer Heimatstadt – so finanzierte M. Cornelius Novatus Baebius Balbus ein Aquädukt in Igabrum (Cabra)29 oder ein Ignotus aus dem ordo equester eine Basilika in Abdera30 – oder vertraten die Interessen ihrer Provinz als Legaten in der Hauptstadt des Imperiums. An ihrem Erfolg in Repetundenverfahren gegen zwei Statthalter dürfte der Anteil von Plinius dem Jüngeren in seiner Funktion als Anwalt nicht gering gewesen sein31, aber es lässt sich auch der Einfluss der Bätiker erahnen, die als Mitglieder eines der peregrinen „Clans“ inzwischen dauerhaft in Rom präsent waren.32 Sie waren – wie Seneca – bei ihrer Ankunft bereits auf Mitglieder ihres Familienverbandes gestoßen und zogen weitere nach sich; einige hatte die ambitio hergeführt oder die Notwendigkeit eines officium publicum; andere luxuria, der Wille zur Bildung oder die Spiele; manchen auch amicitia oder aber Geschäftstüchtigkeit, wie er selbst ausführt.33 Auch nach den Jahrzehnten der so genannten „formativen Periode“34, in denen Corduba parallel zur programmatischen Neu- und Umgestaltung seines Stadtbildes so viele Ritter und Senatoren – neben den Annaei unter anderen Iunii und Dillii – wie zu keinem anderen Zeitpunkt in seiner Geschichte hervorbrachte35, sind diese erstaunlichen finanziellen Kapazitäten durchaus noch vorhanden: So nimmt L. Iunius Paulinus zur Zeit der Severer die Erlangung von städtischen Magistraturen und schließlich provinzialem Flaminat zum Anlass, diverse Spiele im Theater, Amphitheater und Circus sowie Statuenschmuck im Wert des üblichen Mindestzensus für die Erhebung in den Ritterstand zu stiften.36 Selbst im 3. und mithin dem traditionell als „krisenhaft“ bezeichneten Jahrhundert erweist sich der Drang von Angehörigen der sozialen Eliten zur Selbstdarstellung also als ungebrochen. Und wenn auch ein in den beiden Jahrhunderten zuvor nicht bekannter Lebensstil zu einer stärkeren Konzentration auf den „privaten“ Raum
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und Milagros Navarro Caballero/Ségolène Demougin (Hrsgg.), Élites hispaniques. Table ronde. Bordeaux 1998. (Ausonius. Collection Études 6.) Bordeaux 2001. CIL II2/5, 316. CIL II 1979 mit Hispania Epigraphica 2, 1990, Nr. 22. Plin. epist. 3,4; 3,9; vgl. auch 6,29 und 7,33. – Pascal Guichard, Sénat de Rome et concilium de Bétique. Les relations entre les deux assemblées de 92 à 99 ap. J.-C. à l’occasion des procès de Massa, Gallus et Classicus, in: Mélanges de la Casa de Velázquez 25, 1989, 31–54; Cristóbal González Román, El proceso de Caecilius Classicus, procónsul de la Bética, a comienzos del reinado de Trajano, in: Julián González Fernández (Hrsg.), Trajano. Emperador de Roma. (Saggi di Storia Antica 16.) Rom 2000, 179–201. Cecilia Ricci, Hispani a Roma, in: Gerión 10, 1992, 103–143. Sen. dial. 12,6,2–3; dazu David Noy, Foreigners at Rome. Citizens and Strangers. London 2000, 85–139. Diese treffende Bezeichnung geht zurück auf Greg Woolf, The Formation of Roman Provincial Cultures, in: Jeannot Metzler et al. (Hrsgg.), Integration in the Early Roman West. The Role of Culture and Ideology. International Conference. Titelberg 1993. (Dossiers d’Archéologie du Musée National d’Histoire et d’Art 4.) Luxemburg 1995, 9–18. Dazu Verf., Stadtbild und Elite: Tarraco, Corduba und Augusta Emerita (wie Anm. 23), 165– 166, 220–225 und 321. CIL II2/7, 221.
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führte37, so hatten sich die Zugehörigkeitsstrukturen und Konstituenten von Identität offensichtlich doch nicht grundlegend geändert: Elemente städtischen Selbstverständnisses wie die „Schauarchitektur“ oder die Sakralisierung der fora38 bestimmten noch im 4. Jahrhundert die Silhouette von Städten nicht nur im Range einer ehemaligen Provinz- und jetzigen Hauptstadt der dioecesis Hispaniarum wie Corduba, sondern auch eines conventus-Hauptortes wie Caesaraugusta, ja selbst eines Munizipiums wie Toletum. II. ‚THEODOSIUS’ WELT‘ – DIE INSULAE BALEARES, BRACARA UND TINGIS IM 4. JAHRHUNDERT Theodosius, natione Spanus und propagator Ecclesiae – der spätere Kaiser und Christ stammte aus dem im Nordwesten der Iberischen Halbinsel gelegenen Cauca (Coca)39, das seit den Reformen des Diokletian zur Gallaecia gehörte. Bei dieser neu geschaffenen Verwaltungseinheit handelte es sich wie auch im Falle der Mauretania Tingitana und der insulae Baleares um Regionen an der Peripherie. Die Inseln hatten diesen Status wohl nur zeitweise inne40; und tatsächlich sind Konsequenzen dieser wechselnden Zugehörigkeit für die dortige Lebenswelt – etwa wie sich die Eigenständigkeit gestaltete oder wo der praeses letztlich residierte und welcher Stadt mithin der Status einer Hauptstadt zukam – nicht fassbar. Die Städte Guius/-um, Tucis und Bocchorus (Pedret de Bóquer, Port de Pollença), aber auch Palma (Palma de Mallorca) und Pollentia (Alcudia) auf Mallorca und Iamo (Ciutadella), Sanisera (Sanitja) und Mago (Mahón) auf Menorca, in denen es sich Dank der üblichen Elemente römischer Infrastruktur und Stadtarchitektur schon seit Nero „genussreich und behaglich“ leben ließ, hatten im
37 Yizhar Hirschfeld, Habitat, in: Glen Warren Bowersock/Peter Brown/Oleg Grabar (Hrsgg.), Late Antiquity. A Guide to the Postclassical World. Cambridge (Mass.)/London 1999, 258– 272. 38 Dazu Michael Pfanner, Modelle römischer Stadtentwicklung am Beispiel Hispaniens und der westlichen Provinzen, in: Walter Trillmich/Paul Zanker (Hrsgg.), Stadtbild und Ideologie. Die Monumentalisierung hispanischer Städte zwischen Republik und Kaiserzeit. Internationales Kolloquium. Madrid 1987 (Bayerische Akademie der Wissenschaften. Philosophischhistorische Klasse. Abhandlungen, Neue Folge 103.) München 1990, 59–116. 39 Hyd. chron. II p. 14,2; Oros. hist. 7,34,3. – Javier Arce, La Hispania de Teodosio: 379–395 AD, in: Antiquité Tardive 16, 2008, 9–18; allgemein Hartmut Leppin, Theodosius der Große. Darmstadt 2003; Pierre Maraval, Théodose le Grand (379–395). Le pouvoir et la foi. Paris 2009. 40 Pol. Silv. chron. I p. 535–542, hier 538–539; Not. dign. occ. 3,5–13; 1,101–105; 11,64–71. Unter Theodosius bildeten die insulae Baleares die siebte Provinz innerhalb der dioecesis Hispaniarum; zu Zeiten Isidors von Sevilla scheinen sie dann aber wiederum zur Tarraconensis gehört zu haben, dazu Raimondo Zucca, Insulae Baliares. Le isole Baleari sotto il dominio romano. Rom 1998, bes. 139–141; Miquel Àngel Casasnovas Camps, Història de les Illes Balears. (Els Traballs i els Dies 44.) 2. Aufl. Mallorca 2007, 165–175.
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2. Jahrhundert eine regelrechte Blüte erlebt.41 Ihre sozialen Eliten waren aufgefallen, weil ihr wohl durch Handel – sowohl mit der Iberischen und der ApenninHalbinsel als auch mit Nordafrika – erworbener Reichtum es ihnen ermöglichte, städtische Ämter wie die Ädilität und den Duumvirat sogar bis zu dreimal zu bekleiden42 und in eben dieser Zeit auffallend häufig im Flaminat in Tarraco vertreten zu sein43, dem höchsten und prestigeträchtigsten Amt der Provinz Hispania Citerior: Allein das durch seine Spiegelsteinminen zu Reichtum gekommene Segobriga stellte mit fünf Amtsinhabern eine vergleichbar hohe Anzahl an provinzialen Oberpriestern.44 Im 4. Jahrhundert konzentrierte sich das Leben weiterhin in den bekannten städtischen Zentren, wenn diese ihr Territorium auch inzwischen zum Teil – wie Pollentia – reduziert hatten.45 Die Inselbewohner suchten ihre Städte offensichtlich weiterhin so effizient wie möglich und ohne Eingriffe durch Rom zu verwalten: So ist weder die Kostenübernahme für die Reparaturen eines öffentlichen Baus durch den Kaiser respektive seine Repräsentanten in der Provinz46 noch die Aktivität eines curator, wie sie in dieser Zeit Praxis wird, be-
41 Tac. ann. 13,43,5: „[...] in insulas Baleares pellitur, (…); ferebaturque copiosa et molli vita secretum illud toleravisse“. – Die Willkür der Überlieferung wirft nur Schlaglichter von sehr unterschiedlicher Intensität auf die Balearen; sie ermöglicht und rechtfertigt es aber, die Entwicklung des römischen Städtewesens in der Form nachzuzeichnen, in der sie auch vom hispanischen Festland her bekannt ist, s. Margarita Orfila Pons/Miguel Ángel Cau Ontiveros (Hrsgg.), Les ciutats romanes del llevant peninsular i les Illes Balears. Barcelona 2004; Francesca Tugores Truyol (Hrsg.), El mundo Romano en las Illes Balears. Barcelona 2005; Margarita Orfila Pons, La época romana en las islas Baleares: la documentación arqueológica, in: Desiderio Vaquerizo Gil/Juan Francisco Murillo Redondo (Hrsgg.), El concepto de lo provincial en el mundo antiguo. Homenaje a Pilar León Alonso. Vol. 1. Córdoba 2006, 201–224. 42 Zucca, Insulae Baliares (wie Anm. 40), Nr. 42. – Zur Sozialgeschichte s. Marc Mayer Olivé, Aproximació a la societat de les Illes Balears en època romana, in: Maria Carme Bosch Juan/Pere Joan Quetglas Nicolau (Hrsgg.), Mallorca i el món clássic (I). (Col·lecció Mallorca en el Món 2.) Barcelona 1991, 167–187; Enrique García Riaza/María Luisa Sánchez León, Roma y la municipalización de las Baleares. (Col·lecció 2000 i UIB 2.) Palma de Mallorca 2000, bes. 175–209; Verf., Kleine Geschichte der Balearen, in: Klio, 95, 2013, 5–39. 43 CIL II2/14, 1140; 1118; 1127; Géza Alföldy (Hrsg.), Die Römischen Inschriften von Tarraco. 2 Bde. (Madrider Forschungen 10.) Berlin 1975, Nr. 338 (= RIT); CIL II2/14, 1149. 44 CIL II2/14, 1144; 1142; 1112; CIL II 4252 mit 3119 sowie Juan Manuel Abascal Palazón/Martín Almagro-Gorbea/José Miguel Noguera Celdrán/Rosario Cebrián Fernández, Segobriga. Culto imperial en una ciudad romana de la Celtiberia, in: Trinidad Nogales Basarrate/Julián González Fernández (Hrsgg.), Culto imperial: política y poder. Congreso internacional. Mérida 2006. (Hispania Antigua. Serie Arqueológica 1.) Rom 2007, 685–704. 45 Margarita Orfila Pons/Mateu Riera Rullan/Miguel Ángel Cau Ontiveros/Antonio Arribas Palau, Aproximación a la topografía tardía de Pollentia (Mallorca): construcciones defensivas, in: V Reunió d’arqueologia cristiana hispànica. Cartagena 1998. (Monografies de la Secció Històrica-Arqueològica 7.) Barcelona 2000, 229–235. 46 So hatten Diokletian und Maximian zum Beispiel in Tarraco den Bau einer Portikus initiiert (CIL II2/14, 931; vgl. 868) oder zeichneten in Augusta Emerita der comes Tiberius Claudius Laetus und der prases Julius Saturninus gemeinsam für die Wiederinstandsetzung des Circus verantwortlich (André Chastagnol, Les inscriptions constantiniennes du cirque de Mérida, in: MEFRA 88.1, 1976, 259–276).
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kannt.47 Auch setzte sich die Tendenz zur „Elitenbildung“ innerhalb der Elite dieser grundsätzlich „offenen Gesellschaften“48 fort, da die wirtschaftliche Prosperität offenbar unvermindert anhielt. Sie ermöglichte den Angehörigen der provinzialen Elite jedoch nicht den Aufstieg in die Reichsaristokratie: Ritter oder Senatoren balearischer Provenienz waren in Rom nicht vertreten. Anders dagegen Bracara. Für die ex novo-Gründung des Augustus, zwischen Minius (Miño) und Durius (Duero), nahe der Küste des Atlantischen Meeres inmitten fruchtbaren Landes und unweit der Region der Goldminen gelegen, setzte infolge der Ernennung zur Hauptstadt der Gallaecia eine Phase reger Bautätigkeit ein. Ein erster Bauschub im Zuge der Erhebung in den Rang eines Munizipiums unter den Flaviern hatte zu einer Monumentalisierung des Zentrums der Stadt geführt, die sich schließlich über eine Fläche von rund 45 bis 50 Hektar erstreckte und deren Manufakturen nicht nur für das Hinterland, sondern auch für ein über die Provinzgrenzen hinausgehendes Netzwerk an Händlern produzierten.49 Der zweite, den die Privilegierung des ehemaligen conventus-Hauptortes motivierte, implizierte eine geradezu programmatische Neugestaltung und Vergrößerung öffentlicher (Termas do Alto da Cividade) und privater Bauten (Casa da Roda; Infantaria de Braga; Carvalheiras)50 – und den Bau einer Stadtmauer: In einer Breite von etwa 5 bis 6m und in einer Höhe von wahrscheinlich 12m fassten fortan mächtige Mauern – wohl wie in Lucus Augusti (Lugo) mit halbrunden Türmen durchsetzt – die Stadt (48ha) ein.51 Da sie gegen Ende des 3. und zu Beginn des 4.
47 Dazu Wilhelm Liebenam, Curator rei publicae, in: Philologus 56, 1897, 289–325; Friedrich Vittinghoff, Epilog: Zur Entwicklung der städtischen Selbstverwaltung – Einige kritische Anmerkungen, in: Ders. (Hrsg.), Stadt und Herrschaft. Römische Kaiserzeit und Hohes Mittelalter. (Historische Zeitschrift. Beiheft 7.) München 1982, 107–164. 48 Géza Alföldy, Drei städtische Eliten im römischen Hispanien, in: Gerión 2, 1984, 193–238, hier 201 bzw. 219. 49 Eine fundierte Zusammenfassung bietet Maria Manuela Martins, Bracara Augusta. A Roman Town in the Atlantic Area, in: Lorenzo Abad Casal/Simon Keay/Sebastián F. Ramallo Asensio (Hrsgg.), Early Roman Towns in Hispania Tarraconensis. (JRA. Suppl. 62.) Portsmouth (R.I.) 2006, 213–222; Dies./Helena Paula Abreu de Carvalho, Bracara Augusta and the Changing Rural Landscape, in: Cristina Corsi/Frank Vermeulen (Hrsgg.), Changing Landscapes. The Impact of Roman Towns in the Western Mediterranean. International Colloquium. Castelo de Vide – Marvão 2008. Bologna 2010, 281–298. 50 Maria Manuela Martins, Bracara Augusta, capital da Gallaecia meridional: História, urbanismo e arquitectura, in: Antonio Rodríguez Colmenero (Hrsg.), Los orígenes de la ciudad en el noroeste hispánico. Congreso internacional. Lugo 1996. Vol. 2. Lugo 1998, 735–749; Dies., Arquitectura pública em Bracara Augusta: a evolução das termas do Alto da Cividade, in: Claudine Auliard/Lydie Bodion (Hrsgg.), Au jardin des Hespérides. Histoire, société et épigraphie des mondes anciens. Mélanges offerts à Alain Tranoy. Rennes 2004, 457–478; zu diesem Befund pointiert Robert Portass, Re-Evaluating the Iberian North-West in Late Antiquity, in: Denis Sami/Gavin Speed (Hrsgg.), Debating Urbanism Within and Beyond the Walls A.D. 300–700. International Conference. Leicester 2008. (Leicester Archaeology Monographs 17.) Leicester 2010, 111–138. 51 Francisco Sande Lemos/José Manuel de Freitas Leite/Armandino Cunha, A muralha romana (Baixo-Império) de Bracara Augusta, in: Antonio Rodríguez Colmenero/Isabel Rodà de Llan-
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Jahrhunderts entstanden und mithin in einer Zeit, in der in dieser Region sicherheitspolitische Gründe nicht ausschlaggebend gewesen sein können, suchte Bracara wohl demonstrativ seinen Status zur Schau zu stellen. In Anbetracht der Dimensionen des Projektes scheint eine finanzielle Beteiligung Roms wahrscheinlich; die Stadt und den conventus hatten in den ersten drei nachchristlichen Jahrhunderten soziale Eliten charakterisiert, die insofern konventionell agierten, als sie sich im munizipalen und provinzialen Kaiserkult engagierten52 und ihre Karrieren sie zielgerichtet bis nach Rom führen konnten.53 Die Tatsache, dass mit Theodosius im 4. Jahrhundert einer der ihren das Imperium beherrschte, hätte diese geographische und soziale Mobilität befördern und eine höhere Anzahl von Hispaniern in entscheidende Verwaltungsämter gelangen lassen können: Doch haben prosopographische Studien wahrscheinlich gemacht, dass Hispanier, wenn sie verantwortungsvolle Positionen bekleideten, diese bereits innehatten, bevor Theodosius Kaiser wurde, sich also kein „clan hispano“ am Hof etablierte.54 Die Stadtanlagen erstaunen insofern, als sie der Religion, die seit Beginn des 4. Jahrhunderts durch ‚Orthodoxe‘ und ‚Häretiker‘, in Form von Synoden und Gesetzestexten präsent war und die Theodosius gegen Ende des 4. Jahrhunderts qua Edikt durchsetzen sollte, offenbar keinen Raum gewährten.55 Baulich hatte sich also der mentale und soziopolitische Wandel noch nicht manifestiert, den die Konzilsakten von Elvira (Granada) vom Beginn des 4. Jahrhunderts (zwischen
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za (Hrsgg.), Murallas de ciudades romanas en el Occidente del imperio. Lucus Augusti como paradigma. Congreso internacional. Lugo 2005. Lugo 2007, 327–341. RIT 256; 299; 266; 279; 307; 308; 323; 324; zur gesellschaftlichen Entwicklung nach wie vor grundlegend Alain Tranoy, La Galice Romaine. Recherches sur le nord-ouest de la péninsule ibérique dans l’Antiquité. (Publications du Centre Pierre Paris 7/Collection de la Maison des Pays Ibériques 7.) Paris 1981, bes. 308–384. RIT 261; 144: Die Herkunft des clarissimus vir M. Licinius Ovinianus (?) Aemilianus aus dem conventus Bracaraugustanus ist jedoch nicht gesichert. So noch André Piganiol, L’empire chrétien (325–395). 2. Aufl. Paris 1972, 238; Karl Friedrich Stroheker, Spanische Senatoren der spätrömischen und westgotischen Zeit, in: MDAI(M) 4, 1963, 107–132; vgl. John Frederick Matthews, Western Aristocracies and Imperial Court. A.D. 364–425. Oxford 1975, 107–172; s. jetzt dagegen Gonzalo Bravo Castañeda, Prosopographia theodosiana (I): En torno al llamado „clan hispano“, in: Gerión 14, 1996, 381–398; ders., Prosopographia theodosiana (II): El presunto „clan hispano“ a la luz del análisis prosopográfico, in: Ramón Teja Casuso/Cesáreo Pérez González (Hrsgg.), La Hispania de Teodosio. Congreso internacional. Segovia-Coca 1995. Vol. 1. Salamanca 1997, 21–30. Cod. Theod. 16,1,2; 16,10,12. – Noé Villaverda Vega, Expansió del monoteisme bíblic a les Balears, in: Victor Manuel Guerrero Ayuso (Hrsg.), Història de les Illes Balears. Vol. 1: De la Prehistòria i l’Antiguitat al Món Islàmic. (edicions 62.) Barcelona 2004, 412–425; Tranoy, La Galice Romaine (wie Anm. 52), 423–434; Jorge López Quiroga/Mónica Rodríguez Lovelle, Topographie et christianisation urbaine dans le nord-ouest de la Péninsule Ibérique durant l’Antiquité Tardive (IVe-VIIe s.), in: Reinhardt Harreither/Philippe Pergola/Renate Pillinger/Anadreas Pülz (Hrsgg.), XIV. Internationaler Kongress für Christliche Archäologie. Wien 1999. Vol. 1: Frühes Christentum zwischen Rom und Konstantinopel. (Studi di Antichità Cristiana. Pontificio Istituto di Archeologia Cristiana 62/Österreichische Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse. Archäologische Forschungen 14.) Città del Vaticano/Wien 2006, 915–921.
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306 und 314) nahe legen: Die 19 Bischöfe, die dort zusammengekommen waren, suchten sich dem Problem der „convivencia“ mit Paganen und Juden, die die städtischen Lebenswelten jedoch offensichtlich bereits prägte,56 dahingehend zu stellen, dass sie Laien und Kleriker hinsichtlich ihrer Lebensführung und der Einhaltung der Rituale rigoros disziplinierten. Die Selbst- und Sozialdisziplinierung zeitigte im Laufe des Jahrhunderts zumindest offenbar insofern Erfolg, als die nächste überregionale Zusammenkunft am 4. Oktober des Jahres 380 in Caesaraugusta die Auseinandersetzung mit den Lehren Priscillians, die als Häresie galten, dominierte.57 Es gelang den Bischöfen jedoch nicht, die Spannungen im hispanischen Episkopat zu überwinden, und so sahen sie sich gezwungen, am 11. September 400 erneut, und zwar diesmal in Toletum, zusammenzutreten.58 Auch hier fehlte – wie schon in Elvira und in Caesaraugusta – das subscripsi der kirchlichen Würdenträger von den Balearen, aus Bracara oder Tingis.59 Diese Tatsache erstaunt in Bezug auf Tingis, die geostrategisch günstig gelegene See-, Handels- und ehemalige Hauptstadt der Mauretania Tingitana.60 Auch hier ist eine Christianisierung der städtischen Topographie noch nicht fassbar und im Bereich des Forums (Zoco Chico) verweisen weiterhin epigraphische Monumente auf die Verehrung des Herrscherhauses und die damit einhergehenden kultischen Praktiken.61 Extra muros, nordwestlich der Stadtmauern, bestatteten je56 Peter Brown, Conversion and Christianization in Late Antique: The Case of Augustine, in: Carole Straw/Richard Lim (Hrsgg.), The Past before Us. The Challenge of Historiographies of Late Antiquity. (Bibliothèque de l’Antiquité Tardive 6.) Turnhout 2004, 103–117. 57 Giullermo Fatás Cabeza (Hrsg.), I Concilio Caesaraugustano. MDC Aniversario. Zaragoza 1981. – Henry Chadwick, Priscillian of Avila. The Occult and the Charismatic in the Early Church. Oxford 1976; Virginia Burrus, The Making of a Heretic: Gender, Authority and the Priscillianist Controversy. (The Transformation of the Classical Heritage 24.) Berkeley et al. 1995. 58 José Orlandis Rovira/Domingo Ramos-Lissón, Die Synoden auf der Iberischen Halbinsel bis zum Einbruch des Islam (711). (Konziliengeschichte: Reihe A, Darstellungen.) Paderborn et al. 1981; Andreas Weckwerth, Das erste Konzil von Toledo. Ein philologischer und kirchenhistorischer Kommentar zur Constitutio Concilii. (Jahrbuch für Antike und Christentum. Ergänzungsband. Kleine Reihe 1.) Münster 2004. 59 Die Zitation erfolgt nach der ersten philologisch-kritischen Ausgabe von Gonzalo Martínez Díez/Félix Rodríguez (Eds.), La Colección Cánonica Hispana. Vol. 4: Concilios Galos. Concilios Hispanos. Primera Parte. (Monumenta Hispaniae Sacra. Serie Canónica 4.) Madrid 1984, 233–268, hier 239–240 (Elvira); 291–296, hier 292 (Caesaraugusta); 323–344, hier 326–327 (Toletum), die diejenige von Joannes Dominicus Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio, Graz 1960, Vol. 2: 1–396, hier 5 (Elvira); Vol. 3: 633–640, hier 636 (Caesaraugusta); Vol. 3: 997–1014, hier 1002 (Toletum) [Ndr. 2. Aufl. Paris 1901] langfristig gesehen ersetzen soll. 60 Grundlegend Michel Ponsich, Tanger antique, in: Hildegard Temporini (Hrsg.), Provinzen und Randvölker: Afrika mit Ägypten (Forts.). (Aufstieg und Niedergang der Römischen Welt. II.: Principat 10.2: Politische Geschichte.) Berlin/New York 1982, 787–816; Noé Villaverde Vega, Tingitana en la Antigüedad Tardía (siglos III-VII). Autoctonía y romanidad en el extremo occidente mediterráneo. (Publicaciones del Gabinete de Antigüedades de la Real Academia de la Historia. Biblotheca Archaeologica Hispana 11.) Madrid 2001. 61 Jacques Gascou (Hrsg.), Inscriptions Antiques du Maroc. Vol. 2: Inscriptions latines. Paris 1982, Nr. 1 und 4 sowie 2 und 7 (= IAMlat); vgl. José Antonio Delgado Delgado, Élites y or-
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doch bereits vereinzelt Mitglieder der christlichen Gemeinde ihre Angehörigen – wie Aurelia Sabina, ancilla/Cresti, verstorben im Jahre 34562 –, und zwar in einem offenbar für sie gesondert ausgewiesenen Bereich einer Nekropole (Marshan – Paseo del Dr. Cenarro), die noch auf vorrömische Zeiten zurückging und seit jeher wohlhabenden sozialen Gruppierungen vorbehalten gewesen war.63 Und südwestlich, etwa 700m vom Stadttor entfernt und inmitten der Nekropole gelegen, die à la longue die Verbindungsstraßen zum Hinterland gleichsam einschließen sollte (Camino de San Francisco), erhob sich wohl bereits eine fünfschiffige Basilika (Lalla Shafia/Rue de Belgique).64 Möglicherweise lässt sich ihr Bau mit Cassianus in Verbindung bringen, der Prudentius zufolge in Tingis das Martyrium erlitt; und auch für einen gewissen Marcellus, Zenturio der römischen Armee, der sich geweigert hatte, am Geburtstag des Kaisers den paganen Göttern zu huldigen, war die Stadt schon im Jahre 298 zum Todesort geworden.65 Ab welchem Zeitpunkt sich die Gläubigen in Tingis organisiert hatten, die Größe oder Sozialstruktur der Gemeinde und auch die Namen ihrer Amtsinhaber entziehen sich unserer Kenntnis – so, wie sich die Existenz der sozialen Eliten für die Kaiserzeit, ihr Handlungsrahmen und ihr Gestaltungswille, zwar postulieren, aber nicht fassen lässt.66
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ganización de la religión en las provincias romanas de la Bética y las Mauritanias: sacerdotes y sacerdocios. (BAR. International Series 724.) Oxford 1998, bes. 87–90. IAMlat Nr. 16, s. auch Nr. 21. So Noé Villaverde Vega/Jesús Zan López, Cristianización y propaganda episcopal durante el Bajo Imperio Romano en Tingi (Tánger, Marruecos), in: Luis Agustín García Moreno/María Elvira Gil Egea/Sebastián Rascón Marqués (Hrsgg.), Santos, obispos y reliquias. III Encuentro Internacional „Hispania en la Antiguedad tardía“. Alcalá de Henares 1998. (Acta Antiqua Complutensia 3.) Alcalá de Henares 2003, 391–401. Dazu Maurice Euzennat, Les édifices du culte chrétiens en Maurétanie Tingitane, in: Antiquités Africaines 8, 1974, 175–190, bes. 187–190; vgl. Michel Ponsich, Réflexions sur le christianisme en Tingitane, in: Spania. Estudis d’Antiguitat Tardana oferts en homenatge al professor Pere de Palol i Salellas. (Publicacions de l’Abadia de Montserrat. Sèrie Il·lustrada 12.) Barcelona 1996, 193–199; Villaverde Vega, Tingitana en la Antigüedad Tardía (wie Anm. 60), bes. 326–332. Prud. perist. 4,45–48; Hippolyte Delehaye, Les Actes de S. Marcel le Centurion, in: Analecta Bollandiana 41, 1923, 257–287. Tingis hat – im Unterschied zum Beispiel zu den Städten der Africa Proconsularis – keine Ritter oder Senatoren hervorgebracht; vgl. Richard Duncan-Jones, Equestrian Rank in the Cities of the African Provinces under the Principate: An Epigraphic Survey, in: PBSR 35, 1967, 147–188; Mireille Corbier, Les familles clarissimes d’Afrique proconsulaire (Ier–IIIe siècle), in: Epigrafia e ordine senatorio. Colloquio AIEGL. Roma 1981. Vol. 2. (Tituli 5.) Rom 1982, 685–754.
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III. DIE ‚WELT‘ EURICHS UND LEOVIGILDS – MERIDA, TARRACONA UND TOLETUM (400 BIS 589 N. CHR.) Merida, die ehemalige Hauptstadt der Provinz und der Diözese beider Spanien, hatte der Suebe Rechila nach seinem Einzug 439 zur Hauptstadt seines Reiches erhoben.67 Da Eurichs Expansionsdrang, nachdem er Rom das Vertragsverhältnis einmal aufgekündigt hatte, keine Grenzen kannte, fiel er auch in die Lusitania ein.68 Sein Angriff zog die Hauptstadt in Mitleidenschaft; offenbar schützten die Reliquien der Heiligen Eulalia, Patronin und sacra virgo, seit sie dort zu Beginn des 4. Jahrhunderts das Martyrium erlitten hatte, ihre Stadt dieses Mal – anders als noch bei der Plünderungen des Westgoten Theoderich II. in den fünfziger Jahren69 – nicht. Die Folgen sind erheblich. Die Stadt, deren Silhouette sich seit dem Ende der Herrschaftszeit des Claudius, also in den ersten vier nachchristlichen Jahrhunderten offensichtlich nur geringfügig geändert hatte, in der weder die „Invasionen“ der Mauri noch die so genannte „Krise des 3. Jahrhunderts“ Spuren hinterlassen hatten und lediglich Ausbesserungsarbeiten vonnöten gewesen waren (zum Beispiel in den Spielstätten) oder vereinzelt Bauten (wie ein Mars geweihtes Heiligtum) den Prospekt ergänzt hatten, diese Stadt wies jetzt nicht nur aufgelassene Bereiche (beispielsweise die fora), sondern auch zerstörte, niedergebrannte, ja verwüstete auf – das Wohnviertel in unmittelbarer Nähe der Stadtmauern (Morería), die Mauern selbst und die Brücke über den Ana, landwirtschaftliche Nutzbauten in Flussnähe und selbst die Nekropole an der memoria der Heiligen Eulalia.70 Merida bzw. die Provinz unterstand nun einem von Eurich eingesetzten dux. Mit der lokalen Elite führte er offenbar, nachdem er den Widerstand militärisch niedergeschlagen hatte, einen Ausgleich herbei. So rührte er weder an die Besitzverhältnisse des provinzialen Adels noch an den Glauben der nun von ihm – dem Arianer – beherrschten Katholiken. Als erster Herrscher überhaupt sorgte er – wie Isidor betont71 – für eine Verschriftlichung der Gesetze und ihre Ordnung 67 Chron. Gall. Chron. I p. 664f., 651f.; Hyd. chron. II p. 23,119: „Rechila rex Suevorum Emeritam ingreditur.“ 68 Isid. Goth. 34 chron. II p. 281: „Aera DIIII, anno imperii Leonis VIII, Euricus pari scelere, quo frater, succedit in regnum annis XVIII. In quo honore provectus et crimine statim bello desaevit partesque Lusitaniae depraedatur.“ 69 Prud. perist. 3,6–10, vgl. 186–202 und perist. 4,37–40; Hyd. chron. II p. 21,90 sowie p. 30,182; s. auch Isid. Goth. 32 chron. II p. 280. 70 Zur Geschichte der Stadt allgemein s. zum Beispiel Xavier Dupré Raventós (Hrsg.), Las capitales provinciales de Hispania. Vol. 2: Mérida. Colonia Augusta Emerita. (Ciudades Romanas de Hispania 2.) Rom 2004 und zur Spätantike insbesondere: Pedro Mateos Cruz/Miguel Alba Calzado, De Emerita Augusta a Marida, in: Luis Caballero Zoreda/Pedro Mateos Cruz (Hrsgg.), Visigodos y Omeyas. Un debate entre la Antigüedad Tardía y la Alta Edad Media. (Anejos de Archivo Español de Arqueología 23.) Madrid 2000, 143–168; Miguel Alba Calzado/Pedro Mateos Cruz, El paisaje urbano de Emerita en época visigoda, in: Lauro Olmo Enciso (Hrsg.), Recópolis y la ciudad en la época visigoda. (Zona Arqueológica 9.) Alcalà de Henares 2008, 260–273. 71 Isid. Goth. 35 chron. II p. 281; dazu und generell zu Eurich Karl Friedrich Stroheker, Eurich, König der Westgoten, Stuttgart 1937; Wolfram, Die Goten. Von den Anfängen bis zur Mitte
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nach Sachzusammenhängen wie Land- oder Familienrecht; der Codex Euricianus regelte unter starkem Rückgriff auf römisches Recht nicht nur die Rechtsbeziehungen der Goten untereinander, sondern auch zu den Romanen, die insofern entscheidend waren, als dass die rund 130.000 Westgoten nie mehr als nur einen geringen Bruchteil der Bevölkerung – etwa sieben bis zwölf Millionen Romanen – stellen sollten.72 So zeichneten für die Wiederherstellung sowohl der Brücke über den Ana als auch der Mauern der Stadt im Jahre 483 gemeinsam – bewegt durch ihre patrie amor und mit der Intention, eine urbs Augusta felix mansura p(er) s(e)c(u)la longa zu schaffen – der Emeritenser Bischof Zenon und der dux Salla verantwortlich, der hispanoromanische Metropolit und der gotische Magnat mithin, militärischer Befehlshaber und höchste Aufsichtsinstanz für Verwaltung und Rechtswesen einer Provinz.73 Weitere Maßnahmen von seiner Seite oder der auf ihn folgenden duces entziehen sich unserer Kenntnis. Extra muros, nördlich der Stadt, in der Nähe des so genannten Camino de la Plata, hatte die Bautätigkeit der Bischöfe dagegen zu diesem Zeitpunkt bereits zur Errichtung einer Basilika für die Märtyrerin Eulalia geführt.74 Unmittelbar neben der Kirche nahmen die Emeritenser Bestattungen ad sanctam vor75 und errichteten ein Kloster. Östlich der Stadt war ein xenodochium entstanden.76 Innerhalb der Stadt schloss sich dagegen im Süden der Bischofspalast an die Kirche Sancta Iherusalen (heutige Kathedrale Sta. María) an und bildete zusammen mit einem Baptisterium einen monumentalen Komplex.
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des sechsten Jahrhunderts (wie Anm. 13), 223–239; Collins, Visigothic Spain. 409–711 (wie Anm. 13), 197–206; s. auch Knut Schäferdiek, Die Kirche in den Reichen der Westgoten und Suewen bis zur Errichtung der westgotischen katholischen Staatskirche. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 39.) Berlin 1967, bes. 13–31. Die Kalkulation beruht auf einer Auswertung der vor allem auf den Hochebenen zwischen Ebro und Tajo gelegenen Gräberfelder, dazu Gisela Ripoll López, The Arrival of the Visigoths in Hispania: Population Problems and the Process of Acculturation, in: Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hrsgg.), Strategies of Distinction. The Construction of Ethnic Communities. 300–800. (The Transformation of the Roman World 2.) Leiden et al. 1998, 153– 187. José Luis Ramírez Sádaba/Pedro Mateos Cruz, Catálogo de las inscripciones cristianas de Mérida. (Cuadernos Emeritenses 16.) Mérida 2000, Nr. 10. Pedro Mateos Cruz, La basílica de Santa Eulalia de Mérida. Arqueología y urbanismo. (Anejos de Archivo Español de Arqueología 19.) Madrid 1999; Juana Márquez, Los suburbios de Augusta Emerita en perspectiva diacrónica, in: Desiderio Vaquerizo Gil (Hrsg.), Las áreas suburbanas en la Ciudad Histórica. Topografía, usos, función. (Monografías de Arqueología Cordobesa 18.) Córdoba 2010, 135–152. Ramírez Sádaba/Mateos Cruz, Catálogo de las inscripciones cristianas (wie Anm. 73), Nr. 14, 27, 31, 34, 37, 43, 58, 60, 107–137, 166, 192. Dazu Pedro Mateos Cruz, Identificación del xenodochium fundado por Masona en Mérida, in: IV Reunió d’Arqueologia Cristiana Hispànica. Lisboa 1992. (Monografies de la Secció Històrica-Arqueològica 4.) Barcelona 1995, 309–316, bzw. allgemein zu den baulichen Aktivitäten der Kirche ders., Augusta Emerita, de capital de la dioecesis Hispaniarum a sede temporal visigoda, in: Gisela Ripoll López/Josep Maria Gurt i Esparraguera (Hrsgg.), Sedes Regiae (ann. 400–800). Barcelona 2000, 491–520, hier 502–517.
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Zenon ist der vorerst letzte Bischof in einer Liste von Amtsträgern, die auf die Mitte des 3. Jahrhunderts zurückgehen.77 So hatte Patruinus (ca. 385 bis ca. 402 n. Chr.)78 am 11. September 400 in ecclesia Toleto [sic] gegen den Priscillianismus gezeichnet.79 Ihm war ein gewisser Gregor (ca. 402 n. Chr.),80 dessen Name einem Schreiben von Innozenz I. (401? bis 417 n. Chr.) zu entnehmen ist, gefolgt81; über die bloße Erwähnung in diesem Brief des Papstes hinausgehende Informationen sind uns jedoch nicht überliefert. Antoninus (ca. 445 bis ca. 448 n. Chr.)82 erfährt im Jahre 445 von der „Entdeckung“ einiger Manichäer in Astorga.83 Drei Jahre nach diesem Vorfall verbannt er einen aus Rom stammenden Manichäer namens Pascentius, der von Astorga nach Emerita geflohen war, aus der Provinz und setzt damit offensichtlich eine Anordnung von Papst Leo I. (440 bis 461 n. Chr.) um, in den Provinzen gegen diese Häretiker vorzugehen.84 Auf Zenon folgt eine Lücke von beinahe einhundert Jahren, die ein Anonymus aus den dreißiger Jahren des 7. Jahrhunderts mit Hilfe einer hagiographischen Schrift, den Vitas Sanctorum Patrum Emeretensium85, zu füllen suchte. Er fingierte – aus theologischen wie aus politischen Gründen – zwei Bischofsviten, um seinen Metropolitansitz insbesondere gegenüber Toletum in einer historischen Perspektive präsentieren zu können86 und schloss jene des Masona an (ca. 573 bis ca. 606 n. Chr.).87 77 Gegen Enrique Flórez, Iglesia de Lusitania y su metrópoli Mérida. Ed. Rafael Lazcano. (España Sagrada. Theatro Geographico-Historico de la Iglesia de España 13.) 4. Aufl. Madrid 2004, 225–227 [ursprünglich Madrid 1756], und Pius Bonifacius Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1: Hierarchia catholica Pio IX. Pontifice Romano. Graz 1957, S. 51/Nr. 14 [Ndr. Regensburg 1873–1886]: ca. 687 n. Chr., deren Angaben auf einer Datierung in die Zeit des westgotischen Königs Ervig (680–687) basieren. Einen Überblick über die Geschichte und den aktuellen Stand der Forschung bietet das Diskussionsforum in: Pyrenae 39.2, 2008, und zwar bes. die Beiträge von Javier Arce, La inscripción del puente de Mérida de época del rey Eurico (483 d.C.), 121–126, und Manuel Koch, Nunc tempore potentis Getarum Eurici regis. El impacto visigodo en Hispania a través de la inscripción del puente de Mérida (483 n. Chr.), 137–142. 78 Flórez, Iglesia de Lusitania y su metrópoli Mérida (wie Anm. 77), 169–172; Gams; Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 51/Nr. 14. 79 Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 4 (wie Anm. 59), 323–344, hier 326; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 3 (wie Anm. 59), 997–1014. – Hyd. chron. II p. 16,31. 80 Flórez, Iglesia de Lusitania y su metrópoli Mérida (wie Anm. 77), 172–174; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 51/Nr. 14. 81 Philipp Jaffé (Ed.), Regesta Pontificum Romanorum. Bearbeitet von Samuel Loewenfeld, Ferdinand Kaltenbrunner, Paul Ewald. 2 Vols. Graz 1956, c. 404: 292 (89) epist. 3,5 [Ndr. 2. Aufl. Leipzig 1885]; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 3 (wie Anm. 59), 1066–1071, hier 1068. 82 Flórez, Iglesia de Lusitania y su metrópoli Mérida (wie Anm. 77), 174–178; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 51/Nr. 14. 83 Hyd. chron. II p. 24,130. 84 Hyd. chron. II p. 25,138 bzw. p. 24,133. 85 Antonio Maya Sánchez (Ed.), Vitas Sanctorum Patrum Emeretensium. (Corpus Christianorum. Series Latina 116.) Turnhout 1992. 86 Dazu ausführlich Verf., Mérida contra Toledo, Eulalia contra Leocadia: listados „falsificados“ de obispos como medio de autorepresentación municipal, in: Alfonso García/Ricardo Izquier-
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Dieser zeichnete auf dem 3. Toletanum als erster Prälat nach dem König und vor den vier anderen Metropoliten Euphemius von Toletum, Leander von Hispalis, Migetius von Narbona (Narbonne) und Pantardus von Bracara88; noch acht Jahre später ist er auf einer Synode in Toletum präsent.89 Johannes von Biclaro, der als Zeitgenosse, Abt und Bischof eine Chronik der Jahre 567 bis 590 n. Chr. verfasste, galt er als angesehener Repräsentant des Katholizismus.90 Außer den Namen der Bischöfe, die auf ihre Einbindung in Entscheidungsprozesse verweisen, sind kaum Informationen überliefert, die ihre Wahrnehmung als Amtsinhaber ermöglichen und insofern bieten die Vitas eine hervorragende Ergänzung, gewähren sie doch Einblick in christliches Leben, wie es in jener Zeit nicht nur in Merida stattgefunden haben dürfte: Sie berichten von der Feier der Heiligen Messe, den Prozessionen an Ostern, dem adventus des Bischofs; von Gläubigen, die beten, singen, akklamieren; von Armen, Kranken, Witwen, Waisen, Pilgern, die geheilt und versorgt werden, für die gesorgt wird; von einem Bischof, der Schulden erlässt, Wein, Öl und Honig verschenkt, der Kirchen und Klöster baut und mit wechselndem Erfolg Auseinandersetzungen wegen der Reliquie seines Bistums führt, um sich der weltlichen Gewalt gegenüber zu behaupten. Die Bischöfe betätigten sich also nicht nur als spirituelle Führer, sondern mittels ihrer caritas offenbar auch als weltliche Patrone ihrer Gemeindemitglieder.91 In der Tarraconensis hatte der Adel der Provinz erfolglos versucht, Eurich – das heißt seinen Befehlshabern Heldefredus und dem dux Hispaniarum Vincenti-
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do Benito/Lauro Olmo Enciso/Diego Peris Sánchez (Hrsgg.), Espacios Urbanos en el Occidente Mediterráneo (S. VI-VIII). Congreso Internacional. Toledo 2009. Toledo 2010, 123– 130. Flórez, Iglesia de Lusitania y su metrópoli Mérida (wie Anm. 77), 186–209; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 51/Nr. 14; Luis Agustín García Moreno, Prosopografía del reino visigodo de Toledo. Salamanca 1974, Nr. 435. Gonzalo Martínez Díez/Félix Rodríguez (Eds.), La Colección Cánonica Hispana. Vol. 5: Concilios Hispanos. Segunda Parte. (Monumenta Hispaniae Sacra. Serie Canónica 5.) Madrid 1992, 49–159, hier 139; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 9 (wie Anm. 59), 977–1010, hier 1000. Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 10 (wie Anm. 59), 477–480, hier 478; José Vives, Concilios visigóticos e hispano-romanos. (España Cristiana 1.) Barcelona/Madrid 1963, 156–157. Ioh. Bicl. chron. II p. 213,8 (Victoris Tunnunensis Chronicon cum reliquiis ex Consularibus aesaraugustanis et Iohannis Biclarensis Chronicon. Ed. Carmen Cardelle de Hartmann. [Corpus Christianorum. Series Latina 173a.] Turnhout 2001, 65,30). Dazu Roger Collins, Mérida and Toledo: 550–585, in: Edward James (Hrsg.), Visigothic Spain: New Approaches. Oxford 1980, 189–219; Dionisio Pérez Sánchez, Sociedad y relaciones de dependencia en la Lusitania tardorromana y visigoda, in: Jean-Gérard Gorges/Manuel Salinas de Frías (Hrsgg.), Les campagnes de Lusitanie romaine. Occupation du sol et habitats. Table ronde internationale. Salamanque 1993. (Collection de la Casa de Velázquez 47.) Madrid/Salamanca 1994, 311–318, bes. 314–318; Ian Nicholas Wood, Social Relations in the Visigothic Kingdom from the Fifth to the Seventh Century: The Example of Mérida, in: Peter Heather (Hrsg.), The Visigoths from the Migration Period to the Seventh Century. An Ethnographic Perspective. (Studies in Historical Archaeoethnology 4.) San Marino 1999, 191–223, hier 193–206.
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us – Widerstand zu leisten, doch die letzten Städte der Region mussten sich im Jahre 473 ergeben.92 Die Konsequenzen dieser Handlungsweise für die Hauptstadt Tarraco, die noch kurz zuvor den Kaisern Leo und Anthemius ein epigraphisches Monument gesetzt hatte93, entziehen sich unserer Kenntnis. Dieses Zeichen der Anerkennung Roms hatten die Tarraconenser an dem Ort platziert, an dem es seit Jahrhunderten Praxis war: auf der obersten Terrasse ihrer arx, die seit dem Ende des ersten nachchristlichen Jahrhunderts als monumentaler Komplex fungierte, der auf drei Terrassen die Bauten des concilium provinciae Hispaniae citerioris – Kultbezirk, Repräsentationsplatz und Circus – beherbergte, erweitert um das in unmittelbarer Nähe liegende Amphitheater.94 Weder in diesem noch in dem anderen Bereich der seit Abschluss der Arbeiten quasi zweigeteilten Stadt, der den genuin städtischen Teil mit Forum, Theater und Wohnbezirken umfasste, zeichnen sich Brandschatzungen oder Zerstörungen ab. Die Stadtmauern blieben unversehrt.95 Signifikante Transformationen des städtischen Raumes rührten vielmehr zum einen von der Aufgabe öffentlicher Bauten wie des Theaters, des städtischen Forums und der Wohngebiete respektive von ihrer Umnutzung her – die mittlere Terrasse der arx sowie Teile des Circus-Geländes dienten nun als Wohnraum.96 Zum anderen gehen sie auf die Aktivitäten der Bischöfe zurück, die seit Beginn des 5. Jahrhunderts zu fassen sind: Dann ersetzt in der frühchristlichen Nekropole im suburbium (Conjunt Paleocristià del Francolí) eine Basilika mit Baptisterium die memoria für den Bischof Fructuosus und seine beiden Diakone Augurius und Eulogius, die im Jahre 259 das Martyrium im Amphitheater erlitten hatten.97 Diesen Komplex ergänzte in einer Entfernung von nur etwa 130m in 92 Isid. Goth. 34 chron. II p. 281. – Francisco José Gómez Fernández, Tarraco en el siglo V d.C. Morfologia y vitalidad urbana, in: Hispania Antiqua 25, 2001, 371–391; Ramón Járrega Domínguez, Fortificaciones y hechos bélicos en el este de la tarraconense durante los siglos IV y V, in: Luis Agustín García Moreno/Sebastián Rascón Marqués (Hrsgg.), Guerra y rebelión en la Antigüedad tardía. El siglo VII en España y su contexto mediterráneo. IV y V encuentros internacionales „Hispania en la Antigüedad tardía“. Alcalá de Henares 1999 y 2000. (Acta Antiqua Complutensia 5.) Alcalá de Henares 2005, 31–46; Josep Maria Macias Solé, Tarracona visigoda. Una ciudad en declive?, in: Lauro Olmo Enciso (Hrsg.), Recópolis y la ciudad en la época visigoda. (Zona Arqueológica 9.) Alcalà de Henares 2008, 292–301. 93 RIT 100. 94 Repräsentativ für den aktuellen Forschungsstand Xavier Dupré Raventos (Hrsg.), Las capitales provinciales de Hispania. Bd. 3: Tarragona. Colonia Iulia Urbs Triumphalis Tarraco. (Ciudades Romanas de Hispania 3.) Rom 2004. 95 Joaquín Ruiz de Arbulo Bayona, Las murallas de Tarraco de la fortaleza romano-republicana a la ciudad tardo-antigua, in: Antonio Rodríguez Colmenero/Isabel Rodà de Llanza (Hrsgg.), Murallas de ciudades romanas en el Occidente del imperio. Lucus Augusti como paradigma. Congreso internacional. Lugo 2005. Lugo 2007, 567–592. 96 Einen fundierten Überblick bieten Ricardo Mar Medina/José Javier Guidi-Sánchez, Formación y usos del espacio urbano tardoantiguo en Tarraco, in: Alfonso García/Ricardo Izquierdo Benito/Lauro Olmo Enciso/Diego Peris Sánchez (Hrsgg.), Espacios Urbanos en el Occidente Mediterráneo (S. VI-VIII). Congreso Internacional. Toledo 2009. Toledo 2010, 173–182. 97 Prud. perist. 6; Aug. serm. 273 (= Migne 38, 1247–1252); RIT 942; 1010. – Jordi López Vilar, El santuari paleocristià dels sants màrtirs Fructuós, Auguri i Eulogi en el suburbi de Tàrraco, in: Josep Maria Gavaldà Ribot/Andreu Muñoz Melgar/Armand Puig i Tàrrech
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Richtung Norden – neben einem Mausoleum, einer domus und landwirtschaftlichen Nutzbauten – eine weitere Basilika mit Bestattungen, an die sich möglicherweise noch ein Kloster anschloss.98 Gegen Ende des Jahrhunderts lässt die Nutzung dieses Areals mit schließlich rund 3000 Bestattungen nach, unter denen sich beispielsweise auch ein im Jahr 459 verstorbener vir honoratus und Christ wie Aventinus befand99; die Tarraconenser betteten ihre Toten nun vorzugsweise auf der Südseite der arx zur letzten Ruhe, 650m nordwestlich der Stadtmauern (Mas Rimbau).100 Und gegen Ende des 6. Jahrhunderts errichteten die Christen Tarracos im Amphitheater und damit – der passio Sanctorum Martyrum Fructuosi Episcopi, Auguri et Eulogi Diaconorum zufolge – am Ort des Martyriums eine dreischiffige Säulenbasilika.101 Mit dem Neubau, den vielleicht die häufigen Überschwemmungen des Tulcis (Francolí) notwendig hatten werden lassen, mag auch eine translatio der Reliquien einhergegangen sein.102 Bereits im Laufe dieses Jahrhunderts veranlassten die Bischöfe den Bau jeweils einer Kirche auf dem einstigen Repräsentationsplatz des Provinziallandtages103 und im ehemaligen Kultbezirk der arx, und zwar an der Stelle, an der sich einst der Tempel des Augustus befunden haben soll – ebendort erhob sich jetzt die Kirche Sancta Iherusalem. Auf der obersten Terrasse entstand zudem direkt an der äußeren Mauer auf der Ostseite des Kultbezirkes ein Bischofspalast.
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(Hrsgg.), Pau, Fructuós i el cristianisme primitiu a Tarragona (Segles I-VIII). Congrés internacional. Tarragona 2008. (Biblioteca Tàrraco d’Arqueologia 6.) Tarragona 2010, 351–379. Dazu Jordi López Vilar, Les basíliques paleocristianes del suburbi occidental de Tarraco. El temple septentrional i el complex martirial de Sant Fructuós. 2 Vols. (Sèrie Documenta 4.) Tarragona 2006. RIT 946; dazu Stroheker, Spanische Senatoren der spätrömischen und westgotischen Zeit (wie Anm. 54), 123. Judit Ciurana i Prats/Josep Maria Macias Solé, La ciudad extensa: usos y paisajes suburbanos de Tarraco, in: Desiderio Vaquerizo Gil (Hrsg.), Las áreas suburbanas en la Ciudad Histórica. Topografía, usos, función. (Monografías de Arqueología Cordobesa 18.) Córdoba 2010, 309–334. Fructuos. 3,1 (Herbert Musurillo [Hrsg.], The Acts of the Christian Martyrs. Introduction, Texts and Translations. Oxford 1972, 176–185): „Et cum duceretur Fructuosus cum diaconibus suis ad amphitheatrum, (…)“. – Einen Überblick über die Forschungsgeschichte bietet Andreu Muñoz Melgar, La memòria de sant Fructuós en la basílica de l’amfiteatre de Tàrraco, in: Josep Maria Gavaldà Ribot/Andreu Muñoz Melgar/Armand Puig i Tàrrech (Hrsgg.), Pau, Fructuós i el cristianisme primitiu a Tarragona (Segles I-VIII). Congrés internacional. Tarragona 2008. (Biblioteca Tàrraco d’Arqueologia 6.) Tarragona 2010, 381–396. Diese Vermutung äußert Achim Arbeiter, Topografía cristiana en Tarragona según las fuentes antiguas, in: Josep Maria Gavaldà Ribot/Andreu Muñoz Melgar/Armand Puig i Tàrrech (Hrsgg.), Pau, Fructuós i el cristianisme primitiu a Tarragona (wie Anm. 97), 463–489. Dazu und im folgenden Xavier Aquilué, La sede del Col·legi d’Arquitectes. Una intervención arqueológica en el centro histórico de Tarragona, Tarragona 1993 bzw. pointiert Simon Keay, Tarraco in Late Antiquity, in: Neil Christie/Simon T. Loseby (Hrsgg.), Towns in Transition. Urban Evolution in Late Antiquity and the Early Middle Ages. Aldershot 1996, 18–44, und jüngst Jordina Sales Carbonell, Arqueologia de les seus episcopals tardoantigues al territori català (259–713). Barcelona 2011, bes. 88–96.
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Inhaber des Amtes ist in den Jahrzehnten zwischen 400 und 589 Hilarius (ca. 400 bis ca. 405? n. Chr.),104 der Tarraco möglicherweise bereits auf dem 1. Konzil von Toledo vertreten hatte105; jedenfalls findet ein gleichnamiger Bischof von Tarraco in einem Brief von Innozenz I. Erwähnung, in dem dieser unter anderen Belangen die Ordination des Bischofs Minicius in Gerunda (Girona) thematisierte, die den canones von Nizäa diametral entgegenstand.106 Ihm folgt Titianus (ca. 418 bis ? n. Chr.), welcher aus dem Briefwechsel des Consentius von Menorca mit Augustinus im Jahre 418/419 bekannt ist; der allem Anschein nach sehr an dogmatischen Fragen des Christentums interessierte Laie berichtet dem nordafrikanischen Bischof und Kirchenvater von einem Konzil zur Problematik des Priscillianismus, das in Tarraco unter dem Vorsitz von Titianum (…) id est metropolitanum episcopum stattgefunden habe.107 Auch ein gewisser Optimus (ca. 1. Viertel 5. Jahrhundert n. Chr.) war in diesen Jahren aller Wahrscheinlichkeit nach als Bischof tätig; das Grabmosaik zeigt ihn in eine weiße Toga gekleidet, in der linken Hand eine Schriftrolle, die rechte im Sprachgestus vor der Brust erhoben.108 Ascanius (ca. 465 bis ? n. Chr.)109 hatte den Episkopat auf jeden Fall bereits im Jahre 465 inne, dieses Datum trägt nämlich ein von ihm an Papst Hilarus im Namen aller Bischöfe der Provinz Tarraconensis gerichtetes Schreiben, in dem er unter anderem von einem gewissen Silvanus – Bischof von Calaguris (Calahorra) – berichtet, der bereits zum wiederholten Male eine Ordination gegen den Willen des Volkes vorgenommen hatte. Also fragte Ascanius in Rom an, was nun zu tun 104 Weder Enrique Flórez, Iglesia de Tarragona. Ed. Rafael Lazcano. (España Sagrada. Theatro Geographico-Historico de la Iglesia de España 25.) 3. Aufl. Madrid 2007, 17–94 [ursprünglich Madrid 1770] noch Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 76–77/Nr. 48 führen Hilarius in ihren Bischofslisten Tarracos; vgl. jetzt auch Meritxell Pérez Martínez, Tarraco en la antigüedad tardía. Cristianización y organización eclesiástica (siglos III a VIII), Tarragona 2012, 439–445. Eine umfassende Diskussion der einzelnen Kandidaten bietet die Verfasserin im Rahmen ihrer Habilitationsschrift „Christentum ohne Kirche. Zur Genese einer Institution in der dioecesis Hispaniarum (4.–7. Jahrhundert)“ (in Druckvorbereitung). 105 Dort ist ein Bischof mit diesem Namen vertreten; da die jeweiligen Amtsträger aber ohne die Angabe ihrer Sitze zeichnen, muss die Zuordnung hypothetisch bleiben: Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 4 (wie Anm. 59), 323–344, hier 326; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 3 (wie Anm. 59), 997–1014, hier 1002. 106 Jaffé, Regesta Pontificum Romanorum (wie Anm. 81), c. 404: 292 (89) epist. 3,2–4; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 3 (wie Anm. 59), 1066–1071, hier 1067–1068. 107 Aug. epist. Divj. 11,2; 11,7; dazu Josep Amengual i Batle, Noves fonts per a la història de les Balears dins el Baix Imperi, in: Bolletí de la Societat Arqueològica Lul·liana. Revista d’Història, Arqueologia i Lul·lisme 37, 1979–1980, 99–111. 108 RIT 937; dazu Helmut Schlunk/Theodor Hauschild, Hispania Antiqua. Die Denkmäler der frühchristlichen und westgotischen Zeit. Mainz 1978, 136–137. Vgl. auch das Grabmosaik des Ampelius: RIT 954; dazu Schlunk/Hauschild, Denkmäler der frühchristlichen und westgotischen Zeit, 135–136. 109 Flórez, Iglesia de Tarragona (wie Anm. 104), 47–61; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 76–77/Nr. 48.
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sei. Da er keine Antwort erhielt, schrieb er erneut und bat Hilarus gleichzeitig, die Nachfolge des Iraeneus auf dem Bischofstuhl von Barcino (Barcelona), die dessen Vorgänger Nundiarius per Testament verfügt hatte, zu bestätigen.110 Die Antwortschreiben des Papstes waren geharnischt: Niemand dürfe ohne Kenntnis und Zustimmung des Metropoliten zum Bischof geweiht werden und die Bischofswürde sei mitnichten als erbliches Recht anzusehen, hieß es unter anderem aus Rom.111 In die Zeit des Episkopats des Johannes (ca. 469/470 bis ca. 519/520 n. Chr.)112, das er ausweislich seiner Grabinschrift 50 Jahre innehatte, fallen das 1. – durch Akten belegbare – Konzil von Tarragona im Jahre 516, dem er vorstand, und ein weiteres in Gerunda (Girona), das im folgenden Jahr stattfand113; er verstarb wohl 519 oder 520 im Alter von 80 Jahren.114 Sein Nachfolger Sergius (ca. 519/520 bis ca. 554/555 n. Chr.)115 hatte das Amt 35 Jahre inne; er führte den Vorsitz im Konzil von Barcelona im Jahre 540 und war auch sechs Jahre später in Ilerda (Lérida) präsent.116 Ein gewisser Tranquilinus (ca. 560 n. Chr.) war Mönch im Kloster des Heiligen Victorianus (San Victorián de Asán/Huesca) gewesen, bevor er zum Archiepiscopus Tarraconensis gewählt wurde.117 Zur Zeit des 3. Konzils von Toledo 110 Jaffé, Regesta Pontificum Romanorum (wie Anm. 81), c. 465: 560 (335); 561 (336); Andreas Thiel (Ed.), Epistolae Romanorum Pontificum genuinae et quae ad eos scriptae sunt a S. Hilaro usque ad Pelagium II. Fasc. 1, Braunsberg 1867–1868, Nr. 13 und 14/S. 155–158 [Ndr. Hildesheim/New York 1974]; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 7 (wie Anm. 59), 962–964. 111 Jaffé, Regesta Pontificum Romanorum (wie Anm. 81), c. 465: 560 (335); 561 (336); Thiel, Epistolae Romanorum Pontificum genuinae (wie Anm. 110), Nr. 16 und 17/S. 165–170; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 7 (wie Anm. 59), 967–968. 112 Flórez, Iglesia de Tarragona (wie Anm. 104), 61–72; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 76–77/Nr. 48; Gerd Kampers, Personengeschichtliche Studien zum Westgotenreich in Spanien. (Spanische Forschungen der Görresgesellschaft. 2. Reihe 17.) Münster 1979, Nr. 102. 113 Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 4 (wie Anm. 59), 269–281, hier 280 (Tarraco), bzw. 283–290, hier 290 (Gerunda); Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 8 (wie Anm. 59), 539–546, hier 543 (Tarraco), bzw. 547–554, hier 550 (Gerunda). 114 RIT 938, Zeile 11–13: „Denis (a)equo libram tibus lustris/rector doctor(que) pr(a)efuisti monacis et populis/octiens denos vita p(er)agens feliciter annos.“ 115 RIT 939; Flórez, Iglesia de Tarragona (wie Anm. 104), 72–75; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 76–77/Nr. 48; Kampers, Personengeschichtliche Studien zum Westgotenreich (wie Anm. 112), Nr. 103. 116 Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 9 (wie Anm. 59), 109–112, hier 109 (Barcino), Ilerda ist nicht verzeichnet; Vives, Concilios visigóticos e hispanoromanos (Anm. 89), 53 (Barcino), bzw. 55–60, hier 60 (Ilerda). 117 Flórez, Iglesia de Tarragona (wie Anm. 104), 75–79, und Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 76–77/Nr. 48, geben als Vorgänger noch Agnellus – vielleicht am 26. Juni 556 n. Chr. verstorben – und als Nachfolger einen gewissen Falvax (?), der möglicherweise am 5. August 578 n. Chr. verstarb, an. Allein Tranquilinus findet jedoch Erwähnung in der schriftlichen Überlieferung, und zwar in der Vita Sancti Victoriani (Acta Sanctorum quotquot toto orbe coluntur, vel a catholicis scriptoribus celebrantur, quae ex antiquis monumentis, Latinis et Graecis, aliarumque gentium collegit, digessit, notis illustravit Ioannes Bollandus, Societatis Jesu Theologus, Servata primigenia Scriptorum phrasi. Operam
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hatte Artemius (ca. 589 bis ca. 592 n. Chr.)118 den Episkopat inne; dort selbst ließ er sich durch einen Presbyter namens Stephanus vertreten119, während er auf dem 2. Konzil von Zaragoza im Jahre 592 den Vorsitz führte und auch in die Abfassung des Fisco Barcinonensi involviert war. Die Bischöfe suchten mittels dieser epistula die Besteuerung in der Tarraconensis auf eine neue Grundlage zu stellen – und ergriffen damit eine Maßnahme, die zeigt, bis zu welchem Grade sie bereits in die administrativen Belange des Westgotenreiches involviert waren.120 Das Toletum, in das sich die Bischöfe nun also aus Anlass der Konzilien begaben, das sich durch seine geringe Größe von nur etwa fünf Hektar, die Felsformationen und den Tagus (Tajo), den es umgab, hervorragend verteidigen ließ, das geostrategisch günstig lag, weil sich hier die entscheidenden Straßen für die Verbindung von Norden nach Süden und von Nordosten nach Südwesten kreuzten (Barcino, Caesaraugusta, Hispalis und Merida verbindend) und mithin gut kontrollieren ließen, und das wirtschaftlich gesehen eben diese Lage – wie die Landwirtschaft und die Transhumanz121 – für den überregionalen Handel zu nutzen verstand: Dieses Toletum ist hinsichtlich seiner Urbanistik und architektonischen Ausstattung beinahe gänzlich unbekannt. Bekannt sind allein die Kirchen, in denen die jeweiligen Toletana stattfanden: die extra muros (Vega Baja) gelegene Basilika der Leokadia (heute Cristo de la Vega), die der Emeritenser Eulalia folgend das Martyrium erlitten hatte122 und die Kirche der Apostel Petrus und Paulus – auch als ecclesia Praetoriensis bezeichnet123 –, an die sich in der ersten Hälfte
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et studium contulit Godefridus Henschenius eiusdem Societatis Theologus. Ianuarii tomus primus. Antwerpiae 1643, 738–743, hier 741, III 20). Flórez, Iglesia de Tarragona (wie Anm. 104), 79–82; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 76–77/Nr. 48. Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 5 (wie Anm. 88), 49–159, hier 147; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 9 (wie Anm. 59), 977–1010, hier 1002. Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 10 (wie Anm. 59), 471–472, hier 472, bzw. 473–474; Vives, Concilios visigóticos e hispano-romanos (Anm. 89), 154–155, hier 154 und 54. – Manuel Maria Fuentes i Gasó, Els concilis provincials hispano-romans i visigòtics de Tarragona (segles IV-VII). Notes per al seu estudi, in: Josep Maria Gavaldà Ribot/Andreu Muñoz Melgar/Armand Puig i Tàrrech (Hrsgg.), Pau, Fructuós i el cristianisme primitiu a Tarragona (wie Anm. 97), 491–518. Dazu Isaac Sastre de Diego, Las ciudades del centro de la Península Ibérica y el Sistema Central en la Antiguedad Tardía y la Alta Edad Media, in: Hortus Artium Medievalium 12, 2006, 69–90. Ángel Fábrega Grau, Pasionario Hispánico (Siglos VII-XI). Vol. 1: Estudios. (Monumenta Hispaniae Sacra. Serie Litúrgica 6.) Madrid/Barcelona 1953, 67–78, bzw. Ángel Fábrega Grau, Pasionario Hispánico (Siglos VII-XI). Vol. 2: Texto. (Monumenta Hispaniae Sacra. Serie Litúrgica 6.) Madrid/Barcelona 1955, 65–67; vgl. Pilar Riesco Chueca, Pasionario Hispánico. Introducción, edición crítica, traducción. Sevilla 1995, 41–47. Gonzalo Martínez Díez/Félix Rodríguez (Eds.), La Colección Cánonica Hispana. Vol. 6: Concilios Hispánicos. Tercera Parte. (Monumenta Hispaniae Sacra. Serie Canónica 6.) Madrid 2002, 291–344, hier 291; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 12 (wie Anm. 59), 7–26, hier 7. Hier sollten die Konzilien in der zweiten Hälfte des 7. Jahrhunderts – nämlich das 8., 12., 13., 15. und 16. Toletanum – vorwiegend tagen.
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des 7. Jahrhunderts das Palatium und das Prätorium anschließen sollten. Dann urbanisierten zudem Wohnbauten das suburbium,124 während intra muros, in Toletana urbe, neben einer der Gottesmutter Maria geweihten Basilika (heutige Kathedrale) der Bischofspalast entstand.125 Möglicherweise orientierte man sich bei diesen Um- und Ausbauten an Komplexen, wie sie in Rom und Konstantinopel zu finden waren, gestaltete die Stadt also im Stile einer aemulatio imperii.126 Es war Leovigild, der diese Stadt, die schon seinem Vorgänger Athanagild als Residenz gedient hatte, zur civitas regia machte127, zum Sitz des königlichen Hofes und der Verwaltung seines Reiches. Damit hatte dieses nach Jahrzehnten, in denen Städte wie Narbona, Barcino und Merida zeitweise die Funktionen der aula regia und des officium palatinum wahrgenommen hatten, erstmals wieder eine Hauptstadt, wie es einst Tolosa (Toulouse) gewesen war. Das hatten die Franken nach der Schlacht von Vouillé (bei Poitiers) im Jahre 507 eingenommen, so dass den Westgoten allein der schmale Küstenstreifen bis Arelate (Arles) geblieben war; Chlodwig selbst hatte angeblich seinerzeit Alarich II. auf der Flucht erschlagen. Nach den jahrzehntelangen Machtkämpfen der gotischen Magnaten um den Thron – ein Chronist wie Fredegar sprach mit Blick auf diese Herrschaftsform lakonisch vom morbus Gothorum128 – war Leovigild 568/569 von seinem Bruder 124 Zu den Resultaten der letzten Kampagnen in der Vega Baja insbesondere Lauro Olmo Enciso, Ciudad y estado en época visigoda: Toledo, la construcción de un nuevo paisaje urbano, in: Alfonso García/Ricardo Izquierdo Benito/Lauro Olmo Enciso/Diego Peris Sánchez (Hrsgg.), Espacios Urbanos en el Occidente Mediterráneo (S. VI-VIII). Congreso Internacional. Toledo 2009. Toledo 2010, 87–111; vgl. allgemein Rafael Barroso Cabrera/Jorge Morín de Pablos, La civitas regia Toletana en el contexto de la Hispania de la séptima centuria, in: Jesús Carrobles Santos/Rafael Barroso Cabrera/Jorge Morín de Pablos/Fernando Valdés Fernández (Hrsgg.), Regia sedes toletana. Vol. 1: La topografia de la ciudad de Toledo en la Antigüedad tardia y alta Edad Media. Toledo 2007, 97–161. 125 Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 5 (wie Anm. 88), 487–514, hier 487–488; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 11 (wie Anm. 59), 23–32, hier 25. 126 Dazu María Isabel Velázquez Soriano/Gisela Ripoll López, Toletum, la construcción de una urbs regia, in: Gisela Ripoll López/Josep Maria Gurt i Esparraguera (Hrsgg.), Sedes Regiae (ann. 400–800). Barcelona 2000, 521–578. 127 Diese Bezeichnung findet sich zum ersten Mal in den Akten des 3. Toletanum: Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 5 (wie Anm. 88), 49–159, hier 50; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 9 (wie Anm. 59), 977–1010, hier 977; s. auch Jesús Carrobles Santos, Toledo 284–546. Los orígenes de la capitalidad visigoda, in: Jesús Carrobles Santos/Rafael Barroso Cabrera/Jorge Morín de Pablos/Fernando Valdés Fernández (Hrsgg.), Regia sedes toletana. Vol. 1: La topografia de la ciudad de Toledo en la Antigüedad tardia y alta Edad Media. Toledo 2007, 45–92. 128 Fred. chron. 3,42 (Herwig Wolfram [Ed.], Quellen zur Geschichte des 7. und 8. Jahrhunderts. Die vier Bücher der Chroniken des sogenannten Fredegar [Buch 2, Kapitel 53 bis Buch 4, unwesentlich gekürzt]. Die Fortsetzungen der Chroniken des sogenannten Fredegar. Das Buch von der Geschichte der Franken [unwesentlich gekürzt]. Das alte Leben Lebuins [Auswahl]. Jonas erstes Buch vom Leben Columbans, Darmstadt 1982, 120 bzw. 256): „Gothi vero iam olim habent vicium, cum rex eis non placeat, ab ipsis interficetur; 4,82: „Cumque omnem regnum Spaniae suae dicione firmassit, cognetus morbum Gothorum, quem de regebus degradandum habebant, unde sepius cum ipsis in consilio fuerat, [...]“.
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Liuva zum Mitregenten erhoben worden. Seit 571/572 herrschte er allein – ein herausragender Heerführer, dessen Sieghaftigkeit, die ihn deutlich von den militärischen Misserfolgen seiner Vorgänger abhob, zum Signum seiner Herrschaftszeit wurde. Er konsolidierte das regnum zunächst territorial und verlieh der diskreditierten Monarchie dann neue auctoritas.129 Bis 577/578 hatte er sich der byzantinischen Besatzung entledigt, die 552 in Carthago Nova und Malaca (Málaga) an Land gegangen war, weil Athanagild, der eine Rebellion der katholischen Opposition gegen den Arianer Agila initiiert hatte, Justinian um Hilfe gebeten hatte.130 Als mit Corduba und Hispalis der größte Teil der Baetica wenn nicht gar zum Herrschafts-, so doch zumindest zum Einflussbereich Ostroms gehörte, hatte Athanagild sich gegen seine bisherigen Verbündeten gewandt, seine Bemühungen waren jedoch erfolglos geblieben. Leovigild stellte also die provincia Gothorum in ihren alten Grenzen wieder her; da ihr einstiges Territorium sich auch pro rebellione diversorum verringert hatte, ging er offensichtlich zudem mit Entschiedenheit gegen Herrschaftsbildungen des lokalen und regionalen Adels – so genannte „Tyrannen“ – zum Beispiel in Kantabrien, der Orospeda (Quellgebiet des Guadalquivir) und Sabaria (Landschaft im Gebiet Salamanca/Zamora) vor.131 Als Zeichen seiner Sieghaftigkeit über die Kontingente Ostroms respektive Kantabrer und Basken gründete er die Städte Reccopolis (Zorita de los Canes/Guadalajara) – benannt nach seinem jüngeren Sohn – im Zentrum und Victorianum (Vitoria) im Nordwesten der Iberischen Halbinsel.132 Nachfolgend suchte er seine Herrschaft insofern zu konsolidieren, als er generell für eine Vergrößerung des Wohlstandes sorgte, und mit seiner Neukodifikation des westgotischen Rechts, der Antiqua, auf eine Gleichstellung von Westgoten und Hispanoromanen zielte, indem er beispielsweise das Eheverbot aufhob.133 Die Angehörigen der Aristokratie strafte er im Falle „übermäßigen adeligen und mächtigen“ Auftretens durch die Konfiskati-
129 Isid. Goth. 49–51 chron. II p. 287–288. – Dazu und im folgenden Karl-Friedrich Stroheker, Leowigild, in: Ders., Germanentum und Spätantike, Zürich/Stuttgart 1965, 134–191; Dietrich Claude, Adel, Kirche und Königtum im Westgotenreich, Sigmaringen 1971, 55–91; Collins, Visigothic Spain. 409–711 (wie Anm. 13), 50–63. 130 Dazu Gisela Ripoll López, On the Supposed Frontier between the regnum Visigothorum and Byzantine Hispania, in: Walter Pohl/Ian Nicholas Wood/Helmut Reimitz (Hrsgg.), The Transformation of Frontiers. From Late Antiquity to the Carolingians. (The Transformation of the Roman World 10.) Leiden et al. 2001, 95–115. 131 Isid. Goth. 49 und 51 chron. II p. 287–288; Ioh. Bicl. chron. II p. 212,4 (61,10): „[...] Leovigildus (…) provinciam Gothorum, que iam pro rebellione diversorum fuerat diminuta, mirabiliter ad pristinos revocat terminos“; 215,4 (70,50): „Leovigildus rex, extinctis undique tirannis et persuasoribus Ispanie superatis, sortitus requiem propriam cum plebe resedit [...]“. 132 Isid. Goth. 51 chron. II p. 288; Ioh. Bicl. chron. II p. 215,4 (70,50) und 216,3 (72,60). Zum Privileg der Städtegründung, das grundsätzlich dem Kaiser vorbehalten war und der Tradition der conditores urbium Augustus, Trajan, Hadrian, Konstantin und Justinian, in die Leovigild sich damit stellte, s. Javier Arce, La fundación de nuevas ciudades en el Imperio romanao tardío. De Diocleciano a Justiniano (s. IV–VI), in: Gisela Ripoll López/Josep Maria Gurt i Esparraguera (Hrsgg.), Sedes Regiae (ann. 400–800), Barcelona 2000, 31–62. 133 Isid. Goth. 51 chron. II p. 288.
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on ihres Vermögens und Exil oder mit dem Tod.134 Leovigilds strikt hierarchische Auffassung von Herrschaft spiegelten auch die Insignien Thron und Königsornat, die er offensichtlich einführte, denn vor ihm, so Isidor, habe der König die gleiche Kleidung getragen und die gleiche Sitzgelegenheit genutzt wie das übrige Volk; dieses Hofzeremoniell gilt ebenso wie seine Münzprägung – war er doch auch der erste Westgotenkönig, der Goldmünzen mit seinem Bild samt Umschrift prägen ließ135 – als paradigmatisch für seine „Imperialisierung des westgotischen Königtums“.136 Hinsichtlich seiner Nachfolge griff er auf Athanagilds Praxis zurück und ernannte seine beiden Söhne Hermenegild und Rekkared im Jahre 573 zu Mitregenten (consortes regni).137 Als sein Erstgeborener unter dem Einfluss seiner Gemahlin Ingunde, einer Fränkin, und Leanders, des späteren Bischofs von Hispalis, zum Katholizismus konvertierte, und von Hispalis aus gegen ihn rebellierte, suchte er zunächst die Vermittlung: Da er offensichtlich beanspruchen konnte, in Glaubensfragen als oberste Instanz zu entscheiden, berief Leovigild 580 ein arianisches Konzil in Toletum ein, auf dem er sich um eine Annäherung an und im Prinzip Vereinheitlichung mit der katholischen Mehrheit bemühte; ihr sollte der Übertritt entscheidend erleichtert werden.138 Sie schlug fehl, und zwei Jahre später sah er sich gezwungen, gegen den eigenen Sohn zu Felde zu ziehen. Hermenegild aber konnten weder Leander, der in Konstantinopel persönlich um Beistand vorgesprochen hatte, noch die Unterstützung der Sueben oder die Verwandtschaft Ingundes helfen: Er sah sich schließlich zur Kapitulation gezwungen und wurde 585 durch Sisbert in Tarracona hingerichtet.139 Nach dem Tode Leovigilds übernahm Rekkared 586 die Herrschaft; dass er bereits im zehnten Monat nach Übernahme der 134 Isid. Goth. 51 chron. II p. 288: „Extitit autem et quibusdam suorum perniciosus, nam vi cupiditatis et livoris quosque potentes ut vidit, aut capite damnavit aut opibus ablatis proscripsit.“ 135 Miles, The Coinage of the Visigoths of Spain (wie Anm. 18), S. 186–187/Nr. 23–25 (Reccopolis); S. 190/Nr. 30 (Corduba); S. 191–192/Nr. 31–33 (Hispalis); S. 194–197/Nr. 38–41 (Merida). 136 Isid. Goth. 51 chron. II p. 288: „(…) primusque inter suos regali veste opertus solio resedit, nam ante eum et habitus et consessus communis ut genti, ita et regibus erat“. Dazu kritisch Javier Arce, Leovigildus rex y el ceremonial de la corte visigótica, in: Ders./Paolo Delogu (Hrsgg.), Visigoti e langobardi. Seminario internacional. Rom 1997. Florenz 2001, 79–92; Manuel Koch, La imperialización del reino visigodo bajo Leovigildo. Es la imitatio imperii de Leovigildo la mainfestación de un momento de cambio en la pretensión de poder y la ideología visigodas? in: Pyrenae 39.2, 2008, 101–117; Christoph Eger, Zur Imperialisierung des westgotischen Königtums aus archäologischer Sicht, in: Thomas Gregor Schattner/Fernando Valdés Fernández (Hrsgg.), Spolien im Umkreis der Macht./Spolia en el entorno del poder. Internationale Tagung. Toledo 2006. (Iberia Archaeologica 12.) Mainz 2009, 151–169. 137 Ioh. Bicl. chron. II p. 213,5 (65,27). 138 Dazu Markus Mülke, Romana religio oder catholica fides? Der Westgotenkönig Leovigild und das arianische Reichskonzil von 580 n. Chr. in Toledo, in: Frühmittelalterliche Studien 43, 2009, 53–69. 139 Greg. M. dial. 3,31; Isid. Goth. 49 chron. II p. 287: „Hermenegildum deinde imperiis suis tyrannizantem obsessum exsuperavit“; Ioh. Bicl. chron. II p. 217,3 (75,73): „Hermenegildus in urbe Tarraconensi a Sisberto interficitur.“
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Herrschaft, also im Frühjahr des Jahres 587, zum katholischen Glauben über- und anschließend dem Widerstand von Teilen des gotischen Klerus und Adels erfolgreich entgegen trat140, war dann in gewisser Weise nur folgerichtig. Das 3. Toletanum fand unter dem Vorsitz von Euphemius (ca. 587 bis ca. 589 n. Chr.)141 statt, der die Akten an zweiter Stelle nach Masona von Merida unterzeichnete.142 Rekkared akklamierten die Anwesenden als novarum plebium in ecclesia catholica conquisitor143; Johannes von Biclaro verglich ihn mit Konstantin in Nizäa und Markian in Chalkedon und stellte ihn damit in eine Tradition „allerchristlichster“ Kaiser.144 In Anbetracht des Charakters der Stadt und ihrer Funktion erstaunt es nicht, dass die Bischofsliste überaus lückenhaft ist: Wir wissen, dass Asturius (ca. 400 n. Chr.)145 dem 1. Toletanum vorsaß146; dass sein nächster bekannter Nachfolger nach über einem Jahrhundert Celsus (ca. 523 n. Chr.) war147, von dem nur das Ende seiner Amtszeit zu ermitteln ist.148 Und dass 140 Ioh. Bicl. chron. II p. 218,5 (78,84): „Recaredus primo regni sui anno mense X catholicus deo iuvante efficitur et sacerdotes secte Arriane sapienti colloquio aggressus ratione pocius quam imperio converti ad catholicam fidem facit, gentemque omnium Gothorum et Suevorum ad unitatem et pacem revocat Christianae ecclesie. secte Arriane gratia divina in dogmate veniunt Christiano.“ Dazu Roger Collins, King Leovigild and the Conversion of the Visigoths, in: Ders., Law, Culture and Regionalism in Early Medieval Spain. Great Yarmouth 1992, 1– 12. 141 Enrique Flórez, Trata de la provincia Carthaginense, esto es, de sus límites y regiones, con lo perteneciente al estado antiguo, eclesiástico y civil, de la ciudad que le dio nombre, y de la Santa Iglesia de Toledo, hasta su restauración por don Alonso VI, comprobando las noticias correspondientes con autoridades fidedignas y documentos inéditos. Ed. Rafael Lazcano. (España Sagrada. Theatro Geographico-Historico de la Iglesia de España 5.) 4. Aufl. Madrid 2002, 233–238 [ursprünglich Madrid 1750]; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 80/Nr. 51; García Moreno, Prosopografía del reino visigodo de Toledo (wie Anm. 87), Nr. 242. 142 Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 5 (wie Anm. 88), 49–159, hier 140; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 9 (wie Anm. 59), 977–1010, hier 1000. 143 Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 5 (wie Anm. 88), 74; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 9 (wie Anm. 59), 983. 144 Ioh. Bicl. chron. II p. 219,1 (91,81–82): „Memoratus vero Recharedus rex, ut diximus, sancto intererat concilio, renovans temporibus nostris antiquum principem Constantinum Magnum sanctam sinodum Nichenam sua illustrasse presencia, nec non et Marcianum Christianissimum imperatorem, cuius instancia Calcidonensis sinodi decreta firmata sunt.“ 145 Flórez, Trata de la provincia Carthaginense, [...] y de la Santa Iglesia de Toledo (wie Anm. 141), 223–229; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 80/Nr. 51, gibt hier aus unerfindlichen Gründen das Jahr 390 n. Chr. an. Dazu Orlandis/Ramos-Lissón, Die Synoden auf der Iberischen Halbinsel (wie Anm. 58), 33. 146 Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 4 (wie Anm. 59), 323–344, hier 326; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 3 (wie Anm. 59), 997–1014. – Carmen Codoñer Merino, El „De Viris Illustribus“ de Ildefonso de Toledo. Estudio y edición crítica. Salamanca 1972, cap. 1. 147 Flórez, Trata de la provincia Carthaginense, [...] y de la Santa Iglesia de Toledo (wie Anm. 141), 229–230; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 80/Nr. 51 nennt das Jahr 520 n. Chr., dagegen jedoch überzeugend Kampers, Personengeschichtliche Studien zum Westgotenreich (wie Anm. 112), Nr. 62.
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ihm Montanus (ca. 523 bis ca. 531 n. Chr.) im Amt folgte149, der in seiner Funktion als Metropolit der Carthaginensis das 2. Konzil von Toledo im Jahre 531 geleitet hat150 – weitere etwaige Amtsinhaber entziehen sich unserer Kenntnis. IV. ‚ISIDORS WELT‘ – CARTHAGO NOVA UND HISPALIS (589 BIS 711 N. CHR.) Carthago Nova, Hispalis und Toletum können als die entscheidenden Städte im Leben Isidors gelten, eines „Katholiken mit Migrationshintergrund“, der es bis zum Bischof von Hispalis bringen und als doctor Hispaniae et lumen ecclesiae in die Geschichte eingehen sollte.151 Die Heimat seiner hispanoromanischen Familie zerstörten 425 erst die Vandalen, dann übernahmen 476 die Westgoten die Herrschaft und schließlich – keine 80 Jahre später – die Truppen Justinians, der möglicherweise auch den familiären Landbesitz konfiszierte. Welches Bild die Stadt geboten hat, als sich seine Eltern, Severianus und Turtura, mit seinen Brüdern Leander und Fulgentius sowie seiner Schwester Florentina auf den Weg nach Hispalis machten – denn er wurde aller Wahrscheinlichkeit nach erst dort um 560 geboren –, entzieht sich unserer Kenntnis. Mitte der 50er Jahre dürfte sich die Hafenstadt mit Handelsbeziehungen nach Nordafrika und zu den bedeutendsten Zentren im Mittelmeerraum nicht mehr – wie noch in der Kaiserzeit – über ein Territorium in einer Größenordnung von 43ha, von fünf Anhöhen (Molinete, Concepción, Sacro, San José und Despeñaperros) respektive Stadtmauern gleichsam eingefasst, erstreckt haben152; die curia und das Augusteum waren bereits 148 Codoñer Merino, El „De Viris Illustribus“ de Ildefonso de Toledo (wie Anm. 146), cap. 2. 149 Flórez, Trata de la provincia Carthaginense, [...] y de la Santa Iglesia de Toledo (wie Anm. 141), 230–233; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 80/Nr. 51, lässt Montanus’ Amtszeit aufgrund der oben genannten Datierung von Celsus bereits im Jahre 522 n. Chr. beginnen; Kampers, Personengeschichtliche Studien zum Westgotenreich (wie Anm. 112), Nr. 63. 150 Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 4 (wie Anm. 59), 345–366; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 8 (wie Anm. 59), 784–788, hier 787; Codoñer Merino, El „De Viris Illustribus“ de Ildefonso de Toledo (wie Anm. 146), cap. 2. 151 Meier/Patzold, Isidor von Sevilla (wie Anm. 11), 114; vgl. Marc Reydellet, Isidor von Sevilla, in: Martin Greschat (Hrsg.), Gestalten der Kirchengeschichte. Bd. 3: Mittelalter. Stuttgart 1983, 47–57; Jacques Fontaine, s. v. Isidor IV (von Sevilla), in: Reallexikon für Antike und Christentum 18, 1998, 1002–1027, der eine knappe, aber grundlegende Einführung in Leben und Werk bietet. 152 Dazu und im folgenden Sebastián F. Ramallo Asensio, Aproximación al urbanismo de Carthago Nova entre los siglos IV-VII d.C., in: Spania. Estudis d’Antiguitat Tardana oferts en homenatge al professor Pere de Palol i Salellas. (Publicacions de l’Abadia de Montserrat. Sèrie Il·lustrada 12.) Barcelona 1996, 201–208; Jaime Vizcaíno Sánchez, Carthago Spartaria, una ciudad hispana bajo el dominio de los milites romani, in: Lauro Olmo Enciso (Hrsg.), Recópolis y la ciudad en la época visigoda. (Zona Arqueológica 9.) Alcalà de Henares 2008, 337–360. Der Bauschub, den Carthago Spartaria unter der Herrschaft von Byzanz erfährt, ist besser zu fassen: Sebastián F. Ramallo Asensio/Elena Ruiz Valderas, Cartagena en la
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aufgegeben worden, eine Spielstätte wie das Theater (Cerro de la Concepción) diente als Speicher und Markt. Ihm unmittelbar benachbart befand sich eine Basilika (heutige Catedral Vieja oder Sta. María), an die sich möglicherweise der Bischofspalast anschloss, der über eine Bibliothek und eine Schule verfügte, die Leander konsultiert respektive besucht hatte. Hier sollte wohl nur wenige Jahre später und noch bis zu Beginn der 80er Jahre Licinianus als Metropolit fungieren (ca. 581? n. Chr.)153; weder von seinen unmittelbaren Vorgängern noch von seinen Nachfolgern in diesem Amt haben wir Kenntnis.154 Isidor selbst bezeichnet ihn als in Scripturis doctus und eifrigen Verfasser „vieler Briefe“, als einen Freund des Severus von Malaca – und schließlich als Opfer einer Vergiftung, die ihn ereilte, während er sich in Konstantinopel aufhielt.155 Tatsächlich korrespondierte der Bischof, der als belesene und gelehrte Persönlichkeit gelten kann, nicht nur mit seinen Brüdern aus der dioecesis Hispaniarum, sondern sogar mit Papst Gregor dem Großen, bei dem er sich unter anderem über die mangelnde Anzahl von geeigneten Kandidaten für das Priesteramt beklagte.156 Auch Hispalis’ städtische Lebenswelt lässt sich am Ende des 6. und zu Beginn des 7. Jahrhunderts kaum fassen. Wir wissen, dass – möglicherweise innerhalb des Bereichs, den in der Kaiserzeit die Stadtmauern umfasst hatten – wohl drei Platzanlagen weiterhin existierten: das Forum im traditionellen Zentrum der Stadt, also an der Kreuzung von decumanus maximus (c/San Esteban und c/Águilas bzw. c/Manuel Cortina) und cardo maximus (c/Alhóndiga respektive Cabeza del Rey Don Pedro) mit Tempel und Basilika sowie unmittelbar benachbart Thermen
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Arqueología bizantina en Hispania. Estado de la cuestión, in: V Reunión de Arqueología Cristiana Hispánica. Cartagena 1998. (Monografies de la Secció Històrico-Arqueològica 7.) Barcelona 2000, 305–321. Flórez, Trata de la provincia Carthaginense, [...] y de la Santa Iglesia de Toledo (wie Anm. 141), 88–89; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 23– 24/Nr. 14. So Flórez, Trata de la provincia Carthaginense, [...] y de la Santa Iglesia de Toledo (wie Anm. 141), bes. 88–95; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 23–24/Nr. 14, führt dagegen Dominicus (ca. 589? n. Chr.) und Bonifacius (ca. 638 n. Chr.) an. Vielleicht hat er den erstgenannten mit dem gleichnamigen und gleichzeitig amtierenden Bischof von Carthago verwechselt (S. 463–470, hier 463), für letzteren gibt es jedoch weder eine Erklärung noch überhaupt einen Hinweis in der Überlieferung. Carmen Codoñer Merino, El „De viris illustribus“ de Isidoro de Sevilla. Estudio y edición crítica. (Theses et studia philologica Salmanticensia 12.) Salamanca 1964, c. 29–30; s. auch Kampers, Personengeschichtliche Studien zum Westgotenreich (wie Anm. 112), Nr. 71. José Madoz, Liciniano de Cartagena y sus cartas. Edición crítica y estudio histórico. (Estudios Onienses 4.) Madrid 1948. – Anselmo José Sánchez Ferra, Aspectos de la cultura del s. VI en el sureste peninsular, según la obra de Liciniano, in: Del Conventus Carthaginiensis a la Chora de Tudmir. Perspectivas de la historia de Murcia entre los siglos III-VIII. (Antigüedad y Cristianismo. Monografias Históricas sobre la Antigüedad Tardia 2.) Murcia 1985, 123– 128; Rafael González Fernández, Cultura e ideología del siglo VI en las cartas de Liciniano de Cartagena, in: Lengua e Historia. Homenaje al profesor Antonio Yelo Templado. (Antigüedad y Cristianismo. Monografías Históricas sobre la Antigüedad Tardía 12.) Murcia 1995, 269–374.
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(c/Cuesta del Rosario); ein Platz nördlich von diesem (c/Alemanes bzw. c/de Fray Ceferino), und ein dritter südlich, in unmittelbarer Nähe des Baetis.157 Diese beiden waren wirtschaftlichen Aktivitäten vorbehalten, und zwar letzterer offenbar in einem Ausmaße, das an die „Piazzale delle Corporazioni“ im italischen Ostia erinnert. Jedenfalls betrieb die Stadt lebhaft Handel, und zwar unter anderem mit dem östlichen Mittelmeerraum. Schon im Jahre 287 hatten die Schwestern Justa und Rufina hier das Martyrium erlitten158, doch manifestierte sich der christliche Glaube wohl frühestens ab dem 5. Jahrhundert baulich: zunächst extra muros in Form der Kirche des Heiligen Vincentius (die wohl im Patio de Banderas de los Reales Alcázares zu lokalisieren ist) – der Vandale Gunderich musste 428 sterben, weil er sich an der Basilika dieses Märtyrers zu vergehen suchte159 – und der Kirche Sancta Ierusalem (der heute San Salvador gewidmeten), in der das 1. und das 2. Konzil von Sevilla (590 respektive 619) stattfanden160; dann, seit dem 6. Jahrhundert, auch bereits vereinzelt intra muros (Plaza de la Encarnación). Ihre Toten bestattete die Gemeinde in den außerhalb der Stadt gelegenen Nekropolen, im Süden (San Telmo) und im Osten (San Bernardo); dort fanden im 6. Jahrhundert auch die beiden clarissimae feminae Paula und Cervella ihre letzte Ruhe.161 Zum Bischof von Hispalis wählte sie im Jahre 577/578 Leander, der den Episkopat bis 599 bekleiden sollte.162 Leander hatte sich nach dem Tode des Vaters und dem Eintritt der Mutter in ein Kloster, das sie selbst gegründet hatte, um
157 Dazu Luís Agustín García Moreno, La Andalucía de San Isidoro, in: Actas del II Congreso de Historia de Andalucía. Córdoba 1991. Vol. 3: Historia Antigua. Córdoba 1994, 555–579; María Cristina Tarradellas Corominas, Topografía urbana de Sevilla durante la Antigüedad Tardía, in: V Reunió d’arqueologia cristiana hispànica. Cartagena 1998. (Monografies de la Secció Històrica-Arqueològica 7.) Barcelona 2000, 279–290; José Beltrán Fortes/Daniel González Acuña/Salvador Ordóñez Agulla, Acerca del urbanismo de Hispalis. Estado de la cuestión y perspectivas, in: Gonzalo Cruz Andreotti (Hrsg.), Arqueologia y urbanismo de la Malaca romana: balance y perspectivas. (Mainake 27.) Málaga 2005, 61–88. 158 Acta Sanctorum Julii. Ex Latinis & Graecis, aliarumque gentium Monumentis, Servata primigenia veterum Scriptorum phrasi. Collecta, digesta, Commentariisque & Observationibus illustrata a Joanne Bapt. Sollerio, Joanne Pinio, Guilielmo Cupero, Petro Boschio e Societate Jesu Presbyteris Theologis. Tomus quartus. Antwerpiae 1725, 583–586. 159 Hyd. chron. II p. 21,89; Isid. Goth. 73 chron. II p. 296. 160 Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 10 (wie Anm. 59), 449–454 (1. Konzil von Sevilla), bzw. 555–570 (2. Konzil von Sevilla); Vives, Concilios visigóticos e hispano-romanos (Anm. 89), 151–153 (1. Konzil von Sevilla), respektive 163–185 (2. Konzil von Sevilla). 161 Julián González Fernández (Ed.), Corpus de Inscripciones Latinas de Andalucía. Vol. 2: Sevilla. 1.: La Vega (Hispalis), Sevilla 1991, Nr. 150 bzw. 143; dazu Stroheker, Spanische Senatoren der spätrömischen und westgotischen Zeit (wie Anm. 54), 126; Kampers, Personengeschichtliche Studien zum Westgotenreich (wie Anm. 112), Nr. 39 (Paula) und 13 (Cervella). 162 Enrique Flórez, De la provincia antigua de la Bética en común, y de la Iglesia de Sevilla en particular. Ed. Rafael Lazcano. (España Sagrada. Theatro Geographico-Historico de la Iglesia de España 9.) 4. Aufl. Madrid 2003, 183–214 [ursprünglich Madrid 1752]; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 72–74/Nr. 45.
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seine Geschwister gekümmert und war dann selbst Mönch geworden.163 Auf dem 3. Toletanum vertrat er Hispalis; Johannes von Biclaro zufolge stand er allgemein in hohem Ansehen.164 Im folgenden Jahr hielt er an seinem Bischofssitz eine Synode ab165 und bekam einem Brief von Gregor dem Großem zufolge das Pallium als Zeichen der apostolischen Stuhlvertretung – aber ausschließlich an seine Person gebunden – verliehen.166 Als er im Jahre 599 starb, folgte ihm sein Bruder Isidor in diesem Amt, das er beinahe 40 Jahre innehaben sollte (ca. 599 bis 4. April 636 n. Chr.).167 Die Kenntnisse, die wir über seine Biographie und seine Aktivitäten als Amtsträger haben, stehen allerdings denen über den Kirchenvater, der sich um eine intellektuelle und moralische Erneuerung bemühte und dessen literarisches Schaffen auch der Verherrlichung der gotischen Spania diente, diametral entgegen. Ausweislich seines subscripsi war er auf dem 2. Konzil von Sevilla 619 präsent168 und 610 bereits in die Abfassung des Edictum Gundemari involviert gewesen, das er als erster unterzeichnet hatte.169 Damit hatte er zusammen mit 25 Bischöfen aus allen Provinzen des Reiches der Vorrangstellung der civitas regia 163 Die wenigen Informationen, die wir über ihn haben, entstammen seiner Schrift De institutione virginum et contemptu mundi 31 (Jaime Velázquez [Ed.], De la instrucción de las vírgenes y desprecio del mundo. Traducción, estudio y notas. [Publicaciónes de la Fundación Universitaria Española. Corpus Patristicum Hispanum 1.] Madrid 1979, 213–215) bzw. der seines Bruders: Codoñer Merino, El „De viris illustribus“ de Isidoro de Sevilla (wie Anm. 155), c. 28. Außerdem ist sein Epitaph erhalten, der allerdings auch das Grab seines Bruders Isidor und seiner Schwester Florentina bedeckt: José Vives, Inscripciones cristianas de la España romana y visigoda. (Monumenta Hispaniae Sacra. Serie Patrística 2/Biblioteca Histórica de la Biblioteca Balmes. Serie 2 18.) 2. Aufl. Barcelona 1969, Nr. 272. S. auch Kampers, Personengeschichtliche Studien zum Westgotenreich (wie Anm. 112), Nr. 233; Federico-Mario Beltrán Torreira, San Leandro de Sevilla y sus actitudes político-religiosas (Nuevas observaciones sobre su historia familiar), in: Juan Francisco Rodríguez Neila (Hrsg.), Actas del I Coloquio de Historia Antigua de Andalucía. Córdoba 1988. Vol. 2. Córdoba 1993, 335–348; Jesús Niño Sánchez-Guisande, Leandro de Sevilla, in: Compostellanum 45, 2000, 63–79. 164 Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 5 (wie Anm. 88), 49–159, hier 140; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 9 (wie Anm. 59), 977–1010, hier 1000. – Ioh. Bicl. chron. II p. 217,7 (76,77). 165 Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 10 (wie Anm. 59), 449–454; Vives, Concilios visigóticos e hispano-romanos (wie Anm. 89), 151–153. 166 Jaffé, Regesta Pontificum Romanorum (wie Anm. 81), c. 599: 1756 (1278); Greg. M. epist. 9, 228 (S. Gregori Magni. Registrum epistularum libri VIII-XIV, Appendix. Ed. Dag Norberg. [Corpus Christianorum. Series Latina 140a.] Turnhout 1982, 802–805, hier 804): „Praeterea ex benedictione beati Petri apostolorum principis pallium vobis transmisimus ad sola missarum sollemnia utendum“; vgl. auch Greg. M. epist. 1,41 und 5,53 (S. Gregori Magni. Registrum epistularum libri I-VII. Ed. Dag Norberg. [Corpus Christianorum. Series Latina 140.] Turnhout 1982, 47–49, bzw. 348). 167 Flórez, De la provincia antigua de la Bética en común, y de la Iglesia de Sevilla en particular (wie Anm. 162), 214–231; Gams, Series episcoporum ecclesiae catholicae. Suppl. 1 (wie Anm. 77), S. 72–74/Nr. 45. 168 Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 10 (wie Anm. 59), 555–570, hier 569; Vives, Concilios visigóticos e hispano-romanos (wie Anm. 89), 163–185, hier 185. 169 Vives, Concilios visigóticos e hispano-romanos (wie Anm. 89), 380–410; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 10 (wie Anm. 59), 510–512.
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zugestimmt. Toletums Rechte kämen denen der Suffraganbistümer in ihrer Gesamtheit gleich und insofern sei es unzulässig und wohl ein Irrtum gewesen, die eine Provinz der Jurisdiktion von zwei verschiedenen Metropoliten – hier wird auf die Besetzung von Bistümern ohne Mitwirkung Toletums Bezug genommen – zu unterstellen: Alle Bischöfe der Carthaginensis hätten einen Metropoliten und ihm die Ehre zu erweisen. Dieser Rang käme der Stadt bereits seit der Zeit des Bischofs Montanus und des 2. Konzils von Toledo (531) zu.170 Aber Isidor war nicht nur an dieser Initiierung eines Prozesses beteiligt, der à la longue zum kirchlichen Primat der Residenzstadt des Hofes führen sollte, sondern auch an der Lösung eines strukturellen Problems der westgotischen Monarchie: Im Jahre 633 führte er den Vorsitz des 4. Konzils von Toledo, in dessen 75. Kanon es programmatisch heißt, pro robore nostrorum regum et stabilitate gentis Gothorum sei jeder, der sich gegen den Herrscher erhebe, anathema; die Bischöfe hätten die Untertanen ihrer Treuepflicht zu erinnern und im Falle eines Herrscherwechsels zusammen mit den Adligen die Wahl vorzunehmen.171 Tatsächlich sollte von nun an kein weiterer Herrscher der Goten mehr eines gewaltsamen Todes sterben, wenn auch die Gefahr, die Herrschaftsbefugnis durch Usurpation zu verlieren, weiterhin gegeben war. V. HERRSCHAFT „AM ENDE DER WELT“ „(...) et sola omnium provinciarum vires suas postquam victa est intellexit“172, fasst P. Annius Florus den Erkenntnisprozess der Eliten Hispaniens zusammen, deren beispiellose Erfolgsgeschichte sich gleichwohl zuvörderst auf die Vielfalt der Iberischen Halbinsel an natürlichen Ressourcen stützte: Rohstoffe wie Blei, Kupfer, vor allem aber Silber und Gold; die Fruchtbarkeit des Bodens, das günstige Klima. Dieser Reichtum begünstigte die Annahme des „Roman Way of Life“ ebenso wie die Tatsache, dass die indigenen Ethnien bereits in vorrömischer Zeit in städtischen Siedlungsformen gelebt hatten, und zwar in gesellschaftlichen Strukturen, die offensichtlich hierarchisch organisiert waren. Es waren die Angehörigen dieser Eliten, die den Zustand der provincia pacata und die nachfolgend einsetzende administrative Reorganisation der hispanischen Provinzen unter Augustus als Herausforderung empfanden, ihre Zugehörigkeit zu Rom zu demonstrieren: Aus „Dankbarkeit“ dominierten fortan Bauten des munizipalen und provinzialen Herrscherkultes – der kultischen Praxis, die zum Handlungsraum für kollektive und individuelle Repräsentation per definitionem wurde – die Silhouet-
170 Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 4 (wie Anm. 59), 345–366; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 8 (wie Anm. 59), 783–792. 171 Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 5 (wie Anm. 88), 161–274, hier 248; Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 10 (wie Anm. 59), 611–650, hier 637. 172 Flor. epit. 1,33,4: „Sed ante a Romanis obsessa est quam se ipsa cognosceret, et sola omnium provinciarum vires suas postquam victa est intellexit.“
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ten ihrer neu gestalteten, vor Marmor glänzenden Städte.173 Rom wurde ihnen zur Referenz: Sie übernahmen stadtrömische Baukomplexe wie das Augustus-Forum, kopierten Statuen, Skulpturen, Grabstelen; sie richteten ihren Lebensstil entsprechend, ihren cursus zielgerichtet aus – wohl wissend, dass der Weg in die Hauptstadt des Imperium Romanum am ehesten über das Engagement in der eigenen Stadt und den provinzialen Flaminat führte, gestaltete sich doch eine Karriere in der römischen Armee bedeutend langwieriger und unberechenbarer. Rom bot also eine Herrschaftsordnung, ein System von politischen und sozialen Institutionen, das durch die pax Augusta nicht nur die physische Sicherheit der Provinzialen gewährleistete, sondern auch ihre Rechtssicherheit und ihnen in Form dieser Rahmenbedingungen die Möglichkeiten eröffnete, ihr persönliches Wohlergehen zu vergrößern. Allerdings zeigte es im Einzelfall auch deutlich, was es nicht goutierte: Konservative Senatskreise beließen es bei Empörung ob der nova provincialium superbia, gerierten sich doch die praevalidi provincialium aufgrund ihres immensen Reichtums geradezu als Herren einer Provinz.174 Tiberius dagegen ließ den reichsten Mann Hispaniens, Sextus Marius, nach dem in der Baetica Berge benannt waren175, vom Tarpejischen Felsen hinabstürzen – und schlug dessen Gold- und Silberminen seinem persönlichen Besitz zu.176 Die Zugehörigkeit zur patria communis, die Teilhabe an der romanitas und der Glaube an die Macht der Götter, die die Genese Roms und jeder einzelnen Stadt ermöglicht hatten und für ihre Prosperität sorgten177, sollten sich als tragfähige, identitätsstiftende Konstituenten erweisen. Denn noch im 4. Jahrhundert rekurrierten die Städte in ihrer Repräsentation auf klassische Elemente städtischen Selbstverständnisses, und agierten ihre Eliten konventionell. Rom erbrachte also offenbar trotz der so genannten „Krise des 3. Jahrhunderts“, trotz wechselnder Soldatenkaiser und wiederholter Usurpationen, trotz der Tatsache, dass es kein Heer mehr gab, das sich noch als einheitlicher Apparat begriff, und nicht mehr nur eine Hauptstadt, sowie keine homogene soziale Gruppierung wie die Senatoren im traditionellen Sinne, weiterhin die zentralen Funktionen von Staatlichkeit und fungierte als Bezugspunkt. Noch bot das Christentum, wie man aufgrund seiner inzwischen privilegierten Stellung hätte annehmen können, keine Alternative: Im Gegenteil sahen sich seine Repräsentanten in Elvira gezwungen, die Übernahme städtischer Magistraturen und provinzialer Ämter durch konvertierte Angehörige
173 Als paradigmatisch für diese Einstellung kann eine einhundert Pfund schwere Statue aus reinem Gold gelten, die die Baetica Augustus anlässlich der Verleihung des pater patriaeTitels schenkte und auf deren Postament aus Marmor man die folgenden Zeilen lesen konnte – CIL VI 8,2 31267: „Imp(eratori) Caesari Augusto p(atri) p(atriae) Hispania ulterior Baetica quod beneficio eius et perpetua cura provincia pacata est auri p(ondo) C(entum).“ 174 Tac. ann. 15,20. 175 Plin. nat. 34,4. 176 Tac. ann. 6,19; D. C. 58,22,2–3. 177 Vgl. Auson. p. 144–154, der diese Konstituenten in den poetisch konstruierten Stadtbildern des Ordo urbium nobilium evoziert.
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der wohlhabenden sozialen Elite mit Hilfe eines Spektrums von abgestuften Sanktionen zu rechtfertigen.178 Anders dagegen im 5. und 6. Jahrhundert. Die Invasionen von Sueben, Vandalen und Alanen erschütterten die Iberische Halbinsel auch deshalb, weil das römische Heer sich strukturell verändert hatte und den barbari mithin reichsfremde Truppen entgegentraten, Stammeskontingente, die in einem FöderatenVerhältnis zum Reich standen und deren Loyalität nicht mehr dem Kaiser, sondern ihrem Heerführer galt, der nicht gemäß römischer Werte und Normen sozialisiert worden war.179 Dieser schloss sich dem an, der seine Autorität auf militärische Stärke gründete, und so erlebten die hispani mehr oder weniger autonom agierende „barbarische“ Magnaten und hispanoromanische duces. Das Kaisertum existierte zwar als symbolischer Bezugspunkt der Reichseinheit weiterhin, aber jetzt machten sich genau die Faktoren bemerkbar, die schon seit Beginn des 4. Jahrhunderts gegeben waren: Sie schwächten die Kohäsionskraft des politischen Systems und mithin die Integrationspotentiale in den Provinzen erheblich. Politische Entscheidungen der Zentralregierung waren nicht mehr durchzusetzen. Längst war die Iberische Halbinsel zu einem „gewaltoffenen Raum“ geworden.180 Mit dem militärischen Sieg Eurichs, der die politische Konsequenz eines Ausscheidens der Iberischen Halbinsel aus dem Reichsverband nach sich zog, stellte sich die Frage explizit: Wie sollte regiert werden? Wer würde nun die Leistungen erbringen, die Rom bisher erbracht hatte: Herrschaft, Sicherheit, Wohlfahrt? Wie ließ sich in einem ersten Schritt eine „effektive Gebietsherrschaft“ und in einem weiteren Staatlichkeit herstellen? Eurich beließ der Einfachheit halber vieles in der Form, in der Rom es zuvor geregelt hatte – das Territorium, den Steuereinzug. Daher sind auch zum Beispiel municipia und conventus weiterhin Bezugsgrößen181, und es erfolgte höchstens eine graduelle Anpassung an örtliche Besonderheiten. Gegenüber den Städten verzichtete er auf die Durchsetzung direkter zentraler Kontrolle und ließ den sozialen Eliten ihre traditionellen Handlungsspielräume. Die Besitzverhältnisse blieben unangetastet; die Westgoten waren aber den Hispanoromanen gegenüber rechtlich privilegiert. An das Glaubensbekenntnis rührte der Arianer nicht, unterband aber offenbar die Besetzung vakanter Bistümer in Südgallien und relegierte einzelne Amtsinhaber. Erfolg im Sinne einer längerfristigen Konsolidierung von Herrschaft war seinem Reich, das sich in der Anlage – also strukturell – nicht grundlegend vom römischen unterschied, nicht beschieden. Anders dagegen Leovigild. Er beantwortete die Frage nach der Form seiner Herrschaft zunächst diametral entgegengesetzt: Anstatt auf Rom zu rekurrieren, brach er mit der Tradition – und gab innovative Antworten. Auch seine Herrschaft gründete sich auf Sieghaftigkeit, doch suchte er im Anschluss nicht den Ausgleich 178 Cann. 2; 3; 4; 55; 56. 179 Dazu Egon Flaig, Nach 390. Wie im Westen des Imperium ein neues politisches System entstand, in: Bernhard Jussen (Hrsg.), Die Macht des Königs. Herrschaft in Europa vom Frühmittelalter bis in die Neuzeit. München 2005, 1–13. 180 Risse, Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit (wie Anm. 22), 6. 181 Vgl. Arce, Bárbaros y romanos en Hispania (wie Anm. 13).
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mit dem lokalen und regionalen Adel, sondern ging massiv gegen diesen vor: bei Herrschaftsbildungen militärisch, im Falle einer nicht adäquaten Selbstinszenierung mit Konfiskation, Verbannung, Tod. Diese Maßnahmen werden nicht zuletzt den fiscus und seine ökonomische Potenz gestärkt haben.182 Leovigilds Revision des Rechts hatte eine Gleichstellung von Westgoten und Hispanoromanen zur Folge. Dann zeigten jedoch seine Städtegründungen, seine Münzprägung und sein Hofzeremoniell klar, dass der Westgotenkönig bestrebt war, sich kaiserlich in Szene zu setzen, seine Referenz war das Imperium, also das neue Rom im Osten, und unter seinem Nachfolger und Nachahmer Rekkared kam die ecclesia, mithin das alte Rom im Westen, hinzu. Der entscheidende Unterschied zu Eurich und mithin der Grund für den Erfolg Leovigilds und seines Sohnes aber ist ihr Verhältnis zu den Städten respektive den sozialen Eliten: Mit dem Übertritt zum Katholizismus auf dem 3. Konzil von Toledo 589 bot Rekkared ihnen eine neue Perspektive – die die alte war, aber unter veränderten Vorzeichen –, konnte die politisch-religiös ausgerichtete Lokal- oder Regionalherrschaft sie doch auf der Ebene ihrer persönlichen Karriere jetzt wieder bis nach Rom führen. Eliten mit einem genuinen Interesse an der Festigung ihrer Herrschaft wird es auch im 5. und in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts gegeben haben – es entzieht sich aber unserer Kenntnis, wie sich dieses gestaltete. Denn der Zufall der Überlieferung nennt uns – unter der Prämisse, dass Merida, Tarracona, Toletum, Carthago Nova und Hispalis als beispielhaft für die wohl mindestens 69 Bistümer auf der Iberischen Halbinsel gelten können183 – als Akteure in den Städten nicht mehr Angehörige der traditionellen hispanischen gentes, sondern allein Bischöfe, und zwar zuvörderst im 6. Jahrhundert. Die Konzilsakten verzeichnen ihre Namen und ihre Amtssitze und zeigen sie in theologische Kontroversen, aber auch die Administration des Reiches eingebunden; ihre Korrespondenz mit Kirchenvätern in Nordafrika wie Augustinus zeigt ihre überregionale Präsenz und gewährt Einblick in die eigenständige Handhabung von Praktiken. Die vereinzelt erhaltenen Epitaphien der Bischöfe – oder andere epigraphische Monumente – verweisen auf ihre Tätigkeit als Bauherren, aber darüber hinausgehende Informationen geben sie nicht. Das Genre der Vitas Sanctorum Patrum Emeretensium, das auch Einblick in die Funktion der Bischöfe als weltliche Patrone bietet, ist in dieser Hinsicht ebenso singulär wie topisch. Denn die Bischofsviten, die auch hagiographische Elemente enthalten und in denen sich mithin Faktizität und Normativität beziehungsweise historisch überprüfbare und theologische geglaubte Wahrheit miteinander verwoben finden, bieten weniger ein spezifisches Abbild städtischer Le182 Dazu Santiago Castellanos, The Political Nature of Taxation in Visigothic Spain, in: Early Medieval Europe 12.3, 2003, 201–228. 183 Die Akten des 3. Konzils von Toledo im Jahre 589 und des 4. Konzils 633 verzeichnen mit jeweils 69 die höchste Anzahl je auf Konzilien des westgotischen Königreiches versammelten Bischöfe: Martínez Díez/Rodríguez, La Colección Cánonica Hispana. Vol. 5 (wie Anm. 88), 49–159, hier 139–148 (3. Toletanum), bzw. 161–274, hier 260–274 (4. Toletanum); Mansi, Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 9 (wie Anm. 58), 977–1010, hier 1000–1002 (3. Toletanum) bzw. ders., Sacrorum conciliorum nova et amplissima collectio. Vol. 10 (wie Anm. 59), 611–650, hier 641–643 (4. Toletanum).
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benswelten oder bischöflicher Funktionen, als dass sie Erwartungen an eine Rolle formulieren. Dieser mögen die einzelnen Amtsinhaber entsprochen haben oder auch nicht – entscheidend ist, dass der anonyme Autor vom Beginn des 7. Jahrhunderts sie als Voraussetzung und Maßstab für bischöfliches Handeln und damit letztlich auch Herrschaft ansah. Jedenfalls lassen sich auf dieser Grundlage kaum die Konturen des Prozesses fassen, den Bernhard Jussen für Gallien als „Prozedur politisch-sozialer Umordnung“ beschrieben hat, sondern nur das Ergebnis konstatieren – nämlich die so genannte Bischofsherrschaft, die das Toledanische Reich im 7. Jahrhundert und noch bis zum Einfall der Araber charakterisieren sollte. Ob es im Zuge ihrer Etablierung zu einer „Art politisch-sozialer Wiedereinsetzung des Senatorenadels“ gekommen ist184, mag dahingestellt sein: Von Masona von Merida wissen wir, dass er Gote und nobilis war185, Leander und Isidor von Sevilla stammten dagegen tatsächlich aus dem Kreise hispanoromanischer Landbesitzer, aus denen sich traditionell die sozialen Eliten rekrutiert hatten. Vielleicht war also die soziale Kontinuität zwischen den großen senatorischen Familien der Spätantike und den Bischöfen des 6. Jahrhunderts und mithin die soziale Homogenität des Episkopats auch auf der Iberischen Halbinsel geringer als stets angenommen186, und gab es insofern kein kollektives Handlungsmuster, das zur Entstehung bischöflicher Herrschaft geführt hatte, sondern eine Vielzahl individuell motivierter Entscheidungen. Der Blick nach Gallien macht jedenfalls deutlich, dass bestimmte Entwicklungen und Phänomene dort früher oder – je nach Perspektive – auf der Iberischen Halbinsel erst etwa sechs Jahrzehnte bis ein Jahrhundert später zu fassen sind. Die Herausforderungen, denen man sich stellen musste, und die Antworten, die man gab, waren jedoch strukturell gesehen die gleichen: Als Valentinian II. 390 den magister militum per Gallias, den Franken Arbogast, absetzte, stellten sich dessen Truppen hinter diesen, und er blieb im Amt. Gegen den Willen des Heeres vermochte der Kaiser nichts, entmachtet gab Rom Gallien innerhalb weniger Jahrzehnte auf. Von den nun agierenden warlords, die ihre Autorität auf militärische Stärke gründeten, unterschied sich Chlodwig (466 bis 511 n. Chr.) insofern, wie Bernhard Jussen überzeugend herausgearbeitet hat, als er provinzialrömisch sozialisiert war, also keine Fremdherrschaft vertrat; die Franken in Form von Klein184 Friedrich Prinz, Die bischöfliche Stadtherrschaft im Frankenreich vom 5. bis zum 7. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 217, 1974, 1–35, bzw. ders., Die bischöfliche Stadtherrschaft im Frankenreich vom 5. bis zum 7. Jahrhundert, in: Franz Petri (Hrsg.), Bischofs- und Kathedralstädte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. (Städteforschung. Reihe A, Darstellungen 1.) Köln/Wien 1976, 1–26. 185 Maya Sánchez, Vitas Sanctorum Patrum Emeretensium (wie Anm. 85), 5,2. 186 Das hat jüngst Steffen Patzold für Gallien wahrscheinlich machen können, und zwar in deutlicher Absetzung von den Positionen der älteren Forschung: Zur Sozialstruktur des Episkopats und zur Ausbildung bischöflicher Herrschaft in Gallien zwischen Spätantike und Frühmittelalter, in: Matthias Becher/Stefanie Dick (Hrsgg.), Völker, Reiche und Namen im frühen Mittelalter. (MittelalterStudien 22.) München 2010, 121–140; für den Norden Afrikas hatte Werner Eck diese gängige Vorstellung bereits vor 30 Jahren in Zweifel gezogen: Der Episkopat im spätantiken Afrika: Organisatorische Entwicklung, soziale Herkunft und öffentliche Funktion, in: Historische Zeitschrift 236, 1983, 265–295.
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gruppen inmitten der romanischen Bevölkerung lebten, das heißt sich bisher nicht unter einem Herrscher zusammengeschlossen hatten; sein Aufstieg die Galloromanen kaum beeinträchtigte, sondern nur konkurrierende warlords aus der Führungselite; die Franken keine Desintegrationspolitik qua Identitätswahrung betrieben hatten, sondern soziale Interaktion auch zu kultureller Integration geführt hatte; und Gallien in einem „hauptstadtfernen Machtvakuum“ lag, das aus der Sicht Roms kein unmittelbarer Interessensbereich wie der Norden Afrikas als die Kornkammer des Reiches war.187 Als den „mächtigsten“ Helfer Chlodwigs bezeichnet er nichtsdestrotrotz den Zufall: sein Kriegsgeschick und die Sicherung seiner Nachfolge durch Söhne. Als einziges Distinktionsmerkmal nennt er seinen Übertritt zum „katholischen cultus“, sein Bekenntnis „zu jener Glaubenswelt, die die Päpste in Rom repräsentierten“ und der die romanische Bevölkerung anhing, erachtet es aber als wenig hilfreich für die Beantwortung der Frage, „warum gerade Chlodwigs Herrschaft in gerade dieser spezifischen Region und diesem spezifischen historischen Moment zur Basis einer stabilen Tradition lateineuropäischen Königtums wurde“.188 Es ist aber entscheidend. Im strukturellen Vergleich mit Chlodwig wird klar, warum Eurichs Maßnahmen scheitern mussten und Leovigild sich durchsetzen konnte – und es wird auch klar, weshalb Leovigilds Einberufung eines arianischen Konzils folgenlos bleiben musste, während Rekkareds Konversion Konsequenzen für seine Herrschaftskonsolidierung hatte. Herrschaftsausübung und -sicherung gründen sich nicht nur auf eine legitime zentrale Autorität und deren Durchsetzungsvermögen, die Bereitstellung gewisser materieller Leistungen wie beispielsweise Infrastruktur, innere und äußere Sicherheit, sondern auch auf loyale Eliten. Da es sich um einen komplexen interdependenten Prozess handelt, kann er beeinträchtigt werden, wenn eine dieser Leistungen nicht erbracht wird.189 Eliten werden sich nicht loyal verhalten, wenn sie ihre Herrschaft nicht gefestigt sehen, das heißt zum Beispiel im Falle schwacher oder begrenzter Staatlichkeit. Dann werden sie das eigene „Patronage-Netzwerk“ zu stärken versuchen und mit Hilfe lokaler Netzwerke politische Macht ausüben. Der Übertritt zum Katholizismus signalisierte den sozialen Eliten, dass man mit ihnen und in institutionalisierter Form herrschen wollte – wie es dann ja auch auf den Konzilien geschah – und dass diese neue Herrschafts- und Legitimationsstrategie einer „Politisierung der Kirche“190 den Vorteil einer Verbindung mit Rom implizierte.
187 Bernhard Jussen, Chlodwig und die Eigentümlichkeiten Galliens. Ein warlord im rechten Augenblick, in: Mischa Meier (Hrsg.), Sie schufen Europa. Herrschergestalten von Konstantin bis Karl dem Großen. München 2007, 141–155, hier 153. 188 Jussen, Chlodwig und die Eigentümlichkeiten Galliens (wie Anm. 187), 142. 189 Dazu und im folgenden Christoph Zürcher, Gewollte Schwäche. Vom schwierigen Umgang mit prekärer Staatlichkeit, in: Internationale Politik 60.9, 2005, 13–22. 190 Jussen, Chlodwig und die Eigentümlichkeiten Galliens (wie Anm. 187), 155; zu den Verhältnissen in Gallien s. auch Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt. München 2011, bes. 239–250.
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Auf der Iberischen Halbinsel setzte sich diese Einsicht verhältnismäßig spät durch. Dafür mag die Intensität der Romanisierung verantwortlich sein, die ihrerseits eine Herrschaft Roms bis an das Ende des 5. Jahrhunderts nach sich zog oder aber die spezifische geographische Situation: Vielleicht dauerte es nahe den Säulen des Herkules, „am Ende der Welt“, dort, wo sich der Ozean erstreckt und eigentlich nichts mehr ist, einfach länger, bis sich eine bestimmte Herrschaftsform durchsetzt. Aber wenn sie sich erst einmal etabliert hat, dann auf Dauer – der Stärke und Bedeutung der Städte als Herrschaftsträger konnte jedenfalls auch die Conquista durch die Araber nichts anhaben, sollte sie sich im 16. Jahrhundert doch erneut zeigen: im Aufstand der „Comunidades“ von 1520/1521 gegen Karl V.191
191 Dazu Ludolf Pelizaeus, Die Dynamik der Macht. Städtischer Widerstand und Konfliktbewältigung im Reich Karls V. (Geschichte in der Epoche Karls V. 9.) Münster 2007; Aurelio Espinosa, The Empire of the Cities. Emperor Charles V, the „Comunero“ Revolt, and the Transformation of the Spanish System. (Studies in Medieval and Reformation Traditions 137.) Leiden/Boston 2009.
DER DEFENSOR CIVITATIS UND DIE ENTSTEHUNG DES NOTABELNREGIMENTS IN DEN SPÄTRÖMISCHEN STÄDTEN* Sebastian Schmidt-Hofner 1. VON DER KURIE ZU DEN NOTABELNVERSAMMLUNGEN Bald nach der Thronbesteigung des Knaben Athalarich Anfang September 526 n. Chr. erhielt Gildila, comes civitatis von Syrakus, ein königliches Schreiben aus der Feder Cassiodors.1 Darin hielt der König ihm eine ganze Litanei von Klagen vor, die Provinziale dem Hof überbracht hatten: Gildila habe Gelder der Kläger für den Mauerbau unterschlagen und widerrechtlich Erbschaften an sich gerissen; er habe überzogene Gerichtsgebühren verlangt und, in Überschreitung seiner Befugnisse, einen Rechtsstreit zweier Römer vor sein Gericht gezogen; außerdem habe er Handelsschiffe konfisziert und ihre Ladung zu überhöhten Preisen verkauft. Für all dies wird der comes gerügt; Gerichtsgebühren seien an einem Edikt Theoderichs zu orientieren, die Kompetenzen der zivilen Richter zu respektieren, und die Preisfestsetzung würde fortan von Bischof und populus überwacht. Die Gegenstände der Klage – Sonderabgaben, Erbauseinandersetzungen, Prozessrecht etc. – legen nahe, dass hinter der Klage lokale Oberschichten steckten, deren Interessen Gildila verletzt hatte. In der Tat kennen wir ein zeitgleiches Dossier königlicher Schreiben über Bereicherungsvorwürfe gegen censitores (Steuerinspektoren), in die Gildila offenbar ebenfalls irgendwie verwickelt war; dort war die Klage explizit von den honorati, den ortsansässigen staatlichen Würdenträgern, den possessores, den Landbesitzern, und dem defensor civitatis, dem höchsten Magistraten von Syrakus, ausgegangen.2 Es ist sehr wahrscheinlich, dass es dieselben Honoratioren waren, die auch die erste Klage gegen Gildila angestrengt hatten. * 1
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Ich danke Avshalom Laniado, Hartmut Leppin und Christian Witschel für Hinweise und Kritik. Cass. var. 9.14; zur Datierung Stefan Krautschick, Cassiodor und die Politik seiner Zeit. Bonn 1983, 89. Der Hof dürfte die Klagen der Provinzialen auch deswegen aufgegriffen haben, weil Amalaswintha sich durch diese und eine Reihe ähnlicher Maßnahmen in den ersten Monaten ihrer Herrschaft das Wohlwollen der provinzialen Oberschichten sichern wollte: Vgl. u.a. Cass. var. 9.2, 9.8, 9.9 mit Krautschik loc. cit. 88f. sowie 9.10–13 (folgende Anm.). Cass. var. 9.10 mit der Adresse „honoratis possessoribus defensoribus Syracusanae civitatis vel universis provincialibus“, das die Rückgabe eines von censitores geforderten augmentum, dem Anlass der Klage, verkündet; 9.11 an Gildila selben Inhalts; 9.12 an die beiden angeklagten censitores, die zur Prüfung der Vorwürfe an den Hof zitiert werden, und 9.13 mit einer dadurch ausgelösten Maßnahme an den comes patrimonii.
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Immerhin war genau diese Gruppe lokaler Magnaten andernorts nachweislich für den Mauerbau zuständig, dessen Geldmittel der comes zweckentfremdet haben soll, und durch das Aufgabenprofil des aus ihnen gewählten defensor und anderer städtischer Magistrate beanspruchte wiederum dieselbe Gruppe die Kontrolle über die lokale Justiz und die Preiskontrolle, in die Gildila eingegriffen hatte.3 Was auch immer genau vorgefallen war, das Gildila-Dossier gewährt einen seltenen Einblick in die Machtkämpfe der Führungsschicht einer Stadt im Ostgotenreich. Beteiligt waren der comes, die städtische Elite aus Großgrundbesitzern und Honoratioren und der Bischof, also die gesamte lokale Führungsschicht. Allerdings fehlt hier ein Akteur, den man in einer römischen Stadt noch erwartet hätte: nämlich die Kurie, also dasjenige kollektive Entscheidungsorgan, das über Jahrhunderte hinweg den formalen Rahmen für die Herrschaft der städtischen Oligarchien bereitgestellt hatte. Das heißt nicht, dass es in Syrakus keine Kurie und Kurialen mehr gab – 30 Jahre vorher jedenfalls sind sie noch bezeugt4 –, doch spielte die Institution Kurie als Akteur in den innerstädtischen Auseinandersetzungen offenkundig keine Rolle mehr. Cassiodors Dossier über Syrakus unter dem comes Gildila illustriert damit einen epochemachenden Transformationsprozess in der Organisation lokaler Herrschaft um das Jahr 500: den Übergang vom angestammten römischen Kurienregiment zu der Herrschaft einer in der kaiserlichen Gesetzgebung nie klar definierten, je nach Stadt und vielleicht auch Situation unterschiedlich zusammengesetzten Gruppe, die sich aus ortsansässigen Angehörigen der Reichsaristokratie und Beamtenschaft (den honorati), Großgrundbesitzern (possessores/ktetores), Klerus und anderen einflussreichen Bürgern zusammensetzte, kurz aus allen, die auf lokaler Ebene Macht und Einfluss besaßen.5 Dazu konnten weiterhin auch Kuriale gehören. In der Forschung hat sich für die Verwaltung der Städte durch diese Gruppe der wenig trennscharfe, aber eingeführte Begriff des ‚Notabelnregiments‘ etabliert. Die Geschichte dieser Transformation ist gut aufgearbeitet und muss hier nur kurz rekapituliert werden.6 Als Leitungsorgan in den Städten sind die Notabeln 3
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Zur Jurisdiktion des defensor im Ostgotenreich generell s.u. Abschnitt 4; zur Preiskontrolle durch städtische Magistrate Cass. var. 7.11 und 12; zur Bauaufsicht durch die Notabeln: 3.55, 5.9 (Stadtmauern), generell 3.9, 3.49, 4.8, 8.29. Zu den Kompetenzen des comes im Ostgotenreich generell s. ebenfalls Abschnitt 4; prinzipiell waren die comites nur für Rechtsstreitigkeiten unter Goten oder zwischen Goten und Römern zuständig (vgl. Cass. var. 7.3). Zur Verwaltung Siziliens im 6. Jh. generell Wilhelm Ensslin, Zur Verwaltung Siziliens vom Ende des Weströmischen Reiches bis zum Beginn der Themenverfassung, in: Atti dello VIII congresso internazionale di studi bizantini I. Rom 1953, 355–364. P. Ital. 10–11 (498). Zu Recht kommt Avshalom Laniado, Recherches sur les notables municipaux dans l’Empire protobyzantin. Paris 2002, 171–200, bei seiner Untersuchung dieser Begrifflichkeit zu dem Ergebnis, dass sie offenbar absichtlich vage gehalten war, um die Fülle unterschiedlicher lokaler Arrangements abzudecken. Ähnlich Giovanni Alberto Cecconi, Honorati, possessores, curiales: competenze istituzionali e gerarchie di rango nella città tardoantica, in: Rita Lizzi Testa (Hrsg.), Le trasformazioni delle élites in età tardoantica. Rom 2006, 41–64. Überblicksdarstellungen bei Arnold H.M. Jones, The Later Roman Empire 284–602: A Social, Economic and Administrative Survey. Oxford 1964, 757–763; Dietrich Claude, Die byzantinische Stadt im 6. Jahrhundert. München 1969, Kap. 2; Wolf Liebeschuetz, Decline and
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zum ersten Mal in einem Gesetz aus dem Jahr 409 für Italien (oder die gesamte italische Präfektur einschließlich Illyricum und Africa?) belegt, demzufolge honorati, possessores und curiales gemeinsam Kandidaten für das Amt des defensor civitatis auswählen.7 Diese Kompetenz wurde dem Wahlgremium der Notabeln, das auch „oiketores/habitatores“ oder einfach „ausgewählte Personen“, ab dem späten 5. Jahrhundert auch Bischof und Klerus umfassen konnte, durch die kaiserliche Gesetzgebung im Lauf des 5. und 6. Jahrhunderts mehrmals bestätigt und auf andere munizipale Magistraturen wie curator, agoranomos, zygostates, sitones und pater tes poleos ausgedehnt.8 Justinians Pragmatische Sanktion für Italien und später Justin II. im Osten übertrugen den Notabelnversammlungen schließlich sogar das Vorschlagrecht für die Provinzstatthalter.9 Seit der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts sieht man solche Notabelnversammlungen an der Wahl der Bischöfe und an kirchen- und religionspolitischen Maßnahmen beteiligt10; ab dem späteren Fall of the Roman City. Oxford 2001, Kap. 3; Laniado, Notables (wie Anm. 5), 131–252; Giovanni Alberto Cecconi, Crisi e trasformazioni del governo municipale in Occidente fra IV e VI secolo, in: Jens-Uwe Krause/Christian Witschel (Hrsgg.), Die Stadt in der Spätantike – Niedergang oder Wandel? Stuttgart 2006, 285–318 (der die anhaltende Bedeutung der Kurien herausstellt, aber insgesamt wohl doch überschätzt). 7 CJ 1.55.8; zum Amtsbezirk des Adressaten s. PLRE II s.v. Caecilianus 1. Der überlieferte Text schließt in das Wahlgremium auch den Bischof und Kleriker ein, doch handelt es sich dabei mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit um eine Interpolation der Kompilatoren des Codex Justiniani im Lichte der Situation des 6. Jhs: s. dazu Avshalom Laniado, Le christianisme et l’évolution des institutions municipales du Bas-Empire: l’exemple du defensor civitatis, in: Krause/Witschel, Stadt in der Spätantike (wie Anm. 6), 319–334. 8 Wahl des defensor: NMaj 3 (458): Wahl durch municipes (=decuriones) und honorati (und plebs); Edicta praefectorum praetorio (ed. Carl Eduard Zachariae von Lingenthal, Anekdota: Theodori Scholastici breviarium Novellarum, collectio regularum iuris ex institutionibus, fragmenta breviarii Codicis a Stephano antecessore compositi, appendix eclogae, fragmenta Novellarum ex variorum commentariis, edicta praefectorum practorio. Leipzig 1843, 227– 278) Nr. 8 des Illous (2. H. 5. Jh.?: s. PLRE II s.v. Illus 2): Bischof, Klerus, ktetores, politeuomenoi und „ausgewählte Personen“; CJ 1.4.19 (505): wie CJ 1.55.8 zuzüglich Bischof und Klerus; MAMA III, Nr. 197 (Korykos, 500–518): Wahl durch Bischof, Klerus und ausgewählte ktetores und oiketores; NJust 15 (535): durch nobiliores civitatum habitatores. Andere Ämter: Edicta praefectorum praetorio Nr. 8 (s.o.): agoranomoi (Wähler wie bei defensores); ibd. Nr. 7 des Hierios, PPO Orientis 494–496: zygostates von Bischof, oiketores und ktetores gewählt. CJ 1.4.17 = 10.27.3 (491–505): sitones wird von episkopos und ton en tois ktetorsi proteuonton gewählt; MAMA III, Nr. 197 (s.o.): ephoros (=curator?) wie ekdikoi. NJust 128 §16 (545): Wahl des sitones, des pater tes poleos und anderer doiketai der Finanzverwaltung durch Bischof, proteuontes und ktetores; dieses Wahlgremium bestätigen für den sitones die Pommersfelder Papyri: Boudewijn Sirks u.a. (Hrsgg.), Ein frühbyzantinisches Szenario für die Amtswechslung in der Sitonie: die griechischen Papyri aus Pommersfelden (PPG). München 1996, 104–106. 9 Sanctio Pragmatica (NJust App. VII) §12 (554): „provinciarum iudices ab episcopis et primatibus … eligendos“; NJust 149 (565): Bischof, ktetores, oiketores und „diejenigen, die die proteia haben,“ schlagen Kandidaten vor, aus denen die Regierung dann einen Statthalter bestellt. 10 Bischofswahl (in Auswahl): ACO I.1.3, S. 47: Ein in den Akten von Ephesos 432 überliefertes Schreiben Bischof Memnons von Ephesos klagt den (nestorianischen) comes Irenäus (PLRE II s.v. Irenaeus 2) an, er dränge bouleuterion und lamprotatoi von Ephesos zur Wahl
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5. Jahrhundert übernahmen sie, meist unter Einschluss der Bischöfe, sukzessive die Verantwortung für die gesamte Alltagsverwaltung der Städte: die städtische Finanzverwaltung, die Überwachung der Steuererhebung, die Bauaufsicht und Instandhaltung von Mauern und Bauten, die Polizei, die Sittenwacht und so weiter.11 Alle leitenden Funktionen autonomer Stadtverwaltung oblagen nun nicht mehr der Kurie, sondern jener breiter gefassten Gruppe lokaler Honoratioren. Dass die Notabelnversammlungen ab dem Beginn des 6. Jahrhunderts als Gegenüber der kaiserlichen Verwaltung auftraten und in unruhigen Zeiten als Verhandlungsführer gegenüber feindlichen Aggressoren agierten, zeigt, dass sie jetzt auch nominell an die Spitze der Städte getreten waren.12 Die ‚schleichende Übernahme‘ eines Bischofs an Stelle des Memnon. ACO II.1.3, S. 98 (Chalkedon, 451), can. 43: Bischofswahl in den Diözesen Asiana, Pontus und Thrakien durch klerikoi, ktetores und lamprotatoi andres unter Hinzuziehung der benachbarten Bischöfe. Kaiserbrief von 457 bei Evagrios 2.9: Das Volk von Alexandrien mit den axiomatikoi, politeuomenoi und naukleroi wünscht sich Timotheos zum Bischof. Gesetzliche Sanktionierung der Bischofswahl durch Notabeln in CJ 1.3.41 (528), NJUst 123 (546), NJust 137 (565) und 149 (569). Vgl. die Quellen für Gallien im früheren 5. Jh. u. Anm. 79. Andere kirchliche Angelegenheiten (in Auswahl): Synode von Ephesos 449 (ed. Johannes Flemming, Akten der ephesinischen Synode vom Jahre 449 mit Georg Hoffmanns dt. Übers. u. seinen Anm. (Abh. der Ges. der Wiss. zu Göttingen, Phil.-Hist. Klasse N.F. 15,1). Berlin 1917), S. 23ff. und 33ff.: Eine Petition zur Absetzung des Bischofs Ibas von Edessa wird von Klerus und Mönchen, axiomatikoi und politeuomenoi, Grundbesitzern, Schuloberhäuptern und corpus-Vorstehern unterzeichnet und von einem comes Theodosios überreicht. Zacharias, V. Severi (PO II.1), S. 33: Bischof Peter Mongos (482–489) von Alexandrien ruft den Präfekten, die Offiziere, die boulé und die ktetores zusammen zur Bekämpfung der Heiden. Coll. Avell. 232a: Um 520 (Datum nach den Coll. Avell. 232 und 233) versichern syrische Kleriker und possessores dem Kaiser ihre Anathematisierung von Chalkedon-Gegnern. ACO IV.1, S. 118–130 (Synode von Mopsuestia 550, zu lesen mit Gilbert Dagron, Two Documents Concerning Mid-Sixth-Century Mopsuestia, in: Angeliki Laiou-Thomadakis (Hrsg.), Charanis Studies. Essays in Honor of Peter Charanis. New Brunswick 1980, 19–30): honorati, possessores und habitatores unter Führung des defensor bezeugen mit Klerikern die Streichung Theodors aus den Diptychen. 11 In Auswahl: CJ 11.32.3 (489): Besitzübertragungen an Städte werden von curiales, honorati und possessores bezeugt. Chorikios von Gaza, or. 2.16: Restaurierung der Stadtmauern wird vom Bischof den en telei ton oiketoron auferlegt. CJ 1.4.26 (530) stellt in umfassender Weise die bis ins kleinste gehenden Verantwortungen von Bischöfen und Notabeln in der Finanzverwaltung und Bauaufsicht der Städte zusammen. Funktionen im Rahmen der Steuererhebung: CJ 1.4.18 (Anastasios, vor 505); NJust 128 (545), NJust 160 (Justinian, undatiert). Polizei und Sittenaufsicht: CJ 8.51.3 (529); 1.4.34 (534); NJust 86 §4 (539); 124 §44 (546); Denis Feissel/Ismail Kaygusuz, Un mandement impérial du VI siècle, in: Travaux et Mémoires 9, 1985, 397–419: Possessores und Klerus von Hadrianopel in der Provinz Honorias zusammengerufen zur Bekämpfung privater buccellarii (ca. 550–575). In der Chronik des Josua Stylites von 507 (transl. Andreas Luther, Die syrische Chronik des Josua Stylites. Berlin/New York 1997) wird die Stadt Edessa von „Großen“ regiert, auch „Edle“ tauchen auf (§43f., 61, 63, 86, 93), ohne dass daraus Eindeutiges über Kompetenzen und Zusammensetzung dieser Gruppe hervorgeht: Luther loc. cit. 176. Weitere Belege für possessores in diversen Verantwortlichkeiten für die Städte bei Laniado, Notables (wie Anm. 5), 192–198. Für Evidenz aus dem nachrömischen Westen s.u. Abschnitt 4. 12 Gegenüber der kaiserlichen Verwaltung: CJ 1.4.26 (530); NJust 8 §14 & Exemplar an den PPO Illyrici (535) sowie NJust 17 (535): Statthalter ruft bei Amtsantritt Bischof, Klerus und
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durch die Notabelnversammlungen – denen wie gesagt weiterhin auch Kuriale angehörten – ging mit einem Bedeutungsschwund der Kurien als Lenkungsgremien der Städte einher. Im 6. Jahrhundert beschränkten sich die Aufgaben der Kurien weitgehend auf die Steuererhebung. Immerhin waren diese Aufgaben aber wichtig genug, dass die erbliche Bindung der Kurialen an ihren Stand weiterhin aufrechterhalten wurde; in ihrer politisch-administrativen Bedeutung näherten sich die Kurien als Körperschaft hingegen den vielen standesgebundenen corpora im Dienst des römischen Staates an.13 Ganz ähnlich verlief die Entwicklung in den nachrömischen Königtümern des Westens. Wie im Osten blieb auch dort die civitas bis ins 7. Jahrhundert und mancherorts darüber hinaus grundlegende Verwaltungseinheit; nur in Randgebieten wie Britannien oder Nordgallien kam es mit dem Zusammenbruch der römischen Ordnung zu einer Deurbanisierung, in manchen in der Kaiserzeit hochurbanisierten Gebieten wie Italien und Südspanien zu einer (teilweise aber schon viel früher einsetzenden) Ausdünnung des Städtenetzes. Obwohl Städte als Siedlungszentren in einigen Regionen des Westens schon seit dem späteren 4. Jahrhundert schrumpften und die Bevölkerung, auch die Eliten, ihre Wohnsitze bisweilen in das Umland verlegte, stellte die Funktion der Städte als Verwaltungszentren und Bischofssitze sicher, dass die civitas im Allgemeinen nach wie vor wichtiger Bezugspunkt des politischen Handelns und der sozialen Konkurrenz der lokalen Eliten blieb.14 Von den hergebrachten städtischen Organen blieben manche Magistra hoi en telei zusammen (vgl. dazu Laniado, Notables [wie Anm. 5], 175). Quellen für Notabeln und Bischof als Verhandlungsführer im Krieg bei Claude, Stadt (wie Anm. 6), 126–130. 13 Zu den Kurialen im Imperium ab dem späteren 5. Jh. jetzt grundlegend Laniado, Notables (wie Anm. 5), 19–129, knapp Liebeschuetz, Decline (wie Anm. 6), 105–109. Für viel Diskussion hat die – der Quellenlage klar widersprechende – These einer angeblichen Abschaffung der Kurien durch Kaiser Anastasios im Zuge der Einführung des vindex civitatis gesorgt: s. zuletzt Laniado loc. cit. 27–35, und Mischa Meier, Anastasios I.: die Entstehung des Byzantinischen Reiches. Stuttgart 2009, 130–133 mit Referat der aktuellen Forschungslage; heute dürfte Einigkeit bestehen, dass der vindex nicht flächendeckend eingeführt wurde und dass die Kurien weiterbestanden und auch in der Steuererhebung tätig waren. 14 Zur Frage der Deurbanisierung s. jetzt den materialreichen, systematischen Überblick bei Christian Witschel, Sterbende Städte? Betrachtungen zum römischen Städtewesen in der Spätantike, in: Angelika Lampen/Armin Owzar (Hrsgg.), Schrumpfende Städte. Ein Phänomen zwischen Antike und Moderne. Köln u.a. 2008, 17–78, hier 32–47 sowie die Materialsammlung bei Neil Christie/Andrea Augenti Farnham (Hrsgg.), Vrbes extinctae: Archaeologies of Abandoned Classical Towns. London 2012. Eine differenzierte Debatte für Britannien, das traditionelle Paradebeispiel für Diskontinuität, auf archäologischer Basis jetzt bei Adam Rogers, Late Roman Towns in Britain. Rethinking Change and Decline. Cambridge 2011. Aus der ausufernden jüngeren Literatur zu den Veränderungen der Siedlungsform „Stadt“ in der Spätantike vgl. daneben nur die Beiträge in Neil Christie/Simon Loseby (Hrsgg.), Towns in Transition: Urban Evolution in Late Antiquity and the Early Middle Ages. Aldershot 1996; bei Liebeschuetz, Decline (wie Anm. 6), Kap. 2; Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean, 400–800. Oxford 2005, 609–674; die Beiträge bei Krause/Witschel, Stadt in der Spätantike (wie Anm. 6); Neil Christie, The Fall of the Western Roman Empire: An Archaeological and Historical Perspective. London 2011, Kap. 4, sowie, mit regionalen Schwerpunkten, Annette Haug, Die Stadt als Lebensraum: eine
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turen und die Kurien bestehen, ihre Funktion reduzierte sich aber wie im Imperium zunehmend auf die Steuererhebung. Diese Aufgabe, die unter den West- und Ostgoten fortbestand und nach einigen Hinweisen in Italien bis ins späte 6. Jahrhundert belegt ist, verschwand im Merowingerreich offenbar schon früher.15 Eine kulturhistorische Analyse zum spätantiken Stadtleben in Norditalien. Rahden 2003; Helen G. Saradi, The Byzantine City in the Sixth Century. Athen 2006 (mit ausführlicher Forschungsgeschichte 13–45); Anna Leone, Changing Townscapes in North Africa from Late Antiquity to the Arab Conquest. Bari 2007 und die Literatur im Folgenden. Zur Fortexistenz der civitates als Verwaltungseinheit auch in Gallien (für Italien und das Imperium ist dies unstrittig) bis ins späte 6. Jh. s. nur den prägnanten Überblick bei Simon Loseby, Gregory’s Cities: Urban Functions in Sixth-Century Gaul, in: Ian Wood (Hrsg.), Franks and Alamanni in the Merovingian Period. Woodbridge 1998, 239–279; knapp Ian Wood, The Merovingian Kingdoms 450–751. London 1994, 60–63. Dass die Städte wenigstens bis Ende des 6. Jh. allgemein und vielerorts darüber hinaus Bezugspunkt der Eliten (und häufig auch ihr Lebensmittelpunkt) blieben, ist für weite Teile des Ostens unstrittig; differenzierter stellt sich die Situation im Westen dar: allgemein Wickham loc. cit. 602–609; in Bezug auf Gallien (mit Ausnahme des Nordens) plädiert Simon Loseby, Decline and Change in the Cities of Late Antique Gaul, in: Krause/Witschel loc. cit. 67–104, hier 87–96, bis ca. 600 für Kontinuität, ebenso Christian Witschel, Trier und das spätantike Städtewesen im Westen des Römischen Reiches, in: Trierer Zeitschrift 67/68, 2004/5, 223–272, hier 244–258; für Italien mit demselben Ergebnis z.B. Chris Wickham, Early Medieval Italy: Central Power and Local Society 400– 1000. London 1981, Kap. 4; Dick Harrison, The Early State and the Towns: Forms of Integration in Lombard Italy AD 568–774. Lund 1993, 86–97; Neil Christie, From Constantine to Charlemagne. An Archaeology of Italy, AD 300–800. London 2006, bes. 268–280; ebenso für Hispanien wenigstens im 5. Jh. Michael Kulikowski, The Interdependence of Town and Country in Late Antique Spain, in: Thomas S. Burns/John W. Eadie (Hrsgg.), Urban Centers and Rural Contexts in Late Antiquity. East Lansing 2001, 147–163 sowie Javier Arce, Barbaros y romanos en Hispania, 400-507 A.D. Madrid 2007, 213–243, sowie die Literatur Anm. 66. Über städtische Herrschaftsorganisation und Eliten im nachrömischen Africa ist so gut wie nichts bekannt: s. die Literatur Anm. 66. Vgl. auch im Folgenden die Debatte über die Folgen des Übergangs vom Kurien- zum Notabelnregiment und Anm. 18 zum andauernden Euergetismus. 15 Kurien und Kurialen im Kontext der Steuererhebung in Italien: u.a. Cass. var. 1.19, 2.17, 2.24 und 25, 4.11, 4.49, 5.14, 9.4, 12.8 mit Frank Ausbüttel, Die Kurialen und Stadtmagistrate Ravennas im spätantiken Italien, in: ZPE 67, 1987, 207–214; ders., Die Verwaltung der Städte und Provinzen im spätantiken Italien. Frankfurt u.a. 1988, 211f.; Valérie Fauvinet-Ranson, Decor civitatis, decor Italiae: Monuments, travaux publics et spectacles au VI siècle d’après les Variae de Cassiodore. Bari 2006, 35–38; für die nachgotische Zeit Truesdell S. Brown, Gentlemen and Officers: Imperial Administration and Aristocratic Power in Byzantine Italy A.D. 554–800. Rom 1984, 16f. Wie in Italien (Liebeschuetz, Decline [wie Anm. 6], 127) war curialis als Titel (?) neben anderen römischen Amtsbezeichnungen auch in Churrätien bis ins hohe Mittelalter in Gebrauch: Reinhold Kaiser, Churrätien im frühen Mittelalter: Ende 5. bis Mitte 10. Jahrhundert. 2. Aufl. Basel 2008, 41–44 und 199f. Für die Kurien im Merowingerreich s. Fernand Vercauteren, Étude sur les civitates de la Belgique seconde: contribution à l’histoire urbaine du nord de la France de la fin du IIIe à la fin du XIe siècle. Brüssel 1934, 403–426; Liebeschuetz loc. cit. 128–132 und die folgende Anm.; die Belege aus dem Breviarium des Alarich für Kurien im gallischen Westgotenreich sammelt Max Conrat, Breviarium Alaricianum: Roemisches Recht im Fraenkischen Reich in systematischer Darstellung. Leipzig 1903, 734–776; allg. Michel Rouche, L’Aquitaine des Wisigoths aux Arabes, 418–
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weitere, nämlich die notarielle Funktion der Kurien, Rechtsgeschäfte in den gesta municipalia zu protokollieren, ist dagegen bis weit ins Mittelalter hinein im gesamten Westen gut bezeugt.16 Statt der Kurie traten auch in den Nachfolgestaaten des Westens die Notabeln an die Spitze der Städte, die in variabler Terminologie unter anderem als honorati, possessores, seniores oder manchmal auch nur als cives bezeichnet werden; in allen Nachfolgestaaten spielten zudem der comes als königlicher Stellvertreter und der Bischof eine große, wenn auch unterschiedlich ausgeprägte Rolle in der Führung der Stadt. Auf all dies wird noch näher einzugehen sein. Dieser institutionelle Wandel in der Stadtherrschaft hat in letzter Zeit großes Interesse auf sich gezogen. Denn in der maßgeblichen jüngeren Forschung – etwa in Wolf Liebeschuetz’ Arbeiten zur spätantiken Stadt oder in Chris Wickhams monumentaler Sozialgeschichte der Mittelmeerwelt im Frühmittelalter von 200517 – wird die Entstehung der Notabelnherrschaft als ein wesentlicher Faktor für den Niedergang der antiken Stadtkultur und damit für einen der epochalen strukturund kulturgeschichtlichen Transformationsprozesse zwischen Spätantike und Mittelalter beschrieben. Liebeschuetz begründet diese These damit, dass das hervorstechende Merkmal der neuen Herrschaftsform ein im Vergleich zum Kurienregiment frappanter Mangel an Formalisierung und Verbindlichkeit gewesen sei. Der Mangel an festen Regeln über die Zugehörigkeit zur Stadtregierung und die damit verbundenen Rechte und Pflichten hätten eine reguläre Stadtverwaltung unmöglich gemacht; zudem seien die lokalen Eliten in der neuen, unverbindlicheren Form des Stadtregiments nicht mehr durch Standesverpflichtungen wie in der Kurie gezwungen gewesen, ihre Ressourcen in den Unterhalt der Städte zu investieren. Dies habe den schädlichen Effekt der generellen Entwicklung verstärkt, dass die lokalen Eliten ihren Ehrgeiz und ihre Investitionen eher auf Karrieren im Reichsdienst und der Kirche als auf ihre Städte richteten. So sei es zum Niedergang kostspieliger städtischer Infrastruktur wie dem Bäder- und Spielewesen gekommen, zum Verfall der monumentalen Zentren und zur Aufgabe und Überbauung öffentlicher Räume; und auf diese Weise habe das Notabelnregiment maßgeblich zum Ende jener antiken Poliskultur beigetragen, in der die Städte konkurrenzloser Bezugspunkt der Elitenidentität waren. In den letzten beiden Dekaden hat sich eine lebhafte Forschungsdebatte entsponnen, in der Liebeschuetz’ Thesen kritisch hinterfragt wurden. So hat man etwa namhaft gemacht, dass die euergetische Konkurrenz lokaler Eliten – 781: naissance d’une région. Paris 1979, 261–263. Über die Kurien im nachrömischen Hispanien und Africa ist so gut wie nichts bekannt: s.u. Anm. 66. 16 Dazu Peter Classen, Fortleben und Wandel spätrömischen Urkundenwesens im frühen Mittelalter, in: ders. (Hrsg.), Recht und Schriftlichkeit im Mittelalter. Sigmaringen 1977, 13–54 sowie Alice Rio, Legal Practice and the Written Word in the Early Middle Ages: Frankish formulae, c. 500–1000. Cambridge 2009, 177–182; einige gallische Bsp. u. Anm. 82. 17 Liebeschuetz, Decline (wie Anm. 6), Kap. 3, bes. 121–124 (mehrere weitere Beiträge zusammenfassend); ihm folgen Wickham, Framing (wie Anm. 14), 596–602, bes. 598; FauvinetRanson, Decor civitatis (wie Anm. 15), 41; Saradi, Byzantine City (wie Anm. 14), 157 und 163–165.
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manchmal auch nachweislich von honorati und anderen nicht-kurialen Aristokraten, also denjenigen, denen ein zunehmendes Desinteresse an den Städten unterstellt wird – unvermindert anhielt. Zwar richtete sie sich zunehmend auf kirchliche Zwecke, doch erscheint es nicht sinnvoll, diese Aktivitäten von „klassischeren“ Feldern privater Munifizenz für die Städte zu trennen: Beide richteten sich an die Öffentlichkeit, auch wenn diese Öffentlichkeit jetzt andere Brennpunkte besaß.18 Hingewiesen sei auch darauf, dass die kaiserliche Gesetzgebung zwar Erlasse wie etwa CJ 10.56.1 aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts enthält, der die ganze Palette städtischer Ämter und Liturgien aufzählt, zu denen honorati nicht gezwungen werden dürfen; doch könnte die Notwendigkeit, diese Regel in immer neuen Einzelfällen zu bestätigen, umgekehrt auch den hohen sozialen 18 Einige Belege – die folgende Auswahl ist rein illustrativ – für andauernden Euergetismus städtischer Eliten (einschließlich ortsansässiger honorati) im Osten bis Ende des 6. Jh. und teilweise länger bei Mark Whittow, Ruling the Late Roman and Early Byzantine City: a Continuous History, in: Past and Present 129, 1990, 3–29 (einem der profiliertesten Kritiker von Liebeschuetz); Laniado, Notables (wie Anm. 5), 192–198; Saradi, Byzantine City (wie Anm. 14), 161–165, 335 u.ö.; Rudolf Haensch, Le financement de la construction des églises pendant l’antiquité tardive et l’évergétisme antique, in: Antiquité tardive 14, 2006, 47–58, hier 49–53. Zahlreiche Baustiftungen von honorati und Personen mit senatorischen Titeln verzeichnet Charlotte Roueché, Aphrodisias in Late Antiquity. The Late Roman and Byzantine Inscriptions. 2. Aufl. London 2004, Nr. 10, 38–40, 56, 58, 70, 72, 74(?), 84–89 sowie, für Palaestina und Arabia, Leah Di Segni, The Involvement of Local Municipal and Provincial Authorities in Urban Building in Late Antique Palestine and Arabia, in: The Roman and Byzantine Near East. Some Recent Archaeological Research. Ann Arbor 1995, 312–332. Vgl. für einen ehemaligen Statthalter, der als Magistrat und Euerget in Gaza wirkt, Avshalom Laniado, La carrière d’un notable de Gaza au VIe siècle d’après son oraison funèbre, in: Catherine Saliou (Hrsg.), Gaza dans l’Antiquité Tardive. Archéologie, rhétorique, histoire. Salerno 2005, 221–239. Stiftungen für Spielewesen belegen Roueché loc. cit., Nr. 40 und 65 (5./6. Jh., lokale ehemalige Statthalter); Joh. Lyd. mag. 3.74 (über Antiochus Chuzon in dessen Heimat Antiochien); Liebeschuetz, Decline (wie Anm. 6), 206 (Apionen). Für den Westen: In den Provinzstädten des vorvandalischen Afrika kann ein beträchtlicher Teil (überschlagsweise etwa ein Viertel: Verf.) der bezeugten euergetischen Maßnahmen honorati zugeordnet werden: Claude Lepelley, Les cités de l’Afrique romaine au Bas-Empire. Paris 1979/1981, Bd. 1 (von 2), 299–314 und 382–388; honorati und andere nicht-kuriale Eliten sind als Stifter auch im Italien des 4. Jh. bezeugt (Bryan Ward-Perkins: From Classical Antiquity to the Middle Ages: Urban Public Building in Northern and Central Italy, AD 300–850. Oxford 1984, 19– 37), ebenso wie noch um die Mitte des 5. Jh. in Narbonne (Henri-Irénée Marrou, Le dossier épigraphique de l’évêque Rusticus de Narbonne, in: Rivista di archeologia cristiana 46, 1970, 331–349) und im 6. Jh. in Grado, Pula und Triest ortsansässige Angehörige des Kaiserdienstes als Stifter auftreten: Jean-Pierre Caillet, L’évergétisme monumental chrétien en Italie et à ses marges d’après l’épigraphie des pavements de mosaïque (IVe-VIIe s.). Rom 1993, 423–425 und 459f. Das häufig zu lesende Urteil, dass gerade Bauinschriften weniger Reichsaristokraten als Stifter bezeugen als früher, ist dadurch zu relativieren, dass gerade in kirchlichen Kontexten die meisten Stifter ohne Titel und Amtsbezeichnung auftraten. Stark engagiert waren lokale Aristokraten auch im Almosenwesen: vgl. dazu nur Stefan Rebenich, Viri nobiles, viri deserti, viri locupletes: von der heidnischen zur christlichen Patronage im vierten Jahrhundert, in: Angelika Dörfler-Kierken u.a. (Hrsgg.), Christen und Nichtchristen in Spätantike, Neuzeit und Gegenwart. Mandelbachtal/Cambridge 2001, 61–80; Richard Finn, Almsgiving in the Later Roman Empire: Christian Promotion and Practice (313–450). Oxford 2006, 203–214.
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Druck belegen, dem die „Verweigerer“ unter den Notabeln ausgesetzt waren. Die folgende Untersuchung wird bestätigen, dass städtische Ämter wie das Defensorat für die Eliten, gerade auch die nicht-kurialen, weiterhin sehr erstrebenswert blieben. Es gibt demnach keine hinreichende Evidenz für die Annahme einer verbreiteten Distanzierung der Eliten im 5. und 6. Jahrhundert oder einen grundsätzlichen Widerstand gegen die Einbindung in die Stadtregierung. Überzeugender bleibt daher die Position, die schon Dietrich Claude vertrat, Avshalom Laniados Arbeit jüngst bestätigt und Mark Whittow besonders pointiert formuliert hat: Der Übergang vom Kurien- zum Notabelnregiment war nicht mehr als eine institutionelle Veränderung, die weder für die Städte noch für die sozialen Strukturen der städtischen Eliten eine grundstürzende Zäsur darstellte. Dieselben Oligarchien übten unter neuen Namen und in neuen Institutionen dieselbe Honoratiorenherrschaft aus, die sie schon seit Jahrhunderten innegehabt hatten.19 Kritik hat auch Liebeschuetz’ Urteil hervorgerufen, dass dem Notabelnregiment aufgrund mangelnder Formalisierung und Verbindlichkeit die nötige Effizienz gefehlt habe. Dagegen hat man etwa vorgebracht, dass die Vernachlässigung des urbanistischen Erbes der Städte regional und teilweise von Stadt zu Stadt sehr unterschiedlichen chronologischen Mustern folgte, mancherorts, gerade im Westen, lange vor dem Auftauchen der Notabelnversammlungen begann und in vielen Städten vor allem im Osten erst viel später eintrat. Das Schicksal der antiken Stadtbilder gehorchte offenbar anderen Gesetzen, die wohl eher in funktionalen Veränderungen städtischer Räume durch die Christianisierung oder aufgrund von Wandlungen im Repräsentationsverhalten der städtischen Eliten zu suchen sind.20 19 So Whittow, Ruling (wie Anm. 18); mit demselben Tenor Laniado, Notables (wie Anm. 5), bes. im Ergebniskap.; Simon Loseby, Mediterranean Cities, in: Philip Rousseau (Hrsg.), A Companion to Late Antiquity. Chichester 2009, 139–155, hier 146f. und 153. Vgl. schon Claude, Stadt (wie Anm. 6), 160: „Man gewinnt den Eindruck, als ob die neue Stadtverwaltung gesünder und kräftiger war als die Kurie in den letzten beiden Jahrhunderten ihres Bestehens.“ 20 So begann der Rückbau einiger gallischer Städte unter Auflassung der monumentalen Stadtzentren bereits im 3. Jh., auch in blühenden Gemeinden wie Bordeaux: Loseby, Decline (wie Anm. 14), 67–86; Witschel, Spätantikes Städtewesen (wie Anm. 14), 237–242 (wohingegen Köln noch im späteren 4. Jh. vergrößert wurde: Werner Eck, Colonia zwischen Römischem Reich und fränkischer Herrschaft: Ein Übergang, kein Abbruch, in: Redha Attoui (Hrsg.), When did Antiquity End? Archaeological Case Studies in three Continents. Oxford 2011, 1– 13, hier 1f.). Ähnliches zeigt für Hispanien Michael Kulikowski, Late Roman Spain and its Cities. Baltimore 2004, Kap. 5. Dagegen wurde in Ephesos noch im 5. und teilweise 6. Jh. das monumentale Stadtbild mit großem Aufwand instandgehalten: dazu Clive Foss, Ephesus after Antiquity: A Late Antique, Byzantine and Turkish City. Cambridge 1979, Kap. 5; Hilke Thür, Die spätantike Bauphase der Kuretenstraße, in: Renate Pillinger u.a. (Hrsgg.), Efeso paleocristiana e bizantina/Frühchristliches und byzantinisches Ephesos. Wien 1999, 104–120; Franz Alto Bauer, Stadt, Platz und Denkmal in der Spätantike: Untersuchungen zur Ausstattung des öffentlichen Raums in den spätantiken Städten Rom, Konstantinopel und Ephesos. Mainz 1996, 269–299: ebenso in Aphrodisias; Christopher Ratté, New Research on the Urban Development of Aphrodisias in Late Antiquity, in: David Parrish (Hrsg.), Urbanism in Western Asia Minor: New Studies on Aphrodisias, Ephesos, Hierapolis, Pergamon, Perge and Xanthos. Portsmouth 2001, 117–147; ähnliche Evidenz für Antiochien, Apamea und andere Städte des Ostens im 5. und 6. Jh. (bei gleichzeitiger Überbauung öffentlicher Plätze und
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Zudem lässt die kaiserliche Gesetzgebung über die Kompetenzen der Notabelnversamlungen durchaus eine Tendenz zur Formalisierung erkennen. Sie ist nicht nur an der steten Zunahme von Zuständigkeiten der Notabelnversammlungen ablesbar, wie sie oben vorgestellt wurden. Vorschriften wie z.B. die Justinians in Novelle 15 (535), dass das Defensorenamt innerhalb des Kreises der ktetores und oiketores im Jahreswechsel rotieren solle, setzt, bei aller Vagheit der Begrifflichkeit, ein hohes Maß an Verbindlichkeit und durchaus mehr oder minder formalisierte Regeln über die Zusammensetzung der Notabelnversammlungen voraus. Es ist auch nicht denkbar, dass die von Justin II. vorgeschriebene Wahl der Statthalter oder die detaillierten Regelungen einer Konstitution von 530 bezüglich der Finanzverwaltung und Bauaufsicht durch die Notabeln, die Bürgschaften, Verfahren der Rechenschaftsablage und dergleichen vorsieht, ohne solche Regularien auskam. In der Tat haften dort die Notabelnversammlungen wie früher die Kurien für Fehlbeträge der von ihnen nominierten Steuereintreiber.21 Wenn man diese Gesetzestexte nicht als Phantasmen der kaiserlichen Regierung abtun will, muss man davon ausgehen, dass es in den Städten zumindest ab einer gewissen Entwicklungsstufe der Notabelnverwaltung durchaus formalisierte Regeln über Rechte, Pflichten und Zusammensetzung der Notabelnversammlungen gab.22 Die Undeutlichkeit der kaiserlichen Gesetze würde dann lediglich die Vielzahl unterschiedlicher örtlicher Arrangements spiegeln. Insgesamt scheint die Evidenz also gegen eine kausale Verbindung der (im Ergebnis natürlich nicht zu leugnenden) urbanistischen, sozioökonomischen und kulturellen Veränderungen in den spätantiken Städten – vielerorts zweifellos ein „Niedergang“, wenn man so will – mit der Entstehung des Notabelnregiments zu sprechen. Im Folgenden soll es aber nicht weiter um diese Fragen, sondern um ein Problem gehen, das in der Debatte um die Folgen des Notabelnregiments ganz außer Acht geraten ist: nämlich die grundlegende Frage, warum es überhaupt entstand und das Kurienregiment als Herrschaftsform der lokalen Eliten ablöste. Noch für A.H.M. Jones schien diese Frage geklärt: Die Ausdehnung der Reichs Straßen anderswo) bei Saradi, Byzantine City (wie Anm. 14), 259–294 und Stephan Westphalen, „Niedergang oder Wandel?“ – Die spätantiken Städte in Syrien und Palästina aus archäologischer Sicht, in: Krause/Witschel, Stadt in der Spätantike (wie Anm. 6), 181–197. Ein vieldiskutierter Aspekt der Debatte ist die im 5. und 6. Jh. zunehmende Überbauung von Straßen und Plätzen, die Liebeschuetz auf Kontrollverlust der Notabelnregierungen zurückführte; rezente Überblicke zeigen aber, dass das Phänomen schon im 4. Jh. begegnet, häufig unter Aufsicht der Behörden stattfand und zudem später immer wieder revidiert wurde, so dass ein chronologischer Zusammenhang mit dem Notabelnregime auch hier nicht zu konstatieren ist: Saradi loc. cit. sowie vor allem Ine Jacobs, Encroachment in the Eastern Mediterranean between the Fourth and the Seventh Century AD, in: Ancient Society 39, 2009, 203– 243. Insgesamt empfiehlt sich angesichts dieses Befundes ein stark differenzierender Ansatz in Bezug auf den Verlauf und die Ursachen der urbanistischen Veränderungen, wie ihn für Norditalien neuerdings etwa Haug, Stadt als Lebensraum (wie Anm. 14) erprobt hat. 21 Statthalter: NJust 149 (569); Finanzaufsicht: CJ 1.4.26 (530) und NJust 128 (545); die Steuerhaftung dort §16. 22 Früh ist dies etwa schon für die verbindliche Teilnahme von honorati an den Provinziallandtagen belegt: CTh 12.12.12 und 13 (392); MGH epp. III.1 nr.8 (418).
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aristokratie und des kaiserlichen Verwaltungsapparates seit dem 4. Jahrhundert habe die Kurien ihrer potentesten Mitglieder beraubt, weil diese neuen Karrierewege Immunität von kurialen Verpflichtungen brachten. Dadurch sei der Kurialenstand in einem Maße geschwächt worden, dass er den finanziellen und administrativen Aufgaben der Stadtverwaltung nicht mehr gewachsen gewesen sei; deswegen sei er durch die neue Oberschicht der nicht-kurialen honorati etc., ebenjener Notabeln, ersetzt worden.23 Dieses Bild ist freilich in den letzten Jahrzehnten immer fraglicher geworden. Zweifellos entstand aus genannten Gründen eine wachsende Schicht lokaler Elitenangehöriger, die nicht mehr der Kurie angehörten. Doch hat etwa Claude Lepelley nachgewiesen, dass die Städte und Kurien Afrikas sich bis ins erste Drittel des 5. Jahrhunderts solider Prosperität erfreuten24; dasselbe legt Avshalom Laniados Quellensammlung für Kurien und Kuriale im Osten nahe, wo bis ins 6. Jahrhundert hinein auch sehr wohlhabende Kuriale belegt sind25; und was auch immer man von Salvian von Marseilles Vorwürfen aus den 440er Jahren gegen die Kurialen in seinem Gesichtsfeld halten mag, zeigen sie sicherlich keine schwachen Figuren in der lokalen Gesellschaft.26 Natürlich waren die Kurialen eine sozial von Stadt zu Stadt und auch innerhalb einer Kurie sehr heterogene Gruppe, und insgesamt dürften sie sicherlich weniger potent gewesen sein als früher. Trotzdem kann kein Zweifel bestehen, dass auch im 5. Jahrhundert und darüber hinaus vielerorts mit einflussreichen Kurialen zu rechnen ist. Die Einbindung nicht-kurialer Notabeln in die Stadtverwaltung ist aber wie gesagt schon um 400 belegt, und zwar auf einem zentralen Feld lokaler Machtausübung, der Ämterwahl. Wie ist es dann zu erklären, dass die Eliten aus dem Kurialenstand bereit waren, auf so zentralen Feldern ihre Macht zu teilen? Dasselbe Problem stellt sich auch und gerade dort, wo die Kurialen sozioökonomisch absanken: Warum waren jene Kurialen bereit, auch die ihnen verbliebene institutionalisierte Macht an ihre sozial mächtigeren Konkurrenten etwa aus den ortsansässigen honorati abzutreten? Und genauso stellt sich die Frage, welches Interesse die honorati hatten, sich (wieder) in das Alltagsgeschäft der Stadtverwaltung mit all seinen Verbindlichkeiten einbinden zu lassen? Eine Initiative der kaiserlichen Regierung ist auszuschließen; die Vagheit der Regularien und Begrifflichkeit in 23 Jones, Later Roman Empire (wie Anm. 6), 737–760, der damit auf die lange Forschungstradition zum Thema der Kurialenflucht aufbaute; vgl. ebenso noch Wickham, Framing (wie Anm. 14), 596–602. Weder Claude, Byzantinische Stadt (wie Anm. 6) noch Liebeschuetz, Decline (wie Anm. 6) noch Laniado, Notables (wie Anm. 5) behandeln die Frage nach den Gründen der Transformation vom Kurien- zum Notabelnregiment. 24 Lepelley, Cités (wie Anm. 18), Bd. 1; den Rückgang (aber keineswegs ein Verschwinden) euergetischer Maßnahmen ab 400 erklärt er 408–411 mit der Revolte des Gildo und Handelseinbrüchen durch die germanischen Invasionen in Europa, nicht mit einer intrinsisch motivierten Krise des Kurialenstandes. 25 Laniado, Notables (wie Anm. 5), 63–87 und knapper schon Claude, Byzantinische Stadt (wie Anm. 6), 107; bekannte Beispiele sind etwa die in Proc. anec. 29.17–25 (6. Jh.) erwähnte Familie aus Askalon (Diskussion bei Laniado loc. cit. 78) oder die in NJust 121 (535) aus Tarsos. 26 Salv. gub. 5.18 mit der Diskussion bei Jens-Uwe Krause, Spätantike Patronatsformen im Westen des Römischen Reiches. München 1987, 135–143.
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den einschlägigen Gesetzen lässt keinen Zweifel, dass die Reichszentrale lediglich eine Fülle unterschiedlicher, lokal entstandener Arrangements nachträglich sanktionierte. Die These, die im Folgenden vorgestellt werden soll, ist, dass die Gründe für die Entstehung des Notabelnregimes in einem gemeinsamen Interesse der gesamten, kurialen ebenso wie nicht-kurialen, Elite lagen. Dieses gemeinsame Interesse bestand darin, dass die Eliten ihre angestammte kollektive Herrschaft über die Städte gegen eine im 4. Jahrhundert wachsende Bedrohung schützen wollten, nämlich die überragende soziale Macht, die einzelne Mitglieder der lokalen Elite als Patrone akkumulierten. Damit dieses schon länger schwelende strukturelle Problem um 400 einen institutionellen Wandel auslösen konnte, bedurfte es freilich eines Anstoßes, und diesen Anstoß gab die Entwicklung einer neuen aristokratischen Rolle in der städtischen Gesellschaft, die das Patronatsproblem verschärfte: die des defensor civitatis. Der Aufstieg der Defensoren sorgte für eine Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der lokalen Führungsschicht, die ihren aristokratischen Konkurrenten in und jenseits der Kurien so bedrohlich erschien, dass sie auf diese Entwicklung durch die Institutionalisierung neuer kollektiver Entscheidungsorgane zur Wahl und Kontrolle der Defensoren reagierten, die Notabelnversammlungen. Diese Organe erwiesen sich, waren sie einmal etabliert, als geeignet, dem schon immer bestehenden, im 4. Jahrhundert durch die Ausdehnung von Reichsaristokratie und Kaiserdienst aber womöglich noch verstärkten Problem der patronalen Macht von honorati und anderen nicht-kurialen Eliten auch auf weiteren Gebieten entgegenzusteuern. So vollzog sich die Transformation zum Notabelnregime – durch eine auf den ersten Blick vollkommen separate Entwicklung, die in der Forschung bislang nie damit in Verbindung gebracht worden ist. Um diese These zu begründen, geht die folgende Untersuchung in drei Schritten vor. Zuerst wird der Aufstieg des defensor civitatis im Imperium dargestellt und ein Modell entworfen, wie sich die Machtverhältnisse innerhalb der Städte und ihrer Eliten durch diese Entwicklung verschoben. Der zweite Teil behandelt die Reaktion der städtischen Eliten darauf und begründet die These, dass diese Reaktion am Beginn der Transformation zum Notabelnregime stand. Ein dritter Teil verfolgt die Entwicklung des Defensorenamtes im Kontext der innerstädtischen Machtkonstellationen in den Nachfolgestaaten des Westens, die teilweise anders als im Reich verlief. Als Erklärung für diese unterschiedliche Entwicklung bietet sich, wie sich zeigen wird, ein Modell an, das die These vom Aufstieg des Defensorenamtes als Initialzündung der Transformation vom Kurienzum Notabelnregime zusätzlich untermauern kann.
2. DER AUFSTIEG DES DEFENSOR CIVITATIS Der Aufstieg des Defensorenamtes, dessen Inhaber im Griechischen in der Regel ekdikos, im Lateinischen defensor plebis, später civitatis, hießen, begann im Jahre 368 n. Chr. mit der Reform einer städtischen Magistratur, die seit Beginn des 4.
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Jahrhunderts in Städten des Ostens und möglicherweise auch mancherorts im Westen richterliche Aufgaben wahrnahm.27 Durch die Reform wurde diese Magistratur erstens flächendeckend im gesamten Reich eingeführt, zweitens wurde der Kandidatenkreis für das Amt neu definiert (dazu später), und drittens erhielten die Defensoren über die Lokalgerichtsbarkeit hinaus den Auftrag, als eine Art ‚Ombudsmann‘ für die Bevölkerung gegen Missbräuche bei der Steuererhebung und in der Justiz einzuschreiten.28 Um diesem Auftrag Nachdruck zu verleihen, wurden die Defensoren als kaiserliche Beauftragte von den Präfekten ins Amt eingesetzt, nachdem sie von den Städten in interner Wahl vorgeschlagen worden waren.29 Die Bereitstellung einer zugänglichen Alltagsjustiz auf lokaler Ebene und der Schutz der Steuerzahler sollte, wie zahlreiche Fälle aus der Praxis zeigen, fortan der Kern des Defensorenamtes bleiben und wurde als Auftrag in der Ge-
27 Das Datum des Reformgesetzes CTh 1.29.1 („Admodum utiliter edicimus, ut plebs omnis Inlyrici officiis patronorum contra potentium defendatur iniurias“) ist sehr umstritten, da die Handschriften das Konsulat von 364 verzeichnen. Unabhängige Evidenz zeigt aber, dass die Reform im Jahr 368 stattfand: dazu und zu den Daten der im Folgenden zitierten Ausführungsbestimmungen in den Jahren 368 bis 373 Sebastian Schmidt-Hofner, Die kaiserlichen Regesten der Jahre 364 bis 375 n. Chr., in: ZRG RA 125, 2008, 498–600, jeweils ad loc. Die Beschränkung auf das Illyricum scheint der von den Kompilatoren des CTh benutzten Ausfertigung des Gesetzes zu entstammen, denn Ausführungsbestimmungen (s. die folgende Anm.) zeigen zweifelsfrei, dass die Reform von Anfang an im gesamten Reich Geltung besaß. Literatur: Grundlegend ist bis heute Émile Chénon, Étude historique sur le defensor civitatis, in: Nouvelle Revue Historique de Droit Français et Étranger 13, 1889, 321–362 und 515–561; Chénons Quellenbasis wurde durch B. R. Rees, The Defensor Civitatis in Egypt, in: Journal of Juristic Papyrology 6, 1952, 73–102, um die Papyri erweitert, sein Bild von Detailfragen abgesehen im Wesentlichen bestätigt. Weitere neuere Literatur ergänzt oder diskutiert Details (in enger Auswahl): Vincenzo Mannino, Ricerche sul „defensor civitatis“. Mailand 1984; François Jacques, Le défenseur de la cité d’après la Lettre 22* de Saint Augustin, in: Revue des Études Augustiniennes 32, 1986, 56–73; Robert Frakes: Contra potentium iniurias: the defensor civitatis and Late Roman Justice. München 2001, sowie, mit Diskussion der wesentlichen Forschungsdebatten um das Defensorenamt (auf die hier verzichtet wird), Sebastian Schmidt-Hofner, Staatswerdung von unten. Justiznutzung und Strukturgenese im Gerichtswesen der römischen Kaiserzeit, in: Peter Eich u.a (Hrsgg.), Der wiederkehrende Leviathan: Staatlichkeit und Staatswerdung in Spätantike und Früher Neuzeit. Heidelberg 2011, 139–179, hier 154–164. S. dort 154f. Anm. 57 und 64 zur Vorgeschichte des Amtes. (Der genannte Beitrag und einige Aspekte des Folgenden sind als eine zusammenhängende Untersuchung zum Defensorenamt bereits in Sebastian Schmidt-Hofner, Reagieren und Gestalten: Der Regierungsstil des spätrömischen Kaisers am Beispiel der Gesetzgebung Valentinians I. München 2008, 71–74, angekündigt.) 28 Vgl. neben CTh 1.29.1 auch die Ausführungsbestimmungen CTh 1.29.2 und 3 (368), 13.10.7 (371; vgl. dazu Denis Feissel, Une inscription de Kos et une loi de Valens, in: Chiron 39, 2009, 297–322) und 1.29.5 (373). 29 Ernennung durch Präfekten: CTh 1.29.1. Vorschlag der Städte: CTh 1.29.7 spricht von einer Wahl decreto civitatum, Quellen ab 409 nennen die Notabelnversammlungen als Wahlorgane: s.o. Anm. 7f. Anfänglich, also seit 368, dürften die Defensoren von den Kurien vorgeschlagen worden sein, wie dies auch beim bisherigen höchsten Magistraten, dem curator, der Fall war: S. zu der Debatte darüber Schmidt-Hofner, Justiznutzung (wie Anm. 27), 159 Anm. 80.
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setzgebung mehrfach wiederholt.30 Sehr bald jedoch begegnen Defensoren auch auf anderen Feldern. Seit den 380er–390er Jahren ist bezeugt, dass die Defensoren, allein oder mit anderen Magistraten, in die Verwaltung öffentlichen Landbesitzes involviert waren31, Rechtsgeschäfte in den gesta municipalia dokumentierten32, die Mitgliedschaft in den corpora und collegia der Städte einschließlich der Kurien überwachten33 und polizeiliche Funktionen aller Art wahrnahmen34: bei der Bekämpfung von latrones, als Vollzugsorgane gegenüber korrupten Steuereintreibern, in der Sittenaufsicht und nicht zuletzt bei der Bekämpfung von Heiden und Häretikern.35 In alle Aufgaben, die den Notabelnversammlungen seit dem 5. Jahrhundert zuwuchsen, waren die Defensoren ohnehin eingebunden. Der Höhepunkt dieses steten Machtzuwachses ist in Justinians 15. Novelle von 535 erreicht; sie listet fast alle der bereits genannten Zuständigkeiten in der Rechtsprechung, der Steuererhebung und der Polizeigewalt auf und fasst zusammen, dass der Defensor „in allem die Stelle des Statthalters einnehmen soll, besonders wenn keiner vor Ort ist“ (§3.1). So möge sich (§6.1) jede Stadt eines einzigen obersten Magistraten (archon/iudex) statt einer Vielzahl erfreuen, da deren Zuständigkeiten der Defensor nun alle in sich vereinige. Der Defensor war damit formell das Oberhaupt der Stadt geworden. Andere Gesetze Justinians bestätigen dies.36 30 Lokalgerichtsbarkeit: Lib. or. 29.12f. (384); NMaj 3 (458); I. Sardeis 7.1 Nr. 18 = Marco Di Branco, Lavoro e conflittualità sociale in una città tardoantica: una rilettura dell’epigrafe di Sardi, in: Antiquité Tardive 8, 2000, 181–208 (459); CJ 1.49.1 §1 (479); 4.30.14 §4–6 (528); 1.4.26 §12 (530); 3.1.18 (justinianisch); NJust 7 Epilog und 15 (beide 535), 90 (539); einschlägige Papyri bei Rees, Defensor (wie Anm. 27), 87, 89–91, 93f. Überwachung der Steuererhebung: CTh 11.7.2 (383), 11.1.19 (384), 7.1.12 (384), 12.6.23 (386 Seeck); CJ 1.55.4 (384); CTh 11.8.3 (392); CJ 1.55.8 (409); NMaj 3 (458); CJ 1.4.18 (Anastasios, vor 505); CJ 4.66.4 (531); NJust 15 (535); 130 §5 (545). 31 CTh 5.14.33 (392); 13.11.10 (399). 32 CTh 3.11.1 (380) = CJ 5.7.1; CTh 3.30.6 (396); 8.12.8 (415); CJ 8.53.30 §1f. (459); 1.57.1 (469); 1.3.31 (472; widerrufen, wohl für einen Sonderfall, in 8.53.32, 496), 1.4.30 (531); 1.4.32 (Justinian); NJust 124 §1; 130 §5; 131 §5 (alle 545) sowie die Papyri-Belege bei Rees, Defensor (wie Anm. 27), 94. 33 CTh 12.19.3 (400): Kuriale; 10.22.6 (412) = CJ 11.10.4: fabricenses; 12.1.177 (413): Kuriale; NJust 101 §3 (539): Kuriale. Vgl. in diesem Zusammenhang auch CJ 12.21.8 §1 (484): Defensoren überwachen die Stellung von fideiussores für scheidende agentes in rebus. 34 CTh 1.29.8 (392) = CJ 1.55.6: Bekämpfung von latrones. Vollzugsgewalt gegen Verbrecher: CTh 8.5.59 (400); 11.8.3 (409); CJ 1.4.22 (529). CJ 1.4.25 (529). NJust 133 §6 (539) und 124 §44 (546): Sittenaufsicht. CTh 7.16.3 (420) = CJ 12.44.1: Lieferungen ins feindliche Ausland müssen in den acta beim Defensor festgehalten werden. Weitere polizeiliche Aufgaben in den Papyri bei Rees, Defensor (wie Anm. 27), 89–91, 93f. 35 CTh 16.10.12 §4 (392): das allgemeine Opferverbot soll von iudices ac defensores et curiales singularum urbium überwacht werden. Ähnlich CTh 16.10.13 (395), 16.6.4 §4 (405) zu Donatisten (principales vel defensores civitatum), 16.5.40 = CJ 1.5.4 (407) zu Priszillianisten, Manichäaern u.a. (principales vel defensores civitatum); 16.5.45 (408): defensor und curiales sollen Häretikerversammlungen unterbinden; ähnlich CJ 1.5.8 §13 (455). Entsprechend ist das Defensorenamt bald schon explizit Juden, Samaritern und Häretikern verschlossen: NTh 3 §2 (438); CJ 1.5.12 §7 (529). 36 NJust 7 über die alienatio bonorum ecclesiasticorum endet im Epilog mit einer Liste aller Richter, die die neuen Regelungen überwachen sollen: Präfekte, Vikare, Prokonsuln, comites,
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Damit fixierte Justinian freilich nur eine Entwicklung, die faktisch vielerorts bereits ab dem späten 4. Jahrhundert eingesetzt zu haben scheint: Ab den 390er Jahren ist der defensor der mit Abstand am häufigsten in der Gesetzgebung genannte Amtsträger auf Stadtebene, während die übrigen hohen Magistrate – curator, exactor, später pater tes poleos und pagarchos – viel seltener auftauchen. Um dieselbe Zeit scheint der Defensor auch die Rechtspflege in den Städten gänzlich monopolisiert zu haben: Zwar war die Gerichtsbarkeit der Duumvirn und anderer städtischer Magistrate durch die Reform des Defensorenamtes 368 nicht abgeschafft worden, doch verschwindet sie seitdem aus den Quellen.37 In zahlreichen Konstitutionen firmiert der Defensor jetzt als einziger individuell bezeichneter Amtsträger auf Stadtebene neben Kollektiven wie den principales, ordo/curiales oder den Notabeln, und in einer davon aus dem Jahr 415 heißt es, dass donationes bei den Magistraten oder dem Defensor in den acta publica festgehalten werden müssen, nicht aber beim curator, dessen Stellung dafür zu vilis sei.38 Andere Quellen bestätigen das Bild: Christliche Erbauungsliteratur wie die Vita des Bischofs Porphyrios von Gaza, entstanden in der ersten Hälfte des 5. Jahrhunderts, präsentiert einen demekdikos (=defensor) als Stadtoberhaupt und (heidnischen) Statthalter und, für die Städte, defensores. In einem an NJust 8, Justinians großer Novelle gegen den Ämterkauf der Provinzstatthalterschaften, angehängten Edikt werden auch die Sporteln festgesetzt, die ein defensor bei Amtsantritt dem officium des Präfekten maximal entrichten darf; in der ebenfalls der Novelle angehängten notitia, die für jeden Statthalter Maximalhöhe und Empfänger der Sporteln festlegt, firmiert an letzter Stelle und als einziger städtischer Magistrat der defensor. Der defensor rangierte demnach eindeutig als Oberhaupt der untersten Verwaltungsebene, der Städte. Vgl. auch NJust 15 = 104 (537) für Sizilien. In der Tat ist es im Jahr 550 der defensor, unter dessen Leitung die Notabeln der Stadt Mopsuestia (16 Kleriker und 17 seniores, clarissimi, possessores und habitatores) zusammentreten, um die Tilgung Bischof Theodors aus den Diptychen zu bestätigen: s.o. Anm. 10. 37 Nach 368 nur noch in CTh 11.31.3 (370 Seeck) sowie vielleicht in 12.1.174 (412), nach dem die Duumvirn ihre potestas fascium nicht über die Grenzen der Stadt hinaus erweitern dürfen. Wenn einige Rechtstexte über die Gerichtsbarkeit der magistratus municipales auch in CJ und Digesten aufgenommen wurden, bezogen diese sich zur Zeit des CJ mit Sicherheit auf die Gerichtsbarkeit des Defensors. Dunkel ist ein Verweis bei Sidon. ep. 2.7 (um 469) auf decemvirales pontificalesque sententias in einer Rechtssache, was zunächst nach einem späten Beleg für magistratische Gerichtsbarkeit jenseits des Defensors klingt. Doch sind Xviri in Gallien niemals als reguläre Obermagistrate bezeugt (Wilhelm Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. Leipzig 1900, 267 Anm. 1), so dass es sich dabei wohl eher um einen Archaismus wie pontifex für Bischof handelt, der dann freilich jedes städtische Gericht, auch das des defensor, meinen könnte. Die Wortwahl könnte nicht zuletzt auch einen Zustand spiegeln, in dem der Defensor – aus später zu diskutierenden Gründen – in Gallien bereits an Einfluss verloren hatte, dafür aber Notabelngerichte auftauchen wie in Greg. hist. 7.47 und anderen Quellen in Anm. 81. Generell zur munizipalen Rechtsprechung in der Spätantike Schmidt-Hofner, Justiznutzung (wie Anm. 27). 38 CTh 8.12.8 (415). Defensor einzig benannt neben Kollektiven: CTh 16.10.12 (392), 16.10.13 (395), 12.19.3 (400), CJ 1.49.1 §1 (479) u.v.a.m. Die Proömien von NMaj 3 (458) und NJust 15 (535) sprechen davon, dass das Defensorenamt in vielen Städten außer Gebrauch geraten sei oder Ansehen verloren habe; wenn das, wie viele Kommentatoren meinen, die Realität wiedergibt und nicht topisch ist, war dies nach Ausweis der Quellenlage eine jeweils zeitlich befristete Entwicklung, die die Entwicklung nicht grundsätzlich in Frage stellt.
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Gegenspieler ihres Helden.39 In der Enzyklika des Bischofs Severus von Menorca über die Bekehrung der Juden seiner Insel aus dem Jahr 418 firmiert ebenfalls der defensor, ein Großgrundbesitzer und weit vernetzter Aristokrat, als (jüdischer) Widerpart und machtvollster Mann der Stadt.40 In einem Machtkampf um den Bischofsstuhl von Aix-en-Provence im Jahr 417 war es der Defensor der Stadt, der nach einem päpstlichen Schreiben dem Bischofskandidaten gegenüberstand und dafür mit dem Leben zahlte.41 Schon 401 verlangte eine Synode in Karthago vom Kaiser, den Bischöfen der Reichskirche ein Mitspracherecht bei der Bestellung der Defensoren zu geben, wahrscheinlich um zu verhindern, dass einflussreiche Donatisten das Machtpotential des Amtes nutzen konnten.42 Dieselbe Absicht könnte hinter einem Brief Augustins aus dem Jahr 420 gestanden haben, in dem dieser einen gut vernetzten Amtsbruder um Unterstützung bei der Bestellung eines Defensors für seine Stadt bittet: „Alle“ seien zwar für einen gewissen Ursus, aber er wisse nicht, gibt sich Augustinus ganz naiv, ob ein militans das Amt übernehmen dürfe; wenn nein, könne man vielleicht zwei privati namens Eusebius und Eleusinus gewinnen. Man hat sich in der Forschung stets über Augustins ungewohnte rechtliche Unbildung in diesem Bereich gewundert und daraus auf die Seltenheit des Amtes in Africa geschlossen. Wenigstens gegenüber der Forschung ist die Taktik des Bischofs von Hippo damit aufgegangen – in Wirklichkeit dürfte hinter seiner unschuldigen Frage die Absicht gesteckt haben, einen ihm genehmen Kandidaten für das wichtige Amt mit Hilfe von außen durchzusetzen.43 Bezeichnenderweise tauchen seit den 390er Jahren Gesetze auf, die ambitio bei und Einflussnahme auf die Wahl der Defensoren untersagen.44 Seit dem späten 4. Jahrhundert also wuchsen die Defensoren in die Stellung des führenden Magistraten ihrer Städte hinein. Wie ist dieser rasante Machtzuwachs zu erklären? Motor dieser Entwicklung scheint der patronale Charakter des Amtes gewesen sein. So verband sich die Rechtsprechung der Defensoren, wie 39 §25 ed. Henri Grégoire/Marc-Antoine Kugener, Marcus Diaconus, Vie de Porphyre évêque de Gaza. Paris 1930. 40 §6f. ed. Scott Bradbury, Severus Minoricensis: Letter on the conversion of the Jews. Oxford 1996; ibd. 9–15 zur Abfassungszeit (kurz nach dem berichteten Ereignis im Jahre 418). 41 Coll. Avell. 46 (CSEL 35) §5, Brief des Papstes Zosimus von 417 an den afrikanischen Episkopat. 42 Can. 75 der Karthagischen Synode vom 13. September 401 (CCSL 149, 202); die Identifikation als defensor civitatis (nach einer Handschrift, statt ecclesiae, wie es die in CCSL abgedruckte Lesart will) teilen u.a. Frakes, Defensor (wie Anm. 27), 180–185, und Liebeschuetz, Decline (wie Anm. 6), 149 folgt. Der antidonatistische Kontext der Forderung geht daraus hervor, dass die gesamte Versammlung sich vor allem um Maßnahmen gegen die Donatisten drehte: CCSL 149, 198–205; vgl. dazu auch Jean-Louis Maier, Le dossier du donatisme, Bd. 2. Berlin 1989, 111–115. 43 Augustin. ep. 22*, §2–4 (CSEL 88); mit dem Kommentar von Serge Lancel, Oeuvres de St. Augustine 46 B. Paris 1987, 523–525 zum Datum und zu den beteiligten Personen. Die Seltenheit des Amtes in Africa z.B. bei Claude Lepelley, La crise de l’Afrique romaine au début du Ve siècle, d’après les lettres nouvellement découvertes de saint Augustin, in: Académie des Inscriptions et Belles-Lettres: Comptes rendus des séances 1981, 445–463, hier 453f. und Jacques, Défenseur (wie Anm. 27), 72. 44 CTh 1.29.7 (392); CJ 1.55.4 (409).
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eine Ausführungsbestimmung des Reformgesetzes von 368 formuliert, mit dem Auftrag, „dass die unschuldige, brave Landbevölkerung sich der Wohltat eines besonderen Schutzes (patrocinium) erfreuen möge, nicht erschöpft werde durch die Betrügereien bei einer Gerichtsverhandlung, wo ein gieriger Anwalt angestellt, ein Kanzleivorsteher mit hohen Gaben bestochen, Unterlagen von den Sekretären erworben“ werden müssen und Gebühren anfallen, die den Streitwert übersteigen.45 Die Gerichtsbarkeit des Defensoren – die sich keineswegs auf Bagatellsachen beschränkte46 – war also mit einem besonderen Schutzauftrag, patrocinium, verbunden. Dies bestätigen andere Quellen, auch solche aus der Praxis: Libanios zum Beispiel intervenierte 384 zugunsten einer Bäckersfrau, deren Beschwerden gegen einen oppressiven Offizialen er vor das Gericht des syndikos (=defensor) der Stadt zog; dieser brachte den Offizialen tatsächlich zur Räson und erwirkte einen Vergleich.47 Seine Wirksamkeit erhielt dieses patrocinium dadurch, dass zu dem Amt nur honorati, also ehemalige hohe Beamte oder Inhaber entsprechender Honorarwürden, zugelassen waren: Das Reformgesetz von 368 nennt ehemalige Statthalter, agentes in rebus und Beamte der Hofverwaltung (palatini); andere Quellen bestätigen diesen Kandidatenkreis und ergänzen ihn z.B. um principes officiorum oder Inhaber des comes-Titels. Kurialen dagegen war dieses Amt explizit verschlossen.48 Die richterliche Entscheidung eines Defensoren genoss daher besondere Autorität: wegen des hohen sozialen Ranges des Richters ebenso wie wegen des kaiserlichen Schutzauftrags, auf den sie sich berufen konnte. Gerade, aber nicht nur, wenn Angehörige der kaiserlichen militia involviert waren, war die Gerichtsbarkeit des Defensoren für den Rechtssuchenden 45 CTh 1.29.5 (373): „Utili ratione prospectum est, ut innocens et quieta rusticitas peculiaris patrocinii beneficio fruatur, ne forensis iurgii fraudibus fatigata, etiam cum ultionem posceret, vexaretur; dum aut avarior instruitur advocatus aut obsessor liminis maioribus princeps praemiis exoratur, dum acta ab exceptoribus distrahuntur, dum commodi nomine amplius ab eo qui vicerit intercessor exposcit quam redditurus est ille qui fuerit superatus.“ 46 Gesetzlich definiert sind Streitwertgrenzen von 50 (CJ 1.55.1) bzw. 300 solidi (NJust 15 §3); die Jahresration eines Soldaten betrug etwa 5 sol. (Jones, Later Roman Empire [wie Anm. 6], 447 mit weiteren ähnlichen Angaben), und die bestbezahlten Offizialen der afrikanischen Prätoriumspräfektur erhielten im Jahre 534 ohne Sporteln 42 sol. (CJ 1.27.1). 47 Lib. or. 29.12f. mit Hans-Ulrich Wiemer, Der Sophist Libanios und die Bäcker von Antiocheia, in: Athenaeum N.S. 84, 1996, 527–548, hier 535–541. Vgl. für den Schutzauftrag als Richter auch CTh 1.29.2 (368) und CJ 1.55.4 (385). 48 Die Bestimmungen zum Kandidatenkreis in CTh 1.29.1 (368) = CJ 1.55.1; CTh 1.29.3 (= CJ 1.55.2); CTh 1.29.4 (beide 368); CTh 12.1.74 §3 (371); CTh 1.29.5 (373) = CJ 1.55.3; NJust 15 §1 (535) werden durch zahlreiche Beispiele aus der Praxis bestätigt: z.B. CIL X 4863 (Italien, 4. Jh.): ehemaliger Statthalter als defensor; Inschrift aus Eresos (um 400) in Byzantion 4, 1927/8 (1929), 715: ein palatinus; I. Sardeis 7.1 Nr. 18 (s. Anm. 30): ein ehemaliger princeps der agentes in rebus in Sardeis im Jahr 459; SEG XIX, 414 (Thessalien, 4./5. Jh): ein eparchikos; dasselbe in PSI VIII 872 (6. Jh.); P. Ross. Georg. III 43 (6. Jh.): ein lamprotatos comes (wie auch in anderen Papyri). Beispiele für Defensoren im Rang von perfectissimi und clarissimi bei Frakes, Defensor (wie Anm. 27), 65f. In der Forschung findet sich bisweilen das Missverständnis, das Defensorenamt sei durch kaiserliche Beamte wahrgenommen worden; tatsächlich waren es honorati, also ehemalige Beamte bzw. Träger entsprechender Ehrentitel: Dies geht klar aus CTh 1.29.3 und 4 und NJust 35§1 hervor; s. auch Schmidt-Hofner, Justiznutzung (wie Anm. 27), 160f.
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daher weit attraktiver als die eines städtischen Magistraten. Nicht zufällig wandte sich Libanios’ Bäckerin im Streit mit dem Offizialen nicht an einen traditionellen Gerichtsmagistraten, sondern an den Defensor. So erklärt sich auch deren langsame Verdrängung durch die Defensoren. Der patronale Schutzauftrag galt freilich nicht nur für die richterlichen Aufgaben der Defensoren. Die Anordnung des Reformgesetzes von 368, „dass alles Volk … durch das Amt eines Patrons (officiis patronorum) Schutz gegen die Untaten der Mächtigen finden soll“, bezieht sich z. B. auf Missbräuche in der Steuererhebung, die Rede vom defensor als Patron findet sich aber auch auf diversen anderen Gebieten49: Schon bald agierten Defensoren als Patrone von Dekurionen und collegiati gegen die Ansprüche ihrer corpora; und einem Erlass zufolge wurde ein Defensor von der Familie einer reichen Erbin als Protektor gegen hohe kaiserliche Beamte bemüht, die die Erbin angeblich in eine ungewollte Ehe zwingen wollten.50 So beanspruchte das Patronat der Defensoren bald eine Allzuständigkeit, die die kaiserliche Gesetzgebung dann auch sanktionierte: Sie sollen das Recht haben, das Volk in ihren Städten zu schützen, und die Vollmacht, was auch immer die öffentliche Wohlfahrt betrifft, aufgrund des Vorrechts der ihnen per Gesetz zugestandenen Würde entweder umzusetzen oder Unseren Gnaden zu Kenntnis zu bringen.51
Zur Durchsetzung ihres Patronats hatten die Defensoren das verbriefte Recht, unaufgefordert alle kaiserlichen Mandatsträger aufzusuchen, und Kaiser Maiorian forderte die Defensoren 458 sogar auf, den Kaiser selbst durch Reporte über „Zustände in Unseren Provinzen“ zu informieren, „von denen Wir, von größeren Sorgen belastet, nichts wissen.“52 Vor diesem Hintergrund erklärt sich, wie das Defensorenamt innerhalb einer Generation zu der machtvollsten aristokratischen Rolle auf städtischer Ebene werden konnte. Der Einfluss der Defensoren beruhte auf ihrer Rolle als Patrone, deren Patronat deswegen so mächtig war, weil er durch den Kaiser selbst legitimiert war, weil er durch den hohen persönlichen Rang eines honoratus über herausragende Autorität verfügte, weil er durch privilegierten Zugang zum kaiserlichen Machtapparat reales Drohpotential suggerierte und weil er Allzuständigkeit im städtischen Leben für sich reklamieren konnte. In einer Gesellschaft, die stark durch Patronats- bzw. Klientelbeziehungen strukturiert war, konnte das Defensorenamt mit dieser ‚patronalen Macht‘ in den Händen eines ehrgeizigen Aristokraten zu einem höchst wirkungsvollen und für Konkurrenten gefährlichen Instrument werden. In der Tat kann z.B. Severus von Menorca den langjährigen Defensor Theodorus im Jahr 418 als patronus municipum bezeichnen, der auctoritate sua multos terruit. 392 gingen in der Präfektur Oriens Defensoren gegen das 49 CTh 1.29.1, s.o. Anm. 27. Vgl z.B. 1.29.3, 5, 7; CJ 1.55.4 etc. 50 Patron gegen Ansprüche der corporati: CTh 12.19.3 (400); Erbinnen: CTh 3.11.1, 380 (wo der Defensor als vindex civitatis bezeichnet wird; vgl. aber die Richtigstellung in der Kopie CJ 5.7.1). 51 NMaj 3 (458): „ autoritatem tuendae ... plebis accipant et, quaecumque utilitatem publicam respiciunt ... vel exequendae vel insinuandi auribus mansuetudinis nostrae habeant potestatem.“ 52 CJ 1.55.4 (385); NMaj 3 (458; s. vorhergehende Anm.).
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patrocinium über angebliche latrones vor, was in der Sache und in der Sprache stark an die Machtkämpfe innerhalb der lokalen Aristokratie erinnert, die wir aus Libanios’ Angriffen gegen das patrocinium vicorum seiner Gegner in der städtischen Elite kennen.53 Und schließlich bezeugen mehrere Gesetze gegen Amtsmissbrauch von Defensoren deren Machtpotential gegenüber ihren aristokratischen peers: So drohen kaiserliche Erlasse Strafen für Defensoren an, die bei der Vergabe von Domänenland oder, ein anderes Mal, bei Landzuweisungen an laeti, einzelne possessores bevorzugt, andere benachteiligt hatten; ein anderer Erlass bestraft Defensoren mit dem Exil, die flüchtigen Kurialen und collegiati ihr patrocinium gewährt hatten, und ein weiterer untersagt den Defensoren – wohl ausnahmsweise – die Verhängung von Strafen und Anwendung der Folter mit den Worten: Die Defensoren sollen sich nichts in überheblicher Weise anmaßen, was ihnen nicht zukommt, sondern nur den Auftrag erfüllen, den ihr Titel enthält …, nämlich Volk und Dekurionen ... zu schützen.54
Solche Erlasse gingen ohne Zweifel auf Konflikte zwischen Defensoren und anderen Elitenangehörigen zurück, in denen Letztere die kaiserliche Regierung einschalteten, um Machtchancen und -missbrauch ihres Konkurrenten durch ein Reskript zu beschränken. 3. DER DEFENSOR CIVITATIS UND DIE ENTSTEHUNG DES NOTABELNREGIMENTS Es sticht nun ins Auge, dass diese Machtposition der Defensoren sich nach Ausweis der genannten Quellen um das Jahr 400 etablierte, also just in dem Zeitraum, in dem die Notabelnversammlungen als Leitungsorgane der Städte auftauchten. Mehr noch, der erste Beleg dieser Versammlungen ist ein kaiserlicher Erlass aus dem Jahr 409, der die Wahl der Defensoren honoratorum ac possessorum et curialium decreto, also durch eine Notabelnversammlung vorschreibt. Falls ein Gesetz des Jahres 392, das sehr vage von einer Wahl durch die civitates (statt, wie davor wohl der Fall, durch die Kurie) spricht, dasselbe Gremium meint, wären die
53 Theodorus: Severus von Menorca (wie Anm. 40), §6f.; latrones: CTh 1.29.8. Das Motiv der von patroni geschützten latrones bei Lib. or. 47 (de patrociniis) oder or. 39 (gegen Mixidemos); s. dazu im Folgenden. 54 Vergabe von Domänenland: CTh 5.14.33 (392); Landzuweisungen an laeti: 13.11.10 (399); patrocinium für flüchtige Kurialen und collegiati: 12.19.3 (400); 1.29.7 (392) zum Kriminalprozess: „Defensores nihil sibi insolenter, nihil indebitum vindicantes, nominis sui tantum fungantur officio: nullas infligant multas, nullas exerceant quaestiones. plebem tantum vel decuriones ab omni improborum insolentia et temeritate tueantur“. Das Verbot der Strafgewalt war sicherlich auf einen konkreten Zusammenhang bezogen; die Kopie CJ 1.55.5 ersetzt bezeichnenderweise „nullas exerceant quaestiones“ durch „severiores non exerceant quaestiones.“
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Notabelnversammlungen als Wahlorgan der Defensoren noch früher belegt.55 Außerdem beruft sich ein späterer Erlass über die Zusammensetzung des Wahlgremiums eines anderen Magistraten durch die Notabelnversammlung explizit auf das Vorbild der Defensorenwahl. Wenn das Wahlgremium der Defensoren demnach Modellcharakter für die Zusammensetzung der Notabelnversammlungen besaß, könnte das zusätzlich für sein hohes Alter sprechen.56 Die im Folgenden zu begründende These ist, dass diese Koinzidenz keinen Zufall darstellt, sondern dass die Notabelnversammlungen vielmehr als Reaktion der lokalen Aristokratien auf ein Gefahrenpotential zu deuten sind, das durch die überragende patronale Macht der Defensoren akut wurde und eine Lösung verlangte. Die städtischen Eliten hatten schon immer das Problem gehabt, dass einzelne Elitenangehörige etwa durch einen hohen Rang im Kaiserdienst überragende soziale Macht als Patrone akkumulieren und so ihren peers gefährlich werden konnten. Dieses Problem verschärfte sich im Lauf des 4. Jahrhunderts, als die expandierende Reichsbürokratie eine wachsende Zahl von honorati auf lokaler Ebene schuf, die eine Machtstellung als Patrone aufbauen konnten, welche diejenige vieler ihrer peers übertraf. Dieses Phänomen ist in der Forschung seit Langem erkannt; auch wenn man Ausmaß und bestimmte soziale Folgen dieser sog. „Patroziniumsbewegung“ zu Recht relativiert hat57, dürfte unstrittig sein, dass die zunehmend assymetrische Verteilung patronaler Macht die Spannungen und den Konkurrenzkampf in den städtischen Oberschichten noch verstärkte und bisweilen auch die reibungslose Stadtverwaltung bedrohte: Dies jedenfalls legen unter anderem die Klagen des antiochenischen Redners Libanios Ende des 4. Jahrhunderts nahe, demzufolge solche honorati aus Gewinnstreben als Patrone zum Beispiel Pächter ihrer peers gegen ihre Grundherren aufbrachten oder ihre peers im Kurialenstand an der Erhebung der Steuer hinderten und so ruinierten.58 Wie auch im55 409: CJ 1.55.8 mit Laniado, Defensor (wie Anm. 7); 392: CTh 1.29.6. S.o. Anm. 29 zum Bestellungsmodus. 56 Edicta praefectorum praetorio Nr. 8 (wie Anm. 8). 57 So die heute grundlegende Untersuchung des Gesamtphänomens bei Krause, Patronatsformen (wie Anm. 26) mit ausführlicher Forschungsdebatte zu allen Aspekten. Im Mittelpunkt der Debatte stand das sog. ‚ländliche Patrozinium‘ und seine Effekte: dazu früher schon relativierend Istvan Hahn, Das bäuerliche Patrocinium in Ost und West, in: Klio 50, 1968, 261–276; seitdem (in enger Auswahl) Peter Garnsey/Greg Woolf, Patronage of the Rural Poor in the Roman World, in: Andrew Wallace-Hadrill (Hrsg.), Patronage in Ancient Society. London 1989, 153–170, hier 162–166; Dominic W. Rathbone, Villages and Patronage in FourthCentury Egypt: the Case of P.Ross.Georg. 3.8, in: Bull. of the American Society of Papyrologists 45, 2008, 189–207. Die jüngsten Beiträge zu der damit zusammenhängenden Debatte um den Charakter des spätrömischen Kolonats diskutiert Peter Sarris, Aristocrats, Peasants, and the State in the Later Roman Empire, in: Eich u.a, Leviathan (wie Anm. 27), 375–392. 58 Lib. or. 47 (de patrociniis) und or. 39 (gegen Mixidemos); vgl. die (traditionelle) Interpretation bei Wolf Liebeschuetz, Antioch: City and Imperial Administration in the Later Roman Empire. Oxford 1972, 197–208 mit den kritischen Lesarten bei Jean-Michel Carrie, Patronage et propriété militaires au IVe siecle, in: Bull. de Correspondence Hellenique 100, 1976, 159–176 sowie Krause, Patronatsformen (wie Anm. 26), 83–87. Der Quellenwert dieser Reden für die Macht der Patronage im innerstädtischen Konkurrenzkampf wird durch diese Kritik nicht infragegestellt.
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mer man diese Vorwürfe werten möchte – sie zeigen, wie auch eine Reihe von Gesetzen gegen solche Praktiken, dass Patronage ein wirkungsvolles Mittel in den Machtkämpfen der lokalen Elite war. Ähnliche Vorwürfe wurden, wie die oben genannten Quellen zeigen, auch gegen die Defensoren erhoben. Die von der patronalen Macht der Defensoren ausgehende Bedrohung für die Stadtaristokratien ordnet sich insofern in ein bestehendes strukturelles Problem ein. Trotzdem gibt es einen wesentlichen Unterschied: Die beschriebenen informellen Formen der Patronage konnte man, wie Libanios es tat, immer unter die Anklage der Illegalität stellen; der DefensorPatron dagegen, der derselben Schicht entstammte wie die bei Libanios beschriebenen Patrone – ortsansässige honorati, hohe Beamte, Militärs und dergleichen –, konnte sich bei seinen Interventionen auf den expliziten Auftrag des Kaisers berufen, gegen seine peers in allen öffentlichen Belangen, z.B. „ungerechte“ Steuerforderungen, zu intervenieren und wenn nötig den kaiserlichen Machtapparat gegen sie zu mobilisieren. Die Gefahr, die von der patronalen Machtentfaltung Einzelner für die städtischen Eliten ausging, war durch das Defensorenamt daher noch einmal massiv verschärft worden und trat jetzt zudem flächendeckend im ganzen Reich auf. Die These liegt daher nahe, dass das Defensorenamt als Auslöser und Katalysator für die Neuordnung der Stadtherrschaft im Notabelnregiment wirkte. Der Aufstieg des Defensoren ist in diesem Zeitraum zudem die einzig erkennbare Machtverschiebung innerhalb der städtischen Honoratioren, die massiv und plötzlich genug gewesen wäre, eine radikale institutionelle Neuerung wie die Preisgabe der Prärogative der Kurien in einer politisch zentralen Angelegenheit wie der Ämterbesetzung zu rechtfertigen. Der Bischof wurde in der zweiten Hälfte des 4. Jahrhunderts zwar immer wichtiger im städtischen Machtgefüge, doch hatte er so früh innerhalb der städtischen Honoratioren im Allgemeinen noch keine dem Defensor vergleichbare Position.59 Und es ist auch nicht zu sehen, warum das schon lange existierende Problem der honorati-Patrone erst so spät eine institutionelle Veränderung provoziert haben sollte. Es bedurfte also erst der kritischen Verschärfung des Problems durch das Defensorenamt, damit eine institutionelle Reaktion eintreten konnte.
59 Bezeichnenderweise tauchen die ersten Belege für Versuche der Notablen, Einfluss auf die Wahl des Bischofs zu gewinnen, ein Vierteljahrhundert nach dem Gesetz über die Wahl der Defensoren durch die Notablenversammlungen auf: s.o. Anm. 10; zur Einbindung der Bischöfe in die Notabelnverwaltung im späteren 5. Jh. s. die Quellen oben in Anm. 8–11. Dass der Einfluss der Bischöfe in der Lokalgesellschaft, von Sonderfällen wie Alexandria abgesehen, auf breiter Basis erst im 5. Jh. dominant wurde und davor beschränkt war, gilt in der Forschung als Konsens: Vgl. nur Lepelley, Cités (wie Anm. 18), Bd. 1, 389–402; Rita Lizzi, Il potere episcopale nell’Oriente romano: rappresentazione ideologica e realtà politica (IV–V sec. d. C.). Roma 1987; Giovanni Alberto Cecconi, Vescovi e maggiorenti cristiani nell’Italia centrale fra IV e V secolo, in: Vescovi e pastori in epoca Teodosiana. Rom 1997, 205–224; Liebeschuetz, Decline (wie Anm. 6), Kap. 4, hier 145; die Beiträge von Éric Rebillard und Claire Sotinel in: dies. (Hrsgg.), L’évêque dans la cité du IVe au Ve siècle: image et autorité. Rom 1998, sowie Claudia Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity. The Nature of Christian Leadership in an Age of Transition. Berkeley u.a. 2005, 279–289.
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Warum aber konnten sich die städtischen Eliten von dem neuen Wahlgremium eine Eindämmung des Machtpotentials der Defensoren erhoffen? Instruktiv ist hier eine Episode, die sich in der Stadt Korykos im Rauhen Kilikien abspielte. Dort kam es irgendwann um das Jahr 500 zu einem Machtkampf um das Defensorenamt, von dem wir durch eine Inschrift wissen.60 Sie gibt ein kaiserliches Reskript wieder, das als Wahlorgan des ekdikos, des Defensoren, und eines Amtsträgers namens ephoros, vielleicht des curator, in der Stadt Korykos ein Gremium aus Bischof, Klerus und ausgewählten „Einwohnern“ (oiketores) und „Grundbesitzern“ (ktetores), also eine Notabelnversammlung festsetzt, wie es dem geltenden Recht entsprach.61 Dieselbe Gruppe von Notabeln hatte der Narratio zufolge auch das Reskript erwirkt. Warum diese Bestätigung der Rechtslage erforderlich war, verraten Zusatzbestimmungen: Unter keinen Umständen nämlich solle die Bestellung jener Ämter „der prostasia – d.i. dem patrocinium – jener, die Macht und Einfluss haben“ überlassen bleiben, und „keiner der primates oder der sogenannten ordinarii der Statthalterkanzlei soll wagen, einen namentlichen Vorschlag — —, ein Gesuch oder eine Bittschrift“ bezüglich der Bestellung jener Ämter vorzubringen.62 Offenkundig hatten also Angehörige der städtischen Führungsschicht versucht, die Bestellung des Defensoren und Ephoren mit Hilfe der Statthalterkanzlei unter sich auszumachen; um das zu verhindern, hatten sich ihre übergangenen peers (Klerus, oiketores und ktetores) unter Führung des Ortsbischofs an die kaiserlichen Vertreter gewandt und sich ihr Mitspracherecht bestätigen lassen. Solche Machtkämpfe und Machinationen um das Defensorenamt scheinen häufig vorgekommen zu sein: Das Gesetz über die Defensorenwahl von 409 droht denjenigen mit Anklage, die an den Vorschriften vorbei Defensoren „unter Missachtung der possessores“ zu bestimmen versuchen, das von 392 sieht für ambitio bei der Defensorenwahl eine hohe Fiskalstrafe vor. Ein weiteres Beispiel dafür bietet der oben erwähnte Versuch Augustins, auf die Defensorenwahl 60 MAMA III, Nr. 197A. Einziger belastbarer Datierungsanhalt ist der Name des Adressaten ΛΕΟΝΤ---, was nach den Herausgebern am wahrscheinlichsten mit dem zwischen 500 und 518 als PPO amtierenden Leontios zu identifizieren ist: PLRE II s.v. Leontius 23. 61 Vgl. zur Rechtslage neben den o. Anm. 8 genannten Quellen zeitnah das Edictum praefecti praetorio Nr. 8 (s.o. Anm. 8) sowie CJ 1.4.19 (505). 62 Z. 5–9 (Narratio): „ὁ ὁσιώτ(ατος) ἐπίσκο(πος) τῆ̣ς Κο[ρυκιωτ]ῶν / πόλ(εως) κ(ὲ) ὁ ὑπ’ αὐτῷ τεταγμ(ένος) εὐα̣[γ]ὴς [κλῆρος οἵ] τε / κτήτορες κ(ὲ) οἰκήτορες τῆς αὐτ[ῆς πόλ(εως) περὶ? δι]α / φόρων κ(ε)φαλ(αίων) ἱκέτε τῆς ἡμε̣τέ[ρας κατέστησαν] / γαληνότητος ... Z.11–Ende (Dispositio): θεσπίζομεν τὸν γ̣[ινόμενον? κατ]ὰ κ(αι)ρὸ / ἔκδ(ικον) ὀφίλοντα τὴν ἰρημέν̣[(ην) πόλ(ιν) τηρεῖν ἀσι]νῆ κ(ὲ) / τὸν ταύτης ἔφορον μηδα[μῶς τῇ προστασί]ᾳ / τινων αὐθεντίαν ἢ ἐξου[σίαν ἐχόντων ἐπὶ] / τούτῳ προχιρίζεσθε, ἀλλὰ [— —τῇ ψή] / φῳ κ(ὲ) δοκιμασίᾳ τοῦ τε νῦν κ(ὲ) τ̣[οῦ κατὰ κ(αι)ρὸν] / θεοφιλ(εστάτου) ταύτης ἐπισκό(που) κ(ὲ) τοῦ ὑ[π’ αὐτῷ τεταγμ(ένου)] / ε̣ὐαγοῦς κλήρου κ(ὲ) τῶν ἐ̣ν̣ π̣ᾶ̣σ[̣ ι τοῖς κτήτορ] / σ̣ι̣ κ(ὲ) οἰκήτορσι λογάδων τὴ̣[ν — — γί] / νεσθε προβολὴν, μηδεν[ὸ]ς̣ τ̣[ολμήσοντος τῶν] / τῆς κατὰ χώραν τάξεως π̣[ρω]τ[ευόντων ἢ τῶν κα] / λουμένων ὠρδινα̣ρίων ἐπικ[λήσεσιν — — — μή] / τε̣ ἀ̣ξιώσεσιν̣ ἤ̣τ[̣ ο]ι̣ ἐντεύξεσιν [— — — — —] / [ἢ γραφ]ομένες τ[ὸν] τ̣[ῆ]ς πόλ(εως) ἔκδ(ικον) ἢ̣ [τὸν ταύτης] / [ἔφορον — —“. Die Übersetzung von πρωτεύοντες und ὠρδινάριοι nach Ernst Stein im Kommentar zu MAMA III, Nr. 197A. Text nach der verbesserten Lesung der Packard Humanities Datenbank, 2011.
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in seiner Stadt Einfluss zu nehmen, und ähnliche Versuche der Einflussnahme gaben Justinian den offiziellen Anlass seiner Defensoren-Novelle.63 Die Korykos-Episode und ihre Parallelen werfen damit ein Schlaglicht auf die Interessen der lokalen Eliten bei der Bestellung eines Defensoren. Zu verhindern galt es, dass ein mächtiges Amt von Einzelnen oder kleinen Gruppen kontrolliert wurde. Dagegen konnte man einen durch den Konsens der gesamten städtischen Elite bestellten Defensor so auswählen, dass er deren Interessen teilte und eine Machtentfaltung zu Lasten seiner peers unwahrscheinlich schien. Außerdem konnte man darauf bauen, dass ein solcher, in Übereinstimmung mit den Interessen seiner peers handelnder ‚offizieller Patron‘ den Einfluss anderer, informell mächtiger Patrone minderte und delegitimierte. Es ging also darum, einen Patron zu installieren, der andere, informell mächtige Patrone in der lokalen Elite neutralisierte, dabei aber selbst nicht zu mächtig wurde. Je breiter der Konsens war, der diesem offiziellen Patron seine Macht verlieh, desto wahrscheinlicher wurden diese Ziele erreicht; deswegen schuf man eine Plattform, die alle wichtigen Persönlichkeiten in die Wahl einband, nicht mehr nur die Kurialen, sondern auch honorati oder einfach nur einflussreiche possessores: So entstanden die Notabelnversammlungen. Perfektioniert wurde dieses System der Macht-Einhegung dann unter Justinian, als das Defensorenamt zweijährlich – zuvor scheint die Amtszeit fünf Jahre betragen zu haben – unter den Eliten rotierte.64 Diese Ziele im Umgang mit dem Defensor teilten im Grundsatz zweifellos alle Angehörigen der Elite, mochten sie Kuriale gewesen sein, honorati oder einfach nur einflussreiche possessores; sie alle wollten zu starke Konkurrenten im oder durch das Defensorenamt verhindern. Es lag daher in aller Interesse, dass die Wahl des Defensoren alle Notabeln einer Stadt einband. Gleichwohl musste einer Gruppe innerhalb der lokalen Elite besonders dringend an den geschilderten Zielen gelegen sein: den Kurialen. Viele von ihnen mochten nicht mehr zur Crème der Elite gehören; diese hatten ein eigenes Interesse an einem starken offiziellen Patron und zugleich Angst vor den informellen. Aber auch diejenigen, die noch mit den honorati etc. konkurrieren konnten, hatten ein Problem: Sie waren von dem machtvollen Amt des Defensoren (jedenfalls im 4. und 5. Jahrhundert65) explizit ausgeschlossen. Wollten sie zu starke Konkurrenten im Defensorenamt verhindern oder andere durch einen starken Defensor in ihrer Machtentfaltung beschränken, waren sie ganz auf die nicht-kuriale Elite angewiesen. Es lag daher gerade auch im Interesse der Kurialen, die nicht-kuriale Elite, die honorati, pos63 CJ 1.55.8 §1 (409): „Quod si quid a qualibet persona contra publicam disciplinam in laesionem possessorum fieri cognoverint defensores, referendi habeant potestatem ad illustres et magnificos viros praefectos praetorio... (folgen weitere Amtsträger).“ CTh 1.29.6 (392): „... quod si quis ad locum defensionis ambitione pervenerit, confestim ... quinque libras auri fisci utilitatibus cogat inferre.“ Nach dem Proöm von NJust 15 (535) setzten die Statthalter alles daran, schwache Kreaturen von ihren Gnaden zu installieren: s. dazu auch Anm. 38. 64 NJust 15 §1 (535); vgl. §2 mit der Vorschrift, dass Defensoren ihre potestas niemandem delegieren dürfen – auch das eine Maßnahme zur Einhegung der Macht. Eine Amtszeit von fünf Jahren in CJ 1.55.4 (384) und CIL XI, 15 (4. Jh.). 65 CTh 1.29.1, das dieses Verbot explizit enthält, wurde nicht in den CJ aufgenommen; in dem Maße, in dem die Notabeln an die Spitze der Städte rückten, wird es obsolet geworden sein.
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sessores etc. in die Bestellung des Defensoren einzubinden. Ironischerweise dürfte es demnach maßgeblich ein Interesse der Kurialen gewesen sein, das am Beginn des Übergangs vom Kurialen- zum Notabelnregime stand: Durch die Teilung ihrer Macht erkauften sich die Kurialen die Neutralisierung der Konkurrenz durch die Defensoren. Es ist weiterhin nicht unwahrscheinlich, dass es zunächst auch jenes Interesse der Kurialen war, das den Notabelnversammlungen über die Wahl des Defensoren hinaus im Lauf des 5. Jahrhunderts immer mehr Zuständigkeiten verschaffte. Denn existierte einmal eine solche Plattform, ließ sie sich graduell mit weiteren Aufgaben versehen: Dabei könnte es durchaus ein Ziel der Kurialen gewesen sein, weiteren städtischen, in der Regel durch Kuriale besetzten Magistraten wie dem curator, dem agoranomos, dem pater tes poleos, dem sitones etc. höheren Respekt und größere Schlagkraft zu verschaffen, indem man sie durch den Konsens aller sozial Mächtigen der Stadt bestimmen ließ. Ein ähnliches Interesse mag obwaltet haben, als man die nicht-kurialen Notabeln in sensible Bereiche wie kirchen- und religionspolitische Maßnahmen oder die Finanzverwaltung einband. Nicht zufällig waren es neben den Ämterwahlen ja, wie oben gezeigt, genau diese Bereiche, in denen die Notabelnversammlungen zuerst begegnen. Und nicht zuletzt trug ein möglichst breiter Konsens dazu bei, die individuelle Machtentfaltung einzelner Magnaten auf diesen sensiblen Feldern zu kanalisieren und zu delegitimieren. Aus demselben Grund – und natürlich auch um den Entscheidungen breite Akzeptanz zu sichern – band man auch den Bischof in die Notabelnversammlungen ein, als dieser im Laufe des 5. Jahrhunderts zu einem sozial mächtigen Akteur und weiteren bedrohlichen Konkurrenten wurde. War dann einmal eine kritische Masse von Gebieten erreicht, für die man Notabelnversammlungen zuständig machte, ergab sich deren Etablierung als reguläre und einzig legitime Stadtregierung irgendwann von selbst. Das Notabelnregiment ist vor diesem Hintergrund gerade nicht, wie Liebeschuetz und seine Parteigänger wollen, als Ausdruck einer Desintegration der Eliten und Deformalisierung des Stadtregiments zu verstehen. Vielmehr stand dahinter das Bestreben, die seit dem 4. Jahrhundert heterogener gewordene lokale Elite zu reintegrieren und die soziale Macht potentiell übermächtiger Patrone durch Formalisierung zu regulieren. Natürlich hatten an all den skizzierten Zielen auch die nicht-kurialen Eliten ein vitales Interesse, und sie dürften die Ausdehnung des Notabelnregiments daher ab einem gewissen Zeitpunkt und in gewissen Bereichen mit vorangetrieben haben. Gegen ihr Interesse wäre die Institutionalisierung des Notabelnregiments ohnehin nicht möglich gewesen. Die Transformation städtischer Herrschaft im 5. Jahrhundert war demnach zweifellos das Produkt einer Interessenkonvergenz von kurialen und nicht-kurialen Eliten. Dies war zu Beginn der Transfomation um das Jahr 400 der Fall, als, wie hier argumentiert wurde, zur Einhegung des Machtpotentials der Defensoren eine Institution geschaffen wurde, die die gesamte kuriale und nicht-kuriale städtische Führungsschicht in deren Wahl einband. Dieselbe Interessenkonvergenz dürfte auch bei der dann folgenden, sukzessiven Kompetenzerweiterung der Notablenversammlungen obwaltet haben. Nicht zu unterschätzen ist in diesem Prozess gerade in der Anfangsphase aber die Rolle der Ku-
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rialen. So paradox es klingt: Das Kurienregiment fand sein Ende nicht zuletzt durch das Interesse der Kurialen. 4. DEFENSOREN, NOTABELN UND COMES CIVITATIS IM NACHRÖMISCHEN WESTEN66 Die These, dass die Verschiebung der Machtverhältnisse innerhalb der lokalen Eliten durch das Defensorenamt als Katalysator der Transformation vom Kurienzum Notablenregiment wirkte, lässt sich durch einen Blick auf die Entwicklung des Defensorenamtes und der Notabelnherrschaft im nachrömischen Westen untermauern. Kehren wir noch einmal zum Ausgangspunkt dieser Untersuchung zurück, der Affäre um comes Gildila von Syrakus. Als Spieler im städtischen Machtpoker erschienen dort die als honorati und possessores bezeichneten Notabeln, unter denen eine Figur herausragte, der Defensor, sowie der Bischof; ihnen 66 Über die Munizipalverfassung und die lokalen Eliten im nachrömischen Africa und Hispanien ist so wenig bekannt, dass eine begründete Aussage über Machtbeziehungen innerhalb der städtischen Eliten dort nicht möglich ist. Das Folgende ist daher auf einen Vergleich Italiens und Galliens beschränkt. Die grundsätzliche Entwicklung hin zur Notabelnherrschaft tritt jedenfalls auch in Africa und Hispanien klar zutage. Die sehr spärlichen Quellen für Africa bei Yves Modéran, La renaissance des cités dans l’Afrique du VIe siècle d’après une inscription récemment publiée, in: Claude Lepelley (Hrsg.), La fin de la cité antique et le début de la cité médiévale: de la fin du IIIe siècle à l’avènement de Charlemagne. Bari 1996, 85–126, bes. 109f. und (grundlegend) María Elvira Gil Egea, África en tiempos de los Vándalos: continuidad y mutaciones de las estructuras sociopolíticas romanas. Alcalá de Henares 1999, 291– 297; knapp auch Gideon Maier, Amtsträger und Herrscher in der Romania Gothica: vergleichende Untersuchungen zu den Institutionen der ostgermanischen Völkerwanderungsreiche. Stuttgart 2005, 279f. Kaum mehr ist über das nachrömische Hispanien bekannt. Einige wenige Stellen kann man vielleicht als Hinweis auf Notabelnversammlungen werten: Papst Hilarius, ep. 2 praef. (PL 50, 17); Leg. Visig. 5.6.2 (Antiqua) und 8.5.6 (Rekkeswinth); Fragmenta Gaudenziana (ed. Karl Zeumer, Leges Visigothorum, MGH Legum sectio I.1. Hannover/Leipzig 1902, 469–472) Nr. 18 (Herkunft allerdings umstritten); Vitas patrum Emeritensium (CCSL 116) 4.2 und 5.10f.; Vita S. Aemiliani (Braulio Caesaraugustanus: Vita S. Emiliani ed. Luis Vázquez de Parga. Madrid 1943) §33; dominiert wird das Bild in kirchlichen Quellen ebenso wie in den Leges Visigothorum aber durch den Bischof, den comes u.a. königliche Amtsträger. Kurien sind kaum belegt, und wenn, dann in notarieller Funktion: Fragmenta Gaudenziana Nr. 15, Formulae Visigothicae 25 (MGH Legum sectio 5, 1886, 572– 595); zum Standesrecht Leg. Visig. 5.4.19 (Chindaswinth); für Belege aus dem Breviarium des Alarich s. Anm. 15. Für die Defensoren s. u. Anm. 86f. Grundlegend zum Stadtregiment im nachrömischen Hispanien noch immer Claudio Sánchez-Albornoz, Ruina y extinción del municipio romano en España. Buenos Aires 1943 (hier zitiert nach dem Wiederabdruck in Estudios visigodos. Rom 1971; eine Zusammenfassung in El gobierno de las ciudades en España goda, in: Settimane di studio del Centro Italiano di Studi sull’Alto Medioevo 6, 1959, 359–391); knapper Edward A. Thompson, The Goths in Spain. Oxford 1969, 118–121; Roger Collins, Early Medieval Spain: Unity in Diversity. 2. Aufl. Houndmills 1995, 87–107, bes. 105f.; jüngst César Candelas Colofrón, «Plebs» y aristocracia en el «Cronicon» de Hidacio: la organización política hispanoromana en el siglo V., in: Polis. Revista de ideas y formas de la Antiguedad Clásica 13, 2001, 129–139 sowie Arce, Hispania (wie Anm. 14), 218–223 und 231–234.
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gegenüber stand der comes civitatis, der Stellvertreter des Königs. Notabeln und Defensor waren in Syrakus die Ansprechpartner des Königs bezüglich der Steuererhebung, und dieselben Notablen vertraten die Stadt wohl auch vor dem König bei der Klage gegen Gildila; sie beanspruchten die Preiskontrolle und waren für Baumaßnahmen mitverantwortlich. Dies entspricht dem sonstigen Bild: In Cassiodors Variae sind honorati und possessores, bisweilen auch curiales, für alle Belange der Stadtverwaltung zuständig, vom Bauwesen über die Steuererhebung und die Polizei bis zur Getreideversorgung. Wenn man die Evidenz aus dem Werk Gregors des Großen zurückdatieren darf, firmierten sie auch als Ansprechpartner in kirchlichen Angelegenheiten, etwa bei der Wahl eines Bischofs. Und bei Prokop führen die Notabeln die Verhandlungen mit byzantinischen oder gotischen Aggressoren.67 Außer an die Notabeln sind königliche Schreiben zu städtischen Belangen häufig auch an defensores adressiert, kaum je aber an andere Magistrate; die Aufgaben der Defensoren erstreckten sich nach diesen Texten über das Richteramt hinaus auf alle genannten Belange des öffentlichen Lebens.68 Der De67 Bauwesen: Cass. var. 3.9, 3.44, 3.49, 4.8., 5.9, 5.39, 8.29, 8.30, 12.17. Steuern und Liturgien: 2.17, 5.14, 5.20, 9.10. Transportliturgien: 4.45. Polizei: 8.33. Getreideversorgung: 3.44, 9.5, 11.12. An den clerus, ordo (hier sicher als Archaismus zu verstehen) und plebs schreibt Gregor der Große in kirchlichen Angelegenheiten in ep. 1.58, 1.78., 3.11, 3.14, 4.39, 5.22, 9.101; Notabeln als Gegenüber Gregors in kirchlichen Angelegenheiten auch in ep. 4.23, 4.37, 5.11 und 5.54. Außenbeziehungen: Quellen bei Claude, Stadt (wie Anm. 6), 123–125. Zu den Notabeln im ostgotischen Italien allgemein auch Fauvinet-Ranson, Decor civitatis (wie Anm. 15), 38–44. Für nachgotische Belege s. Anm. 98. 68 Cass. var. 2.17, 3.9, 3.49, 4.45, 4.49; 5.14, 9.10. Auffallend ist, dass alle diese Briefadressen von defensores im Plural sprechen. Ausbüttel, Verwaltung (wie Anm. 15), 205f. schlägt deswegen vor, in den defensores die Goten zu sehen und verweist dafür auf Cass. var. 4.49 mit der Adresse „universis provincialibus et capillatis defensoribus et curialibus“, da capillati nach Edictum Theoderici 145 und in Jord. Get. 72 unzweifelhaft die gemeinen Goten meint. Die Bewertung dieses Arguments hängt an der Frage, ob capillatis eigenständiges Substantiv oder Ajektiv zu defensoribus ist. Als Adjektiv versteht es ThlL s.v. capillati, als Substantiv die beiden Variae-Editionen (MGH und CSEL), die die Anrede mit Absatz zwischen capillatis und defensoribus drucken. Eine Entscheidung hängt an Vergleichsstellen, besonders var. 2.17 mit der Adresse honoratis possessoribus defensoribus et curialibus civitatis Tridentinae: Da es dort um die tertiae geht, eine Steuer auf Besitz, der kein Drittel an die Goten abgeben musste, wird 2.17 kaum an gotische defensores gerichtet gewesen sein. Außerdem hätte die Gleichsetzung von defensores und Goten weitreichende Folgen, weil man dann annehmen müsste, dass die Goten als Gruppe zusätzlich zu den comites in der städtischen Selbstverwaltung eine eigene politische Rolle gespielt hätten. Dafür gibt es aber nirgendwo sonst eine Spur. Fragt sich dann, warum die Briefadressen defensores im Plural ansprechen. Eine Lösung wäre, dass es sich um eine Standardformel handelte, die bei der Zusammenstellung der Variae einfach hineinkopiert wurde. Defensor als Richter: Angedeutet in Cass. var. 7.11 („imples enim re vera boni defensoris officium, si cives tuos nec legibus patiaris opprimi nec caritate consumi“); s. auch die Erwähnungen städtischer Gerichtsbarkeit in 8.13 und 9.2, für die zu diesem Zeitpunkt kein anderer städtischer Magistrat mehr in Frage kommt. Dass beide Schreiben so stark auf die Preisüberwachung abheben, andere Funktionen aber verschweigen oder nur andeuten, dürfte wohl die Bedürfnisse der Stadt spiegeln, für die sie ursprünglich entstanden waren. Eine herausgehobene Stellung haben Defensoren auch bei der Verwaltung der gesta: Vgl. Edictum Theoderici 52f. und P. Ital. 31 und 32 (540 Faventia/Faenza); spätere Erwähnungen von defensores in P. Ital. dürften aber wohl eher defensores ecclesiae meinen.
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fensor kann demnach nicht nur als der nominell höchste städtische Magistrat „seiner Bürger“ (cives tui) gelten, wie es in dem Muster eines Ernennungsschreibens heißt69; aufgrund seiner Aufgaben hatte er unter den Notablen zweifellos nach wie vor eine Führungsrolle und damit wohl auch eine reale Machtposition in der Stadt inne. Sicherlich spielte jetzt auch der Bischof eine prominente Rolle; nach hagiographischen Quellen wie Ennodius’ Vita Epiphanii konnten Bischöfe ebenfalls die Stadt nach außen vertreten, bei Verhandlungen mit Kaisern und Aggressoren ebenso wie in Steuerfragen, und auch in den Variae sind sie, vor allem wohl in sensiblen Situationen, in die Stadtverwaltung eingebunden, etwa bei der Getreideversorgung oder einmal bei der Entschädigung für die Leidtragenden eines marodierenden Gotentrupps.70 Von einer dominanten Stellung der Bischöfe in den Städten kann im ostgotischen Italien nach allgemeiner Auffassung jedoch keine Rede sein.71 Wenn die (sicherlich nicht üppige) Quellenlage also nicht gänzlich täuscht, entspricht das Bild der Machtverhältnisse innerhalb der lokalen Eliten des ostgotischen Herrschaftsgebietes bis zu diesem Punkt vollauf demjenigen in den Städten des römisch beherrschten Ostens zur selben Zeit. Ein wesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass es im Ostgotenreich in vielen Städten einen permanen Zur Herkunft des Edictum Theoderici zuletzt Sean Lafferty, Law and Society in Ostrogothic Italy: Evidence from the Edictum Theoderici, in: Journal of Late Antiquity 3, 2010, 337–364. 69 So das Muster-Ernennungsschreiben Cass. var. 7.11; vgl. dagegen das nachstehende (und schon dadurch den niedrigeren Rang ausdrückende) Ernennungsschreiben an einen curator, das nur von einer gubernatio der curia spricht. Die (wesentlich auf NMaj 3, 458, beruhenden, s. dazu aber Anm. 95) Zweifel von Ausbüttel, Verwaltung (wie Anm. 15), 32, an der Bedeutung der Defensoren in Italien sind angesichts dieser Quellenlage unbegründet; dasselbe gilt für Lafferty, Edictum Theoderici (wie Anm. 68), 352f., der aus den in den Variae bezeugten Aufgaben des Defensors schließt, dieser sei nurmehr ein verlängerter Arm der Verwaltung ohne „real authority“ gewesen: Müsste man dann nicht auch dasselbe für den comes sagen? Wie hier schätzt die Bedeutung der Defensoren z.B. auch Thomas S. Burns, A History of the Ostrogoths. Bloomington 1991, 177, ein. 70 Ennodius, Vita Epiphanii (ed. Maria Cesa, Ennodius, Magnus Felix: Vita del beatissimo Epifanio, vescovo della chiesa pavese. Como 1988) §53 (Gesandtschaft an den Kaiserhof); 109f. (Kapitulationsverhandlungen); 111–115 (Lebensmittelversorgung); 185–187 (Steuernachlass); vgl. Cass. var. 9.5, 9.21, 11.12 (Getreideversorgung); 2.8 (Entschädigung). Bis heute grundlegend zur Rolle des Bischofs in Italien seit dem späten 5. Jh. Sergio Mochi Onory, Vescovi e città (sec. IV–VI), in: Rivista di storia del diritto italiano 4, 1931, 245–329 und 555–600; 5, 1932, 99–179 und 241–312 sowie 6, 1933, 199–238, der aber die Bedeutung des Bischofs gegenüber comes und Notabeln nicht systematisch prüft und deswegen m.M. überschätzt, sowie jetzt Adam Izdebski, Bishops in Late Antique Italy: Social Importance vs. Political Power, in: Phoenix 66, 2012, 158–175. Erst im Chaos des späten 6. Jh. mögen Bischöfe eine prominentere politische Rolle gespielt haben (zu den Gründen s.u.): Quellen bei Claire Sotinel, Les évêques italiens dans la société de l’Antiquité tardive: l’émergence d’une nouvelle élite?, in: Lizzi Testa, Trasformazione (wie Anm. 5), 377–404, hier 401f.; skeptisch aber Izdebski loc. cit. 71 So auch Liebeschuetz, Decline (wie Anm. 6), 156f. und ausführlich Izdebski, Bishops (wie Anm. 70). Denselben Eindruck hinterlässt die soziale Herkunft der italischen Bischöfe, die von den senatorischen Bischöfen in Gallien deutlich unterschieden ist: Sotinel, Évêques italiens (wie Anm. 70).
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ten königlichen Sachwalter gab, meist mit dem Titel comes civitatis. Dieser comes kommandierte das örtliche gotische Regiment, besaß Gerichtsbarkeit über Goten und mit Goten streitende Römer; gelegentlich nahm er mit königlichem Sonderauftrag auch andere administrative Aufgaben in der Stadt wahr. Ernennungsschreiben weisen ihm überdies eine generelle Aufsicht über Ruhe und Ordnung in der Stadt zu und verpflichten die Bürger zu Gehorsam gegen ihn.72 Man würde meinen, dass die comites durch ihre Exekutivgewalt, ihr Richteramt und ihre Königsnähe eine konkurrenzlose Position in der Stadt hatten. Besonders gefährlich sollte diese Konkurrenz für den Defensor gewesen sein, zumal königliche Schreiben die Gerichtsbarkeit des comes ebenfalls mit dem patronalen „Schutz der Kleinen“ (minoribus solacium) verbinden konnten.73 Trotzdem gewinnt man den Eindruck, dass das Kräfteverhältnis zwischen Notabeln, Defensor, Bischof und comes prinzipiell ausgewogen war. Der Machtkampf, in dem comes Gildila den syrakusanischen Eliten unterlag, ist eines, aber nicht das einzige Beispiel dafür.74 Wir werden auf die Frage zurückkommen, warum der ostgotische comes sein prinzipiell überlegenes Machtpotential nicht ausreizen konnte. Anders stellt sich das Bild im nachrömischen Gallien dar. Bei Gregor von Tours wird das Bild des Stadtregiments bekanntlich von Bischof und comes und deren häufig antagonistischem Verhältnis dominiert.75 In der Tat bestätigen die westgotischen und burgundischen Rechtskodizes die führende Stellung der comites als königliche Stellvertreter in den Städten mit Polizei- und Richtergewalt.76 Seit dem ausgehenden 5. Jahrhundert entwerfen bischöfliche Briefsammlungen, 72 Zum ostgotischen comes u.a. Burns, Ostrogoths (wie Anm. 69), 173–177 sowie Ausbüttel, Verwaltung (wie Anm. 15), 204–209 mit Quellen und Diskussion älterer, heute obsoleter Forschungsdebatten, etwa um die Frage, ob es einen oder mehrere comites gegeben habe. Ernennungsschreiben mit allg. Aufsichtsfunktion in Cass. var. 3.34; 6.22f.; 7.13f.; 7.26; Gehorsam der Bürger in 6.24; 7.3; 7.27, 8.26. 73 Cass. var. 3.34. 74 Disziplinierung von comites auch in 3.38 oder 5.14 §8; eine legendenhafte Umbildung vielleicht in der Vita Caesarii Arelatensis (SC 536) 1.48, wo ein (gotischer) comes civitatis von Arles auf Bärenjagd Eigentumsrechte verletzt, was Caesarius durch Gebet um göttliches Eingreifen unterbindet. 75 Zu deren Antagonismus als Motiv bei Gregor vgl. nur hist. 5.48 (Gregor und comes Leudast von Tours); 8.39 (Bischof Badegisil von Le Mans); vit. patr. 4.3 (Bischof Quintian von Clermont gegen comes Hortensius) oder ibd. 8.3 (Gerichtskonkurrenz zwischen Bischof Nicetius von Lyon und comes Armentarius). Zum merowingischen comes (dem im Norden der grafio entsprach) s. aus der umfangreichen Literatur nur Dietrich Claude, Untersuchungen zum frühfränkischen Comitat, in: ZRG GA 81, 1964, 1–79; Margarete Weidemann, Kulturgeschichte der Merowingerzeit nach den Werken Gregors von Tours, Bd. 1 (von 2). Mainz 1982, 66–88 (Prosopographie); Hans Hubert Anton, Verfassungsgeschichtliche Kontinuität und Wandlungen von der Spätantike zum Hohen Mittelalter: das Beispiel Trier, in: Francia 14, 1986, 1–24, hier 2–10; Wood, Merovingian Kingdoms (wie Anm. 14), 60–63. 76 Zum comes im Westgotenreich Sánchez-Albornoz, Ruina (wie Anm. 66), 75–95; Thompson, Goths (wie Anm. 66), 139–143; Rouche, Aquitaine (wie Anm. 15), 263f.; zum burgundischen comes nach den Rechtsquellen zuletzt Herbert Heftner, Comites, iudices, iudices deputati. Untersuchungen zum Gerichtswesen im südgallischen Burgunderreich (443–534), in: Concilium medii aevi 5, 2002, 119–141. Generell vergleichend zu den comites in den Nachfolgereichen Maier, Amtsträger (wie Anm. 66), 207–218 und 245–262.
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die hagiographische Literatur und andere Quellen ebenso wie später Gregor ein in der Forschung lange Zeit überbewertetes, aber sicherlich nicht völlig verzerrtes Bild von der wachsenden Machtstellung des Bischofs in den Städten, die sich bald auf alle öffentlichen Belange bezog.77 Allerdings scheinen auch Notabelnversammlungen weiterhin eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt zu haben: So berichtet Sidonius von einem concilium civitatis in Lyon Ende der 460er Jahre (dem auch er, selbst ein hochrangiger honoratus, angehörte), das Gesandte wählte; in derselben Stadt erwähnt eine Inschrift um 500 ein procerum nobile consilium, und Avitus von Vienne und andere Quellen erwähnen einen senatus aus illustres (also eine Versammlung von honorati?) in seiner Stadt.78 Honorati waren in verschiedenen Städten an den Bischofswahlen beteiligt und wurden zur Teilnahme am Konzil von Epao 517 eingeladen.79 Gregor von Tours berichtet zwei Generationen später wiederholt von honorati, seniores, priores, cives oder ähnlich umschriebenen „Großen“ der Stadt, die bei zeremoniellen Anlässen Ehrenplätze 77 Neuere Literatur zum Aufstieg der gallischen Bischöfe im 5. und 6. Jh. (in Auswahl): Martin Heinzelmann, Bischofsherrschaft in Gallien: zur Kontinuität römischer Führungsschichten vom 4. bis zum 7. Jahrhundert – soziale, prosopographische und bildungsgeschichtliche Aspekte. München 1976; Franca Ela Consolino, Ascesi e mondanità nella Gallia tardoantica: studi sulla figura del vescovo nei secoli IV–VI. Neapel 1979; Martin Heinzelmann, Bischof und Herrschaft vom spätantiken Gallien bis zu den karolingischen Hausmeiern. Die institutionellen Grundlagen, in: Friedrich Prinz (Hrsg.), Herrschaft und Kirche. Beiträge zur Entstehung und Wirkungsweise episkopaler und monastischer Organisationsformen. Stuttgart 1988, 23–82; Ralph W. Mathisen, Roman Aristocrats in Barbarian Gaul. Strategies for Survival in an Age of Transition. Austin 1993, Kap. 9; Wood, Merovingian Kingdoms (wie Anm. 14), 71–87; Susanne Baumgart, Die Bischofsherrschaft im Gallien des 5. Jahrhunderts: eine Untersuchung zu den Gründen und Anfängen weltlicher Herrschaft der Kirche. München 1995; Bernhard Jussen, Über ,Bischofsherrschaften‘ und die Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘, in: HZ 260, 1995, 673–718; Brigitte Beaujard, L’évêque dans la cité en Gaule aux Ve et VIe siècles, in: Lepelley, Fin de la cité (wie Anm. 66), 127–145; Nancy Gauthier, Le réseau de pouvoirs de l’évêque dans la Gaule du Haut Moyen-Âge, in: Gian Pietro Brogiolo u.a. (Hrsgg.), Towns and their territories between Late Antiquity and the Early Middle Ages. Leiden u.a. 2000, 173–207; Jamie Kreiner, About the Bishop: The Episcopal Entourage and the Economy of Government in Post-Roman Gaul, in: Speculum 86, 2011, 321–360. 78 Sidon. ep. 5.20 (Lyon, vor seinem Bischofsamt 469); CIL XII, 2660 mit PLRE II s.v. Alethius 2; Avitus von Vienne, Homilia VI in Rogationibus (MGH AA 6.2.) 198–212 (geschrieben um 500, Ereignis etwa 470); einen weiteren Beleg für den senatus nobilis Viennensis in einer Urkunde von 543 bei Heinzelmann, Bischof (wie Anm. 77), 42 Anm. 86. 79 An der Bischofswahl 418 in Auxerre ist neben Volk und Klerus maßgeblich die nobilitas beteiligt (Constantius, Vita Germani §2 (SC 112), entstanden um 490), in Arles 426 sublimes viri, cives und ein Militär im Rang eines illustris (Honoratus, Vita Hilarii §9 (SC 404), entstanden um 480); Papst Coelestin, ep. II §5 (PL 50, 434) fordert 428 Wahl durch Klerus, plebs und ordo (noch die Kurie?) in den Provinzen Viennensis und Narbonensis; Papst Leo d.Gr. fordert 445 (im Kontext der Absetzung des Hilarius von Arles) Bischofswahlen durch honorati, cives, populi und clerici (ep. 10 §4, PL 54, 634); und ein decretum civium überträgt Sidonius die Leitung der Bischofswahl in Bourges um 470 (ep. 7.5, 8 und 9); Epao 517: Conc. Galliae 2 (CCSL 148a), S. 23; Greg. hist. 9.23: König ernennt Bischof von Verdun consensu civium. Auch in der hispanischen Tarraconensis wählen in den 460er Jahren honorati et possessores den Bischof: Papst Hilarius, ep. 2 praef. (s.o. Anm. 66).
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einnahmen.80 Dieselben Notabeln halten bei Gregor (ebenso wie in anderen Quellen) Gericht, gemeinsam mit Bischof und comes oder alleine81; sie verhandeln mit oder ohne den Bischof über Loyalität oder Feindschaft der Städte zu den merowingischen Königen; sie agieren bei der Steuererhebung in Tours auf Seite der königlichen Beamten gegen den Bischof, und in Angers vertreiben die cives einen unliebsamen comes, in der Champagne einen dux. Gregor selbst musste sich in einem Machtkampf zwischen ihm und einem königlichen Amtsträger namens Pelagius den cives von Tours beugen: Die Notabeln zwangen ihn, seine Exkommunikation des Pelagius zurückzunehmen, die er ausgesprochen hatte, weil dieser einen Transport Seeigel für Gregors Tafel konfisziert hatte.82 Das Kräfteverhältnis zwischen Bischof, comes und Notabeln der Städte im westgotisch-fränkisch beherrschten Gallien mag demnach, soweit die skizzierte Quellenlage ein Urteil zulässt, möglicherweise gar nicht so anders gewesen sein als im ostgotischen Herrschaftsbereich. Einen markanten Unterschied aber gibt es: die Stellung des Defensoren. Defensores civitatis sitzen zwar in den Formulae Andecavenses, Avernenses und Turonenses, die vielleicht auf das 6. Jahrhundert zurückgehen, ebenso wie noch in späteren formulae einer Gruppe von Notabeln vor, die Rechtsgeschäfte bezeugen und in den gesta municipalia dokumentieren; solche notariellen Funktionen bestätigen auch andere Quellen.83 Es wäre allerdings verfehlt, daraus auf eine Machtstellung des Defensoren in der civitas zu schließen. Dies zeigt etwa ein Blick auf das Breviarium des Alarich von 506 mit
80 Glor. conf. 20: Altarweihe in Tours mit Bischof, Klerus, civium honoratorum ordo praeclarus und populus; 104: cives und reliqui honorati bitten Gregor von Tours um Altarweihe; hist. 6.11: Bischof und dux ziehen in Marseille unter Geleit durch die seniores ein; 8.21: Prozession in Metz mit episcopus, seniores und dux, gefolgt vom Volk. Allg. zu den Notabelnversammlungen im nachrömischen Gallien am vollständigsten bislang Liebeschuetz, Decline (wie Anm. 6), 131–134. 81 Hist. 5.5: Ein Mord in Lyon wird vor dem Bischof adstante sacerdotibus multis cum saecularium principibus verhandelt; 5.48: comes Leudast von Tours hält Gericht cum senioribus vel laicis vel clericis; 7.47 und 9.19 berichten von einer Fehde im Gebiet von Tours, in der ein iudicium civium ein Urteil spricht, in das iudex (=comes) und Bischof erst später einbezogen werden; 10.8 episcopus et magnifici viri halten Gericht in einer Ehebruchs- und Mordsache. In Glor. Mart. 33 nehmen primores und Bischof einen Eid in einer Mordsache ab. Gerichte von Notabeln mit oder ohne comes und Bischof kennen auch die Formulae Andecavenses 32, 48 und andere in Anm. 83 genannte Stellen aus den Formulae. S. vielleicht eine Stelle bei Sidon.: Anm. 37. 82 Seeigel: Greg. hist. 8.40 (mit der Emendation echinum für das handschriftlich überlieferte „ethynum“, wie u.a. ThlL s.v. echinum vorschlägt); übrigens traf Pelagius bald darauf der strafende Schlag des Hl. Martin, und die Seeigel konnten unversehrt ihrer Bestimmung zugeführt werden. Comes und dux: 8.18; Loyalitätsentscheidungen: 4.45, 7.13, 24 und 26f. 83 Formulae Andecavenses 1 (MGH Legum sectio 5, 1886); Arvernenses 1b und 2c; Turonenses 2, 3 und 28; später Bituricenses 3, 6, 7 und 15c; Cartae Senonicae 39f. und F. Marculfi II.37f.; vgl. zur Datierung dieser Texte die eingehende Diskussion bei Rio, Legal Practice (wie Anm. 16), Kap. 4. Andere Belege Brev. (=CTh) 2.4.2 interpretatio; Brev. 3.19.4 (=CTh 3.30.6); Lex Romana Burg. 22.4; 28.8; 36.8.
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seinen wohl zeitgleichen Interpretationes.84 Das Breviarium übernimmt, außer denen zur Notarstätigkeit, nur drei Konstitutionen des Codex Theodosianus, die Aufgaben des Defensoren behandeln. Zwei davon übertragen ihm polizeiliche Aufgaben, die Überstellung von latrones und des Missbrauchs angeklagter Nutzer des cursus publicus, eine andere untersagt dem Defensor, Strafen zu verhängen und die Folter anzuwenden; die Interpretatio einer weiteren Konstitution ergänzt, dass nur parva crimina in die Kompetenz des Defensoren als Richter fallen85. Im Breviarium fungiert der Defensor also ausschließlich als lokaler Ordnungshüter mit niederer Gerichtsbarkeit, was andere Quellen bestätigen und ihn dabei dem comes civitatis unterordnen.86 Signifikanter noch ist, was das Breviarium nicht übernahm: Es enthält keine einzige der valentinianischen Konstitutionen, die den Defensor zum Patron der Bevölkerung machen und seine Rekrutierung aus den 84 Zur Datierung der Interpretationes zuletzt John Matthews, Interpreting the Interpretationes of the Breviarium, in: Ralph Mathisen (Hrsg.), Law, Society, and Authority in Late Antiquity. Oxford 2001, 11–32. 85 Latrones: Brev. 1.10.3 (=CTh 1.29.8); cursus: Brev. 8.2.1 (=CTh 8.5.59); Folterverbot: Brev. 1.10.2 (=CTh 1.29.7, ursprünglich wohl eine Sonderregelung: s.o.); Parva crimina: Brev. (=CTh) 2.1.8 interpretatio. Brev. 1.10.1 (=CTh 1.29.6) bestätigt außerdem die Wahl der Defensoren durch die Städte, ebenso noch Leg. Visig. 12.1.2 (Rekkared). Alle Stellen zum Defensor sind bequem zusammengestellt bei Conrat, Breviarium Alaricianum (wie Anm. 15), 728–734. 86 So gratuliert Ven. Fort. carm. 10.19 einem Defensor von Bordeaux zum Aufstieg ins Amt des comes mit den Worten, er sei „als Richter gewachsen“. Von den vielen iudices, manchmal als locorum oder territorii qualifiziert, in den Antiquae und späteren Gesetzen der Leges Visigothorum lassen sich nur wenige mit Sicherheit als städtische Richter, die nicht auch comites sein könnten, und dann vielleicht als Defensoren identifizieren (Antiquae: 3.4.17, 9.1.20; spätere: 2.1.31, 2.3.10, 6.4.3, 6.5.12, 8.5.6); in mehreren davon ist jener iudex dem comes klar untergeordnet. Leg. Visig. 2.1.27 (Rekkeswinth) nennt den Defensor als einen der letzten in einer langen, offenbar absteigend nach Rang geordneten Liste von Richtern; Isid. orig. 9.4 sagt, dass die Defensoren ihre Rolle als Verteidiger des Volkes verloren hätten. Arce, Hispania (wie Anm. 14), 232f., bezieht einige unspezifische Verweise auf städtische Führungsämter bei Hydatius auf Defensoren, doch bleibt dies rein spekulativ. Die untergeordnete Rolle der Defensoren bestätigt der sogenannte „fränkische Ämtertraktat“ (in der vatikanischen Handschrift ed. Max Conrat, Ein Traktat über romanisch-fränkisches Ämterwesen aus einer vatikanischen Handschrift, in: ZRG GA 29, 1908, 239–260), §3.1: „defensor civitatis qui iudicat causas civitatis sue sed intra muros tantum. Non iudicat de his qui extra civitatem aguntur. Ipse sub comite.“ Der Text dürfte eher Schulzwecken gedient haben (s. dazu und zu der umstrittenen Herkunft und Datierung Paul S. Barnwell, Epistula Hieronimi de gradus Romanorum. An English School Book, in: Historical Research 64, 1991, 77–86), doch bestärkt dies eher seine Aussage. Zum Defensor im nachrömischen Gallien grundlegend Chénon, Defensor (wie Anm. 27), 519–537; knapper Rouche, Aquitaine (wie Anm. 15), 262f.; Maier, Amtsträger (wie Anm. 66), 282f; zur problematischen Identifizierung der iudices locorum und territorii unter den Westgoten vgl. Thompson, Goths (wie Anm. 66), 139–143, der sie für königliche Amtsträger neben oder unter dem comes hält; überzeugender, als Sammelbegriff, deuten sie Sánchez-Albornoz, Ruina (wie Anm. 66), 77–95; Paul David King, Law and Society in the Visigothic Kingdom. Cambridge 1972, 79–81 (mit Diskussion weiterer älterer Literatur) und Maier loc. cit. 257f. Dieselbe Problematik betrifft auch die in der lex Romana Burgundionum bisweilen genannten iudices locorum, hinter denen sich ebenfalls Defensoren verbergen mögen: dazu Heftner, Comites (wie Anm. 76), 139f.
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höchsten sozialen Rangklassen fordern, und keine, die seine Aufsicht über die Steuererhebung, über die Kurie und die corpora der Stadt, über die städtischen Ländereien und Finanzen oder andere Leitungsfunktionen betreffen.87 Dem Breviarium zufolge scheinen die Defensoren als Machtfaktor innerhalb der Städte des nachrömischen Gallien offenkundig jede Bedeutung verloren zu haben. Das bestätigen die literarischen Quellen. In der gallischen Bischofskorrespondenz des 5. und 6. Jahrhunderts findet sich kein einziger Hinweis auf einen Defensor, obwohl darin gerade Rechtssachen auch alltäglichster Art zahlreich begegnen. Die Rechtsfälle, von denen Gregor von Tours berichtet, werden im Gericht des comes, des Bischofs oder der Notabeln entschieden, der Defensor war allenfalls ein namenloses Mitglied der daran beteiligten Richterkollegien; und in den zahlreichen Händeln innerhalb der städtischen Führungsschichten, von denen Gregor erzählt, tauchen zwar wie gezeigt die Notabeln auf, nie jedoch wird dabei ein Defensor der Erwähnung für Wert befunden. In der Tat waren die beiden Rollen in der Lokalgesellschaft, die die Machtgrundlage der Defensoren gebildet hatten, jetzt von einem anderen belegt: Als Patron der Bevölkerung gegen die Bedrückungen durch die Staatsgewalt und als vertrauenswürdiger Richter und Rechtsbeistand gerade der „kleinen Leute“ firmiert in der Überlieferung nun der Bischof. Beide Rollen sind in der Briefliteratur, in Epitaphien und erzählenden Quellen Galliens dicht belegt, allgemein bekannt und müssen hier deswegen nicht im Einzelnen dargestellt werden.88 Als Illustration, in welchem Maße die Bischöfe die Rolle des Patrons gegen die Staatsgewalt für sich zu nutzen wussten, mag daher an dieser Stelle Gregors lange Erzählung ausreichen, wie er die (angebliche) Immunität der Stadt Tours gegen königliche Steuerbeamte schützte.89 Wie sich Richterrolle und Patronatsauftrag verbanden, zeigen hagiographische Berichte wie der über Bischof Maurilio von Cahors, der „gerecht im Gericht war und die Armen 87 Einzig in Brev. 1.10.2 (=CTh 1.29.7), das ihm Strafen und Folter untersagt, ist der Auftrag stehengeblieben, Kurie und Volk zu schützen. Ebenfalls übernommen wurde eine Konstitution über den Schutz von Jungfrauen gegen eine ungewünschte Ehe, aber signifikanterweise tilgt die Interpretatio jeden Hinweis auf den Defensor: Brev. (=CTh) 3.11.1, wo der Defensor ohnehin in der Bezeichnung vindex civitatis versteckt war. Die Gebiete, in denen der Defensor genannte Tätigkeitsfelder verlor, sind als solche übrigens weiterhin im Breviarium vertreten: zur Steuererhebung auf städtischer Ebene Conrat, Breviarium Alaricianum (wie Anm. 15), 680–691 und 769–771; zum Standesrecht der Kurie und Ländereien 734–749; zu honorati u.a. Rängen 712–714 und 773f.; zu corporati 776–780; zur städtischen Finanzverwaltung 756–759. 88 Zum Bischof als Patron s. etwa Heinzelmann, Bischofsherrschaft (wie Anm. 77), 123–129; ders., Bischof (wie Anm. 77), 54–57; Mathisen, Roman Aristocrats (wie Anm. 77), 93–97; Baumgart, Bischofsherrschaft (wie Anm. 77), 92–96; Beaujard, Évêque (wie Anm. 77); Gauthier, Réseau de pouvoirs (wie Anm. 77), 191–195 sowie Raymond Van Dam, Leadership and Community in Late Antique Gaul. Berkeley 1985, 141–176 und 233–256 zur Bedeutung des Reliquienkultes in diesem Zusammenhang. 89 Greg. hist. 9.30; ähnlich Constantius, Vita Germani (wie Anm. 78) 19 und 24. Weitere Belege für bischöfliche Interzessionen in Steuersachen bei Paul-Albert Février, Évêque et fiscalité, in: Histoire et société. Mélanges offerts à Georges Duby, Bd. 3. Aix-en-Provence 1990, 127– 139.
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seiner Kirche vor der Hand übler Richter bewahrte“,90 oder Venantius Fortunatus’ Darstellung des hl. Martin, in der sein Patronat vor dem Richterstuhl Gottes und vor dem weltlicher Herren absichtsvoll verschwimmen: „Im Angesicht des Richters breitete er die Klagen Bedürftiger aus, / er war gelehrt in der heiligen Kunst, für die Armen Prozesse zu führen, / großer Verteidiger, Recht, Gerichte, Juristen besiegend.“91 Eine Fülle an Belegen aus der Briefliteratur, Inschriften und erzählenden Texten über bischöfliche Richtertätigkeit, bischöfliche Interzessionen in Rechtssachen und bischöflichen Rechtsbeistand im spätantiken Gallien bestätigen dieses Bild.92 Das heißt nicht, dass diese Rollen sich direkt aus dem Vorbild des Defensoren ergaben93 – maßgeblich dürften dafür eher biblische Modelle sowie traditionelle Rollenvorstellungen des senatorischen Amtsadels gewesen sein – noch dass sie ein ausschließlich gallisches Phänomen waren. Es scheint jedoch so zu sein, dass der Wegfall eines wichtigen Konkurrenten den gallischen Bischöfen die weitgehende Monopolisierung dieser Patronatsrollen erleichterte: Sie besetzten offenkundig eine Leerstelle im Sozialgefüge der Städte, die die Defensoren nicht mehr ausfüllen konnten (und in die die comites als königliche Stellvertreter schon aufgrund ihrer hoheitlichen Aufgaben in der Steuerhebung o. ä. nicht ohne Weiteres einrücken konnten). Natürlich sind all dies Argumente e silentio, aber angesichts der Menge an Indizien scheinen sie nicht von vorneherein abwegig zu sein. Wenn die Quellenlage nicht völlig täuscht, lässt sich also festhalten: Obwohl der Defensor im Gallien des 5. und 6. Jahrhunderts gewisse städtische Ordnungsfunktionen wahrnahm und nach den Formulae auch noch eine Ehrenstellung unter den Notabeln besaß, hatte 90 Greg. hist. 5.42; vgl. die Martinslegende: In Ven. Fort. V. Martini 4.52–157 rettet der patronus (151) Martin Dutzende vor dem grausamen Urteil des iudex und comes Avitianus; vgl. auch Sulp. Sev. Dial. 3.4. 91 V. Martini 2.399–403: „pervigil orator mandando negotia Christo / iudicis in vultus inopum querimonia pandens, / doctus in arte sacra miserorum exponere causas, / adsertor validus superans fora iura togatos, / nobilis adstructor facundus contionator.“ Übersetzung nach W. Fels. 92 Vgl. nur V. Hilarii Arelatensis (wie Anm. 78) 13; Sidon. ep. 4.11.5, 5.18, 6.2–4, 7.2, 7.9.9+17; Ruric. ep. 2.20, 2.31, 2.51, 2.53; CIL XIII, 2399 (arbitrio iustitiaque potens); CIL XIII, 2395; RICG XV, 99; Greg. hist. 6.8; Ven. Fort. Carm. 4.12, 10.12a–d und 5.14. Zum Bild des Bischofs als gerechtem (Schieds-)Richter und Rechtsbeistand s. auch Edward James, ‚Beati pacifici‘: Bishops and the Law in Sixth-Century Gaul, in: John A. Bossy (Hrsg.), Disputes and Settlements: Law and Human Relations in the West. Cambridge 1983, 25–46; Heinzelmann, Bischofsherrschaft (wie Anm. 77), 170f. und Gauthier, Réseau de pouvoirs (wie Anm. 77), 188–191. In Hispanien, in ähnlichem soziopolitischen Kontext wie in Gallien, finden sich in Grabinschriften ähnlich starke Darstellungen des Bischofs als Patron der pauperes: Pere Maymó i Capdevilla, Actuación social e ideario episcopal e los „carmina Latina epigraphica“ hispanos: una propuesta de análisis, in: Cassiodorus 6–7, 2001, 215–229. In Italien dagegen sind solche sozialen Rollen deutlich weniger prominent in der bischöflichen Selbstdarstellung: vgl. Izdebski, Bishops (wie Anm. 70), bes. 171. 93 Wie dies vor allem in der älteren Forschung anklang: Vgl. dazu schon kritisch Chénon, Defensor (wie Anm. 27), 551–557; noch Vercauteren, Étude (wie Anm. 77), 403–406; Baumgart, Bischofsherrschaft (wie Anm. 77), 111; vorsichtiger Wood, Merovingian Kingdoms (wie Anm. 14), 75. Für biblische Modelle vgl. nur Greg. hist. 5.42, für solche aus dem senatorischen Reichsdienst CIL XIII, 2395 oder RICG XV, 99.
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er jeden Einfluss als Patron verloren und offenbar keine herausragende Machtposition innerhalb der Elite mehr inne. Außer im Rahmen der Beurkundungen in den Formulae wird ein Defensor noch ein einziges Mal in herausgehobener Position in der Stadt genannt: Ein Gelegenheitsgedicht des Venantius Fortunatus erwähnt ein Frühstück, das ein defensor für die Großen der Stadt an Ostern ausrichtete.94 Der Defensor war zum Frühstücksdirektor geworden. Wie ist dieser Machtverlust des Defensorenamtes im westgotisch-fränkischen Gallien zu erklären? Die in Gallien möglicherweise besonders starke Stellung von comes und Bischof reicht als Begründung alleine nicht hin, denn diese Stellung musste, wie man am Beispiel Italiens sieht, erst gegen Konkurrenten aus der städtischen Elite durchgesetzt werden, denen das Defensorenamt über lange Zeit die Chance geboten hatte, eine Machtposition aufzubauen. Die Frage muss also lauten: Warum war das Defensorenamt strukturell so schwach geworden, dass Defensoren sich im aristokratischen Konkurrenzkampf neben comes und Bischof nicht mehr behaupten konnten und dass sich der Ehrgeiz der lokalen Eliten deswegen jetzt nicht mehr auf dieses Amt richtete? Und warum war dies in Italien anders? Vergegenwärtigen wir uns noch einmal die Grundlagen, auf die die Defensoren ihre Macht bauen konnten: Sie speiste sich wesentlich aus der überragenden Autorität eines hohen Ranges im Kaiserdienst und aus dem kaiserlichen Schutzauftrag als ‚offizieller Patron‘ der Bevölkerung, der mit einem privilegierten Zugang zum kaiserlichen Erzwingungsapparat verbunden war. All dies brach in Gallien im Lauf des 5. Jahrhunderts weg: In dem Maße, in dem die kaiserliche Herrschaft Macht und Glaubwürdigkeit verlor, schwand das Vertrauen auf den Schutz, den das kaiserlich garantierte Patronat des Defensoren versprach; wer Schutz suchte oder Interessen durchsetzen wollte, suchte sich Patrone mit direktem Zugang zur Macht und fand sie auf städtischer Ebene im comes und, in zunehmenden Maße, im Bischof; und so konnten sich die Defensoren weder in ihrem Kerngebiet, der lokalen Rechtspflege, gegen deren Konkurrenz durchsetzen noch in all den anderen Bereichen städtischer Verwaltung Macht ausüben, auf die sie zu römischen Zeiten ausgegriffen hatten. Man mag sich fragen, warum es nicht im Interesse der Könige lag, den Defensoren einen Zugang zur Macht zu verschaffen. Vielleicht wollte man den comites, den königlichen Stellvertretern, keinen Konkurrenten schaffen; vielleicht hatte das Defensorenamt in den Wirren des 5. Jahrhunderts aber einfach schon so lange an Glaubwürdigkeit verloren, dass sich diese Rolle gegen Ende des Jahrhunderts, als wir die Situation quellenmäßig greifen können, einfach überlebt hatte. Den gallischen Defensoren fehlte also der imperiale Referenzrahmen, aus dem sie die Legitimation und das reale Drohpotential ihres Patronats bezogen.95 94 Carm. 10.18. Es wird allgemein angenommen, dass es sich dabei um einen defensor civitatis, nicht ecclesiae handelte, da es im Kontext von Gedichten an weltliche Herren steht und direkt darauf ein Gedicht an einen comes folgt, der zuvor defensor gewesen war (10.19). 95 Eine Parallele für dieses Modell liegt vielleicht in NMaj 3 (458) vor, die ihre Erneuerung der Defensorengesetzgebung damit begründet, das das Amt vielerorts verwaist sei, weil die Städte aus Angst vor den Steuererhebern von ihren Einwohnern verlassen würden. Wenn solche Aussagen irgendeinen belastbaren Kern haben, könnte der Bedeutungsverlust der Defensoren
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Dies war im ostgotischen Herrschaftsgebiet anders. Dort existierte weiterhin ein römischer Staatsapparat mit seiner komplizierten Hierarchie von Ämtern und Würden und seinem ausgeprägten Rangdenken, das einem honoratus, der das Defensorenamt versah, schon symbolisch hohe dignitas und Autorität verlieh.96 Die ostgotischen Herrscher demonstrierten (jedenfalls die längste Zeit) gegenüber diesen römischen Institutionen und ihrem Zeichensystem ostentativen Respekt; dasselbe taten sie gegenüber den Städten und ihrer autonomen Verwaltung, und bisweilen maßregelten sie, ganz in der alten Rolle der Kaiser als Schützer der Provinzialen, auch ihre eigenen Leute wie Gildila von Syrakus.97 Damit schufen sie – trotz vieler Konflikte zwischen Goten und Römern – ein Klima, in dem die Defensoren nach wie vor die Autorität und das Drohpotential des römischen Staatsapparates ausspielen konnten, das gegebenenfalls zu mobilisieren das Versprechen ihres Amtes war. Und so konnten sie trotz der Konkurrenz des comes die soziale Macht als Patrone aufbauen, die sie zu einem Faktor zwischen comes, Bischof und Notabeln machte. Wahrscheinlich ist es kein Zufall, dass sich die Spur des defensor civitatis nach dem Zusammenbruch der ostgotisch-römischen Ordnung in Italien verliert.98 wie in Gallien mit der Glaubwürdigkeitskrise des Kaisertums in Italien in den 450er Jahren zu tun haben, als die Hunnen den Norden und die Vandalen den Süden über Jahre hinweg weitgehend ungehindert bedrohen und verheeren konnten und die kaiserliche Präsenz auf die Steuerforderung reduziert zu sein schien. In einer solchen Situation konnte ein Defensor keine auf den Kaiser gegründete Autorität aufbauen. 96 Da die Variae die honorati als Rangklasse über possessores und curiales auf lokaler Ebene weiterhin unterscheiden (s. die Quellen Anm. 67), gibt es keinen Grund zu zweifeln, dass die herkömmliche Rekrutierung aus der hohen Beamtenschaft geändert worden sei. 97 Ostgotenherrscher als Schützer und Förderer der Städte: Claude Lepelley, Un éloge nostalgique de la cité classique dans les Variae de Cassiodore, in: ders. u.a. (Hrsgg.), Haut MoyenAge: culture, éducation et société. Études offertes à Pierre Riché. La Garenne-Colombes 1990, 33–47 (zu Cass. var. 8.13); ders., La survie de l’idée de cité républicaine en Italie au debut du VIe siècle, dans un édit d’Athalaric rédigé par Cassiodore (Variae, IX, 2), in: ders., Fin de la cité (wie Anm. 66), 71–83; Fauvinet-Ranson, Decor civitatis (wie Anm. 15) passim. Als Schützer der römischen Ordnung generell: Suzanne Teillet, Des Goths à la nation gothique: les origines de l’idée de nation en Occident du V. au VII. siècle. Paris 1984, 276–280 und 290–99 (bei Ennod. und Cass.); Beat Meyer-Flügel, Das Bild der ostgotisch-römischen Gesellschaft bei Cassiodor: Leben und Ethik von Römern und Germanen in Italien nach dem Ende des Weströmischen Reiches. Frankfurt u.a. 1992, 145–153 und 430–454; Peter Heather, The Goths. Oxford 1996, 221–227; Christina Kakridi, Cassiodors Variae: Literatur und Politik im ostgotischen Italien. München/Leipzig 2005 (zu Ideologemen wie der civilitas in Cass. var.). Als Schützer der Provinzialen: Cass. var. 1.11, 2.17, 2.24, 4.36, 5.14f., 5.26, 9.10–13, 11.16, 12.5 u.v.a.m. bei Meyer-Flügel loc. cit. 112–117 und 304–306; s. auch o. Anm. 74 sowie Burns, Ostrogoths (wie Anm. 69), 177–183. 98 Zur Notabelnherrschaft in den italischen Städten unter byzantinisch-langobardischer Hoheit Brown, Gentlemen (wie Anm. 15), 14–20 sowie Kap. 12, z.B. 207, zu Machtbeziehungen zwischen lokalen Patronen aus Notabeln, Militär und Klerus; Harrison, Early State (wie Anm. 15), 62–66 mit Forschungsdebatte; knapp Liebeschuetz, Decline (wie Anm. 6), 127. Seniores und maiores der Städte und deren Machtkämpfe bezeugen u.a. Greg. Magn. ep. 9.32; 9.47; 9.53; 9.76; 13.46 und weitere Quellen bei Sotinel, Évêques italiens (wie Anm. 70), 401f.; für ihre Rolle in kirchlichen Angelegenheiten s. Anm. 67. Defensores: Bei den in der
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Das Defensorenamt verschwand als Machtfaktor auf lokaler Ebene also in dem Moment, in dem die kaiserliche Legitimation und Garantie seines patronalen Schutzauftrages wegfiel. Dies bestätigt im Umkehrschluss, warum Elitenangehörige im Defensorenamt unter kaiserlicher Herrschaft so starke soziale Macht als Patrone gewinnen konnten. Zugleich wird damit die These dieser Untersuchung untermauert, dass das Drohpotential dieser patronalen Macht das existierende Problem der übermächtigen Patrone in kritischer Weise verschärfte und die lokalen Eliten zu einer Reaktion zwang. Diese Reaktion bestand darin, dass man möglichst die gesamte lokale Elite, Kuriale ebenso wie honorati, später auch Bischof und Klerus, in ein Wahl- und Kontrollorgan der Defensoren einband, um deren bedrohliches Machtpotential zu minimieren. Waren solche Notabelnversammlungen einmal institutionalisiert, lag es im Interesse aller Beteiligten – paradoxerweise gerade auch der Kurialen, wie wir sahen –, ihre Kompetenzen sukzessive zu erweitern. So wollte man den Konsens aller sozial Mächtigen vor Ort in allen wichtigen Fragen sicherstellen und durch diese Konsensbildung die Machtentfaltung Einzelner als Patrone verhindern – ein klassisches römisches Konzept.
Korrespondenz Gregors des Großen häufig auftauchenden defensores dürfte es sich in der Regel um defensores ecclesiae handeln, doch ist ein defensor civitatis kurz vor 600 zweifelsfrei in ep. 9.189 belegt, ein defensor populi in Syrakus in der Mitte des 7. Jh. in der Vita Zosimi (Acta Sanctorum März III, 843B), in beiden Fällen freilich ohne Angaben seiner politischen Aufgaben. Fraglich ist, ob die Wiedergabe einschlägiger Bestimmungen aus dem Codex Justinianus in der Summa Perusina I.54 die Existenz des Amtes zu ihrer Entstehungszeit belegen kann.
BISCHÖFE, SOZIALE HERKUNFT UND DIE ORGANISATION LOKALER HERRSCHAFT UM 500 Steffen Patzold I. EINLEITUNG: DIE HERRSCHAFT VON BISCHÖFEN ALS FORSCHUNGSPROBLEM Die Beiträge dieses Bandes fragen: Wie wurde in einer Zeit des Wandels zwischen Spätantike und Frühmittelalter Herrschaft in Räumen unterschiedlicher Größe organisiert? Eine Studie zu den Bischöfen in Gallien darf in diesem Zusammenhang nicht fehlen. Denn gerade hier, in Gallien, waren Bischöfe um 500 in ihren civitates zwar nicht unangefochten, aber doch einflussreich genug. Das Spektrum ihrer Aufgaben war breit, wie uns jüngst Jamie Kreiner und Michael Edward Moore noch einmal ins Gedächtnis gerufen haben: Es reichte von städtischen Bauprojekten und der Armen- und Sozialfürsorge über die gerichtliche Vermittlung, die Kontrolle der weltlichen Rechtsprechung und die Befreiung von Gefangenen bis hin zu Kompetenzen, die zuvor der defensor civitatis innegehabt hatte, zum Schutz der Stadt vor militärischen Übergriffen und zur diplomatischen Vermittlung gegenüber jenen Warlords, die sich rex oder magister militum nannten und größere Räume kontrollierten. Man kann deshalb wohl sagen: Die Bischöfe übten lokal, in ihrer civitas, Herrschaft aus.1 Für das Thema des Bandes bieten sich die Bischöfe in Gallien aber noch aus einem anderen Grund an. Die Forschung ist davon überzeugt, dass der gallische Episkopat im Laufe des 5. Jahrhunderts von der senatorischen Aristokratie monopolisiert worden sei. Schon Friedrich Prinz hat in einem grundlegenden Aufsatz von 1973 mit Blick auf die Bischöfe gesprochen von einer „Art politisch-sozialer Selbstwiedereinsetzung des Senatorenadels in der civitas des 5. und 6. Jahrhunderts“; in seinen Augen war das Bischofsamt gerade deshalb „für die Merowinger eine wichtige Gelenkstelle, mit deren Hilfe die gallorömische Aristokratie der fränkischen Herrschaft eingegliedert werden konnte“.2 Martin Heinzelmann hat in 1
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Jamie Kreiner, About the Bishop: The Episcopal Entourage and the Economy of Government in Post-Roman Gaul, in: Speculum 86, 2011, 321–360; Michael Edward Moore, A Sacred Kingdom. Bishops and the Rise of Frankish Kingship, 300–850. Washington (DC) 2011, 21– 51; vgl. außerdem Claudia Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity. The Nature of Christian Leadership in an Age of Transition. (The Transformation of the Classical Heritage 37.) Berkeley (CA) 2005 (die freilich vorwiegend auf den Osten des Imperium blickt); zusammenfassend für Gallien etwa auch Matthias Becher, Chlodwig I. Der Aufstieg der Merowinger und das Ende der antiken Welt. München 2011, 242–245. Friedrich Prinz, Bischöfliche Stadtherrschaft im Frankenreich vom 5. bis zum 7. Jahrhundert, in: HZ 217, 1973, 1–35, hier 8 und 22 (der Beitrag ist leicht überarbeitet noch einmal erschie-
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seiner Dissertation 1976 als Ergebnis formuliert, „daß in Gallien die Aristokratie einen Anteil hatte, der zumindest bei den bedeutenderen Bistümern bis zur Ausschließung aller anderen sozialen Schichten gegangen sein dürfte“.3 Susanne Baumgart konstatierte 1995: „Nahezu alle Bischöfe stammten gegen Ende des 5. Jahrhunderts aus dem Senatsadel“.4 Hans Hubert Anton formulierte es im Jahr darauf noch schärfer: „Die Bischöfe des 6. Jahrhunderts entstammten durchweg der Senatorenaristokratie“.5 Nancy Gauthier meinte ähnlich im Jahr 2000: „Aux Ve et VIe siècles, l’aristocratie gallo-romaine a un quasi-monopole dans l’épiscopat.“6 Im selben Jahr schrieb Annette Wiesheu, erst mit dem 7. Jahrhundert sei dann die Zeit gekommen, in der „sich der Episkopat nicht mehr ausschließlich aus dem romanischen Senatorenadel rekrutiert“ habe.7 Stefano Gasparri hat 2008 gezeigt, dass der italienische Episkopat sozial inhomogen war, in manchen Regionen entstammten nur sehr wenige Bischöfe der senatorischen Aristokratie; Gasparri hat eben darin aber einen wichtigen Unterschied zum Episkopat Galliens gesehen, der nämlich im Wesentlichen aristokratisch gewesen sei.8 Jamie Kreiner hat 2011 en passant notiert: „[…] the Gallic episcopate was clearly dominated by aristocrats“.9 Und auch Michael Moore geht in seiner Studie über Bischöfe und Könige im frühmittelalterlichen Frankenreich von einem „aristocratic origin of most bishops“ aus:10 Während Bischöfe aus senatorischen Familien im 4. Jahrhundert
nen: ders., Die bischöfliche Stadtherrschaft im Frankenreich vom 5. bis zum 7. Jahrhundert, in: Franz Petri [Hrsg.], Bischofs- und Kathedralstädte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. [Städteforschung A1.] Köln/Wien 1976, 1–26). 3 Martin Heinzelmann, Bischofsherrschaft in Gallien. Zur Kontinuität römischer Führungsschichten vom 4. bis zum 7. Jahrhundert. Soziale, prosopographische und bildungsgeschichtliche Aspekte. (Beihefte der Francia 5.) München 1976, 244. 4 Susanne Baumgart, Die Bischofsherrschaft im Gallien des 5. Jahrhunderts. Eine Untersuchung zu den Gründen und Anfängen weltlicher Herrschaft der Kirche. (Münchener Arbeiten zur alten Geschichte 8.) München 1995, 152. 5 Hans-Hubert Anton, „Bischofsherrschaften“ und „Bischofsstaaten“ in Spätantike und Frühmittelalter. Reflexionen zu ihrer Genese, Struktur und Typologie, in: Liber amicorum necnon et amicarum für Alfred Heit. (Trierer Historische Forschungen 28.) Trier 1996, 461–473, hier 465. 6 Nancy Gauthier, Le réseau de pouvoirs de l’évêque dans la Gaule du haut Moyen-Âge, in: Nancy Gauthier/G.P. Broglio/Neil Christie (Hrsgg.), Towns and their Territories between Late Antiquity and the Early Middle Ages. (The Transformation of the Roman World 9.) Leiden 2000, 173–207, hier 199. 7 Annette Wiesheu, Bischof und Gefängnis. Zur Interpretation der Kerkerbefreiungswunder in der merowingischen Hagiographie, in: HJb 121, 2000, 1–23, hier 20. 8 Stefano Gasparri, Recrutement social et rôle politique des évêques en Italie du VIe au VIIIe siècle, in: François Bougard/Dominique Iogna-Prat/Régine Le Jan (Hrsgg.), Hiérarchie et stratification sociale dans l’occident médiéval (400–1100). (Collection haut Moyen Âge 6.) Turnhout 2008, 137–159. 9 Kreiner, Bishop (wie Anm. 1), 334. 10 Moore, Kingdom (wie Anm. 1), 23.
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noch sehr selten gewesen seien, sei danach „the rank of bishop […] an alternative culmination of the ancient senatorial cursus honorum“ geworden.11 Kurzum: Im Gallien der Chlodwig-Zeit – das darf als Handbuchwissen gelten – rekrutierte sich der Episkopat im Wesentlichen aus der (senatorischen) Aristokratie.12 Diese Annahme ist für unser Thema zentral. Denn eben aus diesem sozialgeschichtlichen Befund ist zuletzt auch das eigentlich Erklärungsbedürftige an der Ausbildung bischöflicher Herrschaft hergeleitet worden. Bernhard Jussen hat das Problem prägnant in die Frage gegossen: Warum haben aristokratische Familien im 5. Jahrhundert an unterschiedlichen Orten Galliens sich das Bischofsamt angeeignet und für die alte Reichsaristokratie praktisch monopolisiert?13
Auf der Suche nach Antworten hat die Forschung lange auf das „Prestige des Amtes“ verwiesen. Das greift aber, wie Bernhard Jussen zu Recht betont hat, zu kurz: Denn das Bischofsamt, so Jussen weiter, sei zunächst einmal ein lokales Amt; und es sei keineswegs selbsterklärend, dass ein solches Amt für eine reichsweit, jedenfalls aber überregional agierende Elite interessant war – eine Elite, die es gewohnt war, ihre Herrschaft im Rahmen des imperium Romanum über den Kaiser zu legitimieren. Bernhard Jussen hält deshalb für die Entstehung der bischöflichen Herrschaft die Absenz des Kaisers für fundamental: Das Kaisertum war an der Wende zum 6. Jahrhundert in Gallien kaum noch präsent. Daher musste die alte Reichsaristokratie ihre Herrschaft hier auf neue Weise legitimieren. Aus dieser Ausgangssituation erkläre sich, warum und wie das Bischofsamt in Gallien allmählich umgedeutet worden sei: Jussen zufolge geschah das – von den Beteiligten unintendiert – in immer neuen Auseinandersetzungen zwischen „Reichsaristokraten“ und „Charismatikern“ bzw. „Asketen“. In vielen einzelnen Ereignissen handelten 11 Moore, Kingdom (wie Anm. 1), 8, der sich ebd. 8–9 mit Anm. 25, sogar auf die alte These von Theodor Klauser, Der Ursprung der bischöflichen Insignien und Ehrenrechte. Krefeld 1949, stützt, die freilich schon von Ernst Jerg, Vir venerabilis. Untersuchungen zur Titulatur der Bischöfe in den außerkirchlichen Texten der Spätantike als Beitrag zur Deutung ihrer öffentlichen Stellung. Wien 1970, schlagend widerlegt worden ist. 12 Vgl. in diesem Sinne unter vielen anderen beispielsweise: Prinz, Stadtherrschaft 1976 (wie Anm. 2), 6–14; Peter Gassmann, Der Episkopat in Gallien im 5. Jahrhundert. Diss. Bonn 1977, 50–71; Ralph W. Mathisen, Petronius, Hilarius and Valerianus: Prosopographical Notes on the Conversion of the Roman Aristocracy, in: Historia 30, 1981, 106–112, hier 112; Georg Scheibelreiter, Der Bischof in merowingischer Zeit. (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 27.) Wien 1983, 49; Christian Settipani, Ruricius Ier évêque de Limoges et ses relations familiales, in: Francia 18/1, 1991, 195–222, hier 195; Brigitte Beaujard, L’évêque dans la cité en Gaule aux Ve et VIe siècles, in: Claude Lepelley (Hrsg.), La fin de la cité antique et le début de la cité médiévale de la fin du IIIe siècle à l’avènement de Charlemagne. Actes du colloque tenu à l’Université de Paris X-Nanterre les 1, 2 et 3 avril 1993. (Munera 8.) Bari 1996, 127–145, hier 130. – Deutlich vorsichtiger und differenzierter bleiben die Aussagen von Rapp, Holy Bishops (wie Anm. 1), 192–195, die aber doch ebenfalls annimmt: „In contrast to Italy and the East, where senatorial bishops were the exception, they developed into something of a pattern in the region of southern Gaul“ (192); seit dem Ende des 4. Jh. „men of senatorial background were appointed to the episcopate in ever-increasing numbers. By the fifth century, this trend was well established“ (193). 13 Bernhard Jussen, Über ‚Bischofsherrschaften‘ und die Prozeduren politisch-sozialer Umordnung in Gallien zwischen ‚Antike‘ und ‚Mittelalter‘, in: HZ 260, 1995, 673–718, hier 686.
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diese Gruppen allmählich einen neuen Referenzrahmen für die Legitimation von Herrschaft aus. Das heißt: Um die Herrschaft von Bischöfen im nachrömischen Gallien zu erklären, reicht es eben nicht, nach der Delegation oder Usurpation von Rechten zu fragen. Wir müssen vielmehr auf die Praxis schauen: auf die Liturgie, auf Prozessionen oder Thronsetzungen, auf Kleider, Umgangsformen des Bischofs mit seiner Gemeinde und dergleichen mehr …14 Bernhard Jussen bietet damit eine komplexe – und eben deshalb interessante – Erklärung für die Entstehung und den neuartigen Charakter bischöflicher Herrschaft in Gallien. Gerade für den vorliegenden Band ist sie bedeutsam. Denn wir hätten es demnach mit einem Wechsel von Herrschaftsräumen zu tun: Die „Reichsaristokraten“ wechselten im Laufe des 5. Jahrhunderts in ihrer Herrschaftsorganisation sozusagen von einem Großraum, vom Imperium, auf die lokale Ebene der einzelnen civitas. Das Problem ist nur: Mir scheint es mittlerweile gar nicht mehr sicher, ob der sozialhistorische Befund, der vor Jahrzehnten einmal in der älteren Forschung etabliert worden ist, überhaupt noch haltbar ist. War das „‚Produkt‘ der Transformation“ im Gallien des 5. Jahrhunderts wirklich „die frühmittelalterliche ‚Bischofsherrschaft‘ in den Händen der alten Reichsaristokratie“?15 Im Folgenden möchte ich diese überkommene sozialhistorische These zum Episkopat in Gallien exemplarisch für die Zeit und das Herrschaftsgebiet Chlodwigs empirisch überprüfen. Die Leitfrage lautet also: Was können wir über die soziale Herkunft der Bischöfe im Reich Chlodwigs sagen? Stammten wirklich „nahezu alle Bischöfe […] aus dem Senatsadel“? Hatte diese Aristokratie wirklich ein „quasi-monopole“ auf die Bischofswürde? Ich gehe bei der Suche nach Antworten in zwei Schritten vor: Zuerst betrachte ich die Bischöfe, die sich auf Einladung Chlodwigs im Juli 511 in Orléans einfanden.16 Dann bemühe ich mich, die dabei gewonnenen Befunde mit weiterem empirischem Material zum Episkopat 14 Vgl. außer dem in Anm. 13 genannten Beitrag noch: Bernhard Jussen, Liturgie und Legitimation, oder: Wie die Gallo-Romanen das römische Reich beendeten, in: ders./Reinhard Blänkner (Hrsgg.), Institutionen und Ereignis. Über historische Praktiken und Vorstellungen gesellschaftlichen Ordnens. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 138.) Göttingen 1998, 75–136; sowie knapp: ders., Zwischen Römischem Reich und Merowingern. Herrschaft legitimieren ohne Kaiser und König, in: Peter Segl (Hrsg.), Mittelalter und Moderne. Entdeckung und Rekonstruktion der mittelalterlichen Welt. Kongreßakten des 6. Symposiums des Mediävistenverbandes in Bayreuth 1995. Sigmaringen 1997, 15–29. 15 Jussen, Bischofsherrschaften (wie Anm. 13), 682 [die Hervorhebung ist von mir, S.P.]. 16 Die Canones des Konzils sind ediert als Concilium Aurelianense a. 511, ed. Charles de Clercq, in: CCSL 148A. Turnhout 1963, 3–19; die Einladung durch Chlodwig geht aus der Adresse hervor, ebd. 4,1f.: „Domno suo catholicae ecclesiae filio Chlothouecho gloriosissimo regi omnes sacerdotes, quos ad concilium uenire iussistis.“ – Zu dem Konzil und seinen Beschlüssen vgl. vor allem: Odette Pontal, Die Synoden im Merowingerreich. (Konziliengeschichte, Reihe A.) Paderborn u.a. 1986, 23–34; Gregory I. Halfond, Archaeology of Frankish Church Councils, AD 411–768. (Medieval Law and its Practice 6.) Leiden/Boston 2010, 6–8; ders., Vouillé, Orléans (511), and the Origins of the Frankish Conciliar Tradition, in: Ralph W. Mathisen/Danuta Shanzer (Hrsgg.), The Battle of Vouillé, 507 CE. Where France Began. Boston/Berlin 2012, 151–165; Becher, Chlodwig (wie Anm. 1), 245–250.
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der Jahre um 500 zu untermauern. Beide Schritte machen eine etwas mühselige prosopographische Detailuntersuchung notwendig. II. ORLÉANS 511 Die Unterschriftenliste des Konzils von Orléans ist in verschiedenen Versionen überliefert, nannte aber mit einiger Sicherheit insgesamt 32 Bischöfe.17 Dies sind in alphabetischer Reihenfolge: Adelfius von Poitiers Aventinus von Chartres Boethius von Cahors Camillianus von Troyes Chronopius von Périgueux Cyprianus von Bordeaux Edibius von Amiens Epiphanius von Nantes Eufrasius von Clermont Eusebius von Orléans Eustochius von Angers Gildaredus von Rouen Heraclius von Paris Leontianus von Coutances Leontius von Eauze Libanius von Senlis
Licinius von Tours Litardus von Séez Lupicinus von Angoulême Lupus von Soissons Mandrosus von Evreux Melanius von Rennes Modestus von Vannes Nepus von Avranches Nicetius von Auch Petrus von Saintes Principius von Le Mans Quintianus von Rodez Sextilius von Bazas Suffronius von Noyon Tetradius von Bourges Theodosius von Auxerre
Zu den Teilnehmern des Konzils gehörten demnach nicht die Bischöfe all jener civitates, die Chlodwig politisch am Ende seines Lebens kontrollierte; auch fehlte in Orléans manche Prominenz, so zum Beispiel Remigius von Reims – ohne dass wir den Grund dafür anzugeben wüssten.18 Nicht vertreten waren vor allem die Diözesen im schon länger fränkisch dominierten Nordosten, der Streifen von Tournai über Cambrai/Arras, Laon bis nach Reims; dann die rheinfränkischen Gebiete bis nach Mainz und Straßburg; schließlich das ehemalige Herrschaftsgebiet des comes Arbogast, mit Trier, Metz, Verdun, Toul (vgl. Karte 1).
17 Die verschiedenen Listen sind auf der Basis von Handschriften des 6. bis 9. Jh. gedruckt in der Edition von de Clercq (wie Anm. 16), 13–19; ein besonders hoher Stellenwert kommt dabei zweifellos der Liste zu, die in Paris, BnF, lat. 12097, überliefert ist, der sogenannten Collectio Corbeiensis, die noch auf das 6. Jh. zurückgeht (in der Edition: Cod. C, gedruckt auf den S. 13f.). Michael Glatthaar, Freiburg, bereitet zur Zeit eine größere Studie zu dieser Sammlung vor. – Zu den verschiedenen Fassungen der Unterschriftenlisten und zum Quellenwert der Collectio Corbeiensis vgl. auch B. Bretholz, Die Unterschriften in den gallischen Concilien des 6. und 7. Jahrhunderts, in: NA 18, 1893, 527–547, hier 535–538. 18 Vgl. Pontal, Synoden (wie Anm. 16), 27: „Der Grund für sein Fehlen ist unbekannt. Vielleicht hätte seine Anwesenheit ein Problem für den König dargestellt, der Cyprianus, dem Bischof von Bordeaux, den Vorsitz übertragen wollte“. Pontal hält aber auch eine Abwesenheit „aus irgendeinem ganz alltäglichen Grund, etwa wegen Krankheit“ (ebd.) für möglich.
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Teilnehmer des Konzils von Orléans (Abb. auf Grundlage einer Karte von Peter Palm, Berlin)
Aber immerhin: In dem Grenzort Orléans hatte sich ein hübscher Durchschnitt eingefunden, deutlich mehr als die Hälfte der Bischöfe jener civitates, über die Chlodwig zu herrschen beanspruchte. Die Geistlichen waren angereist aus den Provinzen von Eauze, Bordeaux und Bourges, von Tours, Rouen, Reims und Sens.19 Wir müssen nun also fragen: Trafen sich hier in Orléans am 10. Juli 51120 im Wesentlichen Angehörige von alten Familien der „Reichsaristokratie“? 19 Zum Teilnehmerkreis: Ebd. 26–28; Halfond, Archaeology (wie Anm. 16), 223; ders., Vouillé (wie Anm. 16), 154–158, demzufolge Chlodwig vor allem darum zu tun war, die in Aquitanien neu seiner Herrschaft unterworfenen sowie die erst seit kurzem im Norden amtierenden Bischöfe zu versammeln; Becher, Chlodwig (wie Anm. 1), 248–250.
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Fragt man derart konkret nach, dann werden die pauschalen Aussagen der bisherigen Forschung brüchig. Tatsächlich ergibt sich nämlich ein erheblich differenzierteres Bild: Mehr als ein Drittel der Bischöfe (nämlich genau 13 von ihnen) kennen wir überhaupt nur deshalb, weil ihre Namen in späteren Bischofslisten oder auch in zeitgenössischen Unterschriftenlisten unter Konzilsakten überliefert sind. Wir wissen über sie also lediglich, dass sie Bischof waren und an unserem Konzil in Orléans teilgenommen haben; und bei einigen wenigen können wir darüber hinaus noch sehen, dass sie schon 506 in Agde dabei waren oder später, 533, auch noch zum nächsten Konzil nach Orléans anreisten oder sich dort vertreten ließen.21 Über die soziale Herkunft dieser Geistlichen jedoch lässt sich seriös schlechterdings nichts aussagen. Zu zehn anderen Bischöfen sind zwar etwas genauere historische Informationen überliefert, ihre soziale Herkunft aber bleibt leider wiederum ganz unklar.22 20 Zum Datum Pontal, Synoden (wie Anm. 16), 23, die sich stützt auf die Datierung der Unterschriftenliste in Paris, BnF, lat. 12097 – in der Edition von de Clercq (wie Anm. 16), 13,1f.: „Cyprianus episcopus de Burdigala subscribsi in die VI. idus mensis quinti, Felice u. c. cunsule.“ 21 Dies betrifft 1) Boethius von Cahors (der als Konzilsteilnehmer in Agde 506 und Orléans 511 nachweisbar ist); 2) Leontius von Eauze (Orléans 511); 3) Sextilius von Bazas (Agde 506 und Orléans 511); 4) Adelfius von Poitiers (Orléans 511; in Orléans 533 lässt er sich vertreten); 5) Lupicinus von Angoulême (Orléans 511 und 533, lässt sich in Orléans 541 vertreten); 6) Epiphanius von Nantes (Orléans 511); 7) Eusebius von Orléans (Orléans 511); 8) Modestus von Vannes (Orléans 511); 9) Liteardus von Séez (Orléans 511); 10) Nepus von Avranches (Orléans 511); 11) Suffronius von Noyon (Orléans 511); 12) Libanius von Senlis (Orléans 511); 13) Mandrosus von Evreux (Orléans 511). – Die Unterschriften von Agde sind gedruckt: Concilium Agathense a. 506, ed. Charles Munier, in: CCSL 148. Turnhout 1963, 189–228, hier 213–219 (in zwölf unterschiedlichen Varianten); jene von Orléans 533: Concilium Aurelianense a. 533, ed. Charles de Clercq, in: CCSL 148A, Turnhout 1963, 99–103, hier 102f.; diejenigen von Orléans 541: Concilium Aurelianense a. 541, ed. Charles de Clercq, ebd., 131–146, hier 142–146 (in zwei divergierenden Fassungen). 22 Dies sind: 1) AVENTINUS VON CHARTRES (er wird außer als Teilnehmer des Konzils von Orléans 511 auch erwähnt in der Vita Sollemnis episcopi Carnoteni, ed. Wilhelm Levison, in: MGH SS rer. Merov. 7. Hannover/Leipzig 1920, 303–321, hier c. 5–6, 315f.; vgl. Jean Heuclin, Hommes de Dieu et fonctionnaires du roi en Gaule du Nord du Ve au IXe siècle (348– 817). [Histoire et civilisations.] Villeneuve d’Asq 1998, 39 und 62). – 2) CAMILLIANUS VON TROYES (der in der Vita Lupi episcopi Trecensis, ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 7. Hannover/Leipzig 1920, 284–302, hier c. 12, 302, als dessen Nachfolger erwähnt wird; vgl. auch Heuclin, Hommes [wie oben], 32, 62 und 84). – 3) CYPRIANUS VON BORDEAUX (zu ihm, der in Orléans 511 den Vorsitz innehatte: Halfond, Vouillé [wie Anm. 16], 160). – 4) EDIBIUS VON AMIENS. – 5) HERACLIUS VON PARIS (möglicherweise einer der drei Adressaten eines Briefs von Remigius von Reims [Epistolae Austrasicae, ep. 3, ed. Wilhelm Gundlach, MGH Epp. 3. Berlin 1892, 114,7]; vgl. Ralph W. Mathisen, The Ecclesiastical Aristocracy of FifthCentury Gaul: A Regional Analysis of Family Structure. Diss. Wisconsin 1979, 415 und 510; Knut Schäferdiek, Remigius von Reims. Kirchenmann einer Umbruchszeit, in: ZKG 94, 1983, 256–278, hier 269; Heuclin, Hommes [wie oben], 48 und 62). – 6) LEONTIANUS VON COUTANCES (er wird erwähnt von Venantius Fortunatus, Vita sancti Paterni, ed. Bruno Krusch, in: MGH Auct. ant. 4/2. Berlin 1885, c. 30, 35 als derjenige, der den hl. Paternus von Avranches zum Diakon und Priester geweiht habe und ihm später noch in einer Vision erschienen sei [c. 46, 37]; zu ihm Heuclin, Hommes [wie oben], 39 und 61). – 7) NICETIUS VON
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Bei weiteren drei Bischöfen hat die Forschung mit guten Gründen angenommen, dass sie nicht zur Reichsaristokratie Galliens gehörten. Sicher ist das bei Quintianus von Rodez: Er stammte gar nicht aus Gallien, sondern aus Afrika.23 Den Metropoliten Gildaredus von Rouen hat Martin Heinzelmann als Mitglied der lokalen Elite im pagus von Noyon eingestuft.24 Sein Amtsbruder Tetradius von Bourges schenkte dem heiligen Julian von Brioude ein Landgut wohl in Bougheat, im heutigen Peu-de-Dôme25; er verfügte demnach über Besitz, ohne dass Heinzelmann
AUCH (Heinzelmann, Bischofsherrschaft [wie Anm. 3], 174, sieht aufgrund des Namens eine Zugehörigkeit zu einer Familie aus der Gascogne, zu der möglicherweise auch Rusticus von Aire gehörte. Außer in Agde 506 und Orléans 511 ist Nicetius allerdings nur noch im Bischofskatalog des Cartulaire noir aus dem 13. Jh. bezeugt, wo seine Amtszeit mit neun Jahren angegeben wird). – 8) PETRUS VON SAINTES (Martin Heinzelmann, Gallische Prosopographie 260–527, in: Francia 10, 1982, 531–718, hier 668, hält eine Identität mit dem gleichnamigen Adressaten eines Briefs des Ruricius von Limoges für möglich: Ruricius von Limoges, Epistolae, II, 38, ed. Bruno Krusch, in: MGH Auct. ant. 8. Berlin 1887, 339f.). – 9) PRINCIPIUS VON LE MANS (außer in Orléans 511 ist er nur in den aus dem 9. Jh. datierenden Actus Pontificum Cenomannis in urbe degentium, lib. VII, ed. Margarete Weidemann, Geschichte des Bistums Le Mans von der Spätantike bis zur Karolingerzeit, Teil 1: Die erzählenden Texte. [Römisch-Germanisches Zentralmuseum, Monographien 56/1.] Mainz 2002, 47f., bezeugt, wo er als nobilibus ex parentibus […] genitus bezeichnet wird [ebd. VII, 1, 47]. Die sehr späte Angabe dürfte allerdings topisch sein, so dass ihr keine sozialgeschichtliche Beweiskraft eignet). – 10) THEODOSIUS VON AUXERRE (wie Heraclius [von Paris?] einer der Adressaten im Brief des Remigius von 512: Epp. Austr., ep. 3, ed. Gundlach [wie oben], 114,7). 23 Vgl. Helene Wieruszowski, Die Zusammensetzung des gallischen und fränkischen Episkopats bis zum Vertrag von Verdun (843) mit besonderer Berücksichtigung der Nationalität und des Standes. Ein Beitrag zur fränkischen Kirchen- und Verfassungsgeschichte, in: Bonner Jahrbücher 127, 1922, 1–83, hier 27; außerdem Heinzelmann, Gallische Prosopographie (wie Anm. 22), 678. 24 Heinzelmann, Gallische Prosopographie (wie Anm. 22), 617. – Heinzelmann schlägt hier vor, die Eltern des Gildaredus mit jenem Nectardus und dessen Gemahlin Protagia/Protasia zu identifizieren, deren Sohn Medardus, Bischof von St-Quentin, außerdem ein Zwillingsbruder des Gildaredus gewesen sei. Diese These ruht allerdings allein auf der erst im 10./11. Jh. bezeugten Vita Gildardi (BHL 3539), ed. Albert Poncelet, in: Analecta Bollandiana 8 (1889), 393–402, c. 2–3, 395f. – Vgl. zu Gildaredus außerdem Heuclin, Hommes (wie Anm. 22), 39 und 61. 25 Gregor von Tours, Libri historiarum decem, III, 16, edd. Bruno Krusch/Wilhelm Levison, in: MGH SS rer. Merov. 1/1. 2. Aufl. Hannover 1951, 116: „[…] villam Bulgiatensim, quam quondam benedictus Tetradius episcopus basilicae sancti Iuliani reliquerat […]“; vgl. zu der Schenkung auch Gregor von Tours, Virtutes Iuliani, c. 14, ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 1/2. Hannover 1885, 120, wo der Schenker ausdrücklich als Bischof von Bourges bezeichnet wird: „Ubi [sc. in Arverna regione] dum multorum res iniuste conpeteret [sc. Sigivaldus], villam quandam, quam gloriosae memoriae Tetradius episcopus Biturigensis basilicae sancti Iuliani reliquerat, sub specie obumbratae commutationis avidus pervadit.“ – Tetradius ist im Übrigen auch als Teilnehmer in Agde nachgewiesen: Conc. Agath. a. 506 (wie Anm. 21), 213,8.
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ihn aber allein deshalb als Mitglied der Senatsaristokratie hätte klassifizieren wollen.26 Nur für die übrigen sechs Geistlichen ist in der bisherigen Literatur überhaupt je eine Zugehörigkeit zur senatorischen Aristokratie konkret behauptet worden: Eufrasius von Clermont, Eustochius von Angers, Licinius von Tours, Melanius von Rennes, Lupus von Soissons, Chronopius von Périgueux. Schon dieser Befund ist ein wenig ernüchternd: Wenn wir nämlich nur in 18 Prozent der Fälle erwähnenswerte Indizien für eine senatorische Herkunft finden, sollten wir mit Wertungen wie „nahezu alle“, „ausschließlich“, „quasi-monopole“ oder auch „clearly dominated“ vielleicht doch zurückhaltender sein. Schauen wir uns aber die sechs vermeintlichen „Reichsaristokraten“ noch etwas genauer an! Hier führt nun kein Weg an den Niederungen der Prosopographie und Quellenkritik vorbei. 1. Eufrasius amtierte seit etwa 490 als Bischof von Clermont; seinen Tod können wir aufgrund einer Nachricht bei Gregor von Tours einigermaßen sicher ins Jahr 515 datieren.27 Wir wissen, dass er sich 506 beim Konzil von Agde vertreten ließ.28 Und auch von der Korrespondenz des Eufrasius mit anderen Bischöfen haben sich glücklicherweise wenigstens Spuren erhalten: Er ist als Briefpartner des Avitus von Vienne und des Ruricius von Limoges nachweisbar.29 Die Vermutung, er stamme aus einer Familie der Senatsaristokratie, beruht denn auch auf einem Schreiben, das Ruricius von Limoges wohl nach 495 an „seinen Eufrasius“ richtete. In dem Schreiben äußert Ruricius seine Verwunderung darüber, dass Eufrasius ihn in einer nicht näher genannten Angelegenheit um seine Meinung gefragt habe. Das habe Eufrasius, so formulierte es Ruricius mit einem Wortspiel, wohl magis pro necessitudine quam necessitate getan – „damit Ihr die Zustimmung eines so bedeutenden Mannes, dem gegenüber Ihr Euch besonders ehrerbietig erweisen möchtet, nicht in einer geschäftlichen Sache zu übergehen scheint.30 26 Heinzelmann, Gallische Prosopographie (wie Anm. 22), 701, klassifiziert Tetradius als „possessor“, mithin als Mitglieder der sogenannten „Notablen“ einer civitas; vgl. zu Tetradius außerdem Mathisen, The Ecclesiastical Aristocracy (wie Anm. 22), 316. 27 Quellenbelege zu ihm liefert Gregor, Hist., II, 36 und III, 2 (wie Anm. 25), 84 und 98; Gregor von Tours, Liber vitae patrum, IV, 1, ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 1/2. Hannover 1885, 224; zur Datierung der Amtszeit auf dieser Basis vgl. Heinzelmann, Gallische Prosopographie (wie Anm. 22), 600. 28 Conc. Agath. a. 506 (wie Anm. 21), 214,39f.: „Paulinus in Dei nomine presbyter missus a domno meo Eufrasio episcopo ciuitatis Aruernae subscripsi.“ 29 Avitus von Vienne, Epistolae, ep. 43 (38), ed. Rudolf Peiper, in: MGH Auct. ant. 6/2. Berlin 1883, 72f.; Ruricius, Epp., II, 29 (wie Anm. 22), 334. 30 Ebd.: „Miror, sanctitatem vestram post tantorum et talium virorum iudicia potius quam rescripta etiam inscitae meae quaesisse sententiam, quod vos magis pro necessitudine quam necessitate fecisse conicio, ne cuius tanti habetis praecipuum in animo tenere cultum, videremini in negotio praetermisisse consensum. unde gratias ago individuae mihi in Christo germanitati vestrae, quod ita de nobis praesumere et iudicare dignamini, ut nihil habeamus aut in caritatis simplicitate subdolum aut in veritatis puritate fucatum. reddo itaque debitum unanimitatis officium et de causa qua mihi scibere dignati estis idem me quod et fratres nostros sentire significo. sed quid facto opus sit vel quid mihi potissimum fieri debere videatur, per diaconem vestrum verbo fideliter intimavi, quae longum fuit litteris indicari. ora pro me.“
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Aus der Formulierung pro necessitudine hat die Forschung – mal vorsichtiger, mal weniger zurückhaltend – auf eine Verwandtschaft zwischen Eufrasius und Ruricius geschlossen31, freilich ohne dass sich das Verhältnis präzisieren ließe. Da Ruricius zweifelsfrei der senatorischen Aristokratie entstammte32, könnte man dann auch Eufrasius von Clermont eine illustre Abkunft zugestehen. Das Problem ist nur: Wie sicher ist das? Es geht nicht einmal darum, dass in dem einzigen Textzeugen, der diese Briefe überliefert, dem Codex Sangallensis 190, an dieser Stelle gar nicht pro necessitudine steht, sondern pro necessitate.33 Bruno Krusch hat diesen Wortlaut in seiner Edition zu pro necessitudine emendiert. Der Eingriff ist aber durchaus begründet: Der Satz ergibt sonst keinen rechten Sinn; und außerdem hat Ruricius selbst auch noch in einem Brief an den Bischof Taurentius ganz ähnlich mit den Wörtern necessitudo und necessitas gespielt.34 Wir dürfen also necessitudo durchaus als die ursprüngliche Lesart annehmen. Das Problem ist dann aber: Das Wort kann eine verwandtschaftliche Bindung bezeichnen; es kann aber auch auf eine Freundschaft gemünzt sein, auf jede Art enger Beziehung, ja sogar nur auf eine Amtsgenossenschaft. Im weiteren Verlauf des kurzen Schreibens dankt Ruricius dem Eufrasius für seine individua mihi i n C h r i s t o germanitas; und er verweist auf sein debitum unanimitatis officium.35 Auch diese Formulierungen vermögen eine leibliche Verwandtschaft nicht zu belegen: Sie könnten ebenso gut auf die Brüderlichkeit und Einmütigkeit zwischen zwei befreundeten Bischöfen hinweisen. Die schon erwähnte sprachliche Parallele im Brief an Taurentius scheint mir mindestens genauso offen zu sein, wenn sie nicht sogar eher zugunsten der weiteren Bedeutung „Freundschaft“, „Vertrautheit“ spricht: Andernfalls hätte Ruricius hier nämlich in einer Sentenz behauptet, einen unaufgeforderten Dank schulde man nicht etwa dem Freund, sondern nur speziell dem Verwandten (was immerhin eine bemerkenswerte Auffassung wäre …).36 Angesichts dieser Quellenbasis kann man, wenn man es denn will, Eufrasius von Clermont als Verwandten des Ruricius betrachten und daraus folgern, auch er sei ein senatorischer Aristokrat gewesen. Aber ein handfester Beweis für eine solche Annahme fehlt. Man kann Eufrasius genauso gut auch als einen befreundeten bischöflichen Amtsbruder des Ruricius von Limoges 31 So schon Wieruszowski, Zusammensetzung (wie Anm. 23), 58; Karl Friedrich Stroheker, Der senatorische Adel im spätantiken Gallien, Tübingen 1948, 169; vgl. im selben Sinne zum Beispiel auch Mathisen, The Ecclesiastical Aristocracy (wie Anm. 22), 299; Heinzelmann, Gallische Prosopographie (wie Anm. 22), 600. 32 Vgl. dafür schon die Belege bei Stroheker, Adel (wie Anm. 31), 209f., Nr. 327. 33 St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 190, p. 232. 34 Ruricius, Epp., II, 47 (wie Anm. 22), 344,6. 35 Ebd. II, 29, 334 (zum Wortlaut vgl. oben, Anm. 30). 36 Ebd. II, 47 (wie Anm. 22), 344: „et ideo mavult offerre tacenti gratiam quam praestare poscenti, sciens procul dubio, plus in eo esse meriti, quod spontanea benignitate defertur, quam quod precibus indulgetur; siquidem horum unum non nisi necessitate datur necessitudini, aliud vero saepe etiam precatoris sedulae dimittitur improbitati.“
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betrachten, der um den großen Einfluss des Ruricius wusste – und sich bei anderer Gelegenheit auch schon einmal besorgt nach der Gesundheit seines Freundes erkundigt hatte.37 2. Einfacher ist die Sachlage bei Eustochius von Angers: Wir kennen ihn nicht nur aus seiner Unterschrift unter den Akten von Orléans 51138, sondern auch, weil er gemeinsam mit seinem Metropoliten, Licinius von Tours, und dem Bischof Melanius von Rennes einen Brief an die bretonischen Priester Lovocatus und Cathernus sandte.39 Ralph Mathisen hat nun vermutet, Eustochius sei mit Eustochius von Tours verwandt gewesen40, den Gregor von Tours in seinen Historien ausdrücklich als senatorius klassifiziert.41 Das Problem ist hier: Es gibt für die Verwandtschaft der beiden Eustochii schlicht kein anderes Indiz als eben die Identität des Namens.42 Damit fehlt aber in diesem Falle jeder belastbare Beleg für eine Herkunft des Eustochius von Angers aus der Senatsaristokratie. 3. Licinius von Tours wird von seinem Amtsnachfolger Gregor im Katalog der Touroner Bischöfe nüchtern als civis Andecavus charakterisiert; Gregor wusste außerdem von einer Reise des Licinius zu den sancta loca im Osten zu berichten und von der Gründung eines Klosters auf eigenem Grund (in possessione sua), ebenfalls in Angers.43 Martin Heinzelmann hat auf dieser Basis in Erwägung gezogen, in Licinius ein Mitglied der senatorischen Aristokratie zu sehen.44 Nun ist aber ausgerechnet Gregor von Tours bekanntlich der Autor, dem wir die Erwähnung von etlichen späten senatores verdanken: Gregor benutzte dieses Wort häufig auch, um Bischöfe, und zumal Bischöfe von Tours, 37 Vgl. ebd. II, 22 (wie Anm. 22), 330 (an Eufrasius): „Gratias ago sincerrimae in Christo domino germanitati vestrae, quod, perlato taedio ad vos nostro, confestim nos litteris vestris visitare tanti habuistis, qui dum infirmitatis nostrae sollicitudinem geritis, sanitatem vestri pectoris approbatis.“ 38 Conc. Aurel. a. 511 (wie Anm. 16), 13,19. 39 Eustochius von Angers, Licinius von Tours, Melanius von Rennes, Epistola, ed. Arthur de la Borderie, Histoire de Bretagne, Bd. 2. Rennes/Paris 1898, 526f. 40 Mathisen, The Ecclesiastical Aristocracy (wie Anm. 22), 304f. 41 Gregor, Hist., X, 31 (wie Anm. 25), 529. 42 Dazu auch Conrad Walter/Steffen Patzold, Der Episkopat im Frankenreich der Merowingerzeit: eine sich durch Verwandtschaft reproduzierende Elite?, in: Steffen Patzold/Karl Ubl (Hrsgg.), Verwandtschaft, Name und soziale Ordnung (300–1000). (RGA Erg.-Bd. 90.) Berlin/New York 2014, 109–139, hier 120. 43 Gregor, Hist., II, 39 (wie Anm. 25), 89; ebd. III, 2, 98; sowie ebd. X, 31, 531f.: „Licinius, civis Andecavus, qui ob amorem Dei in Oriente abiit sanctaque loca revisit. Exinde digressus, in possessione sua monasterium collocavit infra terminum Andecavum, et postea abbatis officium monasterio, ubi sanctus Venantius abba sepultus est, functus, ad episcopatum eligitur. Huius tempore Chlodovechus rex victor de caede Gothorum Turonus rediit. Sedit autem annos XII, menses II, dies XXV et sepultus est in basilica sancti Martini.“ – Licinius ist außerdem belegt durch den Brief, den er gemeinsam mit Melanius von Rennes und Eustochius von Angers verfasst hat: Vgl. oben, Anm. 39. 44 Heinzelmann, Gallische Prosopographie (wie Anm. 22), 638. – Anders: Luce Pietri, La ville de Tours du IVe au VIe siècle. Naissance d’une ville chrétienne. (Collection de l’École française de Rome 69.) Rom 1983, 166.
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zu klassifizieren.45 Wenn er Licinius von Tours für einen senatorischen Aristokraten gehalten hätte – warum hätte er es dann ausgerechnet in seinem Falle einmal nicht explizit sagen sollen? Und was spräche eigentlich dagegen, in Licinius und seiner Familie nicht „Reichsaristokraten“, sondern Angehörige einer lokalen, besitzenden Elite der civitas von Angers zu sehen? 4. Melanius von Rennes galt spätestens in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts als Heiliger; Gregor von Tours erwähnt ihn in seinem Liber in gloria confessorum.46 Gleich drei Viten über ihn haben sich erhalten; die früheste aber stammt, wie Bernard Merdrignac gezeigt hat, erst aus dem 9. Jahrhundert.47 Die Spätdatierung des betreffenden Textes ist sicher: Der Autor zitierte nämlich wörtlich aus der Vita Vedasti Alkuins von Tours.48 In dieser ältesten, aber eben doch erst karolingerzeitlichen Vita heißt es nun über Melanius, er sei nobilis genere, sed nobilior fide gewesen, auch saeculi dignitate inter suos clarus, sed divinorum munerum gratia precipuus.49 Dass diese Aussage ein hagiographischer Topos ist, liegt auf der Hand. Weiter heißt es dann in der Vita über Melanius noch: „Erat enim de Venetensi paroechia ex progenie oriundus ex nobilissimis parentibus et in villa quae vocatur Platio nutritus.“50 Was aber machen wir aus einer solchen späten, noch dazu topischen Angabe? Sie steht in einer Heiligenvita, von der Bruno Krusch vielleicht nicht zu Unrecht angenommen hat, dass sie in dem Kloster Redon in einem Streit über die Rechte an dem eben hier genannten Ort Plaz als historisches Argument 45 Vgl. F.D. Gillard, The Senators of Sixth Century Gaul, in: Speculum 54, 1979, 685–697. 46 Gregor von Tours, Liber in gloria confessorum, c. 54, ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 1/2. Hannover 1885, 329f. 47 Die älteste Fassung ist gedruckt als Vita Melanii episcopi Redonici, ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 3. Hannover 1896, 370–376; zur Datierung: Krusch, ebd., 370f.; Bernard Merdrignac, L’évolution d’un cliché hagiographique: Saint-Melaine, Saint-Mars et l’eulogie métamorphosée en serpent, in: Annales de Bretagne 87, 1980, 589–605, hier 592. 48 Vgl. Alkuin, Vita Vedasti, ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Merov. 3. Hannover 1896, 414–425, hier c. 1, 416: „Postquam Deus et dominus noster Iesus Christus ovem quaerere perditam de caelis in hunc mundum per virginale venerat uterum, et tota suae dispensationis et nostrae salutis peracta plenitudine, cum triumpho gloriae ad sedem paternae maiestatis reversus, ut tetricas ignorantiae tenebras toto depelleret orbe, multa sanctorum lumina doctorum, euangelicae praedicationis luce fulgentia, toto diviserat mundo: ut, sicut caelum fulgentibus ornatur stellis, quae tamen omnes ab uno inlustrantur sole, sic et lata terrarum spatia sanctis splendescerent doctoribus, qui tamen ab aeterno sole inluminati, divina praeveniente gratia, caecas ignorantiae tenebras verae fidei fulgore et glorioso Christi nomine inlustrarent, ut, eis ministrantibus, longa ab initio saeculi esuries aeternae vitae aepulis satiaretur“ – mit Vita Melanii, c. 2 (wie Anm. 47), 372: „Postquam ergo dominus noster Iesus Christus mundum sua passione redemit et apostolos suos praedicare misit successoresque eorum ad praedicandum elegit, qui ab aeterno sole illuminati, divina adiuvante gratia, caecos ignorantiae tenebris vere fidei fulgore Christi illuminarent et longa divini verbi esuriae fatigatam epulis aeternae vitae familiam redemptoris satiarent, de eorum numero sanctus Dei sacerdos Melanius Redonensis episcopus et praedicator egregius his in regionibus ob multorum salutem, Dominum ut praedicaret, exortus est.“ 49 Vita Melanii, c. 2 (wie Anm. 47), 372. 50 Ebd. c. 3 (wie Anm. 47), 372.
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verfasst worden sei.51 Wir könnten spekulieren, dass dem Autor eine ältere Vita vorlag; belegen lässt sich eine solche Vermutung aber nicht. Ein solides Fundament für eine sozialgeschichtliche Verortung des heiligen Melanius sieht anders aus. Zeitnäher ist die Erwähnung des Melanius in Gregors Liber in gloria confessorum. In der englischen Übersetzung des Textes, die Raymond van Dam angefertigt hat, heißt es nun über Melanius: After the signs of innumerable miracles bishop Melanius of Rennes was distinguished in this world, [although he was] equally eager for heaven.52
Die Übersetzung offenbart zwar, was Historiker heute von einem Bischof im Gallien des 6. Jahrhunderts wie selbstverständlich erwarten; sie geht aber schlicht in die Irre. Gregor nämlich schrieb: Melanius autem Redonicae urbis episcopus post innumerabilium signa virtutum iugiter intentus caelo emicuit saeculo.53
Im nächsten Satz ist Melanius dann nicht nur schon tot, sondern sogar bereits begraben: super cuius sepulchrum […], fährt der Text fort. Die Wendung iugiter intentus caelo emicuit saeculo soll hier sicher nicht heißen: „er glänzte in der Welt, obwohl er genauso eifrig nach dem Himmelreich strebte“. Gregor verwendete das Wort emicuit in seiner Grundbedeutung einer schnellen Bewegung aus etwas heraus – wie in Ovids Wendung: emicare carcere.54 Als Gefängnis konnten nun Christen die Welt hienieden ohne weiteres begreifen; diese Welt zu verlassen, das hieß sterben. So wollte Gregor schlicht sagen: „als Melanius nach unzähligen Wunderzeichen eifrig nach dem Himmel gestrebt hatte, starb er“. Der Beginn des nächsten Satzes – „über seinem Grab“ – stellt deshalb auch keinen narrativen Bruch dar. Tatsächlich hat Gregor dieselbe Wendung (emicare saeculo) in seinen hagiographischen Schriften noch an zwei anderen Stellen eindeutig in diesem Sinne verwendet55, so dass Bruno Krusch sehr zu Recht die Formulierung emicuit saeculo im Wortverzeichnis seiner Edition als obiit erklärt hat.56 51 Krusch, MGH SS rer. Merov. 3 (wie Anm. 47), 370f. 52 Raymond Van Dam, Gregory of Tours, The Glory of the Confessors. (Translated Texts for Historians 5.) 2. Aufl. Liverpool 2004, 40. 53 Gregor, Glor. conf., c. 54 (wie Anm. 46), 329: „Melanius autem Redonicae urbis episcopus post innumerabilium signa virtutum iugiter intentus caelo emicuit saeculo; super cuius sepulchrum miram christiani fabricam celsitudine levaverunt […].“ 54 Ov. met. 10, 652: „signa tubae dederant, cum carcere pronus uterque / emicat et summam celeri pede libat harenam: / posse putes illos sicco freta radere passu / et segetis canae stantes percurrere aristas.“ 55 Gregor, Vitae patr., XVI, 4 (wie Anm. 27), 276: „His et talibus virtutum magnarum gratia pollens, impleto vitae praesentis curriculo, vitam percepturus aeternam, emicuit saeculo, cuius beatum sepulchrum miraculorum inlustrium effectu plerumque redditur gloriosum“; Gregor, Glor. conf., c. 85 (wie Anm. 46), 352f.: „Hic, ut diximus, eximiis inlustratus virtutibus emicuit saeculo. Quod audiens benedictus Agricola episcopus, misit archidiaconem suum, ut beatum urbis cimiterio deferret.“ 56 Krusch, MGH SS rer. Merov. 1/2 (wie Anm. 27), 454.
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So bleibt das nüchterne Ergebnis: Der karolingerzeitlichen Überlieferung darf man mit klassischer Quellenkritik den Beweiswert absprechen; und die zeitnähere Wendung emicare saeculo ist keine Basis, um Melanius für einen senatorischen Aristokraten zu halten. 5. Schauen wir auf Lupus von Soissons: Er war der Neffe des Remigius von Reims, mithin eines der profiliertesten Bischöfe im Reich Chlodwigs.57 Die Forschung hat schon seit langem vermutet, Remigius sei ein Mitglied der senatorischen Aristokratie gewesen. Schon Karl Stroheker hat ihn so eingeordnet, wenn er auch diese hohe Abkunft nicht als bewiesen ansah, sondern nur als wahrscheinlich.58 Wenn der Vater des Remigius – ein Mann namens Aemilius – ein vir clarissimus war, dann kam eben nicht nur Remigius, sondern auch dessen Brudersohn Lupus von Soissons aus einer ranghohen Familie.59 Nun musste Stroheker freilich noch annehmen, das Testament des Remigius, das erst Hinkmar von Reims im 9. Jahrhundert im Rahmen seiner Vita Remigii überliefert, sei eine Fälschung des Vitenautors.60 Heute ist diese Auffassung widerlegt, das Testament darf jedenfalls im Kern als echt gelten61; und damit gewinnen wir ein Dokument, das uns Aufschluss über das väterliche Erbe des Remigius gibt. Das freilich war kümmerlich genug! MarieCéline Isaïa hat in ihrer 2010 erschienenen monumentalen Dissertation alles Notwendige dazu gesagt: Das Testament zeige, dass Aemilius seinem Sohn gerade einmal 10 coloni in der Nähe von Laon vererbt hat; „Emilius […] n’était qu’un modeste propriétaire des environs de Laon“, so lautet Isaïas Fazit.62 57 Zu Remigius von Reims ist nach wie vor konzis und grundlegend: Schäferdiek, Remigius (wie Anm. 22); vgl. jetzt aber auch: Marie-Céline Isaïa, Remi de Reims. Mémoire d’un saint, histoire d’une église. (Histoire religieuse de la France 35.) Paris 2010, 61–192. 58 Stroheker, Adel (wie Anm. 31), 107 und 207. – Vgl. zur Annahme einer illustren Abkunft des Remigius außerdem z.B.: Prinz, Stadtherrschaft 1973 (wie Anm. 2), 13; Schäferdiek, Remigius (wie Anm. 22), 259f.; Michel Rouche, Clovis. Suivi de vingt et un documents traduits et commentés. Paris 1996, 511; Heuclin, Hommes (wie Anm. 22), 39; Wolfgang Haubrichs, Testamentum Remigii. Die Personennamen der servi, coloni und parentes im Testament des Bischofs Remigius von Reims (ca. 511/533), in: Historia archaeologica. Festschrift für Heiko Steuer zum 70. Geburtstag. (RGA Erg.-Bd. 70.) Berlin/New York 2009, 285–323, hier 285; Isaïa, Remi (wie Anm. 57), 53f. 59 Die Quellenbelege für die Verwandtschaft sind dargelegt und ausgewertet bei Schäferdiek, Remigius (wie Anm. 22), 260. 60 Stroheker, Adel (wie Anm. 31), 208. 61 Dazu grundlegend: A.H.M. Jones/P. Grierson/J.A. Crook, The Authenticity of the „testamentum s. Remigii“, in: Revue Belge de Philologie et d’Histoire 35, 1957, 356–373; die Echtheit haben unter anderem akzeptiert: Ulrich Nonn, Merowingische Testamente. Studien zum Fortleben einer römischen Urkundenform im Frankenreich, in: ADipl 18, 1972, 1–129, hier 25f.; Rouche, Clovis (wie Anm. 58), 505–508; mit weiteren, onomastischen Argumenten vgl. jetzt auch: Haubrichs, Testamentum (wie Anm. 58), 286f. 62 Isaïa, Remi (wie Anm. 57), 52–57 (das Zitat im Text: 57); vgl. auch die Einschätzung von Jones/Grierson/Crook, Authenticity (wie Anm. 61), 371: „the estate of a man of medium wealth in the early Merovingian age“; Schäferdiek, Remigius (wie Anm. 22), 260, meinte ähnlich zurückhaltend: „Nach dem Testament zu urteilen entstammte er einem relativ wohl-
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Weitere Indizien deuten in dieselbe Richtung: Sidonius Apollinaris stammte zweifelsfrei aus der senatorischen Aristokratie, war nur wenige Jahre älter als Remigius, amtierte selbst seit etwa 470 als Bischof in Clermont und war bestens vernetzt.63 Sidonius dürfte die Familien der alten Reichsaristokratie Galliens recht gut überschaut haben. Remigius aber kannte er nicht; und schlimmer noch, er wusste nicht einmal, wer und was dessen Vater war! Als Sidonius in einem Schreiben an den Bruder des Remigius, den Bischof Principius von Soissons, dessen Familie zu loben suchte, da tat er es gerade nicht, indem er deren aristokratische Herkunft pries; vielmehr bemühte er einen Vergleich mit Aaron – wohl weil der Vater Aemilius und seine beiden Söhne Geistliche waren.64 Noch Gregor von Tours wird später mit Blick auf die Abkunft des Remigius Zurückhaltung zeigen: Auch er pries den Reimser Bischof nicht für seine hohe Geburt oder gar als senator, sondern lobte ihn für seine Bildung.65 Angesichts dieser Quellenbefunde, vor allem des Testaments, besteht überhaupt keine Notwendigkeit, eine Verwandtschaft des Bischofs Remigius mit sämtlichen hochrangigen Trägern des Namens Remigius in der Spätantike zu postulieren, die wir heute noch kennen.66 Dies sind: a) ein magister officiorum der Zeit vor 375, der nach Ammianus Marcellinus aus der Gegend um Mainz stammte67; b) ein praefectus augustalis um 396, also ein Amtsträger in Ägypten68; c) ein Bischof von Aix, der nach 419 verstarb.69 Die drei Personen agierten räumlich hinreichend weit voneinander entfernt; und wir können keinen einzigen Quellenbeleg beibringen, der auf eine Ver-
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habenden Hause“. – Dagegen scheint mir die Wertung von Rouche, Clovis (wie Anm. 58), 509–511, zu optimistisch (vgl. außerdem noch ders., La destinée des biens de saint Remi, in: Wilhelm Janssen/Dieter Lohrmann [Hrsgg.], Villa, Curtis, Grangia. Landwirtschaft zwischen Loire und Rhein von der Römerzeit zum Hochmittelalter. [Beihefte der Francia 11.] München 1983, 46–61). Zu Sidonius vgl. Jill Harries, Sidonius Apollinaris and the Fall of Rome. AD 407–485. Oxford 1994 (bes. 24–31 zur sozialen Herkunft und Familie); Thomas E. Kitchen, Sidonius Apollinaris, in: Richard Corradini u.a. (Hrsgg.), Ego Trouble. Authors and their Identities in the Early Middle Ages. (Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Denkschr. 385/Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 15.) Wien 2010, 53–66. Sidonius Apollinaris, Epistolae, VIII, 14, ed. Christian Luetjohann, in: MGH Auct. ant. 8. Berlin 1887, 146,3–8; vgl. außerdem Sidonius, Epp., IX, 7, 154f., ein Schreiben, das an Remigius gerichtet ist und dessen Stil lobt, zugleich aber vor Überheblichkeit warnt. Aus dem Brief hat Isaïa, Remi (wie Anm. 57), 79–81, treffend gefolgert: „Remi est une vague connaissance“ (80). Gregor, Hist., II, 31 (wie Anm. 25), 77: „Erat autem sanctus Remegius episcopus egregiae scientiae et rethoricis adprimum imbutus studiis, sed et sanctitate ita praelatus, ut Silvestri virtutebus equaretur.“ – Gregor hat in seinen Historien sonst durchaus nicht gezögert einen Bischof als von senatorischer Familie zu bezeichnen, wenn er von solcher Abkunft wusste. Dies gegen Isaïa, Remi (wie Anm. 57), 27–46. Zu ihm: Ebd. 28–31. Zu ihm: Ebd. 33–37. Zu seiner Person: Ebd. 38–46.
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wandtschaft unter ihnen hinwiese – oder auch nur auf Beziehungen irgendeiner Art zwischen ihnen. Genauso fehlt jedes Indiz für eine Verwandtschaft mit unserem wohl um 438 geborenen Remigius von Reims.70 Wir könnten deshalb zwar im quellenfreien Raum, allein gestützt auf den Namen „Remigius“ spekulieren, dass der Reimser Metropolit aus einer Familie der Reichsaristokratie stammte, die im ersten Drittel des 4. Jahrhunderts binnen einer Generation dramatisch verarmt war (etwa weil sie großzügig Almosen gab und die Kirche reich beschenkte?). Wir dürfen die Herkunft der Familie aber auch geradliniger in einer weit bescheideneren, lokalen Elite mit überschaubarem Grundbesitz bei Laon suchen. Was für Remigius gilt, trifft nun aber genauso für seinen Neffen Lupus von Soissons zu. Auch für ihn gibt es bisher keinen handfesten Beleg für eine Herkunft aus der senatorischen Aristokratie. 6. So bleibt nur noch Chronopius von Périgueux: Vielleicht dürfen wir in ihm tatsächlich einen Angehörigen der alten römischen Aristokratie Galliens sehen. Zumindest ist Chronopius in seinem Epitaph von einem Mann mit einem Gespür für feine soziale Unterschiede, nämlich von Venantius Fortunatus71, gewürdigt worden als nobilis antiquo veniens de germine patrum.72 Venantius hatte an anderen Stellen wenig Hemmungen, einem politisch bedeutenden Bischof auch eine niedrige oder mediokre Geburt zuzuschreiben73; insofern ist seine Angabe zu Chronopius durchaus aufschlussreich. 70 Zum Datum: Schäferdiek, Remigius (wie Anm. 22), 260f. 71 Zu seinen Bischofsepitaphien und weiteren Werken für und über Bischöfe: Heinzelmann, Bischofsherrschaft (wie Anm. 3), 63–65 und 137; Judith W. George, Venantius Fortunatus. A Poet in Merovingian Gaul. Oxford 1992, bes. 106–131; zu seinem Werdegang: Brian Brennan, The Career of Venantius Fortunatus, in: Traditio 41, 1985, 49–78. 72 Venantius Fortunatus, Carmen IV, 8, ed. Friedrich Leo, in: MGH Auct. ant. 4/1. Berlin 1881, 84f., hier 84, v. 11f.: „nobilis antiquo veniens de germine patrum / sed magis in Christo nobilior merito“; das Beispiel wird in der Literatur recht häufig angeführt, allerdings meist ohne die zweite Zeile, die die Aussage insgesamt immerhin sehr in die Nähe eines hagiographischen Topos stellt: Vgl. etwa Wieruszowski, Zusammensetzung (wie Anm. 23), 58; Stroheker, Adel (wie Anm. 31), 161, Nr. 90; Heinzelmann, Bischofsherrschaft (wie Anm. 3), 215 u.ö.; Prinz, Stadtherrschaft 1973 (wie Anm. 2), 22. – Wir kennen außerdem einen Brief des Ruricius von Limoges an Chronopius: Ruricius, Epp., II, 6 (wie Anm. 22), 316, aus dem sich allerdings kein Aufschluss über die soziale Herkunft des Chronopius gewinnen lässt. 73 Venantius Fortunatus, Vita Germani, ed. Bruno Krusch, in: MGH Auct. ant. 4/2. Berlin 1885, 11–22, hier c. 1, 11: „Beatus igitur Germanus Parisiorum pontifex territorii Augustidunensis indigena patre Eleutherio matre quoque Eusebia honestis honoratisque parentibus procreatus est“ (zur sozialen Einordnung des Germanus von Paris auf Basis dieser Aussage vgl. Heinzelmann, Gallische Prosopographie [wie Anm. 22], 616; Scheibelreiter, Bischof [wie Anm. 12], 27f.). – Noch deutlicher: Venantius Fortunatus, Vita sancti Marcelli, ed. Bruno Krusch, in: MGH Auct. ant. 4/2. Berlin 1885, 49–54, hier c. 13, 50: „Beatissimus igitur Marcellus antestis natus Parisii sed civis paradisi, in terris humilis, erectus in caelis, mediocris parentibus sed meritis celsus, cui hoc fuit nobilitatis lumen insigne Christo sine culpa servire, non de generis intumescens superbia sed habens de moribus ornamenta nec sumens de parentali laude iactantiam sed gratiam possidens in virtutis exemplis, intra se suos thesauros retinens, deum mundo corde conplectens.“
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Allerdings verstarb Chronopius bereits vor dem Jahr 541.74 Da war Venantius gerade erst geboren; ins Frankenreich kam der Dichter aus Italien erst 565, also eine Generation nach dem Tod des Chronopius.75 Er dürfte demnach auf jene Informationen angewiesen gewesen sein, die ihm seine Auftraggeber für das Epitaphium zukommen ließen. Außerdem könnte man hier das Argument der Namenkunde, das von der Forschung so oft bemüht worden ist, um Bischöfen eine illustre Herkunft zuzusprechen76, durchaus auch einmal umkehren: Andere Aristokraten des Namens Chronopius haben sich nämlich bisher in Gallien nicht nachweisen lassen.77 Insgesamt ergibt sich aus diesen prosopographischen Detailbeobachtungen ein recht deutliches Zwischenfazit: Selbst unter jenen sechs in Orléans 511 anwesenden Bischöfen, die zumindest von Teilen der Forschung bisher als Aristokraten betrachtet wurden, sind fünf in dieser Zuordnung als recht unsicher anzusehen – und nur einer, nämlich Chronopius von Périgueux, als einigermaßen wahrscheinlich. Anders formuliert: Nur derjenige, der ohnehin schon überzeugt ist, dass die weit überwiegende Mehrzahl der Bischöfe um 500 einer reichsweit denkenden, senatorischen Aristokratie Galliens entstammte, nur der wird auch beim Konzil von Orléans eine größere Schar solcher Bischöfe wiederentdecken – ein klassischer Zirkelschluss! Für sich genommen eignet sich die Stichprobe dagegen schlecht, die These eines Quasi-Monopols einer alten Reichsaristokratie auf das Bischofsamt zu untermauern. Der Quellenbefund ist tatsächlich viel offener: Wir können ohne weiteres von einer sozial heterogenen Gruppe ausgehen. Und vielleicht geben die Quellen so selten etwas über die Herkunft eines Bischofs preis, weil etliche dieser Bischöfe gerade nicht in derselben sozialen Liga spielten wie ein Sidonius Apollinaris von Clermont, ein Avitus von Vienne oder ein Ruricius von Limoges? Dort, wo wir genauere Informationen haben, sehen wir jedenfalls durchaus auch Leute mit lokal beschränktem Besitz, vielleicht Mitglieder einer lokalen Elite, deren Handlungsrahmen nicht die Weiten des Imperium, sondern eher der überschaubare Raum einer einzelnen civitas bildete. Nur in einem Fall, bei Chronopius von Périgueux, haben wir überhaupt etwas bessere Gründe, einen Angehörigen aus einer der großen Familien der Senatsaristokratie zu vermuten.
74 J.R. Martindale, The Prosopography of the Later Roman Empire, Bd. 3A. Cambridge 1992, 363. 75 Vgl. Brennan, Career (wie Anm. 71), 54. 76 Zur Bedeutung der Personennamen für Rückschlüsse auf Verwandtschaftszusammenhänge und sozialen Status von Bischöfen: Heinzelmann, Bischofsherrschaft (wie Anm. 3), 13–22; Mathisen, The Ecclesiastical Aristocracy (wie Anm. 22), 29–31. 77 Jedenfalls verzeichnet die PLRE (wie Anm. 74) nur diesen einen Träger des Namens „Chronopius“.
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III. ERWEITERUNG DER BEFUNDE FÜR DIE JAHRE UM 511 In Orléans war deutlich mehr als die Hälfte der Bischöfe des Chlodwig-Reichs versammelt; dem bisher aufgezeigten Befund kommt also bereits einige Aussagekraft zu. Gleichwohl können wir zumindest einen kurzen Seitenblick auf diejenigen Bischöfe werfen, die 511 nicht nach Orléans angereist waren. Im Süden fehlten vor allem Albi, Agen, Toulouse, weiter nördlich Limoges, an der Kanalküste Bayeux und Lisieux. Im Nordosten waren 16 Diözesen nicht vertreten. Davon waren allerdings einige wohl aufgrund der militärischen und politischen Entwicklungen auch gar nicht besetzt: Informationen über Bischöfe fehlen uns für die Zeit um 511 für Köln, Mainz und Thérouanne ganz; in Straßburg können wir zwischen dem späten 4. Jahrhundert und Arbogast um 570 keinen Bischof chronologisch sicher verorten.78 An Falco von Maastricht sandte Remigius von Reims einen wütenden Brief, weil Falco in Mouzon Weihehandlungen vollzogen und von dort auch Einkünfte erhalten hatte, obgleich der Ort nach Meinung des Metropoliten der Reimser Kirche unterstand.79 Der Brief lässt sich aber nur unscharf in das erste Drittel des 6. Jahrhunderts datieren. Es ist gut möglich, dass Falco erst nach Chlodwigs Tod sein Amt antrat – und es hier vorher noch gar kein Bistum gab, nachdem die sedes Tongern schon im 4. Jahrhundert aufgegeben worden war.80 Andernorts wissen wir zwar von Bischöfen, doch bleibt die Überlieferung allzu karg für unsere Fragen. Für Bayeux ist für die Zeit irgendwann zwischen den 470er-Jahren und 538 der Name eines Vigor überliefert; wir können den Bischof, der erst spät auch eine Vita erhielt, jedoch nicht genauer verorten.81 In Beauvais haben wir eine lange Liste von Bischofsnamen, und doch keinen Anhaltspunkt, um einen einzigen der Bischöfe auch nur einigermaßen sicher der Zeit um 511 zuzuordnen.82 Für Tournai und Arras kennen wir jeweils heilige Bischöfe, deren Lebensweg in weit späteren Viten überliefert ist: Aber weder die Vita Vedasti des Jonas von Bobbio aus dem 7. Jahrhundert noch die Vita Eleutherii aus der späten Karolingerzeit liefern uns einen senatorischen Aristokraten.83 Nicht viel besser sieht es in der Kirchenprovinz Trier aus: In Trier selbst dürfte Fibicius noch vor 507 Bischof geworden und erst nach 511 verstorben sein; er war wohl ein Geistlicher aus der Stadt. Vielleicht war Fibicius der Gründer und 78 Vgl. die Bischofsliste bei Heuclin, Hommes (wie Anm. 22), 65. 79 Epp. Austr., ep. 4 (wie Anm. 22), 115f.; zu dem Brief und den Hintergründen: Isaïa, Remi (wie Anm. 57), 124f. 80 Vgl. die Bischofsliste zu Tongern/Maastricht bei Heuclin, Hommes (wie Anm. 22), 65; außerdem: Jean-Louis Kupper, Leodium (Liège/Luik), in: Stefan Weinfurter/Odilo Engels (Hrsgg.), Series episcoporum ecclesiae catholicae occidentalis, Series V: Germania, Tomus 1: Archiepiscopatus Coloniensis. Stuttgart 1982, 44 und 48–51. 81 Vgl. Vita sancti Vigoris, in: AASS Nov. 1, 297–305; ebd. c. 2, 298, heißt es über Vigor: „parentibus nobilitate et fide oriundus fuit“; vgl. außerdem die Bischofsliste bei Heuclin, Hommes (wie Anm. 22), 61. 82 Zur Bischofsliste von Beauvais vgl. ebd. 63, wo für das 5. und 6. Jh. allein Bertegisilus (um 500) aufgeführt ist. 83 Jonas von Bobbio, Vita Vedasti episcopi, ed. Bruno Krusch, in: MGH SS rer. Germ. [37]. Hannover/Leipzig 1905, 295–320; Vita Eleutherii, in: AASS Febr. 3, 187–198.
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erste Abt eines Klösterchens, das sich später zu der bedeutenden Abtei St. Maximin entwickeln sollte; aber sicher ist auch das nicht. Eine senatorische Abkunft des Fibicius ist jedenfalls nicht nachweisbar.84 Für Grammatius von Metz, Ursus von Toul und Vitonus von Verdun sieht die Überlieferung noch erheblich dürftiger aus: Wir kennen sie erst aus späten Quellen – und können nicht einmal ganz sicher sein, dass sie 511 im Amt waren; über ihre soziale Herkunft lässt sich nichts sagen.85 Um es positiv zu wenden: Auch unter den Bischöfen des Chlodwig-Reichs, die 511 in Orléans fehlten, finden wir nur einen einzigen, den wir mit Sicherheit als Spross einer Familie der senatorischen Aristokratie Galliens erweisen können: Das ist Ruricius II. von Limoges, der Enkel seines gleichnamigen illustren Amtsvorgängers.86 Venantius Fortunatus schrieb den beiden Ruricii sogar eine Verwandtschaft mit den Anicii zu.87 Kein Zweifel also: In Limoges amtierten um 500 nacheinander zwei Angehörige der „alten Reichsaristokratie“. IV. FAZIT Angesichts der Befunde für jene civitates, die Chlodwig am Ende seines Lebens politisch kontrollierte, bleibt am Ende nur eine Mahnung zu methodischer Vorsicht: Ein Quasi-Monopol der Reichsaristokratie auf das Amt des Bischofs ist für die Zeit um 500 für diesen Raum bisher nicht bewiesen – und dürfte sich angesichts der schütteren Überlieferung auch nie beweisen lassen. Aber präziser noch: Es spricht methodisch wenig dafür, Bischöfe, von denen gerade einmal der Name 84 Zu Fibicius vgl. Eugen Ewig, Trier im Merowingerreich. Civitas, Stadt, Bistum. Trier 1954, 88f. und 94–96, der alle (quellenkritisch durchaus problematischen) Belege auch aus der wohl karolingerzeitlichen Vita Goaris und den hochmittelalterlichen Abtslisten von St. Maximin diskutiert. 85 Wir haben einige Informationen über diese Bischöfe erst aus Gesta episcoporum, die Jahrhunderte später verfasst wurden: Zu Grammatius von Metz vgl. Paulus Diaconus, Liber de episcopis Mettensibus, ed. Georg Heinrich Pertz, in: MGH SS 2. Hannover 1829, 260–268, hier 264,3f., der sich aber beschränkt auf die Nennung des Namens (im Editionstext: Chromatius, vgl. aber Variante c) grammatius). – Zu Ursus von Toul vgl. die hochmittelalterlichen Gesta episcoporum Tullensium, ed. Georg Waitz, in: MGH SS 8. Hannover 1848, 631–648, hier c. 7, 634, wo es über Ursus nur heißt: „Inde sequens est ursus, qui in tantum suorum sectatus est vestigia, quo credatur cum illis sempiterna perfrui gloria.“ – Zu Vitonus von Verdun vgl. die aus dem frühen 10. Jh. stammenden Gesta episcoporum Virdunensium, ed. Georg Waitz, in: MGH SS 4. Hannover 1841, 36–51, hier c. 4, 41, die sich auf eine – heute verlorene – ältere Vita des Vitonus berufen und eine Verwandtschaft dieses Bischofs zu dem Verduner Priester Euspicius behaupten; über die soziale Herkunft des Vitonus aber äußern sich die (ohnehin späten und in ihrem Quellenwert für die Geschichte des 6. Jh. zweifelhaften) Gesta gar nicht. 86 Zu Ruricius II. vgl. Stroheker, Adel (wie Anm. 31), 210, Nr. 328, mit den einschlägigen Belegen. 87 Venantius Fortunatus, Carmina, IV, 5 (Epitaphium Ruriciorum episcoporum civitatis Limovecinae), ed. Friedrich Leo, in: MGH Auct. ant. 4/1. Berlin 1881, 82, v. 7–10: „Ruricii gemini flores, quibus Aniciorum / iuncta parentali culmine Roma fuit, / actu mente gradu spe nomine sanguine nexi / exultant pariter hinc avus, inde nepus.“
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überliefert ist, ohne weiteres als Sprösslinge senatorischer Familien mit einer mächtigen Stellung innerhalb ihrer civitas anzusehen. Das Schweigen der Quellen könnte genauso gut auch auf das Gegenteil hindeuten: nämlich auf die soziale Mediokrität und die politische Schwäche der betreffenden Bischöfe. (Für Italien jedenfalls hat Stefano Gasparri eben dieses Argument 2008 vorgetragen.88) Alles in allem besteht kein zwingender Grund, den Episkopat der Zeit um 500 im Reich Chlodwigs als einen elitären Club von Reichsaristokraten zu sehen. Stattdessen deuten die Befunde eher auf einen sozial breiter gefächerten Verein hin, in dem vielfach auch Angehörige lokaler, städtischer Eliten ihren Platz fanden. Wenn wir die Annahme eines Monopols der Reichsaristokratie auf die Bistümer in Gallien aufgeben, stellt sich nun aber auch das Forschungsproblem der Bischofsherrschaft differenzierter dar. Wir müssen dann nämlich fragen, wo in Gallien wir überhaupt Bischöfe aus der senatorischen Aristokratie finden – und wo nicht. Tatsächlich sind sie um 500 einigermaßen dicht nur in den großen Flächenbistümern Aquitaniens nachzuweisen, außerdem in der Provence und in Burgund, hier vor allem in den Bistümern des Rhônetals. Aristokraten aus alten Familien finden sich im 5. und 6. Jahrhundert zudem häufiger auf bestimmten Metropolitansitzen; nicht weniger als 30 – das heißt fast die Hälfte aller von Karl Friedrich Stroheker nachgewiesenen oder vermuteten senatorischen Aristokraten, die als Bischöfe fungierten – amtierten in Tours, Vienne, Lyon, Arles, Bourges und Bordeaux.89 Nördlich der Loire dagegen können wir Angehörige der senatorischen Aristokratie verhältnismäßig sicher als Bischöfe nur in Trier nachweisen, hier aber bezeichnenderweise schon früh, im 4. Jahrhundert90; angesichts der Geschichte und Bedeutung dieser civitas ist das ebenso wenig verwunderlich wie die dichte Präsenz der Senatsaristokratie seit dem ausgehenden 4. Jahrhundert auf der sedes von Arles (während für uns einschlägige Belege für Trier gerade für das 5. Jahrhundert fehlen). Neben den Trierer Beispielen hat man bisher konkret nur für zwei Bi88 Gasparri, Recrutement (wie Anm. 8), 138f. 89 Dies sind in der Prosopographie von Stroheker, Adel (wie Anm. 31) (unter Angabe der Nummer): A) von Stroheker als unsicher in ihrer Zugehörigkeit zur senatorischen Aristokratie eingestuft: 1) Aeonius von Arles (Nr. 3); 2) Caesarius von Arles (Nr. 80); 3) Leontius I. von Bordeaux (Nr. 218); 4) Patiens von Lyon (Nr. 285); 5) Priscus von Lyon (Nr. 313); 6) Syagrius von Bourges (Nr. 372); 7) Aetherius von Lyon (Nr. 7); 8) Remigius von Reims (Nr. 322); 9) Pantagathus von Vienne (Nr. 279); 10) Desiderius von Vienne (Nr. 102). – B) von Stroheker als sicher zur senatorischen Aristokratie gehörig betrachtet: 11) Hilarius von Arles (Nr. 193); 12) Honoratus von Arles (Nr. 196); 13) Leontius II. von Bordeaux (Nr. 219); 14) Simplicius von Bourges (Nr. 363); 15) Sulpicius von Bourges (Nr. 365); 16) Eucherius von Lyon (Nr. 120); 17) Rusticus von Lyon (Nr. 333); 18) Sacerdos von Lyon (Nr. 337); 19) Nicetius von Lyon (Nr. 259); 20) Eustochius von Tours (Nr. 135); 21) Perpetuus von Tours (Nr. 295); 22) Volusianus von Tours (Nr. 411); 23) Ommatius von Tours (Nr. 266); 24) Francilio von Tours (Nr. 164); 25) Euphronius von Tours (Nr. 130); 26) Gregor von Tours (Nr. 183); 27) Hesychius von Vienne (Nr. 190); 28) Avitus von Vienne (Nr. 60); 29) Namatius von Vienne (Nr. 255); 30) Verus II. von Vienne (Nr. 407). 90 Zu den frühen Bischöfen von Trier vgl. Ewig, Trier (wie Anm. 84), 32–46, der freilich mangels weiterer Quellen oft genug Familienzugehörigkeiten auf der Basis vor allem von Personennamen erschließt.
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schöfe im Norden eine Zugehörigkeit zum senatorischen Adel vermutet: für Remigius von Reims und Sollemnis von Chartres. Dass man Remigius nicht zweifelsfrei der senatorischen Aristokratie zurechnen kann, war schon zu zeigen. Sollemnis von Chartres wiederum wird lediglich in einer dubiosen Vita wohl des 8. Jahrhunderts bezeichnet als natalibus nobilis, sed nobilior mente, clarus operibus, sed clarior fide.91 Ein solcher später Topos reicht nicht, um Sollemnis zweifelsfrei als Angehörigen der senatorischen Aristokratie zu akzeptieren. Angesichts dieser Befunde müssen wir unser Forschungsproblem neu formulieren: Wir sollten nicht pauschal nach dem Interesse der alten Reichsaristokraten an einem lokalen Amt in Gallien fragen. Wir müssen vielmehr im Einzelnen fragen, welche Angehörigen genau welcher alter senatorischer Familien jeweils zu welchem Zeitpunkt und aus welchen Gründen nach der Übernahme ganz bestimmter Bistümer strebten. Wir müssen fragen, ob die Bischöfe nördlich der Loire, die durchaus auch aus einer lokalen, städtischen Elite in ihr Amt gekommen sein könnten, in der Praxis weniger Kontrolle über ihre civitas erlangten – und die Entwicklung bischöflicher Herrschaft nicht in erster Linie von den Intentionen und dem Handeln von Reichsaristokraten her zu erklären suchen, sondern als Teil jenes sozialen und politischen Umbaus der civitas, ihrer Führungsämter und ihrer lokalen Eliten analysieren, den wir auch sonst in dieser Zeit beobachten.92 Wir müssen ferner fragen, inwiefern Faktoren wie die Größe der civitas, der Reichtum der jeweiligen Bischofskirche, die politische Bedeutung des Ortes, die regionale Machtstruktur und anderes mehr für das Interesse einzelner Reichsaristokraten an dem Bischofsamt und für den Einfluss des jeweiligen Bischofs eine Rolle spielten. Und wir müssen fragen, ob das Bischofsamt um 500 für Angehörige lokaler wie überregionaler Eliten nicht auch deshalb attraktiv war, weil das Amt in der Praxis tatsächlich so „lokal“ gar nicht war: Jedenfalls haben Bischöfe mit ihren Entscheidungen auf reichsweiten Synoden wie jener in Orléans im Sommer 511 den lokalen Rahmen weit überschritten; und zumal die Metropoliten (unter denen wir weit überproportional häufig senatorische Aristokraten nachweisen können) wussten ihren Einfluss auch sonst über den Rahmen einer einzelnen civitas hinaus geltend zu machen. Gallien war im 5. Jahrhundert keine Einheit, sondern ein Konglomerat von Regionen mit je eigener politischer, sozialer, religiöser, militärischer und auch kultureller Entwicklung. Wir müssen diese regionalen Unterschiede auch bei der Analyse bischöflicher Herrschaft ernstnehmen. Im Moment sehe ich deshalb für den gallischen Episkopat keine prinzipiellen Unterschiede mehr zu jenem differenzierten Bild, wie es Stefano Gasparri zuletzt etwa für die Bischöfe Italiens im Frühmittelalter entworfen hat.93
91 Vita Sollemnis, c. 2 (wie Anm. 22), 312,5f. 92 Vgl. dazu zuletzt die Beiträge von Avshalom Laniado und Sebastian Schmidt-Hofner in diesem Band. 93 Gasparri, Recrutement (wie Anm. 8); vgl. auch Rapp, Holy Bishops (wie Anm. 1), 189–191.
FROM MUNICIPAL COUNCILLORS TO ‘MUNICIPAL LANDOWNERS’ SOME REMARKS ON THE EVOLUTION OF THE PROVINCIAL ELITES IN EARLY BYZANTIUM Avshalom Laniado In 534, the emperor Justinian (527–565) ordered that a person evicted from the clergy for misconduct should be recruited as a municipal councillor (bouleutes; curialis in Latin) to the council (bouleuterion; curia in Latin) of the city in which he served as a cleric, provided he had property, or if this city did not have a council of its own, he should be recruited to that of another city of the same province.1 In this manner, the early Byzantine state admitted for the first time that there were cities without a council, and that this age-old institution was no longer indispensable for their existence. In his Chronicle, whose first version was written in Antioch ca. 530, John Malalas gave the following description of the council chamber (bouleuterion) erected in this city by the Seleucid king Antiochus IV Epiphanes (175–163 B.C.E.): “The emperor Antiochos, known as Epiphanes, first built in Antioch the Great outside the city the building known as the bouleuterion, so that all his senators (synkletikoi) might assemble there with the city officials (politeuomenoi) and all the landowners (ktetores) of the city, and discuss what should be done about the matters that arose and then refer their recommendations to him”.2 As this author is well known for his anachronisms, this passage can give us an idea of what deliberative bodies could consist of in the early years of Justini 1
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Codex Iustinianus, I,4,34,10, ed. Paul Krüger. (Corpus Iuris Civilis II.) Berlin 1914, 49. For recruitment to the municipal council as a disciplinary measure in Justinian’s legislation on the clergy, see Avshalom Laniado, Recherches sur les notables municipaux dans l’empire protobyzantin. (Travaux et Mémoires ‒ Monographies 13.) Paris 2002, 55–56. John Malalas, VIII, 21, ed. Ioannes Thurn, Ioannis Malalae Chronographia. (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 35.) Berlin and New York 2000, 155: “Ὁ δὲ αὐτὸς βασιλεὺς Ἀντίοχος ὁ λεγόμενος Ἐπιφανὴς ἔκτισε πρῶτον ἐν Ἀντιοχείᾳ τῇ μεγάλῃ ἔξω τῆς πόλεως τὸ λέγομενον βουλευτήριον εἰς τὸ ἐκεῖσε συνάγεσθαι πάντας τοὺς συγκλητικοὺς αὐτοῦ μετὰ τῶν πολιτευομένων καὶ τῆς πόλεως πάντων τῶν κτητόρων καὶ βουλεύεσθαι τί δεῖ γίνεσθαι περὶ τῶν ἀνακυπτόντων καὶ τότε ἀναφέρειν ἐπὶ αὐτὸν τὰ συμφέροντα.” For the translation, see Elizabeth Jeffreys (et alii), The Chronicle of John Malalas: A Translation. (Byzantina Australiensia 4.) Melbourne 1986, 108. For a useful introduction to this text, see now Joëlle Beaucamp, La chronique universelle de Jean Malalas: état de la question, in: C. Saliou et alii (ed.), Les sources de l’histoire du paysage urbain d’Antioche sur l’Oronte (Actes des journées d’études des 20 et 21 septembre 2010). Université de Paris VIII, Vincennes and Saint-Denis 2012, 119–131 (www.bibliotheque-numerique-paris8.fr/.../146505).
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an’s reign.3 In the 540s, a teacher of law lecturing on Justinian’s Institutions defined the municipal council (bouleuterion) as a “body of public men who assemble in order to organize various municipal tasks of the city in which they serve as councillors”.4 For this author, so it seems, this was no longer the central institution of the city. This impression is corroborated by another gloss by the same teacher of law according to which municipal office-holders (magistratus; strategoi in Greek) are “foremost landowners (protoktetores) of the city managing a public task”.5 These texts testify to the evolution of the municipal council from an essential institution for every city in the Roman Empire to a mere component amongst others in what J.H.W.G. Liebeschuetz called the Later Late City.6 Following this evolution, municipal life could do without the municipal council in what may be conveniently defined here as the Post-Curial City.7 All that raises two fundamental questions: what were the alternatives to the municipal council and its members, and what were the implications of the institutional shift from the Curial to the Post-Curial City. I. THE ALTERNATIVE TO THE MUNICIPAL COUNCILLORS Under the early Roman Empire, the municipal council was the deliberative and representative body of the city as well as an ordo, an official status group whose members, usually called decuriones in Latin and bouleutai in Greek, shared a set of privileges and obligations.8 In both aspects, the municipal council was consid 3
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On this aspect of this Chronicle, see Elizabeth Jeffreys, Malalas’ World View, in Elizabeth Jeffreys et alii (eds.), Studies in John Malalas. (Byzantina Australiensia 6.) Sidney 1990, 60– 62; J.H.W.G. Liebeschuetz, Malalas on Antioch, in: Topoi: Orient-Occident, Suppl. 5, 2004, 143–153, reprinted in: Idem, Decline and Change in Late Antiquity: Religion, Barbarians and their Historiography. (Variorum Collected Studies Series 846.) Aldershot 2006, no. V. Contardo Ferrini, Scolii inediti allo Pseudo-Teofilo contenuti nel manoscritto Gr. Par. 1364, in: Memorie dell’Istituto Lombardo, 3rd Series, 9, 1886, reprinted in: Vincenzo Arangio-Ruiz (ed.), Opere di Contardo Ferrini, vol. I. Milan 1929, 160: “βουλευτήριον] σύστημα δημοσίων ἀνδρῶν συνιόντων ἐπὶ συστάσει τῶν τῆς πόλεως ἐκείνης, ἐν ᾗ βουλεύουσι, πολιτικῶν πραγμάτων διαφόρων.” For this gloss, see Laniado, Recherches (supra n. 1), 89–90. Ferrini, Scolii inediti allo Pseudo-Teofilo (supra n. 4), 165: “πρωτοκτήτορες τῆς πόλεως καὶ διοικοῦντες δημόσιον πρᾶγμα.” According to this edition, the manuscript reads here πρωτοτίκτορες (sic), yet the reading πρωτοκτήτορες, put forward by Ferrini (165, n. 2), is transmitted by the manuscript itself (Parisinus graecus 1364, fol. 11v). For this gloss, see Laniado, Recherches (supra n. 1), 90–91. J.H.W.G. Liebeschuetz, Administration and Politics in the Cities of the 5th and 6th Centuries with Special Reference to the Circus Factions, in: Claude Lepelley (ed.), La fin de la cité antique et le début de la cité médiévale: De la fin du IIIe siècle à l’avènement de Charlemagne. (Munera: Studi Storici sulla Tarda Antichità 8.) Bari 1996, 161–162; idem, The Decline and Fall of the Roman City. Oxford 2001, 3–4. Laniado, Recherches (supra n. 1), 131–132. For ordo, see Benjamin Cohen, La notion d’“ordo” dans la Rome antique, in: Bulletin de l’Association Guillaume Budé, 4th series, 2, 1975, 259–282.
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ered, despite substantial differences, the local counterpart of the Roman senate, the only one of its kind in the whole empire prior to the creation of the senate of Constantinople in the fourth century. As a single empire-wide ordo decurionum did not exist, each municipal council was a distinct ordo.9 This municipal model was typically Roman, yet it exercised a considerable influence on the evolution of the Greek polis under Roman rule.10An evolution which began towards the end of the third century resulted in some sort of a separation: a group of curiales, as they were now called (often referred to as ‘the curial class’ or ‘the bouleutic class’ in modern research), was still considered indispensable for every city, as is borne out by the evidence for the creation of municipal councils as part of the foundation of new cities by fourth-century emperors11, but this group was no longer identical with the deliberative and representative body. Members of the curial class still took part in municipal decision-making, but they were no longer the only ones to do so. By the fifth century, deliberative and representative bodies had incorporated other elements of the local elites, as is revealed by laws, minutes of ecclesiastical councils, inscriptions and papyri, as well as by the literary sources. As far as the extant legislation is concerned, participation of municipal councillors in such a body is mentioned for the last time under Anastasius (491–518). In a law 9
François Jacques, Le privilège de liberté: Politique impériale et autonomie municipale dans les cités de l’Occident romain (161–244). (Collection de l’École Française de Rome 76.) Rome 1984, 562–563. 10 A.H.M. Jones, The Greek City from Alexander to Justinian. Oxford 1940, 170–171; G.E.M. De Ste. Croix, The Class Struggle in the Ancient Greek World. London 1981, 518–537; Friedemann Quaß, Die Honoratiorenschicht in den Städten des griechischen Ostens: Untersuchungen zur politischen und sozialen Entwicklung in hellenistischer und römischer Zeit. Stuttgart 1993, 382–394; Henri-Louis Fernoux, Notables et élites des cités de Bithynie aux époques hellénistique et romaine (IIIe siècle av. J.-C. – IIIe siècle ap. J.-C.): Essai d’histoire sociale. (Collection de la Maison de l’Orient et de la Méditerranée 31.) Lyon 2004, 139–146; Julien Fournier, Entre tutelle romaine et autonomie civique: L’administration judiciaire dans les provinces hellénophones de l’Empire romain (129 av. J.-C. – 235 apr. J.-C. (Bibliothèque des Écoles Françaises d’Athènes et de Rome 341.) Athènes 2010, 105–107. For the belated introduction of this model into Egypt, see Laurens E. Tacoma, Fragile Hierarchies: The Urban Elites of Third-Century Roman Egypt. (Mnemosyne Supplements 271.) Leiden and Boston 2006, 115–140. 11 For the creation of new municipal councils in the fourth century, see Laniado, Recherches (supra n. 1), 14–15; Claude Lepelley, Une inscription d’Heraclea Sintica (Macédoine) récemment découverte, relevant un rescrit de Galère restituant ses droits à la cité, in: ZPE 146, 2004, 221–231. There is no explicit evidence for the creation of municipal councils in cities founded after the fourth century: see Yves Modéran, La renaissance des cités dans l’Afrique du VIe siècle d’après une inscription récemment publiée, in: Claude Lepelley (ed.), La fin de la cité antique et le début de la cité médiévale: De la fin du IIIe siècle à l’avènement de Charlemagne. (Munera: Studi Storici sulla Tarda Antichità 8.) Bari 1996, 85–114; Javier Arce, La fundación de nuevas ciudades en el imperio romano tardío: de Diocleciano a Justiniano (S. IV-VI), in: Gisela Ripoll/Joseph M. Gurt (eds.), Sedes Regiae (ann. 400–800). Barcelona 2000, 31–62; Denis Feissel, Un rescrit de Justinien découvert à Didymes (1er avril 533), in: Chiron 34, 2004, 354–359, reprinted in: Idem, Documents, droit, diplomatique de l’Empire romain tardif. (Bilans de Recherches 7.) Paris 2010, 316–321.
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issued in 505, this emperor ordered that defensores civitatum should be appointed by a decree of the bishop, the clergy, the honorati, the possessores and the curiales12, while a Greek edict of a praetorian prefect called Illus deliberately imitated this law by entrusting the appointment of the agoranomos (curator civitatis) to the bishop, the clergy, the ktetores, the politeuomenoi and the logades.13 A few years afterwards ‒ if an author such as John Lydus is to be believed ‒ this emperor even dismantled, or at least ‘paralyzed’, the municipal councils of all the cities (τὰ μὲν βουλευτήρια πασῶν παρέλυσε τῶν πόλεων).14 As this institution and its members are clearly attested even after 518, it is difficult to take John Lydus’ assertion at face value, yet it can be argued that from Anastasius’ reign onwards municipal councillors as such were no longer part of the deliberative and representative bodies of their cities.15 John Malalas’ anachronistic description of Antiochus Epiphanes’ council chamber suggests that the deliberative and representative body of this city under the early years of Justinian consisted of three elements: senators (synkletikoi), politeuomenoi and landowners (ktetores).16 The second of these elements is designated by a term whose precise meaning is still a matter for debate: according to some, politeuomenos is synonymous with bouleutes17, while others think that 12 Codex Iustinianus, I,4,19 (=I,55,11), ed. Krüger (supra n. 1), 41. On this law, see Avshalom Laniado, Le christianisme et l’évolution des institutions municipales du Bas-Empire: L’exemple du defensor civitatis, in: Jens-Uwe Krause/Christian Witschel (eds.), Die Stadt in der Spätantike – Niedergang oder Wandel? (Historia Einzelschriften 190.) Stuttgart 2006, 319–334; Roland Delmaire (et alii), Les lois religieuses des empereurs romains de Constantin à Théodose II, vol. II: Code théodosien I-XV, Code Justinien, Constitutions Sirmondiennes. (Sources Chrétiennes 531.) Paris 2009, 414–416. 13 Edicta Praefectorum Praetorio, ed. trans. Carolus Eduardus Zachariae, in: Anekdota, vol. III, Leipzig 1843, 258–259, no. 4, and 269, no. 8. On this edict, see Laniado, Le christianisme (supra n. 12), 330–331. For the use of the plural logades for municipal notables, see Laniado, Recherches (supra n. 1) 177–178; for a 4th-century decree of the logades and the municipal councillors of a Cretan city, see Giulio Vallarino, Epigramma dedicatorio per uno hyparchos dall’area del pretorio di Gortina, in: ZPE 183, 2012, 59-66 (ψήφῳ λογάδων καὶ δόγματι βουλῆς). 14 John Lydus, De Magistratibus Populi Romani, III, 49, ed. trans. Anastasius K. Bandy, Ioannes Lydus: On Powers or the Magistracies of the Roman State. (Memoirs of the American Philosophical Society 149.) Philadelphia 1983, 208–209; ed. trans. Michel Dubuisson and Jacques Schamp, Jean le Lydien: Des magistratures de l’État romain, vol. II, Paris 2006, 103. Cf. John Malalas, XVI, 12, ed. Thurn (supra n. 2), 327; Evagrius, Historia Ecclesiastica, III, 42, ed. Joseph Bidez and Louis Parmentier, The Ecclesiastical History of Evagrius with the Scholia. London 1898, 144. 15 Laniado, Recherches (supra n. 1) 27–29 and 35–36; cf. Fiona K. Haarer, Anastasius I: Politics and Empire in the Late Roman World. (Arca: Classical and Medieval Texts, Papers and Monographs 46.) Cambridge 2006, 209–211. 16 Supra n. 2. 17 Paul Petit, Libanius et la vie municipale à Antioche au IVe siècle après J.-C. (Bibliothèque Archéologique et Historique 62.) Paris 1955, 30–32; Itzhak F. Fikhman, Die Kurialen von Oxyrhynchos, in: Idem, Wirtschaft und Gesellschaft im spätantiken Ägypten: Kleine Schriften. (Historia Einzelschriften 192.) Stuttgart 2006, 62–64 (a German translation of an article
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these terms are not identical, despite considerable overlapping in their use.18 A recently published Egyptian papyrus offers some confirmation for the latter position, for it mentions the politeuomenoi and the bouleutai of Heracleopolis (Arcadia) as two distinct groups19, yet it is agreed by all that politeuomenos, whatever its precise meaning, refers to notables in municipal contexts. As for the other two components in Antiochus Epiphanes’ council chamber, they are designated by non-municipal terms: synkletikos is a member of the imperial senate (σύγκλητος) of Rome or Constantinople20, while ktetor, derived from the verb κτάομαι (to acquire, to possess), has its origins in the vocabulary of private law.21 At first glance, the introduction of elements designated by terms of non-municipal provenance into a municipal institution could be taken as a sign of a decline, but there is no cogent reason to adopt this line of interpretation. As a matter of fact, this evolution could equally testify to the success of the state and the cities in integrating new elements into a changing municipal system. The history of the so called ‘flight of the councillors’ in the fourth century is, to a large extent, the history of the massive recruitment of members of the provincial elites to the senate of the new capital, Constantinople.22 As the number of its members largely exceeded the requirements of a senatorial assembly functioning in the capital, a transitory phase of rapid growth was soon followed by the creation of a tripartite hierarchy consisting, in descending order, of illustres, spectabiles and clarissimi, the limitation of active participation in the assembly to holders of the first of these ranks, and the permission given to the holders of the lower
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originally published in Russian in: ArchPap 22–23, 1974, 47–87); Avshalom Laniado, Βουλευταί et πολιτευόμενοι, in: CE 72, 1997, 130–144. Hanna Geremek, Les πολιτευόμενοι égyptiens sont-ils identiques aux βουλευταί?, in: Anagennesis 1, 1981, 231–247; Klaas A. Worp, Bouleutai and Politeuomenoi in Later Byzantine Egypt Again, in: CE 74, 1999, 126–132. Nikolaos Gonis, Πολιτευόμενοι and βουλευταί again, in: F.A.J. Hoogendijk and B.P. Muhs (ed.), Sixty-Five Papyrological Texts Presented to Klaas A. Worp on the Occasion of his 65th Birthday. (Papyrologica Lugduno-Batava 32.) Leiden 2008, 195–201. Hugh J. Mason, Greek Terms for Roman Institutions: A Lexicon and Analysis. (American Studies in Papyrology 13.) Toronto 1974, 88 and 122; cf. Gilbert Dagron, Naissance d’une capitale: Constantinople et ses institutions de 330 à 451. (Bibliothèque Byzantine ‒ Études 7.) Paris 1974, 188–189. See below. Dagron, Naissance d’une capitale (supra n. 20), 129–133; Peter Heather, New Men for New Constantines? Creating an Imperial Elite in the Eastern Mediterranean, in: Paul Magdalino (ed.), New Constantines: The Rhythm of Imperial Renewal in Byzantium 4th–13th Centuries. (Society for the Promotion of Byzantine Studies – Publications 2.) London 1994, 11–33; John Haldon, The Fate of the Late Roman Senatorial Elite: Extinction or Transformation?, in: John Haldon and Lawrence I. Conrad (ed.), The Byzantine and Early Islamic Near East, vol. VI: Elites Old and New in the Byzantine and Early Islamic Near East. Princeton 2004, 185–187. For the West, see André Chastagnol, Le sénat romain à l’époque impériale: Recherches sur la composition de l’Assemblée et le statut de ses membres. Paris 1992, 236–238.
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ones to dwell in the provincial cities without previous authorization.23 The second step is indirectly attested by a heavily interpolated fragment of Ulpian, probably modified by the sixth-century compilers of Justinian’s Digest in accordance with a lost imperial law of the latter half of the fifth century.24 As for the third one, it is the subject of a law issued by Theodosius II in 434 or 435, and so it says: “Clarissimis vel spectabilibus universis ad genitale solum vel quolibet alio et sine commeatu proficiscendi et ubi voluerint commorandi habitandive permittimus facultatem”.25 As members of the senatorial order were bound in principle to dwell in the capital26, this law was in fact a privilege accorded to a large number of provincial notables for whom permanent residence in Constantinople was not the preferred option or even not an option at all.27 In 450, the emperor Marcian (450–457) bestowed another privilege on holders of the same senatorial ranks, and so clarissimi and spectabiles based in the provinces could no longer be obliged to assume the expenses of the praetorship in Constantinople.28 If Marcian’s own words are to be believed, his aim was to enable them to enjoy their (senatorial) dignity in their cities29, but there is no reason to doubt that his real aim was to protect their property from a heavy expenditure which would come at the expense of their obligations towards the state and their own cities.30 About a century after the death of Constantine I (306–337), the senatorial order of Constantinople was no longer a threat to the provincial cities. Quite to the contrary, massive recruitment of municipal councillors to the senate of Constantinople in the fourth century ultimately put at the disposal of the provincial cities notables who, as members of the top order of the state, stood higher than the municipal elites of previous times. 23 A.H.M. Jones, The Later Roman Empire 284–602: A Social, Economic and Administrative Survey. Oxford 1964 (reprinted Baltimore 1986), vol. I, 143 and 528–529; Dagron, Naissance d’une capitale (supra n. 20), 164–170; Chastagnol, Le sénat romain à l’époque impériale (supra n. 22), 313–314; Haldon, The Fate of the Late Roman Senatorial Elite (supra n. 22), 187–189. 24 Digesta, I,9,12,1, ed. Theodor Mommsen. (Corpus Iuris Civilis I.) Berlin 1908, 40–41: “Senatores autem accipiendum est eos, qui a patriciis et consulibus usque ad omnes illustres viros descendunt, quia et hi soli in senatu sententiam dicere possunt.” For the date of the reform which restricted active participation in the assembly to illustres, see Jones, The Later Roman Empire (supra n. 23), vol. I, 529. 25 Codex Iustinianus, XII,1,15, ed. Krüger (supra n. 1), 454. The addressee of this law is a bogus praefectus urbi called Neuthius. This would be Leontius, praefectus urbi of Constantinople in 434–435, according to Dagron, Naissance d’une capitale (supra n. 20), 268. 26 Chastagnol, Le sénat romain à l’époque impériale (supra n. 22), 46–48 and 164–168. 27 For clarissimi and spectabiles who were permanent residents in the provincial cities even before, see Jones, The Later Roman Empire (supra n. 23), vol. I, 553–554. 28 Codex Iustinianus, XII,2,1 and I,39,2, ed. Krüger (supra n. 1), 454 and 85. 29 Codex Iustinianus, XII,2,1, ed. Krüger (supra n. 1): “maneat unusquisque domi suae tutus atque securus et sua dignitate laetetur.” 30 According to another law motivated by the same concern, the curiales of Syria Prima were no longer authorized to assume the expenses of the Syriarchia and the Alytarchia, even voluntarily: see Codex Iustinianus, I, 36, 1, ed. Krüger (supra n. 1), 84 (465 C.E.).
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The other term of non municipal provenance used by John Malalas is ktetor. This is the Greek equivalent of both possessor (lessee) and dominus (owner), which were often used as synonyms in the late Roman world, though the original distinction between dominium and possessio did not disappear in jurisprudence.31 From the late 440s ‒ just a few years after clarissimi and spectabiles were allowed to dwell in the provinces without previous authorization ‒ people styled as ktetores are often attested, both as groups and as individuals, as members of the municipal and provincial elites in the Eastern Roman Empire.32 Despite the original meaning of this term, there is no reason to discern here a process of ‘privatization of power’, for ktetor had evolved by that time into a term in public law. In this new connotation it referred, not only to the social status of municipal and provincial notables, but to their official tasks as well.33 As is well known, the municipal councils in the Roman Empire were decision-making bodies authorized to issue decrees. This practice, which testifies to the status of the city as a ‘legal personality’34, to use a somewhat anachronistic notion35, is still attested in the fourth century by inscriptions which use formulae such as d(ecreto) d(ecurionum) and ψ(ηφίσματι) β(ουλῆς), as well as in the works 31 For possessio and possessor, see Ernst Levy, West Roman Vulgar Law: The Law of Property. (Memoirs of the American Philosophical Society 29.) Philadelphia 1951, 19–71; Carlo Augusto Cannata, Possessio Possessor Possidere nelle fonti giuridiche del basso impero romano: Contributo allo studio del sistema dei rapporti reali nell’epoca postclassica. (Fondazione Guglielmo Castelli 31.) Milan 1962, 29–47; Roland Delmaire, Cités et fiscalité au Bas-Empire: À propos du rôle des curiales dans la levée des impôts, in: Claude Lepelley (ed.), La fin de la cité antique et le début de la cité médiévale: De la fin du IIIe siècle à l’avènement de Charlemagne. (Munera: Studi Storici sulla Tarda Antichità 8.) Bari 1996, 66–70; Liebeschuetz, Decline and Fall (supra n. 6), 183–184. 32 The municipal character of these notables is often expressed by phrases such as κτήτωρ τῆς πόλεως/possessor civitatis. In some sources, non-municipal ktetores are explicitly said to belong to a ktema or a chorion (estate): see, for instance, Joannes Moschos, Pratum Spirituale, 196, in: Patrologia Graeca, vol. 87/3, Paris 1860, 3081D (about a ktema in the territory or Apamea in Syria Secunda). 33 For possessores and ktetores as members of municipal and provincial elites, see Dietrich Claude, Die Byzantinische Stadt im 6. Jahrhundert. (Byzantinisches Archiv 13.) Munich 1969, 114 and 118–120; Liebeschuetz, Decline and Fall (supra n. 6), 110–115 and 125–126; Laniado, Recherches (supra n. 1), 171–200; Idem, Le christianisme (supra n. 12), 324; Giovanni A. Cecconi, Honorati, Possessores, Curiali: Competenze istituzionali e gerarchie di rango nella città tardoantica, in: Rita Lizzi Testa (ed.), Le trasformazioni delle Elites in età tardoantica. (Saggi di Storia Antica 28.) Rome 2006, 51–54. For their role in episcopal elections, see Frédéric Alpi, Les élections épiscopales en Orient sous Sévère d’Antioche (512–518), in: Johan Leemans et alii (eds.), Episcopal Elections in Late Antiquity. (Arbeiten zur Kirchengeschichte 119.) Berlin and Boston 2011, 307–314. 34 For the city as a ‘legal personality’, see Willy Liebenam, Städteverwaltung im römischen Kaiserreiche. Leipzig 1900, 174–186. 35 For the emergence of this notion, see Robert Feenstra, L’histoire des fondations. A Propos de quelques études récentes, in: TRG 24, 1956, 408–433, reprinted in: idem, Le droit savant au moyen âge et sa vulgarisation. (Variorum Collected Studies Series 236.) London 1986, no. I.
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of Libanius of Antioch.36 It is also the subject of the title De decretis ab ordine faciendis in Justinian’s Digest. According to the first fragment, whose author is Ulpian, the decision to appoint municipal physicians is within the competence of the council and the possessores of each city, not of the provincial governor: “arbitrium non praesidi provinciae commissum est, sed ordini et possessoribus cuiusque civitatis”.37 The inclusion of the possessores as a distinct group is certainly due to an interpolation which reflects a different reality than that of Ulpian’s times.38 According to another fragment of the same Digest title, decrees which illicitly favour individuals (ambitiosa decreta) must be rescinded.39 The decuriones are mentioned here twice, yet in a sixth-century Greek summary of this fragment40, both occurrences are rendered by ktetores!41 Even more illuminating is a law in which Justinian distinguishes between ktetores and private persons (εἴτε καὶ κτήτορες ἢ καὶ ἰδιῶται).42 As property had always been a prerequisite for membership in elevated status groups in the Roman world, there is nothing unusual about landowners becoming 36 For curial and municipal decrees, see Liebenam, Städteverwaltung (supra n. 34), 243–247; James H. Oliver, The Roman Governor’s Permission for a Decree of the Polis, in: Hesperia 23, 1954, 163–167; Quaß, Die Honoratiorenschicht (supra n. 10), 394–402; Petit, Libanius (supra n. 17), 66. For the West, see Robert K. Sherk, The Municipal Decrees of the Roman West. (Arethusa Monographs 2.) Buffalo 1970; Aniello Parma, Per un nuovo corpus dei decreta decurionum delle città romane d’Italia e delle province occidentali, in: Cahiers du Centre Gustave Glotz 14, 2003, 167–171. 37 Digesta, L,9,1, ed. Mommsen (supra n. 24), 904. 38 Cecconi, Honorati, Possessores, Curiali (supra n. 33), 52, infers from this Digest fragment that possessores were a distinct category endowed with public responsibilities already at the beginning of the third century. However, the documentary evidence is scanty. For the only municipal decree of the early Roman Empire in which possessors (possessorum civium) were involved, see Sherk, The Municipal Decrees (supra n. 36), no. 62 (=CIL VIIL 23956), datable to either 186 or 256. This decree was jointly issued by decuriones and possessors, according to Adolf Schulten, Prozess wegen Weidefrevel, in: Beiträge zur alten Geschichte und griechisch-römischen Altertumskunde: Festschrift zu Otto Hirschfelds sechzigstem Geburtstage. Berlin 1903, 173. 39 Digesta, L,9,4, ed. Mommsen (supra n. 24), 904: “Ambitiosa decreta decurionum rescindi debent, sive aliquem debitorem dimiserint sive largiti sunt. Proinde, ut solent, sive decreverint de publico alicuius (sic) vel praedia vel aedes vel certam quantitatem praestari, nihil valebit huiusmodi decretum. Sed et si salarium alicui decuriones decreverint, decretum id nonnumquam ullius erit momenti: ut puta si ob liberalem artem fuerit constitutum vel ob medicinam: ob has enim causas licet constitui salaria.” 40 For the sixth-century Greek summary of the Digest known as the Summa Anonymi, see Herman Jan Scheltema, Das Kommentarverbot Justinians, in: TRG 45, 1977, 308–315, reprinted in: Idem, Opera Minora ad Iuris Historiam Pertinentia. Groningen 2004, 404–412. 41 Basilica, LIV,11,4, ed. Herman Jan Scheltema and Nicolaas Van der Wal, Basilicorum Libri LX, Series A: Textus, vol. VII. Groningen 1974, 2501: “Ἐὰν πρὸς χάριν οἱ πόλεως κτήτορες ψηφίσωνται χρεώστην ἐλευθερωθῆναι ἢ φιλοτιμίαν δοθῆναι ἀπὸ τῆς πόλεως, τυχὸν ἢ ἀγρὸν ἢ οἶκον ἢ ποσὸν ἢ σιτηρέσιον δοθῆναι ἰατροῖς ἢ παιδευταῖς (εἰς τὰς δύο γὰρ ταύτας αἰτίας ἐφεῖται τοῖς κτήτορσι ψηφίζεσθαι σιτηρέσιον), οὐκ ἰσχύει τὸ γεγονός.” 42 Justinian, Edictum VIII,3,1, ed. Rudolfus Schoell and Guilelmus Kroll, Novellae. (Corpus Iuris Civilis III.) Berlin 1895, 770 (548 C.E.).
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notables. It is the fact that their integration into the municipal elites did not require their recruitment to the curial class – or their organization as a distinct ordo – which needs to be explained.43 It could be argued that new notables were eager to play a role in the public affairs of their cities and, at the same time, reluctant to join a class now considered a condicio (a compulsory status group44) whose members were subject to many restrictions imposed by the state.45 However, the increasing importance of the so-called munera patrimonii (public tasks undertaken by people on the basis of their property), which largely surpassed by now that of munera personalia, implies that landowners could be compelled to assume responsibility for various municipal expenses and tasks even without belonging to the curial class.46 Another explanation, perhaps a better one, may be provided by the changing character of the senate of Constantinople. As recruitment of provincial notables to the senatorial order was no longer a threat to the municipal elites, landowners could now join it as an integral part of their advancement in their own cities. In this manner, the Post-Curial City maintained a key feature of the municipal model introduced into the Greek world by the Roman authorities, namely a formal distinction between notable and non-notable citizens47: while the former constituted an ordo whose members were part of the category of the honestiores in the judicial system of the early empire48, the latter were ordinary peregrini who, on becoming Roman citizens, only counted as humiliores. This distinction was maintained and even sharpened in the Later Late City, as holders of the lower 43 The possessores were never organized as an ordo, as observed by Cohen, La notion d’“ordo” (supra n. 8), 270; cf. Laniado, Recherches (supra n. 1), 180–181 and n. 66. Pace Ramsay MacMullen, Roman Social Relations. New Haven 1974, 155, n. 88, there is no evidence for an ordo possessorius (sic) in CIL X, 4863. According to this fourth-century dedication, Maecius Felix, governor of the province of Samnium, was the defensor of the ordo, of the possessor (in the genitive singular) and of the populus of Venafrum. 44 For condicio (tyche in Greek) as an administrative and legal term for a compulsory status group, see Dieter Nörr, s.v. Origo, RE Suppl., vol. X, 1965, 469; Oliver Schipp, Der weströmische Kolonat von Konstantin bis zu den Karolingern (332–861). (Studien zur Geschichtsforschung des Altertums 21.) Hamburg 2009, 259–262. For curial status as a condicio, see Roland Delmaire, Quelques aspects de la vie municipale au Bas-Empire à travers les textes patristiques et hagiographiques, in: André Chastagnol et alii (eds.), Splendidissima Civitas: Études d’histoire romaine en hommage à François Jacques. (Histoire ancienne et médiévale 40.) Paris 1997, 40–42; Laniado, Recherches (supra n. 1), 63–65. 45 For late Roman and early Byzantine legislation on this matter, see Jones, The Later Roman Empire (supra n. 23), vol. I, 739–748; Werner Schubert, Die rechtliche Sonderstellung der Dekurionen (Kurialen) in der Kaisergesetzgebung des 4.-6. Jahrhunderts, in: ZRG RA 86, 1969, 287–333; Laniado, Recherches (supra n. 1), 20–22 and 47–62; Idem, The Early Byzantine State and the Christian Ideal of Voluntary Poverty, in: Miriam Frenkel/Yaacov Lev (eds.), Charity and Giving in Monotheistic Religions. (Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients, NF. 22.) Berlin and New York 2009, 22–37. 46 Laniado, Recherches (supra n. 1), 214–223. 47 Supra n. 10. 48 Jacques, Le privilège de liberté (supra n. 9), 563–566 (with further bibliography).
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senatorial grades living in the provinces belonged now to a higher ordo than that of the municipal councillors. In John Malalas’ description of Antiochus Epiphanes’ council chamber, ‘senators’ and ‘landowners’ are two distinct groups49, alongside the politeuomenoi. However, all senators were landowners, while ktetores were often part of the senatorial order as lamprotatoi (clarissimi) and, later on, as illustres, megaloprepestatoi (magnificentissimi), and even endoxotatoi (gloriosissimi).50 Thus ktetor, once a term of private law and now a municipal one as well, was used even for individuals and groups who could boast of senatorial rank, and even by authors of normative texts. A fifth-century law quoted above allowed clarissimi and spectabiles to dwell wherever they wish without previous authorization, yet its sixth-century Greek version omits the spectabiles, who were rare in the provinces, while rendering clarissimi by lamprotatoi ktetores.51 In a Greek papyrus of unknown provenance which sets rules for the appointment to the municipal office of the sitones (‘corn-buyer’), ktetores bear the senatorial titles endoxotatos, megaloprepestatos and lamprotatos, as well as non-senatorial ones, such as theophilestatos and logiotatos.52 The addressees of an imperial ruling found in Hadrianoupolis (Honorias) are the present and future landowners of the city, who are styled, according to the restoration suggested by the editors, as ‘loved by God, great and small’: θεοφιλ(εστάτοις) μ(ε)γ(άλοις) κ(αὶ) λ(επτοῖς) κτήτορ(σι). However, it seems preferable to restore here the senatorial titles megaloprepestatos and lamprotatos, a possibility already contemplated by the editors, which gives the following text: θεοφιλ(εστάτοις) μ(ε)γ(αλοπρεπεστάτοις) κ(αὶ) λ(αμπροτάτοις) κτήτορ(σι).53 In these documents as well as in other, non-normative ones, ktetor applied to notables who, despite their senatorial titles, belonged, first and foremost, to the world of the provincial cities.54 Alongside oiketor (inhabitant; habita 49 Both are mentioned as distinct groups in one of the sessions of the ecumenical council held in Chalcedon in 451 (infra n. 83). 50 For these senatorial titles, see Paul Koch, Die Byzantinischen Beamtentitel von 400 bis 700. Jena 1903, 10–73; Otto Hornickel, Ehren und Rangprädikate in den Papyrusurkunden: Ein Beiträg zum römischen und byzantinischen Titelwesen. Gießen 1930. 51 Basilica VI,1,35, ed. Herman Jan Scheltema, Basilicorum Libri LX, Series A: Textus, vol. I. Groningen 1955, 153: “Τοῖς συγκλητικοῖς καὶ τοῖς λαμπροτάτοις κτήτορσι πᾶσιν εἰς τὸ γενεθλιακὸν ἔδαφος ἢ ἔνθα ἂν βουληθῶσιν ἀλλαχοῦ χωρὶς αἰτήσεως διατρίβειν καὶ οἰκεῖν παρέχομεν ἐξουσίαν.” The Latin text is quoted above (n. 25). 52 A.J.B. Sirks (et alii), Ein frühbyzantinisches Szenario für die Amtswechslung in der Sitonie. (Münchener Beiträge zur Papyrusforschung und Antiken Rechtsgeschicthe 86.) Munich 1996, 37–43. 53 Denis Feissel and Ismail Kaygusuz, Un mandement impérial du VIe siècle dans une inscription d’Hadrianoupolis d’Honoriade, in: Travaux et Mémoires 9, 1985, 399, 2–4 and 405, reprinted in: Denis Feissel, Documents, droit, diplomatique (supra n. 11), 225 and 234–235 (=Supplementum Epigraphicum Graecum, vol. 35, no. 1360); cf. Laniado, Recherches (supra n. 1), 194, no. 11. 54 To give but one example, a sixth or seventh-century building inscription found in Aproi (province of Europe) mentions the bishop Justinus as well as a lamprotatos ktetor called Georgios: see Catherine Asdracha, Inscriptions protobyzantines et byzantines de la Thrace
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tor in Latin), it was used in the formula κτήτορες καὶ οἰκήτορες/possessores et habitatores, which replaced older ones, such as ordo et cives, or ordo et populus, as a comprehensive designation for the municipal citizen body.55 In this manner ktetor became a wide-ranging term for lay members of the municipal and provincial elites in the early Byzantine world. The sources use many other terms, both institutional and literary56, yet ktetor was the only one which, on the one hand, was not exclusively literary and, on the other, could apply to every secular member of these elites, with the probable exception of military men. As we have seen, a ktetor could be a member of the senatorial order. As ktetor basically meant ‘landowner’, it could apply to members of the curial class as well.57 It is also attested for holders of municipal offices58, for honorati (former imperial officials)59, and even for provincial notables in absentia. The latter use is attested by a law in which Justinian entrusted the ktetores actually living in their cities, to the exclusion of those dwelling in Constantinople, with the task of appointing the ekdikos (defensor civitatis).60 Due to its comprehensive character, the plural ktetores is often used in the documentary evidence as the only term for the lay notables of a city or even of a province.61 On the other hand, there seems to be no evi e
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orientale et de l’Île d’Imbros (III -XV siècles): Présentation et commentaire historique. Athènes 2003, no. 151; Bulletin épigraphique 2000, no. 812 = Denis Feissel, Chroniques d’épigraphie byzantines 1987–2004. (Travaux et Mémoires ‒ Monographies 20.) Paris 2006, no. 156; Supplementum Epigraphicum Graecum, vol. 48, no. 892bis. Laniado, Recherches (supra n. 1), 191. For a different approach, see Liebeschuetz, Decline and Fall (supra n. 6), 113–114. For some of these terms, see Laniado, Recherches (supra n. 1), 177–178. For municipal councillors as landowners, see Petit, Libanius (supra n. 17), 32–33; Laniado, Recherches (supra n. 1), 65–66. See the gloss quoted supra n. 5. Isocasius, a former quaestor sacri palatii put on trial for paganism under Leo I, was “κτήτωρ Ἀντιοχείας τῆς μεγάλης καὶ οἰκήτωρ”, according to John Malalas, XVI,12, ed. Thurn, 292. For Isocasius, see Laniado, Recherches (supra n. 1), 194–195, no. 15. For the honorati, see Joseph Declareuil, Quelques problèmes d’histoire des institutions municipales au temps de l’empire romain. Aalen 1973, 234–236 (originally published in: Nouvelle revue historique de droit français et étranger, 1911); Jones, The Later Roman Empire (supra n. 23), vol. II, 1221, n. 12; André Chastagnol, Quelques problèmes de la prosopographie romaine et byzantine des IVe-Ve siècles, in: Idem, L’Italie et l’Afrique au Bas-Empire. Lille 1987, 57–60. Justinian, Novella 15,1, Pr., ed. Schoell and Kroll (supra n. 42), p. 111: “ψήφῳ μὲν σὺν ὅρκῳ γινόμενον (sc. ἔκδικον) πάντων κοινῇ τῶν κατὰ τὴν πόλιν ἐκείνην ὄντων κτητόρων, ἀλλὰ μὴ τῶν ἐνταῦθα διαγόντων”. For two other occurrences of ktetor in Constantinopolitan contexts, see Chronicon Paschale, s.a. 618, ed. Ludwig Dindorf. Bonn 1832, 711; s.a. 623, ibid., 712– 713; Laniado, Recherches (supra n. 1), 192, nos. 1–2. See, for instance, Collectio Avellana 232a, ed. Otto Günther, Epistulae imperatorum, pontificum, aliorum inde ab a. CCCLXVII usque ad a. DLIII datae, Avellana quae dicitur collectio. (Corpus Scriptorum Ecclesiasticorum Latinorum 35.) Vienna 1895, vol. II, 703 (520 C.E.): “Deo amabili ac piissimo imperatori ex deo augusto et principi Iustino christianissimo deprecatio et supplicatio ab Hierosolymitanis et Antiochenis et Secundae Syriae clericis et abbatibus et possessoribus provinciae Syriae”. For this document, see Denis Feissel, Pétitions aux empereurs et formes du rescrit dans les sources documentaires du IVe au VIe siècle, in: Denis
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dence for ktetores of military background, and this is all the more surprising as veterans who ended up as municipal councillors, no doubt on a voluntary basis, were not unknown in many provinces of the early Roman Empire.62 The lack of evidence for early Byzantine military men styled as ktetores may be due to the poverty of the source material, yet one could argue that the real reason was reluctance on their part to assume responsibilities in the municipal sphere. As in the early Roman Empire, they could not be obliged to do so, as we learn from the Greek summary of an anonymous law now lost.63 This law gave exemption from municipal offices and tasks to those who had completed their militia (strateia in Greek) – a term which no doubt refers here to the career of both soldiers and civil servants, as is usual in the later Roman Empire – or advocatio (synegoria), the career of lawyers (advocati; synegoroi) in the courts of various imperial office-holders.64 In contrast, it could be argued that ktetor was conceived of as a civil term, and was therefore inappropriate for municipal notables of military background. The civil character postulated here for this term may account for the fact that the notables of two cities are collectively designated by Latin military terms in the Life of Theodore of Sykeon (though its author often uses ktetor for the municipal notables of other cities in the diocese of Pontus in the late sixth and early seventh century).65 This is the case with the protectores of Ancyra, in Galatia Prima (οἱ τῆς αὐτῆς μητροπόλεως προτίκτορες), who asked for Theodore’s help against a plague66, as well as with the domestici of Pessinous, in Galatia Salutaris (οἱ δομέστικοι αὐτῶν [sc. τῶν Πεσινουντίων]), who did so because of
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Feissel/Jean Gascou (eds.), La pétition à Byzance. (Travaux et Mémoires ‒ Monographies 14.) Paris 2004, 48, no. 34, reprinted in: Idem, Documents, droit, diplomatique (supra n. 11), 379. For the involvement of military men in municipal life, see Jacques, Le privilège de liberté (supra n. 9), 618–635; Jocelyne Nelis-Clément, Les Beneficiarii: Militaires et administrateurs au service de l’empire. (Ausonius – Études 5.) Bordeaux 2000, 305–312; Gabriele WeschKlein, Soziale Aspekte des römischen Heerwesens in der Kaiserzeit. (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 28.) Stuttgart 1998, 196–200; Patrick Sänger, Veteranen unter den Severern und frühen Soldatenkaisern: Die Dokumentensammlungen der Veteranen Aelius Sarapammon und Aelius Syrion. (Heidelberger Althistorische Beiträge und Epigraphische Studien 48.) Stuttgart 2011, 31–33. Codex Iustinianus, X,56,1, ed. Krüger (supra n. 1), 423. For this law, which may well date from the early years of Justinian’s reign (between 527 and 534), see Laniado, Recherches (supra n. 1), 216–218. For the advocati, see Jones, The Later Roman Empire (supra n. 23), vol. I, 507–515; Hans Josef Wieling, Advokaten im spätantiken Rom, in: Atti dell’Accademia Romanistica Costantiniana: XI Convegno Internazionale. Naples 1996, 419–463. In the province of Galatia Prima: Vie de Théodore de Sykéôn, 58, 78 and 169, ed. André-Jean Festugière. (Subsidia Hagiographica 48.) Brussels 1970, 49, 65–66 and 160 (Anastasiopolis); 161, ibid., 143 (Germia); 162, ibid., 148 (Ancyra). In the province of Honorias: 44, ibid., 39– 40 (Heraclea in Pontus). Vie de Théodore de Sykéôn, 45, ed. Festugière, 40.
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a drought.67 As for municipal notables styled as ktetores, they appear only once in a military context in the early Byzantine period: in 531, after a victory on the Persians at the vicinity of Martyropolis (Mesopotamia), a “Roman dux went out with the landowners and stripped the Persian corpses”68, yet this unheroic act is not enough to show that these notables had a military background. Though clerics (klerikoi) took part in official procedures alongside lay notables, they are never referred to as ktetores in the early Byzantine period, and this could hardly be a coincidence. In fact, the clergy as a whole was not part of the municipal elite69, while clerics could belong to all social strata, including the lowest ones.70 The same is true of bishops. Many senators and municipal councillors found the episcopate attractive, yet the social extraction of bishops was more diversified than that of the municipal elites.71 As a municipal term, ktetor is relatively well attested from about the middle of the fifth century to the early seventh. It is regularly used in the legal sources, and appears in the evidence for almost thirty cities belonging to twenty-two provinces and to six civil dioceses.72 Moreover, authors such as John Malalas as well as some hagiographers use it anachronistically for times older than their own (from the Hellenistic period to the fourth century73). In an official document, a letter written in 628 by the emperor Heraclius (610–641), it even refers to the notables of a foreign city, namely Ganzac in Sasanid Persia.74
67 Vie de Théodore de Sykéôn, 101, ed. Festugière, 80. Cf. Liebeschuetz, Decline and Fall (supra n. 6) 113; Laniado, Recherches (supra n. 1) 168. 68 John Malalas, XVIII,65, ed. Thurn, 391; trans. Jeffreys (et alii), 273; Laniado, Recherches (supra n. 1), 196, no. 24. 69 Cf. Claude, Die Byzantinische Stadt (supra n. 33), 187: “Dagegen ist es wahrscheinlich, daß die vornehmsten Mitglieder des Kathedralklerus zur Oberschicht zu rechnen sind […]”. 70 Georg Schmelz, Kirchliche Amtsträger im spätantiken Ägypten nach der Aussagen der griechischen und koptischen Papyri und Ostraka. (Archiv für Papyrusforschung und verwandte Gebiete, Beiheft 13.) Munich and Leipzig 2002, 218–254; Sabine Hübner, Der Klerus in der Gesellschaft des spätantiken Kleinasiens. (Altertumswissenschaftliches Kolloquium 15.) Stuttgart 2005, 121–154. For the West, see Jens-Uwe Krause, Überlegungen zur Sozialgeschichte des Klerus im 5./6. Jh. n. Chr., in: Jens-Uwe Krause/Christian Witschel (eds.), Die Stadt in der Spätantike – Niedergang oder Wandel?. (Historia Einzelschriften 190.) Stuttgart 2006, 413–439. 71 Claudia Rapp, Holy Bishops in Late Antiquity: The Nature of Christian Leadership in an Age of Transition. (The Transformation of the Classical Heritage 37.) Berkeley 2005, 183–195. 72 To the evidence presented in Laniado, Recherches (supra n. 1), 192–198, should be added the following documents: Collectio Avellana, 232a (quoted supra n. 61); Fritz Mitthof and Amphilochios Papathomas, Ein Papyruszeugnis aus dem spätantiken Karien, in: Chiron 34, 2004, 406–407 (a letter or petition from the late sixth or early seventh century which mentions the ktetores of Stratonicea in Caria). 73 Laniado, Recherches (supra n. 1), 198–199. 74 Chronicon Paschale, s.a. 628, ed. Dindorf, 732; for this city, see Andreas N. Stratos, Byzantium in the Seventh Century, vol. I: 602-634, trans. Marc Ogilvie-Grant. Amsterdam 1968, 366, n. xvii.
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II. THE ALTERNATIVE TO THE MUNICIPAL COUNCIL The municipal council in the Roman Empire was an ordo as well as a deliberative and representative body whose meetings normally took place in a public building called curia in Latin and bouleuterion in Greek. Both terms could also refer to the curial class. As far as the Greek term is concerned, it is the latter use which prevailed in early Byzantium75, as is borne out, for instance, by a sixth-century gloss.76 As a result, bouleuterion was almost never used for municipal assemblies consisting of notables77. Liebeschuetz, who insists on the lack of any term for such assemblies, argues that “there is no evidence that a new standing institution took the place of the old civic council”78, while Chris Wickham states that the ‘key change’ was the replacement of a formally constituted body, namely the municipal council, by an informal one.79 Along the same line of thought Peter Norton claims that the involvement of ‘prominent individuals’, such as the possessores, in episcopal elections was less formal than that of an institution such as the municipal council.80 These assertions are not indisputable. To begin with, the Greek world syllogos clearly designates the meetings of assemblies consisting of municipal notables in the summary of a law now lost, as it had designated the meetings of the municipal council in the past, yet it is true that this word is too rare in such contexts to be considered an institutional term.81 Moreover, the lack of a widespread official designation is not enough to prove that such bodies always functioned on an informal basis, for they were in due course authorized by imperial legislation to act formally through the issuing of decrees, just as the municipal councils in former times. In other words, they were recognized by the state. In 449, a comes called Theodosius submitted a petition to Chaereas, the provincial governor of Osrhoene, “in the name of the community, (that is) of all the clerics, the abbats, and the vowed persons, as well as of the magistrates (politeuomenoi) and of the rest of the proprietors – in short, in the name of all the inhabitants of Edessa – here present”.82 Proprietors were important enough to be 75 76 77 78 79 80 81 82
Laniado, Recherches (supra n. 1), 28. Quoted supra n. 4. For an exception, see John Malalas, VIII,21, ed. Thurn, 155 (quoted supra n. 2). J.H.W.G. Liebeschuetz, Transformation and Decline: Are the Two Really Incompatible?, in: Jens-Uwe Krause/Christian Witschel (eds.), Die Stadt in der Spätantike – Niedergang oder Wandel? (Historia Einzelschriften 190.) Stuttgart 2006, 470–471. Chris Wickham, Framing the Early Middle Ages: Europe and the Mediterranean 400–800. Oxford 2005, 598. Peter Norton, Episcopal Elections 250–600: Hierarchy and Popular Will in Late Antiquity. Oxford 2007, 53. Codex Iustinianus, X,56,1, ed. Krüger (supra n. 1), 423. For this law, see supra n. 63. The relevant paragraph is quoted below (infra n. 97). For the use of syllogos for meetings of the municipal council, see Petit, Libanius (supra n. 17), 63. Akten der Ephesinischen Synode vom Jahre 449, ed. Johannes Flemming, trans. Georg Hoeffmann. (Abhandlungen der königlichen Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen –
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mentioned here as a distinct group, but, as shown by the minutes of the council gathered in Edessa by the opponents of Bishop Ibas (435–449 and 451–457), they do not seem to have played an independent role. In 451, the delegates of the emperor Marcian at the council of Chalcedon proposed that candidates for the episcopate in the metropolitan sees in the civil dioceses of Asiana, Pontus and Thrace should be designated by the members of the clergy, the landowners and the viri clarissimi of each metropolis (ὥστε ψηφίζεσθαι μὲν παρὰ τῶν ἑκάστης μητροπόλεως κληρικῶν καὶ κτητόρων καὶ λαμπροτάτων ἀνδρῶν), together with the bishops of the province (ἔτι μὴν παρὰ τῶν κατὰ τὴν ἐπαρχίαν εὐλαβεστάτων ἐπισκόπων πάντων ἢ τῶν πλειόνων).83 This proposal was not confirmed by the canons of the council of Chalcedon, and there is no trace of it in Marcian’s extant legislation, but it proves that high-ranking imperial officials such as the delegates of the emperor at that council were well aware of the prominence of these notables in the provincial cities and considered them suitable for decision-making. In 472, Leo I ruled that sale of municipal property should be subject to a formal authorization, confirmed by a decree, on the part of all the curiales, honorati and possessores of the city, or at least of the majority of them.84 There is no mention of the participation of the ktetores in deliberative and representative bodies in the extant legislation of Zeno (474–491) and Justin I (518–527), but they are known from other sources to have been involved in religious affairs under these two emperors.85 On the other hand, the ktetores, or the first ones among them, figure regularly in laws issued by Anastasius and Justinian on the appointment of office-holders, the inspection of finances, and other matters of municipal and provincial administration.86 In some of these laws, the municipal notables entrusted with these various tasks are explicitly required to issue a decree (decretum; psephisma in Greek).87 It is under Justin II (565–578) that early Byzantine provincial notables reached the height of their power, at least in theory, for in 569, this ruler entrusted the bishops of each province as well as those holding the first place
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Philosophisch-Historische Klasse, NF. 15.) Berlin 1917, 35; trans. S.G.F. Perry, The Second Synod of Ephesus. Dartford 1881, 89–90; Alpi, Les élections épiscopales en Orient sous Sévère d’Antioche (supra n. 33), 311. Concilium Universale Chalcedonense, Actio XVII, 43, ed. Eduard Schwartz, Acta Conciliorum Oecumenicorum, vol. II.i.3, Berlin and Leipzig 1935, 98. Codex Iustinianus, XI,32,3,2, ed. Krüger (supra n. 1), 436; Liebeschuetz, Decline and Fall (supra n. 6), 106–107; Laniado, Recherches (supra n. 1), 98. For the date, see John R. Martindale, The Prosopography of the Later Roman Empire, vol. II: A.D. 395–527. Cambridge 1980, 401, s.v. Erythrius. For Alexandria under Zeno, see Vie de Sévère par Zacharie le Scholastique, ed. trans. M.-A. Kugener. (Patrologia Orientalis II.1.6.) Paris 1904, 33. For Syria under Justin I, see Collectio Avellana, no. 232a (quoted supra n. 61). Laniado, Recherches (supra n. 1), 173–176; Helen G. Saradi, The Byzantine City in the Sixth Century: Literary Images and Historical Reality. Athens 2006, 157–160. E.g. Codex Iustinianus, I,4,19, ed. Krüger (supra n. 1), 41 (on the appointment of the defensor civitatis; cf. supra n. 12); Justinian, Novella 123, 1, ed. Schoell and Kroll (supra n. 42), 594 (on the designation of candidates to the episcopate; 546 C.E.).
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among the ktetores and the oiketores (τοὺς ἑκάστης ἐπαρχίας ὁσιωτάτους ἐπισκόπους κτητόρων καὶ οἰκητόρων τοὺς ἄγοντας τὰ πρωτεῖα) with the task of designating a candidate for the government of their province, to be officially appointed by the emperor himself.88 The ktetores, so it seems, were the successors of the municipal councillors, not only as landowners, notables and office-holders, but also as members of decision-making bodies authorized by the state to issue decrees. Thus they perpetuated and even enhanced a tradition of municipal autonomy89, while the city itself maintained its character as a ‘legal personality’90, as well as some authority to manage its financial affairs.91 It remains to be seen whether there was any substantial difference between municipal administration by councillors and municipal administration by notables. III. DID THE CHANGE MAKE ANY DIFFERENCE? According to a well-established scholarly tradition whose most eminent exponent was A.H.M. Jones (1904–1970), the decline of the municipal councils in the later Roman Empire resulted in the decline of the cities themselves.92 This approach has not remained unchallenged, for in 1969, Dietrich Claude made the following observation: “Man gewinnt den Eindruck, als ob die neue Stadtverfassung gesünder und kräftiger war als die Kurie in den letzten beiden Jahrhunderten ihres Bestehens”.93 In 1990, Mark Whittow argued that the decline of the councils was followed by “merely an institutional rearrangement” which did not disrupt a continuous tradition of municipal autonomy.94 More recently, John Haldon has insisted on the need to distinguish between “the decline of the curial order as a social and economic group” and “the decline of a municipal social and economic élite”, 88 Justin II, Novella 149, ed. Schoell and Kroll (supra n. 42), 723–725. For a precedent confined to Italy, see the so-called Sanctio Pragmatica Pro Petitione Vigilii, 12, ed. Schoell and Kroll (supra n. 42), 800–801 (554 C.E.). For these laws, see Peter E. Pieler, Erwägungen zur Novelle Justin II. über die ‘Wahl’ der Provinzstatthalter (Nov. Just. 149), in: Subseciva Groningana 4, 1990, 177–193; Laniado, Recherches (supra n. 1), 225–252. 89 As argued by Gilbert Dagron, Les villes dans l’Illyricum protobyzantin, in: Villes et peuplement dans l’Illyricum protobyzantin. (Collection de l’École Française de Rome 77.) Rome 1984, 10–19. 90 Cf. Jean-Michel Spieser, La christianisation de la ville dans l’Antiquité tardive, in: Ktéma 11, 1986, 53. 91 For municipal finances and property rights, see Sebastian Schmidt-Hofner, Die städtische Finanzautonomie im spätrömischen Reich, in: Hans-Ulrich Wiemer (ed.), Staatlichkeit und politisches Handeln in der römischen Kaiserzeit. (Millennium-Studien zu Kultur und Geschichte des ersten Jahrtausends n. Chr. 10.) Berlin and New York 2006, 209–248. 92 Jones, The Later Roman Empire (supra n. 23), vol. I, 757–758. 93 Claude, Die Byzantinische Stadt (supra n. 33), 160. 94 Mark Whittow, Ruling the Late Roman and Early Byzantine City: A Continuous History, in: P&P 33, 1990, 3–29.
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while Kenneth Holum refused to blame the “regime of the notables” for the fate of the cities, since “the notables, too, were city-based and hence city-friendly”.95 In a detailed response to Whittow’s main argument, Liebeschuetz pointed to a set of differences between the Curial City and the Post-Curial one. Unlike municipal councillors, notables did not form a corporation; they were not subject to any hereditary obligation to serve their cities, and were not collectively responsible for municipal administration. In a sharp contrast to the municipal councillors, whom the state found easier to coerce, the basis for their public service was always voluntary. Following the decline of the council, there was “no public body continuously responsible for the state of the city”, with disastrous consequences for buildings, property, and even archives. Liebeschuetz even went as far as claiming that municipal administration by notables “affected the cohesion of the Empire”.96 Liebeschuetz’ clear-cut distinction between municipal councillors and notables is questionable on several points. To begin with, the fate of the councils shows that their corporative character as well as the principle of hereditary membership failed to ensure their continued existence. Moreover, it is open to discussion whether municipal administration by councillors acting under compulsion was bound to be more efficient than that by voluntary notables. Even more disputable is the very assumption according to which non-curial notables administered their cities on a voluntary basis, for imperial legislation clearly indicates that this was not always the case. While giving exemption from municipal offices and tasks to those who had completed their militia or advocatio, the author of an anonymous law already referred to above did not omit to include the following privileges: “Ἀλλ᾽ἔνθα ἂν οἰκῆσαι βουληθῶσι, μήτε ὑπαντᾶν ἀναγκαζέσθωσαν τοῖς ἄρχουσι περαιτέρω πυλῶν μήτε εἰς συλλόγους ἄκοντες καλείσθωσαν μήτε ὀνομαζέσθωσαν ἢ ὀνομαζέτωσαν […]”.97 Beneficiaries of this law could not be compelled to welcome the arrival of imperial office-holders outside the city gates98, or to be summoned to meetings against their will. Moreover, they were 95 Haldon, The Fate of the Late Roman Senatorial Elite (supra n. 22), 199–200; Kenneth G. Holum, The Classical City in the Sixth Century: Survival and Transformation, in: Michael Mass (ed.), The Cambridge Companion to the Age of Justinian. Cambridge 2005, 109. 96 Liebeschuetz, Decline and Fall (supra n. 6), 121–122. For a similar conclusion, see Saradi, The Byzantine City (supra n. 86), 161: “The decline of the curial class and of the boule as an institution, the appointment of civic officers who depended on the provincial governors […], the corruption of the state officers and the promotion of the personal interests of the urban élite instead of that of the communities, affected urban public life, in regard to the maintenance of public buildings and the construction of new ones”. For a different conclusion based upon a detailed study focusing on Asia Minor, see now Ine Jacobs, Aesthetic Maintenance of Civic Space: The ‘Classical’ City from the 4th to the 7th C. AD. (Orientalia Lovaniensia Analecta 193.) Leuven 2013, 676: “The care for and energy invested in the civic landscape into the second quarter of the 6th c. AD. both in smaller and larger cities, testifies to the presence of a municipal government that was aware of the importance of public architecture for the reception of the city.” 97 Codex Iustinianus, X,56,1,1, ed. Krüger (supra n. 1), 423. 98 For the ceremony referred to by this law, see Delmaire, Quelques aspects de la vie municipale (supra n. 44), 42–45.
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neither to be appointed nor to appoint others (presumably to municipal offices).99 As for notables who were not entitled to these privileges, they were obviously to take part in the same events and procedures even on a compulsory basis. Beneficiaries of this anonymous law were explicitly exempt from the ekdikia (defensio civitatis)100, yet in 535 Justinian abolished this privilege in an attempt to enhance the prestige of this office. Henceforward, all notables of whatever position or rank had to reward their cities by serving in rotation as defensores. No exception was made for members of the senatorial order, not even for viri magnificentissimi, while former privileges became null and void. Prior to this law, more than one notable tried to decline appointment to the defensio civitatis by invoking his status and privileges. Thus it becomes evident that municipal administration by notables was not solely voluntary.101 IV. THE LAST ‘MUNICIPAL LANDOWNERS’ Towards the end of the ninth century, Leo VI (886–912) formally abolished the municipal councils (bouleuteria), which were no longer necessary since municipal affairs had come by his time under the authority of the emperor.102 The silence of the evidence strongly suggests that the councillors themselves had disappeared long before from the truncated empire of Heraclius’ successors.103 As for the ktetores, they are well attested until the early seventh century, but the evidence becomes meagre afterwards. According to the Vita, Educatio et Miracula Sancti Theodori Tironis, the faithful (πιστοί) ktetores (of Amaseia) welcomed Eusebia, a Christian lady of senatorial rank who decided to settle there under the reign of the persecuting emperors Galerius (305–311) and Maximinus Daia (309–313), who were her relatives.104 The significance of this wholly fictitious episode is due to the fact that this hagiographical text was written after the mid-seventh century, as is borne out by references to the Arabs (Agarenoi; Sarakenoi), or even under Constantine V 99 Laniado, Recherches (supra n. 1), 220–221. 100 Codex Iustinianus, X,56,1, Pr., ed. Krüger (supra n. 1), 423. 101 Justinian, Novella 15,1, ed. Schoell and Kroll (supra n. 42), 110–111; Claude, Die Byzantinische Stadt (supra n. 33), 116–117. 102 Leo VI, Novella 46, ed. trans. Pierre Noailles and Alphonse Dain, Les Novelles de Léon VI le Sage. Paris 1944, 182–185. 103 Wolfram Brandes, Byzantine Cities in the Seventh and Eighth Century – Different Sources, Different Histories?, in: Gian Petro Brogiolo/Brian Ward-Perkins (eds.), The Idea and Ideal of the Town Between Late Antiquity and the Early Middle Ages. (The Transformation of the Roman World 4.) Leiden 1999, 30–31. 104 Vita, Educatio et Miracula Sancti Theodori Tironis, 4, ed. Hippolyte Delehaye, Les légendes grecques des saints militaires. Paris 1909, 187–188 (=Acta Sanctorum Novembris, vol. IV, Brussels 1925, 50E): “Οἵ τε πιστοὶ κτήτορες ταύτην ὑποδεξάμενοι καὶ ἑωρακότες κατὰ τὴν εὐσεβῆ αὐτῆς ἐπίκλησιν εὐσεβῶς ζῶσαν καὶ τὸν δεσπότην Χριστὸν σέβουσαν, μετὰ πάσης προθυμίας καὶ εὐθυμίας προσέτρεχον αὐτῇ”.
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(741–775), as argued by Constantine Zuckerman.105 Thus it is tempting to take it as an allusion to the continued existence of local notables known as ktetores in Amaseia, once the capital of the early Byzantine province of Helenopontus, and later on the capital of the Armeniakon theme.106 In 803, the emperor Nicephorus I (802–811) confiscated the property of the usurper Bardanes Tourkos and took advantage of the circumstances to arrest all the office-holders (archontes) and ktetores of the themes, as well as some people of the capital (πάντας τῶν θεμάτων τοὺς ἄρχοντας καὶ κτήτορας, τινὰς δὲ καὶ ἐκ τῆς βασιλίδος πόλεως ᾐχμαλώτευσεν).107 The context is that of the middle Byzantine themes, not of the early Byzantine provincial cities, but it is worthy of note that the ktetores in question, certainly laymen, were based in the periphery of the empire, not in Constantinople. The same can be said about a ktetor called Philotheos, a layman of high standing in Macedonia (οὗ ὁ ἔπαινος διὰ πάσης Μακεδονίας), to whom Theodore the Studite (759–826) addressed three letters in the early 820s.108 By the 860s, ktetor had acquired a new meaning, and henceforward designated a clergyman, a layman or a monk who founded or owned an ecclesiastical institution such as a church, a monastery or a charitable foundation.109 This is the most widely attested significance of this word from the tenth century onwards.110 Despite this shift, ktetor, as a municipal term for lay notables, occurs in the heading of an ecclesiastical document preserved by some manuscripts, and ascribed by 105 Constantine Zuckerman, The Reign of Constantine V in the Miracles of St. Theodore the Recruit (BHG 1764), in: REB 46, 1988, 191–210; for an attempt to date this text to the latter half of the seventh century, see Tuna Artun, The Miracles of St. Theodore Tērōn: an Eighth Century Source?, in: Jahrbuch der Österreichischen Byzantinistik 58, 2008, 1–11. 106 For Amaseia, see Wolfram Brandes, Die Städte Kleinasiens im 7. und 8. Jahrhundert. (Berliner Byzantinistische Arbeiten 56.) Berlin 1989, 136–137. Amaseia was then an important stronghold, but its survival as a city is doubtful. 107 Theophanis Chronographia, A.M. 6295, ed. Carl de Boor, vol. I. Leipzig 1883, 479–480; Laniado, Recherches (supra n. 1), 185. 108 Theodori Studitae Epistulae, 507,525,535, ed. Georgios Fatouros. (Corpus Fontium Historiae Byzantinae 31/2.) Berlin and New York 1992, 753–754, 783–784, 807–808; Laniado, Recherches (supra n. 1), 199–200. 109 For what is probably the earliest occurrence of this term in this new meaning, see Asdracha, Inscriptions protobyzantines et byzantines (supra n. 54), no. 69 (Panion); cf. Giorgos Pallis, Λίθινες φιάλες και κολυμβήθρες με ανάγλυφο διάκοσμο της μέσης και ύστερης βυζαντινής περιόδου από την Ελλάδα, in: Δελτίον της Χριστιανικής Αρχαιολογικής Εταιρείας 33, 2012, 128. This is an invocation inscribed on a marble vase on behalf of a ktetor called Ioannes, and it is dated to the year 6370 (=861/862 C.E.). There is no reason to follow here Asdracha, who translates ktetor as ‘possesseur’. 110 For ktetor as an ecclesiastical term in middle and late Byzantine Greek, see Karl Krumbacher, Κτήτωρ: Ein lexikographischer Versuch, in: Indogermanische Forschungen 25, 1909, 393–421; John Philip Thomas, Private Religious Foundations in the Byzantine Empire. (Dumbarton Oaks Studies 24.) Washington D.C. 1987, 252–262; Erich Trapp et alii (eds.), Lexikon zur byzantinischen Gräzität, besonders des 9.-12. Jahrhunderts, vol. I, Vienna 2001, 892, s.v. κτήτωρ.
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one of them to Arsenios Autorianos, patriarch of Constantinople (1261–1264).111 This document, which deserves a detailed study, is a formulary used to announce the ordination of a new bishop. In some manuscripts the heading gives the following list of addressees: the bishops (of the province), the priests, the deacons, the clergy, as well as the ktetores and the oiketores of the city, who are styled as endoxotatoi (gloriosissimi) and lamprotatoi (clarissimi).112 To judge by these senatorial titles, this document originated in the early Byzantine world. As for the epithet theosostos (‘saved by God’), typically used here for the city itself (τῆς θεοσώστου πόλεως τῆς δεῖνα), it is not attested before the late seventh century.113 The survival of this document, whatever its date, suggests that it was in use even during the so called ‘Dark Centuries’. The scanty evidence for the use of ktetor in the eighth and ninth centuries suggests that this term had ceased to apply to provincial lay notables by the 850s. Inadequate as it is, this material clearly indicates that notables known as ktetores outlived the last municipal councillors by more than 150 years. As for the disappearance of the ktetores themselves, it may be explained by the fate of the provincial cities which, according to more than one scholar, ceased to exist114. However, this is not the only possible reason. The non-military character postulated above for ktetor suggests that it was no longer considered an appropriate term for provincial notables in an age of accrued militarization.115 V. CONCLUSION By the reign of Justinian (527–565) municipal councils were no longer indispensable for the existence of cities, yet municipal life had not yet vanished in the Byzantine Empire. This raises two questions: which people inherited the councillors as the leading social group in the city, and which institution replaced the municipal council. As recognized long ago, the councillors were succeeded by people of high standing and of diverse institutional affiliation who, in modern research, are often referred to rather vaguely as notables. The contemporary 111 For this document, see Vitalien Laurent, Les regestes des actes du Patriarcat de Constantinople, vol. IV, Paris 1971, no. 1355. 112 Georgios A. Rhalles and Michael Potles, Σύνταγμα τῶν ὁσίων καὶ ἱερῶν κανόνων, vol. V, Athens 1855, 561; Patrologia Graeca, vol. 119, Paris 1864, 1132C: “Τοῖς ὁσιωτάτοις ἐπισκόποις, θεοσεβεστάτοις πρεσβυτέροις, θεοφιλεστάτοις διακόνοις, καὶ παντὶ τῷ εὐαγεῖ κλήρῳ· τοῖς ἐνδοξοτάτοις καὶ λαμπροτάτοις κτήτορσι καὶ οἰκήτορσι τῆς θεοσώστου πόλεως τῆς δεῖνα.” 113 Trapp, Lexikon (supra n. 110), vol. I, 679, s.v. θεόσωστος. 114 For a detailed study, see Brandes, Die Städte Kleinasiens (supra n. 106). For useful bibliographical surveys of this issue, see Idem, Die Byzantinische Stadt Kleinasiens im 7. und 8. Jahrhundert – Ein Forschungsbericht, in: Klio 70, 1988, 176–208; Saradi, The Byzantine City (supra n. 86), 13–45; Luca Zavagno, La città bizantina tra il V e il IX secolo: Le prospettive storiografiche, in: Reti Medievali 9, 2008, 1–28. 115 Supra p. 557–558.
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sources themselves, both documentary and literary, use for this group a variety of terms, of which ktetor (landowner; possessor in Latin) deserves particular attention. This word, which originally was part of the vocabulary of private law, had evolved by the mid-fifth century into an institutional term for lay municipal notables of non-military background. Despite its provenance, its use for municipal notables does not testify to a process of ‘privatization of power’, for these ktetores were no longer conceived of as private persons; they were now local notables deeply involved in municipal and provincial administration in a manner which was not always voluntary. Little is known about these notables after the early seventh century, yet the meagre evidence for lay ktetores, who are last heard of in the provinces of the Byzantine Empire in the early ninth century, clearly indicates that they outlived the last municipal councillors by more than 150 years. The significance of the institutional shift from cities governed by municipal councillors to cities governed by non-curial notables has been a matter for debate over the last decades. Unfortunately, it has too often been overlooked that, despite the decline and, ultimately, the disappearance of the municipal councils, early Byzantine cities did not lose their status as ‘legal personalities’, to use a somewhat anachronistic notion. Thus the groups of notables who administered them were authorized and even required by the state to issue decrees, just as the members of the municipal councils in former times. Early Byzantine cities could do without the so-called curial class, yet local notables, of whatever institutional affiliation, were as indispensable as ever before.
LOKALE HERREN UM 500 RANG UND MACHT IM SPIEGEL DER BESTATTUNGEN Sebastian Brather I. GRUNDLEGENDE NEUFORMIERUNGEN NACH 450 In der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts vollzogen sich entscheidende Neuformierungen: Bestattungsplätze und Siedlungen veränderten sich grundlegend, wenngleich regional in unterschiedlicher Weise. So lösten im nördlichen Gallien Dörfer die bisherigen Villen ab1, während in der Alamannia die spätantiken Höhensiedlungen2 aufgegeben wurden und größere Bestattungsplätze an die Stelle kleiner Grabgruppen oder von Einzelgräbern traten.3 Besonders eindrücklich ist das weiträumige Aufkommen der Reihengräberfelder. Entgegen der traditionellen Sicht der deutschsprachigen Frühmittelalterarchäologie waren dafür nicht ‚die Germanen‘ verantwortlich, die sich innerhalb des Imperiums auf ihre ‚ethnische‘ Identität besonnen und von den Römern (oder ‚Romanen‘) abgegrenzt hätten. Bereits das Vorkommen der Reihengräberfelder – von Britannien über Nordgallien und das Innere der Iberischen Halbinsel, das Rheinland und die Alamannia bis nach Pannonien und Oberitalien – unterstreicht, dass es sich um wesentliche kul 1
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Gian Pietro Brogiolo/Alexandra Chavarría Arnau, Aristocrazie e campagne nell’Occidente da Costantino a Carlo Magno. (Metodi i temi dell’archeologia medievale 1.) Florenz 2005, 49–68; 89–125; Paul van Ossel, De la « villa » au village. Les prémices d’une mutation, in: Jean-Marie Yante/Anne-Marie Bultot-Verleysen (Hrsgg.), Autour du « village ». Établissements humains, finages et communautés rurales entre Seine et Rhin (IVe–XIIIe siècles). (Textes, études, congrès 25.) Louvain-la-Neuve 2010, 219–236; Frans Theuws, Haus, Hof und Siedlung im nördlichen Frankenreich (6.–8. Jahrhundert), in: Die Franken – Wegbereiter Europas. Mainz 1996, 754–768. Zuletzt: Michael Hoeper/Heiko Steuer, Völkerwanderungszeitliche Höhenstationen am Schwarzwaldrand. Eine Zusammenfassung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede, in: Heiko Steuer/Volker Bierbrauer (Hrsgg.), Höhensiedlungen zwischen Antike und Mittelalter von den Ardennen bis zur Adria. (RGA Erg.-Bd. 58.) Berlin/New York 2008, 213–260. Claudia Theune, Germanen und Romanen in der Alamannia. Strukturveränderungen aufgrund der archäologischen Quellen vom 3. bis zum 7. Jahrhundert. (RGA Erg.-Bd. 45.) Berlin/New York 2004, 203‒234; Sebastian Brather, Anfang und Ende der Reihengräberfelder. Der Wandel von Bestattungsformen zwischen Antike und Mittelalter, in: Sebastian Brather u.a. (Hrsgg.), Antike im Mittelalter – Fortleben, Nachwirken, Wahrnehmung. 25 Jahre Forschungsverbund Archäologie und Geschichte des 1. Jahrtausends in Südwestdeutschland. (Archäologie und Geschichte 21.) Sindelfingen 2014, 215–232.
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turelle Neuformierungen entlang der Peripherie des spätantiken Imperiums handelte.4 Denn die charakteristischen Merkmale – Körperbestattung, West-OstAusrichtung, Bestattung mit Kleidung (Frauen) und Waffen (Männer) – lassen sich nicht auf germanische Vorbilder, sondern auf römische Bezüge und vor allem auf den zeitgenössischen Kontext beziehen (Abb. 1).5 Seit dem 4. Jahrhundert gingen Lokalgesellschaften dazu über, ihre Toten mit allmählich immer mehr Grabbeigaben zu bestatten. Offenkundig entdeckten sie die Möglichkeit, soziale Positionen angesichts sich wandelnder Verhältnisse während der Bestattung untereinander vorzuführen. Die Ausstattungen der Toten waren nicht für ein Jenseits und damit religiös bestimmt6, sondern demonstrierten – im christlichen Nordgallien7 wie in der heidnischen Alamannia – den ‚Zuschauern‘ Rang und Status des bzw. der Toten sowie seiner oder ihrer Angehörigen. Hinsichtlich der spezifischen Ursachen unterscheidet sich die aktuelle Forschung nur in Nuancen. Guy Halsall betont den sozialen und politischen ‚Stress‘, dem diese peripheren Gesellschaften ausgesetzt waren und der sie neue Möglichkeiten der Statusdemonstration finden ließ.8 Hubert Fehr sieht in den ‚Grenzgesellschaf 4
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Interessanterweise lassen sich nun auch Grabausstattungen im spätantik-frühmittelalterlichen Syrien dokumentieren, was die hier vertretene Ansicht unterstreicht; Christoph Eger/Mahmoud Hamoud, Spätrömisch-frühbyzantinischer Grabbrauch in Syrien. Die Nekropole von Darayya bei Damaskus, in: Antike Welt 42/6, 2011, 70–76; Thomas Fischer/Werner Oenbrink, Spätantik-byzantinische Grabfunde aus al-Qrayya im Hauran/Südsyrien, in: Kölner Jahrbuch 43, 2010, 197–243. Hubert Fehr, Germanische Einwanderung oder kulturelle Neuorientierung? Zu den Anfängen des Reihengräberhorizontes, in: Sebastian Brather (Hrsg.), Zwischen Spätantike und Frühmittelalter. Archäologie des 4. bis 7. Jahrhunderts im Westen. (RGA Erg.-Bd. 57.) Berlin/New York 2008, 67–102. Sebastian Brather, Pagan or Christian? Early Medieval Grave Furnishings in Central Europe, in: Maciej Salamon u.a. (Hrsgg.), Rome, Constantinople and Newly-Converted Europe. Archaeological and Historical Evidence, Bd. 1. (U źródeł Europy środkowo-wschodniej 1/1.) Krakau u.a. 2012, 333–349; ders./Susanne Brather-Walter, Repräsentation oder Religion? Grabbeigaben und Bestattungsrituale im frühen Mittelalter, in: Niklot Krohn/Sebastian Ristow (Hrsgg.), Wechsel der Religionen – Religion des Wechsels. (Studien zu Spätantike und Frühmittelalter 4.) Hamburg 2012, 121–143. Die Christianisierung bedeutete nicht die Anlage neuer Bestattungsplätze; Éric Rebillard, Conversion and Burial in the Late Roman Empire, in: Kenneth Mills/Anthony Grafton (Hrsgg.), Conversion in Late Antiquity and the Early Middle Ages. Seeing and Believing. Rochester 2003, 61–83; ders., Religion et Sepulture. L’église, les vivants et les morts dans l’antiquité tardive. (Civilisations et sociétés 115.) Paris 2003. Guy Halsall, The Origins of the Reihengräberzivilisation. Fourty Years on, in: John F. Drinkwater/Hugh Elton (Hrsgg.), Fifth-Century Gaul. A Crisis of Identity? Cambridge 1992, 196–207; ders., Early Medieval Cemeteries. An Introduction to Burial Archaeology in the Post-Roman West. Glasgow 1995; ders., Archaeology and the Late Roman Frontier in Gaul. The So-Called Foederatengräber Reconsidered, in: Walter Pohl/Helmut Reimitz (Hrsgg.), Grenze und Differenz im früheren Mittelalter. (Forschungen zur Geschichte des Mittelalters 1/Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl. Denkschr. 287.) Wien 2000, 167–180; ders., Gräberfelduntersuchungen und das Ende des römischen Reichs, in: Zwischen Spätantike und Frühmittelalter (wie Anm. 5), 103–117.
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ten‘ auf bislang römischer Seite entlang des Limes die entscheidenden Anstöße für die kulturelle Neuorientierung aufkommen.9 Und Frans Theuws verweist darauf, dass sich in Nordgallien viele vermeintliche ‚Waffen‘ besser als Jagdzubehör und Rodungsgeräte interpretieren lassen, die Landesausbau und Besitzansprüche in neu erschlossenen Regionen unterstreichen.10 Für das Grab des Childerich wird – nicht ganz zu Recht – in doppelter Hinsicht eine Vorbildrolle angenommen. Einerseits stand die wohl wesentlich durch seinen Sohn und Nachfolger Chlodwig bzw. dessen Umfeld arrangierte Bestattung zwar nicht unmittelbar am Beginn der seit der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts (d.h. bereits eine Generation zuvor) aufkommenden Reihengräberfelder, doch sie besaß dennoch wahrscheinlich einigen Einfluss auf die folgenden Generationen, weil in Tournai ein fränkischer König demonstrativ auf diese aufwändige Art und Weise begraben worden war.11 Andererseits bedeutete die sehr frühe Entdeckung dieses Grabes – bereits 1653 – und seine rasche Publikation12, dass die Forschung durch die anhand des Siegelrings vorgenommene Identifizierung des Toten rasch klare chronologische und sachliche Vorstellungen über die Archäologie der Merowingerzeit gewinnen konnte. Ungeachtet aller Detailprobleme der Forschung macht beides die besondere Rolle des Childerichgrabes aus.13 9 10
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Hubert Fehr, Germanen und Romanen im Merowingerreich. Frühgeschichtliche Archäologie zwischen Wissenschaft und Zeitgeschehen. (RGA Erg.-Bd. 68.) Berlin/New York 2010, 725– 783; ders., Germanische Einwanderung (wie Anm. 5), 67–102. Frans Theuws, Grave Goods, Ethnicity, and the Rhetoric of Burial Rites in Late Antique Northern Gaul, in: Ton Derks/Nico Roymans (Hrsgg.), Ethnic Constructs in Antiquity. The Role of Power and Tradition. (Amsterdam Archaeological Studies 13.) Amsterdam 2009, 283–319. Guy Halsall, Childeric’s Grave, Clovis’ Succession, and the Origins of the Merovingian Kingdom, in: Ralph W. Mathisen/Danuta Shanzer (Hrsgg.), Society and Culture in Late Antique Gaul. Aldershot 2001, 116–133. Jean-Jacques Chiflet, Anastasis Childerici I. Francorum regis, sive Thesaurus sepulchralis Tornaci Nerviorum effossus, et Commentario illustratus. Antwerpen 1655. Die Interpretation der Grabbeigaben hat sich im Lauf der Zeit erheblich gewandelt; für die These, dass Childerich mit einem Pferd bestattet worden ist, gibt es nach der Neubewertung der vermeintlichen Zaumzeugbeschläge als Schwertgurt (Dieter Quast, Childerichs Schwertgurt. Ein neuer Rekonstruktionsvorschlag, in: ArchKBl 33, 2003, 597–614), nun keinen einzigen Anhaltspunkt mehr. Ob die im weiteren Umfeld beigesetzten Pferde unmittelbar auf das Childerichgrab zu beziehen sind, ist mangels Ausgrabungen im Bereich zwischen wahrscheinlicher Lage des Königsgrabs und der Pferdegruben unsicher; vgl. Sebastian Brather, Memoria und Repräsentation. Frühmittelalterliche Bestattungen zwischen Erinnerung und Erwartung, in: Sebastian Brather/Dieter Geuenich/Christoph Huth (Hrsgg.), Historia archaeologica. Festschrift für Heiko Steuer zum 70. Geburtstag. (RGA Erg.-Bd. 70.) Berlin/New York 2009, 245–282, hier 270, Abb. 7 (mit Nachweisen). Dass es einen Hügel über dem Childerichgrab gab, wird allein aufgrund einer vermuteten Freifläche in seiner Umgebung postuliert; es gibt dafür keinen positiven Beleg. Wenn die im Grab gefundene Kugel tatsächlich zu einem Zepter gehört (Dieter Quast, Ein spätantikes Zepter aus dem Childerichgrab, in: ArchKBl 40, 2010, 285–296), lassen sich auch keine Hinweise mehr auf eine eventuell zugleich bestattete Frau finden.
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Die Zusammensetzung der Grabbeigaben spiegelt soziale Gruppen und Identitäten wider. Vor allem im 6. und 7. Jahrhundert gab es generell recht umfangreiche Grabausstattungen, die die Rekonstruktion einander vielfältig überlagernder Bezüge erlauben: Alter und Geschlecht, Rang und Familie, Tätigkeiten und Religion.14 Die analytische Trennung muss dabei berücksichtigen, dass etwa Lebensalter und Geschlecht dem Rang vorausgehen, letzterer also nicht ohne deren Beachtung zu rekonstruieren ist.15 Lokalgesellschaften repräsentierten sich auf diese Weise zugleich insgesamt, und daraus erklären sich zwanglos lokale Besonderheiten. Gräber spiegeln jedoch nicht ‚Realitäten‘ wider, sondern reflektieren idealisierte und geschönte, performativ dargebotene Vorstellungen der Beteiligten. * Die Zeit ‚um 500‘ ist von der Frühmittelalterarchäologie erst in Ansätzen näher untersucht worden. So gibt es zwar jeweils eine Verbreitungskarte der Reihengräberfelder dieser Zeit für Südwestdeutschland16 und für die Nordwestschweiz17, aber kaum für andere Regionen.18 Bei der Untersuchung von Herrschaft hat die archäologische Forschung nicht nur oft einseitig auf herausragende Funde und deren Qualitäts- und Besitzunterschiede geschaut19, sondern sich zugleich auf die Debatte um die Entstehung eines merowingerzeitlichen Adels konzentriert20 und 14 Vgl. Sebastian Brather, Kleidung und Identität im Grab. Gruppierungen innerhalb der Bevölkerung Pleidelsheims zur Merowingerzeit, in: ZAMA 32, 2004, 1–58; ders., Kleidung, Bestattung, Identität. Die Präsentation sozialer Rollen im frühen Mittelalter, in: Zwischen Spätantike und Frühmittelalter (wie Anm. 5), 237–273; Susanne Hakenbeck, Local, Regional and Ethnic Identities in Early Medieval Cemeteries in Bavaria. (Contributi di archeologia medievale 5.) Borgo S. Lorenzo 2011; Irene Barbiera, Memorie sepolte. Tombe e identità nell’alto medioevo (secoli V–VIII). (Studi superiori 763.) Rom 2012. 15 Vgl. Klaus Georg Kokkotidis, Von der Wiege bis zur Bahre. Untersuchungen zur Paläodemographie der Alamannen. Diss. Köln 1999. 16 Dieter Quast, Vom Einzelgrab zum Friedhof. Beginn der Reihengräbersitte im 5. Jahrhundert, in: Die Alamannen. Stuttgart 1997, 171–190, hier 180, Abb. 187. 17 Reto Marti, Zwischen Römerzeit und Mittelalter. Forschungen zur frühmittelalterlichen Siedlungsgeschichte der Nordwestschweiz (4.–10. Jahrhundert). (Archäologie und Museum 41.) Liestal 2000, 322, Abb. 155. 18 Bei der vor 1970 von Joachim Werner, Verbreitung der Reihengräberfelder im 7. Jh., in: Großer Historischer Weltatlas, Bd. 2: Mittelalter, hg. vom Bayerischen Schulbuch-Verlag. 2. Aufl. München 1979, 8, angefertigten Karte ist nicht belegt, was im Einzelnen anhand welcher Kriterien kartiert worden ist – also auch nicht, in wieweit frühe Reihengräberfelder berücksichtigt wurden. 19 Vgl. Rainer Christlein, Besitzabstufungen zur Merowingerzeit im Spiegel reicher Grabfunde aus West- und Süddeutschland, in: Jahrbuch des RGZM 20, 1973, 147–180; Max Martin, Zum archäologischen Aussagewert frühmittelalterlicher Gräber und Gräberfelder, in: Zeitschrift für Schweizerische Archäologie und Kunstgeschichte 59/3, 2002, 291–306. 20 Horst Wolfgang Böhme, Adelsgräber im Frankenreich. Archäologische Zeugnisse zur Herausbildung einer Herrenschicht unter den merowingischen Königen, in: Jahrbuch des RGZM
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in seinen Vertretern zugleich häufig ‚Amtsträger‘ des fränkischen Königs erblickt, wiewohl es gleichzeitig selbstverständlich offenere Perspektiven gab. Damit war jedoch die Zeit Chlodwigs kaum aus sich heraus von besonderem Interesse; erst in einer längerfristigen Perspektive fand sie hinreichende Aufmerksamkeit. Und so verwundert es vor diesem Hintergrund nicht mehr, dass auch lokale Herren bislang nicht von gesteigertem archäologischen Interesse gewesen sind. Nicht Fragen nach der spezifischen Situation um 500 wurden gestellt; man interessierte sich vielmehr für besondere Funde dieser Zeit.21 Deshalb lässt sich zurzeit kein befriedigendes Gesamtbild gewinnen; als einzige Möglichkeit bleibt, vorliegende Hinweise zusammenzutragen und vergleichend einzuordnen. Wer soll überhaupt als ‚lokaler Herr‘ gelten? Gefragt wird im Folgenden nach denjenigen Personen, die auf lokaler Ebene – im Dorf oder wenig darüber hinaus – an der Spitze der örtlichen Gesellschaften standen.22 Beiseite gelassen werden dabei sowohl die strittige Frage, ob sich hinter ihnen bereits ‚der Adel‘ verbirgt, als auch die genauere Charakterisierung von Macht und Herrschaft, die jedoch als prinzipiell legitim und als Chance auf Gehorsam verstanden sei. Aus archäologischer Perspektive lässt sich Herrschaft allenfalls indirekt erfassen, denn sie muss sich nicht materiell widerspiegeln. Falls doch, ist zu fragen, wie sie das tut. Da es um jeweils einzelne Männer (und kaum um Frauen) geht, muss die Archäologie bei Bestattungen ansetzen: Wo gibt es auffällige Gräber, deren Anlage und Ausstattung auf lokale ‚Anführer‘ hindeuten, und wie lassen sich diese Gräber analytisch von anderen trennen? Als Kriterien gelten hier: besondere und herausragende Gräber (in einzelnen Regionen, ‚Gründergräber‘ auf Reihengräberfeldern und Gräber in Kirchen) sowie Waffen (besonderes Schwert, Helm oder Ango) und andere ‚Rangsymbole‘ (Reitzubehör und Pferdegräber, Gefäße und Mobiliar, Grabkammern und Grabhügel, separate Bestattungsplätze). Da die Verhältnisse in Nordgallien andere als im Rheinland oder der Alamannia waren, fällt ein überregionaler Vergleich schwer. Er kann darüber hinaus nur für jene Regionen er 40, 1993, 397–534; Anke Burzler, Archäologische Beiträge zum Nobilifizierungsprozeß in der jüngeren Merowingerzeit. (Materialhefte zur Bayerischen Vorgeschichte A 77.) Kallmünz (Opf.) 2000. 21 Ein aktuelles Beispiel sind die ‚reichen‘ Grabfunde von Unterhaching: Brigitte HaasGebhard/Hubert Fehr, Unterhaching. Eine Grabgruppe der Zeit um 500 n. Chr. bei München. (Abhandlungen und Bestandskataloge der Archäologischen Staatssammlung München 1.) München 2013, ein weiteres das Gräberfeld von Niedernai im Elsass: Marianne Zehnacker, Niedernai. Une nécropole du 5e et 6e siècle après J.C., in: Bernadette Schnitzler (Hrsg.), A l’aube du Moyen Âge. L’Alsace mérovingienne. (Les collections du musée archéologique 5.) Straßburg 1997, 89‒134. Letzterer ist 2014–2017 Gegenstand des ANR-DFG-Projekts „Archäologie einer Transformationszeit. Das Gräberfeld von Niedernai und das 5. Jahrhundert am Oberrhein“. 22 Vgl. Sebastian Brather, Nur „Adlige“ und „Bauern“? Komplexe Sozialstrukturen der Merowingerzeit und ihre archäologische Rekonstruktion, in: Tobias L. Kienlin/Andreas Zimmermann (Hrsgg.), Beyond Elites. Alternatives to Hierarchical Systems in Modeling Social Formations. (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 215.) Bonn 2012, 561– 572.
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folgreich sein, in denen überhaupt Reihengräberfelder – mit den entsprechenden umfangreichen Grabausstattungen – üblich waren (also etwa nicht für Zentralund Südgallien). Ansatzpunkt ist damit jener Habitus, wie er sich im Grab manifestiert. Die Jahrzehnte um 500 sind in den vorhandenen archäologischen Chronologieschemata unterschiedlich präzise eingegrenzt (Abb. 2). So fasst die überregional übliche Einteilung nach Hermann Ament in ihrer Stufe „Ältermerowingisch (AM) I“ die gesamte zweite Hälfte des 5. und das erste Viertel des 6. Jahrhunderts zusammen.23 Immerhin noch 50 Jahre umfassen die Phasen „Niederrhein 3“ (Frank Siegmund)24 und „ABD“ (Patrick Périn)25, die vom späten 5. bis kurz vor die Mitte des 6. Jahrhunderts reichen. Mehr Präzision versprechen Ansätze, die allein die „Chlodwigzeit“ als Stufe „Flonheim-Gültlingen“ (Dieter Quast)26 oder „Süddeutsch 3“ (Ursula Koch)27 fassen. Allerdings werden derart enge Zeitphasen rasch problematisch, wenn sie dem weiträumigen Vergleich dienen sollen: zu viele Faktoren können und dürften eine Rolle für die Weitergabe von Gegenständen gespielt haben, so dass deren Datierung kaum auf eine Generation eingegrenzt werden kann.28 Deshalb muss man, um die ‚Zeit um 500‘ genauer zu beschreiben, als Archäologe etwas weiter ausholen; es sind längerfristige Prozesse in den Blick zu nehmen, und es ist danach zu fragen, was sich davon enger auf die Jahrzehnte um die Jahrhundertwende eingrenzen lässt, ohne sich dabei vorschnell an politischen Ereignissen zu orientieren. 23 Hermann Ament, Zur archäologischen Periodisierung der Merowingerzeit, in: Germania 55, 1977, 133–140. – Ähnlich in der Einteilung: Helmut Roth/Claudia Theune, SW ♀ I‒V. Zur Chronologie merowingerzeitlicher Frauengräber in Südwestdeutschland. (Archäologische Informationen aus Baden-Württemberg 6.) Stuttgart 1988; Claudia Theune, Zur Chronologie merowingerzeitlicher Grabinventare in Weingarten und der Alamannia, in: Ernst Pohl/Udo Recker/Claudia Theune (Hrsgg.), Archäologisches Zellwerk. Beiträge zur Kulturgeschichte in Europa und Asien. Festschrift Helmut Roth. (Studia honoraria 16.) Rahden 2001, 319‒344. 24 Frank Siegmund, Merowingerzeit am Niederrhein. Die frühmittelalterlichen Funde aus dem Regierungsbezirk Düsseldorf und dem Kreis Heinsberg. (Rheinische Ausgrabungen 34.) Köln/Bonn 1998, 176–221. 25 Patrick Périn, La datation des tombes mérovingiennes. Historique, méthodes, application. (Hautes études médiévales et modernes 39.) Genf 1980; René Legoux/Patrick Périn/Françoise Vallet, Chronologie normalisée du mobilier funéraire mérovingien entre Manche et Lorraine. 3. Aufl. Saint-Germain-en-Laye 2009. 26 Dieter Quast, Die merowingerzeitlichen Grabfunde aus Gültlingen (Stadt Wildberg, Kreis Calw). (Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg 52.) Stuttgart 1993, 18–20. Quast verweist auf bislang erfolglose Bemühungen, zwischen Childerich- und Chlodwigzeit noch eine Übergangsstufe einzuschieben. 27 Ursula Koch, Das alamannisch-fränkische Gräberfeld bei Pleidelsheim. (Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in Baden-Württemberg 60.) Stuttgart 2001, 26–88, hier 72–75; 81–85. 28 Heiko Steuer, Bemerkungen zur Chronologie der Merowingerzeit, in: Studien zur Sachsenforschung 1, 1977 (= Festschrift Albert Genrich), 379–403; ders., Datierungsprobleme in der Archäologie, in: Klaus Düwel (Hrsg.), Runeninschriften als Quelle interdisziplinärer Forschung. (RGA Erg.-Bd. 15.) Berlin/New York 1998, 129–149.
Lokale Herren um 500
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II. BESONDERE UND HERAUSRAGENDE GRÄBER 1. Regional auffällige Bestattungen Für nur wenige Regionen liegt bislang ein Versuch vor, lokale Herren um 500 auszumachen. Einen frühen Anlauf unternahm Hermann Ament, der ausgehend von den Befunden in Flonheim „frühmerowingische Adelsgräber im nördlichen Rheinhessen“ kartierte.29 Anhand wechselnder Kriterien, aber grundsätzlich ‚reicher‘ und qualitätvoller Grabbeigaben wurden auf diese Weise herausgehobene Männer in Kempten bei Bingen, Bretzenheim bei Mainz, Selzen, Eich, Eichloch, Flonheim und Planig30 sozialgeschichtlich klassifiziert. Auf ähnliche Weise kartierte Françoise Vallet für die Picardie herausragende Männergräber der Zeit Chlodwigs und seiner Söhne31; als Kennzeichen galten ihr Ango sowie Edelmetall an Kleidungsbestandteilen und Bewaffnung (Abb. 3). Neben den von Ament bereits genannten Gräbern werden im Mannheimer Ausstellungskatalog zu den Franken als ‚Wegbereitern Europas‘ weitere ‚Herren‘ (und wenige ‚Damen‘) aufgeführt und als ‚Funktionsträger‘ des fränkischen Königs interpretiert, die dieser an ausgewählten Orten zum Zwecke der Herrschaftsausübung eingesetzt habe (Tab. 1).32 Die Interpretation zielt damit ebenso über den lokalen Rahmen hinaus, wie sie Herrschaft ausschließlich zentralistisch bzw. territorialstaatlich sowie reichlich statisch versteht. Meist werden wie in diesen Fällen kleinregional auffällige Gräber hervorgehoben, ohne dass man klare und vergleichbare Kriterien heranzöge. Weder ein großräumiger Überblick noch ein detaillierter Vergleich sind damit möglich. Dies gilt auch dann, wenn man einzelne herausragende Bestattungen berücksichtigt, die bislang nicht in einen kleinregionalen Kontext ihrer Zeit eingeordnet worden sind. Es fehlt sowohl an überregional vergleichenden Ansätzen als auch an deren Erfolgsaussichten, weil sich Regionen und Orte deutlich unterscheiden; doch läge in 29 Hermann Ament, Fränkische Adelsgräber von Flonheim in Rheinhessen. (Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit B 5.) Berlin 1970, 154, Abb. 18. 30 Misslicherweise auch als ‚Fürstengrab‘ bekannt: Peter Thaddäus Kessler, Das Fürstengrab von Planig in Rheinhessen, in: Mainzer Zeitschrift 35, 1940, 1–12; Alexandra Hilgner, Das Prunkgrab von Planig. Neubearbeitung eines Altfundes, in: Mainzer Zeitschrift 105, 2010, 41–86. – Die neutrale, analytische Bezeichnung ‚Prunkgrab‘ hat sich in der neueren Forschung durchgesetzt: Claus von Carnap-Bornheim/Dirk Krauße/Anke Wesse (Hrsgg.), Herrschaft, Tod, Bestattung. Zu den vor- und frühgeschichtlichen Prunkgräbern als archäologischhistorische Quelle. (Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 139.) Bonn 2006. 31 Françoise Vallet, Les tombes de chef, reflet de l’histoire de la conquête, in: La Picardie, berceau de la France. Clovis et les derniers Romains. 1500ème anniversaire de la bataille de Soissons 486–1986. Amiens 1986, 113–119, hier 114, Abb. 66. 32 Ursula Koch/Karin von Welck/Alfried Wieczorek, V. 2. Die Ausbreitung der fränkischen Herrschaft auf Mittel- und Südgallien, in: Die Franken – Wegbereiter Europas. Mainz 1996, 884.
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der genaueren Kenntnis der zeitgenössischen Unterschiede und Handlungsmöglichkeiten ein wesentlicher Gewinn. Ort
Geschlecht
besondere Grabbeigaben
Datierung
Lage
Arcy-Sainte-
Mann
Goldgriffspatha, Eimer
um 500
Reihengräberfeld
Mann
Goldgriffspatha, Ango, Zaum-
Ende 5. Jh.
kleines Reihen-
Restitue, Grab 1276 (F) CharlevilleMézière,
zeug, Cloisonné
gräberfeld
Grab 68 (F) Eich (D)
Mann
Scheidenmundblech mit Cloi-
um 500
einzeln?
Ende 5. Jh.
kleines Reihen-
sonné Flonheim,
Mann
Grab 5 (D) Flonheim,
der Mann
Grab 9 (D) Koblenz-
Goldgriffspatha, Ango, SaufeSpatha, Ango, almandinver-
gräberfeld um 500
Kirche
Zaumzeug
Anfang 6. Jh.
Reihengräberfeld
Goldgriffspatha, Almandinbe-
Ende 5. Jh.
Reihengräberfeld
Ende 5. Jh.
zierte Schnalle (Pferd)
Rübenach, Grab 46 (D) Lavoye, Grab
Mann
319 (F) Lezoux (F)
schläge, Ango (?) Frau
6 Goldanhänger, 2 Silberblechfibeln
Louvres,
Mann
Ende 5. Jh.
Grab 159 (F) Planig,
Mann
Grab 1 (D) WiesbadenBiebrich (D)
separate Grabgruppe, dann Kirche
Goldgriffspatha, Goldfäden,
Anfang 6. Jh.
weitere Gräber
um 500
Spangenhelm Mann
Ango, Spatha, Bratspieß, Geschirrsatz
Tab. 1 Lokale ‚Herren‘ und ‚Damen‘ im Merowingerreich der Jahrzehnte um 500, anhand auffälliger Grabbeigaben ausgewählte Grabfunde (zusammengestellt nach: Die Franken – Wegbereiter Europas. Mainz 1996, 884–902).
Alle Untersuchungen gehen von der Voraussetzung aus, dass sich Rang und Macht archäologisch durch aufwändige Bestattungen zu erkennen geben. Dies gilt für ländliche Gebiete ebenso wie etwa für Köln, wo Herrschaftsnähe mit offenkundiger Repräsentation im Grab einherging.33 Doch gibt es gerade für städtisches Milieu und dessen Umfeld im nordöstlichen Gallien gänzlich gegenteilige Befun 33 Heiko Steuer, Archäologie und germanische Sozialgeschichte. Forschungstendenzen in den 1990er Jahren, in: Klaus Düwel (Hrsg.), Runische Schriftkultur in kontinentalskandinavischer und -angelsächsischer Wechselbeziehung. (RGA Erg.-Bd. 10.) Berlin/New York 1994, 10–55, hier 28.
Lokale Herren um 500
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de. So ließ sich für Metz34 und Tournai (mit Ausnahme des dortigen Childerichgrabes)35 zeigen, dass diese Zentralorte und ihr Umfeld Gräber mit umfänglicher Beigabenausstattung vermissen lassen (Abb. 4). Dort demonstrierte man Herrschaftsnähe offenkundig nicht während der Bestattung, sondern bereits zu Lebzeiten und damit auf eine andere Weise, die sich dem unmittelbaren archäologischen Nachweis entzieht. Und auch viele frühe Reihengräber weisen noch nicht jene umfänglichen und differenzierten Grabausstattungen auf, wie sie seit dem 6. Jahrhundert üblich wurden. 2. ‚Gründergräber‘ auf Reihengräberfeldern? Auf frühen Reihengräberfeldern findet sich nicht selten jeweils ein überdurchschnittlich umfänglich ausgestattetes Grab, das oft als ‚Gründergrab‘ bezeichnet und interpretiert wird. Gemeint ist, der darin bestattete Mann (u.U. auch eine Frau) habe wahrscheinlich für die lokale Gesellschaft eine führende Position eingenommen und zu einer höherrangigen Familie gehört. Auf diesen Personenverband gehe die Gründung des Gräberfelds zurück, die diese Leute mit dem ersten Grab des neuen Bestattungsplatzes symbolisiert hätten. Dass gleichzeitig mit dem Gräberfeld auch die Siedlung gegründet worden wäre, ist eine verbreitete Annahme, die sich durch nichts beweisen lässt. Ebenso wahrscheinlich ist es, dass bei fortbestehender Siedlung ein neuer Bestattungsplatz eingerichtet wurde; gerade diesen Befund reflektieren das generelle Aufkommen der Reihengräberfelder in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts und die damit verbundenen Repräsentationsbemühungen. Zwei Aspekte bedürfen besonderer Aufmerksamkeit: die Datierung und der Gründungskontext. Frühe ‚Gründergräber‘ gehören mit Hermann Ament in die Stufe Flonheim-Gültlingen36 und damit in die Zeit Childerichs bzw. die Jahrzehnte um 500 (Abb. 2). In manchen Fällen stellen diese ‚reichen‘ Gräber tatsächlich die ältesten Bestattungen dar, mit denen die Belegung eines Friedhofs oder zumindest eines seiner Teile begann. Nicht immer sind es jedoch ‚Gründergräber‘ im engeren Sinne, d.h. unmittelbar mit der ‚Anlage‘ eines Reihengräberfelds verbunden. Dieser Fall scheint häufiger zu sein als bislang gedacht und hat seine Ursache in den Grabausstattungen und ihrer Datierbarkeit. Umfängliche Grabbeiga 34 Guy Halsall, Settlement and Social Organization. The Merovingian Region of Metz. Cambridge 1995, 107f., Abb. 3.23–3.24; 260. 35 Frans Theuws/Monica Alkemade, A Kind of Mirror for Men. Sword Depositions in Late Antique Northern Gaul, in: Frans Theuws/Janet L. Nelson (Hrsgg.), Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages. (The Transformation of the Roman World 8.) Leiden/Boston/Köln 2000, 401–476, hier 462, Abb. 10. Bei Schlussfolgerungen e silentio verbleibt selbstverständlich eine gewisse Unsicherheit. – Vgl. zu den Schwertfunden Svante Fischer, Les seigneurs des anneaux. (Bulletin de liaison de l’Association française d’Archéologie mérovingienne, hors-série 2.) 2. Aufl. Saint-Germain-en-Laye 2008. 36 Ament, Flonheim (wie Anm. 29), 62; 151‒156.
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ben – wie bei den ‚Gründergräbern‘ – lassen sich besser datieren als Gräber ohne oder mit geringer, kaum charakteristischer Ausstattung. Für Teile Bayerns lässt sich nun erkennen, dass Reihengräberfelder mit ‚beigabenarmen‘ Bestattungen einsetzten und sich erst im Laufe der frühen Merowingerzeit zu den bekannten, umfänglich ausgestatteten Friedhöfen entwickelten.37 In diesen Fällen ‚fehlt‘ ein reich ausgestattetes ‚Gründergrab‘. Anderenorts wie im mittelrheinischen KrefeldGellep ist angesichts ‚bescheiden‘ ausgestatteter Gräber im Umfeld nicht klar, ob man mit dem umfänglich ausgestatteten Männergrab 1782 (das Spangenhelm und Ringschwert, weitere Waffen und Pferdezaumzeug, Gefäße aus Glas und Bronze enthielt)38 tatsächlich ein neues Gräberfeldareal begründete.39 Neben der relativen Datierung der Gräber ist es von Bedeutung, ob es ‚lokale Herren‘ bzw. deren Familien waren, die ein ‚Gründergrab‘ anlegten. Denn eine herrschaftliche Einordnung ist nur eine von mehreren möglichen Interpretationen. Ebenso ließe sich annehmen, dass es Anliegen der gesamten Bevölkerung einer Siedlung war, ihren Friedhof einzurichten; die ‚reiche‘ Ausstattung müsste man dann mit der Beteiligung einer größeren Gruppe erklären, die gemeinschaftlich in das erste Begräbnis investierte.40 Beide Interpretationen sind die Enden einer Skala, auf der man sich verschiedene Lösungen im Einzelfall vorstellen kann. 3. Gräber in Kirchen In einer Kirche oder in deren Nähe bestattet zu werden, hat die archäologische Forschung als Hinweis auf das Aufkommen eines frühmittelalterlichen Adels betrachtet.41 Unabhängig davon lässt sich die herausgehobene Bestattung in einem 37 Hubert Fehr, Unsichere Zeiten. Bayern um 500, in: Karfunkelstein und Seide (wie Anm. 21), 46‒61, hier 59. ‒ Vgl. Doris Gutsmiedl-Schünemann, Das frühmittelalterliche Gräberfeld Aschheim-Bajuwarenring. (Materialhefte zur bayerischen Vorgeschichte A 94.) Kallmünz (Opf.) 2010, 39; 63. 38 Renate Pirling, Ein fränkisches Fürstengrab aus Krefeld-Gellep, in: Germania 42, 1964, 188– 216; dies., Das römisch-fränkische Gräberfeld von Krefeld-Gellep 1960‒1963. (Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit B 8.) Bd. 2. Berlin 1974, 61‒68, Taf. 44‒52 und 154; dies., Römer und Franken in Krefeld-Gellep. Mainz 1986, 136‒137, Abb. 119; 138‒139, Abb. 120; 139‒164. 39 Vorsichtig Frank Siegmund, Alemannen und Franken. (RGA Erg.-Bd. 23.) Berlin/New York 2000, 371: Ostnekropole „beginnend wohl mit dem bekannten Fürstengrab 1782“. 40 Heiko Steuer, Frühgeschichtliche Sozialstrukturen in Mitteleuropa. Eine Analyse der Auswertungsmethoden des archäologischen Quellenmaterials. (Abh. der Akademie der Wissenschaften Göttingen, phil.-hist. Kl., 3. Folge 128.) Göttingen 1982, 460f. 41 Böhme, Adelsgräber im Frankenreich (wie Anm. 20). Zu Recht kritisch Eyla Hassenpflug, Das Laienbegräbnis in der Kirche. Historisch-archäologische Studien zu Alemannien im frühen Mittelalter. (Freiburger Beiträge zur Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends 1.) Rahden 1999, 229: „Die These vom ‚Nobilifizierungsprozeß‘, also der Entstehung des Adels, der sich an der innerkirchlichen Begräbnissitte fassen ließe, ist problematisch, da sie im wesentlichen auf der Beurteilung des archäologischen Befundes beruht. Zum einen lassen
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Kirchenbau als Demonstration einer besonderen sozialen Stellung interpretieren. In das frühe 6. Jahrhundert gehören beispielsweise die Gräber einer Frau und eines Jungen, die vor etwa 50 Jahren unter dem Kölner Dom gefunden wurden42; dendrochronologisch sind sie auf 537 ± 10 datiert.43 Die umfänglichen Grabausstattungen machen deutlich, dass an diesem wichtigen Platz hochrangige Personen von überregionaler Bedeutung ihre letzte Ruhe gefunden hatten. Gleiches gilt für andere städtische Kirchen. Genannt sei etwa Saint-Denis, wo die Ausgrabungen eine Vielzahl frühmittelalterlicher Sarkophage aufdeckten44 und auch die vieldiskutierte Ar(n)egunde fanden.45 Archäologische Beobachtungen dieser Art liegen nur selten vor, fehlt es doch an Ausgrabungen an entsprechenden Orten, und es wurden viele Befunde zerstört, wofür Sainte-Geneviève (zuvor Saints-Apôtres) in Paris stehen mag, wo Chlodwig und seine Frau Chlotilde bestattet worden waren.46 Kirchen im ländlichen Raum dürften auf lokale Machthaber hinweisen, ohne dass es hierbei auf die Unterscheidung zwischen Eigenkirche und Stiftergräbern
42
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45
46
aber die Grabbeigaben einen Rückschluß auf den Rechtsstatus der bestatteten Personen, auf ihre Zugehörigkeit zu einem Stand, nicht zu. Zum anderen muß in Frage gestellt werden, ob die innerkirchliche Bestattungssitte als Ausdruck des adligen Formierungsprozesses quasi aus sich heraus zu erklären ist.“ Vgl. Sebastian Ristow, Grab und Kirche. Zur funktionalen Bestimmung archäologischer Baubefunde im östlichen Frankenreich, in: RQ 101, 2006, 214– 239. Zuletzt: Sebastian Ristow, Gräber im Kirchenraum? Zur Bedeutung der reich ausgestatteten fränkischen Gräber unter dem Kölner Dom, in: Kölner Domblatt 76, 2011, 27–45; ders., Die frühen Kirchen unter dem Kölner Dom. Befunde und Funde vom 4. Jahrhundert bis zur Bauzeit des Alten Domes. (Studien zum Kölner Dom 9.) Köln 2002. Steuer, Datierungsprobleme (wie Anm. 28), 144, Anm. 23. Michel Fleury/Albert France-Lanord, Les trésors mérovingiens de la basilique de SaintDenis. Woippy 1998; Patrick Périn, Les tombes mérovingiennes de la basilique de SaintDenis. Nouvelles recherches interdisciplinaires, in: Uta von Freeden/Herwig Friesinger Herwig/Egon Wamers (Hrsgg.), Glaube, Kult und Herrschaft. Phänomene des Religiösen im 1. Jahrtausend n. Chr. in Mittel- und Nordeuropa. (Kolloquien zur Vor- und Frühgeschichte 12.) Bonn 2009, 173–183. Helmut Roth, Zweifel an Aregunde, in: Gedenkschrift für Gero von Merhart zum 100. Geburtstag. (Marburger Studien zur Vor- und Frühgeschichte 7.) Marburg 1986, 267–276; Heino Neumayer, Königliche Bestattungen, königliche Bücher. Zur Publikation der Gräber aus Saint-Denis von Michel Fleury, in: Germania 78, 2000, 449–462. Vgl. Michael Müller-Wille, Zwei religiöse Welten. Bestattungen der fränkischen Könige Childerich und Chlodwig. (Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz, Abh. der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Kl. 1998/1.) Stuttgart 1998, der jedoch die religiösen Unterschiede zwischen den Bestattungen Childerichs und Chlodwigs überschätzt – in beiden Fällen war die Repräsentation entscheidend, nicht die Religion. – Zum Chlodwig-Grab: Patrick Périn, La tombe de Clovis, in: Media in Francia. Recueil de mélanges offerts à Karl Ferdinand Werner à l’occasion de son 65e anniversaire par ses amis et collègues français. Paris 1989, 363–378; ders., The Undiscovered Grave of King Clovis I († 511), in: Martin Carver (Hrsg.), The Age of Sutton Hoo. The Seventh Century in North-Western Europe. Woodbridge 1992, 255–264.
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ankäme.47 Es überrascht angesichts der historischen Entwicklung nicht, dass frühe Kirchen aus dem nördlichen Gallien und dem Rheinland oder der nordwestlichen Schweiz archäologisch bekannt sind (Abb. 5).48 Aber auch dort ist ihre Anzahl bislang beschränkt geblieben (zumal wegen sehr begrenzter archäologischer Untersuchungen und Dokumentationen), und zugleich bereitet die Datierung Probleme.49 Präzise zeitliche Einordnungen gelingen entweder über umfängliche und gut zu identifizierende Grabausstattungen oder mit Hilfe der Dendrochronologie. Beides ist nur sehr selten der Fall, und deshalb zeigt Böhmes zusammenfassende Kartierung kaum 20 einschlägige Plätze aus dem gesamten 6. Jahrhundert.50 Manches Grab, das in den hier interessierenden Zeitraum gehört, dürfte mangels hinreichender Datierungsmöglichkeiten unberücksichtigt geblieben sein. Im alemannischen Raum setzten Kirchenbau und Bestattungen in oder bei Kirchen erst im 7. Jahrhundert (und nicht auf den bisherigen Reihengräberfeldern, sondern inmitten der dörflichen Siedlungen) ein51, so dass dort für die Frühzeit keine entsprechenden Aussagen möglich sind.52 Ungeklärt und am archäologischen Befund kaum zu entscheiden sind Funktion und Nutzung der Kirchenbauten. Was für Gräber in Kirchen zutrifft, gilt nicht in gleicher Weise für Bestattungen im Umfeld von Kirchen. Dort entstanden im frühen Mittelalter Friedhöfe, auf denen die Toten lokaler Bevölkerungen zur Ruhe gebettet wurden; sie blieben damit unter den Lebenden, während sie in der Antike noch stets außerhalb der Siedlungen bestattet worden waren. Das Begräbnis auf einem Friedhof allein spiegelt also kein besonderes Prestige oder eine herausgehobene soziale Stellung wider, zumal die Seltenheit von Grabbeigaben ebenda keine weiteren Unterschei 47 Michael Borgolte, Stiftergrab und Eigenkirche. Ein Begriffspaar der Mittelalterarchäologie in historischer Kritik, in: ZAMA 13, 1985, 27–38; Hassenpflug, Das Laienbegräbnis in der Kirche (wie Anm. 41), 79–86. 48 Für das Rheinland vgl. Sebastian Ristow, Frühes Christentum im Rheinland. Die Zeugnisse der archäologischen und historischen Quellen an Rhein, Maas und Mosel. Münster 2007; für die Nordwestschweiz Marti, Zwischen Römerzeit und Mittelalter (wie Anm. 17), 146‒201. 49 Angekündigt ist: Antje Kluge-Pinsker/Andrea Nisters/Barbara Theune-Großkopf, Handbuch der frühmittelalterlichen Kirchen in Frankreich. (Kataloge vor- und frühgeschichtlicher Altertümer.) 3 Bde. Mainz. 50 Horst Wolfgang Böhme, Adel und Kirche bei den Alamannen der Merowingerzeit, in: Germania 74, 1996, 477–507, hier 480, Abb. 1. 51 Barbara Scholkmann, Frühmittelalterliche Kirchen im alemannischen Raum. Verbreitung, Bauformen und Funktion, in: Sönke Lorenz/Barbara Scholkmann (Hrsgg.), Die Alemannen und das Christentum. (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 48.) LeinfeldenEchterdingen 2003, 125–152; Niklot Krohn, Memoria, fanum und Friedhofskapelle. Zur archäologischen und religionsgeschichtlichen Interpretation von Holzpfostenstrukturen auf frühmittelalterlichen Bestattungsplätzen, in: Christel Bücker u.a. (Hrsgg.), Regio archaeologica. Archäologie und Geschichte an Ober- und Hochrhein. Festschrift Gerhard Fingerlin. (Studia honoraria 18.) Rahden 2002, 311–335. Vgl. Peter Eggenberger, Frühmittelalterliche Holzkirchen im Kanton Bern. Ein Beitrag zu Typologie und grabungstechnischer Problematik, in: Adriano Boschetti-Maradi u.a. (Hrsgg.), Fund-Stücke – Spuren-Suche. Festschrift Georges Decœudres. (Zurich Studies in the History of Art 17–18.) Berlin 2011, 181–197. 52 Hassenpflug, Das Laienbegräbnis in der Kirche (wie Anm. 41), 59‒76; 224‒226.
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dungen erlaubt. Normativ trennte man seinerzeit allerdings kaum zwischen Bestattungen in und solchen neben der Kirche – beide Orte wurden als cimiterium bezeichnet.53 III. WAFFEN UND ANDERE RANGSYMBOLE Neben den wenigen Regionalstudien konzentriert sich die archäologische Suche nach ‚lokalen Herren‘ auf auffällige Grabbeigaben. Bestimmte Waffenformen beispielsweise gelten wegen ihrer Besonderheiten und Seltenheit der archäologischen Forschung als Rangsymbole. Damit ist zugleich bereits gesagt, dass auf diese Weise vor allem herausragende Männer identifiziert werden können; bei Frauen ist die (auch regionale) Variabilität von Kleidungsbestandteilen und Schmuck weitaus größer, was die vergleichende Einordnung erschwert. Doch auch die Fundkombinationen in den Männergräbern sind überaus variantenreich und unterstreichen, wie sehr die seinerzeitigen Veränderungen, individuelle Positionierungen, die Niederlegung im Grab sowie schließlich die Entdeckungsgeschichte das heute noch zu zeichnende Bild beeinflussen. Rangsymbole oder ‚Herrschaftszeichen‘ im engeren Sinne lassen sich zur Zeit Chlodwigs nicht mehr in den Gräbern finden. Während des 5. Jahrhunderts fallen noch goldene Kolbenarmringe54 oder goldene Zwiebelknopffibeln55 auf, die aus sehr reichen Grabausstattungen bekannt geworden sind – eines davon ist das Grab des Childerich.56 Diese Zeichen dürfen als antik gelten und verloren mit dem beginnenden Mittelalter ihre Bedeutung; zumindest sind sie in den Männergräbern dann nicht mehr zu finden. Zugleich hatten sie wohl mehr als lediglich lokale Macht symbolisiert, wie die reichen Grabfunde des 5. Jahrhunderts belegen.57
53 Hassenpflug, Das Laienbegräbnis in der Kirche (wie Anm. 41), 69. 54 Ursula Koch, Kolbenarmring, in: RGA2 17, 2001, 169–174. Ebd. 172, Abb. 22, findet sich eine Karte der Kolbenarmringe in Frauengräbern des 5. und 6. Jh. 55 Vgl. Barbara Deppert-Lippitz, A Late Antique Gold Fibula in the Burton Y. Berry Collection, in: Adriana Calinescu (Hrsg.), Ancient Jewellery and Archaeology. Bloomington/Indianapolis 1996, 235‒243; dies., Überlegungen zur goldenen Zwiebelknopffibel aus dem gepidischen Fürstengrab Apahida I, in: Annales universitatis Apulensis, Series historica 11, 2007, 28‒43. 56 In der zweiten Hälfte des 5. Jh. in Apahida Grab 1, Pouan, Blučina, Großörner Grab 19, Mezöberény; Siegmund, Alemannen und Franken (wie Anm. 39), 323, Anm. 36. – Ebd. außerdem Verweis auf goldene Siegelringe in Apahida Grab 1, Tournai und Pouan. 57 Vgl. Alfried Wieczorek/Patrick Périn (Hrsgg.), Das Gold der Barbarenfürsten. Schätze aus Prunkgräbern des 5. Jahrhunderts n. Chr. zwischen Kaukasus und Gallien. Stuttgart 2001.
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1. Bewaffnung Erscheinen die Stückzahlen von Goldgriffspathas und Ringschwertern, Spangenhelmen oder Angones auch auf den ersten Blick gering, so bilden sie doch nur eine recht kleine Stichprobe einer einst sehr viel größeren, mindestens auf das Hundertfache zu schätzenden Menge. Damit relativiert sich die scheinbare Exzeptionalität der Waffen deutlich, so dass sie durchaus mit lokalen Machthabern zu verbinden sind, von denen sich jedoch überlieferungsbedingt nur einige archäologisch fassen lassen – und also kein Gesamtüberblick geboten werden kann. Weitere besondere, qualitätvolle Grabausstattungen lassen sich dann eher selten als herrschaftlich einordnen. Nicht nur die Anzahl der einschlägigen Funde ist überschaubar, auch ihre Datierung ist kaum auf die Zeit ‚um 500‘ zu begrenzen. Weitere Grabbeigaben zeigen, dass Schwerter und Helme über längere Zeit in die Gräber gelangten. Das bedeutet noch keinen Beleg für einen längeren Herstellungszeitraum, sondern dürfte zunächst damit zusammenhängen, dass prestigeträchtige Waffen weitergereicht und von späteren Besitzern erneut verwendet wurden, mit denen man sie dann begrub.58 1. Besonderes Interesse haben die Goldgriffspathas gefunden, von denen eine im Grab des Childerich in Tournai entdeckt wurde.59 Diese zweischneidigen Schwerter besitzen ein (überwiegend nur auf der Vorder- oder Schauseite) mit Goldfolie belegtes Heft, das sie von anderen zeitgenössischen Spathas unterscheidet; Vorbilder für diese Folienauflage werden entweder im Imperium oder bei Reiternomaden oder in der Germania gesucht, ohne dass sich bislang Eindeutiges sagen ließe.60 Mehr als 20 Funde liegen aus West- und Mitteleuropa vor61 (Tab. 262; Abb. 4; 6); ihre Datierung wird debattiert, wovon wiederum die historische Interpretation beeinflusst ist und umgekehrt. Während manche die Goldgriffspathas erst dem späten 5. Jahrhundert zurechnen und damit für jünger als die noch zu nennenden ‚Krefelder Schwerter‘ halten63, 58 Vgl. Heinrich Härke, The Circulation of Weapons in Anglo-Saxon Society, in: Frans Theuws/Janet L. Nelson (Hrsgg.), Rituals of Power. From Late Antiquity to the Early Middle Ages. (The Transformation of the Roman World 8.) Leiden/Boston/Köln 2000, 377–400. 59 Dieter Quast, Höhensiedlungen, donauländische Einflüsse, Goldgriffspathen. Veränderungen im archäologischen Material der Alamannia im 5. Jahrhundert und deren Interpretation, in: Jaroslav Tejral (Hrsg.), Probleme der frühen Merowingerzeit im Mitteldonauraum. (Spisy Archeologického ústavu AV ČR Brno 19.) Brünn 2002, 273–295. – Andreas Schäfer, The Goldgrip Swords of Central and Western Europe. A Reappraisal. MA Thesis Oxford 1991. 60 Quast, Höhensiedlungen (wie Anm. 59), 285. 61 Marius Miche, Die Goldgriffspathas der frühen Merowingerzeit. Magisterarbeit Freiburg 2011, mit aktueller und sehr detaillierter Übersicht. 62 Für die eingehende Diskussion über die Datierung der hier und im Folgenden aufgeführten Grabfunde danke ich Susanne Brather-Walter herzlich. 63 Siegmund, Alemannen und Franken (wie Anm. 39), 320; Max Martin, Bemerkungen zur chronologischen Gliederung der frühen Merowingerzeit, in: Germania 67, 1989, 121‒141; Quast, Höhensiedlungen (wie Anm. 59), 282.
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betrachten andere beide Schwertformen als ungefähr gleichzeitig.64 Im letzteren Fall wären spätantike und östliche Verbindungen parallel, sonst zeitlich etwas versetzt gewesen – aus archäologisch-historischer Sicht eine marginale Differenz. Denn jenseits des Streits um den Produktionszeitraum deuten etliche Gräber darauf hin, dass zumindest manche Goldgriffspathas erst im frühen 6. Jahrhundert in die Erde gelangten.65 Entgegen älteren Annahmen lässt sich eine typologische Unterscheidung von fränkischen und alemannischen Varianten der Schwertscheiden und ihrer Verzierungen nicht mehr aufrechterhalten; beide Formen kommen in weiteren Gebieten vor, und allein in Südwestdeutschland finden sich mehrere, einander sehr ähnliche Schwerter.66 Wo die Klingen produziert wurden – und ob es sich um spätrömische Produkte handelt67 –, lässt sich bislang mangels materialkundlicher Untersuchungen nicht entscheiden. Die meist einseitige Auflage einer Goldfolie auf dem Schwertheft ist angesichts ihrer Fragilität kaum mit einem praktischen Gebrauch der Waffe zu vereinbaren68; sie verleiht dem Schwert vielmehr symbolische Bedeutung – und ist kein stichhaltiges Argument, ihre Anfertigung erst für die Bestattung anzunehmen. Von der Goldfolie abgesehen, teilen die Goldgriffspathas viele Kennzeichen mit anderen Schwertern dieser Zeit; deshalb sind Einzelelemente wie Scheidenbeschläge auch kein hinreichendes Argument dafür, das ehemalige Vorhandensein einer Goldgriffspatha zu postulieren. Und umgekehrt bilden weder die Goldgriffspathas eine homogene Gruppe noch die sie enthaltenden Gräber.69 64 Wilfried Menghin, Das Schwert im frühen Mittelalter. Chronologisch-typologische Untersuchungen zu Langschwertern aus germanischen Gräbern des 5. bis 7. Jahrhunderts n. Chr. (Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, Wissenschaftlicher Beibd. 1.) Stuttgart 1983, 27‒61; Horst Wolfgang Böhme, Der Frankenkönig Childerich zwischen Attila und Aëtius. Zu den Goldgriffspathen der Merowingerzeit, in: Claus Dobiat (Hrsg.), Festschrift Otto-Herman Frey. (Marburger Studien zur Vor- und Frühgeschichte 16.) Marburg 1994, 69‒110, hier 82‒ 98 (ausführlich und detailliert). 65 Vgl. etwa Menghin, Das Schwert (wie Anm. 64), der eine ganze Reihe von Goldgriffspathas in die Jahrzehnte zwischen 480 und 520 datiert. – Vgl. Tab. 2. 66 Quast, Höhensiedlungen (wie Anm. 59), 286. 67 Böhme, Der Frankenkönig Childerich (wie Anm. 64), 98‒103 (mit Verbreitungskarte), verweist darauf, dass die zugehörigen Schnallen mediterranen Vorbildern folgen oder gar mediterraner Herkunft sind. Quast, Höhensiedlungen (wie Anm. 59), 284, merkt an, dass aus dem mediterranen Raum bislang kein vergleichbarer Fund eines Schwertes bekannt geworden ist. 68 Für die südwestdeutschen Schwerter von Pleidelsheim, Gültlingen und Sindelfingen ist Waschgold aus dem Rhein als Rohmaterial wahrscheinlich; Axel Hartmann/Rotraut Wolf, Vergleichende Spektralanalysen an einigen frühmittelalterlichen Goldfunden und Goldblattkreuzen, in: Wolfgang Hübener (Hrsg.), Die Goldblattkreuze des frühen Mittelalters. (Veröffentlichungen des Alemannischen Instituts Freiburg 37.) Bühl 1975, 23‒30, hier 27, Tab. 1. 69 Siegmund, Alemannen und Franken (wie Anm. 39), 326, nimmt mit Verweis auf die Grabausstattungen insgesamt allein letzteres an. – Vgl. hier Tab. 2 sowie Koch, Pleidelsheim (wie Anm. 27), 291, Tab. 7.
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Pferd
Schild
Pfeile
Ango
Lanze
Arcy-Sainte-Restitue (F) Baden-Oos (D) Blučina (CZ) Bräunlingen, Grab 5 (D) Charleville-Mézières, Grab 68 (F) Entringen, Grab 1904 (D) Entringen, Grab 1927 (D)* Flonheim, Grab 5 (D) Gültlingen, Grab 1901 (D) Hemmingen, Grab 2 (D) Joches, Grab 2 (F)* Kleinhüningen, Grab 212 (CH) Kleinhüningen, Grab 63 (CH) Köln, St. Severin, Grab 205 (D) Lavoye, Grab 319 (F) Planig (D)* Pleidelsheim, Grab 71 (D) Pouan (F) Rommersheim (D)* Rue-Saint-Pierre (F) Tournai (B)
Axt
Sax
Sebastian Brather
2. Hälfte 5. Jh. 3. Viertel 5. Jh. Ende 5. Jh. 3. Viertel 5. Jh. Ende 5. Jh. um 500 Ende 5. Jh. Ende 5. Jh. Ende 5. Jh.
Datierung des Grabes um 500 Ende 5. Jh. 3. Viertel 5. Jh. um 500 Ende 5. Jh.
?
Ende 5. Jh. Anfang 6. Jh. ca. 480–510 3. Viertel 5. Jh. 3. Viertel 5. Jh. um 500 ca. 481/82
Tab. 2 Männergräber mit Goldgriffspatha (Gold und Almandine), Waffenausstattung. Aus Bräunlingen stammt lediglich ein entsprechendes Scheidenmundblech, und bei älteren Funden ist das Grabinventar oft nicht gesichert. – Weitere Grabbeigaben: * bronzenes Becken (ergänzt nach Siegmund, Alemannen und Franken [wie Anm. 39], 324, Abb. 174; Datierung überwiegend nach den Originalpublikationen).
Unter den mit einer Goldgriffspatha Bestatteten ragt allein Childerich heraus. Mit Ausnahme des Königs stellten die Männer regionale Anführer und damit allenfalls eine ‚zweite Garnitur‘ von Chefs dar. Bei den südwestdeutschen Schwertbesitzern scheint es sich sogar um einige lokale Herren gehandelt zu haben; ihre Gräber fanden sich innerhalb örtlicher Reihengräberfelder und damit in die Lokalgesellschaft eingebunden. Das ist nicht überraschend, gab es doch beim Bestattungsort nur die Alternative zwischen lokalem Friedhof und einem eigenen, separaten Platz. 2. Noch seltener als die Goldgriffspathas sind die bereits erwähnten Schwertscheiden des ‚Typs Krefeld‘, von denen bislang ein Dutzend bekannt gewor-
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Lokale Herren um 500
Lanze
Ango
Pfeile
Schild
Abingdon, Grab 42 (GB) Gellep, Grab 43 (D) Hemmingen, Grab 21 (D) Möhringen, Grab 3 (D) Neresheim, Grab 45 (D) Oberlörick (Düsseldorf), Grab 13 (D) Petersfinger, Grab 21 (GB) Samson, Grab 11 (B) Samson, Grab 12 (B)* Vieuxville, Grab 14 (B) Wenigumstadt, Grab 141 (D) Wyhl, Grab 22 (D)
Axt
den ist (Tab. 3; Abb. 4; 6).70 Bei ihnen handelt es sich im Kern um aus Bronze gegossene und ornamentierte Scheidenmundbleche, die in spätrömischer Tradition stehen. Deshalb sieht Böhme in ihnen Produkte spätantiker Werkstätten des Militärs.71 Doch dass die mit ihnen Bestatteten ‚germanische Krieger‘ gewesen seien, stützt sich allein auf die Annahme, ‚Römer‘ wären nicht mit Waffen beigesetzt worden – eine angesichts der komplexen Verhältnisse im spätantiken Nordgallien wenig plausible These.72
Datierung des Grabes 3. Viertel 5. Jh. 3. Viertel 5. Jh. 3. Viertel 5. Jh. 2. Hälfte 5. Jh. 1. Viertel 6. Jh. 2. Hälfte 5. Jh. 2. Hälfte 5. Jh. 2. Hälfte 5. Jh. 2. Hälfte 5. Jh. 2. Hälfte 5. Jh. 3. Viertel 5. Jh. 2. Hälfte 5. Jh.
Tab. 3 Männergräber mit Spatha vom ‚Typ Krefeld/Samson/Abingdon‘, Waffenausstattung. – Weitere Grabbeigaben: * bronzenes Becken (ergänzt nach Siegmund, Alemannen und Franken [wie Anm. 39], 322, Abb. 173; Datierung überwiegend nach den Originalpublikationen).
Auch die Männer mit einer Spatha vom ‚Typ Krefeld‘ bilden keine einheitliche Gruppe, wie die Grabausstattungen zeigen (Tab. 3). Anders als bei den mit Goldgriffspatha ausgerüsteten Männern fehlt hier mit dem Sax ein einschneidiges Schwert. Ebenso mangelt es an Hinweisen auf Pferde und Reiten. Beides mag seine Ursache jedoch eher im Bestattungsritual als in der tatsächlichen Ausrüstung besessen haben.
70 Karte bei Böhme, Der Frankenkönig Childerich (wie Anm. 64), 86, Abb. 11. 71 Böhme, Der Frankenkönig Childerich (wie Anm. 64), bes. 102f. Vgl. ders., Das Ende der Römerherrschaft in Britannien und die angelsächsische Besiedlung Englands im 5. Jahrhundert, in: Jahrbuch des RGZM 33, 1986, 469–574, hier 508–512 (Verbreitungskarte); 566f., Liste 4. 72 Grundlegend: Fehr, Germanen und Romanen (wie Anm. 9).
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Pfeile
Schild
Lanze
Ango
Axt
Aldingen, Grab 7 (D) Altlußheim (D) Basel, Gotterbarmweg, Grab 34 (CH) Blumenfeld (D) Cutry (F) Eschborn, Grab 9 (D) Esslingen-Rüdern (D) Fridingen, Grab 24 (D) Granschütz, Grab 1 (D) Groß Karben (D) Hemmingen, Grab 15 (D) Izenave (F) Kleinhüningen, Grab 139 (CH) Kleinhüningen, Grab 164 (CH) Naumburg, Grab 12 (D)
Spatha
3. Zu den besonderen, frühen Schwertern zählen schließlich schmale Langsaxe (oder lange Schmalsaxe).73 Sie kommen in einigen Gräbern mit Goldgriffspatha vor, so dass sie in dieselbe Zeit gehören dürften (Tab. 4).74 In anderen Gräbern repräsentieren sie etwas weniger herausragende Männer, und in ihnen spiegelt sich wiederum eine östliche Komponente wider. Daraus muss man jedoch nicht allein ‚Zuwanderungen‘ ableiten, wie dies in der Archäologie häufig geschieht, um dann die Frage nach der „Stammeszugehörigkeit dieser Zugezogenen“ zu stellen75; gerade wegen des Donaulaufs sind vielfältige Einflüsse aus dem östlichen Mitteleuropa und darüber hinaus keinesfalls überraschend. Dass sie nach Westen, d.h. Gallien, undeutlich werden, hat zunächst geographische Gründe. Datierung des Grabes um 500 Mitte 5. Jh. Mitte 5./Anfang 6. Jh. um 500 Ende 5. Jh. 3. Viertel 5. Jh. um 500 Ende 5. Jh. um 500 um 500 um 500
Tab. 4 Männergräber mit schmalem Langsax, Waffenausstattung. Nicht berücksichtigt sind Gräber mit Goldgriffspatha. Die meisten Gräber liegen in Süddeutschland (ergänzt nach Siegmund, Alemannen und Franken [wie Anm. 39], 325, Abb. 175; Datierung überwiegend nach den Originalpublikationen).
73 Jo Wernard, „Hic scramasaxi loquuntur“. Typologisch-chronologische Studie zum einschneidigen Schwert der Merowingerzeit in Süddeutschland, in: Germania 76, 1998, 747–787, hier 772f. 74 Siegmund, Alemannen und Franken (wie Anm. 39), 326. 75 So jedoch etwa Quast, Höhensiedlungen (wie Anm. 59), 278‒279 (Zitat 279).
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Axt
Lanze
Ango
Pfeile
Schild
Pferd
Beckum (D)* Chaouilley, Grab 20 (F)* Charleville-Mézières, Grab 66 (F) Kösching, Grab C2 (D) Krefeld-Gellep, Grab 1782 (D)*** Langenenslingen, Grab 4 (D) Mainz-Kastel (D)* Niederstotzingen, Grab 9 (D)*, ** Orsoy, Grab 3 (D)* Schretzheim, Grab 79 (D) Villers-Semeuse, Grab 16 (F) Wünnenberg, Grab 61 (D)
Sax
4. Für Ringschwerter ist charakteristisch, dass sie am Knauf ein funktionsloses, mitunter sekundär angebrachtes Ringpaar besitzen.76 Aus Gold, Silber oder Bronze gefertigt, sitzen sie an einer Seite eines aus demselben Material bestehenden, pyramidenförmigen Knaufs. Mit etwa 80 Exemplaren fällt die Anzahl deutlich höher als bei Goldgriffspathas und ‚Krefelder‘ Schwertern aus, doch erstreckt sich ihr Vorkommen auch auf ein größeres Gebiet und über einen erheblich längeren Zeitraum. Die meisten kontinentalen Funde stammen aus dem 6. Jahrhundert (Tab. 5), während die nordeuropäischen Ringschwerter überwiegend erst dem folgenden Jahrhundert und damit der jüngeren Merowingerzeit angehören.
Datierung des Grabes um 600 Anfang 6. Jh. 2./3. Viertel 6. Jh. Ende 6. Jh. Anfang 6. Jh.
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2./3. Viertel 6. Jh. Anfang 6. Jh. 1. Hälfte 7. Jh. um 600 Ende 6. Jh. um 600
Tab. 5 Männergräber mit Ringschwert (6. Jh.), Waffenausstattung. – Weitere Grabbeigaben: * bronzenes Becken, ** bronzene Kanne, *** bronzenes Geschirr (ergänzt nach Siegmund, Alemannen und Franken [wie Anm. 39], 329, Abb. 177; Datierung überwiegend nach den Originalpublikationen).
Die hohe Qualität der Grabausstattungen insgesamt deutet auch bei den Ringschwertern nicht zwingend an, dass ihre Besitzer mehr als lokale Herren darstellten. Ob es sich bei ihnen um Gefolgsleute des Königs handelte, der ihnen einander sehr ähnliche Rangzeichen überreicht hatte, muss dagegen eine ansprechende Vermutung bleiben.77 Die relativ lange Nutzung der Ringschwerter über viele Jahrzehnte ließe sich damit erklären, dass sie angesichts ihrer besonderen symbolischen Bedeutung von einer Generation zur nächsten – 76 Heiko Steuer, Helm und Ringschwert. Prunkbewaffnung und Rangabzeichen germanischer Krieger. Eine Übersicht, in: Studien zur Sachsenforschung 6, 1987, 189–236; ders., Ringschwerter, in: RGA2 25, 2003, 22–24. 77 So Steuer, Helm und Ringschwert (wie Anm. 76), passim.
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Sebastian Brather
vom Vater auf den Sohn – weitergereicht wurden (und nicht sofort im Grab verschwanden).78 Die letzten Ringschwertbesitzer mögen also nur noch die Nachfahren (über-) lokaler Herren gewesen sein. 5. Wie Ringschwerter lassen sich auch Spangenhelme vom ‚Typ Baldenheim‘ sowie Lamellen- und Kammhelme79 zeitlich nicht auf einen engen Zeitraum eingrenzen, kommen sie doch vom späten 5. bis zum frühen 7. Jahrhundert vor.80 Sämtliche Spangenhelme gelten heutzutage als Produkte byzantinischer Werkstätten, wenngleich die Funde aus dem Mittelmeerraum und vom Balkan erst um 600 zu datieren sind.81 Offenbar gelangten diese Schutzwaffen über einen längeren Zeitraum in Regionen nördlich der Alpen, und gleichzeitig wurden einzelne Helme über längere Zeit weitergereicht, wie die fast identischen Exemplare aus Krefeld-Gellep, Grab 1782 und Morken zeigen (Tab. 6). Die geringe Zahl an Helmen – andere Formen als die Spangenhelme gibt es fast nicht – und die deutlich mehr als 100 Jahre umfassende Datierungsspanne zeigen aber, dass sie nur relativ selten in die Gräber gelangten. Die mit ihnen Beigesetzten dürften wohl wiederum kaum mehr als lokale Machthaber gewesen sein, auch wenn die umfangreichen und qualitätvollen Grabausstattungen auf den ersten Blick mehr suggerieren.
78 Dies ist ein weiteres Argument dafür, dass der entscheidende Besitz vererbt wurde und nicht in die Gräber gelangte. 79 Heiko Steuer, Helm, § 7. Merowingerzeit, in: RGA2 14, 1999, 328‒335. 80 Steuer, Helm und Ringschwert (wie Anm. 76); ders., Helm, § 7 (wie Anm. 79), 330–332; Frauke Stein, Die Spangenhelme von Pfeffingen und Gammertingen. Überlegungen zur Bestimmung ihrer Herstellungsräume, in: Acta Praehistorica et Archaeologica 35, 2003, 41‒61; Mahand Vogt, Spangenhelme. Baldenheim und verwandte Typen. (Monographien des RGZM 39.) Mainz 2007. 81 Quast, Die merowingerzeitlichen Grabfunde aus Gültlingen (wie Anm. 26), 41f.
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Spatha
Sax
Axt
Lanze
Ango
Pfeile
Schild
Pferd
Lokale Herren um 500
Baldenheim, Grab 1 (F) Bretzenheim, Grab 1 (D)*** Gammertingen (D)*
Gültlingen 1901 (D) Kölner Dom, Junge (D)* Krefeld-Gellep, Grab 1782 (D)*** Morken (D)* Planig (D)*
Stößen, Grab 35 (D)
Datierung des Grabes 6. Jh. 2. Hälfte 6. Jh. Ende 5. Jh. 537 ± 10 1. Hälfte 6. Jh. Ende 6. Jh. Anfang 6. Jh. Anfang 6. Jh.
Tab. 6 Männergräber mit Helm vom Typ Baldenheim (6. Jh.), Waffenausstattung. Die Grabausstattung von Baldenheim ist nicht gesichert, und in Bretzenheim handelt es sich um eine abweichende Helmform. – Weitere Grabbeigaben: * bronzenes Becken, *** bronzenes Geschirr (ergänzt nach Siegmund, Alemannen und Franken [wie Anm. 39], 328, Abb. 176; Datierung überwiegend nach den Originalpublikationen).
6. Unter den Waffen fällt darüber hinaus der Ango auf, eine lanzenähnliche Wurf- und Stoßwaffe. Als charakteristisch gilt der bis zu 1 m lange eiserne Schaft mit Tülle, mit der die Widerhakenspitze auf dem hölzernen Schaft befestigt war. Lässt sich diese Waffe also leicht erkennen, so dürfte sie die sie benutzenden Männer ausgezeichnet haben. Man wird in ihnen – ungeachtet häufigerer Funde in Gallien und verschiedener Waffenkombinationen – nicht generell Franken und ‚fränkische Amtsträger‘ ausmachen können. Vielmehr scheint der Ango lokale Herren – und angesichts der Anzahl vielleicht ihr enges Umfeld – charakterisiert und ihnen Prestige verschafft zu haben. Die Datierung der Angones erstreckt sich nach gegenwärtiger Kenntnis auf eine längere Zeitspanne zwischen der zweiten Hälfte des 5. und dem 6. Jahrhundert – vielleicht mit einem Schwerpunkt in der ersten Hälfte des 6. Jahrhunderts –, und es gibt noch Funde aus der jüngeren Merowingerzeit.82 Allerdings liegt ungeachtet der archäologisch unproblematischen Identifizierung der Funde die letzte Zusammenstellung 40 Jahre zurück (Abb. 7); ein 82 Siegmar von Schnurbein, Zum Ango, in: Georg Kossack/Günter Ulbert (Hrsgg.), Studien zur Vor- und Frühgeschichtlichen Archäologie. Festschrift Joachim Werner, Bd. 2: Frühmittelalter. (Münchner Beiträge zur Vor- und Frühgeschichte, Erg.-Bd. 1/2.) München 1974, 411– 434, hier 419f.; vgl. Wolfgang Hübener, Waffennormen und Bewaffnungstypen der frühen Merowingerzeit, in: Fundberichte aus Baden-Württemberg 3, 1977, 510–527, hier 518.
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aktueller Überblick lässt sich deshalb leider nicht ohne aufwändige Recherche gewinnen. Zu erwarten ist allerdings, dass sich das Verbreitungsbild eher verdichtet als in seiner Ausdehnung wesentlich verändert hat – wenngleich regionale Fundhäufungen vor allem der Forschungsintensität geschuldet sind. Angesichts ihrer Anzahl – v. Schnurbein nennt 200 Exemplare – sind Angones deutlich weniger elitär als die erwähnten Schwerter und Helme. Sie geben – sofern diese Stoß- und Wurfwaffe statusrelevant war und nicht allgemein zur Bewaffnung gehörte wie andere Lanzen und Speere – eine nachgeordnete Gruppe von Anführern an. 2. Weitere Grabbeigaben und Grabformen 1. Reitzubehör in umfänglich ausgestatteten Gräbern zeigt, dass auch Pferd und Reiten besondere soziale Relevanz besaßen.83 Um 500 sind entsprechende Funde noch nicht besonders zahlreich, und beispielsweise Steigbügel kommen überhaupt erst später auf. Gelegentlich finden sich Sporen84, Trensen85 und Zaumzeug, sehr selten Sattelreste (Krefeld-Gellep, Grab 1782). Für Südwestdeutschland zwischen etwa 460 und 510 liegt nun eine aktuelle Karte vor86, die deutlich macht, dass auch diese Funde nicht besonders zahlreich sind. Meist handelt es sich um Trensen, die sowohl in herausgehobenen Männergräbern als auch in Pferdegräbern selbst niedergelegt wurden (Abb. 8). Pferdebestattungen kamen im 5. Jahrhundert auf, und ihre Vorbilder werden im südosteuropäischen Raum vermutet, von wo sie sich über Mähren, Böhmen und Thüringen verbreiteten.87 Kartierungen erwecken oft eine große Anzahl und Dichte – etwa in Thüringen, im Rhein-Main-Gebiet sowie an Neckar und oberer Donau88 –, doch stammen viele Befunde aus deutlich späterer Zeit. Für die Suche nach lokalen Herren erweist es sich als hinderlich, dass viele der getöteten Pferde einzelnen Männern nicht mehr zugeordnet werden können, weil ein eindeutiger topographischer Bezug zu einem Män-
83 Vgl. Manfred Nawroth, Das Gräberfeld von Pfahlheim und das Reitzubehör der Merowingerzeit. (Anzeiger des Germanischen Nationalmuseums, Wissenschaftlicher Beibd. 19.) Nürnberg 2001. 84 Arno Rettner, Sporen der Älteren Merowingerzeit, in: Germania 75, 1997, 133–157. 85 Für Stufe AM I: Judith Oexle, Studien zu merowingerzeitlichem Pferdegeschirr am Beispiel der Trensen. (Germanische Denkmäler der Völkerwanderungszeit A 16.) Mainz 1992, Bd. 2, Taf. 217 (Ringtrensen), Taf. 221 (Trensen der Form I), Taf. 225 (Trensen der Form II). 86 Helga Schach-Dörges, Zur Pferdegrabsitte in der Alamannia während der frühen Merowingerzeit, in: Germania 86, 2008, 701–727. 87 Heiko Steuer, Pferdegräber, § 4: P[ferdegräber] der Merowingerzeit und Karolingerzeit, in: RGA2 23, 2003, 74–89. 88 Steuer, Pferdegräber (wie Anm. 87), 75, Abb. 17.
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nergrab fehlt.89 Symbolisch betonte man mit den Pferden das Reiten – entweder als Militär oder als Jäger oder beides. 2. Neben dem Toten konnten Gefäße und Mobiliar im Grab abgestellt werden, wiederum vor allem in Bezug auf seinen sozialen Status und den seiner Angehörigen. Von besonderem Interesse sind hierbei zunächst qualitätvolle Gefäße aus Bronze und Glas. Einige wurden in Gallien und dem Rheinland hergestellt, andere von weiter her, etwa aus dem Mittelmeerraum, bezogen.90 Diese ‚Importe‘ häufen sich zwar im Laufe der Merowingerzeit, liegen aber aus den Jahrzehnten um 500 nur in wenigen Exemplaren vor und lassen kaum Regelmäßigkeiten erkennen. Solche Stücke jedoch – auf welchem Wege auch immer – erwerben zu können, dürfte den aktuellen Besitzern Prestige verschafft haben. Mobiliar ist noch schwieriger zu beurteilen. Meist aus Holz gefertigt, liegen nur wenige Funde vor. Besonderes Interesse verdienen beispielsweise Faltstühle, weil sie sich an antike Vorbilder wie die sella curulis der Konsuln anschließen lassen – ohne dass sich ein Amtsverständnis unbesehen übertragen ließe. Neben einigen vollständig aus Eisen gefertigten Faltstühlen gab es etliche hölzerne Exemplare, die sich an ihrer eisernen Achse erkennen lassen, wie neuere Studien gezeigt haben; eine systematische Durchsicht aller zugänglichen Befunde steht allerdings noch aus. Faltstühle kommen über einen längeren Zeitraum sowie in Frauen- und Männergräbern vor, so dass ihre Bedeutung in der Zeit um 500 noch zu analysieren wäre. Eine erste Übersicht deutet an, dass die Anzahl der in diesen Zeitabschnitt gehörenden Faltstühle nicht allzu gering ausfällt und sie überwiegend in Frauengräbern vorkommen.91 3. Auch die Anlage des Grabes kann Hinweise auf sozialen Status geben. Im Allgemeinen nimmt mit dem Umfang der Grabausstattung auch der Aufwand bei der Grabanlage zu. Zu einer aufwändigen Grabarchitektur gehören etwa Kammergräber, bei denen eine große Grabgrube zusätzlich ausgezimmert wurde und Platz für zahlreiche Grabbeigaben bot. Die meisten dieser Anlagen, die gelegentlich als ‚Typ Morken‘ bezeichnet werden, gehören erst in die
89 Anders als bei den Awaren, wo häufig Reiter und Pferd gemeinsam bestattet wurden. 90 Jörg Drauschke, Zwischen Handel und Geschenk. Studien zur Distribution von Objekten aus dem Orient, Byzanz und aus Mitteleuropa im östlichen Merowingerreich. (Freiburger Beiträge zur Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends 14.) Rahden 2010. 91 Sven Gütermann, Faltstühle in frühmittelalterlichen Gräbern. Vorkommen, Konstruktion und Bedeutung, in: ZAMA 39, 2011, 37–107. Von 45 recherchierten Faltstühlen gehören 40 % in die Zeit zwischen der Mitte des 5. und dem Anfang des 6. Jh.: Barbing-Irlmauth, Grab 38; Basel-Kleinhüningen, Grab 74; Breny, Grab 363; Entringen, Grab von 1904; Flaach, Gräber 19 und 21; Frankfurt-Harheim, Grab 130; Fridingen a.d. Donau, Grab 150; Günzburg, Grab 1562; Mahlberg; Niedernai, Grab 33; Rommersheim; Schleitheim-Hebsack, Gräber 551 und 665; Straubing-Baiuwarenstraße, Gräber 266 und 451; Unterthürheim, Grab 214.
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Jahrzehnte um 600.92 Vereinzelt gibt es jedoch auch ältere Kammern, wofür erneut Grab 1782 aus Krefeld-Gellep aus dem frühen 6. Jahrhundert stehen mag, das man außerdem mit einer massiven Tuffsteinpackung abgedeckt hatte. Eine zweite Variante stellen Hügelschüttungen über dem eigentlichen Grab dar, die – anders als die verschlossenen, im Boden verborgenen Kammern – dauerhaft an den Toten ‚erinnerten‘. Grabhügel errichtete man gelegentlich im 6. Jahrhundert93 und folgte damit verbreiteten älteren Vorbildern, bevor sie in der jüngeren Merowingerzeit wieder häufiger wurden. Dass man seine Toten auch in prähistorischen (bronze- und eisenzeitlichen) Grabhügeln bestatten konnte, lässt zweierlei vermuten: Erstens erkannte man darin offenbar Gräber, und zweitens bemühte man sich wohl, durch die erneute Nutzung der Grabanlage Ahnen zu belegen und Ansprüche zu formulieren.94 Gräber lassen sich ebenfalls hervorheben, indem man sie vom Bestattungsplatz der Allgemeinheit absondert. Derart separierte Bestattungsplätze finden sich zwar überwiegend erst in der jüngeren Merowingerzeit, doch hat Böhme vereinzelte Befunde des 6. Jahrhunderts zusammentragen können (Abb. 5).95 Sie mögen ebenfalls als Hinweis auf lokale Machthaber verstanden werden können, sofern es sich bei ihnen nicht um nur zufällige Ausschnitte aus einem größeren Reihengräberfeld handelt oder sie in Umbruchszeiten nicht lediglich ein begonnenes, aber nach ein oder zwei Generationen wieder aufgegebenes Gräberfeld repräsentieren. Für letzteres gibt es Hinweise insbesondere für die Zeit um 500 und damit die Frühzeit der merowingerzeitlichen Reihengräberfelder96, den hier besonders interessierenden Zeitabschnitt. 92 Frauke Stein, Grabkammern bei Franken und Alamannen. Beobachtungen zur sozialen Gliederung und zu den Verhältnissen nach der Eingliederung der Alamannen in das merowingische Reich, in: Georg Jenal (Hrsg.), Herrschaft, Kirche, Kultur. Beiträge zur Geschichte des Mittelalters. Festschrift Friedrich Prinz. (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 37.) Stuttgart 1993, 3–41. 93 Böhme, Adel und Kirche (wie Anm. 50), 480, Abb. 1; Ingrid Sudhoff, Kreisgräben, Grabhügel und verwandte Sonderformen von Grabanlagen im Merowingerreich. Diss. Bonn 1999, 66f., nennt lediglich drei Kreisgräben aus der frühen Merowingerzeit (Ament Stufen AM I‒ II); ebd. 167f. verzeichnet das Fehlen von Grabhügeln in dieser Zeit, doch gibt es indirekte Hinweise dafür und außerdem Bestattungen in prähistorischen Grabhügeln; ebd. 211; 240. 94 Gerhard Fingerlin, Bräunlingen, ein frühmerowingischer Adelssitz an der Römerstraße durch den südlichen Schwarzwald, in: Archäologische Ausgrabungen in Baden-Württemberg 1997, 1998, 146–148; ders., Ein alemannischer Adelshof im Tal der Breg (Bräunlingen), in: Schriften des Vereins für Geschichte und Naturgeschichte der Baar 44, 2001, 19‒29; Jutta KlugTreppe, Archäologische Ausgrabungen im Gewerbegebiet „Niederwiesen“ in Bräunlingen. Ein multikultureller Bestattungsplatz auf der Baar, ebd. 5‒18, zu einem Befund in BadenWürttemberg. – Allgemein: Matthias Sopp, Die Wiederaufnahme älterer Bestattungsplätze in den nachfolgenden vor- und frühgeschichtlichen Perioden in Norddeutschland. (Antiquitas, 3. Reihe 39.) Bonn 1999. 95 Böhme, Adel und Kirche (wie Anm. 50), 480, Abb. 1. 96 In der Forschung werden entsprechende, kurzfristig belegte Reihengräberfelder als ‚Typ Hemmingen‘ bezeichnet; vgl. Hermann F. Müller, Das alamannische Gräberfeld von Hemmingen (Kreis Ludwigsburg). (Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in
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EXKURS: HERRENHÖFE In welchen Gebäuden und Gehöften die lokalen Herren um 500 lebten, ist archäologisch bislang nicht auszumachen. Die vorausgehenden spätantiken Höhenstationen in Süddeutschland wurden, soweit es das Fundmaterial erkennen lässt, durchweg im mittleren 5. Jahrhundert aufgegeben; Zeitpunkt und Ursachen dürften lokal und regional verschieden gewesen sein.97 Einzig der Runde Berg bei Urach wurde bis in die Zeit um 500 bewohnt und genutzt; sein Ende im frühen 6. Jahrhundert ist recht hypothetisch mit der Eingliederung der Alamannia ins Frankenreich verbunden worden98, doch bleiben in gleicher Weise Auseinandersetzungen mit benachbarten ‚Häuptlingen‘ als Grund möglich und wahrscheinlich.99 Siedlungen auf der Höhe gab es also um 500 praktisch nicht mehr100, und sie hatten die Stützpunkte und Aufenthaltsorte regionaler – und nicht bloß lokaler – ‚Herren‘ gebildet, die von den Römern oft als principes und reguli bezeichnet wurden.101 Siedlungen sind prinzipiell viel weniger präzise als Gräber zu datieren, wofür es mehrere Gründe gibt. Die aus ihnen stammenden Funde sind oft spärlich, weil die Bewohner beim Weggang wertvollere Dinge mitnahmen; sie bestehen meist überwiegend aus Keramik, die sich nur allmählich veränderte; wesentliche Befunde wie Pfostengruben oder Wandgräben enthalten oft keine Funde. Sind sie vorhanden, bleibt ihre Aussagekraft dennoch oft gering: Sogar älteres, ihrer Anlage vorausgehendes Fundmaterial konnte beim Ausheben zufällig in sie hineingelangen. Datierungen von Siedlungsbefunden sind so kaum auf ein Jahrhundert einzu
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Baden-Württemberg 7.) Stuttgart 1976; Hermann Ament, Der Beitrag der frühmittelalterlichen Grabfunde von Nieder-Erlenbach (Stadt Frankfurt a.M.) zur Kenntnis der Gräberfelder vom Typ Hemmingen, in: Claus Dobiat (Hrsg.), Reliquiae Gentium. Festschrift Horst Wolfgang Böhme. (Studia honoraria 23.) Rahden 2005, 1–7; Theune, Germanen und Romanen (wie Anm. 3), 203‒234. Hoeper/Steuer, Völkerwanderungszeitliche Höhenstationen (wie Anm. 2). Dieter Quast, Die frühalamannische und merowingerzeitliche Besiedlung im Umland des Runden Berges bei Urach. (Forschungen und Berichte zur Vor- und Frühgeschichte in BadenWürttemberg 84.) Stuttgart 2006, 39; 121. Heiko Steuer, Herrschaft von der Höhe. Vom mobilen Söldnertrupp zur Residenz auf repräsentativen Bergkuppen, in: Die Alamannen. Stuttgart 1997, 149–162, hier 159; Ross Samson, The End of Alamannic Princely Forts and the Supposed Merovingian Hegemony, in: Journal of European Archaeology 2, 1994, 341–360, hier 352. Demgegenüber bestanden viele südskandinavische ‚Reichtumszentren‘, die funktional ebenso als Äquivalent der Höhensiedlungen wie die englischen ‚productive sites‘ gelten können, von der jüngeren Kaiserzeit bis in das frühe Mittelalter fort; vgl. Heiko Steuer, Reichtumszentrum, in: RGA2 24, 2003, 343–348. Michael Hoeper/Heiko Steuer, Germanische Höhensiedlungen am Schwarzwaldrand und das Ende der römischen Grenzverteidigung am Rhein, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 150, 2002, 41–72; Dieter Geuenich, Die alemannischen „Breisgaukönige“ Gundomadus und Variomadus, in: Historia archaeologica (wie Anm. 13), 205–216.
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grenzen – und Siedlungen ‚um 500‘ lassen sich schlecht identifizieren. Erst im langfristigen Vergleich geben sich ihre Strukturen und ihr Aussehen zu erkennen. Befund Zäune und Palisaden Werkstattareale große Wohnstallhäuser Speicherbauten Versammlungshalle Viehsammelstelle Prestigegüter reicher Landbesitz konstantes Großgehöft
Funktion Parzellenbegrenzungen handwerkliche Produktion Viehstapel Sammeln von Abgaben für die Leute aus dem Dorf oder die Gefolgschaft des Herrn Sammeln von Abgaben Einbindung in Fernhandel und Fernbeziehungen Getreideanbau und Viehherden Landzuweisungen für Amtsträger, Erblichkeit
Tab. 7 Archäologische Kriterien für Herrenhöfe im Nord- und Ostseeraum (zusammengestellt nach Steuer, Herrensitze [wie Anm. 102], 3).
Anders als im Nord- und Ostseeraum lassen sich für das merowingerzeitliche Süddeutschland ‚Herrenhöfe‘ in den Siedlungen kaum identifizieren102; es versagen jedenfalls weithin die für das nördliche Mitteleuropa herangezogenen Kriterien (Tab. 7). Herausgehobene Höfe sind allenfalls durch umfänglich und qualitätvoll ausgestattete Gräber im Hofareal zu erkennen, doch gehören sie dann bereits in das 7. Jahrhundert. Wie sonstige archäologische Hinweise auf einen Adel (sehr umfängliche Grabbeigaben, separate Grabgruppen, Grabhügel und andere auffällige Grabbauten, Kirchen und Gräber in diesen, Bestattungen im Hofareal)103 – wenngleich keine Beweise für (s)eine rechtliche Position – lassen sich Herrenhöfe erst in der jüngeren Merowingerzeit erfassen und scheinen in den Jahrhunderten zuvor zu fehlen. Das Beispiel Lauchheim zeigt wohl außerdem, dass es im 7. Jahrhundert auch zwei solche Höfe in einer Siedlung geben konnte – handelt es sich dann in beiden Fällen um ‚Herrenhöfe‘? Anders gefragt: Können 102 Heiko Steuer, Herrensitze im merowingerzeitlichen Süddeutschland. Herrenhöfe und reich ausgestattete Gräber, in: ZAMA 38, 2010, 1–41; vgl. Janine Fries-Knoblach, Hinweise auf soziale Unterschiede in frühmittelalterlichen Siedlungen in Altbayern, in: Sabine Felgenhauer-Schmiedt/Peter Csendes/Alexandrine Eibner (Hrsgg.), Lebenswelten im ländlichen Raum. Siedlung, Infrastruktur und Wirtschaft. (Beiträge zur Mittelalterarchäologie in Österreich 25.) Wien 2009, 11–34. 103 Böhme, Adelsgräber im Frankenreich (wie Anm. 20); Burzler, Nobilifizierungsprozeß (wie Anm. 20); Heiko Steuer, Adelsgräber, Hofgrablegen und Grabraub um 700 im östlichen Merowingerreich. Widerspiegelung eines gesellschaftlichen Umbruchs, in: Hans Ulrich Nuber/Heiko Steuer/Thomas Zotz (Hrsgg.), Der Südwesten im 8. Jahrhundert aus historischer und archäologischer Sicht. (Archäologie und Geschichte. Freiburger Forschungen zum ersten Jahrtausend in Südwestdeutschland 13.) Ostfildern 2004, 193–217. Zu den Graböffnungen vgl. Martine C. van Haperen, Rest in Pieces. An Interpretive Model of Early Medieval ‘Grave Robbery’, in: Medieval and Modern Matters 1, 2010, 1–36.
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ungefähr gleichzeitig zwei Machthaber in einer Siedlung gesessen haben? „Ja“ kann die Antwort lauten, indem man auf grundherrlichen Streubesitz verweist. In Gallien und den zuvor römischen Gebieten westlich des Rheins blieben Städte – wenngleich sich ihre Urbanität teils erheblich verminderte – politische Zentren, in denen etwa mit den fränkischen Königen regionale Herren residierten.104 Auf dem Land wurden die spätantiken villae aufgegeben und durch frühmittelalterliche dörfliche Siedlungen abgelöst.105 Diese konnten sich an der Stelle von villae befinden, wie jüngere hölzerne Gebäude an Stelle der antiken Steinbauten belegen, doch meist waren dies nur recht kurzzeitige Nutzungen. Ebenso ist nicht auszuschließen, dass um 500 noch Steinbauten in antiker Technik errichtet und genutzt wurden. Wo sich lokale Herren dort im frühen Mittelalter etablierten, bleibt archäologisch wiederum undeutlich, wie auch die Dorfentwicklung in dieser Zeit – wann wurden sie endgültig ortsfest? – noch nicht hinreichend untersucht ist.106 Ebenso wenig sind die Zusammenhänge zwischen Siedlungen und Bestattungsplätzen geklärt. Die Bewohner einer Siedlung begruben ihre Toten nicht unbedingt alle auf demselben Gräberfeld. Denkbar – und bislang archäologisch nicht hinreichend analysiert – bleiben verschiedene Varianten: Zu einem Dorf gehört allein ein großes Reihengräberfeld; manche Dorfbewohner bzw. Höfe eines Dorfs bestatten anderswo; auf einem Reihengräberfeld bestatten mehrere oder viele verstreute Höfe gemeinsam; zu einem Dorf gehören mehrere Bestattungsplätze. Die deutlichen Differenzen in den Binnenstrukturen frühmittelalterlicher Friedhöfe weisen auf derart komplexe Beziehungen hin. IV. ERGEBNISSE UND PERSPEKTIVEN 1. Der Versuch der Archäologie, lokale Herren um 500 und ihr Umfeld zu bestimmen, gestaltet sich recht komplex. Dazu reicht es nicht aus, besonders auffällige Waffen und Bestattungsorte zusammenzutragen und die mit ihnen bestatteten Männer als ‚Amtsträger‘ der fränkischen Könige anzusehen. Die Situation war, wie die politische Entwicklung deutlich macht, differenzierter und zugleich offener; sie bot den Beteiligten verschiedene Handlungsoptionen, die man zu nutzen verstehen musste, wollte man bestehen. Es verwundert etwas, dass sich die Frühmittelalterarchäologie diesen entscheidenden Jahr 104 Hermann Ament, Die Franken in den Römerstädten der Rheinzone, in: Die Franken – Wegbereiter Europas. Mainz 1996, 129–137; Gian Pietro Brogiolo/Sauro Gelichi, La città nell’alto medioevo italiano. Archeologia e storia. 4. Aufl. Rom 2004. 105 Brogiolo/Chavarría Arnau, Aristocrazie e campagne (wie Anm. 1), 49–68; 89–125; Van Ossel, De la « villa » au village (wie Anm. 1); Theuws, Haus, Hof und Siedlung (wie Anm. 1). 106 Rainer Schreg, Dorfgenese in Südwestdeutschland. Das Renninger Becken im Mittelalter. (Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 76.) Stuttgart 2006, 318‒321.
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zehnten bislang nicht so intensiv zugewandt hat, wie sie dies für die jüngere Merowingerzeit und die Frage der Adelsgenese getan hat. Eine zentrale Ursache dürfte darin liegen, dass es um deutlich weniger, weiträumig verteilte, mitunter isolierte oder inzwischen dekontextualisierte und damit schwierig einzuordnende Befunde geht. Viel deutlicher als um 500 lassen sich in der jüngeren Merowingerzeit lokale Machthaber und ihr Umfeld archäologisch erkennen. ‚Reiche‘ Grabausstattungen finden sich in großen hölzernen Grabkammern, die hinreichend Platz für die Grabbeigaben boten. Separierte Bestattungsareale zeigen anscheinend, wie sich eine lokale ‚Elite‘ auch räumlich von der Bevölkerung abzusetzen versuchte. Eine andere Möglichkeit war es, die weiterhin auf dem Reihengräberfeld angelegten Bestattungen durch Kreisgräben oder durch Grabhügel besonders hervorzuheben. Die Beerdigung auf dem eigenen Hof allein war noch nicht ‚elitär‘, sondern wurde meist von mehreren Familien im Dorf angestrebt (während andere noch auf dem Reihengräberfeld oder schon auf dem Kirchhof bestatteten); hinzukommen mussten umfängliche Grabausstattungen, die mit einem größeren und differenzierten Hof korrelieren konnten, wenngleich ‚Herrenhöfe‘ bislang kaum identifiziert sind. 2. Rangsymbole lassen sich nicht mehr in jener Eindeutigkeit erkennen, wie sie noch das Imperium kennzeichnete. Sie ist angesichts einer nun weniger stringenten und übergreifenden militärischen Hierarchie und Administration auch nicht zu erwarten. Dennoch lassen sich etwa mit Schwertscheiden vom ‚Typ Krefeld‘, Goldgriffspathas, Ringschwertern und Helmen Rangsymbole erkennen, die ihre antiken Vorbilder nicht verleugnen können. Sie gewannen ihre spezifische Bedeutung aber erst im Kontext, in dem sie benutzt und vorgeführt wurden. Man wüsste gern, was es bedeutet, dass Childerich mit einer Goldgriffspatha bestattet wurde, die sonst in weit geringerem sozialen Umfeld in Gräber gelangte. Darüber hinaus besaßen Waffen in der Merowingerzeit vielfältige Bedeutungen und können nicht – wie oft geschehen – unmittelbar als aktuelle Bewaffnung von Kriegern interpretiert werden.107 Zunächst spiegeln die Grabausstattungen nicht die ‚vollständigen‘ Bewaffnungen wider, dienten sie doch zunächst der Statusrepräsentation während der Bestattung.108 Des Weiteren gehören manche ‚Waffen‘ in andere Kontexte – seien es Werkzeuge wie manche Äxte, seien es Jagdwaffen; beide reflektierten Besitz und Status auf andere Weise.109 Schließlich symbolisierten Waffen nicht unmittelbar den Krieger, sondern angesichts ihrer großen Zahl in Männergräbern des 6. und 7. Jahr 107 So jedoch etwa Robert Reiß, Nahkampf und Fernkampf in der Merowingerzeit. Eine Studie über Waffentechnik und Kampfesweise der Franken vom ausgehenden 5. bis zur Mitte des 8. Jahrhunderts n. Chr., in: Acta Archaeologica et Praehistorica 39, 2007, 211–244. 108 Heinrich Härke, Angelsächsische Waffengräber des 5. bis 7. Jahrhunderts. (ZAMA Beiheft 6.) Köln/Bonn 1992. 109 Theuws, Grave Goods (wie Anm. 10).
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hunderts wohl primär den Mann, der Familie und Besitz schützen und verteidigen konnte. 3. Die Jahrzehnte um 500 waren im Hinblick auf Siedlungsstrukturen und Bestattungsplätze eine Zeit des Umbruchs. Reihengräberfelder mit umfänglichen Grabausstattungen begannen sich durchzusetzen (Abb. 1), doch nicht gleich oder kontinuierlich und nicht überall zur selben Zeit. Wandlungsprozesse sowie regionale und zeitliche Unterschiede ließen allgemeine Regelmäßigkeiten nicht zu. Vieles macht einen (noch?) individuellen und ‚vorläufigen‘ Eindruck; die Beteiligten konnten nicht wissen, welche Strategien auf mittlere Sicht erfolgreich sein würden. Beginnende und endende Gräberfelder bieten keinen repräsentativen Querschnitt durch eine lokale Gesellschaft, sondern einen begrenzten und möglicherweise zufälligen Ausschnitt110, dessen Relevanz es in vielerlei Hinsicht – von Generationen über Verwandtschaft bis zur sozialen Hierarchie und Besitzunterschieden – einzuschätzen gilt. Die strukturellen und kulturellen, regionalen und zeitlichen Unterschiede etwa zwischen Nordgallien und der Alamannia verhindern, dass sich allgemeine Kennzeichen ermitteln lassen. Sie zwingen die archäologische Forschung zu vergleichenden Regionalstudien. Im lokalen und kleinregionalen Kontext lässt sich erkennen, welche Bedeutung besondere Waffen oder Bestattungsplätze besaßen (Abb. 9). In solche Kontextanalysen lassen sich die vorliegenden, grundlegenden antiquarischen Untersuchungen zu Waffentypen gewinnbringend integrieren, indem nach ihrem jeweils spezifischen Umfeld gefragt wird. Damit würde eine Grundlage geschaffen, um weiträumige Vergleiche zu ermöglichen. Ob es sich bei den lokalen Herren um ‚Adlige‘ handelte, ist dabei von zweitrangigem Interesse.111 4. Die Grabausstattungen auf Reihengräberfeldern betonen zwar den Rang der Toten, doch sind die Bezüge erheblich vielfältiger, als es die Forschung lange wahrgenommen hat. Geschlecht und Lebensalter sind zwei entscheidende Aspekte, die sich durch Vergleich mit anthropologischen Daten recht präzise beschreiben lassen. Da diese beiden Gruppen und ihre Identitäten dem sozialen Rang vorausgehen, kann letzterer erst unter deren Berücksichtigung analysiert werden.112 Es wäre deshalb von Interesse, soweit möglich die anthropologischen Befunde der Gräber um 500 heranzuziehen. Für den Pleidelsheimer Mann mit Goldgriffspatha, der als Zeitgenosse Chlodwigs im spätadulten Al 110 Barbara Sasse, Ein merowingerzeitlicher Friedhof. Zerrspiegel einer Lebensgemeinschaft, in: Stefan Burmeister/Heidrun Derks/Jasper von Richthofen (Hrsgg.), Zweiundvierzig. Festschrift Michael Gebühr. (Studia honoraria 25.) Rahden 2007, 47–62. 111 Heiko Steuer, Archäologie und Geschichte. Die Suche nach gemeinsam geltenden Benennungen für gesellschaftliche Strukturen im Frühmittelalter, in: Andreas Bihrer/Mathias Kälble/Heinz Krieg (Hrsgg.), Adel und Königtum im mittelalterlichen Schwaben. Festschrift Thomas Zotz. (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde BadenWürttemberg B 175.) Stuttgart 2009, 3–27, hier 7‒27. 112 Sebastian Brather, Rang und Lebensalter. Soziale Strukturen in der frühmittelalterlichen ‚Alemannia‘ im Spiegel der Bestattungen, in: Adel und Königtum (wie Anm. 111), 29–44.
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ter (etwa im vierten Lebensjahrzehnt) starb, lässt sich eine großflächige Knochenentzündung am rechten Unterschenkel belegen, die seine Bewegungsfähigkeit erheblich einschränkte.113 Konnte er zu Lebzeiten dennoch die Rolle eines lokalen Machthabers ausfüllen? Oder täuscht die Grabausstattung dies nur vor? Wie lassen sich lokale Herren überhaupt identifizieren? Mit herausragenden Gräbern und Waffen sind archäologisch nicht die Spitzen des Frankenreichs, sondern allenfalls eine zweite, wenn nicht gar dritte Rangebene erfasst114; viele mögen lokalen Chefs zuzurechnen sein, bewertet man die Stichproben statistisch. Da Grabausstattungen zwar Rang, aber nicht unmittelbar Macht und Herrschaft widerspiegeln, sind Schlüsse darauf nicht in Stein gemeißelt, wie überhaupt Besitz und Hierarchie nicht zwingend aneinander gebunden waren, sondern in einem Spannungsverhältnis zueinander standen. Auch kleine Grabgruppen oder Gräberfelder bedeuten nicht unmittelbar ‚Separierung‘ und damit besondere soziale Stellung, sondern können – gerade in Umbruchszeiten – einen allgemeinen Bestattungsplatz gebildet haben, der nur begrenzte Zeit benutzt und bald wieder aufgegeben wurde. 5. Bislang hat sich die Archäologie auf auffällige Typen konzentriert: Goldgriffspathas und Ringschwerter, schmale Langsaxe und Helme, Angones und mediterrane Schnallen. Auf diese Weise lassen sich überregionale Bezüge herstellen und weiträumige Vergleiche durchführen. Damit ist es jedoch nicht möglich, lokale oder kleinräumige Verhältnisse zu untersuchen. Dafür bedarf es eines Perspektivenwechsels. Ausgangspunkt muss die historische Situation sein, in der etwa lokale Herren agierten und sich ihre Gesellschaften entwickelten – gefragt sind also kontextuelle Analysen, die die Zeit um 500 an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Regionen in den Blick nehmen.115 Vermieden werden sollte dabei allerdings, sich allzu unmittelbar an Ereignissen zu orientieren und diese zur Grundlage von Überlegungen zur Datierung zu machen – etwa indem Angones oder ‚fränkische‘ Fibeln in der Alamannia direkt mit der Eingliederung in das Frankenreich um 500 verbunden werden. Herrschaft könnte sich in ihrer Reichweite darüber hinaus nicht allein am Habitus in Grab und Siedlung, sondern ebenso anhand der Distribution von Gütern ermitteln lassen. Wenn Produktion und Verteilung bestimmter, vor allem handwerklicher Produkte an Herrenhöfen konzentriert waren, dann müsste ihr geographisches Vorkommen (auch) herrschaftliche Strukturen reflektie-
113 Alfred Czarnetzki/Christian Uhlig/Rotraud Wolf, Menschen des Frühen Mittelalters im Spiegel der Anthropologie und Medizin. Stuttgart 1982, 72–74. 114 Vgl. Martin Last/Heiko Steuer, Zur Interpretation der beigabenführenden Gräber des achten Jahrhunderts im Gebiet rechts des Rheins, in: Nachrichten aus Niedersachsens Urgeschichte 38, 1969, 25–88. 115 Vgl. das in Anm. 21 genannte Projekt.
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ren (Abb. 10).116 In den meisten Fällen kann die Archäologie jedoch nur regionale Unterschiede konstatieren, also regionalen Herren und kaum lokalen Chefs näherkommen. Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe: Erstens fallen erst aus größerer Distanz kulturelle Unterschiede auf, so dass Nahbeziehungen allenfalls durch zahlreiche materialanalytische Untersuchungen festzustellen wären; zweitens dürften die Möglichkeiten lokaler Herren recht beschränkt gewesen sein und daher nur selten ein archäologisch eindeutiges Bild hinterlassen haben.
116 Heiko Steuer, Handel und Fernbeziehungen. Tausch, Raub und Geschenk, in: Die Alamannen. Stuttgart 1997, 389–402; Gerard Jentgens, Die Alamannen. Methoden und Begriffe der ethnischen Deutung archäologischer Funde und Befunde. (Freiburger Beiträge zur Archäologie und Geschichte des ersten Jahrtausends 4.) Rahden 2001, 120–140.
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ABBILDUNGEN
Abb. 1 Herausbildung der frühmittelalterlichen Reihengräberfelder. In den meisten Fällen handelt es sich um neuangelegte Bestattungsplätze (für das späte 5. Jh. jüngst untersucht z.B. Unterhaching bei München und Niedernai bei Strasbourg), doch sind ebenso kontinuierlich benutzte Friedhöfe (vor allem in Nordgallien und dem Rheinland) dokumentiert. Neu an den Reihengräberfeldern ist die ostentative soziale Repräsentation.
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Abb. 2 Archäologische Chronologien der Jahrzehnte um 500. Übersicht über neuere Gliederungen (Nachweis vgl. Text).
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Abb. 3 Picardie, herausragende Männergräber der Zeit Chlodwigs und seiner Söhne. Berücksichtigte Kennzeichen sind Ango sowie Kleidungsbestandteile und Schwerter mit Edelmetallverzierung (schematisiert). 1 Albert; 2 Anguilcourt Le Sart; 3 Arcy-Sainte-Restitue; 4 Armentière; 5 Barleux; 6 Bray sur Somme; 7 Breny; 8 Bulles; 9 Caranda; 10 Chalandry; 11 Chassemy; 12 Chelles; 13 Concevreux; 14 Corbie; 15 Cys-la-Commune; 16 Ercheu; 17 Flamincourt; 18 Hermes; 19 Longueil Annel; 20 Marchélepot; 21 Monceaux-le-Neuf; 22 Myannay; 23 Nibas; 24 Piquigny; 25 Rue-Saint-Pierre; 26 Sablonnière; 27 Saint-Quentin; 28 Templeux-la-Fosse (nach Vallet, Les tombes de chef [wie Anm. 31], 114, Abb. 66).
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Abb. 4 Vorkommen von Schwertern des späten 5. und frühen 6. Jh. in Nordgallien. Schwert oder Scheide mit Almandinverzierung; ‚alemannische‘ Scheidenverzierung; Schwertscheide vom ‚Typ Krefeld‘; ‒ Schwert mit Goldfolienüberzug am Heft (Goldgriffspatha); sonstige Funde (verändert nach Theuws/Alkemade, A Kind of Mirror [wie Anm. 35], 462, fig. 10).
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Abb. 5 Archäologisch nachgewiesene ‚separierte‘ Bestattungen des 6. Jh. in einer Kirche, bei einer Kirche, in separater Grabgruppe oder unter Grabhügel. 1 Perrusson; 2 Chartres; 3 Rouen; 4 Saint-Denis; 5 Louvres; 6 Hordain; 7 Famars; 8 Tournai; 9 Maastricht; 10 Xanten; 11 Köln, St. Gereon; 12 Köln, Dom; 13 Köln, St. Severin; 14 Bonn, Dietkirchen; 15 Karden; 16 Arlon; 17 Trier, St. Maximin; 18 Bad Kreuznach; 19 Charleville-Mézières; 20 Lavoye; 21 Orsoy; 22 Flonheim; 23 Zeuzleben; 24 Klepsau; 25 Rhenen; 26 Krefeld-Gellep; 27 Engelmanshoven; 28 Wünnenberg-Fürstenberg; 29 Rübenach; 30 Langenlonsheim; 31 Dittigheim; 32 Pleidelsheim; 33 Beihingen; 34 Lauchheim; 35 Langenau; 36 Neudingen; 37 Basel-Kleinhüningen; 38 Basel, Bernerring (verändert nach Böhme, Adel und Kirche [wie Anm. 50], 480, Abb. 1) .
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Abb. 6 Verbreitung besonderer Schwerter und Schwertscheiden in Gräbern des späten 5. Jh. und der Zeit um 500 bzw. der Stufe Flonheim-Gültlingen (verändert nach Quast, Höhensiedlungen [wie Anm. 59], 286, Abb. 10B).
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Abb. 7 Verbreitung des Ango nach dem Stand der frühen 1970er-Jahre (verändert nach von Schnurbein, Zum Ango [wie Anm. 82], Beilage 3).
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Abb. 8 Zaumzeuge in Gräbern der zweiten Hälfte des 5. und des frühen 6. Jh. (Aments Stufe AM I). Pferdegrab; Männergrab; Pferde- und Männergrab (verändert nach Schach-Dörges, Zur Pferdegrabsitte [wie Anm. 86], Abb. 15).
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Abb. 9 Mengen, Kr. Breisgau-Hochschwarzwald, Phasen 1 (ca. 480‒510; hell) und 2 (ca. 510‒ 540; dunkel) des fast 1 000 Gräber umfassenden und weitgehend vollständig ausgegrabenen Bestattungsplatzes. Durch schwarze Umrandung sind die Männergräber hervorgehoben. In Phase 2 wurden zwei Männer mit einem Ango bestattet – waren sie aufeinanderfolgend die lokalen Herren? (zusammengestellt nach Susanne Walter, Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Mengen [Kreis Breisgau-Hochschwarzwald]. [Materialhefte zur Archäologie in Baden-Württemberg 82.] Stuttgart 2008, 62, Taf. 307).
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Abb. 10 Modell der Güterverteilung in der merowingerzeitlichen Alemannia (verändert nach Steuer, Handel und Fernbeziehungen [wie Anm. 116] 392, Abb. 444).
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REGISTER
ORTSREGISTER Abdera: 456 Adrianopel (Hadrianopel): 79, 120, 121/18, 490/11, 554 Africa Proconsularis: 462/66 Afrika (Africa): 15, 29, 32, 37, 39, 118f., 152, 168/101, 226, 252, 284/81, 312/88, 453, 458, 476, 483, 484/186, 485, 489, 492/14, 493/15, 494/18, 497, 502, 511/66, 530 Agde: 529–531 Agen: 540 Ägypten: 71/13, 105, 117, 124, 130, 137f., 141, 182, 222, 260, 274f., 287/94, 404, 537 Aix-en-Provence: 502, 537 Alamannia: 567f., 571, 591, 595f. Albi: 540 Alexandria: 99, 120, 132, 134–136, 177/133/134, 187/172, 258/101, 260´, 490/10, 507/59, 559/85 Amaseia: 562f. Amboise: 62 Amida: 179, 251, 418 Amman: 270 Anastasiopolis: 556/65 Anatolien: 270 Angers: 357, 516, 533f. Ankyra: 254, 556 Antiocheia: 96, 120, 132, 136, 137–139, 177/133f., 179, 187/172, 222, 274/24, 275, 276/32, 495/20, 555/61 Apamea: 495/20, 551/32 Apennin-Halbinsel: 449, 458 Aproi: 554/54 Aqaba: 272 Aquileia: 319 Aquitanien: 21, 63, 340, 426, 528/19, 542 Arelate: s. Arles Arabien (Arabia): 270, 272, 273/17, 275, 279, 282, 287 Ariminum: s. Rimini Arkadia: 404/40 Arles (Arelate): 62, 226, 230, 235, 472, 514/74, 515/79, 542 Armeniakon: 563 Arras: s. Cambrai Arvernum: s. Clermont Asia Minor: 561/96
Asiana (Diözese): 490/10, 559 Askalon: 497/25 Astorga: 465 Athen: 95, 98, 100 Athyras: 118/13 Autun (Augustodunum): 55, 538/73 Auvergne (Arverna): 530/25 Auxerre: 515/79 Avignon: 62 Ayla: 269, 272 Baetica: 453, 473, 481 Balearen (Insulae Baleares): 453, 457, 458/41, 461 Balkan: 79, 107, 116f., 127, 130, 191, 244, 586 Barcelona (Barcino): 470–472 Bayeux: 357, 540 Beauvais: 540 Belgica Secunda: 58, 376 Blachernai: 123 Böhmen: 588 Bordeaux: 61, 495/20, 517/86, 528, 542 Bosra: 269, 272, 287 Bougheat: 530 Bourges: 515/79, 528, 530/25, 542 Braga (Bracara): 449, 453, 459–461 Braone: 298/26 Breny: 589/91 Brescia: 298/26 Bretonische Mark: 357f. Britannien: 348, 491, 567 Bruttium: 298 Burgund: 48, 61, 340, 356, 542 Byzanz: s. Konstantinopel Cabra (Igabrum): 456 Caesaraugusta: s. Zaragoza Caesarea Mauretaniae: 93, 99, 103 Caesarea Maritima: s. Kaisareia Callinicum: 79/39 Cambrai (Arras): 36, 54, 527, 540 Cartagena (Carthago Nova): 454, 473, 476, 483 Carthaginensis: 453, 476, 480 Carthago: s. Karthago Carthago Spartaria: 476/152 Chaereas (Osrhoene): 275, 558
612 Chalkedon: 121, 130–133, 135, 181f., 220, 222f., 475, 554/49, 559 Chalkis: 138, 278 Champagne: 516 Chartres: 357 Churrätien: 492/15 Ciutadella (Iamo): 457 Clermont (Arvernum): 531, 537 Coca (Cauca): 457 Córdoba (Corduba): 449, 452–457, 473 Coutances: 357 Dalmatien: 331/169 Damaskus: 272, 280, 291 Dara: 93/3, 251 Dardania: 299/31, 321 Die: 385 Dijon: 62 Dioecesis Hispaniarum: 457, 477 Djebel Seys: 280 Dumat al-Jandal: 273 Dyrrhachion: s. Epidamnos Eauze: 528 Edessa: 138, 280, 403/35, 490/11, 558f. Eleusis: 97 Elvira (Granada): 460, 481 Emesa: 274, 284 Épaone (Epao): 386, 515 Ephesos: 132, 135, 162, 177/133, 209, 251, 489/10, 490/10, 495/20 Epidamnos (Dyrrhachion): 95, 104/44 Galatia Prima: 556 Galatia Salutaris: 556 Gallaecia: 451, 453, 457, 459 Gallien: 12, 16f., 21f., 28–32, 34–39, 41– 43, 45, 47f., 54, 56, 61, 65, 69, 71/10, 74/18, 90, 99, 113, 164, 235, 306/68, 312/88, 334/185, 339, 340–346, 348f., 351, 351/58, 352–357, 359–361, 371, 373, 385–390, 394, 396, 430, 434, 439, 451, 453, 482, 484f., 490/10, 491, 492/14, 501/37, 511/66, 513/71, 514, 516, 517/86, 518–520, 521/95, 523– 526, 530, 535, 537, 539, 541–543, 567– 569, 571f., 574, 578, 583f., 587, 589, 593, 595 Ganzac: 557 Gaza: 95, 100, 107, 109, 140/57, 273/17, 494/18 Genf (Geneva): 61, 71/10, 390–393 Gerasa: 272/17 Germania Lugdunensis: 384
Register Germania: 340, 580 Germia: 118/13, 556/65 Girona (Gerunda): 469f. Grado: 494/18 Guius (Guium): 457 Hadrianopel: s. Adrianopel Hatra: 280 Hauran: 287f. Hedschas: 272, 277 Hegra: 273 Helenopontus: 563 Herakleopolis (Arkadia): 549 Hierapolis: 99/19 Hijāz: 278 Himyar: 279/47, 287/94 Hippo Regius: 152 Hispalis: s. Sevilla Hispania Citerior: 458 Hispanien: 345f., 449, 480f., 492/14, 493/15, 495/20, 511/66, 519/92 Honorias: 490/11, 554, 556/65 Iamo: s. Ciutadella Igabrum: s. Cabra Ilerda s. Lérida Illyricum: 400/18, 401, 489, 499/27 Iotabe: 282f. Isauria: 104, 125, 131, 138 Italien: 14f., 17, 29, 32, 37, 39, 42, 54–56, 63, 99, 112/2, 113, 119, 126f., 138, 145/6, 148, 166, 168, 184–186, 188, 191, 194/203, 210, 218, 220, 226/64, 229, 252, 293f., 296–300, 302, 305– 308, 310f., 316–321, 323, 328–338, 341f., 347f., 372f., 426, 444, 449, 458, 489, 491f., 494/18, 496/20, 503/48, 511/66, 512/67, 513, 519/92, 520f., 524, 539, 542f., 567 Jemen: 278/46, 280 Jerusalem: 99f., 222, 252 Kafr Shams: 288 Kaisareia (Caesarea): 93, 99, 117, 418/104 Kantabrien: 473 Karthago: 120, 124, 125/29, 157, 502 Khirbet al-Baydā: 288 Kilikien: 258/101, 508 Kleinasien: 98, 112, 117–119, 121, 126, 130, 135, 137f., 179, 244 Köln: 36, 495/20, 540, 574 Konstantinopel (Byzanz): 10, 13, 17–19, 30, 34, 70/7, 96, 99, 103, 108f., 111–
Ortsregister 137, 138/54, 139–141, 145/6, 148f., 167f., 172, 176, 177/133, 179–188, 190f., 193, 195f., 199f., 204/244, 205f., 209, 210/262, 211, 214, 220f., 222/27, 223– 229, 231f., 236, 243, 246, 250f., 257, 259, 271–273, 276, 278/46, 279, 282–287, 289–291, 305/67, 311/85, 315, 321/129, 323, 324/144, 327–329, 331/167, 333, 390, 393, 395, 398/7, 400/18, 404/42, 405, 407–410, 412/74/76, 413f., 415/89, 416/94, 417f., 419/110, 472, 474, 477, 547, 549f., 553, 555, 558, 563 Korinth: 177/133 Korykos: 258/101, 508 Krim: 132 Kyrrhos: 172 Laon: 527, 536, 538 Latium: 119 Le Mans: 358f. Lérida (Ilerda): 470 Ligurien (Liguria): 298, 389, 395 Limoges: 540, 541 Lisieux: 540 Lukanien: 298 Lusitania: 453, 463 Lyon: 37, 384, 388f., 515, 516/81, 542 Ma'ān: 270, 287/94 Makedonien: 261/123, 563 Mahón (Mago): 457 Mähren: 588 Mailand: 31, 55, 76/29, 88, 112, 297, 319, 321 Maine: 357 Mainz: 347, 527, 537, 540 Málaga (Malaca): 473 Mallorca: 457 Marseille: 516/80 Mauretania Tingitana: 453, 457, 461 Medina: 279/47 Mekka: 279/47, 290 Menorca: 457 Mérida (Augusta Emerita): 452f., 458/46, 463, 465f., 471f., 483 Mesopotamien: 275 Metz: 516/80, 527, 575 Mopsuestia: 490/10, 501/36 Morken: 586 Mouzon: 540 Mysien: 398/7 Najrān: 279/47
613 Namāra: 278, 288 Narbona: 472 Narbonensis: 515/79 Nawa: 288 Neapel: 299 Negev: 272, 273/17 Neustria: 341 Nisibis: 407 Nizäa (Nikaia): 71/13, 132, 132/43, 219, 469, 475 Noricum: 304/57, 321 Noyon: 530 Nuceria: 229, 230/85 Orléans: 65, 73/17, 235, 360, 526–530, 533, 539–541, 543 Orospeda: 473 Osrhoene: s. Chaereas Ostia: 478 Palaestina: 272, 282, 288, 494/18 Palma (Palma de Mallorca): 457 Palmyra: 270–272, 286 Pamplona (Pampilona): 451 Pannonien (Pannonia): 333f., 371, 567 Paris: 111, 235, 236/128, 237, 527/17, 529/20, 577 Parthien: 284 Pavia: 55, 237, 298/26, 389, 394 Persien: 17, 276, 278f., 284, 287/95, 289, 291 Pessinous: 556 Petra: 272, 273/17 Peu-de-Dôme: 530 Philadelphia: 272/17, 273/20 Philippi: 177/133 Phrygien: 411 Piacenza (Placentia): 299 Picardie: 573 Picenum: 298 Plaz: 534 Poitiers: 63 Pollentia: 457f. Pontus: 490/10, 556, 559 Provence: 300, 300/37, 313, 326, 336, 340, 347, 353/68, 542 Pula: 494/18 Ravenna: 16, 29f., 112–114, 185, 217, 229/82, 242/12, 297, 299, 300/38, 301, 314, 319f., 321/124, 327, 332/181 Rawwāfa: 277/39 Reccopolis: 473 Redon (Kloster): 534
614 Reims: 33f., 235f., 527f. Rennes: 357 Rhegion: 126 Rheinland 388, 567, 571, 578, 589 Rhinocolura: 273/17 Rimini (Ariminum): 72/13, 226, 297 Rom: 14, 17, 19f., 29, 34, 39, 100, 105f., 111–116, 119f., 130, 133, 140, 144/2, 149–154, 157, 162f., 164/81, 165/88, 166/93/94, 167, 171f., 176, 177/133, 183, 184/162, 186f., 192/194, 203f., 210–213, 215, 217–231, 233, 234/114, 235–237, 269–287, 289–291, 299f., 311, 313, 315–321, 323–325, 327, 329, 331, 337, 345, 346/29, 348f., 375f., 378, 388, 395, 414/89, 449–451, 453– 456, 458–460, 463, 465, 467, 469f., 472, 480–486, 541/87, 549 Rouen: 528 Sabaria: 473 Saint-Denis: 577 Saint-Maurice d’Agaune: 393 Sainte-Geneviève: 51, 577 Saintes: 61 Sapaudia: 387f., 390 Segobriga: 458 Seleucia: 72/13 Selymbria: 129 Sens: 528 Serdica: 71/13, 163 Sergiupolis: 252 Sevilla (Hispalis): 449, 454, 471, 473f., 476–479, 483 Sinai: 252/70 Sirmium: 333, 334/184 Sizilien: 298, 312, 488/3, 501/36 Skythien: 99, 398/7 Soissons: 54, 368, 378–381 Sosthenion: 127 Straßburg: 527, 540 Sura: 272 Sykai: 126f. Syrakus: 183, 487, 488, 512, 522/98 Syriarchia: 550/30 Syrien (Syria): 39, 117, 130, 137f., 141, 269f., 273/17, 274/22, 275, 276/32, 290, 550/30, 551/32, 555/61, 568/4 Tanger (Tingis): 453, 461, 462
Register Tarraconensis: 451, 453, 457/40, 466, 469, 471, 515/79 Tarragona (Tarraco, Tarracona): 449, 453, 458, 467–470, 474, 483 Tarsos: 137, 497/25 Taurus (Landschaft): 405 Thérouanne: 540 Thessalonike: 113, 177/133, 227/68 Thrakien: 119f., 122/22/23, 124–127, 135, 192, 332/177, 343, 399, 490/10, 559 Thüringen (Thoringen, Thoringia): 370f., 588 Tingis: s. Tanger Toledo (Toletum): 452f., 457, 461, 465f., 469–471, 474, 476, 479f., 483 Tongern: 540 Toronica: 62 Toul: 527 Toulouse (Tolosa): 37, 54, 395, 472, 540 Tournai: 27, 34, 36, 45f., 52, 375, 527, 540, 569, 575, 580 Tours: 9, 20, 47, 57, 61f., 64, 69, 85/57, 237, 352, 358, 367–369, 372, 377, 380, 429, 516, 518, 528, 533, 542 Toxandrien: 340, 372, 375 Transjordanien: 274 Trier: 31, 527, 540, 542 Triest: 494/18 Tucis: 457 Tuscien: 299, 299/30 Vannes (Bistum): 534 Venetien: 298 Verdun: 515/79, 527 Verona: 297 Vienne: 51, 226, 392, 542 Viennensis: 515/79 Vitoria (Victorianum): 473 Vouillé: 12, 20, 348, 472 Wadi Araba: 273/17 Wadi Hasā: 273/20 Wadi Sirhān: 272/17, 273/17/20 Zaragoza (Caesaraugusta): 450f., 457, 461, 471 Zeccone: 298/26 Zülpich: 58, 68/3 Zypern: 398/7
PERSONENREGISTER Abgar V. Ukkāmā: 280 Acisclus: 452 Adelfius von Poitiers: 527, 529/21 Adovacrius: 306/68 Aegidius: 43, 385, 387–389 Aelius Aristides: 100 Aemilianus (Marcus Licinius Ovinianus): 460/53 Aemilianus (magister militum): 303 Aemilius (vir clarissimus): 536f. Aemilius Paulus: 105 Aeneas: 455 Aeonius von Arles: 542/89 Aetherius von Lyon: 542/89 Aetius: 43, 71/13, 123/25, 342, 348 Agapitus (Agapet): 210/262, 334/186 Agesilaos: 99f. Agila: 452, 473 Agnellus: 470/117 Agricola (Bischof): 535/55 Akakios: 132/43, 134f., 221–223, 227, 323 Alarich: 37, 73/16, 121, 150–152, 154/46, 155/46, 157, 171, 211, 377, 395, 417/96, 429, 492/15, 516 Alarich II.: 51, 54, 61–63, 338, 451, 472 Albofledis: 71/11 Alexander der Große: 98–100 Alexander von Alexandrien: 217/2 Alkuin von Tours: 534 Alamundaros/al-Mundīr: 275f., 279–281 al-Tabarī: 277, 287/95 Amalaberga: 64 Amalafrida: 337 Amalarich: 338 Amalaswintha: 327/158, 328/160, 338, 487/1 Ambrosius: 12, 74, 76–79, 82, 85/59, 86– 90, 160, 170/107 Ammianus Marcellinus: 103/41, 271, 274– 276, 284, 341–343, 344/27, 383, 432/36, 537 Amorkesos: 282, 288 ʿAmr: 278/46 Anastasios I. (Kaiser): 9, 15, 17f., 20, 93– 101, 103–109, 118/13, 123/25, 127f., 140/57, 145/6, 148, 168/100, 180, 182, 185–188, 190, 193–196, 198f., 203– 206, 210/262, 214f., 220, 224, 227,
231f., 242–246, 248f., 253f., 262, 264, 283, 310/82, 326f., 333–335, 352, 377, 393, 395f., 400, 402/32, 403–407, 409– 422, 490/11, 491/13, 500/30, 547f., 559 Anastasius (römischer Bürger): 304 Anastasius II. (Bischof von Rom): 227– 229, 234, 235, 324 Andromachus: 323, 332/178 Anicia Iuliana: 244–246, 406, 409 Anonymus Valesianus: 234/114, 300, 328/160 Anthemios (Prätorianerpräfekt): 122f. Anthemios (Westkaiser): 249, 303/54, 305, 329, 330/166, 385, 389, 404/42, 467 Anthemios von Tralles: 263 Antiochos IV. Epiphanes: 545, 548f., 554 Antoninus: 465 Apion: 408 Apion II.: 247/39 Arbogast: 77/30, 353, 484, 527, 540 Arcadius Felix (consul): 334/188, 335 Ardabur: 406 Areobindos (Flavios Areobindos): 406 Areobindos (Flavios Areobindos Dagalaphus Areobindos): 400, 402/33, 406– 411, 416/94, 417–421 Arethas/al-Harith: 278/46, 279–282, 285 Ariadne: 97f., 106, 131/41, 136, 190, 194/207, 195, 404f./42 Aridius: 391 Arigern: 318 Aristides: s. Aelius Aristides Arius: 41f., 71/13, 217/2 Arkadios: 76/29, 98, 112, 121, 122/22, 128, 254 Armatus: 190, 305/67 Armentarius von Lyon (comes): 514/75 Arsenios Autorianos: 564 Artemius (Bischof): 471 Ascanius: 469 Aspar (Flavius Ardabur Aspar): 123/25, 146/8, 190–192, 397, 406, 419 Aspestos/Petrus: 282, 288, 291 Asterius (Turcius Rufius Apronianus Asterius): 304: 304 Asturius: 475 Athalarich: 338, 487
616 Athanagild: 472–474 Athanasius: 217/2 Attila: 166, 305 Audofleda: 55, 70/10 Augurius: 467 Augustinus: 74, 82/50, 85, 152–162, 163/79, 165–167, 171f., 189, 202/239, 209, 212f., 469, 483, 502, 508 Augustus: 100, 111, 200, 330, 345f., 459, 468, 473/132, 480 Aurelia Sabina: 462 Aurelian: 121, 270 Aurelius Victor: 398/4 Ausonius: 449 Authari: 373 Aventinus von Chartres: 468, 519/90, 527, 529/22 Avienus: 325/148 Avitus von Vienne: 12f., 51, 57, 60, 62, 67f., 69/5/6, 70–78, 80–86, 87/65, 88– 90, 231, 236f., 386, 392–396, 451, 515, 531, 539, 542/89 Avitus: 329 Badegisil von Le Mans: 358, 514/75 Balbus (Marcus Cornelius Novatus Baebius): 456 Barbaria: 300/36 Bardanes Tourkos: 563 Basiliskos: 17, 130–137, 140, 142, 160/74, 190, 194/203, 214, 222, 330, 404f./42 Basilius (Caecina Decius Maximus Basilius): 314 Basilius (Caecina Mavortius Basilius Decius): 314f. Basilius (Decius Marius Venantius Basilius): 314f. Basilius (Flavius Caecina Decius Basilius): 315 Basilius (Flavius Caecina Decius Maximus Basilius iunior): 321/130 Basilius von Kaisareia: 70/8, 317/110, 321, 322 Belisar: 129/37, 185, 208, 243, 253, 333/182, 418/104 Bellerophon: 104, 107 Bertegisilus: 540/82 Berthram: 358 Bilimer: 385 Boethius (Anicius Manlius Severinus Boethius): 314f., 317/110, 318, 337f. Boethius (Flavius Boethius): 331 Boethius von Cahors: 527, 529/21 Bonifacius (Bischof): 477/154
Register Bonifatius (Archidiakon): 322/132 Buterich: 86 Caecina: s. Basilius Caesarius von Arles: 62, 85/59, 514/74, 542/89 Calocerus: 398/7 Camillianus von Troyes: 527, 529/22 Cassianus: 462 Cassiodor: 50, 184/160, 231, 234, 295f., 302, 309, 327/158, 334, 338, 377, 386, 395, 487f., 512 Cassius Dio: 280/51 Castinus: 113 Cathernus: 533 Celsus: 475 Cervella: 478 Chararich: 372 Childebert I.: 252 Childerich I. (fränkischer König): 20, 33/12, 52f., 353, 368–370, 374–377, 425, 435f., 569, 575, 577/46, 579f., 582, 594 Chilperich (burgundischer Kg.): 384–393 Chilperich I. (fränkischer König): 56/49, 358 Chindaswinth: 511/66 Chloderich: 63f. Chlodoswinde: 51, 61/67, 73 Chlothar I.: 252 Chlotilde (Chrodechilde): 55–59, 69, 71– 73, 85/57, 236/128, 577 Chorikios: 102 Chronopius von Périgueux: 527, 531, 538f. Cicero: 284 Claudian: 102f., 107, 428 Claudius: 463 Cleph: 372f. Coelestin I.: 172 Consentius von Menorca: 469 Constantius I.: 428 Constantius II.: 71/13, 182/152, 226 Corippus: 246 Cyprian: 167/96, 174, 176, 178/137, 201 Cyprianus von Bordeaux: 527, 529/22 Dagalaiphus: 406 Damasus: 164/82, 166/95, 176, 177/133, 219, 220/16, 234 Daniel Sketiotes: 259 Daniel Stylites: 131/41, 134, 180, 205 Decius: s. Basilius Desiderius von Vienne: 542/89
Personenregister Dexikrates: 260 Diodor: 270/9 Diokletian: 112, 272, 272/17, 274, 311/86, 437, 453, 457, 458/46 Dominicus: 477/154 Domnolus: 358 Dynamius: 314f. Edeko: 305, 305/67 Edibius von Amiens: 527, 529/22 Eleusinus: 502 Eleutherius: 538/73 Ennodius von Pavia: 145/7, 232–234, 237, 296, 298, 299/31, 309, 325/149, 326, 386, 389–391, 394f., 513 Ephraem: 260 Epiphanios von Salamis: 179 Epiphanius von Mailand: 321 Epiphanius von Nantes: 527, 529/21 Epiphanius von Pavia: 391, 394 Eptadius: 55, 391 Ervig: 464/77 Euagrios: 132/43, 137/54, 182, 193 Eucherius von Lyon: 542/89 Eudoxia: 113, 209 Eufrasius von Clermont: 527, 531f. Eugenius: 77, 87/65 Eugipp: 234, 321 Eulalia: 452, 463f., 471 Eulogios (Präfekt): 259f. Eulogius (Diakon): 467 Eumolpos: 96 Euphemios (Patriarch von Konstantinopel): 96, 199, 205, 223f. Euphemius von Toletum: 466, 475 Euphronius von Tours: 542/89 Eurich: 15, 54, 300, 425f., 440, 451, 453, 463, 466, 482f., 485 Eusebia (aristokratische Christin): 562 Eusebia (Mutter des Germanus von Paris): 538/73 Eusebios: 82/47, 183/159, 219 Eusebius (Präfekt von Pavia): 314, 318/113 Eusebius (privatus) 502 Eusebius von Orléans: 527, 529/21 Euspicius: 541/85 Eustochius von Angers: 527, 531, 533 Eustochius von Tours: 533, 542/89 Eutharich: 327, 335, 338 Eutropios: 121 Eutyches: 396 Falco von Maastricht: 540
617
Falvax: 470/117 Faustus (Flavius Anicius Petronius Faustus iunior Niger): 314f., 318, 323, 333/181 Faustus (Flavius Anicius Probus Faustus iunior Niger): 186–188, 214f. Faustus (Venantius Severinus Faustus): 304 Felix III.: 160/74, 169–171, 223f., 321f., 323/139, 329 Felix IV.: 317, 322/132 Festus (Flavius Rufius Postumius Festus): 186, 188, 227, 230, 315, 324/144, 325, 333 Fibicius: 540f. Firmina: 299/31 Flavianus: 77/30, 209/261 Flavios, Flavius: s. Areobindos, Aspar, Basilius, Boethius, Faustus, Festus, Longinos, Olybrios, Patrikios Flavius Josephus: 246 Flavius Severinus: 315 Florentina: 476, 479/163 Florus (Publius Annius Florus): 480 Fotinus: 227/68 Francilio von Tours: 542/89 Fravitta (Fravitas): 121/21, 223 Fredegar: 84, 84/53, 236, 393, 472 Friderich: 297 Fritigern: 72/13, 79 Fructuosus: 467 Fulgentius: 476 Gabalas: 279 Gadhīma: 271, 277f. Gainas: 121f. Galerius: 562 Galla Placidia: 113 Geiserich: 37, 41, 124, 166/94, 312, 384 Gelasius: 19, 97, 160/74, 163, 169/102, 170f., 186–189, 198–210, 213, 215, 220, 224–229, 232–234, 237, 298f., 303, 321, 323, 333/181 Gennadius Avienus: 315 Gennobaudes: 369 Genovefa von Paris: 237 Georgios (lamprotatos ktetor): 554/54 Georgios Synkellos: 405/44 Germanus von Paris: 538/73 Gibica: 384 Gibichungen: 383–385, 387, 390f., 393– 396 Gildaredus von Rouen: 527, 530 Gildila von Syrakus: 487f., 511f., 514, 521 Gildo: 497/24
618 Gislahar: 384 Glycerius: 306/71, 389f. Godegisel: 61f., 384, 386, 390–393, 395 Godisthea: 406 Godomar: 384, 386, 394 Grammatius von Metz: 541 Gratian: 79 Gregor der Große: 82/47, 164/83, 211, 319/119, 320/122, 477, 479, 512, 522/98 Gregor von Tours: 12, 16, 34, 40/27, 46– 52, 54–65, 69/4/5, 71f., 81–83, 90, 235f., 305/68, 367–372, 377–381, 385– 387, 392, 394, 514–516, 518, 531, 533–535, 537, 542/89 Gundahar: 384, 387 Gunderich: 478 Gundioch: 384, 385, 386, 387, 388, 390, 391, 392 Gundobad: 55–57, 60–62, 71, 73/16, 80, 82, 84, 298, 329, 377, 384–396 Gunthiarius: 387 Hadrian: 100/22, 112, 473/132 Heldefredus: 466 Heraclius von Paris: 527, 529/22, 530/22 Herakleia Pontike: 556/65 Herakleios: 117f., 129, 194, 557, 562 Hermenegild: 474 Herminafrid: 64 Hesiod: 101 Hesychius von Vienne: 542/89 Hilarius von Arles: 164f., 385, 515/79, 542/89 Hilarius von Tarraco: 469 Hilarus (Bischof von Rom): 469f. Hilderich: 337 Hinkmar von Reims: 536 Homer: 100 Honoratus von Arles: 542/89 Honorius: 76/29, 112f., 151, 172, 428 Hormisdas: 211/262, 327, 335/190 Hortensius von Clermont (comes): 514/75 Hydatius von Aquae Flaviae (Chaves): 451f., 517/86 Hypatios: 106, 194, 244, 254f., 256/91, 260, 406/49, 408, 410/67, 411f./73, 415/89, 416–421 Iamblichus: 284 Ibas von Edessa: 490/10, 559 Ignatios von Antiocheia: 175/128 Ignotus: 456
Register Illus: 125f., 136–139, 190, 194/203, 195, 314, 332, 403, 404f./42, 548 Imru al-Qays: 277–280, 282 Ingunde: 474 Innozenz I.: 172, 465, 469 Ioannes (ktetor): 563/109 Iraeneus von Barcelona: 470 Irenäus (comes): 489/10 Irenäus von Lyon: 175 Isidor von Sevilla: 450, 451/12, 452, 454, 457/40, 463, 474, 476f., 479, 480, 484 Isidoros von Milet: 263 Isokasios: 555/59 Iulianus: 103 Jabala: 279, 283 Johannes (Bischof von Rom): 327f., 337 Johannes (römischer Kaiser): 113 Johannes (Sohn der Valeriana): 413–415 Johannes der Kappadoker: 19, 247, 256/91, 265 Johannes der Skythe: 138, 403–405, 406/49, 409, 411, 421 Johannes Kyrtos: 403–405, 406/49, 409, 411, 421/116 Johannes Lydos: 243, 247, 248/47, 249, 253, 265, 348, 398, 407/56 Johannes Malalas: 274, 280, 334/188, 348, 385, 388f., 399/17, 405/44, 409, 412/74, 413f., 545, 548, 551, 554, 557 Johannes Talaia: 223 Johannes von Antiocheia: 126, 128/35, 388f., 412–415 Johannes von Biclaro: 451/12, 466, 475, 479 Johannes von Ephesos: 179, 281 Johannes von Nikiu: 137/54 Johannes von Tarragona: 470 Jonas von Bobbio: 540 Jordanes: 55/42, 192, 301/42, 384, 387f. Josua Stylites: 138/54, 403, 407/56, 418, 490/11 Jovinus: 387 Julian (Kaiser): 275, 283, 372, 431f. Julian von Brioude: 530 Julianus: 242 Julius Nepos: 146, 314, 330/166, 331, 332/175, 390 Julius Saturninus: 458/46 Justa: 478 Justin I.: 17, 194, 196, 242, 244, 246, 248f., 253, 259, 327, 328/159, 333/182, 335, 337, 409/64, 412/74, 559 Justinian II.: 194
Personenregister Justinian: 9, 17–19, 102, 118/13, 129/37, 145/6, 180/147, 181f., 183/158, 185, 193–198, 204–210, 211/262, 215, 239, 241/5, 242–244, 246–249, 251–255, 257, 259–261, 263–265, 274/24, 279– 281, 284, 307, 333/182, 400/18, 409/64, 410/67, 412/74, 417, 418/104, 438, 473, 476, 489, 490/11, 496, 500f., 509, 545f., 548, 550, 552, 555, 556/63, 559, 562, 564 Justin II.: 194, 489, 496, 559 Justinus (Bischof): 554/54 Justinus (consul): 197/221 Kabades: 408 Kalandion: 139/56 Kandidos: 249, 331/169 Karl der Große: 425 Karl V.: 486 Keler: 400/18, 412, 418f. Klemens I.: 177, 178/134 Konstantin der Große: 74/19, 78, 82/47, 112, 114, 119f., 132, 182, 183/159, 218/7, 219, 229, 235, 236/128, 319, 397f., 437, 473/132, 475, 550 Konstantin V.: 562 Konstantinos (Prätorianerpräfekt): 125 Konstantinos Porphyrogennetos: 108 Kyrill von Skythopolis: 180/147, 282, 288 Kyrillos: 222, 415/89, 416/96 Kyros: 99f. Lakhme: 271 Lantechilde: 57 Laurentius: 228–230, 233, 237, 324–327, 337 Leander von Hispalis: 466, 474, 476, 477f., 484 Lentichildis: 70/10 Leo I. (Bischof von Rom): 160, 162, 163/79, 164–166, 169f., 176–178, 204, 209, 212f., 219f., 222, 234, 319, 465, 515/79 Leo(n) I. (Kaiser): 131f., 137f., 160, 163/79, 180, 182, 190, 196/212, 205, 214, 282, 376, 404f., 421, 467, 559 Leon II. (Kaiser): 404/40 Leon VI. (Kaiser): 562 Leontia: 405/42 Leontianus von Coutances: 527, 529/22 Leontios (Gegenkaiser): 17, 136–139, 190, 194/203, 195, 403–405 Leontios (praefectus praetorio orientis): 508/60
619
Leontios (praefectus urbi in Konstantinopel): 550/25 Leontius I. von Bordeaux: 542/89 Leontius II. von Bordeaux: 542/89 Leontius von Eauze: 527, 529/21 Leovigild: 15, 451/12, 452f., 472–474, 482f., 485 Leudast von Tour: 514/75, 516/81 Libanios: 503–507, 552 Libanius von Senlis: 527, 529/21 Liberatus: 208f., 221/26, 223 Liberius: 232, 309f. Libius Severus: 329, 385 Licinianus: 477 Licinius von Tours: 527, 531, 533f. Liteardus von Séez: 527, 529/21 Liuva: 473 Livila: 303 Longinos (Flavios Longinos): 137, 190, 194, 314, 404f. Longinos aus Selinous: 404 Longinos von Kardala: 404 Lovocatus: 533 Lucullus: 280 Lucus Augusti (Lugo): 459 Lupicinus von Angoulême: 527, 529/21 Lupus von Soissons: 527, 531, 536, 538 Maecius Felix (von Samnium): 553/43 Maiorian: 385, 388, 451, 504 Makedonios: 180 Malalas: s. Johannes Malalas Malchos: 305/67, 306/72, 330f. Mamertus von Vienne: 385 Mandrosus von Evreux: 527, 529/21 Marc Aurel: 78, 112 Marcellianus von Aquileia: 325/149 Marcellinus (Bischof von Rom): 232 Marcellinus Comes: 144f., 300, 400, 407/56, 412 Marcellus (Zenturio): 462 Marcellus von Die: 385, 388 Marcellus von Paris: 538/73 Marcianus: 332 Marcomer: 369 Mare (Miaphysit): 181 Marinos der Syrer: 413f. Marius von Avenches: 62, 387f., 393 Markian: 116, 125, 130–132, 190, 192, 194/203, 310/83, 404/42, 475, 550, 559 Martin I.: 240 Martin von Tours: 47, 61, 69/6, 237 Masona von Mérida: 475, 484 Maurikios: 116f., 129/37, 197, 434
620 Maurilio von Cahors: 518 Mavia: 280, 283, 291 Maxentius: 78/35 Maximian: 458/46 Maximinus Daia: 562 Maximinus Thrax: 192 Maximos Homologetes: 240 Maximus Licinianus: 274/22 Maximus von Genf: 392 Medardus von Saint-Quentin: 530/24 Mela (Pomponius): 449 Melanius von Rennes: 527, 531, 533–536 Memnon von Ephesos: 489/10, 490/10 Menander Rhetor: 99 Merobaudes: 428/21 Merowech: 84/53, 370 Migetius von Narbona (Narbonne): 466 Miltiades von Rom: 219 Minicius: 469 Modestus von Vannes: 527, 529/21 Montanus: 476, 480 Mundus: 253 Naaman: 291 Namatius von Vienne: 542/89 Nectardus: 530/24 Nepus von Avranches: 527, 529/21 Nero: 112, 454f., 457 Neuthius: 550/25 Nicephoros I.: 563 Nicetius von Auch: 527, 529/22, 530/22 Nicetius von Lyon: 514/75, 542/89 Nicetius von Trier: 50, 61/67, 73 Nonnos: 102 Nundiarius: 470 Odainath: 270 Odoaker: 14, 54f., 138, 147, 148/11, 184– 186, 188/180, 189, 192, 194/203, 212, 214, 220, 293–301, 302/48, 303–317, 319–323, 327–333, 335–337, 390, 394 Olybrios (Flavius Anicius Olybrius): 244, 254, 255/84, 389, 406 Olympiodoros von Theben: 171, 387 Ommatius von Tours: 542/89 Onoulf: 303, 305/67 Orestes: 299–301, 305/67, 307, 330 Origenes: 88/68, 174 Orosius: 155, 369 Ostrogotha: 395 Pamprepios: 139/56 Pantagathus von Vienne: 542/89 Pantardus von Bracara: 466
Register Pascentius: 465 Paschasius: 234 Paternus von Avranches (Heiliger): 529/22 Patiens von Lyon: 389, 542/89 Patrikios (Flavios Patrikios): 408, 410/67, 411–418, 419/110, 420f. Patruinus: 465 Paula: 478 Paulinus (Lucius Iunius Paulinus): 456 Paulus (Bruder des Orest): 299 Paulus Diaconus: 372f., 385 Peisistratos: 100 Pelagius: 151, 516 Pelagius II.: 303 Perpetuus von Tours: 69/6, 542/89 Perseus: 105 Petros der Iberer: 205 Petros der Walker: 132 Petros Mongos von Alexandrien: 222f., 490/10 Petrus Probinus: 315 Petrus von Altinum: 230 Petrus von Saintes: 527, 530/22 Philotheos (Laie): 563 Philostorgios: 172 Phloros: 261f. Phokas: 197, 247 Photios: 331/169 Pierius: 303f. Placidia: 406 Placidus: 314 Plinius der Ältere: 449 Plinius der Jüngere: 456 Podosacis: 275, 284 Polybios: 119/16 Pompeios (Neffe Anastasios’ I.): 194, 254f., 256/91, 260 Pompeius: 104, 245, 269 Porphyrios von Gaza: 501 Praetextatus: 317/110 Principius von Le Mans: 527, 530/22 Principius von Soissons: 537 Priscian von Caesarea: 18, 93f., 102–109 Priscillian: 461 Priscus von Lyon: 542/89 Priskos: 117, 249, 305 Probinus: 314 Probos: 194, 254, 255/84, 260 Procopius: 332 Proklos: 414 Prokop: 18, 93–102, 104, 106–109, 129, 193f., 243, 249–251, 253–256, 258, 260, 264f., 275, 279–281, 284, 300, 304, 307f., 345–349, 351, 354/75, 399,
Personenregister 400/17, 405/44, 407/56, 416/94, 418, 512 Prosper Tiro: 60f. Protagia/Protasia: 530/24 Prudentius: 449f., 462 Pseudo-Dionysios von Tel-Mahre: 403/35 Pseudo-Zacharias Rhetor: 407 Quintian von Clermont: 514/75 Quintianus von Rodez: 527, 530 Quintus Aurelius Memmius Symmachus iunior: s. Symmachus Ragnachar: 54, 372 Rechila: 463 Rekkared: 15, 70/8, 451/12, 452, 474f., 483, 485 Rekkeswinth: 511/66 Remigius von Reims: 33f., 58f., 71f., 88/71, 235f., 376, 527, 529f./22, 536– 538, 540, 542/89, 543 Renatus Profuturus Frigeridus: 369 Ricimer: 305, 316, 329, 385, 388f., 391 Romulus Augustulus: 17, 54, 143–146, 162, 212, 214, 299, 300/36/37, 305, 329, 390 Rua: 124 Rufina: 478 Rufinus: 121/19 Rufius Achillius Maecius Placidus: 315 Rufius Acilius Sifidius: 315 Rufus: 434/41 Ruricius I. von Limoges: 530/22, 531f., 538/72, 539 Ruricius II. von Limoges: 541 Rusticus von Aire: 529/22 Rusticus von Lyon: 542/89 Rutilius Namatianus: 151 Sabas: 181 Sacerdos von Lyon: 542/89 Salvian von Marseille: 497 Seneca: 87/65, 453–456 Sergios (miaphysitischer Asket): 179 Sergios I. (Patriarch von Konstantinopel): 117 Sergius von Tarragona: 470 Servilius Isauricus Vatia: 104 Severianus: 476 Severin: 300/36, 321 Severinus iunior: 314f. Severos (Mönch): 179 Severus von Malaca: 477 Severus von Menorca: 502, 504
621
Sextilius von Bazas: 527, 529/21 Sextus Marius: 481 Shapur II.: 287/95 Sidonius Apollinaris: 33f., 102, 320/124, 384–386, 389f., 392, 394, 515, 537, 539 Sifidius: 314 Sigibert (König): 372 Sigibert von Köln: 63f. Sigismund: 62, 82/50, 90/75, 384, 387, 389, 391–396 Silius Italicus: 449 Silvanus von Calaguris (Calahorra): 469 Silvester: 219, 232, 235/126, 236 Simeon Stylites: 291 Simplicius (Bischof von Rom): 160/74, 169/102, 223, 321f., 329 Simplicius von Bourges: 542/89 Siricius: 164, 178/135 Sisbert: 474 Sixtus: 232 Sokrates: 171f., 182 Sollemnis von Chartres: 543 Sozomenos: 172 Stephanus (presbyter): 471 Stilicho: 151, 388/41, 391, 428 Strabo: 126, 270/9, 280, 284, 449 Strategios: 247/39, 257f. Suffronius von Noyon: 527, 529/21 Sulpicius Alexander: 369, 371 Sulpicius von Bourges: 542/89 Sunigild: 321/129 Sunno: 369 Syagrius von Bourges: 542/89 Syagrius: 43, 47, 49, 54, 392 Symmachus (Quintus Aurelius Symmachus): 168/100, 211/262, 228–232, 234f., 237, 314, 318, 321/131, 324– 326, 331, 337 Symmachus (Quintus Aurelius Memmius Symmachus iunior): 315 Tacitus: 280, 341 Taurentius: 532 Tertullian: 175, 176/129 Tetradius von Bourges: 527, 530, 531/26 Thela: 185, 192, 332/179 Themistios: 101 Theodahad: 333/182 Theodegotha: 338 Theoderich I. (Theodorid): 384, 388 Theoderich II.: 320/124, 452, 463 Theoderich der Große: 14f., 30f., 34f., 37, 39, 40–43, 47, 50, 54–56, 61, 63f.,
622 69/4, 70/10, 79/39, 106f., 126, 138, 146/8, 147f., 168, 184/160, 185–189, 191, 192/194, 212–215, 218, 220, 224, 226f., 229–232, 234/114, 235, 293– 300, 302–306, 307/73, 308–318, 319/116, 320, 323–328, 331–338, 377, 393–396, 487 Theoderich Strabo: 125f., 191, 306 Theodor von Mopsuestia: 490/10, 501/36 Theodor von Sykeon: 556 Theodora: 197/221 Theodoret: 172 Theodoros Anagnostes: 227 Theodoros Studites: 563 Theodorus (defensor): 504 Theodorus Lector: 405/44 Theodosius I.: 12, 13, 19, 74, 76–79, 86– 89, 112, 114, 160, 167, 223/35, 237, 453, 457, 460, 490/10 Theodosios II.: 98, 112f., 116, 124, 125/29, 128, 129/36, 132, 162, 165, 172, 209, 422, 550 Theodosios (comes): 558 Theodosius von Auxerre: 527, 530/22 Theophanes: 193/200, 399f./17, 405, 407f., 418 Theudebert I.: 252, 347 Theudis: 337 Theudomer: 369 Thiudimir: 191 Thomas: 260 Thrasamund: 337 Tiberius (römischer Kaiser): 112, 274/24, 455, 481 Tiberios II. Konstantinos: 118f., 133, 281 Tiberius Claudius Laetus (comes): 458/46 Tigranes: 280 Timotheos Ailuros: 132, 134f., 182, 490/10 Titianus: 469 Trajan: 100, 473/132 Tranquilinus: 470 Tribigild: 121 Tribonian: 241 Trokundes: 137, 314 Tufa: 297, 303 Tuluin: 338 Turcius Rufius Apronianus Asterius: s. Asterius Turtura: 476 Tyconius: 154/46 Ullus: 252 Ulpian: 550, 552
Register Ursus von Toul: 541 Ursus: 502 Valens: 79, 121/18, 291, 343 Valentinian II.: 484 Valentinian III.: 113, 144/5, 164f., 209f., 314, 342, 406 Valeriana: 413 Valila: 303 Venantius Fortunatus: 103/38, 519f., 529/22, 533/43, 538f., 541 Verina: 137f., 139/56, 190, 194/207, 404/42 Verus II. von Vienne: 542/89 Verus von Tours: 62 Vespasian: 455 Victorius: 304 Victorianus (Heiliger): 470 Vigor: 540 Vincentius (dux Hispaniarum): 451, 466 Vincentius (Heiliger): 478 Virgil: 304/64 Vitalian: 94/3, 106/48, 118/13, 127f., 192, 409/67, 411–416, 420/113, 421 Vitonus von Verdun: 541 Volusianus von Tours: 62, 542/89 Witigis: 333/182, 347 Wulfila: 72/13 Zenobia: 270, 280 Zenon: 55, 94/3, 97f., 125–128, 131–134, 136–139, 148, 169/102, 170, 180, 182, 184, 186, 190–192, 194f., 205, 214, 222f., 227/72, 262, 310, 313/93, 314f., 329–332, 333/181/183, 336, 376, 397, 403f., 405/42, 409/67, 410, 420f., 464f., 559 Zenonis: 133 Zooras: 181, 205 Zosimos: 398, 502
Matthias Becker
Eunapios aus Sardes Biographien über Philosophen und Sophisten. Einleitung, Übersetzung, Kommentar Roma Aeterna — Band 1 Eunapios’ Biographiensammlung ist um 400 n. Chr. entstanden und stellt neuplatonische Philosophen des dritten und vierten Jahrhunderts n. Chr. sowie Rhetoriker und Mediziner des vierten Jahrhunderts n. Chr. vor. In dieser bedeutenden Quelle für die Geistesgeschichte der Spätantike legt Eunapios, ein überzeugter Gegner des Christentums, mit den Mitteln der Biographik ein leidenschaftliches Plädoyer für pagane Kultur, Religion und Bildung ab. Damit möchte er zur Identitätssicherung paganer Intellektuelleneliten beitragen.
Matthias Becker Eunapios aus Sardes 2013. 667 Seiten. Geb. & 978-3-515-10303-9 @ 978-3-515-10361-9
Matthias Beckers Buch bietet nicht nur die erste deutsche Übersetzung dieses sprachlich komplexen Textes, sondern auch eine umfangreiche Einleitung sowie den ersten deutschsprachigen Kommentar. Darin werden v. a. literatur- und religionswissenschaftliche sowie philosophische und historische Aspekte in den Blick genommen. Die Kollektivbiographie des Eunapios wird dabei als pagane Hagiographie interpretiert: Als ein zentraler Vertreter dieser nicht-christlichen Form der Heiligenschriftstellerei entwirft Eunapios seine Protagonisten als Heilige und Göttergesandte, die ein Gegenmodell zum christlichen Heiligen- und Märtyrerkult der Zeit bilden sollen. Die Arbeit wurde mit dem Promotionspreis der Philosophischen Fakultät der Universität Tübingen sowie dem Manfred Lautenschlaeger Award for Theological Promise 2014 ausgezeichnet.
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Jan-Markus Kötter
Zwischen Kaisern und Aposteln Das Akakianische Schisma (484–519) als kirchlicher Ordnungskonflikt der Spätantike Roma Aeterna — Band 2
Jan-Markus Kötter Zwischen Kaisern und Aposteln 2013. 361 Seiten. Geb. & 978-3-515-10389-3 @ 978-3-515-10391-6
Die Abgrenzung kirchlicher und weltlicher Sphären war eines der konfliktträchtigsten Themen spätantiker Kirchengeschichte – und bildete den zentralen Aspekt des „Akakianischen Schismas“, der ersten Spaltung zwischen den Kirchen von Rom und Konstantinopel. Diese Kirchenspaltung reiht sich ein in eine längere Folge strukturell ähnlicher Konflikte. Gedanken einer Trennung von Kirche und Reich waren nämlich keineswegs unumstritten: Verschiedene Bischöfe rangen vielmehr darum, wie weit sich die Kirche Gedanken politischer Ratio in der Umwelt eines christlichen Reiches öffnen sollte. Bei der Nachzeichnung dieses Konflikts, ausgehend von der Analyse des „Akakianischen Schismas“, konzentriert sich Jan-Markus Kötter nicht auf altbekannte Fragestellungen um das Verhältnis von Bischöfen und Kaisern, sondern betrachtet den bischöflichen Streit maßgeblich als innerkirchlichen Konflikt. Die Arbeit wurde mit dem Dissertationspreis des Stiftungsfonds Kopper ausgezeichnet. .............................................................................
Aus dem Inhalt Hinleitung: Voraussetzungen des Schismas: Ereignisgeschichtlicher Überblick I: von Chalkedon bis zum Henotikon | Die Entwicklung der fünf Großkirchen bis 482/84 p Bischöfliches Handeln: Ereignisgeschichtlicher Überblick II: vom Bruch bis zur Wiederherstellung der Gemeinschaft p Die Frage nach der kirchlichen Ordnung: Apostolische und politische Begründungen | Positionen und Handeln weiterer kirchlicher Akteure | Positionen und Handeln der Kaiser im Schisma p Schluss: Zusammenfassung: das Schisma und die Ordnung der Kirche | Einordnung: das Schisma als Beispiel
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In den Jahrzehnten um 500 n. Chr. vollzogen sich rund um den Mittelmeerraum Entwicklungen, die in erheblichem Maße zur Transformation der antiken in die mittelalterliche Welt beigetragen haben. Ausgehend von der Person Chlodwigs I., die in verschiedener Hinsicht paradigmatisch für zentrale Aspekte, die diese Übergangsphase prägten, steht, zeigen die Beiträge, aus welchen Gründen, in welcher Weise und in welchen Formen Herrschaft in den unterschiedlichen Regionen des auseinanderbrechenden Imperium Romanum neu organisiert wurde. Der Blick der Verfasser richtet sich dabei nicht nur auf die universale Ebene des Papsttums und des Kaisertums, dessen Abschaffung im Westen seit 476 in besonderer Weise die Erfordernis, Herrschaft neu zu konzipieren, manifest werden lässt. Vielmehr werden auch einzelne Teilräume in ihren je spezifischen Eigenheiten untersucht, bis hinab auf die Ebene der Städte und lokalen Gemeinschaften. Die interdisziplinäre Perspektive von Althistorikern, Mediävisten, Byzantinisten, Archäologen und Kirchenhistorikern schafft eine neue Grundlage dafür, signifikante Veränderungen in der Konzeption und Ausgestaltung von Herrschaft zwischen Antike und Mittelalter klarer zu erfassen.
ISBN 978-3-515-10853-9
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7 83 5 1 5 1 085 39
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