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German Pages [507] Year 1997
Jurij M. Lotman Rußlands Adel
BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HÄRDER ( f ) und HANS ROTHE Herausgegeben von KARL GUTSCHMIDT, PETER THIERGEN und LUDGER UDOLPH Reihe A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN Begründet von REINHOLD OLESCH ( t ) Band 21
Jurij M. Lotman
Rußlands Adel Eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I.
Aus dem Russischen von Gennadi Kagan
® 1997
BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN
Titel der Original-Ausgabe Besedy o russkoj kul'ture Byt i tradicii russkogo dvorjanstva (XVII - nacalo XIX veka) © 1994 by Iskusstvo - SPB Sankt Petersburg Die Veröffentlichung der deutschen Ausgabe erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages Iskusstvo, Sankt Petersburg
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Lotman, Jurij M.: Russlands Adel: eine Kulturgeschichte von Peter I. bis Nikolaus I. / Jurij M. Lotman. Aus dem Russ. von Gennadi Kagan. - Köln ; Weimar ; Wien : Böhlau, 1997 (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte : Reihe A, Slavistische Forschungen ; Bd. 21) ISBN 3-412-13496-1 Bildlegenden: R. G. Grigor'ev Fotos: N. I. Sjul'gin, L. A. Fedorenko Redaktion: Alexa Geisthövel, Meike Barth © 1997 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Alle Rechte vorbehalten Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier Satz und Lithos: Punkt für Punkt GmbH, Düsseldorf Druck und Bindung: Friedrich Pustet, Regensburg Printed in Germany ISBN 3-412-13496-1
INHALT
Einführung: Lebensweise und Kultur
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Erster Teil: Menschen und Dienstränge 15 Die Welt der Frauen 47 Frauenbildung 79
Zweiter
Teil:
Der Ball 94 Brautwerbung, Heirat, Scheidung Der russische Dandy 130 Kartenspiel 144 Das Duell 174 Die Kunst des Lebens 192 Lebensbilanz 226
Dritter
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Teil:
„Die Jungen aus Peters Nest" 250 Das Jahrhundert der Recken 275 Zwei Frauen 313 Menschen des Jahres 1812 344 Dekabristen im Alltag 363 Statt eines Schlußwortes: „Zwischen zwiefachem Abgrund" 425 Anmerkungen 431 Personenregister 445
EINFÜHRUNG
LEBENSWEISE UND KULTUR
Bevor wir uns den Diskursen über die russische Lebensweise und Kultur im 18. und zum Beginn des 19. Jahrhunderts zuwenden, müssen wir vor allem die Bedeutung der Begriffe ,Lebensweise',,Kultur',,russische Kultur im 18. und zum Beginn des 19. Jahrhunderts' und ihre Beziehungen zueinander bestimmen. Dabei ist anzumerken, daß der Begriff ,Kultur', der zu den fundamentalsten im Themenkreis der Wissenschaften über den Menschen gehört, selbst Gegenstand einer speziellen Monographie sein könnte und es auch bereits mehrfach geworden ist. Es wäre also befremdlich, wollten auch wir uns in dem vorliegenden Buch ein solches Ziel setzen und den Versuch unternehmen, die Streitfragen zu lösen, die mit diesem Begriff verbunden sind. Der Begriff ist überaus umfangreich. Er umschließt sowohl die Sittlichkeit als auch den ganzen Kreis der Ideen, das Schöpfertum des Menschen und vieles andere mehr. Uns soll es genügen, uns auf jene Seite des Begriffs ,Kultur' zu beschränken, die uns für die Beleuchtung unseres relativ enggefaßten Themas unerläßlich erscheint. Kultur ist vor allem ein kollektiver Begriff. Der einzelne Mensch kann Träger der Kultur sein, kann aktiv an ihrer Entwicklung teilnehmen; dessenungeachtet bleibt die Kultur, wie auch die Sprache, ihrer Natur nach eine gesellschaftliche, das heißt eine soziale Erscheinung. Folglich ist die Kultur für ein beliebiges Kollektiv, für eine Gruppe von Menschen also, die in der gleichen Zeit leben und durch eine bestimmte soziale Organisation miteinander verbunden sind, etwas Allgemeingültiges. Daraus ergibt sich, daß die Kultur eine Form des Kontaktes zwischen den Menschen darstellt und nur in einer Gruppe möglich ist, in der die Menschen miteinander kommunizieren. (Die Organisationsstruktur, die Menschen, die zur gleichen Zeit leben, vereinigt, nennen wir die synchrone
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In b e s t i m m t e n P o s i t i o n e n , die j e d o c h i m m e r A u s n a h m e n darstellen, k a n n m a n z w a r
v o n der K u l t u r eines einzelnen M e n s c h e n reden. D a n n ist aber darauf hinzuweisen, daß wir es mit einem K o l l e k t i v zu tun haben, daß nur aus einer P e r s o n besteht. Allein die T a t s a c h e , daß diese P e r s o n sich unvermeidlich der Sprache bedient, also gleichzeitig als R e d e n d e r u n d H ö r e n d e r auftritt, versetzt sie in die P o s i t i o n eines Kollektivs. S o sprachen z u m Beispiel die R o m a n t i k e r häufig v o n der äußersten Individualität ihrer K u l t u r u n d d a v o n , daß, im Idealfall, in ihren T e x t e n d e r V e r f a s s e r selbst zu s e i n e m einzigen Z u h ö r e r ( L e s e r ) w i r d . A b e r auch in dieser Situation w e r d e n die R o l l e n des d u r c h die S p r a c h e v e r b u n d e n e n R e d e n d e n u n d H ö r e n d e n nicht a u f g e h o b e n , s o n d e r n g l e i c h s a m in d a s Innere d e r einzelnen P e r s o n t r a n s p o n i e r t : „ I n m e i n e m G e i s t erschuf ich eine a n d e r e W e l t / u n d die G e s t a l t e n anderer Existenzen" (M. J. Lermontow).
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Einführung
Struktur, und wir werden diesen Begriff im weiteren bei der Bestimmung einer Reihe uns interessierender Erscheinungen verwenden). Jede Kultur, die die Sphäre der sozialen Kontakte bedient, ist Sprache. Das heißt, sie bildet ein bestimmtes Zeichensystem, das von den Mitgliedern des jeweiligen Kollektivs den allgemeinen Regeln entsprechend verwendet wird. Zeichen nennen wir dabei jeden materiellen Ausdruck (Wörter, Zeichnungen, Dinge usw.), der eine Bedeutung hat und somit als Mittel zum Transportieren eines Sinngehalts dienen kann. Demzufolge besitzt Kultur zum ersten eine kommunikative und zum zweiten eine symbolische Natur. Verweilen wir bei der letzteren. Denken wir an etwas ganz Einfaches und Gewöhnliches (wie z.B. Brot). Brot ist etwas Dingliches, Sichtbares. Es hat ein bestimmtes Gewicht, eine bestimmte Form, man kann es schneiden, essen. Brot, das gegessen wird, tritt in einen physiologischen Kontakt mit dem Menschen. In dieser seiner Funktion fragt man nicht danach: Was bedeutet es? Es hat nicht irgendeine Bedeutung, sondern lediglich einen Verwendungszweck. Wenn wir aber sagen: „Unser täglich Brot gib uns heute", bedeutet das Wort ,Brot' nicht einfach nur Brot als Ding, sondern hat eine umfassendere Bedeutung. Lesen wir im Evangelium des Johannes die Worte Christi: „Ich bin das Brot des Lebens, wer zu mir kommt, den wird nicht hungern" (Johannes Evangelium 6,5), dann haben wir es mit einer komplizierten symbolischen Bedeutung sowohl des betreffenden Gegenstandes als auch des ihn bezeichnenden Wortes zu tun. Auch ein Schwert ist nicht mehr als ein Gegenstand. Als Ding kann man es schmieden oder zerbrechen. Man kann es in die Vitrine eines Museums legen, und man kann damit einen Menschen töten. Das alles sind seine Verwendungsmöglichkeiten als Gegenstand, aber wird es an einem Gurt oder an einem Tragriemen; an der Hüfte getragen, symbolisiert das Schwert einen freien Menschen und ist ein ,Zeichen der Freiheit', erscheint es bereits als Symbol und gehört der Kultur an. Im 18. Jahrhundert trägt der russische und der europäische Edelmann kein Schwert, sondern einen Degen an der Hüfte, manchmal einen winzigen, geradezu spielzeugartigen Paradedegen, der praktisch schon keine Waffe mehr ist. In diesem Falle ist der Degen ein Symbol des Symbols: er bedeutet Schwert, und Schwert bedeutet wiederum die Zugehörigkeit zu einem privilegierten Stand. Die Zugehörigkeit zum Adel bedeutet auch die Verpflichtung zu bestimmten Verhaltensregeln, zu einem Ehrenkodex und sogar zu einer bestimmten Kleiderordnung. Wir wissen von Fällen, in denen „das Tragen einer dem Adel unangemessenen Kleidung" (nämlich eines bäuerlichen Gewandes), ja sogar eine „nicht standesgemäße" Barttracht den Unwillen der politischen Polizei und sogar des Kaisers hervorrief. Der Degen als Waffe, als Bestandteil der Kleidung, als Symbol, als Zeichen des Adels das alles sind verschiedene Funktionen des Gegenstandes im allgemeinen Kontext der Kultur.
Lebensweise und Kultur
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In seinen unterschiedlichsten Verkörperungen kann das Symbol also gleichzeitig Waffe sein und einem praktischen Verwendungszweck dienen oder sich völlig von seiner eigentlichen Funktion entfernen. So schließt z.B. der kleine, speziell für Paraden bestimmte Degen jeden praktischen Gebrauch aus, ist faktisch nur eine Darstellung der Waffe und nicht mehr die Waffe selbst. Emotionen, Gebärdensprache, Funktionen trennen die Paradesphäre völlig von der des Kampfes. Erinnern wir uns der Worte Tschazkis: „Ich werde in den Tod gehen wie zu einer Parade". Und gleichzeitig begegnen wir in „Krieg und Frieden" von Leo Tolstoi, in der Beschreibung eines Kampfes, einem Offizier, der seine Soldaten mit einem Paradedegen in der Hand (einem nutzlosen Gegenstand also) in die Schlacht führt. Es ist diese bipolare Konstellation selbst, „Kampf - Kampfspiel", aus der die komplizierten Beziehungen zwischen der Waffe als Symbol und der Waffe als Realität entstanden. So wird der Degen (das Schwert) in das symbolische Sprachsystem der Epoche eingeflochten und zum Faktum ihrer Kultur. Und noch ein Beispiel. Wir lesen in der Bibel (Buch der Richter, 7, 13-14): „Da nun Gideon kam, siehe, da erzählte einer dem anderen einen Traum und sprach: Siehe, mir hat geträumt, mich däuchte, ein geröst Gerstenbrot wälzte sich zum Heer der Midianiter; und da es kam an die Gezelte, schlug es dieselbigen, und warf sie nieder, und kehrte sie um, das oberste zu unterst, daß das Gezelt lag./ Da antwortete der andere: Das ist nichts anders, denn das Schwert Gideon..." Hier bedeutet das Brot Schwert und das Schwert - Sieg. Und indem der Sieg mit dem Ruf „Hie das Schwert des Herrn und Gideon!" ohne einen einzigen Hieb errungen wurde (die Midianiter erschlugen sich gegenseitig: „...schaffte der Herr, daß im ganzen Heer eines jeglichen Schwert wider den andern war"), ist das Schwert hier als ein Zeichen der Kraft Gottes zu sehen und nicht als das eines militärischen Sieges. Somit ist der Bereich der Kultur immer ein Bereich des Symbolischen. Führen wir ein weiteres Beispiel an: In den frühesten Fassungen der altrussischen Gesetzgebung „Russkaja Prawda" („Das russische Recht") hatte die Art der Entschädigung (,Wira'), die der Angreifer dem Angegriffenen zu entrichten hatte, proportional dem zugefügten materiellen Schaden entsprechend (Art und Größe der Wunden) auszufallen. In den späteren gesetzlichen Normen scheint diese Regelung jedoch eine unerwartete Wendung genommen zu haben: Eine Wunde, selbst eine schwerere, die mit der blanken Schwertklinge zugefügt wird, erfordert eine geringere Entschädigung als weniger gefährliche Schläge mit einer nicht entblößten Waffe, dem Schwertgriff, dem Becher bei einem Gastmahl oder mit dem ,Rücken' der Faust. Wie läßt sich dieser von unserem Standpunkt aus paradoxe Umstand erklären? Es findet eine Umformierung der Moral des Militärstandes statt und damit auch des Begriffs der Ehre. Die mit der blanken ,scharfen' Waf-
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Einführung
fe zugefügte Wunde verletzt, aber entehrt nicht. Mehr noch, sie ist sogar ehrenvoll, da man gegen einen Gleichen gekämpft hat. Und so ist in den Gebräuchen des westeuropäischen Rittertums die sogenannte Weihe, das heißt die Erhebung eines ,Niederen' in den Stand eines ,Höheren' durch einen realen, später symbolischen Schlag mit dem Schwert (Ritterschlag), keine zufällige Erscheinung. Wer so dem Zufügen einer Wunde für würdig befunden wird (später des symbolischen Ritterschlages), wird gleichzeitig auch als sozial Gleichstehender anerkannt. Ein Schlag mit einer nichtentblößten Waffe, mit dem Schwertgriff, mit einem Stock oder überhaupt mit einer Nichtwaffe entehrt, so schlägt man nur Hörige. Der feine Unterschied, den man zwischen einem ,ehrenhaften' Schlag mit der Faust und einem ,unehrenhaften' mit dem ,Rücken' der Faust macht, ist bezeichnend. Man registriert bei der gegenseitigen Abhängigkeit von realem Schaden und der Skala der Zeichensymbole eine gegenläufige Tendenz. Das wird besonders deutlich an dem in den Bräuchen des Rittertums später auch bei Duellen, üblich werdenden Ersetzen des realen Schlages ins Gesicht durch das Werfen des Handschuhs, sowie überhaupt, etwa bei Duellforderungen, durch die Gleichsetzung von beleidigender Geste und Beleidigung durch die Tat. Dementsprechend spiegelten auch die späteren Textfassungen der „Russkaja Prawda" („Das russische Recht") diese Veränderungen wider, deren Sinn sich so bestimmen läßt: Verteidigung in erster Linie gegen materiellen, leiblichen Schaden wird durch Verteidigung gegen Beleidigungen ersetzt. Die materielle Beeinträchtigung, wie auch der materielle Wohlstand und überhaupt die Dinge in ihrem praktischen Wert und ihrer Funktion gehören dem Bereich des praktischen Lebens an, während Beleidigung, Ehre, Gegenwehr gegen Herabsetzung, das Gefühl der eigenen Würde und Höflichkeit (Respektieren der fremden Würde) der kulturellen Sphäre angehören. Der Sex gehört zur physiologischen Seite des praktischen Lebens; alle Liebesregungen aber und die durch Jahrhunderte mit ihnen verbundene Symbolik konventioneller Rituale, all das, was A. P. Tschechow „Veredelung des geschlechtlichen Gefühls" nannte, ist Bestandteil der Kultur. Und so wurde auch die sogenannte ,sexuelle Revolution', die durch die Beseitigung von ,Vorurteilen' und anscheinend ,unnötigen' Kompliziertheiten beim Ausleben eines der mächtigsten Triebe des Menschen besticht, faktisch zu einem der stärksten Mauerbrecher, mit dem die Antikultur des 20. Jahrhunderts gegen das jahrhundertealte Gebäude der Kultur anstürmte. Wir haben den Ausdruck „das jahrhundertealte Gebäude der Kultur" verwendet. Das geschieht nicht zufällig. Wir sprachen von der synchronen Organisation der Kultur. Dabei ist zu betonen, daß die Kultur darunter stets die Bewahrung vergangener Erfahrungen versteht. Mehr noch, eine der wichtigsten Definitionen der Kultur charakterisiert sie als das ,nichtgenetische' Gedächtnis des Kollektivs. Kultur ist Gedächtnis. Und so ist
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sie immer mit Geschichte verbunden, versteht sie darunter die Kontinuität des moralischen, intellektuellen und geistigen Lebens des Menschen, der Gesellschaft, der Menschheit. Deshalb sprechen wir, wenn wir, vielleicht ohne uns dessen bewußt zu sein, über unsere zeitgenössische Kultur reden, von dem gewaltigen Weg, den diese Kultur zurückgelegt hat. Dieser Weg zählt Jahrtausende, überquert die Grenzen historischer Epochen, nationaler Kulturen, und läßt uns eintauchen in eine einzige Kultur - die Kultur der Menschheit. Aus diesem Grunde ist Kultur auch immer einerseits eine bestimmte Anzahl von überlieferten Texten und andererseits von überlieferten Symbolen. Die Symbole der Kultur entstehen selten in ihrem synchronen Schnitt. In der Regel kommen sie aus der Tiefe der Jahrhunderte und werden, wobei sie ihre Bedeutung verändern, ohne daß dabei die Erinnerung an die vorangegangenen Bedeutungen verlorengeht, an die künftigen Phasen der Kultur weitergegeben. Während der gesamten Zeitspanne ihrer jahrtausendealten Kultur begleiten die Menschheit so einfache Symbole wie der Kreis, das Kreuz, das Dreieck, die Wellenlinie; komplizierte wie die Hand, das Auge, das Haus und noch weitaus komliziertere (z.B. Sitten). Das heißt, die Kultur ist ihrer Natur nach historisch. Ihre Gegenwart existiert immer in Beziehung zur Vergangenheit real oder in Form von Mythologien geschaffen, zu Zukunftsprognosen. Diese historischen Zusammenhänge nennt man diachrone Zusammenhänge. Wie wir sehen, ist die Kultur ewig und weltumfassend, dabei stetig in Bewegung und veränderlich. Darin besteht die Kompliziertheit des Verständnisses der Vergangenheit (ist sie doch vergangen, hat sie sich von uns entfernt). Darin besteht aber auch die Notwendigkeit des Verständnisses der vergangenen Kultur: in ihr existiert immer das für uns jetzt, heute Notwendige. Wir studieren Literatur, lesen Bücher, interessieren uns für die Schicksale der Helden, wie z.B. Natascha Rostowa, Andrej Bolkonski oder die Helden Zolas, Flauberts, Balzacs. Mit Vergnügen nehmen wir einen Roman zur Hand, der vor hundert, zweihundert, dreihundert Jahren geschrieben wurde, und sehen, daß seine Helden uns nah sind: Sie lieben, hassen, begehen gute und schlechte Taten, kennen Ehre und Unehre, sind treue Freunde oder Verräter - und all das ist für uns unmißverständlich. Gleichzeitig jedoch ist uns vieles an den Handlungen der Helden entweder gänzlich unverständlich oder erscheint uns, noch schlimmer, verständlich falsch, wenn auch nicht bis zur letzten Konsequenz. Wir wissen, warum Onegin und Lenski sich entzweiten. Aber wie entzweiten sie sich, weshalb duellierten sie sich, warum tötete Onegin Lenski (bot später sogar Puschkin selbst seine Brust der Pistole dar)? Wir werden mehrfach vor der Überlegung stehen: es wäre besser gewesen, er hätte es nicht getan, und auf irgendeine Weise wäre es gut abgegangen. Diese Überlegung ist jedoch nicht exakt, denn um den Sinn des Verhaltens realer Menschen und literarischer Helden der Vergangenheit verstehen zu können, muß man
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Einführung
ihre Kultur kennen: ihr einfaches, gewöhnliches Leben, ihre Gewohnheiten, ihre Vorstellungen von der Welt usw. Das Ewige trägt immer das Gewand der Zeit, und dieses Gewand verwächst derart mit dem Menschen, daß wir manchmal unter dem Historischen nicht mehr das Heutige, das Unsrige erkennen, uns in einem gewissen Sinne selbst nicht erkennen und verstehen. So entrüstete sich einmal in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts Gogol: Alle Romane handelten von der Liebe, auf allen Theaterbühnen ginge es um die Liebe. Aber was für eine Liebe ist die in seiner, der Gogolschen Zeit dargestellte Liebe? Übt die gewinnbringende Heirat, die „Elektrizität des Amtes", das Geldkapital nicht eine stärkere Wirkung aus ? Es erweist sich, daß Liebe in der Gogolschen Epoche sowohl die ewige menschliche Liebe war als auch gleichzeitig die Liebe Tschitschikows - erinnern wir uns nur seiner Blicke auf die Gouverneurstochter - , die Liebe Chlestakows, der Karamsin zitiert und gleichzeitig der Frau des Stadthauptmanns und deren Tochter Avancen macht, hat er doch „in seinen Gedanken eine ungewöhnliche Gewandtheit!". Der Mensch verändert sich, und, um sich die Logik der Handlungen eines literarischen Helden oder Menschen der Vergangenheit vorstellen zu können - wir messen uns doch an ihnen, sie erhalten gewissermaßen unsere Verbindung mit der Vergangenheit aufrecht - , muß man sich vergegenwärtigen, wie sie lebten, welche Welt sie umgab, welche allgemeinen und moralischen Vorstellungen sie hatten, welches ihre dienstlichen Obliegenheiten waren, ihre Bräuche, ihre Kleidung, warum sie so und nicht anders handelten. Eben das wird das Thema dieser Diskurse sein. Nachdem wir nun die uns interessierenden Aspekte der Kultur bestimmt haben, stellen wir uns mit Recht die Frage: ist der Ausdruck „Kultur und Lebensweise" nicht ein Widerspruch in sich selbst, liegen diese Phänomene nicht auf verschiedenen Ebenen? In der Tat, was heißt Lebensweise? Lebensweise, das ist der gewöhnliche Ablauf des Lebens in seinen real-praktischen Formen, das sind die Dinge, die uns umgeben, sind unsere Gewohnheiten, ist unser alltägliches Verhalten. Die Lebensweise umgibt uns wie die Luft, und wie die Luft, wird sie uns erst bewußt, wenn es uns an ihr mangelt oder wenn sie verdorben ist. Besonderheiten fremder Lebensweise nehmen wir wahr, aber unsere eigene Lebensweise ist für uns nicht erfaßbar, wir neigen dazu, sie als „einfach leben", als natürliche Form unseres praktischen Existierens aufzufassen. Die Lebensweise befindet sich also immer in der Sphäre des Praktischen, und das ist vor allem die Welt der Dinge. Wie also kann sie mit der Welt der Zeichen und Symbole in Kontakt treten, die den Raum der Kultur ausmachen? Auf die Geschichte der Lebensweise eingehend, unterscheiden wir in ihr ohne besondere Mühe tiefgreifende Formen, deren Verbindung mit den Ideen, mit der intellektuellen, moralischen und geistigen Entwicklung der
Lebensweise und Kultur
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Epoche nicht zu übersehen ist. So gehören zwar Vorstellungen von Standesehre oder höfischer Etikette der Geschichte der Lebensweise an, gleichzeitig jedoch sind sie untrennbar mit der Geschichte der Ideen verknüpft. Wie ist nun umzugehen mit solchen scheinbar äußerlichen Zügen der Zeit, wie Mode, Alltagsbräuchen, praktischen Verhaltensweisen und mit Dingen, in denen sie sich verkörpert? Ist es denn so wichtig für uns zu wissen, wie die „verhängnisvollen Läufe der Pistolen von Lepage" aussahen, mit denen Onegin Lenski tötete, oder - gehen wir noch ein wenig weiter - uns vorzustellen, wie die gegenständliche Welt Onegins aussah? Die oben hervorgehobenen beiden Typen von Details der Lebensweise und von ihren Erscheinungen sind aber aufs engste miteinander verbunden. Die Welt der Ideen ist von der Welt der Menschen nicht zu trennen, und ebensowenig lassen sich die Ideen von der Alltagsrealität ablösen. Alexander Blok schrieb: Zufällig auf dem Federmesser Findst du ein Staubkorn fernen Lands Und seltsam wird die Welt und besser... 1
Das „Staubkorn fernen Lands" der Geschichte spiegelt sich wider in den für uns aufbewahrten Texten, darunter auch in den „Texten in der Sprache der Lebensweise". Indem wir sie aufnehmen und ergründen, entschleiern wir auch die lebendige Vergangenheit. Davon ausgehend - wie es auch die Methode des Buches „Rußlands Adel" ist wird Geschichte im Spiegel der Lebensweise betrachtet, sind die winzigen, zuweilen vereinzelt auftretenden Details der Lebensweise im Licht der großen historischen Geschehnisse zu sehen. Auf welchen Wegen vollzieht sich nun die Durchdringung von Lebensweise und Kultur? Für die Gegenstände und Bräuche der „ideologisierten Lebensweise" ist das ganz offensichtlich: die Sprache der höfischen Etikette beispielsweise ist ohne die realen Dinge, den Gestus usw., die sie verkörpern und die zur Lebensweise gehören, unmöglich. Wie verbindet sich aber jene obenerwähnte unendliche Zahl von Gegenständen der alltäglichen Lebensweise mit der Kultur, mit den Ideen der Epoche? Unsere Zweifel verflüchtigen sich, wenn wir uns daran erinnern, daß alle uns umgebenden Dinge nicht nur in die allgemeine Praxis einbezogen sind, sondern auch in die gesellschaftliche Praxis, sie werden gewissermaßen zu Knotenpunkten für die Beziehungen der Menschen untereinander und sind fähig, in dieser Funktion einen symbolischen Charakter zu erlangen. In Puschkins „Geiziger Ritter" wartet Albert auf den Moment, in dem die Schätze seines Vaters in seine Hände gelangen, um sie der,wahren', das heißt der praktischen Verwendung zuzuführen. Dem Baron hingegen genügt der symbolische Besitz, weil für ihn das Gold nicht aus gelben Körnern besteht, für die man die einen oder anderen Dinge kaufen kann, sondern das Symbol uneingeschränkter Macht ist. Makar Dewuschkin in
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Einführung
Dostojewskis „Arme Leute" legt sich einen besonderen Gang zu, damit man seine löchrigen Sohlen nicht sieht. Die löchrige Sohle ist ein reales Ding; als Ding kann sie dem Besitzer der Stiefel Unannehmlichkeiten bereiten: nasse Füße, Erkältung. Aber für den danebenstehenden Beobachter ist die zerrissene Sohle ein Zeichen, das Armut signalisiert, und Armut ist eines der bezeichnenden Symbole Petersburger Kultur. Und der Held Dostojewskis übernimmt „den Blick dieser Kultur": er leidet nicht, weil ihm kalt ist, sondern weil er sich schämt. Diese Scham aber ist einer der mächtigsten psychologischen Hebel der Kultur. Und so ist die Lebensweise in ihrer Schlüsselsymbolik ein Teil der Kultur. Aber dieses Problem hat noch eine andere Seite. Das Ding existiert nicht vereinzelt und wie etwas Isoliertes im Kontext seiner Zeit. Die Dinge sind untereinander verbunden; haben wir dabei die funktionelle Verbindung im Blick, reden wir von einer „Einheit des Stils". Diese Einheit des Stils ist die Zugehörigkeit, beispielsweise von Möbeln, zu einer einzelnen künstlerischen und kulturellen Schicht, einer „Sprachgemeinschaft", die es den Dingen gestattet, „miteinander zu reden". Betreten Sie ein widersinnig eingerichtetes Zimmer, in das man Dinge verschiedenster Stile zusammengetragen hat, so mag in Ihnen die Empfindung entstehen, sich auf einem Markt zu befinden, wo alles schreit und keiner den anderen hört. Es kann sich aber auch ein anderer Zusammenhang ergeben. Sie sagen z.B.: „Das sind die Sachen meiner Großmutter". Damit stellen Sie eine gewisse intime Verbindung zwischen den Gegenständen her, die durch die Erinnerung an einen für Sie teuren Menschen ausgelöst wird, an eine längst vergangene Zeit, an Ihre Kindheit. Nicht zufällig existiert der Brauch, Dinge „zum Andenken" zu verschenken - Dinge haben ein Gedächtnis. Und das sind gleichsam Worte und Notizen, die die Vergangenheit an die Zukunft weitergibt. Andererseits diktieren die Dinge machtvoll den Gestus, den Stil des Verhaltens und die psychologische Einstellung ihrer Besitzer. So hat sich, zum Beispiel, seitdem Frauen begannen, Hosen zu tragen, auch ihr Gang verändert, wurde sportlicher,,männlicher'. Gleichzeitig drang der typisch ,männliche' Gestus in das weibliche Verhalten ein (z.B. die Angewohnheit, beim Sitzen die Beine übereinanderzuschlagen - nicht nur eine männliche, auch eine ,amerikanische' Sitte, in Europa traditionell als Zeichen unschicklicher Ungeniertheit angesehen). Der aufmerksame Beobachter kann feststellen, daß die sich früher stark unterscheidende männliche und weibliche Art des Lachens in der heutigen Zeit ihre Unterschiede verloren hat, und eben deshalb, weil die Masse der Frauen die männliche Art zu lachen übernommen hat. Die Dinge drängen uns Verhaltensweisen auf, indem sie um sich her einen bestimmten kulturellen Kontext schaffen. Es ist schließlich notwendig, eine Axt handhaben zu können, einen Spaten, eine Duellpistole, einen modernen Automaten, einen Fächer oder das Lenkrad eines Autos. In der
Lebensweise und Kultur
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Vergangenheit pflegte man zu sagen: „Er versteht es, (oder versteht es nicht), einen Frack zu tragen". Es reicht nicht aus, sich einen Frack vom besten Schneider nähen zu lassen, dafür braucht man nur genügend Geld. Man muß auch verstehen, ihn zu tragen, und das ist, wie der Held in Bulwer-Lyttons Roman „Pelham oder die Abenteuer eines Gentlemans" konstatierte, eine wirkliche Kunst, die nur einem wahren Dandy gegeben ist. Wer je eine moderne Waffe und eine alte Duellpistole in der Hand hielt, wird erstaunt sein, wie gut, wie angenehm letztere in der Hand liegt. Man spürt ihre Schwere nicht, sie wird gewissermaßen zu einer Fortsetzung der Hand. Das erklärt sich daraus, daß die Gegenstände der alten Lebensweise manuell angefertigt wurden, ihre Form wurde in Jahrzehnten, manchmal in Jahrhunderten herausgearbeitet, und die Geheimnisse der Herstellung wurden von Meister zu Meister weitergegeben. Das alles bildete nicht nur die angemessenste Form heraus, es gestaltete den Gegenstand auch unvermeidlich in die Geschichte des Gegenstandes um, in die Erinnerung an die mit ihm verbundenen Gesten. Der Gegenstand verlieh dem Körper des Menschen einerseits neue Möglichkeiten und bezog den Menschen andererseits in die Tradition ein, das heißt seine Individualität wurde sowohl weiterentwickelt als auch begrenzt. Die Lebensweise besteht aber nicht nur aus dem Leben der Dinge, zu ihr gehört auch das Brauchtum, das gesamte Ritual des Alltagsverhakens, jener Lebensrhythmus, der den Tagesablauf bestimmt, die Zeiten der verschiedenen Beschäftigungen, den Charakter der Arbeit und der Mußestunden, die Formen der Erholungen, die Spiele, das Liebes- und das Begräbnisritual. Die Verknüpfung dieser Seite der Lebensweise mit der Kultur bedarf keiner Erläuterung, denn gerade sie läßt jene Züge zutagetreten, die uns gewöhnlich das Eigene und das Fremde wahrnehmen lassen, den Menschen dieser oder jener Epoche, den Engländer oder Spanier. Der Brauch hat noch eine weitere Funktion. Bei weitem nicht alle Verhaltensregeln werden schriftlich fixiert. Die Schriftsprache dominiert im juristischen, religiösen, ethischen Bereich. Im Leben eines Menschen gibt es jedoch ein weites Feld an Bräuchen und Umgangsformen. „Es gibt Grundmuster von Gedanken und Gefühlen, und es gibt eine Vielzahl von Bräuchen, Gewohnheiten und Traditionen, die ausschließlich einem bestimmten Volk zuzurechnen sind."2 Diese Normen sind Bestandteil der Kultur, sie manifestieren sich in den Verhaltensformen der Lebensweise, in allem, worüber man sagt: „Das ziemt sich, das ist schicklich". Diese Maßstäbe setzen sich durch die Lebensweise fort und berühren sich mit der Sphäre der Volkspoesie. Sie fließen ein in das Gedächtnis der Kultur. Nun bleibt uns nur noch darzulegen, weshalb wir für unsere Diskurse gerade die Epoche des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts gewählt haben. Die Historie ist zwar ein schlechter Prophet, aber umso besser kann sie die Gegenwart deuten. Wir erleben jetzt eine Zeit besonderen Interesses
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Einführung
für die Geschichte. Das geschieht nicht zufällig: Die Zeit der Revolutionen ist ihrer Natur nach antihistorisch, eine Zeit der Reformen hingegen läßt die Menschen sich immer dem Nachdenken über die Wege der Geschichte zuwenden. Jean Jaques Rousseau schrieb in der gewitterschwülen Atmosphäre der herannahenden Revolution, die er wie ein übersensibles Barometer registrierte, in seinem Traktat „Über den Gesellschaftsvertrag", daß das Studium der Geschichte allein den Tyrannen nützt. Statt das zu studieren, was gewesen ist, ist es nötig, in Erfahrung zu bringen, wie es sein soll. In solchen Zeitläuften sind theoretische Utopien anziehender als historische Dokumente. Wenn die Gesellschaft diesen kritischen Punkt überwindet und sich die weitere Entwicklung nicht als das Errichten einer neuen Welt auf den Trümmern der alten erweist, sondern als kontinuierliche, organische Entwicklung begreift, dann wird die Geschichte wieder in ihre Rechte eintreten. Aber hier vollzieht sich nun eine charakteristische Verschiebung: Das Interesse für die Geschichte wurde wach, aber die Voraussetzungen für historische Forschungen gingen zuweilen verloren, Dokumente gerieten in Vergessenheit, die alten historischen Konzeptionen befriedigen nicht mehr, und neue gibt es nicht. Und hier bieten nun gefährlich vertraute Verwahrensweisen fragwürdige Hilfestellung an: Utopien werden erdacht, gefällige Konstruktionen erstellt, aber schon nicht mehr der Zukunft, sondern der Vergangenheit verhaftet. Eine quasihistorische Literatur wird geboren, die insbesondere für das Massenbewußtsein verlockend ist, weil sie die komplizierte und nicht begreifbare Realität, die sich einer einheitlichen Deutung entzieht, durch eingängige Mythen ersetzt. Es ist wahr, die Geschichte hat viele Facetten, und wir erinnern uns gewöhnlich noch an die Daten bedeutender historischer Ereignisse und die Biographien „historischer Personen". Aber wie lebten diese „historischen Personen"? Gerade in diesen namenlosen Räumen entfaltet sich die Geschichte am häufigsten. Es ist gut, daß es bei uns eine Buchreihe „Das Leben bedeutender Menschen" gibt. Aber wäre es nicht vielleicht auch interessant, etwas über „das Leben unbedeutender Menschen" zu lesen? Leo Tolstoi stellte in „Krieg und Frieden" das authentisch-historische Leben der Familie Rostow und den historischen Sinn der Suche Pierre Besuchows dem, seiner Meinung nach, pseudohistorischen Leben Napoleons und anderer Staatsmänner' gegenüber. In der Novelle „Aus den Aufzeichnungen des Fürsten D. Nechljudow. Luzern" schrieb Tolstoi: „Am 7. Juli 1857 stand vor dem Luzerner Hotel „Schweizerhof", in dem die reichsten Leute absteigen, eine halbe Stunde lang ein bettelnder Wandersänger, sang Lieder und spielte dazu auf der Gitarre. Ungefähr hundert Menschen hörten ihm zu. Dreimal bat der Sänger, ihm etwas zu geben, aber kein einziger Mensch gab ihm etwas, und viele lachten über ihn. (...)" Das ist ein Vorfall, den die Historiker unserer Zeit mit flammenden, unauslöschlichen Buchstaben vermerken sollten. Dieser Vorfall ist bedeuten-
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der, ernsthafter und von tieferem Sinngehalt als die Fakten, die in Zeitungen und Geschichten aufgeschrieben werden. „(...) Dieser Fakt steht nicht für die Geschichte der menschlichen Verhaltensweisen, sondern für die Geschichte des Fortschritts und der Zivilisation". 3 Tolstoi hatte vollkommen recht: ohne Kenntnis des einfachen Lebens, ohne seine scheinbaren ,Kleinigkeiten' zu kennen, gibt es kein Verstehen der Geschichte. Und gerade auf dieses Verstehen kommt es an, denn irgendwelche Fakten aus der Geschichte zu kennen ist das eine, sie zu verstehen, etwas völlig anderes. Ereignisse werden von Menschen vollzogen. Und die Menschen handeln aus Motiven, aus Antrieben ihrer Epoche heraus. Erkennt man diese Motive nicht, so werden einem die Handlungen der Menschen oft sinnlos und unerklärlich erscheinen. Die Sphäre der Verhaltensweise ist ein überaus wichtiger Teil der nationalen Kultur, und die Schwierigkeit sie zu durchschauen besteht darin, daß hier stabile Züge, die Jahrhunderte hindurch unverändert bleiben können, mit Formen zusammenstoßen, die sich mit außerordentlicher Geschwindigkeit verändern. Wenn Sie sich zu erklären versuchen, warum ein Mensch, der vor zweihundert oder vor vierhundert Jahren lebte, so und nicht anders handelte, müssen Sie sich gleichzeitig zwei entgegengesetzte Dinge sagen: „Er ist genau so wie du, steht fest an seinem Platz." Und: „Vergiß nicht, daß er ganz anders ist, er ist nicht du. Trenne dich von deinen gewohnten Vorstellungen und versuche, dich in ihm zu verkörpern". Warum aber haben wir gerade diese Epoche gewählt, das 18. und beginnende 19. Jahrhundert? Dafür gibt es gewichtige Gründe. Einerseits ist das eine für uns noch hinreichend nahe Zeit (was bedeuten für die Geschichte schon zwei-, dreihundert Jahre), die noch eng mit unserem heutigen Leben verknüpft ist, in dem sich die Züge einer neuen russischen Kultur herausbilden, der Kultur einer neuen Zeit, der wir - ob es uns gefällt oder nicht angehören. Und andererseits ist das schon eine recht ferne Zeit, von vielen bereits vergessen. Die Gegenstände unterscheiden sich nicht nur durch ihre jeweiligen Funktionen, nicht nur dadurch, mit welchen Intentionen wir uns ihrer bedienen, sondern auch dadurch, welche Gefühle sie in uns hervorrufen. Mit dem einen Gefühl streifen wir uralte Chroniken, „schütteln aus Urkunden Jahrhundertstaub", mit dem anderen wenden wir uns den Zeitungen zu, die noch nach frischer Druckerfarbe riechen. Die vergangenen Zeiten und die Ewigkeit haben ihre Poesie, die Nachricht, die uns die schnellebige Zeit zuträgt, hat die ihre. Zwischen diesen beiden Polen finden sich Dokumente, die eine besondere, gleichzeitige Beziehung, sowohl eine intime als auch eine historische, entstehen lassen. Zum Beispiel Familienalben. Bekannte Unbekannte, vergessene Gesichter erblicken wir auf den Seiten dieser Alben („Und wer ist das? - „Ich weiß nicht, die Großmutter konnte sich noch an alle erinnern"), alte Kostüme, Menschen in feierlichen, uns heute schon lächerlich erscheinenden Posen, Schriftzüge, die auf ir-
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Einführung
gendwelche Ereignisse hinweisen, an die sich heute schon keiner mehr erinnert. Nichtsdestoweniger ist es kein fremdes Album. Betrachtet man die Gesichter genau, verändert man in der Vorstellung Frisur und Kleidung, entdeckt man auf einmal verwandte Züge. Das 18. und das beginnende 19. Jahrhundert, das ist das Familienalbum unserer heutigen Kultur, ihr ,Hausarchiv', ihre ,ferne Nähe'. Aber daraus ergibt sich eine besondere Konstellation: Die Vorfahren verehrt man - die Eltern werden unnachsichtig kritisiert; da man die Vorfahren nicht kennt, kompensiert man diese Unkenntnis durch Einbildungskraft und romantisches Scheinverständnis, an die Eltern hingegen und an die Großeltern erinnert man sich zu gut, um verstehen zu können. Alles Gute in sich selbst schreibt man den Vorfahren zu, alles Schlechte den Eltern. Dank dieser historischen Ignoranz oder Unkenntnis, die man leider bei der Mehrheit unserer Zeitgenossen antrifft, ist die Idealisierung der vorpetrinischen Rus ebenso verbreitet, wie die Negation des nachpetrinischen Entwicklungsweges. Das läuft natürlich nicht auf eine Umkehrung der Bewertung hinaus. Man sollte auf die Schülergewohnheit verzichten, Geschichte nach einem Zensurensystem zu bewerten. Die Geschichte ist keine Speisekarte, auf der man die Gänge je nach Geschmack auswählen kann. Hier sind Kenntnis und Verständnis nötig, und nicht nur, um die Kontinuität der Kultur wiederherzustellen, sondern auch, um in die Texte Puschkins oder Tolstois sowie der uns zeitlich näherstehenden Autoren eindringen zu können. So beginnt beispielsweise eine der vortrefflichen „Kolymer Erzählungen" Warlam Schalamows mit den Worten: „Man spielte Karten beim Pferdetreiber Naumow." Dieser Satz läßt den Leser unwillkürlich an die Parallelität mit dem Anfang der (Puschkinschen, d.U.) „Pique Dame" denken, die mit den Worten beginnt: „Man spielte Karten bei dem Gardisten zu Pferde Narumow". Doch neben der literarischen Parallele macht der Sinngehalt dieses Satzes einen beklemmenden Kontrast der Lebensumstände deutlich. Der Leser soll die Spanne der Diskrepanz ermessen, die sich zwischen dem Gardisten zu Pferde, einem Offizier eines der privilegiertesten Garderegimenter, und dem Pferdetreiber, einem Angehörigen der privilegierten, aus Kriminellen rekrutierten Gulag-Aristokratie jener Lager auftut, in die man die ,Volksfeinde' steckte. Bemerkenswert ist hier auch, vom weniger versierten Leser kaum bemerkt, der Unterschied in den Familiennamen, dem typisch adligen Namen Narumow, und dem für das einfache Volk charakteristischen Naumow. Das Wichtigste aber ist hier der schreckliche Unterschied, der im Charakter des Kartenspiels liegt. Das Spiel ist eine der Grundformen der Lebensweise und gehört zu den Formen, die eine Epoche und ihren Geist mit besonderer Schärfe widerspiegeln. Zum Schluß dieses einführenden Kapitels halte ich es für meine Pflicht, den Leser zu warnen, daß der faktische Inhalt aller nachfolgenden Kapitel etwas enger gefaßter sein wird, als der Titel „Rußlands Adel" erwarten läßt. Der Grund dafür besteht darin, daß jede Kultur vielschichtig ist und die rus-
Lebensweise und Kultur
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sische Kultur in der uns interessierenden Epoche nicht als ein homogenes Ganzes existiert. Es gab die Kultur der russischen Bauernschaft, die auch in sich selbst nicht einheitlich war: die Kultur der Olonezker Bauern und die der Don-Kosaken, der orthodoxen und der altgläubigen Bauern; es gab die scharf abgegrenzte und eigenständige Kultur der russischen Geistlichkeit (auch sie wiederum mit grundlegenden Unterschieden in der Lebensweise des weißen und des schwarzen Klerus - das heißt der Welt- und der Klostergeistlichkeit, d.U., - der oberen Hierarchie und der niederen Dorfgeistlichen.) - Und auch der Kaufmann und der Städter (Kleinbürger) hatten ihre eigene Lebensweise, ihre Lektüre, ihre traditionellen Bräuche, ihre Formen der Muße, ihre Kleidung. Aber all dieses reiche und vielgestaltige Material wird nicht in unser Blickfeld treten. Uns wird hier die Lebensweise und die Kultur des russischen Adels interessieren. Für diese Wahl gibt es eine Erklärung. Das Studium der Kultur und der Lebensweise des Volkes gehört seit der üblich gewordenen Spezialisierung der Wissenschaften gewöhnlich zur Ethnographie, und auf diesem Gebiet ist nicht wenig getan worden. Was aber das alltägliche Leben jenes Milieus angeht, in dem z.B. Puschkin und die Dekabristen lebten, so ist es für die Wissenschaft lange Zeit hindurch ein,Niemandsland' geblieben. Hier wirkte sich das festgefügte Vorurteil der Herabsetzung all dessen aus, was mit dem Epitheton ,adlig' belegt werden kann. Im Bewußtsein der Masse bildete sich augenblicklich und für lange Zeit die Gestalt des ,Ausbeuters' heraus, man braucht sich nur der Erzählungen über Saltytschicha und all dessen zu erinnern, was in diesem Zusammenhang gesagt wurde. Dabei wurde jedoch vergessen, daß jene große russische, zur Nationalkultur gewordene Kultur, die einen Fonwisin und einen Dershawin, einen Radistschew und einen Nowikow, einen Puschkin und die Dekabristen, einen Lermontow und einen Tschaadajew hervorgebracht hat und die Basis schuf für Gogol, Herzen, die Slawophilen, für Tolstoi und Tjutschew, eine Kultur der Adligen war. Man darf aus der Geschichte nichts streichen. Es kommt einem teuer zu stehen. Dieses der Aufmerksamkeit der Leser präsentierte Buch wurde unter für den Autor schwierigen Bedingungen geschrieben. Es hätte ohne die großzügige und uneigennützige Hilfe seiner Freunde und Schüler nicht erscheinen können. Eine nicht hoch genug zu veranschlagende Hilfe, die bis an die Grenze der Mitautorschaft ging, leistete während des gesamten Verlaufs der Arbeit S. G. Minz, der es nicht beschieden war, das Erscheinen des Buches zu erleben. Große Hilfe erwiesen dem Autor bei der Gestaltung des Buches, oft trotz eigener Verpflichtungen, auch die Dozentin L. N. Kiselewa sowie weitere Mitarbeiter der Laboratorien für Semiotik und Geschichte der russischen Literatur an der Tartuer Universität, wie S. Barsukow, W. Gechtman, M. Grischakowa, L. Saionz, T. Kusowkina, E. Pogosjan und die Studenten E. Shukow, G. Talwet und A. Schibarowa. Ihnen allen drückt der Autor lebhafteste Anerkennung aus.
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Einführung
Abschließend hält es der Verfasser für seine angenehme Pflicht, der Humboldt-Stiftung und ihrem Mitglied Professor W. Stempel, sowie seinen Freunden E. Stempel, G. Superfin und den Ärzten des Krankenhauses Bogenhausen (München), seinen tiefsten Dank auszusprechen.
ERSTER TEIL
MENSCHEN UND DIENSTRÄNGE
Die Epoche, der wir uns zuwenden wollen, ist ein Jahrhundert des Umbruchs. Das wird auch an der Geschichte des Adels sichtbar. Der russische Adel, den wir im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts antreffen, war ein Produkt der Petrinischen Reformen. Unter den verschiedenen Folgeerscheinungen der Reformen Peters I. nimmt die Schaffung des Adels in seiner Funktion als staatlich und kulturell dominierender Stand nicht den letzten Platz ein. Der Grundfond, aus dem sich dieser Stand zusammensetzte, war der vorpetrinische Adel der Moskauer Rus. Der Adel der Moskauer Rus war eine Klasse von ,Gefolgsleuten', das heißt er bestand aus berufsmäßigen Dienern des Staates, vorwiegend Militärs. Für ihre erbrachten Kriegsdienste wurde ihnen Boden (,Semlja') zugewiesen, oder anders gesagt, sie erhielten Dörfer und Bauern, wurden „gewerstet" ("Werst = ehemaliges russisches Längenmaß. 1 Werst = 1,06 km, d.U.). Doch weder das eine noch das andere wurde ihr persönliches oder vererbbares Eigentum. Schied der Adlige aus dem Dienst, mußte er das ihm zugeschlagene Land wieder an den Staatsschatz zurückgeben. Mußte er seinen Dienst „aufgrund einer Verwundung oder Verstümmelung quittieren", hatte sein Sohn oder der Mann seiner Tochter an seine Stelle zu treten. Wurde er getötet, mußte seine Witwe nach einer bestimmten Frist einen Menschen heiraten, der fähig war, „den Dienst zu übernehmen" oder mit ihr einen Sohn zu zeugen. Der Boden mußte dienen. Für besondere Verdienste konnte er allerdings in den erblichen Besitz überführt werden, sodaß aus dem ,militärischen Gefolgsmann' ein „Gutsherr" wurde. Zwischen dem ,militärischen Gefolgsmann' und dem ,Gutsbesitzer' existierte ein tiefer, nicht nur sozialer, sondern auch psychologischer Unterschied. Für den Gutsbesitzer waren Krieg und Kriegsdienst für den Staat ungewöhnliche und äußerst unerwünschte Vorkommnisse, für den militärischen Gefolgsmann' dagegen alltägliche Obliegenheit. Der Gutsbesitzer (der als Bojar dem ursprünglich höchsten Adelsstand im alten Rußland angehörte, d.U.) stand bei einem Großfürsten im Dienst und konnte darin umkommen, aber ein Gott war ihm der Großfürst nicht. Seine Bindung an das Land, an die Rus, war mit lokalem Patriotismus eingefärbt, eingedenk des Dienstes, den sein Geschlecht erbracht hatte, und der Ehre, die ihm zuteil wurde. Der Patriotismus des adligen Militärs hingegen war eng mit der persönlichen Ergebenheit dem Zaren gegenüber verknüpft und trug staatlichen Charakter. In den Augen des Bojaren war der adlige Militär je-
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Erster Teil
doch ein Söldner, ein Mensch ohne Heimat und Verwandte, und ein gefährlicher Rivale am Herrscherthron. Umgekehrt war der Bojar in den Augen des Militärs ein Faulenzer, der sich dem Dienst für den Herrscher entzog, ein schlitzohriger, jederzeit zur Rebellion bereiter Diener. Diesen Standpunkt teilen im 16. Jahrhundert sowohl die Moskauer Großfürsten als auch die Zaren. Und es ist besonders interessant, daß er, wie volkskundliche Quellen urteilen, auch eine gewisse Nähe zur Masse der Bauernschaft besaß. Bei allen Beeinträchtigungen, die die petrinischen Reformen durch den Charakter der Epoche und die Persönlichkeit des Zaren erfuhren, lösten sie die nationalen Aufgaben, errichteten ein Staatswesen, stellten Rußlands zweihundertjährige Existenz in der Reihe der bedeutendsten europäischen Mächte sicher und schufen eine der prägnantesten Kulturen in der Geschichte der menschlichen Zivilisation. Und wenn heutige Kritiker Peters gelegentlich behaupten, das Schicksal Rußlands hätte sich ohne dieses Staatswesen glücklicher gestaltet, so dürfte sich schwerlich ein Mensch finden lassen, der sich die russische Geschichte ohne Puschkin und Dostojewski, Tolstoi und Tjutschew, ohne die Moskauer Universität und das Lyzeum von Zarskoje Selo vorstellen könnte. Bereits im 17. Jahrhundert setzte das Verwischen der Unterschiede zwischen dem Lehnbesitz und dem Erbbesitz ein, und der Ukas des Zaren Pjotr Alexejewitsch (1682), der die Abschaffung der alten Adelsrangordnung verkündete, offenbarte, daß der Adel zur vorherrschenden Kraft in dem heranwachsenden Staatswesen werden würde. Es wäre müßig, die altbekannten Wahrheiten über den sozialen Egoismus dieses neuen herrschenden Standes zu wiederholen und sich verspäteten Anklagen der Leibeigenschaft hinzugeben. Die ungute Erinnerung, die sie in der russischen Geschichte hinterlassen hat, ist nur allzu augenfällig. Aber wollten wir die historische Rolle des russischen Adels leugnen, würden wir riskieren, in Extreme zu verfallen. Die Staatsdiener der Petrinischen Epoche liebten es, den volksverbundenen Charakter der sich in mühseliger Arbeit vollziehenden Reformen zu betonen. In seiner dem Nystädter Frieden gewidmeten Rede sagte Peter, daß „man zum Nutzen und zum Vorteil all dessen arbeiten muß (...), was dem Volk Erleichterung bringt". 1 Einen ähnlichen Gedanken äußerte auch Feofan Prokopowitsch in einer Rede, die dem gleichen Ereignis gewidmet war. Die Frage stellend, wie die Ergebnisse dieses Friedens aussehen sollten, gab er selbst die Antwort: „Verminderung der Bürden des Volkes". 2 Bereits im 17. Jahrhundert entstand in der Poesie Simeon Polozkis das Ideal eines tätigen Zaren, der „mit seinen Händen arbeitet" und zum Wohl der Untertanen regiert. Dieses Bild fand eine monumentale Weiterentwicklung im Schaffen M. Lomonossows. Sein Peter ist Geboren zum Zepter, regend zur Arbeit die Hand, Verbarg Monarchenmacht,uns aufzutun die Wissenschaft ...3
Menschen und
Dienstränge
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Nicht im Glanz des Throns erschien er, sondern „in Schweiß, in Staub, in Qualm, in Feuerschein", „Abwechslung bei der Arbeit genügte ihm zur Erholung. Und nicht nur der Tag oder der Morgen, bereits das Licht der aufgehenden Sonne traf ihn an den verschiedensten Arbeitsorten" 4 . Natürlich tragen viele Äußerungen von Zeitgenossen über ihn den Stempel der Schmeichelei. Doch war es nicht Schmeichelei, wovon der Historiker Fürst Michail Stscherbatow sich leiten ließ, - seine Feder schonte die zeitgenössischen Herrscher durchaus nicht - , als er in den „Betrachtungen über die Untugenden und die Autokratie Peters des Großen" alle negativen Seiten der Herrschaft Peters aufzählte, den Reformator jedoch freisprach. Auch Puschkin war kein Schmeichler in seinen berühmten Versen: Bald Akademiker, bald Held, Bald Seefahrer, bald Zimmermann, war auf dem Thron mit ganzem Herzen er ewig nur ein Arbeitsmann.
Das persönliche Handanlegen Peters war kein Zeitvertreib, keine wunderliche Schrulle, es war Programm, Demonstration der Gleichheit eines jeglichen im Dienst. Der Dienst am Staat erlangte für Peter die nahezu religiöse Bedeutung einer grandiosen, ununterbrochenen Liturgie im Tempel des Staates. Die Arbeit war sein Gebet.* Während unter den Altgläubigen die Legende vom ,untergeschobenen Zaren' und dem ,Antichrist-Zaren'" die Runde machte, äußerte der aus dem Volk stammende Iwan Pososchkow zweifelsohne nicht nur seine eigene Meinung, als er schrieb: „Unser großer Monarch ... auf dem Berg ... schleppt zehnfach" 5 . Und eine Ausnahme waren auch kaum jene Olonezker Bauern, die, Peters gedenkend, sagten, daß er der Zar der Zaren war! Er
Ungeachtet der ablehnenden Haltung den Versuchen der Kirchenvertreter gegenüber, auf die Staatsmacht Einfluß zu nehmen, und gewisser Beleidigungen, hielt Peter peinlich genau die orthodoxen Kirchenvorschriften ein. Sogar der nicht mit ihm sympathisierende Diplomat Just Jul sah sich gezwungen zuzugeben, „der Zar ist fromm", und ein anderer Zeuge, der Franzose Lefort, merkte im Jahre 1721 an, daß „der Zar nachhaltiger als gewöhnlich fastete, mit mea culpa (Buße, J. L.), Fußfall und mit wiederholtem Küssen des Bodens". ** In Kreisen der Volkstümler und in der Umgebung A . I. Herzens bestand die Tendenz, in den Altgläubigen Wortführer der Meinung des ganzen Volkes zu sehen und dementsprechend auf das Verhältnis der Bauernschaft zu Peter zu schließen. Später eigneten sich auch die russischen Symbolisten diesen Standpunkt an, D. S. Mereshkowski und andere, die die Sektierer und die Vertreter der Kirchenspaltung mit dem ganzen Volk auf eine Stufe stellten. Eine Frage wie diese bedarf einer weiterführenden und unvoreingenommenen Untersuchung. W i r wollen hier nur anmerken, daß solche allgemein gewordenen Behauptungen, wie die Meinung des bekannten Erforschers der Birkenrindeninschriften D. Robinski, der Rindentext „Wie die Mäuse den Kater beerdigten" und eine Reihe von Blättern zum Thema „Der Alte und die Hexe" seien Satiren auf Peter, sich als völlig unbegründet herausgestellt haben.
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Erster Teil
aß sein Brot nicht für nichts, arbeitete wie ein Knecht. Und man darf auch das unverändert positive Charakterbild Peters in der russischen Märchenfolklore nicht vergessen. Wir werden nicht auf der Richtigkeit dieser oder jener Auffassung beharren: die Legende vom,Volkszaren' ist ebenso eine Legende wie die vom ,Antichrist-Zaren'. Merken wir uns nur diese beiden Legenden und versuchen wir, die tatsächliche Situation zu beurteilen. Zweifelsohne unterstützte der Adel die Reformen. Diese Haltung war die Voraussetzung, um die unbedingt notwendigen neuen Bediensteten zu bekommen: Offiziere für die Armee und die Flotte, Beamte und Diplomaten, Administratoren und Ingenieure, Gelehrte, allesamt Arbeitsenthusiasten zum Wohl des Staates wie der Historiker und Staatsmann W. N. Tatistschew, der schrieb, daß er alles, was ihm gegeben war (und ihm war vieles ,gegeben': Er studierte in Schweden das Finanzwesen, errichtete Werke und Städte, ,regierte' das Volk der Kalmücken, war Geograph und Historiker) Peter verdankte, auch das Wichtigste, wie er besonders betonte, die Vernunft. Gewiß, wenn wir bezüglich dieser Epoche vom Adel sprechen, müssen wir unsere allgemeinen, auf Gogol oder Turgenjew zurückgehenden Vorstellungen, präzisieren. Es ist nicht unwichtig, dabei im Blick zu behalten, daß während des Bolotnikowschen Aufstandes und anderer Massenerhebungen des Volkes auch adlige Truppen aufgestellt wurden, eine zwar labile und unzuverlässige, aber aktive Randerscheinung der bäuerlichen Armeen. Die Leibeigenschaft war erst im Entstehen, und in dem bunten Bild, das die vorpetrinische Gesellschaft mit ihrer reichen Vielzahl von Gruppen und Zwischenschichten bot, waren der Adlige und der Bauer noch keine einander entgegengesetzten Figuren. Und so kann man diese Frage auch von einer anderen Seite her betrachten. Das 17. Jahrhundert war ein Jahrhundert des ,Aufruhrs'. Es begann mit einer Empörung, mit Usurpatoren, polnischen und schwedischen Interventionen, mit dem Bauernkrieg unter der Führung Bolotnikows und wurde mit zahlreichen Meutereien und Aufständen fortgesetzt. Wir haben uns an den simplifizierten Standpunkt gewöhnt, demgemäß die Explosionen des Klassenkampfes immer den Interessen der unteren Klassen entsprechen, und der Ausdruck „Bauernkrieg" wird als Bezeichnung eines Krieges empfunden, der den Interessen der gesamten Bauernschaft diente und an dem nahezu die gesamte Bauernschaft teilnahm. Dabei vergessen wir die Puschkinschen Worte: „Lasse Gott uns nicht den russischen Aufruhr erblicken - den sinnlosen und grausamen". Bereits die Unruhen mit all ihren Exzessen, die nicht nur von den Interventen begangen wurden, sondern auch von zahlreichen Banden ,Herumziehender', fügten der Landbevölkerung Rußlands unermeßliche Leiden zu. Verwüstete und ausgeraubte Siedlungen, Bauernkaten voller Leichen, Hunger, Flucht der Bevölkerung - das ist das Bild, das aus den Dokumenten entsteht. Unruhen und Aufstände riefen ein ungeheures Aufflammen von Räubereien hervor.
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Naive Idealisierungen entstanden, wie wir sie in den Gestalten der Räuber Robin Hood oder Karl Moor sehen, Verteidiger der Entrechteten, die ihre ganze Klassenwut gegen die Bedrücker des Volkes richten. Ihr hauptsächlichstes Opfer aber war der schutzlose Bauer: Ach, wie fingen wir den Fisch auf dem Trocknen, auf dem Trocknen in Speichern und in Vorratskammern. Und wir griffen uns den Stör bei dem Onkelchen, dem Peter, ebenjenen Stör, nun ja der ein brauner Hengst wohl war. (Folkloristische Aufzeichnung von mir. - J.L.) Das beraubte „Onkelchen Peter" dürfte wohl kaum ein Bedrücker des Volkes gewesen sein. Die Idee der Ordnung, eines „regulären Staates", war Peter I. weder auf seiner Reise nach Holland gekommen, noch hatte er sie aus den Schriften Pufendorfs herausgelesen - sie entsprang dem Jammer des Landes, das noch unter den Wunden des „aufrührerischen Jahrhunderts" litt und auch noch keine Vorstellung davon hatte, wie teuer ihm diese „Regularität" zu stehen kommen würde. Die Psychologie des Standesdieners war das Fundament für das Selbstbewußtsein des Adligen des 18. Jahrhunderts. Gerade durch den Dienst begriff er sich als ein Teil des Standes. Peter I. stimulierte dieses Gefühl mit allen Mitteln - und auch durch das persönliche Beispiel und eine Reihe gesetzgebender Akte. Gipfelpunkt war die Rangtabelle, die im Laufe einer Reihe von Jahren unter ständiger und aktiver Teilnahme Peters I. ausgearbeitet und im Januar 1722 veröffentlicht wurde. Auch die Rangtabelle selbst war eine Realisierung des allgemeinen Prinzips der neuen petrinischen Staatlichkeit, des Prinzips der „Regularität". Die Formen des Petersburgischen Lebens - und in gewissem Sinne des gesamten russischen Städtewesens - wurden von Peter I. geschaffen. Sein Ideal war, wie er selbst formulierte, ein regulärer, richtiger Staat, in dem das ganze Leben reglementiert und bestimmten Regeln unterworfen war, nach geometrischen Proportionen ausgerichtet und nach präzisen, eindimensionalen Relationen zusammengefaßt. Die Prachtstraßen sind geradlinig, die Paläste nach offiziell bestätigten Entwürfen errichtet, alles ist überprüft und logisch begründet. Petersburg wurde durch die Trommel geweckt: auf dieses Zeichen hin traten die Soldaten zu ihren Übungen an, eilten die Beamten in die Amter. Der Mensch des 18. Jahrhunderts lebte gleichsam auf zwei Ebenen: die eine Hälfte des Tages, des Lebens, widmete er dem Staatsdienst, das war die streng reglementierte Zeit, die andere Hälfte des Tages war er dienstfrei.
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Erster Teil
Natürlich wurde das Ideal eines „regulären Staates" nicht erreicht und konnte auch nie realisiert werden. Einerseits wurde die „Regularität" durch das lebendige Leben, das sich nicht mit der mechanischen Gleichförmigkeit abfand, ständig ausgehöhlt, andererseits verwandelte sie sich in eine Realität der Bürokratie. Mag das Ideal Peters I. anfangs auch bestimmte Vernunftgründe gehabt haben, so produzierte es doch bald schon eines der Grundübel und damit einen der charakteristischen Züge des russischen Lebens: seine tiefgreifende Bürokratisierung. Vor allem der Staatsdienst war von dieser Reglementierung betroffen. Zwar wurden die Ränge und Dienststellungen, die im vorpetrinischen Rußland existiert hatten ( Bojar, Truchseß und andere), nicht abgeschafft, aber man hörte auf, diese Ränge zu verleihen, und mit den aussterbenden Alten verschwanden allmählich auch ihre Ränge. An ihrer Stelle wurde eine neue Diensthierarchie eingeführt. Ihre Durchführung nahm eine lange Zeit in Anspruch. Am 1. Februar 1721 unterschrieb Peter den Ukas-Entwurf, der jedoch noch nicht in Kraft trat, sondern den Staatsbeamten zur Erörterung unterbreitet wurde. Es wurden viele Anmerkungen und Vorschläge gemacht (allerdings hat Peter keinen einzigen davon akzeptiert; das war die ihm liebste Form des Demokratismus: er ließ alles erörtern, machte es dann aber so, wie er es für richtig hielt). Ferner wurde über die Frage der Rangtabelle entschieden. Dafür wurde eine spezielle Komission gebildet, doch erst im Jahre 1722 trat dieses Gesetz in Kraft. Was stellte diese Rangtabelle dar? Der erste und grundsätzlichste Gedanke war ein im großen und ganzen völlig nüchterner: Menschen sollen nach ihren Fähigkeiten und ihrem realen Beitrag zu den Staatsangelegenheiten mit Positionen bedacht werden. Die Rangtabelle manifestierte also die Abhängigkeit der gesellschaftlichen Stellung des Menschen von seinem Platz in der Diensthierarchie. Letzterer sollte im Idealfall den Verdiensten um den Zaren und das Vaterland entsprechen. Bezeichnend ist dabei die Korrektur, der Peter den dritten Punkt der Tabelle unterzogen hat: Hier wurde die Abhängigkeit der ,Ehrerbietung' vom jeweiligen Dienstrang festgeschrieben: „Wer über seinen Rang hinaus Ehrerbietung für sich fordert oder selbst einen höheren Platz einnimmt als ihm seinem Rang nach zukommt, der soll für jeden dieser Fälle zwei Monatsgehälter Strafe zahlen". A.I. Ostermann, von dem die ursprüngliche Fassung dieses Gesetzes stammt, hatte diesen Punkt für „Streithähne" vorgesehen, das heißt für jene Vertreter der alten Aristokratie, die versucht sein könnten, auch unter den neuen Bedingungen lokaler Kurzsichtigkeit zu erliegen und um Positionen und Ehrerbietung zu streiten. Peter bereitete jedoch schon anderes Sorge: Die Möglichkeit, daß die Vornehmen, die nie gedient hatten oder ihrem Dienst nur nachlässig nachkamen, denen, die ihren Rang durch Diensteifer erlangt hatten, die Privilegien streitig machen könnten. Er strich das Wort „Streithähne" und formulierte die Forderung einer Entsprechung zwischen Ehrerbietung und Rang so um: „Damit denen die
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Lust z u m Dienst gegeben und Ehrerbietung erwiesen werde, u n d nicht den Unverschämten u n d Schmarotzern." 6 Ein großes Übel in der Struktur der vorpetrinischen Rus war die Berufung in ein Amt nach Familiengeschlecht gewesen. Die Rangtabelle hob nun die Ämterverteilung nach Geblüt und Grad der Vornehmheit auf, was dazu führte, daß beinahe jede Entscheidung zu einer komplizierten Angelegenheit wurde. Sie erzeugte Feindschaften, lärmendes Gezänk, gerichtliche Auseinandersetzungen: ob ein Sohn das Recht hatte, eine entsprechende Position einzunehmen, wenn sein Vater zuvor diese Position eingenommen hatte, usw. Die Behörde, die über derartige Verfügungen zu entscheiden hatte, w u r d e sogar während kriegerischer Konflikte mit solchen und ähnlichen Eingaben geradezu überhäuft. N i c h t selten gab es noch am Vorabend von Schlachten unversöhnliche interne Streitigkeiten u m das Recht, gemäß der Geburt eine höhere Position einzunehmen als der Rivale. Man begann sich auf die Väter, die Großväter, das Geschlecht der Familie zu berufen, und das wurde f ü r die Belange des Staates natürlich zu einem gewaltigen Hindernis. Deshalb steckte in der ursprünglichen Idee Peters auch das Bestreben, die jeweilige Position und die damit verbundene Ehrerbietung in Übereinstimmung zu bringen, die Verteilung der Ämter vom persönlichen Verdienst u m den Staat, von der Begabung abhängig zu machen und nicht von der Vornehmheit des Familiengeschlechts. Dem w u r d e allerdings schon von A n beginn an eine wesentliche Klausel angefügt: f ü r die Mitglieder der Zarenfamilie, die bei der Ämterverteilung stets den Vorzug erhielten, galt diese Bestimmung nicht. Die Rangtabelle teilte alle Formen des Dienstes in militärische, zivile und H o f ä m t e r ein. Die erstere Kategorie wurde ihrerseits in Heer- und Marinedienst aufgeteilt (unter besonderer Hervorhebung der Garde). Alle Ränge wurden in 14 Klassen unterteilt, von denen die ersten fünf aus der Generalität bestanden (die V. Klasse der militärischen Dienstgrade bildeten die Brigadiere; dieser Dienstgrad wurde später abgeschafft). Die Staatsoffiziere bildeten die Klassen VI-VIII, die oberen Offiziersränge die Klassen IX-XIV. Die militärischen Dienstgrade gehörten zu den privilegierten Rängen innerhalb der Rangtabelle. Das äußerte sich insbesondere darin, daß alle 14 Klassen im militärischen Dienst das Recht auf erblichen Adel beinhalteten, während im Zivildienst das gleiche Recht erst mit der VIII. Klasse erlangt wurde. Das bedeutete, daß der unterste der oberen Offiziersränge im Militärdienst bereits in den erblichen Adelsstand erhoben wurde, während man im Zivildienst lediglich den Rang eines Kollegienassessors oder H o f r a t s erlangen konnte.'"' D a r ü b e r hieß es in P u n k t 15 der Rangtabelle:
* Später, besonders u n t e r Nikolai I., änderte sich die Situation dahingehend, daß der Adelsstand sich zu einer abgeschlossenen Kaste wandelte. Die Rangebene, auf der N i c h t adlige geadelt w u r d e n , stieg immer mehr.
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Erster Teil
„Zu militärischen Dienstgraden, die sich in den oberen Offiziersstand gedient haben und nicht dem Adel entstammen; erhält jemand einen obengenannten Rang, w i r d er damit zum Adligen, ebenso seine Kinder, die während seiner Zugehörigkeit zum oberen Offiziersstand geboren werden; werden ihm aber in diesem Zeitraum keine Kinder geboren und hatte er bereits welche, so ist auch diesen der Adelsstand zuzugestehen, sofern der Vater untertänigst darum einkommt, jedoch nur dem einen Sohn, für den der Vater bittet. Die Kinder der übrigen nicht dem Adel entstammenden Zivil- und Hofränge jedoch sind keine Adligen".' Aus diesem Grundsatz ergab sich später der Unterschied zwischen dem Erbadel (das heißt „aus altem Geschlecht") und dem persönlichen Adel. Zum letzteren gehörten die Zivil- und Hofbeamten der XIV. bis IX. Rangstufe. Später wurden dem persönlichen Adel auch Orden (Adliger „zum Kreuz") und akademische Titel verliehen. Der persönliche Adel genoß eine Reihe von Adelsrechten: Er w a r von körperlichen Strafen befreit, von der Kopfsteuer und von der Rekrutenaushebung. Jedoch durfte er diese Rechte nicht auf seine Kinder übertragen, und er besaß auch nicht das Recht, über Bauern zu verfügen, an Adelsversammlungen teilzunehmen und dem Adel vorbehaltene Wahlämter zu bekleiden. Eine solche gesetzliche Regelung eröffnete, nach den Vorstellungen Peters I., Angehörigen der verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen, die sich im Dienst auszeichneten, den Zugang zu den höchsten staatlichen Amtern und schloß gleichzeitig „Spitzbuben und Schmarotzer" davon aus. Diese Handlungsweise wurde von den komplizierten Bedingungen diktiert, unter denen die Reformen durchgeführt werden mußten, und schuf zweifelsohne die Illusion einer ,volksnahen' Se/^stherrschaft. Charakteristisch dafür ist die folgende Episode: Im Zusammenhang mit den in einer Reihe von gesetzgebenden Dokumenten verwendeten Ausdrücken „vornehme Schlachta" oder „vornehmer Kleinadel" wandte sich im Jahre 1724 der Senat mit der Frage an den Zaren, wen man dieser Gruppe zurechnen soll: die wenigen, die über einen bestimmten Besitz verfügen („der mehr als hundert Anwesen ausmacht") oder diejenigen, die einen entsprechenden
* Die Vorteile, die im Militärdienst erlangt werden konnten, spiegelten sich bereits im Titel des Gesetzes wider: „Rangtabelle aller militärischen, zivilen und höfischen Ränge, welche welcher Klasse zugehören und welche innerhalb einer Klasse je nach Dienstalter beim Erlangen eines Ranges zu bevorzugen sind, jedoch ist ein Militärrang höher einzustufen als die übrigen, auch wenn jemand innerhalb seiner Klasse dienstälter ist". Bezeichnend ist auch noch etwas anderes: Nachdem er die Militärränge der I. Klasse festgelegt hatte (Generalfeldmarschall im Heer und General-Admiral bei den Seeestreitkräften), ließ Peter die zivilen und die Hofränge in der I. Klasse unbesetzt. Erst der Hinweis des Senats, daß dies die russischen Diplomaten bei ihrem Auftreten an ausländischen Höfen in eine ungleiche Situation versetzen würde, überzeugte ihn von der Notwendigkeit, die I. Klasse auch f ü r den Zivildienst zu berücksichtigen (für den Kanzler). Der Hofdienst blieb jedoch weiterhin ohne den höchsten Rang.
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Rang bekleiden? Peter I. antwortete: „Den vornehmen Adel nach seiner Verwendbarkeit bewerten". 7 Der Militärdienst war hauptsächlich den Adligen vorbehalten, Zivildienst galt als weniger,vornehm'. Er wurde, zumal er sich immer mehr aus der nichtadligen Intelligenz zusammensetzte, geringschätzig als „Schreiberseelendienst" bezeichnet und auch dementsprechend behandelt. Eine Ausnahme bildete lediglich der gleichfalls als ,vornehm' geltende diplomatische Dienst. Erst in der Alexandrinischen und der späteren Nikolaischen Zeit begann der zivile Beamte Anspruch auf ein dem Offizier gleichgestelltes Ansehen zu erheben. Gegen Ende der „Petersburger Periode" bevorzugte die Regierung in Fällen, die einen energischen, agilen und vertrauenswürdigen Administrator erforderten, keinen Spezialisten', sondern einen Gardeoffizier. So ernannte beispielsweise 1836 Zar Nikolai I. den General der Kavallerie Graf Nikolai Alexandrowitsch Protassow zum Oberprokuror des Heiligen Synods, das heißt er stellte ihn praktisch an die Spitze der russischen Kirche. Der Graf bekleidete den Posten ohne Unterbrechung zwanzig Jahre hindurch, wobei er mit Erfolg die Priesterseminare den militärischen Ausbildungsstätten anglich. Die Neigung der Regierung zu militärischem Administrieren, sowie das Ansehen, das die Uniform in der Gesellschaft, vor allem bei der Damenwelt, genoß, hatten verschiedene Ursachen. Ersteres entsprach dem allgemeinen Charakter der Staatsmacht. Die russischen Herrscher waren Militärs, hatten also eine militärische Erziehung und Ausbildung genossen. Von Kindheit an waren sie daran gewöhnt, im Militär das Ideal jeglicher Organisation zu sehen, und Paraden hatten ihre ästhetische Vorstellungswelt geprägt. Fräcke trugen sie nur inkognito während ihrer Reisen ins Ausland. Die zuverlässigste und psychologisch faßbarste Gestalt war ihnen der widerspruchslose, diensteifrige Offizier. Sogar unter den zivilen Beamten des Reiches gab es kaum jemanden, der in seiner Jugend nicht wenigstens einige Jahre lang eine Uniform getragen hatte. Einen anderen Grund hatte der ,Uniformkult' in der Lebensweise der Adligen. Natürlich spielte insbesondere das ästhetische Element, vor allem in den Augen des schönen Geschlechts, keine untergeordnete Rolle: die mit Stickereien verzierte, gold- und silberglänzende Husarenuniform, die blau-rote der Ulanen und die weiße Paradeuniform der berittenen Garde waren selbstredend ansehnlicher als der Samtrock eines Modegecken oder der blaue Frack eines Anglomanen. Besonders krass wurde der Unterschied zwischen einem Militär und einem Zivilisten, als zu Beginn des 19. Jahrhunderts die jungen Leute schwarze Fräcke zu tragen begannen, und die schwarze Farbe für lange Zeit die offizielle Kleidung des Zivilisten bestimmte. (1802 wies im „Europäischen Boten" Karamsin daraufhin, und 1836 Musset in seiner „Beichte eines Kindes des Jahrhunderts", in der er die romantische Mode mit Trauer und Leid in Verbindung brachte). Bevor der Romantizismus Enttäuschung und Spleen zum Modegefühl erhob,
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Erster Teil
schätzte man an einem jungen Mann Verwegenheit, verschwenderische und großzügige Lebensart, Heiterkeit und Sorglosigkeit. Bevorzugten die Mütter solide Bräutigame in Fräcken, neigten die Herzen ihrer Töchter den flotten Fähnrichen und Rittmeistern zu, deren ganzes Kapital aus Schulden und der Aussicht auf eine Erbschaft bestand, die ihnen ein reiches Tantchen hinterlassen würde. D i e Bevorzugung der Militärs hatte aber noch einen gewichtigeren Grund. Mit der Rangtabelle entstand eine militärbürokratische Maschinerie der Staatslenkung. D i e Macht des Staates beruhte auf zwei Typen, dem Offizier und dem Beamten, doch die soziokulturellen Strukturen dieser beiden Karyatiden der Macht waren grundverschieden. Die russische Bezeichnung „Tschinownik" (Beamter, d.Ü.) rührt von dem W o r t „Tschin" her, und „Tschin" bedeutet in der altrussischen Sprache „Ordnung". U n d obwohl, entgegen den Vorstellungen Peters, der „Tschin", der Rang also, schon sehr bald keineswegs mehr der realen Dienststellung eines Menschen entsprach, sich in eine beinahe mystische bürokratische Fiktion verwandelte, hatte diese Fiktion gleichzeitig einen durchaus praktischen Sinn. D e r Beamte ist ein Gehaltsempfänger, sein Wohlstand hängt unmittelbar vom Staat ab. E r ist an die Administration gebunden, kann ohne sie nicht existieren. U n d an jedem Monatsersten, wenn im ganzen russischen Reich die Gehälter ausbezahlt werden, wird er unsanft daran erinnert. D e r von seinem Amt und von seinem Gehalt abhängige Beamte wurde in Rußland so zum verläßlichsten Diener des Staates. Stellte im Frankreich des 18. Jahrhunderts, in den Jahren der Revolution, der traditionelle Richterstand, der ,Roben-Adel', dem Dritten Stand die Ideologen, so beteiligte sich der russische Beamtenstand weitaus weniger als andere Gruppen an revolutionären Bewegungen. Hinzu kommt ein weiterer Aspekt im Leben eines Beamten, der sein geringes Prestige bestimmte. Die Unklarheit der Gesetze und der allgemeine Geist staatlicher Willkür, die sich in der Beamtenbürokratie am deutlichsten äußerten, führten dazu, daß die russische Kultur im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht eine einzige Gestalt eines unvoreingenommenen Richters, eines gerechten Administrators, eines uneigennützigen Verteidigers der Schwachen und Unterdrückten hervorzubringen vermochte. Im allgemeinen Bewußtsein verband sich das Bild eines Beamten mit dem eines bestechlichen Rechtsverdrehers. Bereits A. Sumarokow, D . Fonwisin und insbesondere W . Kapnist in seiner Komödie „Gerichtsschikane" (1796) schufen ebenjenen Archetypus, wie ihn die Öffentlichkeit wahrnahm. Nicht zufällig stellten lediglich die Beamten des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten, deren Dienstbereich für die Korruption weniger interessant war, dafür aber der Eitelkeit mehr Spielraum ließ, in der Bewertung durch die öffentliche Meinung eine Ausnahme dar. V o n den Bediensteten des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten verlangte man tadellose Manieren, gute französische Sprachkenntnisse, in der russischen
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Sprache klare Ausdrucksweise und geschliffenen „Karamsinschen" Stil und sorgfältige Kleidung. In seiner Beschreibung der Flanierenden auf dem Newski-Prospekt hob Gogol gerade diese Beamtenklasse hervor: „Ihnen gesellen sich auch diejenigen zu, die ein Amt im Kollegium für auswärtige Angelegenheiten bekleiden und sich durch die Vornehmheit ihrer Tätigkeit und ihrer Gewohnheiten auszeichnen. Mein Gott, was es doch alles für wunderbare Ämter und Tätigkeiten gibt! Aber, o weh!, ich habe kein Amt und bin des Vergnügens beraubt, mich der feinfühligen Behandlung durch meine Vorgesetzten zu erfreuen". Und Gogol teilt dem Leser weiter mit: Auf dem Newski-Prospekt werden Sie „einzigartigen, mit ungewöhnlicher, ja erstaunlicher Kunst unter das Halstuch gesteckten Backenbärten begegnen, die samtig oder glänzend wie Atlas oder Zobel und schwarz wie Kohle sind, aber leider immer nur dem Kollegium für auswärtige Angelegenheiten zugehören. Den Beamten der anderen Departements hat die Vorsehung schwarze Backenbärte versagt, sie müssen sich zu ihrem größten Leidwesen mit roten begnügen". Der Beamte anderer Kollegien, insbesondere der Amtsschreiber, von Sumarokow als „Milchtopffratze" bezeichnet, bot sich Gogol als schäbige Existenz und als erbarmungslos korrupt dar. In seiner Komödie „Gerichtsschikane" läßt Kapnist einen Chor von Provinzbeamten ein Couplet singen: Nimm, das ist hier keine Kunst; Nimm, was man nur nehmen kann. Wozu haben wir die Hand, wenn nicht, um zu nehmen?8 Gogols Popristschin in den „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen" ist das Porträt eines solchen Beamten „in der Gouvernementsverwaltung, den Gerichts- und Finanzbehörden": „Da drückt sich einer in der äußersten Ecke herum und schreibt was. Der Frack, den er trägt, ist abscheulich, die Schnauze so, daß man ausspucken möchte, aber schau dir an, was für ein Haus er in der Sommerfrische mietet. Mit einer vergoldeten Porzellantasse brauchst du ihm gar nicht erst zu kommen. ,Das sind Geschenke für einen Doktor', sagt er. Seine Preislage sind zwei Traber, eine Kutsche oder ein Biber im Werte von dreihundert Rubel. Er macht einen bescheidenen Eindruck. Er kann so zartfühlend fragen:,Würden Sie mir Ihr Messerchen leihen, damit ich mein Federkielchen beschneiden kann', plündert aber den Bittsteller aus bis aufs Hemd". Die russische Bürokratie, ein wichtiger Faktor im staatlichen Leben, hinterließ fast keine Spur im geistigen Leben Rußlands: Sie schuf sich weder eine eigene Kultur, noch eine eigene Ethik, ja nicht einmal eine eigene Ideologie. Als in der Nachreformzeit Journalisten gebraucht wurden, Mitarbeiter des neugestalteten Gerichtswesens und Advokaten, kamen diese in den ersten Jahrzehnten nach Aufhebung der Leibeigenschaft aus völlig anderen Schichten, in erster Linie aus dem klerikalen Milieu, dem ,weißen'
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Erster Teil
Klerus, der sogenannten Weltgeistlichkeit, die von den Petrinischen Reformen in den Hintergrund gedrängt worden war. Die Situation der anderen Stütze des Russischen Reiches der „imperialen Periode", des Offiziersstandes, w a r völlig anders gelagert. Wie bereits erwähnt, nahm der Adel im militärischen Bereich faktisch eine Monopolstellung ein. Als Resultat der petrinischen Reformen machte er nun seinen alleinigen Anspruch auf eine weitere, noch wichtigere Seite des öffentlichen Lebens geltend, er nahm sich das ausschließliche Recht auf die Leibeigenschaft. Es wäre müßig darüber zu reden, wie unheilvoll sich dieser Umstand sowohl auf die Geschicke Rußlands als auch auf den Adel selbst auswirkte. Zum einen führte er zu einer unnatürlichen Verzögerung der Bauernbefreiung, die trotz der in das Reich hineinwirkenden Impulse aus Europa dessen Entwicklungsgang behinderte. Zum anderen stellte sich heraus, daß der Adel in Rußland sich trotz seines bedeutenden Beitrags zur Nationalkultur als unfähig erwies, sich der Situation nach den petrinischen Reformen anzupassen, was zu dem Ergebnis führte, daß im kulturellen Leben Rußlands ein weiterer Riß entstand. Es muß hier aber noch einmal hervorgehoben werden, daß die Tatsache der „historischen Sünden" des russischen Adels die Bedeutung seines Beitrages zur nationalen Kultur für uns nicht schmälert. Die ganze, 150 Jahre währende Periode trägt den Stempel staatlichen und kulturellen Schöpfertums, zeichnet sich durch hohes geistiges Suchen aus und durch Werke von allgemeiner nationaler und allgemeinmenschlicher Bedeutung, die tief in der russischen Adelskultur wurzeln und gleichzeitig in die universelle Menschheitsgeschichte eingegangen sind. W i r sprechen von der „revolutionären Kraft des Adels", und diese paradoxe Koppelung drückt besser als alles andere den Widerspruch aus, von dem hier die Rede ist. Es mag dem Leser vielleicht seltsam erscheinen, aber es ist notwendig darauf hinzuweisen, daß die Leibeigenschaft im großen und ganzen auch einige positive Aspekte für die Geschichte der russischen Kultur aufwies. Denn gerade die Leibeigenschaft garantierte dem Adel eine, wenn im Grunde auch widernatürliche, so doch gewisse Unabhängigkeit von der Staatsmacht, die kulturelle Aktivitäten erst möglich machte. Der Offizier diente nicht um des Geldes willen. Sein Gehalt deckte kaum die Ausgaben, die das Leben eines Militärs erforderte, insbesondere in der Hauptstadt und wenn er der Garde angehörte. Natürlich gab es auch Defraudanten: in einem irgendwo in der Provinz stationierten Regiment konnte man am Heu für die Pferde sparen, an der Remonte an der Munition für die Sol* Es ist interessant, daß jene Adligen, die in den 30er und 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts rasch verarmten, aktiv zur Bildung der russischen Intelligenz beitrugen. Das vorpetrinische Berufsbeamtentum erwies sich auch hier als weitaus weniger bedeutend und aktiv. ** Remonte - technischer Terminus bei der Kavallerie, die Auffüllung oder Erneuerung des Pferdebestandes betreffend. Für den Ankauf von Pferden wurde von der Militärbehörde ein Offizier mit einer entsprechenden Summe ausgestattet und zu einem der alljährlich
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daten, und nicht selten mußte der Kommandierende einer Kompanie oder eines Regiments, um seinen Truppenteil ,in Ordnung' zu halten (so wurde beispielsweise unter dem Regime des Araktschej ewschen Drills die Munition oft vor der Zeit unbrauchbar), dem Oberkommandierenden die Wiederherstellung dieser Ordnung aus eigener Tasche bezahlen, vorzugsweise wenn eine Besichtigung durch den Zaren bevorstand. Bedenken wir, daß althergebrachter Brauch von einem Offizier, anders als von einem Beamten, ein großspuriges Leben verlangte, und daß es für anstößig galt, dabei hinter seinen Kameraden zurückzubleiben, so dürfte uns klar sein, daß der Militärdienst nicht eben zu den ertragreichsten Metiers zählte. Für einen Angehörigen des Adels war es unumgänglich, eine Dienststellung zu bekleiden, denn niemand in Rußland, der den nichtbesteuerten Ständen angehörte, kam um den Dienst herum. Ohne diesen Dienst war kein Rang zu erlangen, und ein Adliger, der keinen Rang aufzuweisen hatte, wurde als eine Art schwarzes Schaf angesehen. Beim Ausstellen jeder Art von amtlichen Papieren (Kauf- briefen, Pfandbriefen, Ankaufs- oder Verkaufsverträgen, Pässen für Reisen ins Ausland usw.) war nicht nur der Familienname, sondern auch der Rang anzugeben. Wer über keinen Rang verfügte, hatte zu unterschreiben: „Unmündiger Landjunker Soundso". Ein bekannter Freund Puschkins, der Fürst Golizin, einer jener wenigen Adligen, die nie in irgendeinen Dienst getreten waren, mußte bis ins Alter auf amtlichen Papieren „Unmündiger Landjunker" angeben. Hatte nun ein Angehöriger des Adels niemals einen Dienst ausgeübt, und das konnte sich nur ein Begüterter, ein Sohn eines hohen Würdenträgers leisten, der den größten Teil seiner Zeit im Ausland verbrachte, verschaffte ihm in der Regel seine Verwandtschaft eine fiktive Anstellung, häufig einen Hofdienst. Dann trat er einen langfristigen Urlaub an, „für eine Kurbehandlung" oder „für die Erledigung häuslicher Angelegenheiten", „diente" sich ins Oberhofmeister-Alter (Ränge wurden nach Dienstjahren vergeben) und trat im Rang eines Generals in den Ruhestand. Wenn im Moskau der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre des vorigen Jahrhunderts die fürsorglichen Mütter Sorge hatten, ihre verträumten und der deutschen Philosophie zuneigenden Sprößlinge die Gardekasernen beziehen zu lassen, bot sich als einer der typischen fiktiven Dienste der Eintritt in das Archiv des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten an. Der Leiter dieses Archivs, D. N . Bantysch-Kamenski, trug dann diese jungen Leute in der Öffentlichkeit wurden sie ironisch „Archiv-Jünglinge" genannt - in altmoskauer Gutmütigkeit und um den Damen gefällig zu sein, gern in die
stattfindenden großen P f e r d e m ä r k t e a b k o m m a n d i e r t . D a m a n die P f e r d e bei den G u t s b e sitzern kaufte, bei P r i v a t p e r s o n e n also, w a r eine U b e r p r ü f u n g des tatsächlich a u s g e g e b e n e n G e l d e s s o gut w i e u n m ö g l i c h . A l s G a r a n t i e f ü r die real a u s g e g e b e n e S u m m e galt einerseits d a s V e r t r a u e n , d a s m a n in den a b k o m m a n d i e r t e n O f f i z i e r setzte, u n d andererseits die E r f a h r u n g der sich in d e n Preisen f ü r die P f e r d e a u s k e n n e n d e n V o r g e s e t z t e n .
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Erster Teil
Listen des Personalbestandes' ein, das heißt ohne Gehalt und ohne irgendwelche dienstlichen Verpflichtungen. Mit der Amterverteilung verband sich gleichzeitig die Vergabe von Privilegien und des Anspruchs auf Ehrerbietung. Der bürokratische Staat schuf eine uns heute kaum mehr begreifbare riesige Leiter menschlicher Vorteilsbeziehungen. Die Leser werden sich sicher jener Stelle in Gogols „Revisor" erinnern, als Chlestakow heuchlerisch in Rage gerät. Noch macht er sich nicht zum Oberkommandierenden, er beginnt erst zu lügen und sagt: „Man schreibt mir sogar auf die Pakete ,Eure Exzellenz'". Was bedeutet das? Weshalb erschraken die Gogolschen Beamten derart, daß sie anfingen zu wiederholen: „Eu... Eu... Eure Exzellenz?" Der Anspruch auf Ehrerbietung w u r d e nach Dienstgraden vergeben. In der Realität äußerte sich das am deutlichsten in den starren Formeln, mit denen man sich, entsprechend ihrer Dienstgrade, an die verschiedenen Beamten zu wenden hatte. Für Persönlichkeiten der I. und II. Rangklasse galt die Anrede „Euer Hochwohlgeboren". Personen der III. und IV. Rangklasse waren mit „Exzellenz" anzureden (schrieb man an einen Universitätsrektor, galt die Anrede „Euer Exzellenz" auch unabhängig von seinem Rang). Die V. Klasse (die obenerwähnte Rangklasse der Brigadiere, deren Adel nicht vererbbar w a r ) erforderte die Anrede „Euer Wohlgeboren". A n Personen der VI. bis VIII. Rangklasse hatte man sich mit „Euer Würden" zu wenden, und an Beamte der IX. bis XIV. Klasse mit „Euer Gnaden" (mit dieser Anrede konnte man sich gewöhnlich auch an jeden Adligen wenden, unabhängig von seinem Rang). Eine wahre Wissenschaft für sich waren die Anreden des Zaren. Auf Briefumschläge zum Beispiel hatte man „An Seine Kaiserliche Majestät und kaiserlichen Herrscher" zu schreiben, und die eigentliche Anrede hatte „Allergnädigster Monarch" oder „Erlauchter Monarch" zu lauten. Sogar den geistlichen Bereich hatte Peter I. in dieser Weise reglementiert: Der Metropolit und der Erzbischof waren mit „Euer allerhöchste Eminenz" (in Briefen mit „Euer allerhöchste Eminenz und allerheiligster Gebieter") anzureden, der Bischof mit „Euer Eminenz" (in Briefen mit „Euer Eminenz und heiliger Gebieter"), der Archimandrit (Abt, d.U.) und der Igumen (Prior, d.U.) mit „Euer Hochwürden", und der Priester mit „Euer Ehrwürden". W i r wollen hier nur ein Beispiel für die außerordentliche Bedeutung der dem jeweiligen Rang entsprechenden Anrede anführen. Worin bestand der Sinngehalt der Replik Chlestakows? Er bestand nicht nur darin, daß Chlestakow ein ,Federfuchser' war, wie ihn sein Diener Ossip nannte, das heißt ein Kollegienregistrator, ein Beamter der niedrigsten, der XV. Rangklasse, und sich für einen höheren Beamten ausgab (wäre er ein Beamter III. Klasse, wäre er entweder Generalleutnant oder Geheimrat, und als Beamter der IV. Klasse wäre er Generalmajor, ein wirklicher Staatsrat oder, wie w i r wissen, ein Oberprokuror). Der Sinngehalt der Replik bestand auch in der letztgenannten Rangvariante, mit der Chlesta-
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kow offensichtlich die Beamten erschreckte: ein Oberprokuror des Senats war gleichzeitig ein Revisor, also jemand, den man aussendet, Amtsmißbräuche aufzudecken. Das winzige, für uns kaum bemerkbare Detail in der weinseligen Großsprecherei Chlestakows stellt sich also als ein wichtiges Element des Grundthemas der Komödie und ihres symbolischen Titels heraus. Natürlich lag es nicht in der Absicht Peters I., mit seinen Vorschriften das gesamte Leben seiner Untertanen zu reglementieren. So schränkte er ausdrücklich ein, daß „die Berücksichtigung des Ranges nicht bei solchen Gelegenheiten zu fordern ist, bei denen gute Freunde und Nachbarn zusammenkommen oder in öffentlichen Versammlungen, sondern nur in den Kirchen beim Gottesdienst und bei den Hofzeremonien, sowie bei den Audienzen der Botschafter, bei Banketten, bei den Beamtentagungen, bei Eheschließungen, Taufen, ähnlichen öffentlichen Feierlichkeiten und bei Begräbnissen". Schon die bloße Aufzählung der (Gelegenheiten', bei denen das Verhalten der Menschen durch ihren jeweiligen Rang bestimmt wurde, zeigt, daß sie eine ziemlich große Anzahl ausmachten. Gleichzeitig mit dem jeweiligen von ihm erlassenen Gesetz setzte Peter auch das drastische Strafmaß fest, das bei „nicht ranggemäßem" Verhalten in Anwendung zu kommen hatte. D i e Strafe (zwei Monatsgehälter) hatten sowohl Gehaltsempfänger zu zahlen als auch derjenige, der ohne Salär diente: „Er hat die gleiche Strafe in ebender H ö h e zu zahlen, die das Gehalt der ihm im Rang Gleichstehenden ausmacht". 9 D e r Rang in der Diensthierarchie war mit dem Erhalt (oder Nichterhalt) vieler materieller Privilegien verbunden. So wurden beispielsweise auch die Pferde an den Poststationen nach Dienstrang vergeben. Im 18. Jahrhundert wurde in Rußland unter Peter I. eine ,reguläre* Post eingeführt. Sie bestand aus einem N e t z von Stationen, die von speziellen Beamten geführt wurden, denen wir später in der Personage des „Petersburger M y t h o s " wiederbegegnen (hier sei nur an Puschkins „Postmeister" erinnert). D e r Postmeister hatte die Verfügungsgewalt über die staatlichen Kutscher, die Reisekutschen und die Pferde. Wer mit einem Reisepapier im Regierungsauftrag oder in eigenen Angelegenheiten reiste und mit sogenannten Freistrecken-Postpferden eine Poststation erreichte, konnte dort die ermüdeten Pferde gegen frische eintauschen. Feldjäger bekamen die Fahrtkosten vom Staat bezahlt. W e r hingegen „in eigenen Angelegenheiten" reiste, mußte die Pferde selbst bezahlen. Aus diesem Grunde zog es der ländliche Gutsbesitzer vor, mit eigenen Pferden zu reisen, was die Reise zwar verlangsamte, sie aber wesentlich billiger machte. *
Es ist anzumerken, daß der Dienst ohne Gehalt eine recht häufige Erscheinung war,
und im Jahre 1 / 2 6 hatte A. M e n s c h i k o w die Gehälter kleiner Beamter mit der Begründung, daß sie ohnehin genügend Bestechungsgelder einnähmen, gänzlich abgeschafft.
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Erster Teil So zog es auch Puschkins Larina vor: ... zu reisen, besorgt wegen der Wegbeschwerden, statt mit der Post mit eignen Pferden. (7, X X X V )
Das Anwesen der Larins lag vermutlich im Gouvernement Pskow. V o n dort ,auf dem Postweg' nach Moskau zu reisen, dauerte gewöhnlich drei Tage und Nächte, doch mit der Eilpost brauchte man nur zwei. Larinas Sparsamkeit führte dazu, daß ...unser Kind genoß den postamtlichen Schneckengang man reiste sieben Tage lang. (7, X X X V ) F ü r die Vergabe von Pferden gab es auf den Stationen eine strenge O r d nung: Vorrangig und außer der Reihe wurden erst einmal die Feldjäger mit offiziellen Eilsendungen abgefertigt, die übrigen erhielten Pferde nach ihrem Rang: Personen der Rangklassen I—III durften bis zu zwölf Pferde beanspruchen, Beamte der I V . Klasse erhielten acht Pferde und so weiter bis hinunter zu den unbemittelten Beamten der Klassen V I - I X , die sich mit einer zweispännigen Kutsche begnügen mußten. O f t aber geschah auch anderes: ein vorüberfahrender General erhielt alle Pferde, die restlichen Reisenden blieben sitzen und mußten warten. U n d der schneidige Husarenfähnrich, der bezecht die Station erreichte, konnte den wehrlosen Postmeister schlagen und sich gewaltsam mehr Pferde nehmen als ihm zustanden. Bei den Banketts im 18. Jahrhundert trugen die Diener die Gerichte ebenfalls nach dem Rang auf, und die Gäste am ,niederen' Ende der Tafel saßen oft genug vor leeren Tellern. Man erzählt sich, daß der Fürst A. P o temkin einmal einen kleinen Beamten zu sich zum Diner lud und ihn nach dem Essen gönnerhaft fragte: „Nun, Lieber, zufrieden?" U n d der am E n de der Tafel sitzende Gast antwortete demütig: „Ich bedanke mich vielmals, Eure Hoheit, habe alles gesehen." In jener Zeit gehörte bei den exorbitanten Festmählern, bei denen sich an der Tafel einander völlig fremde Personen begegneten und sich selbst der großzügige Gastgeber nicht mehr an all seine Gäste erinnern konnte, die Bewirtung ,nach dem Rang' zum unumstößlichen Brauch. Dieser Brauch kam erst im 19. Jahrhundert aus der Mode und hielt sich nur noch eine Zeitlang in der Provinz.
* In den Beschreibungen der Lebensweise des 18. Jahrhunderts findet sich der Fall eines gewissen Gastes, der vierzig Jahre lang an den Diners im Hause eines Begüterten teilgenommen hatte, und nach dessen Tod einschließlich des Gastgebers niemand wußte, wer er gewesen und wie sein Name gewesen war.
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Der Rang eines Schreibenden und desjenigen, an den er sich wandte, bestimmten den Charakter und die Form eines Briefes. 1825 gab der Professor Jakow Tolmatschew ein Buch heraus mit dem Titel: „Die militärische Redegewandheit". Es enthielt eine Zusammenstellung praktischer Regeln für Texte der verschiedensten Art, von Reden der Feldherrn bis zu offiziellen Papieren. Aus dem Buch erfahren wir, daß ein offizielles Dokument unbedingt ein von orthographischen Fehlern freies „sauberes und klares Schriftstück" zu sein hat, daß es „in militärischen Schriftstücken kein Postskriptum geben darf" und eine Vielzahl anderer, nicht weniger nützliche Dinge. Exakt erklärt Tolmatschew die unterschiedlichen Formen von Briefen ,Niederer' an ,Höhergestellte' und von ,Höhergestellten' an ,Niedere': „Schreibt ein Höhergestellter an einen Niederen, so unterzeichnet er gewöhnlich, bei Anführung des Dienstgrades, des Ranges und des Familiennamens eigenhändig nur mit seinem Familiennamen; schreibt ein Niederer an einen Höhergestellten, unterschreibt er mit eigenem Dienstgrad, Rang und Familiennamen". 10 Stellt sich jedoch heraus, daß in dem Brief eines Niederen an einen Höhergestellten lediglich der Familienname eigenhändig (also nicht von der Hand eines Schreibers) geschrieben wurde, dann ist das ein grober Verstoß gegen die Regel, eine Beleidigung, die mit einem Skandal enden kann. Genauso bedeutsam war die Stelle, an der sich das Datum eines Briefes zu befinden hatte: der Höhergestellte setzte das Datum oben, der Niedere unten, und verletzte er diese Regel, drohten ihm Unannehmlichkeiten. Uberhaupt sollte in den Briefen die Etikette genauestens eingehalten werden. Bekannt geworden ist der Fall eines mit einer Revision beauftragten Senators, der bei der Anrede eines Gouverneurs statt des geforderten „Gnädiger Herr!" die Anrede „Mein gnädiger Herr!" schrieb. Der beleidigte Gouverneur, einer der für ihren Stolz berühmten Grafen Mamonow, begann seinen Antwortbrief mit den Worten „Mein, mein, mein gnädiger Herr!" und unterstrich verärgert das in der offiziellen Anrede deplacierte besitzanzeigende Fürwort „mein". Das bürokratische Prinzip, in das die „Regularität" schnell ausartete, breitete sich rasch auf immer neue Bereiche des Lebens aus, zum Beispiel auf den Bau von Wohngebäuden. Im 18. Jahrhundert entstanden von der Obrigkeit bestätigte einheitliche Entwürfe für Gebäudefassaden, die von Privatpersonen errichtet werden durften. Die bezaubernden Villen des 18. Jahrhunderts, die heute unser Auge erfreuen und um deren Erhaltung wir uns bemühen (leider allzu oft erfolglos), wurden in der Regel nach diesen einheitlichen Entwürfen gebaut. Ein weiteres interessantes Beispiel ist das Dokument der „Vorschriften für einen privaten Kutscher". Ein privater Kutscher fuhr zwar mit seinen eigenen Pferden durch die Stadt, aber auch er hatte eine Vielzahl von Regeln zu beachten, die, so hatte es oft den Anschein, in keinem Verhältnis zu seiner Tätigkeit standen. So durfte er sich nicht nach seinem Gutdünken kleiden: „Im Winter und im Herbst soll, wer es wünscht, Kaftane und
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Erster Teil
Pelzmäntel tragen, aber die Mützen sollen russische sein mit einem Oberteil aus gelbem Tuch und mit einem Besatz aus schwarzem Lammfell, und die Gürtel sollen gelb und aus Wolle sein, und im Sommer, vom 15. Mai bis zum 15. September, soll er lange weite Kittel aus heller Leinwand tragen, dazu schwarze Mützen mit einem den Verordnungen entsprechenden gelben Band nach dem Muster der Polizei und ebensolche gelben Gürtel".' Die Muster der Kleidung gab es auf dem Revier, das heißt bei der Polizei. Besonders kraß äußerten sich die staatlichen Eingriffe in der Welt der Uniformen. Die Uniformen waren noch von Peter I. angeordnet worden, zuerst für die Garderegimenter. Er hatte die folgenden Uniformen eingeführt: grüne für das Preobrashensker Regiment, blaue für das Semjonowsker Regiment; danach erhielt die gesamte Gardeinfantrie grüne Uniformen. Die Uniform war verhältnismäßig einfach: Die Uniform der Offiziere hatte den gleichen Schnitt wie die der Soldaten, von denen sie sich nur durch goldene Tressen, durch das Offiziersabzeichen in Form eines Halbmondes auf der Brust und durch eine dreifarbige Schärpe am Gürtel unterschied (von 1742 an in den „Georgijewschen" Farben). Allmählich wurden die Anforderungen an die Uniform immer differenzierter und entwickelten sich später, nach Paul I., zu einer Lieblingswissenschaft der Herrscher. Alexander I., ein umfassend gebildeter Mensch mit Staatsinteressen, saß stundenlang mit Araktschejew zusammen und erdachte neue Uniformschnitte und Farben für die Garnitur der Uniformen. Ununterbrochen wurden neue Befehle dazu erlassen. Einer dieser Befehle, „Uber die Uniformen des Kadettenkorps", lautete z.B.: „Im zweiten Kadettenkorps sollen bei der Generalität, bei den Stabs- und Oberoffizieren und Kadetten die Uniformen geändert und nach den zwei angegebenen Mustern angefertigt werden". Die entsprechenden Muster wurden beigefügt. Alle Veränderungen der Uniformen wurden vom Zaren persönlich unterzeichnet, und bei Paul, Alexander I. und Nikolai I., sowie bei dem Bruder Alexanders und Nikolais, dem Großfürsten Konstantin Pawlowitsch wandelten sich diese Beschäftigungen zu einer wahren „UniformManie". Diese Manie hatte natürlich keinerlei Beziehung zu den militärischen Notwendigkeiten der Armee. Das Petersche Prinzip der praktischen Zweckmäßigkeit des ,regulären Staates' ging völlig verloren. Die Reglementierung der verschiedensten Seiten des Lebens, darunter auch der des Militärs, wurde zum Selbstzweck. So schuf man eine gigantische bürokratische Maschinerie mit all ihren Formalismen und dem Rang als dem hauptsächlichsten und sehr oft einzigen Anreiz für den dienstlichen Umgang. * Alle Gesetze werden zitiert nach: „Vollständige Sammlung der Gesetze des Russischen Reiches, zusammengestellt auf Anordnung des Herrschers Nikolai Pawlowisch. (1. Sammlung) (1649-1825).Bd. 1^15. Sankt Petersburg 1830.
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Weiter oben wurde bereits davon gesprochen, daß in der Kultur der Petersburger, der ,kaiserlichen' Periode der russischen Geschichte der Begriff des Ranges einen besonderen, beinahe mystischen Charakter erlangte. Das Wort „Tschin" (Rang, d.U.) verlor in seinem Wesen jene Bedeutung, die es mit dem altrussischen „Porjadok" (Ordnung, d.U.) verbunden hatte, denn im Vordergrund stand nun nicht mehr die reale Ordnung, sondern eine papierene, eine formal-bürokatische. Gleichzeitig damit wurde dieses Wort, für das es kein exaktes Äquivalent in den europäischen Sprachen gibt (obwohl Peter I., sicher war, daß seine Reformen Rußland Europa annähern würden), zum Merkmal einer der wesentlichsten Besonderheiten der russischen Wirklichkeit. Einerseits ist der Rang („Tschin") gewissermaßen eine zum Gesetz erhobene Fiktion, ein Wort, das nicht die realen Eigenschaften eines Menschen umschreibt, sondern seinen Platz in der Hierarchie. Die Pseudo-Daseinsweise der Bürokratie verleiht der Existenz des in den Rangmechanismus eingebundenen Menschen etwas Gespenstisches, macht sie zu einer QuasiExistenz. Der Held in Gogols „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen" entrüstet sich: „Was hat es schon zu sagen, daß er Kammerjunker ist? Das ist doch weiter nichts als ein Titel, keine Sache, die man sehen oder in die Hand nehmen kann. Schließlich hat er, weil er Kammerjunker ist, noch kein drittes Auge in der Stirn". Der Gogolsche Popristschin spürt das Fiktive der Aufteilung der Menschen in Ränge: „Seine Nase ist doch nicht aus Gold..., er kann mit ihr nur riechen, aber nicht essen, nur niesen aber nicht husten. Ich wollte mir schon wiederholt darüber klar werden, woher all diese Unterschiede kommen, warum ich Titularrat bin, wieso eigentlich Titularrat?". Der Rang ist ein leeres Ding, ein Wort, ein Gespenst. Die Fiktion herrscht über das Leben, regiert es. Dieser Gedanke wird für Gogol zu einem der Zentralgedanken, und ohne beispielsweise zu wissen, warum es von solcher Bedeutung ist, daß der Beamte, dessen Nase sich von ihm trennt, ein Major ist, warum Popristschin und Baschmatschkin Titularräte sind, werden wir seine Werke nicht verstehen. ...Aber das Leben ist das Leben, und mit allen Mitteln lehnte es sich gegen das Prinzip der alles umfassenden Reglementierung auf. War auch die bürokratische Hierarchie bestrebt, alle Seiten der menschlichen Existenz zu erfassen, gelang es ihr doch in keiner Weise, sich völlig der Vielgestaltigkeit des Lebens, sogar des offiziellen und staatlichen, zu bemächtigen. Neben der Ranghierarchie existierten auch noch andere Systeme, zum Beispiel das System der Orden. Das System der Orden, das unter Peter I. enstand, verdrängte die davor bestehenden Formen der Auszeichnungen durch den Zaren. Der allgemeine Sinn der von Peter durchgeführten Änderung bestand darin, daß an die Stelle einer konkreten Auszeichnung die Dekorierung mit einem Zeichen gesetzt wurde. Hatte man bis dahin als Auszeichnung wertvolle Geschenke gemacht, wurde nun ein Zeichen verliehen, das nur einen formalen Wert
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im System der staatlichen Auszeichnungen darstellte. Diese ,Unnatürlichkeit' der Orden als Auszeichnung griff Gogol in den „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen" als gegensätzliche Aspekte auf: den Aspekt des Beamten, der seine Anbetung der Orden beinahe bis zur Mystifizierung trieb, und den natürlichen' Aspekt des Hündchens, das den Orden beschnuppert, beleckt und dessen tatsächlichen und wahren Wert im Geruch oder im Geschmack zu finden sucht. Die Bedeutung des Wortes „Orden" entsprach im 18. Jahrhundert noch nicht dem Sinn, den man heute damit verbindet: Orden war nichts Gegenständliches, sondern drückte die Zugehörigkeit zu einer ritterlichen Bruderschaft aus. Die westeuropäischen mittelalterlichen Orden zu Ehren eines bestimmten Heiligen vereinigten ihre Mitglieder im Dienst für die ritterlichen Ideale des jeweiligen Ordens. An der Spitze eines solchen Ordens stand ein Großmeister. Seit der Konsolidierung des absolutistischen Westeuropa war das in der Regel der regierende Fürst. Die Mitgliedschaft in diesen Orden wurde als ein bestimmtes religiöses, moralisches oder politisches Dienen begriffen. Die äußeren Attribute der Ordensmitglieder waren eine besondere Tracht, sowie das Zeichen des Ordens und ein Stern, an speziell festgelegten Stellen der Kleidung zu tragen, und manchmal auch eine Ordenswaffe. In seiner Form als ritterliche Vereinigung ließ sich der mittelalterliche Orden aber nicht mehr mit den juridischen Normen des Absolutismus vereinbaren, und so verwandelte ihn der königliche Absolutismus in Europa schließlich in die Zeichen staatlicher Dekorierung. Anfangs war beabsichtigt, die verliehenen Orden in Rußland, nach dem Muster der Ritterorden, in Beziehung zu einer ritterlichen Bruderschaft zu setzen, der Träger gehörte also einem entsprechenden Orden an. Aber in dem Maße, in dem sich in Rußland auch die Dekorierung mit Orden zu einem bestimmten System entwickelte, erhielten sie eine neue Bedeutung, ähnlich der neueuropäischen Bedeutung, sie wurden zu Zeichen der Auszeichnung. Das Ordenssystem erwies sich als recht widersprüchlich. Die Idee der Orden setzte eine Einteilung voraus. Die beiden ersten russischen Orden, der des heiligen Andrej Perwoswanni (Andreasorden, d.U.) und der der heiligen Katharina (Katharinenorden, d.U.) sollten keine Rangabfolge darstellen, sondern galten als Orden für Männer bzw. für Frauen. Der erste war für Männer mit hohen Verdiensten um den Staat bestimmt, der zweite entsprechend für Frauen. Die erste Frau, die diesen Orden erhielt, war Katharina I. Ursprünglich setzte man voraus, daß diese beiden
*
D a s alte Prinzip wurde allerdings nicht völlig beseitigt. Das zeigte sich darin, daß
periodisch wiederkehrend keine formellen, sondern immer wieder materielle W e r t e das Ordenssystem ausmachten. So stellte der Ordensstern mit Brillanten eine besondere Klasse der Auszeichnung dar. * * V o m lateinischen „ o r d o " , d.h. Reihenfolge, O r d n u n g .
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Orden das ganze System ausmachen würden. Doch bereits unter Peter I. ergab sich in diesem System eine Fragwürdigkeit. Nach dem Verrat Mazeppas hatte der erzürnte Peter sich etwas Unerhörtes ausgedacht: einen Judas-Ischariot-Hohnorden. Die ungewöhnliche Idee gelangte jedoch nicht zur Ausführung. Man wurde Mazeppas nicht habhaft, und so fand die Vergabe des Ordens, die als Bestrafung gedacht war, nicht statt. Später hat sich an diesen Orden niemand mehr erinnert. Nach Peter tauchten in Rußland neue Orden auf. Es entstand eine Ordenshierarchie, für die es ein anschauliches Beispiel gab: so wurde der Orden des heiligen Andrej Perwoswanni (der Andreasorden) höher eingestuft als der Wladimir-Orden und blieb der höchste Orden des Russischen Reiches. Durch die Orden, die verschiedene Klassen hatten, entstand eine Rangordnung innerhalb der Ordenshierarchie. In ihrer Gesamtheit war die Ordenshierarchie nicht unveränderlich. In der Regel wurde jeder neugeschaffene Orden zum ,Lieblingsorden' des jeweiligen Zaren. Es galt dann stets als besondere Ehre, diesen Orden zu erhalten, auch wenn er nicht der höchste in der offiziellen Rangfolge war. So war es allgemein bekannt, daß Paul I. die von seiner Mutter gestifteten Orden, die in der offiziellen Ordensabfolge hohe Plätze einnahmen, nicht sonderlich liebte; er bevorzugte den Orden der heiligen Anna (Annenorden, d.U.). Die Auszeichnung mit diesem offiziell zweitrangigen Orden galt unter Paul als besonders ehrenvoll. Paul I. unternahm auch den Versuch, ein strafferes Ordenssystem durchzusetzen und stiftete am Tage seiner Krönung (5. April 1797) den „Russischen Kavaliersorden", der aus vier Klassen bestand: dem Andreasorden, dem Katharinenorden, dem Alexander-Newski-Orden und dem Annenorden. Doch er beschränkte, und das war typisch für ihn, sein russisches Ordenssystem selbst ein, indem er den ausländischen Malteserorden' darin aufnahm, für den er eine besondere Vorliebe hegte. Es wäre jedoch unrichtig anzunehmen, das russische Ordenssystem wäre chaotisch gewesen. Vielmehr war es dynamisch, da es in einem weit größeren Maße als die Rangstufen das staatliche Wertesystem widerspiegelte, doch nicht nur dieses. So übte beispielsweise die Mode einen vielfältigen Einfluß auf die Orden aus. Die Vergabe der Orden erfolgte in Rußland nicht immer durch offizielle Institutionen; nicht selten wurde nur das Recht verliehen, sie zu tragen, und der so Ausgezeichnete bestellte sich den Orden selbst. So konnte der *
Offizieller N a m e : „ O r d e n des heiligen J o h a n n von J e r u s a l e m " . W i e bekannt wurde
Paul I. Schirmherr der Insel Malta und ließ sich im D e z e m b e r 1798 zum Großmeister des Malteserordens ausrufen. Das war im G r u n d e eine Unmöglichkeit, denn die Ritter des Malteserordens hatten das Gelübde des Zölibats abzulegen, und Paul war bereits zum zweitenmal verheiratet; außerdem war der Malteserorden katholisch, während der russische Zar selbstverständlich russisch-orthodox war. A b e r Paul I., der einmal sogar die Liturgie abhielt, fand, was G o t t könne, könne auch ein russischer Kaiser.
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Auftraggeber die Größe des Ordens nach Belieben verändern und ihn auf die eine oder andere Weise noch verzieren lassen. Damit wurde auch die Mode zu einem Faktor im Bereich der Orden: im heroischen 18. Jahrhundert waren große, massive Orden die Regel, während man in der Alexandrinischen Epoche den eleganten Orden bevorzugte. Als N. M. Karamsin in der zweiten Hälfte des ersten Jahrzehnts des vorigen Jahrhunderts an den H o f nach Petersburg reisen sollte, erwies sich sein Annenorden als ,anstößig altmodisch', das Kreuz hatte solide Ausmaße und wirkte ,uralt'. So tauschte Karamsin auf dem Weg zum H o f seinen Orden eilig mit Fjodor Glinka. Später nannten sich dann die beiden Literaten aufgrund dieses Kreuztausches, halb witzelnd, halb ernsthaft, „die Kreuzbrüder". (Diese Witzelei war eine Anspielung auf den volkstümlichen Brauch, bei einer Verbrüderung die Kreuze zu tauschen, aber im Unterschied zu dem Fürsten Myschkin und Parfen Rogoshin in Dostojewskis „Der Idiot" wechselten Karamsin und Glinka statt ihrer Taufkreuze ihre Ordenskreuze). Die existierenden Regeln wirkten jedoch nicht mechanisch, sondern ließen bei den Gründen, aus denen Orden vergeben wurden, einen weiten Spielraum. Den Andreasorden zum Beispiel konnte man sowohl für militärische als auch für zivile Verdienste erhalten. Gogol beabsichtigte, eine Komödie mit dem Titel „Wladimir der III. Klasse" zu schreiben, in der ein geistesgestörter Beamter sich für den Wladimirorden hält. Das Thema wäre ein Mensch gewesen, der, nach Gogols Intentionen, alle menschlichen Werte gegen eine sinnentleerte Fiktion eintauscht, gegen ebendiesen Wladimirorden. Eine Besonderheit stellte der Orden des heiligen Georg dar. Der Georgstern erster Klasse wurde höher bewertet als andere Orden und kam gleich nach dem Andreasorden; man durfte ihn nie ablegen. Außerdem wurde der Georgsorden ausschließlich an Militärs und nur für militärische Verdienste verliehen (die IV. Klasse für langjährige treue Dienste, für 25 Jahre im Offiziersdienst und für 18 Kampagnen bei der Flotte). So wurde zum Beispiel im Krieg von 1812 der Georgsorden nur einmal verliehen - an Kutusow, und 1813/14 erhielt ihn Barclay de Tolly; später erhielt ihn dann auch noch L. L. Bennigsen. Alexander I. nahm nur einmal an einer Schlacht teil, bei Austerlitz, und erhielt dafür den niedrigsten, den Georgsorden IV. Klasse. Wurde der Andreasorden automatisch an gekrönte Häupter und Mitglieder der Zarenfamilie verliehen, so mußte der Georgsorden stets verdient werden. Lediglich ein Zar, Alexander II., besaß die bemerkenswerte Kühnheit, sich den Georgsorden I. Klasse selbst zu verleihen, obwohl er keine militärischen Verdienste aufzuweisen hatte. Als Vorwand benutzte er das Jubiläum der Stiftung dieses Ordens/
Bis dahin galt Katharina II. als Stifterin des Ordens.
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Innerhalb des Systems der Auszeichnungen nahmen im 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Orden im großen und ganzen einen besonderen Platz ein. Einerseits waren sie, wie auch die Ränge, kein „echtes D i n g " , wie Gogols Popristschin es ausdrückt. D i e Bedingungen der staatlichen Struktur wurden hier besonders deutlich. Andererseits jedoch verlieh ebendiese Eigentümlichkeit des Ordens ihm die Bedeutung einer Auszeichnung für uneigennützige Dienste. Zeugte die Auszeichnung von Staatsbeamten lediglich vom Wohlvollen der Obrigkeit, behielten der Georgs-Siegesorden und der Wladimirorden mit Schwertern in den Augen der Öffentlichkeit ihren W e r t als Zeichen patriotischer Verdienste. Im allgemeinen jedoch erzeugte der Orden an sich ein zwiespältiges Verhältnis. So wurde in Offizierskreisen oft die Frage gestellt: Wofür ist dieser Orden? D e m Charakter der jeweiligen Antwort war dann zu entnehmen, in welchem Maße die Auszeichnung die realen Verdienste widerspiegelte. Die Möglichkeit, Zeichen patriotischer Verdienste zu sein, unterschied den Orden vom Rang, insbesondere von der staatlichen oder der Position bei Hofe, die lediglich die Stellung eines Menschen innerhalb der staatlichen Bürokratie bezeichnete. Neben dem System der Orden, das die totale Reglementierung des staatlichen Lebens untergrub, registrieren wir eine Hierarchie, die in gewisser Hinsicht den Rängen gegenüberstand und von der Reputation bestimmt wurde. Das Ansehen, das die russischen Bojaren genossen hatten, hatte dem Verständnis der vorpetrinischen Epoche entsprochen. D i e Festigung der Staatlichkeit zu Anfang des 18. Jahrhunderts führte, wie wir gesehen haben, zum Konflikt zwischen Adel und Amt. Aber auch der Begriff des Adels selbst war nicht konstant. Einerseits verschwanden viele alte Bojarengeschlechter, starben aus oder verarmten völlig; andererseits stärkte und festigte sich der Staat durch einen „neuen" Adel. In der Umgebung Peters I. gab es Menschen, deren Herkunft auf uralte Bojarengeschlechter zurückging, wie zum Beispiel Boris Petrowitsch Scheremetjew, dessen vornehme Herkunft bereits Puschkin hervorhob, als er in seinem Poem „Poltawa" Scheremetjew als den einzigen „Vornehmen" unter den „Flüggen im Peterschen N e s t " bezeichnete. In dem buntschillernden Kreis der russischen Aristokratie des X V I I I . Jahrhunderts konnte man aber auch, wie Puschkin hervorhob, „Pastetenhändler" (A. Menschikow)
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Puschkin schrieb in „Mein Stammbaum": Bei uns gibt's neue vornehme Geburt, Je neuer, desto nobler. U n d mit dem neuen Adel verkehr' ich nicht.
Der Ausdruck ,neuer Adel' war vom westeuropäischen Standpunkt aus ein Paradoxon.
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oder „Kirchenchorsänger" (A. Rasumowski) antreffen und viele andere, die von Palastrevolutionen an die Spitze der neuen Aristokratie getragen worden waren. Und es war ebenfalls Puschkin, der Menschikow in ehrendem und keineswegs ironischem Ton „heimatloses Schoßkind des Glücks/ Halbbruder der Macht" nannte. Am Kern dieser Puschkinschen Worte änderte sich nichts: die neue Aristokratie setzte sich aus ,zufälligen' und oft zwielichtigen Gestalten zusammen. Man mußte ihr aber einen Platz innerhalb der traditionellen Aristokratie einräumen. Peter I. versuchte diese Frage zu lösen, indem er bis dahin in Rußland nicht existierende europäische Titel einführte. So tauchte nun der Titel des Grafen auf. Bis dahin gab es die Grafenwürde in Rußland noch nicht, die anfangs den Titel „Graf des Heiligen Römischen Reiches" trug und vom Kaiser des Heiligen Römischen Reiches verliehen wurde. Unter Peter kam alles Neue in Mode, und die Grafenwürde wurde höher eingeschätzt als der Fürstentitel. Später jedoch erhielt der Fürstentitel mit dem wiederbelebten Interesse an den Traditionen der vorpetrinischen Rus einen zusätzlichen Glanz. Im übrigen bildete sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts bereits ein „neues Fürstentum" heraus. Verbindungen mit den alten russischen Fürstengeschlechtern fehlten jedoch oder waren fiktiv. So legten sich beispielsweise typische Emporkömmlinge aus der Epoche Katharinas, wie die Orlows, eine fiktive Genealogie zu. Stets eingedenk zu sein, wann diese oder jene russischen Geschlechter entstanden waren und woher sie kamen, dies auch bei den Beziehungen untereinander und insbesondere bei den Geschlechterverbindungen innerhalb der eigenen Familie zu berücksichtigen, war in Adelskreisen obligatorisch. Ein Würdenträger unter Katharina Graf A. N. Samojlow pflegte ständig zu wiederholen: „Kenne der Verwandtschaft Zahl, erweis' ihr Ehre allemal". Die Zunahme der Anzahl der ,zufälligen' Menschen unter Peter und unter seinen direkten Nachfolgern weckte das Interesse am Alter des jeweiligen Geschlechts. Man begann die alte Zeit wieder zu schätzen und, nicht immer glaubwürdige, erhaltengebliebene Dokumente zu sammeln. Es gab in Rußland auch den Titel eines Barons. Aber dieser Titel genoß (hier muß man allerdings die baltischen Barone ausnehmen) kein besonderes Ansehen. Der russische Baron, in der Regel ein Finanzmensch, und der Finanzdienst überhaupt galten nicht als eine dem wahren Adel würdige Stellung. Letztendlich tauchten in der russischen Aristokratie auch ausländische Titel auf. So kaufte sich einer der Nachkommen eines Bauern namens Stroganow den italienischen Titel „Graf Sen-Donato". Die Rasnotschinzen (nichtadlige Intellektuelle), die in den 40er Jahren des vorigen Jahrhunderts eine immer größere Rolle in der russischen Kultur zu spielen begannen, widerstrebten im großen und ganzen der in ihrer Zusammensetzung zahlreichen und vielgestaltigen Aristokratie. Auch die Rangleiter behagte zuweilen der Aristokratie nicht: der namhafte Aristo-
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krat, der Abkömmling eines reichen Geschlechts, strebte nicht unbedingt nach einer Dienststellung, oder er trat sehr früh in den Ruhestand (die Ausübung eines Dienstes, sei es auch nur für kurze Zeit, war dennoch obligatorisch). Man konnte sich aber, wie schon gesagt, auch eines fiktiven Hofdienstes bedienen oder Urlaub nehmen und ins Ausland reisen. Ein solcher Mensch war häufig überhaupt nicht an Rängen interessiert (er konnte sehr schnell einen Rang erhalten, sehr oft aber auch irgendwo zwischen den Stufen der Rangleiter ,hängenbleiben'). Ein Beamter hingegen, der über die im bürokratischen Dienst erforderlichen Gaben verfügte, konnte sich,emporarbeiten' und einen Adelstitel erhalten. Deshalb gehörte es in den Kreisen des ländlichen Erbadels zum guten Ton, demonstrativ seine Verachtung den Diensträngen gegenüber herauszukehren. Im Fundament dieser Konzeption des Dienstes , deren Grundstein in der petrinischen Epoche gelegt worden war, gab es einen Widerspruch: den Ehrendienst' und den Dienst als staatliche (kaiserliche) Pflicht. Die Entwicklung der Leibeigenschaft veränderte sogar den Begriff „Gutsbesitzer", der schon nicht mehr formeller Inhaber staatlichen Bodens war, sondern ein absoluter und erbberechtigter Eigentümer sowohl des Bodens als auch der Bauern auf diesem Boden. Noch lebte die Erinnerung an die Vergangenheit, und zu Anfang des 18. Jahrhunderts begründete Iwan Pososchkow seine Forderung der staatlichen Beschränkung der Macht der Gutsbesitzer damit, daß sie nur zeitweilige Inhaber staatlichen Eigentums seien, und deshalb nicht für den Boden und die Bauern sorgen würden, die doch staatlicher Besitz wären, und nur bestrebt seien, räuberisch den höchsten Nutzen für sich zu erwirtschaften. Aber der historische Wind wehte in die entgegengesetzte Richtung: die Macht der Gutsbesitzer weitete sich mehr und mehr aus, und im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts zog sich der Staat praktisch aus der Einmischung in die Beziehungen zwischen den Gutsbesitzern und den Bauern zurück. Sogar das Gesetz, das es gestattete, jene Gutsbesitzer, die sich der Grausamkeit ihren Bauern gegenüber schul-
Vergl. die spätere ironische Deutung des Wortes „dienen" in der Rede eines Adligen und eines gebildeten nichtadligen Popensohnes: „Ach, erlauben Sie, Ihr Familienname ist mir bekannt - Rjasanow. Ja, jetzt erinnere ich mich. W i r haben zusammen mit ihrem Väterchen gedient." „Und w o haben Sie mit ihm gedient, bei der Vesper oder bei der Messe?", fragte Rjasanow. „Wie meinen Sie das?" „Ich weiß nicht, wie. Vielleicht in der Kathedrale. Und wie noch?" Der Vermittler sah Rjasanow unsicher an: „Aber hat denn Ihr Väterchen nicht bei den Grodnensker Husaren gedient?" „Nein, sein Dienst war es, den Gemeinden vorzustehen." (Slepzow, W . A . , W e r k e in 2 Bd. Moskau 1957, Bd. 2, S. 58). ** Die bekannte Neigung, hochtrabende W o r t e in abfällig-ironischer Bedeutung zu gebrauchen, erfaßte später auch den Ausdruck „dienen um der Ehre willen", der dann auch auf die Bedienung in Kneipen ausgedehnt wurde, die von dem W i r t kein Gehalt erhielt, sondern nur für Trinkgeld diente. Siehe den Ausspruch der Bordellköchin in W.L. Puschkins „Der gefährliche Nachbar": „Nur f ü r die Ehre diene ich hier im Haus". (Dichter 1 7 9 0 - 1 8 1 0 , Leningrad 1971, S. 670).
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dig gemacht hatten, unter Kuratel zu stellen und die Verwaltung ihrer Güter Treuhändern zu übergeben, forderte in diesen Fällen die obligatorische Teilnahme des Adelsmarschalls, das heißt des gewählten Vertreters der Interessen des Adels. Man kann nicht sagen, daß die russischen Zaren, beginnend mit Katharina II. und einschließlich Paul I., Alexander und Nikolai Pawlowitsch, die Gefahr dieser Situation nicht erkannten und das Maß der Beschränkung der Leibeigenschaft nicht genügend durchdacht hatten. Aber dabei bewegten sie nicht nur die Furcht vor Bauernaufständen oder wirtschaftliche Überlegungen, sondern auch das Erkennen der übermäßigen Stärkung des Adels als einer unabhängigen Kraft. Das trifft vor allem auf Paul und Nikolai I. zu. Die Einstellung, „alles zu ändern und nichts zu verändern" ist bezeichnend für die Zaghaftigkeit und das Fruchtlose dieser Versuche. In dem Maße, in dem die Unabhängigkeit des Adels zunahm, fühlte er sich immer stärker von zwei grundsätzlichen Prinzipien der petrinischen Konzeption des Dienstes bedrückt: von ihrer Unbedingtheit und von der Möglichkeit des Nichtadligen, durch Rang und Dienstgrad in den Adelstand aufzusteigen. Diese beiden Prinzipien waren bereits seit dem zweiten Drittel des 18. Jahrhunderts Ziel heftiger Angriffe. Schon in der petrinischen Zeit hatte J. Pososchkow die Uberzeugung geäußert, daß die Adligen keine „unmittelbaren Diener" des Zaren seien, und daß ihm gelegentlich Äußerungen wie diese zu Ohren gekommen wären: „Gebe es Gott, dem großen Herrscher zu dienen, ohne die Säbel aus der Scheide ziehen zu müssen"." Aber das waren, wie Peter I. sich auszudrücken pflegte, „Schmarotzer", die sich dem Dienst entzogen. Die programmatische Forderung nach der Freiheit, zu dienen oder nicht zu dienen, kam erst später auf. Die Trennung der Adelspriviligien vom obligatorischen persönlichen Dienst und die Bestätigung, daß die Tatsache der Zugehörigkeit zu dem Stand selbst das Recht auf den Besitz von Seelen und Boden gab, wurde durch zwei Befehle untermauert: durch einen Ukas Peters III. vom 20. Februar 1762 „Manifest über die Freiheit des Adels" und einen Ukas Katharinas II. vom 21. April 1785 „Urkunde über die Rechte, Freiheiten und Privilegien des vornehmen russischen Adels". Demgemäß erfuhren auch die Dokumente über die Vergabe der Adelsrechte, wie: Befreiung vom obligatorischen Dienst und von der körperlichen Strafe, das Recht, „ungehindert in fremde Länder zu reisen" und „in den Dienst anderer europäischer und mit uns verbündeter Mächte zu treten", eine umfassendere Ausdeutung. Die Urkunde Katharinas II. enthielt den Punkt 17, in dem es hieß: „Wir bestätigen für ewige Zeiten den Erbgeschlechtern des vornehmen russischen Adels Freiheit und Unabhängigkeit". 12 Gleichzeitig garantierte man dem Adligen die Unantastbarkeit „der Ehre, des Lebens und des Besitzes" (Punkte 9-11). Dabei muß man sich daran erinnern, daß in den Theorien der Aufklärer des 18. Jahrhunderts gerade die Verteidigung der Ehre, des Lebens und des Besitzes die
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Grundlage für die Schaffung des Gesellschaftsvertrages und der Formel von den unabdingbaren Menschenrechten darstellte. So wurde eine eigentümliche soziokulturelle Situation geschaffen: Der Adel konsolidierte sich endgültig als der herrschende Stand. Mehr noch, gerade auf Kosten der Lage der Bauern, die nach den Ukasen vom 13. Dezember 1760, der den Gutsbesitzern das Recht gab, Bauern durch „Einschreibung in die Rekrutenlisten" zur Ansiedlung nach Sibirien zu verbannen, und vom 17. Januar 1765, der dieses Recht dahingehend ausweitete, daß die Gutsbesitzer nach eigenem Gutdünken mißliebige Leibeigene in die Zwangslager schicken konnten, praktisch auf die Stufe von Sklaven hinabgedrückt wurden („Bauern sind nach dem Gesetz Tote", schrieb Radistschew), erhielt der Adel in Rußland seine „Freiheit und Unabhängigkeit". Das kulturelle Paradoxon der in Rußland geschaffenen Situation bestand darin, daß die Rechte des herrschenden Standes mit eben jenen Worten formuliert wurden, mit denen die Philosophen der Aufklärung das Ideal der Rechte des Menschen postulierten. Erlauben wir uns, eine Parallele zu ziehen. Die antike Demokratie des klassischen Athen wurde auf Kosten der Sklaven und nicht vollberechtigter Bürger geschaffen. Es wäre befremdlich, wollte man das Sklavenhaltertum beschönigen und nicht die schrecklichen Mißbräuche sehen, mit denen es sich verband. Aber nicht weniger befremdlich wäre es, sich beim Betrachten der Statuen des Phidias und des Praxiteles und bei der Lektüre des Sophokles und des Euripides zu sagen: „All das ist auf Kosten von Sklavenarbeit entstanden." Mehr noch, selbst die Aufsätze des überzeugten Anhängers und Ideologen der Sklaverei Piaton werden durch die „Sklavenhalterideologie" nicht diskriminiert, sondern sind zweifellos eine der Grundlagen der gesamten europäischen Zivilisation. Die antike Sklavenhaltergesellschaft hat eine allgemeinmenschliche Kultur geschaffen. Wir haben keinen Anlaß zu vergessen, was Rußland die Umgestaltung des Adels in einen in sich abgeschlossenen Stand gekostet hat, aber es gibt auch keine Gründe dafür, außer acht zu lassen, was die russische Adelskultur des XVIII. und beginnenden X I X . Jahrhunderts der russischen und der europäischen Zivilisation gegeben hat. Nachdem der Adel seine Machtposition gestärkt hatte, war er bestrebt, sich sowohl aus der Abhängigkeit von der Regierung als auch von den Prinzipien der ,Regularität' und der Ranghierarchie zu lösen. In den Arbeiten einiger Historiker wurde die Behauptung aufgestellt, daß als Ergebnis der Befreiung des Adels vom obligatorischen Dienst ein Massenauszug der Adligen aus dem Dienst stattgefunden hätte: „Der Adel, der den Dienst schon lange als Bedrückung empfand, suchte ihn zu umgehen und strebte mit allen Mitteln danach, sich dieser Verpflichtung zu entziehen". In dem Ukas vom 21. April 1785 sahen sie nur das „Festschreiben der Freiheit zur Nichtstuerei". 13 Eine derartige Erklärung hat den Anschein der Simplifizierung. Und noch zweifelhafter erscheint die
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Behauptung, daß sich die Regierung als Folge von Dekrets über die Freiheiten des Adels und der angeblichen Dienstflucht der Adligen gezwungen sah, die Positionen mit nichtadligen Rasnotschinzen zu besetzen, die dann den persönlichen Adel bildeten. Diese These beruht auf der Vermischung des zivilen Dienstes mit dem militärischen. Man kann jedoch unmöglich aus den Dokumenten der Epoche das Phänomen einer „massenhaften Flucht" aus dem letzteren herauslesen. Mehr noch, trotz der Tatsache, daß Rußland im Laufe des 18. Jahrhunderts in aktive kriegerische Handlungen verwickelt war, was natürlicherweise zu einer starken Reduzierung der Offiziersränge, insbesondere der höheren und der Stabsoffiziere führte, gab es innerhalb des Offiziersbestandes keinen Mangel, der zu einem ernsthaften Problem in der Armee geführt hätte. Wir kennen eine Reihe von Fällen, in denen Interessierte sich aus eigenem Antrieb und über den Stellenplan hinaus zu den aktiven Armeeteilen begaben, dort aber keine unbesetzten Posten vorfanden. In der umfangreichen Liste der Puschkinschen Bekannten, die von L. A. Tschereiski zusammengestellt wurde und einen repräsentativen gesellschaftlichen Querschnitt darstellt, finden wir unter den gegen Ende der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts Geborenen keinen einzigen Nichtdienenden und folglich auch keinen einzigen, der nicht ein Adelsprädikat hatte. Gleiches läßt sich auch in Bezug auf eine andere repräsentative Liste sagen, dem sogenannten „Alphabet der Dekabristen", der für Nikolai I. angefertigten Aufzählung aller Personen, gegen die im Zusammenhang mit der Dekabristen-Angelegenheit ermittelt werden sollte oder die zumindest in Aussagen erwähnt worden waren. Auch unter diesen Personen findet sich kein Adliger, der von dem Recht nicht zu dienen Gebrauch gemacht hatte. Als Beweis für die ,Dienstflucht' der Adligen wird die folgende Rechnung aufgemacht: „Gegen Ende des Nördlichen Krieges gab es unter den Offizieren in der russischen Armee etwa 14%, die nicht dem Adel enstammten. 1816 machten die Angehörigen des persönlichen Adels, das heißt die ehemaligen Rasnotschinzen, 44 % des gesamten Adels im russischen Reich aus".14 Man setzt aber in diesem Beispiel die Angaben der Armee mit der Gesamtzahl aller Adligen im Staat gleich, was zweifellos unkorrekt ist. Natürlich war die Anzahl der Kollegienassessoren oder Senatssekretäre, wie der Held des Kapitels „Saizewo" in der „Reise von Petersburg nach Moskau", die sich den persönlichen Adel erdient hatten, sehr groß, besonders im 19. Jahrhundert, als der bürokratische Apparat sich rapide auswuchs. Aber wichtig ist etwas anderes: Das Jahr 1816 war die Zeit der Beendigung der napoleonischen Kriege, die buchstäblich eine ganze Generation junger Offiziere ausgerottet hatten. Wer auch immer sich mit den Biographien der Menschen an der Grenze vom 18. zum 19. Jahrhundert beschäftigt hat, wird wissen, wie wenig Menschen es zum Ende des ersten Jahrzehnts und in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts gab, die in der zweiten Hälfte der 80er und Anfang der 90er Jahre geboren wurden. Denen, die zu Beginn der 80er Jahre geboren wurden, folgen sofort
G r u p p e n b i l d der Teilnehmer an der russischen Gesandtschaft 1662 in England. — U n b e k a n n t e r englischer Maler. O e l auf Leinwand. 1662. — Fürst Peter Semjonowitsch Prosorowski (16.?-nicht später als 1668) mit dem Spitznamen „Peter der G r o ß e " ; der Adlige Iwan Afanasjewitsch Sheljabushski (1638-17.?), als „Zweiter bei der Gesandtschaft" im Range eines H e e r f ü h r e r s (Verfasser der „Tagebuchaufzeichnungen 1682-1709"); der Beamte Iwan D a w y d o w und der Dolmetscher Andrej Forot.
Konklusion Gideon Wischnewskis, gewidmet der Kaiserin Katharina I. am 6. Mai 1724. — I.F. Subow. Gravüre m. Radiernadel, Radierung. 1724. — Rechts: Peter zeigt auf dem Globus Rußland, umgeben von Herkules, Neptun und Athene, die auf Katharina I. zeigt, sowie allegorische Figuren (Standhaftigkeit, Ruhm, Wahrheit, Frömmigkeit und Glaube). Auf dem Tisch zwei Kaiserkronen. Unten: Geistliche Texte in lateinischer und russischer Sprache, sowie die allegorische Gestalt einer Frau, die ein Tambourin schlägt („Freude des Volkes"). Die Gravüre wurde der Kaiserin anläßlich ihrer Krönung überreicht.
Stabsoffizier des Leibgarde-Ulanenregiments Seiner Kaiserlichen Hoheit des Zesarewitsch Konstantin Pawlowitsch. — L. Kil. Lithographie. 1821. — Die Uniform der Ulanen war blau; die Regimenter unterschieden sich durch die Farbe der Tuchgarnitur (Kragen, Ärmelaufschläge), sowie durch die Metallgarnitur (z.B. Knöpfe u.a.). Das Regiment des Zesarewitsch hatte eine rote Tuch- und eine silberne Metallgarnitur, während die Leibgarde des Ulanenregiments über eine goldene Metallgarnitur verfügte. Die Uniform der oberen Offiziere unterschied sich von der Uniform der unteren Offiziere nur durch die Fransen an den Epauletten.
Andreasorden, Alexander-NewskiOrden und Katharinenorden. — Gouache-Zeichnung (aus den Illustrationen zu dem Manuskript „Berichte über Moskowien" des Herzogs Jakob Franciscus de Liria und Cher). 1731. — Der Andreasorden (Orden d. hl. Andrej Perwoswanny) wurde 1698 von Peter I. gestiftet und war der höchste Orden des russischen Reiches. Der Katharinenorden (Orden der hl. Jekaterina, Frauenorden seit 1714) hatte 2 Klassen, das große und das kleine Kreuz mit Stern und Schulterband mit silbernem Saum. Der Alexander-Newski-Orden (Orden des hl. Alexander Newski), gestiftet 1725 von Katharina I., hatte wie der Andreasorden keine Klassen.
Porträt des Fürsten A.B. Kurakin. — A. Radig nach dem Original v. A. Roslin. Gravüre mit Radiernadel. 1779. — Fürst Alexander Borisowitsch Kurakin (1752-1818), Kindheitsfreund des Zesarewitsch Pawel Pawlowitsch, Zögling des Grafen Nikita Panin, der ihm den Vater ersetzte, einer der einflußreichsten russischen Würdenträger Ende des 18. Jahrhunderts. Er verbrachte einige Jahre im Ausland, studierte verschiedene Wissenschaften. Er gehörte zur russischen Botschaft in Kopenhagen und erhielt 1766 den 1732 von der dänischen Königin Sophia Magdalena gestifteten Hoforden „Für Ergebenheit und Treue" mit Stern und Band. Später war Kuragin russischer Botschafter in Wien und in Paris, w o er der Üppigkeit seiner Gewänder wegen den Spitznamen „Diamantenfürst" erhielt, ferner Vizekanzler des Kaiserreichs, Vorsitzender des Kollegiums für auswärtige Angelegenheiten und Kanzler der russischen kaiserlichen Orden.
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Blick auf die Stadt Dorpat. — A. Dormier, nach einer Zeichnung E. M. Kornejews. 1806-1810. Gravüre, Radierung. — Blick auf den Fluß Embach (heute Emajyg), an dem die Stadt liegt. Im weiteren eine steinerne Zugbrücke, für einen vorgesehenen Besuch Katharinas II. errichtet, sowie links die protestantische und rechts die russisch-orthodoxe Kirche. F.W. Rostoptschin, der Dorpat 1815 auf der Durchreise besuchte, schrieb: „Dorpat ist eine kleine schöne Stadt... Außerordentlich vorteilhaft ist für sie die Universität, denn durch die 300 Studenten sind dort jährlich bis zu fünfhunderttausend Rubel im Umlauf. Es kommt zu Zusammenstößen zwischen Russen und Deutschen, vor kurzem hat das zweien das Leben gekostet... Derpt ist in Livland durch Geschmack und guten Ton bekannt und versorgt, ähnlich wie Paris, die Region mit Mode".
Porträt des Kornetts Alexandrow (N. A. Durowa). — Unbekannter Maler. Aquarell. 1810. — In der Husarenuniform eines Armeeoffiziers mit dem Georgsorden IV. Klasse, verliehen für die Rettung eines verwundeten Offiziers auf dem Schlachtfeld.
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die Jahrgänge 1795-1799. Es ist nur natürlich, daß unter diesen Bedingungen die Anzahl der Beförderungen verdienter Unteroffiziere in höhere Ränge weitaus größer war als der Durchschnitt für die hier in Betracht kommende Epoche. Der Adel blieb ein Dienststand. Aber der Begriff des Dienstes wurde zu einem widersprüchlichen Begriff. Er beinhaltete sowohl staatlich fixierte als auch familiär-korporative Tendenzen, die einander unversöhnlich gegenüberstanden. Die letzteren verkomplizierten die Struktur im realen Leben des Adelsstandes im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert erheblich und untergruben die Unbeweglichkeit des bürokratischen Gefüges. Die korporativen Traditionen waren besonders in der Garde spürbar. Die aus privilegierten und dem Thron besonders nahestehenden Regimentern bestehende Garde entstand unter Peter I. aus den „Spiel"-Regimentern des jugendlichen Zaren gegen Ende des X V I I . Jahrhunderts und setzte sich aus zwei Regimentern zusammen, die ihre Namen nach den beiden nahe Moskau gelegenen Siedlungen erhielten, in denen sie ihr ,Quartier' bezogen hatten: Preobrashenski und Semjonowski. Das Preobrashensker Regiment galt später als das erste Regiment des Reiches, dessen erstes Bataillon stets in der Millionnaja, in unmittelbarer Nähe des Winterpalais stationiert war. Beide Regimenter erhielten ihre Kriegstaufe im Jahre 1700 bei Narwa, wo sie eine hohe militärische Standhaftigkeit an den Tag legten, indem sie drei Tage lang der schwedischen Offensive standhielten und damit der übrigen Armee die Möglichkeit gaben, sich zurückzuziehen. Das Preobrashensker, das Semjonowsker und das unter Anna Iwanowna geschaffene dritte, das Ismailowsker Regiment, bildeten die Garde-Infanterie. Später wurden auch Gardekavallerie-Regimenter aufgestellt: das Kavallerie-Regiment der Leibgarde (1730), die Leibhusaren und Leibkosaken (1796), das Kavalier-Garderegiment (1800) und die Leibulanen (1809). Die Zahl der Garderegimenter und der Einheiten vergrößerte sich noch. 1813 entstand die sogenannte „Junge Garde" (das Leibgrenadier-Regiment, das Pawlowsker und andere Regimenter). Der Dienst in der Garde war mit dem Aufenthalt in der Hauptstadt verbunden und unterschied sich vorteilhaft vom Dienst in der Armee: der Armee gegenüber bot die Garde, wie bereits erwähnt, einen zweifachen Vorteil. Wer nach einwandfrei abgeleistetem Dienst in den Ruhestand trat, erhielt den nächstfolgenden Dienstgrad dergestalt, daß, wer sich in der Garde den Rang eines Kapitäns (Hauptmanns, d.U.) erdient hatte, als Oberst in den Ruhestand gehen oder als Oberstleutnant zur Armee hinüberwechseln konnte (der abgeleistete Dienst in der „Jungen Garde" bot den Vorteil eines um einen Rang höheren Dienstgrades). Vom Beginn ihres Entstehens an spielte die Garde im politischen Leben eine aktive Rolle, besonders während der im 18. Jahrhundert so häufigen Palastrevolutionen. Elisabeth ernannte sich nach ihrer Thronbesteigung zum Oberst aller Garderegimenter und erklärte die erste Kompanie des
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Preobrashensker Regiments, die bei ihrer Machtergreifung eine entscheidende Rolle gespielt hatte, zu ihrer „Leib-Kampagne" (d.h. „Leibkompanie"), sie erhob alle Soldaten dieser Kompanie in den Adelsstand und gab ihnen Wappen, die ihre Teilnahme an der Machtergreifung symbolisierten. Später jedoch gab die Zügellosigkeit der Angehörigen der Leibkompanie der Regierung Anlaß zu mancher Besorgnis. Der Dienst in der Garde war nicht eben einträglich, er erforderte umfangreiche Mittel, aber er eröffnete auch die Aussicht auf profitable Karrieren, ebnete politischem Ehrgeiz und Abenteurertum den Weg, die so typisch waren für das 18. Jahrhundert mit seinen oft schwindelerregenden Aufstiegen und Abstürzen ,zufälliger' Menschen. In der Garde akkumulierten sich jene Züge der Adelswelt, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sichtbar wurden. Dieser privilegierte Kern der Armee, der Rußland Theoretiker, Denker, aber auch Trunkenbolde schenkte, verwandelte sich rasch in ein Mittelding zwischen Räuberbande und kultureller Avantgarde. Und es waren gerade die Trunkenbolde, die in Augenblicken des Aufruhrs sehr oft an der Spitze zu finden waren. So geschah es auch 1762, an einem wichtigen Wendepunkt in der russischen Geschichte, als Katharina II., damals noch die einfache Kaiserin Jekaterina Alexejewna, ihren Gatten Peter III. vom Thron stürzte und mit Hilfe ihres Liebhabers Grigori Orlow und der „wilden Gardenrotte" den Thron bestieg. Aber gerade diese Gardisten, die in den Kneipen zechten und nicht wußten, wie sie ihre Schulden bezahlen sollten, wurden in der russischen Geschichte zu berühmten Gestalten, wurden Grafen und Fürsten und erhielten riesige Ländereien (so erwies sich Alexej Orlow als glänzender Admiral und schlug eine Reihe bedeutender Schlachten). Die reich und einflußreich gewordenen ehemaligen Gardisten bewahrten sich das Selbstbewußtsein der Garde und vereinigten es mit dem Selbstbewußtsein von Gutsbesitzern, setzten sich nicht selten, unter Berufung auf ihre korporativen, familiären und anderen Beziehungen, unbekümmert über die bürokratische Gesetzgebung hinweg. Wie bereits erwähnt, war es die Absicht Peters I., die in der Rangliste aufgeführten Dienstgrade nur für korrekten Dienst zu verleihen und so, wie er meinte, die Nichtstuer und die am Staatsdienst Desinteressierten von denen, die reale Verdienste aufzuweisen hatten, zu unterscheiden. So setzte Peter fest, daß ein Adliger, bevor er den ersten Offiziersrang erhält, längere Zeit als Soldat zu dienen habe. Aber das Leben führte schon sehr bald dazu, daß diese und ähnliche Verordnungen mit großer Leichtigkeit umgangen wurden. Aus einzelnen Fällen von Mißbräuchen wurde bald eine Vielzahl, und allmählich verwandelten sie sich in einen durch die Praxis geheiligten Brauch. In der Garde wurde das beinahe zur Regel. Erinnern wir uns an den Anfang der „Hauptmannstochter": „Mütterchen ging noch mit mir schwanger", erzählt Grinjow, der Held der Pusch-
Menschen und Dienstränge
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kinschen Novelle, „da war ich bereits, dank der Gunst des Gardemajors Fürst B., eines nahen Verwandten von uns, als Sergeant im Semjonower Regiment eingeschrieben. Hätte Mütterchen nun wider alles Erwarten eine Tochter geboren, dann hätte Väterchen der entsprechenden Stelle den Tod des nichterschienenen Sergeanten gemeldet, und die Sache wäre erledigt gewesen. So galt ich bis zum Ende meiner Studien als beurlaubt." Und so wurde es auch sehr oft gemacht. Dafür brauchte man aber in der Hauptstadt einen Fürsprecher, einen Verwandten, einen vermögenden Menschen, oder man zahlte einfach eine gewisse Bestechungssumme an die Regimentskanzlei. Ein Mensch jedoch, der nicht über solche Möglichkeiten verfügte (wie zum Beispiel der Poet G. R. Dershawin), mußte erst die volle festgesetzte Zeit als Soldat abdienen, ehe er einen Offiziersrang erhielt. Wer hingegen über eine ,Protektion' verfügte, handelte wie Grinjows Vater: Man ließ bereits den Säugling in die Dienstliste einschreiben; er galt dann als beurlaubt, und ihm wurde für diese Zeit Dienstsold gezahlt. Und kam ein vierzehnjähriger junger Bursche zum Regiment, erhielt er sofort den Dienstgrad eines Sergeanten und danach auch, insbesondere wenn er einen ,Protektor' hatte, die anderen Ränge. Das Leben leistete den erstarrten bürokratischen Prinzipien vor allem in Form von zuweilen ungeheuerlichem Mißbrauch Widerstand. Scheinbar schützte sich der petrinische Staat durch das System der Gesetze, Ukase und Befehle vor jeglichen Zufällen, vor jeglicher Unregelmäßigkeit'. Aber paradoxerweise verwandelte sich der Überfluß an Vorschriften in ein Chaos. Es wurden außerordentlich viele Gesetze erlassen, und in diesem Wirrwarr der sich gegenseitig aufhebenden und präzisierenden staatlichen Verordnungen war es leicht, zu lavieren. Darüberhinaus existierten Gesetze, deren reale Durchführung überhaupt nicht durchdacht worden war. So wurde zum Beispiel während der Herrschaft Katharinas II. einige Male ein Gesetz erlassen, das die Annahme von Bestechungsgeldern verbot; da es aber nie ein Gesetz gab, das die Annahme von Bestechungsgeldern erlaubte, unterstrich praktisch jedes folgende entsprechende Verbot nur seinen formalen Charakter. Selbst Katharina II. wußte, daß dieses Gesetz nie angewandt werden würde. Mehr noch, sie sah, was die Bestechlichkeit anging, durch die Finger. Natürlich konnte sich die Kaiserin über ihre korrupten Würdenträger auch lustig machen; so nannte sie beispielsweise R. Woronzow „Roman, die große Tasche", und einem anderen schenkte sie eine gehäkelte Geldbörse zur Aufbewahrung von Schmiergeldern. Katharina wußte nur zu gut, daß an die Stelle eines korrupten Menschen, den sie entließ, ein anderer treten würde. Mit dem ihr eigenen nüchternen Zynismus äußerte sie einmal Dershawin gegenüber, daß der langgediente Generalgouverneur schon genug gestohlen hätte, ein neuer aber erst mit dem Stehlen anfangen würde. Die Mißbräuche nahmen mit ungewöhnlicher Schnelligkeit zu. Sie waren praktisch unausrottbar, da der Staat zwar dagegen ankämpfte, sie andererseits jedoch selbst produzierte. Und selbst Peter I. beförderte neben
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Erster Teil
der Rangtabelle das Prinzip des Favoritentums. Zwar hatte dieses Prinzip unter Peter noch nicht diesen bösartigen Charakter angenommen. Seine Günstlinge waren noch durch keine gesetzeswidrigen Bande mit ihm verbunden. Erfuhr Peter von gesetzeswidrigen Handlungen seiner Favoriten, konnte er sie (wenn auch auf „häusliche" Art) bestrafen: selbst die ,Lichtgestalt' Menschikow bekam nicht nur einmal die schwere Hand des Kaisers zu spüren. Einige von ihnen endeten übel: Der dem Zaren nahestehende P. Schafirow wurde wegen Korruption zum Tode verurteilt, dann jedoch in die Verbannung geschickt. Doch sie waren Favoriten, und so erlaubte ihnen der Zar manches, was nach dem Gesetz nicht gestattet war. Als jedoch in Rußland das,weibliche Regime' begonnen hatte, wurde das Favoritentum zu einer charakteristischen Institution. Unter Katharina II. waren einige ihrer Favoriten, zum Beispiel Grigori Potemkin, ernstzunehmende Staatsmänner, andere hingegen lasterhafte junge Leute. Manche der Favoriten waren bescheiden, das heißt sie fanden sich mit Millionengeschenken und mit Tausenden von Bauernseelen ab, wie Dmitrijew-Mamonow und Sawadowski. Andere erhoben den Anspruch, eine staatliche Rolle zu spielen. Zu ihnen gehörte Piaton Subow, ein durch und durch unmoralischer Mensch. Aber sie bereicherten sich alle... Ein weiterer Faktor, der die Bürokratie behinderte, war die Gewohnheit. Das Leben lagerte sich in seinen eigenen Formen ab und hatte seine eigenen Gesetze. Und diese Gesetze ließen sich nicht in irgendwelche Paragraphen fassen und besiegten die Paragraphen. So war im 18. Jahrhundert, obwohl Peter I. bestrebt war, alles in eine Ordnung zu bringen und die Menschen in Ränge, in Klassen einzuteilen, die Kraft der Verwandtschaft noch äußerst stark. Begegneten sich zwei Menschen, war ihre erste Handlung das Aufspüren verwandtschaftlicher Bindungen. Man begann zu klären: „Ist Ihre Großmutter nicht die Schwester von diesem oder jenem? Der ist doch unser Nachbar", oder: „Er hat doch die Kinder meines Großvaters getauft" oder: „Er hat mit meinem Urgroßvater im gleichen Regiment gedient". All diese verborgenen Bande beeinflußten das Leben enorm, und nicht immer war dieser Einfluß negativ. Betrachten wir das kulturelle Leben der späteren Perioden, etwa der 40er Jahre des 19. Jahrhunderts, so können wir feststellen, daß politische Ansichten, weltanschauliche Prinzipien, sogar Freunde auseinanderbrachten. So begegneten sich einmal A. Herzen und S. Aksakow, langjährige Freunde, in Moskau auf der Straße, sie entstiegen den Droschken, umarmten sich und trennten sich wieder - für das ganze Leben: sie wurden Feinde. Die Dekabristen hingegen näherten sich nicht nur in ihren Ideen einander an, sie waren fast alle miteinander verwandt, bildeten verwandtschaftliche Nester (die Murawjows, die Bestushews und viele andere). Anfang des 19. Jahrhunderts hatte es noch den Anschein, als könne man den Verwandten vertrauen, als wären Menschen, die zusammen aufgewachsen waren - Nachbarn, Regimentskameraden - unauflöslich miteinander verbunden. Nicht die Nähe der Ideen, sondern die freundschaft-
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liehe, menschliche Nähe erwies sich als stark genug. Zuweilen führte das zur Verletzung der Gesetze. Aber manchmal schuf es jene Atmosphäre des Vertrauens, die den bürokratischen Verhältnissen entgegenstand und das Haus, sowohl das eigene als auch das der Verwandten und Freunde, zu einer sicheren, Denunzianten und Spionen unzugänglichen Festung machte.
D I E W E L T DER FRAUEN
Wir haben darüber gesprochen, wie sich das moralische Bild des Menschen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert verändert, entwickelt und gestaltet hat. Aber obwohl wir die ganze Zeit von dem,Menschen' sprachen, war nur von den Männern die Rede. Indessen war die Frau dieser Zeit, ähnlich dem Mann, nicht nur einbezogen in den Strom des sich stürmisch entwickelnden Lebens, sie begann auch eine immer größere Rolle in ihm zu spielen und veränderte sich beträchtlich. Der Charakter der Frau steht mit der Kultur dieser Epoche in einer eigentümlichen Wechselbeziehung. Einerseits erfaßt die Frau mit ihrer intensiven Emotionalität die Besonderheiten ihrer Zeit lebhaft und unmittelbar und ist damit ihrer Zeit in einem beachtlichen Maße voraus. In diesem Sinne kann man den Charakter der Frau als eines der sensibelsten Barometer des allgemeinen Lebens bezeichnen. Andererseits realisiert der weibliche Charakter paradoxerweise auch völlig entgegengesetzte Eigenschaften. Als Gattin und Mutter ist sie in höchstem Maße den über das Historische hinausgehenden Eigenschaften des Menschen verhaftet, die eine Epoche noch nachhaltiger und umfassender prägen. Aus diesem Grunde hat der Einfluß der Frau auf die Gestaltung der Epoche einen widersprüchlichen, flexiblen und dynamischen Charakter. Die Flexibilität tritt vor allem in der Mannigfaltigkeit der Beziehungen des weiblichen Charakters zur Epoche zutage. Der weibliche Einfluß wird nur selten als ein selbständiger historischer Aspekt betrachtet. Umreißt der Historiker, vom 18. und beginnenden 19. Jahrhundert sprechend, die Gestalt der Saltytschicha, so tut er das eher mit der Absicht, die Gepflogenheiten der Leibeigenschaft zu charakterisieren. Die Tatsache, daß es hier um eine Frau geht, wird lediglich als eine Randerscheinung des historischen Prozesses betrachtet. Ist diese Tatsache jedoch unumgänglich, begnügt sich der Wissenschaftler in der Regel mit allgemeinen Bemerkungen über die Unterentwicklung oder das kaum Entwickelte der Frauen in dieser oder jener uns fernen Periode, oder er erwähnt sie bestenfalls als singuläre Regelausnahme. Uns werden jedoch gerade jene Besonderheiten dieser Epoche interessieren, die den weiblichen Charakter prägten, sowie auch jene, die der weibliche Charakter der Epoche verlieh.
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liehe, menschliche Nähe erwies sich als stark genug. Zuweilen führte das zur Verletzung der Gesetze. Aber manchmal schuf es jene Atmosphäre des Vertrauens, die den bürokratischen Verhältnissen entgegenstand und das Haus, sowohl das eigene als auch das der Verwandten und Freunde, zu einer sicheren, Denunzianten und Spionen unzugänglichen Festung machte.
D I E W E L T DER FRAUEN
Wir haben darüber gesprochen, wie sich das moralische Bild des Menschen im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert verändert, entwickelt und gestaltet hat. Aber obwohl wir die ganze Zeit von dem,Menschen' sprachen, war nur von den Männern die Rede. Indessen war die Frau dieser Zeit, ähnlich dem Mann, nicht nur einbezogen in den Strom des sich stürmisch entwickelnden Lebens, sie begann auch eine immer größere Rolle in ihm zu spielen und veränderte sich beträchtlich. Der Charakter der Frau steht mit der Kultur dieser Epoche in einer eigentümlichen Wechselbeziehung. Einerseits erfaßt die Frau mit ihrer intensiven Emotionalität die Besonderheiten ihrer Zeit lebhaft und unmittelbar und ist damit ihrer Zeit in einem beachtlichen Maße voraus. In diesem Sinne kann man den Charakter der Frau als eines der sensibelsten Barometer des allgemeinen Lebens bezeichnen. Andererseits realisiert der weibliche Charakter paradoxerweise auch völlig entgegengesetzte Eigenschaften. Als Gattin und Mutter ist sie in höchstem Maße den über das Historische hinausgehenden Eigenschaften des Menschen verhaftet, die eine Epoche noch nachhaltiger und umfassender prägen. Aus diesem Grunde hat der Einfluß der Frau auf die Gestaltung der Epoche einen widersprüchlichen, flexiblen und dynamischen Charakter. Die Flexibilität tritt vor allem in der Mannigfaltigkeit der Beziehungen des weiblichen Charakters zur Epoche zutage. Der weibliche Einfluß wird nur selten als ein selbständiger historischer Aspekt betrachtet. Umreißt der Historiker, vom 18. und beginnenden 19. Jahrhundert sprechend, die Gestalt der Saltytschicha, so tut er das eher mit der Absicht, die Gepflogenheiten der Leibeigenschaft zu charakterisieren. Die Tatsache, daß es hier um eine Frau geht, wird lediglich als eine Randerscheinung des historischen Prozesses betrachtet. Ist diese Tatsache jedoch unumgänglich, begnügt sich der Wissenschaftler in der Regel mit allgemeinen Bemerkungen über die Unterentwicklung oder das kaum Entwickelte der Frauen in dieser oder jener uns fernen Periode, oder er erwähnt sie bestenfalls als singuläre Regelausnahme. Uns werden jedoch gerade jene Besonderheiten dieser Epoche interessieren, die den weiblichen Charakter prägten, sowie auch jene, die der weibliche Charakter der Epoche verlieh.
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Selbstverständlich unterschied sich die Welt der Frauen erheblich von der männlichen, vor allem dadurch, daß sie von der Sphäre des staatlichen Dienstes ausgeschlossen war. Frauen dienten nicht, besaßen keinen Rang, obwohl der Staat bestrebt war, das Beamtenprinzip auch auf sie auszudehnen. In der Rangtabelle waren speziell und ausdrücklich Rechte der Frauen festgelegt, die sich auf die Ränge ihrer Väter (bis zur Heirat) und ihrer Gatten (nach der Eheschließung) bezogen: „Überdies stehen junge Mädchen, deren Väter der 1. Rangstufe angehören, und solange sie nicht verheiratet sind, im Rang über allen Ehefrauen der 5. Rangstufe, und zwar niedriger als Generalmajor, aber höher als Brigadier; und die jungen Mädchen, deren Väter der 2. Rangstufe angehören, über allen Ehefrauen der 6. Rangstufe, d.h. niedriger als Brigadier, aber höher als Oberst; und die jungen Mädchen, deren Väter dem 3. Rang angehören, über den Ehefrauen der 7. Rangstufe, d.h. niedriger als Oberst, aber höher als Oberstleutnant und so weiter. 1 5 Später wuchs sich diese bürokratische Rangabstufung mehr und mehr aus. Unter Anna und Elisabeth wurde sogar festgelegt, welche Damen welcher Klasse das Recht haben, welche Stickereien auf den Kleidern zu tragen, wer goldene und wer silberne tragen durfte, wie breit die Spitzen zu sein hatten usw. Es entstand die Redewendung: „Eine Dame dieser oder jener Klasse". So hielt später Wjasemski in seinem Tagebuch die Äußerung eines Ausländers fest, der mit Erstaunen feststellte, daß er in der siebenten Linie auf der Wassili-Insel eine D a m e X I I . Klasse liebte. Also wurde der Rang einer Frau, wenn sie keine Hofdame war, durch den Dienstgrad ihres Gatten oder Vaters bestimmt. In den Dokumenten der Epoche finden wir Begriffe wie „Obristin", „Staatsrätin", „Geheimrätin". Aber diese Begriffe bestimmen nicht eine unabhängige Stellung der Frau selbst, sondern die Position ihres Gatten oder, falls sie noch nicht verheiratet war, ihres Vaters. So sind in D . Fonwisins Komödie „Der Brigadier" die Brigadierin und die Rätin Gattinnen eines Brigadiers und eines Rates. In einer Erzählung N . Leskows ist von der Marotte eines gewissen Würdenträgers die Rede, mit seinen Untergebenen zu spielen, indem sie ihm in Versen, also ,gereimt', zu antworten hatten. Einmal, während eines Spazierganges, sagte er: „Ich sehe des Monarchen Prachtrotunde." U n d sein Begleiter erwiderte gereimt: „Foma ging an der Sekretärin zugrunde." Für den heutigen Leser ist es nur natürlich, die Bezeichnung „Sekretärin" als Hinweis auf die Stellung oder den Dienstbereich einer Frau zu verstehen. Aber auf das zuendegehende 18. und beginnende 19. Jahrhundert bezogen, wäre eine derartige Deutung völlig verfehlt. Hier ist von der Ehefrau eines Sekretärs die Rede. * Ränge bekleideten die Frauen nur im Hofdienst. In der Rangtabelle finden wir: „Damen und junge Mädchen bei Hofe, die de facto Ränge bekleiden, haben die folgenden Ränge..." (Denkmäler des russischen Rechts. Aufl. 8, S. 186), danach folgt die Aufzählung.
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Die Tatsache, daß die Frau von der Welt des Dienstes ausgeschlossen war, schmälerte jedoch nicht ihre Bedeutung. Im Gegenteil, im Verlauf der hier zu betrachtenden Jahre wird die Rolle der Frau in der Lebensweise des Adels und in der Kultur immer spürbarer. Reine Männerrollen, die durch Dienst und staatliche Tätigkeit gekennzeichnet waren, konnte sie nicht übernehmen. Umso größere Bedeutung erlangte aber im allgemeinen Ablauf des Lebens all das, was die Kultur gänzlich in die Hände der Frauen legte. Übrigens wäre es falsch anzunehmen, daß es in Rußland keine Fälle gab, in denen eine Frau das Recht auf ein männliches Emploi erlangte. Die berühmte Nadeshda Durowa, „die Kavaleristen-Jungfrau", erwarb sich einerseits das Recht auf den Status eines Offiziers der kämpfenden Truppe und andererseits auch den ,männlichen' Status eines Schriftstellers. Ihr dritter Erfolg bestand schließlich darin, bereits in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts das Recht auf das Tragen männlicher Kleidung zu erlangen. So außergewöhnlich dieses Beispiel der Durowa auch ist, einzigartig war es nicht. Wir wissen von Fällen, in denen dem Elternhaus entflohene junge Mädchen sich in männliche Gewänder hüllten, um sich in den Zügen der Wandermönche zu den heiligen Stätten zu begeben, oder in Männerkleidung ihren Verlobten oder Geliebten folgten und alle Beschwernisse der Kriegszüge mit ihnen teilten. Das untergrub jedoch nicht die Einstellung der Kultur in ,männliche' und ,weibliche' Bereiche, sondern unterstrich sie nur. Der Eintritt der Frauen in die bis dahin für ,männlich' geltende Welt setzte jedoch nicht erst mit diesen relativ seltenen Fällen ein. Er begann mit der Literatur. Die petrinische Epoche führte die Frau in die Welt der Literatur ein: Man verlangte von einer Frau, daß sie lesen und schreiben konnte. Es wäre allerdings ein Trugschluß anzunehmen, daß die Frau der vorpetrinischen Epoche nicht lese- und schreibkundig war, oder daß diese Fähikeit keinen besonderen Platz in ihrem Leben einnahm. So ist zum Beispiel eine mit der Hand abgeschriebene Bibel jener Zarin Sofja erhalten geblieben, die gleichzeitig die Verfasserin der bekannten Briefe an den Fürsten Wassili Golizyn war. Natürlich war Sofja eine außergewöhnliche Frau, sowohl ihrer Bildung als auch ihren politischen Ansprüchen nach. Und im Puschkinhaus (dem Institut für russische Literatur, d.Ü.) finden sich Briefe der ersten Frau Peters I., Jewdokija, an ihren Geliebten, den Offizier Glebow. Diese anrührenden Briefe einer verliebten Frau erheben sich gleichsam über die Epoche. Sie erzählen uns davon, wie eine Frau jederzeit in die sie umgebende Welt einzudringen vermochte, und es wäre kurios anzunehmen, daß die Frauen der vorpetrinischen Rus solche Gefühle nicht gehabt oder es ihnen an Gelegenheiten gemangelt hätte, sie zu äußern. Der intime Briefwechsel ist eine weitaus frühere Erscheinung als die Briefkultur des 18. Jahrhunderts 16 und selbstverständlich existierte
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sie auch in der petrinischen und der nachpetrinischen Ära fort. So vernichtete der Geliebte und vermutlich heimliche Ehemann der Zarin Elisabeth, Alexej Rasumowski, vor seinem Tod alle intimen Briefe Elisabeths an ihn. Aber bezüglich der Welt der Frauen in der uns interessierenden Epoche muß man auch über anderes sprechen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts war schon nicht mehr nur vom Lesen- und Schreibenkönnen und von der Fähigkeit, in Briefen seine Gefühle auszudrücken, die Rede. In dieser Zeit verwandelte sich der beträchtlich zunehmende private Briefwechsel (familiäre und Liebesbriefe) in einen unabdingbaren Bestandteil der adligen Lebensweise. Aber man bewahrte die Briefe nicht auf, und eine außerordentlich große Zahl ging verloren, doch das, was davon erhalten blieb, bezeugt, daß das Leben der Frau ohne Briefe undenkbar wurde. Bei Fonwisin ist eine des Lesens und Schreibens unkundige Frau bereits eine Figur der Satire. Der Brief wurde zu einem eigenen Genre mit einer Vielzahl von Variationen. Mit dem Entstehen des Briefwechsels als einem Teil des kulturellen Verhaltens setzt sich eine Teilung durch: Das gedruckte Wort wendet sich an den lese- und schreibkundigen Teil der Gesellschaft, das geschriebene hingegen wechselt von einer privaten Person zur anderen. Allmählich aber verkompliziert sich das Bild. Einerseits entsteht eine inoffizielle Literatur, also Bücher, die sich an die Gesellschaft wenden, aber dessenungeachtet keinen Imprimaturstempel der staatlichen Autorität tragen. Die Literatur trennt sich von der Staatlichkeit. Ein erstes Anzeichen dieses Phänomens war das Buch „Die Reise zur Liebesinsel" von W. Tredjakowski (1730). Andererseits entsteht eine handgeschriebene Literatur, die sich an Zirkel, Salons und Gesellschaftskreise wendet. Im Innern der Literatur vollziehen sich auch komplizierte Prozesse, die eine direkte Beziehung zur Welt der weiblichen Kultur haben. Ihre beiden Grundtypen teilte damals eine Linie, auf deren einer Seite sich die höchst autoritäre staatliche, wissenschaftliche, militärische usw. Presseproduktion befand, die von der Regierung gelenkt wurde, während auf deren anderer Seite die als harmlose Unterhaltung angesehene künstlerische Literatur stand, vorausgesetzt, sie maß sich keine didaktische, belehrende Funktion an und war dem Staat dienlich. Ihre Rolle bestand darin, die Mußestunden zu bedienen. Doch bald schon beginnt die als Gast Zugelassene Anspruch auf die Rolle der Wirtin zu erheben. Und indem die künstlerische Literatur sich ihre Unabhängkeit von den direkten Aufträgen des Staates bewahrt und sie immer weiter ausdehnt, erlangt sie die Position eines geistigen Führers der Gesellschaft. Somit hat die russische Gesellschaft in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts gewissermaßen eine ,zweifache Führung': Von seiten der offiziellen Publizistik ertönt weiterhin die Stimme des Staates, die künstlerische Literatur aber wird zur Stimme anfangs lediglich unabhängiger, dann aber direkt oppositioneller Ideen.
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Im Hause jedes gebildeten Menschen gibt es sowohl gedruckte als auch handschriftliche Bücher. Ein Buch ist teuer, und so wird es oft nicht gekauft, sondern abgeschrieben. Auch viele Übersetzungen ausländischer Autoren bewahrt man in abgeschriebenen Manuskripten auf. Die Landkarte der Kultur wird immer vielfältiger: staatliche Akten fließen in sie ein, historische Schriften, Liebesromane, Briefe und offizielle Papiere. Der Fundus gedruckter und handgeschriebener Materialien wird jetzt so umfangreich, daß ein Teil der Bibliothek im Arbeitszimmer des Hausherrn, der andere bei seiner Gattin steht, selbst wenn „sie Richardson mochte./ Nicht, weil sie ihn gelesen hatte..." So taucht gegen Ende des 18. Jahrhunderts ein völlig neuer Begriff auf die Frauenbibliothek. Zwar existierten mit, wie bereits erwähnt, seltenen Ausnahmen, die Welt der Gefühle, die Sphäre von Kindern und Haushalt, weiter, doch die ,Welt der Frau' wurde zunehmend geistiger. Die Frau wurde Leserin. Aber die Bücher waren unterschiedlich wie ihre Leserinnen. Wir wissen von bewunderungswürdigen russischen Frauen, die, wie Tatjana Larina oder wie Polina in Puschkins Novelle „Roslawlew", mit den höchsten Offenbarungen der europäischen und russischen Literatur vertraut waren. In Dokumenten aus der Puschkinschen Epoche finden wir bereits eine Vielzahl von Mädchen und Frauen erwähnt, die sich nicht durch besondere Talente voneinander unterschieden. Das waren keine Frauen wie die Schriftstellerin E. Rostoptschina oder Teilnehmerinnen an historischen Ereignissen wie N. Durowa. Das waren Mütter. Aber, obwohl ihre Namen unbekannt blieben, ist ihre Rolle in der Geschichte der russischen Kultur und im geistigen Leben der nachfolgenden Generationen nicht hoch genug einzuschätzen. Die Hausbibliotheken der Frauen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts spiegelten das Wesen der Menschen von 1812 und der Dekabristenepoche wider. Das häusliche Lesen der Mütter und Kinder in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts war das frühe Brot all jener, die in der Mitte und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu Schöpfern der russischen Kultur wurden. Nicht nur die Gewohnheit zu lesen, veränderte das Wesen der Frau. Ihre ganze Lebensweise begann sich stürmisch zu ändern, und die Mode, die Kostüme, die Verhaltensweisen der Großmütter erschienen den Enkelinnen bereits als Karikatur, riefen Gelächter hervor. Man sollte meinen, daß die auf den ewigen Eigenschaften des Menschen beruhende Welt der Frauen (Liebe, Familienleben, Kindererziehung) stabiler gewesen wäre als die unruhige Welt der Männer. Im 18. Jahrhundert stellte sich das jedoch
* Das mittelalterliche Buch w a r mit der H a n d geschrieben. Das Buch des 19. J a h r h u n derts w a r in der Regel gedruckt (sofern nicht von der verbotenen Literatur u n d der Kirchenkultur die Rede ist, u n d man einige spezielle Fälle nicht berücksichtigt.) Das 18. J a h r h u n d e r t n i m m t einen besonderen Platz ein: handschriftliche u n d gedruckte Bücher existieren gleichzeitig, zuweilen als Verbündete, zuweilen als Rivalen.
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Erster Teil
anders dar. Die Reformen Peters I. hatten nicht nur das staatliche Leben umgestülpt, sondern auch die häuslichen Lebensformen. Eine der ersten Folgen der Reformen war, auf die Frauen bezogen, das Bestreben, die äußere Gestalt zu verändern, sich dem Typus der weltzugewandten westeuropäischen Frau anzunähern. Es ändern sich die Kleidung, die Frisuren, und es kommt beispielsweise das unerläßliche Tragen von Perücken auf. Übrigens trug man die Perücken, des besseren Sitzes wegen, auf dem geschorenen Kopf. Wenn Sie also auf den Frauenporträts aus dem 18. Jahrhundert schöne Frisuren sehen, so bestehen diese Frisuren aus fremdem Haar. Die Perücken wurden gepudert. In der „Pique Dame" kleidet sich, wie Sie sich erinnern werden, die alte Gräfin, obwohl die Handlung in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts spielt, nach der Mode der 70er Jahre des 18. Jahrhunderts. Bei Puschkin findet sich der Satz: „...man zog die Perücke von ihrem grauen, völlig kahlgeschorenen Kopf". Und so war es in der Tat. Selbstverständlich veränderten sich auch die Kleider. Und auch die ganze Verhaltensweise begann sich zu ändern. In den Jahren der petrinischen Reformen und auch in den darauffolgenden Jahren war die Frau bemüht, so wenig wie möglich ihren Großmüttern oder den Bäuerinnen zu ähneln. In der Mode herrschte Künstlichkeit vor. Die Frauen verwandten große Mühe auf die Veränderung ihres Äußeren. Die Moden waren verschieden. So färbten beispielsweise Kaufmannsfrauen ihre Zähne schwarz, weil das dem Schönheitsideal der Kaufmannswelt entsprach.' In der schon stärker europäisierten Gesellschaft schwärzte man sich die Zähne natürlich nicht. Aber auch hier gab es Verfahren, sein Außeres zu verändern. So klebte man sich beispielsweise Mouches (Schönheitspflästerchen, d.U.) aus Taft oder Samt ins Gesicht. Man wählte die Stelle für eine Mouche nicht zufällig. Eine Mouche im Augenwinkel bedeutete: „Ich bin an Ihnen interessiert", und eine Mouche auf der Oberlippe: „Ich möchte geküßt werden". Und da eine Frau gewöhnlich einen Fächer in den Händen hielt, hatten auch die damit vollführten Bewegungen einen bestimmten Sinn, so bedeutete beispielsweise heftiges Schließen des Fächers: „Sie interessieren mich nicht!" Auf diese Weise schufen die Kombinationen aus Mouche und Fächerspiel eine eigene „Sprache der Koketterie". Die Damen kokettierten und pflegten hauptsächlich eine Lebensweise auf den Abend hin. Und bei Kerzenlicht am Abend brauchte man ein kräftiges Make-up, weil der Kerzenschein die Gesichter blaß erscheinen ließ (vornehmlich in Petersburg mit seinem schädlichen Klima!). Deshalb verbrauchten die Damen Unmengen (im Jahr vermutlich etwa acht Kilo) Rouge, weißen Puder und verschiedene andere Kosmetika. *
Siehe in der „ Reise von Petersburg nach Moskau" von A . N . Radistschew, im Kapitel
„ N o w g o r o d " das Porträt einer Kaufmannsfrau: „Praskowia Denisowna, seine junge G a t tin, war blaß und hatte rote Wangen. Zähne wie Kohle. Die Brauen wie Fäden und schwarz wie R u ß " .
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In der petrinischen Epoche war die Frau es noch nicht gewohnt, viel zu lesen, strebte sie noch kein vielgestaltiges geistiges Leben an (natürlich galt das nur für die Masse: Schriftstellerinen gab es schon in Rußland). Die geistigen Bedürfnisse der Mehrheit der Frauen wurden noch wie in der vorpetrinischen Rus befriedigt: durch Kirche, Kirchenkalender, das Fasten und Gebete. Selbstredend war man in Rußland bis ins 18. Jahrhundert, bis zur „Voltaireschen Ära", durchweg gläubig. Das war Regel und bildete die moralische Familientradition. Aber auch die Familie erfuhr zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine ebenso oberflächliche Europäisierung wie die Kleidung. Für eine Frau wurde es zur modischen Notwendigkeit, einen Liebhaber zu haben, ohne den sie gleichsam hinter ihrer Zeit zurückgeblieben' wäre. Kokettieren, Bälle, Tanzen, Singen, das waren die Beschäftigungen der Frau. Familie, Hauswirtschaft, Kindererziehung traten in den Hintergrund. Sehr rasch bürgerte sich in den gehobenen Gesellschaftskreisen der Brauch ein, die Säuglinge nicht mehr zu stillen. Das erledigten nun Ammen. Als Folge dessen wuchs das Kind fast ohne Mutter auf. Natürlich war das in der Provinz nicht der Fall und auch nicht bei einer armen Gutsbesitzerin, die zwölf Kinder und dreißig Leibeigene hatte, sondern vornehmlich in den Adelskreisen und, am häufigsten, in der Petersburger Aristokratie. Doch plötzlich vollzogen sich schnelle und grundlegende Veränderungen. Etwa in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts strich der Atem einer neuen Zeit über Europa hin. Die Romantik entstand, und man begann sich, besonders nach dem Erscheinen der Schriften J. J. Rousseaus, der Natur zuzuwenden, der,Natürlichkeit' in den Sitten und in den Verhaltensweisen. Die Zeichen der Zeit wurden auch in Rußland spürbar. Im Bewußtsein der Menschen des letzten Viertels des 18. Jahrhunderts beginnt allmählich der Gedanke Fuß zu fassen, daß das Gute in der Natur zu finden ist, und daß das nach Gottes Ebenbild geschaffene menschliche Wesen für das Glück, für die Freiheit, für die Schönheit geboren ist. Die unnatürlichen' Moden werden mehr und mehr abgelehnt, zum Ideal wird das ,Natürliche', für das man sich die Frauenfiguren der Antike zum Vorbild nimmt bzw. eine ,theatralisierte' bäuerliche Lebensweise. Die Kleider werden jetzt einfach: keine Reifröcke mit Krinolinen mehr, keine Korsetts, keine schweren Brokatstoffe. Die Kleider der Frauen sind aus leichten Geweben. ,Natürlich' erscheint nun den Verfechtern des Naturkultes ein Hemdkleid mit sehr hoher Taille. In dieser Einfachheit der Kleidung drückt sich die Epoche der Französischen Revolution aus. Paul I. versuchte vergeblich, diesen Modetrend aufzuhalten: Zu dem letzten Abendessen vor seiner Ermordung erschien die Kaiserin Maria Fjodorowna in einem verbotenen europäischen Kleid, einem einfachen Hemdkleid mit hoher Taille, entblößtem Busen und entblößten Schultern - ein Kind der Natur. Diese Abendtoilette der Kaiserin wurde zum ersten öffentlichen Anzeichen des
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Endes der Paulschen Ära. Wie so oft im Rußland des 18. Jahrhunderts wurde die erste Geste einer Revolte von Frauen vollführt. Auf den Porträts aus dieser Zeit können wir sehen, wie die neue Manier sich zu kleiden eins wird mit der Natürlichkeit, der Einfachheit der Bewegungen, dem lebendigen Gesichtsausdruck. So sieht man auf dem Porträt der M. I. Lopuchina von W. Borowikowski nicht zufällig statt der damals üblichen Kaiserinnenbüste oder irgendeiner ausladenden Architektur Roggenähren und Glockenblumen als Hintergrund. Das Mädchen und die Natur stehen in einer Wechselbeziehung. Neue Kleider tauchten auf, die man später oneginsche Kleider nannte, obwohl sie bereits vor der Jahrhundertwende und lange vor dem Erscheinen des „Eugen Onegin" in Mode gekommen waren. Mit dem Stil der Kleidung änderten sich auch die Frisuren. Sowohl die Frauen als auch die Männer verzichteten auf Perücken, auch hier setzte sich die ,Natürlichkeit' durch. Diese Mode überwand die Grenzen, und obwohl zwischen dem revolutionären Paris und dem restlichen Europa ein Krieg tobte, stellte sich jeder Versuch, die Mode an den politischen Grenzen aufzuhalten, als vergeblich heraus. Hier errangen die Frauen einen glänzenden Sieg über die Politik. Der Wechsel des Geschmacks beeinflußte auch die Kosmetik, wie überhaupt alles, was das Außere der Frauen veränderte. Das Ideal der Aufklärung vermindert radikal die Verwendung von Farben. Blässe, wo sie nicht natürlich war, mit großem Aufwand künstlich hergerufen, wurde zu einem wesentlichen Element weiblicher Anziehungskraft. Die Schönheit des 18. Jahrhunderts strotzt vor Gesundheit, und auch Üppigkeit wird geschätzt. Eine üppige Frau ist für die Menschen jener Zeit eine schöne Frau. Die große, üppige Frau gilt als Schönheitsideal, und die Porträtmaler bemühen sich, die Porträtierten über jede Wahrheit hinweg diesem Ideal anzunähern. Es sind Fälle bekannt, in denen Maler für ein erhabenes Porträt, und das läßt sich im Vergleich mit gezeichneten Profilen und anderen Porträts belegen, der Auftraggeberin eine ihr durchaus nicht eigene Üppigkeit verliehen. Die Bevorzugung üppiger Formen bleibt nicht ohne Auswirkung auf die Eßlust. Die Frau jener Zeit ißt viel, und ohne sich deshalb zu genieren. Mit dem Herannahen der Epoche der Romantik endet die gesunde Mode. Nun wird Blässe als schön empfunden und gilt als Zeichen tiefer Herzensregungen. Gesundheit wird als vulgär angesehen. Shukowski wird sagen: Lieblich dem Blick der Blume lebendiges Blühen, jugendlicher Tage Mahnen; doch lieblicher noch der bleichen Blume Glühen, der Wehmut süßes Ahnen. „Alina und Alsim" Die Frau in der Epoche der Romantik soll blaß sein, verträumt, Wehmut steht ihr an. Den Männern gefiel es, wenn in wehmutsvollen, verträumten
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blauen Frauenaugen Tränen glänzten, wenn die Frauen sich von Versen in irgendeine Ferne tragen ließen, in eine noch idealere Welt als die, die sie umgab. Im übrigen hatte das Ideal der „Engel-Frau" auch sein Pendant: Ein Engel, vom Dämon frisiert, von einer Teufelin gekleidet17 Die romantische Verschmelzung von ,Engelhaftem' und ,Dämonischem' gehört ebenfalls zur Norm weiblicher Verhaltensweisen. Literatur und Kunst schufen ein idealisiertes Frauenbild, das freilich der Realität des Lebens kaum entsprach. Einerseits verstärkte das die kulturelle Rolle der Frau enorm. Die Gestalt des poesievollen Mädchens wird zum Ideal der Epoche. Andererseits wirkt dieses Bild veredelnd auf die realen jungen Mädchen. Nicht zuletzt deshalb sind ihre Namen, so wenige es auch sein mögen, in der Geschichte Rußlands unvergessen. Das heroische Verhalten der Frauen in der Zeit des Dekabrismus ist bei vielen eine Folge des Eindringens der Poesie Shukowskis, Rylejews und Puschkins in ihre Bibliotheken an der Grenze vom 18. zum 19. Jahrhundert und in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts. Die Veränderung des Stils der Kultur spiegelte sich in den verschiedenartigsten Facetten der Lebensweise wider. Das Streben nach,Natürlichkeit' beeinflußte vor allem die Familie. Säuglinge selbst zu stillen, wurde in ganz Europa zu einem Merkmal der Moral, zum Kennzeichen einer guten Mutter. Von dieser Zeit an begann man auch das Kind, die Kindheit, mehr zu schätzen. Davor sah man im Kind nur einen kleinen Erwachsenen. Das drückte sich vor allem in der Kinderkleidung aus. Zu Anfang des 18. Jahrhunderts gab es noch keine Kindermode. Man steckte die Kinder in kleine Uniformen und nähte ihnen kleine, aber der Fasson nach Erwachsenengewänder. Man war der Auffassung, daß die Kinder in der Interessenwelt der Erwachsenen aufzuwachsen hätten, und daß der Zustand der Kindheit etwas wäre, das man möglichst rasch hinter sich zu bringen hätte. Wer in diesem Zustand länger verweilte, galt als Mitrofan (Tölpel, d.U.), als unterentwickelt, geistig nicht vollwertig und dumm. Aber schon Rousseau sagte, daß die Welt zugrunde gehen würde, wäre nicht jeder Mensch einmal im Leben Kind gewesen. Und allmählich setzte sich in der Kultur die Erkenntnis durch, daß das Kind eigentlich der normale Mensch ist. Die Kinderkleidung kommt auf, das Kinderzimmer, und man entdeckt, das Spielen etwas Gutes ist. Nicht nur das Kind, auch der Erwachsene soll spielend lernen. Die Belehrung mit Hilfe der Rute wird als ein Widerspruch zur Natur angesehen. So halten humane Beziehungen und die Achtung des Kindes Einzug in die häusliche Lebensweise. Und das ist hauptsächlich ein Verdienst der Frau. Der Mann dient. In seinen jungen Jahren ist er Offizier und selten
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zuhause. Später befindet er sich im Ruhestand, ist er Gutsbesitzer und nur von Zeit zu Zeit im Haus anwesend, ist mit der Verwaltung seines Besitzes beschäftigt oder auf der Jagd. Die Welt der Kinder bildet sich unter den Händen der Frau heraus. U n d u m diese Welt schaffen zu können, hat sie viel durchzustehen, muß sie vieles bedenken. Sie beginnt zu lesen. Also wird die Frau in der Zeit zwischen den 70er und 90er Jahren des 18. Jahrhunderts zur Leserin. Das vollzieht sich im wesentlichen unter dem Einfluß zweier Menschen, Nikolai Iwanowitsch N o w i k o w s und Nikolai Michailowitsch Karamsins. Mit N o w i k o w , der sein Leben der Propagierung der Aufklärung in Rußland gewidmet hatte, enstand auch eine neue Phase in der Kulturgeschichte der russischen Frauen. Natürlich hatten die Frauen schon vor N o w i k o w Bücher gelesen, aber er bemühte sich als erster darum, die Frau, die Mutter und Hausfrau, zur Leserin werden zu lassen, und er entwickelte für sie ein durchdachtes System nützlicher und leicht faßlicher Bücher. Erinnern w i r uns daran, daß noch Sumarokow von einem idealen Reich träumte, indem auch „Mädchen in den Schulen lernen" sollten, „adlige" Mädchen, wie der Schriftsteller präzisierte. Mit außerordentlicher Energie und großem Können machte N o w i k o w sich nun daran, die pädagogischen Träume Sumarokows zu verwirklichen. Er schuf eine eigenständige Frauenbibliothek. Karamsin begann seine aufklärerische Tätigkeit unter dem Einfluß der Nowikowschen Schule und unter dessen Leitung. Gemeinsam mit seinem Freund A.P. Petrow redigierte er N o w i k o w s Zeitschrift „Kinderlektüre für Herz und Vernunft" (1785-1789). Leser dieser Zeitschrift waren, erstmals in Rußland, Kinder und ihre Mütter. Doch Karamsin und N o w i k o w trennten sich bald. N o w i k o w betrachtete Literatur in erster Linie als angewandte Pädagogik, und er vertrat die Auffassung, daß Rußland Moral lehrende, nützliche Bücher brauche, eine Didaktik, die sich der Kunst nur bediente. Karamsin dagegen, Dichter und gleichzeitig eine der glänzendsten Gestalten der russischen Literatur, konnte und wollte der Kunst nicht eine lediglich dienende Rolle zugestehen. Seiner Meinung nach hatte Schönheit an sich schon eine moralische Bedeutung. Er hielt die Kunst auch ohne lästiges Moralpredigen schon für moralisch, und gerade dann für pädagogisch, wenn sie das Pädagogische nicht ausdrücklich hervorhob. Theoretisch und praktisch begründete und schuf Karamsin eine Literatur, deren moralischer und pädagogischer Effekt eben nicht auf vordergründiger Belehrung beruhte. U n d so nimmt es nicht Wunder, daß einige seiner Werke, die sich mit Fragen der Liebe und der Ethik auseinandersetzten, den engstirnigen Nachbetern N o w i k o w s sogar als unmoralisch erschienen. W i r können uns heute kaum mehr vorstellen, welche Empörung die Karamsinschen Novellen hervorriefen, in denen er solche verbotenen' Sujets aufgriff, wie Bruder-Schwester-Liebe („Insel Bornholm", 1794; die Ballade „Raissa", 1791) oder Selbstmord aus Liebe („Sierra-Morena",
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1795). Aber gerade diese Werke, deren Einfluß auf die Leser den literarisch Orthodoxen unmoralisch erschien, waren, wie die Geschichte gezeigt hat, nicht nur zutiefst moralisch, sie zeugten auch von einer hohen moralischen Verantwortung. Und es ist kein Zufall, daß Karamsin von der Generation der Romantiker bereits als naiv und plump empfunden wurde. Das Verhältnis von Literatur und Moral ist eine der prägnantesten Fragen, die sich mit der beginnenden Morgenröte der Romantik stellt. Sie erklang besonders schmerzhaft, wenn Probleme wie „Kunst und Familie", „Kunst und Frau", „Kunst und Kinder" diskutiert wurden. Ich will ein Beispiel anführen. In der Familie des Schriftstellers M. Cheraskow wurde die junge Anna Jewdokimowna Karamyschewa erzogen (von ihrem Schicksal wird ausführlich im Kapitel „Zwei Frauen" die Rede sein). Romane erschienen derart moralgefährdend, daß, wenn man im Hause Cheraskows über sie redete (und die Romane waren damals überaus unschuldig, langweilig und moralisch!)', die schon verheiratete Karamyschewa aus dem Zimmer gewiesen wurde! Dies geschah in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts. So war das in dieser noch gänzlich auf die patriarchalische Lebensweise orientierten Familie. Doch die Mutter Karamsins las in dieser Zeit schon die modischen Romane, die seit einem Jahrzehnt den größten Teil der Damenbibliotheken ausmachten, und gab sie auch ihrem Sohn zu lesen. Zwar waren diese Romane naiv, aber Karamsin wird später sagen, daß ein Mensch, der über das Schicksal eines Romanhelden weint, dem Unglück eines anderen Menschen gegenüber nicht gleichgültig sein könne. Bereits zur Zeit Puschkins deutete sich selbst in naiven und lächerlichen Büchern humanes Gedankengut an, und sie wirkten vielleicht nachhaltiger als die in Form von vordergründigen Belehrungen daherkommenden moralischen Unterweisungen. Es wird noch einige Zeit vergehen, ehe Tatjana Larina, ein Mädchen der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts, sich dem Leser „mit einem französischen *
Uber diese Romane schrieb Puschkin im „Graf Nulin": Ein alter klassischer Roman, Unendlich lang und allemal Voller Belehrung und Moral Und ohne der Romantik Wahn. Die Heldin des Poems, Natalja Pawlowna , las solche Romane noch zu Anfang des X I X . Jahrhunderts: In der Provinz hatten sie sich noch erhalten, während sie in den Hauptstädten durch die Romantik und den veränderten Lesergeschmack schon verdrängt worden waren. Siehe in „Eugen Onegin": Doch heut ist unser Sinn umnebelt; Moral ein überwundner Wahn, Das Laster, früher fest geknebelt, Nun triumphiert es im Roman.
(3, XII) Karamsins Novelle „Ein Ritter unserer Zeit", auf die wir uns in diesem Falle berufen, ist ein künstlerisches W e r k und kein Dokument. Man kann jedoch annehmen, daß Karamsin sich gerade in diesen Fragen der biographischen Realität annähert. !f ,:'
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Roman in den Händen und Wehmut im Blick", präsentieren wird. Die Puschkinsche Heldin lebt schon ganz in der Welt der Literatur: Sie malt sich aus, die Heroine Der Lieblingsdichtungen zu sein, Clarissa, Julia, Delphine, Durchstreift mit ihrem Buch allein Den stillen Wald, um dort zu träumen... (3,X)
Ein Provinzmädchen irgendwo in der Nähe von Pskow lebt und empfindet natürlich nach, was die Helden der besten literarischen Werke empfinden und denken. Nicht umsonst wird Puschkin über Tatjana sagen: ... mit allen Sinnen Bei fremdem Leid und fremder Lust... (3,X)
Es bildet sich ein anderer Typ Mensch, ein anderer Typ Frau heraus. Das hat F.S. Rokotow sehr gut auf einem der ersten romantischen Porträts gezeigt, dem Bildnis der A.P. Struiskaja. Erinnern wir uns der Verse Nikolai Sabolozkis, der über dieses Porträt schrieb: Erinnerst du, wie von Rokotows Bild, Und aus des fernen Dunkel Nah, V o m Atlas kaum verhüllt, Uns wieder anblickte die Struiskaja? Ihre Augen, Nebelschleiern gleich, Lächelnd halb und halb im Weinen, Sind wie zweier Lügen Reich, Wehmutgetrübt, so will es scheinen. Zweier Rätsel enge Bahn, Halb entflammt und halb erschrocken, Toller Zärtlichkeiten Wahn, Ahnend schon des Todes Locken. Offnet sich mir des Dunkels Schlund, Will sich ein Ungewitter regen, Strahlt mir aus tiefster Seele Grund Ihr wunderbares Augenpaar entgegen. „Porträt"
Nur wenige Jahre später werden wir sehen, daß junge Mädchen und Frauen zu Handlungen imstande waren, zu denen selbst im Staatsdienst tätige, wagemutige Männer, die auf den Schlachtfeldern ihr Leben aufs Spiel setzten, nicht imstande waren.
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Als auf dem Senatsplatz die Kartätschen in das Karree der Dekabristen feuerten, war das wohl das schrecklichste Ereignis, schrecklicher noch als die Verhaftungen und Verbannungen. Die moralische Zerstörung des Menschen aber vollzog sich in den Petersburger Palästen, w o ehemalige Freunde der Dekabristen sich beeilten, dem neuen Zaren ihre Loyalität zu bekunden, während ihre einstigen Kameraden und Verwandten ihr Kreuz über die Schneefelder Sibiriens schleppten. Unter den Teilnehmern an den Petersburger Paraden oder an den Bällen im Winterpalais befand sich kaum jemand, der nicht einen Bruder, einen Verwandten, einen Regimentskameraden in den sibirischen Kasematten wußte! Die nach Sibirien Verbannten lebten dort unter furchtbaren Bedingungen, doch sie lebten ohne Furcht: Das Entsetzlichste war schon geschehen. Voller Angst hingegen lebten diejenigen, die gestern noch mit den nunmehr Verbannten von Freiheit geredet hatten, und denen nun bewußt war, daß nur der Zufall sie gerettet hatte, und daß sich innerhalb einer Minute auch für den, der heute noch in einem Petersburger Amt saß, noch alles ändern und er in Ketten in die sibirische Katorga wandern konnte. Zehn Jahre des Schreckens, und die Gesellschaft war heruntergekommen: Ängstlichkeit breitet sich unter den Männern aus, und ein völlig anderer Mensch wird auf den Plan treten - der „eingeschnürte" Mensch der Nikolaischen Epoche. Saltykow-Stschedrin wird später einen seiner Romanhelden in einem Alptraum wähnen lassen, auf seinem Kopf werde, während er schläft, eine Pyramide aus uniformierten Menschen errichtet. Die Pyramide zermalmt schließlich seinen Kopf, quetscht ihn platt. Die Frau aber hat keine Angst. Sie schreibt einen Brief an Benckendorff, wie das die Fürstin Wolkonskaja tat. Sie schreibt ihm auf französisch: sie ist eine D a m e von Welt, er ein Mann von Welt (Benckendorff trug nur äußerst ungern die Gendarmerie-Uniform); und er wird sich natürlich nicht erlauben, sie, die D a m e von Welt, „in die Schranken zu weisen". Die Frauen zeigen sich standhafter als die Männer. Ihre Seele ist stärker, sie fürchten sich nicht, nehmen unter den bedrückendsten Umständen die Reise nach Sibirien auf sich. Zuvor werden sie in Petersburg darüber informiert, daß man allen in Sibirien geborenen Kindern der Verbannten den *
E i n v o n einem M a n n geschriebener f r a n z ö s i s c h e r Brief an den Z a r e n o d e r einen h o -
hen B e a m t e n w ä r e als eine U n g e h ö r i g k e i t e m p f u n d e n w o r d e n . E i n U n t e r t a n hatte russisch zu schreiben u n d sich exakt an die v o r g e g e b e n e F o r m zu halten. V o n einer D a m e w u r d e dieses Ritual nicht verlangt. Z w i s c h e n ihr u n d d e m H e r r s c h e r ließ die f r a n z ö s i s c h e S p r a c h e ein Verhältnis entstehen, d a s der ritualen B e z i e h u n g z w i s c h e n einem Ritter u n d einer D a m e ähnelte. D e r f r a n z ö s i s c h e K ö n i g L u d w i g X I V . , dessen U m g a n g s f o r m e n noch i m m e r d a s Ideal aller e u r o p ä i s c h e n K ö n i g e waren, verhielt sich F r a u e n jeden Alters u n d jeden s o z i a l e n Standes g e g e n ü b e r d e m o n s t r a t i v ritterlich. Interessant ist auch, daß die juristische P o s i t i o n des sozialen G e s c h ü t z t s e i n s , über die eine russische A d l i g e in der nikolaischen E p o c h e v e r f ü g t e , mit der S c h u t z g e w ä h r eines R u ß land b e s u c h e n d e n A u s l ä n d e r s verglichen w e r d e n kann. G a n z zufällig ist diese Ä h n l i c h k e i t nicht. In der a m t l i c h - b ü r o k r a t i s c h e n Welt d e r R ä n g e u n d U n i f o r m e n ist jeder, der auf die eine o d e r andere W e i s e seine G r e n z e n überschreitet, ein „ A u s l ä n d e r " .
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Adel verweigern und sie in den Bauernstand versetzen werde. Und man versucht sie zu ängstigen, indem man ihnen vormacht, sie würden den kriminellen Sträflingen schutzlos ausgeliefert sein. Später werden sich die Dekabristenfrauen daran erinnern, daß die Beamten weitaus schlimmer waren als die Kriminellen: Unter den letzteren fanden sie Menschen, unter den Beamten kaum. Nicht nur das Verhalten der Frauen in der Zeit nach dem Dekabristenaufstand ist ein Merkmal der ,weiblichen Kultur'. Es waren die Mädchen und jungen Frauen der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts, die wesentlich die allgemeine moralische Atmosphäre der russischen Gesellschaft gestalteten. Fragt man danach, was die Menschen aus dem Kreis der Dekabristen, die Herzen „eine Generation von aus reinem Stahl geschmiedeten Recken" nannte, geformt hat, so sind mehrere Faktoren zu nennen. Dazu gehören die historischen Ereignisse, die Kriege, aber auch die Bücher, und dazu gehört die humanistische Atmosphäre, die sich so unvermittelt im Leben der Familien ausgebreitet hatte. Es wäre jedoch verfehlt anzunehmen, daß es sehr viele solcher Frauen gab. Es gab auch „unzivilisierte Gutsbesitzerinnen", und die waren in der Mehrzahl. Und es gab die stillen, bescheidenen Frauen, deren ganzes Leben im Einsalzen von Gurken und im Zusammentragen der Wintervorräte bestand, gutmütige und genügsame Gutsbesitzerinnen der alten Zeit. Aber die Tatsache, daß es in der Gesellschaft schon geistig regsame Menschen gab, darunter bemerkenswert viele Frauen, führte zu einer völlig anderen Lebensweise. Mehr noch. So, wie der französisch geschriebene Brief einer Frau an den Herrscher oder einen höheren Beamten sich in seinem Inhalt nicht mehr an die vorgeschriebenen Formen hielt, so löste sich gleichsam auch das ganze Verhalten der Frau in seinen höchsten Äußerungen aus der sozialen Sphäre seiner Zeit und wurde zum Ausdruck der allgemeinen menschlichen Grundsätze. Puschkin hat das in seinem unvollendeten Roman „Roslawlew" (1831), in dem wir einen außerordentlich interessanten Ideendialog mit dem Roman „Roslawlew oder Die Russen im Jahre 1812" (1831) von M. Sagoskin finden, mutig aufgegriffen. M. Sagoskin, dessen Prosatalent Puschkin relativ hoch einschätzte, stand in seinen Auffassungen dem bekannten Kritiker und „Mentor" Belinskis, W.N. Nadeshdin, nahe. Beide nahmen sie eine zwielichtige Position ein, die ihr negatives Verhältnis den revolutionären und liberalen Ideen gegenüber mit dem noch unreifen, seinen Weg noch suchenden Demokratismus auf einen Nenner zu bringen suchte. Das war auch der Grund dafür, daß der Patriotismus Sagoskins sich zwar einerseits dem in Rußland entstehenden demokratischen Lager näherte, andererseits jedoch eine zweideutige und regierungstreue Färbung annahm. Diese Haltung bestimmte zum Beispiel das Verhalten Sagoskins anläßlich der Verfolgungen P.J. Tschaadajews. Sagoskin schloß sich denen an, die dem Verfasser der „Philosophischen
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Briefe" jeglichen Patriotismus absprachen. Und er dehnte seine Verdächtigungen auf den ganzen Kreis der Erben des Liberalismus und des Dekabrismus aus, die die Zeit der Hinrichtungen und Verbannungen überlebt hatten, wie M. Orlow, die Brüder Turgenjew und auch Puschkin. In seiner Antwort auf Sagoskin warf Puschkin dem Romancier vor, gleichsam das Monopol für sich in Anspruch zu nehmen, alleiniger Verkünder des Patriotismus zu sein. Besonders bemerkenswert ist dabei, daß Puschkin für die Verkörperung seines Patriotismus-Verständnisses eine weibliche Heldin wählte. Gerade Polina, die Heldin des Romanfragments „Roslawlew", eine geistig hochstehende Frau, die sich über den politischen Tagesstreit erhob, konnte zur Wortführerin des Puschkinschen Standpunktes werden, der hohen Patriotismus und allgemeinmenschliche Moral vereinigte. In leicht ironischer Weise näherte Puschkin seine Auffassungen der weiblichen, zwar naiven aber nichtsdestoweniger tiefgreifenden Sichtweise an. In dem unvollendeten „Roman in Briefen" (1829) läßt er Lisa sagen: „Jetzt verstehe ich, weshalb W(jasemski) und P(uschkin) die Provinzfräuleins so sehr lieben. Sie sind ihr wahres Publikum." Wir registrieren, daß die Frau in der darauffolgenden Epoche, nachdem sie das Recht auf eine breitere Teilnahme am politischen Leben errungen hatte, dem Mann auch in der Möglichkeit gleich wurde, „Abgaben zu verweigern/ oder die Zaren daran zu hindern, einander zu bekämpfen" (Puschkin, III (1), 420), aber sie bewahrte sich jenes Ewige, das sich zu allen Zeiten in einem Menschen erhält. In der Epoche der Romantik und des Dekabrismus jedoch vollzog die russische Frau, indem sie sich bis zum intellektuellen Niveau des gebildeten Mannes ihrer Zeit emporschwang, einen weiteren Schritt - zum allgemeinmenschlichen Standpunkt hin. Aber diese heldenhafte Generation der Dekabristenfrauen ist vorausgeeilt. Noch leben, an der Schwelle zum neuen Jahrhundert, ihre Mütter, die „zärtlichen Träumerinnen", doch ohne diese Mütter gäbe es diese Töchter nicht. Während der russischen Romantik spielte die Welt der Frauen eine besondere Rolle. Die romantische Epoche räumte der Frau den wichtigsten Platz in der Kultur ein. Die Epoche der Aufklärung hatte die Frage nach dem Schutz der Rechte der Frauen aufgeworfen. Die Frau, das Kind, der Mensch aus dem Volk, das waren die typischen Helden gewesen, für deren Gleichheit und Rechte der Aufklärer gekämpft hatte. Die Schutzbefohlenen' waren zu erziehen, zu behüten, heranzubilden, und ihr Erzieher und Beschützer war natürlich der von den Ideen des „Jahrhunderts der Aufklärung" erfüllte Mann. Puschkin kolportierte oft und gern die Worte des italienischen Historikers und Philosophen Galiani über die Frau: „Ein seiner Natur nach schwaches und leidendes Geschöpf". Die in Rußland mit Karamsin beginnende Epoche räumte der Frau eine völlig neue Rolle ein. Die Poesie Shukowskis bekräftigte die Vorstellung von der Frau als poetisches Ideal, als Gegenstand der Verehrung. Gleich-
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zeitig mit der romantisierenden Hinwendung zur Epoche des Rittertums entsteht die Poetisierung der Frau. Der Aufklärer hatte die Gleichstellung der Frau und des Mannes betont. Er hatte in der Frau den Menschen gesehen und war bestrebt gewesen, sie in ihren Rechten dem Vater und dem Mann gleichzustellen. Die Romantik ließ hingegen, nach den Mustern der mittelalterlichen Ritterliteratur, die Ungleichheit der Geschlechter wieder erstehen. Der bis zum Idealbild verklärten Frau räumte man den Bereich der hohen und zarten Gefühle ein. Der Mann sollte ihr Beschützer und ihr Diener sein. Natürlich ließ sich dieses romantische Idealbild nur schwer mit der russischen Realität vereinbaren. In der Regel erfaßte dieses Ideal nur die Welt der adligen Frau, der Romanleserin, die mit ihrer ganzen Seele in das literarische Erleben eintauchte und völlig in „fremdem Leid und fremder Lust" aufging. So durchlebte beispielsweise Sofja Saltykowa, die spätere Gattin Delwigs, in ihrer Jugend eine Phase stürmischer Leidenschaft für den Dekabristen P.G. Kachowski. Kachowski, ein mittelloser Offizier ohne irgendwelche Beziehungen, kann natürlich nicht darauf zählen, ein Mädchen aus guter Gesellschaft heiraten zu können. Aber die jungen Leute reden auch nicht über eine Ehe. Sie verbindet eine idealisierende Liebe. Alle Liebeserklärungen vollziehen sich als Austausch poetischer Zitate. Wir kommen hier nicht umhin, an das überaus tragische und zugleich typische Schicksal der beiden Schwestern Protassow, Mascha und Sascha, zu erinnern. Die eine von ihnen wird später den Dorpater Professor J. Moier heiraten, den bekannten Chirurgen und Lehrer N.I. Pirogows. Moier war ein wunderlicher Mensch, und Pirogow hat sehr warmherzige Erinnerungen an ihn hinterlassen. Die andere Schwester wird einen gewissen A.F. Wojeikow heiraten, einen Professor und Literaten, der sich bedauerlicherweise als ein gewalttätiger und unmoralischer Mensch herausstellte. Mascha, beinahe kindlich noch, verliebt sich in einen Verwandten, den Dichter Shukowski. Shukowski gehörte väterlicherseits einer alten Adelsfamilie an. Sein Vater war ein Gutsbesitzer namens Bunin (vermutlich ein Vorfahr des Schriftstellers I. Bunin, worauf letzterer sehr stolz war), und seine Mutter eine als Leibeigene im Haus lebende erbeutete Türkin, Salcha mit Namen. Der künftige Poet war also ein unehelich Geborener, und damit genau das, was man „von zweifelhafter Herkunft" nannte. Da das Kind nicht den Familiennamen seines Vaters erhalten konnte, schlug dieser dem als Almosenempfänger in seinem Haus lebenden verarmten Adligen Shukowski vor, zum Taufvater des Kindes zu werden und ihm seinen Familiennamen zu geben. Shukowski wurde als gleichberechtigtes Mitglied der Familie behandelt und erfuhr eine vortreffliche Ausbildung. Seine frühe Erziehung übernahmen die bereits verheirateten älteren Halbschwestern E.A. Protassowa und A.A. Jelagina, die auch Einfluß auf sein weiteres Schicksal nahmen. Darüberhinaus war Shukowski in diesem Buninschen, Protassowsschen, Jelaginschen Haus, einem kulturvollen Nest, in dem die jungen Familien-
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mitglieder den Ton angaben, als der einzige Knabe der allgemeine Liebling. Man umsorgte ihn zärtlich, verschaffte ihm den Adelstitel und ermöglichte ihm eine Ausbildung in dem damals angesehendsten Institut, der Moskauer Adelspension. 1805 wird Shukowski, bereits ein bekannter Dichter, zum Hauslehrer seiner Nichten, der Töchter seiner Halbschwester E.A. Protassowa. Und dort spielt sich nun ein Drama ab. Die Geschichte der Liebe zwischen Mascha Protassowa und Shukowski lesend, erahnen wir, wie eng in ihr Literatur und Leben, die Poesie der Wirklichkeit und die Poesie des Poetischen miteinander verknüpft sind. Erlebte Leiden werden zu literarischen Sujets, und die literarischen Helden erklären den an dem Drama Beteiligten den Sinn ihrer durchlebten Gefühle und Leiden. Das Leben ließ die Verliebten gewissermaßen die Erfahrung eines Sujets machen, das zu dieser Zeit bereits in die Literatur eingegangen war und in dem Roman „Die neue Heloise" von J.J. Rousseau von den ,empfindsamen' Leserinnen in ganz Europa nachempfunden wurde. Der nichtadlige Lehrer verliebt sich in seine Schülerin, und sie in ihn. Aber eine Heirat ist unmöglich, weil die Gesellschaft auf ihren Vorrechten und Vorurteilen besteht. Und so erhebt sich vor Mascha und Shukowski eine noch unüberwindbarere Mauer, als Standesvorurteile sie darstellen könnten. Für Maschas Mutter, eine tiefreligiöse Frau, ist eine Verbindung zwischen so nahen Verwandten unvorstellbar. Fremd wird plötzlich das bislang so gastfreundliche Haus der Protassows. Maschas Schwester läßt sich von Shukowski insgeheim das Wort darauf geben, daß er auf ihre Schwester verzichten wird. Und man gibt ihm zu verstehen, daß man ihn nur noch solange im Haus dulden werde, wie er seine Liebe im Zaum hält. Schmerzhaft wird das Gefühl dieses leidvollen Erlebens den Dichter sein ganzes Leben hindurch begleiten. Es wird zum Inhalt der Gedichte Shukowskis, der Gedichte Maschas und ihres leidenschaftlichen Briefwechsels. Literatur und Wirklichkeit verlaufen im Leben Shukowskis gewissermaßen parallel. In dem mittelalterlichen Roman „Tristan und Isolde" tritt der Held Tristan seine Geliebte dem König ab. Das lange, von Trennung und Leiden überschattete Leben Tristans und Isoldes wird schließlich durch die Vereinigung im Tod gekrönt. Dieses Bild wird für Shukowski zur Verkörperung seiner realen eigenen leidvollen Lebenserfahrung. Und gleichzeitig spiegelt sich die reale Lebenspein in seinem künstlerischen Schaffen, vor allem in den „Sujets aus der Ritterzeit" wider. So gleitet die Kunst ins Leben hinüber und das Leben in die Kunst.
*
Natürlich ist Shukowski im Unterschied zu Saint Preux in der „Neuen Heloise" ein
Adliger. A b e r sein Adel ist zweifelhaft, seine ganze U m g e b u n g weiß, daß er ein unehelicher Sohn mit einem fiktiv erworbenen Adel ist. (Siehe: N . I . Portnowa, N . K . F o m i n , Die Angelegenheit des Shukowskischen Adels. - Ferner: Shukowski und die russische Kultur. Leningrad, 1987, S. 3 4 6 - 3 5 0 ) .
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Aber die romantische Frau bleibt nicht nur passive Teilnehmerin an diesem ,Spiel' von Literatur und Leben. Die Prosa des Lebens kann Mascha nicht die Gewohnheit nehmen, mit den Augen der Poesie auf alles Geschehen zu blicken. Nur ein halbes Jahrhundert wird vergehen, und dem gebildeten Leser, etwa einem Verehrer D. Pissarews, wird ein solcher Blick „unpraktisch" erscheinen. Aber gerade dieses .Unpraktische', die unbedingte Verbindung von Alltäglichem und Poetischem, war die Voraussetzung für die hohe geistige Haltung einer romantischen jungen Frau zu Beginn des 19. Jahrhunderts und ließ sie eine veredelnde Rolle in der russischen Kultur spielen. Der „Lebensroman" wird sich im Schicksal von Sascha Protassowa fortsetzen. Die jüngere Schwester, ein hinreißender Wildfang, den man im Haus nach einer Balladenheldin Shukowskis Swetlana nennt, heiratet einen Freund Shukowskis, den Dorpater Professor A.F. Wojeikow. Die Familie übersiedelt nach Dorpat (heute Tartu). Dort heiratet Mascha, dem Druck der Mutter nachgebend, den Universitätsprofessor I.F. Moier. Shukowski unterdrückt die eigenen Gefühle, segnet (wie einst Tristan!) die Heirat ab und gibt die Geliebte eigenhändig dem Freund. Moier ist ein hochherziger Mensch. Er schont die Gefühle Maschas, und er verehrt sie aufrichtig. Er ist nicht nur ein hervorragender Chirurg, sondern auch Musiker. Die Eigennützigkeit und Trockenheit eines W o jeikow geht ihm ab. Dennoch entsteht eine nach außen hin qualvolle Situation. Alle drei sind sie edelmütig. Und alle drei leiden sie. Shukowski kommt nach Dorpat. Sein Verhältnis zu Mascha ist nurmehr platonisch, aber seine Gefühle für sie bleiben unverändert und tragisch bestehen. Nach der zweiten Geburt stirbt Mascha. Sie wird in Dorpat beigesetzt, wo ihr Grab noch bis heute erhalten geblieben ist. Shukowski widmete dem Tod M.A. Moiers mit „Der 19. März 1823" eines seiner schönsten Gedichte: Du standest vor mir, Und warst ganz ruhig. Die zagen Blicke Von Wehmut sprachen. Herauf sie riefen Das teure Früher... Der letzte Blick war's In dieser Welt mir. Bist fortgegangen, Ein Engel ruhvoll; Es ist dein Grabmal So paradiesstill! Dort sind die irdschen Erinnerungen, Sind an den Himmel Gedanken heilig. Des Himmels Sterne Und Ruh der Nacht!...
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Wenn wir von den Frauen am Anfang des vorigen Jahrhunderts reden, müssen auch einige W o r t e über die Kinder gesagt werden. Die Kindheit bekam in dieser kulturellen Welt einen eigenständigen Charakter. Man fing nicht nur an, den Kindern eigene Kleidung zu geben, die kindlichen Spiele zu kultivieren, die Kinder begannen auch sehr früh zu lesen. Die Welt der Frauen ist nun untrennbar mit der Welt der Kinder verbunden, und die lesende Frau bringt das lesende Kind hervor. Das Vorlesen von Büchern und später eine besondere Kinderbibliothek zeichnen den Weg, den künftige Literaten, Militärs und Politiker gehen werden. Es läßt sich schwerlich eine Zeit finden, in der das Buch eine derartige Rolle spielte.In den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts in die Welt des K i n des eindringend, wurde das Buch zum Anfang des darauffolgenden Jahrhunderts zum ständigen Gefährten der Kindheit. Das Kind besaß überaus interessante Bücher, vor allem natürlich Romane, lasen doch die Kinder das gleiche, was die Frauen lasen. So prägten weitgehend die Frauenbibliothek und die Bücherschränke der Frauen die Lektüre und den Geschmack der Kinder. Die Romane machten sie benommen. Heroische, edelmütige Ritter, die schöne Burgfräuleins retten und dem Bösen widerstehen. N u r zu leicht vermischten sich die Eindrücke dieser Bücher mit den Märchen, die die Kinder von ihren Njanjas, den Kinderfrauen, hörten. Roman und Märchen stellten für sie keine Gegensätze dar. Das russische Kinderbuch, das mit dem Beginn der Herausgebertätigkeit N o w i k o w s entstand, war gegen Ende des 18. Jahrhunderts schon recht vielgestaltig. Klassische Werke, wie „Don Quichote" und „Robinson Crusoe", stehen neben einer Vielzahl von primitiven Büchern, meist sehr didaktisch angelegten Kinderbüchern in Ubersetzungen aus dem Deutschen und dem Französischen. Gewöhnlich jedoch wurde das Kind von dem Besten aus dem, was es las, beeinflußt. Schon die jungen Brüder Murawjew, die künftigen Dekabristen, träumen davon, nach Sachalin zu reisen, das sie sich als eine unbewohnte Insel (eine Robinson-Welt!) vorstellen, um dort eine Republik Tschoka zu gründen. U n d die Brüder beginnen die ganze Geschichte der Menschheit noch einmal von vorn: weder Herren, noch Sklaven, noch Geld soll es bei ihnen geben; in Gleichheit, Brüderlichlichkeit und Freiheit wollen sie leben. Aber auch ein anderes Buch wird in dieser Zeit zur Kinderlektüre: „Plutarch für K i n d e r " P l u t a r c h , der bekannte antike Prosaiker und Autor der „Parallelen Lebensbeschreibungen" berühmter Griechen und Römer. Kaum hatte das Kind die ,erste Welle' literarischer Eindrücke erlebt, während der es sich als mittelalterlicher Ritter im Kampf gegen Bösewichte, Zauberer und Riesen, gegen Kreuzritter und Mauren empfunden hatte, *
So nannte man gewöhnlich das B u c h des Plutarch aus Chaironeia „ Ü b e r die Anlei-
tung der Kinder oder D i e Lehre der Kindererziehung". Ubersetzt aus der hellenisch-griechischen Sprache von S(tepan) P(issarew), Petersburg 1771.
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tauchte es in die Welt der historischen Heldengeschichten ein. Der römische Republikaner wurde zur faszinierenden Gestalt für die Kinder und Halbwüchsigen. Bezeichnend dafür ist eine Episode aus dem Leben des bekannten Dekabristen Nikita Murawjew. Sie führt uns auf einen Kinderball. Die Zeit der Handlung ist das beginnende 19. Jahrhundert. Der Held dieser Geschichte ist sechs Jahre alt. „Kinderbälle" waren besondere Bälle, die gewöhnlich an Vormittagen in Privathäusern oder bei dem Tanzmeister Jogel veranstaltet wurden. Daran nahmen noch sehr kleine Kinder teil, aber auch zwölf-, dreizehn- und vierzehnjährige Mädchen tanzten dort, die bereits als Bräute galten, weil ein fünfzehnjähriges Mädchen schon als heiratsfähig angesehen wurde. Erinnern wir uns nur daran, wie in „Krieg und Frieden" die sich auf Urlaub befindlichen jungen Offiziere Nikolai Rostow und Wassili Denisow auf dem Kinderball bei Jogel auftauchen. Die Kinderbälle waren für ihre Fröhlichkeit bekannt. Unmerklich ging hier die ungezwungene Atmosphäre kindlichen Spiels in bereits spannungsvolle Koketterie über. Der kleine Nikita, der künftige Dekabrist, steht an einem Kinderabend untätig herum und tanzt nicht, und als seine Mutter ihn nach dem Grund dafür fragt, erkundigt sich der Knabe (auf französisch): „Maman, haben denn Aristid und Cato auch getanzt?". Und die Mutter antwortet ihm, ebenfalls auf französisch: „Es ist anzunehmen, daß auch sie in deinem Alter getanzt haben." 18 Danach erst tanzt auch der kleine Nikita. Vieles weiß er noch nicht, aber er ist bereits überzeugt davon, daß er einmal ein ebensolcher Held werden wird wie der antike Römer. Noch aber mangelt es ihm an den Voraussetzungen dafür, obwohl er sich schon in der Geographie, in der Mathematik und in mehreren Sprachen auskennt. 1812 beschließt der sechzehnjährige Nikita, davonzulaufen und sich den kämpfenden Truppen anzuschließen, um eine Heldentat zu vollbringen. „Von dem brennenden Wunsch erfüllt, persönlich an der Verteidigung seines Vaterlandes teilzunehmen, faßte er den Entschluß, sich zu dem Oberbefehlshaber Kutusow zu begeben und diesen zu bitten, unter ihm dienen zu dürfen. (...) Er hatte sich eine Karte Rußlands beschafft und trug in seiner Unerfahrenheit eine Liste mit den Namen der französischen Marschälle und ihrer Truppenverbände bei sich. Mit diesen Materialien ausgerüstet verließ er zu Fuß das Haus und marschierte in Richtung Moshaisk. Unterwegs wurde er von Bauern aufgegriffen, die ihn in ihrer Furcht vor Spionen fesselten und dem örtlichen Gericht übergaben. Und so sehr Nikita sich auch bemühte, ihnen seine Situation zu erklären, sie weigerten sich, ihn anzuhören. Man brachte ihn in Fesseln nach Moskau und führte ihn vor den Militärkommandanten der Hauptstadt, den hartherzigen Rostoptschin, der ihn bis zur Klärung der Angelegenheit ins Loch stecken ließ. Auf dem Weg dorthin erblickte ihn der Gouverneur, ein Schweizer namens Petra, aber da die beiden französisch miteinander sprachen, wurde er nicht
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nur diesem nicht übergeben, sondern beide wurden von dem aufgebrachten Volk, das sie beschimpfte und Spione nannte, ins Loch geführt. Petra, dem es auf irgendeine Weise gelang, sich aus dem Haufen zu befreien, eilte zu Jekaterina Fjodorowna (der Mutter N. Murawjews. - J.L.), die sich sofort zu Rostoptschin begab und diesen anflehte, ihren völlig unschuldigen Sohn freizulassen". 19 Nikita Murawjew und seine Altersgenossen hatten eine besondere Kindheit, eine Kindheit, die Menschen hervorbrachte, die von Anfang an nicht auf die Karriere, nicht auf den Dienst, sondern auf Heldentaten hinlebten, Menschen, für die es das Schlimmste im Leben war, die Ehre zu verlieren. Eine unehrenhafte Tat zu begehen, war für sie schlimmer als der Tod. Der Tod schreckte diese Halbwüchsigen und Jünglinge nicht: Alle großen Römer waren heldenhaft umgekommen, und ein solcher Tod galt ihnen als beneidenswert. Als der General Ypsilanti, ein als Kampfoffizier in russischen Diensten stehender Grieche, dem bei Leipzig eine Hand abgerissen worden war, 1821 den griechischen Aufstand gegen die Türken organisierte, schrieb Puschkin an W.L. Dawydow: „Der erste Schritt Al(exander) Ypsilantis ist großartig und glänzend. Er hat glücklich begonnen - von heute an gehört er, als Toter oder als Sieger, der Geschichte an - 28 Jahre alt, eine abgerissene Hand, ein hochherziges Ziel! - ein beneidenswertes Los" (III, S. 24). Die Menschen leben dafür, ihre Namen in das Buch der Geschichte eingeschrieben zu sehen, und nicht, um vom Zaren einige hundert Seelen zu erbitten. So wächst in den Kinderzimmern ein neuer psychologischer Typus heran. Es mag Erstaunen hervorrufen, aber sogar die abgerissene Hand Ypsilantis erscheint dem jungen Puschkin als beneidenswertes Zeugnis einer heroischen Tat. Puschkin gehört zu der Generation, die nach Heldentaten lechzt und nicht den Tod fürchtet, sondern die Unbekanntheit. Das Verlangen nach Ruhm ist ein allgemein verbreitetes Gefühl, aber bei den Angehörigen der Epoche der Dekabristen verwandelt es sich in Freiheitssehnsucht. Uber seinen Helden in dem Gedicht „Der Gefangene im Kaukasus" schrieb Puschkin: Freiheit! Dich allein suchte er noch in der öden Welt. Damit machte er seinen Helden zum Wortführer einer ganzen Generation. Dieser charakteristische Zug der Zeit brachte es mit sich, daß das romantische Freiheitsverlangen auch die Frauen erfaßte. Auf dem Senatsplatz am 14. Dezember wird es keine Frauen geben. Aber dieser Tag wird nicht nur für ihre Männer, Brüder und Söhne, sondern auch für sie zum Ende ihrer romantischen Jugend werden. Die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts räumten, wie wir gesehen haben, der Frau einen besonderen Platz in der russischen Kultur ein, was damit zusammenhing, daß der Charakter
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der Frau in jenen Jahren wie nie zuvor von der Literatur geformt wurde. In ebenjener Zeit bildete sich die Vorstellung von der Frau als einem der sensibelsten Wortführer der Epoche heraus, eine Auffassung, die später auch LS. Turgenjew vertrat, und die zu einem Charakterzug der russischen Literatur des 19. Jahrhunderts wurde. Besonders hervorzuheben ist aber die Tatsache, daß die Frau sich ständig und aktiv Rollen aneignete, die ihr von Gedichten und Romanen vorgegeben wurden. Auch das ist ein Grund dafür, daß wir, die Zeitgenossen Shukowskis oder Rylejews betrachtend, die alltägliche und die psychologische Realität ihres Lebens durch das Prisma der Literatur bewerten können. Die literarischen Helden werden zu Helden des Lebens. So läßt sich beispielsweise die Rolle nachweisen, die K.F. Rylejews Gedicht „Woinarowski" bei der Herausbildung der Verhaltensweisen der Dekabristen spielte. Auch das Frauenbild verlieh der Literatur einen positiven Helden. Gerade hier wurde ein künstlerischer, aber auch lebensnaher, Stereotypus geschaffen: Der Mann ist die Verkörperung aller sozial typischen Mängel, die Frau dagegen verkörpert das allgemeine Ideal. Diesen Stereotypus zeichnet nicht nur A k tivität, sondern auch Standhaftigkeit: Mehrere Generationen russischer Frauen lebten nicht nur den „Heldinnen" Rylejews, Puschkins und Lermontows nach, sondern später auch denen Turgenjews und Nekrassows. Das Ende der uns interessierenden Epoche schuf drei Stereotypen von Frauenbildern, die aus der Poesie in die Mädchenideale und in die realen Lebensläufe von Frauen eingingen und später, in der Ära Nekrassows, aus dem Leben in die Poesie zurückkehrten. Das erste Bild, aus dem Leben Shukowskis in seine Poesie übergegangen, ist das der Schwestern Protassowa (von ihnen war bereits die Rede). Es ist das Bild einer zärtlich liebenden Frau, deren Leben und Gefühl zerstört wurden. Sie ist mit idealischen Gefühlen ausgestattet, poesievollem Naturell, Zärtlichkeit und seelischer Sensibilität. Ihre Seele, ihre Gesundheit, ihr Leben werden durch die Grausamkeit der Gesellschaft zugrunde gerichtet. Seinem Schicksal ausgeliefert kommt das poetische Kind um. Dieses Ideal ließ bei den Zeitgenossen das Bild eines Engels erstehen, der, zufällig auf die Erde geraten, wieder in seine himmlischen Gefilde zurückkehrt. Das andere Ideal ist der dämonische Charakter. In der Literatur, wie auch im Leben, wurde er zum Beispiel mit dem kühnen Bild eines ,anarchischen Kometen' assoziiert, der unerschrocken über alle vom Mann aufgerichteten Konventionen hinweggeht. Man darf das Gesellschaftsleben im Rußland des 19. Jahrhunderts nicht als etwas Einheitliches betrachten. Obwohl die idealisierten Verhaltensnormen, die einer Dame auferlegt wurden und den Verhaltenskodex der vorrevolutionären französischen Gesellschaft mit der Petersburger Prüderie zu vereinigen suchten, streng genug waren, bewies das Leben auch hier eine bemerkenswerte Vielfalt. Zum Beispiel stand die arrogante Kühle der Petersburger Gesellschaft in einem starken Kontrast zu der Frei-
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zügigkeit und Unbefangenheit der „Moskauer Verhaltensweisen", und die bei Festen auf dem Lande goutierten Freiheiten waren auf einem Ball oder bei privaten Gesellschaftsabenden in der Hauptstadt absolut undenkbar. Nach einem vertraulichen Gespräch im Garten heißt es von Tatjana und Onegin: Gingen sie zurück mit müden Schritten, Zusammen kamen sie ins Haus, Und niemand machte Wesen draus: Das Land hat schöne, freie Sitten, Die es mit gleichem Recht bewahrt, Wie Moskau seine Großstadtart. (4, XVII) Besonders in Moskau ließ die gute Gesellschaft bereits im 18. Jahrhundert Originalität und Individualität im weiblichen Charakter gelten. Nur in Moskau gab es Frauen wie N.D. Ofrosimowa, deren ungewöhnliches Benehmen L. Tolstoi (M.D. Achrosimowa in „Krieg und Frieden") und Gribojedow (die Chlestowa in „Verstand schafft Leiden") faszinierten. Es gab aber auch andere Frauen, die sich ein skandalöses Benehmen herausnahmen und offen gegen die Regeln des Anstands verstießen. Bis zur Epoche der Romantik wurden sie entweder als unverfänglich oder als skandalös die Grenzen der kulturellen Norm überschreitend empfunden. Für die Denkweise der Gesellschaft existierten sie überhaupt nicht. In der Epoche der Romantik wurden diese ,ungewöhnlichen' Frauencharaktere zu einem Bestandteil der Kulturphilosophie und gleichzeitig des Modischen. In der Literatur und im Leben bildet sich die Gestalt der ,dämonischen' Frau heraus, die gegen alle Regeln verstößt, die die Konventionen und die Unaufrichtigkeit der besseren Gesellschaft mißachtet. In der Literatur dringt das Ideal der dämonischen Frau aktiv in den Alltag ein, und es entsteht eine ganze Galerie von Frauengestalten, die die Normen des ,anständigen' Gesellschaftsverhaltens verletzen. Dieses Bild steht in einer Reihe mit dem des aufbegehrenden Mannes. Puschkin führt uns in seiner Poesie den „Bürger mit der edlen Seele" vor und „die Frau, die nicht mit kühler Schönheit uns bestrickt,/ sondern mit Flammenglut, mit Zauber und Lebendigkeit entzückt". Dieser Charakter wird zu einem der vorherrschendsten Ideale der Romantiker. Dabei entstehen höchst ambivalente Beziehungen zwischen der ,dämonischen' Frau in der Realität und in der Literatur. Agrafena Fjodorowna Sakrewskaja (1800-1879), die Gattin des Finnischen Generalgouverneurs, ab 1828 Außenminister und nach 1848 Militärgouverneur von Moskau, A.A. Sakrewski, war eine extravagante Schönheit und berüchtigt wegen ihrer skandalösen Beziehungen. Ihre Gestalt erregte die Aufmerksamkeit der bedeutendsten Poeten. Puschkin schrieb über sie (in dem Gedicht „Das Porträt"):
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Mit ihrer Seele Feuermal, Mit ihrer Leidenschaften Wahn, Zieht unter euch sie ihre Bahn, Frauen des Nordens, manches Mal; Was Sitte, Brauch, berührt sie kaum, Und mit des Irrsterns Leidenschaft Durchquert sie grell der Sterne Raum, Verzehrt sich selbst mit aller Kraft. Auch Puschkins Gedicht „Die Vertraute" ist ihr gewidmet. Wjasemski nannte die Sakrewskaja die „eherne Venus". Und E. Baratynski schuf dieses Bild der tragischen und dämonischen Schönen: Was hast du in so kurzer Zeit Alles durchlebt, durchfühlt, gewonnen! Im Sturm heißer Begehrlichkeit Ist mancher Traum schrecklich zerronnen! Sklavin peinigender Träume, Seelenleer und voller Sehnen, Was noch mit der Seele machen? Weinst der Magdalena Tränen, Lachst der Wassernixe Lachen!20 A. Sakrewskaja war auch das Vorbild für die Fürstin Nina in Baratynskis Gedicht „Der Ball". Und schließlich bediente sich, wie N . Weressajew vermutet, auch Puschkin ihrer für die Gestalt der Nina Woronskaja im 8. Kapitel des „Eugen Onegin". Nina Woronskaja, eine attraktive, extravagente Schönheit, „Kleopatra der Newa", ist das Idealbild einer romantischen Frau, die sich über alle Grenzen des Anstands und der Moral hinwegsetzt. Es versteht sich von selbst, daß die Sakrewskaja sich in ihrer ganzen Lebensart an die ihr nachgebildeten Gestalten hielt, die Puschkin, Baratynski und andere Poeten geschaffen hatten. Eine völlig anders gelagerte leidenschaftlich zehrende Erfahrung wurde für Puschkin eine andere ,dämonische' Liebe. Diese Geschichte besaß zwei reale Seiten, denn sie wurde aus zwei Blickwinkeln gesehen, aus dem einer politischen Bespitzelung und aus dem Puschkins. Beide Versionen sind romantisch, obwohl ihre Romantik auf zwei entgegensetzten Aspekten basiert. Von einem dritten, biographischen Aspekt aus gesehen, stellte sich die Angelegenheit so dar. Der polnische Aristokrat Adam Rjewuski hatte sich auf eine romantische Heirat mit einer gefangengenommenen Griechin eingelassen. Die Geschichte dieser Heirat enthielt alles, was uns aus den Gedichten Byrons und seiner Nachfolger bekannt ist: Die Frau, eine gekaufte Sklavin, Abenteuer, Verbrechen, und im Ergebnis - zwei Töchter von unvergleichlicher Schönheit, sogar in dieser an bezaubernden Frauen reichen Epoche. Von den Eltern ist jedoch außer der Schönheit, Heim-
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tücke und einem gewissen angeborenen Hang zu Verrat und Abenteuer nichts auf die Mädchen übergegangen. Puschkin und A. Mickiewicz sahen in den Schwestern Byronsche Heldinnen, tatsächlich jedoch waren sie eher dämonische Balzac-Gestalten. Eine der Schwestern (Evelyna) wurde später wirklich die Gattin Balzacs und zu einem Bestandteil seiner künstlerischen Biographie. Die zweite (Karolina), eine verehelichte Sobanska, spielte eine unheilvolle Rolle im Leben Puschkins. Karolina Sobanska begegnete Puschkin während der Zeit seiner Verbannung im Süden Rußlands. Ihr abenteuerliches Schicksal war ihr zu dieser Zeit schon vorgezeichnet. Bereits von ihrem Ehemann getrennt, führte die Sobanska in Odessa ein haarsträubendes Leben. Seit 1821 lebte sie in unverhülltem Konkubinat mit dem Chef der südlichen Militärverwaltung, dem Generalleutnant I.O. Witt, und trug ihren Ehebruch offen zur Schau. Dieses Benehmen galt zwar als skandalös, paßte sich jedoch in das allgemeine romantische Bild einer dämonischen Schönheit ein. Sie war aber nicht nur Witts Geliebte, sondern auch seine Agentin. Der Generalleutnant Witt war eine der übelsten Figuren in der Geschichte der russischen politischen Bespitzelung. Nicht nur von Dienst wegen ein Spion, sondern auch aus Neigung, hegte er weitgehende, ehrgeizige Pläne. Auf eigene Initiative begann er eine Reihe von Dekabristen zu bespitzeln: A.N. und N.N. Rajewski, M.F. Orlow und andere. Ein besonders kompliziertes Verhältnis hatte er zu P. Pestel. Pestel durchforschte die Militärsiedlungen nach Möglichkeiten, sie den Zielen seiner geheimen Gesellschaft nutzbar zu machen. Er erkannte zwar deutlich das Abenteurertum und den schurkischen Ehrgeiz Witts, aber er neigte auch dazu - und das wurde ihm von den Dekabristen vorgeworfen! - , die Mittel des Kampfes für die Ziele der Gesellschaft von den strengen moralischen Ansprüchen zu trennen. Pestel war bereit, Witt ebenso zu benutzen, wie er später aus dem Defraudanten I. Maiboroda ein gefügiges Werkzeug der Gesellschaft zu machen hoffte. Der mißtrauische Alexander I. zögerte das Avancement Pesteis hinaus, indem er ihm kein eigenes militärisches Kommando übergab. Ohne dieses verlor jedoch jeglicher Aufstandsplan seine Basis. Pestel beschloß, sich Witts zu bedienen und dessen Tochter, eine alte Jungfer, zu heiraten, um die südlichen Militärsiedlungen in die Hand zu bekommen. In diesem Falle würde sich der ganze Plan des südlichen Aufstands auf eine Revolte der Siedler stützen können, von deren „explosiver Stimmung" Pestel vollkommen überzeugt war. Das gegenläufige ,Spiel' Witts bestand nun darin, in den Kern der Verschwörung einzudringen, die er mit der Intuition eines Spitzels spürte. Nachdem ihm Berichte über die Verschwörung in der Süd-Armee zu Ohren gekommen waren, beabsichtigte er, diesen Trumpf in einem komplizierten, abenteuerlichen Plan auszuspielen, der darin bestand, Pestel Alexander auszuliefern oder Alexander Pestel.
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Sowohl Alexander I. als auch Pestel verachteten Witt und suchten seine Unterstützung nur mit Widerwillen. Beide jedoch unterdrückten ihren Abscheu zugunsten des Spiels, das sie spielten. U n d das Schicksal nahm seinen eigenen Verlauf: Alexander übergab Pestel ein Regiment, und die Hinwendung Pesteis zu Witt wurde unnötig. Die weitgehenden Pläne Witts beschränkten sich jedoch nicht nur auf seine Beziehungen zu Pestel. Auch Puschkin und Mickiewicz gerieten in das Blickfeld seiner besonderen Interessen. Hatte er vor, Pestel durch die Aussicht, die Militärsiedlungen als,Mitgift' in die Hand zu bekommen, anzulocken, so sollte der Anreiz für Puschkin und Mickiewicz ein anderer sein. Mittel zum Zweck war ihm dabei Karolina Sobanska. Beide Poeten waren in einem sie verzehrenden Gefühl für die Abenteurerin befangen. Puschkin durchlebte im Süden eine tiefgehende echte Leidenschaft, und noch lange danach erfaßten ihn immer wieder einmal zeitweilige Paroxismen dieser Leidenschaft. Einige Monate vor der kirchlichen Trauung mit Natalja Nikolajewna Gontscharowa am 2. Februar 1830, war ihm die Sobanska in Petersburg wiederbegegnet, und er schrieb ihr in französisch den folgenden Brief: „Heute jährt sich zum neuntenmal der Tag, an dem ich Sie zum erstenmal sah. Dieser Tag war entscheidend für mein ganzes Leben. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß meine Existenz untrennbar mit der Ihren verbunden ist; ich bin geboren, um Sie zu lieben und Ihnen zu folgen - jedwede andere Besorgnis meinerseits ist nur Verirrung oder Unbesonnenheit; fern von Ihnen, quält mich nur der Gedanke an das Glück, das ich nicht genießen konnte. Früher oder später werde ich gezwungen sein, alles abzuwerfen und Ihnen zu Füßen zu sinken. In all meinen düsteren Melancholien erhält und belebt mich allein der Gedanke daran, daß irgendwann ein Fleckchen Erde auf der Krim (?) mein sein wird. Dort werde ich dann Wallfahrten unternehmen, um Ihr Haus streichen, wandern, Ihnen begegnen, Sie flüchtig sehen..." (XIV, 399).
D e r Brief wurde nicht abgeschickt, weil Puschkin am gleichen Tag von der Sobanska ein in kaltem, abweisendem T o n geschriebenes Billet erhielt, das ihr Rendezvous verschob. Sowohl der T o n als auch der Inhalt des Billets machten sich über Puschkins Ungeduld lustig: die Sobanska setzte ihr früheres Spiel fort. D i e Antwort war ein ärgerlicher Brief des Poeten, in dem Leidenschaft und Gereiztheit ineinanderflössen: „Sie lachen über meine Ungeduld, als würde es Ihnen Vergnügen bereiten, meine Erwartungen zu enttäuschen; so werde ich Sie also erst morgen sehen - möge es so sein. Inzwischen kann ich nur an Sie denken. Obwohl es für mich Glück sein wird, Sie zu sehen und zu hören, ziehe ich es vor, nicht zu reden und Ihnen erst einmal zu schreiben. Sie besitzen eine Ironie und eine Gewitztheit, die einen reizt und zur Verzweiflung treibt. Empfindungen werden zur Qual, und aufrichtige Worte verwandeln sich in Ihrer Gegenwart in leere Wortspiele-
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der zweifelt
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wie es in der
Das letzte Mal haben Sie grausam über die Vergangenheit gesprochen. Sie sagten mir etwas, woran nicht zu glauben ich mich lange bemüht hatte - ganze sieben Jahre lang. W o z u ? Das Glück ist so wenig für mich geschaffen, daß ich es nicht erkannte, als es vor mir stand. Reden Sie doch, um Gotteswillen, nicht davon. Gewissensbisse, wenn ich sie empfinden könnte, -Gewissensbisse wären noch irgendeine Lust - eine ähnliche Art von Melancholie riefe in der Seele nur grimmige und gotteslästerliche Gedanken hervor. Teure Eleonora, erlauben Sie mir, Sie bei diesem Namen zu nennen, der mich sowohl an die glühende Lektüre meiner frühen (?) Jahre, als auch an das zärtliche Trugbild erinnert, das mich damals lockte, und an die Ihnen eigentümliche grausame und ungestüme Existenz, die sich so ganz von dem unterscheidet, was sie eigentlich sein soll. Teure Eleonora, Sie wissen, ich habe Ihre ganze Macht über mich ertragen. Ich fühle mich Ihnen auch deshalb verpflichtet, weil ich all das erfahren durfte, was es an Gewaltsamem und Qualvollem im Liebestaumel gibt, und auch das N i e derschmetternde, das ihm inne wohnt. V o n alldem ist mir nur die Unsicherheit des Genesenden geblieben, eine sehr zärtliche, sehr aufrichtige Zuneigung und ein wenig Scheu, die ich nicht überwinden kann. Ich weiß nur zu gut, was Sie denken werden, wenn Sie irgendwann das hier lesen - wie unbeholfen er doch ist - er schämt sich für Vergangenheit - das ist alles. E r verdient es, daß ich von neuem über ihn lache. Er ist voller Eigendünkel, wie sein Gebieter, der Satan. Nicht wahr? Aber ich wollte, als ich zur Feder griff, Sie um etwas bitten - doch jetzt weiß ich nicht mehr worum - ach ja - um Freundschaft. D a ist eine sehr banale Bitte, sehr... Das ist gleichsam, wie wenn ein Bettler um Brot bittet, nur daß ich Ihre Nähe brauche. Und Sie sind noch immer genauso schön wie am Tage der Uberfahrt oder bei der Taufe, als Ihre Finger meine Stirn berührten. Diese Berührung spüre ich bis heute, eine kühle, benetzende. Sie verwandelte mich in einen Katholiken. - Aber Sie werden welken; diese Schönheit wird irgendwann (?) zerfallen wie eine Lawine. Ihre Seele wird sich noch eine Zeitlang inmitten der vielen dahingehenden Reize erhalten - und danach verschwinden, und vielleicht wird meine Seele, ihre (?) scheue Sklavin, ihr in der grenzenlosen Ewigkeit nie mehr begegnen. Aber was ist die Seele? Sie ist ohne Blick, hat keine Melodie - eine Melodie vielleicht doch..." ( X I Y , S. 4 0 0 - 4 0 1 ) .
Puschkin hatte Eleonore, die Heldin aus Benjamin Constants „Adolphe", vor Augen, aber er hatte es mit einer Spionin zu tun, mit einer Geheimagentin der Polizei. Die Gestalt des Spions war von der romantischen Literatur, von Eugene Sue bis Victor Hugo, in das Register der dämonischen Personnage aufgenommen worden. Aber Karolina Sobanska war keiner
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der prosaischen Polizeiagenten, die uns aus der Epoche Nikolais I. bekannt sind; ihr Verhalten war von einer eigentümlichen Dämonie geprägt. Puschkin jedoch erinnerte sie an ganz andere literarische Heroinen... ...Die Gestalt einer bezaubernden, verbrecherischen Spionin konnte die Einbildungskraft der Romantiker fesseln, aber die III. Abteilung hatte keine Verwendung für romantische Spioninnen. Eine Verständigung mit Benckendorff gelang später der Polin Karolina Sobanska nicht, sie fiel in Ungnade, wurde propolnischer Beziehungen bezichtigt und aus Rußland ausgewiesen. Puschkins Brief ist auf französisch geschrieben und trägt die stilistischen Züge des französischen Romans. Die Entscheidung für diese Sprache hat prinzipielle Gründe. Erinnern wir uns, wie in „Anna Karenina" in dem Moment, als die Gefühle der Heldin sich bereits geklärt hatten, die Beziehung sich jedoch noch in der Schwebe befand, es für Anna und Wronski unmöglich war, miteinander russisch zu sprechen: das russische „Sie" wäre zu kalt gewesen, und das „ D u " bedeutete eine gefährliche Nähe. Die französische Sprache verlieh dem Gespräch die Neutralität einer harmlosen Unterhaltung, die sich je nach der sie begleitenden Geste, dem Lächeln, der Intonation, auf unterschiedliche Weise deuten ließ. Eine andere, für die Briefe des russischen Adligen charakteristische Besonderheit ist die häufige Verwendung literarischer Zitate. Das Zitat bot die Möglichkeit, dem Text eine gewisse inhaltliche Unbestimmtheit zu verleihen und ihm einen breiten Spielraum zwischen romantischem Pathos und Sternescher Ironie einzuräumen. Puschkin nutzt die stilistischen Möglichkeiten des Briefes weitgehend aus. Und die Fülle literarischer Reminiszenzen beeinträchtigt durchaus nicht das aufrichtige und bewegte Gefühl. Das Zitat setzt die Aufrichtigkeit nicht herab, es ermöglicht lediglich eine weitergehende Schattierung seines Sinnes. Der kindlich aufrichtige Brief Tatjanas an Onegin, sowie der von tragischer Leidenschaft erfüllte Brief Onegins an Tatjana im 8. Kapitel, lassen sich (wie die Kommentatoren vermerkten) leicht in Zitate auflösen. Durchgängig aus Zitaten besteht auch Lenskis Todeselegie, was die Literarhistoriker in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts veranlaßte, die ganze Episode zum Gegenstand einer literarischen Polemik zu machen. Die romantische Epoche verwendete, wie es auch andere Epochen taten, Zitate als Worte der natürlichen Sprache: Wir werden doch einen Menschen nicht allein deshalb der Unaufrichtigkeit bezichtigen, weil er im Gespräch Worte benutzt, die bereits vor ihm von anderen Menschen gebraucht wurden. Mit der Verwendung von Zitaten stellte sich der Mensch der romantischen Epoche gleichsam auf eine Ebene mit dem literarischen Helden. Und so wäre es auch verfehlt, etwa den General Rajewski der Unaufrichtigkeit zu zeihen, weil er, in der Schlacht bei Leipzig verwundet, seinem Adjutanten, dem Dichter Batjuschkow, auf französisch Verse aus Voltaires Tragödie „Eriphyle" zitierte. *
Ausführlicher über diese Episode siehe das Kapitel: „Lebensbilanz".
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D e r erste Brief Hermanns in der „Pique D a m e " war „zärtlich, ehrerbietig und W o r t für W o r t aus einem deutschen R o m a n entlehnt". I m „Schneesturm" erklärt Burmin seine Liebe, und seine Liebeserklärung ruft bei der Heldin literarische Assoziationen hervor („Maria erinnerte sich an den ersten Brief von St.-Preux"). Es könnte für uns den Anschein haben, wir hätten es mit ein und derselben Erscheinung zu tun, tatsächlich jedoch stoßen wir auf entgegengesetzte Situationen, und Puschkin trennt sie deutlich voneinander. Formal unterscheiden sie sich dadurch, daß Hermann seinen Brief vollständig abschreibt. Sein T e x t spiegelt seine persönlichen Gefühle nicht wider. Puschkin weist speziell darauf hin, daß später, wenn aus Hermann die echte Leidenschaft sprechen wird, dessen Briefe „schon nicht mehr aus dem Deutschen übersetzt" sind. I m „Schneesturm" jedoch wiederholt Burmin nicht einen vom ersten bis zum letzten Buchstaben einstudierten Text, er improvisiert seine Erklärung, wobei er sich „einbildet", ein Held „seiner Lieblingsautoren" zu sein. Im ersten Falle schreibt Hermann in einer für ihn fremden Sprache und äußert somit falsche Gefühle, im zweiten Fall wählt der Held eine gehobene literarische Sprache, um den treffendsten Ausdruck für seine hochherzigen Gefühle zu finden. A m Ende des Dramas „Der Wald" von A . N . Ostrowski hält Nestschastliwzew einen pathetischen M o n o l o g aus Schillers Drama „Die Räuber": „Menschen, Menschen! Falsche heuchlerische Krokodilsbrut! Ihre Augen sind Wasser! Ihre Herzen sind Erz! Küsse auf den Lippen! Schwerter im Busen!" D e r nun auftretende vornehme Milonow begreift nicht, daß es sich um Zitate handelt, und er bezichtigt Nestschastliwzew des Rebellentums. Darauf antwortet Nestschastliwzew: „Ich fühle und rede wie Schiller, du aber wie ein Amtsschreiber!" Was zur Zeit Ostrowskis die Bestimmung der Kunstschaffenden, der Schauspieler, war, gehörte in der romantischen Epoche zum alltäglichen aristokratischen Bewußtsein. Tatjana, Onegin, Lenski und andere literarische Helden, wie auch eine Vielzahl von Helden im wirklichen Leben, formten ihr Bewußtsein und ihre Person, indem sie sich „fremdes Leid und fremde Lust" zu eigen machten. Ihre gewöhnlichen Gefühle schwangen sich zu denen der literarischen Vorbilder auf. Puschkins Brief an die Sobanska ist ein treffendes Beispiel dafür. W e r sagt: „Das ist einer der leidenschaftlichsten Briefe, die Puschkin je geschrieben hat" wird recht haben. U n d wer sagt: „Das ist einer der literarischsten Briefe Puschkins", wird ebenfalls recht haben. W e r aber Unaufrichtigkeit in dem Brief zu entdecken meint, der irrt. L. Tolstoi wird später Zitieren und Unaufrichtigkeit gleichsetzen. Ihn wird die Struktur der unaufrichtigen Rede beschäftigen, und eines ihrer Merkmale wird für ihn immer die Verwendung von Zitaten und literarischen Formulierungen sein. Ihr wird die Unmittelbarkeit gegenübergestellt: „spintisieren", „Du phantasierst...", wie Akim in „Die Macht der
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Finsternis" sich ausdrückt. „Der ausgesprochene Gedanke ist eine Lüge", das ist Tolstois ureigenste Uberzeugung. Aber die Epoche urteilte anders. Die Wahrheit ist in den erhabenen und heroischen Texten zu finden, in den Worten, Gesten und Taten bedeutender Menschen. U n d der Mensch nähert sich der höheren Wahrheit, in dem er diese erhabenen Muster wiederholt. Ein Beispiel dafür sind die Helden der Französischen Revolution, die sich Namen .berühmter' Römer zulegten und sich als deren lebendige Verkörperung begriffen. Heinrich Heine schrieb das typisch romantische Gedicht „N...": Nun ist es Zeit, daß ich mit Verstand Mich aller Torheit entled'ge; Ich hab so lang als ein Komödiant Mit Dir gespielt die Komödie. Ich hab mit dem Tod in der eignen Brust Den sterbenden Fechter gespielet. Heine gibt eine typisch romantische Situation wieder: Leben und Literatur fließen ineinander, sie wechseln ihre Plätze, das Spiel geht über in den Tod. Das Zitat verwandelt sich in einen wahrhaft seelischen Aufschrei, und die realen Leiden lassen sich am prägnantesten durch die Worte des Zitats wiedergeben. Als Puschkin 1830 die Sobanska wiedersah, erlebte er einen Rückfall in eine vermeintlich überwundene Liebe und gleichzeitig das Verlangen nach einer tollkühnen, kurzentschlossenen Tat. So stellte sich ihm die Frage, entweder ohne Erlaubnis auf die Krim zu fliehen und sich der leidenschaftlich geliebten Frau zu Füßen zu werfen oder ein gutaussehendes Mädchen ohne Lebens- und Welterfahrung, ohne Geld und, wie es den Anschein hatte, auch ohne Liebe zu ihm, zu heiraten. Beide Möglichkeiten waren eine Art Sujet-Synonym; gleich einem Sprung von großer Höhe in ein dunkles Wasser, schnitten sie den Weg zurück in die Vergangenheit ab und bedeuteten den Beginn von etwas absolut Neuem, ein verzweifeltes Risiko, mit dem er sowohl sein Glück als auch sein Leben auf eine Karte setzte. Beide Möglichkeiten verlangten Entschlossenheit. Aber diese angespannte Aufrichtigkeit äußert sich bei Puschkin in vorgeformten literarischen Sätzen, und w i r können nicht einmal sagen, was hier das Vorrangige ist. Die Worte „das Glück ist so wenig für mich geschaffen" erinnern unweigerlich die Worte Onegins: „Aber ich bin nicht für die Glückseligkeit geschaffen". Es lassen sich auch andere Parallelen anführen. Aber das Problem besteht nicht in der Sache selbst, sondern in der allgemeinen Parallelität der Worte und Formulierungen, mit denen das leidenschaftliche Gefühl im Leben und in der Literatur ausgedrückt wird. Das dritte typisch literarisch-alltägliche Bild der Epoche ist die Frau als Heroine. Sein charakteristischer Zug ist das Gefangensein in einer Situati-
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on des Widerspruchs zwischen dem Heroismus der Frau und der geistigen Schwäche des Mannes. Der Beginn einer solchen Darstellung findet sich wohl zuerst bei A.N. Radistschew, der in seinem Gedicht „Historisches Lied" (1795-1796) die Gestalt einer heroischen Römerin einführt, die durch das eigene Beispiel, den Selbstmord, den schwachgewordenen Gatten ermutigt. Von besonderer Bedeutung ist dabei, daß Radistschew in dem heldenmütigen Selbstmord eine bürgerliche Tugend sah: der zum Tod bereite Mensch fürchtet schon nicht mehr die Macht des Tyrannen. Im „Historischen Lied" beschreibt der Poet eine in der russischen Kultur wenig bekannte Episode aus der römischen Geschichte, die er zum Vorwand für das Entwickeln eigener Ideen nimmt. Im Jahre 42 n.Chr. war der Römer Cecina Pet wegen seiner Teilnahme am Kampf gegen die Tyrannei des Kaisers Claudius zum Tode verurteilt worden. U m ihm die Schande zu ersparen, überredete Pets Frau Aria ihn, sein Leben durch Selbstmord zu beenden, und um seine Unentschlossenheit zu überwinden, stieß sie sich den Dolch zuerst in die eigene Brust und reichte ihn dann ihrem Gatten mit den Worten: „Es schmerzt nicht, nein": Da riet mit heldenmüt'gem Sinn Die Gattin dem zum Tod verdammtem Teuren Gatten, Mit kräft'ger Hand zuvorzukommen Der Schmach des Todes durch den Henker, Doch furchtsam zaudert der. Da bohrt den scharfen Stahl Aria mutig in die eigne Brust: „Sieh, mein geliebter Pet, Es schmerzt nicht, nein...", Und Pet ermannt sich, stößt den Dolch In seine Brust und fällt mit ihr. Damit wandte sich, auch in der späteren russischen Literatur, das Interesse der heroischen Frau zu: Marfa Possadniza (Karamsin, F. Iwanow), die Jungfrau von Orleans (Shukowski), und wir erinnern uns auch an entsprechende Gestalten in der Poesie Lermontows und in der Prosa A.A. Bestushew-Marlinskis.
* Es ist möglich, daß Radistschew auf diese Episode durch ein Ereignis aufmerksam wurde, das dem Verfassen des Textes unmittelbar vorangegangen war. Die letzten Jakobiner, Gilbert Romm und seine Gesinnungsfreunde, entgingen, sich gegenseitig ermutigend, der Hinrichtung deshalb, weil sie durch einen Dolch starben, den sie einander weiterreichten. (Zur Datierung des Gedichts 1 7 9 5 - 1 7 9 6 siehe: Radistschew, A . N . Gedichte. Leningrad, 1975, S. 244-245).
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Erster Teil
Die Geschichte der Kultur wird der Tradition gemäß gewöhnlich vom ,männlichen Standpunkt' aus geschrieben. Das 18. Jahrhundert läßt sich in dieser Tradition nicht unterbringen. Zwischen dem ,männlichen' und dem ,weiblichen' Blickpunkt gibt es einen durchaus nicht nur durch die elementaren biologischen Eigenschaften zu begründenden Unterschied. Der Historiker, der die aus einer ,männlichen Position' heraus geschriebenen Quellen zugrundelegt, hat eine Welt aus ,fertigen' Menschen vor Augen. Er sieht die historischen Charaktere von den Ergebnissen her und nicht im Prozeß ihres Werdens, seinem Blick stellen sich die Menschen als eine Kette von Resultaten dar, ähnlich wie in einem Museum, in dem die unbeweglichen Figuren in chronologischer Folge aufgestellt sind. Wo vom Menschen gesprochen wird, sieht der ,weibliche Standpunkt' vor allem erst einmal das Kind und später erst den Prozeß seiner Herausbildung. Der ,männliche Standpunkt' hebt die Taten eines Menschen hervor, all das, was er vollbracht hat; der weibliche dagegen all das, was er hätte vollbringen können, aber eingebüßt oder nicht zuendegebracht hat. Der männliche Standpunkt rühmt das Vollbrachte, der weibliche trauert dem Unterlassenen nach. Das hat Blok sehr genau gespürt: Sing mir, Mary, von fernen Sternes Art, vom Leben sing, in dem ich einsam ausgeharrt, Und sing von dem, was nicht vollbracht. 21
So gesehen ist die Frauenkultur nicht nur eine Kultur der Frauen. Sie ist eine besondere Betrachtungsweise der Kultur, ein unerläßliches Element ihrer Vielstimmigkeit. In seinem unvollendetem „Roman in Briefen" denkt Puschkin mit den Worten seiner Heldin über den Unterschied der Funktionen der sogenannten männlichen und weiblichen Kultur nach. In einem Brief an eine Freundin äußert Lisa Gedanken, die durch die Lektüre eines Romans aus dem vergangenen Jahrhundert in ihr hervorgerufen wurden: „Die Lektüre Richardsons veranlaßte mich zum Nachdenken. Was besteht doch für ein schrecklicher Unterschied zwischen den Idealen der Großmütter und der Enkelinnen. Was gibt es an Gemeinsamem zwischen Lovelace und Adolphe? Die Rolle der Frauen ändert sich indessen nicht. Clarissa jedoch ist, mit Ausnahme des zeremoniellen Knickses, der Heldin in den neuesten Romanen sehr ähnlich. Deshalb hängen beim Mann vielleicht die Arten zu gefallen, von der Mode ab, von einer Augenblicksstimmung... bei einer Frau aber gründen sie sich auf das Gefühl und die Natur, die ewig sind". Es ist jedoch interessant, daß Puschkin die Auffassung, die hier als „weiblich" charakterisiert wird, an anderer Stelle zu seiner eigenen macht und damit den Gedanken über die Ähnlichkeit der Wahrnehmung der Welt durch die Frauen, die sich einen natürlichen Geschmack erhalten haben, und durch
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die Poeten begründet. Hiermit ersetzt Puschkin die Antithese vom m ä n n lichen' und ,weiblichen Standpunkt' durch eine Gegenüberstelllung von Historischem und Ewigem. Der sogenannte weibliche Standpunkt wird zur Verwirklichung des Ewig-Menschlichen. Es ist bezeichnend, daß Puschkin sich hier dem von ihm zu jener Zeit tief erlebten Dante annähert, in dessen „Göttlicher Komödie" die mit politischer Aktualität getränkten Höllenszenen von Vergil geschildert werden, der Ubergang zu den ewigen Werten aber einen anderen Beurteiler erfordert: An die Stelle Vergils tritt Beatrice.
FRAUENBILDUNG
D i e Frage nach dem Standort der Frau in der Gesellschaft stand in einem engen Zusammenhang mit ihrer Bildung. Das vom Geist der Lehre durchdrungene petrinische Staatswesen, der Staat, dessen Zar schrieb: „Ich verlange, daß ordentlich gelehrt und gelernt wird", sah sich natürlich auch den Fragen nach der weiblichen Ausbildung gegenübergestellt. Wissen wurde traditionsgemäß den Privilegien der Männer zugerechnet, und es entstand nun das Problem des Stellenwertes, den die weibliche Bildung in der von Männern geschaffenen Gesellschaft einnehmen sollte. Nicht nur das Staatswesen, auch das öffentliche Leben war auf die Männer zugeschnitten: die Frau, die Ansprüche auf einen ernstzunehmenden Platz in der kulturellen Sphäre erhob, eignete sich folglich einen Teil der ,männlichen Rollen' an. U n d in der Tat war das ganze Jahrhundert geprägt vom Kampf der Frau für ihr Recht auf einen Platz in der Kultur, ohne dabei das Recht auf ihre Weiblichkeit zu verlieren. In der ersten Zeit war es der Staat, der die Einbeziehung der Frauen in das Bildungswesen anregte. N o c h zu Beginn des Jahrhunderts, während der Herrschaft Peters I., wurde auf eine recht ausgefallene Weise die für das Leben einer Frau so wichtige Frage wie die der Heirat mit der Bildung verknüpft. In einem besonderen Ukas ordnete Peter an, den des Lesens und Schreibens unkundigen adligen jungen Mädchen, die nicht einmal ihren Familiennamen schreiben konnten, die kirchliche Trauung zu versagen. So wurde, jedenfalls vorerst und auf eine bestimmte und eigenartige Weise, das Problem der weiblichen Bildung akut. Wir haben schon davon gesprochen, daß es unrichtig wäre anzunehmen, vor Peter seien alle Frauen Analphabetinnen gewesen. Als bei Ausgrabungen in Nowgorod Birkenrindenschriften entdeckt wurden, auf Birkenrinde gekritzelte Notizen aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert, war es offensichtlich: Diese Notizen (und viele sind von Frauen geschrieben oder waren an sie gerichtet) waren nicht für eine Bojarin oder eine Äbtissin bestimmt. Ihr Inhalt ist alltäglich, spiegelt das Leben einer ganz gewöhnlichen Bauern- oder Kaufmannsfamilie wider. Es steht also außer Zweifel,
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die Poeten begründet. Hiermit ersetzt Puschkin die Antithese vom m ä n n lichen' und ,weiblichen Standpunkt' durch eine Gegenüberstelllung von Historischem und Ewigem. Der sogenannte weibliche Standpunkt wird zur Verwirklichung des Ewig-Menschlichen. Es ist bezeichnend, daß Puschkin sich hier dem von ihm zu jener Zeit tief erlebten Dante annähert, in dessen „Göttlicher Komödie" die mit politischer Aktualität getränkten Höllenszenen von Vergil geschildert werden, der Ubergang zu den ewigen Werten aber einen anderen Beurteiler erfordert: An die Stelle Vergils tritt Beatrice.
FRAUENBILDUNG
D i e Frage nach dem Standort der Frau in der Gesellschaft stand in einem engen Zusammenhang mit ihrer Bildung. Das vom Geist der Lehre durchdrungene petrinische Staatswesen, der Staat, dessen Zar schrieb: „Ich verlange, daß ordentlich gelehrt und gelernt wird", sah sich natürlich auch den Fragen nach der weiblichen Ausbildung gegenübergestellt. Wissen wurde traditionsgemäß den Privilegien der Männer zugerechnet, und es entstand nun das Problem des Stellenwertes, den die weibliche Bildung in der von Männern geschaffenen Gesellschaft einnehmen sollte. Nicht nur das Staatswesen, auch das öffentliche Leben war auf die Männer zugeschnitten: die Frau, die Ansprüche auf einen ernstzunehmenden Platz in der kulturellen Sphäre erhob, eignete sich folglich einen Teil der ,männlichen Rollen' an. U n d in der Tat war das ganze Jahrhundert geprägt vom Kampf der Frau für ihr Recht auf einen Platz in der Kultur, ohne dabei das Recht auf ihre Weiblichkeit zu verlieren. In der ersten Zeit war es der Staat, der die Einbeziehung der Frauen in das Bildungswesen anregte. N o c h zu Beginn des Jahrhunderts, während der Herrschaft Peters I., wurde auf eine recht ausgefallene Weise die für das Leben einer Frau so wichtige Frage wie die der Heirat mit der Bildung verknüpft. In einem besonderen Ukas ordnete Peter an, den des Lesens und Schreibens unkundigen adligen jungen Mädchen, die nicht einmal ihren Familiennamen schreiben konnten, die kirchliche Trauung zu versagen. So wurde, jedenfalls vorerst und auf eine bestimmte und eigenartige Weise, das Problem der weiblichen Bildung akut. Wir haben schon davon gesprochen, daß es unrichtig wäre anzunehmen, vor Peter seien alle Frauen Analphabetinnen gewesen. Als bei Ausgrabungen in Nowgorod Birkenrindenschriften entdeckt wurden, auf Birkenrinde gekritzelte Notizen aus dem 12., 13. und 14. Jahrhundert, war es offensichtlich: Diese Notizen (und viele sind von Frauen geschrieben oder waren an sie gerichtet) waren nicht für eine Bojarin oder eine Äbtissin bestimmt. Ihr Inhalt ist alltäglich, spiegelt das Leben einer ganz gewöhnlichen Bauern- oder Kaufmannsfamilie wider. Es steht also außer Zweifel,
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Erster Teil
daß nicht wenige unter den Nowgoroder Frauen durchaus lesen und schreiben konnten. Aber zu Beginn des 18. Jahrhunderts wurde die Frage nach der Leseund Schreibkundigkeit noch einmal völlig neu gestellt. Und sehr scharf. Notwendigkeit und Charakter der weiblichen Bildung wurden zum Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen und mit einer allgemeinen Uberprüfung des Lebenstyps und des Typs der Lebensweise verknüpft. Noch war das Verhältnis der Frau zum Lesen und Schreiben, zu Büchern und Bildung sehr gespannt. So erinnerte sich der bekannte Memoirenschreiber Andrej Bolotow daran, wie eine Braut ihm einen Korb gab, weil er viele Bücher las, und deshalb Gerüchte über ihn „in Umlauf" waren, er sei ein Hexenmeister. Danach begann Bolotow, sich mit Hilfe einer Heiratsvermittlerin nach einer Braut umzusehen und äußerte dabei den Wunsch, seine künftige Ehefrau müsse des Lesens und Schreibens kundig sein. Die Vorzüge der Braut immer wieder ins rechte Licht rückend, antwortete ihm die Heiratsvermittlerin: „Nun gut, sie kann lesen und schreiben, und wenn die Mutter es ihr befiehlt, liest sie sogar Bücher". D. Fonwisin greift in seiner Komödie „Der Landjunker" die aktuelle Diskussion über weibliche Bildung und Erziehung auf. Starodum ertappt seine Tochter Sofja bei der Lektüre eines Buches, dessen Verfasser der in den aufgeklärten russischen Kreisen beliebte französische Autor Fenelon ist. Das veranlaßt ihn zu der teilnahmsvollen Replik: „...Lies es, lies. Wer den „Telemach" geschrieben hat (d.h. Fenelon. - J.L.), wird mit seiner Feder die Sitten nicht verderben". In derselben Komödie empört sich die Prostakowa: Sofja hat einen Brief bekommen und kann ihn selbst lesen! Für die Prostakowa ist das der Verfall der Sitten: „Was müssen wir jetzt erleben. Man schreibt Briefe an die Mädchen! Die Mädchen können lesen und schreiben!" Zwanzig Jahre nachdem Fonwisin seine Komödie geschrieben hatte, entwarf der Dichter A. Sumarokow in dem Gedicht „Chorus an die verkehrte Welt" das malerische Bild einer ganz anderen Welt, als sie sich in Rußland darbot: Von dämmriger See her, Vom unwirtlichen Ozean, Kam eine Meise geflogen Und ward gefragt Nach den Bräuchen dort hinterm Meer. Und die Meise antwortet: Dort steht die Welt auf dem Kopf. In der „verkehrten Welt" nimmt man kein Schmiergeld, die Wojewoden sind dort ehrlich, und bei Gerichten regiert das Recht. Die Adligen dort sind lernbegierig:
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Aristokratenkinder gehen dort zur Schule Hinterm Meer, da heißt es nicht: Mädchen haben dumm zu sein, brauchen Röckchen nur und Lärvchen, Wangenrot und Puderweiß. „Hinterm Meer" lehrt man auch die Frauen: Auch die Mädchen lernen hinterm Meer. Das Bild dieser malerischen, utopischen Welt wird zum Ende hin allerdings etwas melancholisch: Kein Saufbold torkelt durch die Straßen, und in den Gassen bangt man nicht ums Leben. In dieser ,verkehrten' Welt lernen also auch die adligen Mädchen. Einen wahrhaften Umsturz der pädagogischen Vorstellungen führte der Gedanke einer notwendigen Spezifik der weiblichen Bildung in der russischen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts herbei. Wir haben uns daran gewöhnt, daß die progressiven Richtungen in der Pädagogik bestrebt sind, Jungen und Mädchen in der Ausbildung einander gleichzustellen. Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzend, wurde der Gedanke der Gleichstellung der Geschlechter und folglich der für alle Kinder gleichen Erziehungsprinzipien zu einer Art Banner der demokratischen Pädagogik. Aber die ,allgemeine' Bildung im 18. Jahrhundert war praktisch eine männliche Bildung, und die Idee, die Mädchen in die ,männliche Bildung' miteinzubeziehen, hatte die Frage nach den Möglichkeiten des Zugangs der Mädchen zur Bildung offengelassen. Man war davon ausgegangen, daß Frauen, deren Begabung dem Niveau der Männer in nichts nachstand, ohnehin nur glückliche Ausnahmen sein würden. Nun kam jedoch die Idee der Ausbildung aller adligen Frauen auf. Diese Frage praktisch und nicht nur abstrakt-ideell zu lösen, war jedoch nur möglich, wenn man ein System der weiblichen Bildung ausarbeitete. Es stellte sich also sofort die Frage nach Lehranstalten. Die Lehranstalten für Mädchen nahmen, gemäß den Bedürfnissen der Zeit, einen zweifachen Charakter an: Es entstanden private Mädchenpensionate (darüber wird noch die Rede sein), und gleichzeitig entstand ein staatliches Ausbildungssystem, dessen Entwicklung eng mit dem Namen einer der bekanntesten Persönlichkeiten aus dem Kulturleben des 18. Jahrhunderts, I.I. Bezkoi, verbunden ist. Bezkoi stand den Regierungskreisen nahe und vertrat im großen und ganzen die Meinung Katharinas II. Katharina wollte (oder gab sich den Anschein), ein weitgehendes Bildungsprogramm zu verwirklichen. Sie dachte an umfangreiche Erziehungsprojekte, die einen völlig neuen Menschen(!) hervorbringen sollten.
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Erster Teil
Für den künftigen Menschen brauchte man aber auch völlig neue Städte, und Katharina bemühte sich auch darum; so hatte sie nach dem Brand von Twer die Absicht, an gleicher Stelle eine vollkommen neue Stadt zu errichten. Im Ergebnis dieser Vorhaben entstand schließlich jene Lehranstalt, die dann sehr lange existierte und nach dem Gebäude, in dem sie untergebracht wurde, Smolny-Institut genannt wurde. Die Schülerinnen dieses Instituts hießen fortan Smoljanki. Das Smolny-Institut im AuferstehungsFrauenkloster, am damaligen Stadtrand Petersburgs gelegen, war als eine Lehranstalt mit einem umfassenden Programm gedacht. Man beabsichtigte, die Smoljanki zumindest zwei Sprachen lernen zu lassen (außer der Muttersprache Deutsch und Französisch; später wurde noch Italienisch in den Lehrplan aufgenommen), darüberhinaus auch Physik, Mathematik, Astronomie, Tanz und Architektur. Doch wie sich später herausstellen sollte, blieb das alles nur auf dem Papier. Die allgemeine Struktur des Smolny-Instituts sah so aus: Der größte Teil der Elevinnen bestand aus Mädchen adliger Herkunft, aber dem Institut war eine Art „Gymnasium für minderjährige Mädchen" nichtadliger Herkunft angegliedert, die man auf die Rolle als künftige Lehrerinnen und Erzieherinnen vorbereitete (dieses Gymnasium wurde später in das Alexander-Institut umgewandelt). Die beiden ,Hälften' standen miteinander auf Kriegsfuß. Die ,Adligen' hänselten die ,Kleinbürgerinnen', und diese blieben ihnen nichts schuldig. Im 19. Jahrhundert schrieben die Mädchen aus der kleinbürgerlichen' Hälfte den,Adligen' Zettel, in denen es hieß, daß es ihnen nichts ausmachen würde, Krylows Fabel „Die Gänse" zu lernen, da ,unsere Ahnen R o m gerettet haben', ,Ihr, Freundinnen, taugt nur für den Braten'. A m Smolny-Institut zu lernen, galt als ehrenvoll, und man traf unter den Elevinnen Mädchen aus sehr reichen und vornehmen Familien an. Häufig jedoch kamen die Elevinnen nicht aus reichen Familien, sondern aus solchen, die über gute Beziehungen verfügten. So konnte man dort Töchter von in heldenhaftem Kampf gefallenen Generälen antreffen, die keine sonderliche Mitgift zu erwarten hatten (Fälle dieser Art waren im Institut gewöhnlich Gesten der Gnade des Zaren), und Mädchen aus vornehmen, aber verarmten Familien, aber man begegnete dort auch Mädchen, die keineswegs vornehmen Familien angehörten, deren Väter sich jedoch die Gunst des Hofes erdient hatten. Die Schar der Elevinnen war in ihrer Struktur bunt und vielschichtig, wie übrigens später auch die Gruppen der Zöglinge des L y z e u m s in Zarskoje Selo, und auch die Atmosphäre erinnerte, bei allen Unterschieden und zumindest unter Alexander I., zum Teil an die Atmosphäre des Lyzeums. Wie die Zöglinge des Lyzeums, gehörten die Elevinnen einerseits Familien der mittleren Aristokratie an und bewegten sich andererseits, wie die Lyzeumszöglinge, in der unmittelbaren Nähe des Hofes.
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Die Ausbildung am Smolny-Institut dauerte neun Jahre. Die Mädchen kamen im Alter von sechs bis sieben Jahren dorthin, und in den neun Jahren, die sie dort verbrachten, sahen sie ihr Zuhause nie oder fast nie. Konnten die Eltern, die in Petersburg lebten, ihre Kinder noch besuchen (allerdings unterlagen auch diese Besuche speziellen Beschränkungen), lebten die weniger begüterten, insbesondere die aus der Provinz kommenden Elevinnen, für Jahre von ihren Familien getrennt. Diese Isolierung der Mädchen war ein Teil des durchdachten Systems. Die Abgeschlossenheit gehörte zu den Grundprinzipien der Ausbildung: die Elevinnen wurden ganz bewußt von ihrer häuslichen Atmosphäre ferngehalten. Diese Tradition ging auf 1.1. Bezkoi zurück, der bestrebt war, die Elevinnen aus dem verderblichen' Milieu des Elternhauses herauszulösen und sie gemäß dem aufklärerischen Modell zu ,idealen Menschen' zu erziehen. Übrigens gerieten diese philosophischen Träume bald in Vergessenheit. Die Trennung der kleinen und der älteren Mädchen von ihren Verwandten verfolgte ein absolut anderes Ziel: Man machte aus den Elevinnen Spielpuppen für den Hof. Sie wurden zu unerläßlichen Teilnehmerinnen an den Hofbällen. Alle ihre Träume, Hoffnungen und Pläne wurden von der Hofatmosphäre geprägt. Die Kaiserin liebte die Elevinnen, und auch Alexander I. und Nikolai I. besuchten später oft und gern die „Mädchenabende". Hatten die Lieblings-Spielpuppen jedoch das Institut absolviert, interessierte sich kaum mehr jemand für sie. Zwar machte man aus einigen der Elevinnen Hoffräuleins, verhalf anderen zum Brautstand in der guten Gesellschaft, doch die unbemittelten Mädchen wurden nicht selten mit Ämtern bedacht, wurden Lehrerinnen oder Erzieherinnen in weiblichen Lehranstalten oder lebten auch nur von der Gnade begüterter Familien. Die zehn Jahre der Ausbildung waren in drei Stufen unterteilt. Die Ausbildung auf der untersten Stufe dauerte drei Jahre. Die Elevinnen dieser Stufe wurden „Kaffeedosen" genannt: sie trugen kaffeefarbene Kleider und weiße Kalikoschürzen. Sie lebten in Dormatorien zu jeweils neun Mädchen, und jedem dieser Schlafsäle war eine Dame als Aufseherin zugeteilt. Außerdem hatten sie auch eine Klassendame, und die Überwachung war streng und glich nahezu der in einem Kloster. Die mittlere Gruppe, die „blaue", zeichnete sich durch eine gewisse Verwegenheit aus. Diese „Blauen" waren für jeden Unfug zu haben, neckten ihre Mitschülerinnen und erledigten oft ihr Pensum nicht. Es waren Mädchen im Übergangsalter, und man konnte mit ihnen kaum fertigwerden. Die Mädchen der oberen Gruppe nannte man die „Weißen", obwohl sie während des Unterrichts grüne Kleider trugen. Weiße Kleider waren Ballkleider. Diesen Mädchen war es erlaubt, im Institut Bälle zu veranstalten, auf denen sie, mangels anderer Möglichkeiten, miteinander tanzten; nur zu besonderen Anlässen war eine begrenzte Zahl von Hofkavalieren zugelassen (diese „Bälle" wurden auch von den Großfürsten besucht).
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Die Ausbildung am Smolny-Institut war trotz der großzügigen Ideen oberflächlich. Eine Ausnahme bildeten lediglich die Sprachen. Hier wurden die Anforderungen sehr ernsthaft erfüllt, und die Erfolge blieben bei den Elevinnen nicht aus. Von den übrigen Fächern wurde nur dem Tanzen und den Handarbeiten größere Aufmerksamkeit gewidmet. Die Behandlung der restlichen Fächer, die im Programm einen so großartigen Platz eingenommen hatten, blieb seicht und wurde vernachlässigt. Die Physik reduzierte sich auf spaßige Experimente, und die Mathematik auf die elementarsten Kenntnisse. Lediglich der Literaturunterricht wurde, besonders im 19. Jahrhundert, in der Puschkinschen Epoche, etwas besser, als A.W. Nikitenko, ein bekannter Literat und Zensor, und P. A. Pletnew, ein Freund Puschkins, dem der Dichter seinen „Eugen Onegin" gewidmet hatte, Professoren am Smolny-Institut wurden. Pletnew gehörte zwar nicht zu den bedeutenden Literaten, war aber eng mit dem Kreis um Puschkin verbunden - so war er z.B. über eine Reihe von Jahren hinweg Puschkins Herausgeber und verwaltete sorgsam die Geldangelegenheiten des Poeten - und bewegte sich im Zentrum des Lebens der literarischen Epoche. Couragiert nahm Pletnew in sein Unterrichtsprogramm das Schaffen Puschkins und einer Reihe anderer junger Poeten auf. Pletnew las den Elevinnen aus „Eugen Onegin" vor, und die Mädchen erröteten, wenn sie Verse hörten wie: „Doch Pantalons, Frack und Gilet/ die Worte hat das Russische nicht". Und sie sagten: „Was für ein indecent ist Puschkin doch", das heißt wie unanständig, denn das Wort „Pantalons" rief bei ihnen die Assoziation von Details der weiblichen Wäsche hervor. Die Beziehung der Elevinnen zu den Unterrichtsfächern hing in vielem von der Situation ihrer Familien ab. Die unbemittelteren Mädchen lernten in der Regel sehr eifrig, weil jene Elevinnen, die beim Abschlußexamen den ersten, zweiten oder dritten Platz erreichten, eine „Chiffre" erhielten (so wurde das mit Brillanten verzierte Monogramm der Kaiserin genannt). Elevinnen, die das Institut mit einer Chiffre beendeten, besonders wenn es hübsche Mädchen waren, durften hoffen, Hoffräuleins zu werden, und das war für ein armes Mädchen sehr wichtig. Was aber die Elevinnen aus den vornehmen Familien betraf, so wollten diese nach dem Absolvieren des Instituts lediglich heiraten, und nur das. So lernten sie gewöhnlich auch ohne jeden Eifer.
* U m diesen Schritt des recht vorsichtigen Pletnew richtig einschätzen zu können, muß man berücksichtigen, daß, beginnend mit dem Jahr 1830, eine scharfe Polemik um die Bewertung des Schaffens Puschkins im Gange war und seine Autorität selbst bei den ihm im Bewußtsein am nächsten stehenden Dichtern, wie E. Baratynski, ins Wanken gebracht wurde. In offiziösen Kreisen wurde die Diskreditierung der Poesie Puschkins in diesen Jahren gang und gäbe.
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Das öffentliche Abschlußexamen war das wichtigste Ereignis im Leben des Instituts, bei dem in der Regel die Mitglieder der Zarenfamilie und der Zar selbst anwesend waren. Die Fragen wurden vorher ausgegeben. Das Mädchen erhielt am Vorabend der Prüfung eine Fragekarte, die es auswendig zu lernen hatte, um sie am nächsten Tag beantworten zu können. Spätere Erinnerungen lassen jedoch darauf schließen, daß auch diese Scheinprüfung einige Aufregung bei den Elevinnen auslöste. Schöner Schein war in vielem auch die festliche, mit den Hofbällen verknüpfte Seite des Lebens der Elevinnen. Der Charakter ihres Alltags und der Festlichkeiten wechselte in Abhängigkeit von den jeweiligen Strömungen am Zarenhof. Unter Katharina war der Geist des Instituts anfangs vom Einfluß I . I . Bezkois und seiner utopischen Pläne der Erziehung des ,idealen Menschen' bestimmt worden. So wurde mit dem Ziel einer idealen Erziehung in den 70er Jahren des 18. Jahrhunderts am Institut ein Liebhabertheater eingerichtet. Die Aufführungen der Stücke, die die Elevinnen auf der Schulbühne inszenierten, beschränkten sich nicht nur auf das Institut, sie wurden auch zu einem Bestandteil der Hoffeste. Die Aufführungen im Smolny-Institut begannen 1771. In diesem Jahr führten die Elevinnen Voltaires Tragödie „Zaire" auf. In der Butterwoche des Jahres 1772 wurde die Tragödie „Semira" von A. P. Sumarokow gespielt usw. Sumarokow bewertete die Theateranstrengungen der Elevinnen sehr hoch. In dem „Sendschreiben an die Jungfrauen Frl. Nelidowa und Frl. Barstschowa" (1774?) äußerte sich Sumarokow, der zu dieser Zeit offen die programmatischen Festlegungen Katharinas II. zu kritisieren begann, zu Fragen der Erziehung der Elevinnen des Smolny-Instituts. In diesem Sendschreiben, daß an die beiden hervorragendsten Elevinnen des Instituts gerichtet war, entwarf Sumarokow unter dem Deckmantel der Würdigung der Theatererfahrungen der Elevinnen ein weitgespanntes und in seinem Wesen mit dem geltenden Plan divergierendes Programm der weiblichen Erziehung in Rußland. Die Position Sumarokows war von der Bezkois nicht sehr weit entfernt, jedoch frei von dessen Utopismen. Sumarokow war, wie bereits erwähnt, ein überzeugter Befürworter der weiblichen Bildung. Im Unterschied zu Bezkoi versetzte er das russische Mädchen jedoch nicht in eine formal konstruierte Atmosphäre, sondern in die Welt der gebildeten adligen Familie. Er sah in den Elevinnen künftige kulturvolle Mütter, die der künstlerischen und wissenschaftlichen Entwicklung in Rußland teilhaftig geworden waren: Laut hör ich über euch die Rede gehn, Daß euer Wissen, eure Lebensart, in Ehren Uns aufgeklärte Kinder wird bescheren. Ich glaube diese Enkel schon vorauszusehn. Sumarokow verherrlicht die Elevinnen (natürlich in der diesem Genre eigenen überschwenglichen Manier) als „erhabene Musenkinder" und als
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„edle Töchter Thalias und Melpomenes", und die Schaffung des Institutstheaters ist für ihn ein Verdienst der Direktorin des Instituts, Lafon („Beglückend dein Anteil, Prinzipalin Lafon!"), und Bezkois: Sagt d o c h B e z k o i : er ist des G l ü c k e s W e l t e n k i n d . D a ß R u s s e n g a n z des k u l t i v i e r t e n W i s s e n s g u t e F r e u n d e s i n d , Ist sein V e r d i e n s t u n d e h r t d i e M ü h e , d i e er auf sich n i m m t .
Aber die festlichen Tage waren selten. Und der Alltag der Elevinnen rief bei kaum jemandem Neid hervor. Es herrschte in dieser privilegierten Lehranstalt eine recht bedrückende Atmosphäre. Die Mädchen waren völlig der "Willkür der Aufseherinnen ausgeliefert. Die Gruppe der Aufseherinnen war nicht homogen. An einige von ihnen erinnerten sich die Absolventinnen des Instituts später mit Dankbarkeit; die allgemeine Masse jedoch war anders geartet. Oft waren die Aufseherinnen im Leben gescheiterte Frauen. Und allein schon der Umstand, bis ins Alter von einem Gehalt leben zu müssen, galt in jener Epoche als anomal. Und wie es oft mit Menschen geschieht, die ihre pädagogische Tätigkeit nicht aus einer reinen Berufung und nicht aus einem Interesse heraus ausüben, sondern nur aufgrund eines Zufalls oder unglücklicher Lebensumstände, benutzten diese Erzieherinnen ihre Macht über die Mädchen nicht selten als eine Art psychologischer Kompensation. Besonders schwer hatten es dabei die Mädchen aus unbemittelten Familien. Leidenschaften brodelten ständig im Institut; und unvermeidlich wurden auch die Elevinnen in die Intrigen hineingezogen. In den diesen Jahren gewidmeten Memoiren sprechen die ehemaligen Elevinnen oft mit Bitterkeit oder Hohn über das Institut und nennen ihre Erzieherinnen „wahre Hexen". Und da die Eltern die Mädchen nicht besuchen durften, äußerte sich der Despotismus der Aufseherinnen besonders krass. Am problematischsten gestaltete sich für die Elevinnen der streng geregelte Tagesablauf. U m sechs Uhr früh wurde aufgestanden, dann gab es sechs bis acht Stunden Unterricht (zwar wurde in diesen Stunden oft sehr wenig getan, aber die Anwesenheit war obligatorisch). Die für Spiele vorgesehene Zeit war äußerst knapp bemessen. Die Erzieherinnen, die das tägliche Regime im Institut bestimmten, besaßen in der Regel keine pädagogische Ausbildung und orientierten sich an Klosterregeln und Kasernenreglement. Eine derartige Ordnung war nur unter den Bedingungen des SmolnyInstituts möglich, das sich von dem Leben außerhalb seiner Mauern scharf abgrenzte. Dort kannte man bereits die pädagogischen Ideen der Auf* Sumarokow A . P., Ges. Werke. Leningrad, 1957, S. 307. Die Anrede des Poeten an die Schülerinnen des Smolny-Instituts erinnert zufällig an die bekannten Zeilen M. Lomonossow: „O Ihr, auf das Vaterland aus seinen Tiefen wartet..." Doch Lomonossow wendet sich ohne Hinweis auf irgendeinen Stand an die russische Jugend, während der ganze Sinn des Sumarokowschen Sendschreibens auf Schaffung eines Programms zur Erziehung adliger russischer Mädchen basiert.
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klärer, gab es schon Erzieher vom Typ eines Gilbert Romm. Nicht zufällig war Puschkin unschlüssig, welche Erziehung er seinem Onegin zuschreiben sollte; ursprünglich hatte er daran gedacht, ihm einen Verfechter fortschrittlicher pädagogischer Ideen zum Lehrer zu geben. In einer frühen Fassung des „Eugen Onegin" lesen wir: „Monsieur, ein sehr kluger Schweizer..." Die Worte im Kontext dazu: „Lehrte ihn alles humorvoll", und „Lag ihm nicht mit strenger Moral in den Ohren" klangen wie Hinweise auf die Forderung J.-J. Rousseaus, spielend zu lehren. Vor diesem Hintergrund fiel die Abgeschiedenheit der Elevinnen von der Außenwelt und die Unnatürlichkeit des Milieus, in dem sie lange Jahre verbrachten, besonders ins Auge. Wenn die Mädchen das Institut verließen, verfügten sie über keinerlei Vorstellung vom realen Leben. Es hatte für sie den Anschein, als würde sie außerhalb der Mauern des Instituts ein ewiges Fest, ein ewiger Hofball erwarten. Schlecht war auch die Ernährung der Elevinnen. Die Verwalter, insbesondere die Wirtschaftsintendanten, nutzten ihre Positionen aus und bereicherten sich auf Kosten der Elevinnen. Einmal, während eines Maskenballs, erzählte eine ehemalige Elevin Nikolai I. davon. Der Zar glaubte ihr nicht. Darauf sagte sie, er solle doch einmal bei einem seiner Besuche unangemeldet kommen und durch den Nebeneingang direkt in die Küche gehen. Nikolai I., der in der Praxis die Bürokratie ständig erweiterte, liebte es, in effektvollen Szenen aufzutreten und den Zaren zu spielen, der das Böse bestraft, dem Unwürdigen den Prozeß macht und den Würdigen auszeichnet. Er erschien also unerwartet in der Küche und kostete persönlich die geschmacklose Brühe im Kessel. In dem Kessel brodelte irgendeine dicke Suppe. „Was ist das?" fragte Nikolai aufgebracht. „Eine Fischsuppe", antwortete man ihm. Tatsächlich schwammen in der Suppe ein paar kleine Fische... Doch der effektvolle Auftritt des Zaren änderte nichts an der Situation: Der Wirtschaftsintendant redete sich irgendwie heraus, und alles nahm für ihn ein gutes Ende. Ein bißchen besser war die Lage der begüterten Mädchen. Sie besaßen Geld und durften zum einen, wenn sie einen speziellen Obolus entrichteten, am Morgen, getrennt von den anderen Elevinnen, im Zimmer der Erzieherinnen Tee trinken. Außerdem bestachen sie den Wächter, der in einen Laden ging und ihnen in seinen Taschen (oder in die Stiefelschäfte gesteckt) Süßigkeiten brachte, die sie dann heimlich verzehrten. Die Sitten waren von der völligen Abgeschlossenheit der Elevinnen vom Leben geprägt. Das erste, was die Mädchen der „Kaffeedosen-Gruppe" nach ihrem Eintritt in das Smolny-Institut hörten, waren die Hinweise der älteren Elevinnen auf den Brauch, jemanden zu ,vergöttern'. Es war Usus, daß die Mädchen das Objekt ihrer Liebe und Vergötterung selbst zu wählen hatten. In der Regel waren das Elevinnen aus der „weißen" Grup-
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pe. Als einmal ein treuherziges Mädchen, das später in seinen Erinnerungen darüber berichtete, fragte, was „vergöttern" bedeute, wurde ihm erklärt: Man muß den ,Gegenstand' der Vergötterung wählen und, wenn er vorübergeht, flüstern: „Entzückende", „Meine Verehrungswürdige", „Engel", und das auch auf die Bücher schreiben usw. Lediglich die „Blauen" wurden von niemandem vergöttert. Sie zogen die Kleineren an den Haaren und hänselten sie. In der obersten Gruppe wurde in der Regel die ,Vergötterung' der Mitglieder der Zarenfamilie kultiviert. Man ,vergötterte' die Kaiserin und besonders den Kaiser. Unter Nikolai I. nahm diese ,Vergötterung' den Charakter einer ekstatischen Anbetung an. Nikolai war, besonders in seiner Jugend, überaus ansehnlich; er war groß von Wuchs und hatte ein zwar regelmäßiges aber unbewegliches Gesicht und nur zu seinem Lebensende hin hatte er einen Bauch, den er geschickt durch die Marter der Einschnürung verbarg. Die hysterische Anbetung des Zaren übertrugen nicht wenige Elevinnen auf das Institut, auf das Milieu des Hofes und insbesondere auf den Kreis der Hoffräuleins. L. Tolstoi verlieh diesen Charakterzug seiner Gestalt der Anna Pawlowna Scherer in „Krieg und Frieden". Unter Nikolai I. wurde die Tradition der „Vergötterung" des Kaisers oft zum Ausgangspunkt für die flüchtigen Affären des Zaren. (Das spiegelt sich bei L. Tolstoi auch in den Erzählungen „Hadschi Murat" und „Vater Sergej" wider). Die Atmosphäre, die rings um den Hof Nikolais I. herrschte, hat prononciert und psychologisch außerordentlich eindringlich B. Okudshawa in seinem Roman „Die Reise der Dilettanten" nachgezeichnet. Diese Atmosphäre schloß eine strikte Beachtung der äußerlichen Anstandsregeln ein. Der Nikolaische Hof gab sich zwar „vom Anstand gezügelten" Abenteuern hin, verfolgte aber oft grausam die echten Gefühle. Das blieb nicht ohne Auswirkung auf die Schicksale der Elevinnen. Die Aufmerksamkeit des Hofes richtete sich nicht nur auf die Elevinnen des Smolny-Instituts, sondern auch auf die dort als Lehrerinnen tätigen Damen und überhaupt auf das ganze Umfeld des Instituts. Die allgemeine Strenge erfaßte sogar die Töchter der Erzieherinnen, von denen man ebenfalls die Einhaltung aller Regeln der Petersburger Gesellschaft verlangte. Puschkin hat nicht übertrieben, als er schrieb: ...Doch die Welt...die grausam richtet, Ändert selbst sich nicht: Auf Irrtums Ahndung wird verzichtet, Und öffentlich macht man ihn nicht. (III , 205)
Ein Opfer dieser zum Gesetz erhobenen Heuchelei wurde F.I. Tjutschew. Der große Poet F.I. Tjutschew, Petersburger, Diplomat, ein schon nicht mehr junger Mensch (er war 50 Jahre alt), verheiratet und Vater zweier Töchter, die im Smolny-Institut erzogen wurden, war von einem tiefen,
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aufrichtigen Gefühl für das zweiundzwanzigj ährige Mädchen Jelena Alexandrowna Denisjewa ergriffen worden, das noch kurz zuvor das Kleid der Elevin getragen hatte. Jelena Alexandrowna war die Nichte Anna Denisjewas, einer der verehrtesten Klassendamen des Smolny-Instituts, die eine Zeitlang auch als Direktorin tätig gewesen war. Hätte ein bekannter Petersburger Beamter ein .anständiges' aber gesetzwidriges Verhältnis mit einer jungen Gouvernante begonnen, würde das kaum jemanden aufgeregt haben. Aber das Gefühl, das Tjutschew und die Denisjewa verband (eine sehr ähnliche Situation wird später in „Anna Karenina" dargestellt werden), war echt und tief. Die Petersburger Gesellschaft war konsterniert. Die tragische Liebe währte vierzehn Jahre und endete mit dem Tod J. Denisjewas, die an der Schwindsucht starb. Vor allem die weibliche Welt, aufgewachsen mit der Moral des Smolny-Instituts, von Intrigen durchdrungen und von ekstatischer .Vergötterung', hatte die Denisjewa zugrunde gerichtet, einem Scherbengericht ausgesetzt und in den frühen Tod getrieben. Aber diese gleiche Gesellschaft machte das Milieu aus, dessen Gedanken und Vorstellungen auch das Bewußtsein der Denisjewa bestimmt hatten. Nicht zufällig hatte deren aufrichtige Leidenschaft ihren Ausdruck in dem traditionellen Ton der „Vergötterung" gefunden („Mein Göttchen", nannte sie Tjutschew). Es war die „Instituts"-Atmosphäre, die die Denisjewa zugrunde gerichtet hatte, aber zugleich war es die einzige gewesen, in der sie hatte leben und atmen können. Tjutschews Lage war aussichtslos. Erhalten geblieben ist das Zeugnis einer Szene, die sich während eines Besuchs Tjutschews und Wjasemskis bei dem in den Petersburger aristokratischen Kreisen bekannten Fürsten Scheremetjew abspielte. Die achtzehnjährige Fürstin Scheremetjewa, die ebenfalls erst einige Zeit zuvor das Institut verlassen hatte, fühlte sich bemüßigt, dem nicht jungen Poeten die ganze Tiefe ihrer Empörung über die Anwesenheit eines derart unmoralischen Menschen auszudrücken. Der Verfasserin dieser Erinnerung ist haften geblieben, daß Tjutschew nicht nur gezwungen war, diese Erniedrigung zu dulden, sondern auch erfolglos versucht hatte, das Wohlwollen der ,beleidigten' Gastgeberin wiederzuerlangen. Die Sorge des Hofes und der Erzieherinnen um das Wohl der Elevinnen war tatsächlich ein heuchlerisches Spiel. Eine der ehemaligen Schülerinnen erinnerte sich mit Bitterkeit daran, daß nach dem Tod einer ihrer Freundinnen, eines Mädchen aus einer nichtbegüterten Familie, niemand sich darum kümmerte, einen anständigen Sarg zu kaufen. Die Mädchen sollten selbst Geld dafür sammeln und auch das Begräbnis selbst vorbereiten. Die zerbrochene Spielpuppe kümmerte niemanden mehr. Die Elevinnen waren in der Nikolaischen Epoche besonders für ihre „Instituts"-Empfindsamkeit bekannt. Das sentimentale Unvorbereitetsein auf das Leben wurde kultiviert und galt als ein Beleg ihrer Unverdorben-
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heit. ,Unschuld' ging mit gesteigerter Exaltiertheit, mit bedingungsloser Verzücktheit einher. Diese Empfindsamkeit war keine Erfindung der Elevinnen. Im Institut wurden ganz einfach jene Gefühlsnormen künstlich konserviert, die dreißig Jahre zuvor das ,modische' Verhalten der Damen der Gesellschaft bestimmt hatten. Gefühle sind nicht nur ein Bestandteil der Natur, sondern auch der Kultur. Die adlige Frau vereinigte in sich nicht nur zwei Erziehungen, sondern auch zwei typologische Aspekte. O b w o h l diese gegensätzlicher Natur waren und polare F o r m e n des Benehmens hervorbrachten, waren sie beide aufrichtig. Ein von einer leibeigenen Kinderfrau erzogenes, auf einem D o r f aufgewachsenes Mädchen, das zumindest einen wesentlichen Teil des Jahres auf dem Gutsbesitz der Eltern verbrachte, eignete sich bestimmte N o r men der Gefühlsäußerungen und des emotionalen Verhaltens an, die beim Volk vorherrschend waren. Diesen N o r m e n war eine gewisse Zurückhaltung eigen, in der Puschkin nicht nur Volkstümlichkeit, sondern auch eine Äußerung vornehmster Züge der Adelskultur sah. So behielt beispielsweise Tatjana, obwohl sie „erstaunt, erschüttert" war, „den gleichen T o n , die gleiche stille Neigung" bei. U n d ebendiese Verhaltensnorm ermöglichte es den Frauen der Dekabristen, sich in Sibirien dem Milieu des Volkes anzupassen. In einem anderen kulturellen Kontext konnten dieselben adligen Damen in Ohnmacht fallen oder in Tränen ausbrechen. Ein solches Verhalten wurde als ,gebildet' empfunden, so benahmen sich eben europäische D a men; doch war diese Exaltiertheit durchaus aufrichtig, obwohl sie zuweilen natürlich Elemente der Vorspiegelung einschloß. S.N. Marin teilt M. S. W o r o n z o w in einem Brief einen außergewöhnlichen Vorfall mit, der sich in einem Petersburger Theater zugetragen hatte. Ein kleines Mädchen, die Tochter einer der bekannten französischen Schauspielerinnen, verhakte sich während der Vorstellung mit dem Bein in den Vorhang, der sie über die Szene emporhob. Marin beschreibt diesen Vorfall so: „Man gab Les folies amoureuses et L'amour et la raison. ' Plötzlich kommt eine Frau mit einem schrecklichen Schrei hinter den Kulissen hervorgestürzt; niemand kann den Grund erraten; viele denken an einen Brand; endlich beseitigen die Worte: O n enlève un enfant avec le toile jeden Zweifel. Stell dir den Zustand der Valvil vor: dieses Kind ist ihre Tochter! In den Logen und im Parkett bricht ein entsetzlicher Tumult los: Damen fallen in Ohnmacht, die Männer laufen, um Wasser und Weingeist zu holen, die Valvil und ihre Mutter sind in gräßlicher Ohnmacht befangen, auf der Bühne etwa hundert Schauspieler; alle schreien, aber zu helfen ist unmöglich". Marin setzt nicht ohne Grund die Ruhe des siebenjährigen Kindes dagegen, dessen *
„Die verliebten Tollheiten oder die Liebe und die V e r n u n f t " , K o m ö d i e von Pigault-
Lebrun. * * Man hat mit dem Vorhang das Kind hochgezogen (franz.)
Porträt des Generals L.W. Dübelt. — Unbekannter Graveur, nach dem Original D. Dous. Nach 1827. — Leonti Wassiljewitsch Dübelt (1792-1862), in der Uniform eines Generalmajors, was die beiden Sterne auf den mit dichten Fransen verzierten Epauletten dokumentieren (als Unterscheidungszeichen 1827 in der russischen Armee eingeführt).
Porträt E.S. Awdulinas. — O . A . Kiprenski. Oel auf Leinwand. 1822. — Enkelin des Kaufmanns und Millionärs Jakowlew, Jekaterina Sergejewna (1788-1832), Gattin des Obersten der Kavaliergarde (ab 1810 Generalmajor) A . N . Awdulin, Besitzerin einer Villa am Palastkai und eines Haustheaters in ihrem Landhaus auf der Kamenny-Insel. Sie trägt eine modische Haube; in den Händen ein zusammengeklappter Fächer, obligatorisches Detail der Damentoilette außerhalb des Hauses; um die Schultern ein Schal, ebenfalls ein unerläßliches Attribut der Kleidung einer A d ligen in der Puschkinschen Epoche.
Blumenregister. Register der Schönheitspflästerchen. — Volksbilderbogen, Kupferstich. 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts. — Die linke Hälfte gibt die Bedeutung der Farben an, z.B. Espenblau: Stolz, Kirschrot: U n w a h r heit, Erzgelb: Rendezvous und Küssen; die rechte Reihe gibt die Bedeutung der Schönheitspflästerchen an, je nachdem w o sie auf dem Körper angebracht sind: Stirnmitte: Zeichen der Liebe, unter der linken Wange: Feurigkeit, auf der rechten Hand: Neigung zum Flirt". Der Text ist wohl dem „Briefsteller" Nikolai Kurganows entnommen.
Spaziergang auf der Krestowski-Insel. — A. E. Martynow. Lithographie. 1821-1822. — In der Puschkinzeit beliebter Flanierort der Petersburger. Im Hintergrund zwei Schaukeln („Brett" und „Kreisel" in der Art eines handbetriebenen Riesenraddes mit vier Kabinen; links ein Karussell). Russische Hochzeit. — K. Wagner nach einem Original von E. M. Komejew. Gravüre mit Radiernadel. Aquarell. 1812.
Porträt M. I. Lopuchinas. — W . L. Borowikowski. Oel auf Leinwand. 1797. — Maria Iwanowna Lopuchina (geb. Gräfin Tolstaja), Schwester des Grafen F. I. Tolstoi, des „Amerikaners", war die Gattin des kaiserlichen Hofjägermeisters Stepan Abramowitsch Lopuchin (nach dem Tode Pauls I. in den Ruhestand versetzt). Es gibt Belege dafür, daß sie in ihrer Ehe unglücklich war. Sie starb 1803 an der Schwindsucht. J . P . Polonski schrieb unter dem Eindruck dieses Porträts 1885 ein „Extempore zu dem Porträt der Lopuchina": „Sie ist längst dahingegangen - und diese Augen gibt es nicht mehr, und nicht mehr dieses Lächeln, das schweigend das Leid ausdrückte - Schatten von Liebe und Nachsinnen, Schatten von Traurigkeit... Ihre Schönheit aber hat Borowikowski gerettet...". Sie trägt hier ein modisches „Tunika"-Kleid mit hoher Taille aus dünnem, halbdurchsichtigem Stoff und mit einer antiken Frisur aus eigenem Haar (Variante des „griechischen Knotens").
Porträt E. I. Nelidowas — D. G. Lewizki. Oel auf Leinwand. 1773. — Jekaterina Iwanowna Nelidowa (1758-1839) war eine der besten Schülerinnen des SmolnyInstituts und dank ihres fröhlichen Wesens und lebendigen Geistes eine Favoritin Katharinas II. Nach Absolvierung des Instituts trat sie in den Dienst bei der Großfürstin Maria Fjodorowna, Gattin des Thronfolgers Paul Petrowitsch. Nach seiner Thronbesteigung wurde die Favoritin Pauls Kammerfräulein am Hof. Obwohl sie die Verteilung der höchsten Amter im Reich kontrollierte, behielt sie ihre Uneigennützigkeit und trat auch Paul gegenüber als Fürsprecherin auf. Nach dem Auftauchen einer neuen Favoritin, Lopuchina, ging sie ins Smolny-Kloster. Ihr Eintreten für die Kaiserin, die Paul nach Cholmogory verweisen wollte, zwang die Nelidowa, Petersburg zu verlassen. Nach der Ermordung Pauls half sie Maria Fjodorowna bei der Verwaltung der Erziehungsinstitute.
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Verhalten, wir wollen uns das merken, den modischen Gesetzen, dem allgemeinen Verhalten der erwachsenen Damen nicht unterworfen ist. Von der Höhe herab ruft das Mädchen der Mutter zu, sie solle keine Angst haben, es halte sich fest. „Aber maman konnte das nicht hören, sie hatte das Bewußtsein verloren". 22 Die Exaltiertheit des Verhaltens, denken wir nur an die in Ohnmacht gefallene Mutter, schließt natürlich Aufrichtigkeit nicht aus, denn jede Zeit hat ihre eigene Sprache der Gefühlsäußerungen. Und diese Sprache kann sowohl Wahrheit als auch Lüge ausdrücken. Das Smolny-Institut war keineswegs die einzige weibliche Lehranstalt in Rußland. Auch private Pensionate entstanden. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts zählte man in Petersburg einige Dutzend, zehn in Moskau und eine ganze Reihe in der Provinz. Das waren jedoch ausländische Pensionate." Das Niveau der Ausbildung war recht niedrig. Systematisch wurden nur Sprachen und Tanz gelehrt. Die Erzieherinnen waren in der Regel Französinnen oder Deutsche. In den französischen Pensionaten, in denen zu Beginn der 90er Jahre des 18. Jahrhunderts oft vor der Revolution geflüchtete Emigrantinnen wirkten, erzog man die Schülerinnen in einer vergröberten und vereinfachten Form nach der Manier der vorrevolutionären französischen Gesellschaft, in den deutschen hingegen standen bürgerliche Hauswirtschaft und Erziehung im Vordergrund. Für die Ersteren steht die Gestalt der Gutsbesitzerin Natalja Pawlowna in Puschkins Gedicht „Graf Nulin": ...Natalja Pawlowna beschweren Nicht Hausfrauensorgen, Alltagspflicht, Nicht locken sie die Küchensphären; Der Väter Sitten, streng und schlicht, Ist unsre Heldin nicht gewogen, Da sie, wie's damals oft geschah, Im Adelsinstitut erzogen Der Emigrantin Fallbalat. Sie sitzt am Fensterbrett, im Händchen Des rührseligen Briefromans „Die Liebe Elises und Armands" Unheimlich dickes viertes Bändchen... So also sahen die Schülerinnen eines französischen Pensionats auf dem Dorf aus. N. Schipow zeichnet in seinen Memoiren ein sehr zutreffendes Bild von der Erziehung Charkower Schülerinnen in den Pensionaten: „Die D i e erste Erziehungs-Lehranstalt entstand lange vor dem Smolny-Institut in D o r p a t gegen Ende der '85er Jahre. D e r U n t e r r i c h t wurde dort in der deutschen Sprache durchgeführt.
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Leiterin kam mit ihnen in dem großen Rekreationssaal zusammen und ließ sie die verschiedenen Manieren des Gesellschaftslebens üben. ,Nun, meine Liebe', sagte die Leiterin, sich einer der Schülerinnen zuwendend, ,in Ihrem Haus sitzt ein Gast, ein junger Mensch, Sie sollen sich zu ihm begeben, um mit ihm die Zeit zu verbringen. Wie müssen Sie das machen?' Danach taten die Mädchen so, als würden sie sich zu dem Gast gesellen, in eine Mazurka einwilligen oder der Bitte des Kavaliers entsprechen und sich zu einem Spiel setzen, oder als begegneten sie der Großmutter oder dem Großvater. Diese „Zimmertheater" stellten ein unbedingtes Element der Ausbildung dar. Bei einer anderen Erzieherin des Pensionats, einer Deutschen, wurden die Mädchen in Arithmetik unterrichtet, und die maman sagte: „Lernt das Zuzählen und das Abziehen, ohne das werdet Ihr schlechte Ehefrauen sein. Was für Hausfrauen werdet ihr sein, wenn ihr auf dem Basar nicht rechnen könnt?" 23 Das Pensionatssystem entsprach also genau dem, worum einst Peter sich gesorgt hatte, nämlich daß ein Mädchen, das heiratete, eine gute Ehefrau wurde, gleichviel, ob nun nach französischen oder deutschen Vorstellungen. Die dritte Form der weiblichen Ausbildung war die häusliche. Die häusliche Erziehung einer jungen Adligen unterschied sich nicht allzu sehr von der eines Knaben: Aus den Händen der leibeigenen Kinderfrau, die im Falle des Knaben ein Onkelchen war, wurde das Mädchen der Aufsicht einer Gouvernante übergeben, häufig eine Französin, manchmal auch eine Engländerin. In der Regel war die Ausbildung der adligen jungen Mädchen oberflächlicher als die der Jungen und stärker auf das Haus ausgerichtet. Sie beschränkte sich gewöhnlich auf das Einüben allgemeiner Gespräche in ein bis zwei Fremdsprachen (am häufigsten Französisch oder Deutsch; Kenntnisse in der englischen Sprache zeugten bereits von einem höheren Bildungsniveau, als das im Durchschnitt der Fall war), auf Tanzfiguren und gesellschaftliche Manieren, auf Grundkenntnisse in Zeichnen, Gesang und in der Beherrschung eines Instruments, sowie auf die elementarsten Kenntnisse in Geschichte, Geographie und Literatur. Mit den ersten Schritten in die Gesellschaft endete die Ausbildung. Natürlich gab es auch Ausnahmen, wie die Ausbildung der fünfzehnjährigen Natalja Sergejewna Lewaschowa, einem adligen Provinzmädchen aus Ufa. Ihr Lehrer, G.S. Winski, bezeugte: „Ohne zu prahlen, kann ich sagen, daß Natalja Sergejewna innerhalb von zwei Jahren soweit Französisch verstand, daß sie die schwierigsten Autoren, wie Helvetius, Mercier, Rousseau, Mably, ohne Wörterbuch übersetzen konnte; sie schrieb Briefe nach allen Regeln der Rechtschreibung und kannte sich auch hinreichend in der alten und neuen Geschichte aus, sowie in der Geographie und in der Mythologie". 24
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Ziele und Qualität der Ausbildung hingen nicht allein von den Lehrern ab, sondern auch vom Wohlstand der Familie und von ihrer geistigen Zielsetzung, insbesondere vom Bestreben der Mutter. So erzog z.B. Puschkins Nachbarin in Michailowskoje, Praskowja Ossipowa (die Tochter W y n domskis, eines Mitarbeiters der Zeitschrift „Der beredte Bürger", Schüler Nowikows und Bekannter A . N . Radistschews), ihre Töchter auf ihrem Gut im Pskowsker Gouvernement und erreichte es, daß diese mit einer literarischen Bildung aufwuchsen und sowohl Französisch als auch Englisch sprachen. Die Ossipowa selbst bildete sich, gegen den althergebrachten Brauch verstoßend, noch als reife Frau weiter. Der Typ der gebildeten russischen Frau begann sich vor allem in den Metropolen, bereits in den 30er Jahren des 18. Jahrhunderts zu entwickeln. Wir erinnern hier noch einmal an all das, was Katharina II. und ihre eifrige Verbündete, die Fürstin Jekaterina Daschkowa, zur Entwicklung der Kultur beitrugen. Dennoch besaß die weibliche Bildung weder ihr Lyzeum noch ihre Moskauer oder Dorpater Universitäten. Der Typus der geistig hochstehenden russischen Frau, von dem in den vorangegangenen Kapiteln die Rede war, entwickelte sich vor allem unter dem Einfluß der russischen Literatur und der Kultur der Epoche.
ZWEITER TEIL
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Doch halten wir mit derlei Fragen uns hier nicht auf, um unverweilt zum Ball zu gehn, wohin im Wagen Onegin schon vorausgeeilt. Vor finstern Häusern, nachtumdunkelt, entlang der stillen Straße funkelt in freundlich heller Doppelspur der Kutschlaternen Lichterschnur... Da kommt Onegin vorgefahren; schnell eilt er am Portier vorbei; treppaufwärts gibt er seinen Haaren noch letzten Schwung und schreitet frei zum Saal hinein. Dort wogen Massen; die Blechmusik hat nachgelassen, doch gleich beginnt Mazurkatanz Gedränge, Lärm, bewegter Glanz, die blanken Gardesporen klirren,* graziöser Füßchen holder Schwung entzündet heiße Huldigung, die Zangen glühn, die Blicke schwirren, und heller Geigen Jubelton verschlingt der scheelen Zungen Hohn. (1, XXVII-XXVIII) Tänze waren ein wichtiges Strukturelement der adligen Lebensweise. Ihre Rolle unterschied sich wesentlich von der Funktion, die sie in der Lebensweise des Volkes hatte, wie auch von der zeitgenössischen. Die Zeit im Leben des hauptstädtischen russischen Adligen zerfiel in zwei Hälften: Die häusliche Atmosphäre wurde von der Sorge um die Familie und den Hausstand bestimmt, hier w a r der Adlige Privatperson. Die zweite Hälfte wurde vom militärischen oder zivilen Dienst in Anspruch genommen, in dem der Adlige als Untertan auftrat und dem Herrscher und dem Staat als Vertreter des Adelsstandes den anderen Ständen * Anmerkung Puschkins: „Unexaktheit.- Auf den Bällen erschienen die Offiziere der Kavaliergarde, wie die anderen Gäste, in Ausgehuniformen und Schuhen. Aber die Bemerkung ist dennoch begründet, denn Sporen haben etwas Poetisches. Ich berufe mich auf die Meinung von A. I.W." (VI, 528).
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gegenüber diente. Die Gegensätzlichkeit dieser beiden Lebensformen wurde in der den Tag beschließenden Zusammenkunft' aufgehoben, einem Ball oder einem festlichen Abend. Hier entfaltete sich das Leben des Adligen: Er war nicht mehr Privatperson und nicht mehr Beamter einer staatlichen Dienststelle, sondern Adliger in einer Adelszusammenkunft, ein Mensch seines Standes, Gleicher unter Gleichen. Somit stellte der Ball einerseits eine dem Dienst entgegengesetzte Sphäre zwanglosen Umgangs und standesgemäßer Entspannung dar, in der die Grenzen der dienstlichen Hierarchie fließend wurden. Die Anwesenheit von Damen, die Tänze, die Regeln der Umgangsformen schufen außerdienstliche Wertkriterien, und so konnte etwa ein junger Fähnrich, der gewandt tanzte und die Damen zu unterhalten verstand, sich über einen schlachtenerprobten Oberst erhaben fühlen. Andererseits war der Ball ein Bereich öffentlicher Repräsentation, einer bestimmten sozialen Organisationsform, einer der wenigen im Rußland dieser Zeit zugelassenen kollektiven Lebensweisen. In diesem Sinne erhielt das Gesellschaftsleben den Status einer öffentlichen Angelegenheit. Auf die Frage Fonwisins: „Warum ist es eigentlich keine Schande, nichts zu tun?", antwortete Katharina II. bezeichnenderweise: „In der guten Gesellschaft leben heißt nicht, nichts zu tun". 1 Seit der Zeit der petrinischen Assembleen war nachdrücklich auch die Frage nach geregelten Formen des Gesellschaftslebens gestellt worden. Die Formen der Erholung, des Jugendverhaltens, der kalendarischen Rituale, wie sie einstmals sowohl dem Volksleben als auch dem Bojarenmilieu zugrundelagen, sollten ihren Platz einer spezifischen adligen Struktur einräumen. Die innere Organisation des Balles wurde zu einer Aufgabe von außerordentlicher kultureller Wichtigkeit, da gerade sie dazu berufen war, die allgemeinen Umgangsformen der ,Kavaliere' und der ,Damen' festzulegen und den Typus des sozialen Verhaltens innerhalb der Adelskultur zu bestimmen. Eine Folge davon war die Ritualisierung des Balles, das Festlegen einer streng geregelten Abfolge der einzelnen Teile, sowie die Aussonderung überkommener und verbindlicher Elemente. Es entstand die Grammatik des Balles, und der Ball selbst wurde gewissermaßen zu einer Art Theatervorstellung, in der jedes Element, vom Betreten des Saales bis zu den Abfahrten, einem bestimmten Emotionstyp, einer festgelegten Bedeutung, einem Verhaltensstil entsprach. Aber das strenge Ritual, das den Ball einer Parade nahekommen ließ, bot auch die wichtige Möglichkeit zu Abweichungen, ,Ungeniertheiten', die sich bis zum Finale steigerten und den Ball zu einem Gefecht zwischen ,Ordnung' und ,Freiheiten' werden ließ. Grundelemente des Balles als gesellschaftlich-ästhetische Handlung waren die Tänze. Sie dienten als organisierender Kern des Abends und bestimmten die Art und Weise und den Stil der Gespräche. Die „MazurkaPlauderei" erforderte oberflächliche, seichte Themen, aber auch Anregung
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Zweiter Teil
und Geschliffenheit des Gesprächs und die Fähigkeit zu einer raschen, epigrammartigen Antwort. Das Ballgespräch war weit entfernt von jenem Spiel intellektueller Kräfte, jenem „hinreißenden Gespräch auf höchstem Bildungsniveau" (Puschkin, VIII (1), 151), das in den Pariser literarischen Salons des 18. Jahrhunderts kultiviert wurde und dessen Fehlen in Rußland Puschkin beklagte. Nichtsdestoweniger hatte der Ball seine Reize - die Lebendigkeit, Zwanglosigkeit und Unbefangenheit der Gespräche zwischen einem Mann und einer Frau, die gleichzeitig inmitten des Festlärms und einer unter anderen Bedingungen undenkbaren Nähe stattfanden („Es gibt keinen günstigeren Ort für Liebeserklärungen..." - 1, XXIX). Man begann sehr früh Tanzen zu lernen, mit fünf oder sechs Jahren. So begann beispielsweise Puschkin bereits 1808, tanzen zu lernen. Bis zum Jahre 1811 besuchte er mit seiner Schwester die Tanzabende bei den Trubezkis, den Burtulins und den Suschkows, und an Donnerstagen die Kinderbälle bei dem Moskauer Tanzmeister Jogel. Die Bälle bei Jogel sind in den Erinnerungen des Ballettmeisters A. P. Gluschkowski beschrieben. 2 Der Tanzunterricht war damals qualvoll und erinnerte an das harte Training eines Sportlers oder an die Rekrutenausbildung durch einen übereifrigen Feldwebel. Der Verfasser der „Regeln", die 1825 erschienen waren, L. Petrowski, selbst ein erfahrener Tanzmeister, beschreibt einige Methoden der Grundausbildung, wobei er nicht die Methoden selbst, sondern nur deren überharte Anwendung verurteilt: „Der Lehrer hat darauf achtzugeben, daß die Schüler durch die große Anstrengung nicht Schaden an ihrer Gesundheit nehmen. Jemand erzählte mir, daß ein Lehrer es für unbedingt notwendig hielt, daß ein Schüler trotz eines natürlichen Unvermögens die Beine auf die gleiche Weise spreizte wie er. Der Schüler war schon 22 Jahre alt, ziemlich großgewachsen und hatte zudem recht kleine und nicht ganz regelrechte Füße; so holte der Lehrer, der allein nicht zurechtkam, vier andere Menschen zu Hilfe, von denen zwei die Füße des Schülers auseinander zerrten und zwei die Knie hielten. So sehr der Schüler auch schrie, sie lachten nur und wollten von einem Schmerz nichts hören, bis schließlich in einem Bein etwas barst, erst dann ließen die Peiniger von ihm ab. Ich hielt es für meine Pflicht, als Mahnung für andere, von diesem Fall zu berichten. Es ist unbekannt, wer die Hilfsgestelle für die Beine, die Schraubvorrichtungen für die Füße, die Knie und den Rücken erfunden hat: sind eine sehr gute Erfindung! Aber auch sie können durch übermäßige Belastung schaden". 3 Das lange Training verlieh dem jungen Menschen für die Zeit der Tänze nicht nur Gewandtheit, sondern auch Sicherheit in seinen Bewegungen, Ungezwungenheit und Unbefangenheit beim Ausführen der Figuren, was sich auf eine gewisse Weise auch auf die psychische Konstellation des Menschen auswirkte: Er fühlte sich in der verbindlichen Welt des gesellschaftskonformen Verhaltens sicher und frei wie ein erfahrener Schauspieler auf der Bühne. Die Eleganz, die sich in der Exaktheit der Bewegungen aus-
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drückte, galt als Merkmal einer guten Erziehung. L. N. Tolstoi hebt in seinem Roman „Die Dekabristen", in dem er die aus Sibirien zurückkehrende Frau eines Dekabristen beschreibt, hervor, daß ungeachtet der langen Jahre, die sie unter den schwierigsten Bedingungen in der freiwilligen Verbannung gelebt hatte, „man sie sich nicht anders vorstellen konnte, als von Wertschätzung und von allen Bequemlichkeiten des Lebens umgeben. Man konnte sich nicht vorstellen, daß sie irgendwann hungrig gewesen war oder irgendetwas gierig hinuntergeschlungen hatte, oder daß sie schmutzige Wäsche getragen hätte, daß sie gestolpert wäre oder vergessen hätte, sich zu schneuzen - all das konnte ihr nicht widerfahren. Das war physisch unmöglich. Weshalb das so war, weiß ich nicht, aber jede ihrer Bewegungen war Erhabenheit, Grazie, Wohltat für all jene, die sich an ihrem Anblick erfreuen durften...". Es ist bezeichnend, daß die Neigung zum Stolpern hier nicht zu den äußeren Bedingungen in Beziehung gesetzt wird, sondern zum Charakter und der Erziehung eines Menschen. Seelische und physische Vornehmheit sind eins und schließen die Möglichkeit unexakter und unschöner Bewegungen und Gesten aus. Der aristokratischen Selbstverständlichkeit in den Bewegungen der Menschen aus der ,guten Gesellschaft', sowohl im Leben als auch in der Literatur, steht die Befangenheit oder die unbekümmerte Ungeniertheit der Gesten des intellektuellen Kleinbürgers im Kampf mit der eigenen Schüchternheit gegenüber. Ein bezeichnendes Beispiel dafür findet sich in den Memoiren Herzens. Nach Herzens Erinnerungen „war Belinski überaus schüchtern und verlor sich geradezu in einer ihm unbekannten Gesellschaft". Herzen beschreibt einen charakteristischen Vorfall anläßlich eines Abends bei dem Fürsten W . F . Odojewski: „Belinski stand an diesen Abenden völlig verloren zwischen einem sächsischen Gesandten, der kein einziges Wort Russisch verstand, und irgendeinem Beamten der Dritten Abteilung, der sogar die nicht ausgesprochenen Worte verstand. Danach war er gewöhnlich für zwei, drei Tage krank und verfluchte den, der ihn überredet hatte, dorthin zu fahren." An einem Samstag, am Vorabend des Neuen Jahres, kam ein Gastgeber, als die wichtigsten Gäste schon gegangen waren, auf die Idee, Punsch zu bereiten. Belinski wäre zweifelsohne ebenfalls gegangen, aber eine Barrikade aus Möbelstücken hinderte ihn daran, und so verkroch er sich irgendwie in einen Winkel, vor den man ein kleines Tischchen mit Wein und Gläsern rückte. Shukowski, in einer weißen Uniformhose mit goldenen „Posamenten", setzte sich ihm schräg gegenüber. Eine Zeitlang harrte Belinski geduldig aus, aber als er keine Besserung seiner Lage erblickte, begann er den Tisch ein wenig wegzuschieben. Der Tisch gab zuerst nach, dann geriet er ins Wanken, stürzte mit Gepolter um, und der Inhalt einer Flasche Bordeaux ergoß sich über Shukowski. Der sprang auf, und der rote Wein lief an seiner Hose herunter. Ein Tumult entstand, ein herbeistürzender Diener beschmutzte mit einer Serviette den übrigen Teil der Hose, ein anderer
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Zweiter Teil
sammelte die Gläser auf... Belinski indessen floh zu Tode erschrocken und lief nach Hause". 4 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann ein Ball mit einer Polonaise, die die festliche Aufgabe hatte, das Menuett zu ersetzen. Das Menuett war mit dem französischen Königreich untergegangen. „Seit den Veränderungen, die sich bei den Europäern sowohl in der Kleidung als auch in der Denkweise vollzogen hatten, tauchten auch bei den Tänzen Neuheiten auf; und die Polonaise, die eine größere Zwanglosigkeit zuließ, nicht mehr nur von einer bestimmten Anzahl von Paaren getanzt wurde und von der dem Menuett eigenen formalen Strenge befreit war, trat an die Stelle des Eröffnungstanzes". 5 Mit der Polonaise läßt sich wahrscheinlich auch jene Strophe des achten Kapitels aus dem „Eugen Onegin" verbinden, die nicht in die endgültige Fassung des Gedichts aufgenommen wurde und die Großfürstin Alexandra Fjodorowna (die spätere Kaiserin) auf einem Petersburger Ball beschreibt; Puschkin nennt sie, nach dem Kostüm, das die Heldin eines Gedichts von Th. Moore auf einem Maskenball in Berlin trug, Lalla-Rookh.' Nach Shukowskis Gedicht „Lalla-Rookh" wurde dieser Name zum poetischen Beinamen Alexandra Fjodorownas: Und in den Saal so hell und reich, Man verstummt mit einem Ruck, Tritt einer Flügellilie gleich Mit leichtem Zögern Lalla-Rookh; Still gleitet sie durch das Gedränge, Und über der gebeugten Menge Leuchtet der Zarin Angesicht, Der Grazien Grazie, Sternenlicht; Und Jung und Alt, in Harmonie, Blickt auf den Zaren und auf sie Mit Eifersucht und auch verzückt, Nur Eu(gen), ohne Aug' für sie, Blickt auf T(atjana) nur gebannt, Allein für sie ist er entbrannt. (Puschkin. VI, 637) Der Ball figuriert bei Puschkin nicht als offizielle Parade-Festlichkeit, deshalb wird die Polonaise nicht erwähnt. Tolstoi wird in „Krieg und Frieden", den ersten Ball Nataschas beschreibend, die Polonaise, die der Herrscher eröffnet, indem er „die Hausherrin lächend, doch nicht im Takt an der Hand führt" („hinter ihm schritten der Hausherr mit M . A . Naryschkina, dann die Minister und verschiedene Generale"), dem zwei*
M . A. N a r y s c h k i n a war die Geliebte, nicht die Gattin des Zaren, deshalb durfte sie
den Ball nicht im ersten Paar eröffnen, bei Puschkin geht deshalb „ L a l l a - R o o k h " im ersten Paar mit Alexander I.
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ten Tanz, dem Walzer, gegenüberstellen, der für Natascha zu einem festlichen Augenblick wird. Der zweite Tanz des Balles ist also der Walzer. Puschkin charakterisiert ihn so: V o m Rausch der Rhythmen fortgezogen, Blind rastlos, wie der Jugend Sinn, Umschlingen sich des Walzers Wogen, Kreist wirbelnd Paar um Paar dahin. (5, XLI)
Die Epitheta „blind rastlos" haben nicht nur emotionale Bedeutung. „Blind" deshalb, weil der Walzer im Unterschied zur Mazurka, in der in dieser Zeit die Solotänze eine große Rolle spielten, und mehr noch im Unterschied zu dem Tanzspiel Kotillon, aus sich ständig wiederholenden gleichen Bewegungen bestand. Die Empfindung der Eintönigkeit wurde auch dadurch verstärkt, daß „man den Walzer in dieser Zeit in zwei und nicht in drei Schritten tanzte, wie jetzt". 7 Die Bezeichnung des Walzers als „rastlos" hatte einen anderen Sinn. Trotz seiner allgemeinen Verbreitung hatte der Walzer (L. Petrowski ist der Meinung, daß „es unnötig wäre, zu beschreiben, auf welche Weise man den Walzer tanzt, denn es gibt keinen Menschen, der nicht selbst tanzt oder nicht gesehen hätte, wie man tanzt" 8 ) den Ruf eines unanständigen oder zumindest frivolen Tanzes. „Dieser Tanz, in dem sich, wie bekannt, Personen beiderlei Geschlechts drehen und einander annähern, erfordert eine dazugehörige Vorsicht, damit man nicht zu nahe aneinander tanzt, was die Anständigkeit beleidigen könnte". 9 Noch entschiedener schrieb Madame de Genlis in ihrem „Kritischen und systematischen Wörterbuch der Hofetikette": „Eine junge Person, leicht gekleidet, wirft sich in die Arme eines jungen Menschen, der sie an seine Brust drückt, der sie so stürmisch herumwirbelt, daß ihr Herz unwillkürlich zu klopfen beginnt, und im Kopf beginnt es sich ihr zu drehen! Das also ist dieser Walzer! (...) Die moderne Jugend ist so natürlich, daß sie das Raffinement ablehnt und den Walzer mit rühmlicher Einfachheit und Leidenschaft tanzt". 10 Nicht nur die langweilige Moralistin Genlis, auch Goethes entflammter Werther hielt den Walzer für einen derart intimen Tanz, daß er schwor, ihn seine künftige Ehefrau mit niemand anderem als mit ihm selbst tanzen zu lassen. Der Walzer erzeugte eine besonders bequeme Atmosphäre für zärtliche Zwiesprache. Die Nähe der Tanzenden trug zur Intimität bei, und die Berührung der Hände ließ den Austausch von Briefchen zu. Der Walzer wurde lange getanzt, man konnte ihn unterbrechen, sich ein Weilchen setzen, und sich dann wieder der nächsten Tour anschließen. Damit waren also ideale Bedingungen für den Austausch zärtlicher Worte geschaffen:
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Im Jugenddrang nach Lust und Scherzen Ließ so ein Ball mir keine Ruh: Man angelt nirgends leichter Herzen U n d spielt sich kleine Briefchen zu. Verehrte Gatten! Seht, ich stelle Mich euch zu Dienst für derlei Fälle; Bedenkt mein Wort im vorhinein, Es soll euch eine Warnung sein. Auch ihr Mamas, gut auf die Blüte Der lieben Töchter aufgepaßt: N i e das Lorgnon vom Auge laßt! (1, X X I X )
Aber die Worte der Genlis sind auch in anderer Hinsicht interessant. Der Walzer wird den klassischen, der Etikette unterliegenden Tänzen der alten Zeit als ein romantischer, leidenschaftlicher, toller, gefährlicher und naturverbundener Tanz gegenübergestellt; die dem Walzer eigene „Nähe zum einfachen Volk" wurde überdeutlich empfunden: „Der Wiener Walzer setzt sich aus zwei Schritten zusammen, die darin bestehen, daß man zuerst den rechten, dann den linken Fuß setzt, und das schnell und wie toll, so wurde getanzt; und nun überlasse ich es dem Leser, zu beurteilen, ob er einem vornehmen Beisammensein oder irgendetwas anderem entspricht." 11 Der Walzer wurde auf den europäischen Bällen als Tribut an die neue Zeit zugelassen. Er war ein modischer und jugendlicher Tanz. Die Abfolge der Tänze während eines Balles stellte eine dynamische Komposition dar. Jeder Tanz hatte seine eigenen Intonationen und Tempi, gab nicht nur einen bestimmten Stil der Bewegungen, sondern auch der Gespräche an. U m das Wesen eines Balles verstehen zu können, muß man sich vor Augen halten, daß seine Tänze nur den organisierenden Kern bildeten. Die Abfolge der Tänze bestimmte auch den Verlauf der Stimmungen. Jeder Tanz ergab die zu ihm passende Gespräche. Dabei ist zu bedenken, daß das Gespräch, die Unterhaltung, einen nicht geringeren Teil des Tanzes ausmachten, als die Bewegungen und die Musik. Der Ausdruck „Mazurka-Plausch" darf keineswegs abwertend verstanden werden. Unvermittelte Scherze, zärtliche Geständnisse, entscheidende Erklärungen verteilten sich entsprechend der Zusammenstellung auf die aufeinanderfolgenden Tänze. Ein interessantes Beispiel für den Wechsel des Gesprächsthemas innerhalb der Tanzabfolge finden wir in „Anna Karenina". „Wronski tanzte mit Kitty einige Walzertouren". Tolstoi läßt uns an einer entscheidenden Minute im Leben der in Wronski verliebten Kitty teilhaben. Sie erwartet von ihm die Worte eines Geständnisses, das ihr Schicksal entscheiden soll, aber für dieses wichtige Gespräch bedarf es eines passenden Moments in der Dynamik des Balles. Dieses Gespräch ist nicht in einer beliebigen Minute und während eines beliebigen Tanzes möglich. „Während der Quadrille wurde nichts Wesentliches gesprochen, das
Der
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Gespräch verlief stockend". „Aber Kitty erwartete auch nicht viel mehr von der Quadrille. Sie wartete mit beklommenem Herzen auf die Mazurka. Es schien ihr, als müsse sich während der Mazurka alles entscheiden". Die Mazurka war der Mittelpunkt des Balles und gleichzeitig sein Kulminationspunkt. Die Mazurka wurde mit einer Vielzahl von absonderlichen Figuren getanzt, deren Höhepunkt ein männliches Solo war. Der Solist und der maitre de plaisir hatten ihren Einfallsreichtum und ihre Improvisationsfähigkeit unter Beweis zu stellen. „Der Chic der Mazurka besteht darin, daß der Kavalier die Dame an seine Brust zieht und sich mit dem Absatz gegen das Centre de gravite (um nicht Hinterteil zu sagen) schlägt, zum anderen Ende des Saales fliegt und sagt: ,Mazurkchen, meine Dame', und die Dame antwortet ihm: ,Mazurkchen, mein Herr'.(...) Damals wirbelte man paarweise und tanzte nicht so verhalten wie jetzt". 12 Innerhalb der Mazurka gab es einige prägnante Stile. Der Unterschied zwischen der Metropole und der Provinz zeigte sich vor allem in der Gegensätzlichkeit der Ausführung einer ,eleganten' und einer ,schneidigen' Mazurka: Nun folgt Mazurka. Wenn vor Zeiten Solch Tanz begann, mit einemmal Durchschwoll ein Sturm von Seligkeiten, Ein Jubelbraus den ganzen Saal, Daß Fenster klirrten, Wände dröhnten. Und heut? Heut trippeln wir Verwöhnten Geziert auf Glanzparkett dahin. (5, XLII) „Als die Eisen und die hohen Absätze an den Stiefeln aufkamen, vollführten diese bei jedem Schritt einen derartigen Lärm, daß bei einer Tanzveranstaltung, an der über zweihundert Menschen männlichen Geschlechts teilnahmen, wenn die Musik einer Mazurka einsetzte, (...) ihr Geklappe die Musik übertönte." 13 Aber es gab auch einen anderen Gegensatz. Die alte ,französische' Manier, die Mazurka auszuführen, forderte von dem Kavalier Gewandtheit im Sprung, den sogenannten Entrachat (Der Leser wird sich erinnern, daß Onegin („leicht die Mazurka tanzte"). Der Entrechat ist nach einem Lexikon des Tanzes, „ein Sprung, bei dem, während der Körper sich in der Luft befindet, ein Fuß dreimal gegen den anderen schlägt".14 Die französische ,vornehme' und ,gefällige' Manier der Mazurka wurde in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts, mit der Ausbreitung des Dandytums, durch die englische Manier ersetzt. Letztere forderte von dem Kavalier lässige, träge Bewegungen, die ausdrücken sollten, er tanze aus Langeweile und eigentlich mit Widerwillen. Der Kavalier verzichtete gänzlich auf die Mazurka-Plauderei und schwieg herablassend. „ ...Und überhaupt tanzt ein modischer Kavalier jetzt nicht, das schickt sich nicht'. ,Ach so?' fragte erstaunt Mister Smith (...) ,Nein, ich schwöre
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Zweiter Teil
bei meiner Ehre!' murmelte Mister Ritson, ,und wenn doch, dann bewegt man sich bei der Quadrille ein bißchen hin und her oder dreht sich beim Walzer (...), nein, zum Teufel mit diesen Tänzen, das ist schon zu vulgär'". 15 Die Smirnowa-Rosset berichtet in ihren Erinnerungen von ihrer ersten Begenung mit Puschkin. Noch Instituts-Elevin, hatte sie ihn zu einer Mazurka aufgefordert. Puschkin bewegte sich schweigend und träge einige Male mit ihr durch den Saal.16 Daß Onegin „leicht die Mazurka tanzte", zeigt, daß sein Dandytum und seine modische Blasiertheit im ersten Kapitel des „Romans in Versen" zur Hälfte vorgetäuscht waren. Er brachte es nicht über sich, ihretwegen auf die Mazurkasprünge zu verzichten. Der Dekabrist und der Liberale legte sich bei den Tänzen das englische Verhalten zu, das sich bis zum Verzicht darauf steigerte. In Puschkins „Roman in Briefen" schreibt Wladimir seinem Freund: „Deine spekulativen und wichtigen Überlegungen gehören dem Jahr 1818 an. Zu jener Zeit war Strenge der Regeln und politische Ökonomie Mode. Wir gingen auf die Bälle, ohne die Degen abzulegen (Man durfte nicht mit dem Degen tanzen, ein Offizier, der tanzen wollte, knöpfte den Degen ab und überließ ihn einem Diener. - J.L.), zu tanzen erschien uns ungehörig, und wir hatten keine Zeit, uns mit Damen abzugeben" (VIII (1), 55). Auf den seriösen Freundschaftsabenden bei Liprandi wurde nicht getanzt.17 Der Dekabrist N.I. Turgenjew schrieb seinem Bruder Sergej am 25. März 1819, wie erstaunt er über die Nachricht gewesen sei, daß sein Bruder auf einem Ball in Paris getanzt hatte (S.I. Turgenjew befand sich unter dem Kommando des Befehlshabers des russischen Expeditionskorps, Graf M.S. Woronzow, in Frankreich): „Du tanzt, wie ich gehört habe. Die Tochter des Gr(afen) Golowin hat ihm geschrieben, sie hätte mit Dir getanzt. Ich habe mit einigem Erstaunen erfahren, daß in Frankreich noch getanzt wird! Une ecossaise constitutionelle, independante, ou une contredanse monarchique ou une danse contre-monarchique" 18 (Eine verfassungstreue Ekossaise, eine unabhängige Ekossaise, monarchistischer Kontertanz oder antimonarchistischer Tanz - dieses Wortspiel besteht aus der Aufzählung politischer Parteien, Konstitutionalisten, Unabhängige, Monarchisten, und dem Gebrauch der Vorsilbe „Konter" als eines bald dem Tanz, bald dem Politischen zugehörigen Terminus.) Darauf bezieht sich auch die Klage der Fürstin Tugouchowskaja in „Verstand schafft Leiden": „Tänzer sind entsetzlich rar geworden!" Der Gegensatz zwischen einem Menschen, der über Adam Smith urteilt, und dem, der einen Walzer oder eine Mazurka tanzt, wird auch durch die dem programmatischen Monolog Tschazkis folgende Regieanweisung unterstrichen: „Blickt sich um, alles dreht sich mit größtem Eifer im Walzer". Puschkins Verse:
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Bujanow kommt in kühnem Bogen Mit beiden Schwestern aus dem Schwärm Auf unsern Helden losgezogen... (5, XLIII, XLIV) beziehen sich auf ein Element der Mazurka: dem Kavalier (oder der Dame) führt man zwei Damen (oder Kavaliere) zu und läßt ihn oder sie wählen. Die Entscheidung eines Paares füreinander wurde als gegenseitiges Interesse, als Wohlwollen oder, wie Lenski das deutete, als Verliebtheit empfunden. So fragte Nikolai I. die Smirnowa-Rosset tadelnd: „Warum wählst du nicht mich?" 19 In einigen Fällen war diese Wahl mit einem Rätsel verbunden, das sich auf Eigenheiten der Tanzwilligen bezog: „Die drei hinzugekommenen Damen unterbrachen das Gespräch mit der Frage: ,oubli ou regret"" (Puschkin, VIII (1) 224). Oder, wie es in L. Tolstois „Nach dem Ball" heißt: „...ich war also bei der Mazurka nicht ihr Partner...Wenn wir Herren an sie herangeführt wurden, sie aber nicht das mir zugefallene Stichwort erriet und dann einem anderen Tänzer die Hand reichen mußte, zuckte sie bedauernd die schmalen Schultern und lächelte mir freundlich zu, als wollte sie mich trösten..." 20 Der Kotillon, eine Art Quadrille und einer der den Ball beschließenden ungezwungensten, mannigfaltigsten und ausgelassensten Tänze, wurde in Walzermanier getanzt und stellte ein Tanzspiel dar: „... man bildet ein Kreuz oder einen Kreis, läßt die Dame sich setzen und führt ihr feierlich die Kavaliere zu, damit sie einen auswählen kann, mit dem sie tanzen will, andernorts kniet man sogar vor ihr nieder; um ihren Dank auszudrücken, setzen sich auch die Männer und wählen die Dame, der sie zuneigen...Danach folgen von Scherzen begleitete Gesten, wie das Uberreichen der Karten und geknoteter Tücher, man neckt sich, löst sich während des Tanzes vom anderen und springt hoch über das Tuch..." 20 Der Ball war nicht die einzige Möglichkeit, eine Nacht fröhlich und laut zu verbringen. Alternativen dazu waren: ...der Jugend ungestümes Tollen, der Offizierstrupps wüstes Grollen... (Puschkin, VI, 621) sowie Zechgelage noch Unverheirateter in der Gesellschaft von jungen Nachtschwärmern, duellwütigen Offizieren, berüchtigten „Spaßvögeln" und Trunkenbolden. Ein Ball war ein anständiger und durchaus standesgemäßer Zeitvertreib, gemessen an diesem Treiben, das zwar in bestimmten Gardekreisen kultiviert, im großen und ganzen aber als Äußerung eines „schlechten Tons" empfunden und einem jungen Menschen nur in gewissen, sehr engen Grenzen nachgesehen wurde. Der zu einem freizügi* Vergessen oder bedauern (franz.).
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gen und lockeren Leben neigende M. D. Buturlin erinnert sich, daß es keinen einzigen Moment gab, in dem er auch nur „einen einzigen Ball versäumt" hätte. Das, schreibt er, „erfreute vor allem meine Mutter als Beweis dafür, daß j'avais pris le gout de la bonne Société". Aber der Geschmack an einem unbekümmerten Leben gewann die Oberhand: „In meiner Wohnung fanden oft Festmähler und Abendessen statt. Meine Gäste waren einige unserer Offiziere und meine Petersburger Bekannten aus dem Zivildienst, meist Ausländer. Da flössen natürlich grenzenlose Ströme von Champagner und Punsch. Aber mein Hauptfehler bestand darin, daß ich sofort nach meiner Ankunft und nach den ersten Besuchen mit meinem Bruder bei der Fürstin Maria Wassiljewna Kotschubej, bei Natalja Kirilowna Sagrjashskaja (die mir damals sehr viel bedeutete) und bei anderen Verwandten oder Bekannten unserer Familie damit aufhörte, mich in der guten Gesellschaft sehen zu lassen. Ich erinnere mich, wie mich einmal, beim Verlassen des französischen Theaters auf der Kamenny-Insel, meine alte Bekannte Jelisaweta Michailowna Chitrowo erkannte und ausrief. „Ach, Michel!". Und ich eilte, um der Begegnung mit ihr und einer Erklärung auszuweichen, statt die Haupttreppe hinunterzugehen, wo sich diese Szene abspielte, hastig nach rechts an den Säulen der Fassade vorbei. Aber dort gab es keine Stufen, die auf die Straße hinabgeführt hätten, und so stürzte ich aus einer ziemlichen Höhe jählings hinab und riskierte, mir dabei eine Hand oder ein Bein zu brechen. Unglücklicherweise wurde es mir zur Gewohnheit, im Kreise der Armeekameraden ein sehr freizügiges und ungebundenes Leben zu führen mit nächtlichen Gelagen in den Restaurants, und die Ausflüge in die Salons der guten Gesellschaft begannen mir lästig zu werden; und so kamen diese Gesellschaftskreise in wenigen Monaten (und nicht ohne Grund) zu dem Schluß, daß ich ein dem Sumpf der schlechten Gesellschaft verfallener Kerl war." 21 Die späten Gelage, die in einem der Petersburger Restaurants begannen, endeten gewöhnlich in der „Roten Schenke", die sich etwa sieben Werst außerhalb, an der Straße nach Peterhof befand und ein bevorzugter Ort für die Gelage der Offiziere war. Hitzige Kartenspiele und lärmende Streifzüge durch die nächtlichen Petersburger Straßen vervollständigten das Bild. Das lärmende Durchstreifen der nächtlichen Straßen, „das Mitternachtsgelärm der Trupps" (Puschkin, VIII, 3), waren die gewöhnliche nächtliche Beschäftigung der „Liederjane". Der Neffe des Dichters Delwig erinnert sich: „...Puschkin und Delwig erzählten uns von den Spaziergängen, die sie nach dem Absolvieren des Lyzeums durch die Petersburger Straßen gemacht, und von den Streichen, die sie dabei vollführt hatten, und sie verspotteten uns Jüngere, die wir uns weder über jemanden lustig machten, noch anderen, die um zehn oder
..daß ich es vorzog, mich in guter Gesellschaft zu bewegen (franz.).
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mehr Jahre älter waren als wir den Weg vertraten...Liest man die Aufzeichnungen dieser Spaziergänge, könnte man annehmen, daß Puschkin, Delwig und die sie außer meinem Bruder begleitenden Personen allesamt betrunken waren, aber ich kann entschieden bezeugen, daß das ganz und gar nicht der Fall war, sie wollten sich einfach zerstreuen und uns, der jungen Generation, einfach unser ernsthaftes und wohlgesittetes Benehmen vorhalten". 22 In dem gleichen Geist rissen, wenn auch etwas später, gegen Ende der 20er Jahre des 19. Jahrhunderts, Buturlin und seine Freunde einem Doppeladler auf einem Apothekenschild das Szepter und die Machtinsignien aus den Fängen und stolzierten damit durch das Stadtzentrum. Dieser „Streich" hatte schon einen recht gefährlichen politischen Aspekt, denn er hätte als „Majestätsbeleidigung" geahndet werden können. Nicht von ungefähr konnte sich der Bekannte, den sie mit den Beutestücken aufsuchten, „nie ohne Entsetzen an diesen nächtlichen Besuch erinnern". War dieses Abenteuer noch glimpflich abgelaufen, folgte dem Versuch, in einem Restaurant die Büste des Zaren mit Suppe zu füttern, die Strafe auf dem Fuß. Die bürgerlichen Freunde Buturlins wurden in den Kaukasus und nach Astrachan strafversetzt, während er in einem Regiment in der Provinz Dienst tun mußte. Das war alles kein Zufall: Die „tollen Zechgelage", die jugendliche Ausgelassenheit vor dem Hintergrund der Araktschejewschen (später der Nikolaischen) Hauptstadt nahmen unweigerlich eine oppositionelle Färbung an (Siehe das Kapitel „Dekabristen im Alltag"). Der Ball hatte eine geradlinige Komposition. Es stellte gewissermaßen ein festliches Ganzes dar, dessen Ablauf von den strengen Formen eines festlichen Balletts bis zu den formalen Variationen eines choreographischen Spiels reichte. Aber um den Sinn eines Balles als Ganzes zu begreifen, muß man ihn zwei äußersten Polen gegenüberstellen: Der Parade und dem Maskenball. Die Parade in der Form, die sie unter dem Einfluß des eigenwilligen ,Schöpfertums' Pauls I. und unter den Pawlowitschs: Alexander, Konstantin und Nikolai erlangte, stellte ein eigentümliches und gründlich durchdachtes Ritual dar, das in völligem Gegensatz zu einer Schlacht stand. Von Bock nannte sie mit Recht einen „Triumph der Nichtigkeit". Die Schlacht erforderte Initiative, die Parade eine Unterordnung, die die Armee in ein Ballett verwandelte. Der Ball war etwas der Parade geradezu Entgegengesetztes. Der Unterordnung, der Disziplin, dem Auslöschen der Persönlichkeit stellte der Ball die Fröhlichkeit, die Freiheit gegenüber, und der düsteren Bedrücktheit des Menschen die freudige Erregung. In diesem Sinne bestand der chronologische Ablauf des Paradetages oder seine Vorbereitung aus Exerzieren, Manege und anderen Einfällen der „Zaren der Wissenschaft" (Puschkin), beim Ballett dagegen, beim Fest, auf einem Ball, führte die Bewegung von der Unterordnung zur Freiheit, von der unerbittlichen Einförmigkeit hin zu Fröhlichkeit und Formenreichtum.
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Aber auch der Ball war strikten Gesetzen unterworfen. Die Stufen der Ordnung, der man sich zu unterwerfen hatte, waren unterschiedlich. V o n den Bällen mit mehreren tausend Menschen im Winterpalais, die gewöhnlich mit einem besonders feierlichen Datum verbunden waren, bis zu den kleinen Bällen in den Häusern der Gutsbesitzer auf dem Lande, deren Tänze von einem Leibeigenen-Orchester oder der Violine eines deutschen Lehrers begleitet wurden, war es ein langer und vielstufiger Weg. D e r Grad der Freiheit war auf den verschiedenen Stufen dieses Weges unterschiedlich. D o c h die Tatsache, daß dem Ball eine Komposition und eine strenge innere Organisation zugrundelagen, schränkte seine innere Freiheit ein. Das machte ein weiteres Element notwendig, das in diesem System die Rolle einer „organisierten Desorganisierung" spielen konnte, ein geplantes und vorgesehenes Chaos. Diese Rolle übernahm die Maskierung. Die Maskierung widersprach im Prinzip den tiefgehenden kirchlichen Traditionen. I m orthodoxen Bewußtsein war sie eines der beständigsten Zeichen der Dämonie. In der Volkskultur wurden das Maskieren und die einzelnen Elemente des Maskenballs nur in den Ritualhandlungen der Weihnachts- und Frühjahrszyklen zugelassen, die die Austreibung der Dämonen imitierten und in denen sich Reste heidnischer Vorstellungen erhalten hatten. Aus diesem Grunde gelang es der europäischenTradition des Maskenballs nur schwer, in die adlige Lebensweise einzudringen, oder sie floß mit der folkloristischen Maskerade zusammen. Als F o r m eines Adelsfestes war der Maskenball eine in sich abgeschlossene, beinahe geheime Fröhlichkeit. Elemente des sich über diese N o r m Hinwegsetzens und des Aufbegehrens zeigten sich in zwei charakteristischen Episoden. Sowohl Elisabeth als auch Katharina II. trugen bei ihren Staatsstreichen männliche Gardeuniformen und saßen in Männermanier auf ihren Pferden. Hier hatte die Verkleidung einen symbolischen Charakter angenommen: Eine Frau, eine Kronprätendentin, verwandelte sich in den Kaiser. Damit läßt sich nach Stscherbatow auch das Auftreten einer Person, in diesem Falle Elisabeths, bald in einer männlichen, bald in einer weiblichen Rolle vergleichen. V o n der militärisch-staatsdienlichen Verkleidung* war es nur noch ein Schritt bis zum Maskenspiel. Hier wäre an Ideen Katharinas II. anläßlich öffentlicher Maskeraden zu erinnern; erschienen beispielsweise auf dem berühmten Karussel Grigori O r l o w und andere Teilnehmer in Ritterkostümen, fand Katharina im Geheimen, in den abgeschlossenen Räumen der Kleinen Eremitage, ganz andere Maskenbälle amüsant. So entwarf sie zum Beispiel eigenhändig einen ausführlichen Plan für eine Festlichkeit, bei der den Männern und Frauen gesonderte Umkleideräume zur Verfü-
D a m i t k ö n n t e man die Sitte der Kaiserin vergleichen, stets in den U n i f o r m e n jener Regimenter aufzutreten, die sie ihres Besuches würdigte.
Der Ball
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gung gestellt wurden, wo die Damen in männliche und die Männer in weibliche Kostüme schlüpften (hier war Katharina allerdings nicht uneigennützig: ihre Schlankheit wurde durch ein männliches Kostüm betont, während die Gardisten komische Figuren abgaben). Die Maskerade, der wir in dem gleichnamigen Lermontowschen Stück begegnen, ein Maskenball im Engelhardtschen Haus an der Ecke NewskiProspekt/Moika, hatte einen geradezu entgegengesetzten Charakter. Es war der erste öffentliche Maskenball in Rußland. Wer am Eingang Eintritt bezahlte, wurde zugelassen. Die grundsätzliche Verschiedenartigkeit der Gäste, die sozialen Kontraste und die zugestandene Freizügigkeit im Benehmen, die die Engelhardtschen Maskenbälle zur Zielscheibe von Gerüchten werden ließen, all das schuf einen pikanten Gegensatz zu den anderen, steiferen Petersburger Bällen. Erinnern wir uns nur an das Bonmot, das Puschkin einem Ausländer in den Mund legte, die Petersburger Moral würde von der Helle der Sommernächte und der Kälte der Winternächte bestimmt. Die Engelhardtschen Bälle wurden dadurch nicht beeinträchtigt. In Lermontows „Maskerade" findet sich eine vieldeutige Anspielung: Arbenin Abwechslung könnte uns nicht schaden, Jetzt ist Ball bei Engelhardt... Fürst Dort soll es Weiber geben...Außerdem Verkehren da, so sagt man, allerlei... Arbenin Soll man es sagen, was geht uns das an? Die Maske macht uns gleich, sie hat Kein Herz und keinen Rang - nur Körper - , Und mag sie das Gesicht verbergen - schnell Zieht sie von den Gefühlen sich zurück. Die Rolle, die der Maskenball im gezierten, in Uniformen gezwängten Nikolaischen Petersburg spielte, ist nicht weit entfernt von der, die der übersättigte französische Hofadel während der Restauration spielte, der sich, wenn er im Verlauf der Nacht alle Formen des Raffinements erschöpft hatte, in irgendein schmutziges Bistro in einem zweifelhaften Pariser Arrondissement begab und dort fragwürdige, ungewaschene Därme verschlang. Gerade die Schärfe des Kontrastes war es, die den vom Raffinement Übersättigten hier ein neues Erlebnis verschaffte. Im Drama Lermontows antwortet Arbenin auf die Worte des Fürsten: „Sind die Masken dumm!", mit einem Monolog, der das Unvermittelte und die Unberechenbarkeit preist, die die Maske in die Gesellschaft trägt:
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Zweiter Teil
Nein, dumme Masken gibt es nicht, sie sind Geheimnisvoll im Schweigen, aber wenn Sie sprechen, sind sie süß. Bedenken Sie Die Möglichkeiten: Alles können Sie Sich denken: Lächeln, einen Blick. Sehn Sie Zum Beispiel diese Türkin da: der Busen Ist füllig und der Körper hochgewachsen, Sie atmet leidenschaftlich. Eine Fürstin, Vielleicht auch eine stolze Gräfin...Kurz: Diana in Gesellschaft, eine Venus Des Maskenballs. Und es kann sein, daß sie Sie morgen abend schon besucht. Die Parade und die Maskerade bildeten den glänzenden R a h m e n eines Bildes, in dessen Zentrum sich der Ball befand.
BRAUTWERBUNG, HEIRAT, SCHEIDUNG
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrieb L. Tolstoi in „Anna Karenina" über die Schwierigkeiten, die sich aus einer so einfachen und natürlichen Angelegenheit w i e die Verheiratung eines adligen Mädchens ergaben. „ ,Heutzutage ist die Ehe etwas ganz anderes als früher', dachten und sagten alle diese jungen Mädchen, und manche der älteren Leute gaben ihnen recht. Wie man denn nun aber schließlich heutzutage seine Töchter verheiraten solle, das konnte die Fürstin von niemand erfahren. Die französische Sitte, wonach ausschließlich die Eltern das Schicksal der Töchter zu bestimmen hatten, war nicht angenommen und wurde allgemein verurteilt. Der englische Brauch, wonach umgekehrt die Mädchen die volle Freiheit der Wahl hatten, war ebensowenig eingebürgert und nicht denkbar in der russischen Gesellschaft. Die altrussischen Heiratsbräuche vollends waren gänzlich veraltet, und selbst die Fürstin hatte nur ein Lachen dafür übrig. So blieb es ungeklärt, auf welche Weise man denn nun seine Töchter an den Mann bringen sollte. Wen die Fürstin auch befragen mochte, überall erhielt sie die gleiche Antwort: ,Aber Beste, lassen Sie doch diese altmodischen Vorurteile. Die jungen Leute sind es doch, die heiraten, nicht die Eltern. Also soll man auch den jungen Leuten die Initiative überlassen'. Diejenigen, die keine Töchter hatten, hatten freilich gut reden. Die Fürstin aber kam nicht von dem Gedanken los, daß auf diese Weise ihre Tochter sich allzu leicht in einen Mann verlieben könnte, der sie gar nicht haben wollte, oder, was noch schlimmer war, in einen, der nicht zum Gatten taugte". Das Ritual der Heirat weist in der adligen Gesellschaft die gleichen Widersprüche auf, w i e sie sich auch im Alltagsleben finden lassen. Die traditionellen russischen Bräuche gerieten in Konflikt mit den Vorstellungen, die
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Zweiter Teil
Nein, dumme Masken gibt es nicht, sie sind Geheimnisvoll im Schweigen, aber wenn Sie sprechen, sind sie süß. Bedenken Sie Die Möglichkeiten: Alles können Sie Sich denken: Lächeln, einen Blick. Sehn Sie Zum Beispiel diese Türkin da: der Busen Ist füllig und der Körper hochgewachsen, Sie atmet leidenschaftlich. Eine Fürstin, Vielleicht auch eine stolze Gräfin...Kurz: Diana in Gesellschaft, eine Venus Des Maskenballs. Und es kann sein, daß sie Sie morgen abend schon besucht. Die Parade und die Maskerade bildeten den glänzenden R a h m e n eines Bildes, in dessen Zentrum sich der Ball befand.
BRAUTWERBUNG, HEIRAT, SCHEIDUNG
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts schrieb L. Tolstoi in „Anna Karenina" über die Schwierigkeiten, die sich aus einer so einfachen und natürlichen Angelegenheit w i e die Verheiratung eines adligen Mädchens ergaben. „ ,Heutzutage ist die Ehe etwas ganz anderes als früher', dachten und sagten alle diese jungen Mädchen, und manche der älteren Leute gaben ihnen recht. Wie man denn nun aber schließlich heutzutage seine Töchter verheiraten solle, das konnte die Fürstin von niemand erfahren. Die französische Sitte, wonach ausschließlich die Eltern das Schicksal der Töchter zu bestimmen hatten, war nicht angenommen und wurde allgemein verurteilt. Der englische Brauch, wonach umgekehrt die Mädchen die volle Freiheit der Wahl hatten, war ebensowenig eingebürgert und nicht denkbar in der russischen Gesellschaft. Die altrussischen Heiratsbräuche vollends waren gänzlich veraltet, und selbst die Fürstin hatte nur ein Lachen dafür übrig. So blieb es ungeklärt, auf welche Weise man denn nun seine Töchter an den Mann bringen sollte. Wen die Fürstin auch befragen mochte, überall erhielt sie die gleiche Antwort: ,Aber Beste, lassen Sie doch diese altmodischen Vorurteile. Die jungen Leute sind es doch, die heiraten, nicht die Eltern. Also soll man auch den jungen Leuten die Initiative überlassen'. Diejenigen, die keine Töchter hatten, hatten freilich gut reden. Die Fürstin aber kam nicht von dem Gedanken los, daß auf diese Weise ihre Tochter sich allzu leicht in einen Mann verlieben könnte, der sie gar nicht haben wollte, oder, was noch schlimmer war, in einen, der nicht zum Gatten taugte". Das Ritual der Heirat weist in der adligen Gesellschaft die gleichen Widersprüche auf, w i e sie sich auch im Alltagsleben finden lassen. Die traditionellen russischen Bräuche gerieten in Konflikt mit den Vorstellungen, die
Brautwerbung, Heirat,
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man vom Europäertum hatte. Aber auch dieses ,Europäertum' w a r w e i t von der europäischen Realität entfernt. Im 18. Jahrhundert dominierten in der adligen russischen Lebensweise noch die traditionellen Formen der Eheschließung: Der Bräutigam hatte die Zustimmung der Eltern einzuholen, erst danach erklärte er sich der Braut. Eine vorhergehende Liebeserklärung oder romantische Beziehung zwischen den jungen Leuten gab es, von Ausnahmen abgesehen, nicht, sie waren nicht erwünscht und galten sogar als „unschicklich". Die jungen Leute lehnten die strengen Forderungen der Eltern ab, die sie als Folge einer mangelnden Bildung ansahen, und denen sie ihre europäische Aufgeklärtheit' entgegensetzten. Aber diese ,europäische Aufgeklärtheit' entsprach nicht der Wirklichkeit des Westens, sondern Vorstellungen, die man Romanen entnommen hatte. Voraus wolln wir das Leben ahnen und holen es uns aus Romanen. (Puschkin, VI, 226) So fanden also Romansituationen Eingang in jene russische Lebensweise, die sich als ,aufgeklärt' und ,westlich' empfand. Es sei hier angemerkt, daß „westliche" Formen der Heirat schon seit archaischen Zeiten in der russischen Gesellschaft existierten, aber sie wurden anfangs als heidnisch begriffen und galten später, mit der Aura des Verbotenen umgeben, als ,unmoralisch'. Bereits in der „Chronik der Zeiten" schreibt der Chronist, daß sich das „Leben der Ahnen nach animalischen Gewohnheiten" vollzogen habe, „sie kannten keine Heirat, sondern raubten die Mädchen an den Wassern". Doch er hält es für nötig hinzuzufügen: „nach Absprache mit ihnen". 2 3 Aber auch bei den heidnischen Urahnen existierten bereits entwickelte Eheformen, und der christliche Chronist konnte nicht verhehlen, daß der Raub lediglich eine der Tradition verhaftete Form der Heirat war. Die Mißachtung des Willens der Eltern und der Brautraub gingen nicht in die Normen der europäischen Verhaltensweisen ein, dafür aber wurden sie zum Gegenstand der Romantik. Was in der alten Rus praktisch existierte, aber als Verbrechen empfunden wurde, erschien dem,romantischen' Bewußtsein an der Jahrhundertwende plötzlich als Alternative zu den Sitten der Urahnen. Und am Anfang des 19. Jahrhunderts wird es sich rasch in die Normen des ,romantischen' Verhaltens einfügen und zu einem Teil des alltäglichen Lebens werden. Am 19. November 1833 schrieb Puschkin an Nastschokin: „Zuhause fand ich alles in Ordnung. Die Gattin war auf den Ball gefahren, und ich fuhr sie abzuholen und führte sie mit mir fort, wie der Ulan das Provinzfräulein von der Namenstagsfeier der Stadthauptmannsfrau" (XV, 96). Dieses ironische Lächeln ist auch in den Worten Gogols zu spüren, als Afanassi Iwanowitsch in seiner Jugend „recht geschickt Pulcheria Iwanowna entführt, deren Angehörige sie ihm vorenthalten wollten". Aber sowohl in der Literatur als auch im Leben dieser Zeit finden sich nicht nur
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ironische Varianten dieses Konflikts. Wir brauchen uns nur an die dramatische Geschichte der Verführung und Entführung Natascha Rostowas durch Anatoli Kuragin zu erinnern. Das ausführliche Bild einer ähnlichen Entführung entwirft Puschkin im „Schneesturm". Hier haben wir das Ritual einer romantischen Entführung mit allen Einzelheiten. Die Liebe des ärmlichen Gutsbesitzers Wladimir zu seiner Nachbarin kollidiert mit dem Verbot ihrer Eltern. Und alles, was mit den jungen Leuten weiter geschieht, vollzieht sich nach dem Kanon der Romane, die sie gelesen haben. „In jedem Brief flehte Wadimir Nikolajewitsch sie an, ihm nachzugeben, einer heimlichen Trauung zuzustimmen, sich einige Zeit mit ihm zu verbergen und sich dann den Eltern zu Füßen zu werfen, die dann letzten Endes von der heldenmütigen Standhaftigkeit und dem Unglück der Liebenden angerührt sein und sagen werden:,Kommt in unsere Arme, Kinder'". Die Heldin beschließt zu fliehen; zuvor hat sie einen rührseligen Brief an die Eltern geschrieben und mit dem Tualer Siegel versehen, „auf dem zwei flammende Herzen mit einer entsprechenden Inschrift dargestellt waren". Mit protokollarischer Genauigkeit beschreibt Puschkin im weiteren die Vorbereitung der heimlichen Trauung und der Entführung: „Wladimir war den ganzen Tag über in Aufbruchstimmung. Schon am Morgen war er bei dem Shadrinsker Priester gewesen und hatte sich mit ihm nicht ohne Mühe geeinigt; danach hatte er sich bei den benachbarten Gutsbesitzern nach Trauzeugen umgesehen. Als ersten suchte er den vierzigjährigen Kornett außer Dienst, Drawin, auf, der gern zusagte. Dieses Abenteuer, versicherte er, erinnere ihn an die vergangenen Zeiten und an die Husarenstreiche...Gleich nach dem Mittagessen erschien mit Schnurrbart und Sporen der Landvermesser Schmidt nebst dem Sohn des Kreispolizeichefs, einem Knaben von etwa sechzehn Jahren, der sich vor kurzem bei den Ulanen hatte einschreiben lassen. Sie hatten sich nicht nur auf Wladimirs Bitte hin bereiterklärt, sondern ihm auch geschworen, entschlossen zu sein, ihr Leben für ihn zu opfern. Wladimir umarmte sie begeistert...". Der ganze Ton der Puschkinschen Darstellung gibt den angelesenen und literarisch-romantischen Charakter dieser Situation wieder. Die familiären Beziehungen waren im Alltag der Leibeigenschaft untrennbar mit dem Verhältnis verbunden, das zwischen dem Gutsbesitzer und den Bäuerinnen herrschte. Von Karamsin bis Gontscharow ist das ein obligatorischer Hintergrund, ohne den auch die Beziehungen zwischen Ehemann und Ehefrau unverständlich bleiben würden. Ein Ausdruck der Merkwürdigkeiten des Alltags dieser Epoche waren die Leibeigenen-Harems. Der Leibeigenen-Harem entstammte nicht den vorpetrinischen Bräuchen. Obwohl spätere Kritiker der Leibeigenschaft dazu neigten, darin eine Ausgeburt der ,alten Bräuche' zu sehen, war der Leibeigenen-Harem erst durch jene anomale Entwicklung der Leibeigenschaft möglich geworden, die sich nun etablierte. Die Beschreibung, die wir beispielsweise in den Memoiren J.M. Newerows finden, zeichnet ein
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bezeichnendes und zugleich überraschendes Bild. In dem von dem Gutsbesitzer P. A. Koschkarew eingerichteten Harem werden leibeigene Mädchen gehalten. Die Mädchen werden dem Herrenhaus aus dem Kreis der Leibeigenen zugeführt. Hier werden sie streng von jeder männlichen Gesellschaft isoliert: sogar den Lakaien ist das Betreten ihres Flügels untersagt. Beim Gang zur Kirche und sogar zur Toilette werden sie von einem speziell dafür abgestellten Weib begleitet. Dabei können alle diese Mädchen lesen und schreiben, und einige sprechen sogar Französisch. Der Autor dieser Memoiren, damals noch ein Kind, erinnert sich: „Meine wichtigste Lehrerin war die gute Nastasja, wahrscheinlich weil ich mich daran erinnere, wie sie mich ständig mit ihren Erzählungen über die von ihr gelesenen Bücher fesselte, und weil ich von ihr zum erstenmal die Gedichte Puschkins hörte, nur nach ihren Worten habe ich die „Fontäne von Bachtschissarai" auswendig gelernt, und später legte ich mir ein ganzes Heft mit Gedichten von Puschkin und Shukowski an. Uberhaupt waren alle Mädchen gut entwickelt: sie waren wunderbar gekleidet und erhielten, wie auch die männliche Dienerschaft, eine monatliche Entlohnung, sowie zu den Feiertagen Geldgeschenke. Sie trugen jedoch nicht die Nationaltracht, sondern europäische Kleider". 24 Auch wenn der Haremsbesitzer schon über siebzig war, wurde die Unantastbarkeit seiner Beischläferinnen streng überwacht. Der gleiche Autor beschreibt auch die grausame Bestrafung eines Mädchens, daß mit einem Liebhaber aus dem Harem zu fliehen versucht hatte. Und das war kein Einzelfall. Eine anekdotische Geschichte aus dem Jahre 1812 berichtet, wie anläßlich der bekannten Moskauer Zusammenkunft Alexanders I. mit Adligen und Kaufleuten ein Gutsbesitzer in seiner patriotischen Begeisterung bereit war, seinen Harem auf dem Altar des Vaterlandes zu opfern und Alexander I. zurief: „Herrscher, nimm, nimm sie alle, Natascha, Mascha, Parascha!" Die fehlende Kontrolle des alltäglichen Umgangs mit den Leibeigenen führte zu geradezu pathologischen Verirrungen. Die Macht des Gutsbesitzers über die Bauern wurde nur durch Brauch und kirchliche Tradition eingeschränkt. Die parallel verlaufende Auflösung letzterer und die zunehmende Macht der Gutsbesitzer über die Bauern machten diese praktisch schutzlos. Und so wird in den Memoiren J. Newerows die Bestrafung des Mädchens, das mit seinem leibeigenen Liebhaber davonzulaufen versucht hatte, beschrieben: „Afimja wurde, nachdem man sie tüchtig durchgeprügelt hatte, für einen ganzen Monat auf einen Stuhl gesetzt. Das ist eine der grausamsten Strafen, die man heute noch kennt, und deshalb will ich versuchen, sie zu beschreiben. Man legte um den Hals der Beschuldigten ein breites eisernes Band, das mit einem Schloß versehen wurde, dessen Schlüssel der Haremsverwalter verwahrte. An dem Halsband wurde eine kleine eiserne Kette befestigt, die in einem riesigen Holzkloben endete, so daß es zwar möglich war, den Kloben mit großer Anstrengung anzuheben und sich von der Stelle zu bewegen, aber
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zumeist war das nur mit fremder Hilfe zu bewerkstelligen; das Halsband hatte eiserne Dornen, die eine Neigung des Kopfes verhinderten, so daß die Unglückliche in ständiger Unbeweglichkeit verharren mußte, lediglich für die Nacht legte man ihr ein Kissen unter die Dornen des Halsbandes, damit sie sitzend schlafen konnte. Dieses Instrument wurde im Mädchenflügel aufbewahrt, und ich sah seine Anwendung im Verlauf von acht Jahren nur ein einziges Mal, bei ebenjener unglücklichen Afimja, und ich kann mich nicht erinnern, daß es in diesen Jahren jemals bei jemandem aus der männlichen Dienerschaft in Anwendung kam, die überhaupt eine weitaus humanere Behandlung genoß; eine Ausnahme bildete lediglich die Geschichte mit dem unglücklichen Fjodor. An dem gleichen Tag, an dem die Bestrafung Afimjas stattfand... wurde nach dem Tee der arme Fjodor über den Hof und unter die Fenster des Kabinetts geschleppt. Koschkarow, am Fenster stehend, beschimpfte ihn fürchterlich und schrie:,Peitschen, Leute!' Darauf kamen einige Leute mit Peitschen, und mitten auf dem Hof nahm die entsetzliche Exekution ihren Anfang. Der am Fenster stehende Koschkarow animierte die Exekutoren mit seinem Geschrei: ,Schlagt ihn, schlagt ihn noch stärker!' Das ging eine ganze Zeit so, bis der Unglückliche erst erbärmlich schrie und stöhnte, dann still und stiller wurde und die Prügler innehielten. Koschkarow schrie:,Warum hört Ihr auf? Schlagt ihn weiter!' ,Geht nicht', antworteten jene, ,er stirbt'. Aber auch das vermochte die Wut Koschkarows nicht zu lindern. Er schrie: ,He, Kerl, bring einen Spaten!'. Einer der Prügler eilte in den Pferdestall und brachte einen Spaten. ,Nimm Sch...auf den Spaten', brüllte Koschkarow... Der den Spaten hielt, stieß ihn bei den Worten ,Nimm Sch... auf den Spaten' in einen Haufen Pferdedreck.,Schmeiß ihn dem Schurken in die Fratze und bringt ihn weg'". 25 Im Laufe des ganzen 18. Jahrhunderts verstärkte sich die Macht des Gutsbesitzers über die Bauern ununterbrochen. U n d schließlich wurde der Bauer, wie Radistschew es ausdrückte, zu einem „vor dem Gesetz Toten" gemacht. Das heißt er wurde, nach der juristischen Terminologie, aus einem Subjekt der Macht und des Eigentums in ein Objekt verwandelt. In der Alltagssprache bedeutete das, daß der Bauer vor dem Gesetz nicht Person, sondern Sache war: der Gutsbesitzer verfügte über ihn und seinen Besitz. Das W o r t „Sklave" fand Eingang in die Sprache des 18. Jahrhunderts. Lange Zeit hindurch w u r d e es sogar in der Anredeformel für den Zaren verwendet: „Euer allerhöchsten Majestät untertänigster Sklave". U n t e r Katharina II. w u r d e diese Anrede des Staatsoberhauptes offiziell abgeschafft. Aber mit Bezug auf die leibeigenen Bauern fand es weiterhin eine breite A n w e n d u n g . M a n vergleiche bei Dershawin: „Es schlägt die Mittagsstunde, die Sklaven eilen z u m Tischdienst..." („Für Jewgeni oder Das Leben in Swanka"). Parallel zu diesem A u s d r u c k verwendete man (etwa Fonwisins Prostakowa) in der groben Umgangssprache die Begriffe „ H a m " oder „Hams A b k ö m m l i n g e " . Diese letzte Bezeichnung geht auf die biblische Legende vom Urvater N o a h zurück, der einen seiner Söhne H a m nannte, den man zuweilen für den Stammvater der Schwarzen hielt.
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So stellte z.B. die Prostakowa ihre Leibeigenen, indem sie sie als „ H a m " bezeichnete, den unfreien Schwarzen gleich.' Zwar waren die russischen leibeigenen Bauern keine Sklaven. Doch konnte man die russische Leibeigenschaft mit ihren Perversionen durchaus mit der Sklaverei auf eine Stufe stellen, obwohl das grundsätzlich verschiedene Gesellschaftsverhältnisse waren. Desto bemerkenswerter ist es, daß gerade gegen Ende der Periode der Leibeigenschaft, als diese zu einem offensichtlichen Anachronismus geworden war, Fälle ihrer Annäherung an die Sklaverei besonders häufig wurden. Wir haben bereits weiter oben über eine der Formen der willkürlichen Grausamkeit von Gutsbesitzern ihren Bauern gegenüber gesprochen. Zu Opfern dieser Form wurden in der Regel auch die Bediensteten des Gutshofes. Aber es existierte auch eine andere Form der Machtausübung des Gutsbesitzers, eine von niemandem zu kontrollierende Ausweitung der Arbeit, die der Bauer dem Gutsbesitzer zu erbringen hatte. In der zweiten Hälfte des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wird mehr und mehr ein verschwenderischer Luxus in der Lebensweise der Gutsbesitzer sichtbar. Die Reichsten unter ihnen verschuldeten sich rettungslos, weil sie ihr Geld nicht für die Erhaltung der Wirtschaft, sondern für Luxusgüter ausgaben. 26 Das Bestreben der Gutsbesitzer, immer mehr Geld aus ihrem Besitz herauszupressen, ruinierte die Bauern. In einer frühen Fassung der vierten Strophe im 18. Kapitel des „Eugen Onegin" schrieb Puschkin: Was tun in diesem Nest um diese Zeit? Spazieren? - O d e in den Orten allen, Saturnlandschaften weit und breit, V o m Elend der Leibeigenen befallen.
Arrogante Willkür eines Gutsherrn gegenüber seinen leibeigenen Bauern zeigte sich auch dann, wenn ein rühriger, sein Metier beherrschender Bauer es zu einigem Wohlstand gebracht hatte und manchmal sogar reicher als sein Gutsbesitzer wurde. Eine solche Situation schildern die Erinnerungen des Leibeigenen Nikolai Schipow. In den Jahren zwischen 1814 und 1819 entfalteten tüchtige leibeigene Bauern eine umfangreiche wirtschaftliche Tätigkeit. Nachdem sie zum Grundzins, einer jährlichen Natural- oder Geldabgabe an den Gutsherrn, hatten übergehen können, reiste, wer von ihnen über genügend Kapital verfügte, in die Baschkirische Steppe, kaufte große Schafherden, ließ sie von gemieteten Hirten nach Rußland treiben und verkaufte
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D i e G l e i c h s t e l l u n g d e r W o r t e „ H a m " u n d „ S k l a v e " b e k a m eine interessante F o r t s e t -
z u n g . D e r D e k a b r i s t N i k o l a i T u r g e n j e w , der nach den W o r t e n P u s c h k i n s „die K e t t e n der S k l a v e r e i " haßte, v e r w e n d e t e das W o r t „ H a m " in einer b e s o n d e r e n B e d e u t u n g . Er meinte, daß die s c h l i m m s t e n Sklaven die Verteidiger der Sklaverei seien, die Verfechter der Leibeig e n s c h a f t . A u f sie w e n d e t e er in seinen T a g e b ü c h e r n u n d Briefen den A u s d r u c k „ H a m " an u n d m a c h t ihn s o z u einem politischen T e r m i n u s .
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sie dort wieder. Diese Methode war zwar wegen der „gefährlichen Räuberbanden" nicht ohne Risiko und verlangte Können und Umsicht, sie brachte aber auch einträgliche Gewinne. Der Verfasser dieser Erinnerungen berichtet die folgende Episode: „Ein sehr reicher Bauer unseres großen Dorfes, der sieben Söhne hatte, bot dem Gutsherrn 160 000 Rubel, um sich und seine Söhne freizukaufen. Aber der Gutsherr ging nicht darauf ein. Als mir ein Jahr darauf eine Tochter geboren wurde, wollte mein Vater sie für 10 000 Rubel loskaufen. Der Gutsherr lehnte ab. Was hatte er für einen Grund? Man erzählte sich: einer der Bauern unseres Herrn aus dem bei Moskau gelegenen Stammgut, ein gewisser Prochorow besaß im Dorf ein kleines Haus und handelte in Moskau für geringe Summen mit allerlei Kleinwaren. Dieses Geschäft brachte scheinbar nicht viel ein. Er ging in einem Schafspelz umher und schien keineswegs reich zu sein. Doch 1815 schlug Prochorow seinem Herrn vor, ihn für eine nicht eben erhebliche Summe, die Moskauer Kaufleute vorstrecken würden, freizulassen. Der Herr stimmte zu. Danach kaufte Prochorow in Moskau ein großes steinernes Haus, richtete es üppig her und errichtete daneben eine große Fabrik. Irgendwann begegnete Prochorow seinem ehemaligen Herrn in Moskau und lud ihn zu sich ein. Der Herr kam und war ziemlich überrascht, das schöne Haus und Prochorows Fabrik zu sehen, und er bedauerte, einen solchen Menschen freigelassen zu haben". 27 Diese Quelle beschreibt die paradoxen Beziehungen zwischen den Menschen in einem Moment, in dem die Initiative der einen und die den alten Formen verhaftete Lebenweise der anderen in grellem Kontrast zueinander standen. Einige Bauern sind praktisch reicher als ihre Herren, aber sie sind gezwungen, ihren Reichtum zu verbergen, ihr Geld Strohmännern anzuvertrauen oder es vor dem Gutsbesitzer zu verstecken, denn der Gutsherr verfügt über unbegrenzte Macht: Er kann den Bauern in Ketten legen und ihn Hunger leiden lassen, oder er kann, ohne dabei einen Profit für sich herauszuschlagen, einen reichen Bauern ruinieren. Und er nimmt diese Macht wahr. Ein weiteres'Beispiel aus der gleichen Quelle, das wir hier anführen wollen: „Einmal kam der Gutsherr mit seiner Gattin in unser Dorf. Der Sitte gemäß erschienen, festlich gekleidet, die reichen Bauern vor ihm, verneigten sich und brachten verschiedene Gaben; auch die Frauen und Mädchen kamen und trugen reiche und mit Perlen bestickte Kleider. Die Frau des Gutsherrn sah sich alles an und sagte, sich ihrem Gatten zuwendend: ,Unsere Bauern haben solche prachtvollen und geschmückten Kleider, vermutlich sind sie reich, und es kostet sie nichts, uns den Grundzins zu zahlen'. Ohne lange nachzudenken, erhöhte der Gutsherr den Grundzins* Vergleiche in derselben Quelle die Beschreibung der Verlobungsvorbereitung: „Die Tafel war für etwa 40 Leute gedeckt. Auf dem Tisch lagen zwei Schinken und eine weiße, große, runde süße Pirogge mit verschiedenerlei Zierat und Figuren."
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betrag. Das führte schließlich dazu, daß zusammen mit den laufenden Ausgaben auf jede zahlungspflichtige Seele über 110 Rubel Grundzins in Banknoten entfielen". 28 Insgesamt hatte das große Dorf, in dem die Familie N. Schipows lebte, jährlich 105 000 Rubel in Banknoten zu zahlen, eine für diese Zeit gewaltige Summe. Dabei dürfte auch von Interesse sein, daß es nach den Angaben des Verfassers dem Gutsherrn weniger darum ging, sich selbst weiter zu bereichern, als darum, die Bauern in den Ruin zu treiben. Ihr Wohlstand irritierte ihn, und so war er bereit, zugunsten seiner Machtbesessenheit und seines Despotismus selbst Verluste hinzunehmen. Später, als Schipow geflohen ist und die ,Odyssee' seiner Wanderungen durch ganz Rußland begonnen hat, wird er nach jeder neuerlichen Flucht, mit ungeheurer Energie und großem Geschick und mit nichts beginnend, Mittel und Wege suchen und finden, sich neue Unternehmen aufzubauen, er wird in Odessa und in der Kaukasischen Armee Handel und Handwerk organisieren, bald bei den Kalmücken, bald in Konstantinopel Waren kaufen und verkaufen, wobei er ständig ohne oder mit falschem Paß lebt, - der Gutsherr indessen ruiniert sich buchstäblich, indem er in alle Richtungen seine Agenten aussendet und ungeachtet seiner geringer werdenden Geldmittel große Summen ausgibt, um des rebellischen Flüchtlings habhaft zu werden und ihn grausam bestrafen zu können. Die sich ständig verbreiternde kulturelle Kluft zwischen der Lebensweise der Adligen und der des Volkes rief bei dem aufgeschlossenen Teil des Adels eine Art tragischer Weltempfindung hervor. Strebt noch im 18. Jahrhundert der kultivierte Adlige danach,,Europäer' zu werden und sich nach Möglichkeit rasch von der Lebensweise des Volkes zu entfernen, wurde im 19. Jahrhundert eine entgegengesetzte Strömung spürbar. 1826 schrieb Gribojedow die Prosaskizze „Reise aufs Land". Der biographische Ausgangspunkt dieser Skizze ist eine Reise nach Pargolowo, ihr eigentlicher Sinn besteht jedoch nicht in einer Beschreibung der Petersburger Umgebung. Vielmehr war hier, zum erstenmal in der russischen Literatur, die Rede von dem tragischen Riß, der die adlige Intelligenz vom Volk trennte. Für uns ist dabei von besonderer Bedeutung, daß dieser Riß vor allem im Alltagsverhalten spürbar war: „Plötzlich waren Tanzmelodien zu hören, Frauen und Männerstimmen von jenen Höhen, auf denen auch wir einmal waren. Heimatliche Lieder! Wohin hat es sie von den heiligen Gestaden des Dnjepr und der Wolga getragen? - Wir kehren zurück: blonde Bauernmädchen mit Bändern und Halsketten drängten sich schon an dem Ort; der andere Chor bestand aus Knaben; am besten gefielen mir die kühnen Züge und die freimütigen Bewegungen zweier von ihnen. An einen Baum gelehnt, wandte ich den Blick unwillkürlich von den stimmgewaltigen * Untertitel „Auszug aus dem Brief eines Bewohners des Südens" - nicht nur Anspielung auf die biographischen Umstände des Verfassers, sondern auch auf die demonstrative gegensätzliche Haltung dem „Petersburger" Standpunkt gegenüber.
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Sängern dem lauschenden Publikum zu, jener morbiden Klasse von Halbeuropäern, der auch ich angehörte. Alles, was sie da hörten und sahen, schien ihnen primitiv vorzukommen, ihre Herzen vernehmen diese Laute nicht, und die Trachten erscheinen ihnen exotisch. Es ist, als hätte uns eine schwarze Magie zu Fremden unter den eigenen Leuten gemacht!" Dieses Sichlösen des mittleren, nicht hauptstädtischen Adels vom Volk darf jedoch nicht überschätzt werden. In gewisser Hinsicht stand der adlige Gutsbesitzer, der auf einem Dorf zur Welt gekommen war, auf dem Gutshof mit den Kindern der Leibeigenen gespielt und ständig den Bauernalltag erfahren hatte, in seinen Gewohnheiten dem Volk näher als ein nichtadliger Angehöriger der Intelligenz, der aus dem Priesterseminar davongelaufen war und sein Leben nun in Petersburg verbrachte. Das machte den Unterschied zwischen alltäglicher und ideologischer Nähe aus. Die Kalenderbräuche und das Einsickern der Folklore in den Alltag führten dazu, daß der in der Provinz lebende Adel psychologisch eng mit dem Alltag der Bauern und den Vorstellungen des Volkes verbunden war. Solch alten, dunklen Volksgebräuchen Galt Tanjas scheue Sympathie, An Mondeszauber, Wunderzeichen Und Kartenlegen glaubte sie... (5, V: Anmerkungen S. 473-2 Puschkin) Die bekannte Episode aus „Krieg und Frieden", in der Natascha auf b ä u erliche' Weise nach der Melodie „Die Dorfstraße entlang" tanzt, spiegelt den Zug eines realen Vorgangs wider, das Eindringen der Lebensweise des Volkes in das adlige Bewußtsein: „Natascha warf ihr Tuch ab, in das sie sich gehüllt hatte, lief zum Onkel, stellte sich vor ihn, stemmte die Hände in die Seiten, machte eine Bewegung mit den Schultern und stand dann still. Wo, wie, wann hatte diese von einer französischen Emigrantin erzogene kleine Grafentochter aus der russischen Luft, die sie atmete, diesen Geist eingesogen? Woher hatte sie diese Tanzschritte, die doch der pas de chäle eigentlich längst hätte verdrängen müssen? Aber dieser Geist und diese Bewegungen waren unnachahmlich, nicht zu erlernen, russisch, so wie sie der Onkel auch von ihr erwartete. Als sie dastand und feierlich-stolz, aber zugleich listig-heiter lächelte, war die Angst, die Nikolai und die anderen Anwesenden zuerst überkam, die Angst, sie würde die Sache nicht richtig machen, geschwunden, und alle blickten sie voll Bewunderung an. Sie machte alles so, wie es sein mußte, so richtig, so vollkommen richtig, das Anisja Fjodorowna, die ihr gleich das für den Tanz nötige Tuch gereicht hatte, unter Lachen weinen mußte, als sie diese zierliche, graziöse, ihr so fremde, in Samt und Seide aufgewachsene Grafentochter sah, die doch alles so gut verstand, was auch in Anisja war und in Anisjas Vater und in ihrer Tante und Mutter und in jedem russischen Menschen".
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D e r alltägliche Aberglaube, der Glaube an Vorzeichen, der dem Verhalten eines gebildeten Menschen dieser E p o c h e einen eigenartigen Zug von .Volkstümlichkeit' verlieh, vertrug sich mühelos mit dem Voltairianertum u n d der europäischen Bildung. Bekanntlich glaubte auch Puschkin an Vorzeichen. Das w u r d e vor allem in den Situationen psychologisch wirksam, in denen sich der Mensch Zufällen ausgesetzt sah, etwa bei Kartenspiel. Die Vermischung archaischer Vorstellungen mit dem „Europäertum" verlieh der Adelskultur der uns interessierenden Epoche eigentümliche Züge. Besonders nahe kamen sich diese beiden Sphären im Bereich des weiblichen Verhaltens. Die mit den kirchlichen u n d den kalendarischen Feiertagen v e r b u n d e n e n traditionellen H a n d l u n g e n waren bei den Bauern u n d den adligen Gutsbesitzern praktisch die gleichen. Die folgenden Zeilen Puschkins bezogen sich also nicht nur auf die Larins: Sie hielten sich im schlichten Rahmen Altbiedrer Art behaglich frisch, Stets in der Fastnachtwoche kamen Die fetten Plinsen auf den Tisch, Und zweimal jährlich ging man beichten. Die Schaukel' und der Christmarkt reichten Zu ihrer Kurzweil völlig aus. Am Pfingsttag, wenn im Gotteshaus Die Bauern gähnend Messe hören, Vergossen sie so rührsam nett Paar Tränchen aufs Sarjabukett." Bei Tisch kam stets der Kwaß zu Ehren... (2, XXXV) Im Alltag der Bauern stand die Chronologie der familiären Bräuche in einem engen Zusammenhang mit dem landwirtschaftlichen Kalender, dessen archaische H e r k u n f t das C h r i s t e n t u m nicht verdrängen konnte. Die auf den familiären Zyklus bezogenen Daten konzentrierten sich vor allem auf den Herbst, auf die Zeit zwischen Altweibersommer und den Herbstfasten
G e m e i n t ist „eine Schaukel in der A r t einer sich d r e h e n d e n Welle, d u r c h die Balken gesteckt waren, auf denen sich Kästen mit Sitzen b e f a n d e n " ( W ö r t e r b u c h der P u s c h k i n schen Sprache. 4 Bde., M o s k a u , 1956-1961, Bd. 2, S. 309). V o n d e m Reisenden Olearius w u r d e diese Schaukel als eine beliebte Volksbelustigung beschrieben (Siehe Olearius, A d a m . Beschreibung der Reise nach Moskowien..., Sankt Petersburg, 1806, S. 218-219). Eine Z e i c h n u n g der Schaukel ist beigefügt. Sarja oder Sorja - eine Kräuterart, die in der Volksmedzin als heilsam galt. „Während des Pfingstgottesdienstes sollten die Mädchen, die links vom Altar standen, ein paar Tränen auf einen kleinen Strauß aus Birkenreisern fallen lassen. (In anderen G e g e n d e n R u ß l a n d s fielen die Tränen auf ein Bukett aus Sarja oder anderen Blumen - Ju. L.) Dieses Bukett w u r de sorgsam als eine A r t P f a n d d a f ü r a u f b e w a h r t , daß es im S o m m e r keine D ü r r e geben wird." (Sernowa, A. B. Materialen ü b e r landwirtschaftliche Magie im D m i t r o w s k e r Gebiet. - Sowjetische Ethnographie, 1932, 3, S. 30).
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(vom 15. November bis zum 24. Dezember, von den Feiertagen der Märtyrer Gury und Awiwa bis Weihnachten) und auf die Frühjahrsfeste, die mit Ostern begannen. In der Regel fand das Kennenlernen im Frühjahr und die Heirat im Herbst statt, obwohl das keine feststehende Regel war. Am 1. Oktober alle Kalendertage sind hier und später nach dem alten Stil angegeben dem Tag des Beschützers der Muttergottes, beteten die Mädchen zu dem Heiligen für ihre Verlobten. 29 N. Schipows Hochzeit fand, wie wir seinen Erinnerungen entnehmen, an einem 10. November statt. Auch die Hochzeiten der Adligen hielten sich an diese Tradition, waren allerdings stärker von europäisierten Bräuchen geprägt. Im Herbst fanden sich die Mädchen, die sich dem heißersehnten Heiratsalter näherten, in Moskau ein und blieben bis Pfingsten dort. In dieser ganzen Zeit, ausgenommen der Fastenzeit, fanden dort die Bälle statt. Die alte Larina erhält von ihrem Nachbarn den Rat: „Ei, Nachbarin, weshalb euch quälen, Ihr solltet, um Erfolg zu sehn, Nach Moskau auf den Brautmarkt gehn." (7, XXVI) Der Vorgang der Brautwerbung und der Hochzeit war ein langwieriges Zeremoniell, dessen Charakter sich im Verlauf der Jahrzehnte veränderte. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts machten sich in den Adelskreisen Tendenzen bemerkbar, sich wieder, wenn auch in einer spezifisch veränderten Form, den Volksbräuchen anzunähern. Am Anfang der Brautwerbung stand gewöhnlich ein Gespräch mit den Eltern der Künftigen. Nachdem man deren Zustimmung erhalten hatte, wurde die Braut in den Saal geholt und gefragt, ob sie mit der Heirat einverstanden sei. Eine vorhergehende Absprache mit dem Mädchen galt als Verstoß gegen das Gebot des Anstands. Doch bereits seit den 1770er Jahren durfte der junge Mann auf einem Ball oder bei anderen öffentlichen Zusammenkünften gelegentlich mit dem Mädchen sprechen. Eine solche Unterhaltung galt als anständig und verpflichtete auch zu nichts. Sie unterschied sich also von dem Besuch in einem Haus, in dem es ein heiratsfähiges Mädchen gab. Häufigerer Besuch aber verpflichtete den jungen Mann bereits, da er damit andere Bewerber ,abschreckte', und ein plötzlicher Abbruch dieser Besuche gab Anlaß für das Mädchen beleidigende Mutmaßungen. Die Heiratsabsprache konnte, insbesondere wenn der Bewerber vornehm, reich und nicht mehr ganz jung war, auch ohne Zustimmung des Mädchens erfolgen, das dem Befehl der Eltern gehorchte oder deren Überredungskünsten nachgab. Fälle dieser Art waren jedoch nicht sehr häufig und ließen außerdem, wie wir später sehen werden, der Braut die Möglichkeit offen, noch in der Kirche von der Heirat zurückzutreten. Lehnte die Braut eine Heirat schon früher ab oder erschien die Verbindung den Eltern als unannehmbar, mußte der
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Verzicht formell erklärt werden. Man dankte dem Bewerber für die Ehre, teilte ihm mit, daß die T o c h t e r noch nicht ans Heiraten denke, zu jung sei oder beispielsweise nach Italien zu reisen beabsichtige, um sich dort im Gesang zu vervollkommnen. W u r d e aber die Bewerbung angenommen, begannen die Vorbereitungen auf die Hochzeit. D e r Bräutigam veranstaltete einen Junggesellenabend': ein Treffen mit ledigen Freunden, um den Abschied von der Jugend zu begehen. So veranstaltete Puschkin, als er sich auf seine Heirat vorbereitete, in Moskau einen Junggesellenabend', an dem Wjasemski, Nastschokin und andere Freunde teilnahmen. N a c h dem Abendessen fuhren sie alle zu den Zigeunern, um deren Lieder zu hören. E i n e farbige Beschreibung dieser Episode findet sich in den treuherzigen Erinnerungen der Zigeunerin Tanja, die in den Aufzeichnungen des Schriftstellers B . M . Markewitsch erhaltengeblieben sind: „Einmal, an einem Abend, akkurat zwei Tage vor seiner (Puschkins) Hochzeit, kam ich mit Olga zu Nastschokin. Wir hatten einander kaum begrüßt, als ein Schlitten an der Vortreppe hielt und Puschkin die Diele betrat. Er erblickte mich aus der Diele und rief: ,Ach, meine Freude, wie freue ich mich, dich zu sehen, zum Gruß, meine Unschätzbare!' Er küßte mich auf die Wange und setzte sich auf das Sofa. Er saß und versank in Gedanken, und als wären es schwere Gedanken, stützte er den Kopf auf die Hand und sah mich an: ,Sing mir was, Tanja, etwas Glückverheißendes. Hast du schon gehört, daß ich heirate?' ,Wie hätte ich nicht', sagte ich, .alles Gute, Alexander Sergejewitsch!'. ,Na, dann sing doch, sing!' Und ich sagte:,Reich mir die Gitarre, Olga, singen wir dem Herrn etwas...' Sie brachte mir die Gitarre, und während ich sie nahm, überlegte ich, was ich singen sollte... Auch mir war in diesem Augenblick schwer zumute, doch mein Kummer war meine Sache der Gegenstand meiner Liebe war im Begriff zu heiraten, und seine Gattin nahm ihn mir weg, zwang ihn, den ganzen Winter mit ihr auf dem Dorf zu verbringen, aber ich sehnte unendlich mich nach ihm. Mit diesen Gedanken begann ich Puschkin ein Lied zu singen, es war ein Wahrsagelied und in diesem Moment sicherlich nicht das Richtige für ihn, weil man sagt, daß es nichts Gutes verheißt: Mütterchen, was wölkt da Staub überm Rain? Was, Herrin kann das sein? Pferde sinds in eifrigem Spiel... Und wessen? Alexander Sergejewitschs sinds... Ich singe dieses Lied, selbst voller Wehmut und Gefühl, bringe die Worte hervor und weiß nicht, was ich tun soll, blicke nicht von den Saiten hoch... Und plötzlich hörte ich Puschkin laut schluchzen. Ich hob den Blick, und er greift sich an den Kopf und weint wie ein Kind. Pawel Woinowitsch stürzte zu ihm: ,Was ist dir, Puschkin, was ist mit dir?' ,Ach', sagt er,,dieses Lied hat mein ganzes Inneres aufgewühlt, es sagt mir nicht Freude, sondern Verlust voraus! ...' Und er blieb nicht mehr lange, verließ uns ohne sich von irgend jemandem zu verabschieden". 30
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Auch die Hochzeit selbst war ein komplizierter zeremonieller Vorgang. Dabei hielt sich der allgemeine Ablauf einer adligen Hochzeit an das allgemeine Schema der traditionellen volkstümlichen Struktur. Aber sowohl soziale Spezifik als auch Mode spielten hier eine Rolle. Die Hochzeit war eines der wichtigsten Ereignisse im Leben des Menschen in der Vorreformzeit. Zusammen mit dem Begräbnis bildete sie einen ganzen mythologischen Komplex. Deshalb lohnt es sich, eine Adelshochzeit unter verschiedenen Aspekten zu betrachten. W i r werden versuchen, die kulturelle Mannigfaltigkeit eines solchen Ereignisses zu rekonstruieren, indem wir es zuerst mit einer bäuerlichen Hochzeit vergleichen. „Mein Vater sandte Boten aus, die unsere Verwandten, Freunde und Kameraden zu der Hochzeitstafel einladen sollten, die für 80 Personen gedeckt wurde. Mein Vater war als wahrhaft gastfreundlicher russischer Mensch bekannt, und er ordnete an, daß alles in Hülle und Fülle vorhanden sein müsse. Am Vorabend der Hochzeit fuhr ich gegen Mitternacht zum Friedhof, um von den verstorbenen Verwandten Abschied zu nehmen und den Segen meiner entschlafenen Mutter zu erbitten. Das tat ich und ließ die Tränen über das Grab fließen. Am Abend des 10. versammelten sich alle Verwandten und Bekannten bei uns; auch der Diakon und der Priester mit den Kirchendienern kamen. Zur gleichen Zeit wurden zwei unserer ledigen Verwandten dem Brauch gemäß mit Schuhen, Strümpfen, Seife, Parfüm, einem Kamm und dergleichen zu der Braut geschickt. Die Ausgesandten wurden bei der Braut empfangen, mit Taschentüchern beschenkt und bewirtet. Inzwischen zog mir der Vater die Stiefel an, wobei er mir 3 Rubel in den rechten legte, damit meine Ehefrau, wenn sie mir später die Stiefel auszog, sie finden sollte. Nachdem ich angekleidet war, nahm der Vater das mit Silber ausgeschlagene Bild der Muttergottes, segnete mich damit und brach in Tränen aus, und auch ich war zu Tränen gerührt; nicht umsonst sagten die Alten, daß die Hochzeit das letzte Glück des Menschen wäre. Dann segneten mich der Taufpate und die Taufpatin mit ihren Ikonen, und man setzte mich in den vorderen Winkel zu den Heiligenbildern. Alle, voran der Vater, nahmen Abschied von mir; danach führte mich der Priester unter Gebeten zur Kirche... Inzwischen fuhren die Brautwerberin und der Brautführer mit Brot und Salz die Braut abzuholen. Auch dort standen Brot und Salz auf dem Tisch. Die Brautwerberin nahm das Salz, bestreute sich damit und reichte es weiter. Auch das Brot wurde getauscht. Dann setzte man die mit einem Tuch verhüllte Braut an den Tisch. Nachdem die Braut mit den Ikonen der Eltern gesegnet worden war, nahmen alle von ihr Abschied, und wer es konnte, beschenkte sie mit Geld. *
V o n einem einheitlichen Heiratszeremoniell unter den Bedingungen der Lebenswei-
se der Leibeigenen kann man nicht reden. D e r Zwang der Leibeigenschaft und die A r m u t zerstörten auch diese zeremoniellen Strukturen. So meint in der „Geschichte des D o r f e s G o r j u c h i n o " der unglückliche G o r j u c h i n , Zeuge eines Begräbnis-Zeremoniells zu sein, als er mitansieht, wie man in seinem D o r f die Leichen eben erst Verstorbener eingräbt, „damit sie in den Stuben nicht unnötig Platz w e g n e h m e n " . W i r entnehmen dieses Beispiel daher dem L e b e n reicher leibeigener Bauern, Viehhändler und Händler, weil hier diese V o r g e hensweise in unverfälschter F o r m erhalten blieb.
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Dann führte der Priester die Braut aus dem Zimmer und fuhr sie gemeinsam mit der Brautwerberin, dem Brautführer und dem Lichtträger, der die Heiligenbilder der Braut und die Kerzen trug, zur Kirche. Hinter ihnen fuhren einige Männer und Frauen, die man die Spalierbildenden nannte. Nach dem Vollzug des Sakraments der Eheschließung trugen wir, die Neuvermählten, wie es Sitte war, das Muttergottesbild von der Kirche zum Haus meines Vaters... Im Haus empfing uns der Vater mit der Ikone und mit Brot und Salz. Ehrerbietig küßten wir die Ikone und küßten uns auch mit dem Vater. Danach beteten wir zur Muttergottes. Nach dem Gebet führte die Brautwerberin uns Jungvermählte in das Schlafzimmer, hieß uns niedersetzen und reichte uns die Hostie... Dann richtete die Brautwerberin das Haar der jungen Braut so her, wie es die verheirateten Frauen trugen. Danach gingen wir hinaus zu den Gästen an der Tafel, und das Hochzeitsmahl nahm seinen Anfang". 31 Die Hochzeit eines Gutsbesitzers unterschied sich nicht nur durch ihren Reichtum, sondern auch durch eine spürbare ,Europäisierung' von einer Bauernhochzeit. Sie vereinigte in sich eine eigentümliche Mischung aus Volksbräuchen, kirchlichen Riten und adliger Lebensart. U m das dem Leser anschaulich zu machen, wollen wir Beispiele aus zwei Quellen anführen, den Augenzeugenbericht eines Ausländers, eines Japaners, also eines nicht mit den russischen und den westeuropäischen Traditionen vertrauten Menschen, und den eines bekannten russischen Schriftstellers, der das Bild eines ihm geläufigen Lebens wiedergibt. Diese Augenzeugenberichte werden sich aber auch noch in einer anderen Hinsicht voneinander unterscheiden: Sie liegen fast hundert Jahre auseinander. Auf diese Weise betrachten wir die Epoche gleichsam von zwei Zeitpolen her. Der Verfasser des ersten Textes, der Kapitän eines japanischen Schoners, Daikokuja Kodaju mit Namen, geriet durch eine Havarie seines Schiffes nach Rußland und wurde 1791 nach Petersburg gebracht. Nach der R ü c k kehr in seine Heimat wurde Kodaju einer gründlichen Befragung unterzogen und berichtete ausführlich über die verschiedenen Seiten des russischen Lebens. Das von Kazuragawa Hosju nach den Berichten Kodajus zusammengestellte Buch wurde im staatlichen Geheimarchiv aufbewahrt, wo es bis 1937 verblieb. Die russische Übersetzung von W . T . Konstantinow erschien 1978. D e r japanische Reisende beschreibt die für ihn fremdartigen Sitten mit großer Gründlichkeit, so daß sein Bericht für uns von außerordentlichem Wert ist. Ü b e r die Hochzeiten lesen wir bei ihm das Folgende: „Gemäß den Sitten in diesem Land, sowohl der vornehmen als auch der einfachen, feiern die Männer und Frauen jeden siebenten Tag, indem sie in die Kirche gehen, um zum Buddha zu beten... Bei dieser Gelegenheit werden auch der Bräutigam und die Braut gewählt".' 2 Die Fehleinschätzung des Ausländers macht uns diese Quelle noch wertvoller. Das Miteinander-Bekanntwerden und die Liebeswerbung finden natürlich nicht in der Kirche statt und ent-
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sprechen auch nicht dem Brauch der Betenden. Deshalb würde der besser informierte Beobachter das als Ausnahme von der Regel empfinden, oder er würde die Anstößigkeit eines solchen Benehmens näher erläutern. Der japanische Kapitän jedoch sieht in dem, was er beobachtet hat, etwas allgemein Übliches, doch sind uns dadurch, daß er es aufgezeichnet hat, auch die von der allgemeinen Regel abweichenden Züge der Wirklichkeit erhalten geblieben. „Der Bräutigam wird in neue Gewänder gekleidet, und er begibt sich in Begleitung der Verwandten und des Brautwerbers zur Braut (für den japanischen Autor gilt der Brautführer als Brautwerber, dessen Rolle für ihn vermutlich nicht ganz ersichtlich ist - J. L.), ferner wird er von einem schönen Knaben im Alter von vierzehn bis fünfzehn Jahren begleitet, der eine Ikone vor ihnen her zu tragen hat (mit dem Wort „Ikone" gibt der Ubersetzer einen japanischen Ausdruck wieder, der wörtlich „aufzuhängende Buddha-Darstellung" bedeutet - J.L.)... Man setzt den Knaben auf ein vierrädriges Gefährt, auf das man als Bank ein Brett legt. Hinter ihm fahren der Bräutigam und der Brautwerber in einer anderen Kalesche." Der japanische Beobachter hebt den ihm vermutlich ungewöhnlich erscheinenden Brauch hervor, daß Bräutigam und Verwandte einander küssen. Wenn sie das Haus der Braut betreten, „beten der Bräutigam und all die ihn begleitenden Personen zum Bild des Buddha, das im Zimmer hängt, erst danach nehmen alle auf den Stühlen Platz. Dann führt die Mutter an der Hand die Braut herein und übergibt sie der Gattin des Brautwerbers. Die Gattin des Brautwerbers nimmt die Braut bei der Hand, tauscht mit allen übrigen Küsse und begibt sich in einer Kalesche mit der Braut in die Kirche, wonach der Bräutigam und der Brautwerber sich ebenfalls in einer Kalesche dorthin begeben". 33 In unserem zweiten Beispiel, das wir dem Roman „Anna Karenina" entnehmen, lesen wir, daß Kittys Aussteuer nicht zum festgesetzten Zeitpunkt fertiggestellt werden konnte: „So griff man denn zu dem Ausweg, die Aussteuer in zwei Hälften zu teilen, die große und die kleine Aussteuer, und die Fürstin, sehr ungehalten darüber, daß Lewin sich durchaus unfähig erwies, die wichtige Frage mit dem gehörigen Ernst zu behandeln, willigte unter der Bedingung ein, daß die kleine Aussteuer jetzt gleich fertiggestellt, die große dagegen erst später nachgeliefert werden sollte". Tolstoi betrachtete den Entschluß der Fürstin als zufällige, von den Umständen erzwungene Entscheidung. Umso interessanter ist es, daß der aufmerksame Japaner einen ähnlichen ,Entschluß' als einen spezifischen Zug des Adelsbrauchs festhielt: „Leute des niederen Standes schicken gleichzeitig (mit der Hochzeit) die Sachen der Braut zum Bräutigam, die Reichen und Vornehmen jedoch schicken die Sachen nach und nach im « 14 voraus . Danach begeben sich die Braut und ihre Begleitung in die Kirche (der Autor meinte irrtümlich, sie betreten den Altarraum), und der Priester ver-
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teilt an sie den „kronenähnlichen" Kopfschmuck. „Dann bringt der T e m pelvorsteher zwei Ringe und streift sie über die Ringfinger des Bräutigams und der Braut. Man sagt, daß der Bräutigam diese Ringe vier, fünf Tage vor der Hochzeit in die Kirche schickt". 3 5 „Dann werden die Wachskerzen angezündet und an alle vier verteilt (an den Bräutigam, die Braut und an diejenigen, die die Kronen über ihre Köpfe halten - J. L.), und der Tempelvorsteher geht auf die Braut zu und fragt sie: ,Ist der Bräutigam nach deinem Herzen?' Antwortet sie: ,Nach dem Herzen', geht er zum Bräutigam und fragt ihn: ,Ist die Braut nach deinem Herzen?'. Und wenn dieser antwortet: ,Nach dem Herzen', geht der T e m pelvorsteher wieder zur Braut und fragt sie abermals. Das wiederholt sich dreimal. Würden der Bräutigam oder die Braut verneinen, würde die Trauung sofort unterbrochen werden. Ist die Frage-Antwort-Zeremonie beendet, reibt der Tempelvorsteher die Handflächen der Neuvermählten mit irgendeinem roten Pulver ein, danach nimmt er eine Kerze in die rechte Hand und kommt mit dem Heiligen Buch in der Linken nach vorn. Die Braut nimmt seinen Arm und der Bräutigam den Arm der Braut, so umschreiten sie siebenmal den Altar. Damit ist die Trauungszeremonie beendet, der Bräutigam nimmt die Braut bei der Hand, und sie besteigen eine Kutsche". 3 6 Der Berichterstatter teilt weiter mit, daß die Eltern des Bräutigams die Neuvermählten mit „Jakimoti" empfangen, einem Reisfladen. U m die Besonderheit zu unterstreichen, weist der Verfasser darauf hin, daß diese Fladen „aus Mehl" bereitet sind. Dann beginnt die Feier, die musikalisch von der „Kokju" und der westlichen „Koto" begleitet wird. Der Übersetzer erläutert, daß das erste der beiden Worte ein chinesisches Streichinstrument und das zweite ein mehrsaitiges japanisches Instrument sei, und daß der Verfasser damit Violine und Clavichord umschreiben wollte. Die Gleichzeitigkeit von ethnographischer Genauigkeit und charakteristischen Mißdeutungen ermöglicht eine außerordentlich interessante Sicht, die es uns erlaubt, innerhalb eines üblichen Hochzeitsablaufs gerade das auszuleuchten, was dem Ausländer unverständlich schien. D e r Blick des Ausländers kann hier vielleicht in gewisser Hinsicht den Beschreibungen der Alltagswirklichkeit in jener Literatur des 18. Jahrhunderts gleichgesetzt werden, die diese Wirklichkeit mit den Augen eines ihr prinzipiell fremd gegenüberstehenden Beobachters sieht. So gibt es bei Voltaire, der eine ganze Reihe von Genres bediente, in einer Erzählung die Gestalt eines Huronen, der die europäischen Sitten mit Verwunderung wahrnimmt. Diesen Kunstgriff hat später Tolstoi angewandt, als er in einer seiner Er-
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Aus den Anmerkungen des japanischen Textes ist ersichtlich, daß das russische W o r t
für Kronen „wenzy" die Bedeutung nicht exakt wiedergibt. Im japanischen Original bedeutet das W o r t ein „Diadem einer Buddhastatue" (S. 360). Es ist bezeichnend, daß der Informator die Neuvermählten nicht irdischen Herrschern sondern den Gotttheiten gleichstellt.
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Zählungen „Der Leinwandmesser" einem durch Erfahrung gewitzten Wallach, einen natürlichen Blick auf die Welt verleiht, gepaart mit ,natürlichem' Unverständnis. Als ein interessanter Kontrast zu den Zeugnissen des wißbegierigen Japaners kann vielleicht die Wiedergabe der Hochzeitszeremonie durch einen russischen Beobachter gelten. Das erste Zitat stammt von Puschkin und wurde manchmal sogar, fälschlicherweise, als autobiographisches Notat verstanden. Natürlich haben wir es hier, in künstlerischer Prosa, mit einer frühen Erfahrung zu tun. Aber die Absicht des Verfassers, ein echtes Dokument zu imitieren, ist offensichtlich. Das wird auch durch die mystifizierende Anmerkung „aus dem Französischen" betont. Der mit den Worten „Mein Los ist entschieden. Ich heirate..." beginnende Text fixiert den gewöhnlichen Routine-Ablauf einer Hochzeit. Gerade die Voraussehbarkeit der Ereignisse, ihre Ubereinstimmung mit den typischen Bräuchen unterstreichen die künstlerische Absicht. Wir begegnen dem Puschkinschen Helden in dem Augenblick, als er die Antwort auf eine vorangegangene Werbung erwartet. Auch hier ist die Abgrenzung des Erzählers von seinem Gegenstand nicht zu übersehen. Aber hier hat das nichts mit einem Konflikt der Kulturen zu tun, sondern mit der inneren Natur der Situation selbst, mit ihrer Merkwürdigkeit. Gogol konzentriert diese,Merkwürdigkeit' alltäglicher Situationen, die von Experten der Alltagspsychologie belegt ist, und führt sie bis zur Absurdität: „Leben mit einer Gattin!...unverständlich! Er wird in seinem Zimmer nie allein sein, überall zu zweit!... Je länger er darüber nachdachte, desto stärker trat der Schweiß auf sein Gesicht... Bald war ihm zumute, als wäre er schon verheiratet und alles in dem Häuschen wäre so wunderlich wie merkwürdig: In seinem Zimmer steht statt einem einzigen Bett ein Doppelbett. Auf dem Stuhl sitzt die Gattin. Alles kommt ihm seltsam vor, er weiß nicht, wie er auf sie zugehen soll... Als er sich unwillkürlich zur Seite wendet, sieht er noch eine Gattin ebenfalls mit einem Gänsegesicht, und als er sich weiter umdreht, steht dort eine dritte Gattin, und hinter ihm noch eine. Beklemmung steigt in ihm hoch... Er nimmt seinen Hut ab und sieht: Auch in dem Hut sitzt eine Gattin".37 Obwohl wir es in diesem Fall eher mit einer psychologischen als mit einer kulturhistorischen Situation zu tun haben, ist sie doch von der Künstlichkeit der nachpetrinischen adligen Lebensweise geprägt. Eine bäuerliche Hochzeit verlief, wie wir gesehen haben, nach Ritualen, die sich in einer langen, als natürlich empfundenen Tradition herausgebildet hatten. Einige dieser Bräuche wurden in der nachpetrinischen Zeit in abgewandelter Form vom Adel übernommen. So reiste man zum Beispiel, und das war besonders bei den ,europäisierten' Schichten sehr verbreitet, direkt nachdem man getraut worden war und die Kirche verlassen hatte, mit der Kutsche ins Ausland. Eine andere Variante, die weniger Ausgaben erforderte
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und folglich nur in den sozial minderbemittelten Kreisen praktiziert wurde, war die Fahrt aufs Land. Das schloß eine Hochzeitsfeier in einer Stadt, traditionell häufig in Moskau, nicht aus, man konnte aber auch, wenn die Heirat eher unerfreulich war, die Fahrt sofort antreten, gleich nachdem die Neuvermählten die Kirche verlassen hatten. Und wenn auch schon verlobt, verzehrte Sie sich für einen andern Mann, Der ihre Neigung rasch gewann und den sie gar zu gern erhörte. Wie Grandison war er galant, Ein Spieler und ein Leutenant. Sie trug sich, wie dies Wunderwesen, Stets ganz modern und sehr gewählt, Ward aber ohne Federlesen, Wie es besprochen, schnell vermählt. Ihr Mann fuhr gleich in großer Eile, Damit ihr wundes Herzchen heile, Mit ihr davon aufs stille Gut. (2, X X X - X X X I )
Es war üblich, daß die Neuvermählten ein neues Haus oder eine neu gemietete Wohnung bezogen. So bezog Puschkin nach der Heirat, die in Moskau stattfand, eine neue Wohnung am Arbat, bevor er nach Petersburg übersiedelte. Eine Adelshochzeit war in der uns interessierenden Periode eine Mischung aus Russischen' und ,europäischen' Bräuchen. Dabei stand bis in die 20er Jahre des 19. Jahrhunderts das Bestreben im Vordergrund, die Hochzeit nach,europäischer Manier' auszurichten, das heißt einfacher, zumindest was den zeremoniellen Teil betraf. Später jedoch zeichnete sich die Tendenz ab, der Zeremonie einen mehr nationalen Charakter zu verleihen. Der Puschkinsche Held empfindet Befremden, als er auf den Widerspruch zwischen seinen romantischen Erwartungen und der allgemeinen Routine einer realen Hochzeit stößt, meint er doch, „nicht wie die anderen Menschen" zu sein. „Heiraten! Das ist leicht gesagt - ein großer Teil der Menschen sieht in der Heirat nur einen Schalkragen, eine neue Kutsche und einen rosa Schlafrock. Andere die Mitgift und ein geruhsames Leben... Die Dritten heiraten, eben weil alle heiraten..." Der Puschkinsche Held heiratet aus seinen romantischen Vorstellungen heraus, aber er stößt auf die prosaischsten Umstände. Für uns, die wir eine spezielle Aufgabe haben, ist eine solche Beschreibung deshalb umso wertvoller. „...in dieser Minute wurde mir ein Zettel übergeben: die Antwort auf meinen Brief. Der Vater meiner Braut rief mich freundlich zu sich... Der Vater und die Mutter saßen im Salon. Ersterer empfing mich mit ausgebreiteten Armen und umarmte mich. E r zog sein Taschentuch hervor, als wollte er weinen,
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konnte es aber nicht und beschloß, sich zu schneuzen. Die Augen der Mutter waren gerötet. Man rief nach Nadinka, und blaß und unbeholfen trat sie ein. Der Vater ging hinaus und brachte die Bildnisse des Wundertäters Nikolai und der Muttergottes von Kasan. Man segnete uns. Nadinka reichte mir wortlos ihre kalte Hand. Die Mutter begann über die Aussteuer zu reden, der Vater über das Saratower Dorf - und ich war Bräutigam".
Ein ähnliches, aber ausführlicheres Bild finden wir in der Beschreibung einer Hochzeit, die den Rahmen unserer Chronologie fast schon sprengt. Der Unterschied besteht darin, daß die zeremoniellen Elemente und das Bestreben, den ,nationalen Bräuchen' zu folgen, noch wesentlich verstärkt werden. Es geht um die Schilderung der Hochzeit Konstantin Lewins in Tolstois „Anna Karenina". Das von Tolstoi gezeichnete Bild stimmt bis in die Einzelheiten mit der alltäglichen Realität überein und verzichtet auch nicht auf folgendes charakteristische Detail: Es ist bekannt, daß Puschkin vor der Trauung mit Natalja Nikolajewna, als er zur Kirche fahren wollte, plötzlich entdeckte, daß ihm der für die Zeremonie vorgeschriebene Frack fehlte. Er zog, wie sich Nastschokin erinnert, einen von dessen Fräcken an, den er von da an für glückverheißend hielt.* Zufällig oder weil er darin ein charakteristisches Detail erblickte, verwendete Tolstoi in „Anna Karenina" eine entsprechende Episode. Sich bereits zur Hochzeit verspätend, entdeckt Konstantin Lewin, daß er kein frischgebügeltes H e m d hat, und will sich eines bei Stiw Oblonski ausleihen. Die Tolstoische Schilderung besitzt ohne Zweifel die Aussagekraft eines ethnographischen Dokuments. Wir erfahren hier auch solche Details wie das Verharren in herkömmlichen Gewohnheiten: „ D e m Brauch gemäß (die Fürstin sowohl wie Darja Alexandrowna hielten streng auf Einhaltung aller herkömmlichen Bräuche) durfte Lewin seine Braut am Hochzeitstage nicht sehen. So speiste er denn im Gasthaus, in Gesellschaft dreier eingefleischter Junggesellen". Die Trauung beginnt mit dem Gebet des Priesters: ,„Seg-ne-uns-oHerr!' intonierte er feierlich, die Luft mit seinem tiefen Baß in mächtige Schwingungen versetzend". N a c h dem Großen Responsorium und dem Gebet „wandte sich der Priester wieder dem Pult zu, streifte nicht ohne Mühe den schmalen Ring von Kittys Finger und zwängte ihn, als Lewin ihm seine Hand hinhielt, auf das oberste Glied von dessen Ringfinger. ,Es wird verlobt der Knecht Gottes Konstantin der Magd Gottes Jekaterina'. Dann steckte er unter den gleichen Worten Lewins kräftigen Ring auf den kleinen rosigen Finger Kittys. Vergebens versuchten beide zu erraten, was sie nun weiter zu tun hätten... und der Priester mußte sie im Flüsterton korrigieren (...) Der Akt der Verlobung war beendigt. Der Kirchendiener breitete vor dem Pult, in der Mitte der * Eine tragische Verkettung von Umständen führte dazu, daß Puschkin in diesem .glückverheißenden" Frack beigesetzt wurde.
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Kirche, ein Stück rosa Damast aus, der Chor intonierte einen kunstvollen Psalm... und endlich winkte der Priester, auf das Stück Damast deutend, das Brautpaar heran. Sooft beide nun schon von dem Aberglauben gehört hatten, wer zuerst den Teppich betrete, werde Herr im Hause sein, in diesem Augenblick wären weder Kitty noch Lewin imstande gewesen, an so etwas zu denken, als sie einige Schritte machten.... Der Priester drückte ihnen die Kronen aufs Haupt.,Küssen Sie jetzt Ihre Frau und Sie Ihren Gatten' (...) Behutsam drückte Lewin einen Kuß auf Kittys lächelnde Lippen. Dann, mit einem neuen wundersamen Gefühl körperlicher Nähe, verließ er Arm in Arm mit ihr die Kirche (...) Noch am gleichen Abend, gleich nach dem Hochzeitsmahl, reisten die Neuvermählten aufs Land". Ein N o v u m war in der nachpetrinischen Wirklichkeit die Scheidung. D a durch, daß sie von der neuen Situation der Frau diktiert wurde, und die nachpetrinische Wirklichkeit der adligen Frau das Recht, eine juristische Person zu sein, und insbesondere das Recht auf selbständiges Eigentum zugestand, wurde u m 1800 die Scheidung zu einer häufigeren Erscheinung als davor; praktisch gehörte sie der neuen Staatlichkeit an. U n d es ergab sich ein Widerspruch sowohl zu den Bräuchen als auch zur kirchlichen Tradition. D o c h Fragen des Kirchenrechts und der juristischen Seite dieser Angelegenheit sind nicht T h e m a des vorliegenden Buches. U n s wird die Scheidung als ein Phänomen der Lebensweise interessieren. Wir werden betrachten, wie diese Konflikte im praktischen Leben und in Ubereinstimmung mit den Forderungen der Realität und der moralisch-juridischen N o r m e n gelöst wurden. Ein strenger Richter seines Jahrhunderts, der Fürst M. M. Stscherbatow, teilt uns die folgende Episode mit:' „ E s ist nicht verwunderlich, daß unter dem wollüstigen und prachtliebenden Herrscher der L u x u s ein derartiges Ausmaß annahm, aber es ist anzumerken, daß man bezüglich der Sitten unter der frommen Herrscherin in vielem dem göttlichen Gesetz zuwiderhandelte. D a s gilt besonders für die A u f f a s s u n g von der Erhaltung der Heiligkeit der Ehe, für das Mirakel unseres Glaubensbekenntnisses. Es ist wahr, daß ein einziges Laster und eine einzige Untat andere nach sich ziehen. Wir können in dieser Zeit den Anfang davon sehen, daß Ehefrauen begannen, ihre Ehegatten zu verlassen. Ich kenne nicht die Umstände der befremdenden ersten Scheidung; aber in der Tat war es so. Iwan Buturlin, dessen Sohn ich nicht kenne, hatte eine gewisse Anna Semjonowa zur Ehefrau; zu dieser trat Stepan Fjodorowitsch U s c h a k o w in eine Liebesbeziehung, sie verließ ihren Gatten, heiratete ihren Liebhaber, und beide lebten in aller Öffentlichkeit in einer ungenierten und den Forderungen der Kir* Erinnern wir uns an das von uns bereits erwähnte Detail. Es geht um die Epoche Elisabeths. Wenn Stscherbatow von ihr als von einem Menschen spricht, verwendet er die weibliche F o r m „Herrscherin", aber spricht er über ihre staatliche Tätigkeit, benutzt er das männliche Wort „Herrscher".
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che zuwiderhandelnden Ehe. Fernerhin verließ Anna Borisowna Gräfin Apraksina, geborene Fürstin Golizyna, ihren Gatten, den Grafen Pjotr Alexejewitsch Apraksin. Ich will nicht auf die Gründe eingehen, aus denen sie ihren Gatten verließ, der tatsächlich ein Mensch mit einem unsittlichen Lebenswandel war. Ich weiß nur, daß diese Scheidung nicht von einer kirchlichen, sondern von einer zivilen Instanz vollzogen wurde. Ihr Gatte wurde, weil er ihr angeblich in einem deutschen Schauspiel-Etablissement eine skandalöse Szene gemacht hatte, von der Wache abgeführt und sehr lange festgehalten; und ihr wurde schließlich befohlen, ihren Teil des Familiennamens dem rechtmäßigen Ehemann zurückzugeben und sich wieder, wie zuvor, Fürstin Golizyna zu nennen. Somit verlor sie den Namen ihres in Verhaft gebrachten Gatten, wurde aber Erbin eines Teils des Besitzes ihres Ehegatten, und das nur dank der Beziehungen ihres Vaters, des Fürsten Boris Wassiljewitsch, zum Hof. Nach ihrer Scheidung wurde sie die Freundin der F(ürstin Jelena Stepanowna) K(urakina), der Geliebten des Grafen Schuwalow". 38 Als man die Mutter Tatjanas in ihrer Jugend verheiratete und sie „nicht nach ihrer Meinung dazu" gefragt hatte, heißt es im „Eugen Onegin", Sie sträubte sich und schrie und stöhnte, An Trennung von dem Gatten dachte sie... (2, XXXI) Die Zeitgenossen sahen in diesem Vers eine romantische Übertreibung der Schülerin der Fürstin Alina. Eine tatsächliche Trennung der Ehegatten hätte in dieser Situation auch nicht in Betracht kommen können. Für eine Scheidung war in jenen Jahren - die Heirat der Eltern Tatjanas fand um 1790 statt - ein Entscheid des Konsistoriums, der Kirchenbehörde, erforderlich, der vom Erzpriester der Eparchie bestätigt werden mußte; ab 1806 wurden alle Angelegenheiten dieser Art nur vom Synod entschieden. Eine Ehe konnte nur unter folgenden Voraussetzungen aufgelöst werden: Ehebruch, der durch Zeugen bestätigt oder durch eigenes Eingeständnis offenbar geworden war, Bigamie, aufgrund einer Krankheit, die eine Ehe physisch unmöglich machte, Entfernung mit unbekanntem Ziel, Verbannung, Aberkennung des Rechts auf Eigentum, Anschlag auf das Leben des Ehepartners, Eintritt in Kloster. Bekannt sind auch Fälle, in denen das persönliche Eingreifen des Zaren oder der Zarin eine Ehescheidung gegen die bestehenden Gesetze entschied. Es ist jedoch offensichtlich, daß Praskowja Larina alle diese Wege ebenso versperrt waren wie die zahlreichen kostspieligen Praktiken, die Gesetze mittels Bestechung oder mit Hilfe einflußreicher Fürsprecher zu umgehen. Das einzige, was die Mutter Tatjanas unternehmen konnte, war die Flucht zurück in ihr Elternhaus. Eine faktische Auflösung der Ehe in dieser Weise war keine Seltenheit. Ein langes Getrenntleben der Ehegatten konnte für das Konsistorium ein Argument zugunsten einer Scheidung sein.
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Die nachpetrinische russische Gesetzgebung gab der adligen Frau in einem gewissen Rahmen juristische Rechte. Größere Garantien jedoch bot der Brauch. Insgesamt erreichten die Frauen im 18. Jahrhundert eine größere Selbständigkeit. Bei Fonwisin, in seinem ,Landjunker', finden wir das durch mehrere Quellen bestätigte Bild einer realen Überlegenheit der Hausherrin in der Familie eines Gutsbesitzers. Und im „Onegin" heißt es über die Larina, Tatjanas Mutter, Sie zankte mit den Ackerleuten, Schor Köpfe, salzte Pilze ein, Nahm alles selbst in Augenschein, Ließ samstags sich ihr Bad bereiten, Ohrfeigte ab und zu die Magd Der Gatte wurde nie gefragt. (2, XXXII) Genauso verwaltete auch die Prostakowa das Haus: „... bald schelten, bald schlagen, so erhält man das Haus". Und Fonwisin amüsierte Katharina II. mit dem Bonmot, bei Hofe wäre manche Frau soviel wert wie ein Mann und ein Mann schlimmer als ein Weib. Es gehörte auch zu den Merkmalen dieser Epoche, daß das ,Weiberregime' die Macht des Herrschers nicht beeinträchtigte. Mit Recht bemerkte Puschkin über Katharina II.: „Selbst die Genußsucht dieser listigen Herrscherin bestätigte ihre Herrschaft." (XI,15) Die seltene und skandalträchtige Form der Scheidung wurde häufig durch die praktische Trennung ersetzt. Das Ehepaar ging auseinander, man teilte den Besitz mehr oder weniger friedlich auf, danach erhielt die Frau ihre Freiheit. Genauso stellte sich die Ehesituation Suworows dar. Sein Konflikt mit Warwara Iwanowna und die faktische Trennung von ihr führten zu einem gewaltigen Skandal, in den auch die Petersburger Aristokratie, einschließlich des Zaren Paul I., einbezogen wurde. Im Oktober 1797 forderte W. I. Suworowa, die kühlen Beziehungen zwischen Paul und dem Feldmarschall ausnutzend und der Unterstützung gewiß, die sie seitens der in „dieser Angelegenheit" Partei ergreifenden Aristokraten und Günstlinge des Imperators erwarten durfte, von ihrem Gatten, von dem sie schon längere Zeit getrennt lebte, die Bezahlung ihrer enormen Schulden, man schätzte 22 000 Rubel, und die Erhöhung ihrer jährlichen Abfindungssumme. Suworow ließ ihr darauf durch Mittelspersonen antworten, er sei „selbst verschuldet und deshalb nicht in der Lage, ihr zu helfen". Der Konflikt wurde durch den General-Prokuror und Favoriten Pauls, Kurakin, an den Zaren herangetragen. Der Zar befahl, „der Gräfin Suworowa mitzuteilen, daß die Forderungen an ihren Gatten gesetzmäßig" seien. Faktisch bedeutete das, sofern der Konflikt vor die offiziellen Instanzen gelangte, ihren Triumph. Warwara Iwanowna nahm die erlauchte Entscheidung zur Kenntnis und reichte über den General-Prokur ein Gesuch ein, in dem sie sich schon nicht mehr auf die Summe von 22 000 Rubeln zur
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Begleichung der Schulden beschränkte, sondern gleichzeitig materielle Schwierigkeiten ins Feld führte und sich darüber hinaus beklagte, daß sie kein eigenes Haus besäße. Sie fügte noch hinzu, daß sie glücklich wäre und „den Rest ihrer Tage in Dankbarkeit verbringen würde, wenn sie in dem Haus ihres Ehemannes leben" könnte, dazu erbat sie sich zusätzlich noch das Gut, das jährlich nicht weniger als achttausend Rubel erbringen würde. Paul entschied, man solle Suworow mitteilen, „er habe den Wunsch seiner Gattin zu erfüllen". Suworow befand sich zu dieser Zeit in einer prekären finanziellen Situation, aber er sah sich gezwungen, dem Willen des Zaren nachzugeben. Im November 1797 schrieb er dem Grafen Subow, daß er bereit sei, sein „Geburtshaus" abzutreten, es ihm aber unmöglich sei, den „anderen Ansprüchen" nachzukommen, da er sich dazu „nicht imstande" sehe. Nach dem kaiserlichen Ukas teilte er Subow mit: „J. A. Nikolew hat mir durch den F(ürsten) Kur(agin) den erlauchten Willen mitteilen lassen. Kraft dessen habe ich G(räfin) W(arwara) I(wanowna) Häuser zu ihrer Nutzung zu überlassen und ihr jährlich 8000 Rubel zu zahlen, ich weiß, daß die G(räfin) W(arwara) viele Schulden hat, doch das geht mich nichts an". 39 Der Streit mit der Ehefrau, zu dem noch eine Verschlechterung der Beziehungen zum Zaren kam, veranlaßte Suworow zu einem Schritt, der nur durch einen äußersten Grad von Gereiztheit zu erklären ist. Er wandte sich 1798 mit der Bitte an Paul, ihm die Erlaubnis zum Eintritt in ein Kloster zu gewähren. Das Alltagsleben des Adligen war im 18. Jahrhundert ein Konglomerat aus Sitten, die auf nationaler Tradition beruhten, religiösen Ritualen, philosophischer Freigeisterei und Westlertum, das bald oberflächlich, bald tragisch die Kluft zwischen ihm und der ihn umgebenden Wirklichkeit vergrößerte. Die Konfusion, die dieses Chaos aus Ideen und Anforderungen des Alltags hervorrief, hatte aber auch eine positive Seite. In einem wesentlichen Maße zeigte sich hier die Jugendlichkeit einer Kultur, die ihre Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft hatte.
D E R RUSSISCHE D A N D Y
Das Wort „Dandy", wie auch das von ihm abgeleitete „Dandytum", läßt sich nur schwer in die russische Sprache übersetzen. Präziser, dieses Wort läßt sich nicht nur durch einige, ihrem Sinn nach entgegengesetzte russische Wörter übertragen, es bezieht sich auch, zumindest in der russischen Tradition, auf verschiedene allgemeine Erscheinungen. In England entstanden, war das Dandytum gewissermaßen eine nationale Reaktion auf die französischen Moden, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts stürmische Empörung bei den englischen Patrioten hervorriefen. N. Karamsin beschrieb in seinen „Briefen eines russischen Reisenden", wie zu
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Begleichung der Schulden beschränkte, sondern gleichzeitig materielle Schwierigkeiten ins Feld führte und sich darüber hinaus beklagte, daß sie kein eigenes Haus besäße. Sie fügte noch hinzu, daß sie glücklich wäre und „den Rest ihrer Tage in Dankbarkeit verbringen würde, wenn sie in dem Haus ihres Ehemannes leben" könnte, dazu erbat sie sich zusätzlich noch das Gut, das jährlich nicht weniger als achttausend Rubel erbringen würde. Paul entschied, man solle Suworow mitteilen, „er habe den Wunsch seiner Gattin zu erfüllen". Suworow befand sich zu dieser Zeit in einer prekären finanziellen Situation, aber er sah sich gezwungen, dem Willen des Zaren nachzugeben. Im November 1797 schrieb er dem Grafen Subow, daß er bereit sei, sein „Geburtshaus" abzutreten, es ihm aber unmöglich sei, den „anderen Ansprüchen" nachzukommen, da er sich dazu „nicht imstande" sehe. Nach dem kaiserlichen Ukas teilte er Subow mit: „J. A. Nikolew hat mir durch den F(ürsten) Kur(agin) den erlauchten Willen mitteilen lassen. Kraft dessen habe ich G(räfin) W(arwara) I(wanowna) Häuser zu ihrer Nutzung zu überlassen und ihr jährlich 8000 Rubel zu zahlen, ich weiß, daß die G(räfin) W(arwara) viele Schulden hat, doch das geht mich nichts an". 39 Der Streit mit der Ehefrau, zu dem noch eine Verschlechterung der Beziehungen zum Zaren kam, veranlaßte Suworow zu einem Schritt, der nur durch einen äußersten Grad von Gereiztheit zu erklären ist. Er wandte sich 1798 mit der Bitte an Paul, ihm die Erlaubnis zum Eintritt in ein Kloster zu gewähren. Das Alltagsleben des Adligen war im 18. Jahrhundert ein Konglomerat aus Sitten, die auf nationaler Tradition beruhten, religiösen Ritualen, philosophischer Freigeisterei und Westlertum, das bald oberflächlich, bald tragisch die Kluft zwischen ihm und der ihn umgebenden Wirklichkeit vergrößerte. Die Konfusion, die dieses Chaos aus Ideen und Anforderungen des Alltags hervorrief, hatte aber auch eine positive Seite. In einem wesentlichen Maße zeigte sich hier die Jugendlichkeit einer Kultur, die ihre Möglichkeiten noch nicht ausgeschöpft hatte.
D E R RUSSISCHE D A N D Y
Das Wort „Dandy", wie auch das von ihm abgeleitete „Dandytum", läßt sich nur schwer in die russische Sprache übersetzen. Präziser, dieses Wort läßt sich nicht nur durch einige, ihrem Sinn nach entgegengesetzte russische Wörter übertragen, es bezieht sich auch, zumindest in der russischen Tradition, auf verschiedene allgemeine Erscheinungen. In England entstanden, war das Dandytum gewissermaßen eine nationale Reaktion auf die französischen Moden, die gegen Ende des 18. Jahrhunderts stürmische Empörung bei den englischen Patrioten hervorriefen. N. Karamsin beschrieb in seinen „Briefen eines russischen Reisenden", wie zu
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seiner Zeit eine Rotte Jungen einen durch London spazierenden und nach französischer M o d e gekleideten Menschen mit Straßenkot bewarfen. Im Gegensatz zur ,sublimierten' französischen Kleidung kanonisierte die englische Mode den Frack, der bis dahin nur ein Reitanzug gewesen war. V e r gröbert' und sportlicher, wurde er als nationale englische Gewandung empfunden. Die französische vorrevolutionäre Mode kultivierte Verfeinerung und Raffinement, während die englische Extravaganz gelten ließ und der Originalität die höchste Wertschätzung zugestand. So trug das D a n dytum einen spezifischen nationalen Charakter und fiel in diesem Sinne einerseits mit der Romantik zusammen und andererseits mit den patriotischen antifranzösischen Stimmungen, die Europa in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts erfaßt hatten. Unter diesem Aspekt nahm das Dandytum die Färbung einer romantischen Rebellion an. Es orientierte sich an einem extravaganten Verhalten, das die Gesellschaft vor den Kopf stieß, und an dem romantischen Kult des Individualismus. Die Verhöhnung der Manieren der vornehmen Gesellschaft, Gesten der ,Ungeniertheit', demonstratives Schockieren, all diese Formen der Mißachtung gesellschaftlicher Gebote wurden als poetisch aufgefaßt. Ein solcher Lebensstil gehörte auch zu den Eigenarten des Dandy Lord Byron. Eine dieser Haltung völlig entgegengesetzte Interpretation des Dandytums finden wir bei dem wohl berühmtesten Dandy dieser Zeit, bei George Brummel. Bei ihm nahm die Mißachtung der gesellschaftlichen Regeln andere Formen an. Setzte B y r o n der verweichlichten Welt die Energie und die heroische Schroffheit des Romantikers entgegen, so Brummel dem groben Kleinbürgertum, dem „Welthaufen", das verwöhnte Raffinement des Individualisten." Diesen zweiten Verhaltenstyp finden wir später auch bei der Hauptfigur in Bulwer-Lyttons Roman „Pelham oder die Abenteuer eines Gentlemans" (1828). Dieser Roman begeisterte auch Puschkin und wirkte sich sowohl literarisch als auch hinsichtlich seines allgemeinen Verhaltens auf ihn aus. Bulwer-Lyttons Held, der einen Hang zu vornehmer Mode, vorsätzlicher Dreistigkeit und Zynismus in sich vereinigte, war für den russischen Leser keine absolut neue Figur. Sie findet sich bereits in Karamsins Erzählung „Meine Beichte" (1803). D e r typisch englische Held Bulwer-Lyttons und sein russischer Vorgänger wurden von den Lesern in Rußland als Phänomene einer gleichen Richtung empfunden. Bulwer-Lyttons Hauptfigur, Dandy und Rebell gegen alle Ordnung, verfolgt seinen einmal einge-
*
H i e r geht es um die englische Herrenmode: die französische D a m e n - und H e r r e n m o -
de trug den Charakter einer gegenseitigen Entsprechung, in England hingegen entwickelte sich jede dieser M o d e n nach eigenen Gesetzen. * * Die Gegenüberstellung dieser beiden Rebellionen legte später O s c a r Wilde dem Sujet seines R o m a n s „Das Bildnis des D o r i a n G r e y " zugrunde.
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schlagenen W e g unbeirrt und kultiviert die ,modische Sublimiertheit', wie B y r o n s Held die Kraft. „Angekommen in Paris, beschloß ich sofort, ein bestimmtes ,Emploi' zu wählen und mich streng daran zu halten, denn ich hielt immer schon auf Grandezza und war bestrebt, mich in allem von der menschlichen Herde zu unterscheiden. Nachdem ich gründlich darüber nachgedacht hatte, welche Rolle mir am besten steht, kam ich zu dem Ergebnis, daß ich mich am ehesten unter den Männern hervortun und die Frauen bezaubern würde, wenn ich den selbstgefälligen Stutzer hervorkehren würde. Deshalb entschied ich mich für eine Frisur mit spiralförmigen Locken, kleidete mich absichtlich einfach und ohne jegliche Manierismen (apropos, ein wirklich vornehmer Mensch würde gerade umgekehrt handeln), und erschien so, eine blasierte Miene aufsetzend, zum ersten Mal bei Lord Bennington". Pelham kultiviert nicht die unverfrorene individualistische Kraft, sondern eine ebenso unverfrorene individualistische Sublimiertheit, macht sie zur Waffe seiner Überlegenheit über die vornehme Gesellschaft. N i c h t die Qualität des Auftretens ist für den D a n d y Maßstab seines Verhaltens, sondern der Grad, in dem er aus dem Rahmen der allgemeingültigen N o r m e n herausfällt. M i t äußerster Feigheit kann er daher ebenso prahlen wie mit äußerster Kühnheit: ,„Wie gefallen Ihnen unsere Straßen?' fragte die schon etwas ältere, aber noch ungemein lebhafte Madame de G. ,Ich fürchte, Sie werden finden, daß sie für Ihre Spaziergänge nicht so angenehm sein werden wie die Londoner Trottoirs'. ,Um die Wahrheit zu sagen', sagte ich, ,habe ich seit meiner Ankunft nur einen einzigen Bummel à pied durch Ihre Straßen gemacht, und um ein Haar wäre ich umgekommen, da mir niemand zu Hilfe eilte... Ich stürzte in einen Spülichtstrom, den Sie hier Gosse nennen, ich aber einen reißenden Fluß. Was glauben Sie, Mister Aberton, was ich in dieser bedrängten Situation unternommen habe?' ,Nun was schon, vermutlich werden Sie sich bemüht haben, dort rasch wieder herauszusteigen', sagte der seines Amtes würdige Attaché. ,Ganz und gar nicht: ich war zu erschrocken. Ich stand reglos in dem Wasser und rief um Hilfe'." Dieses Verhalten des Dandys wird von vollem Erfolg gekrönt: „Mister Aberton flüsterte dem fetten und dümmlichen Lord Lescomb zu: ,Was für ein unausstehliches Greenhorn!' Und alle, einschließlich der alten de G., sahen mich aufmerksamer an als zuu vor. Die Kunst des Dandytums erzeugt ein kompliziertes System einer eigenen Kultur, die sich äußerlich als eine eigentümliche „Poesie der raffinierten Kleidung" darbietet. D i e Kleidung ist das äußere Kennzeichen des DandyZu Fuß (franz.).
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tums, doch keineswegs sein Wesen. Der Held Bulwer-Lyttons erzählt von sich mit Stolz, daß er es gewesen sei, der in England die „gestärkten Krawatten eingeführt" hat. Und es ist ebenfalls er, der „durch sein Beispiel" „verfügt, die Stulpen seiner Kanonenstiefel mit Champagner einzureiben". Von Puschkins Eugen Onegin heißt es: „Drei ganze Stunden mindestens/ hatte vorm Spiegel er verbracht". Aber der Schnitt des Fracks und die modischen Attribute waren nur der äußerliche Ausdruck des Dandytums, denn sie lassen sich zu leicht von Dilettanten imitieren, die sein inneres aristokratisches Wesen nicht zu erfassen vermögen. Es gibt bei Bulwer-Lytton ein charakteristisches Gespräch zwischen einem wahren Dandy und einem erfolglosen Nachahmer des Dandytums: „Stulz ist bestrebt, Gentlemen zu machen, nicht Fräcke; jede Naht erhebt bei ihm aristokratischen Anspruch, worin eine entsetzliche Vulgarität steckt. Einen von Stulz gearbeiteten Frack wird man überall mühelos erkennen. Allein das genügt, um ihn zu negieren. Es lohnt nicht, auch nur ein Wort zu verlieren über einen Mann, den man schon an dem gängigen und noch dazu unoriginellen Schnitt seiner Kleidung erkennt. Der Mensch muß den Schneider machen, nicht der Schneider den Menschen. ,Es stimmt, zum Donnerwetter!' rief Sir Willoughby, dessen Kleidung so schlecht war wie die Mittagessen bei Lord I., ,Es stimmt absolut! Ich habe meinen Schneidern immer gesagt, sie sollen mir nichts Modisches, sondern etwas der Mode Entgegengesetztes nähen; sie sollen meine Fräcke nicht kopieren und meine Hosen nicht nach dem Muster von denen nähen, die sie für andere gemacht haben, sondern sie nach meiner eigenen körperlichen Beschaffenheit zuschneiden und sich nicht an der Fasson eines gleichschenkligen Dreiecks orientieren. Schauen Sie sich doch nur diesen Frack an!' Sir Willoughby richtete sich auf und erstarrte, damit wir seinen Rock ausgiebig bewundern konnten. ,Ein Frack!' rief Russelton aus, sein Gesicht drückte aufrichtige Verwunderung aus, und angewidert griff er mit zwei Fingern nach dem Kragenrand, ,Ein Frack, Sir Willoughby? Ist dieser Gegenstand Ihrer Meinung nach wirklich ein F r a c k ? ' "
Der Roman Bulwer-Lyttons, der als belletristisches Programm des Dandytums angesehen werden kann, fand in Rußland große Verbreitung. Doch er war nicht die Ursache für das Entstehen des russischen Dandytums, eher war das Gegenteil der Fall: Das russische Dandytum weckte erst das Interesse an diesem Roman. Als bemerkenswerter Beleg für dieses Interesse kann eine Episode gelten, die die Tradition mit dem Namen Puschkin verbindet, deren Wahrheitsgehalt allerdings nicht nachgewiesen ist. Aber gleichviel, welcher Herkunft und welcher Natur der im Folgenden angeführte Fall auch sein könnte, ist er doch ein Beispiel für den unmittelbaren * N a c h 1790 erhielten diese Kanonenstiefel nach dem damals in England in M o d e gekommenen Suworow den N a m e n ä la Souvaroff.
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Einfluß, den „Pelham" auf das Verhalten der russischen Stutzer ausübte. In einer halb apokryphischen Biographie Puschkins finden wir die unerwartete Beschreibung eines dandyhaften Benehmens des Dichters. Es ist bekannt, daß Puschkin, ähnlich seinem Helden Tscharski in den „Ägyptischen Nächten", die Vorliebe für Romantiker vom T y p eines Kukolnik und für die Rolle, die sie als ,Dichter der vornehmen Gesellschaft' spielten, nicht ertragen konnte. Die folgenden Sätze klingen autobiographisch: „Das Publikum betrachtet ihn (den Dichter) als Eigentum; und es ist der Meinung, daß er ihm zum .Nutzen' und zur .Unterhaltung' geboren wurde. Kommt er vom Lande zurück, fragt ihn der erstbeste, dem er begegnet: Ob Sie uns wohl etwas Neues mitgebracht haben? Denkt er über unbefriedigende Geschäfte nach, über die Erkrankung eines ihm lieben Menschen: sofort begleitet ein banales Lächeln einen banalen Ausruf: Sicher dichtet er irgend was! Oder ist er etwa verliebt? Eine Schöne kauft sich in einem englischen Geschäft ein Album, und schon wartet sie auf eine Elegie. Und kommt er zu einem ihm kaum bekannten Menschen, um mit ihm über eine wichtige Angelegenheit zu reden, ruft der schon nach seinem kleinen Sohn, den er veranlaßt, Gedichte von dem Poeten aufzusagen; und der Knabe traktiert den Versemacher mit dessen verstümmelten Gedichten". (VIII (1), 263) Die Quelle, auf die wir uns im folgenden berufen, berichtet von einem angeblichen Gespräch Puschkins mit einem Fräulein N. M. Jeropkina, der Cousine P.J.Nastschokins: „Puschkin begann mit Humor zu beschreiben, wie seine Musenfee von der allgemeinen (der Moskauer - J. L.) Trägheit angesteckt wird. Sie flattert schon nicht mehr umher, sondern watschelt sich wiegend einher, hat sich ein Bäuchlein zugelegt und begibt sich ,von Lindors Höhen herab in die Klause des Kochkünstlers'. Und die Reime sind ein Grauen! (Er überschüttete mich mit Beispielen, aber an alles kann man sich nicht mehr erinnern). Ich schreibe ,Promethee', und sie lallt ,Sellerieee'. Mich begeistert,Palladium', und sie bedient mich mit ,Schokoladen-Trumm'. Mir erscheint die dräuende ,Minerve', aber sie lacht ,aus der Konserve'. Aus ,Messalinen' macht sie ,Apfelsinen', und für ,Mars' bietet sie mir ,Kwaß'; aus ,göttlicher Nektar' wird ,Samowar'... Ich schreie entsetzt Jupiter', sie macht daraus ,Konditor'". 40 Dieses Dokument führt uns eine komische Situation vor. Die naive Verfasserin vermutet, Puschkin habe ihr das Entstehen poetischer Texte demonstriert, tatsächlich jedoch bietet er ihr lediglich eine ironische Darstellung dessen, was sie sich unter Schöpfertum vorstellt. Zwar ist dieser Text in einer später verfaßten und entstellten Form auf uns gekommen, aber gerade die Doppeldeutigkeit der Situation läßt uns vermuten, daß ihr noch Vergl.: kalt blickt auf den Poeten der Menschen Menge, wie auf einen fahrenden Gaukler. (Puschkin, III, 229)
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eine zweite, w a h r e Situation z u g r u n d e liegt. Es ist auch festzuhalten, daß die Worte, die N . M. Jeropkina benutzt, eine deutliche literarische Parrallele aufweisen. In dem weiter oben angeführten R o m a n von Bulwer-Lytton findet sich eine Stelle, die dem ,Puschkinschen' Text in den Erinnerungen N . M . Jeropkinas ungemein n a h e k o m m t u n d in der eine der Figuren ihren Versuch, Verse zu machen, beschreibt: „Ich begann effektvoll: O Nymphe, der Muse zärtliche Stimme hätte... Aber so sehr ich mich auch bemühte, mir fiel nur der Reim ,Stiefelette' ein. Ich dachte mir einen anderen Anfang aus: Dich rühmen soll man so im Nu... aber auch hier konnte ich nichts finden außer dem Reim ,Schuh'. Meine weiteren Bemühungen waren ebenso erfolglos.,Frühlingsbukette' ließ in meiner Phantasie nur den Reim ,Toilette' entstehen, aus ,Labe' wurde aus irgendeinem Grunde ,Pomade', auf,trüben Lebens Reife' am Ende der zweiten Strophe fand ich nur das mißtönende ,Seife'. Und nachdem ich mich endlich davon überzeugt hatte, daß die poetische Kunst nicht eben meine forte war, verdoppelte ich meine Bemühungen um mein Äußeres; ich begann mich modisch zu kostümieren, zu dekorieren, zu shamponieren, zu ondulieren, und das mit all dem Eifer, den vermutlich meine mit Begeisterung produzierten eigenartigen Reime hervorgebracht hatten.". Im Licht dieser Parallel-Szene ist der Sinn der Beschreibung N . M . Jeropkinas so zu verstehen: Puschkin begegnete dem naiven Ansinnen des jungen Mädchens, ein „poetisches Gespräch" mit ihr zu führen, indem er ihr eine Szene nach den Rezepten des L o n d o n e r D a n d y s vorspielt und den auf die M o d e bezogenen Snobismus durch Beispiele aus dem kulinarischen Bereich ersetzt. D o c h ist das Dandyhafte dieses Puschkinschen Verhaltens nicht als vorgeblicher H a n g z u m Gastronomischen zu verstehen, sondern als offensichtliche Ironie, u m nicht Unverfrorenheit zu sagen, mit der er sich über die naive Leichtgläubigkeit seiner Gesprächspartnerin lustig macht. Aber gerade diese Unverfrorenheit, die sich hinter ironischer Höflichkeit versteckt, ist bezeichnend f ü r das Verhalten eines Dandys. Der Held in Puschkins unvollendetem „Roman in Briefen" beschreibt den Mechanismus der dandyhaften Unverfrorenheit sehr präzise: „Die Männer sind mit meiner fatuité indolente, die hier noch eine Neuheit ist, ziemlich unzufrieden. Sie gebärden sich noch u m so wütender, weil ich ausnehmend höflich und zuvorkommend bin, und obwohl sie fühlen, daß ich unverschämt bin, können sie nicht herausfinden, worin meine Unverschämtheit besteht." (VIII (1), 54) Das typisch dandyhafte Benehmen war in den Kreisen der russischen Stutzer schon üblich, lange bevor die N a m e n Byron u n d Brummel und der Stärke (ital.).
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Begriff „Dandy" in Rußland bekannt wurden. Wie bereits erwähnt, beschrieb Karamsin schon 1803 das interessante Phänomen des Ineinanderfließens von Rebellion und Zynismus, die Verwandlung des Egoismus in eine eigenartige Religion und das sarkastische Verhalten der,platten' Moral gegenüber. Stolz erzählt der Held aus „Meine Beichte" von seinen Abenteuern: „Ich erregte während meiner Reise dadurch viel Aufsehen, daß ich beim Kontertanz namhafte Damen aus deutschen Fürstenhäusern auf die unschicklichste Weise zu Boden fallen ließ und daß ich inmitten guter Katholiken den Pantoffel des Papstes küßte, ihn dabei in den Fuß biß und den armen Alten zwang, aus allen Kräften zu schreien". Diese Episoden nahm später F . M . Dostojewski in seinem Roman „Die Dämonen" wieder auf. In nur unwesentlich veränderter Weise wiederholt Stawrogin die zynischen Späße des Karamsinschen Helden: Er bringt Frau Liputina in eine skandalöse Lage, indem er sie auf einem Ball öffentlich küßt, und dem Gouverneur beißt er unter dem Vorwand, ihm etwas vertraulich mitteilen zu wollen, ins Ohr. Selbstverständlich führt Dostojewski den Charakter seines Helden nicht auf die von Karamsin entworfene Figur zurück. Für ihn ist diese innere Verkommenheit des Dandytums ein unheilverkündendes Omen für das Schicksal dieses „Bürgers des Kantons Uri". In der Vorgeschichte des russischen Dandytums lassen sich mehrere bemerkenswerte Gestalten ausmachen. Die einen sind die sogenannten „Rochier". In dem schon angeführten Puschkinschen „Roman in Briefen" schreibt einer der Freunde Ende der 1820er Jahre an Wladimir: „Du bist hinter deinem Jahrhundert zurückgeblieben und wirst in die ehemalige Garde der ci-devant" Rochier des Jahres 1807 abgleiten" (VIII (1), 55). Die „Rochier" werden von Puschkin schon in den Varianten zu „Das Häuschen in Kolomna" erwähnt: ...Geschnürte Gardisten, Rochier, Ihr (doch ihr Röcheln ist verstummt). Gribojedow nennt Skalosub in „Verstand schafft Leiden": „Rochier, Strangulierter, Fagott". Der Sinn dieses Militär-Argots der Epoche vor 1812 muß dem heutigen Leser dunkel bleiben. In seinem Bewußtsein entsteht das Bild eines röchelnden Alten. Dieses Bild verfestigte auch noch, kraft seiner Autorität, K. S. Stanislawski. In einer Aufführung von „Verstand schafft Leiden" 42 im Kleinen Künstlertheater spielte L . M . Leonidow die Rolle des Skalosub und wurde als fünfzigjähriger General geschminkt (bei Gribojedow ein Oberst!), korpulent und mit gefärbten Haaren. Doch der Gribojedowsche
*
Seligen Angedenkens (franz.). W i r zitieren den ursprünglichen Text. Später hieß die erste Zeile: „Junge Schönlinge"
(Puschkin, V, 374).
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Held entspricht diesem Bild ganz und gar nicht. Vor allem ist er jung, aber doch schon Oberst, obwohl er erst 1813 in den Krieg geraten war. Bemerkenswert ist hier, daß er ausdrücklich nicht zu den Teilnehmern am Krieg von 1812 gezählt wird. Alle drei Beinamen für Skalosub, „Rochier, Strangulierter, Fagott", beziehen sich auf die geschnürte Taille (vergl. die Worte ebenjenes Skalosub: „Und die Taillen sind so eng"). Das erklärt auch Puschkins Ausdruck „geschnürte Gardisten". Dem bis zum Wetteifern mit der weiblichen Taille gehenden Einschnüren mit dem Gurt, das den militärischen Stutzern das Aussehen von „Strangulierten" verlieh und die Benennung „Rochier" rechtfertigte, entstammt auch der Vergleich eines geschnürten Offiziers mit einem Fagott. Die Ansicht, daß eine enge Taille ein wichtiges Merkmal männlicher Schönheit sei, hielt sich noch etliche Jahrzehnte. Nikolai I. schnürte sich noch 1840, als er bereits einen Bauch hatte. U m sich wenigstens die Illusion einer Taille zu erhalten, nahm er die physische Marter hin. Diese Mode erfaßte nicht nur die Militärs. Puschkin schrieb an seinen Bruder mit Stolz über die Schlankheit seiner Taille: „Ich habe in diesen Tagen mit dem Gürtel meine und Jewpraksijas Taille gemessen, sie erwiesen sich als gleich. Daraus ist zu folgern: Entweder habe ich die Taille eines 15jährigen Mädchens oder sie hat die Taille eines 25jährigen Mannes." (XIII; 120). Eine große Rolle spielte für das Auftreten eines Dandys die Brille, ein Detail, das die Stutzer der vorangegangenen Epoche ihm vererbt hatten. Bereits im 18. Jahrhundert hatte die Brille den Charakter eines Details der modischen Toilette gehabt. Den Blick durch die Brille setzte man dem Blick in ein Gesicht aus größter Nähe gleich und sah darin eine Geste der Unverfrorenheit. Die Anstandsregeln verboten es den dem Alter oder dem Rang nach Jüngeren, Ältere durch die Brille anzusehen, das wurde als Dreistigkeit empfunden. Delwig erinnerte sich, daß es im Lyzeum verboten gewesen war, eine Brille zu tragen, und ihm deshalb alle Frauen gleichermaßen als Schönheiten erschienen waren. Ironisch fügte er hinzu, daß er nach dem Verlassen des Lyzeums und dem Kauf einer Brille außerordentlich enttäuscht gewesen sei. Die Verbindung der Brille mit der Dreistigkeit eines Stutzers war schon im Jahre 1765 von W. Lukin in der Komödie „Der Kurzwarenhändler" dargestellt worden. Hier wurden in einem Dialog zweier Bauern, Miron und Wassili, die sich ihre natürliche Herzenseinfalt bewahrt haben, die dem Volk unverständlichen aristokratischen Gewohnheiten beschrieben: Miron, der Arbeiter (hält in den Händen ein Sehrohr): „Wasjuk, schau mal. Bei uns wird auf solchen Rohren gespielt, und hier kneift man ein Auge zu und späht durch. Das wäre ja aus der Ferne ganz gut, Brüderchen, aber hier starrt man einander Nase an Nase an. Die haben, dünkt mir, überhaupt keine Scham."43
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I . W . Gudowitsch, Beginn des 19. Jahrhunderts Moskauer Oberbefehlshaber, war ein großer Feind der Brillen und riß sie den jungen Leuten mit den Worten vom Gesicht: „Hier gibt's nichts für Euch zum penetranten Anstarren!" Damals führten Spaßvögel in Moskau eine Stute durch die Boulevards, der sie eine Brille aufgesetzt und dazu eine Aufschrift gegeben hatten: „Und ist erst drei Jahre alt". Das Dandytum gab dieser Mode eine eigene Schattierung, als Merkmal der Anglomanie kam das Lorgnon auf. In der „Reise Onegins" schrieb Puschkin mit nachsichtiger Ironie: Odessa ward mit klangvollem Vers Von Freund Tumanski beschrieben ... Mit seinem Lorgnon, kaum angekommen, Hat er's in Augenschein genommen... (VI, 202)
Tumanski, direkt aus dem College de France nach Odessa kommend, w o er einen wissenschaftlichen Kurs absolviert hatte, hielt sich strikt an alle Regeln, die das Dandytum verlangte, was auch die Ironie Puschkins hervorrief. Ein spezifischer Zug dandyhaften Benehmens w a r es auch, im Theater nicht das Geschehen auf der Bühne durch das Opernglas zu betrachten, sondern die Damen in den Logen. Onegins Dandy-Manier wird dadurch hervorgehoben, daß er „seitwärts" durch sein Glas blickt, was als besondere Dreistigkeit empfunden wurde: Durchs Doppelglas späht er gelassen Seitwärts nach fremder Logen Damenflor ... (1, XXI)
Fremde Damen auf diese Weise zu betrachten, war schon doppelte Dreistigkeit. Das weibliche Adäquat der ,dreisten Optik' w a r das ebenfalls nicht auf die Bühne gerichtete Lorgnon: Kein Blick nach unsrer schlichten Kleinen, weder der Damen Blicke durchs Lorgnon, noch der Herren Gläser vom Balkon (7, L) Ein weiters Merkmal des allgemeinen Dandytums w a r die Pose der Blasiertheit und des Überdrusses. In „Das Fräulein als Bäuerin" spricht Puschkin über die Mode, die von den jungen Leuten forderte, sich im alltäglichen Verhalten einer ähnlichen Maske zu bedienen: „Man kann sich leicht vorstellen, welchen Eindruck Alexej im Kreise unserer Fräuleins hervorrufen sollte. Erst einmal kam er düster und blasiert und redete ihnen von seinen verlorenen Freuden und seiner verwelkten Jugend; überdies trug er einen schwarzen Ring mit der Darstellung eines Totenkopfes". In „Das Fräulein als Bäuerin" hat dieses Detail etwas von der sogenannten ver-
Porträt M . S . Woronzows. — K. Gampeln. Zeichnung. 1820er Jahre. — General Michail Semjonowitsch W o r o n z o w (1782-1856) in seiner häuslichen Umgebung im aufgeknöpften Uniformrock mit den Epauletten und der Schulterschnur eines Generaladjutanten. Vor dem Tisch mit Schreibutensilien steht eine Büste seiner Frau.
Wohnzimmer im Mezzanin einer Adelsvilla. — Unbekannter Maler. Oel auf Leinwand. Ende 1830er, Anf. 1840er Jahre.
Ball bei der Fürstin M . F . Baratynskaja. — G.G. Gagarin. Aquarell. 1834. — Im Vordergrund sieben Oberoffiziere der Garde, tanzend mit Damen in schulterfreien Kleidern und den auf jedem Ball obligatorischen langen weißen H a n d schuhen, sowie in Ballschuhen ohne Absätze. Die drei Offiziere rechts tragen schwarze Ausgehuniformen (ohne Stickereien an Kragen und Ärmelaufschlägen) mit silberner Metallgarnitur (Epauletten und Knöpfe). Im Zentrum, in einer Paradeuniform mit breitem roten Revers und goldener Metallgarnitur, ein Offizier des Preobrashensker Regiments. Seine goldenen Oberoffiziersepauletten (ohne Fransen) sind etwas größer als üblich und gemäß der Militärmode dieser Zeit stark nach oben gebogen. Etwas rechts von ihm, mit dem Rücken zum Betrachter, steht ein Oberoffizier in einer Uniform der Leibgarde des Kosakenregiments (rote Kosakenjacke mit silberner Garnitur) mit der Schnur eines A d j u tanten an der rechten Schulter. Rechts von ihm zwei weitere Gardekavalliere in Uniformen. Es ist zu bemerken, daß alle tanzenden jungen Offiziere (mit Ausnahme des Preobrashenskers) keine Orden tragen; im Hintergrund, zwischen dem Perobrashensker und dem Leibkosaken, stehen zwei etwas ältere, nichttanzende Offiziere, deren Uniformen mit zahlreichen Orden geschmückt sind: links ein Gardekavalerist mit den Epauletten und Schulterschnüren eines Stabsoffiziers, Ordensstern, einem Kreuz am Hals und einer Ordens- und Medaillenspange; rechts ein Oberoffizier des Generalstabs (silberne Kragenstickerei, geflochtene Epaulette auf der rechten Schulter und silberne Schulterschnur), auf der Uniform trägt er eine Ordens- und Medaillenspange unterer Klassen. Die
A.S. Puschkin und M. I. C h w o s t o w a auf dem Ball. Karikatur — U n b e kannter Maler. Aquarell. Ende der 1820er Jahre. — Diese Albumzeichnung findet ihre exakte Bestätigung in den Erinnerungen A . - O . SmirnowaRosset, die einen Abend im Jahre 1828 bei E. M. C h i t r o w o beschreibt: Der von der Freundin der Verfasserin, der Fürstin Radziwill, zur Mazurka aufgeforderte Puschkin „durchquerte mit ihr salopp den Saal"; dann wurde er von der Rosset aufgefordert: „Er erging sich auch mit mir salopp und ohne ein Wort zu sagen".
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Elfenbeinfarbiges Kaschmirkleid. 1820er Jahre.
Fortsetzung zur Abbildung auf der linken Seite: Zusammensetzung aus Parade- und Ausgehuniformen läßt auf den häuslichen Charakter des Balls schließen auf offiziellen Bällen dürfen die O f f i ziere nicht in Ausgehuniformen und langen Hosen erscheinen, dort wären Kniehosen, Strümpfe und Schuhe obligatorisch. Das Orchester ist gemischt: unter den zivilen Musikern befinden sich Militärflötisten in mit goldenen Litzen versehenen Musikeruniformen (die Einladung von O r chestern der Garderegimenter zu den Bällen war im Petersburg des 19. Jahrhunderts die Regel).
Prügelstrafe mit Ruten. — Gouache-Zeichnung (aus den Illustrationen zum Manuskript „Berichte über Moskowien" des Herzogs Jakob Francisco de Liria und Cherik, 1731).
Diwanzimmer im Gutshaus Bogdanowskis. — Unbekannter Maler. Oel auf Leinwand.
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sunkenen Kultur und klingt ironisch. In einem Brief an A. Delwig vom 2. März 1827 schreibt Puschkin über seinen jüngeren Bruder Lew Sergejewitsch: „Lew war hier, ein gewandter Bursche, nur schade, daß er trinkt. Er schuldet Eurem Andrieux 400 Rubel und hat dem Garnisonsmajor die Frau abspenstig gemacht. Er tut so, als wäre er völlig ruiniert und als hätte er schon den ganzen Becher des Lebens ausgeleert. Er fährt nach Grusien, um die verwelkte Seele aufzufrischen. Zum Totlachen." (XIII, 320) Aber das „vorzeitige Altern der Seele" (den Ausdruck verwendet Puschkin für seinen Helden im „Gefangenen im Kaukasus") und das Angewidertsein waren nicht nur ironisch aufzufassen. Äußerten sich diese Eigenschaften im Charakter und im Verhalten von Menschen wie P.J. Tschaadajew, bekamen sie einen tragischen Sinn. Für Tschaadajew war zum Beispiel Puschkins „Gefangener im Kaukasus" nicht hinreichend genug vom Leben enttäuscht, und vermutlich meinte er damit, daß weder die unerwiderte Liebe noch die Gefangenschaft ausreichende Gründe für die Enttäuschung sein könnten. Nur die Situation einer völligen Unmöglichkeit zum Handeln, und gerade so empfand Tschaadajew die russische Wirklichkeit nach dem Scheitern seines Versuchs, Alexander I. zu beeinflussen, kann das Empfinden einer Nutzlosigkeit des Lebens hervorrufen. Gerade hier verlief der Graben, der Tschaadajew von seinen Freunden aus dem „Wohlfahrtsbund" trennte. Tschaadajew war ein Maximalist, und vermutlich bestand gerade darin das Geheimnis seines Einflusses auf Puschkin, der mit der ihm eigenen Leidenschaft eine wahrhafte Liebe für den älteren Freund empfand, und nicht in seinem ritterlichen Verhalten und seiner ausgesucht dandyhaften Art, sich zu kleiden. Tschaadajew befriedigten die nüchternen, von Vernunft geleiteten Pläne des „Wohlfahrtsbundes" nicht: Aufklärung der Gesellschaft, Einflußnahme auf Persönlichkeiten des Staates, allmähliches Eindringen in Schlüsselpositionen der Macht. Das alles war auf Jahre und Jahrzehnte hinaus gedacht. Doch der Heroismus dieser Pläne faszinierte Tschaadajew. Er versetzte die Freunde während Puschkins Petersburger Zeit durch seine Ideen einer heroischen Heldentat, einer Tat, die das Leben Rußlands augenblicklich umgestalten würde, offensichtlich in Begeisterung. Eine dieser Ideen war, so läßt sich vermuten, ein Attentat auf den Zaren. In seinen zum Teil unveröffentlicht gebliebenen Vorlesungen lenkte J. G. Oksman, später auch W . W . Pugatschow, die Aufmerksamkeit darauf, daß der Schluß des allen von der Schulbank her bekannten Gedichts Puschkins „An Tschaadajew" sich nur schwer erklären läßt. Warum wird dem Namen Puschkins, der zu dieser Zeit noch nicht einmal „Ruslan und Ludmilla" veröffentlicht hat und mehr mit seinem herausfordernden Benehmen Furore macht als mit seiner PoeEin Terminus der deutschen Volkskundler, bezeichnet das Hinabsteigen der großen W e r k e der Kunst in die Sphäre der Massenkultur. "
Andrieux - Petersburger Restaurantbesitzer.
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sie, die Ehre zuteil werden, „auf den Ruinen der Selbstherrschaft" geschrieben zu stehen? Auch die politische L y r i k der Periode im Süden ist noch nicht entstanden, und die Oden „Freiheit" und „Das Dorf" klingen nicht revolutionärer als P. Wjasemskis „Empörung". Einer der Verfasser der Epigramme auf Puschkin meinte Belanglosigkeit und Leichtfertigkeit in den politischen Ansprüchen des jungen Poeten anmerken zu müssen, die seiner Meinung nach auf nichts anderem basierten als auf Zwei, drei Hymnen auf Noel Und jenem Sand zum Munde,' In der Hand ein Bild von Louvel.44 Auch daß Tschaadajews Name auf den „Ruinen der Selbstherrschaft" stehen würde, war noch nicht vorauszusehen. Die Worte Puschkins unter einem Porträt Tschaadajews: „Er wäre in R o m ein Brutus gewesen" werfen vielleicht ein gewisses Licht auf den rätselhaften Schluß des Sendschreibens „An Tschaadajew". Hier ließe sich auch noch das Bekenntnis in einem nicht abgesandten Brief Puschkins an Alexander I. anfügen, daß die verleumderische Behauptung des „Amerikaners" Tolstoi (dieser verbreitete das Gerücht, Puschkin sei auf der Polizeiwache durchprügelt worden) ihn an den Rand des Selbstmords gebracht hätte. Bekanntlich war es gerade Puschkin gewesen, der Tschaadajew vom Selbstmord abbrachte, indem er ihm, wie es eine Anzahl autobiographischer Bekenntnisse in Vers und Prosa belegt, ein erhabeneres Lebensziel vor Augen führte. Später, als bei Puschkin Zweifel die heroischen Pläne zu überlagern begannen, schrieb er in seiner Botschaft „An Tschaadajew (von Tauriens Gestaden)": Denkst du, Tschaadajew, noch verflossener Zeit? Daß ich gedachte, voller jugendlichem Beben, Den unheilvollen Namen jederzeit Ganz anderem Verderben preiszugeben? (II, 364) Diese Zeilen lösten bei dem Puschkinforscher M. Gofmann Befremden aus und veranlaßten ihn zu dem Einwand: „Die Selbstherrschaft ist ganz und gar kein Name". 4 5 Das Befremden des bedeutenden Puschkinforschers wird gegenstandslos, wenn man unter dem unheilvollen Namen einen Hinweis auf die Person Alexanders I. versteht, dessen Tötung der Dichter und der „russische Brutus" P.J. Tschaadajew als heroische Tat in Betracht gezogen hatten. Das Scheitern dieses Plans ließ in Tschaadajew ein anderes romantisches Projekt entstehen, die Absicht, ein russischer Marquis Posa zu werden, und erst das Debakel auch dieses Vorhabens verwandelte ihn in einen entDas wurde schon nach dem Sand gewidmeten Gedicht „Der Dolch" geschrieben.
Der russische
Dandy
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täuschten Reisenden. In ebendieser Zeit begann sich aus dem Tschaadajewschen Byronismus eine Hinwendung zum Dandytum zu entwickeln. M. I. Murawjew-Apostol zog in einem Brief an I. D . Jakuschkin vom 27. Mai 1825 eine scharfe Trennungslinie zwischen dem Byronschen romantischen Maximalismus und dem politischen Realismus des „Wohlfahrtsbundes": „Berichte mir ausführlicher über Pjotr Tschaadajew. Ob der klare italienische Himmel wohl jenen Überdruß vertrieben hat, der ihn während seines Aufenthalts in Petersburg und vor seiner Abreise ins Ausland vermutlich so sehr gequält hat? Ich habe ihn zum Schiff begleitet, das ihn nach London bringen sollte. Byron hat viel Unheil angerichtet, als er die künstlerische Enttäuschung zur Mode werden ließ, doch den, der denken kann, vermag man damit nicht zu täuschen. Man bildet sich ein, man könne, wenn man sich gelangweilt gibt, seine Tiefe zeigen; mag das für England gelten, aber bei uns, wo es so viel zu tun gibt, selbst wenn Du auf dem Lande in einem Dorf lebst, wo es immer möglich ist, das Los des armen Dörflers zumindest ein bißchen zu verbessern, sollte man diese Versuche besser in der Erfahrung ausprobieren und sich erst dann Gedanken über die Langeweile machen!" 46 Aber die Langeweile, die unbegründete Schwermut war eine zu verbreitete Erscheinung, als daß der Forscher sich wie Murawjow-Apostol darüber hinwegsetzen könnte. Für uns ist sie besonders deshalb von Interesse, weil sie das alltägliche Verhalten charakterisiert. So treibt diese unmotivierte Schwermut, ähnlich wie Tschaadajew, auch Tschazki ins Ausland: In welche Breiten treibt es ihn? Er kränkelt, sagt man, nähme Medizin, Doch was ihn plagt, ist Langeweile Gleiches erlebte auch Onegin: Ein Leiden, welches aufzuklären, Obschon verwandt mit Englands Spleen, Die Ärzte längst verpflichtet wären, Kurz: Rußlands Trübsinn, hatte ihn Seitdem bedenklich in den Klauen. (1, X X X Y I I I ) Dieser Spleen wurde schon von N . M. Karamsin in den „Briefen eines russischen Reisenden" als Grund für die Selbstmorde bei den Engländern angeführt. Desto bemerkenswerter ist, daß in der Lebensweise des russischen Adels Selbstmord aus Trübsinn eine recht seltene Erscheinung war und nicht zum Stereotypus des dandyhaften Verhaltens wurde. Seinen Platz nahmen das Duell, tollkühnes Verhalten in einer Schlacht und verzweifeltes Hasardspiel am Kartentisch ein. U n d wenn der Held einer der unvollendeten Erzählungen Puschkins sich wie die Liebhaber Kleopatras verhält und bereit ist, sich „um den Preis des Lebens" eine Liebesnacht zu erkau-
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Zweiter Teil
fen, so ist auch darin die ganze Situation auf einen Zweikampf ausgerichtet, ungeachtet dessen, daß der Gegenspieler hier eine Frau ist. Zwischen dem Dandytum und den verschiedenen Schattierungen des Liberalismus existierten in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts Querverbindungen. In einzelnen Fällen, etwa bei Tschaadajew oder bei dem F ü r sten P . A . Wjasemski, konnten diese Formen des allgemeinen Verhaltens ineinanderfließen. D o c h ihrer Natur nach waren sie unterschiedlich. Das Dandytum betraf in erster Linie das Verhalten und war weder eine T h e o rie noch eine Ideologie.' Außerdem vollzog sich das Dandytum hier in der engen Sphäre des Alltags. Dadurch, daß es nicht mit essentielleren Sphären des gesellschaftlichen Lebens verknüpft war, wie das beispielsweise bei B y r o n der Fall war, erfaßte es nur die Oberfläche der Kultur seiner Zeit. D a es einerseits untrennbar mit dem Individualismus verbunden war und sich andererseits gleichzeitig in ständiger Abhängigkeit von seinen Betrachtern befand, pendelte es unablässig zwischen dem Anspruch auf R e bellion und den verschiedenen Kompromissen mit der Gesellschaft. Seine Beschränkung findet das Dandytum in den Grenzen und der Inkonsequenz der Mode, die es zwang, in der Sprache seiner Zeit zu reden. Aus der ambivalenten Natur des russischen Dandytums resultierten zwangsläufig auch die Möglichkeiten zu seiner zwiespältigen Interpretation. 1912 schrieb M. Kusmin ein Vorwort zu der russischen Ubersetzung eines Buches von Barbey d'Aurevilly, das nicht der Polemik entbehrte. Barbey d'Aurevilly unterstrich die individualistische Einmaligkeit des Wesens eines Dandys und seine prinzipielle Feindseligkeit jeder Schablone gegenüber; Kusmin, der der individualistischen Rebellion des französischen Autors fremd gegenüberstand, trennte das Schablonenhafte dieses Streits von der Schablone selbst ab und sah im Dandytum das ästhetische Raffinement eines in einem ,Elfenbeinturm' verharrenden Greises und nicht das eines Individualisten. Bekannte sich letzterer zur Verneinung jeglicher Konvention, so kultivierte ersterer eine ausgeprägte Exklusivität. D e r Kult der exklusiven Gemeinschaft verneinte den Geist der individualistischen Rebellion und führte die prätentiösen Ästheten unvermeidlich in die Welt der ,vornehmen Lebensart' zurück. So verspürt der Gribojedowsche Fürst Grigori Die ganze Ära denkt schon wie die Briten, Redet wie sie schon durch die Zähne Und trägt die Haare modisch kurz geschnitten
Ein T h e o r e t i k e r des D a n d y t u m s ist in seinem praktischen Verhalten genauso selten ein D a n d y , wie ein Theoretiker der Literatur ein Poet ist. * * „Auf neueste M o d e streng bedacht" und „dem D a n d y gleich in L o n d o n s T r a c h t " zeigte sich O n e g i n . I m Gegensatz zu ihm trug Lenski „bis auf die Schultern schwarze L o c k e n " . „Schreier, Rebell und P o e t " , so charakterisierte Puschkin ihn in einer früheren Fassung, ähnlich anderen deutschen Studenten, die als Zeichen ihres Liberalismus und die Karbonari nachäffend lange Haare trugen.
Der rassische Dandy
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- noch einen schwachen Abglanz des Liberalismus („Wir lärmen noch, Brüderchen, lärmen"). Doch nach dem 14. Dezember 1822 wird es auch diesen Abglanz nicht mehr geben: Die Anglomanen Bludow und Daschkow werden Beisitzer bei den Prozessen gegen die Dekabristen sein und bald schon Karriere machen. Anglomane und Dandy war auch M.S. Woronzow, ein Diplomatensohn, der lange Jahre als Botschafter in London gelebt hatte und es unter Paul vorzog, auch nach seiner Pensionierung dort zu bleiben. Michail Semj onowitsch Woronzow, von Kindheit an englisch erzogen, erhielt die damals bestmögliche Erziehung. Als er noch ein Knabe gewesen war, war ihm in London N. Karamsin begegnet und hatte ihm ein Gedicht gewidmet, und einer seiner Erzieher war W . N . Sinowjew gewesen, ein Mitschüler Radistschews, Freimaurer und mit einem enzyklopädischen Wissen ausgestattet. Nach einer glänzenden Karriere in der Garde hatte Woronzow an den Napoleonischen Kriegen teilgenommen und erwies sich, als er in Maubeuge bei Paris das russische Besatzungskorps befehligte, als Progressiver. Er schaffte im Korps die Prügelstrafen ab und schuf gemeinsam mit S. I. Turgenjew LancasterSchulen zur gegenseitigen Belehrung der Soldaten. Das alles brachte Woronzow den Ruf eines Liberalen ein. Aber tief vom Geist des Dandytums durchdrungen, kehrte Woronzow gern den aufgeklärten Anglomanen heraus und verhielt sich seinen Untergebenen gegenüber arrogant. Das hinderte ihn jedoch nicht daran, erst unter Alexander I. und danach auch unter Nikolai Pawlowitsch ein geschmeidiger Hofmann zu sein. Puschkin charakterisierte ihn treffend als „halb Mylord... halb Schurke". In seinem „Imaginären Gespräch mit Alexander I." nannte er Woronzow „Vandale, Hofschranze und kleiner Egoist". Die Objektivität dieser Charakteristik wird durch den Odessaer Beamten A. I. Kasnatschejew, eines Neffen des Admiráis A.S. Schischkow, bestätigt, der sich dahingehend äußerte, daß Woronzow ein heuchlerischer und hinterhältiger Mensch gewesen sei. Gerade diese Heuchelei wurde zu einem typischen Merkmal der Symbiose von Dandytum und Petersburger Bürokratie. Die englischen Gewohnheiten im täglichen Verhalten, die Manieren eines alternden Dandys sowie auch eine gewisse Korrektheit inner-halb der Grenzen des Nikolaischen Systems waren auch bezeichnend für den Weg, den Bludow und Daschkow einschlugen. Es war schließlich die Bestimmung des ,russischen Dandys' Woronzow, zum Oberkommandierenden des Besonderen Kaukasischen Korps, zum Statthalter Kaukasiens, zum Generalfeldmarschall und zum erlauchten Fürsten zu werden. Tschaadajew hingegen hatte ein völlig anderes Schicksal zu erdulden, er wurde offiziell für geistesgestört erklärt. Der rebellische Byronismus Lermontows hingegen läßt sich schon nicht mehr in den Grenzen des Dandytums unterbringen, obwohl auch er, reflektiert im Spiegel Petschorins, diese dahinschwindende verwandtschaftliche Beziehung entdecken wird.
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Zweiter Teil KARTENSPIEL
So manches Mal ergriff mich schon Des Spiels unselige Passion... Der Drang zur Bank! Nicht Freiheitsglück, Noch Phöbe, Freundschaft, noch Gelage Hielt mich vom Kartenspiel zurück, Gedenk ich der verflossnen Tage. Den Sommer lang hab ich oft nachgedacht, Saß bis zum Morgen manche Nacht, Bat um des Schicksals Rat und Segen, Ob wohl nach links der Bube wird sich legen. Schon rief zum Mahl die Glocke mich. Verstreut die Karten auf dem Tisch. Der Bankhalter begann zu gähnen, Und ich (düster) erregt und blaß Ließ hoffnungsvoll die Lider sinken Bog eine Ecke um vom dritten As. (Puschkin, VI, 280-281) Ahnlich wie im Barockzeitalter die Welt als ein gewaltiges, von G o t t geschaffenes B u c h empfunden und die Gestalt des Buches zur Vorlage für eine Vielzahl von komplizierten Vorstellungen wurde und, in den Text aufgenommen, zu einem Grundthema, erlangten die Karten und das Kartenspiel Züge eines universellen Modells, wurde das Kartenspiel zum Zentrum einer eigenständigen Mythosbildung dieser Epoche. Ob man Voltaire, Descartes zum Deuter hat Mir ist die Welt ein Kartenblatt, Das Leben hält Bank, das Schicksal markiert, Die Regeln hab ich auf die Menschen visiert.49 Die Tatsache, daß das Kartenspiel zu einem originären Modell des Lebens geworden war, wird durch das folgende Beispiel bestätigt. 1820 veröffentlichte E . T . A. Hoffmann die Erzählung „Spielerglück". Die Übertragungen ins Russische ließen nicht lange auf sich warten: 1822 erschien die Ubersetzung von W . Poljakow, 1836 die von I. Bessomkin. 5 0 Das der Erzählung zugrundeliegende Sujet des Verlustes der Geliebten beim Kartenspiel blieb nicht unbemerkt. U n d es ist nicht ausgeschlossen, daß es auch in das Blickfeld Lermontows geriet, als er vermutlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1836 an seiner „Tambowsker Kassiererin" 5 1 schrieb. Hoffmann hatte während der Arbeit an seiner Erzählung ganz sicher nichts von der Geschichte um den Fürsten Alexander Nikolajewitsch Golizyn gewußt. Dieser Verschwender, Spieler und vornehme Taugenichts, hatte seine Gattin, die Fürstin Maria Gawrilowna (geborene Wjasemskaja), im Spiel an den Grafen Lew Kirillowitsch Rasumowski verloren, den man in der
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vornehmen Gesellschaft nur „le comte Léon" nannte, Sohn eines Hetmans, ein Freimaurer und Mäzen, dessen Feste in seinem Haus an der Twerskaja und auf seinem Petrowsker-Rasumowsker Besitz in aller Munde waren. Als Golizyns Frau sich daraufhin scheiden ließ und eine zweite Ehe einging, löste das einen ungeheuren Skandal aus. In der Funktion des Kartenspiels kommt seine Doppelnatur zum Ausdruck. Im Rahmen eines Kartenspiels wird die Bedeutung jeder einzelnen Karte durch den Platz bestimmt, den sie innerhalb des Kartensystems einnimmt. So ist beispielsweise die Dame niedriger als der König und höher als der Bube, der Bube seinerseits hat seinen Platz zwischen der Dame und der Zehn usw. Abgesehen von dieser Beziehung der Karten untereinander hat eine einzelne Karte, die aus diesem System ausgeschieden ist, keinen eigenen Wert, da sie in keiner Beziehung zu irgendeiner außerhalb des Spiels liegenden Bedeutung steht. Andererseits werden Karten beim Wahrsagen benutzt. 52 Hier werden andere Funktionen der Karten aktiviert: eine prognostizierende („Was steht zu erwarten, womit erfüllt sich ein Herzenswunsch") und eine programmatische Funktion. Gleichzeitig treten beim Wahrsagen die Bedeutungen der einzelnen Karten in den Vordergrund. So erlangen in Puschkins „Pique Dame", in der Phantasie Hermanns, die Karten eine außerhalb des Spiels liegende Semantik „Die Drei erblühte vor ihm zu einer grandiosen Blume, die Sieben wurde zu einem gotischen Portal und aus dem As wurde eine ungeheure Spinne". Es werden ihnen Bedeutungen zugeschrieben, die sie in dem bereits erwähnten System nicht besitzen, genauer, derartige Bedeutungen besitzen auch die Wahrsagekarten nicht, aber das Prinzip, einzelnen Karten bestimmte Bedeutungen zuzuordnen, ist dem Wahrsagen entlehnt, etwa wenn wir in der „Pique Dame" dem Epitheton begegnen: „Die Pique Dame bedeutet heimliches Übelwollen". Im Neuen Wahrsagebuch 53 , und später auch im Text dieses Werkes, tritt die Pique Dame als Spielkarte auf; wir haben es also mit einer Wechselwirkung dieser beiden Aspekte zu tun. Insbesondere hier wird einer der Gründe dafür deutlich, daß das Kartenspiel in der Vorstellung der Zeitgenossen und auch in der Belletristik einen ganz besonderen Platz einnahm. Es ist mit anderen modischen Spielen jener Zeit, zum Beispiel mit dem Schachspiel, nicht zu vergleichen. Eine wesentliche Rolle spielte dabei wahrscheinlich auch die Tatsache, daß der Begriff „Kartenspiel" zwei Typen von Konfliktsituationen abdeckt, die „Kommerzspiele" und die „Glücksspiele". Es lassen sich
* T r o t z der Tatsache, daß die Scheidung und die neue Ehe gesetzmäßig waren, weigerte sich die Gesellschaft, das Skandalöse des Verspielens der Gattin anzuerkennen, und die arme Gräfin Rasumowskaja wurde durch ein Scherbengericht verurteilt. Den Ausweg aus dieser Situation fand mit der ihm eigenen Vornehmheit Alexander I., indem er die ehemalige Fürstin zum T a n z aufforderte und sie dabei „ G r ä f i n " nannte. Somit war ihr gesellschaftlicher Status wiederhergestellt.
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Zweiter Teil
eine ganze Reihe von Indizien dafür anführen, daß erstere als „anständig" ' betrachtet wurden, die zweiten hingegen sich einer entschiedenen moralischen Verurteilung ausgesetzt sahen. Gleichzeitig wurden die erstgenannten Spiele ,soliden Menschen' zugeschrieben, deren Begeisterung für das Spiel nicht den Charakter jener allumfassenden Mode hatte, die die zuletzt genannten Spiele kennzeichnete. D e Genlis schrieb in ihrem „Kritischen und Systematischen Wörterbuch der Hofetikette": „Wir wollen hoffen, daß die Wirte in den Gästezimmern genügend Würde besitzen werden, um keine Glücksspiele bei sich zu dulden: es ist schon mehr als genug, Billard und Whist zu erlauben, die in den letzten zehn, zwölf Jahren mehr und mehr zu Geldspielen geworden sind, indem sie sich den Glücksspielen annäherten und eine unübersehbare Anzahl von sie verderbenden Neuerungen erfahren haben. Das ehrsame Pikett ist als einziges in seiner ursprünglichen Reinheit unberührt davon geblieben, und nicht zufällig wird ihm jetzt kaum mehr Ehre erwiesen". 5 4 In dem „Briefwechsel der M o d e " von N . Strachow präsentiert das Kartenspiel der M o d e die Dienstliste seiner Untertanen: „I. Geldspiele, die es würdig sind, befördert zu werden: 1. Bank. 2. Rest. 3. Kwintitsch. 4. Vingt-un. 5. Häufchen. 6. Jurdon. 7. Berg. 8. Makao, das etwas beleidigt ist, da es kaum mehr in Anwendung kommt. II. Neueingeführte Spiele, die würdig sind, in Dienst genommen und dem allgemeinen Gebrauch zugeführt zu werden: 1. Stoß. 2. Drei und drei. 3. Rocambole. III. Spiele, die die Bitte geäußert haben, in den Dienstgrad eines soliden Menschen erhoben zu werden: 1. Lomber. 2. Pikett. 3. Tentere. 4. A la Mouche. *
So schreibt P . A . Wjasemski „über das friedliche, das sogenannte kommerzielle Spiel,
über den Zeitvertreib des Kartenspiels, das bei uns jedem Alter eigen ist, allen Rängen und den beiden Geschlechtern. Eine russische Aristokratin sagte in Venedig: ,Natürlich ist das Klima hier gut, nur schade, daß es hier niemanden gibt, mit dem man eine Partie Preference spielen kann'. Ein anderer unserer Landsleute, der den Winter in Paris verbrachte, antwortete auf die Frage, wie er mit Paris zufrieden sei: ,Sehr zufrieden, wir hatten jeden Abend unsere eigene Partie'." (Wjasemski P. Das alte N o t i z b u c h . Leningrad, 1929, S. 8 5 - 8 6 ) .
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IV. Spiele, die die Bitte geäußert haben, in die Provinz und die Dörfer entlassen zuwerden: 1. Panfil. 2. Tresset. 3. Basset. 4. Schnipp-Schnapp-Schnurr. 5. Mariage. 6. Schafskopf zu Paar. 7. Schafskopf mit Auslegen. 8. Schafskopf mit allen Karten. 9. Jeroschki oder Chruschki 10. Drei-Blättchen. 11. Sieben-Blätter. 12. Nikitischni und 13. Auf Zehen - mit blankem Abgang." 55 Die beiden oben angeführten Zitate grenzen die ,soliden' u n d .moralischen' Kommerzspiele streng von den ,modischen' u n d gefährlichen Spielen, den Hasardspielen, ab. Wir wollen festhalten, daß bei Strachow unter den letztgenannten Spielen Bank und Stoß an erster Stelle stehen, Spielarten des Pharao. U m 1800 w u r d e n Glücksspiele in Rußland als unmoralisch mit einem formellen Verbot belegt, doch ungeachtet dessen florierten sie weiter. D e r Unterschied zwischen diesen Spielformen, die auch durch die Verschiedenheit ihrer sozialen Funktion bedingt sind, besteht in dem Grad der I n f o r m a t i o n , ü b e r den die Spieler verfügen, u n d in der Art u n d Weise, durch die der G e w i n n bestimmt wird: durch Errechnen oder durch den Zufall. In den Kommerzspielen besteht die Aufgabe des Spielers im Erraten der Strategie des Gegners. Dabei stehen jedem Spieler genügend A n gaben z u r Verfügung, u m - bei entsprechender Fähigkeit - in Gedanken verschiedene Varianten durchzugehen u n d die nötigen Berechnungen anzustellen, u m diese Strategie zu erkennen.Da die Kommerzspiele im G e gensatz zu den Hasardspielen komplizierte Regeln haben, wird die Anzahl der möglichen Strategien schon durch den Charakter des jeweiligen Spiels eingegrenzt. Z u d e m beeinflußt die Psychologie des Partners die Wahl der Strategie. U n d drittens hängt die Wahl auch von dem Element des Zufalls ab, von den Karten, die der Spieler b e k o m m t . Dieser letzte Aspekt ist der verborgenste. A b e r auch über ihn lassen sich aufgrund des Spielverlaufs durchaus V e r m u t u n g e n anstellen. Gleichzeitig bestimmt der Spieler des Kommerzspiels seine Strategie auch dadurch, daß er sie vor dem Gegner zu verbergen sucht. Somit kann das Kommerzspiel, das gewissermaßen ein intellektuelles Duell darstellt, als Modell f ü r einen bestimmten T y p von Konflikten gelten: Konflikte zwischen gleichen Gegnern, bei denen die Möglichkeit einer annähernd vollständigen I n f o r m a t i o n der Teilnehmer gegeben ist,
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Zweiter Teil
sowohl hinsichtlich der sie betreffenden Konfliktmöglichkeiten als auch hinsichtlich der rational zu erfassenden Möglichkeiten des Gewinns. Die Kommerzspiele stellen Konflikte her, in denen die intellektuelle Überlegenheit und das Verfügen über mehr Informationen den Erfolg sichert. Nicht von ungefähr besang man im „Lomber-Spieler" W. Maikows nicht nur das Kommerzspiel an sich, sondern auch das strenge Einhalten der Regeln, das Berechnen und die maßvolle Zurückhaltung: ...eine Heimstatt, für jenen bestimmt, Der auch beim Lomber Maß läßt walten; U n d kann sich einer so enthalten: Kauft ohne Vier sich keine Karten ein, Läßt ohne Fünfer das Sanpranderspielen sein... Besitzt er fortan Maß beim Kartenhalten, Wird Glück im Spiel auf seiner Seite sein. 56
B.W. Tomaschewski hatte durchaus Grund zu der Behauptung, Maikow stelle sich in seinem Gedicht „auf den Standpunkt des gemäßigten Kartenspiels, indem er für das Spiel nicht Hasard, sondern Berechenbarkeit"57 empfehle. Die Entstehung von Poemen über die Regeln des Spiels, zum Beispiel über die des Schachspiels,58 ist in diesem Sinne eine naheliegende Reaktion. Kartenspiel und Schachspiel sind gleichsam die Antipoden dieser Spielwelt. Die Kultur des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts kannte Perioden einer geradezu epidemischen Begeisterung für das Schachspiel. Die auf dem Schachbrett ausgetragenen Konflikte nahmen, was die Leidenschaftlichkeit bezeugt, mit der sie ausgetragen wurden, zuweilen sehr scharfe Formen an. Desto bezeichnender ist der qualitative Unterschied zwischen der Leidenschaft für das Schachspiel und der für das Kartenspiel. S.N. Marin teilte am 2. März 1804 M.S. Woronzow, der sich auf dem Kriegsschauplatz befand, Petersburger Neuigkeiten mit: „Eine neue Besessenheit ist über uns gekommen: alles, was im Bataillon atmet, spielt großspurig (d.h. um große Geldsummen - J.L.) Schach; alle sind wahre Meister geworden, und wir werden uns, wie ich glaube, mit Arsenjew schlagen, doch werden wir nicht die Degen kreuzen, wir werden uns ganz einfach in die Haare kriegen. Bis heute habe ich Dir noch nicht geschrieben, daß zu den abendlichen Zusammenkünften noch einige Cab hinzugekommen sind. 1.) Graf Apraxin mit einem hohen Tier, 2.) Sarjadskoi, 3.) Relje, und wir sitzen manchmal bis zum Morgengrauen beim Kwintitsch, das man veredelt hat und nun Quinze nennt." 5 9
Der Brief Marins bekommt einen besonderen Sinn, wenn man daran denkt, daß er an M. S. Woronzow gerichtet ist, der am 3. Januar 1804 die blutige Schlacht bei Gandsha überlebt hatte. Woronzow hatte sich in die*
Das W o r t aus dem Freundesjargon ist vermutlich die A b k ü r z u n g von „ C a b a l l e r o " ,
denn die aufgezählten N a m e n gehören bekannten Stutzern an.
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ser Schlacht ausgezeichnet, als er den schwerverwundeten P. S. Kotljarewski, der später ein bedeutender Feldherr werden sollte, auf seinen Schultern vom Schlachtfeld getragen hatte. So entsteht ein vielstufiges System des Glücksspiels: Schlacht, Karten, Schach. Das Glücksspiel ist so aufgebaut, daß der Spieler gezwungen ist, ohne (oder fast ohne) irgendeine Information zu besitzen, Entscheidungen zu treffen. Er spielt also nicht gegen einen anderen Menschen, sondern gegen den Zufall. Erinnert man sich daran, daß U. G. Reichman schreibt: „Der Zufall ist ein Synonym... für unbekannte Faktoren, und sehr häufig wird gerade das von einem gewöhnlichen Menschen als Erfolg begriffen" 60 , so wird deutlich, daß das Glücksspiel ein Urbild des Kampfes eines Menschen gegen unbekannte Faktoren ist. Hier nun nähern wir uns dem Wesen dessen, was den Konflikt ausmachte, der durch die Mittel der Glücksspiele geschaffen wurde und diese Spiele sich zur Leidenschaft ganzer Generationen entwickeln ließ wie zu einem sich beharrlich wiederholenden Motiv in der Literatur. Gedanken über den Zufall, den Gewinn und die mit ihm verbundenen persönlichen Schicksale und Aktivitäten der Menschen trifft man nicht nur einmal in der Weltliteratur an. Der antike Roman, die Renaissancenovelle, der Schelmenroman des 17. und 18. Jahrhunderts, die psychologische Prosa Stendhals und Balzacs spiegelten verschiedene Aspekte und Etappen des Interesses an diesem Problem wider. Aber zur Verschärfung dieses Problems führten nicht nur historische, sondern auch nationale Gründe. Man kann nicht umhin festzustellen, daß die ganze ,Petersburger', die kaiserliche Periode der russischen Geschichte von Überlegungen über die Rolle des Zufalls gekennzeichnet i s t , vom Nachdenken über das Fatum, über die ehernen Gesetze der äußeren Welt und die Gier nach persönlichem Erfolg, über die Selbstbehauptung und über das Spiel der Persönlichkeit mit den Umständen, mit der Geschichte, mit all dem, dessen Gesetze unbekannte Faktoren bleiben. Und während fast des ganzen Verlaufs dieser Periode konkretisierten sich die allgemeinen Sujetkollisionen, neben anderen Gestaltformen von Schlüsselthemen, durch die Hasardspiele wie Bank, Pharao, Stoß, Roulette. *
I m 18. Jahrhundert nahm der Zufall die konkrete F o r m der Beziehungen an, die spe-
zifische F o r m der Gestaltung eines persönlichen Schicksals unter den Bedingungen der „Weiberherrschaft". Siehe bei N o w i k o w : „Ein Schwärm von Liebhabern kam zu der ältlichen Kokotte... Vielen unserer Herrschaften drehte sichs im Kopf...Auf Postpferden wollten sie nach Petersburg reiten, um die ihnen nützlichen Beziehungen nicht zu versäumen" (Die Satirischen Journale N . I . N o w i k o w s . Moskau, Leningrad, 1951, S. 105. P . N . B e r k o w meint im K o m m e n t a r zu dieser Stelle, daß hier von den Favoriten der Kaiserin die Rede ist). D e r G n o m Sor in Krylows „Post der Geister" schreibt an Malikulmulk: „Ich nahm das Außere eines jungen, gutaussehenden Menschen an, weil die blühende Jugend, das Angenehme und die Schönheit in heutiger Zeit genauso einen großen Respekt genießen und, so man Beziehungen hat, große W u n d e r tun, wie man sagt" ( K r y l o w I. A. Ges. Werke. Bd. I, S. 43) Vergl.: W i e bist du, J o u j o u , zu Beziehungen gelangt, Ein Winzling, der doch ständig krankt... (ebenda, Bd. 3, S. 17)
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Bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts bildete sich der Kanon der Wahrnehmung von „Beziehungen" und „Karriere"als Ergebnisse des unberechenbaren Spiels der Umstände, der Launen Fortunas, heraus. Das „Glück" des russischen Adligen erwuchs aus den Kollisionen verschiedenartiger, einander ausschließender Gebote des sozialen Lebens. Begriffe wie „Glück", „Gunst", „Erfolg" und die Handlungen, die diese herbeiführten, wurden nicht als die Realisierung unumstößlicher Gesetze begriffen, sondern als Ausnahme, als unberechenbares Aufheben der Regel. Das Spiel verschiedener, untereinander in keinerlei Beziehung stehender Regeln verwandelte das Unerwartete in einen unablässig wirkenden Mechanismus. Man erwartete das Unerwartete, man sehnte es herbei oder ärgerte sich, aber man war nicht überrascht, da es im Bereich des Möglichen lag, wie ein Mensch, der Lotterie spielt, zwar in freudiger Erwartung lebt, aber nicht überrascht ist, wenn er nichts gewinnt. Das Einander-Überschneiden der Prinzipien der,regulären Staatlichkeit' und der das ganze Gebäude der Gesellschaft durchdringenden Willkür ließen eine Situation der Unberechenbarkeit entstehen. Nicht die ,Gesetzes'-Maschinerie wird zum Bild der Staatlichkeit, sondern der Mechanismus des Hasardspiels mit den Karten. Ein treffendes Bild des Universums „Pharao" finden wir in Dershawins Ode „Auf das Glück": Es herrscht jener Tage die Maßlosigkeit: Politik, Vernunft, Gerechtigkeit, Logik, Gewissen, Gesetz nicht zuletzt, Feiern Gelage bei üppigem Mahl, Das goldne Jahrhundert auf Karten gesetzt, Mit Sterblicher Schicksal wird pointiert, Beim Universum verdreißigfacht; Trunken sind Pole, Meridianenkranz und Wissenschaft, Musen, Göttermacht, man reitet und singt und wiegt sich im Tanz... Die Hasardspiele entwickelten ihre eigene Terminologie. Die in Rußland verbreitetsten Glücksspiele waren Pharao und Stoß, Spiele, bei denen der Zufall die Hauptrolle spielte. Die Spielenden sind bei diesen Spielen der Bankhalter, der die Karten ausgibt, und der Pointeur. Einer spielt gegen einen anderen. Genauso findet zum Beispiel in Puschkins „Pique Dame" das Spiel zwischen Hermann und Tschekalinski statt. Die übrigen Spieler sind Zuschauer. Aber auch eine gleichzeitige Beteiligung mehrerer Pointeure ist möglich. Jeder der Spieler erhält eine Blattfolge Karten, und um ein Falschspiel auszuschließen, werden die Karten einem versiegelten Päckchen entnommen. Das Päckchen wird sofort und an Ort und Stelle auf eine spezielle und festgelegte Weise geöffnet: man drückt mit der linken Hand kräftig auf das gekreuzte Band über den versiegelten Karten, das dann mit einem knackenden Geräusch aufspringt.
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Mit ein und demselben Kartenblatt zweimal zu spielen, ist nicht erlaubt, nachdem alle Karten gespielt sind, werden sie unter den Tisch geworfen und die Spieler erhalten neue. Die Pointeure wählen aus dem Kartenblatt eine Karte, auf die sie eine Summe setzen, die der Bankhalter angeboten hat. Nachdem die Spieler das Spiel,angesagt' haben, beginnt der Bankhalter Karten zu geben. In der Regel sitzen der Bankhalter und die Spieler an verschiedenen Seiten eines länglichen rechteckigen Tisches, der mit einem grünen Tuch überzogen ist, das zum Notieren der Einsätze und der jeweiligen Spielschuld dient. Auf dem gleichen grünen Tuch werden auch alle Abrechnungen ausgeführt. Vor jedem Pointeur liegen ein Stück Kreide, eine Bürste und ein von ihm bereitgelegter Haufen Geldstücke. Die Spielschuld ist umgehend zu begleichen, allerdings kann man auch ,auf Ankreiden' spielen, also auf Kredit. Ein Zitat aus Puschkins „Der Schuß" demonstriert diese beiden Möglichkeiten, also das sofortige Begleichen der Spielschuld oder die schriftliche Versicherung späterer Begleichung. Bei Silvio im „Schuß" heißt es: „entweder zahlte er den Fehlbetrag sofort oder er schrieb den Überschuß auf". Die Lage der Karte wird aus der Sicht des Bankhalters benannt. Puschkins Zeilen: „...erbat des Schicksals Rat und Segen/ Ob der Bube sich nach links wird legen", umschreiben die Situation: Der Pointeur setzt auf den Buben, und wenn die Karte, vom Bankhalter aus gesehen, nach links fällt, heißt das, der Pointeur hat gewonnen. Die bis zum Äußersten gehende Vereinfachung der Regeln ließ bei ehrlichem Spiel die Frage nach der Fertigkeit im Kartenspiel praktisch auf den Nullpunkt sinken. Fertigkeit wurde durch den Zufall ersetzt. Die Philosophie des Zufälligen rückte in den Vordergrund. Daher rührt das Interesse an den mathematischen Disziplinen, die sich mit diesem Problem befaßten; so interessierte sich beispielsweise Puschkin für die mathematische Wahrscheinlichkeitstheorie. Aber auch die Mystik, das Eindringen jenseitiger Kräfte in die gesetzmäßige Ordnung, spielte hierbei eine Rolle. Das ließ gleichzeitig die Verbindung zwischen dem Hasardspiel und der allgemeinen Philosophie der Romantik mit ihrem Kult der Unberechenbarkeit und dem Herausfallen aus der Norm offenbar werden. Die strenge Normierung, die auch das Leben der Menschen im Reich erfaßte, ließ das Bedürfnis nach Ausbrüchen von Unberechenbarem entstehen. Und wenn einerseits die Versuche, das Unberechenbare zu erraten, durch Bestrebungen genährt wurden, das Ungeordnete in eine Ordnung zu bringen, brachte andererseits die Atmosphäre der Stadt und des Landes, in denen sich der ,Geist der Unfreiheit' mit,strengen Ansichten' verbunden hatte, das Verlangen nach dem Unregelmäßigen und Zufälligen hervor. * Vergleiche das romantische Ideal des weiblichen Charakters in dem bereits zitierten Gedicht Puschkins „Das Porträt": Was Sitte, Brauch, berührt sie kaum. Und, des Irrsterns Leidenschaft, Durchquert sie grell der Sterne Raum, Verzehrt sich selbst mit aller Kraft.
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Das war etwas Ähnliches wie die Mode der „falschen Schönheit", die sich in einer Reihe von menschlichen Schicksalen widerspiegelte (zum Beispiel dem Lermontows). Lermontow selbst nannte das romantische Ideal „die häßliche Schönheit". Unter diesem Aspekt ist es nicht uninteressant, einen Blick auf das Kapitel „Der Fatalist" in Lermontows Roman „Ein Held unserer Zeit" zu werfen. In diesem Kapitel werden tiefe philosophische Überlegungen Lermontows wiedergegeben. Aber um diese zu verstehen, ist es notwendig, jene Regeln des Kartenspiels zu kennen, die den Lesern Lermontows bestens bekannt waren und deren Kenntnis der Autor voraussetzte. Der Held Lermontows, Wulitsch, ist ein Fatalist. Er erkennt die Macht des Zufalls nicht an und demonstriert seinen Glauben an die fatale Vorausbestimmtheit der Geschehnisse in einem tollkühnen Experiment: Er hält die geladene Pistole an seine Stirn und drückt sie ab. Aber Lermontow gibt dem Charakter seines Helden noch einen weiteren Zug, denn Wulitsch ist ein leidenschaftlicher Spieler. „Es gab nur eine einzige Leidenschaft, die er nicht verheimlichte, die Leidenschaft des Spiels. Am grünen Tisch vergaß er alles, und gewöhnlich verlor er; aber die ständigen Mißerfolge reizten nur seinen Trotz. Man erzählte sich, daß er einmal während einer Expedition nachts auf einem Kissen Bank gehalten habe; das sei ihm teuer zu stehen gekommen. Plötzlich krachten Schüsse, es wurde Alarm geschlagen. Alle sprangen auf und stürzten zu den Waffen. „Spiel, va banque!" rief Wulitsch, ohne aufzustehen, einem der hitzigsten Pointeure zu. - „Auf die Sieben", antwortete dieser, enteilend. Trotz des allgemeinen Durcheinanders spielte Wulitsch die Runde zu Ende." Der Sinn dieser Episode besteht darin, daß das einzige, was Wulitsch anzieht, das Hasardspiel ist, ein eigenes Reich des Zufalls. Während Petschorin, der an die grenzenlose Macht des menschlichen Willens glaubt, sich plötzlich der Macht der fatalen Vorausbestimmtheit der Geschehnisse hingibt, findet Wulitsch im Kartenspiel die Antithese zu seinem Fatalismus. Doch dahinter steckt noch ein tieferer Sinn: Die Unfreiheit der Wirklichkeit wird durch die unberechenbare Freiheit des Kartenspiels ausgeglichen. Die Epochen der Reaktion wurden nicht zufällig, sondern geradezu zwangsläufig von verzweifelten Ausbrüchen des Kartenspiels begleitet. So gaben sich die zwischen dem Araktschejewschen Regime und dem, was Puschkin die „Mystik des Hofschranzentums" nannte, eingezwängten Teilnahmslosen in den Jahren 1824 und 1825 Ausbrüchen zügellosen Kartenspiels hin, wie die Memoirenschreiber berichten. Eine gleiche Welle wiederholte sich in den trübseligen Nikolaischen 30er Jahren des 19. Jahrhunderts. Psychologisch bezeichnend ist auch die nächste Episode aus der Biographie Puschkins. In den letzten Tagen des Novembers bzw. Anfang Dezember 1825 begab sich Puschkin aus Michailowskoje in die Hauptstadt. Seine
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Stimmung war nicht die beste. Zum einen hatte er vom Zaren den beunruhigenden Befehl erhalten, seine Gedanken über den Einfluß der Aufklärung auf die Gesellschaft darzulegen. Bulgarin, der eine analoge Aufforderung erhalten hatte, begriff sehr wohl, was man von ihm erwartete, und verfaßte eine Denunziation des Lyzeums. Puschkin hatte jedoch den Versuch unternommen, die Aufklärung dem Zaren gegenüber zu verteidigen, wofür ihm durch Benckendorff eine ,Kopfwäsche' zuteil geworden war. Gleichzeitig bekam er die Auswirkungen der ihm angekündigten persönlichen Zensur Nikolais zu spüren. Puschkin sah sich gezwungen, Pogodin umgehend davon in Kenntnis zu setzen, daß es notwendig sei, alle seine Werke, die sich im Druck befanden, bis zur Erlaubnis durch den Zaren zurückzuhalten. Das war kostspielig und erniedrigend zugleich. In seinen Briefen an Pogodin schrieb Puschkin: „Haltet, um Gottes willen, möglichst schnell alles, was bei der Mosk(auer) Zensur meinen Namen trägt, zurück - das ist der Wille der höchsten Obrigkeit" (XIII, 307). Am gleichen Tag sah er sich gezwungen, einen Entschuldigungsbrief an Benckendorff zu schreiben. Seine Stimmung war vermutlich entsetzlich, und er verspürte nicht den geringsten Wunsch, in die Hauptstadt zu fahren. Als die Kutsche umstürzte und ihm ein Bein quetschte, nahm Puschkin das zum Vorwand und blieb in Pskow, wo er sich in seiner Hoffnungslosigkeit mit einer Zufallsbekanntschaft auf ein wildes Kartenspiel einließ, das mit einem gewaltigen Verlust endete. Am 1. Dezember schrieb er aus Pskow an Wjasemski: „Ich fahre zu Euch und komme nicht an. Warum! Ich kann nicht... Wieso erkläre ich später. Auf dem Dorf habe ich mißlungene Prosa geschrieben, es fehlt die Inspiration. In Pskow verliere ich, anstatt das 7. Onegin-Kapitel zu schreiben, das vierte: das ist nicht komisch" (ebenda 310). Der Ausbruch dieser wilden Spielwut war die Entladung der nervlichen Anspannung. Die Rolle des Zufalls im Spiel hob einerseits die Bedeutung der unberechenbaren Faktoren hervor und andererseits die der Selbstbeherrschung, der Geduld und der Kaltblütigkeit, der Fähigkeit, unter schwierigen Bedingungen nicht den Kopf zu verlieren und in kritischen Situationen die Würde zu wahren - jener Eigenschaften, deren man auch in der Schlacht und beim Duell bedarf. Das mißt allen drei genannten Verhaltensaspekten einen einzigen psychologischen Untertext zu. Wo es nicht um Hasardspiele ging, waren während des Spiels auch Scherze erlaubt. Als angemessen galt ein zurückhaltend-spaßiger Ton. Bei einem Hasardspiel dagegen wurden Frivolitäten dieser Art nicht zugelassen. Das Spiel sollte unter völligem Schweigen stattfinden, die Spieler wechselten lediglich Worte, die eine direkte Beziehung zum Spiel hatten, und verwendeten dabei ein Spieler-Argot. Das trug zur Entwicklung einer besonderen Sprache des Kartenspiels bei, die später mit Macht auch in andere Sphären der Kultur eindrang. Eine ironische Übertreibung dieser Erscheinung finden wir zum Beispiel in dem schon erwähnten Buch „Briefwechsel der Mode" von Strachow.
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„Brief 5 vom Kartenspiel an die Mode Gnädige Frau! Nachdem ich vor kurzem von Ihrer Ankunft in der hiesigen Stadt erfahren habe, hielt ich es für meine Pflicht, mich erstens Ihrer hohen Route zu überlassen und Sie zweitens um Entschuldigung dafür zu bitten, daß ich aufgrund alltäglich und allnächtlich von mir zu erledigender Angelegenheiten nicht in der Lage war und es auch jetzt nicht bin, Sie meiner tiefsten Verehrung zu versichern. Beinahe die ganze Stadt bedarf meiner, nicht nur... täglich, sondern fast stündlich und in jeder Minute, das heißt, daß ich weder am Morgen noch nach dem Mittagessen noch nach dem Abendessen noch in der Nacht zur Ruhe komme. Kaum bin ich in der Frühe jene Spieler losgeworden, die die ganze Nacht gespielt haben, bin ich schon gezwungen, mich nach dem Mittagessen irgendwohin zu begeben, danach zu irgendeinem geselligen Abend mit Spielern zu reiten und dann die Nacht in jenen von mir eingerichteten Häusern zu verbringen, in denen, um ihr Glück zu versuchen, all diejenigen sich zusammenfinden, die den Tag nicht routiert haben. Ich schwöre Ihnen, gnädige Frau, bei allen vier Whisttrümpfen, daß mein Zustand in dieser Welt schlimmer ist als die letzte Zwei. Alle Tage kreisen meine unruhigen Gedanken um eine Farbe, und ich kann nie passen. Ich kann auch nie freie Tage hinzukaufen, denn Zeitmangel türmt sich auf Zeitmangel, immer so, wie
Kugel auf Kugel folgt."'
Die Ordnung der Spiele ist genau festgelegt. Einer der Spielteilnehmer, der Bankhalter, setzt irgendeine Geldsumme („er hält", „er gibt Bank"), der Pointeur erklärt, auf welche Summe er spielt oder daß er die ganze Bank setzt; va banque gewinnen heißt die Bank ,sprengen'. Mit ein und demselben Satz spielen, den Einsatz nicht erhöhen, heißt Mirandol spielen; Sempel ist ein einfacher Einsatz, auf Route setzen heißt auf die gleiche Karte setzen, sie nicht aufzudecken Dunkles Route: Ich setze drohend eine dunkle Karte, bemerke das geheime Route. (Puschkin, VI, 282)
Man vergleiche auch die Beschreibung des Route in den „Elixieren des Teufels" von E.T. A. Hoffmann: „Ich starrte das Blatt an, kaum konnte ich meine innere Bewegung verbergen; der Zuruf des Bankiers, ob das Spiel gemacht sei, riß mich aus der Betäubung. Ohne mich zu besinnen, zog ich die letzten fünf Louisdors, die ich noch bei mir trug, aus der Tasche und setzte sie auf die Dame. Sie gewann, nun setzte ich immer fort und fort auf die Dame, und immer höher, sowie der Gewinn stieg". Will er den Einsatz verdoppeln, muß der Pointeur „eine Ecke umbiegen" will er vervierfachen, zwei Ecken. Man vergleiche in „Maskerade": Kugel - ein Kartenspiel. Kugel auf Kugel, d.h. Spiel auf Spiel.
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Sie müssen Ihr Glück korrigieren, Doch mit Sempel geht das schlecht... Man muß umbiegen. Oder: Und an trüben Tagen Versammelten sie sich Oft; Bogen um... Von fünfzig Auf hundert das heißt, sie verdoppelten den Einsatz. Den Einsatz verdoppeln heißt Paroli spielen, vervierfachen heißt Paroli paix. Quinze il va bedeutet, daß man den ursprünglichen Einsatz um das Fünfzehnfache erhöht, und Sept il va um das Einundzwanzigfache. Man vergleiche: ... sept il va hält mächtig mich gefangen. (Puschkin, VI, 282) Trente il va heißt, den Einsatz um das Dreißigfache erhöhen (siehe Dershawin: „verdreißigfacht"). Gleich mit der ersten Karte gewinnen, „die Bank sprengen", heißt mit einer gewinnen. Attendez bedeutet die Ankündigung, keinen Einsatz zu machen. Das Kartenspiel hatte seinen eigenen, in sich geschlossenen Teilnehmerkreis, seine eigenen Verhaltensweisen und, wie schon gesagt, seine eigene Sprache. Grundlage dafür war die Kartenterminologie, die Notwendigkeit, Situation und Ablauf exakt und unzweideutig zu bestimmen, weil jede wörtliche Unbestimmtheit zur Quelle von Irrtümern und Betrügereien werden konnte. Aber damit war der Boden für Wortspielereien bereitet, für verschiedenartige Kartenphrasen und -witze, so daß die Sprache der Kartenspieler mehr und mehr mit Synonymen und einer eigenen Wortmythologie angereichert wurde. So beklagt beispielsweise Gogol am 14. (26) November 1842 in einem Brief an N . J . Prokopowitsch, daß in „Die Spieler" ein nicht unbedeutender Ausdruck weggelassen worden sei, und zwar als der Tröster Bank gibt und sagt: „Da hast du, Deutscher, friß deine Sieben!" Diesen Worten müsse man hinzufügen: „Route, glattweg Route! Einfach die fosca Karte!" 6 ' Fosca Karte heißt dunkle Karte und bedeutet das gleiche wie bei Puschkin „die dunkle Route erblicken". Die Verwendung des italienischen Synonyms ist ein eigenwilliger Wort-Chic. Um das lebendige Bild des Spiels in seinem ganzen Umfang der Gebärden und Worte, die unter den Spielern ausgetauscht wurden, zu verdeutlichen, führen wir hier eine Szene aus Gogols Komödie „Die Spieler" an. Mit dokumentarischer
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Genauigkeit gibt sie den Augenblick eines leidenschaftlichen Hasardspiels wieder. „Der Tröster: Bravo, Junker! Ober, Karten! (Füllt sein Glas) Was braucht man vor allem? Mut braucht man, Schlag, Kraft... So soll es sein, Herrschaften, ich mache euch ein Bänkchen um Fünfundzwanzigtausend. (Teilt nach rechts und nach links Karten aus) Na, Husar? ... Und du, Schwochnew, was setzt du? (Gibt Karten) Was für ein merkwürdiges Kartenblatt. Das wird das Zusammenrechnen interessant machen. Der Bube ist getötet, die Neun nimmt. Und was ist dort, was hast du? Und die Vier hat genommen! Und der Husar, der Husar aber, welcher Husar? Paß auf, Icharew, wie er schon gekonnt die Einsätze erhöht! Da und da und da das As! Da hat Krugel sich schon durchgemogelt. Der Deutsche hat immer Glück! Die Vier nimmt und die Drei! Bravo, bravo, Husar! Hast du mitgekriegt, Schwochnew, der Husar hat schon an die Fünfzigtausend gewonnen. Glow (biegt die Karte um): Zum Donnerwetter. Paroli geboten! Da ist noch eine Neun auf dem Tisch, die paßt auch, und 500 Rubel dazu. Der Tröster (gibt weiter Karten): Bravo, Prachtkerl, Husar. Die Sieben getö..., ach nein, umgebogen, Donnerwetter, und wieder umgebogen! Und der Husar hat verloren. Nun was, Bruder? Nicht jeder, dem Gott ein Weib gab, hat eine Maria. Krugel, hast genug gerechnet! Setz auf die, die du genommen hast. Bravo, der Husar hat gewonnen! Warum beglückwünscht ihr ihn nicht? (Alle trinken, beglückwünschen ihn, stoßen mit den Gläsern an) Man sagt, die Pique Dame verkauft immer, ich sage so was nicht. Erinnerst du dich, Schwochnew, noch an deine Brünette, die du Pique Dame genannt hast? Wo ist sie jetzt, die Gute. Hat sich angeblich auf was ganz Riskantes eingelassen. Krugel! Deine ist getötet! (zu Icharew) Und deine auch! Schwochnew, deine ist auch getötet; Husar, du bist auch geplatzt. Glow: Zum Donnerwetter, va banque! Der Tröster: Bravo Husar! Da ist sie endlich, die wahre Husarenart! Merkst du, Schwochnew, wie das wahre Gefühl immer durchbricht? Bisher war ihm schon anzusehen, daß er mal Husar werden wird. Aber jetzt ist es offensichtlich, daß er schon einer ist. Da siehst du, wie die Natur, die Natur... Getötet, Husar. Glow: Va banque! Der Tröster: Bravo, Husar! Auf alle Fünfzigtausend! Das nenn' ich großzügig! Na, dann versuch mal, wo du deinen Schnitt machen kannst... Das ist geradezu ein Heldenstück! Geplatzt ist der Husar! Glow: Va banque, Donnerwetter, va banque! Der Tröster: Oho, Husar! Auf Hunderttausend! So einer ist das? Und die Äuglein, die Äuglein? Siehst du, Schwochnew, wie seine Äuglein funkeln?
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Das hat was von Barclay de Tolly. Was hat er Heldenmut! Und der König ist noch immer nicht gekommen. Da hast du, Schwochnew, die Karo-Dame. Na, Deutscher, nimm, friß deine Sieben. Route, glattweg Route! Einfach die fosca Karte. Und der König, vielleicht gibt's gar keinen im Spiel: Wirklich, irgendwie seltsam das. Ah, da ist er ja... Geplatzt ist der Husar. Glow (hitzig): Va banque, zum Donnerwetter, va banque!" Gogol verwendet die spezifische Lexik der Spieler. Eine Karte hat verloren - getötet, eine Karte hat gewonnen - genommen. Ein Gewinner hat geschleppt, das heißt er hat das auf dem Tisch liegende Geld eingestrichen. Während des Spiels dem Einsatz etwas hinzufügen heißt mas. Die Episode mit dem nicht vollständig ausgesprochenen Wort „getö..." erklärt sich so: Der Pointeur (Glow) hat auf die Sieben gesetzt, die getötet wurde, aber der Verlierende bog eine Ecke um („Pli") und erhöhte damit den Einsatz, indem er den Verlust auf eine neue Abrechnung übertrug. Der Wunsch, Verlorenes zurückzugewinnen, zwingt den Pointeur, seinen Einsatz ständig zu erhöhen. Das macht sich der unehrliche Bankhalter zunutze, und die Lage des Pointeurs wird aussichtslos, weil er verliert, nicht auszahlen und das Spiel nicht unterbrechen kann, dessen Gesamtsumme bereits seine finanziellen Möglichkeiten überstiegen hat, und ihm bleibt nur noch die H o f f n u n g auf einen Zurückgewinn. G o g o l zeichnet ein Kartenspiel mit notorischen Falschspielern, die einen arglosen jungen Menschen betrügen.* Die Grenze, die das ernsthafte, professionelle, ,ehrliche' Spiel von den fragwürdigen Spielen trennte, war recht verschwommen. Einem Menschen, der offizielle Gelder veruntreut oder ein Testament gefälscht, ein Duell abgelehnt oder sich auf dem Schlachtfeld als feige erwiesen hatte, verwehrte man den Zutritt zu einer anständigen Gesellschaft. Aber vor einem unehrlichen Spieler (oder einem Mädchenverführer) schloß man die Türen nicht. So nennt beispielsweise Piaton Michailowitsch in „Verstand schafft Leiden" Sagorezki nicht nur einen Denunzianten, sondern auch einen Falschspieler: Hüte dich, er ist ein Zuträger, Und beim Kartenspiel wird er dich linken. Der bereits bekannte „Amerikaner" Tolstoi, auf den die folgenden Worte in „Verstand schafft Leiden" anspielen: Nach Kamtschatka verbannt, kehrte als Aleut er wieder und hat unsaubere Hände...
*
In diesem Fall ist f ü r uns nicht der U m s t a n d wichtig, daß d e r , j u n g e M e n s c h ' im Stück
G o g o l s ganz und gar n i c h t , a r g l o s ' ist, sondern daß er sich ebenfalls an einem Falschspiel beteiligt.
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bat Gribojedow, die letzten Worte durch „unsaubere Kartenhände" zu ersetzen, und begründete das damit, daß man sonst meinen könnte, er würde Taschentücher stehlen; Falschspielen hielt er für eine noblere Tätigkeit.* Uber den gleichen Tolstoi schrieb Puschkin 1821 in einem Epigramm: In trübem Leben, der Verachtung Preis, War lange er schon fast verendet, Und rings umher den Erdenkreis Hat er durch Laster nur geschändet. Jedoch sich bessernd, was ein wenig ihm gelang, Hat er die Schande wohl beglichen Und ist nun nur noch, Gott sei Dank, Falschspieler, Kartendieb, inzwischen. In seinem zweiten Sendschreiben „An Tschaadajew" wiederholt er noch einmal und verstärkt die gleiche Charakterisierung und nennt Tolstoi einen „Philosophen", der Mit Lastern einst den Erdkreis in Erstaunen setzte, Ward aufgeklärt, ließ Besserung erwarten, ließ ab vom Wein und spielte mit gezinkten Karten... Diese Gedichte Puschkins waren eine absichtliche Schmähung Tolstois Wjasemski lehnte ihre Schärfe ab - , gleichzeitig waren sie jedoch auch eine Verhöhnung jener öffentlichen Meinung, die die Nachsicht mit der ,noblen' Falschspielerei zum Gesetz erhoben hatte. Nicht nur die Hoffnung auf Gewinn ließ die Menschen der Puschkinschen Epoche zu den Karten greifen, obschon die Habsucht im Kartenspiel schon immer eine große Rolle gespielt hatte. Zu einem Modell des öffentlichen Lebens geworden, versprachen die Karten Erfolg, Gelingen und vor allem Macht. Gerade die Begierde nach der in den Händen des geschickten Bankhalters liegenden Macht war es, die erfahrene Spieler in gleicher Weise anzog, wie es die Duellwütigen zum Zweikampf zog. Selbst wenn er sich auf ein ehrliches Spiel einließ, verwandelte sich ein erfahrener und kaltblütiger Bankhalter für den erregten und unvorsichtigen Pointeur in die Verkörperung des Schicksals. In „Krieg und Frieden" zeigt Tolstoi das sehr deutlich in der Szene, in der Dolochow und Nikolai Rostow Karten spielen. Tolstoi erwähnt mit keinem Wort, daß Dolochow während des Spiels zu unerlaubten Mittel greift, und man kann annehmen, daß das Spiel * Das Einbeziehen der Karten in das ,noble Verhalten' mißt ihnen auch in dieser Hinsicht eine Verwandtschaft mit dem Duell zu. Man vergleiche zum Duell: Ehrlich ihn ins G r a b spedieren, Kühl auf die bleiche Stirn visieren aus nobler Distanz. (6, X X X I I I ) „ N o b l e D i s t a n z " meint hier die für ein Duell geltenden Regeln. Im gleichen Sinne wird die Tötung bei einem Duell als „ehrlich" begriffen.
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auf ehrliche Weise vonstatten geht, obwohl Dolochow seine Erregung unterdrückt und, sich hinreißen lassend und am falschen Ort, von den Gerüchten über seine Falschspielerei zu reden beginnt. Wichtiger jedoch ist die hervorgehobene ,Dämonie' in seinem Verhalten. Tolstoi schafft eine spezielle Atmosphäre. „Das Spiel wurde fortgesetzt. Der Diener brachte ununterbrochen Champagner". Vor diesem Hintergrund fragt Dolochow Rostow plump, ob der sich nicht fürchte, mit ihm zu spielen, und indem er ihm seinen Willen aufzwingt, veranlaßt er ihn, die Einsätze zu erhöhen. Rostow überlegte und „schrieb dann doch wieder seinen gewöhnlichen Einsatz, zwanzig Rubel". „,Laß doch', sagte Dolochow, obwohl er, wie es schien, Rostow gar nicht angesehen hatte, ,Du kannst dein Geld so rascher zurückgewinnen'." Auch hier unterstreicht Dolochow, im Gegensatz zu seinen Worten, Rostow gegenüber seinen Fatalismus: „,Gegen andere verliere ich, und deine Karte schlage ich. Vielleicht fürchtest du dich vor mir?' fragte er noch einmal." Dieses Motiv der Angst wiederholt Dolochow einige Male, um sich Rostows psychischen Zustand zunutze zu machen. „,Also du fürchtest dich nicht, mit mir zu spielen?' fragte Dolochow noch einmal, und als wolle er eine lustige Geschichte erzählen, legte er die Karten hin und lehnte sich im Stuhl zurück". Inmitten größter Spannung unterbricht Dolochow unerwartet das Spiel, um in einem völlig unangebrachten Moment zu erzählen, daß in Moskau das Gerücht verbreitet werde, er sei ein Falschspieler, und gleich darauf nimmt er Rostow eine gewaltige Summe ab. Ein derartiges ,fatales' Verhalten kennzeichnet auch die Maske des gewieften Duellanten und, im weiteren Sinne, auch den Stereotyp des romantischen Dämons. Geradezu ein Meister in diesem Verhalten war der Dekabrist Kachowski. Und auch der „Amerikaner" Tolstoi legte sich diese Aureole einer romantischen Dämonie zu und behielt sie auch während des Kartenspiels bei. L. Tolstoi legt gleichsam die Psychologie der romantischen Gestalt des Bankhalters bloß. Dolochow bemächtigt sich des Willens Rostows und empfindet dabei eine doppelte Befriedigung: Er rächt sich an dem glücklichen Konkurrenten und befriedigt gleichzeitig seine romantische Begierde nach Macht und nach der Unterwerfung anderer, die auch Petschorin nicht fremd ist. Tolstoi zwingt seinen Leser, die Welt mit den Augen des verzweifelten und verlierenden Pointeurs zu sehen. .„Sechshundert Rubel, As, Paroli, Neun... Der Verlust ist nicht wieder einzubringen... Und wie lustig hätte es heute zu Hause sein können... Der Bube auf paix... das ist doch unmöglich! Warum tut er mir das nur an', dachte Rostow und grübelte nach. Manchmal setzte er sehr hoch; aber Dolochow weigerte sich dann, den Einsatz anzunehmen, und bestimmte selbst einen anderen. Nikolai fügte sich und betete bald zu Gott, wie er es auf dem Schlachtfeld getan hatte an der Ennsbrücke, bald machte er sich ein Orakel: Die Karte, die ihm aus einem Haufen verbogener Karten unter dem Tisch zuerst in die Hand fie-
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le, werde ihn retten; dann wieder zählte er, wieviel Schnüre an seiner Husarenjacke waren, und besetzte eine Karte von der gleichen Augenzahl mit dem Betrag seines letzten Verlustes, oder er blickte sich hilfesuchend nach den Mitspielern um; schließlich beobachtete er Dolochows jetzt völlig kalt erscheinendes Gesicht und bemühte sich zu ergründen, was in ihm vorgehe. ,Er weiß doch', sagte er sich, ,was dieser Verlust für mich bedeutet! Er kann doch nicht geradezu meinen Ruin wollen? Er war doch mein Freund! Ich habe ihn doch geliebt...'". Mit der Genialität des Künstlers und zugleich mit der persönlichen Erfahrung eines Menschen, der die Verzweiflung eines gewaltigen Verlustes durchlebt hat, beschreibt Tolstoi den plötzlichen, durch nichts motivierten Zustand einer seelischen Ekstase, die Nikolai Rostow erfaßt und die durch das Gefühl seines Untergangs nicht nur nicht beeinträchtigt, sondern sogar stimuliert wird. Die romantische Poesie des Untergangs findet sich besonders grell in den Gedichten A. Grigorjews wieder und in den Puschkinschen Zeilen: Es gibt den Rausch in der Schlacht, Und den vor des Abgrunds Nacht... Alles, was mit Verderben droht, Birgt für das todwunde Herz, Ihm unerklärbar, Lust, ist Vielleicht der Unsterblichkeit Pfand! (VII, 180) Diese Lust am Untergang, die einen Teil der Poesie des Kartenspiels ausmachte, erlebt der Verlierer Nikolai Rostow, dem Verzweiflung, höchste seelische Anspannung und die Romanze Nataschas in einem einzigen Akkord zusammenklingen: „Oh wie bebte diese Terz, und wie regte sich alles Beste, was in Rostows Seele vorhanden war! Und dieses Etwas hatte mit der ganzen Welt nichts zu tun und war höher und edler als alles in der Welt. ,Was sind daneben Spielverluste und Leute wie Dolochow und Ehrenworte! Alles dummes Zeug! Man kann morden, stehlen und doch glücklich sein...' " Die Situation eines Hasardspiels ist vor allem eine Zweikampfsituation: Ein Konflikt zwischen zwei Gegnern wird modelliert. Ein Glücksspiel konnte, selbst wenn professionelle Spieler daran teilnahmen, durchaus ehrlich und entsprechend den Regeln vor sich gehen, aber auch in einem solchen Fall erwies sich die Position des das Spiel an sich reißenden professionellen Spielers im Vergleich zu der des Pointeurs als vorteilhafter. So spielt zum Beispiel die aus professionellen Spielern bestehende Gesellschaft in der „Pique Dame" ein ,nobles', das heißt ein ehrliches Spiel. Der Annahme eines der Teilnehmer des Gesprächs, es könnte mit gepulverten
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Karten" gespielt werden, wird sofort widersprochen. Das,ehrliche' Spiel war gleichsam die Nachbildung einer Schlacht. In der „Pique D a m e " verwandelt sich das Spiel in einen Zweikampf: „Die Spieler setzten ihre Karten nicht und warteten voller Ungeduld auf den Ausgang des Spiels. Hermann stand am Tisch und bereitete sich darauf vor, allein gegen den bleichen, doch ständig lächelnden Tschekalinski zu pointieren. Jeder öffnete ein Kartenspiel. Tschekalinski mischte. Hermann hob ab, setzte seine Karte und bedeckte sie mit einem Bündel Banknoten. Es sah aus wie ein Zweikampf. Tiefes Schweigen herrschte ringsum". Diese Szene erklärt die tatsächlich an eine Epidemie erinnernde Ausbreitung der Glücksspiele in der russischen Gesellschaft. Doch das eigentliche Wesen dieses Zweikampfmodells zeigt sich in der Ungleichheit: Der Pointeur, der trotz des Risikos, alles zu verlieren, dennoch alles zu gewinnen hofft, gleicht einem Menschen, der gezwungen ist, wichtige Entscheidungen zu treffen, ohne die dafür notwendigen Informationen zu besitzen; er kann aufs Geratewohl handeln, er kann Vermutungen anstellen und dabei versuchen, irgendwelche statistischen Gesetzmäßigkeiten heranzuziehen. Der Bankhalter jedoch legt sich auf keine Strategie fest. In einem ehrlichen Spiel verläßt er sich allein auf seine Kaltblütigkeit. Seine Position ist eine fatalistische, die des Pointeurs hingegen außerordentlich risikobehaftet. Außerdem weiß derjenige, der die Bank gibt, nicht, welche Karte kommt. Er ist gleichsam eine Marionette in den Händen unbekannter Faktoren. Ein solches Modell beinhaltete bereits die Möglichkeit der Interpretation von Konflikten im Leben. Das Spiel wuchs sich zum Zusammenprall mit einer mächtigen und irrationalen Kraft aus, die sehr oft als dämonisch apostrophiert wurde: ...der Dämon lenkt, ...und keiner sagt das Spiel voraus.62 D a s Empfinden sinnlosen Handelns seitens des ,Bankhalters'stellte eine wichtige Besonderheit im freigeistigen Bewußtsein dieser Zeit. Nachdem Puschkin erfahren hatte, daß dem Fürsten Pjotr Andrejewitsch Wjasemski ein Kind gestorben war, schrieb er diesem: „ D a s Schicksal hört nicht auf, seine Possen mit Dir zu treiben. N i m m ihm das nicht übel, es weiß nicht, was es macht, was es anrichtet. Stelle es dir als einen riesigen Affen vor, dem ein absoluter Wille gegeben ist. Wer legt ihn an die Kette? D u nicht, ich nicht, niemand" (XIII, 278). Aber gerade diese Sinnlosigkeit, diese Unberechenbarkeit der Strategie des Gegners verleitete dazu, in seinem
* „gepulverte" - falsche Karten (von Sechs bis Zehn). Die Karten werden aufeinander geklebt, z.B. die Sechs auf die Sieben, die Figur der Farbe wird herausgeschnitten, und aufgestreutes weißes Pulver macht das unbemerkbar. Der Falschspieler schüttet im Verlauf des Spiels das Pulver heraus und verwandelt so die Sechs in eine Sieben usw.
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Benehmen etwas wie Hohn zu sehen und den unberechenbaren Faktoren einen infernalen Charakter zuzumessen. Der Modelltyp des „Pharao" Spiels ist in der Literatur so organisiert, daß jeder, der sich darauf einläßt, nur eine einzige Position einnehmen kann, die des Pointeurs. Die Position des Bankhalters dagegen erscheint häufig nur in der dritten Person; als ein Beispiel für die seltenen Ausnahmen kann vielleicht Silvio in „Der Schuß" gelten, was sich daraus erklärt, daß Silvio die Rolle eines schicksalhaften Menschen' spielt, eines Repräsentanten und nicht eines Spielzeugs des Schicksals. Es ist bezeichnend, daß er in der Kartenspielszene als Hausherr auftritt. Im Leben wie in der Literatur ist der Bankhalter stets der Inhaber der Räumlichkeit, in der das Spiel stattfindet, während der Held in der Regel Gast ist. Auch Dolochow versteht sich während des Kartenspiels mit Nikolai Rostow als schicksalhafter Mensch'. Der Umstand, daß das „Pharao"-Spiel in der Lage ist, zu einem Thema von sowohl lokal begrenzter als auch von allgemeiner Sujetbedeutung zu werden, bestimmt seine Verwendung in diesem Text. Wie das Erfassen der Komposition eines Schelmenromans oder überhaupt eines an wechselnden Episoden reichen Romans, forderte auch das Kartenspiel, als kompositorische Einheit begriffen zu werden. Andererseits verdeutlichte es die Unbeständigkeit des Lebens und dessen Aufsplitterung in einzelne, kaum zusammenhängende Episoden, in eine „Ansammlung bunter Kapitel": Solch dumpfem Brüten hingegeben, Versinkt er tief in sein Gefühl, Sieht immer neue Bilder schweben, Phantastisch buntes Pharaospiel. Er sieht im Schnee mit starren Zügen Den Körper eines Jünglings liegen, V o m frühen Himmelslicht gerötet, U n d Stimmen flüstern: „Ist getötet!" Vorüber wallen die Gespenster, Der Freunde Kreis, der Feinde Schar, U n d manches scheele Augenpaar... (8, X X X V I I )
Man vergleiche auch die verwandten Zeilen in W. Roshdestwenskis „Manon Lescaut": ...der Kerker und der Poststationen bunter und ungetreuer Pharao...
Von Puschkin und Gogol geht eine Tradition aus, die in einem unmittelbaren Zusammenhang mit den russischen Sujets der Idee einer Bereiche* D a s Wort „getötet" ist hier doppeldeutig. Puschkin bezieht sich hier auch auf die Bedeutung, die das Wort beim Pharao hat und in dessen Terminologie eine getötete Karte eine Karte ist, die verloren hat.
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rung durch das Kartenspiel - von Puschkins „Pique Dame" bis zu Dostojewskis „Der Spieler" - oder eine Affäre - von Tschitschikow bis Kretschinski - steht. Halten wir auch fest, daß der „auf Geld versessene Ritter", der Baron in „Der geizige Ritter", bei der Bereicherung das Handeln, die Sukzessivität und die Zielstrebigkeit betont: Und in so armen Häufchen den gewohnten Tribut herniederbringend ins Gewölbe, Trug ich den Hügel auf... Hier ist ein altes Stück... hier ist es. Heute Gab's eine Witwe mir... Und dieses? Dieses brachte mir Thibault. Im Verhalten Hermanns indessen dominiert, als er zum Spieler wird, das Streben nach sofortiger und ökonomisch durch nichts begründeter Bereicherung: „Als der Schlaf ihn überwältigt hatte, träumte er von Karten, dem grünen Spieltisch, Geldscheinbündeln und Haufen von Goldmünzen. Er setzte eine Karte nach der anderen, bog entschlossen die Ecken, gewann unaufhörlich, raffte das Gold an sich und steckte die Geldscheine in die Tasche". Plötzliches Erscheinen und wieder Verschwinden eines .phantastischen' Reichtums charakterisiert auch Tschitschikow. Doch während bei Hermann Berechnung und Leidenschaft miteinander kämpfen, obsiegt bei Tschitschikow die Berechnung, gewinnt bei Kretschinski die Leidenschaft die Oberhand. Erinnern wir uns an den Monolog Fjodors in A. SuchowoKobylins „Kretschinskis Hochzeit": „Einmal lebte man doch in Petersburg - Oh, mein lieber Gott! - wieviel Geld es damals gab! Wie wurde damals gespielt!... Das ganze Jahrhundert war doch so: Geld war ihm Stroh, irgendwelches Holz. Bereits auf der Universität habe ich in Saus und Braus gelebt, und als ich dann die Universität verlassen hatte, da lief's und lief's, wie ein Wasserfall! Bekanntschaften, Grafen, Fürsten, Freundschaften, Gelage, Karten". Persifliert findet sich das gleiche Thema in den Worten Rasplujews: „Geld... Karten... Los... Glück... elender, entsetzlicher Wahnsinn!" Zur Kehrseite dieser Tradition wird die Verwandlung des ,russischen Deutschen' Hermann in den anderen ,russischen Deutschen' Andrej Stolz. Wie bereits gesagt, war das Kartenspiel etwas Größeres als nur Streben nach Gewinn im Sinne eines materiellen Profits. Diese Rolle spielten die Karten nur für die professionellen Falschspieler. Für einen ehrlichen Spieler in der Puschkinschen Epoche - und das ehrliche Kartenspiel w a r ja, trotz der offiziellen Verbote, beinahe eine allgemeine Leidenschaft - war der Gewinn nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel, das Risiko zu provozieren. Dieses Gefühl war die Kehrseite des uniformen, auf die Parade fixierten Lebens. Petersburg, Militärdienst, der ganze Geist der kaiserlichen
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Epoche nahm den Menschen alle Freiheit, schloß den Zufall aus. Erst das Spiel brachte den Zufall ins Leben. Diese Spielleidenschaft w i r d uns unverständlich bleiben, als merkwürdiges Laster erscheinen, w e n n w i r uns nicht folgendes Bild Petersburgs ins Gedächtnis rufen: Pompös die Stadt, von Enge verstellt, Unfrei im Geist, voll Armseligkeit, Darüber, grün-bleich, das Himmelszelt Und Kälte, Granit und Langweiligkeit... (Puschkin, III, (1) 124) U m verstehen zu können, weshalb Puschkin das Spiel als „eine der mächtigsten Leidenschaften" bezeichnete, m u ß man sich die Atmosphäre der Petersburger Kultur vorstellen. Wjasemski schrieb: ,„Sie bereiten sich ein trauriges Alter', sagte der Fürst Talleyrand zu jemandem, der damit prahlte, niemals Karten in die Hand genommen zu haben, und hoffte, nie auch nur ein Kartenspiel zu erlernen. Wenn die Feststellung Talleyrands zutrifft, dann wird man nirgendwo ein so fröhliches Alter antreffen wie bei uns. Von klein auf bereiten wir uns darauf vor und werden durch die uns umgebenden Beispiele und die eigenen Versuche dorthin geführt. Nirgendwo waren die Karten derart in Gebrauch wie bei uns. Im russischen Leben gehören die Karten zu den obligatorischen und unvermeidlichen elementaren Gegenständen. Allenthalben begegnet man in den einzelnen Personen mehr oder weniger der Spielleidenschaft, doch neigen sie vornehmlich zum Hasardspiel. Leidenschaftliche Spieler gab es immer und überall. Die Dramatiker haben diese Leidenschaft mit all ihren unheilvollen Folgen auf die Bühne gebracht. Die klügsten Menschen wurden vom Spiel angezogen. Der berühmte französische Schriftsteller und Rhetoriker Benjamin Constant war ein ebenso leidenschaftlicher Spieler wie Tribun. Puschkin fuhr während seines Aufenthaltes im südlichen Rußland einige hundert Werst weit irgendwohin auf einen Ball, wo er dem Gegenstand seiner damaligen Liebe zu begegnen hoffte. Er kam vor dem Beginn des Balles in die Stadt, begann zu pointieren und spielte die ganze Nacht durch bis zum späten Vormittag, versäumte den Ball und verlor sowohl sein Geld als auch seine Liebe. Der reiche Graf Sergej Petrowitsch Rumjanzew, ein glänzender Aristokrat zur Zeit Katharinas und außerordentlich vernunftbegabter Mensch von großer Bildung und Wißbegierde in allen Zweigen der Wissenschaft, war dieser Leidenschaft bis ins hohe Alter verfallen und gab sich ihr geradezu mit der Sucht eines Trinkers hin. Er schloß sich manchmal einige Tage lang mit Spielern in seinem Haus ein, verspielte unvorstellbare Summen an sie und hörte auf zu spielen, bis ihn die Sucht von neuem überkam. Ein Spiel dieser Art, eine Art Schlacht auf Leben und Tod, hat seine Erregungen, sein Drama, seine Poesie. Ob diese Leidenschaft, diese Poesie, edel und gut ist, ist eine andere Frage. Einer von diesen Spielern sagte einmal, daß es nach der Lust zu gewinnen keine größere Lust gäbe als die, zu verlieren".64 Das Kartenspiel und die Parade sind zwei Grundmodelle der uns interessierenden Epoche. U n d ähnlich w i e die Parade besaß auch das Kartenspiel
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seine eigene Poesie und Mythologie. Es wurde gewissermaßen zu einem Abbild des unvorhergesehenen Erfolges, zu einer Verkörperung der Poesie des Zufalls, der Hoffnung auf ein sich plötzlich einstellendes Glück. In der Epoche, in der die Gedanken der adligen Jugend nur um das Wort „Zufall" kreisten, wurde der Gewinn im Hasardspiel praktisch zum universellen Modell der Realisierung aller Leidenschaften, Begierden und Hoffnungen. Es waren gerade das Unerwartete und die Unberechenbarkeit, die anzogen. Nicht zufällig bemüht sich Hermann in der „Pique Dame", bevor er seinen verhängnisvollen Weg geht, der Versuchung des Kartenspiels die Arbeit eines ehrlichen Beamten entgegenzusetzen: „Nüchternes Abwägen, Enthaltsamkeit und Fleiß, das sind meine drei treuen Karten". In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verwandelten sich die am Jahrhundertbeginn formell noch verbotenen und streng verfolgten Hasardspiele in eine allgemeine Gewohnheit der adligen Gesellschaft und waren damit faktisch kanonisiert. Zu einem Beweis ihrer Anerkennung wurde die sich in den 1830er Jahren des 19. Jahrhunderts einbürgernde Regel, derzufolge die Erträge aus den Kartenspielen an das Ressort Maria Fjodorownas abgeführt, das heißt philantropischen Zwecken zugeführt wurden. Der Aufwand für die Karten war unterschiedlich und hing von der Art und Weise ihrer Verwendung ab. Das führte zu einer Spezialisierung. Die in Rußland üblich gewordenen „französischen" Karten - trotz dieser Bezeichnung wurden sie in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Deutschland produziert; später wurde eine russische Produktionsstätte dafür eingerichtet - wurden in drei Varianten hergestellt: Wahrsagekarten", teure und künstlerisch gestaltete, für Nicht-Glücksspiele und Preference gedachte Karten, die für den mehrmaligen Gebrauch bestimmt waren, und Karten für die Glücksspiele. Der Verbrauch letzterer war gewaltig, und ihre Druckqualität war recht mangelhaft, weil man davon ausging, daß sie nur einmal verwendet würden. *
Bei den Glücksspielen brauchte man manchmal eine sehr große Anzahl von Karten.
Beim Pharao-Spiel sollte der Bankhalter und jeder der Pointeure (das waren zuweilen mehr als zehn) ein eigenes Kartenspiel haben. Außerdem warfen erfolglose Spieler ihre Karten weg oder zerrissen sie, wie es zum Beispiel in dem R o m a n „Die Cholmski Familie" von D. N . Begitschew beschrieben wird. Das benutzte Kartenspiel warf man sofort unter den Tisch. Diese oft in riesiger Zahl unter den Tischen verstreuten Karten wurden in der Regel später von den Dienern aufgesammelt und an die Kleinbürger für Schafskopf und ähnliche unterhaltsame Spiele verkauft. Oft lag zwischen den Karten am Boden auch heruntergefallenes Geld, wie das häufig bei den großen Spielen vorkam, an denen N . Nekrassow beteiligt war. Dieses Geld aufzuheben galt als unschicklich, und es fiel später, zusammen mit den Karten, den Dienern zu. In den spaßigen Legenden, die sich um die Freundschaft Tolstois mit Fet rankten, kehrt mehrmals eine Anekdote wieder, nach der Fet sich während eines Kartenspiels niederbeugte, um eine kleine Banknote vom Boden aufzuheben, und Tolstoi einen Hunderter an einer Kerzenflamme anzündete, um ihm bei der Suche zu leuchten. * * In der Praxis wurden Spielkarten auch zum Wahrsagen benutzt.
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Das Kartenspiel verwandelte sich in ein verdichtetes Bild der gesamten Wirklichkeit, vom Alltagsleben bis hin zu seiner Philosophie: „Das Kartenspiel hat bei uns seine eigene Art des Scharfsinns und der Fröhlichkeit, seinen eigenen Humor, der aus Sprichwörtern und sprichwortähnlichen Redensarten besteht. Man könnte ein interessantes Buch mit dem Titel „Die Physiologie des Kartenspiels" schreiben. Wjasemski beendete seine Gedanken über die Natur dieser „unmoralischen" Leidenschaft mit einer ironischen Replik:,Übrigens hat der bedeutende Verbrauch an Karten bei uns auch seine gute, moralische Seite: Mit dem Geld, das der Verkauf der Karten erbringt, konnten bei uns viele Wohltätigkeits- und Erziehungseinrichtungen gegründet werden'."65 Die Verbindung des Zufalls mit der Gier nach rascher Bereicherung oder auch nach dem raschen Sieg über das Jahrhundert des Geldes förderte das Bestreben, gerade im Kartenspiel den Weg zum Reichtum zu sehen. Die Begierde nach raschem Reichtum, das heißt nach einem Wunder, erzeugte die psychologische Atmosphäre des Kartenspiels. Den Verlust des Glaubens an eine göttliche Hilfe suchte man durch die Hoffnung auf Erfolg mittels wissenschaftlicher Berechnung oder Falschspielerei zu kompensieren. Sowohl das eine als auch das andere fand große Verbreitung. Die Verworrenheit des realen Lebens und sein irrationaler Charakter zwangen dazu, die Hoffnungen auf den unberechenbaren Zufall zu konzentrieren. Am beredsamsten sind in dieser Hinsicht die tragischen Briefe Dostojewskis an A. G. Dostojewskaja. Der psychologische Mechanismus des Selbstbetrugs, der den Spieler zwang, sich einzureden, daß dem Glücksspiel mit exakten Berechnungen beizukommen sei, tritt sonst nirgendwo mit derartiger Macht zutage: „A. G. Dostjewskaja Hombourg, Mittwoch, 10. (22.) Mai 1867 10 Uhr morgens Ich grüße Dich, mein lieber Engel! Gestern erhielt ich Deinen Brief und habe mich irrsinnig gefreut, zugleich aber war ich auch entsetzt. Was ist denn mit Dir los, Anja, in was für einem Zustand befindest Du Dich? Du weinst, schläfst nicht und quälst Dich? Wie war mir, als ich das las. Und das nach nur fünf Tagen, was aber ist jetzt mit Dir? Meine Liebe, mein teurer Engel, mein Schatz, ich mache Dir keine Vorwürfe, im Gegenteil, Du bist mir noch lieber, noch kostbarer mit solchen Gefühlen. Ich verstehe, daß nichts zu machen ist, wenn Du absolut nicht in der Lage bist, meine Abwesenheit zu ertragen, und Dich um mich ängstigst (ich wiederhole: Ich mache Dir keine Vorwürfe, liebe Dich dafür doppelt, wenn das möglich ist, und weiß es zu schätzen)-, aber gleichzeitig, meinTäubchen, stimme mir zu, was für eine Torheit ich begangen habe, als ich, ohne mit Deinen Gefühlen zu rechnen, hierhergefahren bin. Bedenke, meine Teure: Erstens hat mich schon meine eigene Sehnsucht nach Dir sehr daran gehindert, dieses verfluchte Spiel erfolgreich zu beenden und zu Dir zu fahren, so daß ich innerlich nicht frei war; zweitens aber: wie kann
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ich, da ich von Deiner Lage weiß, hier bleiben! Verzeih, mein Engel, aber ich will D i r einige Einzelheiten meines Unternehmens, dieses Spiels, erläutern, damit D i r klar wird, worum es sich handelt. D a ich nun schon etwa zwanzigmal an den Spieltisch getreten bin, habe ich die Erfahrung gemacht, daß man, wenn man kaltblütig spielt, ruhig und mit Berechnung, unmöglich verlieren kann! Ich schwöre Dir, es ist - unmöglich! D o r t waltet blinder Zufall, bei mir aber Berechnung, folglich habe ich ihnen eine Chance voraus. Aber was geschah gewöhnlich? Ich begann gewöhnlich mit vierzig Gulden, nahm sie aus der Tasche, ließ mich nieder und setzte immer ein, zwei Gulden. Nach einer Viertelstunde hatte ich gewöhnlich (immer) doppelt soviel gewonnen. Hier hätte ich aufhören und weggehen müssen, wenigstens bis zum Abend, um die aufgepeitschten Nerven zu beruhigen (zudem habe ich die - ganz richtige Beobachtung gemacht, daß ich beim Spiel höchstens eine halbe Stunde hintereinander ruhig und kaltblütig sein kann). Aber ich bin nur weggegangen, um eine Zigarette zu rauchen, und dann wieder sofort zum Spiel geeilt. Weshalb ich das getan habe, obwohl ich fast mit Bestimmtheit wußte, daß ich es nicht aushalte, d.h. verspielen werde? Ebendeshalb, weil ich jeden Tag, wenn ich morgens aufstand, beschloß, dies sei mein letzter Tag in Hombourg, ich reise morgen ab, folglich konnte ich auch am Roulett nicht abwarten. Ich beeilte mich, schnellstens, mit Gewalt, möglichst viel zu gewinnen, an einem Tag auf einmal (weil ich morgen fahren will), ich verlor meine Kaltblütigkeit, die Nerven wurden gereizt, ich ließ mich auf Risiken ein, wurde wütend, setzte schon ohne Berechnung und - verspielte (weil, wer ohne Berechnung spielt und auf den Zufall vertraut, ein T o r ist). D e r ganze Fehler war, daß wir uns getrennt haben und ich Dich nicht mitgenommen habe. Ja, ja so ist es. Hier aber sehne auch ich mich nach Dir, und D u stirbst fast ohne mich. Mein E n gel, ich wiederhole - ich mache D i r keinen Vorwurf, D u bist mir noch lieber, da D u Dich so nach mir sehnst. A b e r bedenke, meine Liebe, was mir beispielsweise geschah: Nachdem ich den Brief mit der Bitte, Geld zu schicken, an D i c h abgesandt hatte, ging ich in den Spielsaal; in meiner Tasche hatte ich alles in allem noch zwanzig Gulden (für alle Fälle), und ich riskierte zehn Gulden. Ich unternahm eine fast übernatürliche Anstrengung, um eine ganze Stunde ruhig und berechnend zu sein, und es endete damit, daß ich dreißig Goldfriedrichsdor, d. h. 300 Gulden, gewann. Ich war so froh und wollte so schrecklich, irrsinnig gern heute noch möglichst schnell alles beenden, wenigstens noch doppelt soviel gewinnen und unverzüglich von hier abreisen, daß ich mich, ohne erst auszuruhen und mich zu besinnen, auf das Roulett stürzte, das Gold zu setzen begann und alles, alles verspielt habe, bis zur letzten Kopeke, d. h. mir blieben nur zwei Gulden für Tabak. Anja, Liebe, meine Freude! Begreife, ich habe Schulden, die ich bezahlen muß, und man wird mich einen Schuft nennen. Begreife, ich werde an Katkow schreiben und in Dresden bleiben müssen. Ich mußte gewinnen! Unbedingt! Ich spiele nicht zu meinem Vergnügen. Es war der einzige Ausweg - und nun ist alles verloren infolge schlechter Berechnung. Ich mache D i r keine Vorwürfe, aber ich tadle mich: Warum habe ich Dich nicht mitgenommen? Würde ich immer ein wenig, jeden Tag, spielen, dann wäre es unmöglich, nicht zu gewinnen, das steht fest - zwanzigfache Erfahrung hatte ich, und obwohl ich das genau weiß, reise ich aus H o m b o u r g ab mit Spielverlust, dabei weiß ich: wenn ich
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mir wenigstens noch vier Tage Zeit lassen könnte, würde ich in diesen vier Tagen bestimmt alles zurückgewinnen. Aber ich werde natürlich nicht mehr spielen! Meine liebe Anja, begreife (ich flehe Dich nochmals an), ich mache Dir keinen Vorwurf; im Gegenteil, mir werfe ich vor, daß ich Dich nicht mitgenommen habe. NB. NB. Für den Fall, daß der gestrige Brief verlorengeht, wiederhole ich hier in kurzen Worten, was darin stand: Ich habe gebeten, mir unverzüglich 20 Imperial zu schicken, als Geldanweisung über den Bankier, d.h. Du müßtest zu einem Bankier gehen, ihm sagen, was zu überweisen ist, an die und die Adresse, nach Hombourg (die Adresse ganz genau) poste restante, an den und den, 20 Goldstücke, der Bankier weiß schon, wie es gemacht wird. Ich bat, so schnell wie möglich zu handeln, damit alles tunlichst am selben Tag zur Post geht. (Den Wechsel, den sie Dir beim Bankier geben würden, mußt Du in den Brief stecken und mir versichert herschicken.) All das würde, wenn Du Dich beeilst, nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nehmen, so daß der Brief am selben Tag abgehen könnte. Wenn Du es schaffst, ihn noch am selben Tag abzuschicken, d.h. heute (Mittwoch), erhalte ich ihn morgen, am Donnerstag. Geht er aber am Donnerstag ab, dann erhalte ich ihn am Freitag. Falls ich ihn am Donnerstag erhalte, werde ich am Sonnabend in Dresden sein, erhalte ich ihn aber am Freitag, dann am Sonntag. Das ist sicher. Sicher. Schaffe ich es, alles zu erledigen, dann komme ich vielleicht nicht am dritten, sondern am zweiten Tag. Aber es ist kaum möglich, am selben Tag alles zu erledigen, um abreisen zu können (das Geld abzuholen, mich reisefertig zu machen, zu packen, nach Frankfurt zu fahren und den Schnellzug noch zu erreichen). Obwohl ich mich nach Kräften bemühen will, wird es höchstwahrscheinlich erst am dritten Tag. Leb wohl, Anja, leb wohl, teurer Engel, ich bin in schrecklicher Unruhe Deinetwegen, um mich aber brauchst Du Dir überhaupt keine Sorgen zu machen. Mein Gesundheitszustand ist ausgezeichnet. Diese Nervenzerrüttung, die Du bei mir befürchtest, ist nur physisch, mechanisch! Es ist doch keine moralische Erschütterung. Meine Natur fordert es geradezu, so bin ich veranlagt. Ich bin nervös, ich kann ohnehin nie ruhig sein! Zudem ist die Luft hier wunderbar. Ich bin so gesund wie nur irgend möglich, aber um Dich sorge ich mich entschieden. Ich liebe Dich, daher quäle ich mich. Ich umarme Dich fest, küsse Dich unzählige Male. Dein F. D(ostojewski) Das Kartenspiel wurde zu einem Fokus, in dem sich die Konflikte der Epoche überschnitten. Der von uns schon erwähnte Strachow veröffentlichte in einer seiner Publikationen, dem von ihm allein herausgegebenen „Satirischen Boten" (1795), unerwartet eine ernsthafte Überlegung, in der er eine Verbindung zwischen der Leidenschaft für das Kartenspiel und der Unterdrückung des Volkes, inbesondere der Verarmung der Bauern, herstellte. Strachow greift gewisse Verteidiger des Kartenspiels an:
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„Die hiesigen Politiker setzen sich recht vehement für das Spiel ein. Sie räumen ein, daß das Spiel in der Gesellschaft viel Unheil anrichtet und daß es die Quelle einer übergroßen Vielzahl von persönlichen Mißständen ist. Sie geben auch zu, daß durch das Spiel viele Familien zerstört wurden und daß man täglich Tragödien begegnet, die eine Folge des Spiels sind. Andererseits behaupteten sie jedoch, daß, wenn man das Spiel untersagen und damit Erfolg haben würde, im Ergebnis dessen großes Ungemach entstehen könnte. Ihrer Meinung nach würden durch das Eliminieren der Spiele viele berühmte Manufakturen und eine Vielzahl ihrer Untertanen an den Bettelstab gebracht werden, dieses Debakel würde ein anderes nach sich ziehen, jenes dann zur Ursache eines dritten werden usw., denn die Armut eines Bürgers stehe in einem ursächlichen Zusammenhang mit der eines anderen..." Den Argumenten der Verteidiger der Ungleichheit und jener, die behaupten, daß der Reichtum eine Quelle des Wohlstandes der Gesellschaft sei, setzt Strachow einen kühnen Gedanken entgegen. Er verwies auf den verderblichen Einfluß des Kartenspiels auf die Lage der leibeigenen Bauern, „...man möge auch sehen, daß derjenige, der verliert, auch seine Bauern beraubt, auf dem Lande einen ganzen Wald verkauft und Vieh und Brot, die unglücklichen Mushiks ohne alles läßt und schließlich auch noch sie selbst verkauft oder verspielt, für nichts, und an genauso einen Windbeutel, der sie dann auf die gleiche Weise beraubt, ihr unglückliches Leben niederdrückt und verkürzt". 66 Die Richtung, in die Strachow zielt, ist offensichtlich: Ausgehend von seiner russophilen Position, attackiert Strachow die Gedanken Voltaires über die progressive Bedeutung des Reichtums und der Armut für die Entwicklung der Gesellschaft, und insbesondere die Behauptung „Der Arme ist zum Sparen geboren, der Reiche zum Verschwenden " 6 7 aus dem Gedicht „Verteidigung des Mondänen oder Apologie der Verschwendung". Das Problem des Kartenspiels wurde für die Zeitgenossen gleichsam zum Symbol der Konflikte der Epoche. Falschspiel begleitete die Glücksspiele von ihrem Entstehen an. Doch in den 30er und 40er Jahren breitete es sich wie eine wahre Epidemie aus. Der Falschspieler aus der vornehmen Gesellschaft wurde durch den professionellen Falschspieler ersetzt, für den der „Karten-Diebstahl" zur Grundlage seiner Existenz wurde. Das Falschspielen wurde beinahe zu einem anerkannten Beruf, obwohl es nach dem Gesetz verfolgt wurde. Wie schon erwähnt, verhielt sich die adlige Gesellschaft, trotz aller Mißbilligung, dem unehrlichen Kartenspiel gegenüber weitaus nachsichtiger als beispielsweise einer Weigerung, zu einem Duell anzutreten, oder einer anderen ,unedlen' Handlung. Der professionelle Kartenspieler, in diesem Falle der Falschspieler, wurde beinahe zu einer Alltagsfigur. Ganze Falschspielertrupps werden zu ständigen Teilnehmern der lärmenden Feste, zu denen sich anläßlich der jährlichen Märkte die Adligen aus den verschiedenen Landkreisen zusammenfanden und sich nicht scheuten, dafür hundert Werst zurückzulegen. Hier wurden ganze Vermö-
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gen verspielt. Die professionellen Spielertrupps, die sich als zufällige Reisebekanntschaften ausgaben, stürzten Gutsbesitzer und junge Offiziere, die in ihre Netze gerieten, buchstäblich in den Ruin. Diesem Umstand trägt auch Gogols Stück „Die Spieler" Rechnung. Der erfahrene Falschspieler Icharew, der Jahre darauf verwandt hat, sich in der Kunstfertigkeit seines Metiers und in der Herstellung und Anwendung gepulverter Karten und äußerst komlizierter „Tüpfel" zu vervollkommnen, nimmt sich vor, eine Gruppe nicht ganz so geschickter, aber doch versierter Falschspieler auszunehmen. Alle Mitglieder dieser .zufälligen' Gesellschaft gehören der Falschspielerzunft an; der naive junge Bursche, den sie angeblich betrunken machen und prellen wollen, der ,ehrliche' Familienvater, der abseits stehende Beamte, den sie zum Spielen überreden, sie alle erweisen sich als der Reisegesellschaft zugehörig, die sich vorgenommen hat, den Meister zu schlagen. Und so ist am Ende auch der einzige ,ehrliche' Mensch, der nur sich selbst zu spielen hat, ein Falschspieler. Die Welt der professionellen Spieler jener Epoche war im Bewußtsein der Menschen das völlige Gegenstück zu ihrer eigenen häuslichen Atmosphäre. Doch ließ sich auch deren Poesie leicht in der Sprache des Kartenspiels ausdrücken - wenn man das Kartenspiel als Idyll beschrieb. In der weiter oben angeführten Aufzählung von Spielen nannte Strachow „Spiele, die die Bitte geäußert haben, in den Dienstgrad eines soliden Menschen erhoben zu werden" und „Spiele, die die Bitte geäußert haben, in die Provinz und die Dörfer entlassen zu werden".,Solide' Kartenspiele und Kartenspiele ,für Kinder', die dem bloßen Vergnügen und der Unterhaltung dienten und keinen Hasardcharakter trugen, wurden traditionell als idyllisch begriffen. Sie waren Mittel zum Zeitvertreib, ihre Atmosphäre der Kreis der Familie oder ein Freundeskreis, ihr Zweck die Zerstreuung: Vorm Abendbrot, wenn Schläfrigkeit sich regt, Gibts Spiele manchmal, dazu Kwaß. Jeroschki und auch Pharao wird aufgelegt, um einen Groschen, nur so zum Spaß.68 Der Leser von heute kann die Ironie dieser Verse, in denen alle Worte einander widersprechen, nur noch schwer nachvollziehen. Das Glücksspiel Pharao wird hier mit dem harmlosen Jeroschki oder Chrjuschki in einem Atem genannt, das Strachow den „in die Provinz und die Dörfer entlassenen" Spielen zuordnet. Und die Ironie besteht darin, daß man hier beim Pharao lediglich „um einen Groschen, nur zum Spaß" spielt. Dershawins nuancierte Sinngebung in diesen Versen, seine polemische Gegenüberstellung von ländlicher „Karten-Idylle" und städtischem Hasardspiel, läßt sich heute nur mehr erahnen. Die Kommerzspiele schufen eine Atmosphäre des Familienfriedens und der Behaglichkeit:
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Acht Robber waren schon gewonnen, Und achtmal hatten schon die Herrn Den Platz getauscht und neu begonnen; Da kam der Tee. (5, X X X V I ) Die Kommerzspiele waren ein angenehmer Zeitvertreib, und sie endeten auch völlig anders als Glücksspiele. Hier sehen wir keine verzweifelten Spieler, die zerrissene Karten unter den Tisch werfen, und die Spiele endeten nicht mit Schüssen von Selbstmördern oder mit Duell-Szenen. „Man reichte ihm eine Whistkarte, die er mit einer ebenso höflichen Verbeugung entgegennahm. Sie setzten sich an den grünen Tisch und standen bis zum Abendessen nicht mehr auf. Alle Gespräche verstummten, wie es immer geschieht, wenn man sich einer bedeutenden Sache zuwendet. O b w o h l der Postmeister sonst sehr redselig war, nahm sein Gesicht, nach dem auch er die Karten zur Hand genommen hatte, eine nachdenkliche Physiognomie an, er zog die Unterlippe unter die Oberlippe und behielt diesen Ausdruck das ganze Spiel über bei. E r schlug die Hand mit der Bildkarte kräftig auf den Tisch und rief, wenn es eine Dame war: ,Na geh, du altes Popenweib!', und war es ein König: ,Na los, du Tambowsker Mushik!' U n d der das Spiel machte, murmelte: ,Und ich geb' ihm eins über den Schnauzbart! U n d ihr auch!'" D i e Szenen, mit denen ein solches Spiel zu Ende ging, hatten einen vollkommen idyllischen Charakter. Sogar Streitereien hielten sich in den Grenzen des Anstands, obwohl es während einiger Phasen des Spiels (auch das gehört zu den unterhaltsamen Spielen) mitunter zu heftigen Wortwechseln kam. „Nach Beendigung des Spiels begann man, wie es sich gehört, ziemlich laut miteinander zu streiten. Auch der dazugekommene Gast beteiligte sich..., indessen stritt er auf angenehme Weise. E r sagte niemals: ,Sie haben aufgelegt', sondern: ,Sie erlaubten sich aufzulegen, und ich hatte die Ehre, Ihre Zwei Zwei zu bedecken' und ähnliches". 69 Auch beim Kommerzspiel wurde um Geld gespielt, aber bei den ,unterhaltsamen' Spielen und den Kinderspielen in der Provinz sowie im Familienkreis oder im Kreis von Freunden, spielte man um einen Stüber vor die Stirn usw. Hier waren Gewinn oder Verlust nur Anlässe, das Interesse am Spiel zu steigern, ohne die Leidenschaften zu wecken. Als Detail eines idyllischen Milieus begegnen wir den Kartenspielen zum Beispiel auch in dem Roman „Die Familie Cholmski" von D . Begitschew: „Am Abend ließen sich die alten und auch einige der jungen Damen, wie es gerade beliebte, zum Whist nieder oder, um nur ein bißchen klein-klein zu spielen, zum Muschka. Gezänk oder Gekeife gab es nie, und oft endete alles mit einem allgemeinen lauten Gelächter „weil die alte Pronskaja, und das war zum Lachen, irgend jemanden beim Spiel geprellt oder übervorteilt hatte, und es danach selbst zum Besten gab".
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Solch ein Kartenspiel war ein unersetzliches Detail des Lebensabends. Der Gutsbesitzer in der Provinz, Eugen Onegins „altes Onkelchen", hatte sich ganz ins Dorf zurückgezogen und lud am Abend seine Dienerin, ...die Brille auf der Nase, zu einem Spielchen Schafskopf ein. (7, XVIII)
Von der „guten alten" Cholmskaja heißt es, daß sie sich nach der Rückkehr aus der Hauskapelle zurückzieht „in ihr warmes, ruhiges Zimmer, für die Enkel Strümpfe strickt oder eine Grand-Patience legt und den Erzählungen ihrer Gevatterin, der alten Popenfrau, zuhört. Ihre abendliche Lieblingsbeschäftigung ist es, mit den Enkeln Schafskopf zu spielen, wenn die nach der Schule bis zur Ermattung herumgetollt haben und sich vor dem Abendbrot und dem Schlafengehen noch ein wenig erholen sollen. Die Großmutter genießt es, und die Enkel lassen sie, um ihr gefällig zu sein, unablässig gewinnen. Und die Alte ist überzeugt davon, daß sie eine Könnerin ist und ihren Gewinn der eigenen Fertigkeit verdankt". 70 Die häuslichen und die Kommerzspiele waren also von einer Aureole behaglichen Familienlebens und der Poesie unschuldiger Zerstreuungen umgeben. Die Glücksspiele jedoch wurden von einer „infernalischen" (Puschkin) oder „verbrecherischen" (Lermontow, Gogol u.a.) Atmosphäre beherrscht. Dieser Hintergrund bestimmt inbesondere die Erzählung „Zwei Husaren" von L. Tolstoi. Bereits im Titel der Erzählung hebt der Autor die Antithese zweier Charaktere und zweier Epochen hervor. Der Held des ersten Teils, der Husar Turbin, zu dessen Vorbild ein Verwandter, der „Amerikaner" Tolstoi, diente, vereinigt in sich gleichsam jene Züge der Epoche, die sie, nach Denis Dawydow, zum Jahrhundert der Helden werden ließen: „In den Jahren nach 1800, zu einer Zeit, als es weder Eisenbahnen und Chausseen noch Gasbeleuchtung und Stearinkerzen, noch niedrige Sofas auf Sprungfedern und unlackierte Möbel gab; als man noch keine enttäuschten Jünglinge mit Monokel, keine liberalisierenden und philosophierenden Frauen und auch nicht jene reizenden Kameliendamen kannte, die man neuerdings so häufig antrifft; zu jener naiven Zeit, als man bei Antritt einer Reise von Moskau nach Petersburg in der Kalesche oder im Reisewagen eine ganze Ladung häuslicher Küchenerzeugnisse mitnahm, dann achtmal vierundzwanzig Stunden über staubige oder in Schlamm aufgelöste Wege fuhr und auf Posharskikoteletts, Waldaier Glöckchen und Kringel schwor, als man an langen Herbstabenden Talglichte anzündete, die einem Familienkreis von zwanzig oder dreißig Personen als Beleuchtung dienten, und bei Bällen Wachsoder Spermazetkerzen in die Kandelaber steckte; als die Möbel symmetrisch aufgestellt wurden und unsere Väter noch jung waren, was sich nicht nur darin äußerte, daß sie keine Runzeln im Gesicht und keine grauen Haare hatten, sondern daß sie sich auch um einer Frau willen duellierten und aus der gegenüberliegenden Zimmerecke herbeistürzten, um ein zufällig oder auch
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nicht ganz zufällig fallen gelassenes Taschentüchlein aufzuheben; als unsere Mütter kurze Taillen und mächtige Ärmel trugen und Familienangelegenheiten mit Hilfe kleiner Losröllchen entschieden und als die reizenden Kameliendamen noch das Tageslicht scheuten - in jener naiven Zeit der Freimaurerlogen, Martinisten und des Tugendbundes, zu Lebzeiten der Miloradowitschs, Dawydows und Puschkins..." Unter der Feder Tolstois wird das Kartenspiel in den Händen des älteren Turbin gewissermaßen zum Fokus der poetischen Züge der Epoche. Turbin, ein „anziehender, skrupelloser T y p " und Moskauer Robin Hood in Husarenuniform, schwingt sich zum Beschützer des von einem Falschspieler übervorteilten jungen Offiziers Iljin auf. „Er ist ein ganz verwegener Draufgänger, muß man wissen", heißt es von ihm, „ein Kartenspieler und Duellant, ein Verführer; aber eine echte Husarenseele". Nachdem er gesehen hat, daß der Falschspieler, der Iljin zum Spiel überredet hatte, diesem das Regimentsgeld abgeknöpft und ihn damit an den Rand des Selbstmords gebracht hat, stürmte Turbin in das Hotelzimmer des Falschspielers Luchnow, der gerade seinen Gewinn überzählt, und zwischen ihnen spielte sich die folgende Szene ab: „ ,Ich möchte mit Ihnen eine Partie spielen', sagte Turbin und setzte sich auf den Diwan. Jetzt?' Ja!' ,Ein andermal wird es mir ein Vergnügen sein, Herr Graf, aber jetzt bin ich müde und will schlafen. Trinken Sie ein Glas Wein? Er ist gut.' ,Aber ich möchte gerade jetzt ein Weilchen spielen.' ,Ich bin nicht aufgelegt, heute noch zu spielen...' ,Sie wollen also nicht?' Luchnow gab durch eine Schulterbewegung zu verstehen, daß er bedaure, den Wunsch des Grafen nicht erfüllen zu können. ,Unter keinen Umständen?' Die gleiche Schulterbewegung... .Werden Sie spielen?' schrie der Graf mit lauter Stimme... ,Werden Sie nun spielen? Ich frage Sie zum drittenmal.' ... Es folgte ein kurzes Schweigen. Das Gesicht des Grafen wurde zusehends blasser. Plötzlich sauste ein wuchtiger Schlag auf den Kopf Luchnows nieder. Er fiel auf den Diwan, wobei er versuchte, das Geld zusammenzuraffen... Turbin nahm die noch auf dem Tisch liegenden Scheine an sich...und verließ mit schnellen Schritten das Zimmer. ,Wenn Sie Genugtuung wünschen, stehe ich zu Ihrer Verfügung'". Der zweite Teil der Tolstoischen Erzählung stellt das Hasardspiel und damit das skrupellose Verhalten des Vaters Turbins der Vernunft und der Rechtschaffenheit des Sohnes gegenüber. Letzteres findet seine Verkörperung in den Episoden des Kartenspiels. Der rechtschaffene und überaus gebildete jüngere Turbin ist zu vorsichtig, um sich auf Hasardspiele einzulassen. Man
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beginnt Preference zu spielen, und der junge Turbin schlägt eine „sehr amüsante", aber den alten Provinzlern unbekannte Variante des Preference vor. Sein Spiel kennt weder die Leidenschaftlichkeit noch das wilde Herz des alten Turbin, dafür ist es von kaltem Egoismus geprägt. Er bemerkt weder die Fassungslosigkeit der Alten, die ihn so gastfreundlich aufgenommen und so romantisch von seinem Vater geschwärmt hatten, noch die Zeichen, die ihm ein anderer Offizier macht, der ihn auf die Verlegenheit der Gastgeberin aufmerksam machen will. „Der Graf, der an hohe Einsätze gewöhnt war, spielte bedächtig und kalkulierte sehr genau". Der Stutzer aus der Hauptstadt gewinnt bei der Alten, die die von ihm neu eingeführten Regeln des Spiels nicht versteht. Tolstoi gibt der Sache eine völlig unerwartete Wendung. Der junge Grafensohn unternimmt nichts, was zu verurteilen wäre. Er gewinnt eine für ihn völlig unbedeutende Summe. Anna Fjodorowna jedoch erscheint die verlorene Summe gewaltig: „Vermutlich hatte sie das Gefühl, Millionen verloren zu haben und restlos ruiniert zu sein". Der junge Turbin hat niemanden ruiniert. Aber in seinem Verhalten tritt zutage, was Tolstoi paradoxerweise zusammen mit Herzlosigkeit in eine Waagschale wirft, die Gleichgültigkeit einem anderen Menschen gegenüber. Das Hasardspiel wird zur Verkörperung sowohl der verbrecherischen als auch der poetischen Züge der zu Ende gehenden Epoche, und das Kommerzspiel zur herzlosen Kalkulation des heraufziehenden „ehernen Jahrhunderts". Erscheinen die Karten gewissermaßen als Synonym des Duells, ist die Parade ihr Antonym im öffentlichen Leben. In dieser Gegenüberstellung wird das ,Duell' des Zufalls mit der Gesetzmäßigkeit deutlich, des staatlichen Imperativs mit der persönlichen Willkür. Es sind die beiden Pole, die die Grenzen des adligen Alltags jener Epoche umreißen.
DAS D U E L L
Das Duell ist ein nach bestimmten Regeln ausgetragener Zweikampf, der die Wiederherstellung der Ehre des Beleidigten und die Auslöschung des diesem durch die Beleidigung zugefügten Makels zum Ziel hat. Somit kommt dem Duell auch eine sozial bestimmte Rolle zu. Als ein festgelegter Vorgang zur Wiederherstellung der Ehre läßt sich das Duell nur von dem besonderen Ehrbegriff her verstehen, der im allgemeinen ethischen System der europäisierten, adligen Gesellschaft der nachpetrinischen Ära verankert war. Natürlich verlor das Duell von der Position desjenigen aus, der diesen Ehrbegriff prinzipiell ablehnte, jeden Sinn und wurde von ihm als ritualisierter Mord empfunden. Der russische Adlige lebte und handelte unter dem Einfluß zweier gegensätzlicher Regulatoren des gesellschaftlichen Lebens. Als Untertan, als Staatsdiener war er dem Gesetz unterworfen. Psychologisches Stimulans dieser Unterwerfung war die Angst vor Strafe. Gleichzeitig jedoch ordnete
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beginnt Preference zu spielen, und der junge Turbin schlägt eine „sehr amüsante", aber den alten Provinzlern unbekannte Variante des Preference vor. Sein Spiel kennt weder die Leidenschaftlichkeit noch das wilde Herz des alten Turbin, dafür ist es von kaltem Egoismus geprägt. Er bemerkt weder die Fassungslosigkeit der Alten, die ihn so gastfreundlich aufgenommen und so romantisch von seinem Vater geschwärmt hatten, noch die Zeichen, die ihm ein anderer Offizier macht, der ihn auf die Verlegenheit der Gastgeberin aufmerksam machen will. „Der Graf, der an hohe Einsätze gewöhnt war, spielte bedächtig und kalkulierte sehr genau". Der Stutzer aus der Hauptstadt gewinnt bei der Alten, die die von ihm neu eingeführten Regeln des Spiels nicht versteht. Tolstoi gibt der Sache eine völlig unerwartete Wendung. Der junge Grafensohn unternimmt nichts, was zu verurteilen wäre. Er gewinnt eine für ihn völlig unbedeutende Summe. Anna Fjodorowna jedoch erscheint die verlorene Summe gewaltig: „Vermutlich hatte sie das Gefühl, Millionen verloren zu haben und restlos ruiniert zu sein". Der junge Turbin hat niemanden ruiniert. Aber in seinem Verhalten tritt zutage, was Tolstoi paradoxerweise zusammen mit Herzlosigkeit in eine Waagschale wirft, die Gleichgültigkeit einem anderen Menschen gegenüber. Das Hasardspiel wird zur Verkörperung sowohl der verbrecherischen als auch der poetischen Züge der zu Ende gehenden Epoche, und das Kommerzspiel zur herzlosen Kalkulation des heraufziehenden „ehernen Jahrhunderts". Erscheinen die Karten gewissermaßen als Synonym des Duells, ist die Parade ihr Antonym im öffentlichen Leben. In dieser Gegenüberstellung wird das ,Duell' des Zufalls mit der Gesetzmäßigkeit deutlich, des staatlichen Imperativs mit der persönlichen Willkür. Es sind die beiden Pole, die die Grenzen des adligen Alltags jener Epoche umreißen.
DAS D U E L L
Das Duell ist ein nach bestimmten Regeln ausgetragener Zweikampf, der die Wiederherstellung der Ehre des Beleidigten und die Auslöschung des diesem durch die Beleidigung zugefügten Makels zum Ziel hat. Somit kommt dem Duell auch eine sozial bestimmte Rolle zu. Als ein festgelegter Vorgang zur Wiederherstellung der Ehre läßt sich das Duell nur von dem besonderen Ehrbegriff her verstehen, der im allgemeinen ethischen System der europäisierten, adligen Gesellschaft der nachpetrinischen Ära verankert war. Natürlich verlor das Duell von der Position desjenigen aus, der diesen Ehrbegriff prinzipiell ablehnte, jeden Sinn und wurde von ihm als ritualisierter Mord empfunden. Der russische Adlige lebte und handelte unter dem Einfluß zweier gegensätzlicher Regulatoren des gesellschaftlichen Lebens. Als Untertan, als Staatsdiener war er dem Gesetz unterworfen. Psychologisches Stimulans dieser Unterwerfung war die Angst vor Strafe. Gleichzeitig jedoch ordnete
Das Duell
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er sich als Adliger und Angehöriger eines Standes, der eine sozial herrschende Korporation und eine kulturelle Elite darstellte, den Gesetzen der Ehre unter. Hier nun bildete das Schamgefühl das psychologische Stimulans der Unterordnung. Das Ideal, das die Adelskultur sich geschaffen hatte, verstand darunter das völlige Uberwinden von Angst und die Bekräftigung der Ehre als einen grundsätzlichen Verhaltensfaktor mit geradezu gesetzlicher Kraft. In diesem Sinne gewannen Handlungen, die Unerschrockenheit demonstrieren, an Bedeutung. So verwandelte sich, während beispielsweise der Staat Peters I. das Verhalten des Adligen im Krieg unter dem Aspekt der Nützlichkeit für den Staat, und seinen Wagemut als Mittel zum Zweck betrachtete, dieser Wagemut vom Standpunkt der Ehre aus in einen Selbstzweck. In dieser Hinsicht erlebte die Ethik des mittelalterlichen Rittertums eine gewisse Restauration. Von einem ähnlichen Standpunkt aus gesehen, wurde das Verhalten des Ritters nicht an Sieg oder Niederlage gemessen, sondern stellte einen sich selbst genügenden Wert dar - so etwa im „Lied von Igors Heerzug" und in „Dewgenijews Taten". Besonders krass äußerte sich das bezüglich des Duells. Die Gefahr, die Todesnähe von Angesicht zu Angesicht wurden für den Menschen zu reinigenden, die Beleidigung auslöschenden Mitteln. Der Beleidigte selbst hatte zu entscheiden, ob die ihm zugefügte Schmach oder die Verletzung seiner Ehre so geringfügig war, daß als Satisfaktion eine bloße Demonstration seiner Furchtlosigkeit, seiner Bereitschaft zum Kampf, ausreicht. Eine Versöhnung noch nach der Forderung und ihrer Annahme war möglich, denn indem er die Forderung annahm, zeigte der Beleidiger, daß er den Gegner als ihm gleichgestellt betrachtete und stellte damit folglich dessen Ehre wieder her. Als ausreichend konnte in solch einem Fall auch eine symbolische Kampfhandlung gelten, ein Austausch von Schüssen oder Degenstößen, die nicht das Ziel hatte, den einen oder den anderen zu verwunden. War die Beleidigung jedoch ernsthafterer Natur und konnte sie nur mit Blut abgewaschen werden, endete das Duell mit der ersten Verwundung. Wer dabei verwundet wurde, spielte keine Rolle, denn die Ehre wurde nicht durch Vergeltung oder dadurch wiederhergestellt, daß man den Beleidiger verletzte, sondern durch Blutvergießen, wobei es sich durchaus auch um das eigene Blut handeln konnte. Und schließlich konnte der Beleidigte die Beleidigung auch als eine tödliche qualifizieren, die den Tod eines der beiden Duellanten erforderte. Dabei ist es wesentlich, daß die Bewertung des Ausmaßes der Beleidigung, ob es sich also um eine unbedeutende, blutige oder tödliche handelte, in eine Beziehung zum sozialen Milieu gebracht wurde, zum Beispiel zum Prestige eines Regiments. Wer allzu rasch auf eine Versöhnung einging, konnte als Feigling angesehen werden, und wer ungerechtfertigt auf Blutvergießen aus war, als Kampfhahn. Als Institution der korporativen Ehre erfuhr das Duell Widerspruch von zwei Seiten. Zum einen verhielt sich die Regierung den Zweikämpfen gegenüber gleichbleibend ablehnend. Zum „Patent über die Zweikämpfe und das Entstehen von Streitigkeiten" wurde im 49. Kapitel des petrinischen
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„Militärstatuts" (1716) angeordnet: „Geschieht es, daß zwei zu einem bestimmten Ort hinausgehen und einer gegen den anderen die Degen blankzieht, so befehlen wir, solche, auch wenn niemand von diesen verletzt oder getötet werden sollte, sowie auch die Sekundanten und Zeugen, die man als solche beweist, ohne jegliche Gnade mit dem Tode zu bestrafen und ihr Hab und Gut zu beschlagnahmen ... Beginnen sie aber gegeneinander zu kämpfen und werden in diesem Kampf getötet oder verletzt, sollen sie sowohl lebendig als auch tot aufgehängt werden". 71 K. A. Sofronenko vertritt die Auffassung, daß dieses „Patent" „gegen die alte feudale Aristokratie gerichtet" 72 war. Im gleichen Sinne äußerte sich auch N. L. Brodski, der meinte, daß „das Duell ein von der feudal-ritterlichen Gesellschaft geschaffener Brauch blutiger und gewalttätiger Vergeltung ist, und sich als solcher in den adligen Kreisen erhalten hat". 73 In Rußland jedoch war das Duell kein Relikt, weil im Alltag der„alten feudalen Aristokratie" nichts Analoges existiert hatte. Als Beweis dafür, daß der Zweikampf eine Novität war, kann uns ein unmißverständlicher Hinweis Katharinas II. gelten: „Voreingenommenheiten, die nicht von den Vorfahren auf uns gekommen sind, sondern übernommen oder hereingetragen wurden, sind fremde" („Urkunde" vom 21. April 1787; man vergleiche: „Verordnung", Artikel 482). Anzumerken ist auch eine Äußerung Nikolais I.: „Ich hasse Duelle, das ist Barbarei; meiner Meinung nach gibt es in ihnen nichts Ritterliches". 74 Auf die Gründe für das ablehnende Verhalten der autokratischen Macht dem Brauch des Duells gegenüber wies bereits Montesquieu hin: „Die Ehre kann nicht das Prinzip despotischer Staaten sein: dort sind alle Menschen gleich und können deshalb nicht einer über den anderen erhoben werden; dort sind alle Menschen Sklaven und können sich deshalb über nichts erheben... kann ein Despot die Ehre in seinem Staat dulden? Sie bezieht ihren Ruhm aus der Verachtung des Lebens, und die ganze Macht des Despoten besteht nur darin, daß er das Leben nehmen kann. Wie könnte sie selber den Despoten dulden?".75 Selbstverständlich wurden die Duelle in der offiziellen Literatur als Ausdruck der Freiheitsliebe verfolgt, als „das wiedergeborene Übel der Dünkelhaftigkeit und der Freigeisterei dieses Jahrhunderts". Andererseits wurde das Duell auch von den demokratischen Denkern kritisiert, die in ihm den Ausdruck eines Standesvorurteils des Adels sahen und die, sich auf die Vernunft und die Natur berufend, die Ehre des Adels der menschlichen Ehre gegenüberstellten. Von dieser Position aus wurde das Duell zum Objekt aufklärerischer Satire und Kritiken gemacht. Radistschew schrieb in seiner „Reise von Petersburg nach Moskau": „Sie *
So wurde das Duell in der anonymen Broschüre „Geschenk an die Menschheit oder
Arznei gegen die Z w e i k ä m p f e " bewertet. (Sankt Petersburg, 1826, S. 1) Das V o r w o r t ist unterzeichnet mit „ein R u s s e " .
Das
Duell
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haben einen klaren Verstand, und Sie werden es nicht als Beleidigung ansehen, wenn ein Esel nach Ihnen ausschlägt oder ein Schwein Sie mit seinem unreinen Rüssel stößt". „Es pflegte manchmal so zu sein, daß, wenn irgendwer irgendeinen anderen versehentlich nur ein bißchen mit dem Degen oder dem Hut anstieß, nur ein Härchen berührte oder das Tuch auf der Schulter nur ein wenig verschob, sofort eine herzliche Einladung vor die Barrieren erfolgte... Gibt einer seiner schmerzenden Zähne wegen nur eine halblaute Antwort, oder redet ein Verschnupfter etwas durch die Nase, auf nichts wird Rücksicht genommen...Man hat den Degen zu erwarten, bis zum Griff! ... Oder war einer taub oder kurzsichtig, und - Gott behüte! - er erwiderte nichts oder übersah eine Verbeugung, stand es um ihn schlecht. Sofort war der Degen zur Hand, der Hut auf dem Kopf, und es gab eins drauf!"76 Eine solche Haltung findet sich auch in der Fabel „Der Zweikampf" von A. E. Ismailow. Wir wissen von dem negativen Verhältnis A. Suworows zum Duell. Und auch die Freimaurer lehnten das Duell ab.77 So trat im Duell einerseits die engbegrenzte Standesidee einer Verteidigung der korporativen Ehre in den Vordergrund und andererseits, ungeachtet der archaischen Form, die allgemeinmenschliche Idee der Verteidigung der menschlichen Würde. Was den Zweikampf betraf, stand der Höfling W . D . Nowosilzew, Liebling des Kaisers, Aristokrat und Flügeladjutant, mit dem mittellosen, aus dem Provinzadel stammenden Leutnant des Semjonower Regiments W. P. Tschernow auf einer Stufe. In diesem Zusammenhang war auch das Verhältnis der Dekabristen zum Zweikampf zwiespältig. Während sie in der Theorie die ablehnenden Äußerungen der aufklärerischen Duell-Kritik akzeptierten, nahmen sie in der Praxis das Recht auf den Zweikampf für sich weitgehend in Anspruch. So tötete E.P. Obolenski einen gewissen Swinin 78 im Duell, und auch K . F . Rylejew forderte mehrmals verschiedene Personen und trat gegen einige an; und A. I. Jakubowitsch galt als geradezu duellwütig. Ein lebhaftes Echo rief das Duell zwischen Nowosilzew und Tschernow hervor, das dadurch den Charakter einer politischen Kollision erhielt, daß es zwischen einem Mitglied der Geheimen Gesellschaft, das die Ehre seiner Schwester verteidigte, und einem Aristokraten, der auf die menschliche Würde der einfachen Leute spie, stattfand. Beide Duellanten starben einige Tage später an den erlittenen Verwundungen. Die Nördliche Gesellschaft ließ das Begräbnis Tschernows zu der für Rußland ersten ,Demonstration' in den Straßen werden. Der Begriff des Duells als Mittel zur Verteidigung seiner menschlichen Würde war auch Puschkin nicht fremd. Während seiner Zeit in Kishinew befand er sich in einer sein Ehrgefühl verletzenden Situation als ziviler junger Staatsbeamter inmitten von Leuten in Offiziersuniformen, die im Krieg ihren Mut bereits unter Beweis gestellt hatten. Nur so erklärt sich seine in
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dieser Zeit übersteigerte Eitelkeit in Fragen der Ehre und sein beinahe duellwütiges Verhalten. Die Kishinewer Periode, in der es zahlreiche Duellforderungen Puschkins gab, haben viele seiner Zeitgenossen in ihren Erinnerungen beschrieben. ' Ein charakteristisches Beispiel ist sein Duell mit dem Oberstleutnant S. N. Starow, über das W. P. Gortschakow in seinen Erinnerungen berichtete. Zum Grund für das Duell wurde ein herausforderndes Verhalten Puschkins während eines Balls der Offiziere, als er entgegen dem Verlangen der anderen einen Tanz nach seiner Wahl bestellte. Bezeichnend ist, daß die Forderung dem Dichter nicht von einem der jungen Offiziere, die unmittelbar an der Auseinandersetzung teilhatten, überbracht wurde, sondern - in ihrem Namen - von dem ebenfalls bei dem Streit anwesenden Kommandeur des 33. Jägerregiments, S. Starow. Starow war 19 Jahre älter als Puschkin und hatte einen entschieden höheren Rang als dieser. Eine derartige Forderung widersprach dem Anspruch auf eine Gleichheit der Gegner und war eine deutliche Zurechtweisung des zivilen Jünglings. Möglicherweise wurde angenommen, daß Puschkin vor diesem Duell zurückschrecken und sich öffentlich entschuldigen würde. Starow „ging auf Puschkin zu, der aber erst zu Ende tanzte. ,Sie haben meinem Offizier gegenüber eine Unhöflichkeit begangen', sagte S(taro)w und sah Puschkin fest an,,entweder Sie entschuldigen sich bei ihm oder Sie werden es mit mir persönlich zu tun bekommen.',Wofür soll ich mich entschuldigen, Oberst', antwortete Puschkin heftig, ,ich weiß es nicht. Was aber Sie betrifft, so stehe ich zu Ihrer Verfügung.' ,Also dann bis morgen, Alexander Sergejewitsch.' ,Sehr gut, Oberst.' Sie gaben einander die Hand und trennten sich ..." Als man an den Ort des Duells kam, behinderte ein heftiger Schneesturm das Zielen, die Gegner gaben jeder einen Schuß ab, und beide schössen daneben; noch einmal ein Schußwechsel, und wieder waren es Fehlschüsse. Darauf verlangten die Sekundanten mit Entschiedenheit, daß die Gegner, wenn sie das Duell nicht so beenden wollten, es wiederholen müßten, und sie versicherten, daß auch keine Munition mehr vorhanden sei. ,„Also dann bis zum nächsten Mal", sagten beide gleichzeitig. ,Auf Wiedersehen, Alexander Sergejewitsch.' ,Auf Wiedersehen, Oberst.'" Das Duell fand nach allen Regeln des Ehrenrituals statt: Zwischen den beiden Duellanten gab es keinerlei Animosität, und die Korrektheit in der Beachtung des Rituals nötigte im Verlauf des Duells beiden gegenseitigen Respekt ab. Das hin*
D i e Ursprünge dieses Verhaltens lassen sich bereits im Petersburg der J a h r e
1 8 1 8 - 1 8 2 0 nachweisen. Ernsthafte Zweikämpfe Puschkins während dieser Periode sind jedoch nicht bekannt. Das Duell mit K ü c h e l b e c k e r wurde von Puschkin nicht ernstgenommen. N a c h d e m Küchelbecker sich durch Puschkins Epigramm „Beim A b e n d b r o t hab ich mich überfressen..." (1819) beleidigt gefühlt hatte, hatte er diesen zum Duell gefordert. Puschkin hatte die Forderung angenommen, danach aber in die L u f t geschossen und sich mit dem Freund versöhnt. Die das Duell mit R y l e j e w betreffende Vermutung W . N a b o kows hingegen bleibt immer noch eine poetische H y p o t h e s e .
Das Duell
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derte sie jedoch nicht an der Entschlossenheit, zum zweiten Mal gegeneinander anzutreten und das Duell nach Möglichkeit zu wiederholen. „Nach einem Tag ... fand rasch die Versöhnung statt. ,Ich habe Sie stets geachtet, Oberst, aus diesem Grunde habe ich Ihre Forderung angenommen', sagte Puschkin. ,Und das haben Sie richtig gemacht, Alexander Sergejewitsch" antwortete S(taro)w,,damit haben Sie meine Achtung für Sie nur noch vergrößert, und ich muß Ihnen gerechterweise sagen, daß Sie sich den Kugeln ebensogut gestellt haben, wie Sie schreiben.' Diese Worte aufrichtiger Anerkennung berührten Puschkin, und er warf sich S(taro)w an die Brust und umarmte ihn". Das korrekte Einhalten des Ehrenrituals hatte den jungen Zivilbeamten und den kampferprobten Oberst gleichgestellt, ihnen das gleiche Anrecht auf allgemeine Hochachtung gegeben. Der rituelle Zyklus hatte sich mit der demonstrativen Bereitschaft Puschkins, sich dem Duell zu stellen und die Ehre Starows zu respektieren, geschlossen: „Etwa zwei Tage nach der Versöhnung wurde über sein Duell mit S(taro)w geredet. Man pries Puschkin und tadelte S(taro)w. Puschkin war aufgebracht, er warf das Billardqueue hin und ging rasch auf die jungen Leute zu.,Meine Herrschaften', sagte er, ,wie wir mit S(taro)w zu Ende gekommen sind, ist unsere Angelegenheit, aber ich versichere Ihnen, wenn Sie sich erlauben, S(taro)w, den ich hoch achte, zu tadeln, werde ich das als persönliche Beleidigung auffassen, und jeder von Ihnen wird mir in der geziemenden Weise zu antworten haben.' "79 Diese Episode und ihre rituelle ,Klassizität' fanden bei den Zeitgenossen große Aufmerksamkeit und wurden in der Öffentlichkeit ausgiebig diskutiert. 80 Puschkin verlieh dieser Episode eine künstlerische Vollendung und beendete den Austausch von Schüssen mit einem gereimten Epigramm: Ich bin am Leben. Starow wohlauf. Das Duell nimmt seinen Lauf. Es ist bezeichnend, daß gerade diese Episode im folkloristischen Gedächtnis der Zeitgenossen eine vollendete Formel fand: Dank sei dem Himmel gewährt, Der Oberst Starow ist unversehrt. Das Bild des Dichters, der während des Duells Verse verfaßt, ist eine Variante der Duell-Legende, die gewissermaßen als Gipfelpunkt des großartigen Verhaltens an der Barriere die sorglose Versunkenheit in eine Nebenbeschäftigung poetisiert. In der Erzählung „ Der Schuß" ißt der Graf B.xxx an der Barriere süße Kirschen, und in dem Stück „Cyrano de Bergerac" von E. Rostand verfaßt der Held während des Duells ein Gedicht. Das gleiche demonstrierte auch Puschkin während des Duells mit Starow.
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Es war vielleicht dieses ständig duellbereite Verhalten Puschkins, Mittel der sozialen Selbstverteidigung und der Bestätigung seiner Gleichstellung in der Gesellschaft, das in diesen Jahren seine Aufmerksamkeit auf den französischen Dichter des 17. Jahrhunderts, Voiture, lenkte, der ebenfalls seine Ebenbürtigkeit mit der aristokratischen Gesellschaft durch Draufgängertum zu beweisen versucht hatte. Uber die Leidenschaft dieses Poeten für Zweikämpfe schrieb Tallemant des Reaux: „Nicht jeder Mutige kann so viele Zweikämpfe verzeichnen wie unser Held, denn er stellte sich mindestens viermal einem Duell, am Tag und in der Nacht, im Sonnenlicht, beim Mondschein und im Licht von Fackeln". 8 1 Puschkins Verhältnis zum Duell war widersprüchlich: als Erbe der Aufklärer sah er im Duell einen Ausdruck „selbstherrlicher Feindseligkeit", die „unbändig ... die falsche Scham fürchtet". Im „Eugen Onegin" propagiert Sarezki, ein Mensch von zweifelhafter Aufrichtigkeit, den Duell-Kult. Gleichzeitig aber ist das Duell ein Mittel zur Verteidigung der Würde eines beleidigten Menschen. Es stellt den geheimnisumwitterten, mittellosen Silvio in eine Reihe mit dem Liebling des Schicksals, Graf B. xxx . Das Duell ist ein Vorurteil, aber die Ehre, die sich gezwungen sieht, sich der Hilfe des Duells zu versichern, ist es nicht. Es war gerade die Doppeldeutigkeit des Duells, die das Vorhandensein eines strengen und genau eingehaltenen Rituals erforderte. Nur die exakte Befolgung der festgelegten Regeln unterschied den Zweikampf vom T o t schlag. Aber die Notwendigkeit dieser exakten Befolgung der Regeln geriet in Widerspruch zu der Tatsache, daß es in Rußland kein streng kodifiziertes Duell-System gab. Angesichts des Verbotes gab es keine Druckerzeugnisse, in denen ein Duell-Kodex hätte festgelegt werden können, und es gab auch keine juristische Institution, die bevollmächtigt gewesen wäre, sich der Regeln des Zweikampfs anzunehmen. Natürlich konnte man die französischen Kodizes verwenden, aber die dort dargelegten Regeln stimmten mit der russischen Duell-Tradition nicht ganz überein. So wurde das strenge Einhalten der Regeln durch die Autorität von erfahrenen Kennern der Materie erreicht, lebendigen Traditionsbewahrern und Schiedsrichtern in Fragen der Ehre. Eine derartige Rolle nimmt im „Eugen Onegin" Sarezki ein.
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In früheren Arbeiten über „Eugen O n e g i n " habe ich mich polemisch über das Pusch-
k i n - B u c h von Boris Iwanow (möglicherweise ein Pseudonym; der wahre Familienname des Autors, sowie irgendwelche Angaben über ihn sind mir nicht bekannt) geäußert. Siehe: L o t m a n , J . : „Die W e i t e des freien R o m a n s " . Moskau, 1959. D e n K e r n meiner kritischen Bemerkungen über das Vorhaben dieses Buches beibehaltend, halte ich es für meine Pflicht, hre Einseitigkeit festzustellen. Ich sollte hinzufügen, daß der A u t o r über gute Kenntnisse des Alltags der Puschkinschen E p o c h e verfügt und das im allgemeinen merkwürdige V o r haben mit einer Reihe von interessanten B e o b a c h t u n g e n , die von umfassender Kenntnis zeugen, vereinigt hat. D i e Schärfe meiner Äußerungen, die ich heute bedaure, wurde von der L o g i k der Polemik diktiert.
Das Duell
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D a s Duell begann mit der Forderung. In der Regel ging ihr eine Auseinandersetzung voran, als deren Ergebnis sich eine der beiden Seiten für beleidigt hielt und Genugtuung (Satisfaktion) verlangte. Von diesem M o ment an durften die Gegner in keinerlei Kontakt mehr zueinander treten; das übernahmen ihre Vertreter, die Sekundanten. N a c h d e m der Beleidigte einen Sekundanten gewählt hatte, besprach er mit diesem die Schwere der ihm zugefügten Beleidigung, wovon auch der Charakter des bevorstehenden Duells abhing, v o m formalen Schußwechsel bis hin z u m T o d eines der beiden Kontrahenten. D e r Sekundant sollte als Vermittler zwischen den Gegnern sein größtes Bemühen vor allem auf die Versöhnung richten. E s gehörte zur Pflicht der Sekundanten, alle Möglichkeiten einer friedlichen L ö s u n g des Konflikts auszuloten und dabei die Rechte ihres ,Mandanten' zu wahren, ohne aber den Interessen seiner Ehre zu schaden. N o c h auf dem Kampfplatz sollten die Sekundanten einen letzten Versuch zur Versöhnung unternehmen. Außerdem hatten die Sekundanten die Bedingungen für das Duell auszuarbeiten. Die nirgends verlautbarten Regeln schrieben ihnen für diesen Fall vor, dafür zu sorgen, daß die erregten Gegner keine blutigeren K a m p f formen wählten, als von den strengen Anforderungen an die Ehre verlangt.' Erwies sich die Versöhnung als unmöglich, wie das zum Beispiel in dem Duell Puschkins mit d'Anthes der Fall war, legten die Sekundanten die Bedingungen schriftlich fest und überwachten während der ganzen Prozedur streng deren Einhaltung. So sahen beispielsweise die von den Sekundanten Puschkins und d'Anthes' festgelegten Bedingungen wie folgt aus (das Original ist auf Französisch): „1. Die Gegner stellen sich in einer Entfernung von zwanzig Schritten einander gegenüber auf, fünf Schritte (für jeden) von den Barrieren, die Entfernung zwischen diesen beträgt zehn Schritte. 2. Nach dem gegebenen Zeichen gehen die mit Pistolen bewaffneten Gegner aufeinander zu, überschreiten aber auf keinen Fall die Barriere, und dürfen schießen. 3. Außerdem wird festgelegt, daß die Gegner nach dem Schuß den Standort nicht wechseln dürfen, damit der Gegner, der als erster geschossen hat, dem Feuer seines Kontrahenten auf die gleiche Entfernung ausgesetzt ist. 4. Haben beide Seiten je einen Schuß abgefeuert, wird der Zweikampf im Falle der Ergebnislosigkeit fortgesetzt, als geschehe es zum ersten Mal: Die Gegner stellen sich in der gleichen Entfernung von zwanzig Schritten wieder einander gegenüber auf, die Barrieren bleiben unverändert, ebenso die Regeln.
* N a c h anderen Regeln konnte, wenn einer der Teilnehmer geschossen hatte, der zweite seine Bewegung fortsetzen und den Gegner auch an die Barriere fordern. Das wurde von den duellbesessenen Kampfhähnen praktiziert.
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5. Die Sekundanten sind auf dem Kampfplatz die unabdingbaren Vermittler für jede Erklärung zwischen den Gegnern. 6. Als Unterzeichner und Bevollmächtigte gewährleisten die Sekundanten, jeder für seine Seite, mit ihrer Ehre die strenge Einhaltung der hier niedergelegten Bedingungen."82 Die Bedingungen für das Duell zwischen Puschkin und d'Anthes waren von äußerster Härte geprägt, auf den T o d eines der Kontrahenten hin angelegt, aber auch die Bedingungen des Zweikampfes zwischen Onegin und Lenski sind, was uns verwundert, ebenfalls sehr hart, obwohl hier keine Gründe für eine tödliche Feindschaft vorliegen. D a Sarezki die Freunde auf 32 Schritte auseinanderführt, und die Barrieren sich vermutlich in einer ,noblen Entfernung' voneinander befinden, kann jeder 11 Schritte machen. Es ist jedoch nicht ausgeschlossen, daß Sarezki die Distanz zwischen den Barrieren auf weniger als 10 Schritte festlegte. Die Forderung, daß die Gegner sich nach dem ersten Schuß nicht mehr zu bewegen hätten, existierte vermutlich nicht, was sie zu der gefährlichsten Taktik greifen läßt: nicht im Gehen zu schießen, sondern rasch auf die Barriere zuzugehen und aus der nächstmöglichen Distanz auf den unbeweglichen Gegner zu zielen. Unter solchen Bedingungen waren gewöhnlich beide Duellanten die Opfer. Das traf auch für das Duell zwischen Nowosilzew und Tschernow zu. Die Forderung, daß die Gegner an der Stelle zu verharren hatten, an der sie der erste Schuß erreicht hatte, war die minimalste der möglichen Herabmilderungen. E s ist bezeichnend, daß, als Gribojedow sich mit Jakubowitsch schoß, er an der Stelle stehenblieb, an der ihn der Schuß traf, und, ohne auf die Barriere zuzugehen, schoß, obwohl eine entsprechende Festlegung in den Bedingungen fehlte. Im „Eugen Onegin" ist Sarezki der einzige Überwacher des Duells, und deshalb ist um so erwähnenswerter, daß ihm, „dem Klassiker und Pedanten in Duellangelegenheiten", beachtliche Fehler unterlaufen, genauer, er unterläßt alles, was den blutigen Ausgang verhindern könnte. Schon bei seinem ersten Besuch bei Onegin, beim Uberbringen der Forderung, hätte er unbedingt die Möglichkeiten einer Versöhnung erörtern müssen. Ebenso wäre es seine Pflicht gewesen, vor Beginn des Zweikampfes noch einen Versuch zu unternehmen, die Angelegenheit auf friedliche Weise aus der Welt zu schaffen, zumal keine nur mit Blut abzuwaschende Beleidigung ausgesprochen worden ist und allen, außer dem achtzehnjährigen Lenski, klar ist, daß es sich bei der ganzen Sache nur um ein Mißverständnis handelt. Statt dessen „erhob er sich ohne eine Erklärung..., da zu Hause viele Angelegenheiten auf ihn warteten". Sarezki hätte das Duell auch noch zu einem anderen Zeitpunkt aufhalten können, denn das Erscheinen Onegins mit einem Diener statt mit einem Sekundanten ist eine direkte Beleidigung für ihn. Die Sekundenten wie auch die Gegner hatten sozial gleichgestellt Mit diesem Ausdruck ist die Nichtbereitschaft zur Fortsetzung des Gesprächs erklärt.
Das Duell
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zu sein; Guillot ist Franzose und ein freiwillig in den Dienst getretener Diener; formell kann er als Sekundant nicht abgelehnt werden, obwohl sein Auftreten in dieser Rolle, wie auch die Begründung, daß er wenigstens ein „ehrlicher Bursche" sei, eine unzweideutige Beleidigung für Sarezki darstellt. Gleichzeitig handelt es sich um eine grobe Verletzung der Zweikampfregeln, da die Sekundanten am Vorabend des Duells ohne die Gegner zusammentreffen und die Regeln festzulegen hatten. Schließlich hat Sarezki durchaus Grund, das blutige Geschehen nicht zuzulassen; er brauchte nur zu erklären, daß Onegin nicht erschienen ist. „Seinen Gegner auf dem Kampfplatz warten zu lassen, ist äußerst unhöflich. Der Zuerstgekommene soll eine Viertelstunde lang auf seinen Gegner warten. Nachdem diese Frist verstrichen ist, hat der Zuerstgekommene das Recht, den Ort des Zweikampfes zu verlassen. Seine Sekundanten müssen ein Protokoll verfertigen, das das Nichterscheinen des Gegners bezeugt". 83 Onegin verspätete sich um mehr als eine Stunde/ Somit erwies sich Sarezki nicht nur nicht als Verfechter der peniblen Kunst des Duells, sondern als eine Person, die an einem skandalträchtigen und aufsehenerregenden, einem in diesem Falle blutigen Ausgang interessiert ist. Nehmen wir ein Beispiel aus dem Bereich der ,Duell-Klassik': Im Jahre 1766 schlug sich anläßlich eines Duells in Warschau Casanova mit dem Liebling des polnischen Königs, Branizki, der in Begleitung eines glanzvollen Gefolges auf dem Feld der Ehre erschien. Casanova jedoch, der Ausländer und Reisende, hätte als Zeugen nur einen von seinen Dienern mitbringen können. Er verzichtete aber darauf, da das als absichtliche und unmögliche, seinen Gegner und dessen Sekundanten beleidigende Handlung aufgefaßt worden und wenig schmeichelhaft für ihn selbst gewesen wäre. Ein Sekundant von zweifelhaftem Ansehen hätte einen Schatten auf seine eigene Untadeligkeit als Mensch von Ehre werfen können. Er schlug deshalb vor, der Gegner möge ihm einen Sekundanten aus seinem aristokratischen Gefolge stellen. Casanova ging das Risiko ein, einen Feind als Sekundanten zu haben, war aber nicht bereit, einen Lohndiener zu rufen und diesen damit zum Zeugen einer Ehrenangelegenheit zu machen.84 Interessanterweise ergab sich eine ähnliche Situation bei dem tragischen Duell zwischen Puschkin und d'Anthes. Nachdem sich bei der Suche nach Sekundanten" Schwierigkeiten ergeben hatten, schrieb Puschkin am Mor* M a n vergleiche in „Ein H e l d unserer Zeit": ,„Wir warten schon lange auf Sie', sagte der D r a g o n e r h a u p t m a n n mit einem ironischen Lächeln. Ich zog die U h r heraus u n d wies sie ihm. Er entschuldigte sich u n d sagte, daß seine U h r vorgehe". D e r Sinn dieser Episode ergibt sich aus folgendem: D e r D r a g o n e r h a u p t m a n n , überzeugt davon, daß Petschorin „der erste Feigling" ist, beschuldigt ihn, das Duell d u r c h seine Verspätung z u m Scheitern bringen zu wollen. Die d u r c h staatliche Instanzen entdeckte Teilnahme an einem Duell, selbst als Sekundant, zog unweigerlich u n a n g e n e h m e Folgen nach sich. Für einen O f f i z i e r war das in der
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gen des 27. Januars 1837 an d'Archiac, daß er seinen Sekundanten „erst am Ort der Begegnung" beibringen könne, und weiter, indem er in einen Widerspruch mit sich selbst geriet, aber ganz im Geiste Onegins, bat er Heckeren, ihm einen Sekundanten zu wählen: „Ich akzeptiere ihn im voraus, und sei er auch livrierter Lakai" (XVI, 225 u. 410). Aber im Unterschied zu Sarezki lehnte d'Archiac eine solche Möglichkeit ab und erklärte, „die vor dem Zweikampf notwendige Begegnung der Sekundanten ist eine Bedingung, ein Verzicht darauf kommt einem Verzicht auf das Duell gleich". Das Treffen von d'Archiac und Dansas fand statt, und das Duell wurde formell möglich. Die Begegnung Sarezkis mit Guillot findet dagegen erst auf dem Kampfplatz statt, doch Sarezki bricht den Zweikampf nicht ab, obwohl er das tun könnte. Onegin und Sarezki verletzen beide die Regeln des Duells. Der erste, um seine erbitterte Verachtung der Angelegenheit gegenüber, in die er gegen seinen Willen geraten ist und an deren Ernst er noch immer nicht glaubt, zu demonstrieren, und Sarezki, weil er in dem Duell eine unterhaltsame, wenn auch blutige Geschichte sieht, einen Gegenstand für den Klatsch und die Wettlust. Das Verhalten Onegins bei dem Duell zeugt unwiderlegbar davon, daß sein Autor ihn als Mörder wider Willen verstanden haben wollte. Sowohl für Puschkin als auch für jene Leser des Romans, die mit dem Duell nicht vertraut waren, war es offensichtlich, daß derjenige, der den bedingungslosen Tod seines Gegners wünscht, nicht im Gehen, aus einer größeren Distanz und angesichts der seine Aufmerksamkeit ablenkenden Pistolenmündung schießt, sondern das Risiko eingeht, auf sich schießen zu lassen, um dann den Gegner an die Barriere zu fordern und ihn aus kürzester Entfernung zusammenschießen zu können. So haben w i r beispielsweise in dem Duell zwischen Sawadowski und Scheremetjew, das durch seine Rolle in der Biographie Gribojedows bekannt ist, einen klassischen Fall von einem duellbesessenen Verhalten: „Als sie sich von den äußersten Grenzen der Barrieren einander näherten, schritt Sawadowski, der ein ausgezeichneter Schütze war, geräuschlos und völlig ruhig. Ob es nun die Gelassenheit Sawadowskis oder einfach dessen Regel die Degradierung und die Verbannung in den Kaukasus; allerdings wurde er von der Obrigkeit begünstigt. Das führte bei der Auswahl der Sekundanten zu einigen Schwierigkeiten. Als eine Person, in deren Hände Ehre und Leben gelegt wurden, sollte der Sekundant zumindest ein naher Freund sein. Das aber widersprach der Abneigung, den Freund in eine unangenehme Geschichte hineinzuziehen und seine Karriere zu zerstören. A b e r auch der Sekundant befand sich in einer schwierigen Lage. Im Interesse der Freundschaft und der Ehre sah er sich gezwungen, die Einladung zur Teilnahme am Duell als ein schmeichelhaftes Zeichen des Vertrauens anzunehmen, doch das Interesse des Dienstes und der Karriere zwang ihn andererseits, darin eine gefährliche Bedrohung zu sehen, die seine Bewegungsfreiheit einschränken und ihm die persönliche Mißgunst des nachträgerischen Kaisers einbringen konnte.
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Ruchlosigkeit war, die Scheremetjew aufbrachte und seine Vernunft überwältigte, er hielt es nicht aus, wie man so sagt, und schoß auf Sawadowski, noch ohne die Barriere bereits erreicht zu haben. Die Kugel ging nahe an Sawadowski vorbei und riß nur, dicht am Hals, eine Kragenecke seines Gehrocks ab. Erst danach geriet Sawadowski verständlicherweise in Zorn. ,Ah', sagte er. ,11 en voulait à ma vie! A la barrière'. (Oho! Er will mir ans Leben! A n die Barriere!) Nun war nichts mehr zu machen. Scheremetjew ging auf die Barriere zu. Sawadowski schoß. Der Schuß war tödlich, er traf Scheremetjew in den Bauch!" 85
Um verständlich zu machen, welches Vergnügen ein Mensch vom Typ Sawadowskis dabei finden konnte, muß hinzugefügt werden, daß der bei diesem Duell anwesende Freund Puschkins, Kawerin, ein Mitglied des Wohlfahrtsbundes, mit dem Onegin sich im ersten Kapitel von „Eugen Onegin" beim Talon trifft, ein bekannter Zecher und Raufbold , nachdem er gesehen hatte, daß der verwundete Scheremetjew sich „einige Male zu erheben versuchte, dann niederfiel und in den Schnee rollte", auf ihn zu ging und sagte: „Was, Wasja? Rübchen?" Die Rübe ist beim Volk eine Delikatesse, und er verwendet den Ausdruck hier in ironischem Sinne: „Na, was denn? Schmeckt es? Ein guter Happen?"" Hier ist anzumerken, daß sich auf dem Kampfplatz häufig Publikum einfand, wie zu einer Vorstellung. Es gibt Gründe dafür anzunehmen, daß auch bei dem tragischen Duell Lermontows eine Menge neugieriger Zuschauer anwesend war und das Geschehen als extravagante Theatervorstellung empfand. Die Forderung nach dem Ausschluß derartiger Zeugen hatte ernsthafte Gründe, da diese die Protagonisten der Vorstellung, die so einen theatralischen Charakter annahm, zu noch blutigeren Handlungen animieren konnten, als das der Ehrenkodex erforderte. Gab jedoch ein erfahrener Schütze als erster einen Schuß ab, zeugte das davon, daß er in der Aufregung zufällig abgedrückt hatte. In dem bekannten Roman von Bulwer-Lytton findet sich die entsprechende Schilderung eines Duells, das nach allen Regeln des Dandytums durchgeführt wurde. Es schießen sich der englische Dandy Pelham und ein französischer Stutzer, beides erfahrene Duellanten: „Der Franzose und sein Sekundant warteten bereits auf uns... Ich bemerkte, daß der Gegner bleich und unruhig war - nicht vor Angst, sondern vor Wut, dachte ich... Ich starrte d'Asimar an und zielte. Seine Pistole ging eine Sekunde früher los, als er erwartete, - vermutlich zitterte seine Hand - die Kugel traf meinen Hut. Ich zielte genauer und verwundete ihn an der Schulter, gerade dort, w o ich es beabsichtigt hatte".
Es stellt sich jedoch die Frage: Warum aber schießt Onegin direkt auf Lenski und nicht vorbei? Zum einen wäre ein demonstrativer Schuß zur Seite eine erneute Beleidigung und würde keine Versöhnung bewirken. Zum anderen würde das Duell nach ergebnislosen Schüssen fortgesetzt,
Zweiter Teil
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und man würde das Leben des Gegners nur um den Preis des eigenen Todes oder einer eigenen Verwundung erhalten können, zumal die Legenden der öffentlichen Meinung den Mörder poetisierten und nicht den Getöteten." Und noch ein wesentlicher Umstand ist zu berücksichtigen. Das Duell mit seinem strengen Ritual, das eine vollkommene dramatische Handlung darstellte, eine Opfergabe um der Ehre willen, verfügte über ein festumrissenes Szenarium. Wie jedes strenge Ritual, nahm es den Teilnehmern jeden individuellen Willen. Dazu, das Duell aufzuhalten oder etwas darin zu verändern, war der einzelne Teilnehmer nicht imstande. In der Schilderung Bulwer-Lyttons gibt es die folgende Episode: „Als wir uns in Position stellten, kam Vincent (der Sekundant. - J. L.) zu mir und sagte leise: ,Erlauben Sie mir, um Gotteswillen, die Angelegenheit friedlich zu einem Ende zu bringen, wenn es nur irgendwie möglich ist!' ,Das steht nicht in unserer Macht', antwortete ich." Vergleichen wir in „Krieg und Frieden": ,„Also fangen wir an', sagte Dolochow. ,Gut', erwiderte Pierre, der noch immer lächelte. Jetzt wurde allen ängstlich zumute. Offenbar konnte die so leichthin begonnene Sache jetzt durch nichts mehr aufgehalten werden, sie nahm bereits, unabhängig vom menschlichen Willen, ihren Lauf und mußte zu Ende geführt werden". Pierres Gedanken in der Nacht sind bezeichnend: „Wozu also dieses Duell, dieser Mord?" Nachdem er den Kampfplatz betreten hat, schießt er zuerst und verwundet Dolochow an der linken Seite; die Wunde konnte sich leicht als tödlich herausstellen. Außerordentlich interessant sind in dieser Hinsicht auch die Notizen N. Murawjow-Karskis, eines gutinformierten und genauen Zeugen, der die Worte Gribojedows über seine Gefühle während des Duells mit Jakubowitsch anführt. Gribojedow empfand seinem Gegner gegenüber keinerlei persönliche Mißgunst, das Duell mit diesem war nur die Vollendung eines „vierfachen Duells" ^ das von Scheremetjew und Sawadowski begonnen *
W i r verweisen auf die Duellregel: „ N u r der Gegner, der als zweiter schießt, hat das
Recht, in die Luft zu schießen. D e r Gegner, der als erster in Luft schießt, wenn sein G e g ner nicht auf den Schuß geantwortet oder ebenfalls in die Luft geschossen hat, wird als jemand angesehen, der dem Duell ausgewichen ist..." ( D u r a s o w . Duellkodex, 1908, S. 194). Diese Regel rührte daher, daß der von dem ersten der beiden Gegner in die Luft abgefeuerte Schuß den zweiten moralisch zur G r o ß m u t verpflichtete. * * So wird ein Zweikampf genannt, bei dem sich nach den G e g n e r n die Sekundanten schießen.
Vortrag einer Ode vor der Kaiserin Anna Iwanowna (Ioannowna). — O. Elliger. Radierung. 1731. — Die einzige erhaltene Darstellung eines im 18. Jahrhundert recht häufigen Sujets. Da der Vorlesende sich an die auf dem Thron sitzende Kaiserin wendet, kniet er halb. Die Kleidung der Herren sind kragenlose Uberröcke mit enger Taille und zu Anfang der 1730er Jahre in Mode gekommenen breiten Ärmelaufschlägen in Stulpenform. Der Kavalier in der Mitte der linken Gruppe ist ein Musterbild jener männlichen Gestalt, wie sie Mitte des 18. Jhdts. dem Geschmack entsprach: Schmale Schultern, birnenförmiger Rumpf, Schmerbauch. Hinter dem Thron stehen Hoffräuleins, rechts zwei hochrangige Hofchargen mit Ordensbändern über den Schultern. Porträt des Dichters A. P. Wjasemski (1792-1878). — O . A . Kiprenski. Zeichnung. 1835.
Porträt M . M . Speranskis (1772-1839). — P . A . Iwanow. Miniatur auf Elfenbein. 1806.
Stiche aus dem Buch B. Fischers „Die Fechtkunst in ihrem ganzen Umfang: Neue Beschreibung mit allen notwendigen Erkenntnissen, wie man den Degen beherrscht". (Sankt Petersburg 1796)
Duellpistolen aus der Fabrik Lepage. Paris. 1818.
Ölung. — K. Wagner nach einer Zeichnung E.M. Kornejews, Radierung, Aquatinta, Farbdruck. 1812. — Die Ölung ist (nach der Taufe) das zweite in der Reihenfolge der von der russisch-orthodoxen Kirche anerkannten Sakramente, bestehend aus dem Bestreichen der Stirn, der Augen, des Mundes, der Nasenlöcher, der Ohren, der Brust, der Hände und der Füße durch den Geistlichen mit heiliger Myrrhe (eine Mischung aus etwa 30 aromatischen Bestandteilen, deren Grundlage Olivenoel und Weißwein ist) und aus den Worten „Siegel der Gabe des Heiligen Geistes", um den Getauften der „allmächtigen Gnade Gottes" anzuvertrauen. Die Radierung zeigt vermutlich die Taufe und die letzte Ölung eines Kranken, der sich vor dem Tode taufen ließ (in der rechten Ecke ist das Taufbecken zu sehen). Der Geistliche im Priestergewand erteilt das Sakrament (in der Hand hält er die Schale mit der Myrrhe).
„Das neue Landhaus". Vortitel zum Buch W.A. Lewschins „Allgemeine und vollständige Hauswirtschaft...". Moskau 1795. Gravüre.
Gästezimmer in der Hälfte Alexanders I. im Winterpalais. — B. Golowina. Aquarell. Erstes Viertel d. 18. Jhdts. Die Hauptwache auf der Jelagin-Insel mit dem Posten des Regiments der Kavaliergarde. — A. Ladürner, Oel auf Leinwand 1840.
Das Duell
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worden war. Er schlug eine friedliche Lösung vor, die Jakubowitsch aber ablehnte, wobei auch er unterstrich, daß er Gribojedow gegenüber keine persönliche Feindschaft empfände und nur das Wort erfülle, das er dem verstorbenen Scheremetjew gegeben habe. Desto bemerkenswerter ist es, daß der mit friedlicher Absicht an die Barriere gekommene Gribojedow plötzlich den Wunsch empfand, Jakubowitsch zu töten. Die Kugel ging so nahe am Kopf vorbei, daß „Jakubowitsch dachte, er sei verwundet: er griff sich ins Genick und betrachtete seine Hand ... Gribojedow sagte uns danach, daß er auf Jakubowitschs Kopf gezielt habe und ihn hatte töten wollen und daß das nicht seine ursprüngliche Absicht gewesen sei, als er auf dem Kampfplatz gestanden hätte". 87 Ein besonders krasses Beispiel für die Veränderung des von den Duellanten beabsichtigten Verhaltens durch den Einfluß der Duell-Logik finden wir in der Erzählung „Roman in sieben Briefen" (1823) von A. Bestushew. In der Nacht vor dem Duell ist der Held fest entschlossen, sich zu opfern, und genießt im voraus seinen Untergang: „Ich sage, ich werde sterben, weil ich mich entschlossen habe, auf den Schuß zu warten... Ich habe ihn beleidigt". Doch das nächste Kapitel berichtet von einer ganz unerwarteten Wendung der Ereignisse. Der Held hat etwas getan, das seinem Vorhaben diametral entgegengesetzt ist: „Ich habe ihn getötet, habe diesen edlen, großmütigen Menschen getötet! ... Wir gingen aus der Distanz von zwanzig Schritten auf einander zu, ich trat fest auf, aber ohne jeden Gedanken, ohne jegliche Absicht. Die tief in der Seele verborgenen Gefühle verdunkelten meine Vernunft. Bei der Distanz von sechs Schritten drückte ich, ich weiß nicht warum und ich weiß nicht wie, den verhängnisvollen Abzug - und der Schuß hallte in meinem Herzen wider! ... Ich sah, wie Erast zusammenzuckte... Als der Rauch sich verzogen hatte, lag er schon im Schnee, in dem das aus der Wunde sprudelnde Blut erstarrte".88 Für den Leser, der die lebendige Verbindung mit der Duelltradition noch nicht verloren hatte, und noch imstande war, die gedanklichen Nuancierungen des von Puschkin im „Eugen Onegin" dargestellten Bildes zu verstehen, war es augenscheinlich, „daß Onegin ihn (Lenski) liebte und ihn, obwohl auf ihn zielend, nicht verwunden wollte". 89 Diese Fähigkeit des Duells, Menschen in seinen Bann zu ziehen, ihnen den eigenen Willen zu nehmen und sie in einen Automat zu verwandeln, ist sehr wichtig 90 für das Verständnis der Gestalt Onegins. Der Held des Romans, der alle Formen der äußeren Nivellierung seiner Persönlichkeit zur Seite schiebt und sich damit in einen Gegensatz zu Tatjana begibt, die organisch mit den Traditionen des Volkes, den Sitten und Gebräuchen, verbunden ist, wird im sechsten Kapitel des „Eugen Onegin" seinen Überlegungen untreu: Gegen seinen eigenen Willen erkennt er das Diktat der Verhaltensnormen an, die ihm von Sarezki und der öffentlichen Meinung' aufgezwungen werden, sofort verliert er seinen Willen und wird
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Zweiter Teil
zur Marionette in den Händen des trüben Duellrituals. Es gibt bei Puschkin eine ganze Galerie von „lebendig werdenden" Statuen, aber es gibt auch eine Reihe von lebendigen Menschen, die sich in Automaten verwandeln. 91 Onegin tritt im sechsten Kapitel als der Stammvater dieser Gestalten auf. Der Grundmechanismus, mit dessen Hilfe die von Onegin verachtete Gesellschaft seine Handlungen dennoch herrisch lenkt, ist die Angst, sich lächerlich zu machen oder zum Gegenstand des Geredes zu werden. Man muß berücksichtigen, daß die ungeschriebenen Regeln des russischen Duells unnachsichtiger waren als beispielsweise in Frankreich, und sie konnten auf keinen Fall mit dem Charakter des späteren russischen Duells, mit einer Verordnung vom 13. Mai 1894 zum Gesetz erhoben wurde, verglichen werden (Siehe „Das Duell" von A. I. Kuprin). Während am Anfang des 19. Jahrhunderts die Entfernung zwischen den Barrieren 10-12 Schritte betrug, und es gab nicht selten Fälle, bei denen die Gegner nur 6 Schritte" voneinander entfernt standen, wurde von den zwischen dem 20. Mai 1894 und dem 20. Mai 1910 durchgeführten 322 Zweikämpfen kein einziger mit einer Distanz von weniger als 12 Schritten ausgetragen und nur einer auf die Distanz von 12 Schritten. Die überwiegende Zahl der Zweikämpfe vollzog sich auf einer Entfernung von 20-30 Schritten, das heißt mit einer Distanz, auf die sich zu schießen zu Anfang des 19. Jahrhunderts niemandem in den Sinn gekommen wäre. So gingen von den 322 Zweikämpfen nur 15 tödlich aus.92 Inzwischen riefen die ergebnislosen Zweikämpfe zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein ironisches Verhältnis zum Duell hervor. Das Fehlen festumrissener Regeln führte zu einer erheblichen Bedeutungsausweitung der Atmosphäre, die von den Kampfhähnen, den Bewahrern der Duelltradition, um die Zweikämpfe gewoben wurde. Letztere kultivierten das blutige und erbarmungslose Duell. Der Mensch, der an die Barrieren trat, sollte eine außerordentliche Selbständigkeit demonstrieren, um nicht den bestehenden und ihm aufgezwungenen Normen erliegen. So wurde zum Beispiel das Verhalten Onegins von dem Schwanken zwischen seinen natürlichen menschlichen Gefühlen, die er in Bezug auf Lenski empfand, und der Angst, durch eine Verletzung der geforderten Normen an der Barriere feige oder lächerlich zu erscheinen, bestimmt. Es gab auch noch härtere Bedingungen. So forderte Tschernow, der die Ehre seiner Schwester rächte, einen Zweikampf auf die Distanz von drei (!) Schritten. In einer kurz vor seinem Tode geschriebenen Notiz heißt es: „Ich schieße mich auf drei Schritte, da es eine Familienangelegenheit ist; denn ich will, da ich meine Brüder kenne, diese Angelegenheit mit mir beenden, mit diesem Beleidiger meiner Familie, der durch leeres Gerede mit noch leereren Menschen alle Gesetze der Ehre, der Gesellschaft und der Menschheit verletzt hat." (Das neunzehnte Jahrhundert. Buch 1. Moskau, 1872, S. 334). Da die Sekundanten darauf bestanden, fand das Duell mit einer Distanz von acht Schritten statt, trotzdem kamen beide Kontrahenten um.
Das Duell
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Jedes, und nicht nur ein unrechtmäßiges' Duell war in Rußland ein krimineller Akt. Jedes Duell wurde später zum Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung gemacht. Sowohl die Gegner wie auch die Sekundanten trugen eine juristische Verantwortung. Die Buchstäblichkeit des Gesetzes erfüllend, verurteilte das Gericht die Duellanten zum Tode, eine Strafe, die aber später für die Offiziere häufig in eine Degradierung zum Soldaten mit dem Recht auf Beförderung gemäß dem Dienstalter umgewandelt wurde. Eine Versetzung in den Kaukasus bot die Möglichkeit, rasch wieder von neuem den Offiziersrang zu erhalten. Onegin wäre als Nichtadliger sehr wahrscheinlich mit ein oder zwei Monaten Festung und einer anschließenden kirchlichen Buße davongekommen. Doch folgt man dem Roman, wurde das Duell zwischen Onegin und Lenski nie zum Gegenstand einer gerichtlichen Untersuchung gemacht. Das konnte der Fall sein, wenn der hinzugezogene Geistliche den Tod im Duell als Folge eines Unglücksfalls oder als Resultat eines Selbstmords klassifizierte. Die Strophen X L - X L I des sechsten Kapitels lassen uns ungeachtet ihres Zusammenhangs mit der allgemein gehaltenen elegischen Inschrift auf dem Grab des „jungen Poeten" vermuten, daß Lenski außerhalb der Friedhofsmauer begraben wurde, d.h. wie ein Selbstmörder. Eine wahre Enzyklopädie des Duells finden wir in der Erzählung „Die Prüfung"(1830) von A. Bestushew. Der Autor verurteilt das Duell aus der Tradition der Aufklärer heraus und beschreibt zugleich mit einer geradezu dokumentarischen Präzision die Vorbereitung darauf: „Walerians alter Diener schmolz Blei in einem eisernen Tiegel und goß die Kugeln, wobei er vor dem Feuer kniete, sich ständig bekreuzigte und Gebete vor sich hin sprach. A m Tisch saß ein Artillerieoffizier und schnitt die Kugeln zurecht, glättete sie und paßte sie in die Pistolen ein. Lautlos öffnete sich die Tür und eine dritte Person, ein Gardekavallerist, trat ein und unterbrach sie für eine Minute in ihrer Beschäftigung. ,Bonjour, capitaine', sagte der Artillerist zu dem Eintretenden, ,ist bei Ihnen schon alles fertig?' ,Ich habe zwei Paar mitgebracht: Das eine ist von Kuchenreuter, das andere von Lepage: Sehen wir sie uns zusammen an.' ,Das ist unsere Pflicht, Rittmeister. Haben Sie die Kugeln eingepaßt?' ,Die Kugeln sind in Paris hergestellt worden, und sicher mit besonderer Genauigkeit.' ,Oh, hoffen Sie nicht darauf, Rittmeister. Ich bin schon einmal mit einer ähnlichen Vertrauensseligkeit hereingefallen. Die zweite Kugel, und mir wird noch heute heiß, wenn ich daran denke, ging nur bis zur Hälfte in den Pistolenlauf, und so sehr wir uns auch bemühten, sie einzupassen, alles war vergebens. Die Gegner waren gezwungen, sich mit Sattelpistolen, beinahe so groß wie das Gestöß von Bergeinhörnern, zu schießen, und es war gut, daß einer den anderen direkt in die Stirn traf, w o jede Kugel, ob kleiner als eine Erbse oder größer als eine Kirsche, die gleiche Wirkung hat. Aber stellen Sie sich
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Zweiter Teil
vor, was für eine Verwirrung entstanden wäre, hätten die Splitter dieser Kartätschen uns einen Arm oder ein Bein zerschmettert.' ,Eine klassische Wahrheit', antwortete der Kavallerist und lächelte. ,Haben Sie glänzendes Pulver?' ,Das feinkörnigste'. ,Desto schlimmer, lassen Sie es zu Hause. Erstens nehmen wir der Einheitlichkeit wegen gewöhnliches Flintenpulver; zweitens lodert das glänzende nicht immer schnell auf, und manchmal springt der Funke daran vorbei.' ,Und was machen wir mit den Auslösern?' J a j a ! Ewig lenken mich diese Auslöser von der Visiereinrichtung ab, und sie haben mehr als einen guten Menschen in den ewigen Kasten gebracht. Der arme Teufel L-a ist vor meinen Augen durch diesen Auslöser umgekommen. Seine Pistole schoß in die Erde, und der Gegner legte ihn wie ein Haselhuhn an die Barriere. Ich habe auch einen anderen gesehen, der ungewollt in die Luft schoß, obwohl er mit dem Pistolenlauf die Brust des Gegners erreichen konnte. Nicht zu erlauben, den Auslöser hinaufzuführen, ist fast unmöglich und immer nutzlos, weil eine kaum merkliche oder unwillkürliche Fingerbewegung ihn schon hinaufführen kann, und dann hat ein kaltblütiger Schütze alle Vorteile. Erlaubt man es aber, kann man den Schuß sehr leicht verlieren! Schurken sind diese Waffenschmiede: Sie bilden sich wahrscheinlich ein, die Pistolen wurden nur für den Schießklub erfunden!' ,Vielleicht wäre es besser, das Hinaufführen der Auslöser zu verbieten. Man könnte die Herrschaften vorher darüber informieren, wie man mit der Feder umgeht, und sich im übrigen auf die Ehre verlassen. Was meinen Sie, Verehrtester?' ,Ich bin mit allem, was das Duell erleichtern kann, einverstanden. Werden wir auch einen Arzt haben, Herr Rittmeister?' ,Ich habe gestern zwei aufgesucht und war über ihre Habgier aufgebracht... Sie begannen mit einem Vorwort über die Verantwortung und endeten mit dem Verlangen nach einem Vorschuß, ich entschloß mich, das L o s des Zweikampfes nicht solchen Händlern anzuvertrauen.' ,In diesem Fall übernehme ich es, einen D o k t o r mitzubringen, das größte Original, aber der edelste Mensch in der Welt. Es kam schon vor, daß man ihn direkt aus dem Bett zum Kampfplatz holen mußte, und er kam ohne zu zögern mit. ,Ich weiß sehr genau, meine Herrschaften', sagte er, während er die Binden um die Instrumente wickelte, ,daß ich Ihr unbesonnenes Vorhaben weder verbieten noch aufhalten kann, und nehme Ihre Einladung gern an. Ich kaufe gern, wenn auch auf eigenes Risiko, die Erleichterung der leidenden Menschheit.' Aber das Erstaunlichste war, daß er das großzügige Geschenk, das man ihm für die Fahrt und die Behandlung anbot, ablehnte.'
* Der gewöhnliche Mechanismus einer Duellpistole erforderte einen zweifachen Druck auf den Abzug, was einen zufälligen Schuß verhindern sollte. Der Auslöser war die Einrichtung, die den vorangegangenen Druck aufhob. D a s Ergebnis war eine Verstärkung der Feuerschnelligkeit, dadurch erhöhte sich jedoch die Möglichkeit zufälliger Schüsse erheblich.
Das Duell
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,Das macht der Menschheit und der Medizin Ehre. Schläft Walerian Michailowitsch noch?' ,Er hat lange Briefe geschrieben und ist erst vor drei Stunden eingeschlafen. Raten Sie Ihrem Freund, um Gotteswillen, vor dem Zweikampf nichts zu essen. Beim Unglück kann die Kugel glitschen und hindurchgehen, ohne innere Organe zu verletzen, die ihre Elastizität bewahren; außerdem ist auch die nüchterne Hand treffsicherer. Haben Sie auch für eine Kutsche mit vier Plätzen gesorgt? In einer mit nur zwei Plätzen kann man weder dem Verwundeten helfen noch den Getöteten unterbringen.' ,Ich habe angeordnet, eine Kutsche in einem Außenbezirk der Stadt zu mieten und einen möglichst simplen Kutscher zu wählen, damit er nicht mehr mitbekommt als nötig und keine Anzeige macht.' ,Das haben Sie bestens erledigt, Rittmeister; denn die Polizei wittert das Blut nicht schlimmer als die Raben. U n d jetzt zu den Bedingungen: die Barriere, wie besprochen, auf sechs Schritte?' ,Auf sechs. Der Fürst will von einer größeren Distanz nichts hören. Die Wunde beendet das Duell erst auf den geraden Schuß hin, ein Aufblitzen oder Versagen der Waffe wird nicht gezählt.' ,Was für Starrköpfe! Wo es um einen wichtigen Kampf geht, kommt es auf das Pulver nicht an, das ist was für Weibergrillen und für die eigenen Launen.' ,Wieviele Zweikämpfe für eine gerechte Sache haben wir denn schon gesehen? Sonst geht es doch immer nur um Schauspielerinnen, um Karten, Pferde, um eine Portion Eis.' ,Ehrlich gesagt, all diese Duelle, deren Grund nur schwer auszumachen ist, oder über die zu reden man sich schämt, die machen uns wenig Ehre.' " 9 3 D i e u n b e d i n g t e E t h i k des D u e l l s existierte parallel z u den allgemeinmenschlichen N o r m e n der M o r a l , o h n e sich mit ihnen z u v e r m i s c h e n o d e r sie außer K r a f t z u setzen. D a s f ü h r t e d a z u , daß der Sieger eines Z w e i k a m p f s v o n einer A u r e o l e des ö f f e n t l i c h e n Interesses u m g e b e n w a r , die treffend mit d e n W o r t e n K a r e n i n s , des E h e m a n n s der A n n a K a r e n i n a , ausg e d r ü c k t ist, als er sich erinnert: „ V o r t r e f f l i c h gehandelt, z u m D u e l l g e f o r dert u n d g e t ö t e t " . A n d e r e r s e i t s k o n n t e n ihn alle D u e l l - B r ä u c h e nicht verg e s s e n lassen, daß er ein Mörder war. Z u m Beispiel verbreitete sich u m M a r t y n o w , den M ö r d e r L e r m o n t o w s , in K i e w , w o er den R e s t seines L e b e n s verbrachte, eine r o m a n t i s c h e L e g e n d e ( M a r t y n o w , der charakterlich nicht weit v o n G r u s c h n i z k i entfernt w a r , hat v e r m u t l i c h selbst d a z u beigetragen), die bis z u M . B u l g a k o w gelangte, der d a r ü b e r in s e i n e m „ T h e a t e r r o m a n " schrieb: „ W a s f ü r traurige A u g e n er hat... In P j a t i g o r s k hat er i r g e n d w a n n einen F r e u n d i m D u e l l getötet... und jetzt erscheint ihm dieser F r e u n d in der N a c h t u n d nickt i h m im Mondlicht durchs Fenster z u . " W . A . O l e n i n a erinnerte sich an den D e k a b r i s t e n E . O b o l e n s k i : „ D i e s e r U n g l ü c k l i c h e hatte ein D u e l l - u n d tötete; seit jener Zeit k o n n t e er, wie der v o n den F u r i e n gehetzte O r e s t , n i r g e n d w o m e h r R u h e f i n d e n . " 9 4
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Zweiter Teil
Die Olenina kannte Obolenski bereits vor dem 14. Dezember, und auch das Mündel M . I . Murawjew-Apostols, A . P . Sosonowitsch, der in Sibirien aufgewachsen war, erinnerte sich: „Dieses traurige Ereignis quälte ihn sein ganzes Leben lang." 9 5 Weder Erziehung noch Gerichte, noch Strafkolonie hatten ihn dieses Erlebnis verwinden lassen. U n d Gleiches kann man auch über eine ganze Reihe anderer Fälle sagen.
D I E KUNST DES L E B E N S
Kunst und Wirklichkeit sind zwei entgegengesetzte Pole, die Grenzen des Raums menschlicher Tätigkeit. Innerhalb der Grenzen dieses Raumes entfaltet sich auch die ganze Vielfalt der Handlungen des Menschen. O b w o h l die Kunst auf die eine oder andere Weise immer die Erscheinungen des Lebens widerspiegelt, indem sie sie in ihre Sprache übersetzt, kann die bewußte Einstellung des Autors und des Publikums zu dieser Frage dreifacher Natur sein. Zum einen werden Kunst und außerkünstlerische Realität als Bereiche betrachtet, deren Unterschiede so groß und prinzipiell unüberwindbar sind, daß sich eine Gegenüberstellung von selbst ausschließt. So gab es zum Beispiel bis zum letzten Krieg im Katharinenpalais in Zarskoje Selo ein Porträt der Kaiserin Elisabeth von der Hand Karawaks, dessem mit großer Ähnlichkeit ausgeführten Gesicht der nackte Leib einer Venus beigegeben war. D e m künstlerischen Bewußtsein späterer Epochen erschien, unter Berücksichtigung des sozialen Status der auf diesem Bildnis Dargestellten, ein solches Bild unschicklich und frevelhaft, aber die Betrachter des 18. Jahrhunderts sahen das Bild anders. Ihnen kam nicht in den Sinn, in dem nackten Frauenkörper den realen Körper Elisabeth Petrownas zu sehen. Sie sahen in dem Bild die Vereinigung von zwei verschiedenen Darstellungstexten. Das Gesicht war ein Porträt und bezog sich folglich auf eine bestimmte äußere Realität, der Körper hingegen war eine offensichtliche Anleihe bei der allegorischen Malerei, die mit Emblemen operiert, mit Zeichen, die für Gegenstände stehen, aber nicht deren Darstellung sind. Wie auf dem bekannten Bild von D . Lewizki das Gesicht Katharinas II. und der Adler zu ihren Füßen verschiedene Realitätsgrade ausdrücken - das Gesicht stellt das reale Gesicht dar, der Adler symbolisiert die Macht - , wurden auch das Gesicht und der Körper auf dem Porträt Elisabeths auf unterschiedliche Weise in ein Verhältnis zur Welt der außerkünstlerischen Realität gebracht. Auf dem bekannten Suworow-Denkmal in Petersburg von M. Koslowski sind die Elemente der Porträtähnlichkeit in der, wenn auch idealisierten, Darstellung der Person mit einem deutlichen Hinweis auf eine antike Deutung der Figur verknüpft. Dabei wird der stilistische Kontrast nicht ausgeglichen, sondern demonstrativ hervorgehoben. G. Dershawin bezog dieses K o n trastprinzip in sein poetisches Porträt Suworows ein:
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Zweiter Teil
Die Olenina kannte Obolenski bereits vor dem 14. Dezember, und auch das Mündel M . I . Murawjew-Apostols, A . P . Sosonowitsch, der in Sibirien aufgewachsen war, erinnerte sich: „Dieses traurige Ereignis quälte ihn sein ganzes Leben lang." 9 5 Weder Erziehung noch Gerichte, noch Strafkolonie hatten ihn dieses Erlebnis verwinden lassen. U n d Gleiches kann man auch über eine ganze Reihe anderer Fälle sagen.
D I E KUNST DES L E B E N S
Kunst und Wirklichkeit sind zwei entgegengesetzte Pole, die Grenzen des Raums menschlicher Tätigkeit. Innerhalb der Grenzen dieses Raumes entfaltet sich auch die ganze Vielfalt der Handlungen des Menschen. O b w o h l die Kunst auf die eine oder andere Weise immer die Erscheinungen des Lebens widerspiegelt, indem sie sie in ihre Sprache übersetzt, kann die bewußte Einstellung des Autors und des Publikums zu dieser Frage dreifacher Natur sein. Zum einen werden Kunst und außerkünstlerische Realität als Bereiche betrachtet, deren Unterschiede so groß und prinzipiell unüberwindbar sind, daß sich eine Gegenüberstellung von selbst ausschließt. So gab es zum Beispiel bis zum letzten Krieg im Katharinenpalais in Zarskoje Selo ein Porträt der Kaiserin Elisabeth von der Hand Karawaks, dessem mit großer Ähnlichkeit ausgeführten Gesicht der nackte Leib einer Venus beigegeben war. D e m künstlerischen Bewußtsein späterer Epochen erschien, unter Berücksichtigung des sozialen Status der auf diesem Bildnis Dargestellten, ein solches Bild unschicklich und frevelhaft, aber die Betrachter des 18. Jahrhunderts sahen das Bild anders. Ihnen kam nicht in den Sinn, in dem nackten Frauenkörper den realen Körper Elisabeth Petrownas zu sehen. Sie sahen in dem Bild die Vereinigung von zwei verschiedenen Darstellungstexten. Das Gesicht war ein Porträt und bezog sich folglich auf eine bestimmte äußere Realität, der Körper hingegen war eine offensichtliche Anleihe bei der allegorischen Malerei, die mit Emblemen operiert, mit Zeichen, die für Gegenstände stehen, aber nicht deren Darstellung sind. Wie auf dem bekannten Bild von D . Lewizki das Gesicht Katharinas II. und der Adler zu ihren Füßen verschiedene Realitätsgrade ausdrücken - das Gesicht stellt das reale Gesicht dar, der Adler symbolisiert die Macht - , wurden auch das Gesicht und der Körper auf dem Porträt Elisabeths auf unterschiedliche Weise in ein Verhältnis zur Welt der außerkünstlerischen Realität gebracht. Auf dem bekannten Suworow-Denkmal in Petersburg von M. Koslowski sind die Elemente der Porträtähnlichkeit in der, wenn auch idealisierten, Darstellung der Person mit einem deutlichen Hinweis auf eine antike Deutung der Figur verknüpft. Dabei wird der stilistische Kontrast nicht ausgeglichen, sondern demonstrativ hervorgehoben. G. Dershawin bezog dieses K o n trastprinzip in sein poetisches Porträt Suworows ein:
Die Kunst des Lebens
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Wer jagt entflammt vor dem Heer einher auf einem Klepper, ißt hartes Brot... „Snigir" Wo also die bildende Kunst oder das Theater bewußt mit etablierten Zeichen operieren und das Verhältnis zwischen Darstellung und Inhalt nicht durch Ähnlichkeit bestimmt wird, sondern durch historisch gewachsene Übereinkunft, wird die Möglichkeit, diese beiden Absichten zu verwechseln, ausgeschlossen, zwischen dem Bild und dem Betrachter, zwischen der Bühne und dem Zuschauer entsteht eine unüberwindbare Grenze. Der künstlerische und der außerkünstlerische Raum sind durch eine so scharfe Linie voneinander getrennt, daß sie zwar zueinander in Beziehung treten, aber einander nicht durchdringen können. Der zweite Zugang zu der Wechselbeziehung zwischen Kunst und außerkünstlerischer Realität besteht darin, die Kunst als einen Bereich der Modelle und Programme zu begreifen. Hier wirkt die Sphäre der Kunst aktiv auf die außerkünstlerische Realität ein. Das Leben nimmt sich die Kunst zum Vorbild und beeilt sich, sie ,nachzuahmen'. Drittens schließlich erscheint das Leben als Modelle produzierende Aktivität, es schafft Muster, die von der Kunst nachgeahmt werden. Vermittelt im zweiten Fall die Kunst den Menschen Verhaltensmuster für das Leben, so bestimmen im dritten Fall die Verhaltensmuster des Lebens das künstlerische Verhalten, insbesondere das auf der Bühne. Hat man die ganze Charakteristik dieser Wechselbezeichnung erfaßt, kann man den ersten Fall mit dem Klassizismus vergleichen, den zweiten mit der Romantik und den dritten mit dem Realismus. Literatur- und Kunsthistoriker sprechen oft vom „Klassizismus" oder vom „Neoklassizismus" der Kultur am Anfang des 19. Jahrhunderts. B.W. Tomaschewski sprach vom „Empire"-Stil als von einer Wiedergeburt des Klassizismus in der Literatur und Architektur. 96 L.J. Ginsburg schrieb: „Die Karamsinisten sind dem Inhalt und der Form ihrer Kunst nach natürlich keine Klassiker, aber ihrer historischen Funktion nach sind sie es, sie sind es ebenjener Rolle gemäß, die sie in der Literatur des ersten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts zu spielen gezwungen waren, in die sie den Geist der Systematisierung und der Organisation hineintrugen, die Normen des ,guten Geschmacks' und der logischen Disziplin. Für die Lösung dieser Aufgaben brauchten sie (natürlich in einer gemäßigten Form) eine harmonische stilistische Hierarchie des Klassizismus". 97 Die Kulturwissenschaftler registrieren in der Epoche des Empire eine neue Welle der Begeisterung für die Antike. In diesem Zusammenhang zitiert man gewöhnlich gern die bekannte Stelle aus den Memoiren F. Wigels: „Die neuen Brutusse und Timoleons wollten endlich das für sie beispielhafte Altertum wiederherstellen ... Allenthalben tauchten Alabastervasen mit Reliefs mythologischer Darstellungen auf, Rauchzimmer und
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dreibeinige Tischchen, römische Prätorensitze, lange Couchetten, bei denen man die Arme auf Adler, Greife oder Sphinxe stützte". 99 „Die Begeisterung für den Klassizismus war in Rußland so stark, daß alle Maler, die in dieser Richtung arbeiteten, gewaltigen Erfolg bei ihren Zeitgenossen hatten. Martos und der Graf Fjodor Tolstoi setzten die Grenzen, innerhalb derer sich die Geschichte des russischen Stils im Reich vollzog". 100 S. Glinka verknüpfte in seinen Memoiren interessanterweise den Antikenkult der Jahre um 1800 einerseits mit dem Staatsbewußtsein und der Freiheitsliebe und andererseits mit dem Kult des militärischen Ruhmes, der sich in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts in den Formen des Bonapartismus präsentierte, denn noch berührten sich die nationalen Interessen Rußlands und Frankreich nicht; wir erinnern an den Bonapartismus Pierre und Andrej Bolkonskis. „Die Stimme der Tugenden des alten Rom, die Stimme des Cincinnatus und Catos fand lauten Widerhall in den entflammten und jungen Seelen der Kadetten.... Das alte Rom wurde auch zu meinem Idol. Ich wußte nicht, unter welcher Regierung ich lebte, aber ich wußte, daß die Freiheit die Seele der Römer war". 101 Dieser streitbare Klassizismus bestimmte zum Beispiel die Deutung des architektonischen russischen Empire zu Beginn des 19. Jahrhunderts: „Die Denkmäler, die Vorderfronten und Gesimse der Häuser werden mit griechischen Allegorien, Löwenfratzen, Helmen, Schilden, Speeren und Schwertern verziert. Sogar an den Kirchenwänden erscheinen die Attribute des Krieges".102 Noch spürbarer ist die Hinwendung zum Klassizismus in der westeuropäischen Kultur. In Frankreich, wo der Klassizismus, die kulturellen Grenzen der damaligen Epoche überschreitend, nationale Bedeutung erlangte, wurde diese Tendenz nicht unterbrochen, sie änderte beim Übergang von der Revolution zum Kaiserreich nur ihre Färbung. Aber auch Deutschland wandte sich, nach einem Sturmlauf gegen die klassischen Formen der Kultur, ihnen im späten Schaffen Schillers und Goethes wieder zu. Es könnte den Anschein haben, als sei die Tradition des Klassizismus entweder ohne Unterbrechung fortgesetzt worden (Frankreich) oder als hätte sie in einer relativ unveränderten Form eine Restauration erlebt (Rußland, Deutschland). Ein derartiger Schluß wäre jedoch völlig falsch. Von einigen Forschern wurde bereits festgestellt, daß der „Neoklassizismus", trotz seiner Deklarationen, tatsächlich eine getarnte Romantik war (G. A. Gukowski). Für die speziellen Aufgaben des vorliegenden Buches brauchen wir diese Frage nicht in ihrem ganzen Umfang zu betrachten. Wir wenden uns nur einem ihrer Aspekte zu. In einer Reihe von Fällen ändert sich bei aller Ähnlichkeit der Textstruktur von Werken des Klassizismus und Neoklassizismus der allgemeine Sinn des Textes entschieden, wenn man das Verhältnis des Publikums ihm gegenüber und zu der entsprechenden Formel der außerhalb des Textes liegenden Realität berücksichtigt.
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Wie bereits erwähnt, grenzte der Klassizismus Kunst und Leben rigoros voneinander ab. D e m Theaterzuschauer war klar, daß der Aktionskreis seiner Bühnenhelden die Szene war und daß er ihnen im Leben nicht nacheifern konnte, ohne sich lächerlich zu machen. Auf der Bühne herrschte Heroismus vor, im Leben der Anstand. Die Gesetze des einen wie des anderen bezogen sich ausschließlich entweder auf den künstlerischen oder auf den realen Raum. Wir erinnern an das B o n m o t Heines, nach dem der zeitgenössische Cato erst an dem Dolch riechen würde, ob ihm nicht H e ringsgeruch anhafte, bevor er sich damit die Kehle durchschnitte. Der Sinn dieses Bonmots liegt in der Vermischung zweier unvereinbarer Sphären, der des Heroismus und der des guten Tons. Als Sumarokow auf dem Höhepunkt seines Konflikts mit dem Moskauer Oberbefehlshaber P. Saltykow (1770) seinen pathetischen Brief an Katharina II. schrieb, wies die Kaiserin ihn auf die „Ungehörigkeit" der Übertragung von Normen des Bühnenmonologs auf das Leben hin: „Mir", schrieb sie dem Dramatiker, „wird es immer angenehmer sein, die Darstellung von Leidenschaften in Ihren Dramen zu sehen, als sie in Briefen zu lesen". U n d der in derselben Tradition aufgewachsene Großfürst Konstantin Pawlowitsch schrieb viele Jahre später an seinen Erzieher Laharpe: „Niemand in der Welt fürchtet mehr und haßt mehr als ich effektvolle Handlungen oder dramatische, enthusiastische Handlungen, deren Effekt für die Zukunft gedacht ist". 1 0 3 Bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts verschwammen die Grenzen zwischen der Kunst und dem allgemeinen Verhalten der Zuschauer. Das Theater griff auf das Leben über und begann das Handeln der Menschen zu verändern. D e r Monolog drang in den Brief ein, in das Tagebuch, in die Alltagsrede. Was gestern noch gestelzt und lächerlich erschien, nur auf der Bühne akzeptiert wurde, wurde zur N o r m der Alltagsrede und des Alltagsverhaltens. Die Menschen der Revolution benahmen sich im Leben wie auf einer Bühne. Als der zur Guillotine verurteilte Gilbert R o m m sich ersticht, reißt er den Dolch aus der Wunde und reicht ihn dem Freund, wiederholt damit die vielen Menschen seiner Epoche von zahlreichen Darstellungen auf dem Theater, von der Poesie und der bildenden Kunst her bekannte heldenmütige Tat eines antiken Helden. Es gibt eine Vielzahl von Beispielen dafür, wie die Menschen ihr persönliches Verhalten, ihre Alltagsrede und schließlich auch ihren Lebensgang nach literarischen und nach Bühnenvorbildern auszurichten begannen. W e r sich mit den Alltagstexten jener Zeit näher beschäftigt, wird rasch erkennen, wie schroff sich ihr Stil ändert und sich den N o r m e n der rein literarischen Sphäre annähert. D i e Generation der 90er Jahre folgt in ihrem Verhalten Mustern, die der römischen Literatur und dem Theater des 18. Jahrhunderts entlehnt sind. S. Glinka, in seiner Jugend vom,römischen' Heroismus durchdrungen, führte in seinem Tagebuch zahlreiche Beispiele für die Wahrnehmung des Lebens durch das Prisma der Literatur an. Die
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Glinkas waren nicht reich. Vor dem Hintergrund des Petersburger Adelslebens konnte man sie geradezu als bettelarm bezeichnen. Was aber nach den alltäglichen Normen als degoutant, als Mangel oder gar als ungebührlich galt, wurde, durch das Prisma des ,römischen,' Heroismus gesehen, als bürgerliche Tugend empfunden. Die ,römische' Poetisierung der Armut, die der materiellen Not eine dem Theater entlehnte Größe verlieh, war später vielen der Dekabristen eigen, blieb jedoch den nichtadligen Intellektuellen der folgenden Generation fremd. S. Glinka zum Beispiel gab dieses Gefühl an seinen Bruder weiter, dessen Selbstlosigkeit später weithin bekannt war. Und S. Glinkas Deutung des furchtlosen Verhaltens Jakow Kulnews ist nicht zuletzt auch deshalb von Interesse, weil manche Zeitgenossen dessen Handlungen auf eine gänzlich unannehmbare Weise „dechiffrierten". Was Glinka als ,römische' Tugend erschien, begriff D. Dawydow als Originalität und Absonderlichkeit im Geiste Suworows: Rühme, Muse, des Schnauzbarts Tapferkeit, Sing von Kulnews Kampfesmut; Im bloßen Hemd und in der Kälte Glut, Mit der Nachtmütze noch, zog er in den Streit. Und höre man in der Welt überall von Kulnews Spleen und seiner Siege Donnerhall. 104
Es ist interessant, daß die Helden Gogols, L. Tolstois oder Dostojewskis, das heißt die Helden von Texten, die dem Leben abgelauscht sind, unter den Lesern keine Nachahmer fanden. Das Theater spielte zu Beginn des 19. Jahrhunderts in ganz Europa eine besondere Rolle. Das ist um so bemerkenswerter, als die Rolle des Theaters in dieser Epoche durchaus nicht dem Platz entsprach, den die Dramatik im allgemeinen System der literarischen Texte einnahm. Die Epoche wurde im ganzen theatralisiert. Die spezifischen Formen szenischer Wirkung verlassen die Bühne und unterwerfen sich das Leben. In erster Linie betraf das die Kultur des napoleonischen Frankreich. Als russische Reisende nach dem Frieden von Tilsit nach Paris kamen, waren sie erstaunt über das Zeremoniell und die Üppigkeit, die sie in den Tuilerien antrafen und die weit entfernt waren von der betonten Einfachheit des Petersburger Hoflebens unter Alexander I. Eine ausführliche Schilderung des Eindrucks, den das Pariser Hofzeremoniell auf den russischen Reisenden machte, gibt der Graf E. F. Komarowski in seinen Erinnerungen: „Eine über die Maßen große Menge hatte sich im Palast versammelt; das gesamte diplomatische Korps, alle führenden Köpfe, Militärs, zivile und Hofbeamte bildeten zusammen den prachtvollen Hof. Einige Marschälle in Mamillen und voller Uniform, jeder von ihnen mit einem Marschallstab in der Hand, verliehen alldem noch größere Pracht. Die Hofuniform war rot und hatte silberne Stickereien an den Aufschlägen und Manschetten. Inmitten dieses von Gold und Silber glänzenden Hofs hob sich Napoleon in der einfachen
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Offiziersuniform eines Jägerregiments auf das höchste ab.... Es gab nichts Erhabeneres und gleichzeitig Kriegerischeres als den Anblick der zu beiden Seiten der hohen Treppe des Tuilerienpalastes stehenden, unerschrocken und martialisch dreinblickenden Grenadiere der kaiserlichen Garde mit Bärenfellmützen, die Medaillen und Chevreauleder zierten". Im weiteren w i r d das Auftreten der Kaiserin Josephine und der Prinzessinnen beschrieben: „Als sich die Partien zum Kartenspiel zusammengefunden hatten, wurden die beiden Türhälften geöffnet, und alle Herren und Damen mußten sich einer nach dem anderen zur Kaiserin begeben und ihr sowie den beiden Königinnen, der spanischen und der holländischen, und der Prinzessin Borghese ihre, wie es hieß, Reverenz erweisen, worauf diese mit einer leichten Verneigung antworteten. Währenddessen stand Napoleon in dem gleichen Zimmer und kontrollierte gleichsam alles.... Für die Damen war diese Zeremonie recht beschwerlich, denn ohne sich umwenden zu können und nur mit den Füßen die überlangen Schleppen ihrer Kleider beiseitestoßend, sollten sie manövrieren. Der Tisch der Kaiserin stand als einziger an der Querwand des Zimmers, die übrigen drei an der Längswand. Das heißt, die Damen hatten direkt auf den Tisch der Kaiserin zuzugehen, sich dreimal zu verneigen und danach, sich ein wenig nach rechts wendend, einmal vor jeder der Königinnen und vor der Prinzessin, wobei sie seitlich von einer zur anderen gingen und sich dann rückwärts zur Tür zurückzogen". 105 Eine interessante Erläuterung des theatralischen Hoflebens unter Napoleon gab M a d a m e Genlis: „Nach dem Sturz des Thrones nahm man die Etiketten und die Hofregeln an, die man in den eroberten und verwüsteten fremden Reichen beobachtet hatte; die Titel Hoheit, Exzellenz und Kammerherr wurden bei uns ebenso gebräuchlich wie in Deutschland und Italien.... In den Tuilerien konnte man ein seltsames Gemisch fremder Etiketten sehen. Das Hofzeremoniell wurde noch durch viele Theatergepflogenheiten ergänzt. Einem aufmerksamen Menschen dieser Zeit mußte auffallen, daß das Zeremoniell, sich dem Hof zu präsentieren, eine getreue Imitation der Präsentation des Aneas vor der karthagischen Königin in der Oper ,Didoi' war. Bekannt ist auch, daß für die Herstellung von Kostümen zu feierlichen Anlässen oftmals der Rat berühmter Schauspieler (Talma) eingeholt wurde". 106 Aber die eigentliche Sphäre für das Eindringen von ästhetischen und Theatermomenten in das außerkünstlerische Leben w a r nicht die der Etikette, sondern die des Krieges. In der napoleonischen Epoche w u r d e in den Krieg ein unleugbares ästhetisches Element hineingetragen. Erst w e n n w i r das berücksichtigen, können w i r verstehen, w a r u m die Schriftsteller der nächsten Generation, Mérimée, Stendhal, Tolstoi, derartige Energie auf die Entästhetisierung des
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Krieges, auf das Beiseiteschieben des ihn beschönigenden Theatervorhangs verwandten. Innerhalb des allgemeinen Systems der Kultur war der Krieg in der napoleonischen Epoche ein gewaltiges Bühnengeschehen wenn auch natürlich nicht nur und nicht er allein. D e r Kontrast zwischen dem H o f in den Tuilerien sowie der sich auf dem Schlachtfeld in bühnenreifen U n i formen präsentierenden Generalität einerseits und dem Kaiser in seiner ,Arbeits'-Uniform andererseits stellte Napoleon außerhalb dieser Szenerie und machte deutlich, wer die Schauspieler waren und wer der Regisseur dieses gewaltigen Spektakels." Rufen wir uns ins Gedächtnis, daß die Bedingungen und N o r m e n des Krieges in jenen Jahren nur in bestimmte Bereiche eindrangen, um aus ihnen einen ,Bereich des Krieges' zu machen. A m ehesten erwies sich das Amphitheater der Schlachtfelder von Austerlitz und Borodino als geeignet dafür. Die Oberbefehlshaber auf den Hügeln waren sowohl in der Situation von Regisseuren als auch in der von Zuschauern. Auf diese Position als ,Zuschauer' und,Akteur' während einer Schlacht wies, sie unmittelbar mit dem Theater vergleichend, schon Feofan Prokopowitsch hin, als er von der persönlichen Teilnahme Peters an der Schlacht bei Poltawa und von dem zerschossenen Hut des Kaisers berichtete: „Nicht schimpflich beiseite zu stehen war seine Rolle, sondern selbst teilzuhaben an dem Geschehen dieser großen Tragödie". 1 0 7 J e n e Tragödie', die sich auf den Schlachtfeldern Europas abspielte, wirkte aktiv auf die Psychologie der Menschen ein und gewöhnte sie daran, sich als handelnde Personen der Geschichte zu sehen,,erhob' sie in ihren eigenen Augen und verlieh ihnen das Bewußtsein einer eigenen Größe, was im weiteren nicht ohne Einfluß auf ihr politisches Selbstverständnis blieb. Es ist bezeichnend, daß Denis Dawydow in seinem Bestreben, den Partisanenkrieg zu definieren, zu einem Vergleich griff, der den ästhetischen Aspekt des Kleinkrieges' hervorhob: „Diese von Poesie erfüllte Tätigkeit erfordert romantische Phantasie, Abenteuerlust und begnügt sich nicht mit prosaischer Kühnheit. - Das ist eine Strophe Byrons!" 1 0 8 Allerdings richtete Denis Dawydow, der das ,antike' Verständnis des vaterländischen Krieges, das dem russischen Empire, zum Beispiel den bekannten Basreliefs von F. Tolstoi, eigen i s t d e m o n s t r a t i v ablehnte, sich
'' Einen ähnlichen Kontrast verwendete M. Bulgakow in „Der Meister und Margarita". A u f dem Ball hebt die betont saloppe Kleidung Volands inmitten der luxuriös gekleideten Gäste seine Rolle als Gastgeber hervor. D i e Einfachheit der U n i f o r m N a p o l e o n s inmitten des luxuriösen Hofes hat den gleichen Sinn. D i e verschwenderische Kleidung zeugt davon, daß sie auf den B l i c k des außenstehenden Beobachters orientiert ist. F ü r Voland gibt es einen solchen außenstehenden' B e o b a c h t e r nicht. Voland ist es tatsächlich gleich, wie er aussieht, N a p o l e o n hingegen stellt jemanden dar, dem sein Aussehen gleich ist. Vgl. seine Behauptung: „Die strittigen Angelegenheiten des Staates werden jetzt nicht durch den K a m p f der Horatier gegen die Kuratier entschieden" ( D a w y d o w D . , Versuch einer T h e o r i e des Partisanenkampfes, S. 46).
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in seinem persönlichen Verhalten nicht nach römischen Modellen. Nicht der russische Adlige, der sich wie Cato oder Aristides gebärdete, wurde ihm zum Vorbild, sondern jener russische Adlige, der sich wie ein Mensch aus dem Volk verhielt. Das hat eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Vorschlag K . Rylejews, am 14. Dezember, zum Gang auf den Senatsplatz, den „russischen Kaftan" anzuziehen. Wie später auch bei den Slawophilen, war hier allein die Tatsache der Verkleidung bedeutsam, da Rylejew selbstverständlich nicht damit rechnen durfte, daß man ihn in solch einem Kostüm für einen Menschen aus dem Volk halten würde. Nicht zufällig nannte Nikolai Bestushew diesen Plan eine „Maskerade". 109 Das spielerische Wesen eines solchen Verhaltens bestand darin, daß der russische Adlige, indem er zu Cato, Brutus, Posharski, D e m o n oder Melmot wurde und sich entsprechend dieser angenommenen Rolle benahm, nicht aufhörte, ein russischer Adliger eben seiner Epoche zu sein. Diese Zweiheit des Verhaltens, die einer ganzen Generation eigen war und sich beispielsweise sehr ausgeprägt in dem Verhalten des Dekabristen Jakubowitsch äußerte, stieß häufig, wenn auch nicht immer gerechtfertigt, auf die Kritik von Zeitgenossen wie N . Dobroljubow und Basarow. Eine der deutlichsten Äußerungen des ,Theaterhaften' im alltäglichen Verhalten war die überhöhte Sensibilität für das Intermezzo. Bestandteil der Theaterkultur jeder Zeit war die Gepflogenheit, in einer Vorstellung Tragödie, Komödie und Ballett zu vereinen, wobei „ein und derselbe Darsteller in der Tragödie als Deklamator auftrat, im Singspiel Possen trieb, in der O p e r sang und in der Pantomime posierte". 1 1 0 U m die ganze Nachdrücklichkeit des Empfindens dieser Verwandlung verständlich zu machen, muß man hinzufügen, daß der Theaterliebhaber den Schauspieler oder die Schauspielerin auch als Menschen kannte und sich gern hinter den Kulissen aufhielt. Es ist auch daran zu erinnern, daß am Spiel des Mimen gerade die Verwandlungskunst hochgeschätzt wurde, die das Sich-Maskieren zu einem unabdingbaren Element des Theaters machte. Man schätzte am Schauspieler vor allem die Fähigkeit, die eigenen Verhaltensmuster abzustreifen und sich dem überlieferten Verhalten anzupassen, das dem vorgegebenen Rollentyp entsprach. Bezeichnend dafür sind die Einschätzungen schauspielerischen Darstellungsvermögens des Theaterenthusiasten S. T . Aksakow: „Das interessanteste Stück nach den ,Zwei Figaros' war die kleine Komödie ,Die zwei Crispins', die zusammen mit irgendeinem anderen Stück gegeben wurde. Die beiden wurden von zwei berühmten und kultivierten, aber miteinander rivalisierenden Schauspielern dargestellt, von F. F. Kokoschkin und A. M. Puschkin, der, wie auch Kokoschkin, eine der Moliereschen Komödien, den ,Tartuffe', übersetzt und für die russische Bühne bearbeitet hatte. Theaterenthusiasten erinnerten sich noch lange an diesen ,Schauspielerkrieg'. Einer der beiden hätte siegen, und der andere verlieren müssen; aber das Publikum
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teilte sich in zwei Hälften, und jede erklärte ihren Protagonisten zum Sieger. Die Verehrer Puschkins erklärten, dieser sei bei weitem besser als Kokoschkin, weil, und das ist wahr, Kokoschkin in einer Beziehung nicht an Puschkin heranreichte. Aber die Verehrer Kokoschkins sagten, er spiele Crispin, während Puschkin nur Puschkin spiele, was ebenfalls die reine Wahrheit war; daraus läßt sich schließen, daß beide Schauspieler in den Rollen der Crispins unzulänglich waren. Crispin war eine auf der französischen Bühne bekannte Figur; sie wurde und wird auch jetzt (vorausgesetzt man spielt sie) traditionell gespielt; und so wurde sie auch von Kokoschkin dargeboten, aber er spielte sie meiner Meinung nach, was die Natürlichkeit und die Lebendigkeit betrifft, unbefriedigend, denn auch die Darstellung des Traditionellen sollte mit Natürlichkeit und Inspiration geschehen. Puschkin hingegen spielte konsequent sich selbst oder zumindest einen zeitgenössischen gewandten Gauner; er verzichtete auch auf das gewohnte Kostüm, in dem Crispin aufzutreten pflegt. Mit einem Wort, es war nicht einmal der Schatten Crispins zu spüren".111 Berühmt für seine Verwandlungskunst war I. Sosnizki. 1814 versetzte er als noch junger Schauspieler die Zuschauer bereits in Erstaunen, als er in einer Komödie in acht verschiedenen Rollen auftrat. Als ein Beispiel für das unverblümte Eindringen des Theaterhaften in die bühnenferne Sphäre des alltäglichen Lebens kann vielleicht das Auftreten der in grusinische Bauerngewänder gehüllten Familie Kleinmichel auf einem nicht als Maskerade deklarierten Petersburger Ball gelten, die sich mit feinem Gespür für theatralische Wirkung und Semiotik Araktschejew zu Füßen warf und ihm für ihr Wohlleben dankte. Eine derartige Darbietung, deren Pikanterie in der Verwandlung eines Menschen in ein Zeichen seiner selbst bestand, war nur angesichts einer sehr hohen Theaterkultur möglich, die sich als ein besonderes, auf Zeichen beruhendes System begriff. Aksakow erinnert sich an ein Intermezzo, das anläßlich des Geburtstages D . W . Golizyns von Moskauer Schauspielern und Theaterliebhabern inszeniert wurde: „Dieses Intermezzo zeichnete sich dadurch aus, daß einige Personen sich selbst spielten: A.A. Baschilow spielte Baschilow, B. K. Dansas - Dansas, Pissarew - Pissarew, Stschepkin - Stschepkin und Werstowski - Werstowski, der sich anfangs für den pensionierten Choristen Reutow ausgab". 112 Zwischen diesem Vorgang und der Tatsache, daß A. M. Puschkin „sich selbst" spielte, besteht ein prinzipieller Unterschied: Puschkin stellte ungewollt sich selbst dar, da er sich nicht von seinem ureigenen Verhalten lösen konnte. Als Ergebnis dessen glitt sein Bühnenverhalten ins Alltägliche ab. An dem Abend zu Ehren Golizyns aber spielten die Schauspieler sich selbst, das heißt sie verwandelten ihr alltägliches Benehmen, ihre Persönlichkeit, in eine künstlerische Gestalt. Charakteristisch für das Alltagsverhalten des russischen Adligen waren sowohl die Annäherung des Verhaltenstyps an eine bestimmte ,szenische Position' als auch der Hang zum ,Intermezzo', zu einer Pause, während der das theaterhafte Verhalten bis auf ein Minimum reduziert wurde. Uberhaupt
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war für den russischen Adel eine scharfe Trennung des alltäglichen und des ,theaterhaften' Verhaltens, der Kleidung, der Sprache und der Gebärden, charakteristisch. In der Lebensweise der Bauern und Kleinbürger bestand unstreitig ein Unterschied zwischen der Feiertags- und der Alltagskleidung und dem jeweiligen Verhalten. Doch nur in den Adelskreisen und dort vornehmlich in der Hauptstadt erlangte dieser Unterschied einen Grad, der ein gewisses Erlernen erforderte. Die französische Sprache, die Tänze, das System der ,wohlanständigen Gestik' unterschieden sich derart vom Alltäglichen, daß spezielle Lehrer notwendig wurden. Zwar existierten auch in der Lebensweise der Bauern einige Typen von Kleidung und Verhalten zum Beispiel in der Kirche, aber das führte lediglich dazu, daß einige,eigene' Verhaltenstypen entstanden, die keiner Lehrer bedurften und sich aus der Nachahmung entwickelten. Innerhalb der adligen Lebensweise bildete sich jedoch ein kompliziertes Lernsystem heraus, das sich auch auf die sprachliche Ausbildung bezog, bei der bloßes Nachahmen nicht ausreichte. Dieser Prozeß ging soweit, daß das „Natürliche" und das „Künstliche", das „Eigene" und das „Fremde", ihre Plätze tauschen konnten. So sahen sich 1812 viele Adlige in der Hauptstadt gezwungen, die russische Sprache wie eine Fremdsprache zu erlernen - man vergleiche Puschkins Zeilen in „Eugen Onegin" über die Damen: „Als wandelte in ihrem Munde/ Die Muttersprache sich zur fremden". Sie schrieben in der,richtigen' Sprache ,Französisch' und lernten das Russische als die ,unrichtige', als die ,Bauernsprache' sprechen. Unter dem Einfluß A. Schischkows und der patriotischen Stimmung des Jahres 1812 begann das Erlernen der russischen und der kirchenslawischen Sprache in den Adelskreisen breiteren Raum einzunehmen und wurde auch bei der Erziehung der Kinder wirksam. Doch das verkomplizierte die Situation nur: Der Schüler wurde mit zwei Büchersprachen konfrontiert, und dazu kam noch eine dritte, die mündliche Sprache der Spiele mit den Gesindekindern und der Unterhaltungen mit den Kinderfrauen. U m die Elemente des Theaterhaften im Alltagsleben der Adligen vollständig bewerten zu können, lohnt es, sich das Verhalten des „Nihilisten" in den 60er Jahren des 19. Jahrhunderts ins Gedächtnis zu rufen, dessen Ideal es war, „sich selbst treu" zu bleiben, und der von der Unveränderlichkeit der Gestaltung des Lebens und der Lebensweise ebenso überzeugt war, wie davon, daß Familie und Gesellschaft,,historisches' und persönliches Leben, ein und denselben Normen folgten. Die Forderung nach „Aufrichtigkeit" verstand darunter den Verzicht auf die hervorgehobenen Zeichensysteme des Verhaltens und beseitigte gleichzeitig die Intermezzi, deren man bedurfte, um „man selbst" zu sein. Die adlige Lebensweise um 1800 war ein Gefüge alternativer Möglichkeiten: Amtstätigkeit - Pensionierung, Leben in der Hauptstadt - Leben auf dem Landgut, Petersburg - Moskau, Militärdienst - Zivildienst, Garde - Armee u.ä. Jede dieser Möglichkeiten entsprach einem bestimmten Verhaltenstyp. Ein und derselbe Mensch benahm sich in Petersburg nicht so
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wie in Moskau, beim Regiment nicht so wie auf dem Landgut, in der Gesellschaft von Damen nicht so wie unter Männern, auf einem Feldzug nicht so wie in der Kaserne, auf einem Ball nicht so wie „bei einem Gelage von Junggesellen" (Puschkin). In der bäuerlichen Lebensweise hingegen änderte sich das Verhalten nur in Abhängigkeit vom Kalender und vom Zyklus der landwirtschaftlichen Arbeiten. Demzufolge blieb bei diesem Typ des Verhaltens die Individualität in geringerem Maße erhalten 113 , spielten Tradition und Kollektivität eine weitaus größere Rolle. Besaß der Bauer keine physische Möglichkeit,,nichtbäuerliches' Verhalten zu praktizieren, wurde der Adlige durch die Normen der Ehre, der Sitte, der Staatsdisziplin und der Standesbräuche an ,nichtadligem' Verhalten gehindert. Die Unbedingtheit dieser Normen hatte zwar keinen automatischen Charakter, aber sie war in jedem einzelnen Fall ein Akt bewußter Auswahl und ein Ausdruck freien Willens. Däs ,adlige Verhalten' als System, das, in die ,Bühnensprache' übertragen, den Intermezzi, dem Zwischenaktgeschehen gleichzusetzen ist, ließ jedoch ein gewisses Herausfallen aus den Normen nicht nur zu, es setzte es geradezu voraus. Das System der Erziehung und der Lebensweise brachte in das adlige Leben eine ganz neue Verhaltensschicht ein, die es derart stark mit,Wohlanständigkeit' und einem System ,theatralisierter' Gesten überlagerte, daß es ein entgegengesetztes Bestreben hervorrief, einen Drang nach Befreiung, nach Loslösung von traditionellen Zwängen. Als Ergebnis dessen entstand das Verlangen, sich Freiräume zu schaffen, auszubrechen in die Welt der Zigeuner, sich den Jüngern der Kunst anzuschließen usw., alle verbindlichen Formen zu mißachten und die Grenzen der ,Wohlanständigkeit' zu überschreiten: Zügellosigkeit und Ausschweifung für ,wahres Husarentum' zu nehmen, freizügige Liebesabenteuer einzugehen und sich überhaupt,unsauberen' Lebensgewohnheiten hinzugeben. Je restriktiver die Lebensweise organisiert war, etwa die der hauptstädtischen Garde während der Regierungszeit Konstantin Pawlowitschs, desto häufiger wurden die bis zum Äußersten gehenden Rebellionen gegen sie. Zur Zeit Alexanders I., als die Garde noch verhältnismäßig unbehindert in ihrem Verhalten war, wurde in der Gardekaserne nicht nur Champagner getrunken, man las auch Adam Smith und Benjamin Constant. Unter Nikolai I. und Konstantin Pawlowitsch aber wurden die Gardekasernen zu Brutstätten von Lastern und Perversionen. Indem sie hemmungslos über die Stränge schlugen, versuchten die Soldaten den Zwang, dem sie ausgesetzt waren, zu kompensieren. *
So kontrastierte das Mußeverhalten der Großfürsten, der Brüder Alexander und N i -
kolai Pawlowitsch - Konstantin und Michail, scharf mit der uniformen Beschränkung ihres offiziellen Benehmens. Konstantin ließ sich dazu hinreißen, in dieser Gesellschaft eine D a m e zu vergewaltigen (das O p f e r starb), die zufällig aus dem Flügel Maria F j o d o r o w n a s in seine Palasthälfte geraten war. Zar Alexander sah sich zu der Erklärung gezwungen, daß den Verbrecher, so man seiner habhaft würde, die ganze Strenge des Gesetzes erwarte. Natürlich wurde der Verbrecher nie gefunden.
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A u s d r u c k des Theaterhaften des alltäglichen L e b e n s waren die weit verbreiteten Liebhaberaufführungen und Haustheater sowie die Beteiligung an professionellen Theatern, die als eine Flucht aus der Welt des konventionellen und unaufrichtigen Lebens der sogenannten „guten Gesellschaft" und als eine H i n w e n d u n g zur Welt der echten G e f ü h l e und des Unverbildeten e m p f u n d e n wurde. Eines der wesentlichsten T h e m e n des Theaters jener Zeit war der Charakter des natürlichen Menschen'. Er ließ sich entweder in der Gestalt eines sittsamen Wilden darstellen, eines Jünglings, der ein O p f e r sozialer oder religiöser Vorurteile g e w o r d e n war, oder der eines Mädchens, dessen natürliches Liebesempfinden und Freiheitsbedürfnis d e m Z w a n g der Konvention oder der D e s p o t i e unterworfen wurde. Diese Thematik drängte mit Macht auf die Bühne, w o b e i sie sich vornehmlich in den ,unteren' Etagen der Literatur etablierte. Während sie in den Stücken Schillers durch grundlegende philosophische A n s c h a u u n g e n verkompliziert wurde, erfuhr sie unter der Feder A . K o t z e b u e s eine selbst dem anspruchslosen Zuschauer genügende A u s f o r m u n g . Paradoxerweise erwies sich jedoch selbst die Primitivität der Stücke dieses T y p s nicht nur als eine Q u e l le ihrer Schwäche, sondern auch als ein M o m e n t ihrer Kraft. Man könnte sagen, daß der „ K o t z e b u e t i s m u s " - abfällige Bezeichnung für die Dramatik des Klassizismusnachfahren Kotzebue - seine Popularität allein der Unwissenheit des Publikums verdankte. A b e r eine derartige Behauptung wäre einseitig. D i e Aufklärung basierte auf der Uberzeugung, daß die Wahrheit ihrem Wesen nach einfach ist. Primitivität wurde als Naturnähe empfunden. Der Wilde wurde z u m Weisen des Jahrhunderts erklärt. D a s Melodram mit seiner äußersten Vereinfachung der Charaktere und seiner scharfen Trennung von tugendhaften Helden und Bösewichtern schien im höchsten Maße der N a t u r selbst zu entsprechen. In A. N . Ostrowskis Stück „ D e r Wald", das unter dem Einfluß aufklärerischer Ideen geschrieben wurde, stoßen zwei K a tegorien von Helden aufeinander: Theaterschauspieler, der ,hohe' T r a g ö d e und der .niedere' Komiker - dieses Paar wiederholt die Kontraste der Schaubudenpersonnage, und die säkulare Gutsbesitzergesellschaft. A b e r im Verlauf des Ostrowskischen Stückes erweisen sich, worauf der T r a g ö d e N e s t schastlizew ausdrücklich hingewiesen hat, die in der Welt des L u g s und des T r u g s befangenen Zuschauer als ,Komödianten' und die Schauspieler als große Künstler. D a s letzte Wort wurde auf alle Kunstschaffenden angewendet und bezeichnete, im Sinne der Aufklärung, wahre Lebensnähe. Somit wurde vor dem Hintergrund des ,Lebenstheaters' das zwiefach theaterhafte Theater der Bühne als Weg empfunden, der grenzüberschreitend' aus der künstlichen in die reale Welt führte. Im Gedächtnis A k s a k o w s sind die Worte des bekannten Theaterenthusiasten Pissarew haften geblieben: „Mit solchen Menschen will ich leben und sterben, mit Künstlern, die von der Liebe zur Kunst durchdrungen sind, und die mich als einen Menschen von Talent lieben! Was soll ich in den Gästezimmern Eurer wohlanständigen Menschen vor Langeweile sterben! Was soll ich vor Melancholie vergehen,
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mir Abgeschmacktheiten anhören und mich dem ungebildeten Künstlerverständnis Eurer vielleicht sogar ehrenwerten Menschen aussetzen! Nein, gehorsamster Diener! Nirgendwohin werde ich meinen Fuß setzen, außer ins Theater, außer in die Häuser meiner Freunde und die armseligen Behausungen der Schauspieler und Schauspielerinnen, die besser, gütiger, ehrlicher und auch aufrichtiger sind als die Hüterinnen des guten Tons".114 Bezeichnend ist das ständige Bestreben, die Gesetze des Lebens der Adelsgesellschaft durch das Prisma der gebräuchlichsten Bezugsformen theaterhafter Darstellungen, der Maskerade, des Puppenspiels und der Schaubudendarbietungen, zu erfassen. Zu den frühesten Vergleichen von Welt und Maskerade gehört das Zitat aus Krylows „Geisterpost: „Ich weiß nicht, ob sie sich deshalb verkleiden, weil sie sich aus einer Laune ihrer Seelen heraus, die vielleicht der von ihnen angenommenen Häßlichkeit ähneln, in der Weise zeigen wollen, wie sie wahrhaftig sind; oder weil sie es vorziehen, unerkannt zu bleiben und immer in einer anderen Weise zu erscheinen, die sich von der, die sie in der Tat sind, unterscheidet. Sollte diese Feststellung zutreffen, kann man sagen,... daß diese Welt nichts anderes ist als ein weitläufiges Gebäude, in dem sich eine große Anzahl maskierter Menschen versammelt hat, deren größter Teil hinter der Maske und im Herzen Trug, Bosheit und Treulosigkeit verbirgt". Wir haben bereits festgestellt, daß es, wenn man die Darstellungskultur zu Beginn des 19. Jahrhunderts betrachtet, unumgänglich ist, die kriegerischen Handlungen mit einzubeziehen, so wie man aus der Darstellungskultur Roms den Zirkus und aus dem analogen spanischen System den Stierkampf nicht ausschließen kann. Bekanntlich vermindert in all diesen Fällen das echte Blut, das bei diesen Darbietungen fließt, nicht das Moment der Asthetisierung, sondern ist seine Voraussetzung. In der langen Reihe der Ubergänge, die das Theater von den Ritterturnieren oder den professionellen Boxkämpfen trennen, findet sich in jedem dieser Vorgänge eine besondere Abstufung des Schrecklichen und des Schönen. Aber in den Armeen der Epochen Pauls und Alexanders war noch eine andere Form zu finden, die als absoluter Gegensatz zum Kampf empfunden wurde - die Parade. Die Parade war natürlich in einem unvergleichlich höheren Grade als der Kampf auf das Zurschaustellen orientiert. Und gerade hier verlief die Grenze, die die Militärs dieser Epochen in zwei Lager teilte. Die einen betrachteten die Armee als einen für den Kampf bestimmten Organismus, die anderen sahen die Bestimmung der Armee in der Parade. Natürlich stand für die ersteren die praktische Funktion der Armee im Vordergrund, die ästhetische Funktion begriffen sie lediglich als eine kaum ins Gewicht fallende Nuance, die zwar das Kolorit, aber nicht die Bedeutung des Bildes veränderte. Für die letzteren hingegen existierte die Armee losgelöst von allen praktischen Überlegungen. Hinter dieser Orientierung der Armee auf die Schlacht oder auf die Parade standen zwei unterschiedliche militärpädagogische und militärtheore-
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tische Doktrinen und letztlich auch zwei philosophische Konzeptionen. Ihr sozialpolitischer Gegensatz ist genau so augenscheinlich wie die Gegensätzlichkeit der Orientierung auf die klassizistischen und die romantischen Kulturen. Und es gab noch einen weiteren Aspekt: Die eine Auffassung wurde als „preußisch" empfunden, die andere als national-russisch. Dort, wo sich diese Gegensätze kreuzten, wurde auch der tiefgehende Unterschied im ästhetischen Erleben dieser beiden grundsätzlichen Momente deutlich. Die Teilnahme an den Kriegen, die die Biographien einer ganzen Generation junger Menschen in Europa bestimmte, beeinflußte wesentlich den Persönlichkeitstyp. Obwohl der Kampf als eine bestimmte Organisationsform realisiert wurde, bei der Standort und Rolle des einzelnen Teilnehmers durch die seiner Abteilung zugewiesene Aufgabe, sowie durch den Charakter der Verpflichtungen, die seinem Dienstgrad und seiner Stellung entsprachen, determiniert wurden, eröffnete er der persönlichen Initiative einen weitgehenden Freiraum. Indem sie Menschen aus den verschiedensten Bereichen der gesellschaftlichen Hierarchie zusammenführte und die Formen des Umgangs zwischen ihnen vereinfachte, hob die Organisation des Kampfes in einer gewissen Hinsicht die Hierarchie der Gesellschaft auf. Wo, außer auf dem Schlachtfeld von Austerlitz, hatte ein junger Offizier Tränen in den Augen des Zaren sehen können? Außerdem zeigten sich im Kampf die einzelnen Atome der Gesellschaftsstruktur innerhalb ihrer Bahnen wesentlich friedlicher als im allgemeinen, von der amtlichen Gesetzgebung gegängelten Leben. Jener „Fall", der es erlaubte, die mittleren Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie zu überspringen und unmittelbar auf die Höhen zu gelangen, und der im 18. Jahrhundert mit dem Bett der Kaiserin assoziiert wurde, ließ zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Bild Napoleons bei Toulon oder auf der Brücke von Arcole entstehen. Nicht nur die Mittel, auch die Ziele änderten sich. Der Ehrgeizige des 18. Jahrhunderts war ein Abenteurer, der von persönlichem Avancement träumte, der Ehrgeizige des 19. Jahrhunderts träumte von einem Platz auf den Seiten der Geschichte. Das Leben am Hof der alexandrinischen Epoche kannte kaum jene schwindelerregenden Aufstiege und Stürze, die für die Herrschaft Katharinas so charakteristisch gewesen und von Paul bis in die Karikatur getrieben worden waren. Erst der Krieg lehrte, ihre Initiative weckend, Hunderte von jungen Offizieren, sich nicht als blinde Vollstrecker eines fremden Willens zu erkennen, sondern als Menschen, in deren Hände das Schicksal des Vaterlandes und das Leben von Tausenden gelegt wurde. Die Teilnahme am vaterländischen Krieg und die Aktivierung bürgerlichen Selbstbewußtseins ließen Kampfesmut und politischen Freiheitswillen zusammenfließen. Puschkin betonte den Zusammenhang zwischen dem Liberalismus und den Kriegserfahrungen einer Generation von Menschen,
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die mit fünfzehn schon zur Freiheit strebten, (unfreiwillig) Pulverdampf gewohnt, die Schlacht erlebten. (VII, 246) Die Parade war das direkte Gegenstück, sie reglementierte streng das Verhalten jedes Einzelnen, machte ihn zu einem stummen Rädchen in einer gewaltigen Maschinerie. Für Abweichungen im individuellen Verhalten ließ sie keinen Raum. Die Initiative ging auf das Zentrum über, auf die Person, die die Parade kommandierte. Seit Paul I. war das der Zar. Timofej von Bock hatte sicherlich das Paulsche Gebaren Alexanders I. im Auge, als er schrieb: „Warum liebt der Imperator so leidenschaftlich die Parade? Warum verwandelt sich derselbe Mensch, den wir in der Armee als einen unbeholfenen Diplomaten kannten, in Friedenszeiten in einen sturen Soldaten, der alles hinter sich läßt, wenn er nur den Trommelschlag hört? Weil die Parade ein Fest der Bedeutungslosigkeit ist; und jeder Krieger, vor dem man am Tage der Schlacht nicht hintreten konnte, ohne den Blick zu senken, wird zu einer Parade-Marionette, während der Imperator als eine Gottheit erscheint, die allein denkt und regiert".115 Wurde der Kampf im Bewußtsein der Zeitgenossen mit einer romantischen Tragödie assoziiert, rückte die Parade in die Nähe eines Corps de ballet. Ein Charakteristikum Nikolais I. war seine Vorliebe für das Ballett. Alexander I. konnte der Dramatik und dem Operntheater nichts abgewinnen, er zog die Parade allen Bühnenaufführungen vor, weil er hier die Rolle des Regisseurs übernehmen und der vieltausendköpfigen Armee die Rolle einer gewaltigen Ballett-Truppe zumessen konnte. Das ,Exerzieren' war gleichzeitig eine Wissenschaft und eine Kunst, und der Schönheitsbegriff der „Gleichförmigkeit" erwies sich stets als das höchste Kriterium, dem alle Söhne Pauls sowohl die Gesundheit der Soldaten und deren Kampfbereitschaft als auch die eigene Popularität in den Kreisen der Armee opferten. Man würde es sich zu leicht machen, wollte man in dieser starrsinnigen Neigung nur Äußerungen der seltsamen individuellen Wesenszüge Pauls und seiner Söhne sehen. Die Parade wurde zum ästhetisierten Modell für das Ideal nicht nur der militärischen, sondern auch der gesamtstaatlichen Organisation. Sie war ein grandioses Spektakel, das täglich die Idee der Selbstherrschaft demonstrierte. In den Kreisen der Frontoffiziere stieß das starre Exerzieren auf nahezu einhellige Ablehnung, wie zahlreiche und beredte Zeugnisse dokumentieren, aber das Exerzierreglement gehörte nun einmal zu den exakten Kenntnissen der Dienstmysterien und konnte von keinem Militär ignoriert werden. Ein ausgezeichneter Kenner des Exerzierreglements war P. Pestel, und der Dekabrist M. Lunin verdankte die Gunst des Exerzierfanatikers und Großfürsten Konstantin nicht nur seiner Ritterlichkeit und Tollkühnheit, Frühere Variante: Kannten während dreier Kriege Lager nur und Schlacht (VII, S. 365).
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sondern auch seiner genauen Kenntnis der Mysterien des Exerzierregiments. N a c h den Berichten eines Augenzeugen „übernahm es Lunin, die Untauglichkeit der Ulanenausrüstung für den Ernstfall zu beweisen. Konstantin befahl seinen Ulanen: ,Die Befehle des Oberstleutnants Lunin sind zu befolgen!' Lunin kommandierte:,Absitzen!', und ohne den Ulanen Zeit zu lassen, den Boden zu berühren, kommandierte er wieder:,Aufsitzen!' Bei dieser überstürzten Hast sprangen die Haken und Knöpfe von den Monturen, rissen die Schnüre usw., und die luxuriösen Ulanenuniformen gerieten in einen jämmerlichen Zustand.,Unser Bruder! Alle unsere Schlichen kennt er', bemerkte Konstantin darauf."116 Kein einziger der professionellen Militärs konnte sich völlig der ästhetischen Wirkung entziehen, die die Parade ausübte, und sogar in Puschkins „Ehernem Reiter" finden wir Zeilen, die ihrer „gleichförmigen Schönheit" gewidmet sind, was Puschkin allerdings nicht daran hinderte, den Zusammenhang von Gleichförmigkeit und Sklaverei zu erkennen. Sowohl die Ästhetik der Parade als auch die Ästhetik des Balletts hatten gemeinsame Wurzeln - die auf der Leibeigenschaft beruhende Struktur des russischen Lebens. In den Situationen, die „Napoleon auf dem Schlachtfeld" und „Paul I. bei der Parade" zeigen, gibt es bei allen augenfälligen Unterschieden eine wesentliche Ähnlichkeit. Sie besteht darin, daß sich das Geschehen auf zwei Schaubühnen vollzieht. Zum einen wird die Schau, in der Schlacht wie bei der Parade, von den Massen dargeboten, und der Zuschauer ist ein einzelner Mensch. Zum anderen erweist sich dieser Zuschauer als eine Schau für die Masse, die nun ihrerseits in eine Zuschauerrolle gerät. Damit endet allerdings die Ähnlichkeit. Betrachten wir die beiden Seiten dieser doppelten Zurschaustellung: Sieht man einmal davon ab, daß sowohl Napoleon als auch Paul I. nicht nur Beobachter, sondern auch handelnde Personen waren, daß ihre Handlungsweisen sich, dem jeweiligen Charakter entsprechend, prinzipiell voneinander unterschieden, und sieht man sie nur als Zuschauer, so wird man den grundsätzlichen Unterschied ihres Verhältnisses zur Schaudarstellung bemerken. Paul I. betrachtete die Schau als „eisernes Szenarium" (ein Ausdruck S. Eisensteins): Alle Details sind vorausbestimmt. Die Schönheit besteht in der exakten Ausführung des Reglements, und jede, selbst die kleinste Abweichung davon wird als ästhetisch häßlich und als strafwürdiger Verstoß gegen die Ordnung empfunden. Das höchste Kriterium für diese Schönheit ist das Gleichmaß, das heißt die Fähigkeit verschiedener Menschen, sich entsprechend der vorgegebenen Regel im Gleichmaß zu bewegen. Gleichmaß und Schönheit der Bewegung interessierten den Enthusiasten mehr als das Sujet. Die Frage „Was ist das Endergebnis?" war hier, sowohl beim Ballett als auch bei der Parade, von untergeordneter Bedeutung.
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Der Zuschauer einer Schlacht dagegen ist dem Zuschauer einer Tragödie gleichzusetzen, deren Sujet ihm unbekannt ist; ihn mag die Großartigkeit der Darstellung ergreifen, aber es überwiegt sein Interesse am Ausgang. Noch größer ist der Unterschied von der Position der Masse aus gesehen. Napoleon spielte vor den Augen seiner Soldaten, des erstaunten Europa und seiner Nachfahren das Stück „Ein Mensch im Kampf mit dem Schicksal", „Der Sieg des Genies über das Geschick". Damit wurden die menschliche Gestalt des Hauptdarstellers, dargestellt in der Einfachheit des Kostüms, in seinem Bemühen, sich als „einfacher Soldat"zu geben, und das alles Menschliche übersteigende Maß der Hindernisse auf seinem Weg in Beziehung zueinander gesetzt und besonders hervorgehoben. Mit seinem Verhalten und seinem Schicksal, das bis zu einem gewissen Grade von der historischen Rolle bestimmt wurde, für die er sich entschieden hatte, nahm Napoleon die Problematik und die Sujetgestaltung eines ganzen Zweiges der romantischen Literatur vorweg. Der Genius konnte später die verschiedensten Interpretationen erfahren, die eines Dämons oder die einer historischen Persönlichkeit, und auch die Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellten, konnten verschiedene Namen erhalten: Gott, das feudale Europa, der konservative Haufe u. dgl. Doch das Schema war vorgegeben. Natürlich hatte es diesen Napoleon nicht erfunden, vielmehr hatte er sich ebenjene literarische Rolle selbst zugelegt. Aber indem er sie in dem Schauspiel, das sein Leben war, gestaltete, gab er sie der Literatur mit jener gesteigerten Kapazität zurück, mit der ein Transformator die Folge der ihm zugeführten elektrischen Impulse zurückgibt. Paul I. spielte eine andere Rolle. Die Parade im Krönungsmantel und mit der Krone auf dem Haupt befehligend, war er bemüht, sich Rußland als gottähnlich zu präsentieren, während unter Katharina II. das Befehligen der Wachparade als „Korporalstätigkeit" und nicht als Herrscher-Auf gäbe begriffen und dargestellt worden war. In einem überladenen und befremdenden Spektakel suchte Paul nachzugestalten, was Lomonossow mit Bezug auf Peter in einer Metapher so ausgedrückt hatte: „Ein Gott, Rußland, dein Gott war er!" Und so ist es alles andere als zufällig, daß Paul in einer Parodie Marins auf Lomonossows „Ode, dem Buch Hiob entlehnt" als der Lomonossowsche Gott erscheint: O Offizier, der du, vergeblich Unterfangen, Haderst mit deinem Dienst voll Pein, Krakeeist, läßt die Manieren sein, Weil man dich mehrmals übergangen. Hör, was der Imperator dir verkündet, Des Stimme des Beisammenseins Gelärm durchbricht, Des Hand die Pike fest umründet, Sieh seiner Preußenstiefel schimmernd Licht."117
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Alexander I. hingegen liebte weder das Theater, noch lagen ihm prunkvolle Zeremonien. I m persönlichen Umgang bezauberte der junge Zar durch seine Schlichtheit und seine Direktheit. E r schien den absoluten Gegensatz zu seinem Vater zu verkörpern, und der Beginn seiner Herrschaft sollte das Ende der theaterhaften Epoche einleiten. Beschäftigen wir uns aber eingehender mit dem Geist seiner Politik und mit der Persönlichkeit Alexander Pawlowitschs, müssen wir nicht ohne Befremden eine tiefgreifende, vom Vater auf den Sohn übergegangene Kontinuität feststellen. Dennoch verhielt sich Alexander Spiel und Verkleidungen gegenüber keineswegs ablehnend, im Gegenteil, er liebte es, verschiedene Masken anzulegen, und er nutzte seine Fähigkeit, unterschiedliche Rollen zu spielen, um sich in eine vorteilhafte Position zu bringen. Dabei bewies er manchmal eine geradezu vollkommene Virtuosität in der Verwandlungskunst und genoß es vermutlich, wenn es ihm gelang, Gesprächspartner, die sein Spiel für die Realität nahmen, in die Irre zu führen. W i r wollen hier nur ein einziges Beispiel anführen: Mitte März 1812 beschloß Alexander I. aus einer ganzen Reihe von Gründen, sich M. M. Speranskis zu entledigen. Für uns sollen hier nicht die politischen Aspekte dieses Vorkommnisses von Interesse sein, uns interessiert vielmehr der Charakter des persönlichen Verhaltens, das der Herrscher in dieser Situation an den Tag legte. Am Morgen des 17. März befahl er den Kanzleidirektor des Polizeiministeriums, J . de Senglin, zu sich, der zu den Hauptinitiatoren der Intrige gegen Speranski gehörte, und erklärte ihm mit scheinbarem Bedauern: „So sehr es mich auch mit Schmerz erfüllt, aber man muß sich von Speranski trennen. Es ist notwendig, ihn aus Petersburg zu entfernen". A m Abend desselben Tages wurde Speranski in den Palast gerufen und erhielt eine Audienz beim Zaren, bei der seine Verbannung ausgesprochen wurde. In der Frühe des 18. März ließ Alexander de Senglin kommen und erklärte ihm: „Ich hatte Speranski erhöht, ihn in meine Nähe geholt, ich hatte grenzenloses Vertrauen zu ihm und war nun gezwungen, ihn zu entfernen. Ich habe geweint! ... Die Menschen sind Schurken! Gestern früh sonnten sie sich noch in seinem Lächeln, heute gratulieren sie mir und freuen sich über seine Verbannung". Der Herrscher nahm ein Buch vom Tisch und warf es zornig wieder zurück, sagte empört: „O diese Schufte! Von ihnen sind wir umgeben, wir unglücklichen Herrscher". *
Vergl. bei L o m o n o s s o w in „Ode, dem Buch H i o b entlehnt": O Mensch, der du in vergeblichem Drang Haderst mit G o t t im Ungemach, H ö r seiner Stimme dräuenden Klang, D i e aus den W o l k e n zu H i o b sprach! D u r c h Sturm und Wetter erstrahlte sein Glanz, Sein W o r t gebot dem D o n n e r Schweigen, versetzte in Schwingung des Himmels Kranz, hub an, ihm seine Macht zu zeigen.
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A m selben Tag empfing der Zar A. N . Golizyn, den er zu seinen engsten Freunden zählte und zu dem er unbegrenztes Vertrauen hatte. Diesem gegenüber äußerte er sich in der gleichen Weise. Als der Fürst Golizyn die äußerst finstere Miene des Zaren bemerkte und sich nach dessen Befinden erkundigte, erhielt er zur Antwort: „Wenn man dir eine Hand abgehackt hätte, würdest du vermutlich aufschreien und über deinen Schmerz klagen... Mir hat man in der vergangenen Nacht Speranski genommen, und er war meine rechte Hand!" 1 1 8 Bei diesen Worten weinte der Zar. U n d weinend nahm er auch von Speranski Abschied. Wir wissen heute sehr genau, daß niemand Alexander seiner rechten Hand beraubt hat: Einige dumme und jeglichen Inhalts entbehrende Denunziationen zum Anlaß nehmend, hatte Alexander nach und nach und unter der Hand die ganze Intrige selbst vorbereitet. Als Speranski durch ein Demissionsgesuch der vom Zaren geplanten effektvollen Entlassung beinahe noch zuvorzukommen drohte, hatte Alexander das Gesuch nicht nur abgelehnt, sondern das schon ausersehene Opfer noch weiter erhoben." Weitaus befremdender noch ist eine andere Szene. N o c h während diese Geschichte ihren Fortgang nahm, weilte der Rektor der Dorpater Universität, der Professor G . - F . Parrot, in Petersburg. D e r sich durch seltene Seelengröße auszeichnende Parrot gehörte einem sehr kleinen Kreis von Personen an, die das Vertrauen des argwöhnischen Alexander genossen. U n d gerade weil er nicht zum H o f staat gehörte, nur selten mit Alexander zusammentraf und sich nie mit irgendwelchen Bittgesuchen an ihn wandte, durfte er sich mit Fug und Recht als persönlichen Freund und Vertrauten des Imperators betrachten. A m 11. März wurde er in den Palast bestellt. „Der Imperator", erinnert sich Parrot, „beschrieb mir die Undankbarkeit Speranskis mit einem Zorn, den ich bei ihm noch nie erlebt hatte, und mit einem Gefühlsausbruch, der ihm die Tränen in die Augen trieb. Nachdem er mir die Beweise für den Verrat dargelegt hatte, sagte er: ,Ich habe mich entschlossen, ihn gleich morgen erschießen zu lassen, und ich habe Sie zu mir gebeten, um Ihre Meinung dazu zu h ö r e n " ' . Parrot bat den Zaren, ihm Bedenkzeit zu gewähren. In einem Brief vom Morgen des 18. März unternahm er den Versuch, Speranskis Los zu mildern. D e r Zar antwortete ihm wohlwollend, und Parrot
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Alle Fäden der Verschwörung liefen derart in den Händen des Zaren zusammen, daß
sogar die aktivsten Teilnehmer der Verschwörung gegen Speranski (der oben genannte J . de Senglin und der Generaladjutant A . D . Balaschow, der zum engsten Personenkreis um den Zaren gehörte), die zum Haus Speranskis geschickt wurden, um ihn nach seiner Audienz beim Zaren festzunehmen, sich gegenseitig ihrer Unklarheit darüber versicherten, ob sie überhaupt in der Lage sein würden, Speranski zu arretieren, oder ob Speranski vom Zaren den Auftrag erhalten würde, sie festzunehmen. Diese Umstände lassen deutlich werden, daß Alexander keinem Handlungszwang unterlag, sondern nur so tat, als müsse er handeln, tatsächlich aber verfolgte er, sich wie stets der Verstellung bedienend, entschlossen seinen vorgefaßten Plan, wechselte nur die Masken und bereitete sich auf die Verfolgung der nächsten Sündenböcke vor.
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reiste, überzeugt davon, daß es ihm gelungen war, Speranski zu retten, nach Dorpat zurück. Inzwischen weiß man, daß es nie Alexanders Absicht gewesen war, Speranski erschießen zu lassen. Als er Parrot für dessen Brief dankte und vorgeblich huldvoll dessen Argumente erwog, war Speranskis Schicksal bereits entschieden und sein Weg in die Verbannung schon beschlossen. Schilder, der diese Geschichte nicht ohne eine gewisse Verständnislosigkeit erzählt, ein Gefühl, daß fast nie einen Biographen Alexander verläßt, resümiert: „In dem Briefwechsel de Senglins mit M. P. Pogodin findet sich die folgende interessante Bemerkung des Zaren über Parrot: .Diese Wissenschaftler sehen alles verquer und treffen nicht das Ziel, und vom Leben haben sie kaum eine Ahnung, obwohl er doch ein weltoffener Mensch ist'. Und Pogodin fügt dem seinerseits hinzu:,Parrot war, wie alle, irregeleitet'. Als unser Historiker diese Zeilen geschrieben hatte, war ihm noch nicht klar gewesen, welch große Wahrheit ihm aufgegangen war, ihm war der ganze Umfang der inszenierten Komödie, dieses von der Hauptperson am 16. März in Gang gesetzten, wahrhaft Shakespearschen Dramas der jüngeren russischen Geschichte, noch nicht bekannt gewesen".119 Die Theatertermini kommen dem Historiker hier nicht von ungefähr in den Sinn. Nicht einverstanden sein kann man mit ihm nur in einem: Alexander spielte kein „Shakespearsches Drama", er führte fortwährend das „Theater eines einzigen Schauspielers" auf. Durch jede Verwandlung des Imperators schimmerte ein genau berechnetes Kalkül, aber man kann sich nicht des Gefühls erwehren, daß selbst seine Eigentümlichkeit, ständig die Masken zu wechseln, ihm im großen und ganzen nicht die ,erhoffte' Befriedigung verschaffte. Napoleons scharfer Verstand nannte ihn den „nördlichen Theaterumhang". Das ,Theater' Alexanders I. war eng mit seinem Stil verbunden, politische Probleme zu lösen. Er machte prinzipiell keinen Unterschied zwischen staatlichen und persönlichen Interessen, übertrug politische Beziehungen systematisch auf die privaten. In diesem Sinne verfolgte Alexander Pawlowitsch, ungeachtet seines schwachen Charakters, konsequent ein despotisches System, darin war er ganz der Sohn seines Vaters. Im Bereich der Außenpolitik führte das zu jenem Stil privater Diplomatie, den Alexander I. den europäischen Höfen aufdrängen konnte, und der dem russischen Imperator eine ganze Reihe diplomatischer Siege bescherte. In der Innenpolitik herrschte die persönlichen Ergebenheit dem Monarchen gegenüber vor, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen hoffnungslos archaischen Charakter annahm und letztendlich auch das Scheitern der gesamten Innenpolitik Alexander Pawlowitschs heraufbeschwor. Das ,Spiel' Alexanders I. fiel völlig aus dem Stil der Epoche heraus. Die Romantik verlangte eine ständige Maske, die gleichsam eins wurde mit der
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Person und ihr Verhalten bestimmte. Dieser Stil, eine Person gewissermaßen zu erschaffen, wurde als erhaben empfunden. Die Zeitgenossen sahen in dem „Proteismus" Alexanders I. nur „Trug" und Mangel an Aufrichtigkeit. In den Urteilen über den Zaren, die sogar seiner nächsten Umgebung entstammen, findet sich immer wieder das W o r t „bluffen". Alexander wollte, indem er seine Masken ständig wechselte, alle für sich einnehmen, statt dessen aber stieß er alle ab. Als einer der talentvollsten Schauspieler der Epoche war er zugleich der erfolgloseste. Es gibt Epochen, in denen die Kunst mit Macht in die Lebensverhältnisse eindringt und den Alltagsfluß des Lebens ästhetisiert: Renaissance, Barock, Romantik, die Kunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Dieses Eindringen hat viele Folgen. Sehr wahrscheinlich sind damit auch die künstlerischen Talenteruptionen dieser Epochen verbunden. U n d natürlich war es nicht nur das Theater, das einen gewaltigen Einfluß auf das Eindringen der Kunst in das Leben der uns interessierenden Epoche ausübte. Eine nicht geringere Rolle spielten hier auch die Skulptur und insbesondere die Poesie. N u r vor diesem Hintergrund wird eine so kolossale Erscheinung wie Puschkin verständlich und erklärbar. U n d noch eine Seite dieser Frage verdient unsere Aufmerksamkeit. D e r alltägliche Ablauf des Lebens und seine Widerspiegelung in der Literatur bieten dem Individuum verschiedene Maße der Selbstäußerung. Wie in der Danteschen Hölle der Sünder im Eis der Caina , so erstarrt der Mensch in der Lebensweise. E r verliert seine Bewegungsfreiheit, hört auf, der Schöpfer seines Verhaltens zu sein. Die Menschen des 18. Jahrhunderts waren noch in erheblichem Maße vom Herkömmlichen geprägt. D e r vom Individuellen nicht beeinflußbare Ablauf des Daseins determinierte automatisch das Verhalten des Individuums. Dennoch eröffnete der Abenteurergeist, der im 18. Jahrhundert eine ungeheure Verbreitung erfahren hatte, den aktivsten Menschen den Weg über die Grenzen der alltäglichen, in Routine erstarrten Lebensweise hinaus. Das war einerseits ein grundsätzlich originärer Weg, andererseits jedoch, offen und demonstrativ amoralisch, ein Weg der Selbstbehauptung im Leben unter Beibehaltung seiner Grundlagen. D e r Held des Schelmenromans zerstörte nicht das Leben, das ihn umgab; seine ganze Energie und seine Fähigkeit, sich aus der sozialen Schraubzwinge herauszuarbeiten, waren allein darauf ausgerichtet, sich in ebenjene Zwinge einzupassen, und das auf die für ihn vorteilhafteste Weise. Seine Aktivität störte das Leben objektiv nicht, sie bekräftigte vielmehr die allgemeine Lebensordnung. Gerade weil das Theaterleben sich vom gewöhnlichen Leben unterschied, bot der Standpunkt, das Leben als Schauspiel aufzufassen, dem Menschen neue Verhaltensmöglichkeiten. Verglichen mit dem Theaterhaf*
Caina - in Dantes „Göttlicher K o m ö d i e " ein mit ewigem Eis bedeckter Kreis der
Hölle.
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ten erschien das alltägliche Leben schwerfällig. Ereignisse, Zwischenfälle fanden in ihm überhaupt nicht statt oder sie waren seltene Ausnahmen von der Regel. Die Mehrzahl der Menschen erlebte in ihrem ganzen Leben nicht ein einziges ,Ereignis'. Das den Gesetzen der Gewohnheit unterworfene Alltagsleben eines durchschnittlichen russischen Adligen im 18. Jahrhundert war ,sujetlos'. Das Theaterleben dagegen bestand aus einer Kette von Ereignissen. Der Mensch des Theaters war kein passiver Mitwirkender an der träge dahinfließenden Zeit. Aus dem Alltagsleben herausgelöst, führte er das Dasein einer historischen Person, er wählte sich seinen Verhaltenstyp selbst, wirkte aktiv auf die ihn umgebende Welt ein, hatte Erfolg oder ging zugrunde. Der Blick auf das reale Leben wie auf ein Schauspiel gab dem Menschen nicht nur die Möglichkeit, das Emploi seines individuellen Verhaltens zu wählen, er erfüllte ihn auch mit der Erwartung von Geschehnissen. Die Möglichkeit unerwarteter Ereignisse, unerwarteter Wendungen, wurde zur Regel. Es war gerade das Wissen darum, daß jegliche Art politischen Umsturzes möglich war, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts das Empfinden der jungen Menschen formte. Das revolutionäre Bewußtsein der romantischen adligen Jugend hatte viele Quellen. Psychologisch war es insbesondere auch darauf vorbereitet, das Leben ,theaterhaft' zu betrachten. Und nicht zuletzt war es das Modell eines theaterhaften Verhaltens, das den Menschen in eine handelnde Person verwandelte, ihn aus dem Zwang eines automatisierten Traditions- und Gruppenverhaltens befreite. Es mußte aber noch einige Zeit vergehen, ehe sich das literarische und theaterhafte Verhalten der realen Epigonen Marlinskischer und Schillerscher Helden als eine Gruppennorm herauskristallisierte, die eine individuelle Persönlichkeitsentfaltung verhinderte. Sich vom Literaturhaften lösend, begab sich der Mensch der dreißiger und vierziger Jahre auf die Suche nach dem eigenen Ich. Das änderte jedoch nichts daran, daß die unter dem Zeichen des Eindringens der Kunst, insbesondere des Theaters, in das russische Leben stehende Periode des beginnenden 19. Jahrhunderts eine für immer denkwürdige Epoche in der russischen Kultur bleiben wird. Das Theater und die Malerei sind zwei Pole, die sich gegenseitig anziehen und abstoßen. Im Theater tendierten vor allem Genres wie die Oper zur Malerei, während das Schauspiel das Theaterhafte betont. Eine etwas kompliziertere Rolle nimmt in diesem Umfeld das Ballett ein. Und so haben wir, wenn wir diese Genres bestimmen wollen, nicht die starren, in sich abgeschlossenen Bereiche der Kunst vor uns, sondern die ihre Wirkungsfelder charakterisierenden Pole. Diese Pole werden im einzelnen nicht nur durch die jeweiligen Ausdrucksmittel bestimmt, sondern auch durch die verschiedenen Lebensformen. Was man singen kann, läßt sich durchaus nicht immer adäquat im Tanz darstellen. Das Petersburger Publikum, das in der Oper italienisch gesungene Arien hörte und zweifellos ohne Mühe deren Sinn begriff, hät-
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te schwerlich ein in italienischer Sprache zur Aufführung gebrachtes Schauspiel besucht. Die verschiedenen Formen der Kunst brachten verschiedene Formen von Wirklichkeit hervor, und das Leben, das eine Kopie der Kunst sein wollte, nahm diese Unterschiede an. Der siebzehnjährige Graf Pawel Suchtelen, Kornett des 4. Geschwaders eines Kavallerieregiments, war in der Schlacht bei Austerlitz durch einen Säbelhieb am Kopf und durch den Splitter einer Kanonenkugel am rechten Bein verwundet worden. In Gefangenschaft geraten, erregte er inmitten einer Gruppe russischer Offiziere die Aufmerksamkeit des vorüberfahrenden Napoleon, der sich geringschätzig über die Jugend des Gefangenen äußerte. Suchtelen verblüffte Napoleon, indem er ihm mit den bekannten Versen aus dem „Cid" antwortete: Je suis jeune, il est vrai, mais aux ames bien nées La valeur n'attend point le nombre des années.120 Auf Befehl Napoleons wurde ein Bild mit diesem Thema für den Tuilerienpalast gemalt. Mit geradezu klassischer Eindringlichkeit zeigt uns diese Episode die Triade Bühne - Leben - Leinwand: Der junge Suchtelen schöpft sein Verhalten aus den Normen des Theaters, und Napoleon erkennt in einer realen Lebenssituation zielsicher das Sujet eines Bildes. Wir haben bereits über die Wechselwirkung zwischen Bühne und realem Alltagsverhalten der Menschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts gesprochen. Nun haben wir noch eine dritte Komponente einzuführen - die Malerei. Die Beziehung zwischen diesen beiden künstlerischen Texturen war in der uns interessierenden Epoche bedeutend offensichtlicher und enger, als es dem Leser unserer Zeit erscheinen mag. Die Gemeinsamkeiten von Malerei und Theater äußerten sich vor allem in der klar umrissenen Orientierung des Schauspiels auf rein malerische Mittel. Die Grundtendenz des szenischen Textes eines Schauspiels bestand nicht darin, in einem ununterbrochenen Handlungsablauf die zeitliche Abfolge der außerkünstlerischen Welt zu imitieren, vielmehr setzte er sich aus einzelnen, synchron organisierten und selbständigen ,Ausschnitten' zusammen, von denen jeder, wie ein Bild in einem Rahmen, seinen Platz innerhalb der szenischen Gestaltung hatte und den gleichen Kompositionsgesetzen unterlag wie die Figuren auf einer Leinwand. Nur unter den Bedingungen des funktionalen Zusammenhangs von Malerei und Theater konnten sich solche Erscheinungen entwickeln wie das Jussupow-Theater in Archangelski bei Moskau. Für das Jussupow-Theater waren von Gonsag bis auf den heutigen Tag erhalten gebliebene Dekorationen geschaffen worden. Diese Dekorationen sind Werke hoher malerischer Kunst und zeigen ein außerordentlich reiches und kompliziertes Spiel der künstlerischen Räume und stellen allesamt phantastische archi-
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tektonische Kompositionen dar. Am interessantesten jedoch ist ihr funktioneller Einsatz in der Theateraufführang. Sie waren nicht Hintergrund für die handelnden Personen auf der Bühne, sie waren selbst das Stück. Mit Hilfe der Bühnenmaschinerie und von einer speziell dafür geschriebenen Musik begleitet, wurden die Dekorationen vor den Augen der Zuschauer untereinander ausgetauscht. Die ganze Aufführung bestand aus der Verwandlung der Bilder. Das Aufkommen dieser Textauffassung, die das Gemeinsame von Szene und Bild in den Vordergrund rückte und im Unterschied dazu die Bewegung als zweitrangiges Element behandelte, kann vielleicht mit der sehr ähnlichen Darstellungsweise von „lebenden Bildern" erklärt werden, von Stücken also, deren Inhalt aus der kompositorischen Anordnung aktionsloser Schauspieler innerhalb des szenischen Bildes bestand. Bewegung wurde hier, wie in der Malerei, durch dynamische Posen unbewegter Figuren dargestellt. Der geübte Betrachter von Bildern wird nicht erstaunt darüber sein, daß eine unbewegte Leinwand dynamische Szenen ausdrückt. Er stellt die Bewegung in seinem Bewußtsein wieder her. Brüllows Bild „Der letzte Tag von Pompeji" betrachtend fragt er sich nicht: „Warum sind hier alle Menschen in der Bewegung erstarrt?" Er stellt sich natürlich ihre Bewegung vor, sie vollzieht sich in seinem Bewußtsein. Der ,normale' Eindruck im Theater dagegen basiert auf der Dynamik schauspielerischer Gesten und auf dem ständigen Wechsel der Personen auf der Bühne. Deshalb unterstreicht die Darstellung eines mit den Mitteln des Theaters geschaffenen Bildes seine Statik, brüskiert es die Erwartung des Dynamischen. Um das Theater einem Bild anzugleichen, war es notwendig, spezielle Mittel hervorzubringen, die den Kunsterfahrungen der Zuschauer entgegengesetzt waren. Die Bühne wurde in diesem Falle der Malerei gleichgestellt und nicht der Skulptur, obwohl, wie man annehmen könnte, die Nähe zu letzterer natürlicher wäre. Die Bedeutsamkeit von Kategorien wie dem Rahmen, der den Raum eingrenzt, oder der Farbe machten eine Gleichstellung der Bühne mit der Skulptur unmöglich. Der voluminöse Bühnenraum bedurfte der Verkleidung, und der reglose Darsteller ,ähnelte' weniger einer Statue als der Gestalt auf einem Bild. Das zeigt, daß hier nicht von irgendeiner natürlichen Ähnlichkeit die Rede ist, sondern von einem bestimmten Typ künstlerischer Verwandlung. Es ist bezeichnend, daß Goethe in den Wolf und Grüner diktierten und später von Eckermann bearbeiteten und herausgegebenen „Regeln für Schauspieler" (1803) vorschrieb: „Das Theater ist als ein figurloses Tableau anzusehen, worin der Schauspieler die Staffage macht. (...) Eben so wenig trete man ins Proszenium. Dies ist der größte Mißstand für den Schauspieler; denn die Figur tritt aus dem Raum heraus, innerhalb dessen sie mit dem Szenengemälde und den Mitspielern ein Ganzes macht".121 Ausgehend von den in dieser Zeit existierenden Regeln für die Anordnung der Figuren auf einem Bild verbietet Goethe den Schauspielern, zu nahe an die Kulissen zu
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treten. Einer gegensätzlichen Auffassung begegnen wir in Gogols „Revisor". Die Worte des Stadthauptmanns: „Worüber lacht Ihr? Ihr lacht über Euch selbst!" sollten der Absicht des Autors gemäß, die szenische Atmosphäre auflösend, in den Zuschauerraum geschleudert werden. Bezeichnend ist auch, daß der Schauspieler Igor Iljinski bei der Aufführung des „Revisors" im Jahre 1950 angewiesen wurde, bei diesen Worten dem Publikum den Rücken zuzukehren und sich an die Schauspieler auf der Bühne zu wenden. Die Gleichstellung von Bühne und Bild brachte das spezifische Genre der lebenden Bilder hervor. Halten wir fest, daß schon für Karamsin, nach seiner eigenen Äußerung, die reale Landschaft zu einem ästhetischen Faktum wurde, ihre Wahrnehmung durch das Prisma literarischer Transformation erfolgte, und daß für den jungen Puschkin die,Landschaft' einer Bühnendekoration und die vor ihr gruppierten Schauspieler die gleiche Rolle spielten - „überall vor mir bewegte Bilder...". Aufgrund des entwickelten Systems einer ähnlichen Bühnenwahrnehmung konnte sich aber auch eine sekundäre Erscheinung herausbilden: Es entstanden Theatersujets, die von einer mit lebenden Schauspielern agierenden szenischen Darstellung die Imitation von Werken der Malerei forderten. Danach erfolgte die Belebung des Pseudobildes. So brachte am 14. Dezember 1821 Schachowskoi in einer Petersburger Benefizvorstellung für die Asenkowa den Einakter „Lebende Bilder oder Das Unsere ist von Übel, das Fremde ist gut" auf die Bühne. „Hier waren einige in der Tiefe der Bühne errichtete lebende Bilder der verschiedensten Art zu sehen und auf der Vorbühne ein paar Porträts". 1 2 2 Das Sujet des Schachowskoischen Singspiels bestand in der Verspottung vorgeblicher Kunstkenner, die die Werke eines russischen Malers herabsetzten und ihm ausländische Muster entgegenhielten. Der gastgebende Mäzen hatte sie zu einer Ausstellung eingeladen. Nachdem alle Bilder der Verachtung durch die Kritiker anheimgefallen waren, stellte sich heraus, daß es keine Gemälde, sondern lebende Bilder waren und das Porträt des Hausherrn der Hausherr selbst. In einer derartigen Darstellung erschien selbst die Bewegung der Schauspieler auf der Bühne als eine Verblüffung hervorrufende Anomalie. Aber diese äußerste Erscheinungsform der Gleichsetzung von Theater und Bild ist in erster Linie deshalb von Interesse, weil sie anschaulich die N o r m der Auffassung vom Theater im kulturellen System zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich macht. Das Theaterstück wurde in eine Abfolge unbeweglicher ,Bilder' zerlegt. Man darf darin keine Zufälligkeit sehen. *
A u f dem Kollisionseffekt von Unbewegtheit und Bewegung basieren die Sujets sich
belebender Statuen, wie wir es in einer Reihe von Galathea-Themen finden, eine sich unter den Händen des Künstlers belebende Statue (dieses Sujet, das Baratynski in „ D e r Bildhauer" verwendete, war im französischen Ballett des 18. Jahrhunderts weit verbreitet), deren Darstellung bis zu Puschkins „Steinernem G a s t " und zu W e r k e n von Molière und M o z a r t reicht, die das gleiche T h e m a behandelt haben.
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Erinnern wir uns daran, daß Goethe in seinem bereits zitierten Werk festlegte, Schauspieler, die größere Rollen zu spielen hätten, sollten im Gegensatz zu den Nebenrollen weniger Bewegung zeigen. So forderte er: „Auf der rechten Seite steht immer die geachtete Person... Wer auf der rechten Seite steht, behaupte daher sein Recht und lasse sich nicht in die Kulissen treiben, sondern halte Stand (hervorgehoben von mir - J. L.) und gebe dem Zudringlichen allenfalls mit der linken Hand ein Zeichen, sich zu entfernen".123 Der Sinn dieser Forderung wird uns erst dann völlig klar, wenn wir berücksichtigen, daß Goethe von den Bühnenregeln seiner Zeit ausging, nach denen sich der links stehende Schauspieler bewegen, während der auf der rechten Seite stehende unbeweglich bleiben sollte. Besonders bemerkenswert ist hier der § 91 im Kapitel „Stellung und Gruppierung auf der Bühne". Darin wird erklärt, daß die Regel der bildlichen Anordnung und der ausdrucksvollen Posen nur bei den „höhergestellten" Charakteren anzuwenden ist: „Hierbei versteht sich von selbst, daß diese Regeln vorzüglich alsdann beobachtet werden, wenn man edle, würdige Charaktere vorzustellen hat. Dagegen gibt es Charaktere, die dieser Würde entgegengesetzt sind, z. B. die bäurischen, tölpischen etc."124 Ein Ergebnis dessen war das Bemühen, das Agieren der Schauspieler mit einem gewissen Grundfond an bedeutsamen Posen und Gesten auszustatten, und die Fähigkeit des Regisseurs zur Figurenkomposition konnte sich in der Tragödie weitaus stärker zeigen als in der Komödie. Von diesem Aspekt aus gesehen erschienen das außertheatralische Leben und die Tragödie gleichsam als Pole, zwischen denen die Komödie eine mittlere Position einnahm. Die natürliche Folge der oben beschriebenen Annäherung von Theater und Malerei war eine verbindliche Regelung des relativ stabilen und in die allgemeine Bühnensprache eingehenden schauspielerischen Bewegungsablaufs, der Mimik, der Posen und Gesten, sowie die Tendenz, eine ,Grammatik' der Bühnenkunst zu schaffen, die in den Arbeiten der theoriebezogenen wie der praktischen Theaterpädagogen deutlich spürbar ist. Beachtenswert sind auch die Illustrationen, die Darstellungen von Gesten und Posen, in den Theaterlehrbüchern jener Zeit. Diese Zeichnungen sind gewissermaßen Instruktionen und Erläuterungen für das Geschehen auf der Bühne. Man könnte damit auch die Funktion vergleichen, die die Zeichnung in der Regisseurtätigkeit S. Eisensteins hatte. In seiner frühen Periode, als die Montage der Figuren in einer Filmszene und die Montage der Filmszenen untereinander eine der Grundlagen seiner Regiearbeit war, hatte die Zeichnung vor allem einen konzeptionellen Charakter, fanden aber die elementaren Darstellungsmittel der Schauspieler vor dem Objektiv Anwendung, und wurden sie gleichsam in einer eigenen Art von Instruktion montiert, gelangte die Bedeutung der Zeichnung in einem noch weitaus höheren Maße zur Geltung und näherte sich der unterweisenden Funktion der Zeichnung in der Theaterkunst des 18. Jahrhunderts an.
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Zweiter Teil
Die Unterteilung des Verhaltensstils auf der Bühne in ,wichtige' und ,weniger wichtige' Personen fand in der besonderen Konzeption des allgemeinen menschlichen Verhaltens ihre Entsprechung. In der Sphäre der außerkünstlerischen Wirklichkeit bildeten sich zwei Verhaltensebenen heraus: die des Aussagefähigen, das eine Information trug, und die des mit keinerlei Aussage Verbundenen. Das erstere bezieht sich auf die Gesamtheit der Posen und Gesten, denn eine historische Handlung war von Posen und Gesten nicht zu trennen. Das zweite hatte weder irgendeine Bedeutung, noch verfügte es über einen konstanten Charakter; Wiederholbarkeit war hier nicht festzustellen. Eine Geste, die nicht bekannt war, konnte auch nicht wahrgenommen werden. Das erstgenannte Verhalten tendierte zum Ritual. Es bezog die Kunst in seine Sphäre ein und beeinflußte sie aktiv. Es wäre aber falsch anzunehmen, daß die Kunst in der klassizistischen Epoche der Darstellung des realen menschlichen Alltagsverhaltens auswich - in diesem Falle würde sie Eindruck vermitteln, als wollte sie das gesamte Weltbild der Epoche zerstören und durch ein anderes ersetzen - , sie schätzte vielmehr das ritualisierte Verhalten, das seine Normen wiederum den hohen Vorbildern der Kunst entnahm und nicht einem „bäurischen, tölpischen" Verhalten, wie Goethe es ausdrückte, als etwas Reales und Lebendiges sehr ,hoch' ein. In der vorromantischen Epoche verschoben sich diese Grenzen. Als erstes begann man das private Leben der einfachen Menschen als historisch wahrzunehmen und trug jene Posen und Gesten hinein, die zuvor bei der charakterisierenden Beschreibung und Darstellung der staatlichen Wirklichkeitsebene verwendet worden waren. So sind in den Genrebildern Greuzes mehr Posen und Gesten zu finden als in der Genremalerei der vorangegangenen Epoche, und Radistschew brachte das antike Statuenhafte in eine Szene ein, in der eine Kuh gemolken wird. Später breitete sich dann das auf Zeichen beruhende Verhalten auch in den verschiedensten Bereichen des Alltagslebens aus und theatralisierte sie. Eine gewisse Theatralisierung des privaten Lebens läßt sich auch schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts feststellen, aber sie stellt sich uns als Erscheinung einer prinzipiell anderen Kategorie dar, der Einfluß volkstümlichen Jahrmarktstheaters wird spürbar. Ein markantes Beispiel dafür sind die Erlebnisse Wassili Wassiljewitsch Golowins. Der Truchseßsohn, von Peter 1713 für einige Zeit nach Holland geschickt, war eingeschriebenes Mitglied der Akademie und bekleidete den Rang eines Kammerjunkers mit relativ unbedeutenden Aufgaben. Unter Biron geriet er in die Mühlen der Geheimpolizei und hatte unmenschliche Foltern zu erdulden: Man spannte ihn auf die Folterbank, bearbeitete seinen Rücken mit einem rotglühen* Vgl. in „Reise von Petersburg nach M o s k a u " im Kapitel „Jedrowo": „Ich verglich diese ehrsame Mutter mit den aufgekrempelten Ärmeln am Backtrog oder mit dem Melkeimer neben der K u h mit den Müttern in der Stadt".
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den Bügeleisen, trieb i h m glühende N a d e l n u n t e r die Nägel, schlug ihn mit K n u t e n u s w . D a m a n i h m keine Schuld nachweisen k o n n t e , k a m er schließlich gegen Z a h l u n g einer h o h e n B e s t e c h u n g s s u m m e f r e i u n d lebte danach lange Zeit auf seinem Landgut. Dieser Lebensgang, beschrieben in d e m k u r i o s e n B u c h „ G e n e a l o g i e der G o l o w i n s , G u t s h e r r e n der Siedlung N o w o s p a s k o j e " , w a r ein stetes u n d mit absoluter K o n s e q u e n z ablaufendes Schauspiel: „In der Morgenfrühe, noch vor dem Sonnenaufgang aufgestanden, las er zusammen mit seinem geliebten Kirchendiener Jakow Dmitrijew das Mitternachts- und das Morgengebet. Nachdem er die morgendlichen Regeln erfüllt hatte, kamen der Haushofmeister, der Schlüsselbewahrer, der gewählte Vertreter der Bauern und der Dorfälteste zum Rapport und zur Berichterstattung. Sie kamen und gingen gewöhnlich, wie es ihnen das treu ergebene Stubenmädchen Pelageja Petrowna Worobjowa befahl. Erst einmal rief sie: ,1m Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes', und die vor ihr Stehenden antworteten: ,Amen!' Erst dann sagte sie: .Tretet ein, gebt acht, seid leise, behutsam, vorsichtig und ehrfürchtig, mit Reinheit und Gebet gebt Bericht und nehmt die Befehle unseres Gutsherrn entgegen, verneigt Euch tief vor Seiner herrschaftlichen Gnaden und vergeßt es nicht, achtet strikt darauf!' Und mit einer Stimme antworteten alle: ,Wir hören, Mütterchen!' Sie betraten das Kabinett des Herrn, verneigten sich bis zum Boden und sprachen: .Gesundheit wünschen wir, unser Herr!' ,Seid gegrüßt, meine gequälten und nichtgequälten, von Erfahrungen und Strafen unbehelligten Freunde!' antwortete der Herr. Das war seine übliche Redewendung. ,Nun was, Kinder? Alles gesund und wohlbehalten bei uns?' Auf diese Frage antwortete der Haushofmeister mit einer tiefen Verbeugung: ,In der heiligen Kirche und in der ehrwürdigen Sakristei, in Eurem herrschaftlichen Haus, auf der Koppel der Pferde und des Viehs, im Pfauen- und Kranichgehege, in den Gärten überall, auf den Geflügelteichen und an allen Orten der Gnade des Erlösers ist alles, du unser von Gott behüteter Herr, wohlbehalten und wohlauf'. Nach dem Haushofmeister hub der Schlüsselbewahrer zu seinem Bericht an: ,In Euren herrschaftlichen Kellern, Speichern und Vorratskammern, in den Schuppen und Tennen, den Bienenstöcken und Hühnerställen, den Trocken- und Räucherkammern befindet sich alles, du unser Herr, dank der Gnade Gottes unversehrt und in wohlgefälligem Zustand, und das frische Quellwasser aus dem Brunnen des heiligen Grigori hat man auf Euren herrschaftlichen Befehl hin mit dem Schecken gebracht, in einen Glasballon gegossen, in einen Holzkübel gestellt, ringsum mit Eis ausgelegt, das Innere rundum ausgelegt und obenauf einen Stein getan.' Der gewählte Bauernvertreter berichtete so: ,Die ganze Nacht, unser Herr, sind wir um Euer herrschaftliches Haus geschritten und haben die Hölzer gegeneinander geschlagen, mit den Knarren geknarrt, die Parole tönen und das Brett erschallen lassen, regelmäßig auf dem Hörnchen geblasen, Herr, und alle vier haben wir untereinander laut geredet; die Nachtvögel sind nicht geflogen, haben nicht mit ihren seltsamen Stimmen geschrien, damit die junge Herrschaft nicht erschreckt, haben nicht an dem herrschaftlichen Gebuttertem gepickt, setzten sich nicht auf die Dächer und tummelten sich nicht auf dem Dachboden'. Schließlich berichtete der Dorfälteste: ,In allen vier Dörfern ist,
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Zweiter Teil
mit Gottes Gnade, alles rechtschaffen und ordentlich. Die Bauersleute des Herrn werden reicher, ihr Vieh wird gesünder, die vierbeinigen Tiere weiden, das Hausgeflügel legt Eier, auf Erden war keine Erschütterung zu hören und am Himmel sah man kein Mahnzeichen: Der Kater Wanka und das sündige Weib Sashigalka", die in Rtistschewo lebt, erhält allmonatlich auf Befehl Eurer Gnaden ein Almosen, wehklagt über ihre Verbrechen und bittet Euch, unser Herr, unter Tränen, Ihr möget Euren herrschaftlichen Zorn in Gnade umwandeln und Eurer schuldiggewordenen Sklavin vergeben' ",125 Es ist jedoch bezeichnend, daß die Theaterhaftigkeit eines solchen Typs keine Neigung dazu zeigte, das Alltagsleben in unbewegliche' Bilder zu unterteilen, sowie Posen und Mimik zu fixieren. Der mit der Realität der Bironschen Zeit in Kollision geratene Golowin setzte ihr sein eigenes, in das ständige Theater eines einzigen Schauspielers verwandelte Leben entgegen. Das den Menschen umgebende Leben wurde gewissermaßen aus zwei Blickwinkeln wahrgenommen, dem real-alltäglichen und dem theatralischen. Was als hochstehend, sinnvoll, „wahr" und historisch bedeutsam eingestuft wurde, fand seinen Niederschlag in der Theatersprache, die sich mit Macht im Alltagsleben ausbreitete. Alles ,Unwichtige' und Alltägliche, sich außerhalb der Grenzen des Theatralischen Vollziehende, blieb hingegen nahezu unbemerkt. Hinter dieser Einteilung können wir leicht einen tiefergehenden Unterschied erkennen. Das Selbstbewußtsein der Epoche faßte die Vorstellung von einem sinnvollen, hochstehenden',,historischen' Verhalten unter dem Begriff eines Verhaltens erster Ordnung zusammen. Die ,historische Handlung' war mit der Geste und der Pose genauso eng verknüpft wie die ,historische Phrase' mit der aphoristischen Form. Hier ein bezeichnendes Beispiel dafür: Am 9. September 1830 berichtete Puschkin Pletnew vom Tod seines Onkels W. L. Puschkin. Er schrieb: „Der arme Onkel Wassili! Kennst Du seine letzten Worte? Ich fahre zu ihm, finde ihn bewußtlos, wieder zu sich kommend erkannte er mich, es verging einige Zeit, dann, nach einem Schweigen: Wie langweilig doch die Artikel Katenins sind! und dann kein Wort mehr. Welche Art? Das heiße ich, als ehrlicher Kämpfer zu sterben, auf dem Schild, le cri de guerre ä la bouche". (XIV, 112) Eine etwas andere Version teilt der Fürst P.A. Wjasemski mit: „Eine Viertelstunde vor seinem Tod, als W. L. Puschkin sah, daß ich die ,Literaturzeitung', die auf dem Tisch lag, zur Hand nahm, sagte er zu mir mit ermattender und verlöschender Stimme: ,Wie langweilig ist doch dieser Katenin!', der zu jener Zeit lange Artikel in dieser Zeitung veröffentlichte. *
I m übertragenen Sinne: „Zündhölzchen". So wurde das W e i b genannt, durch dessen
Unvorsichtigkeit N o w o s p a s k o i e im J a h r e 1775 abgebrannt war. D e r B r a n d hatte Wassili Wassiljewitsch dermaßen erschreckt, daß er all seinen Leuten befahl, das Essen künftig nur in einem Raum zuzubereiten, und er hatte mehr als dreihundert Leute, natürlich wurde sein Befehl nie ausgeführt. - A n m e r k u n g desselben. * * „Mit einem Kriegsruf auf den Lippen" (franz.).
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,Allons nous en', sagte Puschkin zu mir, ,il faut laisser mourir mon oncle avec un mot historique'". Damit die W o r t e und das Verhalten Wassili Lwowitschs historischen Charakter bekamen, mußten es: 1. die letzten W o r t e des Sterbenden sein, verbunden mit dem, in sich abgeschlossenen und gleichzeitig bedeutsamsten, das Leben vollendenden Augenblick; 2. Worte sein, die als Aphorismus wahrgenommen wurden; 3. Worte sein, die von einem Gesten-Code, einer Pose begleitet wurden, die als historisch verstanden werden konnte. Im vorliegenden Fall wird das Verhalten Wassili Lwowitschs mit der Pose eines sterbenden Kriegers verglichen, der auf seinem Schild mit einem Kriegsruf auf den Lippen stirbt. Hier wäre darauf zu verweisen, daß der T o d W . L. Puschkins noch eine weitere Legende hervorbrachte. Sich auf einen guten Bekannten berufend erzählt P. W . Annenkow, daß der sterbende W. L. Puschkin „von seinem Bett aufstand, sich zu den Bücherschränken seiner riesigen Bibliothek schleppte, in denen die Bücher in drei Reihen hintereinander standen, einen Band Beranger herausnahm und mit dieser Bürde hinüber ins Diwanzimmer ging, dort blätterte er in seinem Lieblingsdichter, seufzte schwer und verschied über den Chansons des französischen Dichters". 1 2 6 In diesem Fall erhält das Alltagsverhalten ebenfalls einen historischen Charakter, da sich Geste und Pose mit einer Legende vereinigen, jedoch hier bereits mit einem anderen Typus, mit dem der Legende über Anakreon, den leichtsinnigen Dichter, der zufolge er sich am Kern einer Weintraube verschluckte. Auch ein entgegengesetzter Fall ist hier noch zu erwähnen. Puschkin schrieb auf den Band der Batjuschkowschen Elegie „Der sterbende T a s s o " : „Das ist der sterbende W(assili) L(wowitsch) - nicht T o r q u a t o " ( X I I , 283). Hier ist allerdings darauf hinzuweisen, daß die Gegenüberstellung dieser beiden Verhaltenstypen für Puschkin selbst schon ihren Sinn verloren hatte. I m Licht des bereits Gesagten wird nicht nur die ,Bildhaftigkeit' des Theaters erhellt, sondern auch das Theatralische in den Bildern des 18. Jahrhunderts. Die von den Malern dargestellten Szenen vermitteln den Eindruck, als wiederholten sie das Theater und nicht das Leben. Das bot in einer Epoche, in der der kulturelle Code des 18. Jahrhunderts bereits wieder in Vergessenheit geraten war, Anlaß zu der Behauptung, daß die Maler jener Jahre nicht die Wirklichkeit dargestellt oder sich nicht für sie interessiert hätten. Natürlich trifft das nicht zu. D i e Problematik besteht nicht nur darin, daß die Welt der Ideen für den cartesianischen Rationalisten in einem höheren Maße Wirklichkeit war als die dahinfließenden Formen des Daseins. Sie ist auch darin zu sehen, daß man, wie wir am Beispiel des *
„ G e h e n wir... lassen wir den O n k e l mit einem historischen W o r t sterben" (franz.)
Moskwitjanin, 1854, 6, A b t . IV, S. II. P. Bartenew gibt eine andere Version wieder: „Zeitgenossen haben uns berichtet, daß Puschkin, als er die W o r t e des sterbenden Wassili L w o witsch hörte, auf Zehenspitzen zur T ü r ging und den dort versammelten Verwandten und Freunden zuflüsterte:,Gehen wir, Herrschaften, mögen das seine letzten W o r t e s e i n ' " (Das Russische Archiv, 1870, S. 1369).
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Zweiter Teil
Falles Suchtelen gesehen haben, ein Ereignis des Lebens, um es als Sujet für die Malerei erfassen zu können, in den Formen des Theaters vormodellieren mußte. Die angeführten Fakten sind ein einleuchtender Beleg dafür, daß die Theatralisierung der Malerei nicht ausschließlich dem Klassizismus zuzurechnen ist, sie eignet im gleichen Maße auch der Vorromantik und der Romantik. So regte der Vorromantiker Karamsin, als er 1802 Sujets für Gemälde aus der russischen Geschichte empfahl, diese bewußt als Szenen an, etwa wenn er dort, wo er im Zusammenhang mit dem Fürstentum Olegs über malerische Sujets sprach, anmerkte: „Dem Maler... bleibt nur übrig, aus zehn möglichen Vorstellungen nach Belieben auszuwählen". 127 Der durch das Prisma der „Vorstellung" gegangene Blick auf ein Bild mit einem historischen Sujet wird insbesondere nicht nur dadurch beeinflußt, daß er mit dem malerischen Text gleichzeitig eine Reihe von Posen assoziiert, sondern auch bestimmte Worte, wie sie Karamsin den Personen auf einem imaginären Bild in den Mund legt: „Sein Schwert ziehend, sprach der Fürst: ,Lassen wir hier unsere Gebeine ruhen, Tote kennen keine Scham: Das ist der Augenblick des Malers!" 128 Die wechselseitige Übertragung der Sprache des Theaters und die der Malerei bildete neben den anderen einen dominierenden Stil der Epoche heraus, der sich aber nur in einer bestimmten Phase als vorherrschend erwies. Er beeinflußte auch, „wie schon mehrfach erwähnt, die Poesie. Indem diese jedoch in gewisser Hinsicht mit der Dershawinschen Tradition bricht, erweist sich die Poesie des russischen Empire stärker mit der Skulptur verbunden als mit der Malerei. E.G. Etkind weist darauf hin, daß, während der Anfangsgedanke der Puschkinschen Ode „Die Freiheit" in Form einer aus mehreren Figuren zusammengesetzten Komposition ausgedrückt ist - der Dichter im Kranzesschmuck und mit der Lyra in der Hand vertreibt die Göttin der Liebe und ruft nach einer anderen - , sind die allegorischen Gruppen bei Batjuschkow Skulpturen",129 Ähnliche Beobachtungen machte A.M. Kukulewitsch bezüglich der Poetik Gneditschs: „Von den aktuellen ästhetischen Problemen, die zu Beginn der 20er Jahre vor der russischen Poesie standen, von der Problematik, die innere Welt des Helden, seine seelischen Erlebnisse, seine Weltauffassung usw. zu zeigen, war Gneditschs Idylle weit entfernt. Zweifellos fühlte sie sich, im Sinne des Winckelmannschen Klassizismus, mehr den ästhetischen Prinzipien der bildenden Künste, den Prinzipien der Malerei und der Skulptur verwandt. Die realistischen Tendenzen des ,Homerschen Stils'... sind mit diesen Prinzipien organisch verbunden. Nicht umsonst hob Gneditsch, den Homerschen Stil charakterisierend, gerade die plastische Seite seiner Poetik hervor:,Homer beschreibt den Gegenstand nicht, er präsentiert ihn gewissermaßen den Blicken, man sieht ihn'".130 In noch markanterer Weise wirkte sich das auf die Wechselbeziehung zwischen der Kunst und den Verhaltensweisen der Menschen jener Epoche
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aus. Einerseits vollzog sich die von uns bereits erwähnte Einflußnahme des theatralisch-malerischen Bewußtseins auf das menschliche Alltagsverhalten der E p o c h e , andererseits wählte der Verfasser von Memoiren, Aufzeichnungen und anderen schriftlichen Zeugnissen, auf die sich der Historiker stützt, aus seiner Erinnerung nur das an W o r t e n und Handlungen aus, was sich z u r Theatralisierung eignete und dessen Z ü g e sich bei der Ü b e r t r a gung seiner Erinnerungen in einen geschriebenen T e x t in der Regel n o c h verdichten ließen. Das ist auch v o n unmittelbarer Bedeutung für die Position des Historikers, der, von diesen Texten ausgehend, die darin nicht untergebrachte Realität zu rekonstruieren versucht. In dieser Hinsicht sind für den Historiker besonders die eigenwilligen z w e i s p r a c h i g e n ' T e x t e der Gespräche des Generals N . N . Rajewski wertvoll, die dessen Adjutant, K. N . Batjuschkow, aufgezeichnet hat: „Wir waren im Elsaß... Gegenstand unserer Plauderei war die Kampagne von 1812. ,Aus mir hat man einen Römer gemacht, lieber Batjuschkow', sagte er zu mir, ,aus Miloradowitsch einen großen Mann, aus Wittgenstein den Retter des Vaterlandes, aus Kutusow - Fabius. Ich bin kein Römer, dafür sind aber auch diese Herren keine großen Vögel... Man sagte von mir, ich hätte bei Daschkowka meine Kinder geopfert.' ,Ich erinnere mich', antwortete ich, ,in Petersburg hat man Sie angehimmelt'. ,Für das, was ich nicht getan habe, aber für meine wahren Verdienste wurden Miloradowitsch und Osterman gepriesen. Das ist der Ruhm, das sind die Früchte der Taten!' ,Aber ich bitte Sie, Euer Exzellenz! Sind nicht Sie es gewesen, der seine Kinder bei der Hand nahm, das Banner ergriff, auf die Brücke ging und immer wieder rief: .Vorwärts, Jungs; ich und meine Kinder werden den Weg zum Ruhm freimachen' oder etwas in der Art.' Rajewski lachte auf: ,So geschraubt rede ich nicht, das solltest du selbst wissen. Es ist wahr, ich war vorn. Die Soldaten wichen zurück, ich ermutigte sie. Bei mir waren die Adjutanten und Ordonnanzen. Auf dem linken Flügel waren alle gefallen oder verwundet, mir blieb nur die Kartätsche. Aber meine Kinder waren in diesem Augenblick nicht da. Der kleinere Sohn sammelte im Wald Beeren (er war damals noch ein reines Kind), und eine Kugel durchbohrte seine Pantalons; und das ist schon alles; die ganze Anekdote wurde in Petersburg verfaßt. Dein Kamerad (Shukowski) hat sie in Versen besungen. Die Graveure, die Journalisten, die Novellisten haben die günstige Gelegenheit aufgegriffen und mich zum Römer erhoben. Et voilà comme on écrit l'histoire!' E s wäre aber verfehlt anzunehmen, daß für die Wiederherstellung der tatsächlichen Ereignisse das .römische' (richtiger, das theatralische') K o l o rit nicht als etwas dem realen Verhalten der Teilnehmer an den Ereignissen Zugehöriges zu verstehen sei, sondern dem T e x t angehöre, der dieses V e r halten beschreibt.
Das, was Rajewski selbst der Legende
absprach,
w a r seinem realen Verhalten keineswegs fremd und sicher nicht zufällig
„So schreibt man also G e s c h i c h t e " (franz.).
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Zweiter Teil
entstanden, man sollte also dieses Ableugnen ebensowenig allzu wörtlich verstehen wie seine Behauptung, er drücke sich nie „geschraubt" aus. Erstens beeinflussen Rede und Geste auch das Verhalten. Zweitens kann man wohl annehmen, daß Rajewski, wenn er sich mit Batjuschkow unterhielt, sein reales Verhalten in ein anderes System übertrug, in das eines SoldatenGenerals', eines treuherzigen Helden und Haudegens. Der gleiche Batjuschkow erzählte, hier schon nicht mehr mit den Worten Rajewskis, sondern nach eigenen Eindrücken, eine andere Episode, deren Augenzeuge er war. Rajewski befand sich während der Schlacht bei Leipzig mit den Grenadieren im Zentrum des Kampfes. „Rechts, links, alles war zusammengebrochen. Nur die Grenadiere hielten ihre Brust hin. Rajewski stand unzufrieden, wortlos in der Reihe. Die Sache ging nicht sehr gut. Ich sah das Mißbehagen auf seinem Gesicht, aber keine Unruhe. In der Gefahr ist er ein wahrer Held, er ist herrlich. Seine Augen beginnen wie Kohle zu glühen, und seine edle Haltung wirkt wahrhaft erhaben". Plötzlich wurde er mitten in der Brust verwundet. Man galoppierte nach einem Arzt. „Einer beschloß, sich unter den Kugelhagel zu wagen, ein anderer kehrte um". Sich zu Batjuschkow umwendend sagte der verwundete Rajewski: „ J e n'ai plus rien du sang qui m'a donné la vie. Ce sang l'est épuisé, versé pour la patrie'. Und das sagte er ungewöhnlich lebhaft. Sein zerfetztes Hemd, die Ströme von Blut, der Arzt, der die Wunde verband, die Offiziere, die um den schwerverwundeten General hasteten, der vielleicht der beste in der ganzen Armee war, das ununterbrochene Feuer und der Rauch der Geschütze, die Bedeutsamkeit dieser Minuten, mit einem Wort, all diese Umstände verliehen diesen Versen besondere Bedeutung". Das angeführte Zitat bezeugt noch einmal, wie verfehlt es wäre, das Theaterhafte des Verhaltens allein der Beschreibung anzulasten und vorbehaltlos darauf zu vertrauen, daß Rajewski sich nicht „geschraubt" auszudrücken verstand. Wie der Zeitgenosse seine Epoche sieht und beschreibt, wird aktiv von ihrer Deutungskultur beeinflußt. Zwischen dieser und der Wirklichkeit entsteht ein kompliziertes System von Wechselwirkungen. Rajewski stand der Pose und der sich zur Schau stellenden Deklamation fremd gegenüber; sein Weltverständnis wuchs ihm durch das Theater zu, aber das Theater sah er mit den Augen der Wirklichkeit. Das Begreifen des historischen Augenblicks und der heroischen Tat erfolgte über die Mittel der Tragödie und der Bühne. Dabei ist es bezeichnend, daß der Patriot und Gegner der von * „Ich habe nichts mehr von dem Blut, das mir das Leben geschenkt hat. Dieses Blut ist hingegeben und vergossen für das Vaterland" (franz.).
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den Stutzern gepflegten Gallomanie sein Gefühl mit Versen aus einer französischen Tragödie ausdrückte. In dieser Minute war es ihm gleichgültig, in welcher Sprache er redete, ihm war nur daran gelegen, seinem Gefühl ein Höchstmaß an Ausdruck zu verleihen. In Tolstois „Sewastopoler Erzählungen" gibt es die folgende Szene: U m ihr natürliches Angstgefühl zu unterdrücken, zwingen sich Offiziere, unter dem Artilleriefeuer der Bergbewohner über für sie uninteressante Themen zu reden. Das natürliche Gefühl eines Soldaten dagegen äußert sich in von Herzen kommenden Flüchen. Rajewski gleicht, wie auch andere Menschen seiner Epoche, den Tolstoischen Helden nicht. Für ihn ist das französische Zitat der aufrichtigste und zutreffendste Audruck seiner wahren Gefühle. Das wird durch seine bereits zitierten, den „römischen Rahmen" der Gegenwartswahrnehmung kritisierenden Worte nur noch unterstrichen. Natürlich stößt der durch das Prisma einer „römischen" Theatralität gehende Blick auf die Wirklichkeit an Grenzen. Seine Natürlichkeit äußert sich insbesondere darin, daß er auch zu einer gewöhnlichen, alltäglichen Wahrnehmung der Geschehnisse fähig ist und ihn nichts daran hindern kann. So ist es für das Beispiel des Generals Rajewski nicht unwichtig, daß er sich in der realen Verhaltenssphäre sowohl als Held einer Tragödie und als „Römer", wie auch als „Soldaten-General" benehmen konnte. Legte Rajewski das zweite Verhalten an den Tag, und seine Zeitgenossen begriffen ihn nach dem System des ersteren, entstanden Legenden wie die über die Episode an der Brücke von Daschkowka. Beide Chiffren jedoch gehörten zu denen, die in den Kreis des real Möglichen eingingen. Es gibt Epochen, in denen die Kunst, meist mit der „Jugendlichkeit" dieser oder jener Kultur verbunden, dem Leben nicht entgegensteht, sondern gewissermaßen zu einem seiner Bestandteile wird. Die Menschen begreifen sich durch das Prisma der Malerei, der Poesie oder des Theaters, des Kinos oder des Zirkus, und gleichzeitig sehen sie in diesen Künsten, gleichsam wie in einem Fokus, zur Gänze den Ausdruck der Realität selbst. In diesen Epochen ist die Aktivität der Kunst besonders groß. Zwischen der Tolstoischen Uberzeugung, nach der die Kunst eine Widerspiegelung des Lebens ist und in erster Linie ihrer Wahrhaftigkeit wegen geschätzt wird, und der ebenfalls Tolstoischen Verneinung der Kunst besteht ein organischer Zusammenhang. Das 18. und beginnende 19. Jahrhundert stellen eine von Jugend durchdrungene Epoche dar. Zu ihren Merkmalen gehören jugendliche Unmittelbarkeit ebenso wie die Geradlinigkeit und die Energie des Jungen. In ähnlichen Epochen fließen Kunst und Leben zusammen, indem sie die Unmittelbarkeit der Gefühle und die Aufrichtigkeit der Gedanken nicht zerstören. Nur wenn wir uns den Menschen dieser Zeit vergegenwärtigen, können wir diese Kunst verstehen, und gleichzeitig finden wir nur im Spiegel dieser Kunst das wahre Gesicht des Menschen dieser Zeit.
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Zweiter Teil LEBENSBILANZ
Der T o d führt den Menschen aus dem für das Leben bestimmten Raum hinaus. Der Mensch geht aus dem historischen und sozialen Bereich in die Sphäre des Ewigen und Unabänderlichen über. Nichtsdestoweniger verbinden wir das Erlebnis des Todes mit den Eigentümlichkeiten dieser oder jener Kultur, denn das Bild des Todes und die Gedanken, die man sich über ihn macht, begleiten den Menschen sein ganzes Leben hindurch und durch alle Etappen der Geschichte. Die Idee des Todes geht dem T o d selbst mit Macht voran. Sie wird gleichsam zu einem Spiegel des Lebens, jedoch mit der Einschränkung, daß die Widerspiegelung hier keine passive ist, denn jede Kultur spiegelt sich auf ihre Weise in der von ihr geschaffenen Konzeption des Todes wider, und der T o d wirft seinen unheilschwangeren oder heroischen Widerschein über jede Kultur. Die Eigentümlichkeit des 18. Jahrhunderts hat sich vielleicht nirgends mit einer derartigen Kraft geäußert hat wie beim Erlebnis des Todes. Die traditionellen, von den Vorvätern ererbten christlichen Vorstellungen hatten sich zwar bei der Majorität des Adels erhalten, erfuhren aber eine starke Beeinträchtigung durch die deistischen und skeptischen Ideen der Aufklärung. Bei aller Vielfalt der philosophisch-religiösen Ideen und Konzeptionen, die in den Köpfen der Menschen des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts einander abwechselten, tritt deutlich ein ihnen gemeinsamer Zug zutage: Alle Leidenschaften, Vorhaben, Wünsche waren auf das irdische Leben fixiert. Sogar das Nachdenken über die Unabänderlichkeit des Todes rief ein leidenschaftliches Hinneigen zu den Vergnügungen des Lebens hervor: Das Leben ist des Himmels Augenblicksgeschenk; Laß es zum Seelenfrieden dir geraten. G. Dershawin. „Auf den Tod des Fürsten Mestscherski" Der T o d war ein Moment, in dem sich die christlichen Vorstellungen von der Unsterblichkeit der Seele sowie die bis in die Antike zurückreichenden und von der offiziellen Ethik übernommenen Ideen vom Nachruhm kreuzten. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist die Episode um den T o d S . N . Marins. Marin, ein bekannter satirischer Dichter, Spaßvogel und Kolporteur der verschiedensten Gardistenstreiche, war gleichzeitig eine angesehene Militärpersönlichkeit und Teilnehmer an allen napoleonischen Kriegen. Mehrfach verwundet, erfüllte er 1812 verantwortliche Aufgaben bei der kämpfenden Truppe. Nachdem er aufgrund seiner Verwundungen aus der Armee entlassen worden war, wurde er auf Initiative Bagrations am 19. August 1812 zur Auszeichnung mit dem Wladimirorden 3. Klasse vorgeschlagen. Die Auszeichnung erreichte ihn aber nicht mehr. Marin starb an seinen Verwundungen, und der ihn betreffende Befehl wurde aufge-
Lebensbilanz
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hoben: „Bleibt aufgrund des Hinscheidens von Marin ohne Wirkung". Geradezu schockierend ist der typisch römisch-heidnische Stil, mit dem diese Angelegenheit durch einen Befehl Alexanders I. ihr Ende fand. Er beauftragte Orest Kiprenski, ein Porträt von Marin mit dem Orden am Hals zu zeichnen. Es war kein Zufall, daß das Thema der Ehrung nach dem Tode in der Poesie keine christlichen, sondern antike (heidnische) Assoziationen entstehen ließ. So stellte der ganze Zyklus der „Denkmäler" - Lomonossow, Dershawin, Puschkin eine offensichtliche Variation der Traditionen des H o r a z dar. N o c h charakteristischer ist in dieser Hinsicht das Dershawinsche Gedicht „Der Schwan", in dem unmißverständlich die antike Gestalt des Dichter-Schwans den Sieg über den T o d verkörpert, den der poetische Ruhm beschert. Das Thema des nicht dank seiner Herkunft berühmten, sondern von den Göttern auserwählten Poeten ist übrigens ein direkter Verweis auf die Horazische Tradition: Ja, so! Bin zwar von Herkunft nicht sehr hoch geschätzt, Doch bin der Musen Liebling allemal, Werd den Begüterten nicht gleichgesetzt, Und selbst der Tod erspart mir alle Qual. Kein Grabmal wird sich um mich schließen, Nicht werd zu Staub ich unter Sternen, Als Zewniza werd machtvoll ich vergießen Der Töne Strom über die Himmelsfernen. Schon sehe ich, wo eben sich noch Haut gelegt, Meine Gestalt gänzlich umhüllt, Mir Schwingen wachsen, Flaum sich regt; Mit schwanenweißem Glanz bin ich erfüllt.... „Da fliegt, der eben noch die Lyra tönen ließ, Der mit des Herzens Sprache uns beglückte, Und wo der Welt den Frieden er verhieß, Sich selbst am Glück der anderen entzückte." Fort, Freunde, mit des Grabes Ruhmesstein! Und Schweigen sei dem Musenchor geboten! Ü b du dich in Geduld, Gemahlin mein. Und weine nicht über den falschen Toten.
Allein schon die bildliche Verkörperung der Gedanken über den Tod, die außerhalb des Christentums weit verbreitet sind, war bis zum 18. Jahrhundert gänzlich unmöglich. Ubersetzte Lomonossow, mit einer deutlichen Projektion auf sich selbst, den antiken Dichter noch mit dessen Vorstellung von der Unsterblichkeit, schufen Dershawin und Puschkin völlig originale, auf ihre realen Biographien orientierte Vorstellungen über den ewiV o l k s t ü m l i c h e s B l a s i n s t r u m e n t im alten R u ß l a n d .
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Zweiter Teil
gen Ruhm des russischen Poeten. In diesen Texten fehlt das Thema der unsterblichen Seele, doch es wäre verfehlt zu behaupten, dieser Umstand ginge auf die antiken Quellen zurück. Inbesondere Puschkin verwendete in seinen Gedichten bewußt sowohl das christliche Motiv der Barmherzigkeit, als auch ein Zitat aus dem Koran, das er in sein letztes Gedicht aufnahm und an die herausragendste Stelle des Textes setzte Wandten die Menschen unter der Ideologie der Kirchspaltung in der petrinischen Epoche ihre ganze Denkweise dem Tod und dem Leben nach dem Tode zu, war die adlige Staatlichkeit dieser Zeit dagegen so sehr mit irdischen Angelegenheiten beschäftigt, daß ihr keine Zeit mehr zum Nachdenken über ,jenseitige' Fragen blieb. Und wenn gefordert wurde, um des Staates willen das eigene Leben nicht zu schonen, so geschah das nur als rechtliche Begründung dafür, daß auch das Leben anderer nicht zu schonen sei. Peter I. erinnerte in dem anklagenden Brief an seinen Sohn daran, daß er um der allgemeinen Sache willen kein Mitleid mit dem eigenen Leben kenne und deshalb auch ihn, den „Unflätigen", nicht schonen könne. Der Gedanke an den Tod rief bei ebenjenem Peter I. nur eine Zunahme ebenjener Sorgen um den Staat hervor, die ihn auch im Leben beschäftigten."
* Vgl. im „Tagebuch" Onegins: „Im Koran stehn viele goldne Lehren/ Z u m Beispiel: bete stets z u r Nacht/ Sei w a h r h a f t , Gott sollst du verehren/ U n d hüte dich vor N i e d e r tracht". Im „Denkmal": „ N i m m L o b und L ü g e gleichsam hin/ u n d streite nicht mit einem T r o p f " . Den Leser an seine O d e „Der Gott" erinnernd, milderte D e r s h a w i n den hohen und, vom S t a n d p u n k t der kirchlichen O r t h o d o x i e aus gesehen, nicht g a n z e i n w a n d f r e i e n Inhalt dieses Gedichtes mit der F o r m u l i e r u n g ab: „...zuerst hab ich gewagt.../ M i t H e r z e n seinfalt über Gott sprechen". In diesem Kontext konnte die Anrede der M u s e als poetischer Bezug verstanden werden. Ein größeres W a g n i s w a r da schon die Entscheidung Puschkins für: „Dem Gebot Gottes, o Muse, m u ß t du gehorchen". Gott u n d die M u s e stehen hier eng nebeneinander, w o b e i beide W o r t e mit Großbuchstaben geschrieben sind, w a s bei d e m W o r t „Muse" im Russischen nicht üblich ist. Das stellte sie in eine gedankliche u n d s y m bolische Reihe gleich hoher, aber unvereinbarer W e r t e . Eine derartige Einheitlichkeit stellte die besondere Position eines A u t o r s her, der alle H ö h e n menschlichen Geistes e r k l o m men hatte. ** Der Sage zufolge sagte Peter I. vor der Schlacht bei Poltawa: „Krieger! Jetzt ist die Stunde gekommen, die das Schicksal des Vaterlandes entscheidet. Bedenkt also, nicht für Peter kämpft Ihr, sondern für den Staat, der Peter gegeben wurde, für das Geschlecht, für das Vaterland". U n d weiter: „Und von Peter sollt Ihr wissen, daß ihm das Leben nicht teuer ist, nur Rußland soll leben". M a n darf diesen an die Soldaten gerichteten Text Peters nicht als authentisch ansehen. Der Text war in seiner ersten Fassung von Feofan Prokopowitsch zusammengestellt worden, möglicherweise aufgrund irgendwelcher mündlicher Legenden, und w u r d e später bearbeitet. (Siehe: W e r k e der kaiserlichen russischen militärhistorischen Gesellschaft, Bd. III, S. 274-275; Briefe und Papiere Peters des Großen. Bd. IX, 1. A u f l . 3251, A n m e r k u n g I, S. 217-219, 2. A u f l . S. 980-983). Die Tatsache, daß im Ergebnis einer Reihe von Änderungen die historische Glaubwürdigkeit des Textes mehr als zweifelhaft w u r d e , steigert von unserem Standpunkt aus paradoxerweise das Interesse an ihm, denn sie erweitert die Vorstellung darüber, was Peter in dieser Situation hätte sagen sollen, und das ist für einen Historiker nicht weniger interessant als seine wirklichen Worte. Ein solches Idealbild eines patriotischen Zaren zeichnete Feofan in Abwandlungen auch in anderen Texten.
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Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts wurde der T o d zu einem der literarischen Leitthemen. Das war der Widerschein wesentlicher Verschiebungen im Leben selbst. Ein Merkmal der petrinischen Epoche war die Idee der kollektiven Lebensweise. Der Mensch ging gewissermaßen im Staat auf, und der eigene Tod erschien vor dem Angesicht des staatlichen Lebens unbedeutend. Für den Teil des Adels, der sich die alten Formen der Lebensweise erhalten hatte, hing das Erlebnis des Todes von dem System traditioneller kirchlicher Vorstellungen ab und, mehr noch, von den genauestens beachteten Bräuchen. Eine nicht geringe Schicht des russischen Adels sah sich jedoch vor die Notwendigkeit gestellt, über die Grenzen dieser Vorstellungen hinauszugehen. Das geschah vor allem im Zusammenhang mit den durch die Begleitumstände des Krieges hervorgerufenen Brüchen im Bewußtsein der Menschen. Das militärische Verhalten nahm im 18. Jahrhundert Züge an, die es scharf von den voraufgegangenen Jahrhunderten abgrenzten. Es wurde zutiefst persönlich. Der Ruhm, der Ehrgeiz, das Sichverzehren nach einer Heldentat, all diese Seelenzustände waren schon, in weitaus geringerem Maße, in der Sippe und in der Familie vorhanden gewesen und bestimmten nun fast völlig das individuelle Schicksal. Insbesondere spiegelte sich das darin wider, daß die Auszeichnungen einen persönlichen Charakter anzunehmen begannen. Solche Auszeichnungen wie die Geldgeschenke an die Soldaten, an die Teilnehmer von Schlachten, oder wie die Medaillen für die Offziere hatten noch Gruppencharakter, sie wurden an Regimenter vergeben, die sich ausgezeichnet hatten. Aber die Orden waren vom Beginn ihrer Einführung an individuell. So konnte der ehrenvollste Militärorden, das Georgskreuz, nur von einem Offizier errungen werden, der eine persönliche Heldentat vollbracht hatte. Die Heldentat konnte nicht nur durch einen O r den, sondern auch durch den T o d gekrönt werden. Der Tod wurde persönlich und begann gewissermaßen die höchste Auszeichnung des Ehrgeizes darzustellen. U m Katharina II. zu schmeicheln, sagte ihr der Prinz de Ligne, daß sie, wäre sie als Mann geboren, ein berühmter Feldherr geworden wäre und Hunderte von Schlachten geschlagen hätte. Die ehrgeizige Kaiserin entgegnete, daß er sich irre: Sie wäre bereits als junger Mann in einer der ersten Schlachten getötet worden. Die Verquickung von Kriegstod und Heldentat als Krönung einer großen Laufbahn kam auch in den Inschriften auf den Grabmälern dieser Jahre zum Ausdruck. So gab Puschkin, wenn auch nicht ohne einen Anflug von Ironie, mit dokumentarischer Genauigkeit die Inschrift auf dem Grab des Vaters von Tatjana Larina wieder: Hier ruhet, aller Sünden ledig, Erlöst von aller Erdenqual, Dmitri Larin, Gottesknecht und General. (2, X X X V I ) Die Konjunktion „und" steht hier zwischen dem Hinweis auf die Gottgefälligkeit und der Benennung des Dienstgrades und verbindet somit zwei
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Ebenen: Sie setzt die Dienststellung der christlichen Bestimmung „Gottesknecht" gleich. Daß der Puschkinsche Text die Realität des Lebens getreu wiedergibt, macht ein Vergleich mit den Grabinschriften jener Jahre deutlich. Der bereits an anderer Stelle von uns erwähnte Mitarbeiter Peters I., Iwan Neplujew, verfaßte kurz vor seinem Tod seine Grabinschrift selbst und ließ nur die Stelle für das Sterbedatum frei. Er bestimmte, daß auf seinem Grabstein eingemeißelt stehen solle: „Hier ruht der Körper des Wirklichen Geheimen Rates, Senators und Trägers beider Russischer Kavaliersorden, Iwan Neplujew. Schaut her! Aller vergeblicher Ruhm, Macht und Reichtum vergehen, und all das deckt der Stein, der Körper aber zerfällt und wird zu Staub. Gestorben im Dorf Poddubje, im Alter von 80 Jahren und 6 Tagen, am 11. Novembertag des Jahres 1773".133 Die fromme Aufforderung, mit der sich der bereits dahingeschiedene Neplujew an die an seinem Grab Vorübergehenden wendet, schließt nicht von ungefähr die Aufzählung der Orden und Ämter ein, die er im Staatsdienst erlangt hatte. Noch unter dem Grabstein hervor verweist Neplujew stolz auf seine staatlichen Verdienste und widerspricht damit im Grunde seiner eigenen, in traditioneller Demut verfaßten Inschrift. Aber in einem noch weitaus stärkeren Maße charakteristisch für das Jahrhundert, für den persönlichen Anspruch, seinen Ruhm mit niemandem zu teilen, ist die Inschrift auf dem Grab A. Suworows. Dershawin besuchte den sterbenden und in Ungnade gefallenen Feldmarschall im Hause eines Verwandten, des Grafen Chwostow, in Petersburg. Suworow, den auch in dieser Minute die Meinung der Nachfahren über ihn beschäftigte, fragte Dershawin, was der auf sein Grab schreiben würde. Dershawin antwortete, daß es hier nicht vieler Worte bedürfe, es genüge - „Hier liegt Suworow". Der Sterbende geriet in Begeisterung: „Allergnädigster Gott, wie ist das gut". In dieser Inschrift mit ihrem an die Sprache Cäsars erinnernden Lakonismus, mit ihrem Verzicht auf das Aufzählen von Rängen, Positionen, Orden und Verdiensten lag der höchste Stolz, denn das, was die seine persönliche Würde des Feldmarschalls, ausmachte, stand über allen Auszeichnungen. Die Vorstellung, daß der Wert einer Persönlichkeit in ihrem Selbst, in ihrer Unwiederholbarkeit beschlossen liege, in jenen Eigenschaften, für die Karamsin das neue Wort „Originalität" fand, war einer der Züge, in denen sich das Jahrhundert äußerte. Ähnlich den Erfolgen im Dienst und bei der Karriere, dem persönlichen Ruhm, dem persönlichen Reichtum und den persönlichen Großtaten, an die sich noch die Nachfahren erinnern werden, oder ähnlich den persönlichen Vorzügen, die Katharina II. so intim zu schätzen wußte, ging auch der Tod in das persönliche Schicksal ein. Die Menschen der vorpetrinischen Rus hatten darauf gehalten, das Geschlecht nicht zu kompromittieren, den Ruhm der Vorväter zu erneuern und den guten Namen oder den Reichtum an ihre Nachkommen weiterzugeben. Der Ehrgeiz des 18. Jahrhunderts strebte danach, persönlichen Ruhm an
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die Geschichte weiterzugeben, genauso, wie die Besitzer gewaltiger Reichtümer bestrebt waren, alles an das Leben zu verschwenden. In ein und derselben Zeit kollidierten bei den Menschen ein und desselben Kreises zwei einander ausschließende Positionen. Die Gier nach persönlichem, körperlichem und sofortigem Genuß wurde mit quantitativen Maßstäben gemessen und übertönte die Sorge um die Kinder und um den familiären Wohlstand. Zu einer lebendigen Verkörperung dessen wurde Grigori Potemkin mit seiner titanenhaften männlichen Kraft und seiner schier unerschöpflichen Gier nach immer neuen und neuen Vergnügungen. A m Ende dieses wüsten Treibens quälten den schillernden Fürsten von Taurien Trübsinn und Enttäuschung. W i r können uns diese Verschwendungssucht, die die ganze Gesellschaft erfaßt hatte, kaum vorstellen. Besitzer riesiger Ländereien verwandelten sich in Bankrotteure. Einen anderen Pol stellte die Ruhmsucht dar. Sie nahm antike Formen an und hatte ebenfalls persönlichen Charakter. So mancher handelte zuweilen absolut widerspruchsvoll, kümmerte sich nicht um die materielle Lage seiner Kinder, aber sorgte sich um sein Ansehen im Gedächtnis ferner Nachkommen und ließ sich zu sittlich zweifelhaften Handlungen herbei. So zahlte der strenge Moralist, Philantrop und Freimaurer Iwan Wladimirowitsch Lopuchin nie seine Schulden zurück und rechtfertigte das damit, daß er große Summen für die Armen ausgebe. Diese Epoche schreiender Widersprüche ließ auch ein zutiefst widerspruchsvolles Verhältnis zum T o d entstehen. Für die Großväter der vorpetrinischen Epoche und für die Väter, die in kriegerischen Zeiten gelebt hatten, war der T o d nur die Vollendung des Lebens gewesen, dessen natürliche Grenze und unabänderliches Fazit. Man beklagte sich nicht über ihn, man regte sich nicht über ihn auf, man nahm ihn als etwas Unvermeidliches hin. Das alles revidierende 18. Jahrhundert hingegen revidierte auch diese Frage. D e r Fakt des Todes selbst wurde zum Leitgedanken der Überlegungen. Worin besteht sein Sinn? Was ist sein Ziel? U n d wie lebt man eingedenk seiner Unvermeidlichkeit? F ü r den mittalterlichen Menschen gab es kein Ende: D e r T o d wurde nur als ein Ubergang vom Zeitlichen ins Ewige, vom Vergeblichen zum Wahren angesehen. D e r Zeitgenosse Voltaires und Leser der Schriften des Helvetius wandte sich mit einem überlegenen Lächeln vom Glauben seiner Väter ab. An die Stelle des Glaubens traten Zweifel und Verzweiflung. Dafür kam ihm aber auch eine gewaltige Freiheit zu. E r wuchs gleichsam zu gigantischer G r ö ß e an, sah sich von Angesicht zu Angesicht der Ewigkeit gegenüber. Das war ein berauschendes und zugleich seltsames Gefühl. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts fand in Petersburg die Philosophie des italienischen Malerpoeten Tontchi, an den sich später P. Wjasemski erinnerte, nicht wenige Anhänger. Tontchi propagierte den äußersten Agnostizismus und erklärte, die einzige dem Menschen gegebene Realität sei er selbst. „In seiner kühnen Sprache verkündete er, sein System stelle den
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Menschen dem Schöpfer Auge in Auge gegenüber".134 Diese extremen Gedanken wurden nicht von allen geteilt, aber ihre Hypertrophie des Individuums war ein Zug der Epoche. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts änderte sich auch das Verhältnis zum Selbstmord, wobei ihm die verschiedensten, von unterschiedlichen Ideen eingefärbten Motivierungen zugrunde gelegt werden konnten. Eine der Folgen war eine wahre Selbstmord-Epidemie, die England, Frankreich, Amerika und, mit einiger Verspätung, auch Deutschland und Rußland erfaßte. Das auch Rousseau nicht unberührt lassende Problem des Selbstmords wurde auf den Seiten philosophischer Publikationen breit diskutiert. Als aber der junge Deutsche Jerusalem Selbstmord verübte, veranlaßte dieses Ereignis Goethe, den Selbstmord in seiner Erzählung „Die Leiden des jungen Werther"(1774) zum Knotenpunkt aller Probleme zu machen, die die junge Generation jener Epoche bewegte. Goethes Erzählung erregte nicht nur die Aufmerksamkeit der Leser, sondern rief ihrerseits eine Selbstmordwelle hervor. Der Kreis schloß sich. Gerade dieser Frage war es beschieden, zu dem Punkt zu werden, an dem philosophischer Streit und Schicksale literarischer Helden sich mit der realen Verhaltensweise einer ganzen Generation von jungen Leuten kreuzte. Wie stark die Wirkung der Erzählung Goethes auch gewesen sein mochte, sie konnte diese Rolle nur deshalb spielen, weil sie die Ideen ausgedrückt hatte, die in der Luft lagen. Goethe studierte noch an der Leipziger Universität, wo er, wie bekannt, nicht eben große wissenschaftliche Fortschritte machte, als gerade dort ein Geschehnis eintrat, das die russische Jugend zum ersten Mal vor die rauhe Notwendigkeit stellte, die aufklärerische Idee vom Recht des Menschen, über das eigene Leben selbst zu verfügen, einer praktischen Uberprüfung zu unterziehen. Unter den russischen jungen Leuten, die um 1760 an der Leipziger Universität studierten, befand sich ein junger Mensch, der schon etwas älter als seine Mitstudenten war, Fjodor Wassiljewitsch Uschakow. Dort in Leipzig, wo er Philosophie studierte, erkrankte Uschakow und starb bald darauf. Der schon sterbende Uschakow las seinen Mitstudenten noch eine ganz im Geist der Helvetiusschen Philosophie verfaßte Lektion. A. Radistschew hat das letzte Gespräch Uschakows mit dem Arzt festgehalten: „,Glaube nicht', sagte der sein nahes Ende spürende mit matter, aber unverzagter Stimme,,glaube nicht, daß du, mir den Tod verkündend, mich erschütterst oder meinen Geist ins Wanken bringst. Sterben ist uns beschieden; ein Tag früher oder später, welche Anmaßung vor der Ewigkeit!".135 Bevor er starb, übergab Uschakow Radistschew seine Aufsätze und führte mit den Freunden, ganz im Geiste des sterbenden Sokrates, philosophische Gespräche über den Tod. Als der Todesschmerz unerträglich wurde, beschloß Uschakow, sein Leben selbst zu beenden und bat seinen nächsten Freund, A.M. Kutusow, um Gift. Kutusow und sein Freund Radistschew konnten sich nicht dazu durchringen, die Bitte Fjodor Wassiljewitsch Uschakows zu erfüllen. Dieses Geschehen ist in Puschkins
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Aufsatz über Radistschew etwas anders dargestellt als in Radistschews Uschakow-Biographie. Die Quellen des Puschkinschen Aufsatzes sind uns nicht ganz klar 136 , möglicherweise hatte Karamsin Anteil daran. Zumindest erscheint in der Puschkinschen Version die Rolle Radistschews in der betreffenden Episode weitaus aktiver. Uschakow „starb im Alter von 21 Jahren an den Folgen seines exzessiven Lebens, aber noch auf dem Sterbelager fand er Zeit, Radistschew eine bittere Lehre zu erteilen. Von den Ärzten zum Tod verurteilt, hörte er sich das Urteil mit Gleichmut an; seine Qualen wurden bald unerträglich, und er verlangte von einem seiner Kameraden"" Gift. Radistschew widersetzte sich, aber von jener Zeit an wurde der Selbstmord zum bevorzugten Gegenstand seiner Uberlegungen." (XII, 31) Puschkin hat die Bedeutung dieser Episode für die Philosophie und das Schicksal Radistschews etwas übertrieben. Die Gedanken über das Recht auf den Selbstmord waren zu ernsthaft und zu tief in die Weltauffassung Radistschews eingegangen, um sie auch nur mit irgendeiner noch so wesentlichen biographischen Episode in Verbindung zu bringen. Diese Gedanken wiederholen sich nicht nur mehrfach in verschiedenen Arbeiten Radistschews, sondern fügen sich auch organisch in seine Freiheitskonzeption ein. Ausgehend von Montesquieu und anderen Philosophen der Aufklärung, ist Radistschew der Ansicht, daß ein Mensch, der den Tod nicht fürchtet, frei sein wird. Er ist der tyrannischen Macht, die auf der Angst vor dem Tod beruht, nicht unterworfen. Deshalb ist die Bereitschaft eines Menschen, freiwillig aus dem Leben zu scheiden, seine höchste Freiheitsgarantie. Für die Konzeption Radistschews ist der Selbstmord weder ein kleinmütiges Aus-dem-Leben-Scheiden noch unselige Verzweiflung. In dem Kapitel „Kreuze" in der „Reise von Petersburg nach Moskau" ermahnt der tugendhafte Vater seine Söhne zu heroischer Sittsamkeit, und er segnet sie nicht nur für den Kampf, sondern auch für den Tod. Die Bereitschaft, aus dem Leben zu scheiden, wird zum letzten und äußersten Ausdruck des Gefühls der Freiheit: „Wenn das verhaßte Glück alle Pfeile auf dich verschossen hat, wenn deine Tugend auf Erden kein Obdach mehr findet, wenn du bis an die äußerste Grenze gelangt bist, wenn dich nichts mehr vor der Ausplünderung schützt, dann bedenke, daß du ein Mensch bist, gedenke deiner Größe, bewundere die Krönung der Seligkeit, und auch die will man dir nehmen. - Stirb. - Als Vermächtnis hinterlasse ich euch das Wort des sterbenden Cato"." "" A. M. Kutusow, dem Radistschew die Biographie F. W . Uschakows widmete (Anmerkung Puschkins). •'f,f G . A . Gukowski und nach ihm auch andere Kommentatoren nehmen an, daß „das W o r t des sterbenden C a t o " sich auf Plutarch beruft (Siehe: Radistschew, A . N . , Ges. W e r ke, Bd. 1, S. 295, 485). Wahrscheinlicher ist jedoch die Vermutung, daß Radistschew hier den Monolog Catos aus der gleichnamigen Tragödie von Addison im Blick hatte, den er in ebenjenem Werk, im Kapitel „Bronnizy", zitiert (ebenda, S. 269).
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Der Zusammenhang von Selbstmord und Bürgermut ist von Radistschew mehrfach hervorgehoben worden, etwa in dem bereits zitierten „Leben des Fjodor Wassiljewitsch Uschakow": „Es kommt vor, und wir finden in Erzählungen mehrere Beispiele dafür, daß ein Mensch, dem man verkündet, daß er sterben muß, dem nahenden Tod mit Verachtung und ohne Zagen erwartungsvoll entgegenblickt. Man sah und sieht auch Menschen, die sich mannhaft dasLeben nehmen. Und es ist wahrhaft Furchtlosigkeit und seelische Kraft vonnöten, mit festem Blick der Selbstvernichtung ins Auge zu sehen".137 Radistschew wies überhaupt der Bereitschaft zum Selbstmord und zum heroischen Untergang einen besonderen Platz zu. Sklaverei ist für ihn etwas Widernatürliches, und der Mensch kann nicht anders, als nach Freiheit zu streben. Aber Gewohnheit, Angst, Aberglaube und Betrug halten ihn in Ketten. Damit er den Übergang zu Freiheit findet, ist Empörung nötig. Der heroische Untergang kann sie ebenso auslösen wie der Selbstmord desjenigen, der nicht zögert, sein Leben zum Opfer zu bringen. Bei weitem nicht alle Fälle von Selbstmord wurden in einem derartigen philosophischen Kontext vollzogen. Das Recht des Menschen, über sein Leben und seinen Tod selbst zu verfügen, wurde häufig auf den Hintergrund eines tiefen, vom Widerspruch zwischen philosophischen Idealen und russischer Wirklichkeit gespeisten Pessimismus projiziert. Es ist nicht unwichtig darauf hinzuweisen, daß in jenen Jahren die Selbstmordversuche zu einer Erscheinung wurden, der man bezüglich des ,lesenden' Teils der Jugend einen gewissen Massencharakter nicht absprechen konnte. Betrachten wir ein Beispiel, das gerade deshalb interessant ist, weil es nicht der Literatur, sondern der Realität des Lebens entnommen ist, etwas ausführlicher. Am 7. Januar 1793 erschoß sich gegen sieben Uhr abends der junge Jaroslawler Adlige Iwan Michailowitsch Opotschinin. In einem von ihm hinterlassenen Brief wandte er sich an die Menschen, und in erster Linie an seinen Bruder, mit den folgenden Bitten, die bezeugten, daß Opotschinins Selbstmord gründlich und kühl bedacht worden, und daß der einzige Grund dafür philosophischer Natur war: „Meine demütigste Bitte an den, der dieses Haus betritt: Ein sterbender Mensch bittet in völliger geistiger Gefaßtheit ergebenst, falls jemand die Güte haben sollte, ihn zu besuchen, das Folgende zu lesen, damit niemand grundlos verdächtigt wird und keine Mißverständnisse entstehen: Der Tod ist nichts anderes als der Übergang vom Dasein in die völlige Auslöschung. Mein Verstand begreift zur Genüge, daß der Mensch seine Existenz * Diese Worte bezeugen, daß Opotschinin, obwohl er Brüder hatte, allein lebte und, wenn man die leibeigenen Diener nicht zählt, der einzige Bewohner des mit Büchern angefüllten dörflichen Wohnsitzes war.
Blick auf die große Parade vor dem Winterpalais in Petersburg. — B. Patersen. Farbgravüre. 1807-1808.
Reiterporträt des Partisanen von 1812 D . W . Dawydow. — M. Düburg nach einer Zeichnung von A. Orlowski. Farbgravüre. 1814. — Denis Wassiljewitsch D a w y d o w (1784-1839) in einem Kosakenrock und mit dem Krummsäbel der Kosaken (anstelle des vorgeschriebenen Säbels), dazu eine vorschriftswidrige Kopfbedekkung, was seine Kleidung von der Uniform des Husaren rechts hinter ihm unterscheidet. Interessant ist, daß D a w y d o w solch ein Umformdetail wie die Offiziersschärpe beibehielt: Die Quasten der Schärpe um die Taille hängen auf die Pferdekruppe herab.
Porträt W. L. Puschkins (1766-1830). — J. Vivien. Zeichnung. 1823.
K . N . Batjuschkow. Selbstporträt mit Zylinder. — Zeichnung. Erstes Viertel des 19. Jahrhunderts.
Porträt des Generalmajors P. G. Lichatschew. — D. Dou. Oel auf Leinwand. Nicht später als 1825. — 1812 kommandierte Pjotr Gawrilowitsch Lichatschew (1758-1812) die 24. Infanterie-Division im Korps D.S. Dochturows). Hier ist er in der regulären Paradeuniform dargestellt. Er trägt den Georgsorden III. Klasse (Kreuz aus weißer Emaille am Hals), den Annenorden I. Klasse (der Stern auf der linken Brustseite), den Wladimirorden III. Klasse (rotes Emaillekreuz am Hals), das Kommandeurskreuz des Malteserordens („Malteser" Kreuz aus weißer Emaille mit königlichen Lilien zwischen den Strahlen, in einer Krone endend). Rechts von den Orden die Medaillen des Krieges 1812: die silberne (für Militärs) und die bronzene (für die Adligen), die der in französischer Gefangenschaft gestorbene Lichatschew selbstverständlich nicht mehr tragen konnte.
Napoleon auf dem Schlachtfeld bei Preußisch-Eylau. — A.-J. Gros. Oel auf Leinwand. 1808.
Gespräch eines russischen Gefangenen mit Napoleon auf dem Schlachtfeld von Borodino. — S.F. Galaktionow. Gravüre mit Radiernadel. Illustration zum 3. Teil des Romans von F . W . Bulgarin „Pjotr Iwanowitsch Wyshigin: Historischer Sittenroman aus dem 19. Jahrhundert" (Sankt Petersburg 1831).
Die Beisetzung M.I. Kutusows am 11. Juni 1813 in Petersburg. — M . N . Worobjew. Zeichnung. 1814. Porträt des Generalmajors A . A . Tutschkow „der Vierte". — L. Dou. Oel auf Leinwand. Nicht später als 1825. — Alexander Alexandrowitsch Tutschkow (1728-1812), der jüngste der vier Brüder Tutschkow, die 1812 im Generalsrang Felddienst taten. Er fiel während der Schlacht von Borodino bei Semjonowsk mit der Fahne in der Hand, während er die Soldaten des Rewelsker Regiments zum Gegenangriff führte. Sein Leichnam wurde nie gefunden. Das Porträt zeigt ihn in Generalsuniform mit dem Georgsorden IV. Klasse, dem Wladimirorden III. Klasse und dem diamantenen Annenorden II. Klasse, sowie mit der Medaille „Zum Gedenken an den Vaterländischen Krieg" (die Medaille wurde erst nach dem Tode Tutschkows gestiftet und vermutlich auf Wunsch der W i t w e Margarita Michailowna, geb. Nagraschkina, vom Maler dem General beigegeben).
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der Naturbewegung verdankt, die ihn ins Leben gebracht hat; und sobald die Federn in ihm ihre Tätigkeit einstellen, geht er ins Nichts über. Nach dem Tod kommt das Nichts! Diese gerechte und den zuverlässigsten Regeln entsprechende Räson, die sich auch im Einklang mit meiner Betrübnis befindet und mich beim Begreifen unseres so kurzen und verkehrten Lebens erfaßt, hat mich gezwungen, zur Pistole zu greifen. Ich hatte keinen Grund, mein Dasein zu beenden. Die Zukunft stellte sich mir als eine für meine Verhältnisse eigenständige und angenehme Existenz dar. Aber diese Zukunft könnte jäh vorbei sein, und so ist es letztlich der Widerwille gegen unser russisches Leben selbst, der mich nötigte, mein Schicksal eigenmächtig zu beschließen".'38 Dieses Dokument war Fjodor Dostojewski natürlich nicht bekannt. Desto erstaunlicher sind die kulturell-psychologischen Überschneidungen. Für Dostojewski war der Selbstmord eine logische Konsequenz der Philosophie des Materialismus - wir erinnern an die Gestalt des Ippolit Terentjew in „Der Idiot". Und in der Tat, obwohl wir im vorliegenden Buch, im Zusammenhang mit einer bestimmten Epoche, konkret-historisches Material zugrunde legen, ist nicht zu überhören, daß der Brief Opotschinins mit zwei historischen Momenten zusammenklingt, der Phase des psychologischen Verfalls in der Zeit nach den Reformen in den 80er und 90er Jahren des 19. Jahrhunderts und der Periode zwischen der ersten russischen Revolution und dem Ersten Weltkrieg. Das ist die Kehrseite des utopischen Maximalismus der positiven Ideale. Weiter lesen wir in dem schon angesichts des Todes geschriebenen Brief Opotschinins: „O! würden doch alle Unglücklichen den Mut haben, ihren gesunden Menschenverstand zu benutzen, den überflüssigen Aberglauben zu verachten, der fast alle geistesschwachen Menschen in höchstem Maße blind macht, und würden sie sich ihren Tod gebührend und in seiner wahren Gestalt vorstellen, dann würden sie sicher erkennen, daß es ebenso leicht ist, das Leben abzutun, wie man zum Beispiel ein Kleid wechselt, dessen Farbe einem nicht mehr gefällt". Die letzte Bemerkung enthüllt die psychologische Tiefe dieses Abschiedbriefes. Opotschinin deklariert den absoluten Atheismus, aber psychologisch denkt er sich auch die Menschen, die seinen Brief lesen werden, und die Unsterblichkeit hinzu. Das Leben des Menschen ist nur ein Kleid, das man freiwillig wechseln kann. Aber diese Präsumption setzt zumindest einen weiteren Menschen voraus, der das abgelegte Kleid sieht. Opotschinin äußert seine Gedanken auf der Ebene logischer Überlegungen, aber bei den Vergleichen .verplaudert' er sich und offenbart die unterschwellige psychologische Schicht seiner Persönlichkeit. Dieser Widerspruch wird im weiteren Text des Briefes deutlich, in dem ohnehin offenbleibt, wer von wem enttäuscht ist, der „Mensch" vom „Kleid" oder das „Kleid" vom „Menschen":
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„Ich befinde mich in genau dieser Situation. Mir ist es in der öffentlichen Vorstellung zu langweilig geworden: Für mich ist der Vorhang gefallen. Ich überlasse es jenen, für einige Zeit die Rollen zu spielen, die diese Schwäche noch besitzen. Wenige Pulverkörnchen werden binnen kurzer Zeit diese geschäftige Maschine, die meine selbstsüchtigen und abergläubischen Zeitgenossen die unsterbliche Seele nennen, zerstören! Ihr Herren niedere Landesrichter! Ich überlasse meinen Körper Eurer Verfügung. Zu sehr verachte ich ihn... Dessen könnt Ihr sicher sein". Nachdem er seinem Bruder die Freilassung seiner leibeigenen Diener hat angelegen sein lassen, wendet Opotschinin sich dem Hauptinhalt seines Lebens zu. An jener Stelle des Briefes, die bei einem Menschen anderer kultureller Orientierung Worte einnehmen würden, die an die nächsten Verwandten und Freunde gerichtet sind, schreibt er: „Die Bücher! Meine geliebten Bücher! Ich weiß nicht, wem ich sie hinterlassen soll. Ich bin sicher, daß in der hiesigen Gegend niemand sie braucht... Ich bitte meine Hinterbliebenen ergebenst, sie dem Feuer zu übergeben. Sie waren mein höchster Schatz, sie allein haben mich in meinem Leben genährt, sie waren der wichtigste Punkt meines Vergnügens. Und schließlich, wären sie nicht gewesen, mein Leben wäre in ununterbrochener Trübsal verlaufen, und ich hätte diese Welt schon lange verlassen". Hier gibt es eine charakteristische Nichtübereinstimmung: Das Ziel der Philosophen, deren Bücher Opotschinin las, war es, die Menschen aufzuklären, ihnen nach den Worten Radistschews den „Vorhang naturhaften Fühlens" von den Augen zu nehmen und das Leben in seiner wahren Gestalt vorzuführen. Opotschinin las ihre Werke, um zumindest für einen Augenblick das Leben zu vergessen und in einer anderen, höheren Welt zu versinken, d.h. er las die atheistischen Werke wie seine Heilige Schrift! Die Ideen der Aufklärer wuden durch die Realität widerlegt, aber Opotschinin, der wie der heilige Augustinus sagte: „Ich glaube, denn alles ist absurd", glaubte den Philosophen und nicht dem Leben, das ihn umgab. Der Schlußakkord besteht schließlich darin, daß dieser überzeugte Atheist seinen letzten Brief mit einer Anrufung der Höchsten Gottheit enden läßt, mit einer Voltaire-Übersetzung, der sich etwa zur gleichen Zeit auch Radistschew gewidmet hat. Dieser Auszug unter dem Titel „Gebet" findet sich bekanntlich am Schluß des antiklerikalen „Gedichts über das natürliche Gesetz", das sich sowohl gegen den Aberglauben als auch gegen den Atheismus richtet. In der Radistschewschen Ubersetzung hört sich das „Gebet" so an: Dich, o mein Gott, will man nicht anerkennen, Dich, den alle Kreaturen ihren Schöpfer nennen. Die letzte Stimme höre: War ich je verrucht, Hat meine Seele Dich geliebt und Dein Gesetz gesucht. Ohn' Zaudern blicke ich der Ewigkeit ins Angesicht;
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Geschaffen hast Du mich, und doch begreif' ich nicht, Daß Gott, des Glanz durch meiner Wonnen Tag gegangen, Am Ende für Äonen mich mit Qualen wird empfangen... Opotschinins unmittelbar vor dem Tode geschriebener Brief endet mit diesen Worten: „Mein Geist ist derart gefaßt, daß ich vor meinem Ende noch ein paar Verse aus dem französischen Dialekt übersetzt habe: O, Gott, den wir nicht kennen! O Gott, den alle Kreaturen nennen! Die letzten Worte höre, die mein Mund noch sagt. Hab ich mich je getäuscht, dann bei der Suche nach Deinen Gesetzen. Qhne Bestürzung blick ich auf den Tod, der mir schon nah vor Augen steht..." An dieser Stelle hielt es der Herausgeber L. N . Trefolew für notwendig, die Übersetzung abzubrechen, offensichtlich hatte ihn der skeptische Inhalt schockiert. Trotzdem merkte er an, daß das Manuskript der Ubersetzung das ganze Gedicht enthält. A m Schluß seines Briefes wendet Opotschinin sich an den Bruder: „Lieber Bruder Alexej Michailowitsch! Sorge Dich nicht um mich: Mir ist mein Leben schon lange zur Last gefallen. Ich wollte meinem argen Los schon lange eine Grenze setzen. Ich habe nie Ehrgeiz gehabt, weder eine leere Hoffnung auf die Zukunft noch irgendeinen Aberglauben. Ich habe nie zu den verirrten Menschen gehört, die vorhaben, in einer anderen, niegewesenen Welt zu leben. Mögen sie irregehen und an das Unmögliche glauben: Sie haben nur diese eine leere Hoffnung und Tröstung. Jeder Mensch neigt mehr dem Außergewöhnlichen zu als der Wahrheit. Ich habe immer mit Verachtung auf unsere dummen Gewohnheiten geblickt. Ich bitte ergebenst, Bruder, meiner in den Kirchen nicht zu gedenken! Dein getreuer Diener und Bruder Iwan Opotschinin". Wir haben den Abschiedsbrief Opotschinins nicht deshalb so ausführlich zietiert, weil dessen Tat einzigartig gewesen wäre, sondern aus gerade entgegengesetzten Gründen. Er war die Stimme einer recht großen Gruppe aus der Generation um 1790 und unterschied sich nur durch die Ausführlichkeit, mit der er seine Motive darlegte. Dokumente bezeugen eine ganze Reihe ähnlicher Fakten. 1792 schrieb der 17jährige M. Suschkow eine Erzählung mit dem Titel „Der russische Werther". Er war ein junger Mann mit progressiven Ansichten, der die Unfreiheit nicht akzeptierte. Bevor er seinem Leben ein Ende setzte, ließ er alle seine Leibeigenen frei. Am 8. September 1772 schrieb N . N. Bantysch-Kamenski an A. B. Kurakin einen Brief, in dem er die allgemeine Schwärmerei für den Selbstmord sehr eigenwillig mit dem Einfluß der Französischen Revolution in Verbindung brachte: „Was ist das in Frankreich? Daß die Aufklärung einen Menschen in eine derartige Dunkelheit und Verirrung führen kann! Das ist die vollkommenste
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Bösartigkeit. Das mag allen zum Beispiel dienen, die den Glauben und die Obrigkeit ablehnen. Aber Fremdes redend, möchte ich auch ein Wort zu unserem Scheusal Suschkow sagen, der das Schicksal des Judas* gewählt hat. Lesen Sie seinen Brief: wieviel Flüche gelten da dem Schöpfer! wieviel Selbstüberhebung und Eitelkeit ist bei ihm selbst! Genau so ist ein großer Teil unserer Prachtkerle, deren Gemüter überhitzt sind und die sich weder vom Gesetz noch von ihrem Glauben leiten lassen"139 In einem weiteren Brief Bantysch-Kamenskis an A.B. Kurakin, vom 29. September, heißt es: „Habe ich Ihnen geschrieben, daß noch so ein Prachtkerl, der Sohn des Senators Wyrubow, sich das Leben genommen hat, indem er sich die Pistole an den Mund setzte? Das geschah am Anfang dieses Monats und hat diesen Anschein: Frucht der Bekanntschaft mit englischem Volk..."140 Am 27. Oktober schreibt er: „Was für ein unglücklicher Vater der Senator Wyrubow ist, gestern hat sich der andere Sohn, ein Artillerieoffizier, erschossen. Innerhalb von zwei Monaten haben zwei Söhne auf eine so beschämende Weise ihrem Leben ein Ende gesetzt. Es besteht die Gefahr, daß diese Englische Krankheit bei uns zur Mode wird. Hier im Klub sind bei allen Damen rote Jakobinermützen aufgetaucht. Am Samstag wurden alle marchandesses des modes zum Stadthauptmann bestellt, und deren Verkauf wurde ihnen, im Namen Höchstselbiger, streng verboten, und gestern sah man im Klub schon keine einzige mehr".141 Die Vorstellung vom Selbstmord als einem Merkmal,englischen' Verhaltens war weit verbreitet. Gleich im ersten Brief seiner „Briefe eines russischen Reisenden" führt N. Karamsin eine von einem „Reisenden" aus England verfaßte Erzählung eines gewissen „Adligen aus Kent" ein, natürlich eine literarische Erzählung. Darin findet sich der folgende Bericht: „Der Lord O. war jung, schön und reich, aber sein Antlitz war von Kindheit mit dem Mal der Melancholie gezeichnet; und es hatte den Anschein, als beschwerte ihm das Leben, ähnlich einer Bürde, Seele und Herz. Mit fünfundzwanzig Jahren heiratete er ein vornehmes und liebenswürdiges Mädchen... An einem stürmischen Abend nahm er sie bei der Hand, führte sie in das Dickicht des Parks und sprach: Ich habe dich gequält; mein Herz, ein für alle Freuden Toter spürt nicht deinen Wert: Ich muß sterben - Verzeih! In der gleichen Minute schoß sich der unglückliche Lord in den Kopf und sank tot zu Füßen seiner erstarrten Gattin nieder". Vermutlich erinnerte Puschkin den Leser an diese Stelle, als er über Onegin sagte: Doch hau* er - Gott sei Dank - ein Grauen Vorm Schuß in seine eigne Brust, Nur schwand ihm jede Lebenslust. (1, XXXVIII) * „Das Schicksal des Judas" - hier ist der Selbstmord M. Suschkows als Verrat gedeutet.
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D e r Selbstmord, den Karamsin, wie viele europäische Schriftsteller, als das Resultat des englischen Klimas betrachtete, verband sich im Bewußtsein Bantysch-Kamenskis, der ihn ja ebenfalls eine „englische Krankheit" nannte, mit der französischen Freigeisterei und rief ihm nicht die Gestalt des Lords O . ins Gedächtnis, sondern die Silhouetten der Jakobiner. U n d Bantysch-Kamenski war nicht der einzige, der diese Verbindung herstellte. In denselben „Briefen eines russischen Reisenden" führt Karamsin auch ein Beispiel für den philosophischen' Selbstmord an. In den Juni-Briefen aus Paris schildert er die folgende Episode, die ihm angeblich von seinem Diener Bieder mitgeteilt wurde: „Einmal kam Bieder ganz in Tränen aufgelöst zu mir und sagte, mir die Zeitung reichend:,Lesen Sie!' Ich nahm die Zeitung und las das Folgende:,Heute, am 23. Mai um 5 Uhr morgens, erschoß sich in der Rue Saint Marie der Diener des Herrn N. Man lief nach dem Schuß herbei, öffnete die Tür... Der Unglückliche schwamm in seinem Blut; neben ihm lag die Pistole. An der Wand stand geschrieben: Quand on n'est rien, et qu'on est sans espoir, la vie est un opprobre, et la mort un devoir ; und an der Tür: Aujourd'hui mon tour, demain le tien \ Zwischen den auf dem Tisch durcheinander geworfenen Papieren fanden sich Gedichte, verschiedene philosophische Gedanken und das Testament. Aus den ersteren läßt sich ersehen, daß dieser junge Mann die gefährlichen Werke der neuen Philosophen auswendig kannte; statt Trost, entnahm er jedem Gedanken das Gift für seine Seele, die für das Lesen derartiger Bücher nicht gebildet genug war, und wurde so ein Opfer versponnener Klügeleien. Er haßte seinen niedrigen Stand, und er stand in der Tat höher, sowohl was seine Vernunft anging als auch sein sensibles Gefühl; ganze Nächte hat er über den Büchern gesessen, er kaufte die Kerzen für sein eigenes Geld, weil seine unbedingte Ehrlichkeit es ihm nicht erlaubte, die Kerzen seiner Herrschaft zu verschwenden. In seinem Testament nennt er sich einen Sohn der Liebe, und geradezu rührend beschreibt er die Zärtlichkeit seiner zweiten Mutter, der gutherzigen Ernährerin; er hinterläßt ihr 130 Livres, dem Vaterlande (en don patriotique) 100, 48 den Armen, den in Schuldhaft Sitzenden 48, einen Louisdor jenen, die die Arbeit auf sich nehmen werden, seine sterblichen Uberreste zu bestatten, und drei Louisdor seinem Freund, dem Diener Deutscher...". Mehrfach taucht das Thema des Selbstmordes auch in den Erzählungen und der Poesie Karamsins auf, z.B. „Arme Lisa", „Sierra Morena" u.a. In all diesen Werken wird der Selbstmord im Sinne der Stürmerschen Tradition als Ausdruck der höchsten Stufe menschlicher Freiheit gedeutet. Eine Ausnahme bildet nur ein Fall, der seiner Einzigartigkeit wegen von Interesse ist. V o r dem Hintergrund der übrigen Äußerungen Karamsins klingt der Ende September 1802 von ihm im „Europäischen B o t e n " veröffent-
*
Wenn man nichts mehr ist, und wenn man keine Hoffnung mehr hat, ist das Leben
eine Schande und der T o d eine Pflicht (franz.). Heute bin ich an der Reihe, morgen bist du's (franz.). Als Gabe eines Patrioten (franz.).
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lichte Artikel „Über den Selbstmord" wie ein greller Widerspruch. Die Bedingungen für seine Veröffentlichung waren ungewöhnlich: Das Heft, in dem er publiziert wurde, war wahrscheinlich in aller Eile gedruckt worden, und das Ergebnis war, daß in dem Monat nicht zwei, sondern drei Hefte erschienen, was das Konzept der pedantischen Genauigkeit bei der Auslieferung der Hefte durcheinander brachte. Der Artikel war eine Ubersetzung und wurde vermutlich gesondert gedruckt; andere, der gleichen Nummer der verwendeten deutschen Zeitschrift entnommene Ubersetzungen waren von Karamsin erheblich später veröffentlicht worden. Der Artikel enthielt eine im Schaffen' Karamsins einzig dastehende Kritik an den Selbstmördern und den Selbstmorden sowie an den „gefährlichen" Philosophen, die das Recht des Menschen propagierten, sich das Leben zu nehmen. In der bald darauf veröffentlichten Erzählung „Die Stadthauptmännin Marfa" geht Marfa, die der Autor den „Cato ihrer Republik" nennt, zur Hinrichtung, weil sie den Selbstmord als eine Äußerung von Seelenschwäche verwirft. Uber die Helden der römischen Geschichte, die sich das Leben nahmen, sagt sie: „Die Furchtlosen fürchteten die Hinrichtung". Das Erscheinen dieser Ausfälle ist um so erstaunlicher, als Karamsin sich später abermals zum Selbstmord überhaupt und über die antiken heroischen Selbstmörder in besonnenem und sogar mitfühlendem Ton äußerte. Der Grund für die unerwarteten Ausfälle Karamsins gegen die Theoretiker des Selbstmords dürfte wohl in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tod Radistschews stehen. Der Selbstmord des Autors der „Reise von Petersburg nach Moskau" und Karamsins Reaktion darauf stellten am Ende des 18. Jahrhunderts gleichsam den Höhepunkt der Selbstmordwelle und der Diskussion darüber dar. Natürlich gab es als ein Faktum der realen Wirklichkeit weiterhin Selbstmorde, aber die Aufmerksamkeit des öffentlichen Lebens wandte sich anderen Problemen zu. Mit dem Anfang des 19. Jahrhunderts, der Thronbesteigung Alexanders I. in Rußland und der Errichtung des napoleonischen Kaiserreichs in Frankreich begann die Epoche der großen Kriege. Kriegszüge und Schlachten wälzten sich mehr als ein Vierteljahrhundert lang, von Spanien bis Moskau, durch ganz Europa. Es veränderte sich die Lebensweise, und es veränderte sich das Bild vom Tod. Alfred de Musset schrieb in seiner „Beichte eines Kindes seiner Zeit": „In seinem, von Rauch verrußten purpurnen Gewand war der Tod damals ungemein anziehend, erhaben, prächtig! Er ähnelte so sehr einer Hoffnung, die jungen Triebe, die er niedermähte, waren so grün, daß er geradezu immer jünger wurde und niemand mehr an das Alter glaubte. Alle Wiegen und alle !f In diesem Fall haben wir das Recht, gerade über das Schaffen zu reden: Die Analyse zeigt, daß Karamsin nur jene literarischen Ubersetzungen veröffentlichte, die seinem eigenen Programm entsprachen, und er genierte sich nicht, das wegzulassen, was mit seinen Ansichten nicht übereinstimmte.
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Särge Frankreichs wurden zu seinen Schilden. Greise gab es nicht mehr. Es gab nur Leichen oder Halbgötter". Mit einigen Einschränkungen lassen sich W o r t e Mussets auch auf den russischen Adel anwenden. 1812 fiel Napoleon in Rußland ein, aber die Schlachten, an denen die russische Armee beteiligt war, hatten schon 1799 begonnen, waren 1805 wieder aufgelebt und hörten bis zum Beginn des Vaterländischen Krieges nicht wieder auf. Ein psychologisch bezeichnender Zug der jungen Kriegsgeneration war ein durch das Prisma heroischer antiker Gestalten reflektiertes Selbstverständnis. Der bekannte Patriot von 1812 Sergej Glinka durchlebte in seinen Jugendjahren eine Phase leidenschaftlicher Begeisterung für die antiken Ideale, die seine Auffassung vom T o d prägten. D i e Generation, die in Petersburg und Moskau ins Leben trat, und jene, über die Musset schrieb, verknüpften den T o d nicht mit Alter und Krankheit, sondern mit Jugend und Heldentaten. Sergej Glinka erinnerte sich später: „Die Stimme der Tugenden des alten R o m , die Stimme des Cincinnatus und Catos fand in den entflammten jungen Seelen der Kadetten lauten Widerhall". 1 4 2 D i e Generation, die noch nicht am Krieg teilnahm, fand ihr Wirkungsfeld für die antiken Tugenden in der Bereitschaft, ihr Leben den hohen Idealen der Freundschaft und des Patriotismus zu opfern, während Selbstaufopferung um der Liebe willen eine völlig andere Tonalität hatte. Glinka führt ein Beispiel an: „Wir hatten unsere eigenen Catos, da gab es Nachahmer der alten griechischen Tugenden, da gab es eigene Philopoimens. Wir hatten einen Cato namens Ginet, der nach dem Kadettenkorps die Laufbahn eines Offiziers und Lehrers für Mathematik einschlug. Wäre er an der Stelle des Regulus gewesen, hätte vermutlich auch er sich veranlaßt gesehen, vom Feldlager aus den Römischen Senat um die Erlaubnis zu bitten, sein Feld zu pflügen und bestellen zu dürfen. Außer seinem Gehalt besaß er nichts weiter; aber er hatte einen Bruder, der ihm mehr wert war als alle Schätze. Ihre gegenseitige Liebe war sozusagen eine Verkörperung von Castor und Pollux. Aber das sind Legendenhelden. Was die historische Bruderliebe anging, stand unser Ginet Cato dem Älteren in nichts nach, der auf drei ihm gestellte Fragen: Wer ist der beste Freund? antwortete: Der Bruder, der Bruder und der Bruder. Der Bruder unseres Offiziers Cato diente in Kronstadt und wurde von einer gefährlichen Krankheit heimgesucht. Die Nachricht von der Erkrankung des Bruders gelangte zu unserem Cato-Ginet. Es herrschte klirrender Frost. Der Meerbusen lag erstarrt unter der vereisten Brücke. Geld, um einen Schlitten zu mieten, besaß Ginet nicht, aber Seele und Herz setzten seine Füße in Bewegung, und so begab sich Ginet, in leichten Stiefeln und ohne Strümpfe, zu Fuß zu dem Bruder. War es möglich gewesen, jemanden um warme Stiefel oder um Geld zu bitten? Aber was hieß dieses Bitten? Sich jemandem verpflichten. Der alte Römer hatte geduldet und nicht gebeten. Nach wenig mehr als anderthalb Tagen überquerte Ginet den Meerbusen, gelangte zu dem Bruder, hielt ihn in seinen Armen und kehrte zur festgesetzten Frist zum Dienst in seinem Korps zurück. Obwohl sich Anzeichen eines Fiebers bemerkbar machten, und obwohl man ihm zuredete und
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ihm anbot, seinen Dienst zu übernehmen, antwortete er: ,Ich werde meinem Dienst nicht untreu'. Er tat seinen Dienst; das Fieber warf ihn aufs Bett. Im Fieberwahn sah er ununterbrochen seinen Bruder, redete mit ihm und gab, dessen Namen auf den Lippen, seinen Geist auf," 143 Glinka wuchs nicht von ungefähr in einem Kadettenkorps auf, w o nebeneinander die Büsten des Makedoniers Alexander und Catos standen und wo er während der Lektionen „insgeheim bald Diderot, bald Bouffiers, bald Voltaire, bald J.-J. Rousseau las". Bereits bei dem ersten Konflikt mit der Leitung des Korps, so drückte er es mit seinen Worten aus, „Ging mir die Heldentat Catos, der sich den Dolch in die Brust stieß, als Julius Casar ihn in Ketten legen ließ, durch den Kopf". 1 4 4 Die napoelonische Epoche erfüllte das Bild der Antike mit realem Inhalt. Und wenn Denis Dawydow, das Oberhaupt der Partisanengruppe, sich gezwungen sah, das „Kleid des Volkes" anzulegen und statt des Ordens die Ikone Nikolais des Gerechten am Hals zu tragen, das heißt ein dem nationalen Geist und dem Volkskrieg entsprechendes Aussehen anzunehmen, so bedeutete das nicht, daß die antiken Gestalten aufhörten, die Kriegsteilnehmer zu begeistern. Zahlreiche Quellen liefern uns aber auch einen entgegengesetzten Aspekt. Nicht wenige Dokumente belegen, daß in der Zeit der napoleonischen Kriege der verwundete oder sterbende Offizier sein Schicksal nicht selten durch ein Prisma von Visionen großer Heldentaten und heroischen Beispielen aus der Geschichte erlebte. Als der Maler und Dekabrist Fjodor Tolstoi seine berühmten Basreliefs über das Jahr 1812 schuf und sie im Geist der antiken Tradition stilisierte, war das nicht nur eine Verneigung vor den ästhetischen Prämissen des Klassizismus, sondern auch die Widerspiegelung der Welt, wie sie die Teilnehmer an den Zeitereignissen sahen. So konnte „antike Verbrämung" nicht nur zum einzigen, sondern auch zum wesentlichsten Stilmittel der Bilder werden, durch deren Prisma die Zeitgenossen das Jahr 1812 wahrnahmen. Präziser noch drückte Denis Dawydow diese Empfindungen mit den folgenden, die Skizze „Tilsit im Jahre 1808" abschließenden Worten aus: „Das Jahr 1812 stand schon mitten unter uns Russen mit seinem bis zur Gewehrmündung blutigen Bajonett, mit seinem Messer, im Blut bis an die Ellenbogen". 1 4 5 Die Totenlisten bezeugen die Verluste der Generation, die 1812 achtzehn bis fünfundzwanzig Jahre alt gewesen waren. Zwischen den Generationen Krylows und Puschkins registrieren wir in der russischen Gesellschaft eine deutliche Kluft, hervorgerufen von aus dem Leben gestrichenen Menschen, deren Leichname die Weiten zwischen Moskau und Paris bedeckten. Und obwohl das eine große Epoche war, deren Schatten über die gesamte Geschichte Europas fiel, kann man nicht umhin, jener zu gedenken, deren Bücher, deren Ideen, die vielleicht bestimmt gewesen wären, der Geschichte Rußlands einen anderen, weniger tragischen Weg zu weisen, nie das Licht der Welt erblickten. Es ist unmöglich, auch nur flüchtig die Namen all jener herzusagen, die selbst in der komprimiertesten Liste der in jenen Jahren Umgekommenen
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hätten Aufnahme finden müssen. Die Worte aus Lermontows Gedicht „Borodino": ...Die Kugeln konnten nicht durchdringen Der Leichen blutgen Wall, waren nicht nur eine poetische Hyperbel. Bekundungen von Zeitgenossen und annähernde Berechnungen zeichnen das gleiche Bild. In Lermontows Gedicht berichtet die Figur eines Artilleristen, und der mutmaßliche O r t der Handlung ist die Batterie Rajewskis. Das ist die gleiche Stelle der Schlacht, die in einem anderen Text aus zwei verschiedenen Blickwinkeln beschrieben wird: zum einen mit den Augen eines französischen Offiziers, zum anderen mit einer Prosa-Sprache, die eine bewußte Nachahmung des Dokumentarischen ist. Die Rede ist hier von P. Merimees „Einnahme der Redoute": „Durch den bläulichen Pulverdampf waren hinter der halbzerstörten Brustwehr, unbeweglich wie Statuen, die russischen Grenadiere mit den auf uns gerichteten Gewehren zu sehen. Es ist mir, als würde ich noch jetzt jeden Soldaten sehen, das linke Auge auf uns gerichtet, das rechte vom zielenden Gewehr verdeckt. In einer Schießscharte, einige Schritte von uns entfernt, hielt ein Mensch neben einer Kanone die glimmende Lunte. Ich zuckte zusammen und glaubte, meine letzte Stunde hätte geschlagen. Jetzt beginnt der Tanz!' schrie der Capitaine. ,Gute Nacht!' Das waren die letzten Worte, die ich von ihm hörte. In der Redoute erklang Trommelschlag. Ich sah, wie alle Gewehre herabsanken. Ich schloß die Augen und hörte einen entsetzlichen Donner, der von Geschrei und Stöhnen begleitet wurde. Verwundert darüber, daß ich noch lebte, öffnete ich die Augen. Wieder verhüllte Rauch die Redoute. Um mich her lagen Verwundete und Getötete. Der Capitaine lag zu meinen Füßen, eine Kugel hatte seinen Kopf zerschmettert, und ich war über und über mit seinem Hirn und seinem Blut bespritzt. Von meiner Kompanie waren nur sechs Menschen und ich auf den Beinen geblieben". Bei der Batterie Rajewskis war auch der Kommandeur der Artillerie, der 28jährige General Alexander Iwanowitsch Kutaissow, getötet worden. Im Bereich derselben Batterie hielt auf einem Hügel die Division P. G. Lichatschews hartnäckig den französischen Attacken stand. Lichatschew selbst, ein nicht mehr junger General, der sich bereits in den Feldzügen Suworows den Rang eines Leutnants und die ersten Auszeichnungen verdient hatte und während der Rückzüge unter schrecklichem Rheumatismus litt, befehligte die Division auf einem Stuhl sitzend, den man auf den Hügel gestellt hatte. Nachdem er fast den ganzen Personalbestand der Division verloren hatte, zog Lichatschew den Degen, und auf den kranken Füßen humpelnd ging er den angreifenden Franzosen entgegen. E r wurde mehrfach verwundet, blieb aber wie durch ein Wunder am Leben. Gefangengenommen, wurde Lichatschew Napoleon vorgeführt, der befahl, ihn nach Paris zu bringen, damit er dort kuriert werden könne. Unterwegs jedoch, in Königsberg, erlag der General seinen Verwundungen.
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Auf dem Schlachtfeld von Borodino wurde das Blut von zwei der fünf Generalsbrüder Tutschkow vergossen. In ihrem Gedicht „An die Generale des zwölfer Jahres" schrieb Marina Zwetajewa: Auf einer Gravur, kaum mehr erkennbar mir, In eines Augenblickes zauberhaftem Licht, Erblickte ich, ach, Tutschkow-Vier, Euer zärtlich Angesicht... und Eure zierliche Figur, Und des Ordens goldne Pracht... und ich, ich küßte die Gravur, Fand keinen Schlaf mehr in der Nacht... In einem unglaublichen Lauf haben Sie Ihr Jahrhundert durcheilt... Alexander Alexejewitsch Tutschkow-Vier gehörte tatsächlich zu den romantischsten Figuren des Jahres 1812. Sein Vater war General, drei seiner Brüder ebenfalls und wie er Frontgenerale, die am Kriegsgeschehen jener Zeit aktiv teilnahmen. Alle Brüder sind in die russische Geschichte eingegangen. Der erste Tutschkow und Tutschkow-Vier fielen auf dem Schlachtfeld von Borodino. Tutschkow-Zwei, auch ein Frontgeneral, erlangte insbesondere als Freund Puschkins während dessen Verbannung im Süden Bekanntheit und als einer der Gründer jener Kishinjewer Freimaurerloge, deren Mitglied auch der Dichter war und die, wie zu vermuten ist, eine getarnte Filiale der Geheimgesellschaft der Dekabristen, möglicherweise ein Russischer Ritterorden war. Die unbeirrte Freiheitsliebe Sergej Tutschkows, seine Freundschaft mit Menschen wie Pnin und Puschkin Tutschkow gab Puschkin eine Abschrift der Radistschewschen Ode „Freiheit" zu lesen - , sein Haß auf Araktschejew charakterisieren nicht nur seine eigenen Uberzeugungen als General, sondern werfen auch ein Licht auf die Atmosphäre der Familie, in der wahrscheinlich militärische Heldentaten und freiheitsliebende Haitungenen eng miteinander verknüpft waren. Alexander Alexejewitsch Tutschkow führte ein Leben, das von jener romantischen Atmosphäre durchdrungen war, die auch die junge Zwetajewa entflammte. Als junger Mensch hatte er, wie die Tolstoischen Helden Andrej Bolkonski und Pierre Besuchow, eine Phase romantischer Begeisterung für den General Bonaparte erlebt und hatte sogar vorgehabt, nach Ägypten zu reisen und dort in dessen Armee zu kämpfen. In Frankreich jedoch, wo er einen Kurs der mathematischen Wissenschaften belegte, Philosophie und Artilleriekunst studierte, begegnete er dem überzeugten Republikaner L. Carnot und hörte dessen Kritik des herrschsüchtigen Generals. Nach Rußland zurückgekehrt, heiratete Tutschkow 1806 Margarita Michailowna Naryschkina, eine Schwester Michail Michailowitschs Naryschkin, eines späteren Mitglieds des ,Wohlfahrtsbundes' und der Nördlichen Geheimgesellschaft, der später, entsprechend der vierten Strafkategorie, zu zwölf Jahren Zwangsarbeit verurteilt wurde. Tutschkow begab sich bald
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nach seiner Hochzeit zur kämpfenden Armee. Bei Golymin nahm er zum ersten Mal an einer Schlacht teil, w o er, wie es in einem offiziellen Bericht heißt, „sich unter dem Hagel von Kugeln und Kartätschen w i e während eines Manövers verhielt". 1807 bewies er, unter dem Befehl Bagrations kämpfend, „Kühnheit und Kaltblütigkeit" und wurde mit dem Georgskreuz 4. Klasse ausgezeichnet. Nach der Schlacht bei Friedland schrieb er an seinen Bruder Nikolai (Tutschkow-Eins): „Trotz des Anblicks der Geschosse, Kartätschen und Kugeln bin ich völlig gesund. Ich habe an zwei blutigen Schlachten teilgenommen. Besonders grausam war die letzte, während der ich 20 Stunden allem ausgesetzt war, was Schlachten an Entsetzlichem zu bieten haben. Das Glück ließ mich unversehrt aus dem Kampf hervorgehen. Meine Rettung schreibe ich einem Wunder zu".146 Nach dem Tilsiter Frieden wurde Tutschkow zu einer Armee versetzt, die an der Schwedischen Kampagne beteiligt war. Anfang Mai begab er sich mit seinem Trupp auf einen überaus gefährlichen Marsch, der sie in tiefem Schnee durch das Hinterland der schwedischen Armee führte und bei dem sie die Öffnung des Seeweges zur schwedischen Hauptstadt erzwangen. Dieser riskante Marsch entschied den Ausgang des Krieges. In der Familie Tutschkow nahestehenden Kreisen hielt sich hartnäckig das Gerücht, Margarita Michailowna hätte, wie die Heldin in Beethovens „Fidelio", Männerkleidung angelegt und ihren Gatten bei diesem beschwerlichen und gefahrvollen Unternehmen begleitet. W i r wissen nicht, ob dieses Gerücht der Wahrheit entsprach, aber es harmoniert vollständig mit der romantischen und heroischen Atmosphäre, in der die Familie Tutschkow lebte. A m Krieg von 1812 nahm Tutschkow als Brigadekommandeur in der Armee Barclay de Tollys teil, die kämpfend den ganzen Weg von der westlichen Grenze bis Borodino zurücklegte. In der Schlacht bei Borodino war die von ihm kommandierte Brigade ein Bestandteil der Division Konownizyns und marschierte im Eifer des Gefechts mit dieser über das Dorf Utiza hinaus bis nach Semjenowka, dem Zentrum der Schlacht, in dem sie am heftigsten tobte. In dem Moment, als die Schlacht einen gefährlichen Charakter annahm und die Soldaten des Rewelsker Regiments ins Wanken gerieten, ergriff Tutschkow das Banner des Ersten Bataillons und stürmte vorwärts. Ein Artilleriegeschoß ließ ihn auf der Stelle zu Boden stürzen. Einige Stunden später wurde Tutschkow-Eins in der Umgebung des Dorfes Utiza tödlich verwundet. Als die Franzosen zurückgewichen waren und man auf dem Schlachtfeld von Borodino die Gräber für die Gefallenen auszuheben begann, machte sich die Gattin Tutschkows in tiefer Trauer und in Begleitung eines Mönchs daran, auf dem Schlachtfeld nach dem Tutschkows Heldentat diente später L. N. Tolstoi als Vorlage für die Beschreibung der heroischen Tat des Fürsten Andrej bei Austerlitz.
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Leichnam ihres Gatten zu suchen. Sie konnte den Körper nicht finden. Die Witwe ließ am vermutlichen Ort seines Todes eine Kirche und ein Kloster errichten, in das sie nach dem Tode ihres Sohnes als Nonne eintrat und in dem sie den Rest ihres Lebens verbrachte. Es wäre natürlich verfehlt, das Leben der Menschen im Jahre 1812 allein durch das Prisma der Romantik zu betrachten. Die Heldin der Puschkinschen Erzählung „Roslawlew" schreibt mit wehmütiger Ironie: „Alle nahmen sich vor, nicht mehr Französisch zu reden; alle riefen nach Posharski und Minin und begannen den Volkskrieg zu propagieren, sammelten Geld und schickten es in die Saratower Dörfer". Puschkin ließ die Heldin seiner Erzählung die Stimmung der romantischen Jugend, zu der auch Tutschkow-Vier gehörte, ausdrücken. Dem Gespräch mit einem französischen Gefangenen entnimmt Polina, die Heldin und Erzählerin, daß russische Patrioten Moskau in Brand gesteckt haben, um der Armee Napoleons Proviant zu entziehen und ihr keine Ruhepause zu lassen. „Polina und ich vermochten uns nicht zu fassen. ,Ist es möglich', sagte sie, ,hat Sinekur recht, und der Brand von Moskau ist das Werk unserer Hände? Wenn es so ist... O, wie bin ich stolz auf den Namen Russin! Das Universum wird erschauern angesichts dieses großen Opfers! Jetzt erscheint mir auch unsere Niederlage nicht mehr schrecklich, unsere Ehre ist gerettet; niemals mehr wird Europa sich erkühnen, gegen ein Volk zu kämpfen, das sich selbst die Hände abschlägt und seine eigene Hauptstadt niederbrennt.' Ihre Augen glänzten und ihre Stimme klang hell. Ich umarmte sie, unsere Tränen edelmütiger Begeisterung und unsere heißen Dankgebete für das Vaterland flössen ineinander. ,Du weißt es noch nicht?' sagte Polina voller Begeisterung zu mir, ,Dein Bruder... Er ist glücklich, er ist nicht in Gefangenschaft geraten - freue dich: Er ist für die Errettung Rußlands gefallen'". In den Jahren nach dem Vaterländischen Krieg verschwand gleichsam der Tod aus dem Bewußtsein jener Jugend, die, aus dem Ausland kommend, von den Schlachtfeldern zurückgekehrt war, eine besonders starke Lebensgier und das Bedürfnis, tätig zu werden, empfand. Der Tod fiel ge-wissermaßen dem vergangenen Tag anheim, man dachte an morgen, an Projekte, an Reformen und manchmal an Erfolge im Dienst. Wenige verschwendeten noch Gedanken an den Tod. Alles strebte voran. Was nun blieb, war heiraten, sich in Moskau niederlassen, wie die Gestalten Gribojedows zu werden, „Moskauer und verheiratet". Für die Gesellschaft zu sterben erschien als eine genauso ferne Sache wie der eigene Tod. Die auf das Jenseitige gerichtete Poesie Shukowskis mit ihrem Memento mori erschien nicht mehr zeitgemäß, so daß man den Dichter der Unaufrichtigkeit zieh und ihm nachsagte, er wolle am Hof Karriere machen. * Gemeint ist hier die apokryphische Erzählung aus dem Jahre 1 8 1 2 über einen Bauern, der sich die Hand abschlug, um nicht in die napoleonische Armee gehen zu müssen (siehe die Skulptur Pimenows „Der russische Szevola").
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Sogar das Aufflammen der Duelle äußerte sich in dieser Zeit nicht als eine Folge von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit, sondern war das Ergebnis von Verwegenheit und Lebensgier. Stießen in dieser Zeit russische Offiziere während ihres Aufenthaltes in Paris mit französischen Offizieren zusammen, die nun statt ihrer Uniformen der Großen Armee Fräcke trugen, und zettelten sie, vor allem in den Cafés, Streit mit ihnen an, wurde das als eine Fortsetzung des Krieges empfunden. Im weiteren allerdings blieben provozierendes Verhalten und die damit verbundenen Duelle ein charakteristischer Zug vor allem der Lebensweise von Gardeoffizieren, aber der Teil der Jugend, der von den Idealen des ,Wohlfahrtsbundes' erfaßt worden war, Philantropie und Aufklärung kultivierte, sah in dem Duellbesessenen nur einen hohlen und zurückgebliebenen Menschen. Etwas anderes war es, wenn das Duell den Charakter eines öffentlichen Protestes hatte. Das traf zum Beispiel auf das Duell zwischen Nowosilzew und Tschernow zu und auf das anschließende Begräbnis, dessen Ritual K. Rylejew wohlüberlegt in eine Manifestation verwandelte. Je näher die verhängsnisvolle Zäsur des Jahres 1824/25, des Dekabristenaufstands rückte, desto spürbarer nahm die Weltsicht unter den Mitgliedern der Geheimgesellschaft einen tragischen und opferbereiten Charakter an. Das Thema des Todes, der freiwilligen Selbstopferung auf dem Altar des Vaterlandes, klang immer häufiger in den Äußerungen der Mitglieder der Geheimgesellschaft an. Bezeichnend sind hier die Worte, die Alexander Odojewski im Augenblick des Aufbruchs zum Senatsplatz sprach: „Wir werden untergehen, Brüder, ach, wie ruhmvoll werden wir sterben!" Das Thema des tödlichen Opfergangs durchzieht die Poesie Rylejews, für uns jedoch ist in diesem Fall von besonderer Wichtigkeit, daß dieses Thema zum bestimmenden Faktor seines Verhaltens wurde. Ein Literaturhistoriker wird die Beichte analysieren, die der Held Naliwaiko aus dem gleichnamigen Poem vor seinem Tode ablegt: Ich weiß: das Grab ist schon bereitet Dem, der als erster vorwärts schreitet, Gegen die Peiniger des Volkes aufzustehn, Das Schicksal hat mich dazu ausersehn. Den Kulturhistoriker hingegen werden mehr noch die Gedichte interessieren, die Rylejew in der Peter-Paul-Festung schrieb: Aus Fleisch und Blut wird man euch Barrikaden machen Man wird euch jagen, mit Verrat euch greifen, Verhöhnen wird man euch und dreist verlachen, Zum pomphaft ausgeschlagnen Richtblock schleifen; Doch sollt ihr nicht in hoffnungsloser Angst vergehn, Furcht hat nur der, der euch das Leben nehmen Und euch damit nichts Übles mehr antun kann.
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Die tragische Wende in den ethischen Fragen änderte in den letzten Jahren vor dem Dekabristenaufstand auch das Verhältnis zum Duell. Hatte die Tradition des auf Duelle versessenen Pistolenhelden den Siegerkult geschaffen, trat nun die tragische Seite des um den Preis eines Mordes erkauften Sieges in den Vordergrund. Nicht zufällig war das erste Kapitel des „Eugen Onegin", das nach dem 14. Dezember geschrieben wurde, der Tragödie eines Sieges gewidmet. Kurz vor dem Aufstand erlebte der D e kabrist E. Obolenski, als er „einen Freund im Zweikampf tötete", eine ebensolche Tragödie. In der Periode nach dem Dekabristenaufstand änderte sich die Konzeption des Todes innerhalb des kulturellen Systems merklich. D e r Tod brachte vor allem einen realen Maßstab in die staatlichen und karrierebezogenen Wertenormen. Nikolai I., der davon überzeugt war, daß er „alles könne" (nach seinen Worten im Gespräch mit Smirnowa Rosset), duldete keine Gespräche über den T o d und unterbrach sie sofort, wo sie aufkommen wollten. In solchen Gesprächen zeigten sich die Begrenztheit und Vergeblichkeit seiner Macht, und das war vielleicht einer der Gründe dafür, daß es die verschiedensten Menschen der Nikolaischen Epoche reizte, über den T o d nachzudenken. E. Baratynski widmete dem T o d ein ganzes Gedicht: Die Todesgöttin ist mir nicht ein Kind der Dunkelheit, Und will serviler Traum ihr weichen, Und hält er schon das Totenbett bereit, Werd ich ihr nicht die Sense reichen. O Tochter höchster Sphären Weiten! O der Schönheit heller Strahl! Des Friedens Olive soll dich begleiten, Nicht der Sense verderblicher Stahl. Als blühend einst die Welt entstand Aus wilder Kräfte besänftigtem Wüten, Gab der Allmächtige in deine Hand Seine Schöpfung, sie zu behüten... Heilige Jungfrau! Im Augenblick Vergeht vor dir des Zornes Mal, Weicht von des Menschen Hand zurück, Und auch die Glut der Liebesqual. Des Schicksals ungnädiges Tosen Läßt dich der Menschen Freund sein und gerecht: Mit gleicher Hand wirst du liebkosen Den hohen Herrscher und den Knecht. Die Nötigung, des Zweifels Gang, Sind das Gebot in unsren wirren Tagen; Du nimmst von uns der Ketten Zwang Du bist die Lösung aller Fragen. 147
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Als eine Parodie auf den romantischen Todeskult schlug Puschkin, nicht ohne Ironie, Delwig vor, ihm den Totenschädel eines seiner Ahnen zu übersenden, und empfahl: Mach aus des Sarges Zeugenschaft, Einen recht fröhlichen Pokal, Laß schäumen drin des Weines Kraft, Iß dazu Kascha und gekochten Aal. Oder tu's Hamlet-Baratynski gleich ... und träum gedankenvoll darüberhin. (111,(1), 72)
Das Antlitz der Epoche spiegelt sich in dem Bild vom Tod wider.' Der Tod brachte die Freiheit. Man suchte den Tod im endlos erscheinenden Kaukasus-Krieg oder im Duell. Vor der Mündung der Duellpistole befreite sich der Mensch aus der Gewalt des Zaren und der Petersburger Bürokratie. Die Möglichkeit, dem Gegner Auge in Auge gegenüber zu stehen und die Pistole auf ihn richten zu können, bot einen Augenblick der Freiheit. Verstehen wir das nicht, werden wir auch nicht begreifen, warum Puschkin an die Barriere ging und warum Lermontow tollkühn seine Bereitschaft kundtat, dem Schuß die Brust darzubieten. Dort, wo der Tod in sein Recht trat, endete die Macht des Zaren. Jede Epoche hat zwei Gesichter: das Antlitz des Lebens und das Antlitz des Todes. Sie blicken einander an und spiegeln sich ineinander wider. Ohne das eine zu verstehen, werden wir auch das andere nicht begreifen.
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Die Geschichte der Konzeption des Todes in der russischen Kultur hat keine einheit-
liche Beleuchtung gefunden. F ü r einen Vergleich mit der westeuropäischen Konzeption ist dem Leser das folgende B u c h zu empfehlen: Vovel, Michel. L a mort et l ' O c c i d e n t de 1300 ä nos jours. Paris, Gallimard, 1983.
DRITTER TEIL
„ D I E J U N G E N AUS PETERS N E S T "
Das 18. Jahrhundert beginnt in der russischen Kultur mit der petrinischen Epoche. In einem Brief an A. A. Tolstoi erklärte Leo Tolstoi, daß er, den Strom der historischen Ereignisse „entwirrend", in ebendieser Epoche den „Anfang von allem" gefunden habe. In den Urteilen über die petrinische Epoche kreuzten sich die Degen all derer, die über die russische Geschichte nachgedacht haben. In ihrem Spektrum reichten die Einschätzungen von den Zeilen Jasykows: Das von Peters eisernem Willen umgestaltete Rußland, die von Puschkin als Epigraph zu dem R o m a n „Der M o h r Peters des G r o ß e n " verwendet wurden, bis zu der Behauptung, daß die petrinische Reform an der Oberfläche des russischen Lebens geblieben sei und sich in den finnischen Wäldern und Sümpfen verirrt habe (D. S. Mereshkowski). Eine Auseinandersetzung mit dem Wesen dieser Streitfragen würde uns weit von unserem Thema wegführen. Wir werden sie daher nur von einer Seite her berühren, indem wir die Schicksale zweier Menschen dieser Epoche aufzeigen. Dabei werden wir, in Ubereinstimmung mit der Aufgabe unseres Buches, nicht sogenannte große Menschen, sondern Dutzendmenschen, typische Charaktere, einer näheren Betrachtung unterziehen. Man wird unsere Helden als ,einfache Menschen' der adligen Welt dieser E p o che bezeichnen können. Das für sie ,Typische' wird sich insbesondere darin zeigen, daß es handlungsbereite und nicht mit dem Strom schwimmende gestaltlose Menschen sein werden. Es war ebendiese Epoche, die den handlungsbereiten Menschen hervorbrachte und ihn gleichzeitig veranlaßte, sein Tätigsein unter Beweis zu stellen. Iwan Iwanowitsch Neplujew - ein Apologet der Reformen Das bis in das 15. Jahrhundert zurückreichende Geschlecht der Neplujews stammte von dem Bojaren Andrej Iwanowitsch Kobyla ab, der um die Mitte des 14. Jahrhunderts gelebt hatte, dezimierte sich aber gegen Ende des 17. Jahrhunderts und verarmte, obwohl es die verwandtschaftlichen Beziehungen zu mehreren etablierten Aristokraten aufrecht erhielt. Iwan Neplujew, dem wir hier unsere Aufmerksamkeit widmen, wurde, wie wir seiner umfangreichen Autobiographie entnehmen können, „am 5. Novembertag des Jahres 1693 an einem Sonntag in der Frühe, um 7 U h r
Die Jungen
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nach Mitternacht, in der Siedlung Nawolok im Landkreis Nowgorod" 1 geboren. Iwan Iwanowitsch hat sich wohl kaum selbst an seine Geburtsstunde erinnern können. Aber in diesem Vermerk spiegelte sich bereits sein pedantischer Charakter wider, für den Dokumente und Fakten, nicht Erlebnisse ausschlaggebend waren. Die Neplujews stammten aus Nowgorod. Ihr Familienname läßt auf die nördlichen Gebiete Rußlands schließen: „Neplui" wird, nach Dal, ein Hirschkalb im ersten Halbjahr nach seiner Geburt genannt. Ihr Geschlecht wird in den Moskauer Chroniken des 17. Jahrhunderts als solide, aber verarmt apostrophiert. Neplujews Mutter entstammte dem Haus der Fürsten Myschezki, einem ebenfalls alten und verarmten Geschlecht. Sein Vater war in der Schlacht gegen die Schweden bei Narwa verwundet worden und bald darauf, die Ehefrau und den minderjährigen Sohn zurücklassend, gestorben. Der Lebensgang Iwan Iwanowitschs nahm anfangs den üblichen Weg eines unbemittelten Adligen. Den Anweisungen seiner Mutter Folge leistend, heiratete er mit sechzehn Jahren und wurde ein selbständiger Gutsbesitzer, der über 80 Seelen leibeigener Bauern herrschte. Seine Frau, eine geborene Tatistschewa, brachte 20 leibeigene Seelen mit in die Ehe. Der junge Neplujew wurde bald Vater eines Sohnes, dann eines zweiten, der während seiner Pilgerreisen durch die Klöster zur Welt kam. Alles verlief der Tradition gemäß. Ein unerwarteter Umbruch trat ein, als der junge, aber längst dem Lernalter entwachsene Vater zweier Kinder „zum Studium" beordert wurde. Man schickte ihn in die Nowgoroder Mathematische Schule, von dort zur Navigationsschule in Narwa und später zur Petersburger Marineakademie. 1716 wurden zwei Dutzend der Studierenden nach Reval (Tallin) beordert, und Neplujew, seine erneut schwangere Frau diesmal für lange verlassend, ging an Bord des von dem englischen Kapitän Rju. kommandierten Schiffes „Erzengel Michael". Mit ihm ging eine Gruppe junger Leute an Bord, darunter Wassili Kwaschnin-Samarin, Wassili Tatistschew, später ein bekannter Seefahrer und ein entfernter Verwandter des Historikers Tatistschew, Semjon Dubrowski und Semjon Mordwinow. Innerhalb des Verbandes einer großen Flotte gelangten sie nach Kopenhagen. Auf dem letzten Streckenabschnitt wurde die kaiserliche Flagge gehißt, und Zar Peter bestieg das Flaggschiff. Am 28. August nahm Peter alle Marinegardisten in Augenschein und schickte dreißig von ihnen, darunter auch Neplujew, nach Venedig, um sie dort das Seefahrtswesen studieren zu lassen. Das Geld für die Reise erhielten sie auf Befehl des Zaren von dem Botschafter in Dänemark, Fürst Wassili Lukitsch Dolgoruki. Dabei handelt es sich um den gleichen Wassili Lukitsch Dolgoruki, der später bei der ,Intrige' einer Hofkamarilla eine aktive Rolle spielen, den Anna Iwanowna mit dem ihr eigenen Scharfsinn öffentlich an der Nase ziehen, und dem man einige Jahre darauf den Kopf abschlagen wird. Nachdem sie die allerhöchste Order erhalten hatten, begaben sich die jungen Leute, denen es noch kurz zuvor nie in den Sinn gekommen wäre,
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daß ihnen eine derartige Reise bevorstehen könnte, nach Venedig. Doch bevor sie auf den venezianischen Schiffen an Deck gehen konnten, stand ihnen noch manch unerwartetes Abenteuer bevor. Einer der jungen Leute starb auf dem Weg nach Venedig. Die größte Erschütterung jedoch erwartete sie in Venedig selbst. Am 10. Januar 1718 floh der Fürst Prosorowski 1 , nach Absprache mit einem Mönch aus dem Kloster des heiligen Paul auf dem Berg Athos, nach Korfu. Bei seiner Flucht ließ er einen Brief zurück: „Meine Herrschaften, allerverehrteste Brüder und Freunde! Ubermächtig bedrängt mich die Eifersucht auf euch und läßt meinem Herzen, das nunmehr das alles für des Vergessens würdig ansieht, keine Inbrunst mehr für die Liebe und das Wohlleben, die mir während des nicht unbedeutenden dahingeschwundenen gemeinsamen Lebens mit euch so vielfältig und immer gegenwärtig waren, und so beliebte es heute Gott, meinem Herrn, in Seiner Größe es so zu fügen, daß eure gerechten Schicksale meine Unwürdigkeit bezeugen". 2 Im weiteren bat Prosorowski die Freunde, das ihm zugesandte Geld nach eigenem Gutdünken zu verwenden, und empfahl sie der Güte Gottes. Ein anderes Ereignis war noch weitaus dramatischer. Die jungen Leute, die auf die Schiffe warteten, wurden auf die Insel Korfu geschickt und dort in Privathäusern untergebracht. Das Hafenleben mit seinen verschiedenen Verlockungen war verführerisch. Die Folgen blieben nicht aus. So wurde eines Morgens W. M. Kwaschnin-Samarin unweit einer Hafenkneipe ermordet aufgefunden. Die Untersuchung der Leiche ergab, daß er durch einige Degenstiche getötet worden war, in einer der Wunden steckte noch die abgebrochene Spitze eines Degens. Die jungen Leute kamen zusammen, um gegenseitig ihre Degen zu kontrollieren. Dabei stellte sich heraus, daß Alexej Arbusows Degenspitze abgebrochen und wieder geschliffen worden war, und ein italienischer Barbier berichtete, Arbusow sei noch vor Sonnenaufgang bei ihm erschienen und hätte ihn überredet, den abgebrochenen Degen wieder zu schleifen. Unter der Last der Beweise gestand Arbusow den Mord ein und rechtfertigte sich damit, daß der überaus kräftige Kwaschnin-Samarin sich betrunken, ihn gewürgt und mit dem Tode bedroht habe. Aber die jungen Leute sahen sich nicht nur den unangenehmen Folgen der für sie ungewohnten neuen Situation gegenüber: Bald wurden sie auf die Galeeren verteilt. Peter I. ordnete in einer speziellen, sehr strengen, *
E r war ein Verwandter des Fürsten A. A. Prosorowski, jenes M o s k a u e r Oberbefehls-
habers, der später grausam N . N o w i k o w und die M o s k a u e r Martinisten verfolgte und den Potemkin meinte, als er zu Katharina sagte, sie habe „die älteste K a n o n e " aus ihrem Arsenal geholt, die unzweifelhaft auf das Ziel der Kaiserin selbst schießen werde, da sie kein eigenes Ziel habe. A b e r er äußerte auch die Befürchtung, P r o s o r o w s k i k ö n n t e den N a m e n Katharinas für die Nachwelt mit Blut beflecken. H i e r erwies Potemkin sich als Prophet. * * D i e Galeere war ein Kriegsschiff mit Rudern. D i e Mannschaft setzte sich aus Marineoffizieren, Unteroffizieren und den Artilleristen zusammen, dazu kamen die Matrosen und
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aber effizienten Instruktion an, die Marinegardisten auf den Galeeren jeweils einzeln einzusetzen; er beabsichtigte damit, ihr Erlernen der fremden Sprache zu beschleunigen. Doch die venezianischen Admirale erwiesen sich als nachsichtiger und setzten die russischen Marinegardisten jeweils zu zweit auf den Schiffen ein. Neplujew bewältigte diese schwere Aufgabe erfolgreich, wobei er an einer Reihe von Schlachten mit der türkischen Flotte teilnahm. In dem ihm ausgehändigten Diplom heißt es: „Der Herr Iwan Neplujew war während beider stattgehabter Kampagnen auf der Galeere des Supercommits, des Edlen Vicence Capello, gegenwärtig und nahm selbiger teil an der Schlacht mit den Türken am 19. Tag des Juni, nach dem neuen Stil, 1717 in der Bucht von Eleus, im Hafen Pagania, sowie an der Eroberung zweier Bastionen, Preweza und Vonitsa, und an der Belagerung der Festung Dulcigno durch die Venezianer. Nunmehr wird der genannte Herr Neplujew durch einen Befehl in sein Vaterland zurückgerufen, und aus diesem Grund händigen wir ihm als Bestätigung des Obengeschriebenen dieses unser Zeugnis als Beurkundung für ihn selbst und für seinen Monarchen aus. Gegeben in K o r f u am 1. Tag des Februars 1718. Mare Veneto". 5
Von Venedig aus sollten die jungen Leute zur Fortsetzung ihrer Ausbildung in der Kunst der Seeschlachten weiter nach Spanien geschickt werden. Peters Absicht war klar: Ihn interessierte nicht die theoretische Ausbildung, sondern die Praxis der Seeschlacht. Aus diesem Grunde war ihm daran gelegen, daß die künftigen russischen Seeleute Erfahrungen in den Schlachten mit den besten Flotten der Welt sammelten. Und die besten Flotten und gleichzeitig die potentiellen Gegner der russischen Flotte waren die türkische und die englische. Deshalb schickte Peter seine Marinegardisten gerade in jene Staaten, in denen es möglich war, Erfahrungen in den Schlachten gegen Türken und Engländer zu sammeln. Ein Teil dieser Absicht konnte überaus zufriedenstellend verwirklicht werden, denn die künftigen Seeoffiziere nahmen an den Kämpfen gegen die Türken teil. In Spanien jedoch gestalteten sich die Dinge weniger erfolgreich. Die jungen Leute waren zwar beharrlich bestrebt, auf die Galeeren zu gelangen und an den Seeschlachten teilzunehmen. Aber die Spanier verlangten, daß die aus Rußland kommenden Seeleute sich der theoretischen Ausbildung widmeten. Inzwischen hatten die jungen Leute aber schon in hinreichendem Maße die französische und die italienische Sprache erlernt. Vor allem, als sie sich vor der Küste Frankreichs gezwungen sahen, einen Prozeß gegen den
die auf den Ruderbänken angeketteten Sträflinge. D a sie nicht vom Wind abhängig und deshalb sehr beweglich waren, wurden die Galeeren gern in Seeschlachten verwendet. Peter I. legte großen Wert auf die Entwicklung einer Galeerenflotte. Der Dienst auf diesen Galeeren galt als besonders schwer. *
Supercommit - Oberkommandierender.
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Kapitän zu führen, der, entgegen dem Vertrag, zwar damit einverstanden war, sie auf dem Meer zu beköstigen, aber von ihnen forderte, sich während der Aufenthalte in den Häfen auf eigene Kosten zu ernähren. Neplujew sprach während seines gesamten Auftretens vor dem Gericht französisch und gewann den Prozeß. Aber die spanische Sprache beherrschten die „Moskowiter" nicht, und Neplujew schrieb dem russischen Repräsentanten in Holland aufgebracht, daß sie Tanzen und Fechten auch in Petersburg lernen könnten. Das Ergebnis war eine Anordnung Peters, die sie zurückrief. Über Italien und Holland kehrte Neplujew nach Petersburg zurück. Peter legte auf die im Ausland ausgehändigten Testate keinen allzu großen Wert, er ordnete an, wie Neplujew berichtet, daß die aus dem Ausland zurückgekehrten Marinegardisten den in Petersburg verbliebenen gleichzustellen seien, und unterzog sie den gleichen Examina wie diese: „Ich will sie selbst in der Praxis sehen, schreibt sie als Marinegardisten in die Flotte ein". In seinem Bericht darüber gibt Neplujew eine Szene wieder, die vermutlich großen Eindruck auf ihn gemacht hat. Ungeachtet dessen, daß Peter seine Meinung in kategorischer Form geäußert hatte, widersprach ihm der um den Nutzen der ganzen Angelegenheit und um die Gerechtigkeit besorgte Graf Grigori Petrowitsch Tschernyschew und obsiegte schließlich: „Eine Sünde wirst du begehen, Herrscher: Die Menschen, die nach deinem damaligen Willen von ihren Verwandten' getrennt und in fremde Regionen geschickt wurden, Hunger ertrugen und entsprechend den Möglichkeiten studierten, die dir deiner Würde gemäß ihre Dienstbereitschaft bewiesen haben und in den fremden Staaten bereits Marinegardisten gewesen sind, und die heute, nachdem sie, abermals nach deinem Willen, zurückgekehrt sind und sich für den Dienst und das Studium eine Belohnung erhofft haben, werden mit nichts weggeschickt und jenen gleichgesetzt, die weder Nöte erfahren, noch irgendwelche praktischen Erfahrungen gemacht haben."4 Neplujew schrieb keine Memoiren, sondern Tagebuch, und das erlaubt uns, den von der verklärenden Zeit noch nicht verwischten Widerschein seiner Stimmungen zu erkennen. An ebenjener Stelle seiner Aufzeichnungen, auf die wir hier eingegangen sind, wird die Tendenz des Verfassers deutlich. Ein seinem Vaterland aufrichtig dienender Aristokrat, ein Patriot und gleichzeitig ein auf die Besoldung durch den Staat angewiesener Mittelloser - so stellt sich Neplujew dar. Er ist wahrhaftig eines der „Jungen aus Peters Nest", und Peter ist sein Beschützer und sein Gesinnungsgenosse. Beide sind sie Gefährten in der Arbeit zum Nutzen des Staates. Mit unverhüllter Gereiztheit äußert Neplujew sich über jene jungen Aristokra* A n dieser Stelle seiner Kopie der Aufzeichnungen fügte I. Golikow, vermutlich weil ihm dieses Argument zu persönlich' erschien, hinzu: „...und von ihrem Vaterland".
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ten, die nicht studiert haben, nicht ins Ausland gegangen sind und nun Ansprüche auf die lukrativsten Stellungen im Staat geltend machen. U n d er schreibt über diejenigen, die wie er das Vaterland hatten verlassen müssen, nun „wegen der an uns wahrgenommenen europäischen Gewohnheiten" verhöhnt und beschimpft werden und des höchsten Schutzes bedürfen. In Neplujews Gedankenwelt bildete sich ein Schema heraus, das in der petrinischen Epoche offiziellen Charakter annahm. In den Äußerungen Peters, in den Werken Feofan Prokopowitschs und anderer offizieller Ideologen findet sich immer wieder ein Gedanke: Die ganze „Völkergemeinschaft", an deren Spitze der Zar selbst steht, arbeitet. Diese beiden Worte, „Arbeit" und „Völkergemeinschaft", bestimmen den Begriff des Patriotismus. Lomonossow formulierte diese Idee später so: Bei uns zählt man die Helden Vom Landmann bis zum Zaren...5 Die Vorstellung vom arbeitenden Monarchen war schon vor Peter in den Kreisen der Reformer entstanden. Bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts rühmte der Verfechter der Aufklärung, Simeon Polozki, den arbeitenden König Alphons in einem Gedicht, das er vielsagend „Tätigsein" nannte: Es war Alphons, dem Aragonier-König, keine Pein, mit eigner Hand tätig zu sein. „Gab Gott, Natur", so war des weisen Königs Rat, „Den Königen die Hände nicht zur Tat?" Die Lehre draus: mitnichten heißt es eine Schand, Zar sein und ehrsames Geschäft zu tun mit eigner Hand.6 Später wurde dieses Ideal von den Publizisten der petrinischen Epoche und danach auch von Lomonossow mit der Gestalt Peters des Großen verbunden: Geboren zum Zepter, regte zur Arbeit er die Hand...7 Das W o r t „Arbeit" wird später auch von G. Dershawin im Zusammenhang mit der Gestalt Peters verwendet: Beiseite das Zepter, den Thron, des Palastes Reich; Ein Wanderer in Schweiß und staubdurchweht, Glänzte der Große Peter, einem Gotte gleich, Durch der erhabnen Arbeit Majestät.8 In seiner der Beendigung des Nördlichen Krieges gewidmeten Rede apostrophierte Feofan Prokopowitsch die „Frucht des Friedens" als eine E r leichterung für die „Allgemeinheit des Volkes". Gegner dessen waren vor allem die Bewahrer des Alten, die „Langen Bärte", wie Peter I. sie nannte, „die mit ihrem Schmarotzertum nicht die heutigen Vorzüge begreifen". Neplujew zählte sich zu jenen Patrioten, die geduldig die Beleidigungen dieser Schmarotzer hinnahmen, die ein anderer Anhänger Peters I., Po-
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soschkow, anschaulich so charakterisierte: „Den Nachbarn daheim ein dräuender Löwe, im Dienst schlimmer als eine Ziege". 9 Gerade an Stellen wie diesen zeigen sich in dem ansonsten trockenen, protokollhaften Stil der Aufzeichnungen Neplujews lebendige Details und echtes Gefühl. A m 30. Juli 1720 fanden in Anwesenheit des Zaren, der die jungen Leute, wie Golikow berichtet, mit den Worten „Man muß arbeiten" 10 begrüßte, die Prüfungen statt. Neplujew bestand seine Prüfung mit Erfolg und durfte in der Admiralität bleiben, wo er regelmäßig mit dem Zaren zusammentraf. Die von ihm aufgezeichneten Episoden gehören zu den frühesten Mythen über den arbeitenden Zaren. Neplujew schildert mit unverstelltem Gefühl. Nach seinen Worten ermahnte ihn der Graf Grigori Petrowitsch Tschernyschew, zu jener Zeit Kammerrat in den Kollegien der Admiralität und Beschützer Neplujews, dem Zaren stets die Wahrheit zu sagen und, falls es Grund dafür gäbe, seine Verfehlungen offen zu bekennen. Nach einer Zecherei verspätete Neplujew sich zum Dienst: „Einmal kam ich zur Arbeit, und der Zar war schon zugegen. Ich erschrak sehr, wollte wieder nach Hause laufen und mich krankmelden, aber dann erinnerte ich mich an den väterlichen Rat meines Wohltäters, änderte meine Absicht und ging zum Zaren. Er erblickte mich und sagte: ,Ich bin schon hier, mein Freund!' Und ich antwortete ihm: ,Ich bin schuldig, Herrscher, ich war gestern eingeladen und bin lange dort geblieben, deshalb habe ich mich verspätet'. Er packte mich bei den Schultern und preßte sie dermaßen, daß ich zusammenzuckte und glaubte, seinen Zorn hervorgerufen zu haben: ,Ich danke dir, Junge, daß du die Wahrheit sagst: Gott wird verzeihen! Wer ist schon ohne Fehl. Jetzt fahren wir zusammen zu einer Geburt.' Ich verneigte mich und stellte mich auf seinem Zweiräder hinter ihm. Wir kamen zu dem Zimmermann meiner Mannschaft und betraten die Hütte. Der Herrscher beschenkte die Wöchnerin mit fünf Griwenniks und küßte sie, ich stand an der Tür; er befahl mir, ein gleiches zu tun, und auch ich gab einen Griwennik hin. Der Herrscher fragte die Wöchnerin: ,Was hat der Oberleutnant gegeben?' Sie zeigte den Griwennik, und er lachte und sprach: ,Ach Bruder, ich sehe, du gibst nicht auf ausländische Art'. ,Ich habe, mein Herrscher, nicht viel zu verschenken, ich bin ein armer Aristokrat, habe Frau und Kinder, und hätte ich nicht die Besoldung durch Euch, den Zaren, ich hätte nichts zu essen.' Der Herrscher fragte, wieviele Seelen ich hätte und wo ich zuhause wäre. Ich sagte es ihm wahrheitsgemäß und ohne etwas zu verbergen. Darauf brachte der Hausherr auf einem hölzernen Teller ein Glas heißen Wein; der Zar nahm es und aß dazu eine Pirogge mit Mohrrüben. Danach servierte der Hausherr auch mir, aber ich trinke von Kindheit an nichts Heißes und wollte nicht trin-
*
A n dieser Stelle führt G o l i k o w Peters W o r t e ausführlicher an; Peters Nachsicht wird
noch stärker hervorgehoben: „ D u warst gestern eingeladen, und mich ruft man heute zu einer G e b u r t , fahren wir zusammen d o r t h i n " . „Brotwein, W o d k a , heißer W e i n " (Dal. W . I., Erläuterndes W ö r t e r b u c h der lebendigen Großrussischen Sprache, Bd. 1, S. 205).
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ken. Der Herrscher sagte: .Trinke soviel du eben kannst, beleidige den Hausherrn nicht'. Und ich tat wie mir befohlen. Er brach mit seinen Händen Stück von der Pirogge ab, reichte es mir und sagte: ,Iß, das ist heimatliche und keine italienische Kost.'"" Eine bildhafte Vorstellung von dem arbeitenden Zaren vermittelt Neplujew in der Schilderung des Augenblicks, in dem er dem Zaren vor gestellt worden war: „Der Herrscher, die Fläche der rechten Hand nach oben kehrend und zum K u ß darbietend, sagte:,Siehst du, Brüderchen, obwohl ich Zar bin, sind meine Hände voller Schwielen, und all das, um euch ein Beispiel zu sein und im Alter Stützen und Diener des Vaterlandes zu sehen, die meiner würdig sind.'" 1 2 Seine spätere Ernennung zum Botschafter in Konstantinopel beschreibend, nimmt Neplujew in seine Memoiren wortwörtlich die programmatische Rede auf, in der Peter, laut Neplujew, seine Theorie eines aufgeklärten Monarchen darlegte, der vor G o t t für das W o h l seiner Untertanen und des Staates verantwortlich ist. D e m Leser bietet sich die folgende Szene dar: Ein armer, an Jahren noch junger und über keinerlei Beziehungen verfügender, aber eifriger und würdiger Diener des Vaterlandes wird von seinem Herrscher mit einem verantwortungsvollen diplomatischen Posten betraut: „Ich fiel ihm, dem Herrscher, zu Füßen, umfaßte sie und küßte sie und brach in Tränen aus. Er hob mich auf, ergriff meine Hand und sagte:,Verneige dich nicht, Brüderchen! Gott hat mich zu eurem Hirten bestellt, und meine Pflicht ist es, darauf zu sehen, daß kein Unwürdiger belohnt wird und der Würdige nicht leer ausgeht; tust du Gutes, so nicht mir, sondern dir selbst und dem Vaterland; tust du aber Böses, dann bin ich der Ankläger; denn Gott fordert von mir für euch alle, nicht einen Bösen und Dummen, der Schaden anrichten könnte, an solch einen Platz zu stellen; diene mit Treue und Aufrichtigkeit! Aller Anfang ist Gott, und er wird mit euch sein wie ich". 13 Diese Notizen, die in Neplujews Memoiren einen gesonderten Platz einnehmen, lassen auf eine spätere Bearbeitung schließen. Man spürt in ihnen die Nostalgie, die Fonwisin im Jahre 1781 im „Landjunker" veranlaßten, seinem Starodum die folgende Beschreibung der petrinischen Epoche in den Mund zu legen: „Damals wurde der Mensch d u genannt und nicht I h r . Damals verstand man es noch nicht, die Menschen so zu entflammen, daß jeder für viele einstand. Dafür sind heute viele nicht einen wert". In gewisser Hinsicht wird diese Auffassung Starodums auch in den Erinnerungen Neplujews, Apraksins, Golowkins und anderer „Junger aus Peters Nest", die mit dem Zaren per „du" verkehrten, bestätigt. Seine Person nach und nach stilisierend, ihr den Charakter eines durch und durch patriotischen Beamten verleihend, hebt Neplujew seine ihn von der Habsucht anderer Würdenträger unterscheidende Uneigennützigkeit hervor. So machte er, bevor er sich auf seinen Posten begab, eine Ab-
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schiedsvisite „beim General-Admiral (F. M. Apraksin - J. L.), ich unterrichtete ihn von meiner Abreise und bat ihn, mich während meiner Abwesenheit nicht zu vergessen; darauf sagte er zu mir lediglich:,Dummkopf!' Ich verneigte mich vor seiner Würde und sagte, daß ich nicht wisse, womit ich seinen Zorn erregt haben könnte, und er antwortete noch einmal: ,Dummkopf!'" Was ihn in Erstaunen versetzt hatte, war Neplujews Uneigennützigkeit: „Warum hast du den Herrscher nicht gebeten, dein Gehalt während deiner Abwesenheit deiner Frau auszuhändigen?" Was für Neplujew patriotische Uneigennützigkeit war, war für seinen Gesprächspartner nichts als „Dummheit". Neplujew begriff sich als ein „Mensch Peters", und so erlebte er den Tod des Zaren als eine persönliche Tragödie. Sein Bericht darüber ist nicht nur im Stil eines nicht eben sehr geschickten Erzählers geschrieben, sondern auch mit einem ehrlichen Gefühl: „Ich benetzte jenes Papier mit Tränen, die sowohl meiner Stellung als auch meinem Herrscher galten, der so gnädig zu mir gewesen war, und es ist wahrhaftig keine Lüge, ich war mehr als vierundzwanzig Stunden ohne Besinnung". Daß höherer Beamtenstil und das ihm in seiner Aufrichtigkeit unterlaufene „es ist wahrhaftig keine Lüge" dicht nebeneinander stehen, gibt sehr genau das Gefühl jener Leute wieder, zu denen auch Neplujew gehörte. Es war ein tiefes persönliches Gefühl. Während Männer wie Menschikow, Dolgoruki, Ostermann oder Golizyn sich sofort in den Kampf um die „Staatspirogge" stürzten, verloren Menschen vom Schlage Neplujews oder Dmitri Kantemirs, die keinen Rückhalt in der Staatsführung hatten, mit dem Tod Peters I. den Boden unter den Füßen. Sowohl persönlich als auch in ihren Überzeugungen waren sie unauflöslich mit der autoritären Europäisierung und mit der staatlichen Aufklärungsidee verbunden. Aber auch wenn sie keinerlei Beziehungen zu den „zufälligen Menschen" hatten, die ihnen ein Halt hätten sein können, und sich zu Lebzeiten Peters auch nicht hatten bereichern können, auch wenn sie nicht nur um sich selbst, sondern auch um das „Neue Rußland" besorgt waren, sie waren gewandte Geschäftsleute, sie verstanden ihre Sache und wußten, daß der Staat, wie er auch immer aussehen mochte, sie brauchte, weil sie gute Arbeiter waren. In den folgenden Jahrzehnten würden sie sich gleichzeitig um die Aufklärung verdient machen und Veruntreungen begehen (W. N. Tatistschew) oder ihre Uneigennützigkeit und ihre Rücksichtslosigkeit unter Beweis stellen (wie Neplujew). Aber bis an ihr Lebensende werden sie sich nostalgisch der petrinischen Epoche als der Zeit ihrer heroischen Jugend erinnern. Neplujew ging in die Türkei. Es war ein schwieriger Dienst, für den er Gewandtheit und Können aufbringen mußte, um die ihm fehlende Erfahrung zu kompensieren. Sowohl der englische als auch der französische Botschafter intrigierten gegen die russische Diplomatie. Dazu kam, daß Neplujew sich eine Infektionskrankheit zuzog - er glaubte, die Pest zu haben, litt aber vermutlich an einer Typhusart - , er bangte um seine Familie und sorg-
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te sich um die leibeigenen Diener. Er unterwarf sich einer strengen Isolation. Er war kaum wieder genesen, als die Beziehungen zwischen Rußland und Porta einen kritischen Punkt erreichten. Er sah sich gezwungen, seine Ehefrau und die kleineren Kinder nach Rußland zurückzuschicken. Neplujews Tätigkeit im diplomatischen Dienst war von wechselndem Erfolg begleitet. Noch zu Lebzeiten Peters des Großen hatte er, nach Besetzung Bakus durch die russischen Truppen, recht erfolgreiche Verhandlungen mit Persien geführt. In den letzten Jahren der Herrschaft Anna Iwanownas verkomplizierten sich die Beziehungen zur Türkei, und der russische Botschafter wurde abberufen. Neplujew erhielt den Befehl, nach seiner Rückkehr nach Rußland in der Ukraine, in ihrer damaligen administrativen Hauptstadt Gluchowo, zu bleiben und dort die ukrainischen Angelegenheiten zu verwalten sowie gleichzeitig die Porta betreffenden Dienstaufgaben aufrechtzuerhalten. In dieser Zeit wurde ihm der Alexander-Newski-Orden verliehen, und er erhielt in der Ukraine Grundbesitz. Nach dem Tod seiner ersten Frau lebte Neplujew mit einigen der Kinder eine Zeitlang allein. Er war 47 Jahre alt. Dann begann er sich um Anna Iwanowna Panina zu bemühen, und deren Brüder Nikita und Pjotr Iwanowitsch Panin, die später beide berühmt werden sollten, wurden seine Verwandten. So geriet er schließlich, ein Beamter ohne nennenswerte Verbindungen zu seiner Adelsverwandtschaft, in ein Milieu, das sich in der Mitte des 18. Jahrhunderts zum realen Träger der Macht entwickelte. Es schien, als hätte Neplujew sich endgültig etabliert. Im Dienst und in seinem weiteren Leben konnte es nun ruhig auf den Stufen der Karriereleiter vorangehen. Aber das 18. Jahrhundert war für geradlinige Wege nicht gemacht: Während der ,Weiberherrschaft' wechselten die Personen auf dem Thron oft unerwartet, und jeder dieser Wechsel brachte unvorhergesehene Veränderungen für die Schicksale am Hof und im Staatsdienst mit sich. Die Kaiserin Anna starb plötzlich, und nach den „Unruhen um den Thron" wurde Elisabeth, die Tochter Peters I., Zarin. Alexej Buturlin eilte zu Gluchow, und gleichzeitig mit der Nachricht vom Beginn der neuen Herrschaft enthob er Neplujew seines Amtes. Die neue Zarin erkärte die von Anna Iwanowna verliehenen Auszeichnungen für ungültig. „Alle während der vorangegangenen Herrschaft erteilten Befehle, gleichviel welchen Stand betreffend, wurden aufgehoben, alle Ränge und Dienstgrade aberkannt, und so", resümiert Neplujew, „sah ich mich plötzlich meiner hohen Stellung, des Ordens und der Dörfer beraubt". 1 5 Neplujews junge
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In seinen Memoiren zeichnet Neplujew sehr farbige Bilder dieser dramatischen Situa-
tion: „...mich um meine Gattin und meine Kinder sowie auch um die Diener sorgend, schloß ich mich in Bujukder, einem V o r o r t von Zargrad, in einem abgesonderten Zimmer ein und bekam, da ich niemanden zu mir ließ, die Nahrung durch das Fenster gereicht; jede Stunde stand meine Gattin an der T ü r und vergoß Tränen darüber" (S. 124). E r kurierte sich, indem er „Chinarinde mit Wasser" einnahm (ebenda).
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Ehefrau, die sich unversehens von den Höhen der Macht in die Situation der Gattin eines Menschen versetzt sah, der sich vielleicht morgen schon als Staatsverbrecher herausstellen konnte, „verfiel der Melancholie", die sie bis zum Ende ihres Lebens nicht mehr überwand, und Neplujew, der aus Erfahrung wußte, daß der Abwesende zugleich auch immer der Schuldige ist, eilte nach Petersburg. Unterwegs erfuhr er, daß man ihn beschuldigte, Beziehungen zu Ostermann unterhalten zu haben. Die Ankunft in Petersburg war nicht erfreulich. Einen Fürsprecher am neuen Hof besaß er nicht, und auch auf freundschaftliche Beziehungen durfte er nicht rechnen. Wie Fonwisin im „Landjunker" schrieb, waren am Hof „zwei, die einander begegnen, nicht mehr voneinander zu trennen. Der eine wirft den anderen zu Boden, und der noch auf den Beinen Stehende, hilft dem am Boden Liegenden niemals auf". Nikita Panin erinnerte sich später, daß Neplujew in den gefahrvollen Jahren während des Prozesses gegen Artjom Wolynski den Fürsten N. J. Trubezkoi gerettet hatte, und daß letzterer sich bei seinem Retter damit revanchierte, daß er, nachdem er unter Elisabeth wieder zu Macht und Ansehen gelangt war, sich bemühte, Neplujew den letzten Stoß zu versetzen und behauptete, in diesem lebe „die Seele Ostermanns". Neplujew wurde in Petersburg unter Hausarrest gestellt. Es ließen sich jedoch keine Gründe für ein gerichtliches Untersuchungsverfahren gegen ihn finden. Er erhielt zwar den Alexander-Newski-Orden zurück, seine Besitzungen in der Ukraine aber waren inzwischen von den neuen Günstlingen veruntreut worden. In dieser zwiespältigen Situation, weder angeklagt noch rehabilitiert, erhielt er den Auftrag, „das Kommando der Orenburger Expedition zu übernehmen, die sich zu dem zwischen dem Kaspischen Meer und dem Aralsee wandernden, eben untertänig gewordenen Kirgis-Kaisaker Nomadenvolk zu begeben hatte, und dorten für die Verbreitung des Commerzes Sorge zu tragen und dem Steppenvolk die Grenzen zu weisen". 16 Saltykow-Stschedrin zeigte hundert Jahre später in seinen Skizzen „Die Herren Taschkenter", daß die Kolonialisierung der asiatischen Völker zur Ausdehnung des Leibeigenenrechts auf diese Völkerschaften führte und die leibeigenen Bauern gleichzeitig in eine Art Kolonialvolk verwandelte. Saltykow schrieb, die ganze Weite Rußlands sei ein „Taschkent". Aber in der uns interessierenden Epoche nahm dieses Bild vor allem deshalb einen immer komplizierteren Charakter an, weil die Möglichkeiten, Europäisierung und Aufklärung gleichzusetzen, längst noch nicht ausgeschöpft waren: Noch in den 40er Jahren begrüßte Belinski die Kolonisierungsbestrebungen Frankreichs in Nordafrika als einen Sieg der Aufklärung. Neplujew entwickelte in dem gewaltigen Raum zwischen Saratow und Kasachstan eine energische Tätigkeit. Er versetzte die Stadt Orenburg an *
Im 17. Jahrhundert nannte man die Kasachen „Kirgis-Kaisaken".
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einen neuen, günstigeren Platz, errichtete an den Grenzen Festungswerke, trieb die Erschließung der Steppengebiete voran und säte mit der gleichen List und Rücksichtslosigkeit, die auch einem englischen Kolonisator jener Zeit angestanden hätte, Feindschaft zwischen den Baschkiren und den „kirgis-kaisaker" Nomaden, indem er sie gegeneinander aufstachelte. Mit geradezu naiver Ehrlichkeit berichtete er von den für Kolonialherren typischen Methoden bei der Niederschlagung des baschkirischen Aufstandes. Den Grund für den Aufstand der Baschkiren sieht er „in ihrem Aberglauben... unter dem Joch eines ungläubigen christlichen Volkes zu stehen". 17 Während der ganzen Regierungszeit Elisabeths blieb die Situation Neplujews zwiespältig: Praktisch mit einer unbegrenzten Macht über den gewaltigen Raum zwischen der Wolga und der kasachischen Steppe ausgestattet, verfügte er dennoch über keinen einflußreichen Fürsprecher am Hofe Petersburg. Und als er gegen Ende der Herrschaft Elisabeths zum Senator berufen wurde, verschlechterte sich seine Lage noch: Er kam mit den Nachfolgern zu keiner Ubereinkunft und geriet durch eigene Unvorsichtigkeit in Konflikt mit seiner Umgebung. Der Tod Elisabeths und die Thronbesteigung Peters III. ließen seine Lage geradezu bedrohlich werden. Doch auch diesmal hielt das „Jahrhundert der Favoriten" eine einschneidende Wende für ihn bereit, dieses Mal zu seinen Gunsten. Bestushew und Rylejew beschrieben 1824 in einem satirischen Lied diesen Moment so: Wie geleiteten die Korporale Peter durch die Hofportale still und leise. Die Gattin indes vor dem Schloß ritt auf und ab dort hoch zu Roß in kecker Weise.18 Als, nach den Worten Puschkins, „die Rebellion aufstand am Hof von Peterhof" und Katharina sich in Gardistenuniform nach Peterhof begab, um sich des Thrones zu bemächtigen, war es ausgerechnet Neplujew, dem sie die Gewalt über die Hauptstadt und die Obhut über den minderjährigen Erben Paul anvertraute. Das verbesserte natürlich Neplujews Situation gewaltig, und er wurde später, nach seinen eigenen Worten, „für alle Angelegenheiten verwendet". Allmählich ließ Neplujews Sehkraft nach, und er sah sich gezwungen, um seinen Abschied einzukommen. Bald erblindete er vollständig und begann sich gefaßt und mit jener systematischen Pedanterie, die ihm stets eigen gewesen war, auf seinen Tod vorzubereiten, lediglich die Arbeit an seinem Tagebuch setzte er fort, das er nun allerdings diktieren mußte. Er blieb bis in seine letzten Tage ein Mensch der petrinischen Epoche. So diktierte er, schon den Tod vor Augen, einen letzten Brief an seinen Sohn, den er in seiner Nähe zu haben wünschte, ließ ihn jedoch gleichzeitig wissen, daß diese letzte Begegnung nicht unbedingt stattfinden müsse, wenn
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Dritter Teil
dienstliche Verpflichtungen einer Reise des Sohnes im Wege stehen würden. Seine Enkel verehrten ihn, aber mit seinem Glauben an die Aufklärung und mit seinem ungebrochenen Wissensdurst erschien er ihnen als kauziger Sonderling. Der Enkel Iwan, zu Studienzwecken im Ausland, lernte dort zwar italienisch, aber nicht ohne Ironie ließ er durchblicken, daß er das nur dem Großvater zuliebe tat. Neplujew begriff sich eindeutig als Mensch einer bereits vergangenen Epoche. Golikow schildert, sich auf Neplujews eigene Worte berufend, dessen letztes Gespräch mit Katharina. Nachdem er die Kaiserin bereits brieflich um seine Entlassung gebeten hatte, fuhr er am nächsten Tag, einem Sonntag, zur Audienz zum Hof; man führte ihn zu Ihrer Majestät; der Greis sprach von seiner Erblindung, die ihn daran hindere, seine Dienstobliegenheiten weiterhin zu erfüllen. ,Ich verstehe dich', sagte darauf die große Katharina, ,ich verstehe dich, Iwan Iwanowitsch, natürlich willst du in den Ruhestand treten, das ist dein Wille, aber ich werde dich nicht gehen lassen, bevor du mir nicht jemand anderen für deine Stellung empfohlen hast, einen Menschen mit den gleichen Qualitäten, die du besitzt'. Die schmeichelhafte Bemerkung der Monarchin rührte ihn zu Tränen. Und was erwiderte er darauf? „Nein, Herrscherin, wir, die Schüler Peters des Großen, sind durch Feuer und Wasser geführt worden, wir sind anders erzogen worden, dachten anders und verhielten uns anders, heute wird man anders erzogen, man verhält sich anders, denkt anders, und folglich kann ich mich für niemanden verbürgen, nicht einmal für meinen Sohn". 19 Die „Jungen aus Peters Nest" verschwanden, ihren Platz nahmen Günstlinge oder aufgeklärte Voltairianer ein, Stutzer oder rebellische Anhänger der Ideen Rousseaus, die Enkel der Gefährten Peters und die Väter der Dekabristen.
Michail Petrowitsch Awramow - ein Kritiker der
Reformen
Michail Petrowitsch Awramow war weder ein Feind Peters des Großen noch ein Gegner seiner Reformen. Die Publizisten der petrinischen Epoche teilten in ihrem polemischen Eifer die ganze Gesellschaft in Verteidiger der Aufklärung und der Reform und in ihre Feinde, Ignoranten, Anhänger des erstarrten Alten. Aber die Realität war komplizierter. In Wirklichkeit war das Alte ganz und gar nicht erstarrt. Das von Aufruhr und Rebellionen, von Kirchenspaltung und staatlichen Reformen durchzogene 17. Jahrhundert pflügte die gesamte Sphäre der Kultur um. 20 „Altes" und „Neues" vermischten sich auf bizarre Weise. Die petrinische Epoche hat diese Konflikte nur verschärft. Und das Beispiel Michail Awramows ist für uns gerade deshalb von besonderem Interesse, weil hier die Grenze zwischen Altem und Neuen mitten durch die Seele eines Menschen
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verläuft und sie tragisch zerreißt. In der Gestalt I. Neplujews erstand diese Epoche in ihrer Gesamtheit vor uns. Dieser Diener des Herrschers und des Staates, ein einfacher Kämpfer des „Jahrhunderts der Aufklärung", kannte keine Zweifel. Er war eine in sich abgerundete Natur, ein Praktiker und kein Denker. Awramow hatte, zumindest könnte es so scheinen, die gleichen Wurzeln. Das läßt jedoch nur den Kontrast zwischen diesen beiden deutlicher werden. Michail Awramow wurde 1681 geboren und kam, wie Iwan Neplujew, aus dem Dienstadel. Herrscherdienst war in diesem Milieu die einzige Existenzgrundlage. Er sicherte allerdings auch eine gewisse soziale Position. Awramow trat seinen Dienst schon als Kind an: Im Alter von zehn Jahren wurde er bereits für den Botschaftsdienst ausersehen, dem er nahezu sein ganzes Leben hindurch angehörte. Anfangs bewegte sich das Schicksal Awramows in den üblichen Bahnen eines einfachen Moskauer Amtsschreibers. Mit achtzehn Jahren wurde er zum Sekretär des russischen Botschafters in Holland, Andrej Artemonowitsch Matwejew, ernannt. A. A. Matwejew, später in den Grafenstand erhoben und ein Sohn Artemon Matwejews, der 1682 während des Aufstandes der Strelitzen deren Spießen zum Opfer gefallen war, ein überzeugter „Westler", war einer der energischsten und begabtesten Diplomaten Peters I. Andrej Artemonowitsch war 22 Jahre alt, überaus gebildet, sprach fließend Lateinisch, lebte in europäischer Manier und unterhielt freundschaftliche Beziehungen zu Ausländern. Seine Ehefrau war die erste, die am russischen Hof mit der Sitte brach, sich die Wangen zu färben, was bis dahin ein unbedingter Bestandteil der traditionellen vorpetrinischen Damenmode gewesen war. In seiner „Geschichte Rußlands" zitiert S. M. Solowjew die Worte eines Ausländers, der schockiert darüber war, daß Andrej Matwejew und sein Freund, der Fürst Boris Golizyn, eine Tafel verlassend, Konfekt und Gerichte, die ihnen besonders zugesagt hatten, mitnahmen, um sie ihren Ehefrauen zu schicken. Der Historiker irrte sich, als er darin das Gebaren von biederen „Moskowitern" sah, denen die europäische Aufklärung fremd war. Die Sitte, Gerichte, die besonders gemundet hatten, auch den Verwandten und Freunden zu schicken, hatte nicht nur in Rußland Tradition. Was dem Historiker wie die Geste eines treuherzigen Wilden vorkam, sah der Mensch des 16./17. Jahrhunderts als ein für den Gastgeber schmeichelhaftes Lob der gereichten Speisen an. Als Matwejew nach Holland kam, geriet er dort in eine außerordentlich schwierige Lage: Rußland hatte einen Krieg mit Schweden begonnen, und gleichzeitig war es daran interessiert, die diplomatischen und die Handelsbeziehungen mit Holland und England weiter zu entwickeln. Holland wollte jedoch, unter den Umständen des ,Spanischen Erbfolgekrieges', jeden Konflikt mit Schweden vermeiden, mit dem es einen Bündnisvertrag hatte. Das ständige Intervenieren der französischen Diplomatie macht die Situation nur noch komplizierter. Die Niederlage Peters I. bei Narwa
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Dritter Teil
unterminierte sowohl die Autorität Rußlands als auch das Ansehen des Zaren, über den in der schwedischen Presse Gerüchte verbreitet wurden, denen zufolge er wahnsinnig geworden sei. Matwejews Situation war also wahrhaft kompliziert, doch ungeachtet dessen bewies er ein bedeutendes diplomatisches Geschick. Einerseits kämpfte er gegen die diplomatischen Intrigen Schwedens an, und andererseits stand er vor der Aufgabe, Peter I. das Wesen der entstandenen Situation zu erklären. Ohne jede Beschönigung legte er Peter die bittere Lage dar. „Mit groben Beleidigungen schmäht der schwedische Botschafter, wenn er sich hier zu den Ministern begibt, nicht nur Eure Truppen, sondern verleumdet auch Eure Person, angeblich hättet Ihr aus Furcht vor dem Nahen des Königs Eure Regimenter verlassen und wäret nach Moskau geflohen; meine Hand versagt mir den Dienst, Euch zu schreiben, was ich von ihm für Beleidigungen zu hören bekomme". 21 Gleichzeitig jedoch stellte Matwejew diskreditierendes ,Material' über Karl II. zusammen, das er in der schwedischen Presse verbreiten ließ, fädelte diplomatische Intrigen ein und warb, wobei er seine inoffiziellen Beziehungen zu einigen schwedischen Beamten nutzte, Handwerker und Arbeitskräfte zur Arbeit in Rußland an. Diese ganze angespannte Tätigkeit ging durch die Hände des Sekretärs der Botschaft, Michail Awramow. Ohne das zu berücksichtigen, werden wir kaum das Vertrauen verstehen, das Peter I. ihm später, trotz der Kompliziertheit ihres Verhältnisses zueinander, erweisen wird. Peter hat diejenigen, die ihm in dieser kritischen Zeit tätig zur Seite standen, nie vergessen. Trotz seiner aufreibenden Arbeit als Sekretär studierte Awramow, was Peter sehr imponierte, die „Zeichenkunst und die Kunst der Malerei".' Eingestandenermaßen ist uns bezüglich der Tätigkeit Awramows in jener Zeit nicht alles bekannt. Er selbst wird sich später erinnern, daß er in Holland „öffentlich in der Zeitung gelobt wurde". 22 Die Einzelheiten der Episode sind uns nicht bekannt, aber Awramow selbst erinnerte sich noch viele Jahre später, unter für ihn nicht eben erbaulichen Umständen, daran. Offensichtlich war das Leben in Holland für Awramow eine Periode, in der er sich ebenso völlig als Europäer fühlte wie später Tredjakowski, als er nach Paris kam. Doch die Rückkehr in die Heimat und die unmittelbaren Erfahrungen mit der,Europäisierung' riefen bei ihm widersprüchliche Gefühle hervor. Von 1702 bis 1711 war er in Moskau als höherer Beamter in der Rüstkammer tätig. Peter drückte ihm mehrmals sein freundschaft*
Das W o r t „Kunst" umschrieb zu jener Zeit den Begriff, den wir heute von dem W o r t
„Handwerk" haben. A w r a m o w verstand als Mensch seiner Zeit unter diesem Begriff sowohl das Handwerkliche als auch das Können, die Fachkenntnis. F ü r die Menschen der petrinischen E p o c h e klangen die W o r t e „ H a n d w e r k " und „ K ö n n e n " erhabener und sogar poetischer als das W o r t „Talent". Dieses Pathos spiegelt sich später in den W o r t e n A . F. Mersljakows über die Poesie wider, die er „heilige Arbeit" nennt, und in den W o r t e n M. Zwetajewas „Handwerker, ich kenne das Handwerk" sowie Anna Achmatowas „Das heilige Handwerk".
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Nest"
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liches Vertrauen aus und beauftragte ihn für die Jahre 1711 bis 1716 mit der Herausgabe der „Mitteilungen", der einzigen Zeitung, die in diesen Jahren in Rußland erschien. In der gleichen Zeit, 1712, kam Awramow als Direktor der Sankt-Petersburger Druckerei in die Hauptstadt. Seine Beziehungen zu Peter I. hat er später so beschrieben: „Für meine Arbeit wurde ich von seiner Majestät großmütig bedacht, ins H e r z geschlossen und einer solchen Gunst für würdig befunden, daß er zwei Jahre hindurch die Gnade hatte, jede Woche eine angemessene Zeit bei mir, in meinem mir ebenfalls von seiner Majestät zur Verfügung überlassenen Haus, zu verbringen, sich oftmals mit all seiner kaiserlichen Heiterkeit auf angenehmste Weise unterhalten zu lassen, und mit der erlauchtesten großmütigen Herrscherin, der Kaiserin Jekaterina Alexejewna, und den Ministern in meinem Haus seine ,Tafelrunde' abzuhalten..." 23
Die „Tafelrunden" Peters I. sind wohlbekannt und durch zahlreiche Zeugnisse belegt. Schwerlich dürften die Gelage in Awramows Haus in jener gesitteten Form abgelaufen sein, wie sie sich später in seinem von U n t e r tanengeist' erfüllten Gedächtnis erhalten hat. In jenen Jahren jedoch kümmerte das Awramow nicht. In der Lobrede, die er 1712 dem Herrscher widmete, finden wir auch nicht die Spur moralischer Bedenken oder einer Kritik der Umgebung Peters. Diese ausgesprochene Rarität, die in nur einem Exemplar erhalten und möglicherweise auch nur als ein einzelnes Exemplar gedruckt worden ist, hat einen komplizierten Titel, der mit den Worten beginnt: „Sintemalen Gott der Schöpfer ist...". Dieses umfangreiche, aus 48 Strophen bestehende gereimte Opus in der Manier von Guckkastenbildern bezeichnete der Autor selbst als „Begrüßungsgedicht für Peter I. von M. P. Awramow": Dank Gott, der das große Russenland gemehrt Und sich auch dem ruhmreichen Ingrien* zugekehrt, Der Schätze viel ins Russenland gesenkt Und seinen Heilspfad durch Ingrien gelenkt, Der Rußland und Ingrien beglückte, Als er uns den weisen Monarchen Peter schickte... Möge Seiner Majestät Weisheit das alles umschließen, Und möge des Feindes Blut wie Wasser sich ergießen. Das schöne Ingrien und mehr, ererbt, zerronnen, Hat weltklug er zurückgewonnen Und an dem geliebten Ort, seinem Namen verpflichtet, Diese ruhmvoll glorreiche Festung errichtet. 24
*
Ingrien - Ingermanland, der Landstrich zwischen Ladogasee, N e w a und Finnischem
Meerbusen, auf dem Peter Sankt Petersburg errichtete und der davor eine schwedische Provinz war.
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Dritter
Teil
Bemerkenswert ist in diesem Text die Verwendung der Großbuchstaben: „ G o t t " schreibt Awramow klein, aber „Seine Majestät" mit großen A n fangsbuchstaben.* Kann man das erstere noch auf seine sehr eigenwillige Rechtschreibung zurückführen, so ist das zweite ein deutlicher Ausdruck seiner Verehrung für Peter I. Zumindest besteht in diesem D o k u m e n t nicht die Absicht, die kirchlichen Werte über die staatlichen zu stellen. Unter der Leitung Awramows nahm die Tätigkeit der Druckerei zu. 1712 erschien die erste exakt datierte Buchausgabe: „Kurze Darstellung der Prozesse und gerichtlichen Verfahren" von E. Krompein. U n d Awramow beteiligte sich aktiv an der Herausgabe eines Buches mit dem Titel „MarsB u c h oder Die Militärangelegenheiten". Das Buch war mit Illustrationen ausgestattet und zeugte bereits von einem hohen Niveau der Drucktechnik. D e n Inhalt des Buches bildeten „Berichte und Journale". Diese Ausgabe stieß auf großes Interesse und wurde mehrere Male nachgedruckt. Hier erschien auch ein bemerkenswertes pädagogisches Buch, „Der Jugend aufrichtiger Spiegel" (1717). U n d ebenfalls hier veröffentlichte der Vater Suworows, W . I. Suworow, seine Übersetzung des Buches „Das richtige Verfahren zur Befestigung der Städte" von D u Fay und de Combre (1724). I m folgenden Kapitel werden wir W. I. Suworow als Zeugen in der Angelegenheit Dolgoruki begegnen, während der die Beschuldigten grausamen Folterungen ausgesetzt waren. Im Geiste seiner Zeit diente General Suworow der Ältere dem Staat auf verschiedene Weise... Besondere Aufmerksamkeit verdient noch das 1717 erschienene „Buch des Weltalls oder Ansichten über die himmlisch-irdischen G l o b e n " von Ch. Huyghens. U b e r die Veröffentlichung dieses Buches berichtet Awramow in seiner Lebensbeschreibung: „Als im vergangenen Jahr 1716 der General Jakow Brjus Seiner Kaiserlichen Hoheit das von ihm übersetzte atheistische Büchlein brachte, tat er das mit der bei ihm üblichen verschlagenen Schönrednerei, die in seinem gottlosen, wirren, atheistischen Herzen verborgen nistet, wobei er mit tückischer Schmeichelei dieses und diesem ähnliche törichte Büchlein desselben Autors Christian Huyghens hervorzog, die angeblich für die Belehrung des allgemeinen Volkes wohlgefällig und für die Seeschiffahrt von großem Nutzen seien, und so mit seinem Schönreden den Herrscher geflissentlich belog; der Herrscher nahm das Büchlein entgegen, und ohne es näher besehen zu haben, befahl er mir mit Entschiedenheit, es in einer Auflage von 1200 Büchern für das allgemeine Publikum zu drucken; auf diesen persönlichen Befehl sah ich mir nach der Abfahrt Seiner Majestät dieses Büchlein mit all dem Gotteslästerlichen an, und mein Herz erbebte, und ich erschrak in meinem Geist, schluchzend und unter bitteren Tränen sank ich vor dem Bild der Gottesmutter nieder, indem ich mich gleichermaßen davor fürchtete, das Büchlein zu drucken und es nicht zu drucken; aber dank der Gnade Jesu Christi kam mir in mei*
Bezieht sich auf die Besonderheiten der G r o ß - und Kleinschreibung in der russischen
Sprache.
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nem Herzen gar bald der Entschluß, jene tollwütigen Gottlosen und Gotteslästerer deutlichst anzuprangern und unter meiner strengen Aufsicht statt 1200 nur 30 Bücher zu drucken, und diese versiegelte ich bis zur Ankunft des Herrschers. Als Seine Majestät aus Holland nach Sankt Petersburg zurückgekehrt war, nahm ich das obengenannte tollwütige, auf allerhöchsten Befehl gedruckte Büchlein und brachte es erschauernd Seiner Majestät, teilte ihm den Umstand mit, daß dieses Büchlein das gotteslästerlichste, das gottesabscheulichste sei und nur wert, mit seinem Autor und mit dem wirrsinnigen Schmeichler, Überbringer und Ubersetzer Brjus auf dem Scheiterhaufen verbrannt zu werden: Seine Majestät nahm das Büchlein von mir entgegen, um es durchzusehen, und nach zwei Wochen befahl er, es nicht für das Volk herauszugeben, und ordnete an, die gedruckten Bücher dem tollköpfigen Ubersetzer Brjus auszuhändigen, der den Herrscher so belästigt hatte, damit dieser sie nach Holland schicke." 25 D i e s e r später geschriebene Bericht entspricht vermutlich nicht g a n z der Wahrheit. Z u m i n d e s t ist die Information über die Vernichtung des Buches von H u y g h e n s zweifelhaft, o b w o h l es im 18. Jahrhundert nur noch äußerst selten vorhanden war. D i e zweite A u f l a g e dieses Buches ist mit dem Vermerk, daß es erstmals 1717 erschienen ist, 1724 in M o s k a u veröffentlicht w o r d e n . E s ist aber anzunehmen, daß A w r a m o w einer größeren Verbreitung des Buches entgegengewirkte. Z u einer wirklichen T r a g ö d i e f ü r A w r a m o w w u r d e j e d o c h eine andere H e r a u s g a b e , über die er folgendes berichtet. I m R a u s c h seines beruflichen Erfolges „war der ewige Neider jeglicher christlichen Güte, der heimtückische Satan, dem sich mein ausschweifendes Leben zum Vorteil bot, mächtig genug, mein Herz mit arglistigem, aufrührerischem Trachten zu erfüllen, mich anzustiften, der Verfluchte, Seine Majestät als deren angeblich gehorsamster Untertan darum zu ersuchen, mir heidnische Bücher von Ovidius und Vergilius, die neu übersetzt und Seiner Majestät von scheinbar vernünftigen Menschen dargebracht worden waren, zum Lesen und zum Auswählen heidnischer Fabeln zu überlassen. Seine Majestät schenkte meiner Bitte Gehör und zeigte sich ohne Umstände bereit, mir die Bücher auszuhändigen, die ich nun am Tag und in der Nacht mit größtem Eifer und Vergnügen las, bis sie mir den Verstand genommen hatten; ich pries diese Bücher vor Seiner Majestät, und nachdem ich den Ukas zu ihrem Druck erbeten hatte, wählte ich das schmälste davon, versehen mit Darstellungen der garstigen Götter und ihrer tollwütigen Handlungen, druckte es und ordnete an, es dem Volk öffentlich zugänglich zu machen und zu verkaufen. Durch solcherart mir von Satan eingegebene Entsittlichung entglitt mein von Gott gegebener sündiger Sinn diesem meinem Leben in Gänze und verfiel in Verfinsterung. Dafür war ich nun allen Weltlichkeitsbesessenen auf das äußerste angenehm, aber vielen vernünftigen Menschen galt ich nun als wahnsinnig." 26
Weltlichkeitsbesessene - Anhänger der materiellen Welt, „der diesseitigen Welt"
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Dritter Teil
Die Qual der gespaltenen Persönlichkeit Awramows soll uns hier Anlaß sein, an jene Stelle bei Puschkin zu erinnern, die den seelischen Kampf eines Menschen wiedergibt, der sich am Kreuzweg von mittelalterlichen Vorstellungen und Vorstellungen der Renaissancezeit zu irdischer Schönheit hingezogen fühlt und dieses Gefühl als Sünde auffaßt: Des Lebens Anfang denke ich, der Schule Reich; Sorglose Kinder waren wir und viele; Eine Familie, bunt, und keins dem andern gleich. Ein innerer Drang trägt den Helden aus der Welt der ernsten Fürsorge seiner „demütigen Gattin" hinaus in die „bezaubernde Dunkelheit eines fremden Gartens". Hier wird seine Seele von der Welt antiker Schönheit berührt: Aus Marmor rings Zirkel und Lyrasaiten, Schriftrollen, Schwerter in Marmorhänden, Lorbeerhäupter, purpurnes Faltengleiten. Und süße Angst wehte von Zinnen Ins Herz mir, ließ ob des Anblicks Tränen Der Begeisterung aus meinen Augen rinnen. Mit ihrer Schönheit Zauber zogen Zwei wundersame Geschöpfe mich an: Dämonengestalten die Glieder bogen. Der eine (delphisch), ein Jünglingsgesicht Sein Ingrimm mit furchtbarem Stolz gemischt, Seine Kraft erstrahlte in unirdschem Licht. Der andere sinnlich, als Weib anzusehn, Ein verfänglich obskures Ideal Ein Dämon voll Zauber, voll Falschheit, doch schön. (Puschkin III(l), 254-255) Das Schwanken zwischen der Anziehungskraft des Neuen und dem tief wurzelnden Glauben an dessen Sündhaftigkeit nähert den Puschkinschen Helden und Awramow, bei all ihren psychologischen und kulturellen Unterschieden, einander an. Awramow war von der Atmosphäre schöpferischer Spannung, der Aufhebung aller Verbote, der weitreichenden Freiheiten für seine Tätigkeit, der verlockenden Prinzipienlosigkeit, die den Kreisen, die dem Zaren nahestanden, nahezu alles zu erlauben schien, fasziniert. Später, als er in dieser Periode nur noch einen Sündenfall sah, schrieb er: „Durch solch ein vergebliches menschliches Ruhmstreben, das sich mehr und mehr brüstete, ging das gottgegebene demütige Leben verloren, und man begann sich schon gänzlich nach heidnischem Brauch zu gebärden und ein alles zugrunderichtendes, sich grenzenlos ausbreiten-
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des* freizügiges und genußsüchtiges Leben zu führen". U n d Awramow klagt sich selbst an, daß er „unablässig jeglichen Reizen des Leiblichen dieser unzüchtigen Welt, den üppigen Dingen und Vergnügungen verfiel, dem Trunk, der unersättlichen Unzucht, mancherlei Ehebrüchen und anderen unsinnigen Geschichten und Bosheiten". 2 7 Man sollte in diesem Zitat eher eine rhetorische Formel sehen als eine genaue Beschreibung des realen Awramowschen Lebens. Wir wollen hier, zum Vergleich, die Botschaft Iwans des Schrecklichen an das Kloster Kyrillo-Beloserski anführen, in der es heißt: „Und ich, der räudige Hund, wen soll ich belehren, womit strafen und womit weisen? Verharre ich doch selbst im Trunk, in Unzucht, Ehebrüchen, Unflätigkeit, im Obszönen, in Mord, Raub, Diebstahl, im H a ß und in jeglicher Boshaftigkeit". 2 8 Die wörtliche Ähnlichkeit der Selbstanklagen Awramows und Iwans des Schrecklichen verdeckt nur den tiefliegenden Unterschied zwischen diesen beiden Zitaten. Iwans Reue, gewissermaßen unter einer Narrenkappe, ist zu rhetorisch, um als aufrichtige Beichte gelten zu können. Die Selbstanklage Iwans des Schrecklichen ist nur eine Falle, die er seinem zum Anhören verdammten Auditorium stellt. E r glaubt selbst nicht an seine W o r te, aber seine Zuhörer sollen sich hüten, ihnen keinen Glauben zu schenken. Awramow hingegen war aufrichtig von seiner Rhetorik überzeugt, er entsetzte sich über seine abgrundtiefe Sündhaftigkeit, und daran zerbrach sein Leben. Neplujew war das Beispiel eines Menschen von außerordentlicher Zielstrebigkeit gewesen, der sich nie in einem inneren Zwiespalt befunden und den nie Zweifel gequält hatten. In völliger Ubereinstimmung mit seiner Zeit hatte er sein Leben der praktischen Tätigkeit im Staatsdienst gewidmet. Awramows Persönlichkeit war zutiefst gespalten. Seine praktische Tätigkeit als diensteifriger petrinischer Beamter ließ in ihm utopische Träume wuchern. Sich in seiner Phantasie ein idealisiertes Bild des Alten erschaffend, engagierte er sich für die neuen Reformen, weil er in ihnen eine Bewahrung der Tradition sah. In seinen Projekten vermischten sich die Ideen Peters mit den Nikonschen Gedanken von der Errichtung einer machtvollen, herrschenden, über der Staatlichkeit stehenden Kirche, und mit dem Awwakumschen Begehren, für das Alte und für den Glauben zu leiden. In seinem Plan, in allen neuentdeckten Ländern das orthodoxe Christentum zu verbreiten, vereinigte er den Enthusiamus eines Apostels mit der konquistadorischen Leidenschaft eines Entdeckers neuer Gebiete. All diese Widersprüche vertrugen sich nur schwer mit dem nicht eben flexiblen Geist dieses „Jungen aus Peters N e s t " . E r fuhr fort, der Person
*
D e r Sinn dieser Worte erklärt sich aus der Gegenüberstellung des breiten Weges, der in
die Hölle führt, und des schmalen, „engen", der ins Paradies führt. Vergl. die Worte des Protopopen Awwakum über den „engen" W e g ins Paradies. Versteht man die Metapher real, sagte Awwakum, daß Wohlbeleibte, „Dickbäuchige" niemals ins Paradies gelangen werden.
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Dritter Teil
des Zaren zu huldigen, und obwohl er überzeugt davon war, daß Peters Krankheit nach dessen Unterzeichnung des Geistigen Reglements kein Zufall war, erhielt er sich diese Verehrung sein ganzes Leben hindurch. Sogar in seinen späteren Bekundungen bemühte er sich noch, die Frage nach den Gründen für die geistige Krise, die er in den Jahren nach 1711 durchlebt hatte, zu umgehen. Aber es dürfte wohl kaum ein Zufall sein, daß dieser Umbruch chronologisch mit den Geschehnissen um den Zarewitsch Alexej zusammenfiel. Awramow kündigte weder seinen Dienst auf, noch brach er mit Peter I., aber er begann unter seiner Uniform ein grobhärenes Büßerhemd zu tragen, und bei den Gastmahlen beim Zaren, an die er sich in seiner Lebensbeschreibung nahezu begeistert erinnerte, lehnte er alkoholische Getränke ab und schützte eine angebliche Schwindsucht vor. Wahrscheinlich begann auch seine verlegerische Arbeit darunter zu leiden. Das sich fortsetzende Wohlwollen Peters ausnutzend, versuchte Awramow mehrmals mit ihm Gespräche zu führen, deren Themen die Xenophobie und eine Annäherung an die Kirche waren. Es ist anzunehmen, daß diese Reden Awramows bei Peter I. kaum Wirkung hinterließen, aber er hörte ihnen geduldig zu. Peter war bereit, denen, die ihn in den kritischen ersten Jahren seiner Herrschaft unterstützt hatten, sehr vieles nachzusehen. Mit dem Tod Peters I. änderte sich die Lage Awramows. Nach alter Gewohnheit fuhr er unter Peter II. und Anna Iwanowna, die der Wiederherstellung des Patriarchentums zuneigten, fort, in allerhöchstem Namen Ratschläge zu erteilen und Projekte vorzuschlagen, was zum Konflikt mit Feofan Prokopowitsch führte. Gutgläubig mischte er sich in die Auseinandersetzung zwischen Feofan und den Anhängern des Patriarchentums ein, wobei er aufrichtig hoffte, in diesem Gewirr ehrgeiziger Intrigen die Märtyrerkrone zu erlangen. Das Ergebnis war aber, daß Awramow in ein ganzes Knäuel aus Prozessen und gerichtlichen Verfahren hineingezogen wurde, was ihm schließlich die Verbannung nach Kamtschatka einbrachte. Hier nun geriet er in eine neue Kette von Konflikten. Die Küste des Ochotskischen Meeres war in diesen Jahren ein eigenartiger Knotenpunkt, an dem sich die Biographien von wissenschaftlichen Bahnbrechern und politischen Verbannten kreuzten, und nicht selten übernahmen letztere auch die Funktionen der ersteren. Das Schicksal führte Awramow mit zwei Menschen zusammen. Der erste war Alexej Iljitsch Tschirikow, einer jener talentierten, ganz der Wissenschaft ergebenen Menschen, deren Geist und Tatkraft sich in der petrinischen Epoche entfalten konnten. Er war 1716 als Marinegardist in den Dienst der Flotte getreten und hatte sich später als derart energischer und begabter Ausbilder *
In diesem bizarren Durcheinander von Ereignissen und Schicksalen, gerade während
des Prozesses gegen den Zarewitsch Alexej, vollzog sich der H ö h e p u n k t in der Karriere G . G . Skornjakow-Pissarews, dessen Schicksal sich später unerwartet mit dem A w r a m o w s überkreuzen sollte.
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der Matrosen erwiesen, daß er außer der Reihe, „anderen zum Vorbild", zum Leutnant befördert wurde. Danach wurde er, trotz seiner Jugend und auf Berings Bitte, an dessen Seite beordert, gelangte bis in den Stillen Ozean und unternahm eine Expedition zu den Küsten Amerikas. Entlang den Gestaden des Stillen Ozeans kreuzend und zielstrebig die Besiedelung der Küste des Ochotskischen Meeres betreibend, leistete Tschirikow einen wesentlichen Beitrag zur Wissenschaft und zur Erschließung des Fernen Ostens. Und es ist bezeichnend für seinen Charakter, daß, als er gesundheitlich schon schwer angegriffen nach Petersburg zurückkehrte und dort starb, die Erbschaft der Familie des seefahrenden Wissenschaftlers lediglich aus Schulden bestand. Awramows Geist büßte während seiner Verbannung in Ochotsk nichts an Energie ein. Er korrespondierte mit seiner Familie, suchte nach Mitteln und Wegen zu seiner Rechtfertigung und war gleichzeitig bemüht, die Aufklärung in die örtliche Bevölkerung zu tragen. Es sind die Denunziantenberichte G.G. Skornjakow-Pissarews, aus denen wir von den Bemühungen Awramows und Tschirikows um die Verbreitung der Aufklärung im Fernen Osten erfahren. G. Skornjakow-Pissarew gehörte ebenfalls zu jenem Kreis von Leuten, die man die „Jungen aus Peters Nest" nannte. Viele Jahre hindurch war er ein ständiger Mitarbeiter des Zaren in Militär- und Zivilangelegenheiten gewesen, und Golikow hatte allen Grund, ihn zu den engsten Gefährten Peters zu zählen. Skornjakow-Pissarew baute im Auftrag Peters die Kanalsysteme um den Ladogasee aus und erteilte Unterricht in der Artilleriekunst und den mathematischen Wissenschaften. Doch nicht darin kam das große Vertrauen, das Peter zu ihm hatte, zum Ausdruck: Er war vor allem einer jener Männer, denen Peter den Prozeß und das blutige Gericht über seine erste Gemahlin und deren Umgebung anvertraute. Danach nahm SkornjakowPissarew auch an dem Gericht über den Zarewitsch Alexej und an dessen darauffolgender Folterung teil, während der, einigen Berichten zufolge, der Zarewitsch starb. Die Aufnahme Skornjakow-Pissarews in den Kreis derer, die mit dem Begräbnis des Zarewitsch betraut wurden und denen die Geheimnisse des Gerichtsverfahrens bekannt waren, ist ein unumstößlicher Beweis dieses Vertrauens. Und ein weiterer Vertrauensbeweis ist die hohe Auszeichnung, die er erhielt, den Dienstgrad eines Obersten der Garde. Skornjakow-Pissarew erhielt später von Peter noch eine Vielzahl von Aufträgen, aber er vermochte keine besonderen organisatorischen Talente zu entwickeln. Einige Male fiel er in Ungnade, konnte sich aber immer wieder aus schwierigen Situationen herauswinden, und der letzte Höhepunkt seiner Karriere war es, daß er zu dem Personenkreis gehörte, der den Sarg des Zaren tragen durfte. Während der Intrigen, die dem Tod Katharinas I. folgten, verrechnete sich Skornjakow-Pissarew. Er ergriff Partei für Peters Töchter, was ihm teuer zu stehen kam. Er wurde degradiert, ausgepeitscht und in eine abgelegene sibirische Winterstation verbannt.
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Dritter Teil
Doch einige Zeit darauf wurde er auf Bitten Berings nach Ochotsk geschickt, wo er den Auftrag erhielt, eine menschenleere Gegend zu b e siedeln', und mit einer Reihe anderer für dieses Gebiet segensreicher Aufgaben betraut wurde. Dabei äußerte sich der findige Scharfsinn der Bürokratie vor allem darin, daß Skornjakow-Pissarew, obschon er über große Vollmachten verfügte, dennoch ein Sträfling blieb: Zur Arbeit hatte er im Konvoi zu gehen, und zur Nacht kehrte er in seine Zelle zurück. Aber der „Junge aus Peters Nest" dachte nicht daran, lange im Fernen Osten zu bleiben. Und er sah nur einen Weg für seine Rückkehr: eine Verschwörung zu entdecken, sie zu enthüllen und dadurch in Petersburg wieder zu Gunst und Ansehen zu gelangen. Auf diesen Weg arbeitete er zielstrebig hin. In seiner Denunziation, die er nach Petersburg schickte, berichtete er: „Er, Awramow, der allbekannte alte Scheinheilige, der sich nur fromm gebärdet und sich als Heiliger aufführt, hat große Freundschaft mit dem ihm ähnlichen scheinheiligen Kapitän Tschirikow geschlossen und diesen, Tschirikow, zum Namenstag mit der Ikone der heiligen Muttergottes, der Kasansker genannten, gesegnet, welche dieser, Tschirikow, mit großer Geneigtheit entgegennahm, als wäre sie ihm von einem heiligen Mann gereicht worden". Skornjakow-Pissarew schickte auch einen Awramow entwendeten Gebetstext nach Petersburg, wobei er erläuternd hinzufügte: „Dieses Gebet ist sehr fragwürdig". Er berichtete auch, daß Awramow sich einen „unschuldig für seinen Glauben Leidenden" nenne, der Prüfungen erdulde, und daß einige Menschen ihn mit Kleidung und Nahrung unterstützten, „wie Tschirikow ihm schon zwei Paar Kleidungsstücke, einen Pelz und zehn Rubel gegeben hat". Skornjakow-Pissarew gab sich für einen Anhänger der Aufklärung aus, der die Lügen der Abergläubischen entlarvt. Diese im Namen der Aufklärung Trug und Aberglauben entlarvenden Denunziationen geben am deutlichsten eine Welt wieder, in der alle Begriffe auf pittoreske Weise miteinander vermengt waren: „Und da es allen guten Menschen bekannt ist, daß man auf keine andere Weise dem einfachen Volk das Geld aus der Tasche ziehen kann, als durch vorgetäuschte Frömmigkeit und dadurch, daß man sich für einen Betbruder ausgibt, wie sich der Spitzbube Awramow in Ochotsk nannte, und als welche auch die Schelme und Spitzbuben in meiner Anwesenheit in der Geheimen Kanzlei aufgetreten sind."29 Skornjakow-Pissarew versäumte es auch nicht, daran zu erinnern, daß er nicht immer ein Verbannter gewesen war, sondern auch als Untersuchungsrichter in der Geheimen Kanzlei gewirkt hatte. Skornjakow-Pissarew maßte sich selbstherrlich die Rechte eines Beschützers der Staatlichkeit an. Tschirikow und vor allem Bering unterstanden ihm nicht, aber bei Awramow führte er eine Durchsuchung durch und schickte die „bei dem
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Spitzbuben und Scheinheiligen Michail Awramow" „in den Taschen verwahrten Bücher" und sogar in ihnen abgelegte Lesezeichen, die seinen Verdacht erregt hatten, nach Irkutsk. Awramow selbst ließ er in Ketten legen, damit dieser „nicht irgendwelche scheinheiligen und betrügerischen Handlungen begehen könne" und sandte ihn mit einem Soldaten nach Irkutsk. Während Skornjakow-Pissarew seinen hinterhältigen Plan, der ihm den Rückweg nach Petersburg eröffnen sollte, verwirklichte, brachten Postpferde Briefe Awramows dorthin, in denen er seine Frau und seine Kinder bat, Gott um das Wohlergehen seiner Wohltäter anzuflehen, als deren einen er Skornjakow-Pissarew nannte. In Petersburg nahm inzwischen alles seinen gewohnten Gang. 1742 entschied die Geheime Kanzlei die Angelegenheit M. Awramow und ordnete an, ihn freizulassen. Kaum nach Petersburg zurückgekehrt, zog Awramow sich nicht zurück, sondern reichte ein neues, allumfassendes Reformprojekt ein. Er hatte darin seine Ideen von einer allgemeinen Aufklärung und von allgemeinem Wohlstand mit der Forderung, die staatliche Macht der Kirche zu übergeben, verknüpft. Er schrieb „über die Aufklärung des unwissenden Volkes im ganzen Universum" und schlug vor, eine Geldreform durchzuführen und, nachdem genügend Mittel zusammengekommen wären, die leibeigenen Bauern freizukaufen und, durch bedeutende Darlehen an die Kaufleute, den Handel zu beleben. Gleichzeitig schlug er vor, den Projekten Peters des Großen Leben einzuhauchen sowie auch die kirchliche Zensur zu verstärken und den Geistlichen die Oberaufsicht über die Frömmigkeit der Gemeinden zuzubilligen! Die Notwendigkeit der angeführten und vieler anderer Reformen begründete Awramow in folgender Weise: „Von solcher Art sind die wahren christlichen Regeln; mit der Hilfe des allmächtigen Gottes können sie uns Armselige vor den schmeichlerischen Betrügereien des hinterhältigen Satan bewahren, zumalen er sich gar häufig in die rechtschaffenen Wege einschleicht und vorgaukelt, nach dem Guten zu trachten. Aber unter seinem boshaften, gleisnerischen Mantel heimlich sich einschleichend, ist der Spitzbube allemalen nur bestrebt, die allrettende, zum Gesetz gewordene Lehre Christi und seiner Heiligen Kirche zu verleugnen und zu zerstören. Und er trachtet danach, uns nicht nur in ein unzüchtiges, sondern auch in ein atheistisches Leben zu überführen, wie er begonnen, die Fremdländischen zu verlocken und zu verführen."30 Indem er das Recht der Kirche auf Barmherzigkeit verteidigte, auf die Fürsorge für die Armen, und indem er der petrinischen These, die wahre Errettung der Seele sei der Dienst am Staat und am Herrscher, wie das Feofan mehrfach behauptete, widersprach, beharrte M. Awramow nicht nur wie eh und je auf der Selbständigkeit der Kirche, sondern auch auf ihr Vorrecht dem Staat gegenüber. Insbesondere stürzte er sich auf die westliche Aufklärung und fiel von neuem über die „gedruckten atheistischen Bücher" von Huyghens und Fontenelle her,
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„in ihnen ist über die Erschaffung der Welt solches gedruckt: die Weltauffassung oder die Ansichten von den irdisch-himmlischen Globen und ihren Verbrämungen, die in großer Anzahl hier beschrieben werden, indem sie mit den absonderlichen alten und heidnischen Namen der falschen Götter genannt werden, und daß die Erde, wie es bei Kopernikus heißt, um die Sonne kreise, wie auch die vielen Sterne... und auch von anderen Himmelskörpern... daß diese genau solche seien wie unsere Erde, und die Bewohner all dieser Erden genauso seien wie auf unserer Erde, so wird behauptet, und die Felder und die Wiesen und die Ebenen und die Wälder und die Gebirge und die Klüfte und die Meere und die übrigen Gewässer und die Tiere und die Vögel und die Kriechtiere und jeder Ackerbau und das Handwerk und die Musik und die gebärenden Lebewesen und die Geburt und alles übrige, genauso wie auf unserer Erde, so wird erklärt. Und immer wieder berufen sie sich auf die Natur, daß angeblich die Natur alle Wohltaten und alle Gaben den Bewohnern schenke und jedem Lebewesen: Und auf solche Weise sich einschleichend und falsches Spiel treibend, behaupten und rühmen diese allenthalben die Natur als ein selbstständiges Leben."31 Was all diese Projekte schließlich zu Folge hatten, war nicht schwer vorauszusehen: A w r a m o w wurde erneut in die Geheime Kanzlei geladen. Nach seinen Verhören „mit strenger Befragung", das heißt unter der Folter, kam jedoch selbst die Geheime Kanzlei zu der Auffassung, daß Awram o w keine Schuld nachzuweisen war, „daß er seine widrigen Bücher aus der Einfältigkeit seiner N a t u r heraus verfaßt habe". Es wurde ihm gestattet, „bis zum Ende seines Lebens unter gestrenger Aufsicht und ohne sich irgendwohin zu begeben" 32 in einem Kloster zu leben. Aber von dieser ,Gnade' konnte A w r a m o w keinen Gebrauch mehr machen: Er starb am 24. August 1752 im Gefängnis. Der Weg des Verfassers weitreichender Projekte hatte sich vollendet. Nichts ist leichter, als sich über die absonderlichen und rückschrittlichen Ideen des ehemaligen Mitarbeiters Peters I. lustig zu machen, auf die „schreienden Widersprüche" aufmerksam zu machen, auf Awramows unzulängliche Bildung hinzuweisen oder zumindest auf den Einfluß, den die seelischen Erschütterungen auf ihn ausübten. Es ist vermutlich gerechter, von anderem zu reden. Als Mitstreiter Peters des Großen gehörte Michail Awramow zur ersten Generation der Reformer. Er ließ das Alte hinter sich, „widerspruchslos gleich dem Irrenden/ dem der Erstbeste eine andere Richtung weist" (Puschkin, VII. 124). In dieser Generation gab es wahrscheinlich Menschen, die so lange auf die Reformen warteten, sie so sehr herbeisehnten und so fest an sie glaubten, daß sie sich mit deren realem, blutigem Antlitz nicht abfinden konnten. Sie erdachten utopische Zukunftsprojekte und schufen utopische Bilder der Vergangenheit, aber sie sahen nicht die Gegenwart. Wäre ihnen Macht verliehen worden, sie hätten das Land mit dem Blut ihrer Gegner überzogen. Aber in der realen Situation vergossen sie ihr eigenes Blut. Die Epoche trennte die Menschen in dogmatische Träumer und zynische Praktiker. Zu den er-
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sten gehörte, auf dem russischen Thron, Paul I., zu den zweiten Katharina II. Aber an diesem Himmel erstrahlen, Sternen gleich, die einfachen Menschen. Als Beispiel für sie soll hier die Fürstin Natascha Dolgorukaja genannt werden. Von ihr wird im Kapitel „Zwei Frauen" die Rede sein.
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Zum Ende des 18. Jahrhunderts trat in Rußland eine völlig neue Generation auf. Die Veränderung der Charaktere vollzog sich mit einer solchen Rasanz, daß wir im Verlauf des Jahrhunderts deutlich verschiedene Generationen, eine Abstufung der menschlichen Typen unterscheiden können. Die Menschen, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts lebten, zeichnete, bei allen Unterschieden in ihrer Natur, ein gemeinsamer Zug aus, das zielbewußte Streben, einen besonderen individuellen Weg zu finden, ein spezifisches persönliches Verhalten. Die Menschen zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren bemüht, sich irgendeiner Gruppe anzuschließen, zu „Jungen aus Peters Nest" zu werden, zu den Verteidigern des wahren Glaubens zu gehören, sich in eine Klause zurückzuziehen oder nach Europa zu fliehen. Aber stets trieb sie das Verlangen, Teil irgendeines einheitlichen Ganzen zu werden und dessen Gesetze zu ihren eigenen zu machen. Ein Charakteristikum der Menschen Ende des 18. Jahrhunderts war, wenn man sich diese Verallgemeinerung hier erlauben darf, die Suche nach dem eigenen Schicksal, das Verlangen, aus der Reihe herauszutreten und die eigene Persönlichkeit zu verwirklichen. Dieses zielbewußte Streben basierte psychologisch auf der Vielfalt der Verhaltensmethoden. Der Wunsch, etwas Unerhörtes zu vollbringen, ist mitunter stärker als die religiös-ethischen Stimulanzen: Er wird sowohl zu einer heroischen Tat als auch in das Hoffen auf,günstige Beziehungen' treiben, wobei man alle Hindernisse überwindet, um auf dem Piedestal der Macht den ersten Platz einnehmen zu können. Gegensätze zerrissen die Bewegungen des Jahrhunderts: Der ,reguläre' Staat bedurfte der Ausführer und nicht der Initiatoren, und er schätzte Exaktheit höher ein als Initiative. Der Grundstein für diese Seite der Epoche war schon mit der petrinischen ,Regularität' des Staates gelegt worden. Aber sie widersprach dem Bedürfnis nach bewußter Initiative, deren dieser Staat bedurfte. Die ,Apologie der Exaktheit' fand ihr Ideal in der preußischen Disziplin und ihre utopische Verkörperung in der staatlichen Phantastik Pauls I. Paul I. hielt sich für den Fortsetzer Peters, aber er übernahm vom ganzen petrinischen Jahrhundert lediglich die ,Regularität'. Eine anderes Bedürfnis des Jahrhunderts entstand auf einer prinzipiell völlig anderen Grundlage und brachte einen gänzlich anderen Menschentyp hervor.
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sten gehörte, auf dem russischen Thron, Paul I., zu den zweiten Katharina II. Aber an diesem Himmel erstrahlen, Sternen gleich, die einfachen Menschen. Als Beispiel für sie soll hier die Fürstin Natascha Dolgorukaja genannt werden. Von ihr wird im Kapitel „Zwei Frauen" die Rede sein.
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Zum Ende des 18. Jahrhunderts trat in Rußland eine völlig neue Generation auf. Die Veränderung der Charaktere vollzog sich mit einer solchen Rasanz, daß wir im Verlauf des Jahrhunderts deutlich verschiedene Generationen, eine Abstufung der menschlichen Typen unterscheiden können. Die Menschen, die im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts lebten, zeichnete, bei allen Unterschieden in ihrer Natur, ein gemeinsamer Zug aus, das zielbewußte Streben, einen besonderen individuellen Weg zu finden, ein spezifisches persönliches Verhalten. Die Menschen zu Beginn des 18. Jahrhunderts waren bemüht, sich irgendeiner Gruppe anzuschließen, zu „Jungen aus Peters Nest" zu werden, zu den Verteidigern des wahren Glaubens zu gehören, sich in eine Klause zurückzuziehen oder nach Europa zu fliehen. Aber stets trieb sie das Verlangen, Teil irgendeines einheitlichen Ganzen zu werden und dessen Gesetze zu ihren eigenen zu machen. Ein Charakteristikum der Menschen Ende des 18. Jahrhunderts war, wenn man sich diese Verallgemeinerung hier erlauben darf, die Suche nach dem eigenen Schicksal, das Verlangen, aus der Reihe herauszutreten und die eigene Persönlichkeit zu verwirklichen. Dieses zielbewußte Streben basierte psychologisch auf der Vielfalt der Verhaltensmethoden. Der Wunsch, etwas Unerhörtes zu vollbringen, ist mitunter stärker als die religiös-ethischen Stimulanzen: Er wird sowohl zu einer heroischen Tat als auch in das Hoffen auf,günstige Beziehungen' treiben, wobei man alle Hindernisse überwindet, um auf dem Piedestal der Macht den ersten Platz einnehmen zu können. Gegensätze zerrissen die Bewegungen des Jahrhunderts: Der ,reguläre' Staat bedurfte der Ausführer und nicht der Initiatoren, und er schätzte Exaktheit höher ein als Initiative. Der Grundstein für diese Seite der Epoche war schon mit der petrinischen ,Regularität' des Staates gelegt worden. Aber sie widersprach dem Bedürfnis nach bewußter Initiative, deren dieser Staat bedurfte. Die ,Apologie der Exaktheit' fand ihr Ideal in der preußischen Disziplin und ihre utopische Verkörperung in der staatlichen Phantastik Pauls I. Paul I. hielt sich für den Fortsetzer Peters, aber er übernahm vom ganzen petrinischen Jahrhundert lediglich die ,Regularität'. Eine anderes Bedürfnis des Jahrhunderts entstand auf einer prinzipiell völlig anderen Grundlage und brachte einen gänzlich anderen Menschentyp hervor.
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Der Drang, sich selbst und seine Persönlichkeit in ihrer ganzen Vielfalt auszudrücken, brachte sowohl Helden als auch Käuze hervor, nicht selten unbändige, aber stets herausragende Charaktere. Nicht ohne Grund sah Puschkin, als er Katharina II. wohlüberlegtes Machtstreben unterstellte, in ihren Handlungen nüchterne Berechnung; die Spannweite und die Phantasien G. Potemkins, sein Bemühen, die engen Grenzen des Möglichen zu überwinden, waren eine Ergänzung des nüchternen Wirklichkeitssinns der Kaiserin. Es ist diese Poesie der Grenzenlosigkeit, die die weitverbreitete „Potemkinsche Volkstümlichkeit" durchdringt. P. A. Wjasemski führt in seinem „Alten Notizbuch" die folgende beredte Episode an: „Der Fürst Potemkin geht im vorigen Jahrhundert, in Begleitung Lewaschews und des Fürsten Dolgorukow, im Taurischen Palais durch das Badezimmer, in dem eine erlesene silberne Wanne steht. Lewaschew: Was für eine wundervolle Wanne! Fürst Potemkin: Wenn du imstande bist, sie zu füllen (das ist Schriftsprache, mündlich wird ein anderes W o r t verwendet), schenke ich sie dir. Lewaschew (sich an Dolgorukow wendend): Fürst, wollen wir es nicht zusammen probieren? ""
Sowohl in seinen Plänen für den Staat als auch im Laster maßlos, war Potemkin für Puschkin der Sprecher seiner Epoche. In den Table-Talks Puschkins findet sich eine ganze Reihe von Anekdoten über Potemkin. Und alle setzen sie den Elan und die Unzucht in Relation zueinander. Wir wollen hier eine dieser Anekdoten anführen: „Als Potemkin mächtig geworden war, erinnerte er sich an einen seiner Gefährten im Dorf und schrieb ihm das folgende Gedichtchen: Lieber Freund, Wenn es dir paßt, Dann komm zu mir Wenn nicht, Laß es sein...
Der liebe Freund beeilte sich, der liebenswürdigen Einladung nachzukommen" (Puschkin, XII, 173). Doch die Zeitgenossen sahen in Potemkin den poetischen Widerspruch zwischen Größe und Nichtigkeit. Dershawin entwarf in der berühmten Ode „Feiice" das satirische Porträt eines Günstlings, der in den „Chimären seiner Gedanken" kreist: Bald ich die persische Gefangenschaft beende, Bald Pfeile ich gegen die Türken sende. Bald träum ich, ich wäre ein Sultan, Erschrecke das All mit meinem Blick; Bald reizt mich eines Rockes Schick, Zum Schneider eil ich um einen Kaftan.
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N a c h dem T o d e Potemkins jedoch fühlte der gleiche Dershawin sich von dem Kontrast zwischen der H ö h e und dem tiefen Sturz des Günstlings ergriffen, der seine Macht überlebt hatte und die tragische Poesie seiner Gestalt sah: Wes Leichnam, modrig düstres Bild, Liegt da vorm Nachtdunkel hingestreckt? Die Lenden mit kärglichen Lumpen umhüllt, Die Augen mit zwei Münzen bedeckt... Wes Bahre die Erde; wes Dach die Himmelsregion, Des Paläste nun öd bis zum First? Bist du's, des Glücks und des Ruhmes Sohn, Tauriens herrlicher Fürst? 34 Die Menschen des zu Ende gehenden 18. Jahrhunderts setzen vor allem durch ihre ausgeprägte Individualität in Erstaunen. Liest man ihre Biographien, meint man R o m a n e zu lesen. Diese R o m a n e sind durchaus unterschiedlich und können sowohl schelmischer als auch heroischer oder sentimentaler Art sein. U n d wenn bei der Lektüre von Biographien der Menschen des Jahres 1812 im Bewußtsein ein Gedicht entsteht, so drückt sich das Ende des 18. Jahrhunderts gerade im R o m a n aus. N e h m e n wir als Beispiel dafür den heute vergessenen Offizier Netschew o l o d o w , der auf den Seiten der Geschichte keinerlei Spuren hinterlassen hat. Für uns ist er gerade deshalb von Interesse, weil er ein Durchschnittsmensch war, obwohl dieses Wort auf ihn am wenigsten zutrifft. Sein Leben bestand aus einer Kette von Ereignissen, die man nicht eben als gewöhnlich bezeichnen kann. Seine nahezu mythisch anmutende Biographie, die in Armeekreisen immer wieder für Gesprächsstoff sorgte, ist dank M. I. Pyljajew erhalten geblieben. Hier paßt sich alles beinahe nahtlos in die Regimentslegenden ein, s o daß es schwierig ist, die Fakten von den Mythen zu trennen, und letztere sind für uns vielleicht sogar interessanter als die ersteren. N e t s c h o w o l o d o w wurde in eine nicht gerade reiche Charkower Aristokratenfamilie hineingeboren, dann folgten die Kindheit, in der er sich durch wilden Ungehorsam hervortat, und der Soldatendienst (Gönner fand er vermutlich nicht). E s folgte die Teilnahme an den Suworowschen Feldzügen, in deren Verlauf er ein Ubermaß an Tollkühnheit an den T a g legte, mehrfach verwundet und ausgezeichnet wurde... „Bei der Verteidigung der Festung Brest stand er an der Schießscharte und suchte sich als ausgezeichneter Schütze von dort seine Ziele unter den Franzosen aus, doch plötzlich schlug eine vom Gegner abgefeuerte Kanonenkugel in der Schießscharte ein, und die brüchige Mauer zerbarst und begrub ihn;
* Potemkin starb unerwartet auf der Reise: Er stieg aus seiner Kutsche, legte sich auf den Boden und bedeckte sich mit dem Uniformmantel des ihn begleitenden Soldaten.
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halb zerquetscht und kaum mehr lebendig zog man ihn unter den Steinen hervor. In Italien nahm Netschewolodow unter Suworow an verschiedenen Schlachten teil, überquerte mit ihm die Alpen, die .Teufelbrücke', und bekam aus dem Munde des berühmten Feldherrn Dank und Lob zu hören. Er beendete den Krieg als Oberleutnant mit dem diamantenen Orden der hl. Anna II. Klasse am Hals, und das war zu jener Zeit und für seinen Dienstgrad eine außergewöhnliche Auszeichnung" ,35 Es schien, als sollte sich dem jungen und tollkühnen, mit Verwundungen und Orden ausgezeichneten Offizier ein glänzender, aber nicht unüblicher Weg mit Ehrungen und Beförderungen öffnen. Doch die abenteuerliche Epoche, deren Zögling Netschewolodow war, ließ ihn völlig andere Wege gehen. Er ließ sich irgendein Vergehen zuschulden kommen; man sprach von einem Duell mit seinem leiblichen Bruder, der an dem Austragungsort getötet wurde, während Netschewolodow, wie so oft schon, unversehrt blieb. Es erfolgte die Degradierung, die Aberkennung der Orden und die Verbannung in einen der ödesten Winkel Rußlands. Von dort floh er mit dem Schiff nach England. Netschewolodow dachte schon daran, sich an den englischen Kolonialfeldzügen zu beteiligen, als das Schicksal ihn mit dem russischen Botschafter in England zusammenführte. Der Protektion dieses Aristokraten verdankte er den Straferlaß durch den Kaiser und das Recht, nach Rußland zurückzukehren. Wieder in Rußland, erhielt er seinen Dienstgrad zurück, seine Orden wurden jedoch einbehalten. Wie es sich für einen dreisten Kavalleristen gehörte - Netschewolodow diente in einem Jägerregiment - , verliebte er sich, darunter tat er es nicht, in eine der begehrtesten Bräute Polens, die Gräfin Tyschkewicz, und gewann ihre Zuneigung. Aber die Zustimmung ihrer Familie blieb aus, und so wurde es eine ,Entführungsheirat', er entführte die Braut heimlich aus dem Schloß. Die Teilnahme an den Napoleonischen Kriegen brachte Netschwolodow neue Abenteuer. Als Angehöriger des Platowschen Korps geriet er unter die Hufe der französischen Kavallerie und zog sich zahlreiche Verletzungen zu, aber er überstand sie, und wir finden ihn an vorderster Front bei jener verwegenen Kavallerieattacke, die mit einem glänzenden Sieg gekrönt wurde. Man sollte meinen, die Verwundungen, der Dienstgrad eines Oberst und die Orden, die nun doch zurückerhaltenen alten und die neuen, hätten den Helden besonnener werden lassen und seinen unruhigen Charakter besänftigt. Aber nichts dergleichen! Bald nach der Beendigung der europäischen Feldzüge wurde Netschewolodow unter Berücksichtigung seiner Kühnheit und seiner militärischen Verdienste zu einem Gardedragoner-Regiment versetzt. Dort führte er sich in wahrer Dragonermanier auf: Er verspielte am Kartentisch staatliche Gelder in Höhe von 17 000 und wurde abermals zum einfachen Soldaten degradiert. U m Netschewolodow die Möglichkeit zur Rückkehr in den alten Rang zu erleichtern, verbannte ihn die Obrigkeit in den Kaukasus. Hier las er, ein wahrer
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Romantiker, Puschkin und Byron und heiratete eine Tscherkessin. Das Ende seiner Iliade erinnert an das von Puschkin im „Eugen Onegin" beschriebene Schicksal Sarezkis: Dem Triebe Der Rauflust (wie dem Spuk der Liebe Zwei Plagen!) setzt die Zeit ihr Ziel. Kurzum, erlahmt vom wüsten Spiel, Bringt heute mein Sarezki drüben In seines Gärtchens Schattenruh Wie einst Horaz sein Dasein zu, Pflanzt philosophisch Kohl und Rüben... Und abermals, nun schon zum dritten Mal, erhielt Netschewolodow seine Orden zurück und starb im Range eines Majors in der Kaukasus-Siedlung Karagatsch. Unbändige Charaktere wie dieser wurden in den Umbruch zweier Jahrhunderte hineingeboren, als sich in der Geschichte eine schroffe Wende vollzog. Europa näherte sich der Schwelle zu großen Veränderungen. Nichts schien mehr ewig. Alle Autoritäten gerieten ins Wanken, und einem starken Willen eröffneten sich grenzenlos scheinende Möglichkeiten. Die Zeit brachte sowohl,Helden' von uneigennütziger Selbstverleugnung als auch waghalsige Abenteurer hervor. Die letzteren wurden zu Menschen einer unwesentlichen Kategorie, die ersteren hingegen schwangen sich zu den Gipfeln der Epochenkultur empor. A. N. Radistschew
Alexander Nikolajewitsch Radistschew ist eine der rätselhaftesten Figuren in der russischen Geschichte. Uber ihn ist vieles geschrieben worden. Doch dessenungeachtet werfen sein Leben und seine Person weitaus mehr befremdende Fragen auf, als diese zufriedenstellend beantworten können. Es fällt auf, daß die Bestrebungen der Dekabristen und ihre Ideen keinen Zusammenhang mit seinem Namen und seinen Traditionen aufweisen. Puschkin, der sich während seines ganzen Lebens auf die eine oder andere Weise auf den Namen Radistschew berief, faßte im Entwurf des „Denkmals" die ganze Skala der Beurteilungen Radistschews in den Worten zusammen: „Auf den Spuren Radistschews pries ich die Freiheit" (III, (2), 1034). Die begeisterten Äußerungen Herzens sind ebenso verständlich wie die gereizten Repliken Dostojewskis. Später wurde der Name Radist-
* Man kann auch bezweifeln, daß die romantische Eheschließung N e t s c h e w o l o d o w s mit der Tscherkessin mit kirchlichem Segen vollzogen wurde. Es war mit einigen Schwierigkeiten verbunden, das Sujet des „Gefangenen im K a u k a s u s " in die Sprache der Alltagsrealität zu übertragen.
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schews häufiger erwähnt, und nachdem in den Jahren der ersten russischen Revolution die Tabuisierung seines Namens aufgehoben worden war, nahm er in den literarischen und historischen russischen Werken einen unabdingbaren Platz ein. Die dreibändige akademische Gesamtausgabe seiner Werke machte, ungeachtet der irritierenden Wissenslücken im dritten Band, der nach Verhaftung G. A. Gukowskis unter der unqualifizierten Feder D. S. Babkins erheblich verstümmelt worden war, das Erbe Radistschews der wissenschaftlichen Forschung zugänglich. Seither gibt es Hunderte von Arbeiten über ihn. Uns interessieren hier jedoch nicht die Aspekte, die in der Regel die Autoren dieser Arbeiten anzogen, weder die Werke Radistschews, noch seine abstrakten philosophischen Auffassungen. Unsere Aufmerksamkeit gilt der Person Radistschews, der Kultur seiner Epoche im Spiegel seines Charakters und seines Verhaltens. In seinem 1836 geschriebenen Aufsatz, der uns bis heute vor eine ganze Anzahl von hinlänglichen Fragen stellt, postulierte Puschkin, daß sich in Radistschew dessen Epoche widerspiegelt, gleichzeitig jedoch charakterisierte er ihn mit schonungsloser Offenheit: „In Radistschew spiegelte sich die ganze französische Philosophie seines Jahrhunderts wider: Der Skeptizismus Voltaires, der Philanthropismus Rousseaus, der politische Zynismus Diderots und Renais; aber alles in unzusammenhängender, verquerer Weise, als sähe man alle Gegenstände durch einen Zerrspiegel. Er ist ein wahrhafter Vertreter der Halbaufklärung" (XII, 36). Puschkins Worte sind ungerecht und polemisch zugespitzt, dennoch ist eine Wahrheit in ihnen enthalten: Puschkin benannte die unterschiedlichen Quellen, deren Einfluß auf Radistschew in überzeugender Weise bestätigt worden ist. Natürlich könnte man die Puschkinsche Liste erheblich erweitern und deutsche Philosophen, Theoretiker des Freimaurertums und den italienischen Juristen Baccaria hinzufügen sowie Dutzende anderer Namen. Radistschew verfügte über die umfangreichsten Kenntnisse auf den Gebieten der Jurisprudenz, der Geographie, der Geologie und der Geschichte. In der sibirischen Verbannung impfte er die Bewohner gegen die Pocken, was damals nicht nur eine medizinische Neuheit, sondern auch ein spezielles Arbeitsfeld war, auf dem der Kampf zwischen Aufklärung und Unwissenheit ausgetragen wurde. Katharina ließ in Zarskoje Selo den Thronfolger Alexander Pawlowitsch impfen, und Radistschew impfte im fernen und halbwilden Sibirien gegen die Pocken. Wollte man Radistschew mit einem einzigen Wort charakterisieren, so träfe am ehesten die Umschreibung „Enzyklopädist" zu. Im 18. Jahrhundert meinte der Terminus „Enzyklopädist" viel mehr als nur den allseitig
So wurden zum Beispiel in seiner Herausgabe der juristischen Aufsätze Duschetschkinas auf einigen Dutzend Seiten Hunderte von textologischen Fehlern entdeckt; da von einigen Seiten der Ausgabe fototechnische Reproduktionen des Manuskripts existieren, kann der interessierte Leser, sie mit den hier angeführten gedruckten Seiten vergleichend, den Ausfall ganzer Zeilen und andere Früchte der Unverantwortlichkeit und der Ignoranz entdecken.
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gebildeten Menschen. Ein Enzyklopädist war vor allem ein Mensch, der mit seinem Wissen alle Bereiche der Wissenschaft in ihrer Einheit begriff. Damit befand er sich im Gegensatz zum mittelalterlichen Gelehrten, der die praktische Sphäre prinzipiell von sich wies: Handwerke, Techniken, Produktion. Gleichzeitig vereinigte der Enzyklopädist die Wissenschaft nicht nur mit der Praxis, sondern auch mit der Soziologe und der Politik. Abstraktes Wissen gab es für ihn nicht. Die Wissenschaft und die Kultur waren immer Formen der Tätigkeit. So erweiterte Radistschew zum Beispiel nicht einfach den Umfang seines Wissens, sondern mischte sich im Geist des Zeitalters der Aufklärung auch verändernd in das öffentliche Leben, in dessen unterschiedlichste Bereiche ein, als Beamter in den Handel und die Ökonomie, als Verbannter in die Geographie und die Geologie. Sogar während der für ihn tragischen Reise nach Sibirien führt er wissenschaftliche Beobachtungen der Orte durch, an die ihn das Schicksal verschlug; er hatte eben erst den grausamen Prozeß überlebt, der in den Händen des berüchtigten S. I. Scheschkowski lag (des „sanftmütigen Haus- und Hoffolterknechts Katharinas", wie Puschkin ihn nannte), und litt noch an den Folgen der barbarischen Reise in Ketten und in dem Sommerrock, in dem man ihn verhaftet und von Petersburg nach Moskau gebracht hatte. Aber der wohl wichtigste Zug eines Enzyklopädisten war das ständige Bestreben, die Welt nicht nur zu erfassen, sondern auch zu verändern. Der Enzyklopädist war davon überzeugt, daß das Schicksal ihn zum Augenzeugen und zum Teilhaber an der Neuerschaffung der Welt ausersehen hatte. Deshalb konnte er auch in den kritischsten Augenblicken seines Lebens nicht der Verzweiflung anheimfallen. So verfaßte Condorcet in den Pariser Dachkammern und Kellern, in die er vor der Guillotine und vor Robespierre geflohen war, sein utopisches Projekt einer zukünftigen glücklichen Umgestaltung der Gesellschaft. Tjutschews Worte: „Glückselig, wer diese Welt/ in ihren verhängnisvollen Minuten sah", geben diese Weltauffassung komprimiert wieder. Wir sehen zuweilen zwei Termini einander gegenübergestellt: „Aufklärer" und „Revolutionär", wobei wir meinen, daß der erste die Welt durch Aufklärung korrigieren will und der zweite durch Gewalt. Eine derartige Antithese war dem 18. Jahrhundert fremd; der Aufklärer wollte die Welt auf der Basis der Vernunft verändern, Fragen der Taktik waren für ihn nebensächlich. Doch die russische Aufklärung stimmte bei weitem nicht in allem mit der französischen überein. Vor allem befand sich der Aufklärer, der die Französische Revolution, den Terror und den Niedergang der Republik beobachtete, in einer prinzipiell anderen Situation als seine französischen Vorgänger: Dort gab es grenzenlose Hoffnungen, hier die bitteren Ergebnisse. Aber das Problem besteht nicht nur darin, daß die Fragen nach der praktischen Verwirklichung der aufklärerischen Ideen sich um so schärfer stellten, je weiter man nach Osten blickte. Schon Schiller stand mit der
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„Verschwörung des Fiesco zu Genua" und mit dem „Don Carlos" vor einer Frage, die die französischen Aufklärer nicht bewegte: Wie läßt sich die Theorie mit der Praxis vereinigen? Für Rußland wurde diese Frage zur entscheidenden. Puschkin entdeckte bei Radistschew Widersprüche und sah darin eine Unzulänglichkeit. Für Radistschew war eine solche Position prinzipieller Natur. Er stimmte seine praktischen Handlungen und die Theorie nicht aufeinander ab, sondern bediente sich, wie man im Eifer des Gefechts nach der Waffe greift, die einem am verwendbarsten erscheint, jener Theorien, die seiner heißersehnten Praxis dienen konnten. In dieser Weise ist zum Beispiel sein bekanntes Traktat „Uber den Menschen, seine Sterblichkeit und seine Unsterblichkeit" aufgebaut. Der einigende Gedanke darin ist die Notwendigkeit einer heroischen Persönlichkeit, die bereit ist, ihr Leben für die Freiheit des Menschen hinzugeben. Des weiteren werden darin zwei Varianten erörtert: Die menschliche Existenz ist materiell, aber mit dem Tod endet für den Menschen alles; und: Die unsterbliche Seele und der Tod sind nur ein Übergang zur höchsten Lebensform. Radistschew gibt weder der einen noch der anderen Konzeption den Vorzug, und das machte man ihm zum Vorwurf und bezichtigte ihn des Eklektizismus, der Inkonsequenz, oder man nahm es als einen Trick, die Zensur zu umgehen, das Hilfsmittel für denjenigen, der das Material nicht bewältigen konnte. Radistschew gab jedoch selbst eine klare Antwort: Der Mensch kann sich vorstellen, daß mit dem Leben alles zu Ende geht, oder er setzt die Unsterblichkeit der Seele voraus. In jedem Fall aber muß er die Angst vor dem Tod überwinden und bereit sein, sich selbst für seine Uberzeugungen zu opfern. Somit trug die grundsätzliche Wende in den Überzeugungen Radistschews einen pädagogischen Charakter. Er meinte, um den Heroismus herauszubilden, könnten alle möglichen philosophischen Konzeptionen verwendet werden. In dieser Hinsicht gab es für ihn in der Idee des Heroismus weder Schwankungen noch Doppeldeutigkeiten. Überdies erarbeitete er eine ganze Konzeption des Heroismus, die er auch in der Praxis zu verwirklichen suchte. Die Welt sei in Sklaverei versunken, aber die Sklaverei sei nicht der natürliche Zustand des Menschen. Selbst mit der Gewalt lasse sich das Rätsel der Entstehung des Despotismus nicht erklären, der Mensch sei für die Freiheit geschaffen und gehe allenthalben in Ketten, wie Rousseau mit Befremden registriert hatte. Die Aufklärer neigten dazu, das mit der Dummheit des Volkes zu erklären, mit seiner Dumpfheit und seinem Aberglauben, und so geriet die Behauptung, daß die Sklaverei ein Resultat der Gewalt sei, in Widerspruch zu der, daß sich die Ausbeuter immer in der Minderheit befänden und folglich, vom Standpunkt der Aufklärung her gesehen, die Macht nicht auf ihrer Seite sei. Später wird Herzen in seiner Erzählung „Doktor Krupow" einen törichten Knaben zum Träger der Wahrheit machen. Der Herzensche Held sieht, wie ein dürrer Verwalter physisch stärkere Bauern verprügelt. „Dummköpfe", sagt der törichte
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Knabe. „Dummheit" als Quelle richtiger Lebensbetrachtung findet sich auch bei dem jungen Krylow. In einer seiner frühen satirischen Erzählungen „Lobrede zum Andenken meines Großvaters, gehalten in Anwesenheit seiner Kameraden von seinem Freund über einen Becher Punsch hinweg" begann der junge Adlige Swenigolow „im Alter von zwei Jahren seiner Amme in die Augen zu kratzen und ihr in die Ohren zu beißen ... Im Alter von fünf Jahren bemerkte er schon, daß er von einer Vielzahl von Personen umgeben ist, die er, sooft es ihm danach gelüstet, beißen und kratzen kann". Aber als es ihm in den Sinn kam, diese Gewohnheit bei dem vom Vater gekauften Hund fortzusetzen, rebellierte dieser, der Stimme seiner Natur gehorchend, und der Quäler wurde gebissen. „Swenigolow, gewohnt zu befehlen, behandelte seinen neuen Gefährten recht grob, verbiß sich schon in den ersten Stunden in dessen Ohren, doch Sadorka (so wurde das Hündchen gerufen) zeigte ihm, wie schädlich es zuweilen ist, üblen Scherz zu treiben und dabei allzu sehr auf die eigene Kraft zu vertrauen: Es biß ihn in die Hand bis aufs Blut.' Auf die verblüffte Frage Swenigolows antwortete der Gutsherr und Vater: „,Mein Freund!' sprach der vorbildliche Erzeuger, ,Gibt es denn um dich her so wenige Knechte, die du piesacken kannst? Wozu mußt du dich da an Sadorka heranmachen? Ein Hund ist doch kein Diener: Mit ihm mußt du behutsamer umgehen, wenn du nicht gebissen werden willst. Er ist dumm: Man kann ihn nicht dressieren und ihn zwingen, daß er alles hinnimmt und nicht das Maul aufreißt wie ein vernünftiges Lebewesen'". Die natürliche „Torheit" der Dummköpfe und der Tiere ist der unnatürlichen „Torheit" der Sklaven völlig entgegengesetzt. Die Hauptaufgabe des westlichen Aufklärers war es, die Wahrheit zu formulieren, die des russischen, Wege zu ihrer Verwirklichung zu finden. Das verlieh der russischen Aufklärung eine spezifische Färbung: die Vereinigung von Praxis und Utopie. Es war notwendig, Wege zur Verwirklichung der Ideale aufzuzeigen, aber jeder dieser Wege war offenkundig utopisch. Radistschew entwickelte eine eigentümliche Theorie der russischen Revolution, die er im Laufe mehrerer Jahre gründlich überdachte. Sklaverei sei unnatürlich. Sklave zu sein widerspreche der Natur des Menschen, als würde er zum Beispiel mit den Füßen nach oben stehen. Aber die Menschen seien leichtgläubig und unflexibel: Mit den Füßen nach oben zu leben, wurde ihnen zur immerwährenden Gewohnheit. Für den Aufklärer waren Gewohnheiten, Bräuche und Traditionen gerade jene Kräfte, die der Vernunft und der Freiheit entgegenstanden. Um gegen sie anzukämpfen, bedurfte es eines „Beobachters ohne Brille" - So nannte A. Woronzow Radistschew - , das heißt eines Menschen, der mit dem klaren Blick des Philosophen auf die Welt blickt. Die Freiheit beginne mit dem Wort des Philosophen. Haben sie es vernommen, begreifen die Menschen die Unnatürlichkeit ihrer Lage. Wie es für den qualvoll mit den Füßen nach oben lebenden Menschen nur des Wortes bedürfe: „Tor, man muß mit
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dem Kopf nach oben leben!", so bringe das Wort des Philosophen die Freiheit hervor: Zittere, ein Rächer wird erstehen. Und er wird der Freiheit Künder sein, Von des Meeres Ufern bis zum Felsgestein Werden die Worte der Freiheit wehen. Ein Heer wird sich rüsten, voll Zornesmut, Hoffnung wird alle bewaffnen im Lande, Und jeder drängt zu des Quälers Blut, Sich darin zu reinigen von seiner Schande. A. Radistschew „Freiheit" Der Ubergang von der Sklaverei zur Freiheit wurde als eine augenblickliche, die Allgemeinheit erfassende Handlung begriffen und erforderte deshalb auch kein großes Blutvergießen. In den früheren Varianten seiner Theorie räumte Radistschew das Vergießen nur weniger Tropfen Blutes ein, wobei er sich auf die Uberlieferungen der Englischen Revolution stützte (in den Texten Mitte der 80er Jahre, als nur England schon die Erfahrungen der revolutionären Praxis vorexerziert hatte). Er räumte ein, daß man über den Tyrannen zu Gericht sitzen und ihn einer Verurteilung durch die Allgemeinheit zuführen müsse: Juble, vereintes Völkergeschlecht! Der Rache naturgegebenes Recht Hat den Zaren zur Richtstatt gebracht. „Freiheit" Aber die historische Erfahrung führte zu Revisionen. Der Aufklärer sah sich mit seinem Unbehagen nicht nur den Tatsachen der Sklaverei und des Despotismus gegenüber, auch das Vorhandensein der langmütigen Geduld des Volkes blieb ihm rätselhaft. Von den Philosophen der Aufklärung waren schon alle Worte gesagt, aber zur Freiheit hatten sie nicht geführt. Die Völker blieben den Worten der Aufklärer gegenüber gleichgültig oder verwirklichten sie in blutigen und in, wie Radistschew meinte, verzerrten Formen. Das Volk zu erwecken erwies sich als nicht ganz so einfach. Die Jakobinerdiktatur rief bei Radistschew keinerlei Anteilnahme hervor. Er sah in ihr den gleichen Despotismus in anderem Gewand. Die Tragik im Wesen der Aufklärung hat später Herzen ausgedrückt, als er erklärte, das Geheimnis der Weltgeschichte bestehe im Rätsel der menschlichen Dummheit. Und es war ebendieses Rätsel, das Radistschew zu der quälenden Suche nach einem Ausweg über die Grenzen der menschlichen Dummheit hinaus veranlaßte. Puschkin schrieb: „...halten wir fest: Der Verschwörer hofft auf die vereinten Kräfte seiner Gefährten; das Mitglied einer geheimen Gesellschaft bereitet sich im Falle eines Mißerfolges darauf vor, durch Denunziation
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Begnadigung zu erlangen, oder es hofft angesichts der großen Zahl seiner Mitverschwörer auf Straferlaß. Aber Radistschew war allein. Er hatte weder Gefährten noch Mitverschwörer" (XII, 32). Man hat mehrfach versucht, diesen Gedanken Puschkins zu bestreiten. Wir kennen eine Reihe von Beispielen, die Radistschew als den Führer einer vielköpfigen und, aus unverständlichen Gründen, nicht entlarvten politischen Gruppierung darzustellen versuchten oder zumindest als den Inspirator einer legalen literarisch-öffentlichen Bewegung. So gab beispielsweise W. N. Orlow 1935 innerhalb der großen Reihe „Bibliothek des Poeten" eine Gedichtsammlung von Poeten der „Freien Gesellschaft der Liebhaber von Literatur, Wissenschaft und Kunst" heraus, der er den Titel „Radistschewsche Poeten" voranstellte. Dieser Titel wurde in dem von W. A. Desnizki verfaßten programmatischen Vorwort zu dem Buch besonders hervorgehoben. Doch das Gewollte dieser Aneinanderreihung von ihrem Talent und ihrer gesellschaftlichen Position nach völlig unterschiedlichen Dichtern war offensichtlich. Der Begriff „Radistschewsche Poeten" hatte sehr wenig mit dem eigentlichen Radistschew zu tun. Persönliche Bekanntschaft und aufrichtige Verehrung des Verfassers der „Reise von Petersburg nach Moskau" reichen bei weitem noch nicht aus, um in diesen minderrangigen Dichtern echte Fortsetzer Radistschews zu sehen. G. A. Gukowski taufte diese Dichter der „Freien Gesellschaft" mit der ihm eigenen Prägnanz „Kinder des Leutnants Schmidt"'. Aber hinter der Publikation von W. Orlow stand eine umfangreiche archivarische Arbeit, und im großen und ganzen war sein Buch, wenn man von dem allzu gewollten Titel absieht, von Nutzen. Das läßt sich von dem Versuch D. Babkins allerdings nicht sagen, der sich bemühte, von völlig phantastischen Voraussetzungen ausgehend, die Vorstellung zu wecken, Radistschew wäre gegen Ende der 1790er Jahre 36 in Petersburg nicht nur nahezu der Anführer eines revolutionären Zirkels, sondern auch das geistige Haupt einer festgefügten demokratischen Bewegung innerhalb der Literatur gewesen. In dem Buch D. Babkins findet sich eine derartige Fülle von faktischen Fehlern und willkürlichen Behauptungen, daß sich eine seriöse Kenntnisnahme dieser Forschungsarbeit von selbst ausschließt. Viele, die sich für das Schaffen Radistschews interessieren, denken an die Sensation, die das Buch „Der geheimnisvolle Radistschew" 37 von Georgi Schtorm hervorrief. Es erregte immense Aufmerksamkeit. Nach der ersten Auflage von 30 000 Exemplaren erschien bald eine zweite mit 100 000. Den Erfolg des Buches sicherte ein begeisterter Artikel Irakli Andronikows: „Eine Gabe für die künftigen Jahrhunderte". 38 Der Rezensent folgte darin uneingeschränkt der Konzeption Schtorms, daß die Auffassungen Radistschews keinerlei Wandel unterlagen. Doch im Mittelpunkt des Artikels stand etwas anderes. Nachdem er umfangreiches Material zusammengetraSiehe das Buch „Die zwölf Stühle" von Ilf und Petrow.
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gen hat - und hier sind die Entdeckerfreude und der Fleiß G. Schtorms zu würdigen erhebt der Autor des Buches alle nahen und entfernteren Geistesverwandten und Bekannten Radistschews zu dessen Gesinnungsgenossen. Es entsteht der Eindruck, als sei Radistschew von einer weitverzweigten politischen Gruppe umgeben gewesen, die im Grunde aus Geistesverwandten bestanden habe. Der Konzeption des Buches, das sich im wesentlichen auf Vermutungen stützt, als wären das bereits bewiesene Fakten, blieb eine breitere wissenschaftliche Anerkennung versagt, und nach den ersten wohlwollenden Rezensionen von A.W. Sapadow und I. L. Andronikow schloß sich die Mehrheit der Wissenschaftler der kritischen Meinung G. P. Makogonenkos und des Autors dieser Zeilen an.39 Radistschew hat weder eine Verschwörung noch eine Partei begründet, denn für einen Aufklärer waren diese prinzipiell falsche Wege. Die Hoffnung war auf die Wahrheit ausgerichtet. In der „Reise von Petersburg nach Moskau" gibt es die folgende Episode: Zum Zaren kommt die Wahrheit. Sie sagt ihm, sein Blick sei durch einen Augenfehler verzerrt, und vollführt an ihm, wie ein Augenchirurg, eine Operation. Nachdem der Augenfehler beseitigt ist, erlangt der Zar einen klaren Blick. Er erkennt die Wahrheit in ihrer wahren Gestalt. Wir haben bereits erwähnt, daß A. Woronzow Radistschew einen „Beobachter ohne Brille" nannte, aber Radistschew wollte auch Augenchirurg sein. Sein Instrument war die Wahrheit. Eine derartige Haltung verneinte im Prinzip sowohl die Frage nach einer Taktik als auch die Notwendigkeit der Konspiration und der Verschwörung. Das Problem des menschlichen Rechts, seinem Leben selbst ein Ende zu setzen, war einer der Schwerpunkte der europäischen Aufklärung. Damit wurden zwei wesentliche Knoten auf dem Weg zur Freiheit durchschlagen. Der erste Schlag war die Rebellion gegen den Herrn. Und nachdem der Mensch die Freiheit, die ewige Frage nach dem „Sein oder Nichtsein" selbst zu entscheiden, erlangt hatte, maß er sich selbst die äußere Funktion der Göttlichkeit zu. Von den Hamletschen Worten bis zu den Überlegungen Werthers und von den Romanen Dostojewskis bis zu den Zwetajewaschen Worten „Ich verzichte darauf, zu sein" war dem Selbstmord die Idee der höchsten Rebellion immanent: Auf deine Welt des Irrsinns Gibts eine Antwort nur: Verzicht. M. Zwetajewa „O Tränen in den Augen!" Ein anderer Aspekt dieses Problems hatte eine politische Färbung. Noch Montesquieu verband den „antiken Selbstmord" mit der Freiheitsliebe. Dieser Gedanke wurde von den Philosophen des 18. Jahrhunderts mehrfach geäußert, in Rußland von J. Knjashnin und vielen anderen Schriftstellern. Knjashnin läßt seine Tragödie „Wadim von Nowgorod" mit einer Szene enden, die bei den Lesern ein breites Echo auslöste. Nachdem Wadims Tochter Ramida sich ersticht, um sich von der Unterdrückung zu
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befreien, ruft Wadim aus: „O meine geliebte Tochter! Ein wahrhaft heroisches Blut!" Und, sich dem Tyrannen zuwendend: Was bist du, mit deinem siegreichen Heer, dem nichts zu Füßen seines Throns entgeht, gegen den, der zu sterben sich untersteht? (ersticht sich) Und Fjodor Iwanow beendet seine Tragödie „Marfa die Stadthauptmännin oder Die Eroberung Nowgorods" mit den an ihren Sohn gerichteten Worten der Heldin: Bei deiner Mutter lerne es, zu fühlen. Soll man mit dem (dem Zaren - J. L.) Erbarmen haben? Um die Freiheit sollst du trauern. Und Nowgorod, das Volk, sollst du bedauern. Verwünsch den Zaren, in mir sollst du dein Vorbild sehn: Ohne Bosheit sollst du leben, ohne Bosheit untergehn. (ersticht sich)40 Diese Ideen wurden von zahlreichen Philosophen und Publizisten auf die verschiedensten Weisen abgewandelt. Aber in den Aufsätzen Radistschews nahmen sie einen persönlichen Charakter an. Bei seinem Nachdenken über die Probleme der Sklaverei und der Freiheit stieß Radistschew auf eine Frage, die bereits die französischen Philosophen beschäftigt hatte. Diese sahen ihre Misson vor allem darin, die Worte der Wahrheit zu verkünden, Radistschew kam es darauf an, daß diese Worte auch gehört wurden. Und so reifte in ihm der Gedanke, daß für die Wahrheit auch Blut fließen müsse, jedoch nicht das Blut, das die Bretter der Guillotine tränkte, sondern das Blut des Philosophen, der die Wahrheit propagiert. Die Menschen, fand Radistschew, werden nur den Worten Glauben schenken, für die man mit dem Leben bezahlt hat. Ein Wort, und der einstige Geist Ward wiedergeboren im Herzen der Römer, Rom frei, und Gallium besiegt; Sieh, was das Wort vermag; Doch braucht es das Wort eines standhaften Mannes...4' Der „standhafte Mann" ist der heroische Philosoph, der die Wahrheit mit dem eigenen Blut bezahlt. Von diesem Standpunkt aus ist die Verfolgung des Philosophen durch die Despoten eine signifikante Uberprüfung der Wahrheit seiner Philosophie. Puschkin erstaunte die ,Verwegenheit' Radistschews: „Wäre es nicht besser, den Regierenden und den klugen Gutsbesitzern Methoden zur allmählichen Verbesserung der Situation der Bauern zu zeigen" (XII, 36). Diese Worte Puschkins wurden aus einer Position heraus geschrieben, die den Auffassungen Radistschews konträr entgegengesetzt war. Puschkin
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dachte an reale, zwar geringfügige, aber nutzbringende Handlungen, Radistschew hingegen an eine absolute Umgestaltung, auch wenn die Möglichkeit ihrer Durchführung zweifelhaft war. In diesem Sinne waren die Verhaftung und die Verbannung und sogar der darauffolgende Selbstmord Radistschews gewissermaßen einkalkuliert. In der Festung antwortete Radistschew auf die Frage Scheschkowskis, welche Ziele er verfolge, er „wolle als schonungsloser Schriftsteller gelten". Das war eine bewußt irreführende Antwort. Denn die Veröffentlichung seines Buches war kein rein literarischer, sondern ein politischer Akt gewesen, der auf einen Widerhall im Volk abzielte. Radistschews Tragödie bestand nicht darin, daß man ihn zum Tode verurteilte, dann aber nach Sibirien schickte, sondern darin, daß die von ihm erwartete Eruption nicht stattfand. Das Volk schwieg, die Worte verhallten ungehört. „Unser Volk liest keine Bücher", stellte Radistschew später mit Bitterkeit fest. Radistschew sah das Erwachen des Volkes als das Resultat einer Art psychologischen Schocks an. Der heroische Untergang des edelmütigen Philosophen, der bewußt dem Tod entgegengeht, wird das Volk erschüttern und sein politisches Bewußtsein wecken. Schon bald nach seiner sibirischen Verbannung entwarf Radistschew das Bild der Geburt einer Revolution als Ergebnis der „Worte eines standhaften Mannes": Einst trat das alte Wort des Lebens In die Schöpfung ein, Und es war des Camillus Wort. Ihr ruhmreichen Männer, Zierde Ihr des römischen Vaterlands, Eurer Liebe zu ihm Habt Ihr alles geopfert, Selbst die Natur mißachtet.42 Einen derartigen Einfluß übt jedoch, wie Radistschew schreibt, nur das „Wort des standhaften Mannes" aus, das heißt jenes Mannes, der freiwillig den Tod auf sich nimmt, und nicht aus egoistischen Erwägungen, sondern geleitet von den hohen Gefühlen des Citoyens. Besteht aber keine Hoffnung, eine freiheitsliebende Eruption der Zeitgenossen hervorzurufen, kann der propagandistische' Selbstmord ein anderes Ziel haben, den Appell an die Geschichte und an die Nachfahren, an den, der die Erinnerung an seine Vorgänger wachhält. Der heroische Selbstmord beherrschte die Gedanken Radistschews bereits am Beginn seines schöpferischen Weges. Die Bereitschaft zum Tode *
F ü r den A u f k l ä r e r ist , V o l k ' ein u m f a s s e n d e r e r B e g r i f f als diese o d e r jene s o z i a l e
G r u p p i e r u n g . R a d i s t s c h e w k o n n t e sich natürlich die R e a k t i o n eines B a u e r n auf sein B u c h nicht vorstellen. D a s , V o l k ' war f ü r ihn die M a s s e der M e n s c h e n , a u s g e n o m m e n die S k l a ven einerseits u n d die Sklavenhalter andererseits.
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hebt den Helden über den Tyrannen hinaus und trägt den Menschen aus dem alltäglichen Leben in die Welt der historischen Taten. „Die Regeln des gemeinschaftlichen Lebens dienen zum Vollzug der Bräuche und Sitten des Volkes, zum Vollzug der Gesetze oder zum Vollzug der Tugend. Wenn in der Gesellschaft die Sitten und Bräuche dem Gesetz nicht entgegenstehen, wenn das Gesetz nicht daraufhin angelegt ist, der Tugend Hindernisse in den Weg zu legen, dann ist das Einhalten der Regeln für das gemeinschaftliche Leben leicht. Aber wo gibt es eine solche Gesellschaft? Alle uns bekannten sind in ihren Sitten und Bräuchen, Gesetzen und Tugenden erfüllt von Widersprüchen. Und somit erweist es sich als schwierig, die Aufgaben eines Menschen und Bürgers zu erfüllen, denn nicht selten befinden diese sich in einem völligen Widerspruch. Und da die Tugend der Gipfelpunkt menschlichen Tuns ist, soll ihrem Verfolg nichts im Wege stehen. Das Nichtbefolgen von Bräuchen und Sitten, das Nichtbefolgen des bürgerlichen und des heiligen Gesetzes und von Dingen, die der Gesellschaft heilig sind, wird dich aus der Tugend ausstoßen. Wage es nie, ihre Verletzung mit der Zagheit der Vernunft zu bemänteln. Äußerlich mag es dir ohne sie wohl ergehen, aber nie wirst du selig werden. Befolgen wir, was uns Bräuche und Sitten auferlegen, erlangen wir das Wohlwollen derer, die mit uns leben. Führen wir aus, was das Gesetz uns vorschreibt, erlangen wir das Ansehen eines ehrlichen Menschen. Befleißigen wir uns jedoch der Tugend, werden wir das allgemeine Vertrauen, die Verehrung und die Bewunderung sogar derjenigen gewinnen, die sie in ihrer Seele nicht empfinden wollen. Sogar der betrügerische Athener Senat erzitterte in seinem Innern, als er Sokrates den Giftbecher reichte, vor dessen Tugend". U n d weiter: „Selig, die ohne Ungemach zu erleiden die Zuflucht erlangen, die sie begehren. Seid glücklich auf euren Wegen. Das ist mein aufrichtiger Wunsch. Meine natürlichen Kräfte, vom Lauf der Dinge und vom Leben erschöpft, vergehen und verlöschen; für ewig werde ich euch zurücklassen; aber das ist mein Vermächtnis an euch. Wenn das unsichere Glück alle seine Pfeile über dich ausgeschüttet hat, wenn deine Tugend auf Erden keine Zufluchtsstätte mehr findet und dich bis an die äußerste Grenze geführt hat, und nichts mehr sein wird, was dich vor der Drangsalierung schützt; dann erinnere dich daran, daß du ein Mensch bist, erinnere dich deiner Erhabenheit, erfreue dich an der Krone der Seligkeit, die man dir zu nehmen sich anschickt. - Stirb. - Als Vermächtnis hinterlasse ich euch das Wort des sterbenden Cato." 4 3 Der,heroische Selbstmord' und seine politischen Folgen beschäftigten die Gedanken Radistschews viele Jahre hindurch, und in dieser Hinsicht erscheint sein eigener Selbstmord in einem nichttraditionellen Licht. Puschkin erklärte, nach den Worten Karamsins*, die Tat Radistschews mit der Soweit man das beurteilen kann, war Karamsin über den Selbstmord Radistschews konsterniert und befürchtete, daß diese Tat Einfluß auf die Zeitgenossen ausüben könnte.
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Dritter Teil
Bestürzung über die scherzhafte Drohung Sawadowskis. Das ist natürlich eine tendenziöse Version, wie auch die von Puschkin zitierten Worte Karamsins: „Ein ehrlicher Mensch verdient keine Tötung" (XII, 30). Wir haben bereits erwähnt, daß Radistschew keine literarischen, sondern historische Reaktionen auf die Veröffentlichung der „Reise von Petersburg nach Moskau" erwartete. Eine ähnliche Vorstellung verband er auch mit seinem Ende. Man könnte sogar vermuten, daß selbst die impulsiv scheinenden Handlungen Radistschews wohlüberlegten Charakter hatten und daß sie gewissermaßen die Taten der Römer nachvollzogen. So sieht beispielsweise der Selbstmord des Autors der „Reise" auf den ersten Blick wie eine plötzliche, unüberlegte Affekthandlung aus. Radistschews Gedanken hatten schon lange Jahre um den Selbstmord gekreist, aber im Augenblick der Tat erwies sich das alles als verhängnisvoll und unvorbereitet. Er konnte vermutlich kein Gift auftreiben, und so trank er „starken Wodka", das heißt ein Gemisch aus Salpeter und Schwefelsäure, das sein Sohn zur Reinigung seiner Epauletten verwendete. Die entsetzlichen Qualen zwangen Radistschew, sich den Hals durchzuschneiden. Hier bieten sich uns alle Anzeichen eines Affektes dar, eines sofort umgesetzten Entschlusses. Aber werfen wir einen Blick auf den Tod des Mithridates, wie Radistschew ihn in seinem Gedicht „Historisches Lied" beschreibt. Diese Zeilen wurden einige Zeit vor dem Selbstmord geschrieben. Als des starken Giftes scharfe Schneide Ihm den letzten Dienst versagte, Stieß hoffnungslos er mit dem Schwert Sein ruhmerfülltes Leben von sich... Und so stellt sich dem Historiker, der sich mit dem Untergang Radistschews beschäftigt, ein und derselbe Vorgang in zwei Strömungen dar: Das eine holt aus dem Dunkel den ernsten Römer und rationalen Philosophen ans Licht, der sein Leben nicht dem Einfluß von Impulsen folgend, sondern nach den Normen des Heroismus der Bücher einrichtete. Das zweite Strahlenbündel zeigt uns einen leidenschaftlichen, expansiven Menschen, der kraft seiner Vernunft die Regungen seiner Seele den ihnen fremden Forderungen der Theorie unterordnete. Eines der Geheimnisse der Person und der Biographie Radistschews besteht darin, daß er nach Temperament und Charakter jener Person, deren Rolle zu spielen er sich sein ganzes bewußtes Leben hindurch auferlegt hatte, völlig widersprach. Wir wollen ein Beispiel anführen. Das erklärt vermutlich, warum der Autor, der zuvor mitfühlend eine ganze Reihe von Selbstmorden aus unglücklicher Liebe und aus Verzweiflung über Vorurteile beschrieben hatte, gleichzeitig in einer Reihe von Aufsätzen und Erzählungen das Recht des Menschen, sein Leben freiwillig selbst zu beenden, verurteilte. * Der Text läßt sich nicht exakt datieren, aber die zeitliche Differenz beträgt höchstens zwei Jahre.
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Der Prozeß und die Verbannung trafen Radistschew als Witwer. In das ferne Sibirien verschickt, mußte er für längere Zeit dort bleiben. Sein endgültiger Verbannungsort war das menschenleere Ilimsk im Osten Sibiriens, aber am Anfang konnte Radistschew noch darauf hoffen, daß sein Los etwas gemildert und man ihm erlauben würde, an einem belebteren Ort irgendwo in Westsibirien zu leben. Bald schon kam seine Schwägerin Jekaterina Alexandrowna Rubanowskaja zu ihm gereist, die jüngere Schwester seiner verstorbenen Frau. Jekaterina Alexandrowna war eine wunderbare Frau. Wie es Mädchen zuweilen geschieht, war sie insgeheim in den Ehemann ihrer Schwester verliebt, aber sie verbarg ihre Gefühle. In den schrecklichen Stunden der Einkerkerung Radistschews bewies sie nicht nur Mut und Treue, sondern auch Klugheit. Nachdem sie alle Wertgegenstände im Haus zusammengerafft hatte, begab sie sich in einem Boot (die Zugbrücken funktionierten nicht) über die stürmische N e w a zur Peter-Paul-Festung. Dort übergab sie alles dem Folterknecht Scheschkowski, der nicht nur ein „Prügler", ein Ausdruck G. Potemkins, sondern auch ein korrupter Mensch war. Damit war Radistschew den Folterungen enthoben. Mit ihrer Charakterstärke, die sie danach bewies, nahm sie die mutigen Taten der Dekabristenfrauen vorweg. Radistschew forderte die Vorurteile geradezu heraus. Sowohl die Regeln der orthodoxen Kirche als auch der Brauch lehnten die Eheschließung mit einer so nahen Verwandten kategorisch ab, aber die freizügigen Sitten der Epoche Katharinas II. hätten natürlich ein schicklich verborgenes Verhältnis nicht verurteilt. Doch Radistschew entschied sich nicht für diesen Weg. Als Aufklärer und als Anhänger der Vernunft, als Gegner jeglicher Vorurteile ging er mit Jekaterina eine rechtmäßige Ehe ein.' D i e beschriebene Episode ließe sich so charakterisieren: Vernunft und Philosophie obsiegen über Vorurteil und Unwissenheit. Sujets dieser Art waren in der Literatur des Zeitalters der Aufklärung nicht selten. Der Radistschews Selbstmord mißbilligende Karamsin verherrlichte zu seiner Zeit in der Erzählung „ D i e Insel B o r n h o l m " sogar eine Liebe zwischen Schwester und Bruder und erklärte das kirchliche Verbot z u m Vorurteil. Betrachten wir jedoch diese Eheschließung, sehen wir uns nicht einem nüchternen Philosophen gegenüber, der eine Art soziologisches Experiment durchführt, sondern einem leidenschaftlichen Menschen, der unter dem Einfluß der mächtigen Stimme des Gefühls handelt und diese Handlung erst post factum mit den Vorgaben der Philosophie erklärt. Die trockenen, eher an paßamtliche Protokolle gemahnenden Charakteristiken Radistschews in den Memoiren seiner Söhne zeichnen in dieser
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E s ist u n b e k a n n t , mit H i l f e welcher Mittel; vielleicht hatte im fernen Sibirien G e l d ei-
nen h ö h e r e n Stellenwert als die V e r b o t e in der H a u p t s t a d t ; und vermutlich w u r d e die E h e schließung auch mit kirchlichem Ritual v o l l z o g e n . Z u m i n d e s t galt der in Sibirien g e b o r e n e S o h n P a w e l als gesetzlich, d e n n d a m i t v e r b u n d e n e spätere Schwierigkeiten sind nicht verzeichnet.
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Hinsicht recht bemerkenswerte Züge. So läßt Nikolai Alexejewitsch die Erzählung über das Leben des Vaters mit den Worten enden: „Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit waren seine herausragendsten Züge. Der Umgang mit ihm war einfach und angenehm, sein Geplauder anregend, das Gesicht schön und ausdrucksvoll, der Wuchs mittelgroß." 4 4 Sprechender ist das Porträt, das der jüngere Sohn, Pawel, entwarf: „Radistschew starb 53 Jahre nach der Geburt. Er war von mittlerer Statur und in der Jugend ausnehmend schön gewesen, er hatte wunderbare, sehr ausdrucksvolle braune Augen, war voller Leidenschaft für das weibliche Geschlecht (an dieser Stelle folgt in einer Variante des Textes der Zusatz: „das war sein einziges Laster, wenn man das überhaupt als Laster bezeichnen kann". - J. L.). Er hatte einen offenen und heftigen Charakter, und seinen Gram trug er mit stoischer Gelassenheit; Schmeichelei war ihm fremd, aber in der Freundschaft war er unerschütterlich und vergaß Beleidigungen schnell; der Umgang mit ihm war einfach und angenehm."45 Hier wäre noch hinzuzufügen, daß er hervorragend mit dem Degen umzugehen verstand, gern ritt und ein ausgezeichneter Tänzer war, all das Züge, die sich nur schwer mit dem Bild eines Philosophen vereinbaren lassen. Einem bekannten Petersburger Beamten erschien er eher kurios, da er während seiner Tätigkeit beim Zollamt keine Schmiergelder annahm. In Petersburg erzählte man von ihm, er habe, als er von Katharina den Orden überreicht bekam, nicht niedergekniet, weil die Regeln eine derartige Geste nicht vorschrieben. Dem alltäglichen Beobachter in Petersburg erschien er als Sonderling. Radistschew war stets bestrebt, sein ganzes Leben, und schließlich sogar seinen Tod, den Doktrinen der Philosophen unterzuordnen. Aber nicht deshalb, weil er ein doktrinärer Philosoph gewesen wäre, sondern aus völlig entgegengesetzten Überlegungen heraus. Er erarbeitete sich die Regeln eines philosophischen Lebens' mit Anstrengung, und gleichzeitig machte er dieses philosophische Leben' kraft seines Willens und seiner Selbsterziehung zum Vorbild und zu Programm seines realen Lebens. A.W.
Suworow
In den französischen satirischen Zeitschriften und Karikaturen der Revolutionszeit wurde Suworow als blutrünstiges Ungeheuer, als wilder Menschenfresser dargestellt. Wahr ist allerdings auch, daß zur gleichen Zeit englische Karikaturisten die Jakobiner und später auch die Generäle der Revolution in ihren Zeichnungen als blutrünstige Monster darstellten, die Menschenfleisch fraßen. Das war der Stil dieser Zeit: auf der einen Seite die antiken Heroen und der heilige Georg der Siegreiche, deren Schwerter und Profile gleichsam nach einem Schema gezeichnet waren, und auf der anderen Seite kinderfressende Ungeheuer und barbarische Kannibalen. Das
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europäische Bewußtsein, das sich in den Karikaturen, Liedern und Anekdoten widerspiegelte, wies Suworow bald in dem einen, bald in dem anderen Lager einen Platz zu. Aber niemals sah jemand in ihm einen jener mittelmäßigen Generäle, die damals die Landstriche Europas zerstampften. Man verfluchte Suworow oder betete ihn an, schrieb Oden und Poeme über ihn oder auch böse Satiren, aber es gab von der Newa bis Gibraltar niemanden, der mit Gleichgültigkeit über ihn geredet hätte. Ein herausragender Zug Suworows war die Fähigkeit, bei seinen Zeitgenossen die gegensätzlichsten Eindrücke zu hinterlassen. Seine Biographen waren bemüht, diese widersprüchlichen Urteile über Suworow zusammenzufassen und sie irgendwie miteinander zu versöhnen. A. Petruschewski, Autor einer ausführlichen Monographie, deren Wert noch heute, obwohl sie vor hundert Jahren geschrieben wurde, außer Frage steht, neigte dazu, in dem Verhalten des Feldmarschalls nur das durchdachte und streng rationale Handeln eines umsichtigen Feldherrn zu sehen. Petruschewski hob vor allem Suworows militärische Qualitäten hervor und dessen Fähigkeit, mit den Seelen der Soldaten umzugehen. Ergebnis dessen war, daß Suworow sich, so der Forscher, im Bewußtsein der Soldaten in einen Vollstrecker göttlichen Willens verwandelte: „Gott verlieh ihm die Weisheit der Schlange, er kannte die ,Wege Gottes' und verstand es, mit dem Namen Gottes, dem Kreuz und dem Gebet die Zauberkraft und die Machenschaften des Teufels zu zerstören". 46 Doch der Biograph bemerkt nicht, daß die dem Feldmarschall angedichteten übernatürlichen Eigenschaften nicht nur dem einfachen Aberglauben der Soldaten entsprangen, sondern daß Suworow diese Mutmaßungen durch sein Verhalten auch selbst nährte. Aus der Untersuchung Petruschewskis ist zu ersehen, daß die Soldaten ihrem Feldherrn nicht nur Strenggläubigkeit, sondern auch die im Volksglauben traditionell verankerten Eigenschaften eines Magiers zuerkannten: „Er kannte alles in der Welt, durchschaute die Vorhaben der Feinde und führte in wasserlosen Gegenden zu Quellen". 47 Den Augen der Soldaten erschien Suworow bald als die Gestalt eines frommen Kriegers, der den Beginn einer Schlacht bis zum Ende der Messe hinausschiebt, bald als die eines Magiers, der die feindlichen Pläne durchschaut. Es ist kaum denkbar, daß ein solches Verhalten nicht ein Ausfluß der strenglogischen Absichten des Feldherrn war. Wer Suworow zu verstehen sucht, begegnet auf Schritt und Tritt Widersprüchen. Der wesentlichste dieser Widersprüche besteht darin, daß der Charakter Suworows, obwohl er sich in den Augen des Forschers ständig in unterschiedliche Merkmale aufspaltet, im Endergebnis eine erstaunliche Einheit darstellt, unverwechselbar und in der Geschichte einzigartig. Wahrscheinlich ging auch das in die,Überaufgabe' ein, die Suworow sich selbst stellte. Als Mensch seiner Epoche, des Zeitalters des heroischen Individualismus, wollte er keinem gleichen, und er duldete niemanden, der ihm vielleicht gleichgekommen wäre. Wie einst Cäsar, sein Lieblingsheld,
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zog er es vor, lieber Erster im Dorf als Zweiter in Rom zu sein. Die ständige Orientierung auf die antiken Modelle wurde durch den Wunsch hervorgerufen, ihnen nicht ähnlich zu sein, sondern über sie hinauszuwachsen. Jungen Heerführern gab er den Rat, sich irgendeinen antiken Helden zum Vorbild zu nehmen, doch nur, um ihm nachzueifern und ihn schließlich zu übertreffen. Das erinnert in gewisser Weise an die Position Lomonossows, der seinen Schülern das Vermächtnis hinterließ, ihm nicht nachzueifern, sondern ihn zu übertreffen. Die Widersprüche in Suworows Verhalten waren prinzipieller Natur. Bei den Treffen mit seinen Gegnern setzte er sie, um den Feind zu irritieren, als taktisches Moment ein. Sein Gegenüber begriff oft nicht, mit wem er es zu tun hatte: mit einem einfältigen Narren in Christo oder mit einem gebildeten Philosophen, der aus dem Gedächtnis Auszüge aus den Werken antiker Autoren oder zeitgenössischer Strategen zitierte. Das war ein bewußt angewandter Winkelzug, aber wir würden das Problem simplifizieren, ließen wir außer acht, daß bei Suworow das Bewußte häufig mit dem Unbewußten den Platz tauschte. Hatte er das Spiel einmal begonnen, kam er nicht mehr heraus. Sein Benehmen zeigte zuweilen kindliche Züge, die sich auf widersinnige Weise mit dem Verhalten und den Gedanken eines Militärtheoretikers und Philosophen verknüpften. Zwischen diesen beiden Verhaltenstypen erblickten die Zeitgenossen einen sie befremdenden Widerspruch. Die einen sahen darin nur ein taktisches Verhalten, beispielsweise ein geschicktes Manöver, um die Soldaten zu beeindrucken. Die anderen, Suworows Gegner, redeten von Barbarentum, Wildheit und Tücke. Ein Psychologe wird hier einen Konflikt verschiedener auf sich selbst fixierter Personen konstatieren. Aber der Historiker registriert zwei einander entgegengesetzte und gleichzeitig miteinander verwandte Tendenzen. Beide sind sie kompliziert und mit dem Jahrhundert der Aufklärung verknüpft. Die erste Tendenz ist auf die natürlichen' Eigenschaften des Menschen gerichtet. So erscheint beispielsweise das negative Verhältnis Suworows zu den Spitälern und der Medizin als rückständig, aber man sollte hier an Äußerungen J. J. Rousseaus und Leo Tolstois erinnern, in denen der gleiche „kühne Nonsens" anklingt. Die zuweilen aufdringlich erscheinende Hinwendung zur ,Natürlichkeit' und die hartnäckig immer wieder angelegte Maske eines ,Toren' erinnern nur zu deutlich an Rousseau. Suworow hat oft mit Ironie über die Ideen Rousseaus gesprochen, aber wahrscheinlich hat er dessen Werke aufmerksam gelesen. So lehnen sich Suworows Gedanken über die Einfachheit und den Heroismus des römischen Lebens unmittelbar an entsprechende Stellen bei Rousseau an. Gleiches läßt sich auch über die Suworowsche Gegenüberstellung von römischem Helden und verwöhntem Stutzer sagen: „Oft werden rosa Absätze über das Gehirn obsiegen, über die ohnmächtige Fabel der Selbstüberhebung, über die Kunst, eine raffinierte Schmeichelei über das treuherzige Gemurmel des reifen Geistes". Der Ausruf „Einziger Vater!" kann als
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Ausdruck tiefer Religiosität empfunden werden, aber stellt man als Beispiel die Helden des alten Rom daneben, dann wird die Prägung durch das Jahrhundert der Aufklärung offensichtlich: „ Glaube besser jenem Konsul, der unter dem Hakenpflug hervoreilt, vor der Zeit das Ende zu erreichen, um wieder unter den Pflug zu gelangen". 48 Hier ist ein Widerspruch spürbar. Einerseits die religiösen Auffassungen Rousseaus kritisierend, sucht Suworow andererseits in den Vorbildern antiker Tugend nach dem Ideal. Und gerade hier entlehnt er das Prinzip: „Tugend und Heroismus stehen höher als vornehme Herkunft". „Heute entstammen die anständigsten, die jungen Offiziere nicht dem ,freien Adel'".* Weiterhin schlägt Suworow vor, „dieses Gesetz der Rasse"* während des Krieges zu vergessen". Danach folgt Abfälliges: „Die ,Prätorianer'-Oberste sind schlecht", doch mit einem einschränkenden Zusatz: „ausgenommen die Gardekavallerie". „Die ,Prätorianer' ärgern ihre Offiziere durch die Hofmanieren, verweichlichen sie, daß sie sich bei den Höchsten anbiedern". „Sie sind keine Spartaner, sondern Sybariten. Sie lehren sie, den Ruhm zu verachten". 49 Suworow erkannte die von Rousseau gepredigte ,Natürlichkeit' und dessen Heroismus an, aber seinen Deismus verneinte er. Das hier entworfene Bild wäre nicht vollständig, würde man nicht berücksichtigen, daß Suworows Streben nach Natürlichkeit' ihn äußerlich ein Verhalten annehmen ließ, das der Tradition der „Gottesnarren" nicht unähnlich war. 50 In diesem Sinne ist das Zeugnis von E. Fuks interessant, der Suworows Sekretär war, ihn auf vielen Feldzügen begleitete und für den Feldmarschall die eigentümliche Rolle eines Eckermann spielte. Die Fuksschen Erinnerungen sind selbst dann noch von Wert, wenn die Glaubwürdigkeit der einen oder der anderen seiner Mitteilungen anzuzweifeln ist: Sie beschreiben die allgemeine Atmosphäre des Suworowschen Stabes. „Die Marotten", schrieb Fuks,
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D e r uns hier interessierende Brief ist im Original auf Französisch geschrieben. An
dieser Stelle ist eine nicht unwichtige Unexaktheit nicht korrigiert worden. Das französische „une irreligion" ist (ebenda, S. 118) mit „Unglaube" übersetzt. Tatsächlich geht es hier jedoch nicht um den Unglauben - Rousseau deshalb einen V o r w u r f zu machen, wäre also ein elementarer Fehler - , sondern darum, den Deismus über den Glauben einzelner R e l i gionen zu stellen. **
Die letzten W o r t e in dem französischen Brief Suworows geben den .russischen T e x t '
wieder, der nach dem lateinischen Alphabet geschrieben ist, ein abwertendes Kauderwelsch, das die französische Redeweise der russischen Adligen nachäfft. S u w o r o w verwendet den Ausdruck „loi naturelle". In der hier zitierten Ausgabe wurde dieser mit „Naturgesetz" übersetzt, was den Sinn völlig entstellt. S u w o r o w verwendet die Lexik aus der Terminologie der Viehzucht, w o „ N a t u r " die Qualität der Art bezeichnet. D i e Übersetzung mit dem W o r t „natürlich" ist fehlerhaft. * * * * Im weiteren führte die Laune des Schicksals E. Fuks in eine ähnliche Stellung in der Feldkanzlei Kutusows während des Vaterländischen Krieges von 1812. Dieser unauffällige M e n s c h roch zum erstenmal in seinem Leben Pulver, und war er auch kein kritischer Historiker, so schrieb er doch auf, was er gesehen und erlebt hatte.
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Dritter
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„die Extravaganzen oder die sogenannten Schrullen ließen den Fürsten zu einem Rätsel werden, das bis heute nicht gelöst ist. Ununterbrochen fragte und fragt man mich: Warum hat er sich eine derartige Maske zugelegt? Und meine Antwort war, wie auch jetzt: Ich weiß es nicht. Es hat mich stets verwundert, wie ein Mensch, unter vier Augen der klügste und gebildetste, kaum hatte er die Schwelle seines Kabinetts verlassen, sich als Hofnarr, als Schelm gebärden konnte oder, wenn ich so sagen darf, wie irgendein Aussätziger (Ich vermute, das Fuks hier ein Lapsus unterlaufen ist, und er „Aussätziger" statt „Gottesnarr" verwendete. - J.L.). Er spielte mit den Menschen Komödie, produzierte sich auf der Bühne, und die Zuschauer applaudierten. Einmal, als er zur Ruhe gekommen war, wagte ich ihn zu fragen, was das alles zu bedeuten habe. ,Nichts', anwortete er, ,das ist meine Manier. Hast du schon mal von dem berühmten Komiker Carlin gehört: Er spielte auf dem Pariser Theater den Harlekin, gleichsam als wäre er als Harlekin zur Welt gekommen; und hinter den Kulissen und in seinem Privatleben war er ein überaus seriöser Mensch von strengen Regeln: Nun, mit einem Wort, ein Cato!' Und um das Gespräch abzubrechen, erteilte er mir Aufträge und befahl mir, zu gehen..."51 In den an Fuks gerichteten Worten Suworows verbindet sich die Aufrichtigkeit mit der bei Selbstbeschreibungen unvermeidlichen Übertreibung der logischen Motivierung des Verhaltens. Genauso verfuhr er, und nach ihm auch die ihm Gleichgesinnten, wenn sie das Schamanenhafte seines Gebarens nur mit der Absicht zu erklären suchten, Eindruck auf die Soldaten zu machen. D e r gleiche Fuks schrieb: „Betrachtet man die Capricen des gemeinen Volkes, die der Fürst sich zu eigen machte, muß man Verständnis dafür zeigen, daß er das tat, um, sich den einfachen Soldaten angleichend, deren Liebe zu gewinnen; womit er auch Erfolg hatte. Wir können sagen, daß dieser Mensch mit seiner Aufgeklärtheit, seiner Bildung, seiner Belesenheit, mit seinem ungewöhnlichen Geist zu recht solche Verschrobenheiten fordern konnte, wie beispielsweise die, daß an seinem Tisch niemand das Salz mit dem Messer aus dem Salznäpfchen nehmen durfte, und Gott behüte, jemand hätte das Näpfchen zu seinem Nachbarn gerückt oder diesem gereicht; jeder sollte sich selbst so viel auf das Tischtuch schütten, wie es ihm genehm war." 52 Es ist bezeichnend, daß Suworow die Treue zu den Volksbräuchen mit dem Verhalten Alexanders von Mazedonien erklärte. Das ,Folkloristische' im Verhalten Suworows wurde noch dadurch verstärkt, daß er bei Äußerungen wie diesen der Geste den Vorzug vor dem W o r t gab. Ihm, dem in anderen Situationen von seinen beredten G e sprächspartnern Bewunderten, reichten hier plötzlich die W o r t e nicht mehr aus, er ging über zur Stimmakrobatik, zum Krähen, zum ekstatischen Gestikulieren. Manchmal spielte Suworow ganze Szenen vor, wobei er dann wohlüberlegte absurde Situationen mit Improvisationen verband. So betrachtete er zum Beispiel sehr ernst und manchmal sogar mit Ehrerbietung die Orden, die für ihn der symbolische Ausdruck seiner historischen
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Verdienste waren; seine Verachtung für die ,verspielten' Orden, mit denen ihn italienische Herrscher und Fürsten überschütteten, verbarg S u w o r o w nicht. Nachdem er zwei Medaillen für seinen Trunkenbold von Offiziersburschen, Proschka, erbeten hatte, machte S u w o r o w eine närrische Veranstaltung daraus. Dabei muß man wissen, daß eine Ordensverleihung im 18. Jahrhundert einem Ritterschlag gleichkam. Deshalb w u r d e n Orden nur an Adlige verliehen; die einfachen Soldaten erhielten Medaillen. U n d so nennt der Memoirenschreiber auch die Proschka verliehenen Auszeichnungen Medaillen, tatsächlich jedoch waren es unikale Anerkennungszeichen, die z w a r formell zu den Medaillen gehörten, aber nicht den grundsätzlichen Charakter einer Medaille als einer kollektiven Auszeichnung hatten. U n i k a l e Auszeichnungen kamen in diesem speziellen Sinne den Orden gleich. Somit stellte das, w o m i t Proschka ausgezeichnet wurde, vom Standpunkt des sardischen Königs her gesehen, ein Ehrenzeichen dar, vom russischen Standpunkt hingegen einen närrischen Orden, der an Weihnachtsbaumschmuck denken ließ. Dementsprechend beschäftigte sich S u w o r o w bereits im voraus damit, der Verleihung einen närrischen Charakter zu geben, zumal der Ausgezeichnete in der königlichen U r k u n d e „Herr Proschka" genannt wurde. Den Ablauf der Verleihung entwarf S u w o r o w vermutlich unter dem Einfluß entsprechender parodistischer Szenen aus Cervantes' „Don Quichote", in denen es bei dem Autor heißt, „in der Tat bedurfte es nicht geringer Kunst, u m während dieser Zeremonie nicht in jeder M i n u t e vor Lachen zu bersten". Fuks erinnert sich an die „Ubergabe der beiden Medaillen, an den Kammerdiener des Generalissimus; unter diesem Namen war Proschka in der ganzen Armee bekannt. Ich muß dazu sagen, daß dieser Proschka ein zügelloser Mensch war, von begrenztem Verstand und unverschämt dazu. Manchmal nahm er ihm (Suworow) den Teller mit dem Essen weg und sagte ihm Grobheiten. Dennoch war sein Herr, eingedenk des Umstands, daß dieser ihm einmal das Leben gerettet hatte, seiner Primitivität gegenüber nachsichtig und machte sich über ihn lustig. Plötzlich wird nun dieser Proschka für würdig befunden, von dem sardischen König, Karl Emanuel, zwei Medaillen zu erhalten, eine mit der Darstellung des Herrschers, des Imperators Paul I., und eine zweite mit der Darstellung des Königs und der lateinischen Inschrift: Für die Bewahrung der Gesundheit Suworows.... Auf dem Päckchen mit dem Reskript, das ein großes königliches Siegel trug, stand die folgende Anschrift: ,Dem Herrn Proschka, Kammerdiener Seiner Durchlaucht des Fürsten Suworow'. Dieses Päckchen brachte Proschka, es mit Tränen benetzend, seinem Herrn. Sofort schickt man nach mir. Ich erscheine. Enthusiastisch ruft der Graf: „Wie! Seine Sardische Majestät hat die Güte, seine gnädigste Aufmerksamkeit auch meinem Proschka zuzuwenden! Setz dich und notiere das Zeremoniell für die morgige Dekorierung der Brust Proschkas mit zwei Medaillen." Ich setzte mich und schrieb:,Erster Punkt: Proschka hat morgen nüchtern zu sein'. ,Was hat
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das zu bedeuten', sagte Alexander Wassiljewitsch, ,ich habe ihn von Geburt an nie betrunken gesehen.' ,Es ist nicht meine Schuld', sagte ich, ,wenn ich ihn nie nüchtern gesehen habe'. In einem der Punkte wurde übrigens gesagt, daß Proschka bei der Auszeichnung die Hand seines Herrn küssen solle, aber der Graf verlangte hartnäckig, er solle die Hand Gabets, des königlichen Bevollmächtigten in Suworows Hauptquartier, küssen. Am folgenden Tag wurde das Zeremomiell genau nach diesen fünf Punkten vollzogen, ausgenommen den ersten, der eine gewisse Einschränkung erfuhr. Und am Ende weigerte Gäbet sich, seine Hand zum Kuß darzureichen; der Graf und Proschka liefen ihm nach, und beinahe wären sie zu dritt zu Boden gestürzt. Ich habe vergessen zu erwähnen, daß Proschka an diesem heißen italienischen Tag einen Samtkaftan mit einem umgehängten großen Beutel trug und schon nicht mehr serviert hatte; er stand in einiger Entfernung vom Stuhl des Grafen hinter dem Tisch, an dem man mit irgendeinem Zyprioten, einem herben Wein, auf seine Gesundheit trank. Man kann sich kaum vorstellen, welch ein altväterlich feierliches Gesicht der Graf während dieses komischen Geschehens machte. So vermengte er Obliegenheiten und Zeitvertreib und nannte das seine Rekreation."53 Diese Episode ist überaus charakteristisch. Als komisch-satirisches Schauspiel gedacht, übertraf sie alles zuvor Beabsichtigte. Suworow wurde ^ e r spielt': Der Anblick, wie der Feldmarschall und der betrunkene Proschka dem sardischen Diplomaten nachliefen, mit ihm in eine an kindliches Spiel erinnernde Rauferei gerieten und beinahe zu Boden stürzten, ließ natürlich alle Grenzen des Vorhabens hinter sich. Die Atmosphäre des Spiels, die Suworow um sich zu verbreiten pflegte, bezog auch andere mit ein. Ein Beispiel dafür ist eine von dem alten Fürsten N. S. Golizyn erzählte Episode. Als er noch Page war, hatte er am letzten Tag der Fasten, am Heiligen Abend, beim Abendessen an der Tafel Katharinas II. zu bedienen. Eingeladen waren Potemkin und Suworow. Suworow rührte auf der festlichen Tafel demonstrativ nichts an. „Katharina, dies bemerkend, fragt ihn nach dem Grund. ,Er ist, Mütterchen Zarin, der große Faster unter uns', antwortet Potemkin für Suworow, ,heute ist doch Heiligabend: Er wird bis zum Erscheinen des Sterns nichts essen.' Die Kaiserin ruft den Pagen heran und flüstert ihm etwas ins Ohr. Der Page geht ab und kehrt nach einer Minute mit einem nicht sehr großen Etui zurück, in dem sich der brillantene Ordensstern befindet, den die Kaiserin Suworow überreicht, wobei sie hinzufügt, daß er nun wohl das Mahl mit ihr teilen werde. Dieser Page war Alexander Nikolajewitsch (Golizyn)", das heißt der Erzähler selbst. 54 In einer anderen Notiz der gleichen Erinnerungen werden auch die Worte der Kaiserin angeführt, die sie dabei gesprochen hat: „Euer Stern ist aufgegangen, Feldmarschall". In dieser Episode wird ein zweifaches Spiel deutlich: Suworow, bei weitem nicht immer ein derart „strenger Faster", demonstriert Potemkin, der für seine Ablehnung aller Gebote und für die Maßlosigkeit seiner Leidenschaften bekannt war, das strenge Einhalten der Sitten, und Katharina II. benutzt das Wortspiel, um sich mit der Aura einer huldvollen Herrscherin zu umgeben.
„Abschiedszeremonie der Malteser Ritter für Scheremetjew, nachdem ihm das Malteserkreuz überreicht worden war..." — Illustration aus „Aufzeichnungen... über die Reise... von B . P Scheremetjew". Moskau. 1778.
Porträt des Grafen J . W . Brjus. (16701735). — N. Iwanow n. e. Zchng. J.I. Agrunows. Punktierte Gravüre 1812.
Porträt A.S. Matwejews. (1625-1682). — Unbekannter Graveur. Gravüre mit Radierstift. Frontispiz zum Buch N . I . N o w i k o w s „Geschichte von der schuldlosen Einkerkerung des getreuen Bojaren A.S. Matwejew". Sankt Petersburg 1776.
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Baschkiren. — W . W . Melnikow nach einer Zeichnung von E.M. Kornejew. Radierung. Aquarell. 1809.
Porträt A.W. Suworows. — J . P . Norblin. Zeichnung. 1795. — Das Porträt zeigt die unprätentiöse Gestalt des 65jährigen Feldherrn, nachdem er für die Befriedung Polens in den Rang eines Feldmarschalls erhoben worden war. Er trägt die Generalsuniform mit einer Stickerei am Saum des Kragens und einem weißen Jabot; er ist ohne Perücke dargestellt, das Haar zum Zopf „ä la budera" gebunden („Rattenschwänzchen").
Englische Karikatur auf Suworow.
Die Erstürmung des Warschauer Vorortes Praga durch die russischen Truppen unter dem Kommando Suworows am 4. November 1794. — I.M. Will. Gravüre mit Radiernadel. Um 1790. — Die Erstürmung des Warschauer Vorortes durch die russischen Truppen war überaus blutig: 12000 Polen wurden getötet, viele ertranken bei der Flucht über die Weichsel.
Suworow in der Schlacht bei Nova am 4. August 1799. — S. Kardelli nach einer Zeichnung Meiers. Gravüre m. Radiernadel. Um 1790. — Der Feldmarschall, ohne Feldrock, im weißen Hemd und mit einer Nagaika, auf dem Kopf eine Kaska der leichten Kavallerie.
Der Kommandant der Stadt Uralsk, Oberst Simonow, übergibt 1774 Suworow Pugatschew. — Ch. G. Geiser n. einer Zeichnung I. D. Schuberts. Gravüre. 1796. Rechts Soldaten in der neuen, 1786 eingeführten Uniform (d.h. erst zehn Jahre nach dem dargestellten Ereignis). Sie bestand aus einer kurzen Uniformjacke, weiten Hosen mit angenähten Gamaschen, einem ledernen Helm mit Querkamm und zwei Klappen, die bei Frost heruntergeklappt werden konnten. Zöpfe, Locken und Puder waren abgeschafft. Die Truppengattungen unterschieden sich nur durch die Farbzusammensetzung der Uniformen. Diese Änderungen berührten nicht die Uniform der Offiziere, der Garde, der Kosaken und der Husaren. „Kurze Beschreibung der Einnahme Otschakows". — Volksbilderbogen. Kupferstich. Ende 18. Jhdt.
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Aber Suworow hat auch noch ein anderes Gesicht, das sein aufmerksamer Sekretär registriert: Das ist der Weise, der stoische Philosoph, der nicht nur Cäsar, sondern auch Cicero verehrt. Einer der Winkelzüge, mit denen Suworow gern seine Gesprächspartner in Erstaunen versetzte, war der krasse Übergang von einer Rolle zur anderen. Wer eben noch seine schockierenden Narreteien zur Kenntnis genommen hatte, sah sich plötzlich von Angesicht zu Angesicht einem Gelehrten, einem eloquenten Philosophen gegenüber. Das Stammeln und die Clownerien waren verschwunden, und an ihre Stelle traten die Sprache eines römischen Rhetors oder philosophische Gedankengänge in deutscher, französischer, englischer oder italienischer Sprache. So gab der Engländer Lord Klingston dem nicht Englisch verstehenden Fuks den Inhalt eines Gesprächs mit Suworow auf die folgende Weise wieder: „Ich komme geradewegs aus der gelehrtesten Militärakademie, wo Gedanken über die Kriegskunst geäußert wurden, über Hannibal, Cäsar, Bemerkungen zu den Irrtümern Turennes, des Prinzen Eugen, über unseren Marlborough, über Bajonette usf. usf. Sie wollen wissen, wo sich diese Akademie befindet, wer ihre Professoren sind? Raten Sie!... Ich war zum Mittagessen bei Suworow. Ich erinnere mich nicht mehr, ob ich irgend etwas gegessen habe, aber ich erinnere mich fasziniert an jedes seiner Worte. Das ist unser Garrick, aber auf dem Theater der großen Ereignisse. Das ist ein taktischer Rembrandt: Was jener für die Malerei, ist dieser für den Krieg - ein Magier!" 5 ' Zeitgenössische Zeugnisse dieser Art ließen sich noch viele anführen. Das Wechseln von Masken war eine der Besonderheiten im Verhalten Suworows. U n d verblüffte er einen ausländischen Diplomaten oder einen Bildungsreisenden mit seiner Weisheit oder seinen Narreteien, trat er vor anderen Beobachtern bald als frömmelnder Eiferer (wie bei Potemkin), bald als ein Magier auf. Bekannt ist auch, daß Suworow keine Spiegel duldete; und mußte er einmal in einem Zimmer mit Spiegeln übernachten, verlangte er, die Spiegel unverzüglich abzunehmen oder zu verhängen. Hexenmeister werden von Spiegeln nicht reflektiert, deshalb ist ein Spiegel im Zimmer ein probates Mittel, einen Zauberer zu erkennen. Suworow wurde selbstverständlich von Spiegeln reflektiert. Sein Kalkül verlieh ihm jedoch die Aura eines Menschen, der nicht von den Spiegeln reflektiert wird. Das hatte auch praktische Bedeutung: D i e Aureole der Zauberei stärkte den Glauben der Soldaten an ihren Feldmarschall; und dieses Spiel lockte auch Suworow selbst. Als Vorbild kann hier vielleicht das Verhalten Cäsars gelten, der geschickt den Aberglauben seiner unwissenden Gegner auszunutzen verstand. Aber Cäsar war ein listenreicher Politiker, Suworow hingegen war verspielt wie ein Kind oder wie ein agierender Schauspieler, der alles um sich her vergißt. Es ist kein Zufall, daß den Zeitgenossen, die den Charakter des Feldmarschalls beschrieben, sehr oft die N a m e n berühmter Schauspieler dieser Epoche in den Sinn kamen.
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Dritter
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Ein augenfälliges Beispiel für die Fähigkeit Suworows, sich in verschiedene Welten zu versetzen, ist seine Verwendung unterschiedlicher Stile bei der Beschreibung ein und desselben Ereignisses. Die Vielfalt der Stile ist hier nur eine Widerspiegelung des Reichtums seiner Phantasie; Suworow veränderte seine Person, und gleichzeitig veränderte er auch das Bild der diese Person umgebenden Welt. Als Beispiel können hier zwei von ihm verfaßte Beschreibungen der Alpenüberquerung gelten. Die eine ist an den Grafen Rostoptschin gerichtet, die andere an Paul I. Beide Beschreibungen sind einprägsame Reflektionen der Person Suworows, orientieren sich aber gleichzeitig auf die Personen der Adressaten. Dabei rechnete er wahrscheinlich damit, daß der zu dieser Zeit Paul sehr nahestehende Rostoptschin dem Zaren das an ihn gerichtete Schreiben zeigen würde. Somit wird jeder der Adressaten beide Versionen lesen. Das verleiht der Stilproblematik einen eigenständigen Wert. „Nachdem die russischen Truppen die Alpen überquert hatten, schrieb Suworow an den Grafen Fjodor Wassiljewitsch Rostoptschin: ,In Billinzop angekommen... Es gibt keine Maulesel, keine Pferde; hier gibt es nur Turgut, Berge und Schluchten... Aber ich bin kein Maler. Ich ging und kam... Sahen auch die Franzosen; aber ließen sie alle... mit der kalten Waffe... Bis zu den Knien im Schnee... Massena ist behende, aber nicht schnell genug... Der junge Kamenskoi ist jung, aber älter als der Herr Major... Bei Zürich erging es übel und Lafater wurde verwundet... Bei Mannheim Perlhühner; überall Turgut, nirgends Goz... Heldentum besiegt die Kühnheit; Geduld - Hast, Vernunft Sinn, Arbeit - Faulheit, Geschichte - Zeitungen... Bin bereit, Maria Theresia zu tragen. Hab schon viel auf den Schultern... Hilfe!... Ich bin Russe, ihr seid Russen'". 56 In dem Brief an Rostoptschin imitiert Suworow die Ungereimtheiten seiner mündlichen stimmakrobatischen Redeweise. Der Brief ist gleichsam in eine Geste übertragen, und so ist es auch nicht nötig, alle darin enthaltenen Anspielungen zu kommentieren, vielmehr muß man sich all die Gesten vorstellen, Stampfen mit den Füßen, Bewegungen des Körpers, die bei Suworow diese Art der Redeweise begleiteten. Hier imitiert der geschriebene Text den mündlichen. In dem Bericht an den Herrscher haben wir nicht nur einen anschaulichen Brieftext vor uns, sondern auch eine künstlerische Arbeit. Suworow führt in den Stil des militärischen Rapports das Pathos der Prosa Ossians ein, vorromantische Landschaftsbilder, emotionale Spannung, die in einem krassen Widerspruch zum üblichen Reportagestil stehen. „Das siegreiche Heer Eurer Kaiserlichen Majestät, das sich durch seine Kühnheit und seinen Mut zu Lande und zu Wasser ruhmvoll ausgezeichnet hat, stellt jetzt seine beispiellose Unermüdlichkeit und Kühnheit auch in einem neuen Krieg in dem gewaltigen, schier unbezwingbaren Bergmassiv unter Beweis. Zum Bedauern der hiesigen Bevölkerung die Grenzen Italiens überschreitend, wo dieses Heer das Ansehen von Befreiern genoß, überquerte
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es die furchtbaren Bergketten. Bei jedem Schritt in diesem Reich des Schreckens gähnten die Abgründe wie offene Särge, bereit, alles zu verschlingen. Stockfinstere Nächte, ununterbrochen grollende Donner, strömender Regen und dichte Nebelschwaden über tosenden Wasserfällen, die mit Gesteinsbrocken von den Gipfeln herniederstürzten, vergrößerten noch das Entsetzliche. Dort taucht vor unseren Blicken der Berg Sankt Gotthard auf, der all die anderen Berge überragt, um deren Kämme gewitterträchtiges Gewölk und Wolken schwimmen; und ein anderer, diesem ähnlicher Berg, Vogelsberg genannt. Alle Gefahren, alle Schwierigkeiten werden überwunden; und trotz dieses Ringens der Truppen mit allen Elementen kann der Feind, der sich in den Schluchten und an den unzugänglichsten und vorteilhaftesten Stellen eingenistet hat, dem Heer, das unvermutet auf dieser neuen Szenerie erscheint, nicht widerstehen. Uberall wurde er vertrieben. Das Heer Eurer Kaiserlichen Majestät durchquert die düstere Felsenschlucht Urner Loch und erobert eine Brücke, die, ein wunderliches Schauspiel der Natur, zwischen zwei Bergen errichtet wurde und den Namen Teufelsbrücke' erhalten hat. Sie wurde vom Feind zerstört, aber das hielt die Sieger nicht auf. Die Bretter werden mit den Schärpen der Offiziere zusammengebunden. Und über diese Bretter ziehen sie hinweg, klettern die steilen Pfade hinunter, klettern von den Höhen in die Abgründe, spüren den Feind auf und schlagen ihn allenthalben. Endlich war noch der verschneite Winterberg zu besteigen, der so steil ist, daß er darin alle anderen Berge übertrifft. Im glitschigen Morast versinkend, mußte man die Besteigung in Front und inmitten eines tosend herabstürzenden Wasserfalls durchführen, der tobend fürchterliches Gestein und vereiste Erdbrocken schleuderte, die viele Menschen mit ihren Pferden in rasender Schnelligkeit in die Höllenstrudel hinabrissen, wo viele umkamen, aber viele sich auch retten konnten. Kein Gemälde reicht aus, dieses Bild der Natur in ihrer ganzen Ungeheuerlichkeit wiederzugeben! Allein die Erinnerung daran läßt die Seele erbeben, erfüllt sie mit Entsetzen und mit heißen Dankgebeten an den Allmächtigen, denn Seine unsichtbare, göttliche Hand hat wahrscheinlich das Heer Eurer Kaiserlichen Majestät, das in Seinem heiligen Namen kämpft, beschützt." 57 Man könnte den Charakter Suworows eine vielstimmige Einheit nennen. Ein ausdrucksvolles Bild dieser komplizierten Persönlichkeitsstruktur zeigt sich uns im Spiegel seiner familiären Beziehungen. Suworow hatte von Geburt an eine schwächliche Gesundheit, war nicht großgewachsen und schmächtig. In langen Jahren trainierte er sowohl seinen Körper als auch seinen Charakter, vermutlich unter dem Eindruck der Biographie Cäsars, um den Anstrengungen des militärischen Lebens wiederstehen zu können. E r trug später nie warme Kleidung und ging selbst bei Frost nur in Uniform. Als Katharina ihm einen erlesenen Pelz schenkte, führte er diesen zwar stets in der Kutsche mit sich, zog ihn aber nie an. Darin ist
* In der Ausgabe „Suworow A.W. Dokumente". (Moskau, 1953, Bd. IX, S. 349-350) ,mit dem Beinamen Teufelsbrücke".
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natürlich auch eine Opposition gegen die Manier Potemkins zu sehen, der selbst auf der Bühne des Krieges nicht auf seine luxuriösen Launen verzichtete, doch verbarg sich darin noch ein tieferer Sinn: die Wiederholung des streng militärischen Verhaltens eines römischen Kriegers, der jeglichen Luxus verabscheute. Dieses ,römische' Verhalten bedeutete für Suworow eine bewußte und ununterbrochene Selbstüberwindung, eine Erziehung nicht nur der Kräfte, sondern auch des Willens. Was bei Suworow und bei dem, was er tat, als spontane Reaktion seines Temperaments und seines Charakters begriffen wurde, war in Wahrheit nichts anderes als deren ständige Uberwindung; das zeigt sich auch in dem erstaunlichen Widerspruch zwischen der absoluten Entschiedenheit des Feldmarschalls Suworow und den geradezu entgegengesetzten Eigenschaften, die sich in seinem privaten Leben äußerten. Hier fällt vor allem die Infantilität ins Auge. Suworow liebte Spiele, aber nicht das ,mannhafte' Kartenspiel, das er verachtete (Bedürfnis nach Gefahr befriedigte er auf dem Schlachtfeld), er spielte vielmehr Blinde-Kuh, Fangspiele und Abschlagen, saß gern auf der Schaukel, war für Streiche und Neckereien zu haben. So beteiligte er sich beispielsweise, bereits als berühmter Feldmarschall, der die Alpen überquert hatte, auf einem zu seinen Ehren in Prag veranstalteten Ball am Tanz der jungen Offiziere und Damen, doch dabei behinderte er absichtlich und ständig die tanzenden Paare, so daß alle gegeneinander stießen und in einem Knäuel zu Boden fielen. Aber nirgendwo war seine Infantilität deutlicher zu spüren als in seinem Verhältnis zu Frauen. Hier war er scheu. Geheiratet hat Suworow erst im Alter von fünfundvierzig Jahren und, wie sein Biograph A. Petruschewski glaubhaft vermutet, auf Drängen seines Vaters, und zwar Warwara Iwanowna Prosorowskaja, ein schönes, hochmütiges und herrisches Mädchen, das nicht älter als fünfundzwanzig Jahre war. Wahrscheinlich hatte der Vater Suworows die Braut ausgewählt, und sie sollte sich bald schon als charakterlich völlig ungeeignet für diese Ehe erweisen. Sie liebte das Hauptstadtleben, Bälle und war, wie alle Prosorowskis, alles andere als uneigennützig. Später, als das Familienleben der Suworows zerbrach und sich in eine Kette von Auseinandersetzungen verwandelte, bewies Warwara Iwanowna ein immenses Geschick. Sie verstand es, die Meinungsverschiedenheiten zwischen Suworow und Paul I. auszunutzen, und erlangte die persönliche Unterstützung des Zaren, der in einem speziellen Befehl anordnete, Suworow habe alle ihre finanziellen Ansprüche an ihn zu erfüllen. Man sollte es aber nicht zu eilig damit haben, die Gattin Suworows nach einer Verspätung von mehr als zweihundert Jahren zu verurteilen; sie gehörte zu jenem Typ herrschsüchtiger und energischer Frauen des Adels, die, aus der „ungeliebten Kemenate" (Puschkin) befreit, ihren Männern das Kommando bei der Erstürmung von Festungen und bei Seeschlachten überlassend, sich im Alltag wie die Mutter Tatjanas benahmen:
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Sie zankte mit den Ackersleuten, Schor Köpfe, salzte Pilze ein, N a h m alles selbst in Augenschein, Ließ samstags sich ihr Bad bereiten, Ohrfeigte ab und zu die Magd Der Gatte wurde nie gefragt. (2, X X X I I )
U m einen derartigen Charakter objektiv beurteilen zu können, muß berücksichtigt werden, daß aus solchen Familien nicht nur herrschsüchtige Gutsbesitzerinnen vom Typ der Mutter I. S. Turgenjews hervorgingen, sondern auch nicht weniger aufsässige Dekabristenfrauen, deren Entschlossenheit, ihren Ehemännern in die sibirische Verbannung zu folgen, weder der Wille des Zaren noch elterliche Autorität zu brechen vermochten. In der Auseinandersetzung mit seiner Ehefrau zeigte Suworow, so will es zumindest scheinen, eine ihm ganz und gar nicht eigene Unentschlossenheit und erwies sich als unfähig, angemessene Mittel einzusetzen. Er versuchte, dem Drängen und den kunstvollen Intrigen mit einer auf psychologischen Effekt abzielenden Handlung zu begegnen, die eine gewisse Theatralität und aufrichtige Frömmigkeit miteinander vereinte. Er hatte sich eine sonderbare Zeremonie kirchlicher Versöhnung ausgedacht und diese auch vorbereitet. Er wählte dafür eine ärmliche Dorfkirche in einer Siedlung bei Astrachan, wo sich das Ehepaar damals aufhielt. Suworow „erschien in der Kirche" „in einer einfachen Soldatenuniform; seine Ehefrau in ihrem schlichtesten Kleid; auch einige ihnen nahestehende Menschen waren anwesend. In der Kirche fand so etwas wie eine öffentliche Reuekundgebung statt; die Ehemann und seine Gattin zerflossen in Tränen, der Geistliche las ihnen das Glaubensbekenntnis, danach erfolgte die Liturgie, während der die beiden Reuigen das Heilige Abendmahl empfingen". 58 Dieses heikle Ritual hatte einen tieferen Sinn. Die ärmliche und, was noch wichtiger ist, volkstümliche Kleidung sollte den Verzicht der Ehegatten auf Ruhmsucht und Eitelkeit symbolisieren und sie den höheren geistigen Werten zuwenden. Auf Warwara Iwanowna machte diese Vermischung von Kirche und Theater jedoch nicht geringsten Eindruck: Sie wollte keine Symbole, sondern reale materielle Werte. Noch augenscheinlicher wird die Problematik der familiären Situation im Verhältnis Suworows zu seiner Tochter Natascha. Sie war noch ein Kind, als Suworow argwöhnisch Züge seines eigenen Charakters bei ihr entdeckte. Einem seiner Briefpartner schrieb er, daß seine minderjährige Tochter ihren Körper stähle und im späten Herbst barfuß über den gefrorenen Morast laufe. Doch besonders deutlich drückt sich Suworows VerSuworow hatte auch einen Sohn Arkadi, aber der Feldmarschall neigte stärker der Tochter zu. Arkadi wurde nur siebenundzwanzig Jahre alt und ertrank in demselben Rymnik, an dem der Vater jenen Sieg errang, der ihm den Titel ,Der Rymniksche' eintrug.
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hältnis zu seiner Tochter in den Briefen an sie aus. In der Schilderung der Schlacht mit den Türken, an der er teilnahm, überträgt er die Ereignisse in die Sprache kindlich märchenhaften Spiels, aber wie so oft vergißt er dabei alles um sich her und wird selbst zum Spielenden. Nach dem Bruch mit seiner Ehefrau blieb die Tochter bei ihm, und später gab er sie ins Smolny-Institut. Diese Trennung wurde zum Anlaß für eine Reihe von Briefen an Natascha. Sprach Suworow mit Soldaten über seine „Kunst zu siegen", benutzte er deren Redeweise, und ebenso benutzte er in seinem Briefwechsel mit der Tochter die Kindersprache. Das macht seine Briefe doppelt interessant: Einerseits belegen sie, wie sich die kindliche Welt Suworow darstellt, andererseits zeigen sie, wie leicht es ihm fällt, sich in ein Kind zu verwandeln, und das ist kein ,Vorspielen', er verwandelt sich tatsächlich. In den Briefen an „Suworotschka", wie der Feldmarschall seine Tochter nannte, bemüht er sich bewußt, in die Formen ihrer Sprache hinüberzuwechseln, was ihnen besonders zu Beginn des Briefwechsels einen künstlichen Charakter verleiht. Echter kindlicher Ausdrucksweise nähert sich Suworow an, wenn er von der Nachahmung zu erregter, überhasteter Rede übergeht; mit anderen Worten, er entfernt sich von der kindlichen Sprache paradoxerweise gerade dann, wenn er sie zu imitieren sucht. So beschreibt er in einem Brief vom 27. Juli 1789 die Schlacht mit den Türken in einer kindlichen Sprache so, wie er sie sich vorstellt, das heißt in eine Sprache der Spiele: „Am nächsten Tag waren wir mit den Türken im Réfectoire. Ei und ach! Was haben wir uns traktiert! Wir spielten, warfen mit großen bleiernen Erbsen und mit eisernen Kegeln so groß wie dein Kopf; wir hatten auch lange Stecknadeln und auch krumme und gerade Scheren: Da darf man mit Hand nicht hineingeraten, sie wird sofort abgeschnitten, und auch der Kopf". 59 In der Regel bemühte Suworow sich nicht um vollständige metaphorische Bilder. Er benutzte alte folkloristische Bilder, zum Beispiel die Beschreibung einer Schlacht als die eines Gastmahls oder Spiels im „Lied von der Heerfahrt Igors")." Er übertrug seinen Bericht in das Bildersystem von Gastmählern und Spielen: „Danach habe ich kein einziges Mal getanzt", aber gerade hier heißt es dann: „Wir laufen Schlittschuh" - Das war im August, an der Schwarzmeerküste! Die Beschreibungen von Beschaffenheiten: „Wir spielen mit solch großen eisernen Kegeln, so schwer, daß man sie kaum heben kann, und auch mit bleiernen Erbsen" lassen sich leicht dechiffrieren; ihrer Funktion nach sind diese Metaphern Vergleiche und keine Rätsel, aber manchmal verkompliziert sich die Struktur des Bildes, und der Leser kann den eigentlichen Inhalt nicht mehr vom spielerischen Ausdruck trennen. Wenn
* Réfectoire - hier: Speiseraum in der Pension (franz.). ** Vergleiche: „...da beendeten die tapferen Russen das Gastmahl: Sie hatten die Brautwerber trunken gemacht, selbst aber fielen sie für das russische Land" (Das Lied von der Heerfahrt Igors. Leningrad 1952, S. 57).
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Suworow schreibt: „Wir hatten in dieser Nacht starkes Gewitter, und es gab kleine Erdbeben", und danach mitteilt, daß er sich erkältete und krank war: „Ach, was hatte ich für ein Fieber: bewußtlos sank ich ins Gras..." 60 , erlangt das Spiel zwischen ursprünglichen und metaphorischen Gedankengängen einen noch verwickeiteren Charakter. Betrachten wir unter diesem Aspekt einen Brief an die Tochter vom 20. Dezember 1787 aus Kinburn. Die erste Hälfte des Briefes stellt eine deutliche Imitation der kindlichen Sprache dar; aber die Bilder aus der kindlichen Welt und die ausgiebige Verwendung von Verniedlichungs- und Kosesuffixen verschleiern nicht den eindeutigen Sinn des Beschriebenen: „Bei uns gab es heftigere Prügeleien, als wenn ihr euch in die Haare geratet, und als der Tanz endlich vorüber war, ließ ich das Ballett sein... an meiner Seite die Kartätsche eines Kanönchens, und an meiner linken Hand ein Löchlein, und dem Pferd unter mir hat man das Frätzchen weggeschossen: Mit knapper Not kehrten wir nach acht Stunden von dem Theater ins Kämmerchen zurück". Halten wir fest, daß Metaphern dieser Art nicht nur in der Folklore auftauchen, sondern auch in der umschreibenden Soldatensprache als eine bestimmte Kriegslexik auszumachen sind, die wir auch in den Kriegsbriefen Peters I. finden. In der zweiten Hälfte des Briefes nimmt diese Metaphorik jedoch einen wesentlich komplizierteren Charakter an. Der Brief ist aus Kinburn geschrieben, und es bleibt unklar, ob dieser zweite Teil eine Erinnerung an die reale Fahrt zu einem gefahrloseren Ort an einen See ist oder das Produkt einer poetischen Vorstellung, die im Kontrast zum ersten Teil des Briefes ein idyllisches Naturbild liefert: „Uberall tönen die Schwäne, die Gänse und Schlammläufer; auf den Feldern die Lerchen (Im Dezember? - J. L.), die Meislein, die Füchslein, und im Wasser Sterlets und Störe: Unmengen! Entschuldige, mein Freund Natascha; ich hoffe, du weißt, daß mein Mütterchen Zarin mir das Andreasband ,Für Treue und Glauben' verliehen hat". In dem angeführten Zitat wird der Stil hart gebrochen. Das erste Bild, die Traumwelt der Natur in der Welt des Bösen, erinnert an jene Stelle im „Leben" des Protopopen Awwakum, wo der von Verfolgungen erschöpfte Awwakum, mit seiner Familie von Daurien wieder nach Moskau unterwegs, von einem Sturm in die Welt eines irdischen „Naturparadieses" getragen wird: „...nur mit Müh und Not fanden wir am Ufer einen vor den Wogen geschützten Ort. Ringsumher erhoben sich hohe Berge und steile Felsklippen. Obwohl ich über zwanzigtausend Werst zurückgelegt habe, sah ich derartiges noch nie. Hoch oben Vorsprünge... Dort wachsen Zwiebeln und Knoblauch, größer als die Romanowschen Knollen und besonders wohlschmeckend. Dort gedeiht auch Hanf und in den Gärten wunderschöne bunte und überaus wohlduftende Gräser und Blumen. Unzählige Vögel, Gänse und Schwäne schwimmen wie Schnee auf dem See. A n Fischen findet man dort Störe und Forellen, Sterlets und Lachse, Maränen und noch vielerlei andere Arten.... Und das alles hat unser Heiland Jesus Christus für die Menschen erschaffen." 62
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Doch der Schluß der Suworowschen Idylle ist ein krasser Bruch des Stils und des ganzen Briefaufbaus. Der Andreasorden und die Naturidylle passen für Suworow noch zueinander, aber auch hier ist das Bild nicht ganz eindeutig: Der Orden ist für Suworow nicht das Ziel aller Träume wie für den Gogolschen Beamten der „Wladimirorden 3. Klasse". Bei Gogol ist der Orden ein Zeichen von Leere, Ausdruck ohne Inhalt. Für Suworow ist er ein äußeres Zeichen innerer Würde. Das Zeichen gehört zu dem damit Ausgezeichneten wie die Haut oder der Körper. Damit entsteht ein Moment des Ungleichgewichts zwischen der Würde und dem Zeichen. Schon in der Alexandrinischen Epoche, als Uniformen und Orden noch ihren hypnotischen Reiz ausübten, sollte es zum guten Ton gehören, ihnen gegenüber eine scheinbare Verachtung an den Tag zu legen. Nicht nur Karamsin lächelte verlegen, als er sich auf dem Weg zu einem Empfang bei Hofe und in Uniform von dem jungen Puschkin ertappt fühlt, sondern auch Karrieristen wie Alexej Orlow oder M. Woronzow, die es im Freundeskreis für angemessen hielten, sich ironisch über die Orden auszulassen. Die Briefe an die Tochter sind Briefe an ein Kind, und für Suworow stellte die Anteilnahme an der Welt des Kindlichen und der Frauen einen wesentlichen Teil des reizvollen Umgangs mit ihr dar. Diese Welt, ihm einerseits fremd, gleichzeitig aber auch seine eigene, zog ihn an. Seinem Sohn gegenüber verhielt sich Suworow kühler, aber noch bezeichnender ist es, auf welche Weise er sich seiner Tochter, je älter sie wurde, entfremdete. Als „Suworotschka" das heiratsfähige Alter erreicht hatte, begegnete Suworow ihren möglichen Bräutigamen mit unverhüllter Feindlichkeit. Im Sommer 1793 schrieb er D. Chwostow einen wirren, von tiefer Erregung erfüllten Brief: „Die kindliche Flotte stürzte Festungen, Nataschas Kindheit ist gestrandet". 63 Die Aussichten auf eine Heirat Nataschas werden auch, neben dienstlichen Unannehmlichkeiten Suworows, in einem Brief an Chwostow vom April des gleichen Jahres erwähnt: „Ich werde nicht mehr lange leben. O Gott! Der Bräutigam von N(atascha). Wozu noch dem Herrgott die Tage stehlen". 64 Die Heirat der Tochter, die einen gewissen Subow, den Verwandten eines Günstlings Katharinas II. heiratete, führte zur endgültigen Abkühlung ihres Verhältnisses. Suworows Briefe wurden immer kürzer. So bestand beispielsweise ein Brief aus Kiew, vom 20. März 1796, nur noch aus zwei Worten: „Großer Mist". Die Distanz zwischen seiner und der Subowschen Welt hervorhebend, bemerkte er in einem seiner Briefe ironisch, bezüglich aller Anstandsregeln könne Natascha sich bei den Subows kundig machen. Bezeichnender noch als diese ironische Bemerkung ist ein anderes Dokument. 1792 schrieb Suworow auf einem einzelnen Blatt bittere Worte über seine Einsamkeit und den Mangel an *
Uniform und Orden treten in diesem kulturellen Kontext als Synonyme auf: Wie in
F o r m eines Ordens, konnte sich eine Auszeichnung auch in einem neuen Dienstgrad äußern, was sich dann auch in der Uniform widerspiegelte.
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Anerkennung. Er vermerkte nicht ohne Würde: „Ohne Geld, ohne Haus und Garten", „Ohne Freunde und ohne eine Seele - niemand ist (mir) geblieben. ... Ohne Gut habe ich nur noch meinen Namen. Urteilt - Niemand ist geblieben". Und plötzlich, wie in Gedanken versunken, schrieb Suworow noch darunter: „Ich beginne Natascha zu vergessen". 65 Die Kindheit verließ die Seele. Der Suworow der letzten Monate tauschte die fröhlichen Spiele der Infantilität gegen tragische Einsamkeit ein. Das gleiche Spielprinzip bestimmte auch Suworows Verhältnis zu den Soldaten. Diese Seite im Verhalten des Feldmarschalls wurde bereits genügend ausgeleuchtet und bedarf keiner weiteren Erläuterungen. Aber um die psychologisch-kulturelle Seite dieser Frage zu erfassen, dürfte es von Nutzen sein, die Dokumente für eine Minute beiseite zu legen und zu betrachten, wie sich die Persönlichkeit Suworows im Bewußtsein Leo Tolstois widerspiegelte. In Tolstois „Krieg und Frieden" erregt unter den handelnden Personen eine Gestalt Aufmerksamkeit, in der Tolstoi die Züge eines Offiziers und Vertreters der Obrigkeit mit einer gewissen Volkstümlichkeit und väterlicher Hinwendung zu den Soldaten paart. Das ist der Hauptmann Tuschin. Tuschin hat wenig Ähnlichkeit mit einem ,Front-Helden': Er ist schwächlich, klein von Wuchs; in der ersten Fassung unterstrich Tolstoi sogar noch das „Unmilitärische" seiner Züge. Kanonenschüsse „veranlaßten seine schwachen Nerven jedesmal zusammenzuzucken". Er „schleppte sich von einem Geschütz zum anderen", die Kanoniere „überragen ihren Offizier um doppelte Haupteslänge und haben noch einmal so breite Schultern". 66 Diese Züge von Schwäche wurden später herabgemildert, aber das Bild einer durch das Fronterlebnis geläuterten, nicht vorgetäuschten volkstümlichen Kühnheit blieb erhalten. Insbesondere hob Tolstoi das Element des Spiels, der Gleichzeitigkeit von Heroismus und Kindlichkeit im Verhalten seines Helden hervor. „Der kleine Mensch mit den schwächlichen, linkischen Bewegungen ließ sich unaufhörlich von seinem Burschen noch ein Pfeifchen dafür geben, wie er sich ausdrückte, dann klopfte er sie aus, lief nach vorn und schaute unter seiner kleinen Hand nach den Franzosen aus. ,Immer feste, Kinderl', sagte er immer wieder, faßte selbst mit an die Räder der Geschütze und drehte die Schrauben auf. Mitten im Pulverdampf, von den unaufhörlichen Schüssen fast betäubt, die ihn jedesmal zusammenzucken ließen, rannte Tuschin, ohne seinen Nasenwärmer aus dem Munde zu lassen, von einem Geschütz zum anderen, mal zielte er, mal zählte er die Ladungen, mal traf er Anordnungen über Ersatz getöteter oder verwundeter Pferde durch neue und schrie laut dazu mit seiner schwachen, dünnen, unsicheren Stimme. Nur wenn jemand von den Leuten getötet oder verwundet wurde, runzelte er die Stirn, wandte sich von dem Getroffenen ab und schrie ärgerlich auf seine Leute ein, die, wie immer, zögerten, den Verwundeten oder Toten aufzuheben.... dies ganze Durcheinander hatte sich in seinem Kopf zu einer phantastischen Welt geformt, die für
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Dritter Teil
ihn in diesen Augenblicken ein Genuß war. Die feindlichen Kanonen waren in seiner Phantasie nicht Kanonen, sondern Pfeifen, aus denen ein unsichtbarer Raucher hin und wieder Rauchwölkchen ausstieß. ,Da, da hat er wieder gepafft', flüsterte Tuschin vor sich hin, als von dem Berg ein Rauchwölkchen aufstieg und als Streifen vom Wind fortgetrieben wurde. Jetzt müssen wir den Ball erwarten und ihn dann wieder zurückwerfen.' ... ,So, nun kommt unsere Bärin', sprach er wieder zu sich selbst. Bärin hieß in seiner Phantasie die große, veraltete Kanone seiner Batterie. Die Franzosen bei ihren Geschützen kamen ihm vor wie Ameisen. Der hübsche versoffene Kerl Nummer eins beim zweiten Geschütz hieß in seiner Vorstellungswelt ,Onkel'; Tuschin sah ihn besonders häufig an und freute sich über jede seiner Bewegungen. Das Knattern des bald abnehmenden, bald wieder auflebenden Gewehrfeuers am Fuß des Berges kam ihm vor wie das Atmen eines Menschen. Er horchte hin, wie diese Laute leiser wurden und dann wieder anschwollen. ,Da hat sie wieder mal einen tüchtigen Atemzug getan, sieh an', murmelte er. Er selbst kam sich vor wie ein gewaltiger Recke von riesigem Wuchs, der mit beiden Händen Kanonenkugeln gegen die Franzosen schmeißt." D e r Held Tolstois ist natürlich kein Porträt Suworows. Tolstoi überhöhte ihn. E r benutzte die reale historische Person gewissermaßen als Vorbild und gestaltete sie künstlerisch, indem er der Gestalt Suworows entnahm, was, seiner Meinung nach, volkstümlich war. U n d es ist bezeichnend, daß Tolstoi seinen Helden nicht im Vaterländischen Krieg von 1812, sondern in der Atmosphäre der ausländischen Feldzüge zeigte. Suworow war ein Mensch einer anderen Epoche; für den Vaterländischen Krieg brauchte Tolstoi Kutusow. U n d so ist es auch verständlich, daß die Geistesverfassung, die Tolstoi seinen Helden auf dem Schlachtfeld von Borodino verleiht, der Gestalt Tuschins fehlen. Suworow war ein Mensch des 18. Jahrhunderts, und seine Widersprüche waren die seiner Epoche. Einer dieser Widersprüche lag in der Diskrepanz zwischen der von keinerlei Deismus beeinträchtigten, aufrichtigen orthodoxen Frömmigkeit und dem ebenso aufrichtigen Kult des antiken Heroismus der Helden des alten R o m und des alten Griechenland. Die Arbeiten Sallusts, Tacitus', Plutarchs und anderer dieses Kreises las Suworow ständig, und er liebte es, sie aus dem Gedächtnis zu zitieren. Überdies fand er in ihnen Muster zur Nachahmung, und in seinem Stil vermischten sich Umgangssprache und Volkstümlichkeit mit dem Lateinischen entnommener Syntax und „griechischer Brillanz", ein Ausdruck Belinskis. Gleichzeitig kontrastierte für Suworow der Patriotismus mit den inneren Konflikten des Bürgers in ihm. Doch das war eher ein einigendes als ein trennendes Gefühl. Suworow konnte sich über Potemkin und sogar über Katharina erzürnen und offen gegen Paul Front machen, doch er überschritt nie jene Grenze, hinter der die Ablehnung des Systems Vgl. den Brief an „Suworotschka", S. 458.
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begann. Nach den Erinnerungen von Fuks sagte er einmal: „Wären sich Silla (Sulla. - J. L.) und Marius zufällig auf den Inseln der Aleuten begegnet, hätte sich zwischen ihnen keine Rivalität entwickelt; der Patrizier hätte den Plebejer umarmt, und in Rom wäre kein Blut geflossen". 6 7 Hier schimmert offensichtlich Rußland hinter den Aleuten hervor, wo Suworow ebenfalls gern eine Versöhnung zwischen „Patrizier" und „Plebejer" gesehen hätte. Doch sah er darin, trotz seiner tiefen Enttäuschung über Paul, keinen Anlaß, sich gegen Ende der 90er Jahre einer militärischen Verschwörung anzuschließen, wozu ihn, nach kürzlich aufgefundenen Unterlagen, M. M. Kachowski einlud. Suworow verschloß ihm mit der Hand den Mund und sagte: „Schweige, schweige, Bürgerblut". Der zweifellos ,römische' Ausdruck „Bürger" ist hier charakteristisch; Paul haßte ihn und verlangte, man solle ihn durch das Wort ,Kleinbürger' ersetzen. Nachdem die Verschwörung dem Zaren bekannt geworden war, mußte Kachowski am 13. Februar 1800 seinen Dienst quittieren und starb kurz darauf unter ungeklärten Umständen." Vermutlich besteht hier auch ein Zusammenhang zu der Ungnade, in die der siegreich vom italienischen Feldzug zurückgekehrte Feldmarschall fiel: Der feierliche Empfang wurde abgesagt, und Suworow starb einsam im Haus eines Verwandten, des Grafen Chwostow. Die kurze letzte Lebensperiode Suworows war mit zutiefst tragischen Gedanken angefüllt. Der Französischen Revolution gegenüber verhielt er sich, was völlig natürlich war, negativ und trug sich lange mit Plänen eines Feldzuges von Italien aus nach Frankreich. Das heißt jedoch nicht, daß uns seine politischen Sympathien in den letzten Jahren völlig klar sind. Die Geschichte zog Suworow in einen neuen Krieg hinein, in einen Krieg, dessen politische Fragen in einer Reihe mit den strategischen standen. Die türkischen Kriege hatten von dem Strategen keine politischen Überlegungen verlangt, aber bereits in Italien nahmen die Ereignisse einen neuen Charakter an. N a c h den Angaben Suworow nahestehender Personen ist anzunehmen, daß er nach der Vertreibung der Franzosen aus Italien anfangs Überlegungen über eine Einigung Italiens unter der Ägide Österreichs und Rußlands anstellte. Dieser Gedanke erinnert an die politischen Träume Dantes. Aber die Ereignisse zeigten die Unmöglichkeit eines Verbundes mit Osterreich, dessen politischer Egoismus, die blutigen Massaker der Monarchisten in Neapel, sowohl zum militärischen als auch zum politischen Mißerfolg der Ziele des italienischen Feldzuges beitrug. Sogar nach dem Rückzug über die Alpen und den zunehmend komplizierter werdenden Beziehungen zu Osterreich ließ Suworow seine Pläne
* In der gleichen Angelegenheit war Jermolow arretiert und in der Peter-Paul-Festung eingekerkert worden. N a c h der E r m o r d u n g des Zaren wurde er befreit und schrieb mit allerdings unbegründetem Optimismus an seine Zellentür: „Für ewig frei von Verwahrung". Fünfundzwanzig Jahre vergingen, und die Kasematten füllten sich, wie die ganze Festung, mit den verhafteten Dekabristen.
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eines Feldzuges gegen Frankreich nicht fallen. Aber ein bedeutsamer Aspekt ist es dabei, daß er bei seinen Plänen, über die Schweizer Grenze nach Frankreich einzumarschieren, ausschloß, daß sich royalistische Emigranten an den Kriegshandlungen beteiligten, weil sie ganz Frankreich mit Blut tränken würden. So war Suworow gezwungen, sich auch politischen Fragen zuzuwenden, was auf tragische Weise dem Fundament widersprach, auf dem sich sein Patriotismus gründete. Fuks hielt eine äußerst interessante Episode fest. In Prag, wo die Armee sich nach dem Schweizer Feldzug regenerierte, traf Fuks den Oberbefehlshaber bei einer regen und über eine Stunde währenden Unterhaltung an, die Suworow veranlaßte, alle drängenden Angelegenheiten zu verschieben. Es war ein Gespräch mit einem Greis von einfachem Aussehen. Wie sich herausstellte, gehörte Suworows Gesprächspartner zum Orden der „Böhmischen Brüder", den Hussitennachfahren. Das Gespräch berührte auch Jan Hus und das Konstanzer Konzil, und als der Gesprächspartner sich entfernt hatte, begann Suworow über die Besonderheiten künftiger Kriege zu reden. Die türkischen Feldzüge waren seiner Meinung nach keine religiösen oder politischen Glaubenskämpfe gewesen. Suworow sagte: „In der Türkei zwang ich mich in meiner müßigen Abgeschiedenheit, mir den Koran zu deuten, und ich stellte fest, daß Mohammed sich nicht um das himmlische, sondern um das irdische Reich gekümmert hatte". Die künftigen Kriege, deren Herannahen Suworow vorausahnte, würden Kriege der Uberzeugungen sein: „Es ist uns gegeben, ein neues und noch schrecklicheres Phänomen zu erblicken: den politischen Fanatismus!!!" Weiter gab Suworow der Uberzeugung Ausdruck, daß der nahende Kriegssturm Europa und nicht Rußland erfassen werde. Er drängte Fuks, der seine Worte notierte, insbesondere hinzuzufügen, daß hier von der Fremde die Rede sei, daß Rußland die Stille erwarte, und er verband damit die Rückführung der Armee in die Heimat. Aber der Verfasser der Memoiren hielt auch einige merkwürdige, aus dem Munde Suworows völlig unerwartete Worte fest, die uns erstaunlicherweise an die Gedanken Radistschews erinnern: „Ruhe ist Beklemmung, so wie eine Stille über dem Meer der Vorbote eines wütenden Orkans sein kann, wie die unter der Asche schwelenden Kohlen imstande sind, mit ihren Flammen alles zu zerstören". Und er fuhr fort: „Schreibe das letzte für den Grafen Fjodor Wassiljewitsch Rostoptschin auf", 68 das heißt zur Weiterleitung an den Zaren. Suworow blieb bis zum Ende seines Lebens ein Mensch, für den die Idee einer Veränderung der politischen Ordnung mit seinen patriotischen Gefühlen unvereinbar war. Selbst eine Beseitigung Pauls um den Preis von „Bürgerblut" widerstrebte seiner tiefsten Überzeugung. Nichtsdestoweniger ging die Herrschaft Pauls für ihn nicht vergeblich hin. Sie war eine krasse Wende, die zutiefst der Grundidee des 18. Jahrhunderts widersprach, der Würde des Menschen als dessen höchstes Gut. Paul hatte den Zusammenhang dieser Idee mit dem „Jahrhundert der Philosophen" und
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der Französischen Revolution begriffen. Seine Worte, denen zufolge „in Rußland nur der von Bedeutung ist, mit dem der Imperator redet, und solange dieser mit ihm redet", waren keine Despotenlaune, sondern drückten in lapidarer Form die völlige Ablehnung des „Jahrhunderts der Philosophen" aus. Paul war konsequent. Suworow blieb ein Mensch der Epoche Katharinas und war, obwohl er das selbst wohl kaum bemerkte, zutiefst von der ihm innewohnenden Verehrung für den Menschen erfüllt. Im Jahr 1797 schrieb Suworow in einem Brief an den Grafen Chwostow: „Ich bin der General der Generale" - „Das hat man mir nicht unter Parole verliehen". Aber diese zornige Mitteilung endet mit einem bezeichnenden Schluß: „Ich war, Gott behüte, nie gegen das Vaterland". 69 Dennoch vermochte Suworow nicht, den zornigen Ausbruch, den Ausdruck des Gefühls der eigenen Würde, zurückzuhalten. Am 11. Januar 1797 reichte er Paul sein Rücktrittsgesuch ein, wobei er sich auf „eine Vielzahl von Verwundungen und Verletzungen" berief, und am Tag darauf schrieb er einen zweiten Brief. Dieser war zwar an Chwostow adressiert, aber in Wirklichkeit an Paul gerichtet. In den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts schrieb Puschkin das „Fiktive Gespräch mit Alexander I." nieder. Anzüglich vertraute er dem Papier an, was er Alexander gern gesagt hätte. Es war das ein ironisches Spiel mit durchaus ernsthaftem Hintersinn. Suworow spöttelte nicht, er schrieb jenen Brief, den er dem Zaren hätte schicken wollen, aber unmöglich schicken konnte. Wie stets im Briefwechsel mit Chwostow sah er in diesem eine Null, an deren Stelle man sich jeden beliebigen Adressaten, einschließlich sich selbst vorstellen konnte. Suworow schreibt: „Zu Anfang versteckten Ihre Rosen Rußlands Dornen: Die Blätter Ihres Lorbeers verbergen die faule Wurzel, der Baum stürzt. Sonst, Ihnen als einem Weisen glaubend, hätte ich selbst auf die Gefahr hin, meinen Kopf zu verlieren, möglicherweise dem Großen Herrscher so manches Mal, wiewohl mit der Topographie eines Russen, die Opposition eines Preußischen oder anderen Fremdländischen gezeigt". Und am Schluß des Briefes, schon nach der Unterschrift, fügt er hinzu: „Allmächtiger Gott, gib, daß sich das Übel für Rußland 100 Jahre hindurch nicht offenbare, aber daß es auch dann nicht zum Nachteil gereiche". 70 Suworow und Radistschew waren Menschen, die gewissermaßen den beiden Polen ihrer Epoche angehörten. Dies sagend, meinen wir nicht nur die Unterschiede in den Auffassungen und der gesellschaftlichen Stellungen, vielmehr geht es um die verschiedenen Betrachtungsweisen des ganzen Menschenbildes, der Lebensweise, der Kultur, der geistigen Werte. Doch ungeachtet dessen gehören sie einem Jahrhundert an, dem Jahrhundert, das mit ihnen zu Ende ging. Zwischen den Kriegen Suworows und
* Deshalb sind die Briefe an C h w o s t o w reich an Ellipsen und an Gedanken zwischen den Zeilen.
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dem Krieg von 1812 klafft ein tiefer Graben, ähnlich dem, der Radistschew von den Dekabristen trennt. Der Tod ereilte Suworow an einer historischen Wende. Paul überlebte den in Ungnade gefallenen Feldmarschall nicht lange. Es gibt eine biographische Legende. Eine Version geht auf Fuks zurück und weiß zu berichten: „An jenem Tag, an dem mich der Fürst in der Stadt Neutitschein am Grabmal Laudons letztwillig beauftragte, auf seinem Grabmal die Inschrift „Hier liegt Suworow" anzubringen, redete er viel über den Tod und über Grabinschriften, sowie von seinem Wunsch, daß seine Gebeine in der Heimat ruhen mögen". 71 Und es gibt noch eine zweite Variante dieser Geschichte: Nach einer mündlichen Uberlieferung besuchte Dershawin den sterbenden Suworow und antwortete angeblich auf dessen Frage, was er auf den Grabstein des Feldmarschalls schreiben würde, daß es nicht vieler Worte bedürfe, es genüge: „Hier liegt Suworow". Und Suworow antwortete laut dieser Version: „Mein Gott, wie ist das gut!" Mag es so oder anders gewesen sein, auf jeden Fall wurde der Wunsch Suworows erfüllt. Die Stimme, die in ihm erklang, war die eines Menschen, für den nicht Amter, nicht Orden über allem standen, sondern seine unwiederholbare Persönlichkeit. Paul unternahm alle Anstrengungen, um den ,Geist Suworows' in der Armee zu eliminieren. Die Truppenteile der Armee konnten den Sarg des Feldmarschalls nicht geleiten, der Zar befahl sie zu einer Parade. Doch das vergrößerte nur die Autorität des dahingeschiedenen Feldmarschalls. Dershawin widmete dem Tod Suworows zwei Gedichte, das für den Druck bestimmte „Snigir" und das nicht veröffentlichte „Er triumphierte - und lächelte vor sich hin...". Das Gedicht „Snigir" sollte durch das Unerwartete seiner poetischen Sprache als Grundgedanke das Sprunghafte, das Unstabile, das Unberechenbare in der Persönlichkeit Suworows unterstreichen. Demonstrativ verzichtete Dershawin darauf, eine Ode oder eine Eloge auf den Verstorbenen zu verfassen. In dem Gedicht wird der Widerspruch zwischen dem Erhabenen und dem Alltäglichen hervorgehoben, dabei erweist es sich jedoch auf markante Weise, daß in eben diesem Alltäglichen gerade das Erhabene zur Geltung kommt: W e r jagt entflammt vor dem Heer einher Auf einem Klepper, ißt hartes Brot; In Frost und Glut gestählt des Schwertes Wehr, Nächtigt auf Stroh, wacht bis zum Morgenrot.
Besonders bitter klingt der Vers: „Das Zepter reichend, selbst jedoch ein Sklave". Noch direkter äußerte Dershawin seine Gefühle in dem unvollendeten und nicht für den Druck bestimmten Gedicht „Er triumphierte und lächelte vor sich hin...", das künstlerisch zwar nicht an „Snigir" heranreicht, aber unmittelbar die Gedanken des Dichters ausdrückt:
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Er triumphierte - und lächelte vor sich hin, Im Innern seiner Seele ein Tyrann, Auf daß sein Donnergrollen stets Gewinn, Auf daß der letzte Schlag von ihm getan, Dem Helden, den niemand überwand, Der in Schlachten ohne Zahl, In hartem Kampf der Seele widerstand Und nur Verachtung kannte für der Ängste Qual. Dershawin betrachtete das Geschehen d u r c h das Prisma der Ideen des 18. Jahrhunderts und sah darin das Aufeinanderstoßen eines H e l d e n u n d eines Despoten. Auf die gleiche Weise deutete zwei Jahre später der Dichter I. P. Pnin den T o d Radistschews. Diese beiden Ereignisse vollendeten die Epoche der „Menschen des 18. Jahrhunderts".
ZWEI F R A U E N
D . Fonwisin n a h m in seine zu Lebzeiten nicht veröffentlichte 7 2 handschriftliche Zeitschrift „Freund ehrbarer Menschen oder S t a r o d u m " das „Gespräch bei der Fürstin Chaldina" auf, was Puschkin, der darin nicht n u r eine Satire, sondern auch ein wahrheitsgetreues und lebendiges Sittenbild des 18. Jahrhunderts sah, geradezu hinriß. „Dieser Aufsatz ist nicht nur als literarische Rarität bemerkenswert, sondern auch als eine interessante Darstellung der Sitten u n d Ansichten, die bei uns vor etwa vierzig Jahren vorherrschten. Die Fürstin Chaldina duzt den Fürsten Sorwanzow, u n d er duzt sie ebenfalls. Sie zankt mit der Dienerin, weil diese einen Gast nicht in das U b o r n a j a gelassen h a t . , W e i ß t du denn nicht, daß ich es gern habe, mich in Gesellschaft von Männern anzukleiden?' ,Das ist d o c h eine Schmach, Eure Durchlaucht', antwortet die D i e n e r i n . , D u m m c h e n , eine Freude ist das', entgegnet die Fürstin". „Das ist vermutlich alles dem Leben abgelauscht", bemerkt Puschkin (XI, 96). Die Skizze Fonwisins ist tatsächlich ein Sittenbild „der modischen Gesellschaft eines modischen Jahrhunderts". U n d sowohl die Fürstin Chaldina als auch Sorwanzow sind Menschen eines Kreises. D e n Kontrast zu ihnen stellt Rationalow dar, aber die Gestalt des Räsoneurs hätte Fonwisin u m die Möglichkeit einer umfassenden Gegenüberstellung gebracht, u n d deshalb ist es f ü r uns in diesem Falle vorteilhafter, echte D o k u m e n t e be-
* U b o r n a j a ist ein Z i m m e r , in d e m man die M o r g e n k l e i d u n g ablegt, u m sich f ü r den Tag anzukleiden, u n d in d e m man sich frisieren läßt u n d s c h m i n k t . D a s typische Mobiliar eines U b o r n a j a s bestand aus einem Spiegel, d e m Toilettentisch u n d Sesseln f ü r die Gastgeberin u n d die Gäste.
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Er triumphierte - und lächelte vor sich hin, Im Innern seiner Seele ein Tyrann, Auf daß sein Donnergrollen stets Gewinn, Auf daß der letzte Schlag von ihm getan, Dem Helden, den niemand überwand, Der in Schlachten ohne Zahl, In hartem Kampf der Seele widerstand Und nur Verachtung kannte für der Ängste Qual. Dershawin betrachtete das Geschehen d u r c h das Prisma der Ideen des 18. Jahrhunderts und sah darin das Aufeinanderstoßen eines H e l d e n u n d eines Despoten. Auf die gleiche Weise deutete zwei Jahre später der Dichter I. P. Pnin den T o d Radistschews. Diese beiden Ereignisse vollendeten die Epoche der „Menschen des 18. Jahrhunderts".
ZWEI F R A U E N
D . Fonwisin n a h m in seine zu Lebzeiten nicht veröffentlichte 7 2 handschriftliche Zeitschrift „Freund ehrbarer Menschen oder S t a r o d u m " das „Gespräch bei der Fürstin Chaldina" auf, was Puschkin, der darin nicht n u r eine Satire, sondern auch ein wahrheitsgetreues und lebendiges Sittenbild des 18. Jahrhunderts sah, geradezu hinriß. „Dieser Aufsatz ist nicht nur als literarische Rarität bemerkenswert, sondern auch als eine interessante Darstellung der Sitten u n d Ansichten, die bei uns vor etwa vierzig Jahren vorherrschten. Die Fürstin Chaldina duzt den Fürsten Sorwanzow, u n d er duzt sie ebenfalls. Sie zankt mit der Dienerin, weil diese einen Gast nicht in das U b o r n a j a gelassen h a t . , W e i ß t du denn nicht, daß ich es gern habe, mich in Gesellschaft von Männern anzukleiden?' ,Das ist d o c h eine Schmach, Eure Durchlaucht', antwortet die D i e n e r i n . , D u m m c h e n , eine Freude ist das', entgegnet die Fürstin". „Das ist vermutlich alles dem Leben abgelauscht", bemerkt Puschkin (XI, 96). Die Skizze Fonwisins ist tatsächlich ein Sittenbild „der modischen Gesellschaft eines modischen Jahrhunderts". U n d sowohl die Fürstin Chaldina als auch Sorwanzow sind Menschen eines Kreises. D e n Kontrast zu ihnen stellt Rationalow dar, aber die Gestalt des Räsoneurs hätte Fonwisin u m die Möglichkeit einer umfassenden Gegenüberstellung gebracht, u n d deshalb ist es f ü r uns in diesem Falle vorteilhafter, echte D o k u m e n t e be-
* U b o r n a j a ist ein Z i m m e r , in d e m man die M o r g e n k l e i d u n g ablegt, u m sich f ü r den Tag anzukleiden, u n d in d e m man sich frisieren läßt u n d s c h m i n k t . D a s typische Mobiliar eines U b o r n a j a s bestand aus einem Spiegel, d e m Toilettentisch u n d Sesseln f ü r die Gastgeberin u n d die Gäste.
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nutzen zu können, obwohl, wie Puschkin anmerkt, das von Fonwisin entworfene Bild dokumentarische Genauigkeit besitzt. Wie es häufig vorkommt, spielte hier das Talent des Schriftstellers eine zwiespältige Rolle. Fonwisin zeichnete treffend die Charaktere von Menschen, die eine - die ,modische' - Seite des gesellschaftlichen Lebens repräsentierten. Aber die Geschichte produziert ständig Mythen über sich selbst, und so wird ein markant hervorstechender Zug der Epoche für die Nachfahren zu ihrem Gesamtbild. Als die Romantik die Aufklärung ablöste, schufen die Kinder satirische Mythen über die Väter: Der wahren Kunst zu lieben rühmte Sich einst die schamlos unverblümte Genußsucht... Dies ekle Spiel entsprach den Tücken Verlebter Affen aus der Zeit großväterlicher Herrlichkeit, Doch roter Absatz und Perücken Sind längst schon ganz und gar verstaubt, und Lovelace um den Ruhm beraubt. (4, VII) Der romantische Mythos und die Feder der Satiriker produzierten ein einseitiges Bild der Epoche, die doch reich, kompliziert und widerspruchsvoll war. Selbst ein Stutzer des 18. Jahrhunderts entsprach häufig nicht jener Karikatur, die sich fest in unser Bewußtsein eingeprägt hat. Die Gestalt des „russischen Rastlosen", die F. Dostojewski bewegte, tauchte auch im 18. Jahrhundert auf. Karamsin bezeichnete sie als einen feinfühligen Seismographen. Desto wichtiger ist es jedoch, jene kulturelle Tradition aufzuhellen, die nicht mit dem Auf und Ab der Mode verbunden war, sondern entschieden tiefergehende Prozesse der Charakterbildung widerspiegelte. Der Charakter, den wir als einen „Menschen des 18. Jahrhunderts" bezeichnen, bildete sich erst heraus, als das Jahrhundert zum Gegenstand von Überlegungen wurde und der Mensch anfing, in den Spiegeln der Epoche nach seinem eigenen Bild zu suchen. Nicht zufällig begann die Literatur dieser Periode, wie W. Belinski in seinen letzten Aufsätzen registrierte, mit A. Kantemir, mit Satiren. Dies war kein Resultat von Altersweisheit, sondern von jugendlicher Ungeduld, der Kehrseite des Aufbruchs zu dem Ideal, das sich später in den Gedichten Lomonossows geltend machte. Im realen Leben, im Dasein der Menschen, spiegelte sich dieser Aufbruch mit aller Macht in den weiblichen Charakteren wider. Wir wollen aus dem umfangreichen Kreis der Quellen zwei auswählen, die zum einen die Tragödie des Fürsten Iwan Alexejewitsch Dolgoruki und der Fürstin Natalja Borisowna Dolgorukaja (geborene Scheremetjewa) rekonstruieren, und zum anderen das Leben Alexander Matweje-
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witsch Karamyschews und seiner Ehefrau Anna Jewdokimowna. Eine solche „Gabel" (wir benutzen hier einen Terminus der Artillerie) erlaubt es erstens, die Periode zwischen den 30er und den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts zu erfassen, und zweitens die Lebensweise in den Familien von den höchsten Spitzen bis zur Klasse der einfachen Adligen zu durchleuchten. In der ersten Episode werden wir auf die Nachkommen der alten Bojarengeschlechter stoßen, die mit Verachtung auf die neu arrivierten „Jungen aus Peters Nest" und auf den kurländischen Adel der Epoche Anna Iwanownas blickten, und in der zweiten Episode werden wir hineingezogen in das Familiendrama eines adligen Gelehrten, der von seinen Eltern „13 Seelen männlichen Geschlechts im Kreis Tscheljabinsk, im Jekaterinburger Gebiet, und 6 Seelen im Tobolsker Kreis" 7 3 geerbt hatte. Die Überschneidung dieser so unterschiedlichen und doch so ähnlichen Tragödien wird uns die vielfältigen Züge dieser Epoche erhellen. Natalja Borisowna
Dolgomkaja
Wenn wir uns in die Tragödie der Fürstin Natalja Borisowna Dolgorukaja vertiefen, wird uns ein mit Schmerz gepaartes Gefühl der Verzückung erfassen. In dem Konflikt, den wir betrachten wollen, spielen das weibliche Schicksal und der weibliche Charakter die dominierende Rolle. Dieses Schicksal und dieser Charakter sind von einer Schönheit, die den Historiker unwillkürlich auf den gefährlichen Weg abenteuerlicher Metaphern und allzu effektvoller Verallgemeinerungen abdrängen könnte. Ein bemerkenswertes Detail ist die Tatsache, daß das Leben Natalja Borisowna Dolgorukajas zu einem Sujet wurde, das viele Poeten, insbesondere Iwan Koslow, anregte. Ihr Leben rekonstruierend, unterwarfen sie die Realität dem romantischen Kanon und poetisierten sie. Aber die Wirklichkeit ist in diesem Fall poetischer als ihre Poetisierung und erschreckender als der romantische Schrecken. Am Beginn des kulturellen Porträts Natalja Dolgorukajas sollte die Erinnerung an ihre Herkunft stehen, ungeachtet dessen, daß ihre Eltern starben, als sie noch ein Mädchen war, und ihre Verwandten auf sie verzichteten, nachdem sie begonnen hatte, sich auf den Weg zu ihrem Golgatha zu machen. Eine kurze, aber historisch exakte Charakteristik des Geblüts Natalja Borisownas gab Puschkin. In seinem Gedicht „Poltawa" erscheinen neben Peter dem Großen Auch Scheremetjews edles Geblüt, Und Brjus, und Repnin, und Bour, Und des Glückskinds unedles Gemüt, Der Macht Halbbrudernatur. Scheremetjew und Menschikow erscheinen hier als die „Jungen aus Peters Nest" und werden gleichzeitig einander gegenübergestellt. „Edel" ist in
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diesem Fall keine Metapher oder hervorzuhebende Charaktereigenschaft, sondern ein exakter Hinweis auf den Stammbaum. „Edel" und „unedel" bezeichnen die Pole des Petrinischen Umkreises. Scheremetjew war wahrhaft „edel". Er gehörte einem alten Geschlecht an, das in der weiblichen Linie mit der Zarenfamilie verwandt war. Dieses Geschlecht verfügte über keinerlei enge Bindungen zu den Spitzen der vorpetrinischen Gesellschaft, doch es nahm in ihr einen festen Platz ein. In gewisser Hinsicht begann die „Petrinische Reform" bereits vor Peter, und die Scheremetjews gehörten zu jener Moskauer Aristokratie, die bei der Verwirklichung der Reform Hand angelegt hatte. „Unter dem Zaren Alexej Michailowitsch entdeckten einige ... ihre Vorliebe für ausländische Sitten. Wir wissen, daß der Protopope Awwakum den früh verstorbenen Matwej Wassiljewitsch Scheremetjew, der aus dem Kreis seiner Verwandten herausragte, beschuldigte, sich in eine ,unzüchtige' Gestalt verwandelt zu haben. Das heißt, Matwej Wassiljewitsch hatte seinen ,Bart abgenommen.' 74 Diese zweifache kulturelle Orientierung prägte den künftigen Feldmarschall bereits in seinen jungen Jahren. Einerseits war er durch die Kiewer Akademie mit der vorangegangenen Epoche verbunden: Sein ganzes Leben hindurch bewahrte er sich die Verehrung für die Kiewer Heiligtümer und bat sich sogar aus, im Falle seines Todes im Kiewer Kloster begraben zu werden. Andererseits stand Scheremetjew gleichzeitig unter dem Einfluß eines typischen Menschen der petrinischen Epoche, des Ausländers Gordon, der die Truppen in der Ukraine befehligte. Die Beziehung Gordons zu dem Vater Boris Scheremetjews hatte nicht nur dienstlichen Charakter; Kiew verlassend, vertraute dieser seinen Sohn Gordon an. Die Beziehungen der Familie Scheremetjew zu dem jungen Peter am Beginn von dessen selbständiger Regierungstätigkeit sind uns nicht ganz klar, deshalb können wir auch nicht genau erklären, warum Peter I. ausgerechnet Boris Petrowitsch Scheremetjew mit der Durchführung einer vermutlich wichtigen Aufgabe betraute. 1697 begab sich Boris Scheremetjew unter dem Namen Rittmeister Roman auf eine Auslandsreise. Er besucht Krakau, wo er mit König August II. zusammentraf, und führte in Wien Gespräche mit Kaiser Leopold I. Hierfür wurden ihm, im Zusammenhang mit den Plänen zu einem Bündnis gegen die Türken, überaus verantwortungsvolle Verhandlungen anvertraut. Diesen wichtigen Auftrag konnte Peter I. nur einem ihm seiner Auffassung nach äußerst nahestehenden Menschen übertragen. Aber dieser Auftrag enthielt zu diesem Moment noch nichts, was über die Grenzen der damals schon beschrittenen Wege hinausführte. Im weiteren nun begann das Unerwartete. Scheremetjew begab sich in der für einen russischen Diplomaten seltsamen Gesellschaft des Jesuiten Wolf nach Rom, wo er vom Papst empfangen wurde und dessen Pantoffel küßte. Danach reiste er auf die Insel Malta, wo er seemännische Kenntnisse bewies, als er während einer Seeparade das Ehrenkommando über die Flotte übernahm. Als erster Russe erhielt Scheremetjew den Orden und die Insignien eines Malteser Ritters. Sich für einen Tag
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im Kiewer Kloster aufhaltend, abweichend von seiner direkten Reiseroute, um den Reliquien der heiligen Gerechten seine Ehrerbietung zu erweisen, eilte er nach Moskau weiter, um im Malteser Ordenskleid, und natürlich rasiert, vor Peter zu erscheinen. Der Zar empfing ihn außerordentlich gnädig. Diese ganze Episode ist nur eine der extravagenten Einzelheiten dieser bunten Epoche: Ein russischer Bojar wird zum Malteser Ritter. Aber wir stoßen noch auf eine wesentlich interessantere Erscheinung. Der Strelitzenaufstand, der die sofortige Rückkehr des Zaren nach Moskau erforderlich machte, zerstörte einen grandiosen und vermutlich sehr teuren Plan des Zaren. Dadurch läßt sich vielleicht zu einem Teil auch das überaus grausame Verhalten Peters den Strelitzen gegenüber erklären. Das Ziel der Pläne waren die Zugänge zum Mittelmeer. So entstand die Idee eines vereinten Schlages Europas gegen die Türken. Peter hatte vorgehabt, von Holland aus, nach Besuchen in London und Paris, nach Wien zu reisen, wo er sich mit Scheremetjew treffen wollte. Auf diese Weise sollten sich die beiden Fäden Vatikan - Malta und Holland - England - Frankreich miteinander verknüpfen. Der Moskauer Aufstand verhinderte das; die Geschichte erzwang eine Änderung der Pläne. Unter den „Jungen aus Peters Nest" nahm Scheremetjew einen besonderen Platz ein. Er war untrennbar mit der vorpetrinischen Zeit verbunden, und die Feinde der Reform setzten ihre Hoffnungen manchmal in ihn. Doch ungeachtet dessen erwies er sich, ein Mensch dieser petrinischen Epoche, als lebendiger Beweis für die Begrenztheit der Reform selbst und ihres Zusammenhangs mit der Dynamik der voraufgegangenen Periode. Die gleichen Züge sehen wir auch bei seiner Tochter, die eng mit der nationalen Tradition verbunden war und uns psychologisch an die überaus duldsame Ehefrau Awwakums, Markowna, erinnert und gleichzeitig in Sprache und Erziehung der neuen Zeit angehört. In seinem Alltag war der Marschall Scheremetjew kein Mensch des Alten und lebte in seiner häuslichen Atmosphäre nach europäischer ,Manier'. Aber er war auch kein Emporkömmling, kein „neuer Mensch" der petrinischen Epoche. Die Bindungen des Scheremetjewschen Alltags an die vorpetrinische Tradition waren tief und beeinflußten die Erziehung seiner zahlreichen Kinder: aus der ersten Ehe die Töchter Sofja, Anna und der Sohn Michail, aus der zweiten die Söhne Pjotr und Sergej und die Töchter Natalja, Wera und Jekaterina. Natalja Borisowna, die 1714 geboren wurde, wird auch eine der Heldinnen unserer Erzählung sein. Die andere uns interessierende Person ist Iwan Alexejewitsch Dolgoruki, dem es beschieden war, der Gatte Natalja Borisownas zu werden. Über Iwan Alexejewitsch Dolgoruki ist eine große Anzahl von Zeugnissen erhalten geblieben. Eines davon ist seine von Natalja Borisowna verfaßte Biographie, die allen Regeln literarischer Lebensbeschreibungen entspricht, allerdings mit der Einschränkung, daß sie von der Hand einer von tiefer Zuneigung erfüllten Frau geschrieben wurde, deren Gefühl Prüfun-
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gen ausgesetzt war, die auch in der Danteschen Hölle Platz gefunden hätten. Aber in den Meinungen über den Fürsten Dolgoruki lassen sich auch andere Stimmen unterscheiden. Etwa die Ansicht eines glühenden Gegners der Dolgorukis, des gebildeten und klugen, aber prinzipienlosen und von Leidenschaften getriebenen Feofan Prokopowitsch: „Dieser Iwan stürzte das Geschlecht eher ins Verderben, als daß er ihm hilfreich zur Seite stand, denn er war schon von seiner Natur aus bösartig und dazu noch durch solch ein Glück (hier ist die Rede von der Günstlingswirtschaft. - J. L.) hochmütig und machte sich über nichts Gedanken, er verachtete nicht nur alle, sondern jagte vielen Angst ein; je nach Laune erhöhte er die einen und erniedrigte die anderen, und er jagte oft selbst auf den Pferden und von Dragonern umgeben, Staunen erregend und in Windeseile durch die ganze Stadt; aber auch in der Nacht drang er als peinlicher und befremdlicher Gast in ehrbare Häuser ein und ließ seiner Dreistigkeit derart freien Lauf, daß er damit, gleichsam absichtlich, außer dem Neid ob des zufälligen Ruhms auch den gerechten Haß allen Volkes auf sich und auf seine ganze Familie zog." 75 Eine etwas objektivere Charakteristik finden wir in den Berichten des spanischen Botschafters, des Herzogs de Lira: „Der Fürst Iwan Alexejewitsch Dolgorukow unterschied sich durch ein gutes Herz. Der Herrscher liebte ihn dermaßen zärtlich, daß er für ihn alles tat, und er liebte den Herrscher ebenso. Geist besaß er sehr wenig, und überhaupt keinen scharfen Verstand, dafür aber viel Selbstgefälligkeit und Hochmut, wenig Geistesschärfe und keinerlei Neigung zu Arbeitseifer; er liebte die Frauen und den Wein; arglistig war er jedoch nicht. Er wollte den Staat regieren, wußte aber nicht, wie das anfangen; grausamer Haß vermochte ihn zu entflammen; Erziehung und Bildung besaß er nicht; mit einem Wort, er war sehr einfach." 76 Die Zeugnisse der Zeitgenossen über den Charakter Dolgorukis sind widerspruchsvoll. Aber dieser Widerspruch ist nicht nur in den Standpunkten der Memoirenverfasser zu suchen, sondern auch im widersprüchlichen Charakter des Fürsten Iwan Alexejewitsch. E r konnte grausam und rachsüchtig sein, als er zum Günstling aufgestiegen war, aber man erzählt sich, daß der Fürst Iwan, als Peter II. vorhatte, einen ihm vorgelegten Ukas über irgendjemandes Hinrichtung zu unterschreiben, den Herrscher ins O h r biß und auf die erstaunte Frage nach dem Grund dafür, diesem riet sich vorzustellen, um wieviel schmerzhafter als ein Biß ins O h r das Abschlagen eines Kopfes sei. Der Fürst Dolgoruki war leichtsinnig und sorglos und fälschte einmal mit dieser Leichtfertigkeit die Unterschrift Peters II., wobei er nicht voraussah, wie dieses gefälschte Dokument von den selbst zur Macht Drängenden, dem Vater, dem Onkel und den Verwandten Peters, verwendet werden würde. Wir werden sehen, wieviel Unglück diese Leichtfertigkeit seiner Gattin, die ihn heiß liebte, eintrug. Indessen werden wir auch sehen, mit welchem wahrhaft übermenschlichen Mut er die schreckliche Hinrich-
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tung ertrug, als man ihn auf Befehl Annas auf dem Sumpf in Nowgorod vierteilte, indem man ihm nacheinander das rechte Bein, den linken Arm, das linke Bein, den rechten Arm und den Kopf abschlug. Leichtsinnig, ungebildet, leidenschaftlich jeglichen Zerstreuungen nachjagend, war er durchaus ein Mensch seiner Zeit. Die Väter hatten dem Staat und dem Herrscher gedient, hatten gekämpft und Werke errichtet. Die Kinder wollten Macht und Zerstreuung. Arbeiten wollten sie nicht. In dieser Hinsicht ist ein Mensch charakteristisch, mit dem das Schicksal Iwan Dolgorukis unauflöslich verbunden war - Peter II. Der Sohn des von Peter I. hingerichteten Zarewitsch Alexej erinnerte wenig an seinen Vater. Von Gestalt glich er seinem Großvater. Mit zehn Jahren erschien er bereits großjährig, er erhielt eine gute ,europäische' Ausbildung, beherrschte einige Sprachen, darunter Latein. Sein erster Erzieher, Menschikow, wollte den Zaren in das Werkzeug seiner ehrgeizigen Pläne verwandeln, aber in dem Erzieher lebte auch noch die Tradition Peters des Großen: Er zwang den künftigen Zaren mit Strenge zum Lernen und gab ihm zu diesem Zweck mit Ostermann einen weiteren petrinischen Berufenen zur Beaufsichtigung an die Seite. Aber die politischen Konflikte der Epoche erfaßten schon früh den kindlichen Zaren, und der Unterricht, der für ihn gleichsam den Zwang verkörperte, langweilte ihn. In dem Bewußtsein, nunmehr das Haupt des Staates zu sein, benahm Peter II. sich nicht wie der Großvater, der rigorose Durchsetzer der Umwandlungen, und auch nicht wie der Vater und märtyrerhafte Träumer von einer Rückkehr zum Vergangenen, sondern wie ein Mensch der nachpetrinischen Generation, der, begierig auf maßlose Vergnügungen, Verbote und Pflichtgefühl verwarf. Die machtlüsternen Dolgorukis und ein ganzer Strauß bezaubernder junger Frauen mit der schönen Tante Jelisaweta Petrowna an der Spitze, die mit dem ihr an Statur beinahe schon ebenbürtigen Neffen kokettierte, ließen ihn durch Feste, Jagden, Bälle und andere Zerstreuungen nicht zur Besinnung kommen. Und so ist es nur um so interessanter, daß der scharf beobachtende spanische Botschafter plötzliche Anfälle von Melancholie und Übersättigung bei dem jungen Zaren bemerkte. Dessen unerwarteter Tod brach alle weiteren Wege jäh ab: Er wurde von den Blattern befallen und starb überraschend in der Nacht vom 18. auf den 19. Februar 1730 (neuen Stils). Der Tod des Kaisers traf Iwan Dolgoruki auf dem Höhepunkt der endlosen Festlichkeiten am Vorabend der Heirat seiner Schwester, die die machtgierigen Dolgorukis mit dem Zaren verheiraten wollten, um damit ihre Vormachtstellung am Hof endgültig zu festigen. Gleichzeitig plünderte das zahlreiche Geschlecht der Dolgorukis, insbesondere der gierige Vater des Günstlings mit einem, nach Worten des Herzogs de Lira, 77 „sehr begrenzten Verstand", den Staatsschatz. Nach ihrem Sturz wurde im „Moskauer Kreml ein spezielles Zelt zur Durchsicht der von ihnen zurückgeholten Wertgegenstände errichtet". 78 Die Geschichten über die Gelage und
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Exzesse Iwan Dolgorukis machten in ganz Moskau die Runde. Ü b e r eine Generation hinweg gelangten sie auch bis zu dem Fürsten Stscherbatow: „Der Fürst Iwan Alexejewitsch Dolgorukow war jung, liebte das lockere Leben und besaß alle Leidenschaften, denen junge Leute unterworfen sind, die keinen Grund haben, diese zu bezwingen. Trunksucht, Üppigkeit, Ehebruch und Gewalt traten an die Stelle der einstigen Ordnung. Als ein Beispiel, zur Schande jenes Jahrhunderts, nenne ich eine Liaison, oder besser gesagt, er wandte sich unter anderem, um der Unzucht zu frönen, der Gattin F. N. J. T.s (des Fürsten Nikita Jurjewitsch Trubezkoi. - J. L.), geborene G... (Nastasja Golowkina. - J. L.) zu und lebte nicht nur mit ihr in aller Offenheit, sondern trank bei Besuchen bei F. T. (Fürst Trubezkoi - J. L.) mit anderen seiner jungen Spießgesellen bis zum Umfallen, schlug und beschimpfte den Gatten, damals Offizier der Kavaliergarde im Rang eines Generalmajors, der die ihm von seiner unzüchtigenden Gattin angetane Schmach geduldig ertrug. Und auch ich selbst hörte einmal, daß er im Haus des F. T. gewesen wäre, diesen gar übel beschimpft hätte und schließlich sogar aus dem Fenster hatte werfen wollen.... Doch weder eine noch mehrere Frauen vermochten seine rasende Leidenschaft zu befriedigen, die weibliche Bereitschaft zur Unzucht raubte ihm schon ein Teil seines Vergnügens, und zuweilen bemächtigte er sich der Frauen, die zu seiner Mutter kamen, um ihr die Ehre ihres Besuchs zu erweisen, und tat ihnen Gewalt an". 79 Das also war der Bräutigam, den die leidenschaftlich in ihn verliebte, sechzehnjährige Natalja Scheremetjewa erwählt hatte. Die Verlobung wurde luxuriös ausgerichtet; die festliche Handlung fand beinahe gleichzeitig mit der feierlichen Verlobungszeremonie des Zaren Peters II. und der Fürstin Dolgorukaja, der Schwester des Günstlings, statt. So vollzogen sich die Vorbereitungen zweier Eheschließungen vor dem Hintergrund einer komplizierten Verflechtung von persönlichen und politischen Interessen. Der umfangreiche, aber keineswegs einträchtige Clan der Fürsten Dolgoruki war bestrebt, sich alle Quellen der staatlichen Macht und des Reichtums zu sichern. Die Politik war für sie nur ein Mittel, um sich Zugang zu Ämtern und Vermögen zu verschaffen. Konkurrenz fürchtend, gingen sie sogar ein taktisches Bündnis mit ihren ständigen Rivalen, den Fürsten Golizyn, ein. Die Golizyns, Nachfahren des litauischen Fürsten Gedimien, gehörten dem Lager der alten Aristokratie an, das noch tief im Alten wurzelte, aber zu dieser Zeit bereits eine kulturelle Umschmelzung erfahren hatte. Verwandt mit dem Günstling der Regentin Sofia, standen die Golizyns den ,westlichen' Kreisen der vorpetrinischen Herrschaft nahe. Sie waren eine Familie, in der sich europäische Bildung und Bojarenargwohn gegen die Selbstherrschaft vereinigten. Nicht das vorpetrinische Altertum erstrebten sie, sondern den schwedischen aristokratischen Konstitutionalismus. Der spanische Herzog de Lira merkte in seinem Bericht an, daß „das Haus Golizyn, das während der Herrschaft der Dolgorukis einen Niedergang erlebt hatte, das Haupt erhob und dem
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Gedanken nachhing, eine der englischen ähnelnde Regierungsform einzuführen". 80 Am 10. Februar 1720 berichtete der spanische Botschafter über die Absicht der Prinzessin Anna Iwanowna, den russischen Thron zu besteigen: „Diese Nachricht erfüllte all jene mit Freude, die den Staat als Republik regieren wollten". 81 Darunter ist natürlich eine feudal-aristokratische Republik mit einer fiktiven Macht des Herrschers zu verstehen. Die Golizyns begriffen sich selbst eher als europäische Feudalherren denn als alte Moskauer Bojaren. Diese Stimmung bezeichnete der Fürst Dmitri Michailowitsch Golizyn als ein hochfliegendes „Ideechen" der Würdenträger: „Das Mahl war bereitet, aber die Geladenen erwiesen sich als unwürdig; ich weiß, daß ich ein Opfer des Mißerfolgs dieser Angelegenheit sein werde. Mag es so sein, ich werde für das Vaterland leiden; mir ist nicht beschieden, noch lange zu leben; aber jene, die mich zum Weinen zwingen, werden noch mehr weinen als ich". 8 2 Es ist nicht ganz klar, wen D. Golizyn mit seiner Prophezeiung meinte, die egoistischen Dolgorukis oder den Adel, der den Würdenträgern feindlich gesonnen war, aber er sollte sich hier mit seiner Weissagung wirklich als Prophet erweisen. Das Lager derjenigen, deren Haß der reichen Würdenträger-Aristokratie galt, war nicht einheitlich. Dazu gehörten auch solche Mitstreiter Peters wie der aus „Peters N e s t " kommende, zwar aufgeklärte, aber in Intrigen verstrickte Feofan Prokopowitsch, und die Theoretiker des Absolutismus, die Schüler Pufendorfs, die in der Selbstherrschaft den kürzesten Weg zur Aufklärung sahen: der Historiker Wassilii Tatistschew und der Dichter Antioch Kantemir, sowie auch die gewaltige Menge der unbedeutenderen „Schlachta", die nicht an der Verbreitung der Aufklärung, sondern an der Ausweitung der Leibeigenschaft interessiert war und mit verzehrendem Neid auf den Reichtum der Würdenträger blickte. Die „Schlachta" wollte weder Reformen noch Aufklärung, sondern nur die an die Macht gelangten „zufälligen Menschen" zu Fall bringen, um deren Plätze unter sich aufzuteilen. Und schließlich und endlich siegte sie auch. Der plötzliche Tod des jungen Zaren mischte die Karten neu. Die Dolgorukis bemühten sich vergeblich darum, ihre Macht, die allein auf dem unsicheren Fundament der Günstlingswirtschaft beruhte, zu erhalten und unternahmen Versuche, die man nur mit ihrer Verwirrung und der Bereitschaft, ihren Reichtum auch mit verbrecherischen Mitteln zu verteidigen, erklären kann. Die verliebten Augen Natalja Scheremetjewas sahen nur die ergreifende Gestalt ihres Bräutigams, den der unerwartete Tod des Zaren in Verzweiflung gestürzt hatte. Von ihrem Fenster aus beobachtete sie das Begräbnis-Zeremoniell: Vorweg schritt der geistliche Würdenträger, * „Ideechen" - eine verächtliche ironisierende Verkleinerung von „Idee"; von Feofan Prokopowitsch in Umlauf gebracht.
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„dann trug man, wie es bei derartigen allerhöchsten Begräbnissen üblich zu sein pflegt, die Staatswappen, die Kavaliersinsignien, verschiedene Orden und die Krone; in diesem Zug schritt auch mein Bräutigam vor dem Sarg einher, auf einem Kissen trug er die Kavaliersinsignien, und zwei Begleiter stützten seine Hände. Mein Mitgefühl vermochte nicht, ihn in solch einem Zustand zu sehen: das überlange Trauergewand, der Flor auf dem Hut bis zum Boden, das Haar aufgelöst, und selbst so bleich, daß alles Leben entflohen schien. Gegenüber meinen Fenster angekommen, blickte er auf mit tränenerfüllten Augen und mit einem Zeichen oder einer Miene, die besagen sollten: Wen tragen wir zu Grabe? Zum letzten, letzten Mal begleite ich ihn. Ich wurde ohnmächtig und fiel gegen das Fenster, konnte vor Schwäche nicht einmal mehr sitzen."83 Man kommt nicht umhin, den charakteristischen Zug der Epoche zu bemerken. Die unmittelbare, den Leser ergreifende Aufrichtigkeit schließt nicht aus, daß unter der Feder Natalja Dolgorukajas ein wahrhaft künstlerischer Text entsteht, in dem sich, wie auch in ihrem Bewußtsein, die sichtbaren alltäglichen Bilder und Realitäten mit rhetorischen Wendungen verbinden; bezeichnend sind Worte wie „Miene" im Sinne von „Gesichtsausdruck", wie „Kavaliersinsignien" u.a. In der Phrase „Wen tragen wir zu Grabe? Zum letzten, letzten Mal begleite ich ihn", fällt der Ubergang von der ersten Person Mehrzahl zur Einzahl und die unmotivierte Wiederholung auf. Das erklärt sich daher, daß der erste Teil des angeführten Auszugs ein Zitat aus der berühmten und damals allen bekannten Rede Feofan Prokopowitschs anläßlich des Begräbnisses Peters I. ist und der zweite Teil ein unmittelbarer Ausruf persönlichen Schmerzes. Die letzte Szene jedoch, der Fall der weinenden Braut gegen das Fenster, konnte natürlich nicht mit der Hand der vorpetrinischen Bojarentochter geschrieben werden. Die Erinnerungen wurden 1762 verfaßt, und der Widerhall des neuen Verhältnisses zu den eigenen Gefühlen ist in der aufrichtigen Erzählung Natalja Borisownas spürbar. Aber nicht alle blickten mit solchen Augen auf die Dolgorukis. Die Fürstin selbst erinnert sich, wie sie am Tag der Ankunft Anna Iwanownas in Petersburg in ihrer Kutsche vorüberfuhr: „Als ich nach Hause fuhr, mußte ich an den Regimentern vorbeifahren, die sich zum Spalier aufgestellt hatten. ... Mein Gott! Ich sah damals die Welt nicht und wußte vor Scham nicht, wohin man mich fährt und wo ich bin. Die einen schreien: ,Das ist die Braut unserers Vaters!' Sie laufen auf mich zu: ,Mütterchen, wir haben unseren Herrscher verloren!' Andere schreien: .Unsere Zeit ist vorbei, jetzt ist nicht mehr die alte Zeit!' Und ich sah mich gezwungen, das alles zu erdulden, war froh, daß ich meinen Hof erreichte und Gott mich aus solch einem Sodom herausgetragen hatte" (S.14). In der Stadt breiteten sich Gerüchte und Klatsch aus, die von der deutschen Presse, die begierig alle Wendungen der Tragödie in Moskau verfolgte, aufgriff. Man erzählte sich, daß der Fürst Iwan Dolgoruki, kaum
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daß Peter II. seinen Geist ausgehaucht hatte, mit gezogenem Degen aus dem Schlafzimmer in den Saal gelaufen sei, in dem sich der Senat und die höchsten Würdenträger versammelt hatten, und sie zu zwingen versuchte, den Eid auf seine Schwester abzulegen. Dieses Gerücht entbehrt zwar jeder Wahrscheinlichkeit, aber es ist doch recht bezeichnend. Vermutlich waren die Gerüchte und das Gerede, die durch Petersburg liefen, von offener Feindseligkeit den Dolgorukis gegenüber geprägt. Alle sahen deren Sturz voraus. Inzwischen unternahmen die Würdenträger letzte verzweifelte Versuche, sich an der Macht zu halten. Der Plan, die Braut des Herrschers, die Fürstin Dolgorukaja, auf den Thron zu lancieren, wurde sofort als unrealistisch verworfen, aber im Verlauf seiner Erörterung wurde ein gefälschtes Testament Peters II. zugunsten Jekaterina Dolgorukajas verfertigt, unter das der Fürst Iwan leichtsinnig den nachgeahmten Namenszug des Zaren setzte. Es besteht Grund zu der Annahme, daß er sich zu dieser Unterschrift auf das drängende Bitten der älteren Dolgorukis hin herbeiließ und sich des Heiklen seiner Handlung nicht einmal bewußt war. Die Verschwörer bekamen es aber mit Angst, und das gefälschte Dokument wurde nicht benutzt, doch die zerstrittenen und verärgerten Dolgorukis vermochten das Geheimnis nicht für sich zu behalten, und das obskure Gerücht darüber sickerte in die Gesellschaft ein. Feofan Prokopowitsch hielt die Meinung „jener, die nicht leichtfertig und rasch erwogen" (zweifellos auch seine eigene) fest: „Aber die vorsichtigen Köpfe durchschauten und mutmaßten etwas, nämlich daß die oberen Herrschaften eine andere als die frühere Art der Herrschaft errichten wollten, und daß sie in ihren zahlreichen nächtlichen Besprechungen beabsichtigten, die Zarenmacht einzuschränken und sie mittels einiger ausgedachter Argumente nicht nur zu überwinden, sondern die Selbstherrschaft kurzerhand zu beseitigen". 84 Die „vorsichtigen Köpfe" mutmaßten das Folgende: Nachdem sie die Pläne einer Thronbesteigung durch die Herrscherbraut verworfen hatten, planten die Dolgorukis anderes. Die männliche Erbfolge des Geschlechts der Romanows war durch den Tod Peter II. unterbrochen, aber es gab weibliche Anwärterinnen. Die älteste Tochter des Zaren Iwan, eines Bruder Peters I., kam nicht in Frage, weil sie mit einem Ausländer, einem mecklenburgischen Herzog, verheiratet war, aber es gab noch die Prinzessin Elisabeth, Tochter Peters I. und folglich die direkte Thronerbin. Doch die Würdenträger bevorzugten die in Mitau regierende, verwitwete Herzogin von Kurland, die kinderlose mittlere Tochter des Zaren Iwan, Anna Iwanowna. Sie unternahmen verzweifelte Schritte zur Erhaltung der Macht und boten Anna Iwanowna in Mitau, als angeblich gemeinschaftlich vorschlagene Bedingung für ihre Inthronisierung die Selbstherrschaft beschränkende „Konditionen" an. Anna willigte ein und begab sich nach Moskau, wo die Dolgorukis und Golizyns sie gleichsam wie eine Mauer umgaben und jegliche ihrer Kontakte mit ihnen feindlich Gesonnenen zu verhindern suchten. Es ist allerdings anzunehmen, daß Anna Iwanowna
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schon bei ihrer Ankunft in Moskau informiert worden war und nur vorgab, mit den „Konditionen" einverstanden zu sein. Auch die Gegner der Würdenträger hatten ihr Eilboten gesandt. Die Würdenträger hielten sie nach ihrer Ankunft in Moskau wie eine Gefangene, aber auch das erwies sich als vergeblich. So erzählte man sich zum Beispiel, daß Feofan Prokopowitsch, der Anna als geistlicher Beistand auf die Krönung vorbereiten sollte, ihr eine Uhr schenkte, unter deren Zifferblatt sich Zettel mit politischen Informationen befanden. Das „Ideechen" gelang nicht. Mächtig, von gewaltiger Statur und um einen ganzen Kopf größer als die sie umgebenden Männer, zerriß Anna Iwanowna öffentlich die „Konditionen" und zog Wassili Lukitsch Dolgoruki als Rache dafür, daß er „die Herrscherin nasführen" wollte, öffentlich an der Nase. Darin zeigte sich der Scharfsinn der neuen Kaiserin. Das Los der Dolgorukis war entschieden. Die Verlobung und die Hochzeit Natalja Scheremetjewas und Iwan Alexejewitsch Dolgorukis fanden unter völlig verschiedenen Bedingungen statt. Die Verlobung wurde am Weihnachtsvorabend 1729 in Moskau, auf der Wosdwishenka im alten Haus der Scheremetjews, wie eine staatliche Feierlichkeit begangen. Der Verlobungsring des Bräutigams hatte zwölftausend Rubel gekostet, der Ring der Braut sechstausend. Natalja Borisowna wurde mit Geschenken überhäuft, die sie bald nicht mehr auseinanderhalten konnte: Preziosen, Ringe, Pelze, seltene orientalische Stoffe. Der junge Zar nahm an der Festlichkeit teil, und niemand wäre auf den Gedanken gekommen, daß er nur noch wenige Monate zu leben hatte. Das kurze Glück Natalja Dolgorukis währte von Weihnachten 1729 bis Ende Januar 1730. Uber diese Tage schrieb sie: „Alle riefen: ,Ach, wie ist sie glücklich!' Meinen Ohren war es nicht unangenehm, das zu hören; und ich wußte nicht, daß dieses Glück sein Spiel mit mir treiben würde: Es zeigte sich mir nur, damit ich wissen sollte, wie die von Gott gesegneten Menschen im Glück leben. Aber ich verstand damals nichts, die Jugend meiner Jahre ließ es nicht zu, daß ich mir Gedanken über die Zukunft machte; ich freute mich darüber, mich in einem solchen Wohlgefallen erblühen zu sehen. Es schien, als mangele es an nichts; einen lieben Menschen vor Augen, und nur von dem Gedanken erfüllt, daß dieses Liebesbündnis bis zum Tode unauflöslich sein wird, und dazu noch die natürliche Ehre, der Reichtum, und von allen Menschen verehrt; jeder sucht Gunst, empfiehlt sich meiner Protektion; denken Sie nur, ein fünfzehnjähriges Mädchen und diese Glückseligkeit! Ich meinte nicht anders, als daß sich für mich die ganze himmliche Sphäre verändert hätte" (S. 5-5). Doch mit dem unerwarteten Tod des Zaren fand, nach den Worten der Fürstin Dolgorukaja, „ihre ganze trügerische Hoffnung ein Ende". „Mir geschah", schrieb sie, „was Nathan, dem Sohn des Königs David, geschah: Er kostete vom Honig und mußte sterben. So erging es auch mir: Für sechsundzwanzig Tage Glückseligkeit, man könnte auch sagen freudvolle Tage,
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leide ich vierzig Jahre hindurch bis auf den heutigen Tag; auf jeden dieser Tage kommen um ein weniges zwei Jahre" (S. 7 - 8 ) . Auf Befehl der Zarin Anna Iwanowna schickte man die Dolgorukis zuerst in entlegene Dörfer, aber unterwegs erreichte diese der neue Befehl, den Fürsten Alexej mit seiner Ehefrau, dem Sohn und der Tochter, mit der „gebrochenen Braut" Peters II., den Söhnen und Töchtern und der Schwiegertochter Natalja Borisowna in einen fernen Winkel Sibiriens zu verbannen, in jenes Beresow, wohin nicht allzu lange zuvor die Dolgorukis gemeinsam mit der Familie den von ihnen gestürzten Menschikow verbannt hatten. Jedem von ihnen wurde lediglich ein Diener erlaubt, und die Zahl der Fuhrwerke wurde begrenzt. Die ständig miteinander streitenden Dolgorukis, insbesondere der weibliche Teil der Familie, verbargen nicht ihre Feindseligkeit der sechzehnjährigen Braut gegenüber, und diese, vollkommen auf das Leben am Hofe vorbereitet - sie beherrschte Fremdsprachen, tanzte gut und war eine Liebhaberin fröhlicher Feste und schöner Pferde - , vermochte sich überhaupt nicht vorzustellen, wohin man sie fuhr und was sie dort erwartete. Die Dolgorukis führten, zu recht oder zu unrecht, eine Anzahl von Schätzen mit sich, und der alte Fürst lieh, schon in Sibirien unterwegs, eine gewisse Summe Geld; die Sibirier wußten, wie veränderlich' die Schicksale am H o f waren und liehen den verbannten Würdenträgern gern. Die unerfahrene Natalja Borisowna hatte fast nichts mitgenommen. Es war ihr lediglich gelungen, bei ihrer Erzieherin eine geringfügige Summe zu leihen. Die treue deutsche Lehrerin, die in der Scheremetjewschen Familie aus irgendeinem Grund „Madame" genannt wurde, begleitete die Fürstin nach Sibirien, blieb bei ihr, solange es ihr erlaubt wurde und gab ihr bei der Trennung ihr ganzes Geld. Unter diesen schwierigen Bedingungen begann sich der edle Charakter Natalja Borisownas zu zeigen. Aus der zänkischen und ständig streitenden Familie Dolgoruki ragte sie durch Selbstaufopferung und Standhaftigkeit heraus. Die Fürstin Dolgorukaja schreibt: „So schwer es mir auch fiel, aber ich sah mich gezwungen, meinen Geist zu verschleiern und meinen Gram um den geliebten Mann zu verbergen; er hat ohnehin schwer genug an seinem eigenen Leid zu tragen und muß dabei noch mich sehen, die ich um seinetwillen zugrunde gehe. Ich habe nicht an ihren Freuden teilgenommnen, aber im Leid war ich ein Gefährte und dabei noch der jüngste, der jedem gefällig zu sein hatte. Ich hoffte auf meine Wesensart, um jedem zu Diensten sein zu können."(S. 23) Die Reise durch Sibirien war lang und sehr schwierig. Bis Kasimow fuhr man noch auf trockenen Wegen. Danach mußte man auf einen Schleppkahn umsteigen und den Weg zu Wasser fortsetzen. Hier war Natalja Borisowna gezwungen, sich von ihrer deutschen Erzieherin zu trennen, über die sie mit großer Wärme und Dankbarkeit schreibt: „Meine Erzieherin, der ich von meiner Mutter anvertraut worden war, wollte mich nicht allein lassen, sie reiste mit mir in das Dorf und glaubte, daß wir die
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böse Zeit dort verleben würden, aber es fügte sich anders, als wir dachten, sie war gezwungen, mich zu verlassen. Ein fremdländischer Mensch, vermochte sie nicht, die Rauheit zu ertragen, aber sie tat soviel sie tun konnte in diesen leidvollen Tagen, ging auf das unglückliche Schiff, auf dem wir reisen sollten, säuberte dort alles, dichtete die Wände ab, damit keine Feuchtigkeit eindringen konnte und ich mich nicht erkältete, stellte einen Pavillon auf, schlug eine Kammer ab, in der wir uns aufhalten konnten, und netzte alles mit ihren Tränen." (S. 33) Alle Schwierigkeiten der Reise, die über die Kraft dieses „fremdländischen Menschen", der Natalja Borisowna aufrichtig liebte, gingen, ruhten nun auf den Schultern der verwöhnt aufgewachsenen „kleinen Fürstin", die eben erst sechzehn Jahre alt geworden war. Das Alte und das Neue waren im Charakter Natalja Borisownas organisch miteinander verflochten. In Gewohnheiten und Sprache war sie ein Kind ihrer Zeit. In ihren Erinnerungen finden sich Äußerungen wie „Ich werde mit niemandem Korrespondenz pflegen können", „Für die Gesellschaft, die neben mir sitzt", „um nicht zu lachen beim Anblick solch einer lächerlichen Pose". Sie vergaß ihren hohen Stand auch in Sibirien nicht, so beklagte sie sich darüber, daß sie „keine niedere Sklavin hat", und als sie in der Verbannung einem Offizier begegnete, der „sich selbst für einen sehr besonderen Menschen" hielt, für den es sich „nicht ziemte, mit uns zu reden", konnte sie nicht umhin zu bemerken: „Stammt von Bauern ab und hat sich den Rang eines Hauptmanns erdient". Bei Menschen des 18. Jahrhunderts, wie Awramow oder Opotschinin, führte der Zusammenstoß von Altem und Neuen zum Verlust der inneren Homogenität. Bei Natalja Borisowna Dolgorukaja brachte die gleiche Kollision eine außerordentliche Ganzheit des Charakters hervor. Das zeigte sich besonders in ihrem Verhältnis zur Religion. Ihr Ehemann und auch das ganze Milieu, in dem sie sich vor der Verbannung bewegt hatte, gehörten nicht zu den freizügig denkenden Kreisen, aber hier war Religion Gewohnheit und Tradition, floß mit dem Alltag zusammen und betonte wesentlich stärker das System der traditionellen Riten als das geistige Suchen. In diesem Umkreis zeichnet Natalja Borisowna sich durch die Aufrichtigkeit und die Tiefe ihres religiösen Gefühls aus. Hier vereinigten sich der Charakter, das Gefühl und die Gedanken der,Ehefrau des einstigen Günstlings' mit volkstümlich-religiösen Vorstellungen, die sehr weit von dem ,Bojaren'-Bewußtsein entfernt waren. Am Beginn ihrer „Aufzeichnungen" schreibt sie: „Nicht immer sind die Edelgeborenen glücklich; häufig sind die aus den vornehmen Häusern Hervorgegangenen unglücklich, und die Niedriggeborenen werden zu großen Menschen, erlangen Reichtum und hohe Amter. Das bestimmt Gott. Als ich zur Welt kam, so hoffe ich, segneten alle Freunde meines Vaters und die Bekannten unseres Hauses den Tag meiner Geburt, freuten sich mit meinen Eltern über meine Geburt und dankten Gott für die Geburt einer Tochter. Mein Vater und meine Mutter hatten die Hoffnung,
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ich würde ihnen im Alter ein Trost sein. U n d es hatte den Anschein, als sollte es innerhalb der Grenzen dieser Welt an nichts mangeln... Aber Gottes Richterspruch gleicht nicht ganz der Bestimmung des Menschen. E r hat nach seinem Willen für mich ein anderes Leben bestimmt, das nichts und niemand, auch ich nicht, vorausahnen konnte." (S. 2 - 3 ) .
So dachte eine Frau, die alle Unbilden des Lebens überstanden hatte und die nach ihren eigenen Worten von Natur aus „eine große Neigung zur Fröhlichkeit besaß". Das Leben ließ sie weise werden, aber es zerbrach die Fürstin Dolgorukaja nicht. Bei starken Charakteren vergrößert das U n glück nur das Verlangen nach dem Ideal. Das tiefe religiöse Gefühl wurde zur organischen Grundlage des Lebens und des Alltagsverhaltens. Der Verlust aller materiellen Werte des Lebens rief einen intensiven geistigen Ausbruch hervor. Liebe, Sanftmut, wahrer Heroismus zeigt sich in dem Verhältnis der Fürstin zu ihrem unglückseligen Gatten, den sie „mein Gefährte" und „mein Mitleidender" nennt. Sie schreibt sogar gleichzeitig mit diesen Erinnerungen eine Beschreibung seines Lebens, in der sie ihren sündhaften und sorglosen Ehemann in einen heiligen Märtyrer verwandelt. Im folgenden Teil dieses Kapitels wird der Leser sehen, wie die Verfasserin einer anderen Erinnerung sich selbst zu einer Märtyrerin stilisiert und ihren Ehemann zu einem seelenschwachen Sünder macht. Die sanfte, liebende Dolgorukaja dagegen sieht in ihrem Mann einen Heiligen und hebt dort, wo sie über sich selbst redet, die Züge menschlicher Schwachheit hervor. Die Schwächen Iwan Alexejewitschs, und wie wir gesehen haben, gab es sie, blieben auch nach all dem Erlebten erhalten. Er war gutgläubig und sorglos. Der beinahe ans Ende der Welt Verbannte - Beresow lag in einer ungesunden, feuchten Gegend, und die Festung, in der die Arrestanten eingeschlossen leben mußten, war von allen Seiten von Wasser umgeben machte bald neue Bekanntschaften. Die fürsorgliche Behandlung durch den örtlichen Wojewoden ausnutzend, der auf sibirische Art gastfreundlich war und in dieser gottverlassenen Gegend fast vor Langeweile starb, begann der Fürst Iwan sich Gäste einzuladen und die Festung zu eigenen Besuchen zu verlassen. Auch der mit einem Sonderbefehl aus Tobolsk entsandte Major der sibirischen Garnison, Petrow, nahm die Dolgorukis unter seine Fittiche. Alle Schwierigkeiten lasteten auf Natalja Borisowna. Mit ihren beiden Söhnen, von denen der jüngere von Geburt an kränkelte, verlebte sie all diese Jahre, sommers wie winters, in einem Schuppen, dessen Boden nur aus festgestampfter Erde bestand, Wärme spendeten lediglich zwei schnell errichtete Ofen. Iwan Alexejewitsch verzichtete auch in dieser Zeit nicht auf die Zerstreuungen, die Beresow einem Verbannten bieten konnte. Er trank und praßte mit Bekannten und Unbekannten und plauderte im Rausch und in seiner kindischen Naivität mehr aus, als für ihn gut war. Bei diesem trunkenen Bramarbasieren redete er auch über die Kaiserin. Und natürlich fanden sich Leute, die Dolgoruki denunzierten. Man schickte einen Haupt-
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mann des Sibirischen Korps, Uschakow, einen Verwandten des gefürchteten Chefs der Geheimen Kanzlei gleichen Namens, nach Beresow, einen geschickten und, wie anzunehmen ist, erfahrenen Untersuchungsrichter, der entschlossen war, auf Kosten fremden Blutes Karriere zu machen. Er kam inkognito in die Stadt, und es fiel ihm leicht, das Vertrauen Iwan Alexejewitschs zu gewinnen. Er trank mit ihm, animierte ihn zu leichtfertigen Reden, und als er genügend Material für ein Untersuchungsverfahren zusammengetragen hatte, reiste er wieder ab. Der sorglose Fürst Iwan geleitete ihn wie einen aufrichtigen Freund. Inzwischen braute sich über ihm ein unvermutetes Ungewitter zusammen. Aus Tobolsk kam der Befehl, den Fürsten Iwan von seiner Familie zu trennen und streng zu halten. Man sperrte ihn in ein feuchtes Erdverließ. Natalja Borisowna war verzweifelt: „Man hatte mir mein Leben weggenommen, den beispiellos gütigen Vater und Ehemann, mit dem ich meine Ära zu Ende bringen wollte; auch im Gefängnis war ich seine Gefährtin; diese schwarze Hütte, in der ich mit ihm lebte, war mir fröhlicher erschienen als die Prunkgemächer der Zaren" (S. 15). Eingekerkert in eine Art Kellergefängnis, das an ein Grab erinnerte, ließ man den Fürsten Iwan hungern und gewährte ihm nur so viel Nahrung, daß er eben noch am Leben blieb. Mit Tränen und Flehen gelang es Natalja Borisowna, die Wachen zu rühren, und diese, selbst einiges riskierend, denn die Denunzianten lauerten überall, erlaubten ihr, ihm in der Nacht Essen durch das Fenster zu reichen. Uschakow und der Oberleutnant Wassili Suworow, der Vater des Generalissimus Suworow, führten in Tobolsk das Untersuchungsverfahren durch, in dessen Verlauf der Fürst Iwan grausamen Folterungen unterzogen wurde. Im Kerker wurde er mit Händen und Füßen an die Wand gekettet. Er fiel in geistige Umnachtung und erzählte schließlich sogar von Umständen, nach denen ihn während des Verhörs niemand gefragt hatte, von der Verfertigung des falschen Testaments Peters II. und von seiner gefälschten Unterschrift unter diesem Dokument. Das entschied nicht nur das Schicksal des Fürsten Iwan, sondern zog auch die ganze Sippe der Dolgorukis in diese Angelegenheit mit hinein. Man begann sie an verschiedenen Orten des Landes zu verhaften und in der Festung Schlüsselburg festzusetzen, wohin man auch den Fürsten Iwan Dolgoruki überführte. Hier begannen neue Verhöre und Folterungen. Die Angelegenheit endete mit einer gewaltigen Anzahl von Hinrichtungen. Nicht nur die Dolgorukis wurden schonungslos bestraft, sondern auch die Beamten, Offiziere und Soldaten, die mit ihnen in Beresow verkehrt hatten. Den Geistlichen, die nicht weitergegeben hatten, was ihnen während der Beichte zur Kenntnis gelangt war, riß man die Nasenlöcher auf und schlug sie mit Peitschen. Am schrecklichsten hatte der Fürst Iwan Alexejewitsch zu büßen: Auf dem Sumpf in Nishni Nowgorod, wo die Hinrichtung stattfand, wurde er gevierteilt (nach einer anderen Version wurde er aufs Rad geflochten). Laut Gott anrufend, ertrug er die Qualen mit außerordentlicher Standhaftigkeit.
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Der leichtsinnige Stutzer und Geck, der Vergnügungen nachjagende Günstling, all das war von ihm abgefallen. Er wurde plötzlich zu einem russischen Bojaren unter der eisernen Faust Iwans des Schrecklichen. Beim russischen Adel hatte sich noch die alte Vorstellung erhalten, daß eine Hinrichtung um der Uberzeugung willen, wegen der Teilnahme am Kampf um die Macht und wegen der Verteidigung der Ehre nicht schändlich sei. Überdies verwandelte sie den, der gestern noch ein Intrigant und ein Ehrgeizling gewesen war, in einen Märtyrer. Diese Auffassung hat Puschkin sehr präzise wiedergegeben, indem er dem Vater Grinjows das Bedauern darüber in den Mund legte, daß man seinem Sohn nicht eine ehrenvolle Hinrichtung, sondern nur eine ehrlose Vergebung zugestand: „Die Kaiserin hat ihm die Hinrichtung erspart! Wird mir dadurch leichter? Nicht die Hinrichtung ist entsetzlich: Mein Urahn starb auf der Richtstätte, weil er das verteidigte, was er für das Heiligste seines Gewissens" ansah; und mein Vater hat gemeinsam mit Wolynski und Chrustschow gelitten". Als die Fürstin Natalja nachträglich ihr Leben überblickte und in einer der Varianten ihrer Erinnerungen ihren leichtfertigen Ehemann als einen Märtyrer und Dulder beschrieb, erfüllte sie nicht nur eine Liebespflicht. Vermutlich hatte sich ihrem Blick etwas offenbart, das tatsächlich in ihm gewesen war, sich aber erst im Augenblick der Hinrichtung manifestiert hatte. Niemand hielt es für nötig, Natalja Borisowna über die Hinrichtung ihres Gatten zu unterrichten, und so wartete und hoffte sie noch, als die zerhackten Glieder ihres Ehemanns längst im Nishni-Nowgoroder Sumpf vergraben worden waren. Auf ihr Gesuch, sie mit ihrem Gatten zu vereinigen, gleichviel welches Schicksal er erleiden sollte, hatte sie keine Antwort erhalten. Erst nach dem Tode Anna Iwanownas gestattete man ihr, aus Beresow zurückzukehren. Die Fürstin Dolgorukaja widmete sich der Erziehung ihrer Söhne. Der kränkliche jüngere Sohn starb sehr jung, und als der ältere herangewachsen war, wurde sie zur Nonne und nahm den Namen Niktaria an. Ihre Erinnerungen, die sie für den älteren Sohn und ihre Schwiegertochter schrieb, bleiben eines der ergreifendsten Dokumente, die einen Einblick in die Seele einer Frau des 18. Jahrhunderts gewähren. Anna Jewdokimowna
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Die Erinnerungen Anna Jewdokimowna Labsinas (nach der ersten Ehe Karamyschewa) wären richtiger „Eine Lebensbeschreibung, von ihr selbst verfaßt" zu nennen. Dieser Titel würde sofort auf eine bestimmte Tradition hinweisen, deren Aspekte das Verständnis dieses Textes erleichtern. Natürlich wird der Leser sich an „Das Leben des Protopopen Awwakum, *
P u s c h k i n unterstreicht mit der ihm eigenen T i e f e , d a ß der U n t e r g a n g f ü r eine Sache,
die ein M e n s c h aufrichtig vertritt, d u r c h die E t h i k der E h r e gerechtfertigt w i r d , selbst w e n n sie sich d e n A u g e n der N a c h w e l t beispielsweise als Vorurteil darstellt.
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von ihm selbst aufgezeichnet" erinnern. In noch stärkerem Maße kommt einem das Bild der Bojarin Morosowa in den Sinn. Doch ist das reale Schicksal der Verfasserin dieser Memoiren, obwohl sie eine Verbannung um ihrer Uberzeugungen willen zu erdulden hatte, nicht dem Schicksal der Märtyrer des „rechten alten Glaubens" 85 gleichzusetzen. Aber in solchen Fällen ist die eigene Beurteilung der Weltsicht eines Menschen nicht weniger von Bedeutung als die ,objektive' Einschätzung eines außenstehenden Beobachters. Die Labsina sah ihr Leben als lange, qualvolle Prüfung an, als den „schmalen Weg" eines moralischen Aufstiegs durch die Welt sündiger Verführungen zum Allerheiligsten. Der frivole Ehemann, der, wenn auch nicht ohne eine gewisse natürliche Warmherzigkeit, sein Leben in sündiger Widerwärtigkeit verbringt, ein schwacher, in den Abgründen körperlicher Vergnügungen versinkender Mensch, ist ein zentrales Sujet ihres Berichts. Das andere ist sie selbst, die beharrlich, durch seelische und körperliche Qualen, auf dem Pfad der Tugend wandelt. Und obschon ihr Ehemann die Verkörperung eines Verführers darstellt, ist er andererseits der Lehrer, der sie beherrscht und sich ihren störrischen Willen mit Zärtlichkeiten und Moralpredigten unterwirft. Es fällt nicht schwer, in diesem Sujet die unveränderlichen Muster einer Tradition zu erkennen, die von der Memoirenliteratur bis zu den Büchern des englischen Mystikers, John Bunyan reicht, dessen Werke sich in Rußland großer Popularität erfreuten. Unter dem Namen Johann Bjunan erschienen hier in den 80er Jahren des 18. Jahrhunderts mehrere Auflagen. Unrealistisch wäre es, die Erinnerungen A. E. Labsinas als naive f o t o grafische' Wiedergabe der Wirklichkeit zu verstehen, wie es viele ihrer Kommentatoren tun. Diese letzteren ähneln einem Richter, der die Aussagen einer der klagenden Seiten völlig der Wahrheit gleichsetzt und sich dabei darauf beruft, daß ihm der Standpunkt der anderen Seite unbekannt ist. Anna Jewdokimowna Labsina hat ihr Leben beschrieben, und unsere Aufgabe ist es nun, diese Lebensbeschreibung als Material für die Analyse der historisch-psychologischen Realität zu verwenden. U m die Wahrheitstreue des Textes beurteilen zu können, muß man vor allem die Position wiederherstellen, von der aus er geschrieben wurde. Dafür ist es von Nutzen, die Aufmerksamkeit nicht nur darauf zu konzentrieren, was die Autorin des Textes gesehen hat, sondern auch darauf, was sie nicht sah, was außerhalb der Grenzen ihrer Sichtweise lag und wofür sie weder Augen noch Worte hatte. Was also sah Anna Jewdokimowna Labsina, und was sah sie in ihrem ersten Ehemann nicht? Bei aller Ausführlichkeit der Memoiren finden wir nicht ein einziges Wort darüber, was die Grundlage des Lebens Karamyschews ausmachte. Die Verfasserin zeigt ihn uns nur in den Minuten, in denen sie ihn sieht. Gleichviel, ob er nach wissenschaftlichen Forschungen an der Küste des Weißen Meeres wieder in der Tür ihres Petersburger oder des Nertschins-
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ker Hauses steht, er kommt immer „nirgendwoher", und geht er durch die gleiche Tür wieder fort, begibt er sich in ein „nirgendwo". Doch die Welt Anna Jewdokimownas ist eng begrenzt. Es ist die Welt des Rechtmäßigen, ihre Stube und ihr Schlafzimmer. Aus dieser Welt führen zwei Türen hinaus: die eine auf den Weg des Heils, auf den sie der Lehrmeister führen wird, der andere auf den Weg der Sünde. Dieses räumliche Modell entspricht für die Verfasserin der Memoiren im vollen Wortsinn der alltäglichen Realität. Alle Gegenstände, Ereignisse, Menschen werden in diesem Raum aufgenommen und erhalten, unabhängig davon, welchen Platz sie darin einnehmen, ihre Rollen zugewiesen, die sie in der von der Verfasserin beschriebenen Welt zu spielen haben. Sie führt dem Leser gleichsam das Schauspiel ihres Lebens vor, wobei sie den Akteuren gebieterisch die Gesten und Monologe zuteilt. Ins Auge fällt das Ubermaß der direkten Rede, wobei alle von ihr erwähnten Menschen ein und dieselbe Sprache sprechen, die ihre. Halten wir noch fest, daß der Zeitraum, der zwischen der Niederschrift und den dargestellten Ereignissen lag, ein Vierteljahrhundert betrug. Wir wollen uns eines Verfahrens der zeitgenössischen Kinemathographie bedienen, um den theatralischen Monologismus zu überwinden; wir werden den Blickwinkel krass verkürzen und dabei sehen, was hinter den Grenzen der theatralischen Szenerie geblieben ist, auf der die Labsina ihre Memoiren spielen läßt. Wer also war ihr Ehemann, dieser Alexander Matwejewitsch Karamyschew? Karamyschew war ein armer „sibirischer Adliger", Waise und nahezu ohne Vermögen; sein Stand erinnerte an den Status der „Eingehöftler". Aufgewachsen war er, dank der Gunst des wohlhabenden Gutsbesitzers E. J . Jakowlew, der ihm sterbend seine minderjährige Tochter als Gattin ans Herz legte, in dessen Haus im Uralgebiet. Auch Karamyschews Mutter hatte als wohlgelittene Gnadenbrotempfängerin lange Zeit im Hause Jakowlews gelebt. Die berufliche Karriere Karamyschews machte vor dem Hintergrund des üblichen Weges eines russischen Adligen im 18. Jahrhundert einen recht exotischen Eindruck. Ein Dienst in der Armee oder in der Garde wird nirgendwo erwähnt. Man schickte Karamyschew auf die Jekaterinburger Bergakademie und später auf das Gymnasium an der Moskauer Universität. Der Besuch der Universität war mit dem Recht verbunden, einen Offiziersrang zu bekleiden, und so stiegen die jungen Adligen, nachdem sie das Diplom erhalten hatten, gewöhnlich in die Uniformen. Karamyschew ging einen anderen Weg: Er reiste ins Ausland und trat in die Universität in Upsala ein. In Fällen wie diesen fielen die staatlichen Unterstützungen in der Regel bescheiden aus. Und da wir keine Angaben über die Hilfestellung irgend eines,reichen Wohltäters' besitzen, dürfen wir das Leben eines jungen, kaum über Geldmittel verfügenden adligen Studenten im Ausland als sicher nicht leicht annehmen. Selbst mehr als ein Jahrhundert später noch war der verhältnismäßig wohlhabende, allerdings von sei-
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ner geizigen Mutter abhängige und im Ausland studierende Andrej Kaisarow gezwungen, sich in Göttingen „von den dünnen deutschen Suppen zu ernähren" und in London von Brot und Zwiebeln. Aber diese profanen Schwierigkeiten konnten die Erfolge Karamyschews nicht beeinträchtigen. Zu seinem wissenschaftlichen Mentor wählte er den großen Linné, und allein schon diese Tatsache zeugt von der außerordentlichen Vorbereitung und von den Interessen A. M. Karamyschews. U n d es ist noch bezeichnender, daß auch Linné sich für den jungen russischen Studenten entschied und sich bereit erklärte, dessen wissenschaftliche Interessen aktiv zu unterstützen.Unter der Anleitung Linnés und des Chemikers und Metallographen Valerius belegte Karamyschew die Kurse der natürlichen Wissenschaften' und der Chemie und promovierte 1756 in lateinischer Sprache mit der Dissertation „Über die N o t wendigkeit der Entwicklung der natürlichen Geschichte in Rußland". „Diese Dissertation ... war wahrscheinlich von Linné angeregt worden, der noch 1764 an den damals in Barnaul lebenden schwedischen Pastor und Naturforscher E. Laksmann geschrieben hatte, daß er daran denke, Karamyschew zu einer Dissertation über irgendein Gebiet aus der natürlichen Geschichte Sibiriens zu veranlassen; Laksmann hat dann auch viel Material zu der Dissertation Karamyschews beigetragen". 86 Latein gehörte nicht zur üblichen Bildung eines russischen Adligen des 18. Jahrhunderts. Es war eher eine Art,Lackmuspapier', ähnlich wie die französische Sprache als Zeichen adliger Bildung galt, womit sich die Vorstellung von einem weltmännischen Gallomanen verband, während die lateinische Sprache von den Adligen gewissermaßen als ein Merkmal „degoutanter" Gelehrsamkeit und Pedanterie angesehen wurde, mit dem gebildete Popensöhne zu prahlen pflegten. Wie tief Karamyschew in die lateinische Sprache eindrang, belegt ein Lateinisch geschriebenes Gedicht zum Lob der Wissenschaft, das er in Upsala verfaßte. Als Karamyschew nach Rußland zurückkehrte, schickte man ihn in die Bergwerke von Petrosawodsk, wo er sich so gut einführte, daß er rasch aufstieg. Danach folgten verschiedene Tätigkeiten. Karamyschew erhielt eine Dozentenstelle an der Petersburger Bergakademie. Die vorbildliche Tätigkeit an hervorragender Stelle brachte ihm die persönliche Bekanntschaft mit Potemkin ein, die Teilnahme an den Hoffestlichkeiten und bot ihm, was nicht unwichtig war, die Möglichkeit, zu unterrichten und die wissenschaftliche Arbeit zu leiten. Er hätte zufrieden sein, den ganzen Rest des Jahrhunderts auf seinem Posten verbringen und die Einnahmen für sein Alter zurücklegen können. Aber die Wissenschaft ließ ihn nicht los. Keine andere Aufgabe reizte ihn mehr als eine dienstliche Reise zum Weißen Meer, wo er in von Wasser umspülten Erdhütten hausen und, aus Petersburger ,Sicht', auf alle Annehmlichkeiten verzichten mußte; und er erreichte, daß man ihn nach Sibirien entsandte. Hier entwickelte Karamyschew energisch eine sehr fruchtbare organisatorische Tätigkeit, moderni-
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sierte die Silberminen und erschloß neue Lagerstätten. Gleichzeitig stellte er für die Akademie der Wissenschaften wertvolle Sammlungen der sibirischen Mineralien und Flora zusammen. Dabei vereinigte er im Gegensatz zu vielen sibirischen .Konquistadoren' seine naturwissenschaftlichen Interessen mit den Auffassungen der Aufklärer. Selbst seine Ehefrau, der man nun wahrhaftig nicht Mitgefühl mit ihm oder die Absicht, ihn zu idealisieren, unterstellen kann, kam in ihren Erinnerungen nicht um die Tatsache herum, daß ihm bei seiner Abreise aus Nertschinsk die Sträflinge mit Tränen in den Augen das Geleit gaben. Anna Jewdokimowna beschreibt in ihren Erinnerungen die Szene so: „Wir blieben stehen, und Alexander Matwejewitsch begann, auf sie einzureden: ,Meine Freunde, ihr werdet weiterhin so ruhig und glücklich sein wie unter mir. Euer Vorgesetzter ist ein guter Mensch, er wird euch behüten. Ich habe mich bei ihm für euch verwendet, aber seid so, wie ihr es unter mir gewesen seid!' - ,Wir sind immer so, aber es ist uns schlecht ergangen! Bevor du kamst, litten wir Hunger, bloß und barfüßig, und viele starben vor Kälte! Du hast uns gekleidet, uns Schuhwerk gegeben, hast sogar unsere Arbeit erleichtert und unseren Kräften angemessen, hast die Kranken kuriert und uns Gärten geschaffen, für die Nahrung übers Jahr gesorgt, und wir haben nicht schlechter gegessen als die anderen. Wir wissen, daß du viel von deinem Eigenen hergegeben hast und nicht mit Reichtümern, sondern mit Schulden wegfährst, aber Gott wird dich nicht verlassen! Du hast dich in Schulden gestürzt, aber der himmlische Vater wird es dir zehnfach zurückgeben!'" 87 In den Memoiren seiner Ehefrau haben die vielfältigen wissenschaftlichen Tätigkeiten Karamyschews keinen Niederschlag gefunden. Sie hat sie einfach nicht bemerkt. Ihren Wortschatz beherrschen andere Worte: „Tugend" und „Sünde", und in diese Sprache übertragen, stellte sich ihr die Welt völlig anders dar als die, in der ihr Ehemann lebte. Die sich in den Erinnerungen der Labsina widerspiegelnde Tragödie ist nicht der Konflikt miteinander unvereinbarer Charaktere und Temperamente oder der Altersunterschied, sondern das dramatische Aufeinandertreffen zweier Kulturen, die keine gemeinsame Sprache besitzen und nicht einmal über die elementarste Gemeinsamkeit einer Ubersetzung verfügen. Betrachten wir das Leben Anna Jewdokimownas so, wie es sich uns in ihren Memoiren darstellt. D o c h dabei dürfen wir nicht vergessen, daß es eine bereits ältere Dame ist, kinderlos und herrische Erzieherin ihrer Nichten, die uns von den Gefühlen und Leiden eines kleinen Mädchens, einer Heranwachsenden und einer jungen Frau und Waise erzählt, das der unkontrollierten Gewalt eines um viele Jahre älteren Ehemannes ausgeliefert worden war. Sie war acht Jahre älter als ihr zweiter Ehemann, den sie vergötterte. Ihre immense Tugendhaftigkeit und ihr aufrichtiger Philanthropismus waren mit einem starken Willen und mit einer durch einen Anflug von Scheinheiligkeit gekennzeichneten Herrschsucht durchsetzt. Ihre
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Memoiren schreibt sie bewußt als die Beichte einer heiligen Seele zur Belehrung der Seelen derer, die nach dem Heil suchen. Sie war streng und unduldsam. Und ist ihr zweiter Ehemann, der bekannte Freimaurer Labsin, bestrebt, seine Schwächen zu korrigieren und seine Seele zu bilden*, bemühte sie sich darum, andere, verlorene, Seelen auf den rechten Weg zu bringen. U m sich die Gestalt jener Anna Jewdokimowna Labsina vorstellen zu können, ist es sinnvoll, sich den Erinnerungen ihrer Zöglinge zuzuwenden. Diese Erinnerungen zeugen von einem geradezu begeisterten Verhältnis zu der Labsina; nicht Kritik, sondern Verehrung herrscht in ihnen vor. Wir finden darin aber auch Hinweise auf die Strenge der Erzieherin; so forderte sie, daß die Nichten nach einer Verfehlung die ganze Nacht vor ihrer Zimmertür zu knien und auf Vergebung zu warten hatten. Aber die wurde auch ihnen nie zuteil, und sie erhoben sich schließlich unter Tränen und im Bewußtsein ihrer Sündhaftigkeit. „Dreimal im Jahr küßte sie mich", schreibt eines der Mädchen, „und zwar nach dem Empfang der heiligen Sakramente, am Auferstehungstag und an meinem Namenstag, in der restlichen Zeit reichte sie mir nur die Hand und schüttelte sie danach, als hätte ich sie mit meinen Lippen beschmutzt" (S. 19). Die Erinnerungen Anna Labsinas sind deutlich zweigeteilt. Der erste Teil ist der Kindheit und den Jahren vor der frühzeitigen Eheschließung gewidmet. Das von ihr zugrunde gelegte Schema ihres Lebens deckt die biographische Realität nur sehr unvollkommen ab. Im Ergebnis dessen spaltet sich bei der Labsina das Bild der Mutter deutlich. Einerseits ist es ein schablonenhaftes Klischee: Die angebetete Mutter ist eine fromme, würdevolle Frau, die ihre Tage mit segensreichen Gedanken und Gebeten verbringt. Armen läßt sie ihre Fürsorge angedeihen, und sie hilft den Sträflingen, die ihre Wohltaten mit Schluchzen entgegennehmen. Hier wird man unwillkürlich an Puschkins Worte bei der Beschreibung des Begräbnisses der Gräfin in der „Pique Dame" erinnert: „Der junge Erzpriester hielt die Grabrede. In einfachen und rührenden Ausdrücken beschrieb er die friedliche Himmelfahrt der Gerechten, deren lange Jahre eine stille und innige Vorbereitung auf das christliche Ende gewesen waren. ,Der Engel des Todes hat sie, die in gutem Sinnen und Trachten Wachende und den mitternächtlichen Bräutigam Erwartende, umfangen', sagte der Redner". Das Puschkinsche Zitat ist keine Karikatur und keine Verhöhnung. Es ist * In Labsin war persönliche Nachgiebigkeit mit Bürgermut vereinigt. Als offener Gegner Araktschejews erlaubte er sich eine verwegene Erklärung: Im Rat der Akademie der Wissenschaften machte er als Antwort auf die Empfehlung, Araktschejew als eine dem Zaren nahestehende Person in die Akademie zu wählen, den Vorschlag, den Zarenkutscher Iwan zu wählen, „auch eine dem Imperator nahestehende Person" (Schilder N.K. Der Imperator Alexander der Erste. Sein Leben und seine Herrschaft. Sankt Petersburg, 1898, Bd. IV, S. 267). Dafür mußte er mit seiner Entlassung aus dem Dienst und der Verbannung bezahlen, die er mit großer Standhaftigkeit ertrug.
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vielmehr ein dem Leben nachgezeichnetes Bild, das von den normalen Beziehungen zwischen Hagiographie und profaner Realität zeugt. Zum Mißverstehen kommt es nur dann, wenn das Sprachverständnis verlorengegangen ist und der Leser, der einem anderen Kulturkreis angehört, den sakrosankten Text als profane Realität begreift oder die profane Realität in einen sakrosankten Text umdeutet. Die mittelalterliche Tradition gerät hier nicht in einen Widerspruch, da eine deutliche Teilung vorliegt: D e r Seelenhirt soll ein sakrosanktes Verhalten an den Tag legen und in seiner alltäglichen Praxis die apostolischen Gesetze realisieren; der einfache, in Sünde lebende Mensch, soll sich, nicht in Stolz verfallend, den Regeln dieses Lebens unterwerfen. Erlösung findet er im Begreifen dessen und in seiner Reue. Sich eigenwillig ein sakrosanktes Verhalten zuzuschreiben, ist eine Sünde des Stolzes. In eben diese Sünde verfiel Anna Jewdokimowna. Indem sie sich den Status einer Heiligen zumaß, nahm sie sich gleichzeitig auch das Recht heraus, über das Verhalten ihres Mannes zu Gericht zu sitzen. Aber des Schema der „Kindheit einer Heiligen" im ersten Teil ihrer Erinnerungen vermag die für den psychologischen Kulturhistoriker interessanten Gegebenheiten nicht zu verdecken. So berichtet sie beispielsweise, daß in der Kindheit auch der Sport zu ihrer Erziehung gehörte und man das Kind, den Anweisungen Rousseaus entsprechend, dazu anhielt, körperliche Belastungen zu ertragen, sich auf eine einfache Ernährung zu beschränken und sich als Vorbeugung gegen Krankheiten abzuhärten. Aus diesem Rahmen fällt die nächste Episode völlig heraus, in der die Mutter als eine Frau von beinahe pathologischer Nervosität dargestellt wird, die Exzessen des Sentimentalismus unterworfen ist, die in kein Schema eines ,sakrosankten' Verhaltens passen. D i e Verfasserin der Memoiren berichtet, daß ihre Mutter sich nach dem Tode des Vaters in ihr dunkles Zimmer zurückzog, jeglichen Umgang mit den Kindern ablehnte und mit ihrem verstorbenen Gatten von leidenschaftlicher Liebe erfüllte Gespräche führte. Allen Versuchen, sie in die Realität zurückzuholen, begegnete sie mit heftigen, aggressiven, von hysterischen Ausbrüchen begleiteten Ausfällen. Ihre Kinderliebe verleugnend, begann sie ihre Kinder zu hassen. Lediglich der gelegentliche Besuch eines Verwandten zwang sie, diesen mystischen Raum zu verlassen. D a nach folgten gewöhnlich ein hysterischer Ausbruch und eine lange Reue in der Kirche, die sie der Alltagsrealität wieder näherbrachte. Auch der nächste Teil der Memoiren ist nach dem bereits erwähnten Schema aufgebaut. D i e Rolle der Lenker auf dem frömmelnden Weg der Erzählerin übernehmen abwechselnd einige Personen. Aber gleichviel, welchen Platz sie dabei einnehmen, ihre Reden und Taten unterscheiden sich voneinander nicht. Die zentrale Figur unter ihnen ist der Schriftsteller M. Cheraskow. Die literarische Seite der Tätigkeit Cheraskows, seine Hinterlassenschaft in Versen und Prosa, sein Platz in der russischen Literatur
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und die administrativen Ämter, die er bekleidete, und das waren nicht wenige, all das bleibt in den Memoiren der Erzählerin ausgespart. Sie bemerkte es ebensowenig wie die wissenschaftliche Tätigkeit ihres Ehemannes und nahm auch nicht zur Kenntnis, daß Cheraskows Gattin ebenfalls eine bekannte Schriftstellerin war und daß das Haus der Cheraskows eine aktive Rolle im politischen Leben dieser Zeit spielte. Und so wäre es völlig verfehlt, dem Historiker Unkorrektheit zu unterstellen, wenn er erklärt, daß für ihn das, was die Labsina in ihren Memoiren anmerkt und sieht, und das, was sie nicht sieht und nicht zur Kenntnis nimmt, gleichermaßen interessant sei. Für den Kulturhistoriker sind derartige Unterlassungen und die durch sie hervorgerufene ,Blindheit' nicht unbedeutendere Fakten, die für sich selbst sprechen, als so manche ausführliche Beschreibungen. Im Geiste des 18. Jahrhunderts verwandelte Cheraskow die kaum 15jährige Kind-Frau in das Material eines psychologischen Experiments. Voltaire bot in seiner Erzählung „Das Naturkind" ganz Europa das Experiment des Aufeinandertreffens eines „natürlichen Menschen" und der „widernatürlichen" Gesellschaft an. Die Idee vom „natürlichen Menschen", der frei von allen Vorurteilen nur der Stimme der Natur folgt, begeisterte das 18. Jahrhundert geradezu. Von dem Würdenträger der Epoche Katharinas, dem Pädagogen Sezkoi, bis hin zu den Utopisten unterschiedlicher Grade der Rebellion, von den Utopien Rousseaus bis hin zum Homunkulus" der Freimaurer und zu Faust schwärmte das ganze intellektuelle Europa von der Idee des vollkommenen Menschen. Das pädagogische Experiment und die gesellschaftliche Utopie wurden unauflöslich miteinander verflochten. Und alle diese Sujets hatten ein gemeinsames Merkmal: Das Versuchsobjekt wurde vom Leben isoliert und einer besonderen „natürlichen" Erziehung unterworfen. Eben solch ein Experiment machte Cheraskow mit der jungen Labsina. Das Wesentlichste war dabei die Isolierung. Und selbst wenn man davon ausgeht, daß die Verfasserin der Memoiren das Bild deutlich stilisiert und den Grad der pädagogischen Konsequenz ihrer Erziehung im Hause Cheraskows überzeichnet, erhält man ein doch ziemlich aufschlußreiches Bild. Ihr Bekanntenkreis, ihre Lektüre, ihre Gespräche wurden streng kontrolliert. Ausgehend von der Rousseauschen Pädagogik waren die Erzieher weniger um die Wissenserweiterung ihrer Schülerin bemüht, als um die möglichst lange Bewahrung ihrer „natürlichen" Unwissenheit. Ein Beispiel dafür ist die von der Labsina berichtete Episode, in der sie zufällig Zeugin eines literarischen Gesprächs über Romane wird. Cheraskow hatte selbst eine Anzahl von Romanen geschrieben, und natürlich wurde in seinem Haus auch über die für Damen „ungefährlichen" französischen Romane wie „Lovelace" diskutiert; man erörterte einen, um einen Ausdruck Puschkins zu verwenden, „belehrenden und wohlanstän*
Mit dem H o m u n k u l u s verbindet sich die freimaurerische Idee von einem künstlichen
Menschen, der „nicht in Adam sündig geworden" ist, d.h. ein Retortenmensch.
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digen" Roman. Dennoch war man bemüht, die Schülerin vor derartigen Gesprächen zu bewahren. N o c h bis zu ihrer Heirat wurde sie von ihrer „Wohltäterin" angehalten, sich Büchern gegenüber mit größter Vorsicht zu verhalten: „Bietet man dir irgendwelche Bücher zur Lektüre an, dann lies sie nicht, bevor deine Mutter' sie nicht durchgesehen hat. Erst wenn sie dir dazu rät, kannst du gefahrlos davon Gebrauch machen". Dieses Prinzip wurde auch im Cheraskowschen Haus weitergeführt: „Am Morgen beschäftigte ich mich mit einem guten Buch, das ich aber nicht selbst ausgewählt, sondern das man mir gegeben hatte. Zum Glück hatte ich noch nicht die Gelegenheit gehabt, Romane zu lesen, und hatte diesen Begriff auch noch nie gehört. Irgendwann sprach man einmal über neu erschienene Bücher und erwähnte dabei auch Romane, so hörte ich zum ersten Mal davon. Schließlich fragte ich Jelisaweta Wassiljewna, wer das sei, von dem sie immer als von einem Roman sprächen und den ich noch nie bei ihnen gesehen hätte. Daraufhin sagte man mir, es ginge nicht um einen Menschen, sondern um Bücher, die man so nenne; ,aber für dich ist es noch zu früh und nicht gut, sie zu lesen'. Und sie begannen, mich, angesichts meiner kindlichen Unschuld und meiner großen Unwissenheit insbesondere von allem, was zum miteinander Umgehen in der Gesellschaft gehört, fernzuhalten; wenn sie viele Gäste hatten, saß ich, obwohl ich anfangs traurig darüber war, bei meinem Wohltäter und meinem Vater". Cheraskow sonderte seine Schülerin künstlich von der „gefährlichen Welt" ab: Man nahm sie „nirgendwo mit hin, weder ins Theater, noch auf Spaziergänge". Man ließ sie auch nicht zu ihrem Ehemann : „Mein Ehemann hatte damals keine Macht über mich und verbrachte ganze Tage im Dienst, weil er sich ein neues Leben aufbaute, hatte er viel zu tun" (S. 4 7 - 4 8 ) . W i r bemerken hier nur nebenbei, daß die letzte Wendung der Labsina unwillkürlich unterlaufen sein muß, denn gewöhnlich war sie fest davon überzeugt, daß Karamyschew seine ganze Zeit außer Haus in unanständiger Gesellschaft verbrachte. Das Schicksal hatte die junge Labsina auf die Kreuzung zweier entgegengesetzter Ideen gestellt. Beide hüllen sich in den Nebel der vagen Begriffe „Sentimentalismus" oder „Vorromantik". Hier sind auch die von den Freimaurern übernommenen pädagogischen Prinzipen einbezogen, die man bald den pädagogischen Theorien der Anhänger Rousseaus entgegenstellte, bald mit diesen vermengte. U n d auf einen ebensolchen Weg wollte auch Cheraskow seine Schülerin führen. Aber es gab auch noch einen entgegengesetzten Weg. Die an seinem linken Rand stehenden
Die Mutter ist hier die Mutter des Ehemanns. Jelisaweta Wassiljewna Cheraskowa, die Gattin Michail Matwejewitsch Cheraskows, eine bekannte Schriftstellerin. £ r ]ebte
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i t Cheraskow in einem Haus.
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äußerst radikalen Vertreter der Aufklärung traten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts als kühne Reformer der Moral auf. Gerade hier fanden sie das Schlachtfeld zweier in ihren Grundsätzen einander widerstreitender Kräfte der Epoche, die der „Aufklärung" und die des „Vorurteils". In der Literatur dieser Epoche treffen wir auf einen wahren Strom künstlerischer und publizistischer Werke, die die Freiheit der Gefühle und eine auf dem Streben nach Glück und Zerstreuung basierende Moral predigten. Die das menschliche Recht auf das Glück beschränkende Ethik wurde unter diesem Aspekt zum moralischen Despotismus erklärt und den mittelalterlichen Vorurteilen zugeordnet. N. Karamsin schrieb eine Reihe von Erzählungen, die vage eine uneingeschränkte Liebe verkünden. Die Vorbehalte gegen eine Bruder-Schwester-Liebe („Die Insel Bornholm"), gegen eine verheiratete Frau und ihren Liebhaber („Sierre Morena"), die Vorurteile dem „Edelmut" und dem Reichtum gegenüber, die eine Liebe zerstören („Arme Lisa"), wiederholen sich später in zahlreichen künstlerischen Werken. Doch das blieb nicht nur auf die Literatur beschränkt: Die zweite Ehe A. Radistschews, der die Schwester seiner verstorbenen Ehefrau geheiratet hatte, war angesichts der Vorurteile eine offene Herausforderung. Es war nicht die Tat selbst, die den Fehdehandschuh warf - die russische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts, die die zahlreichen „Geheimnisse" am Hofe Katharinas II. überstanden hatte, war nur noch schwer aus der Fassung zu bringen - , sondern die Tatsache, daß Radistschew die Moral und die Freiheit eines derartigen Verhaltens und sein Recht darauf offen verteidigte. Die Erörterung dieser Frage in der Presse wurde natürlich durch die Zensur beeinträchtigt, da hier der Freiheitsdrang die Sphäre der geistlichen Zensoren berührte. Doch die Frage blieb auf der Tagesordnung. An der äußersten Grenze, die die ,liberale' Zensur der 80er Jahre von jener der 90er trennte, veröffentlichte ein wenig bekannter Prosaautor, Nikolai Emin, den ersten Teil seines Romans „Spiel des Schicksals". Der zweite Teil konnte nicht mehr erscheinen. Der Roman handelt vom Schicksal einer jungen Frau, die mit einem alten, aber aufgeklärten und edelmütigen Menschen verheiratet wurde. Der Gatte muß bald feststellen, daß seine Gattin sich ihm gegenüber wie zu einem Vater verhält, daß sie ihn nicht liebt und daß eine Liebesbeziehung zwischen ihr und seinem jungen Freund entstanden ist. U m sich davon zu überzeugen, daß das Gefühl der beiden jungen Leute auch wahrhaftig ist, unterzieht er sie einer Prüfung. Während dieser Zeit erkrankt die Heldin, wird von den Blattern befallen und verliert ihre Schönheit. Aber nichts kann diese Liebe zerstören. Und das begreifend, kommt der Gatte zu einem entscheidenden Entschluß. Hier endete der erste Teil des Romans. Der zweite Teil erwies sich als weit über die von der Zensur gesetzten Grenzen hinausgehend. Und da er nie veröffentlicht wurde, ist er für uns verloren, aber annähernd können wir wohl den allgemeinen Verlauf seines kühnen Sujets rekonstruieren.
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Rousseau wird das mutig aufgegriffene Problem des ,Dreiecks' in seinem Roman „Die neue Heloise", der für eine ganze Generation europäischer Leser zu einem Katechismus der Liebe wurde, lösen: Julia liebt leidenschaftlich ihren Lehrer Saint-Preux und wird zu dessen Geliebter. Aber Standesvorurteile machen eine Heirat unmöglich. Später wird Julia mit dem bejahrten und achtunggebietenden Herrn de Volmar verheiratet. Julia achtet das Sakrament der Ehe hoch, und der moralische, seine Leidenschaft zügelnde Saint-Preux wird zum treuen Freund der Familie. Rousseaus Kühnheit bestand nicht darin, daß er einen Ehebruch beschrieb, dieses Thema ist so alt wie die ganze Literatur, sondern darin, daß er damit, wie Abälard zu seiner Zeit, eine Quelle der Moral erschloß. Der junge Emin ging, obwohl er es mit einer weitaus strengeren ,Moralzensur' zu tun hatte, wahrscheinlich weiter als Rousseau. Er nötigte den aufgeklärten Gatten, der nur formell der Ehemann seiner moralischen jungen Frau gewesen war, die Gattin selbst dem Geliebten zu übergeben, und danach lebten alle drei im gleichen Haus, verbunden durch den philosophischen Freizügigkeitskult der Gefühle. Themen finden wir vor allem auch in den sibirischen Vorhaben Tschernyschewskis, insbesondere in seiner Absicht, einen R o man über drei junge Leute zu schreiben, zwei Männer und eine Frau, die ein Schiffbruch auf eine unbewohnte Insel verschlagen hat. Die jungen Leute kommen, nachdem sie die problematischen Versuchungen der Liebesleidenschaft und der quälenden Eifersuchtsausbrüche überstanden haben, auf den, wie Tschernyschewski meint, „natürlichen" Gedanken, sich in einem „Liebesdreieck" zu vereinen. Ähnliche, meist theoretische, Experimente auf dem Gebiet der Ethik werden in der Regel von Menschen mit einer hohen Moral realisiert. Auf diese stürzten sich jedoch mit „heuchlerischen Nachstellungen" gerade solche „Menschen der guten Gesellschaft", die sich in der Praxis heimliche Sittenlosigkeiten aller Art herausnahmen. Die Kompliziertheit des realen Bildes wurde noch dadurch vergrößert, daß die aufklärerischen Ideen, die von den Höhen der Theorie herabstiegen zum Alltagsverhalten der jungen Leute, sich leicht mit einer moralischen Unsittlichkeit vermengten, die mit modischen Worten kaschiert wurde. Es fällt uns schwer, das moralische Verhalten Karamyschews zu bestimmen, weil seine tatsächlich recht unterschiedlich motivierten Handlungen im Bewußtsein seiner Ehefrau in den gleichen Abgrund der Sünde führten. Wir können aber nur mit den Augen der Labsina auf Karamyschew blicken, da unsere einzige Quelle ihre Erinnerungen sind. Sein Verhalten ist für uns nur durch die Ideensprache seiner Frau wahrzunehmen. Deshalb muß jeder Versuch, die Frage nach der von der Labsina beschriebenen Realität zu beantworten, problematisch bleiben. Führen wir ein Beispiel an. Die Verfasserin der Memoiren beschreibt, wie ihr Mann in Petersburg ganze Nächte beim Kartenspiel verbrachte, sie allein ließ und mit von den
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Dritter Teil
Karten beschmutzten Händen nach Hause kam. An dieser Beschreibung sind nur die nächtliche Abwesenheit und die beschmutzten Hände Karamyschews Realität. Die Gründe für das eine wie für das andere sind Interpretationen der Memoirenschreiberin. Bis zu welchem Grade diese begründet waren, können wir nicht überprüfen, aber wir sind in der Lage, sie mit anderen, alternativen Vermutungen zu vergleichen. Karamyschew war Chemiker und Hochschullehrer. In der beschriebenen Zeit richtete er ein Labor ein und führte sowohl Lehr- als auch Forschungsexperimente durch. Gleichzeitig leistete er auch eine umfangreiche administrative Arbeit. Vermutlich hatte er wenig Zeit. Man kann annehmen, daß eine Reihe von Versuchen in der Nacht durchgeführt wurden oder zumindest bis zum späten Abend dauerten. Die Müdigkeit, die verschmutzten Hände und Kleider konnten sowohl vom Kartentisch herrühren als auch von den wissenschaftlichen Experimenten. Wir wollen bei dieser Alternative stehenbleiben und nicht zu erraten versuchen, womit genau Karamyschew sich in dieser Zeit beschäftigte, wir registrieren lediglich, daß für seine Ehefrau eine Alternative nicht vorhanden war. Sie war schon von vornherein davon überzeugt, daß er sich dem Laster hingab, und die der Beobachtung vorangehende Sicherheit entstellt unvermeidlich alles, was wir zu sehen bekommen. Wir können am Verhalten Karamyschews nur einige Seiten rekonstruieren. Und wenn wir uns daran erinnern, daß Karamyschew ein europäisch gebildeter Mensch, ein bedeutender Gelehrter war und daß die Wärme seines Charakters selbst von der Labsina nicht bestritten wurde, läßt sich eher vermuten, daß er seine Ehefrau bewußt im Geiste seines Verständnisses der „philosophischen Ideen" ,erzog'. In Übereinstimmung mit dem Naturbegriff des 18. Jahrhunderts trennte Karamyschew die Liebe als ein moralisches Gefühl vom natürlichen Geschlechtstrieb. Damit rechtfertigte er wahrscheinlich den Umstand, daß er ein dreizehnjähriges Mädchen zur Ehefrau bekommen und sie lange Zeit hindurch nicht als Frau wahrgenommen hatte. Genauso kategorisch wie ihre freimaurerischen Erzieher führte er seine junge Frau an das entgegengesetzte System der Auffassungen und des Verhaltens heran, an die Freisinnigkeit und an das Freidenkertum. Aber sowohl die Sittsamkeit als auch die Freiheitsliebe stürmten auf die Seele und den Geist der Kind-Frau mit einer Macht ein, die an Gewalt grenzte. Der große philosophische Bildhauer Falconet bildete in Marmor eines der Grundsymbole des 18. Jahrhunderts nach, die Statue der Galathea im Augenblick der Belebung des Marmors. Falconet stellte die Geburt des Lebens und der Gedanken in dem unbelebten und gefühllosen Material dar, geschaffen von der schöpferischen Kraft des Aufklärers. Und eine ebensolche Rolle wies das Jahrhundert der Aufklärung dem philosophischen Herrscher zu und die aufklärerische Pädagogik dem schöpferischen Lehrer. Als ideales Objekt der Aufklärung erschien die Kind-Frau, in
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zweifachem Sinne eine tabula r a s a . In einem drittrangigen, heute völlig vergessenen Roman aus den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts will der Held sich als Gattin die ideale Frau erschaffen; bereits im Kleinkindalter isoliert er sie, schließt sie in einem abgetrennten, fensterlosen Raum ein, wo sie nackt - Kleidung ist eine verfehlte Erfindung der menschlichen Zivilisation! - und in natürlicher Unkenntnis aller Vorurteile heranwächst. Auch der Held ist unbekleidet, wenn er sie besucht. Damit werden alle Vorurteile beseitigt, es wird gleichsam die natürliche Glückseligkeit des ersten Menschen wiederbelebt. Mit diesem oder anderen Graden ihrer konsequenten Durchführung erlangte die Idee der „natürlichen Erziehung" eine weite Verbreitung. Und in der Tat, der Aleko in einer frühen Variante des Puschkinschen Poems „Die Zigeuner" ist von dieser Idee nicht sehr weit entfernt. Hier wendet sich der Held mit einem Monolog an seinen neugeborenen Sohn und entwirft das Progamm der Erziehung zu einem „natürlichen Menschen": Kind der Natur, der Liebe Kind, Gedeihe frei, ohne der Lehren Zwang, Sperr nie dich in enge Gemächer ein, Tausch nie schlichter Gewohnheit Gang Gegen der Laster Bildung ein Suche, des armen Zigeuners Sproß, Nicht nach der Aufklärung letztem Grund, Meid hastiger Wissenschaft Zunftgenoss', Dafür leb sorglos und frei und gesund... (Puschkin, IV, 445 ) D o c h das, was sich in philosophischen Traktaten und Gedichten als poetisch anziehend präsentierte, erhielt bei den Versuchen, die Theorie in die Praxis umzusetzen, ein völlig anderes Aussehen. Man darf vermuten, daß es Karamyschew bei den Bemühungen um die Erziehung seiner Frau gerade so erging. Selbst beim Aufzählen aller Sünden ihres Ehemanns beschuldigte die Labsina ihn weder der Grausamkeit noch mangelnder Liebe zu ihr, noch des Geizes oder ähnlicher Untugenden. Ihr Hauptvorwurf gegen ihn war die Unzucht. Aber selbst in ihren Beschreibungen seines Verhaltens wird auch ein konsequentes, obschon nach unserer Meinung merkwürdiges, pädagogisches System sichtbar. In der ersten Phase macht er seine minderjährige Gattin zur Zeugin von Liebesszenen zwischen ihm und seiner Geliebten. Später, als Anna Jewdokimowa bereits zur Frau herangereift ist, schlägt er ihr vor, sich einen
*
Tabula rasa (lat.) - hier „unbeschriebenes B l a t t " . Ein Ausdruck von Aristoteles, der
von Albert dem G r o ß e n und J o h n L o c k e ( 1 6 3 2 - 1 7 0 4 ) im Sinne einer vollständigen O f f e n heit des Bewußtseins und der Seele des Menschen den Eindrücken der äußeren W e l t gegenüber gebraucht wurde.
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Liebhaber zuzulegen und selbst für einen entsprechenden,Kandidaten' zu sorgen. Wahrscheinlich glaubte Karamyschew, seine Gattin auf diese Weise an die Freiheit heranzuführen, wobei er stets betonte, daß er sie liebe und daß weder seine noch ihre Freizügigkeit die Bindung ihrer Herzen berühren würde. Durch das Prisma der Labsinaschen Erzählung blicken wir auf eine frappante Konfliktszene zweier Typen, die den Übergang der philosophischen Theorien des 18. Jahrhunderts in das Alltagsverhalten markieren: „Sooft ich ihn auch fragte, ob ich denn sein Leben nicht mit Freude erfüllen könne und ob es ihm denn angenehmer wäre, mit Fremden zusammen zu sein, antwortete er:,Glaubst du denn, daß ich dich gegen diese Weiber eintauschen könnte, von denen du sprichst? Du wirst immer meine Ehefrau und mein Freund sein, das andere ist doch nur gut für den Zeitvertreib und das Vergnügen.' ,Aber was ist denn das? Ich kann das nicht verstehen; wie kann man ohne Liebe Liebhaberinnen haben?'... Er lachte auf und sagte: ,Wie lieb du doch bist, wenn du zu philosophieren beginnst! Ich versichere dir, daß das, was du Sünde nennst, ein natürliches Vergnügen ist, und dafür brauche ich mich nicht zu rechtfertigen.'" Anläßlich einer ähnlichen „Aufklärung" bat die Labsina ihren Ehemann, er solle sie doch „bei meinen dummen Ansichten lassen". Hier kommen einem sowohl die Worte des Protopopen Awwakum an seine Gegner in den Sinn: „Klug seid ihr mit dem Teufel", als auch die Ausfälle Rousseaus gegen die Klügeleien als einer Quelle der Unzucht. Mit der gleichen Direktheit und groben Gewalt versuchte Karamyschew seine Ehefrau auch von anderen „Vorurteilen" zu „erlösen". Der reale Alltag des hauptstädtischen aufgeklärten Adels hatte sich zu dieser Zeit schon längst vom strengen Einhalten der Fastenzeiten losgesagt. Der bekannte Mystiker und Unterrichtsminister zur Zeit Alexanders I., Fürst A. N . Golizyn, erinnert sich einer Episode aus seiner Pagenzeit am Hofe Katharinas II., die er an deren Tafel erlebte. Bei einem Abendessen am Weihnachtsvorabend, an dem auch Potemkin und Suworow teilnahmen, standen auf der Tafel während der Fastenzeit verbotene Speisen, und Suworow rührte nichts an. Auf eine Frage der Kaiserin entgegnete Potemkin spöttisch, daß Suworow ein strenger Faster wäre und bis zum „Erscheinen des Sterns" 1 nichts anrühren würde. Katharina II. wand sich geschickt aus der Situation, indem sie dem Pagen befahl, aus ihrem Kabinett den Stern des Andreasordens zu holen, und diesen Suworow mit den Worten überreichte: „Feldmarschall, Euer Stern ist aufgegangen". Die Spanne zwischen der praktischen Verletzung der Fastenregel und Handlungen dieser Art war recht groß. Karamyschews Verhalten nahm in * D a s Erscheinen des ersten Abendsterns war ein Zeichen für die Beendigung der weihnachtlichen Fastenzeit.
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solchen Fällen den Charakter einer erzieherischen Maßnahme' an. Nicht nur, daß er selbst nicht fastete, er zwang, sich auf die „Aufklärung" berufend, auch seine schluchzende Ehefrau, während der Fasten verbotene Fleischspeisen zu essen. Aber es kam zu keinem Dialog zwischen dem Ehemann und der Gattin: Sie redeten in verschiedenen Sprachen. Was er Aufklärung nannte, war für sie Sünde. Sie waren durch eine Grenze moralischer Unübersetzbarkeit getrennt. A. J. Labsina antwortete auf die .aufklärerischen' Versuche ihres Gatten mit anklagenden Vorwürfen: „Ich lebe mit dir das neunte Jahr, und nicht ein einziges Mal habe ich gesehen, daß du dich bekreuzigt hast; du gehst nicht in die Kirche, beichtest nicht und empfängst nicht die Kommunion. Kann ich noch Besseres erwarten? Für mich Unglückliche gibt es keine Hoffnung auf eine Rückkehr zu meinem verlorenen Frieden" (S. 69). Die aufmerksame Lektüre des Textes läßt also für uns deutlich werden, was hier zwischen den Zeilen steht: Zwei kulturelle Traditionen, die zu Beginn des 18. Janrhunderts die russische Adelsgesellschaft spalteten, ringen um die Erziehung der jungen Frau. Dabei ist zu bemerken, daß dem Verhalten beider Konfliktseiten der Stempel des allgemeinen Humanismus aufgedrückt wurde. Er zeigt sich auch im Verhalten Cheraskows. Selbst die vorwurfsvollsten Schilderungen Karamyschews durch die Labsina lassen den guten, wenn auch gereizten Menschen in ihm erkennen. Er kümmert sich um seine hilflosen Untergebenen, und die strengen ,Erziehungsmaßnahmen', denen er seine Frau unterwirft, wechseln ständig mit Perioden der Zärtlichkeit. Somit werden wir Zeugen nicht eines Konflikts zwischen Güte und Bosheit, sondern einer gegenseitigen Blindheit. Die Dramatik der Situation wurde noch dadurch verstärkt, daß diese beiden, in zwei fremden Sprachen redenden Menschen, die eine Mauer gegenseitigen U n verständnisses trennte, sich für eine gewisse Zeit liebten und gleichzeitig, aufrichtig das Gute wollend, einander Schmerz zufügten. Wir wollen aber nicht vergessen, daß die Kollision der freimaurerischen und der grob vulgarisierten aufklärerischen Pädagogik in ihrem Kampf um das Innerste der Memoiren-Heldin in dem Text ausgespart bleibt. Er konzentriert sich auf den mühevollen Weg, der zu den Höhen der Erlösung führt. In dieser eigentümlichen „Lebensbeschreibung" blickt die Verfasserin von den erreichten Höhen zurück auf den von ihr zurückgelegten *
In der Lebensweise der Petersburger Intelligenz gehörte zu Beginn des 19. J a h r h u n -
derts das Einhalten der Fastenzeit schon nicht mehr zur Regel. H e r z e n erinnert sich eines Falles, der deutlich zeigt, wie er verlegen war, gerade seine Position zum Einhalten der Fastenzeit zu motivieren: „Einmal kam er ( W . G . Belinski) in der Passionswoche zu einem Literaten zum Mittagsessen; es gab Fastengerichte. „Verhalten Sie sich schon lange so f r o m m ? ' fragte er. , W i r essen die Fastengerichte einfach für die L e u t e " , sagte der Literat. (Herzen, A.I. Ges. W e r k e in 30 Bdn. Moskau 1956, Bd. 9, S. 32). D i e G r e n z e zwischen dem Einhalten und dem Nichteinhalten der Fasten schied das V o l k („die L e u t e " ) von der gebildeten Gesellschaft.
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„schmalen Weg". Die Labsina hat, wie bereits erwähnt, ihren ganzen Bericht nach dem Schema der Heiligenlegenden aufgebaut. Reale Episoden des Lebens werden nur dann in die Memoiren aufgenommen, wenn sie dem allgemeinen Kanon der Lebensbeschreibungen entsprechen. Durch den ganzen Text ziehen sich stilisierte Monologe, die ihn in eine bestimmte dramatische Handlung, in ein Stück Erbauungsliteratur verwandeln. Einzelheiten aus dem Alltag, die eine Illustration dieser oder jener Situation einer Ideenlage geben könnten, fehlen nahezu völlig. Doch ungeachtet dessen sind die Memoiren der Labsina eine wertvolle Quelle für den Historiker. Er erhält hier nicht ein ausführliches, ,objektives' Bild der Welt. Er trifft nur auf Augen, die auf diese Welt blicken.
M E N S C H E N DES JAHRES 1 8 1 2
A. A. Murawjew-Apostol sagte von der Generation der Dekabristen nicht ohne nachhaltigen Grund: „Wir waren Kinder des zwölfer Jahres". Der Krieg von 1812 vermittelte der Generation der adligen russischen Jugend jene Lebenserfahrung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die schwärmerischen Patrioten auf den Senatsplatz führte. Der Charakter des vorliegenden Buches zwingt uns, mit den Augen eines Historikers der kriegerischen Ereignisse auf diesen Krieg zu blicken, die Schlacht und den Kampf der sozial-politischen und der persönlichen Interessen nicht von der hohen Warte der großen historischen Ereignisse aus zu beschreiben, sondern so, wie der russische Offizier ihn sah, der „das fröhliche Pfeifen der Kugeln zum ersten Mal hörte". Uns wird das Alltagsbild der Kriegsereignisse interessieren, jene Geschichte, die Leo Tolstoi so lebendig nachempfand, der Kriegsalltag, in dem sich der geistige Reifeprozeß der jungen Offiziere des Jahres 1812 vollzog. 88 Der Krieg von 1812 griff in das Leben aller Stände der russischen Gesellschaft, ja man kann sagen, ganz Europas ein. In Europa hatten die Kriege seit 1792 nicht aufgehört, sie waren bald am Rhein, bald in Italien aufgeflammt, hatten bald die Alpenregion und Spanien ergriffen und sich bis Ägypten ausgedehnt. Aber als der Krieg den ganzen Raum zwischen Saragossa und Moskau erfaßte und einerseits das Imperium Napoleons, andererseits das Schicksal aller Völker Europas auf dem Spiel standen, erlangten diese Ereignisse ein derart monumentales Ausmaß, daß ihr Widerhall in der restlichen Welt bis heute nicht verstummt ist. Der Krieg von 1812 begann in einer Atmosphäre allgemeinen Aufschwungs. Der Rußland 1807 von Napoleon aufgezwungene Frieden und Bündnisvertrag wurde als Niederlage und Schmach empfunden. Der nach einer Reihe von militärischen Erfolgen siegestrunkene Napoleon beging in Tilsit eine Anzahl schwerwiegender Fehler. Nachdem er Rußland gezwungen hatte, Bedingungen anzunehmen, die dessen Wirtschaft zerrütteten, ließ er sich gleichzeitig zu demonstrativen Gebärden herbei, die den
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Dritter Teil
„schmalen Weg". Die Labsina hat, wie bereits erwähnt, ihren ganzen Bericht nach dem Schema der Heiligenlegenden aufgebaut. Reale Episoden des Lebens werden nur dann in die Memoiren aufgenommen, wenn sie dem allgemeinen Kanon der Lebensbeschreibungen entsprechen. Durch den ganzen Text ziehen sich stilisierte Monologe, die ihn in eine bestimmte dramatische Handlung, in ein Stück Erbauungsliteratur verwandeln. Einzelheiten aus dem Alltag, die eine Illustration dieser oder jener Situation einer Ideenlage geben könnten, fehlen nahezu völlig. Doch ungeachtet dessen sind die Memoiren der Labsina eine wertvolle Quelle für den Historiker. Er erhält hier nicht ein ausführliches, ,objektives' Bild der Welt. Er trifft nur auf Augen, die auf diese Welt blicken.
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A. A. Murawjew-Apostol sagte von der Generation der Dekabristen nicht ohne nachhaltigen Grund: „Wir waren Kinder des zwölfer Jahres". Der Krieg von 1812 vermittelte der Generation der adligen russischen Jugend jene Lebenserfahrung, die zu Beginn des 19. Jahrhunderts die schwärmerischen Patrioten auf den Senatsplatz führte. Der Charakter des vorliegenden Buches zwingt uns, mit den Augen eines Historikers der kriegerischen Ereignisse auf diesen Krieg zu blicken, die Schlacht und den Kampf der sozial-politischen und der persönlichen Interessen nicht von der hohen Warte der großen historischen Ereignisse aus zu beschreiben, sondern so, wie der russische Offizier ihn sah, der „das fröhliche Pfeifen der Kugeln zum ersten Mal hörte". Uns wird das Alltagsbild der Kriegsereignisse interessieren, jene Geschichte, die Leo Tolstoi so lebendig nachempfand, der Kriegsalltag, in dem sich der geistige Reifeprozeß der jungen Offiziere des Jahres 1812 vollzog. 88 Der Krieg von 1812 griff in das Leben aller Stände der russischen Gesellschaft, ja man kann sagen, ganz Europas ein. In Europa hatten die Kriege seit 1792 nicht aufgehört, sie waren bald am Rhein, bald in Italien aufgeflammt, hatten bald die Alpenregion und Spanien ergriffen und sich bis Ägypten ausgedehnt. Aber als der Krieg den ganzen Raum zwischen Saragossa und Moskau erfaßte und einerseits das Imperium Napoleons, andererseits das Schicksal aller Völker Europas auf dem Spiel standen, erlangten diese Ereignisse ein derart monumentales Ausmaß, daß ihr Widerhall in der restlichen Welt bis heute nicht verstummt ist. Der Krieg von 1812 begann in einer Atmosphäre allgemeinen Aufschwungs. Der Rußland 1807 von Napoleon aufgezwungene Frieden und Bündnisvertrag wurde als Niederlage und Schmach empfunden. Der nach einer Reihe von militärischen Erfolgen siegestrunkene Napoleon beging in Tilsit eine Anzahl schwerwiegender Fehler. Nachdem er Rußland gezwungen hatte, Bedingungen anzunehmen, die dessen Wirtschaft zerrütteten, ließ er sich gleichzeitig zu demonstrativen Gebärden herbei, die den
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Stolz der Russen beleidigen mußten. In den darauffolgenden Jahren spitzten sich die Beziehungen der beiden damaligen Großmächte in Europa bis zum Äußersten zu. Man steuerte auf den Krieg zu, und der Gedanke daran gewann nicht nur in den Militärkreisen, sondern auch bei der Masse des russischen Adels an Popularität. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, daß es in der Gesellschaft keine Bedenken gab. Vor allem war die Haltung des Zaren selbst zwiespältig. Der willensschwache und rachsüchtige Alexander I. hegte Napoleon gegenüber persönliche Haßgefühle: Die Erinnerung an die Erniedrigungen durch den triumphierenden Kaiser der Franzosen hatten sich ihm tief eingeprägt. Außerdem kam Alexander nicht umhin, die Welle des Patriotismus, die das Land ergriffen hatte, zu berücksichtigen. Auch M. I. Kutusow und F. W. Rostoptschin gegenüber empfand Alexander I. tiefes Mißtrauen, doch unter dem Druck der öffentlichen Meinung sah er sich gezwungen, den beiden die wichtigsten Posten anzuvertrauen. Gleichzeitig war der russische Zar unschlüssig: Er hielt Napoleon für unbesiegbar. Die „Sonne von Austerlitz" war noch zu fest in seinem Gedächtnis verankert. Puschkin schrieb später: „Bei Austerlitz war er geflohen/ im zwölfer Jahr ergriff ihn Furcht". Auch überschätzte Alexander I., der Rußland zutiefst mißtraute, die Schwäche seines Reiches. Das alles bestimmte das Verhalten des Zaren in den Tagen vor dem Ausbruch des Krieges. Einerseits stellte er die Armee auf den Krieg ein und nahm während der diplomatischen Verhandlungen eine kompromißlose Haltung ein. Die Instruktion, mit der Alexander Balaschow zu Napoleon schickte, bedeutete faktisch den Beginn des Krieges. Wichtiger noch sind die schon früh bekannt gewordenen Details: Zusammen mit Balaschow wurde, mit Erkundungsaufgaben, auch ein junger Offizier zu Napoleon geschickt, später einer der führenden Köpfe der Dekabristen, Michail Orlow. 89 Der Charakter der Berichte, die Orlow liefern sollte, wies deutlich darauf hin, daß man sich im kaiserlichen Stab auf den Krieg vorbereitete. Und auch die deutliche Orientierung Napoleons auf einen Krieg schloß jede andere Möglichkeit aus. Dennoch hoffte Alexander I. bis zur letzten Minute, daß es gelingen würde, den Krieg, der ihn schreckte, zu vermeiden. Die Nachricht, daß Napoleon den Njemen überquert hatte, erreichte den Zaren auf dem Landgut Bennigsens. Historiker hielten die von einer unversöhnlichen Stimmung zeugenden Worte Alexanders I. fest. Eine andere Seite der Empfindungen * Bezeichnend ist beispielsweise eine Episode wie diese: Während der Begegnung beider Kaiser in Tilsit das Treffen sollte auf dem Wasser stattfinden, auf einem Floß auf dem Njemen, der beide Armeen trennte, demonstrativ in gleicher Entfernung sowohl von den französischen als auch von den russischen Truppen), fuhr N a p o l e o n absichtlich einige Minuten früher als Alexander I. zu dem „Kaiserfloß", so daß er Alexander I. nicht in der Mitte des Floßes, sondern als .Gastgeber' an dessen östlichem Rand entgegentreten konnte.
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des Zaren in diesen entscheidenden Minuten beschrieb ein Zeitgenosse, der die einzigartige Möglichkeit erhalten hatte, Zeuge dessen zu werden, was Alexander I. sorgsam verbarg. Vor den Würdenträgern des Staates wiederholte Alexander in diesen Tagen gern einen Ausspruch, der ihm besonders gefallen hatte und der besagte, daß er sich lieber einen Bart stehen lassen und nur von Brot leben würde, als sich auf einen Frieden mit Napoleon einzulassen. In dieser Umgebung demonstrierte der Zar Härte. Aber es gab einen Zeugen, vor dem er die Verwirrung, die ihn erfaßt hatte, nicht zu verbergen suchte. Das war der Zwerg des Grafen Piaton Subow, der sich zu dieser Zeit mit den Subowschen Kindern im Hause Bennigsens aufhielt. In seinen in einfältiger, kaum literaturfähiger Sprache geschriebenen Memoiren erzählt dieser vom Verhalten des Zaren in den ersten Minuten nach dem Erhalt der Nachricht vom Eindringen Napoleons. Der Zar suchte in dem von Gästen überquellenden Haus vergeblich nach einem Platz, an dem er seinen Gefühlen unbemerkt freien Lauf lassen konnte. Der Verfasser der Memoiren erzählt, daß Alexander den Zwerg bat, ihn vor fremden Blicken zu verbergen, und der Zwerg führte den russischen Kaiser in das Kinderzimmer, aber auch dort fand dieser keinen ruhigen Platz...90 Nicht weniger bezeichnend ist der Brief, den Alexander I. seiner ihm besonders nahestehenden Schwester, Jekaterina Pawlowna, schrieb. Dieser Brief spricht von mangelndem Glauben an sich selbst, von der ungerechten abfälligen Beurteilung durch die führenden russischen Feldmarschälle und von der panischen Angst des Zaren vor Napoleon. Nicht zufällig erkannten bald auch seine Anhänger die Sinnlosigkeit und, mehr noch, die Schädlichkeit seines Aufenthaltes bei der Armee. Die Entscheidung darüber, daß der Herrscher die Armee besser verlassen solle, trafen die ihm am nächsten stehenden Würdenträger einschließlich A. A. Araktschejews. Dennoch wurde der nach Moskau gereiste Zar von den patriotisch gesinnten Einwohnern dort mit Ehren empfangen, was die bittere Pille ein wenig versüßte, doch nach Petersburg kam er keineswegs als Sieger. Zu berücksichtigen sind auch die zwar nicht eben zahlreichen und durch den Sturz M. M. Speranskis völlig zum Schweigen gebrachten Stimmen jener Gruppe von politisch einflußreichen Männern, die der Ansicht waren, daß die inneren Reformen Rußlands notwendiger als die kriegerischen Handlungen seien, und die befürchteten, daß der Krieg mit Napoleon die Durchführung der Pläne einer Konstitution für lange Zeit verhindern würde. Die Mehrheit der russischen Gesellschaft wurde von einer vehementen antinapoleonischen Stimmung erfaßt. Und diese erfuhr eine derartige Steigerung, daß sich in den angespanntesten Momenten des Krieges die Unterschiede zwischen den einzelnen Ideengruppen fast völlig verwischten. Wir wollen zwei bezeichnende Beispiele dafür anführen. Als Nikolai Michailowitsch Karamsin als einer der letzten Moskau verließ und gerade noch die Manuskripte seiner „Geschichte des Russischen Reiches" retten konnte, begegnete er beim Verlassen der Stadt einem alten
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Bekannten, dem patriotischen und gutmütigen Sergej Glinka. Dieser, ein unausgeglichener Mensch, in dem sich die Weichheit seiner Seele mit Ausbrüchen höchsten Enthusiasmus verband, befand sich auf einem Höhepunkt tragischer Euphorie. Inmitten einer Volksmenge stehend und aus irgendeinem Grunde eine große Melonenscheibe schwenkend, erging er sich in Prophezeiungen über den künftigen Gang der Ereignisse. Als er Karamsin erblickte, wandte Glinka sich diesem mit einer düsteren Frage zu: „Wohin enteilen Sie denn? Die Ihnen hier nahe sind, das sind doch Ihre Freunde! Oder gestehen Sie endlich ein, daß es Menschenfresser sind, die vor ihren Lieben fliehen! Nun, dann mit Gott! Gute Reise für Sie!" 91 Karamsin drückte sich schweigend und wohl auch rechtzeitig in eine Ecke der Kutsche; in der aufgeheizten Atmosphäre dieses Tages konnte eine Diskussion mit Glinka dem Schriftsteller das Leben kosten. Diese eben geschilderte Episode bekommt ihren eigentlichen Sinn, wenn man sie mit einer anderen, am gleichen Tag geschehenen vergleicht. Karamsin, an den Glinka sich in seiner Vorstellung als an einen Gallomanen erinnerte, verbrachte den Tag auf die folgende Weise. Am Vorabend, nachdem er seine Familie aus Moskau fortgeschickt hatte, war er zum Haus F.W. Rostoptschins gefahren, mit dem ihn verwandtschaftliche Beziehungen verbanden; ihre Ehefrauen waren Schwestern. Karamsins und Rostoptschins Charaktere und Sympathien waren zu gewöhnlichen' Zeiten derart verschieden, daß eine Gemeinsamkeit zwischen ihnen zu anderen Zeiten überrascht hätte. Aber in den letzten Tagen vor der Aufgabe Moskaus hatte Karamsin an den Abenden in Rostoptschins Haus Napoleons Untergang nicht anders vorhergesagt als Glinka. Mehr noch: am Morgen des gleichen Tages, als Glinka dessen „Gallomanie" entlarvte, hatte Karamsin noch vorgehabt, an der Schlacht um die Mauern Moskaus teilzunehmen, und er verließ die Hauptstadt erst, als klar wurde, daß die Stadt kampflos übergeben werden würde. Zuvor hatte er noch einigen seiner jungen Freunde, die bereit gewesen waren, an den Mauern der Stadt zu kämpfen und zu sterben, seinen Segen erteilt. In „Krieg und Frieden" ist Leo Tolstoi tief in die Dynamik der gesellschaftlichen Verhältnisse und deren Psychologie eingedrungen, wobei er zeigte, wie der Bonapartismus von gestern bei den russischen Freiheitsliebenden in dem Moment, als der Krieg auf das Territorium Rußlands übergriff, in heroischen Patriotismus umschlug. Die patriotische Stimmung erfaßte sowohl die Männer als auch die Frauen, wie das in „Krieg und Frieden" grandios gestaltet wurde, und ebenso in dem schon mehrmals erwähnten Puschkinschen „Roslawljew" und in A. Gribojedows unvollendeten Mysterien-Drama „Das Jahr 1812". Der Krieg veränderte vom ersten Tag an das alltägliche Leben der Armee und brachte eine vollkommen neue Lebensweise sowie eine Ordnung hervor, die derjenigen, die in der Vorkriegszeit geherrscht hatte, völlig entgegengesetzt war. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts war die russische Armee,
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im Gegensatz zu der petrinischen und der Suworowschen eine ,ParadeArmee.' Unter Trommelschlag und Flötenklang sollte sie wie bei einem Ballett, die Beine werfend, defilieren. Die ,Parade-Armee' fiel nicht nur durch die Fülle von Elementen aus dem Rahmen, die vom Standpunkt der militärischen Logik aus gesehen völlig sinnlos waren. Das von der preußischen Armee übernommene Exerzierreglement war keine Marotte Pauls I. und der Pawlowitschs, sondern Politik. Ahnlich, wie ein Dompteur in der Mehrzahl der Fälle der natürliche Feind der Tiere ist, was die Möglichkeit einer Solidarität oder einer Ubereinkunft zwischen ihnen ausschließt, machte das preußische Ausbildungssystem den Soldaten und den Offizier zu Feinden. Der Soldat haßte den Offizier mehr als den Gegner, und die Antwort des Offiziers darauf war dem ebenbürtig. Die preußische Methodik erfreute den Blick der Pawlowitschs nicht nur durch den ballettähnlichen Ablauf der Bewegungen, sie erzog die Armee auch in der Weise, daß die Offiziere im Falle eines Umsturzes nicht auf die Unterstützung der Soldaten bauen konnten. Eine solche Armee ließ sich zu glänzenden Demonstrationen enthusiastischer Reglementseinfälle verwenden, zu einem Krieg taugte sie jedoch nicht. Die Worte „Ein Krieg verdirbt die Armee" gingen nicht zufällig in der nahen Umgebung der Pawlowitschs von Mund zu Mund. Alle Vorstellungen dieser Art wurden durch das Jahr 1812 weggefegt. Es konnte keine ,ParadeArmee' brauchen. Die Geschichte forderte eine Volksarmee, die zu gewaltigen Massenanstrengungen, zu Massenopfern fähig war. Der Krieg hat verschiedene Seiten. Uns interessiert, wie bereits gesagt, jene Seite der Ereignisse, die L. Tolstoi und Stendhal faszinierte, das Verhalten des Menschen im Krieg. Alexander Twardowski schrieb: Die Städte liefern Soldaten, Die Generäle nehmen sie. Aber zwischen dem General und dem Soldaten steht der Offizier. Im Jahre 1812 war das ein junger Adliger. Viele dieser Offiziere begannen ihr Leben gewissermaßen auf den Schlachtfeldern. Von ihnen soll die Rede sein. Der Krieg gab dem Leben einen völlig neuen Stil und ein neues Zeitgefühl, das galt nicht nur für die Soldaten, sondern auch für die Offiziere, insbesondere für diejenigen, die nur über eine geringe Kriegserfahrung verfügten. Sie hatten noch keine Gelegenheit gehabt, sich an die Schwierigkeiten eines Feldzuges zu gewöhnen. Blieben beispielsweise an Tagen eines Rückzuges die Kutschen, die Offiziersburschen und das Geld bei den Generälen, so hatten die unteren Offiziere das alles in den ersten Tagen des Krieges bereits verloren: Die Kutschen waren irgendwohin verschwunden, die Offiziersburschen zurückgeblieben, und die leibeigenen Köche waren plötzlich in irgendwelchen anderen Dörfern. Aber die Offiziere mußten sich zu jener Zeit noch auf eigene Kosten ernähren, Lebensmittel kaufen, und das in dem ruinierten Land und obwohl sie in der Regel kaum Geld hatten. Vermögende junge Leute dienten
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gewöhnlich in der Garde, der Armeeoffizier entstammte sehr oft unbemittelten Familien, und seine finanziellen Möglichkeiten waren recht begrenzt. Aus dem Tagebuch des Generals N. N. Murawjow-Karski können wir einiges über die Lebensbedingungen eines jungen Offiziers zu Anfang des Krieges erfahren. Die Brüder Murawjow hatten sofort versengte, zerrissene, Mäntel; und einer von ihnen erkrankte. Beim Rückzug waren die Stuben in den Bauernhütten mit Verwundeten angefüllt, die man aufs Geratewohl dort hineingeworfen hatte; Läuse traten auf, Typhus brach aus. Das alles war für die jungen Menschen, die von französischen Gouvernanten erzogen worden waren und ihre Kindheit in der Schweiz verbracht hatten, etwas absolut Neues. Aber sie sahen in erster Linie nicht das eigene Unglück, sie sahen Rußland und das Leid des Volkes. Es ist schwer vorstellbar, wie sehr sich das Leben eines Offiziers veränderte, der in die Bedingungen des Krieges geriet. Im Krieg blieb eine Vielzahl von unabdingbaren Details, die in Friedenszeiten das Leben in der Armee ausmachten, auf der Strecke. Nicht nur die Paraden hörten auf, sondern auch die Wecksignale, denn im Krieg wird niemand geweckt und zur Nachtruhe aufgefordert, das besorgt der Feind. Hier wurden vom Soldaten nicht mehr blanke Kragenspiegel und geputzte Stiefel verlangt. Vor allem aber näherte sich die Offiziersjugend stärker den Soldaten an. Vor dem Krieg war der Offizier dem Soldaten als Kommandeur einer Kompanie oder eines Bataillons entgegengetreten. Er kam um acht Uhr morgens zum Exerzieren und ungefähr um zwölf, eins ging er wieder. Danach befaßte sich der Feldwebel mit den Soldaten. Nun aber standen der Soldat und der Offizier die ganze Zeit über nebeneinander, und wir werden sehen, welch einen gewaltigen Einfluß das auf die Generation der künftigen Dekabristen haben wird. Bereits in der Phase des Rückzuges bildeten sich zwischen dem Soldaten und dem Offizier völlig neue Beziehungen heraus. Man sollte sie aber nicht idealisieren, diese Beziehungen waren häufig auf dem Boden der Leibeigenschaft gewachsen. Aber Gutsbesitzer und Bauer waren nicht nur Feinde. Die grobe Masse der Bauern sah die privilegierte Situation des Gutsherrn als etwas Naturgegebenes an, der Haß richtete sich gegen den „schlechten" Herrn. Natürlich blieben die Offiziere für die Soldaten weiterhin die Herren, doch nun, anders als bei der Parade, war ihre Existenz einsehbar und motiviert: Ohne sie zu kämpfen war unmöglich. Gleichzeitig sahen auch die Offiziere in den Soldaten Teilhaber an den historischen Ereignissen. Besonders deutlich wurde dieser neue Stil im Partisanenleben. N . Troizki bewies erst kürzlich, daß über die Partisanenbewegung bereits nachgedacht worden war, noch bevor Denis Dawydow Kutusow seine Prinzipien dargelegt hatte. 92 Aber die Geschichte verbindet den Partisanenkrieg zu recht mit dem Namen D. Dawydows. Der Dichter erwies sich nicht nur als mutiger Praktiker der Partisanenbewegung, er entwickelte auch eine bis heute gültige Theorie. Er unterstrich die unbedingte
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Volkstümlichkeit eines Partisanenkrieges und die in diesem unvermeidliche Annäherung von Soldat und Offizier. Interessant ist auch der Hinweis Denis Dawydows darauf, daß ein Volkskrieg vollkommen neue Praktiken erforderte. Als Dawydows Husaren zum ersten Mal im Rücken des Feindes in den Dörfern auftauchten, hätten die russischen Mushiks fast auf sie geschossen, weil die Uniformen, sowohl die französischen als auch die russischen, mit ihren Goldstickereien den Bauern gleichermaßen fremdartig erschienen und sie die Husaren für Franzosen hielten. „Ich begriff damals", schrieb Dawydow, „daß man sich in einem Volkskrieg nicht nur die Sprache des gemeinen Volkes zulegen, sondern sich dem gemeinen Volk auch in den Bräuchen und in der Kleidung anpassen muß. Ich zog den Kaftan der Mushiks an, ließ mir einen Bart stehen, hängte mir statt des Annenordens das Bild des heiligen Nikolai um und begann mit ihnen in der Sprache des Volkes zu reden". 9 3 Zwar gab es in Rußland keinen Nikolaiorden, aber dieser Heilige, dessen Bild im Bewußtsein des Volkes manchmal sogar das Bild Christi zurücktreten ließ, war zutiefst national. Es vollzog sich also ein doppelter Austausch: Das militärische Symbol wurde durch ein kirchliches ersetzt, und das adlige durch ein volkstümliches. Die Ikone des heiligen Nikolai wurde auch von Dawydow selbst, ebenso wie seine Partisanentätigkeit, als eine Annäherung an das Volk verstanden. Die Frage hatte auch eine praktische Seite. Nur mit solch einem Aussehen (Bauernrock, Bart und Ikone) und vor allem mit dem Verzicht auf die französische Sprache, die zu benutzen auch den PartisanenHusaren verboten war, erhielt die Abteilung Denis Dawydows rasch Zuwachs aus den Kreisen der Bauern, was zum Signal des Volkskrieges wurde, der für das endgültige Schicksal der napoleonischen Armee eine so große Rolle spielen sollte, und in einem noch größeren Maße für die Bewußtseinsveränderung des gebildeten russischen Menschen, des Adligen. U n d noch ein weiterer Umstand ist festzuhalten. Die jungen Offziere waren in den ersten Tagen des Krieges in einen völlig neuen Raum h i n e i n geworfen' worden. I m Jahre 1812, wie überhaupt in jener Zeit, hatte der Krieg Manövercharakter, war beweglicher, man hob keine Schützengräben aus, und sogar bei den großen Schlachten, auch der von Borodino, gab es nur rasch errichtete Brustwehren. Für die russische Armee begann der Krieg mit dem Rückzug. In Richtung des Smolensker Weges bewegte sich zuerst die Erste Armee, und dann, nachdem diese sich mit der Zweiten vereinigt hatte, die ganze Armee. D e r Treck erstreckte sich über 3 0 - 4 0 Werst. Ein Kavallerist konnte diese Strecke im Laufe einiger Stunden zurücklegen. Deshalb wurde es plötzlich sehr einfach, im Nachbarregiment den Freund, den Bruder oder den Gutsnachbarn aufzusuchen. Faktisch fand sich in diesen Tagen die ganze Offiziersjugend Rußlands auf dem Smolensker Weg zusammen. D i e Offiziere wurden auch von den materiellen Schwierigkeiten erfaßt, von denen weiter oben bereits die Rede war, vom allgemeinen patriotischen Aufschwung und Gedanken über das Schicksal
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des Landes. Endlose Erörterungen und Streitgespräche fanden statt, und in ihnen wurde ein neuer Mensch geboren, der Mensch der Dekabristenepoche. Sehen wir die Fronttagebücher und Briefe der jungen Offiziere dieser Tage durch, die häufig auf Französisch geschrieben wurden, finden wir angespannte Überlegungen über Rußland, über das Volk und daneben Gedanken über die Literatur, Zeichnungen usw. Mit Erstaunen stellen wir fest, daß die jungen Offiziere in den kurzen Stunden der Nachtruhe Zeit fanden, über Kunst, über menschliche Sitten und Bräuche zu streiten. Werfen wir einen Blick in das Tagebuch A. Tschitscherins. 1812 war der junge Offizier Alexander Tschitscherin neunzehn Jahre alt. In der Schlacht bei Kulm wurde er schwer verwundet und starb in einem Militärhospital in Prag; er wurde dort auf dem russischen Friedhof begraben; sein Grabmal existiert noch heute. Sein Erzieher war Malherbe gewesen, ein in Moskau recht bekannter Lehrer, der auch den Dekabristen M. Lunin unterrichtet hatte, und Lunin zählte Malherbe später zu den Menschen, die ihn am stärksten beeinflußt hatten. Der Semjonower Offizier Tschitscherin lebte in einem Zelt mit dem Fürsten Sergej Trubezkoi, dem späteren Dekabristen, dann erfolglosen Rebellen des 14. Dezember und mehrjährigen Sträfling, und mit Iwan Jakuschkin, auch dieser ein künftiger Dekabrist und Katorgasträfling. Dorthin kam auch der Dekabrist Michail Orlow. Und auch Tschitscherin wäre, hätte ihn nicht die Kugel eines Franzosen aus dem Korps des Marschalls Vendome niedergestreckt, nach Sibirien geraten. Tschitscherins überliefertes Tagebuch setzt sofort nach der Schlacht von Borodino ein. Der junge Mann, fast noch ein Knabe, notiert und zeichnet seine Eindrücke. Zwischen der Schlacht von Borodino und der Ankunft der russischen Armee in Moskau notiert er: „An einem Tag habe ich drei Zeichnungen gemacht und zwei Kapitel geschrieben". 94 Alle Notizen Tschitscherins sind sehr interessant: Der Inhalt des Tagebuches gibt das reale Alltagsleben wieder, in vielem ein zufälliges, das heißt das wirkliche Leben. „Nach der Schlacht von Borodino sprechen wir über die Gefühle, die wir beim Anblick des Schlachtfeldes empfunden haben; es ist wohl nicht nötig, darüber zu reden, welche Gedankengänge uns auf das Gespräch über das Gefühl brachten. Broglio (der ältere Bruder des Lyzeumszöglings und Studienkameraden Puschkins. - J. L.) glaubt nicht an das Gefühl.... - Das sind alles Chimären, sagte Broglio, nur Einbildungen: Da siehst du eine Blume oder einen Grashalm und sagst dir: ,Das muß einen anrühren', und obwohl du dich kurz zuvor noch in einer fröhlichen Stimmung befunden hast, schreibst du plötzlich Zeilen, die den Leser veranlassen, Tränen zu vergießen. Ich bestritt das, widersprach ihm eine ganze Stunde... Schließlich war es Zeit, sich schlafen zu legen, und in der Frühe gingen wir durch Moskau." (S. 17)
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Hätte Tschitscherin seine Gefühle nicht einem Kriegstagebuch anvertraut, sondern viele Jahre später in Memoiren wiedergegeben, hätte er gewiß beschrieben, welche Gedanken über das Schicksal Rußlands sie in der Nacht vor dem Gang „durch M o s k a u " bewegt hatten. U n d es wäre die Wahrheit gewesen, denn natürlich waren es gerade solche Gedanken, die die jungen Offiziere vor dem Verlassen Moskaus erfüllten. Aber über diese geheimen, fast schmerzhaften Gedanken spricht man in der Regel nicht, über sie zu reden wäre anstößig. Aber Tschitscherin und seine Gesprächspartner lasen Schiller und Shakespeare, und sie begriffen sich als Zeugen bedeutender Ereignisse. Dabei analysierten sie vor allem ihr Verhältnis dazu. Nicht zufällig wird derjenige von ihnen, der das alles überlebt, zum Romantiker werden. In der Nacht nach Borodino bringen sich die jungen Leute um den Schlaf, weil sie damit beschäftigt sind, den vergangenen Tag zu begreifen, ihre Gefühle zu verstehen und zu analysieren und die Ereignisse des Krieges zu Fakten ihrer Selbsterkenntnis zu machen. Wir haben gewissermaßen die intimste Seite des historischen Prozesses beobachtet, die Verwandlung eines Ereignisses in das Faktum des Gedankens. Gerade hier beginnt die Umwandlung des historischen Geschehens, des Krieges mit Napoleon, in den Fakt des historischen Bewußtseins, der zu den Ereignissen auf dem Senatsplatz führen wird. E s folgt die Eintragung: „Der Krieg läßt uns derart verwildern, die Gefühle werden bis zu solch einem Grad mit einer Kruste überzogen, das Bedürfnis zu schlafen und zu essen ist so drängend, daß der Verdruß über den Verlust allen Besitzes' auch meine Stimmung stark beeinflußt hat und ich zuerst glaubte, daß das Verlassen Moskaus meine Niedergeschlagenheit hervorgerufen hat" (S. 17). Dieser Knabe wollte nur Patriot sein, aber er mußte auch noch essen, mußte schlafen, brauchte die einfachsten Dinge, um leben zu können, und das bedrückte ihn, den jungen Romantiker, zutiefst. Die letzte Eintragung ist auch in einer anderen Hinsicht interessant: Die ständige Selbstbeobachtung läßt Tschitscherin zwangsläufig über die Aufrichtigkeit, über den wirklichen Sinn seines Gemütszustandes nachdenken. Er möchte sich selbst, seine innere Welt, einer unnachsichtigen Selbstanalyse unterziehen und seine unnachsichtige Analyse analysieren. In den Überlegungen Tschitscherins ist jener Gedankengang zu erkennen, der von der Psychologie des Sentimentalismus zum Tolstoischen Psychologismus führte. Tschitscherin fand ein paar Geldscheine in seiner Flocktasche und zog sie heraus: „Voller Schwermut und Trauer hielt ich einige Banknoten in den Händen... Ich erschauerte bei dem Gedanken an die heiligen Altäre des Kremls, die durch die Hände der Barbaren entweiht werden. Man hat über einen Waffenstillstand gesprochen. Er wäre schmachvoll... Ich hielt einen Geldschein in der Hand, betrachtete ihn und las die Aufschrift,Liebe zum * Im Moment dieser Tagebuchaufzeichnung besaß Tschitscherin nichts außer seinem Mantel.
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Vaterland'." Diese Aufschrift enthusiasmierte den jungen Offizier, aber als er den Geldschein umdrehte, las er:,, ,50 Rubel'. Die Enttäuschung war entsetzlich!" (S. 17) Selbst in den Ruhepausen zwischen den Kämpfen, in denen er seine von treuherziger Aufrichtigkeit erfüllten Gedanken niederschrieb, kam der junge Offizier nicht von dem reinen Erzählstil Sternes ab. Der geistige Entwicklungsgang Tschitscherins verlief rasch. Bereits einige Tage nach dem Verlassen Moskaus schrieb er: „Ich habe immer die Menschen bedauert, die über die Macht verfügen. Schon mit 14 Jahren habe ich aufgehört davon zu träumen, ein Herrscher zu werden". (S. 20) Diese Notiz ist außerordentlich interessant. Was bedeutet „davon zu träumen, ein Herrscher zu werden" ? Kein Kadett - und Tschitscherin gehörte mit vierzehn Jahren dem Kadettenkorps an - konnte davon träumen, zum Zaren Rußlands zu werden. Dafür aber hatten alle Napoleon vor den Augen, den Artillerieoffizier, der zum Kaiser geworden war und das Schicksal Europas in den Händen hielt. „Wir alle blicken auf die Napoleons", sagte Puschkin. Aber Tschitscherin hörte mit vierzehn Jahren auf, davon zu träumen, er begann statt dessen von der Freiheit zu träumen. Interessant sind Tschitscherins Aufzeichnungen aus der Tarutiner Zeit, als die Armee sich aus Moskau zurückgezogen hatte. Es finden sich bemerkenswerte Gedanken darüber, wie er Moskau gesehen hatte und nicht glauben konnte, es gesehen zu haben. Dann Tarutino, Flankenmarsch, angeblich brach die Armee auf, um in den Rücken der Franzosen zu gelangen, schlug ein Feldlager auf. Eine kurze Pause, und die Gespräche begannen. Hier, während des Aufenthaltes die Kampfpause dauerte etwa einen Monat - vollzog sich eine außerordentlich rasche Reifung des jungen Offiziers. Es folgt eine neue Eintragung: „Die Idee der Freiheit, die sich über das ganze Land ausgebreitet hatte, die allgemeine Armut, der Ruin der einen, der Ehrgeiz der anderen, die schändliche Situation, in die die Gutsbesitzer gerieten, der erniedrigende Anblick, den sie ihren Bauern bieten - das alles sollte nicht zu Unordnung und Aufständen führen?... Ich ließ mich wohl zu sehr von meinen Gedanken hinreißen, aber der Himmel ist gerecht: Er sendet verdiente Strafen herab, und vielleicht sind Revolutionen im Leben von Kaiserreichen genauso notwendig, wie die moralischen Erschütterungen im Leben eines Menschen... Aber möge der Himmel uns vor Aufruhr und Aufständen bewahren, und möge er durch göttliche Eingebung dem Herrscher beistehen, der unermüdlich um das Wohl bemüht ist, alles versteht und voraussieht und bis heute sein Glück nicht von dem seiner Völker trennt!" (S. 47).
Die Überlegungen Tschitscherins sind überaus typisch. Natürlich konnte im Jahre 1812 kein Mensch in Rußland eine Volksrevolution wünschen, das wäre völlig unzeitgemäß gewesen. Die Hoffnungen ruhten auf dem Herrscher. Aber der Gedanke an die Unerläßlichkeit der Freiheit, an die, im äußersten Falle, Zulässigkeit von Revolutionen kommt dem Knaben, der nicht einmal zwanzig Jahre alt werden wird, in Tarutino schon in den Sinn. Hier macht sich der Einfluß der Kriegsereignisse bemerkbar.
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Anders, schon weitaus gereifter, begegnete ein anderer Mensch, dessen Schicksal nicht weniger charakteristisch ist, dem Krieg. Das war der Professor der Dorpater (heute Tartuer) Universität, Andrej Sergejewitsch Kaisarow. Er wurde 1782 geboren und starb im Jahre 1813. Der Tod Tschitscherins fiel mit dem Tod Kaisarows zusammen, nur daß Tschitscherin bei Kulm in Süddeutschland starb und Kaisarow im wesentlich nördlicher gelegenen Bautzen. Das geistige Leben Kaisarows begann in einem Moskauer Zirkel junger Freiheitsliebender in den letzten Lebensmonaten Pauls I. Die jungen Leute verschlangen Schillers Werke. Ihr Ideal war Karl Moor, der rebellische Tragödienheld der Schillerschen „Räuber". Alle Mitglieder des Zirkels träumten vom Tyrannenmord, aber ihre Lebenswege trennten sich rasch. Der talentvollste von ihnen, Andrej Turgenjew, starb früh. Ein anderes glänzendes Talent, A. F. Mersljakow, wurde Professor in Moskau, von ihm wird Puschkin später sagen: „Der gute Trinker Mersljakow erstickte in der Universitätsatmosphäre". Ein drittes Mitglied dieser literarischen Freundesgesellschaft war W. Shukowski. Kaisarow war in dieser Zeit ein junger Offizier. Unter dem Einfluß seiner literaturbegeisterten Freunde nahm Kaisarow seinen Abschied. Wie alle Mitglieder des Zirkels war er von Schiller, Goethe und später auch von Shakespeare begeistert. Bald beginnen sich jedoch seine Interessen zu ändern. Überdeutlich die Mängel seiner Bildung empfindend, beginnt Kaisarow sich mit politischer Ökonomie zu beschäftigen und entschloß sich später, Wissenschaftler zu werden. Dieses Vorhaben ließ in dem ehemaligen Offizier eine große geistige Selbständigkeit reifen: Wissenschaftler war kein adliger Beruf (Wir erinnern an die Worte der Prostakowa im „Landjunker": „Geographie, das ist doch keine adlige Wissenschaft"). Unter den Professoren in Rußland gab es bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts niemanden, der dem Erbadel entstammte. Der erste adlige Abkömmling auf dem Universitätskatheder war G. Glinka. Dieses außerordentliche Ereignis wurde von Karamsin in einem besonderen Artikel im „Europäischen Boten" hervorgehoben. Doch andere Adlige, die dem Beispiel Glinkas und Kaisarows gefolgt wären, fanden sich nicht. Die Handlung von „Verstand schafft Leiden" spielt sich später ab, aber auch dort wird das, was der „Fürst Fjodor" unternimmt, er wird Chemiker und Botaniker, empört als eine Verletzung der adligen Etikette empfunden: „Entweder in die Apotheke oder geradewegs in die Handwerkerzunft". Nicht umsonst „übte" Kaisarow, ähnlich dem Helden in „Verstand schafft Leiden", „sich im Schisma und im Unglauben". Der Weg zur Wissenschaft beginnt mit dem Erlernen von Fremdsprachen. Als hauptstädtischer Adeliger - Die Mutter war Moskauerin, das Stammgut befand sich im Saratower Gouvernement - beherrschte Kaisarow von Kindheit an Französisch. Nun begann das hartnäckige Erlernen anderer Sprachen, vor allem der deutschen und der englischen. In jener Zeit führte der Weg eines jungen, der Wissenschaft zustrebenden Menschen unweigerlich nach Deutschland. Kaisarow ging nach Göttingen.
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Die Göttinger Universität nahm unter den europäischen Lehranstalten einen besonderen Platz ein. Göttingen war zwar eine deutsche Stadt, aber ihre politische Situation war eine besondere in dem aufgesplitterten Deutschland: Die Stadt gehörte zur englischen Krone, und auf ihrem Territorium war die englische Verfassung, die Habeaskorpusakte, wirksam. In Göttingen finden sich freiheitsliebende Professoren aus ganz Deutschland zusammen. Hier lehrt auch der berühmte Erforscher russischer Chroniken, Professor Schlözer, der lange in Petersburg gelebt hatte und dessen Jugend sich mit Rußland verband. Schlözer nahm die russischen Studenten in seine Obhut, und nicht zufällig versammelte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts in Göttingen die Jugend, die später eine sichtbare Spur in der russischen Kultur hinterlassen wird. Gleichzeitig mit Kaisarow studierte auch Alexander Turgenjew in Göttingen, der künftige Freund und Gesprächspartner nahezu aller bedeutenden Schriftsteller, Historiker und großen Politiker Europas, ein Mensch, der 1811 Puschkin an das Lyzeum bringen, und 1837, als einziger der Freunde, den Leichnam des Dichters von Petersburg zum Swjatogorsker Kloster geleiten wird. Nach einigen Jahren wird der Bruder Alexander Turgenjews, Nikolai Turgenjew, der künftige Dekabrist, in Göttingen auftauchen. Und gleichzeitig mit Kaisarow befand sich auch A .P. Kunizyn an der Göttinger Universität, später einer der Lieblingslehrer am Puschkinschen Lyzeum, dem der Dichter die Zeilen widmete: Kunizyn zur Gabe das Herz und den Wein! Er hat uns erschaffen, unser Feuer gehegt, Er hat den Grundstein in uns gelegt, Entzündet des Lämpchens reinen Schein... (Puschkin II, 972) Hierher wird Puschkin später auch Lenski führen. Übrigens wird der Hinweis darauf, daß Wladimir Lenski ein „göttingisch freier Sohn der Musen" war, gewönlich als eine Anspielung auf den Romantizismus des Helden gedeutet. Aber der Leser vergißt dabei häufig den Unterschied zwischen den Göttinger Liberalen und den deutschen Romantikern. Für Puschkin hatte die Erwähnung Göttingens jedoch einen besonderen und tieferen Sinn, und Lenski wurde ursprünglich durchaus nicht zufällig als „Schreihals, Rebell und Poet" charakterisiert, und anstelle des „nebligen Deutschland" stand zuerst: Aus freiem Deutschland brachte er Die Früchte reifer Wissenschaft: Verstand, sehr tief, doch rätselhaft, Und Freiheitspathos, edel, hehr, Beredsamkeit, höchst wunderbar, Und langes schwarzes Lockenhaar. (VI, 267)
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Dem zeitgenössischen Leser verschließt sich ein Teil des Sinns dieser Zeilen, weil er nicht die Bedeutung der Details erfassen kann, die, wie immer bei Puschkin, sehr exakt sind. „Beredsamkeit, höchst wunderbar" bezeichnete beispielsweise den W. Küchelbecker eignenden „beredsamen" und für die bessere Gesellschaft so lächerlichen Hang zu romantischem Benehmen. „Und langes schwarzes Lockenhaar" ist ebenfalls ein für die Zeitgenossen nicht unbedeutender Zug: Der Anglomane Onegin ist „frisiert nach letzter Dandy-Mode", und Lenski, der liberale Romantiker, trägt ähnlich wie Schiller die Locken bis auf die Schultern. Das Resümee der Charakteristik Lenskis: „Anhänger Kants, dazu Poet" ist völlig ernst gemeint; die ironische Einfärbung im Kontext der Puschkinschen Strophe bezieht sich auf Puschkins Verhältnis zum romantischen Liberalismus des Jahres 1824. Auch der Göttinger Kaisarow war ein „Anhänger Kants, dazu Poet". In Göttingen studierte Kaisarow bei dem berühmten Schlözer russische Geschichte und Ökonomie. Hier schrieb er auch, in Latein, seine Dissertation. Bemerkenswert ist der Titel dieser Arbeit: „De manumittendis per Russiam servis", was übersetzt soviel heißt wie „Uber die Notwendigkeit der Befreiung der Sklaven in Rußland". Aber der Göttinger Student war nicht nur von Freiheitsliebe durchdrungen, ein in jenen Jahren durchaus nicht ungewöhnlicher Zug. Kaisarow verwendete viel Energie auf die Beschäftigung mit den politischen Wissenschaften. Einem Rat seines Lehrers folgend, arbeitete Kaisarow das Programm eines überaus umfassenden Studiums des Volkslebens der Slawen aus. Liberalismus und Volkstümlichkeit flössen ihm zu einem einheitlichen Plan zur Schaffung einer „Wissenschaft vom Volk" zusammen, die eine für die damalige Zeit unerhörte Fülle von Problemen und Material erfaßte. Sein Vorhaben schloß die Folklore aller slawischen Völker ein. Er besucht die Landstriche der Tschechen, der Lausitzer Sorben und der Kroaten. Auch die Serben interessierten ihn, und er unternahm eine nicht ungefährliche Reise in die von der Türkei besetzten Gebiete (immerhin waren die Beziehungen zwischen der Türkei und Rußland zu dieser Zeit äußerst feindselig). Kaisarow war bereits ein Mensch mit einer profunden Universitätsbildung. Er verbrachte einige Zeit in England und Schottland. Insbesondere in England sammelte er Handschriften, die die russische Geschichte betrafen. In Edinburgh erlangte Kaisarow sein zweites Doktordiplom, diesmal für Medizin. 1810 erhielt er eine Professur an der Universität in Dorpat. Während der kurzen Zeitspanne, die er nach seiner Rückkehr aus dem Ausland in der Heimat in Saratow verbracht hatte, war er endgültig zu der Überzeugung gekommen, daß er die ausgetretenen Adelswege verlassen müsse. Er hatte sich schon den „nicht standesgemäßen Wissenschaften" verschrieben und entschied sich nun für eine Zukunft als Professor in Dorpat (Dorpat ist noch nicht ganz Rußland: vermutlich hätte Kaisarow eine Professur an einer russischen Universität ausgeschlagen).
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Der junge Lehrer kam Anfang 1811 nach Dorpat, und der Eindruck, den er dort machte, muß sehr positiv gewesen sein. Schon ein Jahr darauf wurde er zum Dekan gewählt. Er begann den Kurs für russische Sprache zu leiten, arbeitete an einem Wörterbuch aller slawischen Sprachen (ein grandioses Vorhaben!) und an einem Wörterbuch der altrussischen Sprache. Doch da roch es bereits nach Krieg. Noch war er nicht ausgebrochen, aber die Garde wurde schon nach Wilna verlegt, wohin sich auch der Imperator begab. Gemeinsam mit einem anderen Professor, Rambach, schrieb Kaisarow einen Brief an Barclay de Tolly und machte diesem das Angebot, bei der Armee eine Druckerei zu organisieren. Kaisarow beherrschte zu dieser Zeit schon praktisch alle europäischen Sprachen, was für den von ihm vorgeschlagenen Plan einer Propaganda in der Armee Napoleons unerläßlich war. Außerdem machte Kaisarow den Vorschlag, zum ersten Mal in der russischen Geschichte eine Zeitung für die Armee herauszugeben. Sie erschien zweisprachig, Russisch und Deutsch; allerdings ist nur eine Nummer überliefert. Aus der Dorpater Universitätsdruckerei ließ Kaisarow eine Druckerpresse zu der kämpfenden Armee schicken, dazu einige estnische Druckereiarbeiter, deren Namen leider nicht festgestellt werden konnten. Die ganze Zeit des Rückzuges verbrachte Kaisarow unter überaus schwierigen Bedingungen. Sein Mitstreiter, der Professor Rambach, kehrte nach Dorpat zurück, und die ganze Druckereitätigkeit lastete nun auf seinen Schultern. Er erhielt den Rang eines Landsturm-Majors und machte sich allein an die schwere Aufgabe, an die Herstellung von Druckerzeugnissen für die sich zurückziehende Armee. Wahrscheinlich war Kaisarow auch der Autor jener Flugblätter, die im Namen Barclay de Tollys in die französische Armee lanciert wurden. Die Situation der Felddruckerei begann sich etwas zu verbessern, als Kutusow die Armee übernahm. Der Bruder Kaisarows, Paisij, war Kutusows Lieblingsadjutant; vielen wird er von dem Bild „Der Kriegsrat in Fili" her bekannt sein. Er stand Kaisarow bei der Organisation der Druckerei hilfreich zur Seite. Die Druckerei verwandelte sich faktisch in eine Stimme der jungen Offiziere, die sich um Kutusow gruppierten und ihn aktiv unterstützten. Nach der Schlacht von Borodino traf Kaisarow während des nächtlichen Rückzuges seinen alten Freund, den Dichter W. Shukowski. Sie blieben bis Moskau zusammen. Alexander Tschitscherin verbrachte die Nacht in philosophischen Streitgesprächen mit Freunden, Kaisarow und Shukowski hingegen auf andere Weise: Sie gingen in die Uspenski-Kathedrale im Kreml und beteten für die Errettung Rußlands. Tschitscherins Nachdenken über das künftige Rußland und die Gebete Kaisarows und Shukowskis sind zwei der Seiten jenes Neuen, das die russische Jugend im Jahre 1812 durchlebte. Die Offiziere der Armee Potemkins und Suworows hatten über anderes nachgedacht und geredet.
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Dritter Teil
Eine besonders aktive Tätigkeit entwickelte die Druckerei Kaisarows im Feldlager von Tarutino. Ihre Ergebnisse sind vermutlich bei weitem nicht vollständig auf uns gekommen. Als Kutusow starb, schlössen sich Kaisarow und Paisij einer Partisanenabteilung an, dort fand A. S. Kaisarow den Tod. Die Ereignisse von 1812 erfaßten die gesamte adlige Welt Rußlands. Aber das Erleben dieser Geschehnisse war keineswegs einheitlich. Außer der bereits betrachteten Petersburger und Moskauer Welt gab es noch eine dritte, die des Provinzadels. Das Bild der Provinz unterschied sich im Jahre 1812 erheblich von seiner gewöhnlichen Alltäglichkeit. Eine große Anzahl der Moskauer zog sich in die Provinz zurück. Wer ein Landgut im Saratower Gouvernement besaß, in der Ukraine, im Orlowsker oder Kursker Gouvernement, begab sich auf seinen Landsitz, häufiger noch in die diesem nächstgelegene Gouvernementsstadt: Die Zeit war auf Gemeinsinn eingestimmt, und die Menschen zogen es vor, sich in Gruppen zusammen zu finden. Briefe von der Front und die auf einzelnen Blättern dicken bläulichen Papiers gedruckten Mitteilungen Kutusows gingen von Hand zu Hand. In dieser Zeit übernahm ein privater Brief oft die Funktion einer Zeitung; man genierte sich nicht, ihn weiterzugeben oder abzuschreiben. Das aktivierte das Provinzleben ebenso wie der Zustrom der Hauptstadtbewohner. Zu einem hervorstechenden Zug des Jahres 1812 wurde die Aufhebung des krassen Widerspruchs zwischen dem in die Politik involvierten hauptstädtischen Leben und dem in „jahrhundertelanger Stille" verharrenden Leben in der Provinz. Zugleich nahm das Schicksal desjenigen dramatische Züge an, der, nachdem er Moskau verlassen hatte, von seinem in den von den Franzosen besetzten Landstrichen abgelegenen Gut abgeschnitten war oder keinen Landsitz besaß, wie beispielsweise Karamsin, der seinen Gutsbesitz schon vor langer Zeit dem Bruder überlassen hatte. Die nach Nishni-Nowgorod, in den Ural oder in die Wolgastädte gerieten und ihre Habe in Moskau zurückgelassen hatten oder, wie die Rostows in „Krieg und Frieden", nur das Allernötigste mit sich führten, befanden sich in einer überaus prekären Situation. Der vom Schicksal nach Nishni-Nowgorod verschlagene und sich dort mühselig über Wasser haltende Wassili Lwowitsch Puschkin schrieb: Nehmt uns auf in eure Hände, Kinder ihr der Wolgastrände! Wir sind doch alle von einem Fleisch! Mütterchen Moskau hat uns geboren! Die goldnen Tage, von Glück so reich, In wütendem Sturm sind sie nun verloren. Der Sturm läßt das Blut unsrer Brüder rinnen, Die Erde tränkt es zum Entsetzen! U n d auf des alten Kremls Türme Zinnen Sieht man den tückischen Feind sich ergötzen!
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Die Verse Wassili Lwowitsch Puschkins zeichnen sich nicht eben durch künstlerische Kraft aus, aber Worte wie „Die Wohnstätten sind in Asche verwandelt" oder auch wie die über Napoleon: Der russische Gott wird ihn verderben! Und Rußland wird gerettet sein!95 blieben unabhängig von ihrem künstlerischen Wert nicht ohne Wirkung auf die Zuhörer (Wassili Lwowitsch liebte es, seine Verse vorzutragen). Viele Familien Moskaus, Menschen, die dort verwurzelt waren und - abgesehen von Reisen ins Ausland, an die See oder auf die Erbgüter - ihr ganzes Leben dort verbracht hatten, waren nun über die zentralen und östlichen Gouvernements verstreut. Tragisch war das Los der Familie Karamsins. Karamsin hatte seine Familie in die Provinz geschickt und war selbst bis zur letzten Minute in Moskau geblieben. Am 20. August 1812 schrieb er an Dmitrijew nach Petersburg: „ich habe die Gattin und die Kinder mit der schwangeren Fürstin Wjasemskaja nach Jaroslawl geschickt; ich selbst lebe beim Grafen F.W. Rostoptschin und bin, so es Gottes Wille sein wird, bereit, für Moskau zu sterben. Die Mauern um uns her werden von Tag zu Tag leerer, die meisten fahren weg". In diesem Brief schreibt Karamsin mit einer für seine trockenen Briefe unerwarteten Emotionalität, daß er Rostoptschin „wie ein Patriot den Patrioten" liebgewonnen habe. Der Brief ist an einem Wendepunkt geschrieben: Karamsin legte das von ihm begonnene gewaltige Werk der ,Geschichte' beiseite, denn er bereitete sich darauf vor, selbst Geschichte zu machen und sie nicht zu beschreiben: „Ich habe auch von der „Geschichte" Abschied genommen: Das beste und vollständigste Exemplar davon habe ich der Gattin übergeben, und das andere dem Archiv des Auslandskollegiums. Jetzt, ohne „Geschichte" und ohne Beschäftigung, lese ich Humes' über den Ursprung der Ideen!! ... Ich segnete Shukowski für den Kampf: Er ist gestern von hier aus aufgebrochen, dem Feind zu begegnen. Oweh! Wassili Puschkin ist nach Nishni abgereist". 96 An diesem Brief ist vieles charakteristisch, sowohl die Lektüre Humes, bei dem Karamsin nach Antworten auf historische Fragen suchte, als auch das Verschweigen seines Vorhabens, sich dem Landsturm anzuschließen und an den Stadtmauern Moskaus zu kämpfen, was als unfreiwilliger Vorwurf gegen den gebürtigen Moskauer Dmitrijew gewertet werden konnte, der diese Tage in dem ungefährlichen Petersburg verbrachte, sowie die deutliche Ironie an die Adresse des, wie
Wera Fjodorowna Wjasemskaja erwartete ein Kind. Wjasemski, ein Zivilist bis ins Mark, erschien ungeachtet dessen vor der Schlacht von Borodino im Stab Kutosows. Auf dem Schlachtfeld wurden ihm einige Pferde unter dem Sattel weggeschossen, aber nach der Aufgabe Moskaus, annehmend, daß der Krieg verloren war, und nicht bereit, an der Kapitulation teilzunehmen, verließ er die Armee und begab sich, besorgt um eine Fehlgeburt, zu seiner Frau.
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Dritter Teil
es Karamsin scheint, sich unpatriotisch verhaltenden Wassili Lwowitsch Puschkin. D i e Schlacht um Moskau fand nicht statt, und Karamsin sah sich gezwungen, die Stadt als einer der Letzten zu verlassen. D e n nächsten Brief an Dmitrijew schrieb er fast zwei Monate später, am 11. O k t o b e r , aus Nishni-Nowgorod: „Moskau an dem Tag verlassend, an dem es von unserer Armee dem Feind geopfert wurde , fand ich meine Familie in Jaroslawl, und wir begaben uns von dort nach Nishni. Ich gedenke wieder zu reisen, jedoch ohne Gattin und Kinder und nicht als Flüchtling, doch mit der Hoffnung, die Brandstätte des lieben Moskau zu sehen. D e r Graf P . A . Tolstoi schlägt mir vor, mit ihm im hiesigen Landsturm gegen die Franzosen zu kämpfen. D i e Umstände sind derart, daß jeder von Nutzen sein oder diese Hoffnung hegen kann: Achte die Freundin, liebe die Kinder; aber es ist schmerzlich für mich, ,aus der Ferne' auf die für unser Vaterland so entscheidenden Ereignisse zu blicken". I m weiteren zieht Karamsin gleichsam die Bilanz seines vorangegangenen Lebens: „Meine ganze Bibliothek ist zu Asche geworden, aber die ,Geschichte' ist erhalten: C a moes hat die ,Lusiaden' gerettet. U m vieles ist es schade, aber mehr noch um Moskau... In was für einer Zeit wir doch leben! Alles erscheint wie ein Traum". 9 7 Karamsin kam das Verlassen Moskaus teuer zu stehen: E r verlor nicht nur die Arbeiten vieler Jahre, sondern auch ein Kind, das unterwegs starb. D i e Ereignisse erregten auch die Provinz. D e r zu jener Zeit in Pensa dienende F . F . Wigel berichtete von dem Eindruck, den die Besetzung M o skaus auf ihn machte: „Am Sonntag dem 8. September, am Geburtstag der Mutter Gottes, ging ich dem Gouverneur meine Reverenz erweisen. Ich traf ihn im Saal, wo er den Fürsten Tschetwertinski verabschiedete. Alles verschwamm mir vor den Augen, und ich wollte meinen Blicken nicht trauen. Ich war nicht persönlich mit diesem bekannt, ich hatte ihn einige Male in Petersburger Gesellschaftszimmern gesehen, diesen tapferen, für die Ehemänner gefährlichen und für die Gegner entsetzlichen, ausnehmend schönen Mann, dekoriert mit in den Schlachten gegen die Franzosen erworbenen Kreuzen. Ich wußte, daß dieser *
In diesen W o r t e n spürt man die Intonation der bitteren Enttäuschung des Zeitgenos-
sen, der das M a n ö v e r K u t u s o w s nicht billigte (dessen Überlegungen auch von der M e h r heit, von Alexander I. bis zu den einfachen Provinzbewohnern, nicht verstanden wurden) und bereit war, eher an der K r e m l m a u e r zu sterben, als dieses, später von der Geschichte aufgeklärte, Manöver mit zu vollziehen. In einem bitteren Brief vom 26. N o v e m b e r schrieb Karamsin, erklärend, warum er nichts von seiner H a b e retten und sogar seine ganze B i bliothek und das Archiv den F l a m m e n überlassen mußte: „Ich wollte nicht daran denken (an die Ü b e r g a b e Moskaus), nicht daran glauben, ich wollte meinen eigenen Augen nicht trauen; man hatte uns doch beschworen, M u t gemacht, das E h r e n w o r t ergrauten Haars gegeben" (Briefe Karamsins an 1.1. Dmitrijew, S. 168). * * H i e r hat er im Blick, daß der portugiesische D i c h t e r C a m o e s bei einem Schiffbruch ans U f e r schwamm und dabei mit einer Hand das Manuskript seines Gedichts hochhielt.
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bekannte Husarenoberst und hervorragende Reiter, der lange Zeit die Herzen der Frauen geknickt, sich schließlich selbst leidenschaftlich in eine Fürstin Gagarina verliebt, diese geheiratet hatte und zu einem braven Bürger geworden war, und ich wußte auch, daß er auf die dringenden Bitten des Grafen Mamonow hin sein Kosaken-Reiterreginent aufgestellt hatte. Was hat ihn nach Pensa geführt? Was hat er damit gemeinsam? Mich an einen der Brüder Golizyn wendend und auf ihn zeigend, fragte ich: ,Was hat das zu bedeuten?' Und er antwortete mir: ,Er ist gekommen, um seine Gattin zu besuchen, die sich jetzt, auf dem Weg zu ihrem Saratower Landsitz, mit ihrer Mutter in Pensa befindet.' ,Und was ist mit der Armee?' fragte ich. ,Er hat sie am Poklonner Berg gesehen, wo man sich vermutlich für die letzte entscheidende Schlacht sammelte.' Die Ankunft Tschetwertinskis sagte mir alles. Er will, dachte ich, nicht der Überbringer einer schlechten Nachricht sein und uns noch für einen oder zwei Tage Hoffnung lassen. Den ganzen Tag lief ich wie unsinnig umher und vermied es, Fragen zu stellen. Am Abend besuchten mich die Brüder Ranzow, deren älterer einmal mein Kollege im Ministerium für Innere Angelegenheiten gewesen war; sie machten auf mich einen trübseligen und niedergeschlagenen Eindruck. Wir sprachen über dieses und jenes ,Morgen ist Montag', sagte ich, ,was wird uns wohl morgen die Post bringen?', und der jüngere Ranzow sagte zu mir ,Nein, warten Sie nicht auf sie, sie wird nicht kommen', und er offenbarte mir die Wahrheit. Tschetwertinski hatte sie vor dem Gouverneur nicht verbergen können, und dieser einfältige Mensch hatte sie zwei oder drei ebenso einfältigen Menschen ins Ohr weitergesagt, also wußte bereits am Abend, außer mir, fast die ganze Stadt, daß Moskau kampflos aufgegeben worden war". 98 D i e Nachricht v o m Fall M o s k a u s rief nur bei wenigen Zeitgenossen die Reaktion hervor, die I. K o w a n k o das „Soldatenlied" vorgab: Daß Moskau in Franzosenhänden, Ist wahrhaftig kein Malheur! Marschall Kutusow wird es wenden, Ließ sie nur zum Tod hierher." Von Pessimismius ergriffen wurde nicht nur Wjasemski. D e r Fürst M. A . Dmitrijew-Mamonow, der sein Regiment nicht rechtzeitig zur Schlacht von B o r o d i n o hatte formieren können, war, indem er für einige Zeit den Sammelpunkt verlassen hatte, auf dem Schlachtfeld anwesend. Die A u f gabe M o s k a u s hatte M a m o n o w nicht kalt gelassen, aber der von ihm als Regimentskommandeur eingesetzte B. A . Tschetwertinski hatte resigniert. Wigel erinnert sich, wie dieser glänzende junge Offizier, den sowohl Kühnheit als auch außergewöhnliche Schönheit' auszeichneten, nachdem
" Auch seine Schwestern Jeannette und Maria glänzten durch besondere Schönheit. In die erste war der Großfürst Konstantin verliebt, der sie trotz des Verbots seiner Mutter heiraten wollte; die zweite, die Fürstin Naryschkina, war über lange Jahre hinweg die Geliebte Alexanders I. und gebar ihm eine Tochter.
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Dritter Teil
er das sich formierende Regiment verlassen hatte, plötzlich mit der Nachricht vom Fall Moskaus in Pensa auftauchte. Der Verfasser der Memoiren zeichnet ein eindrucksvolles Bild von der Reaktion der adligen Provinzgesellschaft auf die militärischen Nachrichten. „Den ganzen Herbst über war man, zumindest bei uns in Pensa, bestrebt, seinem Patriotismus Ausdruck zu verleihen. Die Damen verzichteten darauf, Französisch zu sprechen. Viele von ihnen, fast alle, kleideten sich in Sarafane und trugen die Kokoschniki und Powjaski (den nationalen Kopfputz der Frauen. - d.U.), und nachdem sie sich im Spiegel betrachtet hatten, fanden sie, daß ihnen diese Tracht sehr gut stand, und trennten sich nicht so bald wieder von ihr. Was uns, die Männer, betrifft, so erhielten die Mitglieder des Komitees, in dem auch ich mich befand, sowie die Angehörigen des Landsturms das Recht, sich in graue Kaftane zu kleiden und Säbel umzuschnallen; lediglich Epauletten wurden nicht zugestanden. Der Gouverneur (der Fürst F. S. Golizyn) versäumte es nicht, sich in diesem neuen Kostüm zu präsentieren; er trug auch, ich weiß nicht, mit wessen Erlaubnis, eine Kosakentracht, lediglich von dunkelgrüner Farbe und mit hellgrünen Paspeln. Und alle Beamten und Adligen, die sein Wohlwollen auf sich lenken wollten, folgten seinem Beispiel. Seine Diener kleidete er auch auf Kosakenart ein, und zwei von ihnen ritten, mit Piken bewaffnet, vor seiner Kutsche einher." 100
Die Nachrichten vom Krieg brachten Moskau und die Provinz Rußlands einander näher. Die Bevölkerung Moskaus ,überflutete' die gewaltigen Räume. Am Ende des Krieges, nachdem die Franzosen sich aus Moskau zurückgezogen hatten, setzte eine riesige Rückkehrbewegung ein. Benkkendorff berichtet in seinen Memoiren, daß Moskau nach dem Abzug der Franzosen sofort mit Unmengen von Bewohnern überfüllt war. Darunter gab es auch Marodeure und Bauern aus der Umgebung, die mit leeren Fuhrwerken kamen; aber es gab auch eine bedeutende Anzahl von Menschen, die zu den Brandstätten zurückkehrten. Die Stadt belebte sich wieder mit außerordentlicher Geschwindigkeit. Die in Moskau so spürbare Annäherung von Stadt und Provinz zeigte sich in diesen Jahren im Leben Petersburgs so gut wie nicht. Überdies hatte die Besetzung Moskaus durch den Feind viele Fäden durchschnitten, die Petersburg mit dem Land verbunden hatten. Wer sich in die Hauptstadt begab, war gezwungen, große Umwege zu machen. Bekannt ist, welche Odyssee die Moskauer Schauspieler auf sich nehmen mußten, bevor sie die Hauptstadt erreichten. Aber Petersburg war von den Erlebnissen jener Zeit nicht abgeschnitten. Die von der Armee Wittgensteins geschützte, in relativer Sicherheit lebende Stadt bestach eher weniger als Moskau und die Provinz, aber dafür hatte sie die Möglichkeit, die Ereignisse aus einer gewissen historischen Perspektive heraus zu begreifen. Und so waren gerade hier einige so epochal bedeutende ideologische Erscheinungen zu verzeichnen wie die unabhängige patriotische Zeitschrift „Sohn des Vaterlandes", die später zum wichtigsten Journal während der ersten Etappe der
Gefangennahme des Marschalls Vandamme auf dem Schlachtfeld bei Kulm am 30. August 1813. — K. Rai nach einer Zeichnung von I.A. Klein. Farbstich.
Porträt A . P . Tomilows. — O . A . Kiprenski. Zeichnung. 1813. — Alexander Romanowitsch Tomilow (17991848), Kunsttheoretiker und einer der bedeutendsten russischen Sammler des 19. Jahrhunderts (er besaß die beste Sammlung Rembrandtscher Radierungen in Rußland), Onkel M.P. und A.P. Lanskois und enger Freund Kiprenskis. Er ist dargestellt in der Uniform eines Stabsoffiziers (im Herbst 1812 trat er mit einem Zug seiner Bauern im Range eines Majors der Ladogaer Abteilung der Petersburger Landwehr bei und wurde am 4. Oktober in der berühmten Schlacht bei Polozk verwundet). In den Details seiner Montur ist der Einfluß der „Feldmode" zu erkennen: Er trägt über der einen Schulter eine Burka (kaukas. Fellüberwurf), sowie eine schirmlose Offiziersmütze, 1812 als Attribut eines Offiziers der Feldarmee getragen, im Unterschied zum vorschriftsmäßigen Dreispitz oder Tschako. A m Uniformrock trägt Tomilow das Kreuz des Wladimirordens IV. Klasse mit einer Schleife.
Die Kutsche Peters II. — I.F. Subow. Gravüre mit Radiernadel. Ende der 1720er Jahre. Ausschnitt. Die Begegnung Napoleons und Alexanders I. am 25. November 1807 auf der Memel bei Tilsit. — Gravüre, Aquatinta. 1807. — Links vom Floß das Gefolge Alexanders I.: der Großfürst Konstantin, Bruder des Imperators, in der weißen Uniform der berittenen Garde und mit einem Helm in der rechten Hand, General Bennigsen, General Uwarow und Fürst Lobanow. Rechts das Gefolge Napoleons Duroc, Bessieres, Colincour.
Porträt P . A . Olenins. — O . A . Kiprenski. Zeichnung. 1813. — Pjotr Alexejewitsch Olenin (1793-1868), Sohn des Präsidenten der Kaiserlichen Akademie der Künste, Direktors der öffentlichen Bibliothek und Staatssekretärs A. N. Olenin, befand sich zum Zeitpunkt des Porträtierens zur Genesung von einer Verwundung in Petersburg (er wurde bei der Schlacht von Borodino am Kopf verwundet, sein Bruder Nikolai war gefallen). Später, nach seiner Rückkehr zur kämpfenden Truppe, war Olenin in Paris Adjutant des Generalstabschefs Fürst P.M. Wolkonski.
Porträt E.A. Labsinas (1758-1828, geb. Jakowlewa) und ihrer Pflegetochter S.A. M u d r o w a (1797-1870). — W . L . Borowikowski. Oel auf Leinwand. 1803.
Porträts der Brüder M. P. Lanskoj (links) und A. P. Lanskoj. — O. A. Kiprenski. Zeichnungen. 1813. — Michail Petrowitsch Lanskoj (1787-?) in der Uniform der Leibgarde des Jägerregiments. Als Portepee-Fähnrich nahm er an dem Feldzug 1806-1807 teil und wurde bei Heilsberg mit dem „Kriegsorden für Vorbildlichkeit" ausgezeichnet. Er trägt einen Schnurrbart, was 1813 nur Offizieren der Leichten Kavallerie erlaubt wurde. Alexej Petrowitsch Lanskoj (1789-1859), der jüngere Bruder Michails, ist hier als Garde-Stutzer dargestellt. Die extravagante Frisur und das Malerische der Leibjägeruniform sind mit den respektheischenden Auszeichnungen des vierundzwanzigj ährigen Offiziers vereinigt. Auf dem Feld von Borodino nach der Schlacht. — Lithographie nach einer Zeichnung von A. Adam. 1827. — Im Vordergrund Soldaten aus dem Regiment der königlichen italienischen Garde, „Dragoner der Königin" in weißen Umhängen (Kavalleriemäntel) und Dragonerhelmen mit Pferdeschwänzen hinten, die den Hals des Reiters vor dem Hieb mit der blanken Waffe schützen sollten.
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Dekabristen im Alltag
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Dekabristenbewegung werden sollte. Viele der ersten Keime des Dekabrismus entwickelten sich gerade hier, vornehmlich in den Gesprächen der aus den Feldzügen zurückgekehrten Offiziere.
D E K A B R I S T E N IM A L L T A G
Die Bedeutung des Dekabrismus in der Geschichte des allgemeinen russischen Denkens erschöpft sich nicht in jenen seiner Seiten, die bis heute die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gelenkt haben: die Erarbeitung gesellschaftspolitischer Programme und Konzeptionen, die Überlegungen zur Taktik des revolutionären Kampfes, die Teilnahme an den literarischen Auseinandersetzungen, das künstlerische und kritische Schöpfertum. Zu diesen und vielen anderen in der wissenschaftlichen Literatur betrachteten wichtigen Seiten der Tätigkeit der Dekabristen ist noch eine weitere, bis heute im Schatten gebliebene, hinzuzufügen. Die Dekabristen haben eine bedeutende schöpferische Energie auf die Schaffung eines besonderen Typus des russischen Menschen verwandt, der sich in seinem Verhalten scharf von dem unterschied, was die ganze vorangegangene russische Geschichte kannte. In diesem Sinne traten sie als echte Neuerer auf, und vielleicht war es gerade diese Seite ihrer Tätigkeit, die die tiefste Spur in der russischen Kultur hinterließ. Das spezifische, für die Adelskreise gänzlich ungewöhnliche Verhalten einer bedeutenden Gruppe junger Leute, die ihren Talenten, ihren Charakteren, ihrer Herkunft, ihren persönlichen und familiären Beziehungen, ihren dienstlichen Perspektiven usw. nach sich im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit befanden, beeinflußte eine ganze Generation russischer Menschen. Der politische Ideeninhalt des Revolutionären produzierte auch besondere Züge des menschlichen Charakters und einen besonderen Verhaltenstyp, wozu auch das Alltagsverhalten gehörte. Das Ziel dieses Kapitels ist es, einige von diesen grundlegenden Merkmalen einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Gab es jedoch ein besonderes Alltagsverhalten des Dekabristen, das es ermöglichte, ihn nicht nur von den Reaktionären und „Hemmenden"", sondern auch von der Masse seiner liberalen Zeitgenossen und der gebildeten Adligen zu unterscheiden? Das Studium der Materialien erlaubt es, diese Frage positiv zu beantworten. Wir können das aber auch dem unmittelbaren Spürsinn der kulturellen Nachfolger entnehmen. So empfinden wir,
* Die Mehrheit der Dekabristen bekleidete keine hohen staatlichen Posten und konnte es dem Alter nach auch nicht. Aber eine wesentliche Anzahl der Teilnehmer an der Dekabristenbewegung gehörte dem Kreis an, der sich später zweifellos den Weg zu solchen Positionen eröffnete. * * „Technischer Ausdruck" Nikolai Turgenjews in der Bedeutung: „Feinde der gesellschaftlichen Aufkläung".
Dekabristen im Alltag
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Dekabristenbewegung werden sollte. Viele der ersten Keime des Dekabrismus entwickelten sich gerade hier, vornehmlich in den Gesprächen der aus den Feldzügen zurückgekehrten Offiziere.
D E K A B R I S T E N IM A L L T A G
Die Bedeutung des Dekabrismus in der Geschichte des allgemeinen russischen Denkens erschöpft sich nicht in jenen seiner Seiten, die bis heute die Aufmerksamkeit der Forscher auf sich gelenkt haben: die Erarbeitung gesellschaftspolitischer Programme und Konzeptionen, die Überlegungen zur Taktik des revolutionären Kampfes, die Teilnahme an den literarischen Auseinandersetzungen, das künstlerische und kritische Schöpfertum. Zu diesen und vielen anderen in der wissenschaftlichen Literatur betrachteten wichtigen Seiten der Tätigkeit der Dekabristen ist noch eine weitere, bis heute im Schatten gebliebene, hinzuzufügen. Die Dekabristen haben eine bedeutende schöpferische Energie auf die Schaffung eines besonderen Typus des russischen Menschen verwandt, der sich in seinem Verhalten scharf von dem unterschied, was die ganze vorangegangene russische Geschichte kannte. In diesem Sinne traten sie als echte Neuerer auf, und vielleicht war es gerade diese Seite ihrer Tätigkeit, die die tiefste Spur in der russischen Kultur hinterließ. Das spezifische, für die Adelskreise gänzlich ungewöhnliche Verhalten einer bedeutenden Gruppe junger Leute, die ihren Talenten, ihren Charakteren, ihrer Herkunft, ihren persönlichen und familiären Beziehungen, ihren dienstlichen Perspektiven usw. nach sich im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit befanden, beeinflußte eine ganze Generation russischer Menschen. Der politische Ideeninhalt des Revolutionären produzierte auch besondere Züge des menschlichen Charakters und einen besonderen Verhaltenstyp, wozu auch das Alltagsverhalten gehörte. Das Ziel dieses Kapitels ist es, einige von diesen grundlegenden Merkmalen einer näheren Betrachtung zu unterziehen. Gab es jedoch ein besonderes Alltagsverhalten des Dekabristen, das es ermöglichte, ihn nicht nur von den Reaktionären und „Hemmenden"", sondern auch von der Masse seiner liberalen Zeitgenossen und der gebildeten Adligen zu unterscheiden? Das Studium der Materialien erlaubt es, diese Frage positiv zu beantworten. Wir können das aber auch dem unmittelbaren Spürsinn der kulturellen Nachfolger entnehmen. So empfinden wir,
* Die Mehrheit der Dekabristen bekleidete keine hohen staatlichen Posten und konnte es dem Alter nach auch nicht. Aber eine wesentliche Anzahl der Teilnehmer an der Dekabristenbewegung gehörte dem Kreis an, der sich später zweifellos den Weg zu solchen Positionen eröffnete. * * „Technischer Ausdruck" Nikolai Turgenjews in der Bedeutung: „Feinde der gesellschaftlichen Aufkläung".
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Dritter
Teil
auch wenn wir uns noch nicht in die Lektüre der Kommentare vertiefen, Tschazki als Dekabristen, obwohl er uns nicht in einer Sitzung des „geheimsten Bundes" gezeigt wird. Wir sehen ihn in der alltäglichen Umgebung, im Moskauer Herrenhaus. Einige Phrasen in Tschazkis Monologen, die ihn als Feind der Sklaverei und der Unwissenheit charakterisieren, sind für unsere Deutung natürlich wesentlich, aber nicht weniger wichtig ist seine Manier, zu reden und sich zu geben. Gerade aufgrund des Verhaltens Tschazkis im Hause Famusows, nach seinem Verzicht auf einen bestimmten Typ des Alltagsverhaltens: Beim Mäzen gähnt man zum Plafond hinauf, Auftritt, Verbeugung, Mittagsmahl, Den Stuhl gerückt, das Tuch hebt man auf... wird er von Famusow untrüglich als „gefährlicher Mensch" eingestuft. Zahlreiche Dokumente spiegeln die verschiedensten Seiten des Alltagsverhaltens des adligen Revolutionärs wider und lassen es zu, über den Dekabristen als einen bestimmten kulturhistorischen und psychologischen Typ zu sprechen. Dabei darf man natürlich nicht vergessen, daß jeder Mensch in seinem Verhalten nicht irgendein Programm realisiert, sondern ständig eine Wahl trifft. Die eine oder die andere Verhaltensstrategie wird von einer umfangreichen Auswahl sozialer Rollen diktiert. Jeder einzelne Dekabrist führte sich in seinem realen Alltagsverhalten durchaus nicht immer als Dekabrist auf: Er konnte als Adliger, als Offizier handeln, spezieller: als Gardist, Husar, Stabstheoretiker, als Aristokrat, Mann, Russe, Europäer, junger Mensch usw. usw. Aber in diesem komplizierten Sortiment der Möglichkeiten existierte auch ein gewisses spezielles Verhalten, ein besonderer Typ von Reden, Handlungen und Reaktionen, der insbesondere dem Mitglied der Geheimgesellschaft eigen war. Es ist gerade das Wesen dieses besonderen Verhaltens, das uns vor allem interessieren wird. Es bezeichnet nicht nur, wie ein Dekabrist sich verhalten konnte, sondern auch, wie er sich, bestimmte adlige Verhaltensweisen seiner Zeit ablehnend, nicht verhalten konnte. Letzteres ist zum Verständnis noch einer weiteren Frage besonders wichtig: Vieles von dem, was dem heutigen Leser als „natürliche Norm" erscheint, war mit dem Verhalten des Dekabristen entschieden unvereinbar. Dieses Verhalten wird von uns nicht in jenen seiner Äußerungen beschrieben, die mit den Bildkonturen des aufgeklärten russischen Adligen zu Beginn des 19. Jahrhunderts übereinstimmen. Wir werden den Versuch unternehmen, auf die Spezifik hinzuweisen, die der Dekabrismus auf das Lebensverhalten jener ausübte, die wir die adligen Revolutionäre nennen. Natürlich war jeder der Dekabristen ein lebendiger Mensch und verhielt sich in bestimmtem Sinne auf eine unwiederholbare Weise: Rylejew ähnelt in seinem Alltag nicht Pestel, Orlow nicht N. Turgenjew oder Tschaadajew. Das Verhalten der Menschen ist individuell, aber das hebt die Gesetz-
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mäßigkeit der Untersuchung solcher Probleme wie die „Psychologie des Jünglings" (oder eines Älteren), die „Psychologie der Frau" (oder des Mannes) und schließlich und endlich die „Psychologie des Menschen" nicht auf. Dazu kommt der Blick auf die Geschichte als ein Feld der Äußerungen verschiedenartiger sozialer Gesetzmäßigkeiten, die als Resultat der ,menschlichen Tätigkeit' zu betrachten sind. Ohne die Untersuchung der historisch-psychologischen Mechanismen menschlicher Handlungen werden wir uns nicht aus der Begrenztheit reichlich schematischer Vorstellungen lösen können. Überdies ist auch gerade die Tatsache, daß die historischen Gesetzmäßigkeiten sich nicht unmittelbar, sondern durch die psychologischen Mechanismen realisieren, selbst ein wichtiger Mechanismus der Geschichte. Er erlöst sie von der fatalen Vorausberechenbarkeit der Prozesse. Die Dekabristen waren in erster Linie Tatmenschen. Das äußerte sich auch in ihrer Einstellung zur praktischen Veränderung des politischen Lebens in Rußland. Und es äußerte sich auch in der persönlichen Erfahrung der Mehrheit der Dekabristen als Frontoffiziere, die in der Epoche der gesamteuropäischen Kriege herangewachsen waren und die Kühnheit, Energie, Unternehmungsgeist, Härte und Beharrlichkeit nicht weniger zu schätzen wußten als die Fähigkeit, dieses oder jenes programmatische Dokument zusammenzustellen oder einen theoretischen Disput zu führen. Politische Doktrinen interessierten sie in der Regel nicht um ihrer selbst willen - natürlich gab es auch Ausnahmen, wie z. B. N. Turgenjew - , sondern als Kriterien für die Bewertung und die Wahl bestimmter Aktionswege. Die Orientierung auf das Handeln ist gerade in den ironischen Worten Lunins darüber zu spüren, daß Pestel vorschlage, „erst eine Enzyklopädie zu schreiben und erst dann zur Revolution überzugehen".' 01 Sogar diejenigen unter den Mitgliedern der Geheimgesellschaft, die die Geübtesten in der Planungsarbeit waren, hoben hervor, daß gerade „Anordnung und Gestaltungen" unerläßlich für eine „erfolgreiche Aktion" waren, so die Worte S. Trubezkois. In diesem Sinne scheint es gerechtfertigt, daß wir für die Erörterung nur einen Aspekt auswählen werden, das Verhalten eines Dekabristen, seine Handlungen und nicht die innere emotionale Welt. Und eine weitere einschränkende Bemerkung: die Dekabristen waren adlige Revolutionäre, ihr Verhalten war das des russischen Adels und entsprach in seinen wesentlichen Seiten den Normen, die sich zwischen der Epoche Peters I. und der des Vaterländischen Krieges von 1812 entwickelt hatten. Obwohl sie die Formen des Standesverhaltens ablehnten und bekämpften, sie in ihren theoretischen Traktaten ad absurdum führten, waren sie in der eigenen alltäglichen Praxis organisch mit ihnen verbunden. War das Ziel der Bewegung eine bestimmte Handlung, die Umgestaltung der russischen Wirklichkeit, so wurde paradoxerweise das Sprac^verhalten der Dekabristen zur wichtigsten Form ihrer Handlungen. Es fällt nicht leicht, im rus-
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Dritter Teil
sischen Leben eine Epoche zu benennen, in der das gesprochene Wort, Gespräche, freundschaftliche Konversation, Erörterungen, Aufrufe und zornerfüllte Philippikas, eine derartige Rolle spielte. Vom Augenblick des Entstehens der Bewegung, den Puschkin treffend als „Disput von Freunden" „zwischen Lafitte und Cliquot" charakterisierte, bis hin zum verhängnisvollen Auftritt vor dem Untersuchungskomitee setzten die Dekabristen durch ihre „Redseligkeit", durch das Bemühen um die wörtliche Manifestation ihrer Gefühle und Gedanken in Erstaunen. Puschkin hatte Grund, die Zusammenkünfte des „Wohlfahrtsbundes" so zu charakterisieren: Geschraubtheit war das Stilprinzip, dem diese Familie verhaftet blieb... (VI, 523) Das lieferte die Möglichkeit, die Dekabristen von den Positionen späterer Normen und Vorstellungen aus der Phrasendrescherei zu bezichtigen und ihnen vorzuwerfen, Taten durch Worte ersetzt zu haben. Aber nicht nur die „Nihilisten" der sechziger Jahre, sondern auch die den Dekabristen näherstehenden Zeitgenossen, die manchmal deren Ideen in vielem teilten, neigten dazu, sich in diesem Sinne zu äußern. So warf Tschazki von den Positionen des Dekabrismus aus, wie M.W. Netschkina bewies, Repitilow leeres Geschwätz und Phrasendrescherei vor. Aber er vermochte sich auch selbst nicht diesem Vorwurf Puschkins zu entziehen: „Alles, was er sagt, ist sehr klug. Aber wem sagt er das alles? Famusow? Skalasub? Den M o skauer Großmüttern auf den Bällen? Moltschalin? Das ist nicht zu entschuldigen. Das erste Merkmal eines klugen Menschen ist es, auf den ersten Blick zu wissen, mit wem man es zu tun hat..."(Brief an A. Bestushew von Ende Januar 1825). P. Wjasemski, der 1826 bestritt, daß die Anschuldigung, die Dekabristen hätten den Zaren töten wollen, rechtmäßig war, wird betonen, daß ein Zarenmord eine Handlung, eine Aktion ist. Aber seiner Meinung nach wurden von Seiten der Verschwörer keinerlei Versuche unternommen, vom Wort zur Tat überzugehen. Er bezeichnete ihr Verhalten als „tödliches Gerede" („bavardage atroce") 102 und bestritt entschieden die Möglichkeit, daß man für Worte wie für eine vollzogene Tat verurteilt werden könne. Das war nicht nur eine juristische Verteidigung der Opfer einer Unrechtsjustiz. In den Worten Wjasemskis gibt es auch Hinweise darauf, daß im Wirken der Verschwörer das „Gerede" die „Sache" überwog. Zeugnisse dieser Art ließen sich viele anführen. Aber es wäre ein entscheidender Irrtum, in der „Geschraubtheit" nur die anfällige Seite des Dekabrismus sehen zu wollen und mit ihm in gleicher Weise ins Gericht zu gehen, wie Tschernyschewski es mit den Helden Turgenjews tut. Die Aufgabe eines Historikers besteht nicht in der Verurteilung' oder Rechtfertigung' der Personen, deren Namen der Geschichte
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angehören, sondern in dem Versuch, die gegebenen Besonderheiten zu erklären. Die Zeitgenossen registrierten nicht nur die „Redseligkeit" der Dekabristen, sie hoben auch die Schärfe und Direktheit ihrer Ansichten und keinen Widerspruch duldenden Urteile hervor, die vom Standpunkt der allgemeinen Normen aus als „anstößig" empfundene, alle herkömmlichen Regeln mißachtende Tendenz, die Dinge beim Namen zu nennen. Es charakterisierte die Dekabristen, daß sie ständig bestrebt waren, unumwunden und ohne das allgemeingültige Ritual des Sprachverhaltens anzuerkennen, ihre Meinung zu äußern. Berühmt für solch ein scharfes und absichtliches Ignorieren ,wohlanständiger' Rede war vor allem Nikolai Turgenjew. Die betonte Ungeselligkeit und ,Taktlosigkeit' des Sprachverhaltens galt in den Kreisen, die den Dekabristen nahestanden, als „spartanisches" oder „römisches" Verhalten, und wurde dem als negativ bewerteten „französischen" entgegengestellt. Themen, über die zu reden in der sogenannten guten Gesellschaft verboten war oder die nur euphemistisch angesprochen werden konnten, zum Beispiel Fragen nach der Macht der Gutsbesitzer, nach dem Dienstprotektionismus, wurden zu Gegenständen unmittelbarer Erörterungen. Wie die Dinge lagen, hatte das Verhalten der gebildeten europäisierten adligen Gesellschaft in der Alexandrinischen Epoche einen prinzipiell zwiespältigen Charakter. In der Sphäre der Ideen und der,Ideologien' hatte man sich die Normen der europäischen Kultur angeeignet, die sich auf dem Boden der Aufklärung herausgebildet hatten. Aber die Sphäre des praktischen Verhaltens, die von den Bräuchen bestimmt wurde, vom Alltag, von den konkreten Bedingungen der Gutsherrenwirtschaft, von den realen Dienstumständen, fiel aus dem Bereich der ideologischen' Auffassungen heraus. In der allgemeinen Rede verband sie sich natürlich mit den mündlichen, gesprochenen Elementen, wobei sie sich minimal in den Texten höherer kultureller Wertigkeit widerspiegelte. So entstand eine Verhaltenshierarchie, die nach dem Prinzip der Zunahme des kulturellen Wertes gegliedert war. Dabei fiel die unterste, rein praktische Schicht, die von der Position des theoretischen Bewußtseins aus gesehen ,gleichsam nicht existierte', weg. Gerade ein solcher Pluralismus des Verhaltens, die Möglichkeit, Verhaltensstile in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation auswählen zu können, und die sich aus dem Unterschied zwischen dem Praktischen und dem Ideologischen ergebende Zwiespältigkeit, war für den fortschrittlichen russischen Menschen zu Beginn des 19. Jahrhunderts charakteristisch. Sie unterschied ihn auch von dem adligen Revolutionär. Diese Frage ist von außerordentlicher Bedeutung; es ist ein Leichtes, die Gestalt Skotinins von der Gestalt Rylejews zu unterscheiden, aber wesentlich ergiebiger ist es, Rylejew Delwig gegenüberzustellen oder Nikolai Turgenjew seinem Bruder Alexander.
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Dritter Teil
Der Dekabrist hob mit seinem Verhalten die hierarchische Gliederung und die stilistische Vielfalt des Vorgehens auf. Vor allem wurde der Unterschied zwischen der mündlichen und der schriftlichen Rede abgeschafft; die hohe Präzision, die Verwendung politischer Termini, die syntaktische Vollkommenheit der schriftlichen Rede wurden in den mündlichen Gebrauch übertragen. Famusow sagte nicht ohne Grund von Tschazki, „er spricht wie er schreibt". Das ist in diesem Falle nicht nur eine Redewendung. Die Rede Tschazkis unterscheidet sich von der anderer Personen gerade durch ihre Büchergelehrtheit. Er „spricht wie er schreibt", weil er die Welt durch ihre ideologischen und nicht durch ihre alltäglichen Äußerungen wahrnimmt. Gleichzeitig wurde das rein praktische Verhalten nicht nur zum Objekt terminologischen Begreifens und des Verstehens ideologisch-philosophischer Reihen gemacht. Es ging auch von der Kategorie wertfreier Handlungen über in die Gruppe der Taten, die als „edelmütig" und „erhaben" oder als „schändlich", „roh" (nach der Terminologie N. Turgenjews) und „schurkisch"' begriffen wurden. Wir wollen hier ein ungewöhnliches, aber bezeichnendes, Beispiel anführen. Puschkin notierte ein charakteristisches Gespräch: „Delwig lud Rylejew einmal ein, mit ihm zu den Weibern zu fahren. ,Ich bin verheiratet', antwortete Rylejew. ,Na und', sagte D(elwig),,kannst du denn, nur weil du zuhause eine Küche hast, nicht mal im Restaurant speisen?'" (XII, 159). Das von Puschkin festgehaltene Gespräch zwischen Delwig und Rylejew ist nicht so sehr für die Rekonstruktion der real-biographischen Züge ihres Verhaltens interessant (sowohl der eine als auch der andere war ein vitaler Mensch, dessen Wandlungen durch eine Vielzahl von Faktoren reguliert wurden und auf der Ebene der Alltagshandlungen eine unendliche Zahl von Varianten offenließen), sondern für das Verstehen ihrer Beziehung zum Verhaltensprinzip selbst. Wir haben es mit der Kollision eines spielerischen' und eines ,seriösen' Verhältnisses zum Leben zu tun. Rylejew ist ein Mensch von seriösem Verhalten. Nicht nur auf der Ebene hoher ideologischer Gedankengebäude, sondern auch im Alltag versteht er es, für jede sinnvolle Situation eine bestimmte einzige Norm richtigen Handelns zu finden. Delwig realisiert hingegen, wie die Mitglieder des „Arsamas" und der „Grünen Lampe", ein mehrdeutiges spielerisches' Verhalten. Die Situation des Spiels, die es zuläßt, in bestimmten Fällen das ,richtige' Verhalten durch ein bedingtes entgegengesetztes zu ersetzen, wird auf das reale Leben übertragen.
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„Rohling" bedeutet im politischen Lexikon N . Turgenjews „Reaktionär", „Verfech-
ter der Leibeigenschaft", „Feind der Aufklärung". Siehe etwa die Äußerung „Finsternis und Roheit begannen überall zu herrschen" im Brief an den Bruder Sergej vom 5. Mai 1817 aus Petersburg (Der Dekabrist N . I. Turgenjew. Briefe an den Bruder S. I. Turgenjew. M o skau, Leningrad; 1936, S. 222).
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Die Dekabristen kultivierten die Ernsthaftigkeit als Verhaltensnorm. Sawalischin hob bezeichnenderweise hervor, daß er „immer ernsthaft war" und selbst in der Kindheit „nie spielte". Ebenso negativ war das Verhältnis der Dekabristen zur Kultur des Wortspiels als einer Form des sprachlichen Verhaltens. In dem zitierten Wortwechsel reden die Gesprächspartner in der Tat in verschiedenen Sprachen: Delwig beansprucht durchaus nicht, daß seine Worte als eine Bekundung moralischer Prinzipien aufgefaßt werden, ihn interessiert die Rigorosität des Ausdrucks, le mot. Rylejew kann jedoch dort, wo ethische Wahrheiten angesprochen werden, das Paradoxon nicht auskosten. Jede seiner Äußerungen ist ein Programm. Mit äußerster Exaktheit drückte Milonow die Gegenüberstellung des Wortspiels und des Staatsbürgerbewußtseins in einem Schreiben an Shukowski aus, wobei er darauf hinwies, in welchem Maße diese Grenze innerhalb des Lagers der fortschrittlichen Jugend verstanden worden war. Wir werden jeder bei dem Seinen bleiben Bei Galimathias du, ich bei des Parnaß Stahl; Nenne du dich Schiller, ich nenn mich Juvenal; Nicht deine Freunde, die Enkel werden richten, Auf Bludow können wir als Richter wohl verzichten.104 Hier wird ein wichtiges Rüstzeug zur Gegenüberstellung gegeben. Der Galimathias, das Wortspiel, der Scherz zum Selbstzweck, und die Satire, erhaben, staatsbürgerlich und ernsthaft; Schiller, dessen Name mit der Phantastik von Balladensujets verbunden wird, und der als Bürgerpoet empfundene Juvenal; das Urteil fällt die Meinung der literarischen Elite, des in sich abgeschlossenen Zirkels* - und die Meinung der Nachkommen. U m sich den Sinn der von Milonow aufgestellten Antithese in ihrer ganzen Fülle vorstellen zu können, genügt es darauf hinzuweisen, daß sie der Kritik Shukowskis an Puschkin zu Beginn der 20er Jahre sehr nahekommt und auch den Ausfall gegen Bludow einschließt (siehe den Brief an Shukoswski, ungefähre Datierung vom 25. April 1825). Für Delwig gehört die Fahrt „zu den Weibern" zu einer Sphäre des Alltagsverhaltens, die in keinerlei Beziehung zum Ideologischen steht. Die
Hier ist der Balladendichter Schiller gemeint, den Shukowski übersetzt hat. Vgl. im Aufsatz Küchelbeckers „Über die Entwicklung unserer Poesie...", eine abfällige Kritik über Schiller als Dichter von Balladen und Vorlagen Shukowskis, des „unreifen Schiller". Küchelbecker, W. Uber die Entwicklung unserer Poesie, insbesondere der lyrischen während des letzten Jahrzehnts. Im Buch: Die Dekabristen. Poesie, Dramatik, Prosa, Publizistik, Literaturkritik. Moskau, Leningrad 1951, S. 552. Darüber, welche Entrüstung die für die Karamsinisten bloße Berufung auf die Meinung der „namhaften Freunde" außerhalb ihres Lagers hervorrief, schrieb N. Polewoi offen: „Worte wie namhafte Freunde oder nur namhafte hatten unter den damaligen Sprachbedingungen eine besondere Bedeutung". (Polewoi N. Materialien zur Geschichte der russischen Literatur und Journalistik der dreißiger Jahre, S. 153).
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Möglichkeit, sich einerseits in der Poesie und andererseits im Leben zu bewegen, wird von ihm nicht in ihrer Dualität wahrgenommen und wirft keinen Schatten auf seinen Charakter im Ganzen. Das Verhalten Rylejews ist im Prinzip einheitlich, und für ihn käme eine derartige Handlung der theoretischen Anerkennung des Rechts des Menschen auf Amoralität gleich. Was für Delwig keinerlei Bedeutung hat, wäre für Rylejew Träger eines ideologischen Inhalts. So äußert sich der Unterschied zwischen dem freizügigen Delwig und dem Revolutionär Rylejew sehr deutlich nicht nur auf der Ebene der Ideen oder theoretischen Konzeptionen, sondern auch in der Natur ihres Alltagsverhaltens. Der Karamsinismus bekräftigte die Vielfalt der Verhaltensweisen, sah in deren Wechsel die Norm des poetischen Verhältnisses zum Leben. Karamsin schrieb: Ist nicht Veränderung der empfindsamen Seele Sein? Ist sie doch weich wie Wachs, klar wie ein Spiegel... Wie soll sie dir da einheitlich sein.105 Im Gegensatz dazu war für die Romantik die Einheitlichkeit des Verhaltens das Poetische, die Unabhängigkeit der Handlungen von den Umständen. „Überall war er der gleiche, kühl, unveränderlich...", schrieb Lermontow über Napoleon. „Sei du selbst", schrieb A. Bestushew an Puschkin. Das Verhalten Pesteis während des Untersuchungsverfahrens charakterisierend, bemerkte der Geistliche Myslowski: „Überall und immer war er er selbst, nichts vermochte seine Standhaftigkeit zu erschüttern". Die Einheitlichkeit des Stils im Verhalten des Dekabristen hatte eine eigentümliche Besonderheit: das allgemein ,Literarische' im Verhalten der Romantiker, das Bestreben, alle Handlungen für symbolhaft anzusehen. Das führte einerseits zur Verstärkung der Rolle, die die Gestik im Alltagsverhalten einnahm. Die Geste ist eine Handlung oder Tat, die weniger eine praktische Zielrichtung, als eine gewisse Bedeutung ausdrückt; die Geste ist immer Zeichen und Symbol. Deshalb ist jede Aktion auf der Bühne und schließlich auch die Handlung eine imitierte völlige Befreiung vom Theaterhaften, die Geste ist die vollkommene Natürlichkeit, deren Bedeutung der Absicht des Autors unterliegt. Und umgekehrt: Gestenverhalten erscheint in dem einen oder anderen Maße immer theatralisch. Von diesem Standpunkt aus gesehen hätte das Alltagsverhalten eines Dekabristen auf den zeitgenössischen Beobachter einen theatralischen, auf den Zuschauer abzielenden Eindruck gemacht. Es muß allerdings betont werden, daß das Theatralische des Verhaltens in dem hier angesprochenen Sinne keineswegs der Unaufrichtigkeit oder irgendwelchen anderen negativen Merkmalen gleichzusetzen ist. Es ist lediglich ein Hinweis darauf, daß das Verhalten einen über das Alltägliche hinausgehenden Sinn bekommt, wobei nicht die Handlungen selbst, sondern ihre symbolische Bedeutung zu bewerten ist.
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Aber die auf das Wort, die Geste, das Gesamtverhalten gerichtete besondere Aufmerksamkeit, die diesen in unseren Augen den Charakter des Theatralischen verleiht, ergab sich aus dem Bewußtsein des Dekabristen, eine historische Person zu sein, deren Handlungen folglich ebenfalls historisch waren. Den Beitritt zur geheimen Gesellschaft verstand der Dekabrist als einen Übergang in die Welt der historischen Personen. Die Geheimgesellschaft ist ein Bund bedeutender Menschen. Doch das Verhalten eines bedeutenden Menschen hat sich grundsätzlich vom Alltagsleben der allgemeinen Menschheit zu unterscheiden. Es gehört der Geschichte an, wird von den Philosophen untersucht und von den Dichtern besungen. Sich als eine historische Person zu begreifen, zwang dazu, das eigene Leben als eine Kette von Sujets für künftige Historiker zu begreifen, und später für Poeten, Maler, Dramatiker. Von diesem Aspekt aus gesehen mischte sich unwillkürlich der Blickpunkt des Außenstehenden, der Nachfahren, in die Bewertung des eigenen Lebens. Die Nachfahren werden die Betrachter und Richter dessen sein, was die bedeutenden Menschen in der Arena der Geschichte vollführen. Und so befindet sich der Dekabrist stets auf einer erhabenen historischen Bühne. Sehr deutlich drückte sich dieses Gefühl in den Worten des jüngsten der Dekabristen, Alexander Odojewski, aus, mit denen er von der Wohnung Rylejews aus zum Senatsplatz ging: „Wir werden sterben, Brüder, ach wie ruhmvoll werden wir sterben!" Vom Standpunkt eines politischen Menschen aus gesehen, ist der Untergang mit dem Mißerfolg verbunden, mit dem Debakel und kann folglich nur bittere Gefühle hervorrufen. Aber für den künftigen Historiker, den Poeten oder Tragiker kann der heroische Tod ein erhabeneres Aussehen erlangen als ein prosaischer Sieg. Das ,Literarische' und ,Theaterhafte' des praktischen Alltagsverhaltens führte zur Umstellung gewohnter Gedankenverbindungen. Im Alltagsleben bringt das Wort die Handlung hervor: Das in Worten Gesagte findet in der Handlung seine Vollendung. Im Lebensverhalten des Dekabristen ergab sich, wie auf der Bühne, eine entgegengesetzte Reihenfolge: Die Handlung, als praktisches Geschehen, wird durch das Wort gekrönt, es ist ihr Ergebnis, ihre Bewertung, die Darlegung ihres symbolischen Sinngehalts. Was getan wurde, aber in der theoretischen Deklaration, in der Aufzeichnung des Historikers oder in anderen Texten ungesagt blieb, erreicht das Gedächtnis der Nachkommen nicht, als hätte es gleichsam nicht existiert. Im Leben wird das Wort existent, wenn ihm eine Handlung folgt; in den Auffassungen eines Dekabristen existiert eine Handlung, wenn sie vom Wort gekrönt wird. Goethe, der Romantik fremd gegenüberstehend, wird im „Faust", die Bibel paraphrasierend, erklären: „Am Anfang war die Tat". Für den Aufklärer des 18. Jahrhunderts stand am Anfang das Wort. Für den Dekabristen war das Wort sowohl Anfang als auch Krönung und Impuls zum historischen Handeln und dessen höchster Sinn.
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Die Umgangssprache der Gesellschaft im allgemeinen war von vielfältigen Euphemismen geprägt. Erinnern wir uns nur an das berühmte Gogolsche „Ich erleichterte mir die Nase", das in der Redeweise der Provinzdamen das Benennen der unanständigen' Handlung ersetzte. Von den Zeitgenossen wurde der Zusammenhang einer solchen Sprache mit dem Karamsinismus deutlich wahrgenommen. Nicht zufällig wurde sowohl der Literatursprache der Karamsinisten als auch der allgemeinen Redeweise in der Epoche der Dekabristen ein und derselbe Vorwurf gemacht: Geziertheit. Die Tendenz, den Zusammenhang zwischen dem Wort und dem, was es ausdrückt, abzuschwächen, aufzulockern', rief später bei L. Tolstoi, der sie als eine Äußerung der Heuchelei in der Redeweise der Alltagsmenschen verstand, ein beständig negatives Verhältnis hervor. Nach dem gleichen Prinzip der ,Veredelung' niederer Handlungen war die Redeweise der Amtsschreiber mit ihrem „Schäfchen im Papierchen" aufgebaut, was soviel wie Schmiergeld bedeutete, und dem euphemistischen „Man muß zulegen" im Sinne von „Die Summe muß erhöht werden", mit den spezifischen Bedeutungen der Verben „geben" und „nehmen". Erinnern wir uns an den Chor der Beamten in der „Gerichtsschikane" von Kapnist: „Nimm, das ist hier keine Kunst..." Diese Verse kommentierend, schrieb Wjasemski: „Hier sind keine weiteren Erklärungen nötig: Es ist bekannt, von welchem Nehmen da die Rede ist. Das Wort trinken ist für sich genommen auch dem Wort saufen gleich... Ein anderer Vorsteher sagte, daß, wenn er gezwungen ist, Dienstlisten auszufüllen und in die entsprechenden Rubriken das Wort würdig und fähig einzutragen hat, er oft noch gern hinzufügen würde:,Fähig zu jeder Niedertracht und jeglichen Verachtens würdig'."106 Auf dieser Basis vollzog sich manchmal das Hinüberwachsen der praktischen Kanzleisprache in eine Geheimsprache, die an die Eingeweihtensprache der Hohepriester erinnert. Von dem Ersuchenden wurde nicht nur die Erfüllung einiger Handlungen verlangt (Schmiergeld zu geben), sondern auch die Fähigkeit, die Rätsel zu lösen, nach deren Prinzip die Redeweise der Beamten verschlüsselt war. Darauf baut sich auch beispielsweise das Gespräch Warrawins mit Muromski in A. Suchowo-Kobylins „Eine Angelegenheit" auf. Genau das gleiche Muster der Kanzleisprache finden wir auch bei A. Tschechow: „,Bring uns, Brüderchen, ein halbes Spektakulum und vierundzwanzig Unannehmlichkeiten.' Nach einer Weile brachte der Kellner auf einem Tablett eine halbe Flasche Wodka und einige Teller mit verschiedenen Vorspeisen. ,Und noch etwas, mein Lieber', sagte Potschatkin zu ihm,,bring uns eine Portion vom Hauptmeister des Anschwärzens und der Schmähsucht mit Kartoffelpüree.'"107 Aber der Verzicht auf die Euphemismen, das Erfordernis, die Dinge bei ihrem Namen zu nennen, ließ die Lexik des Dekabristen nicht stilistisch
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,niedrig', vulgär oder gar alltäglich werden. Es genügt, den Stil der Rede Tschazkis und der Moskauer „Greisinnen" und „Greise" miteinander zu vergleichen, um sich ein weiteres Unterscheidungsmerkmal in der Sprache der Dekabristen und der allgemeinen Sprache bewußt zu machen. Tschazkis Sprache ist eine Büchersprache und pathetisch, die Sprache des ,Gribojedowschen Moskau' ist prall und zieht uns heute durch den Reichtum ihrer sinnlichen Nuancen an. Für Gribojedow selbst spricht Tschazki die pathetische und unduldsame Sprache des Staatsbürgers, Moskau dagegen die Sprache „der geschwätzigen Greisinnen und Greise". Das Wort der Dekabristen schließlich war stets das laut ausgesprochene Wort. Der Dekabrist nannte die Dinge ö f f e n t l i c h bei ihrem Namen, ,tönt' auf einem Ball und in der Gesellschaft, denn er sah gerade in diesem Aussprechen eine Befreiung des Menschen und den Beginn der Umgestaltungen. Fjodor Glinka, einer der aktivsten und bewegendsten hochherzigen Menschen dieser Epoche, Schriftsteller und Frontoffizier, Gardeoberst und nahezu bettelarmer Habenichts, notiert, als er zu einem Ball geht: „Brandmarken: 1. Araktschejew und Dolgorukow, 2. die Militärsiedlungen, 3. die Sklaverei und die Spießruten 4. den Müßiggang der reichen Würdenträger 5. das blinde Zutrauen zu den Chefs der Kanzleien..." 108 Er geht zu einem Ball, als besteige er ein Katheder, um ,zu tönen' und zu belehren. Und auf ebendem Ball prangert er Fälle des Mißbrauchs von Leibeigenen an, sammelt er Unterschriften für den Freikauf eines leibeigenen Dichters oder Geigers. Natürlich erschien der Gesellschaft ein solches Verhalten naiv und lächerlich. F. Glinka war treuherzig, W. Küchelbecker war „linkisch" und Pierre Besuchow in „Krieg und Frieden" ist unbeholfen und „taktlos". Aber die Geradlinigkeit und selbst eine gewisse Naivität, die Fähigkeit, in, vom Standpunkt der Gesellschaft aus, lächerliche Situationen zu geraten, waren mit dem Verhalten eines Dekabristen ebenso vereinbar wie Unerbittlichkeit, Stolz und sogar romantische Arroganz. Das Verhalten des Dekabristen schloß diese .Seltsamkeiten' keineswegs aus, dafür hingegen das Ausweichen, das Spiel mit Bewertungen, das Bemühen, immer den „richtigen Ton zu treffen", und dies nicht nur im Sinne Moltschalins, sondern auch im Stil des Pjotr Stepanowitsch Werchowenski aus Dostojewskis „Dämonen". Alle diese Besonderheiten des Sprachverhaltens der Dekabristen sind in der Tat zutiefst paradox, da sie in einem komplizierten und widersprüchlichen Verhältnis zu den Problemen der Konspiration, der illegalen Tätigkeit, stehen. Ein Revolutionär ist immer ein Zerstörer und ein Kämpfer. Deshalb kann es ohne den Begriff des Konspirativen auch keine revolutionäre Tätigkeit geben. Deshalb ist die Situation eines Illegalen selbstredend eine sehr komplizierte Wechselbeziehung zwischen Alltag und angenommenem Verhalten. Ein Verschwörer, der außerhalb des Kreises der ,Seinigen' in die Welt der für ihn feindlichen Gesellschaft eindringt, hat zweierlei Möglichkeiten, sich zu verhalten.
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Die erste Möglichkeit ist die romantische: Der Verschwörer bleibt der Revolutionär, verheimlicht der Gesellschaft nicht nur nicht den geheimen Charakter seines Lebens, sondern hebt ihn im Gegenteil auf jede Weise hervor. Er,maskiert' sich nicht so weit, daß er der Gesellschaft seine Überzeugungen verheimlicht; sich in einen Widerspruch zur Konspiration begebend, theatralisiert er seine Redeweise, die Intonationen, die Gesten, die Kleidung usw. So schockierte M.W. Petraschewski in den 40er Jahren des 19. Jahrhunderts die Gesellschaft und lenkte gleichzeitig ihre Aufmerksamkeit auf sich, indem er sich auf extravagante Weise kleidete (quadratischer Zylinder!) und gebärdete. In der uns interessierenden Zeit verkündete N. Turgenjew unter einer ebensolchen absichtlichen Verletzung der Konspiration eine eigentümliche Theorie. Er erklärte, daß die freien Auffassungen nicht dazu von der Jugend errungen worden wären, um den „Flegeln" zu gefallen. Nicht zufällig äußerte sich die Konspiration in der Epoche des Dekabrismus darin, daß man zwar die konkreten Beschlüsse und Pläne der Geheimgesellschaft vor den „Auslöschern" verbarg, aber die Tatsache der Existenz einer solchen Gesellschaft und sogar ihr Bestand, die Liste der revolutionären „Verschwörer", waren praktisch nicht geheim. Sie waren auch dem Zaren und einem sehr großen Personenkreis bekannt. Nicht von ungefähr sahen sich die Dekabristen später, 1821, gezwungen, die Geheimgesellschaft fiktiv aufzulösen und die völlig verlorengegangene Konspiration wiederzubeleben. Damit haben wir eine seltsame und paradoxe Situation vor uns, die später noch oft die Historiker verwirren wird: Die Dekabristen traten als eigenartige „nichtkonspirative Verschwörer" auf, als Mitglieder von geheimen Gesellschaften, die es für unedel hielten, ihre Auffassungen zu verbergen. Später, während des Untersuchungsverfahrens, werden einige, Konspiration und Lüge vermengend, die Dekabristenauffassung der Untrennbarkeit von Wahrheit und Ehre praktizieren. Diese Aufrichtigkeit der Dekabristen vor dem Untersuchungskomitee, die die Forscher bis heute in Erstaunen versetzt, entsprang logischerweise der Uberzeugung dieser adligen Revolutionäre, daß es verschiedene Arten von Ehrlichkeit nicht gibt und nicht geben kann. Die zweite, nichtromantische, die realistische Möglichkeit des Revolutionärslebens verbindet die Konspiration mit dem Recht auf ein Doppelverhalten. Tschernyschewski montiert in seinen Roman „Was tun?" das erdachte Gespräch mit Rachmetow ein. Rachmetow bringt den Erzähler durch seine Behauptung „Sie sind entweder ein Lügner oder ein Schurke" in Verlegenheit. Überträgt man diese Worte aus der, Umstände halber, konspirativen in die reale politische Sprache, müssen sie so gelesen werden: „Sie sind entweder ein Verschwörer (,Lügner') oder ein liberaler Schwätzer (,Schurke')". Also akzeptiert die Konspiration geradezu die Notwendigkeit und die Rechtmäßigkeit des Unaufrichtigen im Umgang mit den politischen Gegnern. Aufrichtigkeit in solchen Situationen wird als poli-
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tische Unreife und Schöngeisterei verachtet. So erweist sich für den Revolutionär in der doppelbödigen Welt eine hohe Moralität den ,Seinigen' gegenüber und eine erlaubte Amoralität in den Beziehungen zu den politischen Gegnern als Norm. Die Romantiker des 20. Jahrhunderts, vom Typ eines Andrej Bely etwa, behandelten die Gestalten des revolutionären Verschwörers und des verschwörerischen Zuträgers wie Doppelgängerfiguren - eine Tradition, die auf Dostojewski zurückgeht. Für den Romantiker der Dekabristenepoche blieb die Konspiration immer etwas Aufgezwungenes und Fragwürdiges. Ihr stand die heroische Publizität einer unverhüllten Agitationsgebärde entgegen. Es könnte den Anschein haben, als wäre diese Charakteristik nicht auf den Dekabristen im allgemeinen anwendbar, sondern nur auf die Gestalten der Periode des „Wohlfahrtsbundes", als „Gespreiztheit auf den Bällen" zum Allgemeingut der Gesellschaft wurde. Bekanntermaßen wurde im weiteren Verlauf der taktischen Entwicklung der geheimen Gesellschaften der Schwerpunkt auf die Konspiration verlagert. Gemäß dieser neuen Taktik wurde der öffentliche Propagandist durch den Verschwörer ersetzt. Aber diese Veränderung auf dem Gebiet der Kampftaktik führte nicht zu einer Stilverschiebung des Verhaltens. Indem der Dekabrist zum Verschwörer wurde, verhielt er sich im Salon durchaus nicht ,wie alle'. Keine konspirativen Absichten vermochten ihn dazu zu bringen, das Verhalten eines Moltschalin anzunehmen. Drückte er sein Verdikt schon nicht in einer flammenden Tirade aus, sondern mit einem verachtungsvollen Wort oder mit einer Grimasse, blieb er doch in seinem Alltagsverhalten ein „Karbonari". Da dieses Alltagsverhalten nicht zum Gegenstand einer unmittelbaren Anklage werden konnte, verheimlichte man es nicht, sondern betonte es sogar, verwandelte es gewissermaßen in ein Erkennungsmerkmal. D. I. Sawalischin, 1824 von einer Weltreise nach Petersburg zurückgekehrt, verhielt sich derart insbesondere in der Sphäre des Alltagsverhaltens: Er verzichtete darauf, ein Empfehlungsschreiben an Araktschejew zu benutzen, so daß letzterer zu Batenkow sagte: „Das ist also dieser Sawalischin. Höre, Gawrilo Stepanowitsch, was ich dir sage: Er ist entweder der hochnäsigste Kerl, und darin ganz sein Väterchen, oder ein Liberaler". 1 0 9 Es ist bezeichnend, daß sich in der Vorstellung Araktschejews ein „hochnäsiger Kerl" und ein „Liberaler" gleichermaßen verhalten. Interessant ist auch noch etwas anderes: Sawalischin hatte das politische Parkett noch nicht betreten, und schon hatte er sich durch sein Verhalten demaskiert. Aber niemandem von seinen Freunden unter den Dekabristen kam es in den Sinn, ihm das übel zu nehmen, obwohl sie schon nicht mehr die begeisterten Propagandisten der Epoche des „Wohlfahrtsbundes" waren, sondern Verschwörer, die sich auf den entscheidenden Auftritt vorbereiteten. Im Gegenteil, hätte Sawalischin sich der Maskierung bedient und Araktschejew seine Aufwartung gemacht, wäre sein Verhalten aller Wahrschein-
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lichkeit nach verurteilt worden und er hätte Mißtrauen gesät. Bezeichnend ist auch, daß der Umgang Batenkows mit Araktschejew in den Kreisen der Verschwörer Mißbilligung hervorrief. Ein charakteristisches Beispiel ist auch das folgende. 1824 kritisierte Katenin am Charakter Tschazkis gerade jene Züge des „Agitatoren auf dem Ball", in denen M . W . Netschkina richtigerweise eine Widerspiegelung der taktischen Methoden des „Wohlfahrtsbundes" erblickte. „Dieser Tschazki", schreibt Katenin, „ist die Hauptfigur. Der Autor hat ihn con amore ausgeführt, und nach der Meinung des Autors besitzt Tschazki alle Tugenden und keine Laster, aber meines Erachtens redet er zuviel, wettert er über alles und agitiert nicht zur rechten Zeit". 110 Doch nur einige Monate vor dieser Äußerung formulierte er, seinen Freund Bachtin überredend, offen und ohne Verwendung eines Pseudonyms eine literarische Polemik zu veröffentlichen, mit außerordentlicher Offenheit die Forderung, nicht nur durch Worte, sondern auch durch das ganze Verhalten seine Uberzeugungen unverhüllt darzulegen: „Jetzt ist es Pflicht, für sich selbst und für die richtige Sache einzustehen, ohne Umschweife die Wahrheit zu sagen, mutig das Gute zu loben und das Üble anzuklagen, nicht nur in Büchern, sondern auch im Verhalten (Hervorgehoben von mir - J. L.) das Gesagte zu wiederholen, unbedingt zu wiederholen, damit die Betrüger nicht vorgeben können, sie hätten nichts gehört, sie zu zwingen, ihre Maske fallen zu lassen und zum Zweikampf anzutreten, und sie dann, sind sie angetreten, halbtot zu schlagen."111 Man braucht wohl nicht zu erklären, daß Katenin unter der „richtigen Sache" die Propaganda für sein literarisches Programm und seine eigenen Verdienste um die Sprachwissenschaft verstand. Aber statt einen persönlichen Inhalt mit solchen Worten auszudrücken, hätte man diese Wendungen ihrem allgemeinen Inhalt nach besser zum Schlachtruf der ganzen Generation gemacht. Daß gerade das Alltagsverhalten es in einer ganzen Reihe von Fällen den jungen Liberalen erlaubte, die „Eigenen" von den „Auslöschern" zu unterscheiden, ist insbesondere für die adlige Kultur charakteristisch, die ein äußerst kompliziertes und verzweigtes System der Verhaltensmerkmale geschaffen hatte. Aber darin äußerten sich auch die spezifischen Züge, die den Dekabristen als adligen Revolutionär kenntlich machten. Charakteristisch ist auch, daß das Alltagsverhalten zu einem der Kriterien für die Aufnahme der Kandidaten in die Gesellschaft wurde. Auf ebendieser Grundlage entstand die für die Dekabristen so spezifische Ritterlichkeit, die einerseits den moralischen Reiz der Dekabristentradition in der russischen Kultur ausmachte, ihnen aber andererseits unter den verhängnisvollen Umständen des Untersuchungsverfahrens einen schlechten Dienst erwies und ihre Standhaftigkeit beeinträchtigte. Die Dekabristen waren nicht darauf vorbereitet, unter den Verhältnissen einer zum Gesetz erhobenen Ruchlosigkeit zu agieren.
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Die Elemente des Verhaltens bilden eine Hierarchie: Geste - Handlung - Verhaltenstext. Letzterer ist als eine in sich geschlossene Kette sinnvoller Handlungen zwischen ,Absicht und Resultat zu verstehen. Das Alltagsverhalten des Dekabristen kann ohne eine Betrachtung der Gesten und Handlungen, aber auch der einzelnen und in sich geschlossenen Einheiten einer höheren Ordnung, der Verhaltenstexte, nicht verstanden werden. Ähnlich wie für den adligen Revolutionär Geste und Handlung durch die Bedeutung des Wortes den sie umfassenden Sinn bekamen, wurde jede Handlungskette zum Text, erlangte Bedeutung, wenn sie sich durch den Zusammenhang mit einem bestimmten literarischen Sujet erklären ließ. Der Tod Cäsars, die heroische Tat Catos, der Prophet, der anklagt und verkündet, Tyrtaios, Ossian oder Bajan, die am Vorabend der Schlacht vor den Kriegern sangen - dieses Sujet hatte Nareshny geschaffen - , Hektor, der in die Schlacht zieht und von Andromache Abschied nimmt, - von dieser Art waren die Sujets, die der einen oder anderen Kette der AlltagsVerhaltensweisen ihren Sinn verliehen. Solch ein Zuwachs bedeutete eine ,Erweiterung' des Gesamtverhaltens, eine Aufteilung unter bekannten typischen literarischen Masken, eine Idealisierung des Ortes und des Handlungsraumes (der reale Raum wurde durch den literarischen begriffen). So wurde in dem Sendschreiben Puschkins an Glinka aus Petersburg Athen und F. Glinka selbst zu Aristides. Puschkins Verse sind nicht nur eine Transformierung der Lebenssituation in eine literarische. Hier vollzieht sich aktiv auch ein entgegengesetzter Prozeß: In der Lebenssituation wird das sinntragend und folglich für die Beteiligten bemerkbar, was einem literarischen Sujet zugeschrieben werden kann. So stellt sich Katenin seinem Freund N. I. Bachtin im Jahre 1821 als ein Verbannter „unweit Sibiriens"112 dar. Diese geographische Absurdität - das Kostromer Gouvernement, wohin Katenin verbannt worden war, ist näher bei Moskau und Petersburg als bei Sibierien, und dessen ist sich sowohl Katenin als auch sein Briefpartner bewußt - erklärt sich daraus, daß Sibirien zu jener Zeit schon in die literarischen Sujets und in die mündliche Mythologie der russischen Kultur als Verbannungsort Eingang gefunden hatte und in diesem Zusammenhang mit Dutzenden von historischen Namen assoziiert wurde. Rylejew wird seinen Woinarowsky nach Sibirien führen, und Puschkin in seinem „Fiktiven Gespräch mit Alexander I." sich selbst. Kostroma wird in dieser Hinsicht mit nichts assoziiert. Und folglich bedeutet Kostroma in dem gleichen Sinn Sibirien, also Verbannung, wie Athen Petersburg bedeutet. Die Beziehung der verschiedenen Kunsttypen zum menschlichen Verhalten baut sich auf unterschiedliche Weise auf. Als Rechtfertigung für das realistische Sujet dient die Behauptung, daß die Menschen sich in der Wirklichkeit gerade so benehmen würden. Der Klassizismus forderte, daß die Menschen in einer idealen Welt sich nach den Mustern der Kunst verhalten sollen. Die Romantik schrieb dem Leser das Verhalten, darunter
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auch das alltägliche, vor. Bei aller scheinbaren Ähnlichkeit des zweiten und des dritten Prinzips ist der Unterschied zwischen ihnen doch recht w e sentlich. Das ideale Verhalten des klassizistischen Heroen wird auch im idealen R a u m des literarischen Textes realisiert. Den Versuch, es auf das Leben zu übertragen, kann nur ein außerordentlicher Mensch unternehmen, der sich bis zur Vollkommenheit erhebt. Für die Mehrheit der Leser jedoch und den Betrachter eines klassizistischen Werkes ist das Verhalten der literarischen Gestalten nur ein gesteigertes Ideal, das ihr praktisches Verhalten veredeln, aber nicht in ihm Gestalt annehmen soll. Das romantische Verhalten ist in dieser Hinsicht eingängiger. Es schließt nicht nur die literarischen Tugenden, sondern auch die literarischen Untugenden ein, z u m Beispiel den Egoismus, dessen übersteigerte Demonstration in die N o r m des alltäglichen Byronismus' einging: Lord Byron kam uns hochromantisch Und hob, der Willkür Ebenbild, Den Egoismus auf sein Schild. (3, XII) Allein die Tatsache, daß der literarische Held ein Zeitgenosse war, erleichterte wesentlich den Zugang zum Text als einem Programm für das künftige reale Verhalten des Lesers. Die Helden Byrons und des romantischen Puschkin, Marlinskis und Lermontows hatten unter den jungen Offizieren und Beamten eine ganze Phalanx von Nachahmern, die die Gesten, die M i m i k und die Manier des Verhaltens der literarischen Gestalten übernahmen. Imitierte das realistische W e r k die Wirklichkeit, so beeilte sich im Falle der Romantik die Wirklichkeit, die Literatur nachzuahmen. Ein Charakteristikum des Realismus ist es, daß im Leben ein bestimmter Verhaltenstyp auftritt und danach die Seiten der literarischen Texte bevölkert . Für seine Fähigkeit, im Leben selbst das Entstehen neuer Formen des Bewußtseins und des Verhaltens wahrzunehmen, w a r beispielsweise I. Turgenjew berühmt. Im romantischen W e r k entsteht der neue T y p des menschlichen Verhaltens auf den Textseiten und geht von dort aus ins Leben über. Selbstverständlich ist das Verhältnis zwischen dem romantischen Verhalten in der Literatur einerseits und im Leben andererseits recht kompliziert und keineswegs einheitlich. Vor allem fand die ,hohe' Romantik Byrons, Puschkins, Rylejews oder Lermontows rasch ihre Doppelgänger, die banalisierte Romantik und die romantische Selbstparodie. Was die letzteren grundsätzlich von der ,hohen' Romantik unterscheidet, ist der Unterschied zwischen der sekundären und der primären Kunst. Der romantische Poet läßt in seinem Werk die tragischen und machtvollen, bis zum Absoluten gesteigerten Weltgesetze wiederauferstehen, parodistische oder verflachte Werke hingegen lassen die romantische Wiederauferste hung der Weltgesetze wiederauferstehen. Das sind Darstellungen von Darstellungen oder Imi-
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tationen von Darstellungen. Die wahrhaft romantische Welt Byrons oder Lermontows wirkte immer durch das Schockierende des Unerwarteten, das den Leser durch seine Unberechenbarkeit ,traf'. Der romantische Dichter weiß nie, was die Vollkommenheit sein wird, er erkennt sie nicht an und ist, wie Lermontow oder Heine, sogar dazu bereit, als erster über eine ,vollkommene', von keinerlei Unwägbarkeiten getrübte Romantik in Gelächter auszubrechen. Nicht zufällig hat niemand so viele Parodien auf die Romantik verfaßt wie die Romantiker selbst. Die pseudoromantische Welt der Nachahmung des Romantischen der Romantik besteht durch und durch aus Klischees, und deshalb ist es unmöglich, „wie Lermontow" zu schreiben, und sehr leicht, die Schüler Marlinskis nachzuahmen. Aber auch auf dem Gebiet des Leserverhaltens gab es einen grundlegenden Unterschied zwischen der hohen Romantik und ihren banalen Doppelgängern. Das Verhalten der Dekabristen und der Ehefrauen der Dekabristen war, obwohl auch von der Literatur beeinflußt, im Prinzip unberechenbar. Nicht zufällig war man in Petersburg lange Zeit hindurch überzeugt davon, daß die Ehefrauen der Verbannten entweder überhaupt nicht nach Sibirien fahren oder bald wieder zurückkehren würden. Der General Rajewski zeigte ein tiefes Verständnis für seine Tochter Maria: Mit dem Bild seiner Tochter in den Händen sterbend, sagte er, sie sei die erstaunlichste aller ihm bekannten Frauen; ein „erstaunliches Verhalten" war das höchste Lob. Die ,Massen'-Romantik im Verhalten der Leser Marlinskis war im Grunde eine Nachahmung der Nachahmung. Sogar derjenige, der sich auf die „Welt Lermontows" orientierte, stellte in seinem Verhalten real die Welt der Romantik-Epigonen wieder her, obwohl er, indem er die Worte, die Gesten, die Handlungen seiner Helden wiederholte, sich subjektiv als ,wahrhaft romantische' Person begreifen konnte. Ganz und gar nicht zufällig wurde schon in den 40er Jahren der alltägliche Doppelgänger des romantischen Helden von Nekrassow, Turgenjew und Gontscharow zum Gegenstand ironischer Demaskierung gemacht: Sein geliebtes Ideal War Alexander Marlinski, Doch galt ihm als Höchstes allemal Das Theater Alexandrinski.113 Es war dies ein Mensch des trivialen, äußerst berechenbaren Verhaltens. Die Tragik des Lermontowschen Duells steht insbesondere mit der Tatsache im Zusammenhang, daß sein Gegner ein typischer ,romantischer Leser' war, einer von denen, über die Nekrassow geschrieben hatte. Wie hinter der Romantik ihr banaler Doppelgänger einherschritt und hinter Petschorin Gruschnizki, so folgte Martynow Lermontows Spuren. Der Romantiker Martynow war der berechenbarste Mensch in der Lermontowschen Umgebung. Die Dekabristen waren romantische Helden, und
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die Dekabristinnen waren romantische Frauen. Martynow posierte als romantischer Held. Menschen dieses Typs konnten Lermontow nachahmen, aber sie lasen ihn immer wie Marlinski. Der romantische Dichter wurde von einem Leser und Nachahmer der Romantik getötet. Und das ist kein Zufall, weil für den romantischen Dichter der ,nivellierte' Doppelgänger seiner Helden immer ein gemeines Subjekt ist, und für die Gemeinheit ist nichts beleidigender, denn als Gemeinheit erkannt zu werden. Wie bereits erwähnt, trug das Verhalten des Dekabristen den Stempel der Romantik. Handlungen und Verhaltenstexte wurden von den Sujets literarischer Werke bestimmt, von typischen literarischen Situationen oder auch von den Namen, die ihnen die Sujets suggerierten. In diesem Sinne war der Ausruf Puschkins „Da ist Cäsar - aber wo ist Brutus?" leicht als Programm künftiger Handlungen zu entschlüsseln. Es ist bezeichnend, daß allein die bloße Hinwendung zu einigen literarischen Mustern uns in einer Reihe von Fällen, von einigen Standpunkten aus, rätselhafte Handlungen der Menschen jener Epoche entschlüsseln läßt. So brachte zum Beispiel das Verhalten Tschaadajews, der auf dem Höhepunkt seiner erfolgreichen Laufbahn, nach der Wiederbegegnung mit dem Zaren 1820 in Troppau, seinen Abschied nahm, sowohl die Zeitgenossen als später auch die Historiker mehrfach in Verlegenheit. Bekanntlich war Tschaadajew Adjutant des Kommandanten des Gardekorps, Generaladjutant I. W. Wassiltschikow. Nach der „Semjonowsker Geschichte" ließ er sich bei Alexander I., der damals an einem Kongreß in Troppau teilnahm, melden, um den Bericht über den Aufstand der Garde zu überbringen. Die Zeitgenossen erblickten darin die Absicht, sich auf Kosten des Unglücks der Gefährten und Regimentskameraden hervorzutun. 1812 hatte Tschaadajew in dem Semjonowsker Regiment gedient. Erschien schon eine derartige Handlung seitens des für seinen Edelmut bekannten Tschaadajew unerklärlich, verwirrte sein Rücktritt nach der Begegnung mit dem Zaren nur noch um so mehr. In einem Brief an seine Tante A. M. Stscherbatowa vom 2. Januar 1821 erklärte Tschaadajew seine Handlung so: „Dieses Mal schreibe ich Ihnen, liebe Tante, um Ihnen mitzuteilen, daß ich entschlossen bin, meinen Abschied zu nehmen... Meine Bitte hat bei einigen eine wahre Sensation ausgelöst. Man wollte anfangs nicht glauben, daß ich allen Ernstes darum gebeten habe, dann sah man sich gezwungen, es zu glauben, aber man kann bis heute nicht verstehen, wie ich mich dazu entschließen konnte, und das in jener Minute, als ich das erlangen sollte, was ich, wie es schien, wünschte, was alle Welt sich wünscht, und was zu erhalten für einen jungen Menschen meines Dienstgrades so schmeichelhaft ist... Die Dinge liegen so, daß ich, zumindest nach den Worten Wassiltschikows, nach der Rückkehr des Imperators tatsächlich zum Flügeladjutanten ernannt werden sollte. Ich hielt es für origineller, diese Gunst zu verschmähen, statt sie zu erhalten. Es bereitet mir Vergnügen, Menschen, die alle anderen verachten, meine Verachtung auszudrücken."" 4
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A. Lebedew ist der Meinung, daß Tschaadajew mit diesem Brief bemüht war, „die Tante zu beruhigen", die angeblich an der Karriere ihres Neffen bei Hofe sehr interessiert war. Das erscheint jedoch recht zweifelhaft: Der Tochter des bekannten Frondeurs Fürst M. Stscherbatow brauchte man den Sinn der aristokratischen Verachtung dem Karrierismus am Hof gegenüber nicht zu erklären. Hätte Tschaadajew seinen Abschied genommen und sich als großer Herr und aufmüpfiges Mitglied des Englischen Klubs in Moskau niedergelassen, wäre sein Verhalten den Zeitgenossen nicht rätselhaft und der Tante nicht anstößig erschienen. Aber das Verwirrende der Angelegenheit bestand gerade darin, daß die Hingabe, mit der er seinen Dienst verrichtete, bekannt war, daß er offensichtlich um das persönliche Wiedersehen mit dem Herrscher beharrlich bemüht gewesen war, daß er seine Karriere vorangetrieben, sich mit der öffentlichen Meinung überworfen und den Neid und den Zorn jener seiner Dienstkollegen provoziert hatte, denen er ungeachtet des Dienstalters vorgezogen worden war. Es sei daran erinnert, daß es zwar keine schriftlich fixierte Regelung für die Beförderung nach dem Dienstalter gab, daß aber ein außerordentlich streng befolgtes, ungeschriebenes Gesetz für das Einhalten der einzelnen Rangstufen beim Erklimmen der Dienstleiter existierte. Es zu umgehen, widersprach dem Kameradschaftskodex und wurde in Offizierskreisen als Verstoß gegen die Regeln der Ehre empfunden. Es war gerade die Verkettung des Karrierestrebens, aussichtsreicher für die, die es verstanden, auf sich aufmerksam zu machen, mit dem freiwilligen Rücktritt kurz bevor diesem Streben ein glänzender Erfolg beschieden werden sollte, was das Verhalten Tschaadajews rätselhaft machte. Tschaadajews Neffe, M. Shicharew, erinnerte sich später: „Wassiltschikow sandte die Botschaft für den Herrscher... durch Tschaadajew, ungeachtet dessen, daß Tschaadajew der jüngere Adjutant war und daß der ältere hätte fahren müssen". Und weiter: „Nach der Rückkehr (Tschaadajews) nach Petersburg erfolgte beinahe im ganzen Gardekorps ein allgemeiner Ausbruch der Unzufriedenheit gegen ihn, weil er es übernommen hatte, nach Troppau zu reisen und dem Herrscher die Nachricht von der ,Semjonowsker Geschichte' zu überbringen". Man sagte ihm, er hätte nicht nur nicht reisen, sich nicht nur nicht zu dieser Reise drängen, sondern sie auf jeden Fall ablehnen sollen". Und weiter: „Daß er, statt auf die Reise zu verzichten, sich nach ihr gedrängt hatte, unterliegt für mich keinem Zweifel. In diesem unglückseligen Fall hat er der angeborenen Schwäche seines schrankenlosen Ehrgeizes nachgegeben; ich glaube nicht, daß bei der Abreise aus Petersburg in seiner Vorstellung schon die Insignien des Flügeladjutanten auf den Epauletten geglänzt haben, sondern daß es der Schimmer des Zaubers der Tuchfühlung, des kurzen Gesprächs, der engen Annäherung an den Imperator war." 115 Shicharew war natürlich die innere Welt Tschaadajews unzugänglich, aber vieles wußte er besser als die anderen Zeitgenossen, und seine Worte verdienen Aufmerksamkeit.
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Juri Tynjanow ist der Ansicht, daß Tschaadajew während der Begegnung in Troppau versucht hat, dem Zaren den Zusammenhang der „Semjonowsker Geschichte" mit dem Leibeigenenrecht zu erklären und Alexander zu veranlassen, den Weg der Reformen einzuschlagen. D i e Ideen Tschaadajews stießen, nach Ansicht Tynjanows, auf kein Verständnis bei dem Zaren, und das führte zu dem Bruch. „Der Ärger über die Begegnung mit dem Zaren und über das, was er ihm berichtet hatte, war zu offensichtlich". I m übrigen nennt T y n j a n o w diese Begegnung „eine Katastrophe". 1 1 6 Dieser Hypothese schließt sich auch A. Lebedew an. Die Kette der Mutmaßungen Tynjanows hat, obwohl sie überzeugender klingt als alle anderen bis heute angebotenen Erklärungen, ein anfechtbares Glied, denn der Bruch zwischen dem Zaren und Tschaadajew erfolgte nicht unmittelbar nach der Begegnung und dem Bericht in Troppau. I m Gegenteil, die bedeutende Beförderung im Dienst, die eine Folge der Wiederbegegnung hätte werden sollen, sowie auch der Umstand, daß Tschaadajew nach der Beförderung in das Gefolge des Zaren hätte aufrücken sollen, zeugt davon, daß das Gespräch zwischen dem Zaren und Tschaadajew nicht der Grund für den Bruch und die gegenseitige Abkühlung gewesen war. D e n Bericht Tschaadajews in Troppau als dienstliche Katastrophe zu deuten, ist problematisch. Tschaadajews ,Sturz' vollzog sich wahrscheinlich später: D e r Zar war vermutlich von der unerwarteten Bitte um den Abschied unangenehm überrascht, und danach wurde seine Gereiztheit durch den bereits weiter oben erwähnten, auf der Post abgefangenen Brief Tschaadajews an die Tante noch gesteigert. O b wohl Tschaadajews Worte über die Menschen, die alle anderen verachten, auf dessen Chef, Wassiltschikow, gemünzt waren, konnte der Zar sie auch auf sich selbst beziehen. U n d auch der T o n des Briefes erschien ihm wahrscheinlich unzulässig. Vielleicht waren es auch jene für Tschaadajew „durchaus ungünstigen" Angaben über ihn, über die der Fürst Wolkonski am 4. Februar 1821 in einem Brief an Wassiltschikow berichtete und als deren Ergebnis Alexander I. anordnete, Tschaadajew ohne Beförderung in den nächsten Dienstgrad den Abschied zu geben. Zur selben Zeit hatte der Zar „geruht, sich über diesen Offizier durchaus nicht auf die günstigste Weise zu äußern", wie später der Großfürst Konstantin Pawlowitsch Nikolai I. berichtete. Somit kann man den Rücktritt nicht als das Resultat des Konflikts mit dem Zaren betrachten, weil der Konflikt selbst das Resultat des Rücktritts war. Wenden wir uns dem literarischen Sujet zu, das uns helfen wird, das Verhalten Tschaadajews zu verstehen. A. Herzen hat seinen Aufsatz „Der Imperator Alexander I. und W . N . Karasin" N . A. Serno-Solowjewitsch, „dem letzten unserer Marquis Posa", gewidmet. Folglich war Posa für Herzen das Symbol einer bestimmten Erscheinung im russischen Leben. Es hat den Anschein, daß der Vergleich mit dem Schillerschen Sujet vieles
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in der rätselhaften Episode der Tschaadajewschen Biographie aufhellen kann. Vor allem steht außer Zweifel, daß Tschaadajew die Schillersche Tragödie kannte: Nach einem Berlin-Auf enthalt im Jahre 1789 und dem Besuch einer Aufführung des „Don Carlos" hatte N. M. Karamsin in den „Briefen eines russischen Reisenden" eine kurze, aber durchaus anerkennende Rezenzion darüber eingefügt, in der er insbesondere die Rolle des Marquis Posa hervorgehoben hatte. An der Moskauer Universität, die Tschaadajew 1808 bezog, herrschte zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein wahrhafter Schillerkult. Die glühende Schillerverehrung erfaßte sowohl Tschaadajews Universitätsprofessor A. F. Mersljakow als auch dessen engen Freund N. Turgenjew. Ein anderer Freund Tschaadajews, Gribojedow, zitierte in dem Entwurf zu seiner Tragödie „Rodamist und Senobija" sehr frei den berühmten Monolog des Marquis Posa. Von der Beteiligung des Republikaners „am selbstherrlichen Imperium" redend, schreibt er: „Der Regierung gefährlich und sich selbst eine Bürde, denn eines anderen Jahrhunderts Bürger".117 Die hervorgehobenen Worte sind eine Paraphrase der Selbstcharakteristik Posas: „Ich lebe ein Bürger derer, welche kommen werden". Die Vermutung, daß Tschaadajew mit seinem Verhalten die Variante eines ,russischen Marquis Posa' im Sinn hatte (wie er sich in den Gesprächen mit Puschkin auch die Rolle eines ,russischen Brutus' und eines ,russischen Perikles' zumaß), klärt einige,rätselhafte' Seiten seines Verhaltens auf. Vor allem erlaubt sie es, die Behauptung A. Lebedews bezüglich der 1820 gehegten Hoffnungen Tschaadajews auf einen Liberalismus der Regierung zu bestreiten: „Die Hoffnungen auf die,guten Absichten' des Zaren waren überhaupt, wie bekannt, unter den Dekabristen und dem prodekabristisch gestimmten Adel jener Zeit weit verbreitet". Hier ist eine bekannte Unexaktheit unterlaufen: Über das Vorhandensein irgendeiner ständigen Beziehung der Dekabristen zu Alexander I. zu reden, ohne sich auf exakte Angaben oder Äußerungen stützen zu können, ist recht bedenklich. Es ist bekannt, daß bereits 1820 niemand mehr an die Versprechungen des Zaren glaubte. Wichtiger ist jedoch etwas anderes. Nach einer ziemlich überzeugend klingenden Vermutung M. A. Zjawlowskis118, die von anderen maßgebenden Forschern gestützt wurde, sprach Tschaadajew bis zu seiner Fahrt nach Troppau in den Unterhaltungen mit Puschkin über Projekte des Tyrannenmordes, und das läßt sich nur schwer mit der Behauptung,
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Zwar wird hier auch erwähnt, daß Tschaadajew „schwerlich auf die guten Absichten
des Zaren hoffte". H i e r sieht der A u t o r das Ziel des Gesprächs darin, „endgültig und unabänderlich die wahren Absichten und Pläne Alexanders I. zu klären". ( L e b e d e w A., Tschaadajew. M o s k a u , 1965, S. 6 7 - 5 9 . ) Letzteres ist völlig unverständlich: W a r u m sollte ausgerechnet das Gespräch mit Tschaadajew derartige Klarheit bringen, wenn sie schon nicht in Dutzenden Unterredungen des Zaren mit verschiedenen Personen und in seinen zahlreichen Erklärungen deutlich geworden war.
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daß der Glaube an die „guten Absichten" des Zaren ihn veranlaßt hätte, zu dem Kongreß zu reiten, in Einklang bringen. Schillers Philipp ist durchaus kein Liberaler. Er ist ein Tyrann. Der Schillersche Posa wendet sich mit seiner ritterlichen Rede eben nicht an die „Tugend auf dem Thron", sondern an den Despoten. Der mißtrauische, heuchlerische Tyrann stützt sich auf den blutrünstigen Alba, der an Araktschejew denken lassen konnte'. Aber gerade der Tyrann bedarf eines Freundes, denn er ist unendlich einsam. Die ersten Worte, die Posa an Philipp richtet, sind Worte über seine Einsamkeit. Gerade sie erschüttern den Schillerschen Despoten. Den Zeitgenossen, zumindest denen, die sich, wie Tschaadajew, mit Karamsin unterhalten konnten, war bekannt, wie Alexander Pawlowitsch unter jenem Vakuum, daß das System der politischen Selbstherrschaft und sein eigenes Mißtrauen geschaffen hatten, litt. Die Zeitgenossen wußten auch, daß Alexander I., ähnlich dem Schillerschen Philipp, die Menschen zutiefst verachtete und daß ihn diese Verachtung quälte. Alexander genierte sich nicht, laut auszurufen: „Die Menschen sind Schurken!... Schufte! Und von diesen sind wir unglücklichen Herrscher umgeben!" 119 Tschaadajew hatte genau den richtigen Zeitpunkt getroffen, als er die Minute wählte, in der der Zar die größte Erschütterung empfand ", er trat vor ihn hin, um ihm von den Leiden des russischen Volkes zu berichten, wie Posa über die Nöte Flanderns gesprochen hatte. Wenn man sich den vom Aufstand des Ersten Garderegiments aufgewühlten Alexander vorstellt, der mit den Worten Philipps ausruft: Jetzt gib mir einen Menschen, gute Vorsicht, Du hast mir viel gegeben. Schenke mir Jetzt einen Menschen... kommen einem die Worte „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!" wie von selbst auf die Zunge. Man kann sich vorstellen, daß Tschaadajew sich auf dem Weg nach Troppau nicht nur einmal an den Monolog Posas erinnerte. Aber mit seiner freiheitsliebenden Rede vermochte Posa Philipp nur in einer Hinsicht für sich einzunehmen, der König sollte von der persönlichen Uneigennützigkeit seines Freundes überzeugt sein. Nicht von ungefähr verzichtet der Marquis Posa auf jegliche Auszeichnung und lehnt es ab, dem König zu dienen. Jede Auszeichnung wird ihn von einem Freund der Wahrheit zu einem Handlanger der Selbstherrschaft machen.
* Die Gestalt des vom Blut Flanderns besudelten Alba erhielt nach der blutigen Niederschlagung des Tschuguewsker Aufstandes besonderen Sinn. * * Wjasemski schrieb in jenen Tagen: „Ich kann angesichts des Schreckens und der Niedergeschlagenheit in solch einem wichtigen Augenblick nicht an die Einsamkeit des Herrschers denken. Wer hält ihn mit seiner Stimme zurück? Die gereizte Eigenliebe, die jämmerlichen Ratgeber oder die noch erbärmlicheren Hofschranzen".
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Die Audienz zu erlangen und dem Zaren sein Credo darzulegen, war nur die Hälfte der Angelegenheit, jetzt war durch den Verzicht auf die verdienten Auszeichnungen die persönliche Uneigennützigkeit unter Beweis zu stellen. Posas Worte: „Ich kann kein Fürstendiener sein!" wurden für Tschaadajew zum buchstäblichen Programm. Ihnen folgend, verzichtete er auf den Rang des Flügeladjutanten. Somit gab es keinen Widerspruch zwischen dem Verlangen nach einem Gespräch mit dem Imperator und dem Entschluß, seinen Abschied zu nehmen, es sind die Glieder einer Absichtenkette. Aus den gleichen Überlegungen heraus verzichtete N. Karamsin, bedenkend, daß die Stimme der Geschichte nicht durch eine Ämterabhängigkeit unterdrückt werden dürfe, konsequent auf alle ihm angebotenen Ämter. Wie auch der Marquis Posa nahm Karamsin die Rolle eines unabhängigen Freundes an, dessen der von Schmeichlern umgebene Tyrann bedarf. Der Unterschied bestand aber darin, daß Alexander I., der seine Würdenträger, auf deren Schmeicheleien er nichts gab, zutiefst verachtete, nichtsdestoweniger nicht der Wahrheit und der Kritik, sondern der Lobhudelei bedurfte. Krankhaft sich seiner selbst nicht sicher, unter einem Minderwertigkeitskomplex leidend, verachtete er diejenigen, die ihm schmeichelten, und haßte er diejenigen, die ihm die Wahrheit sagten. Wie verhielt sich nun Alexander I. Tschaadajews Bitte gegenüber, seinen Abschied nehmen zu dürfen? Verstand er überhaupt den Sinn des Tschaadajewschen Verhaltens? Zur Beantwortung dieser Frage wäre es nicht falsch, sich der vielleicht legendenhaften, aber in diesem Falle überaus charakteristischen Episode zu erinnern, die dank Herzen auf uns gekommen ist: „In den ersten Jahren der Herrschaft...pflegte man bei dem Zaren Alexander I. literarische Abende...An einem dieser Abende dauerte das Lesen lange, man las Schillers neue Tragödie. Der Vorleser endete und verharrte. Der Herrscher schwieg und senkte den Blick. Vielleicht dachte er an sein eigenes Schicksal, das dem Schicksal des Don Carlos so nahe kam, vielleicht auch an das Schicksal seines Philipp. Die völlige Stille währte einige Minuten, als erster brach sie der Fürst Alexander Nikolajewitsch Golizyn; er beugte sich zum Ohr des Grafen Wiktor Pawlowitsch Kotschubej hinüber und sagte halblaut, aber so, daß es alle hören konnten: Wir haben unseren Marquis Posa!"120 Golizyn dachte dabei an W. N. Karasin. Aber uns interessiert an diesem Auszug nicht nur der Beleg für das Interesse Alexanders I. an der Tragödie Schillers, sondern auch anderes. Nach Herzens Meinung legte Golizyn, als er Karasin einen Posa nannte, eine listige Schlinge der Hofintrige aus, deren Ziel es war, den Rivalen zu ,kippen': Er wußte, daß der Imperator keinen Prätendenten für die Rolle des Regenten dulden würde. Alexander I. war ein Despot, aber keiner vom Schillerschen Schlag. Von Natur aus gut, als Gentleman erzogen, war er ein russischer Selbstherrscher und folglich ein Mensch, der nicht daran dachte, etwas von seinen
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Vorrechten preiszugeben. Er bedurfte unbedingt eines Freundes, und eines uneigennützigen dazu. Es ist bekannt, daß für Alexander bereits der Schatten eines Verdachts persönlicher Absichten' genügte, um einen aktuellen Günstling aus der Gruppe der Freunde in die Kategorie der von ihm verachteten Hofschranzen abzuschieben. Den Schillerschen Tyrannen faszinierte die mit dem Edelmut der Auffassungen und der persönlichen Unabhängigkeit verbundene Uneigennützigkeit. Wer Alexanders Freund sein wollte, sollte in sich die Uneigennützigkeit mit grenzenloser persönlicher, der Servilität gleichkommender Ergebenheit vereinigen. Es ist bekannt, daß der Zar von seiten Araktschejews sowohl die Ablehnung eines Ordens hinnahm als auch die dreiste Rückgabe der Ordenszeichen, die sich selbst zu verleihen er vermittels eines besonderen Erlasses seinem Freund befohlen hatte. Unkäufliche Servilität demonstrierend, verzichtete Araktschejew darauf, dem Willen des Zaren nachzukommen, und erklärte sich auf die drängenden Bitten des Zaren hin lediglich bereit, das Porträt des Zaren anzunehmen, also nicht die Auszeichnung des Imperators, sondern das Geschenk des Freundes. Kaum verband sich aber die Liebe zum Imperator mit der Unabhängigkeit der Meinungen, wobei nicht deren politischer Charakter, sondern deren Unabhängigkeit entscheidend war, fand die Freundschaft ihr Ende. Auf diese Weise vollzog sich die Geschichte der Abkühlung des Verhältnisses Alexanders zu dem politisch konservativen Karamsin, der ihn persönlich liebte, absolut uneigennützig war und nie um etwas für sich persönlich gebeten hatte. Das Beispiel Karamsins ist in dieser Hinsicht besonders kennzeichnend. Die Abkühlung seines Verhältnisses zum Zaren setzte ein, als er diesem im Jahre 1811, in Twer, die Denkschrift „über das alte und das neue Rußland" vorlegte. Eine zweite, noch markantere Episode fand im Jahre 1819 statt, als Karamsin dem Zaren die „Meinung eines russischen Staatsbürgers" vorlas. Er notierte später die Worte, die er dabei zu Alexander gesagt hatte: „Herrscher, in Euch ist zuviel Eigenliebe... Ich fürchte mich vor nichts. Vor Gott sind wir alle gleich. Das, was ich Euch gesagt habe, würde ich auch Eurem Vater sagen... Herrscher, ich verachte diesen Tag die Liberalen, mir ist nur die Freiheit teuer, die mir kein Tyrann rauben kann... Ich bitte nicht mehr um Euer Wohlwollen, und vielleicht sage ich Euch das zum letzten Mal."121 In diesem Falle erklang die Kritik von einer Position her, die noch konservativer als die des Zaren war. Das läßt besonders deutlich werden, daß nicht das Fortschrittliche oder Reaktionäre der geäußerten Ideen, sondern die Unabhängigkeit der Meinung dem Zaren verhaßt war. Unter diesen Umständen war dem Streben eines jeden russischen Prätendenten nach der Rolle eines Marquis Posa schon im voraus der Mißerfolg beschieden. Nach dem Tod Alexanders sollte Karamsin in einem Denkschreiben an die
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Nachfahren erneut seine Liebe zu dem Verstorbenen betonen („Ich habe ihn aufrichtig und zärtlich geliebt, ich war manchmal aufgebracht, empört über den Monarchen, und ich liebte den Menschen") und das völlige Fiasko der Mission des Ratgebers beim Thron bekennen: „Ich war immer aufrichtig, er stets geduldig, sanftmütig, unwahrscheinlich liebenswürdig; er verlangte meine Ratschläge nicht, doch er hörte sie an, obwohl er ihnen größtenteils nicht folgte, so daß ich jetzt mit ganz Rußland sein Ende beweine und mich nicht mit dem Gedanken an das zehn Jahre währende Wohlwollen und Vertrauen eines so bedeutenden Trägers der Krone zu mir trösten kann, denn das Wohlwollen und das Vertrauen brachten dem geliebten Vaterland keinen Nutzen." 1 2 2
Umso weniger konnte Alexander die Geste der Unabhängigkeit von sehen Tschaadajews dulden, zu dem eine Annäherung gerade erst begonnen hatte. Jene Geste, die Marquis Posa endgültig Philipps Herz öffnete, ließ den Zaren Tschaadajew unabänderlich zurückweisen. Es war Tschaadajew ebensowenig beschieden, ein russischer Marquis Posa zu werden, wie ein Brutus oder Perikles. Aus diesem Beispiel ersehen wir, wie das reale Verhalten eines Menschen aus dem Kreis der Dekabristen sich uns als ein verschlüsselter Text darstellt, und das literarische Sujet als der Schlüssel, der es uns ermöglicht, seinen geheimen Sinn zu erfassen. Wir wollen noch ein Beispiel anführen. Bekannt ist die heldenmütige Tat der Dekabristenfrauen und deren wahrhaft große Bedeutung für die geistige Geschichte der russischen Gesellschaft. Aber die unmittelbare Aufrichtigkeit des Inhalts dieser Tat widerspricht nicht im mindesten der Gesetzmäßigkeit, in der sie sich äußerte, nicht viel anders als die Phrase eines flammenden Aufrufes, die den gleichen grammatischen Regeln unterworfen ist, die einer jeglichen Äußerung in einer vorgegebenen Sprache zugrundeliegen. Die Tat der Dekabristinnen war ein Akt des Protestes und der Rebellion. Aber in der Sphäre des Ausdrucks stützte sie sich unvermeidlich auf ein bestimmtes psychologisches Grundmuster. Hatten in der russischen Adelsgesellschaft bis zu der mutigen Tat der Dekabristinnen schon irgendwelche Verhaltensvoraussetzungen existiert, die ihrem Opferimpuls irgendeine Form eines sich schon gestalteten Verhaltens hätten verleihen können? Es gab solche Formen. Vor allem die Tatsache, daß man den bereits verbannten Ehegatten nach Sibirien folgte, existierte als eine durchaus traditionelle Verhaltensform in den Bräuchen des einfachen russischen Volkes. Die Etappengruppen wurden von Wagentrecks begleitet, auf denen die Familien den Verbannten freiwillig ins Exil folgten. Das wurde nicht als mutige Tat und schon gar nicht als eine individuelle Verhaltensentscheidung angesehen, das war die Norm. Überdies galt die gleiche Norm in der vorpetrinischen Zeit auch für die Familie eines verbannten Bojaren, wenn hinsichtlich seiner Frau
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und seiner Kinder keine besonderen Strafmaßnahmen vorgesehen waren. In diesem Sinne nahm sich die Schwägerin Radistschews, Jelisaweta Wassiljewna Rubanowskaja, gerade das Verhalten des einfachen Volkes zum Vorbild, als sie ihm nach Sibirien nachfolgte. Wie wenig sie daran dachte, eine Heldentat zu vollbringen, beweist die Tatsache, daß sie gerade die jüngsten und nicht die älteren Kinder Radistschews mit sich führte, die ihre Ausbildung beenden sollten. Niemand dachte daran, sie aufzuhalten oder davon abzubringen, offenbar haben die Zeitgenossen dieses große Opfer nicht einmal bemerkt; die ganze Episode blieb innerhalb der Grenzen der familiären Verhältnisse Radistschews und fand keinen öffentlichen Widerhall. Die Eltern Radistschews waren sogar empört darüber, daß die nicht mit ihm getraute Jelisaweta Wassiljewna ihm nach Sibirien nachreiste und dort, ungeachtet des nahen Verwandtschaftsgrades, seine Gattin wurde. Wir haben bereits erwähnt, daß der blinde Vater Radistschews dem aus Sibirien zurückkehrenden Schriftsteller aus diesem Grunde seinen Segen versagte, obwohl Jelisaweta Wassiljewna zu diesem Zeitpunkt schon, das schwere Los der Verbannung nicht ertragend, gestorben war. Ihre mutige Tat hatte bei den Zeitgenossen weder Würdigung noch Verständnis gefunden. Es gab noch eine weitere feststehende Verhaltensnorm, die den Dekabristinnen ihre Entscheidung vorgeben konnte. Sie waren in ihrer Mehrheit Ehefrauen von Offizieren. Und in der russischen Armee des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts pflegte man noch die alte, für die Soldaten schon verbotene, aber von den ranghöheren älteren Offizieren noch praktizierte Sitte, im Train ihre Familien mit sich zu führen. So befand sich insbesondere in Kutusows Stab bei Austerlitz dessen Tochter Jelisaweta Michailowna Tiesenhausen (spätere Chitrowo), die Gattin des Lieblingsadjutanten Kutusows, Ferdinand Tiesenhausen (in den Briefen Kutusows ,,Fedja"genannt). Nach der Schlacht, als man gegenseitig die Leichen der Gefallenen austauschte, hob sie den Körper ihres toten Mannes auf ein Fuhrwerk und brachte ihn allein, die Armee nahm einen anderen Weg, ostwärts nach Reval, wo sie ihn in der Kathedrale beisetzen ließ. Sie war damals einundzwanzig Jahre alt. Auch der General Rajewski nahm seine Familie mit auf die Feldzüge. Später, als er im Gespräch mit K. Batjuschkow die Teilnahme seiner Söhne an der Schlacht bei Daschkowka verneinte, sagte er: „Der kleinere Sohn sammelte im Wald Beeren (er war noch ein reines Kind), und eine Kugel durchschoß ihm die PantalonsV So war also die Tatsache, daß Ehefrauen und Kinder den Männern in die Verbannung oder bei den gefährlichen und problematischen Feldzügen folgten, durchaus nichts unerhört Neues im Leben einer russischen adligen Frau. Aber um einer solchen Handlung den Charakter eines politischen Protestes geben zu können, war die Erfüllung einer weiteren Voraus*
Siehe das Kapitel „Die Kunst des Lebens. S. 223.
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Setzung nötig. Wir erinnern an das Zitat aus den „Aufzeichnungen" des, wie P. E. Stschegolew ihn charakterisiert, typischen Dekabristen N.W. Bassargin: „Ich erinnere mich, daß ich meiner Frau irgendwann einmal das damals gerade erschienene Gedicht Rylejews ,Woinarowski' vorlas und mir dabei unwillkürlich Gedanken über meine eigene Zukunft machte.,Woran denkst du?' fragte sie mich.,Vielleicht erwartet auch mich die Verbannung', sagte ich. ,Na und, ich werde dann mit dir fahren, um dich zu trösten und dein Los zu teilen. Das kann uns doch nicht trennen, also wozu darüber nachdenken?'"123 Der Bassargina (geborene Fürstin Mestscherskaja) war es nicht beschieden, ihren Worten die Tat folgen zu lassen, sie starb überraschend im August 1825 und erlebte die Verhaftung ihres Gatten nicht mehr. Das Bemerkenswerte dieser Tatsache liegt jedoch nicht in dem persönlichen Schicksal der Bassargina, sondern darin, daß die Poesie Rylejews die mutige Tat der Frau, die ihrem Mann in die Verbannung nachfolgt, in eine Reihe mit anderen Äußerungen von Bürgertugend stellt. In den Betrachtungen „Natalja Dolgorukowa" und in dem Gedicht „Woinarowski" wurde ein Grundmuster heroischen Frauenverhaltens gestaltet: Daheim mochte ich nicht mehr weilen, Vergaß den Hang, mich reich zu kleiden, Sibiriens Kälte wollt ich mit ihm teilen, Mit ihm des Schicksals Unbeständigkeit erleiden. Und plötzlich: Eine Frau vor mir, In einen dürftgen Pelz gehüllt; Ein Reisigbündel krümmt den Rücken ihr; Der Arbeit und der Sehnsucht Jammerbild. Ich eile zu ihr..., doch was muß ich sehn, Erblick ich doch durch Frost und Sturmgewalt Vor mir meine junge Kosakin gehn, Der guten Freundin liebe Gestalt! Mein Schicksal konnte sie nicht fassen, Sie hat ihr Heimatdorf verlassen, Um mich zu suchen weit und breit. O Wanderer! Es hat ihr keine Ruh gelassen, Daß ohne sie ich trage all das Leid.124 Die Biographie Natalja Dolgorukajas (siehe Kapitel „Zwei Frauen") wurde bereits vor den Betrachtungen Rylejews zum Gegenstand literarischer Arbeiten gemacht, so in der Erzählung Glinkas „Ein Musterbeispiel der Liebe und der Gattinnentreue oder Die Nöte und die Tugenden Natalja Borissowna Dolgorukajas, der Tochter des Feldmarschalls B. P. Scheremetjew" (1815). Für S. Glinka war dieses Sujet der Gattinnentreue ein Gegenbeispiel zum Verhalten der „modischen Gattinnen". Rylejew nahm es jedoch in die Reihe der „Lebensbeschreibungen der großen Männer
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Rußlands" auf. Dafür schuf er einen völlig neuen Code für die Entschlüsselung des weiblichen Verhaltens. Insbesondere die Literatur lieferte der adligen Frau, neben den religiösen Normen, die ursprünglich im nationalethischen Bewußtsein der russischen Frauen verankert waren, zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein Verhaltensprogramm, das bewußt als heroisch begriffen wurde. Der Autor der „Betrachtungen" sieht darin gleichzeitig ein Programm der Tätigkeit, Muster eines heroischen Verhaltens, das das Handeln seiner Leser unmittelbar beeinflussen sollen. Rylejew hat also das Sujet, demzufolge eine Ehefrau dem Gatten in die Verbannung folgt, nicht erfunden, aber erst nach Rylejew wurde eine solche Reise zu einem öffentlichen und politischen Faktum. Man darf annehmen, daß Maria Wolkonskaja gerade von der Betrachtung „Natalja Dolgorukaja" unmittelbar beeinflußt wurde. Ihre Zeitgenossen, von ihrem Vater, N. Rajewski, bis hin zu den Forschern, bemerkten durchaus, daß sie keine tiefen persönlichen Gefühle für ihren Gatten hegte, den sie vor der Hochzeit nicht einmal gekannt und mit dem sie lediglich die drei Monate, die zwischen der Hochzeit und seiner Verhaftung lagen, gemeinsam verbracht hatte. Mit Bitterkeit wiederholte ihr Vater die Bekenntnisse Maria Nikolajewnas, „daß ihr der Ehemann manchmal unerträglich" war, hinzufügend, daß er nichts gegen ihre Reise nach Sibirien gehabt hätte, wäre er davon überzeugt gewesen, daß „ihr Herz sie zu ihrem Gatten zog". 126 Aber diese Umstände, die die Verwandten und einige der Forscher in Verlegenheit brachten, verstärkten nur Maria Nikolajewnas Heroismus und folglich auch die Notwendigkeit der Reise nach Sibirien. Wußte sie doch, daß zwischen der Hochzeit N. Scheremetjewas mit dem Fürsten Dolgoruki und dessen Verhaftung nur drei Tage gelegen hatten. Darauf war das heroische Leben gefolgt. Nach Rylejew war ihr der Gatte „wie ein Geist, nur für einen Augenblick, gegeben worden". N. Rajewski hatte sehr deutlich gespürt, daß nicht Liebe, sondern das Bestreben, eine Heldentat zu vollbringen, der Impuls für seine Tochter gewesen war. „Sie folgte nicht ihrem Gefühl, als sie zu ihrem Gatten reiste, sondern dem Einfluß der Wolkonskischen Weiber, die ihr durch das Lobpreisen ihrer heroischen Tat einredeten, eine Heldin zu sein". 127 N. Rajewski irrte sich nur in einem: Die „Wolkonskischen Weiber" waren schuldlos daran. Die Mutter S. Wolkonskis, eine Staatsdame Maria Fjodorownas, verhielt sich der Schwiegertochter gegenüber kühl und nahm am Schicksal des Sohnes keinen Anteil: „Meine Schwiegermutter befragte mich über den Sohn und sagte dabei, daß sie sich nicht entschließen könne, ihn zu besuchen, weil dieses Wiedersehen sie töten würde, und schon am nächsten Tag fuhr sie mit der Kaiserinmutter nach Moskau, wo schon die Vorbereitungen zu den Krönungsfeierlichkeiten begannen". 128 Eine Begegnung mit der Schwester des Gatten, der Fürstin Sofja Wolkonskaja, fand überhaupt nicht statt. ,Schuld' daran waren die russische Lite-
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ratur, die die Vorstellung vom weiblichen Äquivalent zum heroischen Bürgerverhalten geschaffen hatte, und die moralischen Normen des Dekabristenkreises, die eine direkte Übertragung des Verhaltens der literarischen Helden auf das Leben forderten. In dieser Beziehung ist die gänzliche Verwirrung der Dekabristen unter den Bedingungen des Untersuchungsverfahrens bezeichnend. Sie hatten in diesem erschütternden Ambiente keine Zeugen, die ein heroisches Auftreten hätten würdigen können, und es gab für sie auch keine literarischen Muster, da ein Untergang ohne Monologe im militärbürokratischen Va-kuum damals noch nicht Gegenstand der Kunst war. Unter diesen Bedingungen machten sich andere Normen und Verhaltensmuster geltend, die man einst zurückgedrängt hatte, die aber allen Dekabristen wohlbekannt waren: das pflichtgemäße Verhalten des Offiziers dem nach Rang und Dienstjahren Älteren gegenüber, der Fahneneid und die Standesehre. Sie hatten sich völlig dem Revolutionärsverhalten hingegeben und sahen sich nun gezwungen, zwischen diesen Normen hin und her zu pendeln. Nicht jeder konnte sich, wie Pestel, ohne auf das ihn selbst und seine Freunde verderbende Mithören des Untersuchungskomitees achten zu müssen, als einzigen Gesprächspartner die Nachwelt wählen und mit ihr den Dialog führen. Die mächtige Wirkung, die das Wort auf das Verhalten und die Symbole auf die Lebensweise ausübten, zeigte sich besonders deutlich in jenen Seiten des Alltagslebens, die ihrer Natur nach weit vom gesellschaftlichen Selbstverständnis entfernt waren. Eine dieser Sphären war die der Muße. Ihrer sozialen und psychophysiologischen Funktion nach soll die Muße ein völliger Gegensatz zur allgemeinen Lebensordnung sein. Nur so kann sie zum Abschalten und Entspannen führen. In einer Gesellschaft mit einem komplizierten System sozialer Beziehungen ist die Muße unvermeidlich auf die Unmittelbarkeit, die Natürlichkeit, die Einfachheit, die Symbollosigkeit orientiert. So schließt die Muße in den Zivilisationen des städtischen Typs unbedingt den Ausflug „in den Schoß der Natur" ein. Für den russischen Adligen des 19. Jahrhunderts und, in dessen zweiter Hälfte, auch für den Beamten verlangte das nach den Normen des allgemeinen Anstands, der ständischen oder bürokratischen Diensthierarchie geregelte Leben, daß die Muße sich mit der Welt der Theaterkulissen oder des Zigeunerlagers verknüpfte. Im Kaufmannsmilieu der strengen „Wohlanständigkeit" herrschte als Alternative zum Alltagsdasein das maßlose ,Fest-Gelage' vor. Das obligatorische Wechseln der sozialen Maske kam insbesondere im folgenden zum Ausdruck. Gehörte das Mitglied einer bestimmten Gruppierung im Alltagsleben zu den Beleidigten und Erniedrigten, so spielte es bei einem ,Fest-Gelage' die Rolle eines Menschen, „der selbst den Teufel nicht fürchtet". Und andererseits spielte derjenige, der mit einem hohen Autoritätsgrad ausgestattet war, in der Gelagewelt die Rolle eines,Erniedrigten'.
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Ein typisches Merkmal der Fest-Gelage ist ihre deutliche Abgrenzung von der übrigen, von der ,unfestlichen' Welt. Es ist eine räumliche Abgrenzung; das Fest-Gelage erfordert oft einen anderen Ort (einen festlichen: Prunksaal, Tempel; oder einen weniger festlichen: Picknickort oder Vorstadt) und eine bestimmte Zeit, kalendarische Feste, den späten Abend oder die Nachtzeit, in der man gewöhnlich schläft, usw. Im Adelsmilieu war solch ein Fest zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein kompliziertes und vielgestaltiges Phänomen. Einerseits, besonders in der Provinz und auf dem Dorf, war es noch eng mit den bäuerlichen Kalenderritualen verbunden. Andererseits litt die junge, noch nicht hundert Jahre alte nachpetrinische Adelskultur unter der erstarrten Ritualisierung des gewöhnlichen, nichtfestlichen Alltags. Das führte dazu, daß der Ball, wie die Parade für die Armee, nicht zu einem Ort der Nivellierung des Ritualisierungsniveaus, sondern, im Gegenteil, zu einem Ort für dessen Steigerung wurde. Die Muße bestand nicht in der Reduzierung der Einschränkung des Verhaltens, sondern im Ubergang von der vielgestaltigen nichtritualisierten Tätigkeit zu einer erheblich eingeschränkten Auswahl rein formaler Verhaltensweisen, die in ein Ritual verwandelt wurden: Tänze, Whistspiel, „Harmonische Ordnung/standesgemäße Gespräche" (Puschkin). In den Kreisen der militärischen Jugend sah das etwas anders aus. Unter Paul I. hatte sich in der Armee, besonders in der Garde, ein strenges Regime entpersönlichender Disziplin eingebürgert, das seinen Gipfelpunkt in der Wachparade fand. Ein Zeitgenosse der Dekabristen, T. von Bock, schrieb in einem Sendschreiben an Alexander I.: „Die Parade ist ein Fest der Bedeutungslosigkeit; und jeder Krieger, vor den man am Tage der Schlacht nicht hintreten kann, ohne den Blick zu senken, wird zu einer Parade-Marionette, während der Imperator als eine Gottheit erscheint, die allein denkt und regiert". 129 Dort, wo Drill und Parade den Alltag ausmachten, nahm die Freizeit den Charakter eines Gelages oder einer Orgie an. In diesem Sinne waren Zechereien etwas geradezu Gesetzmäßiges, stellten sie einen Teil des f o r malen' Verhaltens der militärischen Jugend dar. Man kann sagen, daß sie für ein bestimmtes Alter und innerhalb gewisser Grenzen ein obligatorischer Bestandteil des ,guten' Verhaltens eines Offiziers waren (Natürlich stellte nicht nur die Antithese ,Garde - Armee' einen quantitativen und qualitativen Unterschied dar, er existierte auch zwischen den Truppengattungen und sogar den Regimentern, die innerhalb ihrer Grenzen eine bestimmte obligatorische Tradition hervorbrachten). Vor diesem Hintergrund entwickelte sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein besonders schrankenloses Verhalten, das schon nicht mehr als Zeitvertreib der Militärs, sondern als eine Variante des Freidenkertums angesehen wurde. Das Element der Freiheit äußerte sich hier in einer eigentümlichen Alltagsromantik, die darin bestand, alle Beschränkungen
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durch Zügellosigkeit zu überwinden. Als ein typisches Modell für derartiges Verhalten galt ein Sieg über einen anerkannten Verfechter dieser Zügellosigkeit. Der Sinn der jeweiligen Tat bestand dann darin, etwas Unerhörtes zu vollbringen und denjenigen, den zuvor noch niemand besiegt hatte, zu bezwingen. Puschkin hat diesen Verhaltenstyp mit großer Genauigkeit im Monolog Silvios („Der Schuß") charakterisiert: „Ich diente im ...sehen Husarenregiment. Mein Charakter ist Ihnen bekannt: Ich bin es gewohnt, immer der Erste zu sein, danach strebe ich schon von Jugend auf. Zu unserer Zeit war viel Unfug Mode: Ich war der größte Radaubruder in der Armee. Und wir taten uns mit dem Trinken groß: Ich habe den berühmten, von Denis Dawydow besungenen Burzow unter den Tisch getrunken". Der Ausdruck „unter den Tisch trinken" charakterisiert hier jenes Element des Wettkampfs und des Verlangens, der Erste zu sein, das in den Jahren um 1810 ein hervorstechender modischer Zug jenes „Unfugs" war, der schon an Freidenkertum grenzte. Wir wollen ein charakteristisches Beispiel anführen: In der Michail Lunin gewidmeten Literatur taucht immer wieder eine von I. W. Jakuschkin berichtete und von N . A . Belogolowy nacherzählte Episode auf: „Lunin war Gardeoffizier und war im Sommer mit seinem Regiment bei Peterhof stationiert; der Sommer war heiß, und sowohl die Offiziere als auch die Soldaten erfrischten sich in ihrer Freizeit, indem sie mit Behagen in der Bucht badeten; plötzlich wurde das durch den befehlshabenden General, einen Deutschen, unter strengster Strafandrohung verboten und das Verbot damit begründet, daß das Baden nahe dem Fahrweg stattfände und damit den Anstand beleidige; daraufhin stieg Lunin, nachdem er in Erfahrung gebracht hatte, daß der General auf ebendiesem Weg vorbeikommen würde, einige Minuten vor dessen Erscheinen in voller Uniform, mit Tschako und in Kanonenstiefeln ins Wasser, so daß sich dem General bereits aus der Ferne der seltsame Anblick eines im Wasser planschenden Offiziers bot, und als er diesen erreichte, stellte Lunin sich mitten im Wasser rasch auf und erwies ihm die Ehrenbezeigung. Der verblüffte General rief den Offizier zu sich, erkannte in ihm Lunin, den Günstling der Großfürstin und hervorragenden Gardisten, und fragte ihn erstaunt: ,Was tun Sie hier?' ,Ich bade', antwortete Lunin, ,und damit ich die Anordnung Eurer Exzellenz nicht verletze, bemühe ich mich, das in der anständigsten F o r m zu tun.'" 1 3 0
N. A. Belogolowy deutete das sehr richtig als eine Erscheinung der „zügellosen... Proteste". Aber der Sinn des Luninschen Handelns bleibt unklar, solange wir es nicht mit einem anderen Zeugnis vergleichen, das der Aufmerksamkeit der Historiker entgangen ist. In den Memoiren des Subowschen Zwergs, Iwan Jakubowski, findet sich ein Bericht über den unehelichen Sohn Walerian Subows, den Fahnenjunker des Ulanen-Garderegiments, W. I. Korotscharow:
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„Was ist da mit ihm geschehen! Sie standen in Strelna, dort gingen einige Offiziere zum Baden, und er ging mit ihnen, aber der Großfürst Konstantin Pawlowitsch, ihr Oberbefehlshaber, ging am Ufer spazieren und kam an die Stelle, an der sie badeten. Sie erschraken, ließen sich aus einem Boot ins Wasser fallen, aber Korotscharow nahm als einziger so, wie die Mutter ihn zur Welt gebracht hatte, Haltung an und rief: ,Ich wünsche einen guten Tag, Euer Hoheit!' Von dieser Zeit an hatte der Großfürst ihn überaus liebgewonnen: ,Das wird einmal ein tapferer Offizier' ".131 Später, er war bereits Träger dreier Ordenskreuze, wurde Korotscharow im Range eines Stabsrittmeisters bei einer verwegenen Attacke gegen die polnischen Ulanen tödlich verwundet. Chronologisch stimmen diese beiden Badeepisoden überein. Die Geschichte läßt sich nun auf die folgende Weise rekonstruieren: Ein Fahnenjunker der Garde-Ulanen, nicht verblüfft, ließ sich zu einer übermütigen Handlung herbei, die vermutlich von der Garde begeistert aufgenommen wurde, aber gleichzeitig zum Verbot des Badens führte. Lunin, als der „erste Radaubruder in der Armee", sollte die Tat Korotscharows noch übertreffen. Nicht zuletzt spielte dabei wahrscheinlich der Wunsch eine Rolle, die Ehre der Gardekavallerie zu retten und die Ulanen a b zuhängen'. Die Bedeutung der übermütigen Handlung besteht darin, daß hier eine,Grenze überschritten' wurde, die zuvor noch niemand überquert hatte. Die Zechereien Pierres und Dolochows beschreibend, hat L. N. Tolstoi gerade diesen Aspekt sehr deutlich wahrgenommen. Ein anderes Merkmal des Übergehens der bloßen Zecherei zur oppositionellen war das Bestreben, in ihr nicht einen den Dienst ergänzenden Zeitvertreib zu sehen, sondern eine Antithese zum Dienst. Die Welt der Gelage wurde zu einer selbständigen Sphäre, die, indem man sich ihr überließ, den Dienst ausschloß. In dieser Hinsicht begann sie sich einerseits mit der Welt des Privatlebens zu verbinden und andererseits mit der Poesie, sowohl das eine als auch das andere erlangte im 18. Jahrhundert den Stellenwert eines Gegenpols zum Dienst. Eine ähnliche Tollheit, die die Grenzen des Offiziersverhaltens schon überschritt, war die Dreistigkeit des berühmt-berüchtigten „Amerikaners" Fjodor Tolstoi. Auch sie entsprach einem Modell: „Alles zuvor Vollbrachte ist zu übertreffen". Aber der „Amerikaner" Tolstoi mißachtete nicht nur die Verhaltensnormen der Garde, sondern prinzipiell auch alle anderen. Diese schrankenlose Amoralität verlieh dem skandalösen Verhalten Tolstois einerseits einen romantisch-titanenhaften Charakter, was zur Folge hatte, daß man in ihm einen romantischen Helden sah, und überschritt andererseits die Grenzen all dessen, was offiziell erlaubt war, und nahm damit die Färbung eines Protestes an. Nicht der politische, sondern der allgemeine Anarchismus bestimmte das Verhalten des „Amerikaners" Tolstoi, und so konnte es unschwer geschehen, daß es beispielsweise unter der Feder P. Wjasemskis eine oppositionelle Tönung erhielt:
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Amerikaner von Zigeunermanier! Ein Rätsel für der Welt Moral. Ihn treiben, wie des Fiebers Mal, Die Narkotika rastloser Lebensgier Und wütender Leidenschaften Qual Rasend von einem zum andern Ort, Vom Himmel zur Hölle, mal hierhin, mal dort! In seiner Seele glüht Feuerschein, Sein Geist ist des Egoismus Kind! Im Schicksalssturm - ein harter Stein, Im Rausch - ein dürres Blatt im Wind! 132 Das Alltagsverhalten des „Amerikaners" Tolstoi war zu jener Zeit gleichsam die reale Verkörperung der poetischen Ideale Wjasemskis. Es ist bezeichnend, daß eine derartig titanenhafte Ausschweifung als „Poesie des L e b e n s " , als „chaotische Poesie" und als „Ausschweifung in V e r s e n " begriffen werden konnte. U n d so erscheint es geradezu wie eine Fortsetzung dessen, wenn man eine Verbindung herstellt zwischen der Aussschweifung, die einst völlig der Sphäre des rein praktischen Alltagsverhaltens angehörte, und den theoretisch-ideologischen Vorstellungen. Das brachte einerseits die Verwandlung der Ausschweifung, des Unfugs, in eine Abart des sozial sinngebenden Verhaltens mit sich und andererseits eine Ritualisierung, die der Zecherei unter Freunden zuweilen den Charakter der Travestie einer Liturgie oder der Parodie der Sitzung einer Freimaurerloge verlieh. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts sah sich die Kultur der Notwendigkeit gegenüber, zwischen zwei Konzeptionen zu wählen. Dabei wurde in jener Zeit jede von ihnen mit einer bestimmten Richtung fortschrittlicher G e danken in Verbindung gebracht. Die von den Philosophen des 18. J a h r hunderts herrührende Tradition ging davon aus, daß das R e c h t auf G l ü c k in der N a t u r des Menschen angelegt ist, und daß unter dem allgemeinen W o h l aller das maximale W o h l der einzelnen Person zu verstehen ist. V o n diesen Positionen aus verwirklichte ein Mensch, der nach G l ü c k strebte, die Forderungen der N a t u r und der Moral. Jeder Appell zum Selbstverzicht auf G l ü c k wurde als eine Lehre begriffen, die dem Despotismus nützte. I m Gegensatz dazu sah man in der den Materialisten des 18. J a h r hunderts eigenen Ethik des Hedonismus gleichzeitig auch einen Ausdruck von Freiheitsstreben. Leidenschaft wurde als Äußerung eines Ausbruchs zur Freiheit wahrgenommen. D e r von Leidenschaften erfüllte, das G l ü c k begehrende, zur Liebe und Freude bereite Mensch konnte kein Sklave sein. V o n diesem Standpunkt aus gesehen, konnte sich das Freiheitsideal auf zweierlei Weise äußern: hier der vom H a ß gegen den Despotismus erfüllte Staatsbürger, dort die leidenschaftliche, von der Sehnsucht nach Glück erfüllte Frau. Es sind gerade diese beiden Bilder des Strebens nach Freiheit, die Puschkin 1817 in einem Gedicht nebeneinanderstellte:
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Wo ist in meines Vaterlandes Gründen Ein treuer Sinn, ein Genius zu finden? Wo Bürger, deren edle Seelen danach streben, Sich frei und flammend zu erheben? Wo Frauen, denen kalte Schönheit nicht gegeben, Die voller Feuer sind und voller Leben? Das Hinneigen zum Freiheitsstreben wurde als ein Fest begriffen, und in der hemmungslosen Zecherei, sogar in der Orgie, sah man die Realisierung des Freiheitsideals. Aber es gab noch eine weitere Spielart der freiheitsliebenden Moral. Sie stützte sich auf jenes komplizierte Konglomerat aus fortschrittlichen ethischen Vorstellungen, das mit der kritischen Durchsicht des Erbes der Materialisten des 18. Jahrhunderts verbunden war und völlig widersprüchliche Quellen in sich vereinigte, von Rousseau, in der Auslegung Robespierres, bis hin zu Schiller. Das war das Ideal des politischen Stoizismus, der römischen Tugend, des heroischen Asketentums. Liebe und Glück wurden als für den Bürger erniedrigend, egoistisch und unwürdig aus dieser Welt vertrieben. Hier waren nicht die „Frauen, denen kalte Schönheit nicht gegeben, die voller Feuer sind und voller Leben", das Ideal, sondern die Schatten des harten Brutus und der Stadthauptmännin Marfa, „der weibliche Cato unserer Republik" nach den Worten Karamsins. Die Göttin der Liebe wurde hier zugunsten der Muse der „Freisinnigkeit" vertrieben. Auch Puschkin schrieb in seiner Ode „Freiheit": Flieh, kein Aus soll dich entdecken, Kytheras ohnmächtige Königin! Wo bist du, wo, der Zaren Schrecken, der Freiheit stolze Sängerin? Im Licht dieser Vorstellungen erhielt die „Ausschweifung" eine entgegengesetzte Bedeutung, den Verzicht auf „Dienen", obschon in beiden Fällen dem jeweils ähnlichen Verhalten eine ihm innewohnende Bedeutung zugesprochen wurde. Sie wurde aus dem Bereich des Routineverhaltens in die Sphäre der symbolischen, der Zeichenhandlungen übertragen. Dieser Unterschied ist wesentlich: Der Bereich des Routineverhaltens ist dadurch gekennzeichnet, daß die Person es nicht selbständig wählt, sondern ohne eine Alternative von der Gesellschaft, der Epoche oder der psychophysiologischen Beschaffenheit zugeschrieben bekommt. Das Zeichenverhalten hingegen ist immer das Resultat einer Wahl. Folglich schließt es die freie Aktivität des Verhaltenssubjekts ein (Für diesen Fall gibt es interessante Beispiele, etwa wenn ein Nichtzeichenverhalten zu einem Zeichenverhalten wird, beispielsweise für einen außenstehenden Beobachter, einen AusKythera - eine griechische Insel, auf der sich der Tempel der Liebesgöttin Aphrodite (Cytherea) befand.
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länder, weil er diesem Verhalten unwillkürlich seine Möglichkeit, sich in diesen Situationen anders zu verhalten, hinzufügt). Die Frage, die uns nun interessiert, steht in einem unmittelbaren Zusammenhang mit der Bewertung so wesentlicher Erscheinungen im russischen Gesellschaftsleben um 1810 wie die „Grüne Lampe", „Arsamas" und die „Gesellschaft für dröhnendes Gelächter". Am bezeichnendsten ist in dieser Hinsicht die Geschichte der Erforschung der „Grünen Lampe". Die Gerüchte über angebliche Orgien in der „Grünen Lampe", die unter der jungen Generation der Zeitgenossen Puschkins zirkulierten, denen die Atmosphäre der ersten beiden Jahrzehnte des Jahrhunderts nur vom Hörensagen bekannt war, fanden Eingang in die frühe biographische Literatur und bedingten eine Tradition, die bis zu den Arbeiten P. I. Bartenews und P.W. Annenkow zurückreicht, und derzufolge die „Grüne Lampe" eine apolitische Gesellschaft und ein Ort der Orgien war. P. E. Stschegolew stellte in einem 1907 geschriebenen Aufsatz, in dem er scharf gegen diese Tradition polemisierte, die Frage nach dem Zusammenhang dieser Gesellschaft mit dem „Wohlfahrtsbund" der Dekabristen. 133 B. L. Modsalewski bestätigte mit der Publikation eines Teils des Archivs der „Grünen Lampe" diese Vermutung 134 , was es einer Reihe von Forschern erlaubte, diese Hypothese zu beweisen. In gleicher Weise wurde dieses Problem auch im Gesamtwerk M.W. Netschkinas 135 gedeutet. Schließlich wurde dieser auf die „Grüne Lampe" bezogene Aspekt in begrenztem Umfang und mit der bei B.W. Tomaschewski üblichen kritischen Haltung von diesem in seinem Buch „Puschkin" dargelegt, in dem das entsprechende Kapitel über vierzig Seiten des Textes einnimmt. Es gibt keine Veranlassung, diese Thesen einer Revision zu unterziehen. Aber gerade die Fülle und die Ausführlichkeit, mit der die Auffassung von der „Grünen Lampe" als einer Filiale des „Wohlfahrtsbundes" dargelegt wurde, offenbart eine gewisse Einseitigkeit eines solchen Herangehens. Lassen wir Legenden und Gerüchte beiseite, nehmen wir uns einen Gedichtzyklus Puschkins und seine an die Mitglieder der Gesellschaft gerichteten Briefe vor. Wir werden darin sofort etwas Gemeinsames erkennen, das sie untereinander vereint und dazu noch mit den Gedichten Ja. Tolstois, den B. W. Tomaschewski nicht ohne Grund für einen „eingeschworenen Dichter" der „Grünen Lampe" 1 3 6 hält. Diese Spezifik besteht in der Vereinigung offensichtlicher und unzweideutiger Freiheitsliebe mit dem Kult der Freude, der sinnlichen Liebe, dem Sarkasmus und einigen verleideten Libertinagen. Nicht zufällig findet der Leser in diesen Arbeiten häufig Punkte, die unmöglich in den an N. Turgenjew, Tschaadajew oder F. Glinka gerichteten Texten zu finden sein dürften. B. W. Tomaschewski zitiert einen Auszug aus einer Botschaft Puschkins an F.F. Jurjew und vergleicht ihn mit dem Rylej ewschen Sendschreiben an „Woinarowski": „Das Wort ,Hoffnung' beinhaltete einen bürgerlichen Sinn. Puschkin schrieb einem der Teilnehmer der ,Grünen Lampe' F. F. Jurjew:
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Gruß euch Ritter, kühn und heiter, Der Freiheit, der Liebe, dem Wein verbündet! Für uns, des Bundes junge Streiter, Ist der Hoffnung Lampe angezündet. Die Bedeutung des Wortes ,Hoffnung' geht aus der Widmung zum Rylejewschen ,Woinarowski' hervor: Und wieder, aus des Himmels Höhen, Leuchtete der Hoffnung Stern."137 Zwar läßt sich eine bildliche Verwandtschaft dieser Texte feststellen, doch darf man dabei nicht vergessen, daß bei Puschkin den zitierten Versen etwas für Rylejew völlig Unmögliches folgte, das aber für den ganzen zu betrachtenden Zyklus charakteristisch ist: Gruß euch, Glück und Jugend, Zechbecher und Bordell, Wo Wollust, lachend ob der Tugend, Uns trunken führt zum Bettgestell! Wenn man der Meinung ist, daß das ganze Wesen der „Grünen Lampe" sich in ihrer Rolle als einer Filiale des „Wohlfahrtsbundes" äußerte, wie kann man dann derartige, keineswegs vereinzelte Verse mit dem Hinweis des „Grünen Buches" in Verbindung bringen, daß „die Verbreitung der Regeln von Moral und Tugend Ziel des Bundes selbst ist" und daß es den Mitgliedern zur Pflicht gemacht wird, „in allen Reden die Tugend zu preisen, das Laster zu verabscheuen und der Schwäche gegenüber Verachtung zu zeigen"? Erinnern wir uns des Widerwillens N. Turgenjews gegen die „Zechereien" als ein Handeln, das „Rüpeln" zukomme: „In Moskau gibt es einen Pfuhl von Verlustierungen sinnenhaften Lebens. Man ißt, man trinkt, man schläft, spielt Karten, und das alles auf Kosten der mit Arbeit überbürdeten Bauern". 138 (Diese Notiz trägt das Datum des Jahres 1821, in dem Baratynski sein „Trinkgelage" veröffentlichte. Die ersten Erforscher der „Grünen Lampe" sprachen ihr, den „orgiastischen" Charakter hervorhebend, jegliche politische Bedeutung ab. Zeitgenössische Forscher zeigten das starke politische Interesse der Mitglieder dieser Gesellschaft auf und verneinten jeden Unterschied zwischen der „Grünen Lampe" und der moralischen Atmosphäre des „Wohlfahrtsbundes". M . W . Netschkina überging diesen Aspekt der Frage mit Stillschweigen. B.W. Tomaschewski fand einen Ausweg, indem er die seriösen und völlig dem Geist des „Wohlfahrtsbundes" entsprechenden Zusammen-künfte der „Grünen Lampe" und die ungezwungenen Abende im Hause Nikita Wsewoloshskis voneinander abhob. „Es ist an der Zeit, die Abende bei Wsewoloshski von den Sitzungen der,Grünen Lampe' zu trennen", schrieb er.139 Eine Zeile weiter schränkt der Forscher allerdings seine Behauptung ein, fügt er hinzu, daß „für Puschkin die Abende im Hause Wsewoloshskis
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natürlich genausowenig von den Sitzungen im „Arsamas" zu trennen waren, wie die traditionellen abendlichen Gänsebratenessen". Es bleibt unklar, warum man voneinander unterscheiden muß, was für Puschkin untrennbar war, in diesem Falle folglich auch die ,seriösen' Sitzungen im „Arsamas" und die ,launigen' Abendessen. Diese Aufgabe dürfte sich kaum erfüllen lassen. Zweifellos war die „Grüne Lampe" eine freiheitliche literarische Vereinigung und keine Ansammlung von Libertins. Es besteht nicht die geringste Notwendigkeit, für diese Frage eine Lanze zu brechen. Nicht weniger offensichtlich ist es, daß der „Wohlfahrtsbund" bestrebt war, die „Grüne Lampe" zu beeinflussen; dafür spricht zweifellos die Teilnahme F. Glinkas und S. Trubezkois an deren Sitzungen. Aber heißt das, daß sie eine einfache Filiale des „Bundes" war und daß sich zwischen diesen beiden Vereinigungen keine Unterschiede auftaten? Der Unterschied bestand nicht in den ideellen und programmatischen Zielsetzungen, sondern im Typ des Verhaltens. Die Freimaurer nannten ihre Logensitzungen „Arbeiten". Für ein Mitglied des „Wohlfahrtsbundes" war seine Tätigkeit als Teilnehmer an dem Bund ebenfalls „Arbeit" oder, feierlicher noch, „Dienen". So sagte auch Pustschin zu Puschkin: „Ich bin nicht allein in dieses neue Dienen für das Vaterland eingetreten". 140 Seriosität und Feierlichkeit dominierten die Stimmung der politischen Verschwörer. Für das Mitglied der „Grünen Lampe" war die Freiheitsliebe mit Fröhlichkeit eingefärbt, und die Realisierung der Freiheitsideale war die Verwandlung des Lebens in ein ununterbrochenes Fest. L. Grossman vermerkte, den Puschkin jener Zeit charakterisierend, sehr treffend: „Er empfand den politischen Kampf nicht als Lossagung und Opfer, sondern als Freude und Fest". 141 Aber dieses Fest war mit dem Verspotten der Verbote durch das über die Stränge schlagende Leben verbunden. Die Mutwilligkeit (Vgl.: „Ritter,
* Es existiert auch ein anderer Grund, aus dem man nicht mit P. Annenkow einverstanden sein kann, der schrieb, daß die Untersuchung in der Angelegenheit der Dekabristen den „unschuldigen", das heißt den orgiastischen Charakter der „Grünen Lampe" ergab (Annenkow, P., A.S. Puschkin in der Alexandrinischen Epoche. Sankt Petersburg 1874, S. 63), und man kann auch mit B. Tomaschewski nicht einverstanden sein, wenn er die Vermutung äußert, daß „die Gerüchte über die Orgien vielleicht mit dem Ziel verbreitet wurden... der Neugier entgegenzutreten und der Aufmerksamkeit einen falschen Weg zu weisen" (Tomaschewski B. Puschkin. Bd. 1, S. 206). Zu Beginn des Jahrhunderts verfolgte die Polizei die Unmoral „nicht weniger nachdrücklich als das Freidenkertum. Annenkow übertrug unbeabsichtigt die Sitten der „düsteren 7er Jahre" auf die Alexandrinische Epoche. Was jedoch die Behauptung B.W. Tomaschewskis betrifft, daß „die Sitzungen der konspirativen Gesellschaft an den Tagen der allwöchentlichen Einladungsabende des Hausherrn" nicht stattfinden konnten", so ist es nach Meinung des Forschers ein Argument zugunsten der Trennung der „Abende" und der „Sitzungen", und man kommt nicht umhin, sich an die „geheimen Zusammenkünfte/des geheimsten Bundes an den Donnerstagen" des Gribojedowschen Repitilow zu erinnern. In den Jahren 1819-1820 war die Konspiration noch weit von dem entfernt, was man 1824 unter diesem Begriff verstand.
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kühn und heiter") trennt die Ideale der „Grünen Lampe" von dem harmonischen Hedonismus Batjuschkows (und der maßvollen Fröhlichkeit der „Arsamas"-Mitglieder) und nähert sie dem „Husarentum" D. Dawydows und dem zügellosen Studententreiben Jasykows an. Die Verunglimpfung des Karamsinschen Kults der „Wohlanständigkeit" zeigt sich auch im Sprachverhalten der Gesellschaftsmitglieder. Das war natürlich nicht öffentlich, als gedrucktes Wort, zu verwenden, in diesem Falle hätte sich die „Lampe" nicht von einem beliebigen Gelage in der Armee unterschieden. Die Forscher sind davon überzeugt, daß die betrunkene oder auch nur angeheiterte Jugend, junge Offiziere und Dichter, sich in ihren Junggesellengesprächen an die Lexik des Wörterbuchs der Russischen Akademie hielt, und sie behaupten in diesem Zusammenhang, daß die berüchtigten „Kalmückengrüße" nur das mangelnde Raffinement des Witzes gezeigt hätten. Diese Uberzeugung entstand aufgrund der für den zeitgenössischen historischen Gedanken charakteristischen Hypnose der schriftlichen Quellen: Das Dokument wird der Wirklichkeit gleichgestellt, und die Sprache des Dokuments der Sprache des Lebens. Es ist aber so, daß die Teilnehmer an den Sitzungen und Abenden der „Grünen Lampe" die Sprache des hohen politischen und philosophischen Gedankens, der raffinierten poetischen Bildhaftigkeit, mit der unflätigen Schimpflexik verknüpften. Das schuf einen besonderen rauhen, familiären Stil, der für die Briefe Puschkins an die Mitglieder der „Grünen Lampe" charakteristisch ist. Die an unerwarteten Kollisionen und stilistischem Nebeneinander reiche Sprache wurde zu einer eigentümlichen Parole, an der man den Dazugehörigen erkannte. Das Verwenden von Sprachparolen des sich unbekümmert ausdrückenden Zirkeljargons war ein typischer Zug sowohl der „Lampe" als auch des „Arsamas". Puschkin hob insbesondere das Verwenden einer ,eigenen' Sprache hervor, als er sich in der Verbannung gedanklich in die „Grüne Lampe" zurückversetzte („Wieder hör ich... / Eurer Sprache charmante Zier..."). Dem Sprachverhalten sollte auch das alltägliche Verhalten entsprechen, das auf derselben Vermengung basierte. Bereits 1817 schrieb Puschkin an * Die bekannten Puschkinschen Worte aus dem Sendschreiben an Nikita Wsewoloshski: Wieder hör ich, treue Poeten, Eurer Sprache charmante Zier... Schenkt mir ein den Wein des Kometen, Wünsche, Kalmück, Gesundheit mir! werden auf die folgende Weise erklärt. Der „Wein des Kometen", der auch im „Eugen Onegin" erwähnt wird, ist Champagner aus den Trauben der Weinlese 1811, dessen hohe Qualität berühmt war. Es war dasselbe Jahr, in dem der Komet erschien, den man als ein Omen des Krieges ansah. Der „Sprache charmante Zier" und „Wünsche, Kalmück, Gesundheit mir!" sind Worte, die auf einen Brauch bei den Abenden im Hause Wsewoloshskis verweisen: Wenn einer der jungen Zecher laut ein „für den Druck ungeeignetes Wort" sagte, brachte ihm der Diener des Hausherrn, ein junger Kalmück, mit den etwas komisch anzuhörenden Worten „Ich wünsche Gesundheit!" einen Trinkbecher.
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Kawerin (die Husarenatmosphäre bereitete die Atmosphäre der „Lampe" vor): Man kann in Freundschaft leben Mit Versen, Karten, Plato und Pokal, Man deckt nur zu der Streiche Zahl, Verbirgt erhabnen Sinn, des Herzens Beben. (I, 238)
Erinnern wir uns, daß der Moralist und Prediger Tschazki scharf gegen eine solche Vermischung auftrat: Hab ich zu tun, versage ich mir Lustgewinn, Und treib ich Possen, gebe ich mich ihnen hin, Doch diese zwei Gewerke miteinander treiben solin andre, denen's Lust, ich laß es bleiben.
Das zum Kult erhobene Familiäre führte zu einer eigenartigen Ritualisierung des Alltags. Doch war das eine ,umgekehrte' Ritualisierung, die an närrische Karnevalsrituale erinnerte. Daraus gingen die charakteristischen blasphemischen Ersatzbegriffe hervor: die „Jungfer" Voltaires - die „heilige Bibel des Chariton". Auch das Wiedersehen mit „Lais" kann unverhüllt genannt werden, mit betonter Ignorierung des allgemeinen Sprachanstands: Wenn wieder wir zu viert beisammensitzen mit H..., Wein und Pfeifen
und übersetzt in die Sprache des blasphemischen Rituals: Verbringt eine göttliche Nacht mit Kytheras junger Priesterin. (Puschkin, 11(1), 87)
Das läßt sich mit der Verballhornung des Freimaurerrituals im „Arsamas" vergleichen. Die parodistische Antiritualisierung närrischen Handelns ist in beiden Fällen offensichtlich. Aber vergnügte sich der „Liberale" nicht so wie Moltschalin, ähnelte die Freizeit des russischen „Carbonari" nicht den Vergnügungen des „Liberalen". Das Alltagsverhalten grenzte den adligen Revolutionär nicht weniger scharf als der formelle Eintritt in die Geheimgesellschaft von den Menschen des „vergangenen Jahrhunderts" ab, und nicht nur von diesen, sondern auch von dem umfassenden Kreis der Frondeure, Freisinnigen und „Liberalen". Die Tatsache, daß ein derartiges Betonen des besonderen Verhaltens „Es gibt eine Menge von diesen Besonderheiten in Ihnen", sagt Sofja zu Tschazki - der Idee der Konspiration in der Tat widersprach, brachte die jungen Verschwörer nicht in Verlegenheit. Es ist bezeichnend, daß nicht
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der Dekabrist N . Turgenjew, sondern sein zurückhaltender älterer Bruder dem jüngsten der Brüder, Sergej Iwanowitsch, der sich stürmisch zu den dekabristischen Idealen hingezogen fühlte, zureden sollte, seine Auffassungen im Alltagsverhalten zu unterdrücken. Nikolai Iwanowitsch wies dem Bruder jedoch den entgegengesetzten Weg: „Wir haben die liberalen Regeln nicht angenommen, um den Flegeln zu gefallen. Sie können uns nicht lieben. Aber wir werden sie immer verachten". 1 4 2 D e r damit verbundene „drohende Blick und scharfe Tonfall", den Sofja bei Tschazki bemerkte, regte wenig zu einem unbekümmerten Witz an, der sich nicht in anklagender Satire niederschlug. Die Dekabristen waren keine Possenreißer . Gerieten sie in eine Gesellschaft von jungen „Liberalen", die eine der Narretei ähnliche Fröhlichkeit pflegte, belästigten sie diese mit ihrem Bestreben, sie auf den Weg ,hoher' und ,seriöser' Beschäftigungen zu führen, und zerstörten damit selbst die Basis dieser Vereinigungen. Es ist schon schwierig sich vorzustellen, wie F. Glinka sich in den Sitzungen der „Grünen Lampe" verhielt, und mehr noch während der Abendessen bei Wsewoloshski. Aber wir wissen sehr genau, „welche Wende die Ereignisse im „Arsamas" mit dem Eintritt der Dekabristen nahmen. Das Auftreten N . Turgenjews und mehr noch das M. Orlows war ,feurig' und ,sachlich', aber es läßt sich schwerlich als von unbekümmerten Scherzen erfüllt bezeichnen. O r l o w wußte das sehr gut selbst: „Vermag die Hand, die es gewohnt ist, in der Schlacht den schweren Damaszener Säbel zu führen, noch die leichte Waffe des Apollo zu beherrschen, und ist es angemessen, mit der vom lauten und gedehnten Befehleerteilen rauhgewordenen Stimme in der göttlichen Sprache der Inspiration oder in dem geschliffenen Idiom der Ironie zu reden?" 1 4 3 Natürlich darf man die Worte Orlows nicht als eine direkte Selbstcharakteristik verstehen. O r l o w stilisierte sich zu einem in eine Versammlung von Dichtern geratenen kriegerischen Haudegen und produzierte, noch verallgemeinernder, die Situation aus einem späteren Sendschreiben Puschkins: In die „üppigen Bäder" und „marmornen Gemächer" der exklusiven Würdenträger im alten R o m kommt ein „junger Krieger", um „komfortabel auszuspannen/ in einem Hafen auszuschnaufen und sich von neuem auf den Weg zu machen". Eine solche Stilisierung entsprach dem realen Bild Orlows kaum. Der General O r l o w , der wirklich an den Kampfhandlungen teilgenommen hatte, war kein Fronthaudegen, sondern ein erfahrener Beobachter und gleichzeitig ein hervorragender Redner und geübter Publizist. Er beherrschte die Feder nicht schlechter als den Degen und vermochte mit seinem W o r t die Gesprächspartner zu begeistern. D e m T y p seiner Persönlichkeit nach war O r l o w nicht der rauhe Krieger, als den er sich in seiner Rede im „Arsamas"
*
N o c h kennzeichnender ist das von der Greisin Chlestowa über Tschazki Gesagte -
„Possenreißer": So wurde die zornige Vorhaltung in der Sprache der Moskauer Gesellschaft gelesen.
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dargestellt hatte, sondern ein Politiker, dem durchaus Schlauheit gegeben war. Ein Musterbeispiel dafür, wie die Bilder eines Feldherrn und eines Politikers, eines Redners und eines Publizisten ineinander übergehen können, war Napoleon, und Orlow hatte sich diese Erfahrung vortrefflich angeeignet. Aber wie sein Vorbild Napoleon, besaß Orlow keinen Sinn für H u mor und ähnelte in dieser Hinsicht tatsächlich nicht den Mitgliedern des „Arsamas". Auch das Auftreten der Dekabristen in der „Gesellschaft für dröhnendes Gelächter" war weit vom H u m o r entfernt. Nach den Memoiren M . A . Dmitrijews kann man sich diese Auftritte so vorstellen: „Zur zweiten Sitzung lud Schachowskoi zwei Gäste ein (keine Mitglieder) - Fonwisin und Murawjew... Die Gäste begannen während der Sitzung Pfeife zu rauchen, dann gingen sie in das Nebenzimmer und flüsterten aus irgendeinem Grund miteinander, und danach, von dort zurückkehrend, begannen sie darüber zu reden, daß Arbeiten dieser Art zu seriös seien und dergleichen, und fingen an, Ratschläge zu erteilen. Schachowskoi wurde rot, und die Mitglieder waren beleidigt". 144 „Dröhnendes Gelächter" kam nicht zustande. Indem sie die in der adligen Gesellschaft herrschende Teilung des Alltagslebens in die Bereiche Dienst und Erholung aufhoben, wollten die „Liberalen" ihr Leben in ein Fest verwandeln, die Verschwörer in ein „Dienen". Allen Arten gesellschaftlicher Zerstreuung: Tänze, Kartenspiel, Flirten, begegneten die Dekabristen als Zeichen seelischer Leere mit scharfer Mißbilligung. So verknüpfte M. I. Murawjew-Apostol in einem Brief an Bakuschkin unmißverständlich die Leidenschaft des Kartenspiels mit dem allgemeinen Verfall des gesellschaftlichen Geistes unter den Bedingungen der Reaktion. „Nach dem Krieg von 1814 verschwand, so schien es mir, die Spielleidenschaft unter der Jugend. Wie läßt sich die Rückkehr zu einer solch verachtenswürdigen Beschäftigung erklären?" 1 4 5 fragte er, die von Puschkin empfohlene Symbiose von „Karten" und „Plato" ablehnend. Die Karten werden den Tänzen als ,banale' Beschäftigung gleichgesetzt. Von den Abenden, auf denen sich der „Nektar der klugen Jugend" zusammenfand, wurde sowohl das eine als auch das andere vertrieben. Auf den Abenden bei I. P. Liprandi gab es keine „Karten und Tänze". 146 Gribojedow ließ, in der Absicht, die Kluft zwischen Tschazki und dessen Umgebung zu betonen, den Monolog des Helden mit der Regieanweisung enden: „Schaut sich um, alle drehen sich mit größtem Eifer im Walzer. Die Greise wenden sich den Kartentischen zu". Sehr bezeichnend ist der Brief Nikolai Turgenjews an seinen Bruder Sergej. N. Turgenjew ist erstaunt darüber, daß man in Frankreich, in einem Land, in dem eine angespannte politische Atmosphäre herrscht, die Zeit mit Tänzen verschwendet: „Du tanzt, wie ich gehört habe. Die Tochter des Gr(afen) Golowin hat ihm geschrieben, sie hätte mit Dir getanzt. Ich habe mit einigem Erstaunen erfah-
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ren, daß in Frankreich noch getanzt wird! U n e écossaise constitutionelle, indépendante, ou une contredanse monarchique ou une danse contre-monarchique?"" D e r Umstand, daß hier nicht vom einfachen Nichttanzen, sondern von der Verhaltenswahl die Rede ist, wofür ein Verzicht auf das Tanzen nur symbolisches Zeichen ist, zeugt davon, daß ,seriöse' junge Leute der Jahre 1 8 1 8 - 1 8 1 9 , da unter dem Einfluß der Dekabristen die „Seriosität" in die Mode einging und einen breiteren Bereich als den unmittelbaren Kreis der Mitglieder der Geheimgesellschaften erfaßte, auf die Bälle gefahren kommen, um dort nicht zu tanzen. Allgemein bekannt sind die Worte aus Puschkins „Roman in Briefen": „Deine spekulativen und wichtigen Uberlegungen gehören dem Jahr 1818 an. Zu jener Zeit war Strenge der Regeln und politische Ö k o n o m i e Mode. Wir gingen auf die Bälle, ohne die Degen abzulegen (Man durfte nicht mit dem Degen tanzen, ein Offizier, der tanzen wollte, knöpfte den Degen ab und gab ihn, noch bevor er den Ballsaal betrat, beim Portier ab. - J.L.), zu tanzen erschien uns ungehörig, und wir hatten keine Zeit, uns mit Damen abzugeben". V I I I , (1) 55). Vergleichen wir das mit der Replik der Fürstin-Großmutter in „Verstand schafft Leiden": „Die Tänzer wurden schrecklich rar". D e m Ideal der „Zechereien" wurden demonstrativ die Spartaner im Geist gegenübergestellt und betont russische Gerichte in der Art der „russischen Frühstücke" bei Rylejew, die, wie sich Bestushew erinnert, „ständig gegen die zweite oder dritte Nachmittagsstunde stattfanden und zu denen sich gewöhnlich verschiedene Literaten und Mitglieder unserer Gesellschaft versammelten. Das Frühstück bestand in der Regel: aus einer Karaffe gereinigten russischen Weins, einigen Köpfen sauren Kohls und Roggenbrot". Diese spartanische Frühstücksatmosphäre „harmonierte mit der damaligen Neigung Rylejews, seinem Leben den Stempel des Russizismus aufzudrücken". 1 4 7 Diese Besonderheit nahm manchmal recht unerwartete Formen an. So hielt sich Rylejew, nachdem er eine Wohnung im aristokratischsten Bezirk Petersburgs, im Haus der Russisch-Amerikanischen Gesellschaft bezogen hatte, im H o f des Hauses, als ideologischen Fakt der Vereinfachung des Alltags, eine Kuh. M. Bestushew enthält sich jeder Ironie, wenn er uns Literaten beschreibt, die, indem sie „eine Zigarre rauchend auf und ab gehen, ein Blatt Kraut zu sich nehmen" (ebenda S. 54), die verschwommene Romantik Shukowskis kritisieren. Aber diese Kombination, in der die Zigarre nur zum Automatismus der Gewohnheit gehört und von E i n e konstitunionelle, eine unabhängige Ekossaise, oder ein monarchistischer K o n tertanz, oder einen kontermonarchistischen T a n z (franz.) Ein äußerst interessantes Zeugnis für das negative Verhältnis zu den T ä n z e n als einer Beschäftigung, die mit den „römischen T u g e n d e n " unvereinbar ist, einerseits, und gleichzeitig für den Glauben daran, daß das Alltagsverhalten sich nach den Texten, die das ,heroische' Verhalten beschreiben, auszurichten hat, andererseits, sind die Erinnerungen W . Oleninas, die die Episode aus der Kindheit N i kita Murawjews nachzeichnen (siehe S. 66).
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der tiefgehenden Europäisierung des realen Alltags zeugt, und das Kraut ein ideologisch bedeutungsvolles Symbol darstellt, ist bezeichnend. M. Bestushew sieht hierin keinen Widerspruch, da die Zigarre einer anderen Verhaltensebene angehört als das Kraut; das fällt nur einem außenstehenden Beobachter auf, also uns. Genauso bezeichnend ist es auch, daß Rylejew, Shukowski wegen dessen verlogener Volkstümlichkeit kritisierend, das komische Paradoxon der realen Atmosphäre, in der er seine Rede hält, nicht bemerkt. Einem jungen Menschen, der seine Zeit zwischen Bällen und Gelagen mit Freunden aufteilt, wurde der Anachoret entgegengestellt, der die Zeit in seiner Studierstube verbringt. Die Beschäftigungen in der Studierstube ergriffen sogar die militärische Jugend, die nun eher an junge Gelehrte erinnerte, als an die Freizügigen in der Armee. N. M. Murawjew, Pestel, Jakuschkin, D. I. Sawalischin, Batenkow und Dutzende andere junge Leute ihres Kreises studierten, hörten private Lektionen, exzerpierten aus Büchern und Zeitschriften und mieden die Gesellschaft von Damen: Modische Kreise sind nicht mehr en vogue derzeit. V o m Modezwang sind wir nun alle befreit. Gesellschaft meiden wir, und unseren Damenflor Uberlassen wir dem charmanten Altenchor Der Günstlinge des achtzehnten Jahrhunderts. (Puschkin, VII, 246) Professoren!! Bei denen hat unser Verwandter gelernt Und lief davon! Ist in der Apotheke Geselle jetzt, Und läuft vor den Frauen davon... A. Gribojedow „Verstand schafft Leiden"
D. I. Sawalischin, der mit sechzehn Jahren zum Lehrer für Astronomie und höhere Mathematik im Marinekorps bestimmt worden war, das er kurz davor glänzend absolviert hatte, und sich mit achtzehn Jahren auf eine wissenschaftliche Weltreise begab, beklagte sich über Petersburgs „ewige Gäste, ewige Karten und die Geschäftigkeit des Salonlebens... Manchmal habe ich keine freie Minute für meine wichtigen und geliebten wissenschaftlichen Studien". 148 Ein Angehöriger der nichtadligen Intelligenz konnte, wenn er die Kluft zwischen der Theorie und der Realität begriff, an der Grenze vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Ausweichposition einnehmen: Trag eine Maske in der Welt Getümmel, Und Philosoph sei erst in deinem Bücherhimmel.' 49
Die Isolation eines Dekabristen wurde von einem unmißverständlichen und offen zur Schau getragenen Ausdruck der Verachtung gegenüber dem gewöhnlichen Zeitvertreib des Adligen begleitet. Ein spezieller Punkt des „Grünen Buches" schrieb vor: „Vergeude nicht unnütz die Zeit mit den
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angeblichen Vergnügungen der großen Welt, sondern widme die Mußestunden nach den erfüllten Pflichten nützlichem Tun oder Gesprächen mit wohlgesinnten Menschen". 1 5 0 D e r T y p des weisen Husaren, des Eremiten und Gelehrten wird möglich - Tschaadajew: Das Kabinett werd ich erblicken, W o du stets Weiser und mal Träumer bist, Leidenschaftslos sorgloser Menge Chronist. (Puschkin, 11,(1) 189)
Puschkins und Tschaadajews Zeitvertreib bestand darin, daß sie zusammen lasen („Mit Kawerin spazierengegangen , / Rußland gerügt mit Molostwow, / Mit meinem Tschaadajew im Lesen befangen"). Puschkin liefert eine äußerst exakte Ausdrucksskala von Äußerungen gegensätzlicher Stimmungen in den Formen des Alltagsverhaltens: Zechen - „freie Gespräche" - Lesen. Das rief nicht nur den Verdacht der Regierung hervor, sondern reizte auch diejenigen, für die Zecherei und Unabhängigkeit Synonyme blieben: Manieren,
Manieren!
U n d über Wodka nicht ein Wort! 1 5 1
Aber es wäre ein großer Irrtum, sich ein Mitglied der Geheimgesellschaften als Stubenhocker vorzustellen. Die oben angeführten Charakteristiken bedeuten nur den Verzicht auf die alten Formen der Vereinigungen von Menschen im Alltag. Darüber hinaus wurde die Idee von den „allumfassenden Bemühungen" zur Leitidee der Dekabristen und durchdrang nicht nur ihre theoretischen Vorstellungen, sondern auch ihr Alltagsverhalten. In einer Reihe von Fällen rangiert sie noch vor dem Gedanken der politischen Verschwörung und erleichtert es psychologisch, den Pfad der Konspiration zu betreten. D . I. Sawalischin erinnert sich: „Als ich noch im Zöglingskorps war (Diesem Korps gehörte Sawalischin von 1816-1819 an, der Nördlichen Gesellschaft trat er 1824 bei. - J. L.), konnte ich nicht nur aufmerksam alle Mängel, Unzulänglichkeiten und Mißbräuche beobachten, in den Ge-
*
F ü r das Verständnis der verschiedenen Bedeutungen des Wortes„spazieren" ist jene
Stelle im Tagebuch W . F. Rajewskis bezeichnend, in der er das Gespräch mit dem G r o ß f ü r sten Konstantin Pawlowitsch fixiert. Als A n t w o r t auf die Bitte Rajewskis, ihm zu erlauben, spazieren zu gehen, sagt Konstantin: „Nein, Major, das ist entschieden unmöglich! W e n n Sie sich rechtfertigen, wird genug Zeit zum spazieren sein". D o c h später stellte sich heraus, daß die Gesprächspartner einander nicht verstanden hatten: „,Ja so', fuhr der Zarewitsch fort, ,Sie wollen an der Luft Spazierengehen, für die Gesundheit, und ich dachte, spazieren heißt zechen. D a s ist eine andere S a c h e ' " (Das literarische E r b e B d . 60, B u c h 1, S. 101) . Konstantin hielt das Zechen für eine N o r m des militärischen Verhaltens - N i c h t zufällig nannte Puschkin ihn einen „ R o m a n t i k e r " - , die nur für einen Arrestanten unzulässig ist. F ü r den „Spartaner" Rajewski steht das W o r t „spazieren" nur für einen tatsächlichen Spaziergang.
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sprächen mit den Klarsichtigen unter meinen Kameraden schlug ich auch immer wieder vor, mit vereinten Kräften die Ursachen dafür aufzudecken und über Mittel zu deren Beseitigung nachzudenken". 152 Ein ganz besonderes Merkmal der Dekabristen war der auf der Gemeinsamkeit der geistigen Ideale basierende Kult der Bruderschaft, der exaltierten Freundschaft, nicht selten auf Kosten anderer Bindungen. Der von glühender Freundschaft erfüllte Rylejew „erschien der Familie gegenüber kalt und liebte es nicht, wenn man ihn bei seiner Arbeit störte" 153 , wie es in den unbefangenen Erinnerungen seines leibeigenen Lohndieners Agap Iwanow heißt. Die Worte Puschkins über die Dekabristen: „Brüder, Freunde, Kameraden" charakterisieren genau die Hierarchie der Intimität in den Beziehungen, die innerhalb des dekabristischen Lagers herrschte. Und hatte der Kreis der „Brüder" die Tendenz, sich bis zur Konspiration zu verengen, so standen auf dem Gegenpol die „Kameraden", ein Begriff, der sich auch auf „Jugend", auf „aufgeklärte Menschen" ausdehnen läßt. Aber dieser schon weitgehende Begriff dehnte sich für die Dekabristen auf ein noch umfassenderes kulturelles „wir" aus und nicht auf ein „sie". „Von uns nicht jungen Leuten" spricht Tschazki. Und Sawalischin schrieb: „Die Positionen der Ranghöchsten (in der Flotte. - J. L.) wurden damals von nichtigen (besonders von Engländern) oder von unehrlichen Menschen eingenommen, was sich besonders kraß bei einem Vergleich mit der Talentiertheit, der Ausbildung und unbedingten Ehrlichkeit unserer Generation zeigt" 154 (Hervorgehoben von mir. - J. L.). Also forderten die Dekabristen von der Jugend ein heroisches Verhalten. Aber selbst dieses heroische Ideal konnte doppelsinnig sein, es nahm im allgemeinen die Gestalt der Rylejewschen revolutionären Askese an, aber auch die des Puschkinschen „Lebens, das über die Stränge schlägt". Ein interessantes Beispiel für den letzten Fall liefert die Geschichte der Freimaurerloge „Ovid", deren Mitglied Puschkin war. Wir wissen sehr wenig über die Loge „Ovid". Bald nach ihrer Gründung wurde die Freimaurerei in Rußland verboten und alle Logen wurden aufgelöst. Als reale Erinnerung an die Loge können nur die Puschkinschen Manuskriptmappen gelten. Wie bekannt, blieben von der Loge „Ovid", nach der Liquidierung der Freimaurerei, nur dicke Mappen unbeschriebenen Papiers übrig, und Puschkin benutzte sie lange Zeit hindurch für seine künstlerischen Entwürfe. So entstanden die berühmten Puschkinschen „Freimaurerhefte", die all denen, die mit den Puschkinschen Manuskripten gearbeitet haben, wohlbekannt sind. Dennoch lassen sich interessante Zeugnisse über diesen Freimaurerorden finden. Die wichtigsten davon stammen von Puschkin selbst. Nach dem Aufstand der Dekabristen warnte Puschkin, der davon ausging, daß die Verfolgungen auch ihn erfassen würden, insbesondere Shukowski davor, für ihn zu bürgen, wobei er vermutlich annahm, daß sich in diesem Fall die
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Repressalien auch auf Shukowski ausdehnen würden. In einem Brief zählte Puschkin die Beschuldigungen auf, die gegen ihn erhoben werden könnten. Als erste davon nannte er seine Mitgliedschaft in der Loge „Ovid", annehmend, daß gerade diese Loge das Verbot der Freimaurerei in Rußland ausgelöst hatte. Doch darin irrte sich Puschkin wahrscheinlich; nach der Schließung der Loge hatte sich das Verbot nur auf Bessarabien bezogen; die allgemeinen Repressalien gegen die Freimaurer waren erst ein Jahr darauf erfolgt - 1822. Aber auch in diesem Fall ist die Meinung Puschkins überaus charakteristisch. Versuchen wir die Zeugnisse, über die wir verfügen, zusammenzufassen. Vor allem erscheint die Namensgebung der Loge merkwürdig. Gewöhnlich wurden die Freimaurerlogen mit Namen, Gegenständen oder allgemeinen Begriffen benannt, die einen mystisch-symbolischen Charakter hatten und den christlich-religiösen Vorstellungen nicht widersprachen. Der Name Ovids erfüllt keine dieser Forderungen. Es ist bemerkenswert, daß wir uns keiner einzigen Benennung einer russischen Freimaurerverbindung mit einem derartig merkwürdigen Namen erinnern können. Dafür taucht jedoch der Name Ovid in der geschäftigen' politischen Poesie der russischen Romantik dieser Jahre relativ oft auf, und in allererster Linie wieder bei Puschkin. In der Puschkinschen Lyrik ist Ovid ein Opfer der Tyrannei. In den „Zigeunern" wird Ovid als ein sensibles Opfer des Despotismus dargestellt. Die Gestalt Ovids beschäftigte Puschkin auch in Kishinew. Aber es ist bezeichnend, daß die Gestalt des verbannten römischen Dichters bei Puschkin stets von einem Schatten des Vorwurfs begleitet wird: Ovid wird mangelnder Bürgermut vorgeworfen. Puschkins lyrisches Ich wird Ovid gegenübergestellt: „Ein rauher Slawe, vergoß ich keine Tränen". Die Bennenung der Loge mit dem Namen Ovids kann als ein Appell gedeutet werden, in Augustus keine Hoffnung zu setzen. Wie bereits gesagt, bleiben in der Frage nach den Aktivitäten der Loge viele Unklarheiten. Alles, was sie betraf, war nachdrücklich verheimlicht worden. Weder M. Orlow noch W. Rajewski haben sie erwähnt. Die Frage nach der Beteiligung des Generals P. S. Pustschin an der Dekabristenbewegung ist überhaupt nicht untersucht worden. Die Forscher glaubten unbesehen den Aussagen Orlows, der Pustschin als einen zufälligen und keineswegs aktiven Teilnehmer an der Dekabristenbewegung dargestellt hatte, obwohl völlig unverständlich bleibt, wie ihn in diesem Falle Puschkin, wenn auch in Form einer scherzhaften Botschaft, seinen „künftigen Quiroga" nennen konnte, einen der Anführer der spanischen Revolution. Nicht zu erklären ist auch noch etwas anderes: Warum maß Puschkin seiner eigenen Beteiligung an der Loge eine derartige Bedeutung zu? In den umfangreichen Nachforschungen bezüglich der Kishinewer Beziehungen Puschkins zu den Dekabristen fehlt jeder Hinweis auf den Sinn seiner Worte über die Loge „Ovid". Auch seine Botschaft an Pustschin wurde nicht kommentiert.
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In der Tat spielte die Loge auch im Untersuchungsverfahren keine Rolle. Aber dafür, daß während des Verfahrens nicht über die Loge gesprochen wurde, läßt sich zumindest einer der beiden folgenden Gründe anführen: Entweder verheimlichten Rajewski und Orlow, was ihnen bekannt war, um zu verhindern, daß sich die Aufmerksamkeit der Untersuchungsrichter auch auf diesen Bereich ausdehnte, oder sie maßen dem politischen Gewicht der Loge „Ovid" selbst keine besondere Bedeutung bei. Aber keine dieser Möglichkeiten enthebt uns der Notwendigkeit, nach dem Wesen der Loge zu fragen. Die Begrenztheit der Materialien zwingt zu äußerster Vorsicht. Es hat jedoch den Anschein, als wäre das, was man in der Wissenschaft den „Kreis der Kishinewer Dekabristen" und sogar die „Kishinewer Loge der Dekabristen" nennt, nur eine freundschaftliche Gruppe von Verschwörern gewesen, die verschiedenen Richtungen des Dekabrismus angehört und kaum eine einheitliche illegale Organisation gebildet hatten. Es bietet sich durchaus an, das Vorhandensein verschiedener Beziehungen der einzelnen Kishinewer Dekabristen mit den politischen Zentren der Bewegung anzunehmen. Zum Beispiel ist das Interesse, das Puschkin später an M. A. Dmitrijew-Mamonow zeigte, zu beachten. Diese Frage fand nur die Aufmerksamkeit Anna Andrejewna Achmatowas, die eine Reihe von sehr interessanten Vermutungen geäußert hat. Wir haben nicht die Möglichkeit, die Frage nach dem Wesen der Loge „Ovid" zu beantworten: ob man die Antwort in den Kreisen des „Wohlfahrtsbundes" suchen muß, in den Vorhaben M. Orlows oder in dem Versuch Dmitrijew-Mamonows, in Kishinew ein unabhängiges Zentrum zu organisieren. Diese Frage wird vielleicht nie beantwortet werden können, aber das wäre noch lange kein Grund, sie unbeachtet zu lassen. Bereits die Tatsache, daß die Loge „Ovid" die einzige Verbindung war, der man eine Beziehung zu jener geheimen Gesellschaft nachsagen konnte, zu der Puschkin zugelassen wurde, sollte ausreichen, ihr die Aufmerksamkeit des Historikers zu widmen. Gleichzeitig wäre zu bedenken, daß die Teilnahme an der Loge bereits in den 20er Jahren des 19. Jahrhunderts die Aufmerksamkeit auf die politische Aktivität Puschkins lenkte. Das spiegelte sich in dem ungehaltenen Ton der schriftlichen Anfrage des Fürsten P. I. Wolkonski an den General I. N. Insow wider: „Warum haben Sie seinen (Puschkins) Aktivitäten in den Freimaurerlogen keine Aufmerksamkeit geschenkt?" Der Fürst Wolkonski war ein Hofmensch, der zu keinerlei eigenen Handlungen fähig war, und den K. Rylejew und A. Bestushew mit den Worten charakterisierten: Ein Weib muß Fürst Wolkonski sein, Und Stabschef ist er obendrein... 155
Er hat diese Frage natürlich nicht aus eigenem Antrieb gestellt. Zweifellos hat er nur die Worte des Zaren wiederholt, und möglicherweise hat er die ungehaltene Frage Alexanders I., warum Insow Puschkins Verbindung zu
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den Freimaurern außer acht gelassen habe, nur variiert. Man hört in dieser Phrase geradezu die Intonation der gereizten Stimme des Zaren, der nur zu gut über Insows Sympathien für die Freimaurer und über dessen väterlichnachsichtige Haltung Puschkin gegenüber Bescheid wußte. W. I. Semewski hatte zweifellos recht, als er schrieb: „Allein schon der Name W. F. Rajewskis selbst genügt, um sicher zu sein, daß in der Loge „Ovid" nicht nur über Wohltätigkeit gesprochen wurde". 156 Aber das interessanteste Material über die Loge „Ovid" liefert uns die unmittelbar mit ihr zusammenhängende Puschkinsche Poesie. Bezeichnend ist Puschkins Sendschreiben aus Kishinew an W. Dawydow in Kamenka. Das Gedicht stellt einen konspirativen Text dar, aber auch das Prinzip der Konspiration selbst ist spezifisch. Puschkin beschreibt reale Ereignisse aus dem Leben der Kishinewer Gesellschaft, aber für einen in diese Ereignisse Eingeweihten. Er verwendet bestimmte Zeichen, die der Entschlüsselung bedürfen. So nehmen am Anfang des Gedichts zwei Umstände, die die Menschen im Süden beschäftigten, einen vorrangigen Platz ein: die Heirat M. Orlows und seine politischen Pläne. Der General Orlow hatte in der geheimen Bewegung einen ganz besonderen Platz inne. Als erfahrener und entschlossener Militär verfügte er als einziger unter den Verschwörern über eine reale militärische Macht, über eine Division, deren Soldaten mit Begeisterung zu ihrem General standen. Orlow bereitete die Division auf den Aufstand vor; dieser mutige Charakter ging dabei sehr weit und zog so die Aufmerksamkeit seiner Vorgesetzten auf sich. Angesichts der Gefahr einer bevorstehenden Verhaftung machte Orlow in dem Bestreben, den Aufstand zu beginnen, bevor man ihm die Division wegnahm, den Vorschlag, sofort und entschlossen zu handeln. Aber die führenden Köpfe der südlichen Dekabristengesellschaft unterstützten seinen Plan nicht. Weder sie noch die Dekabristen im Norden waren zum Aufstand bereit. Die Dekabristen sahen in den Plänen Orlows einen Zug seines Abenteurertums, seines ,napoleonischen' Gebarens. Gleichzeitig aber, zur Entstehungszeit des Puschkinschen Gedichts, war Orlow, noch immer Kommandeur der Division, eine zu große Kraft, als daß man sich ihm entgegenstellen konnte. In dieser Atmosphäre der Ungewißheit, der Zweifel und der Hoffnungen entstand nun das Sendschreiben an Dawydow. Die poetische Erzählung ist als eine Reihe von Andeutungen ,für Eingeweihte' aufgebaut. Dabei wird die Situation eines engen, vertraulichen Gesprächs unter Freunden geschaffen, und zwar dadurch, daß die politischen Anspielungen in dem Gedicht sich mit nicht ganz stubenreinen Gedanken über die Heirat Orlows vermengen, die im Freundeskreis vermutlich heftig diskutiert wurde. Stilistisch entspricht das einem Spiel mit Doppeldeutigkeiten: einerseits ungeeignet für eine Publikation und andererseits gespickt mit konspirativen Andeutungen. Die beiden wichtigen Ereignisse im Leben Orlows werden in einem einheitlichen, vieldeutigen Bild zusammengefaßt, jemand wird als Rekrut zur Armee einberufen:
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General O r l o w ist mit der Zeit Hymens kahlrasierter Rekrut Entflammt von heiliger Leidenschaft Glut, Zu radikalem Schnitt bereit... (Puschkin, II, 178)
Die scherzhafte Form des Gedichts konnte dem zeitgenössischen Leser, der den versteckten politischen Sinn begriffen hatte, als ein Tribut an die Konspiration erscheinen. Puschkin war gezwungen, den aktuell-politischen Inhalt hinter der Maske ironischer Intonation zu verstecken, und die Aufgabe des Historikers könnte nun darin bestehen, den scherzhaften Ton aufzulösen' und den seriösen politischen Inhalt freizulegen. Doch das ist nicht ganz so. Der Alltagston der Dekabristen schloß eine Vielzahl stilistischer Möglichkeiten ein. Der beispielsweise für N. Turgenjew oder Rylejew bezeichnende Ton ist der aus der Kunst übernommene Stil des hohen bürgerlichen Pathos. Sinn für Komik, für Scherz war diesem Stil fremd. Als Rylejew agitatorische Satiren zu schreiben begann, gerieten ihm diese nicht gerade erheiternd. Aber die Komik war kein Monopol der liberalen Mitglieder des „Arsamas" oder des zu Scherzen neigenden Shukowski; der ätzende Spott Tschazkis beinhaltet für uns einen weiteren wichtigen Tonfall der Dekabristen. Der Stil des Puschkinschen Sendschreibens, die Kombination des ,hohen' Inhalts mit dem Alltäglichen, des Pathetischen mit der Ironie, ist für die Dekabristenpoesie von W. F. Rajewski bis Rylejew absolut unmöglich, steht aber der „Grünen Lampe" außerordentlich nahe. Als Muster dieses Stils kann das Sendschreiben an Pustschin gelten, der ebenfalls mit der Loge „Ovid" verbunden war: Durch Rauch und Blut und Pfeileregen Führt dich dein Weg jetzt; ahnungsschwer Gehst deinem Schicksal du entgegen, Bist künftiger Quiroga uns und mehr. U n d bald verstummt der Streit im Land Unter des Sklavenvolkes Heer, Dann nimmst den Hammer du zur Hand, Kündest der Freiheit Wiederkehr! Wohl dem, der dich zum Bruder hat! O Maurer, hochgeehrt! O Kishinew, o düstre Stadt! Juble, von ihm erhellt.
Das Sendschreiben deckt eine gänzlich ungewöhnliche Form von Tätigkeiten der Loge „Ovid" auf. Die erste Strophe paßt sich wunderbar in die Stilistik der Dekabristenpoesie ein. Und die Erwähnung der erzwungenen Revolution, die Bilder des Blutes und der Pfeile, und der Name eines der
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Anführer der spanischen Revolution verbinden den Text mit den akuten politischen Problemen. Es wird eine doppelte ,geheime' Bildhaftigkeit geschaffen: Das provinzielle Kishinew (vergleichen wir Kronstadt, wohin Rylejew sich im Falle eines Mißerfolgs in Petersburg zurückzuziehen gedachte) wird durch das Bild des im äußersten Süden der Pyrenäenhalbinsel gelegenen spanischen Armeezentrums begriffen. Die Revolution, die sich an der peripheren Grenze entwickelt hat, zieht siegreich ihre ,Kreise' - bis zur Hauptstadt. Für die Dekabristen war unabänderlich Moskau die Hauptstadt, und mit dem Sieg meinten sie dessen Eroberung. Das Vordringen von Kishinew nach Kronstadt oder nach Moskau war die russische Variante des Marsches Riegos und Quirogas nach Madrid, und im Endergebnis die Verwirklichung des mißlungenen Unternehmens Brutus', Rom in die Hand zu bekommen. Die Bildhaftigkeit in der ersten Strophe des Gedichts und ihre Stilistik tragen revolutionär-pathetischen Charakter. In die zweite Strophe dringt, so will es scheinen, eine völlig unpassende freimaurerische Bildhaftigkeit ein („Hammer"), die in der abschließenden dritten Strophe weiterentwickelt wird („Bruder", „Maurer"). Die Freiheit für „des Sklavenvolkes Heer" wird mit Hilfe einer Geste des Freimaurerrituals und einer mit dem Freimaurertum völlig unvereinbaren politischen Lösung errungen („Kündest der Freiheit Wiederkehr"). Erinnern wir uns daran, daß politische Interessen den Freimaurern als Tätigkeiten, die das Ziel des Ordens entstellen würden, kategorisch verboten waren. Der von Zweifeln geplagte N. I. Nowikow wandte sich zu seiner Zeit mit der Frage an einen bekannten Theoretiker des Freimaurertums: Wie kann man die wahren Freimaurer von den falschen unterscheiden? Die Antwort lautete: Wenn sich in der Tätigkeit einer Loge auch nur eine Spur von Politik findet, dann ist das eine vorgebliche Freimaurerei. Die Gegenüberstellung von Moral und Politik charakterisierte das Freimaurertum auch in der Dekabristenepoche. Eine Folge dessen war es, daß in dem Maße, in dem die politische Reife der Dekabristenbewegung zunahm, sich die Kluft zwischen ihr und dem Freimaurertum verbreiterte. Sogar die Versuche, die Struktur der Freimaurerbewegung für die konspirative Taktik auszunutzen, erwiesen sich als erfolglos. Das Freimaurergewand zerriß, war für die Schultern einer politischen Gesellschaft zu eng. U m so merkwürdiger muß uns erscheinen, was wir über die letzte legale Loge der Alexandrinischen Epoche erfahren. Die paradoxe Verbindung des Freimaurer-" Hammers" und des politischen Aufrufs zur Freiheit, dessen Komik für die an die freimaurerischen Texte gewöhnten Dekabristen offensichtlich war, endete mit der Strophe, die sichtlich den Versuch ironisierte, dekabristischen Inhalt in ein Freimaurergewand zu kleiden. Die vom Lesepublikum deutlich empfundene Freimaurerterminologie, das Bild der „düsteren Stadt", die von der Welt der „Maurer-Brüder" „erhellt" wird, kontrastiert komisch mit dem Bildersystem der ersten Strophe. Die Freimaurerlexik wird hier mit einer deutlich ironischen wiedergegeben. Und der für die Kishinewer Sendschreiben
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Puschkins typische krasse Stilkontrast der revolutionär-bürgerlichen Pathetik u n d der mit ihr spielenden Ironie gibt die A u f f a s s u n g Puschkins von der L o g e „ O v i d " , von ihrem Wesen und ihrer Gestalt wieder. N o c h interessanter ist das G e d i c h t „Bacchisches L i e d " , das bis heute noch nicht klar interpretiert wurde. D a s intuitive Lesergefühl läßt die Bedeutung dieses G e d i c h t s ahnen, das zweifellos eines der besten in Puschkins poetischem N a c h l a ß ist. Sein Sinn indessen bleibt recht unklar. A u s der d e m Gedicht gewidmeten Literatur muß hier der A u f s a t z M u r j a n o w s E r w ä h n u n g finden. 1 5 7 D e r A u t o r deutet das „Bacchische L i e d " als einen ritualen Freimaurertext, der vor d e m Beginn des O r d e n s m a h l s gesprochen wird. U n d tatsächlich entstehen bei der L e k t ü r e des G e d i c h t s im Leser Bilder, die in Beziehung zur Freimaurerei stehen und an sie erinnern. In diesem Sinne ist es gerechtfertigt, das „ L i e d " mit dem Eintritt Puschkins in die L o g e „ O v i d " zu verknüpfen. A b e r die allgemeine D e u t u n g des „Bacchischen L i e d e s " als rituelle Freimaurerpoesie ist gänzlich unakzeptabel. Bereits die ersten Zeilen des G e d i c h t s lassen uns eine Bildersprache erkennen, die entschieden die Möglichkeit einer freimaurerischen D e u t u n g ausschließen: die E r w ä h n u n g der antiken Bacchanalien u n d der Pokale, die auf das Wohl der Geliebten erhoben werden. Bei einem rituellen Freimaurermahl einen solchen T r i n k s p r u c h auszubringen: Ein Hoch den zärtlichen Mädchen und jungen Frauen, die uns liebten! wie auch die Bezeichnung einer rituellen H y m n e als „Bacchischer R e f r a i n " ist in gleicher Weise unmöglich. Z w a r konnte man in der F r e i m a u r e r p o e sie Bilder und Sujets einer Q u a s i - L i e b e antreffen, aber sie hatten mystischallegorischen C h a r a k t e r . In der Puschkinschen H y m n e j e d o c h fehlt die Poetik der mystischen Allegorie völlig. D a s Bild der Bacchanalien f ü h r t hier zur antiken S y m b o l i k und ist gänzlich unvereinbar mit d e m auf den Biblizismus ausgerichteten Freimaurerritual. Gleichzeitig wird die „ B a c c h a n a l i e " hier nicht im oberflächlichen pseui/oantiken Sinne verstanden, s o n d e r n in ihrer wahren, erhabenen B e d e u tung, als ein F e s t m a h l , bei d e m sich die Fröhlichkeit bis zur E b e n e des K u l t s steigert. D a s ist nicht die d ä m o n e n h a f t e Fröhlichkeit des R o m a n t i kers, sondern die lichte, alles durchdringende, den M e n s c h e n mit d e m K o s m o s vereinigende Fröhlichkeit der K u l t u r der Griechen. D i e K o m p o sition des Gedichts ist ein als aufklärerischer K u l t zu verstehendes k o n s e quentes E m p o r s t e i g e n von der Poetisierung des menschlichen G l ü c k s z u m allgemeinen Wohl der Menschheit. D i e erste Strophe spricht v o n d e m G l ü c k , das d e m Menschen durch die Liebe zu den „ M ä d c h e n " und „ F r a u e n " gegeben wird. D i e s e Poetisierung der L i e b e als eines allgemeinen Gesetzes unterscheidet sich krass v o n d e m heroischen A s k e t e n t u m Rylejews ( „ N i c h t L i e b e k o m m t mir in den Sinn, / A c h , meine H e i m a t leidet"). E s folgt das Bild der erhobenen Pokale mit
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den „vertrauten (das heißt mystischen) Ringen" darin. Dieser Trinkspruch geschieht nicht hörbar. Seine Bedeutung ist doppelsinnig: So trinkt man auf das Wohl der heimlich Geliebten, aber genauso trinkt man auch auf das Wohl derjenigen, deren Namen zu nennen die Konspiration verbietet. In dem Sendschreiben an Dawydow erinnert Puschkin an die Trinksprüche, mit denen man: Auf das Wohl dieser und jener Das Glas bis zur Neige leerte!... Doch jene treiben es in Neapel, Und diese werden kaum wiedererstehn... Hier ist die Rede von einem versteckten Trinkspruch den Carbonari und der Freiheit zu Ehren. Darin sind heimliche Liebe und geheime Politik vereint. Das ist charakteristisch für Puschkin: Liebe und heimliche Freiheit gaben dem Herzen die schlichte Hymne ein, wo das persönliche Gefühl der Liebe untrennbar mit den patriotischen Gefühlen des Volkes zusammenfließt: Und meine unbestechliche Stimme War des russischen Volkes Widerhall. In den folgenden Zeilen wird die Erweiterung des Bildes fortgeführt: Die Liebe wird zum kosmischen Gefühl. Sie fließt mit der Wahrheit und der Sonne zusammen, und ihr gegenüber stehen die Lüge und die Finsternis. Die erlöschende Kerze und das Licht der aufgehenden Sonne sind die Bilder der falschen Wahrheit, der Geburt der Welt der Sklaven, und der unsterblichen Sonne der Vernunft. Somit ist Puschkins „Freimaurerei" in der Hymne, die er für die Loge „Ovid" schrieb, ein Bündnis der Weisen und Freiheitsliebenden, die die Harmonie der Freiheit und des persönlichen Glücks mit der Weltordnung behaupten. Selbstverständlich verlor solch ein Ideal derAufklärung seine Bindung an die Freimaurerei, aber es ist organisch mit der in den Aufklärerkreisen verbreiteten Vorstellung von der weltumspannenden Bruderschaft der aufgeklärten Weisen als einem gewissen „neuen Rittertum" verbunden. Ein Beispiel dafür findet sich in der direkten Gleichstellung von freiheitsliebender Aufklärung und Rittertum in H. Heines „Bergidyll". Die Deutung der Dekabristenbewegung als eine Ritterschaft der Freiheit ist kennzeichnend für Dmitrijew-Mamonow, einen der Begründer der Dekabristenorganisation „Orden der russischen Ritter", deren Aufsätze durch M. Orlow nach Kishinew gelangten. Daß diese sich in den Papieren W. Rajewskis befanden, ist dokumentarisch bestätigt. Man darf annehmen, daß die Idee, die Freimaurerloge für die illegalen Ziele des Dekabrismus zu benutzen, auf den Einfluß zurückgeht, den Dmitrijew-Mamonow auf den Kishinewer Kreis hatte. Allerdings
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bleibt die Frage nach dem Einfluß der „Ritter"-Ideen auf den Kishinewer Kreis unklar und wird wahrscheinlich nie geklärt werden. Das Untersuchungsverfahren in der Angelegenheit der Dekabristen ließ diese Frage außer acht, und die Verhaftung und die darauffolgende geistige Umnachtung Mamonows zogen einen endgültigen Strich darunter. Aber wie oben bereits erwähnt, zeigte Puschkin gegen Ende der 20er Jahre, als dessen Name schon völlig in Vergessenheit geraten war, ein bis heute nicht geklärtes Interesse an Dmitrijew-Mamonow. Das Bild Mamonows beschäftigte die Phantasie des Dichters offensichtlich, und überraschenderweise findet sich dessen Gestalt in verschiedenen Puschkinschen Werken wieder. So hielt Puschkin es für notwendig, Mamonows patriotisches Verhalten im Jahre 1812 in der unvollendeten Erzählung „Roslawlew" zu erwähnen. Wie Anna Achmatowa nachwies, erstand der Schatten Mamonows in der Phantasie Puschkins wieder, als dieser einen Roman über einen verliebten Dämon erfand. 158 Das zeugt davon, daß der Name Mamonows für den Dichter immer mit einer Aureole des Geheimnisvollen umgeben blieb sowie auch der mystische „Orden der russischen Ritter" und das praktisch nicht realisierte Vorhaben der Verwendung der Loge „Ovid". Es existiert die Vermutung, daß das Gedicht Puschkins „Nimm mir nicht den Verstand, o Gott..."(1823) nicht nur unter dem Eindruck des Besuchs bei dem wahnsinnig gewordenen Batjuschkow entstanden ist, sondern auch aus der Erinnerung an Dmitrijew-Mamonow heraus. Die angebotene Interpretation des „Bacchischen Liedes" bietet auch die Möglichkeit, die Vorstellung Puschkins von dessen Verwendung zu rekonstruieren. Der mystische Text war selbstverständlich nicht für die Veröffentlichung gedacht. Es fällt auch schwer sich vorzustellen, daß der Text für die Freimaurermappen bestimmt war. Das Gedicht ist in erster Linie deutlich auf ein mündliches Vortragen hin geschrieben („Lied"). Man darf annehmen, daß es mit einem besonderen Ritual verknüpft war: Man sollte es wahrscheinlich, wie bei den festlichen Freimaurerritualen üblich, im Augenblick des Endes der Nacht und des beginnenden Sonnenaufgangs vortragen. Ausdrücke wie „ dieses Lämpchen" sind untrennbar mit Gesten verbunden. Dieses Ritual der Einweihung der Krieger der Vernunft und der Freiheit ist auch in solch einem Sinne ein einzigartiges Dokument des emotionalen Ideenlebens des Dekabrismus und des dekabristischen Verhaltens. Das Propagandistische der dekabristischen Poesie stand mit dem Verhalten in einem unmittelbaren Zusammenhang, mit dem Verhalten derjenigen, die die Gedichte lasen, und derjenigen, die sie hörten. Diese Poesie lebte, selbst schriftlich als Manuskript oder als gedrucktes Werk verbreitet, nicht in graphischen Formen. „Ich entflamme meinen Geist mit dem unerbittlichen Juvenal", schrieb Puschkin. Die Poesie „entflammt den Geist" und lebt im Handeln. Und wenn wir uns das Erleben der Menschen vorstellen, die ihre politischen Gespräche und Auseinandersetzungen mit dem Son-
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nenaufgang zu Ende brachten, werden wir in jene Welt des erhabenen Enthusiasmus gelangen, die für das Begreifen des Dekabrismus so wichtig ist. Die ganze Bibliothek des Dekabrismus wird für uns ein Geheimnis ohne Schlüssel bleiben, wenn wir glauben, der Geist der Geheimgesellschaft wäre die Summe der von ihr produzierten Programme und Dokumente. Die aus der Atmosphäre des Enthusiasmus, den Gesten und dem Verhalten herausgerissene dekabristische Literatur verwandelt sich in die dem Wasser entrissene Lermontowsche Meereskönigin. Und die ganze Bewegung verliert Farbe und Leben, wird zu einer Aneinanderreihung von Papieren und Formulierungen. Darunter leiden die Arbeiten von M.W. Netschkina, die für das Studium des Dekabrismus eine bedeutende Rolle gespielt haben. Um den Dekabrismus zu verstehen, muß man die Formel wieder in das Verhalten verwandeln, die Geste erkennen, der Intonation lauschen. Die Worte blieben erhalten, die Atmosphäre ist untergegangen. Aber der Sinn der Worte wird uns nur dann endgültig klar, wenn wir die Atmosphäre wieder beleben. Wie bereits gesagt, meinten Revolutionäre der späteren Etappen oft, die Dekabristen hätten oft mehr geredet als gehandelt. Aber der Begriff der Handlung ist historisch wandelbar. Von ihrem Standpunkt aus waren die Dekabristen gerade Praktiker. Ihre Sitzungen waren ihr „Dienen". Das Fest ist immer mit Freiheit verknüpft. Die Festgelage der Garde waren dem Dienst immer entgegengesetzt. In den Tiefen der dekabristischen geheimen Gesellschaft begann, ohne sich vollenden zu können, die Vorbereitung eines eigenen Festes, das der offiziellen Welt die „heimliche Freiheit" entgegenstellte und dem alles Erlaubenden der liberalen „Freizügigkeit" das erhabene heroische Ritual. Das Puschkinsche Festverständnis ist in seiner erhabenen und heroischen Stilistik dem Rylejewschen verwandt, unterscheidet sich jedoch von diesem durch eine ausgeprägte Apologie der Fröhlichkeit. Festlichkeiten solcher Art fanden wahrscheinlich eine weitaus geringere Realisierung. Zumindest sind darüber keine Zeugnisse auf uns gekommen. Aber das mindert ihre Bedeutung nicht herab. Das Verhalten des adligen Revolutionärs hatte noch eine wichtige Besonderheit: Es ging, trotz des Gedankens der Konspiration, leicht in andere Typen adligen Verhaltens über. Man muß berücksichtigen, daß nicht nur die Welt der Politik in das Gewebe der menschlichen Beziehungen der adligen Revolutionäre eindrang. Für die Dekabristen war auch eine entgegengesetzte Tendenz bezeichnend. Die alltäglichen, die familiären, die menschlichen Beziehungen durchdrangen die Schichten der politischen Organisationen. Werden für die nachfolgenden Etappen die Auflösungen von Freundschaften, Liebe, langjähriger Treue zu ideologischen oder politischen Überzeugungen typisch sein, so ist es für die Dekabristen charakteristisch, daß sich die politische Organisation selbst die Formen unmittelbarer menschlicher Nähe, der Freundschaft, enger Beziehung zum Menschen und nicht nur zu seinen Überzeugungen erhält. Alle Teilnehmer
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am politischen Leben waren auch in feste außerpolitische Bindungen einbezogen. Sie waren Verwandte, Regimentskameraden, Mitstudenten, hatten an ein und denselben Schlachten teilgenommen oder waren einfach Bekannte aus dem Gesellschaftsleben. Diese Beziehungen umfaßten den ganzen Kreis vom Zaren und den Großfürsten, mit denen man sich auf Bällen oder Spaziergängen treffen oder unterhalten konnte, bis hin zu dem jungen Verschwörer. Und das drückte dem ganzen Bild der Epoche seinen Stempel auf. In keiner der politischen Bewegungen Rußlands werden wir eine derartige Vielzahl von verwandtschaftlichen Beziehungen finden. Nicht zu reden von ihren vielfältigen Verflechtungen im Nest der Murawjews und der Lunins oder um das Haus Rajewski. M. O r l o w und S. Wolkonski waren mit den Töchtern des Generals N . N . Rajewski verheiratet, W. L. Dawydow, der zur I. Kategorie, zu lebenslanger Zwangsarbeit, verurteilt wurde, ein Cousin des Dichters, war ein leiblicher Bruder des Generals, schließlich bleibt auf die vier Brüder Bestushew, die Brüder Wadkowski, die Brüder Bobristschew-Puschkin, die Brüder Bodisko, die Brüder Borisow und die Brüder Küchelbecker hinzuweisen. N i m m t man noch die Verschwägerungen dazu, die Verwandtschaften zweiten und dritten Grades sowie die Gutsnachbarschaften, die gemeinsame Erinnerungen zur Folge hatten und mitunter nicht weniger eng waren als die verwandtschaftlichen Beziehungen, so erhält man ein Bild, das sich in der nachfolgenden Geschichte der Befreiungsbewegung in Rußland nicht noch einmal finden läßt. Nicht weniger bemerkenswert ist es, daß die verwandtschaftlich-kameradschaftlichen Beziehungen, die sich in Klubs, auf Bällen, im Regiment oder auf den Feldzügen herausgebildet hatten, die Dekabristen nicht nur mit Freunden, sondern auch mit Gegnern verbanden, wobei diese Gegnerschaft weder die einen noch die anderen Beziehungen aufhob. Das Schicksal der Brüder Michail und Alexej O r l o w war in dieser H i n sicht bezeichnend und durchaus nicht einzig. Während der erste einer der führenden Köpfe der Dekabristenbewegung war, nahm der zweite aktiv an deren Unterdrückung teil und wurde später zu einem engen Freund N i k o lais I. Man könnte zum Beispiel auch an M. N . Murawjew erinnern, dessen Weg vom Teilnehmer am „Rettungsbund" und von einem der Autoren des Statuts des „Wohlfahrtsbundes" zum blutigen Unterdrücker des polnischen Aufstandes führte. Aber die Unbestimmtheit, die Freundschaft und gesellschaftliche Verbindungen in die persönlichen Beziehungen der politischen Gegner trugen, äußerte sich noch krasser in den durchschnittlichen Beispielen. Am Tage des 14. Dezember 1825 stand auf dem Platz der Flügeladjutant N . D. D u r n o w o an der Seite Nikolai Pawlowitschs. Spät in der Nacht war es ebendieser Durnowo, der ausgesandt wurde, Rylejew zu verhaften, und er erfüllte diesen Auftrag. In dieser Zeit genoß er schon das volle Vertrauen des neuen Zaren, der ihn am Vorabend mit der gefährli-
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chen Mission beauftragt hatte, mit dem rebellierenden Karree zu verhandeln (was auch geschah). Nach einiger Zeit war es ebenfalls N . D . Durnowo, der M. O r l o w in die Festung eskortierte. D i e Frage scheint absolut klar zu sein: W i r haben einen reaktionär veranlagten Lakaien vor uns, vom Standpunkt der Dekabristen aus gesehen ein Feind. Aber machen wir uns mit der Gestalt dieses Menschen etwas näher bekannt. N . D . D u r n o w o wurde 1792 geboren. 1810 trat er in das Korps der K o lonnenführer ein. 1811 wurde er zum Oberleutnant der Suite befördert, gehörte zum Stab des Fürsten Wolkonski. Hier trat D u r n o w o einer G e heimgesellschaft bei, von der wir bis heute nur aus der Erzählung in den Memoiren N . N . Murawjews Kenntnis hatten: „Mitglieder der Gesellschaft waren auch (außer dem Kolonnenführer Ramburg. - J . L.) die Offiziere Durnowo, Alexander Stscherbinin, Wildemann, Wellingshausen; obwohl ich von der Existenz dieser Gesellschaft gehört hatte, kannte ich nicht genau deren Ziel, denn die sich bei D u r n o w o versammelten Mitglieder hielten sich vor den anderen meiner Kameraden bedeckt". 1 5 9 Bis heute war dieses Zeugnis das einzige. Das Tagebuch Durnowos fügt dem Neues hinzu. A m 25. Januar 1812 trug er in sein Tagebuch ein: „Seit der Gründung unserer Gesellschaft, die den Namen „Ritterschaft" (Chevalerie) erhielt, ist ein Jahr vergangen. Nach dem Mittagessen bei Demidow begab ich mich um 9 U h r zu unserer Sitzung, die bei Otschelnik (Solitaire) stattfand. D i e Sitzung dauerte bis 3 U h r in der Nacht. Den Vorsitz bei dieser Zusammenkunft hatten die vier Gründungsritter". 1 6 0 Aus dieser Eintragung erfahren wir zum ersten Mal das exakte Gründungsdatum der Gesellschaft, ihren Namen, der uns interessanterweise an die „Russischen Ritter" Mamonows und Orlows erinnert, und einige Seiten ihres internen Rituals. D i e Gesellschaft hatte, wie das aus der Eintragung vom 25. Januar 1813 hervorgeht, ein schriftlich niedergelegtes Statut: „Heute ist es zwei Jahre her, daß unsere R(itterschaft) gegründet wurde. Ich bin einer der Mitbrüder in Petersburg, die übrigen erlauchten Mitglieder (illustres) befinden sich auf den Schlachtfeldern, wohin zurückzukehren auch ich vorhabe. An diesem Abend gab es jedoch keine Zusammenkunft, wie das im Statut vorgesehen ist". 1 6 1 Im Jahre 1812, am Vorabend des Krieges mit Frankreich, reiste D u r n o wo nach Wilna und kam hier besonders eng mit den Brüdern Murawjew zusammen, die ihn einluden, in ihrem Haus Quartier zu nehmen. Besonders nahe kommt er Alexander und Nikolai. Bald schlössen sich ihrem Kreis Michail O r l o w , mit dem Durnowo seit dem gemeinsamen Dienst in
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Laut der Auskunft, die der Publikation der Handschriftenabteilung der B i b l i o t h e k
der U d S S R , „W. I. L e n i n " , beigelegt ist, wird D u r n o w o Flügeladjutant Nikolais I. genannt, aber das ist ein offensichtlicher Fehler (Siehe: „Die Dekabristen". Anmerkungen der H a n d schriftenabteilung der Allunionsbibliothek „W. I. L e n i n " , Ausgabe 3, S. 8.).
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Petersburg unter dem Fürsten Wolkonski bekannt und befreundet war, und auch S. Wolkonski und Koloschin an. Gemeinsam mit Orlow attackierte er den Mystizismus Alexander Murawjews, was zu heftigen Auseinandersetzungen führte. Die Begegnungen, Spaziergänge, Gespräche mit Murawjew und Orlow füllen ganze Seiten des Tagebuchs. Führen wir die Eintragungen vom 21. und 22. Juni an: „Orlow kehrte mit General Balaschow zurück. Sie fuhren zur Konferenz mit Napoleon. Der Herrscher verbrachte mehr als eine Stunde im Gespräch mit Orlow. Man sagt, er wäre mit dem Verhalten des letzteren bei der feindlichen Armee sehr zufrieden. Er hat dem Marschall Davout, der ihn mit seinen Reden zu beleidigen versucht hatte, sehr scharf entgegnet". Am 22. Juni: „Was wir vorausgesehen haben, ist geschehen - mein Kamerad Orlow, Adjutant des Fürsten Wolkonski und Oberleutnant beim Kavaliergarde-Regiment, ist zum Flügeladjutanten ernannt worden. Er hat diese Ehre in jeder Hinsicht verdient" (ebenda, Bl. 56). Nach dem Imperator verließen Durnowo und O r low mit der Suite Wolkonskis die Armee und begaben sich nach Moskau. Die Beziehungen Durnowos zu den dekabristischen Kreisen rissen vermutlich auch später nicht ab. In seinem Tagebuch, in dem zumindest die äußere Seite des Lebens festgehalten ist, aber alle gefährlichen Äußerungen sichtlich vermieden werden - zum Beispiel sind Angaben, außer den zitierten, über die „Ritterschaft" nicht darin zu finden, obwohl die Gesellschaft sicher Sitzungen hatte: Es werden oft Gespräche erwähnt, aber deren Inhalt kommt nicht zur Sprache usw. begegnen wir plötzlich einer Eintragung wie der vom 20. Juni 1817: „Ich spazierte ruhig in meinem Garten auf und ab, als der Feldjäger Sakrewskis erschien, um mich abzuholen. Ich dachte, daß von einer Reise in die fernen Gebiete Rußlands die Rede sein würde, aber dann war ich angenehm überrascht zu erfahren, daß der Zar mir befahl, die Ordnung während der Truppenverschiebung von der Sicherungswache zum Winterpalais zu überwachen" (ebenda, 3540, Bl. 10). Dem Gesagten wäre noch hinzuzufügen, daß Durnowo sich nach dem 14. Dezember wahrscheinlich den allerhöchsten Gnaden entzog, die der Zar all denen, die sich an dem verhängnisvollen Tag an seiner Seite befunden hatten, zuteil werden ließ. Noch im Jahre 1815 war er Flügeladjutant Alexanders I. gewesen und hatte für die Teilnahme an den Feldzügen 1812-1814 eine Reihe russischer, preußischer, österreichischer und schwedischer Orden erhalten. Alexander I. sagte über ihn: „Durnowo ist ein tapferer Offizier". Unter Nikolai I. bekleidete er die schlichte Position eines
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D i e Hauptquelle des Historikers zur Beurteilung N . D. D u r n o w o s ist dessen um-
fangreiches Tagebuch, aus dem Auszüge im „Informationsblatt der Gesellschaft der Liebhaber der Geschichte" veröffentlicht wurden. ( N o t i z e n der Handschriftenabteilung der Allunionsbibliothek „W.I. L e n i n " , Ausg. 3). Moskau 1939. Aber der publizierte Teil ist nur ein sehr kleiner Auszug eines umfangreichen und vielbändigen Tagebuchs in französischer Sprache, das in der Staatlichen Bibliothek aufbewahrt wird.
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Kanzleivorstehers der Verwaltung des Generalstabs. Aber auch hier fühlte er sich wahrscheinlich nicht wohl: 1828 bat er um die Erlaubnis, zur kämpfenden Truppe gehen zu dürfen, er wurde zum Generalmajor befördert und bei der Erstürmung Schumlas getötet. 162 Ist es nach alldem verwunderlich, daß Durnowo und Orlow, die das Schicksal 1825 auf entgegengesetzte Pole geworfen hatte, sich nicht als politische Feinde begegneten, sondern, wenn schon nicht als Kameraden, so doch als gute Bekannte und den ganzen Weg zur Peter-Pauls-Festung in freundschaftlichem Gespräch gingen? Diese Besonderheit beeinflußte auch das Verhalten der Dekabristen während des Untersuchungsverfahrens. Der Revolutionär der nachfolgenden Epochen kannte diejenigen, gegen die er kämpfte, nicht persönlich, sah in ihnen politische Kräfte und nicht die Menschen. Das trug in einem gewissen Maße zu dem kompromißlosen Haß bei. Der Dekabrist konnte nicht umhin, sogar in den Mitgliedern des Untersuchungskomitees die Menschen zu sehen, die ihm von den dienstlichen, den gesellschaftlichen Beziehungen oder von Klubbesuchen her bekannt waren. Sie waren für ihn Bekannte oder Vorgesetzte. Er konnte für ihre Senilität, ihren Karrierismus, ihre Kriecherei Verachtung empfinden, aber er konnte in ihnen keine einer Taciteischen Demaskierung würdigen „Tyrannen" oder Despoten sehen. Mit ihnen in der Sprache des politischen Pathos zu reden war unmöglich, und das desorientierte die Arrestanten. Die Poesie der Dekabristen wurde historisch in einem wesentlichen Maße durch das Schaffen ihrer genialen Zeitgenossen Shukowski, Gribojedow und Puschkin verdeckt. Die politischen Konzeptionen der Dekabristen waren für die Generation Belinskis und Herzens bereits veraltet. Aber ihr Beitrag zur russischen Kultur, die Schaffung eines für Rußland völlig neuen Menschentyps, erwies sich als unvergänglich. Er erinnert durch seine Annäherung an die Norm und an das Ideal an den Beitrag Puschkins zur russischen Poesie. Das ganze Wesen des Dekabristen war von dem Gefühl der eigenen Würde nicht zu trennen. Es basierte auf dem außerordentlich entwickelten Ehrgefühl und auf dem Glauben, daß jeder Teilnehmer der Bewegung ein großer Mensch war. So erstaunt auch die verhältnismäßige Naivität, mit der Sawalischin über jene seiner Studienkameraden schrieb, die, nach Beförderung strebend, die theoretischen Arbeiten völlig aufgaben „und sich fast ohne Ausnahme in einfache Menschen verwandelten". 163 Das zwang dazu, jede Handlung als bedeutungsvoll, des Gedenkens der Nachfahren und der Aufmerksamkeit der Historiker würdig und von erhabenen Gedanken erfüllt anzusehen. Daher rührte einerseits die bekannte Bildhaftigkeit oder Theatralität des Alltagsverhaltens, von der bereits gesprochen wurde - man denke an die Erklärung Rylejews der Mutter gegenüber, die N. Bestushew festgehalten hat.) 164 Aber andererseits folgte daraus auch der Glaube an die Bedeutung einer jeden Handlung und eine
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außerordentlich anspruchsvolle Unerbittlichkeit den Normen des Alltagsverhaltens gegenüber. Das Gefühl der politischen Bedeutung seines ganzen Verhaltens wurde für den Dekabristen in Sibirien, in der Epoche, als der Historismus zu einer der Leitideen der Zeit wurde, durch das Gefühl der historischen Bedeutung ersetzt. „Lunin lebt für die Geschichte", schrieb Suthof an Muchanow. Und Lunin selbst schrieb, sich mit dem Würdenträger Nowosilzew vergleichend (anläßlich der Nachricht vom Tode des letzteren): „Was für eine Gegensätzlichkeit in unseren Schicksalen! Für den einen - das Schafott und die Geschichte, für den anderen - der Sessel des Ratsvorsitzenden und der Adelskalender". Es ist interessant, daß in dieser Notiz das reale Schicksal, das Schafott hier, der Ratsvorsitz dort, ein Ausdruck in jenem komplizierten Zeichen ist, das für Lunin das menschliche Leben darstellt. (Leben hat Bedeutung) Inhalt dessen ist das Vorhandensein bzw. die Abwesenheit von Geistigem, die ihrerseits innerhalb eines bestimmten Textes symbolisiert wird: Eine Zeile in der Geschichte oder ein Zeilchen im Adelskalender. Der Vergleich des Verhaltens der Dekabristen mit der Poesie bezieht sich, wie es scheinen mag, nicht auf Schönheit des Stils, er hat gewichtige Gründe. Die Poesie stellt aus dem unbewußten Element der Sprache einen bestimmten bewußten Text her, der eine kompliziertere sekundäre Bedeutung hat. Dabei, und das ist wesentlich, nimmt alles, was in dem System eine eigene Sprache hatte, einen rein formalen Charakter an. Die Dekabristen errichteten aus den unbewußten Elementen des Alltagsverhaltens des russischen Adels an der Grenze vom 18. zum 19. Jahrhundert ein bewußtes System des ideologisch bedeutsamen Alltagsverhaltens, das wie ein Text vollendet und von erhabenem Sinn durchdrungen ist. Führen wir das Beispiel einer rein künstlerischen Beziehung zu dem Verhaltensmaterial an. In seinem Äußeren kann der Mensch seine Frisur, seinen Gang, seine Pose verändern. Deshalb werden diese Verhaltenselemente, indem sie das Resultat einer Wahl sind, leicht von Bedeutungen überwuchert („nachlässige Frisur", „kunstvolle Frisur", „Frisur ä la Imperator" usw.) Aber für die Gesichtszüge und den Wuchs gibt es keine Alternative. Und wenn ein Schriftsteller seinem Helden die verleiht, die ihm belieben, macht er sie zu Trägern wesentlicher Bedeutungen, im Alltag semiotisieren wir in der Regel nicht das Gesicht, sondern seinen Ausdruck, nicht den Wuchs, sondern die Manier, sich zu geben. Natürlich werden auch die konstanten Elemente des Äußeren von uns als bestimmte Signale wahrgenommen, aber nur, indem wir sie in die komplizierten paralinguistischen Systeme mit einschließen. Weitaus interessanter sind die Fälle, in denen das naturgegebene Äußere von den Menschen als Symbol gedeutet wird, das heißt wenn der Mensch sich selbst als eine bestimmte Information betrachtet, deren Sinn zu entschlüsseln ihm noch bevorsteht. (Das heißt im eigenen Äußeren seine Bestimmung in der Geschichte, im Schicksal der
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Dritter Teil
Menschheit, zu erkennen). Es gibt eine Notiz des Geistlichen Myslowski, der in der Festung die Bekanntschaft Pesteis machte: „Er hatte von der Geburt an mehr als 33 Jahre, war von mittlerem Wuchs, hatte ein helles und angenehmes Gesicht mit bedeutungsvollen Zügen oder Physiognomie; energisch, entschlossen, eloquent in höchstem Maße; ein tiefer Mathematiker, ein wunderbarer Militärtaktiker; von Gebaren, Beweglichkeit, Wuchs, sogar von Gesicht ähnelte er sehr Napoleon. Und diese Ähnlichkeit mit dem großen Menschen, die von allen, die Pestel gekannt haben, einhellig bestätigt wurde, war der Grund für alle Torheiten und selbst der Verbrechen".165 In den Erinnerungen W. Oleninas heißt es: „Sergej Mur(awjew)-Apostol, eine nicht weniger hervorragende Person (als Nikita Murawjew. - J . L.) hatte dazu noch eine außerordentliche Ähnlichkeit mit Napoleon I., worauf er sich wahrscheinlich nicht wenig einbildete". 166 Es genügt, diese Charakteristiken mit dem Äußeren zu vergleichen, das Puschkin Hermann verlieh, um das allgemeine künstlerische Prinzip zu verstehen. Aber Puschkin verwendet dieses Prinzip zum Aufbau eines künstlerischen Textes und für eine erdachte Person, Pestel und S. Murawjew wendeten es jedoch auf reale Biographien an: auf ihre eigenen. Dieser Zugang zu seinem Verhalten als zu einem bewußt nach den Gesetzen und Mustern erhabener Texte geschaffenen Verhalten führte aber nicht zur Ästhetisierung der Kategorie des Verhaltens, etwa im Geiste des „Lebensschöpfertums" der russischen Symbolisten des 20. Jahrhunderts. Sowohl das Verhalten als auch die Kunst waren für die Dekabristen kein Selbstzweck, sondern Mittel, äußerer Ausdruck der hohen geistigen Sättigung des ,Lebenstextes' oder des Textes der Kunst. Der Zusammenhang zwischen dem Alltagsverhalten eines Dekabristen und den Prinzipien einer romantischen Weltauffassung ist also nicht zu übersehen. Aber man muß dabei berücksichtigen, daß die anspruchsvolle Symbolisierung (Bildhaftigkeit, Theaterhaftigkeit, Literaturhaftigkeit) ihres Alltagsverhaltens sich nicht in etwas Gestelztes oder in hochtrabende Deklamation verwandelte. Im Gegenteil, sie ging mit Einfachheit und Aufrichtigkeit einher. Folgen wir der Charakteristik der Olenina, die viele Dekabristen von Kindheit an kannte, „waren die Murawjews in Rußland eine vollkommene Gracchenfamilie". Dennoch erwähnt sie, daß Nikita Murawjew „nervös und krankhaft schüchtern war". Stellt man sich die breite Skala der Charaktere von der kindlichen Einfachheit und der Schüchternheit Rylejews bis zu der raffinierten Einfachheit des Aristokratischen bei Tschaadajew vor, kann man sich davon überzeugen, daß es nicht das Gestelzte eines Schmierentheaters war, was das dekabristische Ideal des Alltagsverhaltens charakterisierte. Den Grund dafür kann man einerseits darin sehen, daß das Ideal des Alltagsverhaltens der Dekabristen, im Unterschied zum Basarowschen Ver-
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halten, nicht ein Verzicht auf die von der Kultur geschaffenen Normen der Verhaltensetikette, sondern die Aneignung und Korrektur dieser Normen war. Das war ein nicht auf die Natur, sondern auf die Kultur orientiertes Verhalten. Und andererseits blieb dieses Verhalten in seinem Unterbau ein adliges Verhalten. Es beinhaltete die Forderung nach einer guten Erziehung. Und eine wirklich gute Erziehung bedeutete im kultivierten Teil des russischen Adels Einfachheit im Umgang und Abwesenheit jenes Gefühls sozialer Minderwertigkeit und Einengung, das psychologisch das Basarowsche Gebaren eines Rasnotschinzen (eines nichtadligen, emporgekommenen Intelligenzlers. - d. U.) begründete. Damit war auch jene auf den ersten Blick erstaunliche Leichtigkeit verbunden, mit der es dem verbannten Dekabristen gelang, sich in das Volksmilieu einzufügen; eine Leichtigkeit, die, bereits mit Dostojewski und den Petraschewzen beginnend, verloren ging. N. A. Belogolowi, der die Möglichkeit hatte, die verbannten Dekabristen aus dem Blickwinkel eines nicht dem adligen Milieu entstammenden Kindes lange Zeit zu beobachten, benannte einen Zug: „Der alte Wolkonski, er war damals schon über 60 Jahre alt, galt in Irkutsk als ein außerordentliches Original. Nachdem er nach Sibirien geraten war, hatte er irgendwie abrupt mit seiner adligen Vergangenheit gebrochen, verwandelte sich in einen geschäftigen und praktischen Haushalter und wurde einfach ... freundete sich mit den Bauern an ... Die Städter, die ihn kannten, waren, wenn sie sonntags über den Markt gingen, nicht wenig schockiert darüber, den Fürsten zu sehen, wie er auf dem Kutschersitz eines mit Haufen von Brotsäcken beladenen Bauernfuhrwerks hockte und lebhafte Gespräche mit den ihn umringenden Mushiks führte, wobei er mit ihnen gemeinsam eine Schnitte grauen Weizenbrotes zum Frühstück aß".
Wie N.A. Belogolowi sich erinnert: „ Es pflegten am häufigsten Mushiks bei dem Fürsten zu Gast zu sein, und der Boden war ständig mit Spuren schmutziger Stiefel bedeckt. Im Salon der Gattin erschien Wolkonski mit Teer oder Heu am Gewand und im Vollbart, der den Geruch der Viehställe oder ähnlicher Salonodeurs verströmte. In der Gesellschaft war er überhaupt eine originelle Erscheinung; obwohl er sehr gebildet war, er sprach Französisch wie ein Franzose, wobei er das R stark rollte, war er auch zu uns Kindern sehr gut, stets liebenswürdig und zärtlich".
Diese Fähigkeit, ungekünstelt, aus einem Guß und natürlich ,er selbst' zu sein, sowohl in den Salons der Gesellschaft als auch auf dem Markt mit den Bauern und mit den Kindern, bildet die Spezifik des Alltagsverhaltens eines Dekabristen, die der Poesie Puschkins verwandt ist und einen der Gipfelpunkte der russischen Kultur darstellt. Das hier Gesagte läßt uns noch ein Problem berühren: Die Frage nach der dekabristischen Tradition in der russischen Kultur wird am häufigsten unter rein ideologischen Aspekten gestellt. Aber diese Frage hat auch noch einen ,menschlichen' Aspekt, die Tradition eines bestimmten Verhaltens-
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Dritter Teil
typus, des Typs der sozialen Psychologie. Wenn zum Beispiel die Frage nach der Rolle der dekabristischen ideologischen Tradition auf L. N. Tolstoi anwendbar erscheint, so ist das kompliziert und bedarf einer Reihe von Korrekturen. Hier ist die unmittelbar menschliche Kontinuität, die Tradition des historisch-psychologischen Typs im ganzen Komplex des kulturellen Verhaltens augenfällig. Es ist bezeichnend, daß L. N. Tolstoi, selbst wenn er über die Dekabristen sprach, einen Unterschied zwischen den Begriffen der Ideen und der Personen machte. Im Tagebuch T. L. Tolstaja-Suchotinas gibt es dazu eine außerordentlich interessante Notiz: „Repin bittet und bittet Papa, ihm ein Sujet zu geben... Gestern sagte Papa, daß ihm ein Sujet in den Sinn gekommen sei, das ihn übrigens nicht ganz befriedigt. Das ist der Moment, als man die Dekabristen zum Galgen führt. Der junge Bestushew-Rjumin war von Murawjew-Apostol begeistert - mehr von dessen Person als von dessen Ideen - und war die ganze Zeit mit ihm im Einvernehmen, und nur vor der Hinrichtung wurde er schwach, begann zu weinen, und Murawjew umarmte ihn, und sie gingen zu zweit zum Galgen".167 Tolstois Deutung ist sehr interessant: Seine Gedanken waren ständig bei den Menschen vom 14. Dezember, in erster Linie jedoch bei den Menschen, die ihm näher und verwandter waren als die Ideen des Dekabrismus. Im Verhalten eines Menschen, wie auch in jeder Art menschlicher Tätigkeit, kann man Schichten der,Poesie' und der,Prosa* freilesen. So bestand die Poesie der Armee für Paul und die Pawlowitschs in der Parade und die Prosa in den Kampfhandlungen. „Der Zar Nikolai, überzeugt davon, daß Schönheit ein Merkmal von Kraft ist, war bemüht, bei seinen erstaunlich disziplinierten und ausgebildeten Truppen... eine bedingungslose Unterwerfung und Gleichförmigkeit zu erreichen", schrieb A. Fet in seinen Memoiren.168 Für Denis Dawydow assozierte sich Poesie nicht einfach mit Kampf, sondern mit der Irregularität, mit der „geregelten Unordnung der bewaffneten Bevölkerung". „Dieser von Poesie erfüllte "Wirkungsbereich erfordert romantische Phantasie, Lust am Abenteuer, und begnügt sich nicht mit trockener, prosaischer Kühnheit. - Das ist eine Strophe Byrons! Möge der, der den Tod nicht fürchtet, Furcht vor der Verantwortung haben und den Blicken der Vorgesetzten nicht entgehen".169 Charakteristisch ist hier das bedingungslose Übertragen von Kategorien der Poetik auf die Arten der kriegerischen Tätigkeit. Die Einteilung des Verhaltens und der Handlungen der Menschen überhaupt in ,Poetisches' und ,Prosaisches' ist für die uns interessierende Epoche bezeichnend. So hat Wjasemski, indem er Puschkin vorwarf, er zwänge Aleko mit dem Bären loszuziehen, dieser prosaischen Tätigkeit den Diebstahl geradezu vorgezogen: „...es wäre besser, ihm die Möglichkeit zu geben, Handel zu treiben und mit Pferden herumzuzigeunern. Dieses Geschäft ist zwar nicht ganz ohne Sünde, aber besitzt eine gewisse Verwe-
Statt eines Schlußwortes: „ Zwischen zwiefachem Abgrund..."
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genheit und folglich auch Poesie". 1 7 0 Die Welt der „Verwegenheit", das war das Feld der Poesie in der Wirklichkeit. Der Mensch der Epoche Puschkins und Wjasemskis versetzte sich in seinem Alltagsverhalten aus dem Bereich der Prosa in die Sphäre der Poesie und umgekehrt. Dabei wurde, ähnlich wie in der Literatur nur die Poesie ,zählte', die prosaische Verhaltenssphäre bei der Beurteilung eines Menschen gleichsam abgezogen, sie existierte gewissermaßen nicht. Die Dekabristen verliehen dem Verhalten des Menschen Einheitlichkeit, aber nicht auf dem Wege der Rehabilitierung der Prosa des Lebens, sondern dadurch, daß sie, das Leben durch die heroischen Texte filternd, einfach widerriefen, was nicht auf den Tafeln der Geschichte geschrieben stehen sollte. Die prosaische Verantwortung vor den Vorgesetzten wurde durch die Verantwortung vor der Geschichte ersetzt, und die Angst vor dem Tod durch die Poesie der Ehre und der Freiheit. „Wir atmen mit der Freiheit", rief Rylejew am 14. Dezember auf dem Platz aus. Das war die Übertragung der Freiheit aus dem Bereich der Ideen und Theorien in das „Atmen", in das Leben. Darin liegen das Wesen und die Bedeutung des Alltagsverhaltens der Dekabristen begründet.
STATT EINES SCHLUSSWORTES: „ZWISCHEN ZWIEFACHEM A B G R U N D . . . "
Der von uns betrachtete Bereich der Kultur ist seiner Natur nach zweigeteilt. An der Grenze zwischen der Welt der Dinge, die in die Praxis eingegangen sind, und der Welt der Sinne und Bedeutungen tritt er als praktische Realität in der Welt der Zeichen oder als Symbol in der Welt der praktischen Realität auf. Diese Zweiteilung bildet auch seine Spezifik. Betrachten wir ihn aber näher, werden wir bemerken, daß gleichzeitig einer der Grundzüge des Mechanismus, der dem Bewußtsein eigen ist, im ganzen eine ähnliche Zweiteilung darstellt. Das, was denkt und selbst Sinn hat, Bewußtsein schafft und Bewußtsein ist, sollte im Prinzip eine Grenzerscheinung sein. Dieses Eingelagertsein in die zweigeteilte Welt wurde von den Dichtern, die darin die Position des Menschen in dem ihn umgebenden geistig-materiellen Raum sahen, stets sehr exakt wahrgenommen. Uber die Einheitlichkeit in der Zweiteilung ist mehrfach geschrieben worden. Faktisch hatte das auch Dershawin im Blick und meinte es mit den Worten ausdrücken zu können: Mit meinem Körper vergehe ich zu Staub, Mit dem Geist befehle ich dem Donner.1 Dershawin sprach von der Doppelwelt, vom Doppelwesen des Menschen, und Baratynski, auf die Position des Dichters bezogen, über das gleiche. Er gestaltete das Bild der „Frühgeburt", eines Himmlischen unter den Irdi-
Statt eines Schlußwortes: „ Zwischen zwiefachem Abgrund..."
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genheit und folglich auch Poesie". 1 7 0 Die Welt der „Verwegenheit", das war das Feld der Poesie in der Wirklichkeit. Der Mensch der Epoche Puschkins und Wjasemskis versetzte sich in seinem Alltagsverhalten aus dem Bereich der Prosa in die Sphäre der Poesie und umgekehrt. Dabei wurde, ähnlich wie in der Literatur nur die Poesie ,zählte', die prosaische Verhaltenssphäre bei der Beurteilung eines Menschen gleichsam abgezogen, sie existierte gewissermaßen nicht. Die Dekabristen verliehen dem Verhalten des Menschen Einheitlichkeit, aber nicht auf dem Wege der Rehabilitierung der Prosa des Lebens, sondern dadurch, daß sie, das Leben durch die heroischen Texte filternd, einfach widerriefen, was nicht auf den Tafeln der Geschichte geschrieben stehen sollte. Die prosaische Verantwortung vor den Vorgesetzten wurde durch die Verantwortung vor der Geschichte ersetzt, und die Angst vor dem Tod durch die Poesie der Ehre und der Freiheit. „Wir atmen mit der Freiheit", rief Rylejew am 14. Dezember auf dem Platz aus. Das war die Übertragung der Freiheit aus dem Bereich der Ideen und Theorien in das „Atmen", in das Leben. Darin liegen das Wesen und die Bedeutung des Alltagsverhaltens der Dekabristen begründet.
STATT EINES SCHLUSSWORTES: „ZWISCHEN ZWIEFACHEM A B G R U N D . . . "
Der von uns betrachtete Bereich der Kultur ist seiner Natur nach zweigeteilt. An der Grenze zwischen der Welt der Dinge, die in die Praxis eingegangen sind, und der Welt der Sinne und Bedeutungen tritt er als praktische Realität in der Welt der Zeichen oder als Symbol in der Welt der praktischen Realität auf. Diese Zweiteilung bildet auch seine Spezifik. Betrachten wir ihn aber näher, werden wir bemerken, daß gleichzeitig einer der Grundzüge des Mechanismus, der dem Bewußtsein eigen ist, im ganzen eine ähnliche Zweiteilung darstellt. Das, was denkt und selbst Sinn hat, Bewußtsein schafft und Bewußtsein ist, sollte im Prinzip eine Grenzerscheinung sein. Dieses Eingelagertsein in die zweigeteilte Welt wurde von den Dichtern, die darin die Position des Menschen in dem ihn umgebenden geistig-materiellen Raum sahen, stets sehr exakt wahrgenommen. Uber die Einheitlichkeit in der Zweiteilung ist mehrfach geschrieben worden. Faktisch hatte das auch Dershawin im Blick und meinte es mit den Worten ausdrücken zu können: Mit meinem Körper vergehe ich zu Staub, Mit dem Geist befehle ich dem Donner.1 Dershawin sprach von der Doppelwelt, vom Doppelwesen des Menschen, und Baratynski, auf die Position des Dichters bezogen, über das gleiche. Er gestaltete das Bild der „Frühgeburt", eines Himmlischen unter den Irdi-
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Dritter
Teil
sehen, eines Irdischen unter den Himmlischen, kein Heiliger, aber auch kein Sünder: Im Stamm der Geister ward ich aufgezogen, Doch ist Empireia nicht mein Reich, Kaum zu den Wolken aufgeflogen, Stürze ich kraftlos nieder gleich. Bestürzt hör ich so manchen Tag Feindlicher Völker Tosen, Argloser Landeskinder Wehgeklag, Seh in die Ferne ziehn die Heimatlosen Unter Kriegsgelärm, der Leidenschaft Wut, Höre des kranken Säuglings Gegrein... Und aus den Augen rinnt der Tränen Flut: Es dauert mich der Erdbewohner Pein. Von unsagbarem Gram verzehrt, Durchflieg ich die Unendlichkeit, Die oben, unten nicht grenzbewehrt Und doch zu eng für all die Traurigkeit. In eine Wolke flieh ich, treibe weit, Fern, fremd des Erdenkreises Leidenschaft, Und übertöne der Menschen schreckliches Leid Mit des Sturmes Stimme mächtiger Kraft.2 Tjutschew schuf das symbolische Bild eines Schwans, der zwischen zwiefachem Abgrund erstarrt ist: dem Himmel und dessen Widerspiegelung im Wasser. So stellte sich ihm auch das Bild der Poesie dar, die Widerspiegelung der Welt der Dinge in den Spiegeln und den Spiegelwiderspiegelungen der Realität. Diese Situation ,an der Kreuzung' der Gegensätze ist die Grundlage für den Mechanismus des Bewußtseins, das das Neue hervorbringt. Nach dem gleichen Modell sind insbesondere auch die Beziehungen zwischen dem ,Fremden' und dem ,Eigenen' aufgebaut. U m sinnträchtig zu werden, das heißt ,neu', versetzt sich gleichsam das ,Eigene' in die Situation des ,Fremden', erlebt es eine ,zweite Bekanntschaft' mit uns und wird wieder zum ,Eigenen'. In diesem Sinne wird auch das zu seiner Zeit kühne Eintreten Puschkins im „Eugen Onegin" für die Verteidigung der Gallizismen und mehr noch für die mit Regelwidrigkeiten' durchsetzte Sprache der Damen der Gesellschaft verständlich. Das Demonstrative, mit dem Puschkin seine Gegner zum besten hielt, ist nur zu verstehen, wenn man sich daran erinnert, daß die Fehler der Damen in der russischen Sprache und das französische Radebrechen des ,schönen Geschlechts' ein traditionelles, vorbehaltlos errungenes Feld der Satire waren. Hier trafen die Progressisten und die Reaktionäre aufeinander, die Archaisten und die Neuerer. Wir können nicht in vollem Maße die Kühnheit der ironischen, doch nichtsdestoweniger deklarativen Puschkinschen Bekenntnisse nachvollziehen:
Reisende auf einer Poststation. — K.I. Kolman. Lithographie, 1825. Scherenschnitt „Islenjew, Gagina, AI. An. Masiowa, Grigorius, K r o p o t o w a , N . D u b o w i z k o i " . 1834. — Die Silhouettenserie, gefertigt vom ScherenschnittA m a t e u r Chwostschinski, stellt eine Rjasaner Adelsgesellschaft u m 1830 dar und w a r ein Erinnerungsgeschenk an N . G. R j u m i n anläßlich seiner Übersiedelung von Rjasan nach Moskau. 1914 befand sich die Serie in der Sammlung L . N . P o goshewas.
Porträt E.A. Karamsinas. — Unbekannter Maler. Oel auf Leinwand. 1830er Jahre. —Jekaterina Andrejewna (1780-1851), uneheliche Tochter des Fürsten A. I. Wjasemski, bis zu ihrer Heirat K o l y w a n o w a (nach dem altrussischen Namen ihres Geburtsortes Reval); sie war die ältere Schwester des Fürsten P.A. Wjasemski, seit 1804 die zweite Frau N. M. Karamsins. Das Haus der Karamsins in Petersburg (den Sommer verbrachten sie in Zarskoje Selo) war von 1816 bis in die 1850er Jahre eines der Zentren des kuturellen und gesellschaftlichen Lebens Petersburgs. Nach Aussagen von Zeitgenossen war der Karamsinsche Salon einer der wenigen in Petersburg, in denen man „russisch sprach und nicht Karten spielte".
Porträt E.F. Murajewas mit ihrem Sohn Nikita. — Unbekannter Maler. Nach dem Original von J.-L. Monier. Oel auf Leinwand. 1799-1800. — Jekaterina Fjodorowna Murawjewa (geb. Baroneß Kolokolzewa [17711848]), Gattin des Schriftstellers und Kurators der Moskauer Universität Michail Niki titsch Murawjew, Tante K . N . Batjuschkows und M. S. Lunins, Mutter zweier künftiger Dekabristen - Nikita und Alexander. Als das Porträt entstand, lebte die Familie in Moskau, später übersiedelten die Murawjews nach Petersburg. Ihr Haus am Fontanka-Kai 25 wurde zu einem der kulturellen Zentren der Hauptstadt. 1818 mietete sich bei den M u r a w j e w s N . M . Karamsin mit seiner Familie in der zweiten Etage ein, in der dritten Etage lebten die Söhne Jekaterina Fjodorownas (An die Versammlungen der Geheimgesellschaft bei Nikita Murawjew erinnert Puschkin im „Eugen Onegin").
Geheime Fuhre, die zwei verbannte Polen nach Sibirien bringt. — E.M. Kornejew. Aquarell. Tusche. 1810er Jahre. Porträt der Brüder Konownizyn. — K. Gampeln. Zeichnung. 1825. — Von links nach rechts: Die Söhne des Generals Graf P.P. Konownizyn, Pjotr (1803-1830), Alexej (1813-1852), Grigori (1810-1844) und Iwan (1806-1867). Iwans Uniform eines Fähnrichs der berittenen Artillerie erlaubt es, das Bild exakt zu datieren: Nach der Absolvierung des Pagenkorps im April 1825 wurde er im Dezember zusammen mit seinem älteren Bruder verhaftet, in die Provinz geschickt und unter geheime Beobachtung gestellt. Die älteren Brüder sind mit Pfeife dargestellt, neben Iwan ein Patronenbeutel mit Tabak.
Porträt E.P. Naryschkinas. — N . A . Bestushew. Aquarell. U m 1832. — J e lisaweta Petrowna (1802-1867), Tochter des Generals P.P. Konownizyn, verheiratet mit dem Oberst des Tarutinsker Regiments M. M. Naryschkin. Sie folgte dem verurteilten Gatten in die Verbannung nach Sibirien.
Porträt A. G. Murawjewas. — P. F. Sokolow. Aquarell. 1826. — Die Gattin Nikita Murawjews, Alexandra Grigorjewna (geb. Gräfin Tschernyschewa, 1804-1832) gab dieses Bild vermutlich speziell für ihren in der Peter-Pauls-Festung inhaftierten Mann in Auftrag. Porträt A.I. Jakubowitschs. — P . A . Karatygin. Aquarell. 1825 (?). — Alexander Iwanowitsch Jakubowitsch (1796/97-1845) trat siebzehnjährig als Fahnenjunker in die Leibgarde des Ulanenregiments ein und machte den Feldzug 1813-1814 mit. Wegen seiner Teilnahme an dem berühmten „Vierer"-Duell (Sawadowski - Scheremetjew - Gribojedow - Jakubowitsch) wurde er zum Nishegoroder Dragoner-Regiment in den Kaukasus versetzt, machte sich bei Expeditionen gegen die Bergvölker einen Namen und erhielt dafür den Kapitänsrang und den Wladimirorden IV. Klasse mit Schleife. 1823 erhielt er während der Kuban-Expedition einen Schuß in den Kopf und trug danach ständig eine schwarze Binde. Puschkin, der Jakubowitsch in Petersburg kennengelernt hatte (1817), machte ihn zum Haupthelden seines unvollendeten „Romans auf den kaukasischen Gewässern".
Statt eines Schlußwortes:
„ Zwischen zwiefachem
Abgrund... "
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Dies hold verlegne Radebrechen, Der schalkhaft regellose Bach Der Worte läßt Erinnerung sprechen, Ruft alte Wonnen in mir wach. Drum bleib' ich, sei's auch ungezogen, Den Gallizismen wohlgewogen Wie meinem sünd'gen Lebensmai, Wie Bogdanowitschs Reimerei. (3, X X I X ) Nicht zufällig haben diese Zeilen die entschiedene Zustimmung Wjasemskis gefunden. Puschkin hatte sogar vor, den Brief Tatjanas im „Eugen O n e gin" in einer für jene Zeit schockierenden F o r m abzufassen, in Prosa und auf Französisch. Sich auf die Angemessenheit beschränkend, verzichtete er auf diesen Entschluß. Der Leser wurde im voraus darüber informiert, daß der Brief im Original in Französisch geschrieben worden, und der Dichter nur sein Ubersetzer sei. In diesem Falle spielte die russische Sprache die ,Rolle* der französischen. Und der krasse Umschwung innerhalb der Strophenform, der das Lässige des Oneginschen Tonfalls durchbricht, imitierte gleichsam den Unterschied zwischen Gedicht und Prosa. D e n nächsten Schritt unternahm Leo Tolstoi, der nicht davor zurückschreckte, in „Krieg und Frieden" ausgiebig französische Rede zu verwenden, wobei es bezeichnend ist, daß die französische Sprache insbesondere den oberen Gesellschaftskreisen zugeordnet wird. Die Welt, die an die Stilistik grenzt, ist die experimentelle Sphäre der Stilistik. Die Grenze zwischen dem Künstlerischen und dem Nichtkünstlerischen, dem Poetischen und dem Prosaischen, dem ,Eigenen' und dem ,Fremden', dem Tragischen und dem Komischen, und überhaupt alle Grenzlinien, die die Bereiche der Kultur gegeneinander abgrenzen, sind Entstehungsorte neuer Sinngebungen und semiotischer Experimente. D a bei ist zu beachten, daß wir es hier nicht mit einzelnen, sich selbst genügenden Erscheinungen zu tun haben, die den materiellen Dingen ähnlich sind, sondern mit einer Funktion, einer Rolle. Das Poetische und das Prosaische, das ,Eigene' und das ,Fremde' usw. wechseln ständig die Plätze, da sie sich in einem einheitlichen, dynamischen Ganzen der Kultur bewegen. Deshalb darf man in den Bereichen der Kultur und des Alltags nicht a priori dieses oder jenes Element als unwesentlich negieren. Diese Frage hat auch noch eine andere, mehr praktische Seite. Wir wollen die Geschichte der Vergangenheit und die Werke der künstlerischen Literatur der vorangegangenen Epochen verstehen, aber dabei glauben wir manchmal naiv, daß es genügt, das uns interessierende Buch zur Hand zu nehmen, ein Wörterbuch dieser oder jener fremden Sprache oder der altrussischen oder gar der modernen russischen Sprache danebenzulesen, und das Verstehen ist garantiert. Tatsächlich aber besteht jede Mitteilung gleichsam aus zwei Teilen: aus dem, worüber gesprochen wird, und aus dem, wovon nicht
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Dritter
Teil
gesprochen wird, weil es ohnehin bekannt ist. Dieser zweite Teil der Mitteilung wird weggelassen. Der zeitgenössische Leser stellt ihn nach seiner Lebenserfahrung leicht selbst wieder her. Man braucht ihm zum Beispiel nicht zu erklären, welchen Zweck der Boden in einem Haus hat. Wenn wir aber auf eine krasse Weise die Alltagsgewohnheiten ändern, wird sich eine ganze Reihe ausführlicher Kommentare zum Text als unumgänglich erweisen. Die zeitgenössischen westeuropäischen Lebensweisen, Gewohnheiten, die in einigen kleinbürgerlichen Sphären der europäischen Kultur angenommen wurden oder in der japanischen Kultur, werden wahrscheinlich verschiedene Lösungen der Frage anbieten, ob man vor dem Betreten eines Zimmers die Schuhe ausziehen muß oder nicht. Vor dem Leser, der sich im Innern dieser Kultur befindet, erhebt sich diese Frage nicht. Ein Ausländer oder ein Mensch einer anderen Epoche benötigt spezielle Erläuterungen. Die Romane oder die Zeitungen werden für den Zeitgenossen geschrieben, und deshalb erfahren wir aus ihnen auch nicht das, worüber nicht geschrieben wurde, weil es allgemein bekannt ist. Aber wir haben nicht immer die Möglichkeit, diese Lücken mittels Phantasie und Erfahrung auszufüllen. In der Regel lassen wir einfach, ohne es zu bemerken, leere Stellen unausgefüllt. Wir genieren uns nicht zu sagen, daß wir ohne ein spezielles Studium in den vergangenen Epochen unserer Geschichte Ausländer oder gar Bewohner fremder Planeten sind. Ein japanischer Reisender schrieb im 18. Jahrhundert mit Erstaunen: „Rußland. Seine Sprache, das ist nicht einfach Kauderwelsch, Gebrüll oder Gezwitscher". 3 Das war ein aufmerksamer und gewissenhafter Beobachter, aber er war in seine kulturellen Erfahrungen eingebunden, so, als er die Leser im voraus darüber informierte, daß es in Petersburg sehr selten Erdbeben gibt. Noch interessanter ist ein anderes Beispiel: Den Schnee in Petersburg beschreibend, meint der Autor der Erinnerungen nicht nur den Winter, sondern sagt auch, daß die Kaiserin sich im Frühjahr nach Zarskoje Selo begebe, „um dort den Schnee zu bewundern". 4 Hier haben wir es mit einem sehr feinen Ausdruck der spezifisch japanischen Naturwahrnehmung zu tun. Der Bewohner Petersburgs erlebt den Schnee als eine natürliche, gewöhnliche Schönheit. Und was besonders wichtig ist, im Winter fällt der Schnee in Rußland für eine lange Zeit, deshalb bringt er die Vorstellung von langem, dauerhaften oder gar ewigem Schnee mit sich. In Japan währt die Schneedecke nicht lange und ruft die Bilder einer kurzzeitigen, schnell wieder verschwindenden Schönheit hervor. In der japanischen Bildhaftigkeit ist der Schnee feingesponnen und wird mit dem Gefühl der Vergänglichkeit irdischer Schönheit assoziiert. Wie sollte man sie da vor ihrem Vergehen nicht bewundern! Diese Schattierung eines melancholischen Ästhetizismus wird durch den japanischen Beobachter in die winterliche Petersburger Landschaft hineingetragen. Aber nicht weniger charakteristisch ist auch etwas anderes: Der Reisende ist bestrebt, die fremde Wirklichkeit nicht nach den Mustern seiner eigenen Wirklichkeit zu interpretieren, sondern sie in einer erschöpfenden,
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vollständigen Weise zu beschreiben. Mit der gleichen gelassenen Detailliertheit beschreibt er Palastgemächer und Toiletteneinrichtungen, und wenn wir die ersteren Beschreibungen auch noch in anderen Quellen finden können, so sind die zweiten wahrhaft einzigartig. Das W o r t „Verstehen" ist tückisch. Unwillkürlich drängt sich einem die Vorstellung auf, das sei ein einmaliger, erschöpfender Vorgang. Man stellt sich das Verstehen als eine endgültige und bedingungslose Kenntnis vor. Tatsächlich jedoch ist es ein Weg ins Endlose. Ehrlichkeit schließt das Maß und die Richtung einer Annäherung ein. Man kann sich das Verstehen als ein N e t z von Deutungen und Übersetzungen verschiedener Annäherungsstufen vorstellen. Gerade die Vielfalt und die Kontrastwirkung bestimmen das Niveau des Verstehens. Stellen wir uns ein Stück von Shakespeare vor, das ein russischer Zuschauer sieht. Die Vielzahl der Ubersetzungen wird durch die Vielzahl der Interpretationen seitens der Regisseure ergänzt. Aber auch die letztere ist nicht eindeutig gegeben, sondern mit der Vielfalt der schauspielerischen Talente, der Interpretationen des Bühnenbildes usw. verknüpft. So wird ein bestimmter Raum geschaffen, in Beziehung zu dem jede neue Aufführung mit Sinn erfüllt wird. Wir kennen Aufführungen, die um museale Genauigkeit, um die Wiederherstellung der äußeren
Vergleiche: „Toiletten heißen Nudsune oder Nudsunti (auf Russisch Nushnik). Sogar in 4-5stöckigen Häusern hat man N u s h n i k i auf jeder Etage. Sie werden in einer E c k e des Hauses eingerichtet und sind von außen von einer zwei- bis dreischichtigen (Wand) u m schlossen, damit von dort nicht der schlechte G e r u c h durchdringen kann. O b e n wird ein R o h r ähnlich dem Rauchabzug angebracht, in der Mitte ist es mit Kupfer bedeckt, das E n de des (Rohres) ragt hoch über das D a c h hinaus, dort k o m m t der schlechte Geruch heraus. Im Unterschied zum Rauchrohr gibt es in ihm keine Rauchklappe, und deshalb wird über dem R o h r , zum Schutz gegen den Regen, ein kupfernes Schutzdach ähnlich einem Regenschirm angebracht. Ü b e r dem Boden gibt es in dem N u s h n i k einen Sitz, ähnlich einem K a sten in der H ö h e von 1 Sjaku und 4 - 5 Sunos (Sjaku = 30,3 c m oder 37,8 cm; 1 Sun = 3,03 cm). In diesen Sitz ist oben eine Ö f f n u n g von ovaler F o r m eingeschnitten, deren Ränder runden sich und werden bis zu voller Glätte abgehobelt. Bei Bedarf setzt man sich bequem auf diese Öffnung, so daß in sie sowohl die hintere als auch die vordere geheime Stelle gelangen können, und so verrichtet man das Bedürfnis. Solch eine Einrichtung wird damit erklärt, daß man in Rußland die H o s e sehr eng trägt, das heißt zu kauern oder in der H o c k e sitzen, wie es bei uns gemacht wird, ist unbequem. F ü r die Kinder werden spezielle niedrigere Sitze eingerichtet. D i e Nushniki können groß sein mit vier und fünf Öffnungen, das heißt drei-vier Leute können sie gleichzeitig benutzen. Bei den vornehmen Menschen gibt es in den Toiletten sogar Ö f e n , um nicht zu frösteln. ... U n t e r den Ö f f n u n g e n sind große Trichter aus Kupfer angebracht (und weiter) gibt es ein großes senkrechtes R o h r , in das alles aus diesen Trichtern hinabfließt, und von dort k o m m t alles in eine große Abfallgrube, die tief unter dem Haus ausgegraben und von einem Stein bedeckt ist. D i e E x k r e m e n t e werden von den niedrigsten Leuten für L o h n herausgeholt. Die Bezahlung durch die M e n schen mittleren und höheren Standes beträgt 25 Silberrubel für einen Menschen pro Jahr. Die Säuberung geschieht einmal im Monat nach Mitternacht, wenn nur wenige Menschen auf den Straßen sind. Alles wird danach auf Schiffe geladen, etwa zwei, drei Werst weit aufs Meer gefahren und dort hinausgeworfen. (Kazuragawa C h . Kurze Berichte über die Reisen in den nördlichen Gewässern, S. 182).
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Dritter Teil
Seiten der Lebensweise der Shakespeareschen Epoche bemüht waren. Das Stück verwandelte sich in ein Shakespeare-Museum. Wir kennen auch die Erfahrungen von Aufführungen in modernen Kostümen oder in bedingten Kostümen und Dekorationen, die zu keiner konkreten Epoche in ein Verhältnis gesetzt werden konnten. In jedem dieser Fälle haben wir nicht Shakespeare vor uns, sondern nur irgendeine seiner Spuren. Man kann Dinge nicht schmerzlos beseitigen, denn die Dinge sind Gesten, und die Gesten sind der Charakter. Ein Volkskundler, der bald nach Beendigung des Krieges das Märchen mit dem Sujet „Iwan und die Schlange" aufschrieb, mußte hören: „Nun zog Iwan eine Pistole aus der Tasche und begann auf die Schlange zu schießen!" Aber man kann sich auch eine entgegengesetzte Variante vorstellen, wenn derselbe Iwan des Märchens (oder der Shakespearesche Held) auf der höchsten Stufe des Abstrakten, ohne irgendwelche Merkmale des Ortes und der Zeit, dargeboten wird. Der Regisseur wird die Variante wählen, die seinem Vorhaben entspricht. Aber um in seiner Wahl frei zu sein, sollte er in seinem Bewußtsein nicht nur über einen Vorrat an dem verfügen, was seinem Vorhaben dienlich ist, sondern auch an dem, was er ablehnt. Das Gedächtnis seiner Kultur sollte entschieden umfassender sein als die Auswahl, die es trifft. Deshalb sollte auch der, der handelt, und der, der die realen Handlungen in der Kunst widerspiegelt, wie auch der, der diese Widerspiegelung wahrnimmt, über einen Gedächtnisvorrat verfügen, der jeden konkreten Bedarf erheblich übertrifft. Ein letztes zum Schluß: Wenn es uns nicht gegeben ist, die Vergangenheit und die Gegenwart hinlänglich zu verstehen, so können wir doch unsere untrennbare Verbundenheit mit ihnen begreifen. Dieses Gefühl wächst mit dem Eindringen in die großen historischen Ereignisse, wie auch mit dem Miterleben der kleinen und kleinsten Seiten des Lebens. Die geometrisch isomorphen Figuren sind in Größe und Form unterschiedlich und in einem bestimmten Sinne gleichzeitig ein und dasselbe. Die Geschichte, die sich in einem Menschen widerspiegelt, in seinem Leben, seiner Lebensweise, seinen Gesten, ist von gleicher Gestalt wie die Geschichte der Menschheit. Die eine spiegelt sich in der anderen wider, und die eine wird durch die andere begriffen. Wenn das vorliegende Buch dem Leser zumindest einen kleinen Grad dieses Gefühls vermitteln konnte, dann wird der Autor seine Arbeit nicht für vergeblich ansehen.
ANMERKUNGEN
EINFÜHRUNG: LEBENSWEISE UND KULTUR 1
B l o k , A. A.: Ges. W e r k e in 8 B d n . Moskau/Leningrad 1960, B d . 3, S. 136.
2
Puschkin, A. S.: Ges. Werke in 16 Bdn. Moskau/Leningrad 1937-1949, Bd. II, S. 40. Alle weiteren Angaben werden in dieser Ausgabe gekürzt angeführt: Puschkin, Band, Buch, Seite. Die Angaben zu „Eugen O n e g i n " erfolgen im Text mit dem Hinweis auf das Kapitel (arabische Ziffern) und die Strophe (römische Ziffern).
3
Tolstoi, L. N . : Ges. W e r k e in 22 Bdn. M o s k a u 1949, Bd. 3, S. 2 7 - 2 8 .
ERSTER TEIL 1
Woskressenski, N . A.: Gesetzgebende A k t e n Peters I. M o s k a u / L e n i n g r a d
2
Prokopowitsch, F.: Werke. Moskau/Leningrad 1961, S. 125.
1945, Bd. 1 , S . 175. 3
L o m o n o s s o w , M . W . : Sämtl. W e r k e in 10 Bdn. Moskau/Leningrad 1959, Bd. 8, S. 284.
4 5
Ebenda, S. 610. P o s o s c h k o w , I. T . : Buch über A r m u t und R e i c h t u m und andere Arbeiten. Moskau 1951, S. 99.
6
D e n k m ä l e r des russischen Rechts. Ausg. 8, Gesetzgebende A k t e n Peters I. M o s k a u 1961, S. 185.
7
Zitiert nach dem Buch von Pawlow-Silwanski, N . : Des Herrschers dienende Leute. D e r U r s p r u n g des russischen Adels. Sankt Petersburg 1898, S. 261.
8
Kapnist, W . W . : Ges. W e r k e in 2 Bdn. M o s k a u / L e n i n g r a d 1960, B d . 1, S. 358.
9
D e n k m ä l e r des russischen Rechts. Ausg. 8. Gesetzgebende Akten Peters I. S. 185.
10
Tolmatschew, J.: D i e militärische Redekunst, basierend auf den allgemeinen Anfängen der Sprachwissenschaft. Teil 2, Sankt Petersburg 1825, S. 120.
11
P o s o s c h k o w , I.T.: B u c h über A r m u t und Reichtum, S. 268.
12
D i e russische Gesetzgebung X . - X X . Jahrhundert in 9 B d n . M o s k a u 1987, S. 28.
13
Ebenda, B d . 5, S. 1 5 - 1 6 .
14
Ebenda, Bd. 5, S. 16, mit Hinweisen auf: Rabinowitsch M . D . : D e r soziale Ursprung und die Vermögenslage der O f f i z i e r e der regulären russischen Armee am E n d e des Nördlichen Krieges. - In: Rußland in der Periode der Reformen Peters I., Moskau 1973, S. 171. - Buganow, W . I., Preobrashenski, A. A., T i c h o n o w , J . A.: Die Evolution des Feudalismus in Rußland. Sozial-ökonomische Probleme. Moskau 1980, S. 241.
Anmerkungen
432 15 16
17 18 19 20 21 22 23 24
Denkmäler des russischen Rechts. Ausg. 8, Gesetzgebende Akten Peters I. S. 186. Siehe: Semenowa, L. N.: Historische Skizzen der Lebensweise und des kulturellen Lebens in Rußland: Erste Hälfte des 18. Jahrhunderts. Leningrad 1982, S. 114-115; Briefwechsel der Fürstin E.P. Urusowa mit ihren Kindern. - In: Das Alte und das Neue. Buch 20, Moskau 1916; Der private Briefwechsel des Fürsten Pjotr Iwanowitsch Chowanski, seiner Familie und Verwandten. - In: ebenda, Buch 10, Urkundliches aus dem 17. und dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Moskau 1969. Poeten der Jahre 1790-1810. S. 805. Die Dekabristen. Chroniken des Staad. Literaturmuseums. Moskau 1938, Buch III, S. 484. Murajew, A. N.: Autobiographische Aufzeichnungen. - In: Neue Materialien. Moskau 1955, S. 197-198. Baratynski, E. A.: Sämtliche Gedichte in 2 Bdn. Leningrad 1936, Bd. 1, S. 49. Blok, A. A.: Ges. Werke. Bd. 3, S. 164. Marin, S. N.: Sämtliche Werke. Moskau 1948, S. 289. Karpow, W. N.: Erinnerungen. Schipow, N.: Geschichte meines Lebens. Moskau/Leningrad 1933, 142-143. Winski, G. S.: Meine Zeit. Sankt Petersburg (1914), S. 139.
ZWEITER TEIL
1 2 3
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Fonwisin, D. I.: Ges. Werke in 2 Bdn. Moskau/Leningrad 1959, Bd. 2, S. 273. Siehe: Gluschkowski, A. P.: Erinnerungen eines Ballettmeisters. Moskau/ Leningrad 1940, S. 196-197. (Petrowski, L.) Regeln für die vornehmen Gesellschaftstänze, herausgegeben von dem Tanzlehrer am Slobodsker-ukrainischen Gymnasium, Ludovik Petrowski. Charkow 1825. S. 13-14. Herzen, A. I.: Ges. Werke in 30 Bdn. Moskau 1956, Bd. 9, S. 30-31. (Petrowski, L.) Regeln für die vornehmen Gesellschaftstänze, S. 55. Siehe: Lalla Roukh. Divertissement executé au chateau royal de Berlin le 27 janvier 1821. Berlin 1822. Slonimski, J.: Ballett-Zeilen Puschkins. Leningrad 1974, S. 10. (Petrowski, L.): Regeln für die vornehmen Gesellschaftstänze... S. 70. Ebenda, S. 72. Dictionnaire critique et raisonné des étiquettes de la cour... Par M-me la comtesse de Genlis, Paris 1818, V. II, p. 355. (Petrowski, L.): Regeln für die vornehmen Gesellschaftstänze, S. 70. Smirnowa-Rosset, A. O.: Autobiographie. Moskau 1931, S. 119. (Petrowski, L.): Regeln für die vornehmen Gesellschaftstänze, S. 83. (Compin, Charles): Wörterbuch des Tanzes. Moskau 1790, S. 182. Bulwer-Lytton, E.: Pelham oder die Abenteuer eines Gentlemans. Moskau 1958, S. 228. Smirnowa-Rosset, A. O.: Autobiographie. S. 332. Siehe: Russisches Archiv. 1866, Nr. 7, Spalte 1255.
Anmerkungen 18 19 20 21 22 23 24
25 26
27 28 29 30 31 32 33 34 35 36 37 38 39 40 41 42
433
D e r Dekabrist N . I. Turgenjew. Briefe an den Bruder S.I. Turgenjew. Moskau/Leningrad 1936, S. 280. Smirnowa-Rosset, A. O . : Autobiographie. S. 118. (Petrowski, L.): Regeln für die vornehmen Gesellschaftstänze, S. 74. Aufzeichnungen des Grafen M. D . Buturlin. - Russisches Archiv, 1897, Nr. 5 - 8 , S. 46. Puschkin in den Erinnerungen von Zeitgenossen. 2 Bde. Moskau 1978, Bd. 2, S. 124-125. Literaturdenkmäler der alten Rus. (11. bis Anfang 12. Jahrhundert). Moskau 1978, S. 31. Die Aufzeichnungen J . M . Newerows. - Das russische Altertum, 1883, Bd. X I (zitiert aus: Gutsbesitzer-Rußland. S. 148). Eine paradoxe Ubereinstimmung finden wir in dem Gedicht Wsewolod Roshdestwenskis, das die Gestalt Bestushew-Marlinskis wiedergibt, der in die Berge flieht und dort den folgenden T e x t deklamiert: Lastet die Sehnsucht auf dem Herzen, Und scheint der Himmel ringsum eng, Les ich ihr nachts im Harem die „Zigeuner" Und singe weinend auf französisch. D i e Phantasie des Dichters wiederholt seltsam die Phantasien des Gutsbesitzers alter Zeit. Ebenda, S. 144-145. Siehe darüber in: Karnowitsch, E. P.: D i e bemerkenswerten Reichtümer von Privatpersonen in Rußland. Sankt Petersburg 1874, S. 2 5 9 - 2 6 3 ; sowie: Lotman, J . L.: A. S. Puschkins Roman „Eugen O n e g i n " . Kommentare. Leningrad 1980, S. 3 6 - 4 2 . In: Karpow, W. N.: Erinnerungen. Schipow, N.: Geschichte meines Lebens. S.391. Ebenda, S. 390. Siehe: Awdejewa, R. A.: Notizen über die alte und neue russische Lebensweise. Sankt Petersburg 1842, S. 124. A. S. Puschkin in den Erinnerungen der Zeitgenossen. Bd. 2, S. 2 5 0 - 2 5 1 . Karpow, W . N . : Erinnerungen. Schipow, N . Geschichte meines Lebens. S. 3 8 5 - 3 8 7 . Kazuragawa, Ch.: Kurze Berichte über die Wandlungen in den Nördlichen Gewässern („Chokusa Monrjaku"). Moskau 1978, S. 146. Ebenda, S. 147. Ebenda,. Ebenda, S. 148. Ebenda,. Gogol, N . W.: Sämtl. Werke. Moskau 1938, Bd. 1, S. 3 0 6 - 3 0 7 . Stscherbatow, M. M.: Aufsätze. Sankt Petersburg 1898. Bd. 2, S. 2 1 9 - 2 2 0 . Suworow, A.W.: Briefe. Moskau 1986, S. 323. Eidelmann, N . : Heuschrecke flog ... und setzte sich nieder. „Wissen ist Macht" 1968. N r . 9, S. 38. Karamsin, N. M.: Werke in 3 Bdn. Sankt Petersburg 1848, Bd. 3, S. 507-508. Siehe Prachtausgabe: Nemirowitsch-Dantschenko, Wl. I.: „Verstand schafft Leiden" in der Aufführung des Moskauer Künstlertheaters. Wl. I., Moskau 1923, S. 87.
434 43 44 45 46 47 48 49 50 51
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Anmerkungen Die russische Komödie und komische Oper im 18. Jahrhundert. Moskau/ Leningrad 1950, S. 99. Auszug aus der Satire von A. G. Rodsjanko. „Das russische Altertum". 1890. November, S. 505. Gofman, M.: Puschkin. Das erste Kapitel der Wissenschaft über Puschkin. Petersburg 1922, S. 126. Jakuschkin, I. D.: Notizen, Aufsätze, Briefe. Moskau 1951, S. 246 D'Aurevillier, B.: Das Dandytum und George Brummel. Moskau 1912, S. I-V. Siehe: Stschukinskischer Sammelband. Bd. 7, S. 323, sowie: Tschereiski, L. A.: Puschkin und seine Umgebung. Leningrad 1975, S. 74. Lermontow, M. J.: Werke in 6 Bdn. Moskau/Leningrad 1957, S. 339. Siehe: Bibliographie der russischen Ubersetzungen und kritischen Literatur. Moskau 1964, S. 4 8 ^ 9 und die Tabellen. Erstmalige Gegenüberstellung der Sujets dieser Werke siehe: Schtein, S. Puschkin und Hoffmann. Vergleichende literarhistorische Untersuchung. Derpt 1927, S. 275. Siehe: Lekomzewa, M. I./Uspenski, B. A.: Beschreibung eines Systems mit einfacher Syntax.; Jegorow, B. F.: Die einfachsten semiotischen Systeme und die Typologie der Sujets. - Arbeiten zum Zeichensystem. Ausgabe II, Tartu 1965. Erzählungen, herausgegeben von Alexander Puschkin. Sankt Petersburg 1834, S. 187. In der Akademieausgabe Puschkins fehlt, trotz des Hinweises darauf, daß der Text nach der Ausgabe der „Erzählungen" von 1834 gedruckt wird, in einem Teil der Auflage das Epigraph, dieser Umstand wird nirgendwo in der Ausgabe erwähnt. Dictionnaire critique et raisonné de la cour... Par M-me la comtesse de Genlis. V I, p. 304.305. Strachow, N.: Briefwechsel der Mode, enthaltend Briefe der ärmellosen Moden, Überlegungen der leblosen Gewänder, die Gespräche der wortlosen Hauben, die Gefühle der Möbel, der Kutschen, der Notizbücher, der Knöpfe und der altmodischen Schneiderpuppen, Kaftane, Schlafröcke, Körperwärmer usf. Ein moralischer und kritischer Aufsatz, der in wahrheitsgetreuer Weise die Sitten darlegt, die Lebensweise und verschiedene komische und wichtige Szenen des modischen Jahrhunderts. Moskau 1791, S. 31-32. Zitiert nach: Ironisch-komisches Poem. Redigiert und mit Anmerkungen versehen von B. Tomaschewski. Leningrad (1933), S. 109. Ebenda, S. 704. Siehe z.B. Eichenbaum, B.: Mein Zeitgenosse. (Leningrad) 1929, S. 15-16. Marin, S. N.: Ges. Werke. S. 306. Reichman U. J.: Anwendung der Statistik. Moskau 1969, S. 168-169. Gogol, N. W.: Sämtl. Werke. Bd. 12, S. 119. Zwetajewa, M.: Ausgew. Werke. Moskau/Leningrad 1965, S. 446. Jaglom, A. M./Jaglom I. M.: Wahrscheinlichkeit und Information. Moskau 1973, S. 21-22. Wjasemski; P.: Das alte Notizbuch. S. 85. Ebenda, S. 86. Der satirische Bote. Moskau 1795, Teil IV, S. 4 6 ^ 8 , 51.
Anmerkungen 67 68 69 70
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89 90
91
92
435
Voltaire: Épitres, Satires... Londres 1781, S. 113. Dershawin, G . R . : Gedichte. Leningrad 1957, S. 328. Gogol, N . W.: Sämtl. Werke. Bd. 6, S. 16. Begitschew, D.: Die Familie Cholmski. Einige Züge der Sitten und Lebensweisen der Familien und der Alleinstehenden des russischen Adels. Moskau 1841, S. 172. Denkmäler des russischen Rechts. Sankt Petersburg. Ausg. 8, S. 4 5 9 - 4 6 0 . Ebenda, S. 461. Brodski, N . L.: „Eugen O n e g i n " . Roman von A. S. Puschkin. Moskau 1950. S. 239. Zitiert nach: Puschkin, A. S. Briefe. Bd. II, 1 8 2 6 - 1 8 3 0 . Moskau/Leningrad 1928, S. 185. Montesquieu, Ch.: D e r Geist der Gesetze. Sankt Petersburg 1900. Buch 1, Kap. V I I I . Strachow, N . : Briefwechsel der Mode, S. 46. Siehe: Ü b e r Duelle. - Moskauer monatl. Aufsätze 1781, Teil II. Siehe: Die Dekabristen. Materialien zu ihrer Charakteristik. Moskau 1907, S. 165. Puschkins Gespräche. Gesammelt von G . Gessen und Lew Modsalewski. Moskau 1929, S. 3 8 - 4 0 . Siehe: Dal, W. I.: Aufzeichnungen - Das russische Altertum, 1907, Nr. 10, S. 64, Bartenew, P. I.: Zur Bioaraphie Puschkins. Moskau 1885, Bd. II, S. 177. Tallemant des Réaux, Gideon: Bemerkenswerte Geschichten. Leningrad 1974, S. 159. Siehe darüber: Lotman, J.: Drei Notizen zu dem Problem „Puschkin und die französische Kultur". - Probleme der Puschkinforschung. Riga 1983. Stschegolew, P. E.: Duell und T o d Puschkins. Moskau 1935, S. 191. Durasow, W.: Der Duell-Kodex. 1908, S. 56. Siehe: Mémoires de J . Casanova de Seingalt écrits par lui-même. Paris M C M X X X I , v. X , p . 163. A. S. Gribojedow, sein Leben und sein Untergang in den Memoiren von Zeitgenossen. Leningrad 1929, S. 2 7 8 - 2 7 9 . Ebenda, S. 2 7 9 - 2 8 0 . Ebenda, S. 112. Bestushew (Marlinski), A. A.: Nacht auf dem Schiff. Novellen und Erzählungen. Moskau 1988, S. 20. Wir benutzen diese Ausgabe als die textologisch getreueste. Herzen, A.: Ges. Werke in 30 Bdn. Bd. 7, S. 206. Das Problem des Automatismus beschäftigte Puschkin sehr; siehe: J a k o b son, R.: Die Statue in der poetischen Mythologie Puschkins. - sowie in: J a kobson, R.: Arbeiten über die Poetik. Moskau 1987, S. 145-180. Siehe: Lotman, J . M.: Das Thema der Karten und des Kartenspiels in der russischen Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Gelehrte Blätter der Staatl. Tartuer Univers. 1975. Ausg. 365. Arbeiten zum Zeichensystem. Bd. V I I . Angaben sind aus dem Buch des Generalmajors I. Mikulin: Anleitung zur Durchführung von Angelegenheiten die Ehre in Offizierskreisen betreffend. Sankt Petersburg 1912, Teil 1, Tab. 1, S. 176-201.
436
Anmerkungen
93 Bestushew (Marlinski), A. A.: Nacht auf dem Schiff. Novellen und Erzählungen. S. 70-72. 94 Die Dekabristen. Chronik des Staatl. Literatur-Museums, S. 488. 95 Die Dekabristen. Materialien zu ihrer Charakteristik S. 165. 96 Siehe: Batjuschkow, K.: Gedichte. Leningrad 1936, S. 28-29; Tomaschewski, B.W.: Puschkin und Frankreich. Leningrad 1936, S. 107. 97 Ginsburg, L. J.: Über Lyrik. Moskau/Leningrad 1964, S. 18-19. 98 Siehe: Kazoknieks, M.: Studien zur Rezeption der Antike bei russischen Dichtern zu Beginn des 19. Jahrhunderts. München 1978, S. 73. 99 Wigel, F. F.: Aufzeichnungen. Moskau 1928, Bd. 1, S. 177-179. 100 Wrangel, N. N.: Geschichte der Skulptur. - In: Geschichte der russischen Kunst. Redakt. I. Grabar. B. 5. Moskau, S. 171. 101 Glinka, S. N.: Aufzeichnungen. Sankt Petersburg 1895, S. 61, 63. 102 Wrangel, N. N.: Geschichte der Skulptur. - In: Geschichte der russischen Kunst. Bd. 5, S. 171. 103 Sammlung der Russischen Kaiserlichen Historischen Gesellschaft. Bd. 5, S. 66. 104 Dawydow, D.: Aufsätze. Moskau 1962, S. 64. 105 Komarowski, E. F.: Aufzeichnungen. Sankt Petersburg 1914, S. 159, 165. 106 Dictionnaire critique et raisonné des étiquettes de la cour... Par M-me de Genlis, v 1, p. 18-19. 107 Feofan Prokopowitschs, des Erzbischofs von Nowgorod und seinem großen Umkreis und Vizepräsidenten des regierenden Synods... Worte und Reden. Teil 1, 1760, S. 158. 108 Dawydow, D.: Erfahrungen der Theorie des Partisanenkampfes. Moskau 1822, S. 83. 109 Die Erinnerungen der Bestushews. Moskau/Leningrad 1951, S. 36. 110 Grossman, L.: Puschkin in den Theatersesseln. Bilder russischer Szenen von 1817-1820. Leningrad 1926, S. 6. 111 Aksakow, S. T.: Ges. Werke. Bd. 3, S. 89. 112 Ebenda, S. 125-126. 113 Uber den Zusammenhang des bäuerlichen Lebens mit dem Zyklus der Natur - In: Uspenski, G. I.: Ges. Werke in 10 Bdn. Moskau 1956, Bd. 5, S. 120. 114 Aksakow, S. T.: Ges. Werke. Bd. 3, S. 89. 115 Predtetscheski, A.W.: Die Aufzeichnungen T. E. Bocks. - In: Die Dekabristen und ihre Zeit. Moskau/Leningrad 1951, S. 198. 116 Eidelman, N.: Lunin. Moskau 1970, S. 89. Siehe auch: Okun, S. B.: Der Dekabrist M. S. Lunin. Leningrad 1985, S. 13-14. 117 Satirische Dichter Ende des 18., Anfang des 19. Jahrhundert. Leningrad 1959, S. 173. 118 Schilder, N. K.: Der Kaiser Alexander der Erste, sein Leben und seine Regierungszeit. Sankt Petersburg 1897, Bd. III, S. 38. Auch: Russisches Archiv, 1871, S. 1131. 119 Ebenda, S. 38-39, 368. 120 Corneille : Oeuvre complètes. Ed. du Seuil, 1963, p. 226. 121 Zitiert nach: Chrestomatie der Geschichte des westeuropäischen Theaters. Moskau 1955. Bd. 2, S. 1029. In seinen Memoiren erinnert sich der Schau-
Anmerkungen
437
Spieler G'nast der Jüngere daran, daß, als bei einer Theaterprobe der Maschinist den Kopf aus den Kulissen steckte, „Goethe sofort donnerte: ,Herr G'nast, vermeiden Sie, diesen unpassenden Kopf aus der ersten Kulisse rechts zu stecken: Er fällt aus dem Rahmen meines Bildes'". (Ebenda, S. 1037). 122 Arapow, P.: Chronik des russischen Theaters. Sankt Petersburg 1861, S. 310. Schachowskoi benutzte den bekannten Theatereffekt seit jener Anekdote. Siehe das Gedicht W . L. Luschkins „Dem Fürsten P. A. W j a semski" (1815): Dann Haben alle Blicke des Künstlers Werk fixiert. „Das Porträt", so fand man, „ist ganz daneben. Unding, Asop, die Stirn gehörnt, die Nase lang! Des Hausherrn Pflicht: Er so Iis dem Feuer übergeben!" - „Was Pflicht! Mir wird vor solchen Kennern bang", (Sprach da, o Wunder, das Bild zu den Kennermienen): „Nicht ein Porträt, ich selber steh vor Ihnen!" (Poeten der Jahre 1790-1810, S. 680.) 123 Chrestomatie der Geschichte des westeuropäischen Theaters. Bd. 2, S. 1026. Die Positionierung rechts oder links steht auch in Beziehung zum Bild: Rechts meint rechts vom mit dem Gesicht zum Publikum stehenden Schauspieler aus gesehen, und umgekehrt. 124 Ebenda, S. 1029. 125 Stammbaum der Golowins, Herren des Dorfes Nowospask. Moskau 1847, S. 6 0 - 6 3 . 126 Annenkow, P.W.: A. S. Puschkin in der Alexandrinischen Epoche, 1 7 9 9 1826. Sankt Petersburg 1874, S. 18-19. 127 Karamsin, N . M.: Ausgew. Werke in 2 Bdn. Moskau/Leningrad 1964, Bd. 2, S. 191. 128 Ebenda, S. 192. 129 Etkind, E.G.: Gespräche über Verse. Moskau 1970, S. 141-142. 130 Kukulewitsch, A. M.: Die russische Idylle in N . I. Gneditschs „Fischer". Wissenschaftl. Blätter der Leningrader Staatl. Univers., Reihe Philolog. Wissenschaft, N r . 46, Ausg. 3. Leningrad 1939, S. 3 1 4 - 3 1 5 . A. M . Kukulewitsch war einer der begabtesten Schüler G . A. Gukowskis und I. I. T o l stois, er fiel im Herbst 1941 an der Front. 131 Batjuschkow, K. N . : Werke. Moskau/Leningrad 1934, S. 3 7 4 - 3 7 5 . 132 Ebenda, S. 3 7 3 - 3 7 5 . 133 Neplujew, I.I.: Aufzeichnungen. Sankt Petersburg 1893, S. 193. 134 Wjasemski, P.: Das alte Notizbuch. S. 201. 135 Radistschew, A. N . : Sämtl. Werke. Bd. 1, S. 183. 136 Genauer siehe: Lotman, J . L.: Quellen der Information Puschkins über Radistschew (1814-1822). - In: Puschkin und seine Zeit. Forschungen und Materialien. Leningrad 1962. 137 Radistschew, A. N . Sämtl. Werke. Bd. 1, S. 183-184. 138 Zitiert nach: Trefolew, L. N . Kurz vor dem T o d e verfaßtes Testament eines russischen Atheisten. - Historische Nachrichten, Jan. 1883, S. 225. 139 Russisches Archiv, 1876, Teil 3, S. 274. Siehe: Gukowski, G.: Abriß der russischen Literatur des 18. Jahrhunderts. Leningrad 1938, S. 8 2 - 8 3 .
438
Anmerkungen
140 141 142 143 144 145 146
Russisches Archiv, 1876, Teil 3, S. 276. Ebenda, S. 61-62. Glinka, S. N.: Aufzeichnungen. Sankt Petersburg 1895, S. 61. Ebenda, S. 61-62. Ebenda, S. 102,103. Dawydow, D.: Aufsätze. S. 248. Glinka, W. M.: Pomarnazki, A.W.: Die Kriegsgalerie im Winterpalais. Leningrad 1981, S. 167, 168. 147 Baratynski, E.: Ges. Gedichte. Bd. 1, S. 1338-1339.
DRITTER T E I L
1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20
21 22 23 24
25 26 27
Neplujew, 1.1.: Aufzeichnungen. Sankt Petersburg 1893, S. 1. Ebenda, S. 18. Ebenda, S. 39-40. Ebenda, S. 98-99. Lomonossow, M. W.: Sämtl. Werke. Bd. 8, S. 779. Polozki, S.: Ausgew. Werke. Moskau/Leningrad 1953, S. 18. Lomonossow, M.W.: Sämtl. Werke. Bd. 8, S. 284. Dershawin, G. R.: Gedichte. S. 212-213. Pososchkow, I. T.: Buch über Armut und Reichtum und andere Arbeiten. S. 94-95. Neplujew, 1.1.: Aufzeichnungen. S. 103. Ebenda, S. 106-107. Ebenda, S. 103. Ebenda, S. 109-110. Ebenda, S. 112-113. Ebenda, S. 130. Ebenda, S. 134. Ebenda, S. 145. Rylejew, K.: Sämtl. Gedichte. S. 310. Neplujew, 1.1.: Aufzeichnungen. S. 197. Siehe Kapitel „Das stürmische Jahrhundert" in: Pantschenko, A.: Die russische Kultur am Vorabend der petrinischen Reformen. Leningrad 1984, S. 3-36. Solowjew, S. M.: Die Geschichte Rußlands in alter Zeit. Buch 3, Sankt Petersburg, o.J., S. 1312. Tschistowitsch, I. A.: Feofan Prokopowitsch und seine Zeit. Sankt Petersburg 1868, S. 260. Ebenda, S. 261. Siehe: Beschreibung der Publikationen der bürgerlichen Presse. Januar 1725. Moskau/Leningrad 1955, S. 125-126; und: Beschreibung der Publikationen, gedruckt unter Peter I. Offener Katalog. Leningrad 1972. Tschistowitsch, I.A.: Feofan Prokopowitsch und seine Zeit. S. 264-265. Ebenda, S. 262-263. Ebenda, S. 263.
Anmerkungen 28 29 30 31 32 33 34 35 36
37 38 39 40 41 42 43
44 45 46 47 48 49 50 51 52 53 54 55 56
439
Sendschreiben Iwans des Schrecklichen. Moskau/Leningrad 1851, S. 162— 163. Tschistowitsch, I. A.: Feofan Prokopowitsch und seine Zeit. S. 6 8 3 - 6 8 7 . Ebenda, S. 691. Ebenda, S. 692. Ebenda, S. 694. Wjasemski, P.: Das alte Notizbuch. S. 194. Dershawin, G . R.: Gedichte. S. 9 8 - 9 9 . Pyljajew, M.I.: Bemerkenswerte Dummköpfe und Originale. Moskau 1890, S. 2 5 - 2 6 . Siehe Kapitel „Die Rolle Radistschews im Zusammenschluß der progressiven Kräfte" in: Babkin, D . S.: A. N . Radistschew. Literarisch-gesellschaftliche Tätigkeit. Moskau/Leningrad 1966. Schtorm, F.: D e r geheime Radistschew. Moskau 1965. 2. Ausg. Moskau 1968. Iswestija vom 18. Sept. 1965. Lotman, J . M.: In der Schar der Verwandten. Gelehrte Blätter der Gorkier Staad. Universität. Ausg. 78, 1976, S. 4 9 1 - 5 0 5 . Iwanow, F . F.: Werke und Ubersetzungen in 4 Bdn. Moskau 1824. S. 8 8 - 8 9 der ersten Paginierung. Radistschew, A. A.: Sämtl. Werke. Bd. 1, S. 90. Ebenda,. Ebenda, Bd. 2, S. 2 9 2 - 2 9 3 , 295. Hier hat er den M o n o l o g Catos in der gleichnamigen Tragödie Addisons im Blick, in dem Cato den Selbstmord als den Gipfelpunkt des Triumphs der Freiheit über die Sklaverei charakterisiert. Biographie A. N . Radistschews, verfaßt von seinen Söhnen. Moskau/Leningrad 1959, S. 46. Ebenda, S. 98. Petruschewski, A.T.: Der Generalissimus Fürst Suworow. Sankt Petersburg 1884, Bd. III, S. 301. Ebenda, S. 118. Suworow, A.W.: Briefe. Moskau 1987, S. 76. Ebenda, S. 118. Siehe: Pantschenko,A. M.: Lachen im Schauspiel. - In: Lachen in der alten Rus. Leningrad 1984, S. 7 2 - 1 5 3 . Fuks, E.: Anekdoten des italienischen Fürsten, Grafen Suworow von R y m nik. Sankt Petersburg 1900. S. 2 0 - 2 1 . Ebenda, S. 30. Ebenda, S. 7 8 - 7 9 . Jenseitige Aufzeichnungen des Fürsten N . S. Golizyn aus den Legenden seines Großvaters Fürst A. N . Golizyn. Sankt Petersburg, 1859, S. 19. Fuks, E.: Anekdoten des italienischen Fürsten, S. 10-11. Der militärischen Redekunst erster Teil, enthaltend die allgemeine Anrede. Verfaßt vom ordentlichen Professor der Sankt Petersburger Universität, Jakow Tolmatschew. Sankt Petersburg 1852, S. 47. Die originale Stilistik dieses Briefes schockierte vermutlich die Militärhistoriker von E. Fuks bis zu den Redakteuren der vierbändigen „Dokumentensammlung" 1 9 5 0 - 1 9 5 2
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57 58 59 60 61 62 63 64 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74 75
76 77 78 79 80 81 82 83
84 85
86 87
Anmerkungen und zu W.S. Lopatin (1987). Der Brief ist nicht in einer der Ausgaben enthalten. Indessen stellt er ein ausnehmend markantes Dokument der Persönlichkeit und der Stilistik des Feldherrn dar. Ebenda, S. 49-50. Petruschewski, A.T.: Der Generalissimus Fürst Suworow. Bd. I, S. 291. Suworow, A.W.: Briefe. S. 178. Ebenda, S. 179,185. Ebenda, S. 122. Das Leben des Protopopen Awwakum... Moskau 1960, Bd. I, S. 86. Suworow, A.W.: Briefe. S. 254. Der Sinn der Worte Suworows ist so zu verstehen: „Das Ende der Kindheit Nataschas ist ihr Schiffbruch". Ebenda, S. 250. Ebenda, S. 395-396. Literarisches Erbe. Bd. 94. S. 255. Fuks, E.: Anekdoten des italienischen Fürsten. S. 14. Ebenda, 28-29. Suworow, A.W.: Briefe. S. 318. Ebenda, S. 319. Ebenda, S. 7. Fonwisin, D. I.: Ges. Werke. Bd. 2, S. 40-78. Lopuchina, A.W.: Erinnerungen. 1758-1828. Sankt Petersburg 1914, S. X . (Vorwort von B. L. Modsalewski). Saoserski, A. I.: Der Feldmarschall B. P. Scheremetjew. Moskau 1989, S. 12. Aufzeichnungen des Herzogs de Lira... Botschafter des spanischen Königs, 1727-1730. Sankt Petersburg 1847. S. 192-193. Die in der Anlage dieses Buches enthaltenen Werke Feofan Prokopowitschs haben wir zitiert. Ebenda, S. 116. Ebenda, S. 120. Korsakow, D. A.: Aus dem Leben russischer Staatsmänner des 18. Jahrhunderts. Kasan 1891, S. 108. Stscherbatow, M. M: Werke. Sankt Petersburg 1898, Bd. 2, S. 178-179. Aufzeichnungen des Herzogs de Lira... Alle Daten der „Aufzeichnungen" nach westeuropäischem Kalender. Ebenda, S. 78. Korsakow, D. A.: Aus dem Leben russischer Staatsmänner des 18. Jahrhunderts. S. 226. Dolgorukaja, N. B.: Aufzeichnungen. Sankt Petersburg 1889. S. 12-13. (Weitere Hinweise auf diese Ausgabe sind im Text auf den entsprechenden Seiten angegeben). Aufzeichnungen des Herzogs de Lira, S. 190. Interessante Skizze zur Gestalt der Bojarin Morosowa in: Pantschenko, A. M.: Die Bojarin Morosowa - Symbol und Mythos. - Und: Erzählung über die Bojarin Morosowa. Moskau 1979. Kulibin, S.: Karamyschew. - Russisches biographisches Lexikon. Sankt Petersburg 1897. Band „ I b a k - Kljutscharew". S. 514-515. Labsina, A. E.: Erinnerungen. Sankt Petersburg 1914, (Weitere Hinweise auf diese Ausgabe sind im Text auf den entsprechenden Seiten angegeben).
Anmerkungen
441
88 Aus der zahlreichen Literatur über den Krieg von 1812 sind die auf reichhaltigen Materialien und ansprechender Exaktheit basierenden Analysen in dem kürzlich erschienenen Buch Troizkis hervorzuheben: Troizki, N . : 1812: Das große Jahr Rußlands. Moskau 1988. 89 Siehe: Tartakowski, A. G.: Bulletin M. F. O r l o w s über die Reise zur französischen Armee während des Krieges von 1812. - Jahrbuch alter Handschriften für 1961. Moskau 1962. 90 Siehe: Der Zwerg des Günstlings: Lebensgeschichte Iwan Andrejewitsch Jakubowskis, Zwerg des berühmten Fürsten Piaton Alexandrowitsch Subow, verfaßt von ihm selbst. München 1968. S. 9 7 - 9 8 . 91 Polewoi, N . : Materialien über die Geschichte der russischen Literatur und Publizistik in den dreißiger Jahren. Leningrad 1934, S. 251. 92 Siehe: Troizki, N.: 1812 - Das große Jahr Rußlands. S. 5 0 - 5 1 . 93 Dawydow, D.: Werke. S. 320. 94 Tagebuch Alexander Tschitscherins: 1 8 1 2 - 1 8 1 3 . Moskau 1966, S. 14. (Weitere Hinweise auf diese Ausgabe im Text auf den entsprechenden Seiten). 95 Poeten der Jahre 1790-1810. S. 6 7 3 - 6 7 4 . 96 Die Briefe M . A. Karamsins an I. I. Dmitrijew. Sankt Petersburg 1866, S. 1 6 4 , 1 6 5 . 97 Ebenda, S. 165-166. 98 Wigel, F. F.: Aufzeichnungen. Moskau 1978, Bd. 1, S. 2 0 - 2 1 . 99 Poeten des Radistschew-Kreises. Freie Gesellschaft der Liebhaber der Literatur, der Wissenschaft und der Künste. (Leningrad) 1935, S. 451. Die abgeschriebene Krylowsche Fabel „Der Wolf in der Hundehütte" wurde auch in der Periode der Tartinsker Lager vorgelesen und drückte eher Zweifel als Zuversicht aus. 100 Wigel, F. F.: Aufzeichnungen. Bd. 2, S. 2 1 - 2 2 . 101 Der Dekabristenaufstand. Moskau/Leningrad 1927. Bd. 4, S. 179. 102 Siehe: Lotman, J . L.: P. A. Wjasemski und die Dekabristenbewegung. Gelehrte Bl. der Tartuer Staad. Universität. Ausg. 98, 1968, S. 134. 103 Sawalischin D . I.: Aufzeichnungen. Sankt Petersburg 1908, S. 10. 104 Poeten der Jahre 1790-1810. S. 537. 105 Karamsin, N . M.: Sämtl. Gedichte. Moskau/Leningrad, S. 2 4 2 - 2 4 3 . 106 Wjasemski, P. A.: Das alte Notizbuch. S. 105. 107 Tschechow, A. P.: Werke. Moskau 1977, S. 88. 108 Basanow, W.: Freie Gesellschaft der Liebhaber der russischen Literatur, der Wissenschaft und der Künste. Petrosawodsk 1949, S. 16. 109 Sawalischin, D . I.: Aufzeichnungen. S. 86. 110 Briefe P. A. Katenins an N . I. Bachtin. (Materialien zur Geschichte der russischen Literatur der 20er und 30er Jahre des 19. Jahrnunderts). Sankt Petersburg 1911, S. 77. 111 Ebenda, S. 31. 112 Ebenda, S. 22. 113 Nekrassow, N . A.: Sämtl. Werke und Briefe in 15 Bdn. Leningrad 1981, Bd. 1 , S . 107-108. 114 Tschaadajew, P. J.: Werke und Briefe. Moskau 1913, Bd. 1, S. 3^1. (Das O r i ginal in französischer Sprache).
442
Anmerkungen
115 (Shicharew, M.): Pjotr Jakowlewitsch Tschaadajew. Aus den Erinnerungen eines Zeitgenossen. - Europäischer Bote 1871, Nr. 7, S. 203. 116 Tynjanow, J . N.: Das Sujet zu „Verstand schafft Leiden". - In: Literarisches Erbe. Bd. 4 7 ^ 8 , Moskau 1946, S. 168-171. 117 Gribojedow, A. S.: Sämtl. Werke. Sankt Petersburg 1911, Bd. 1, S. 256. 118 Siehe: Zjawlowski, M. A.: Aufsätze über Puschkin. Moskau 1962, S. 28-58. 119 Schilder, N. K.: Der Kaiser Alexander der Erste, sein Leben und seine Regierungszeit. Bd. III, S. 48. 120 Herzen, A. I.: Ges. Werke. Bd. 16, S. 38-39. Die Lesung fand wahrscheinlich 1803 statt, als Schiller den „Don Garlos" durch Wolzogen nach Petersburg an die Kaiserin Maria Fjodorowna geschickt hatte. Am 27. September 1803 bestätigte Wolzogen den Erhalt. 121 Unbekannte Werke und Briefwechsel N. M. Karamsins. Teil I. Sankt Petersburg 1862, S. 9.( Das Original in französischer Sprache). 122 Ebenda, S. 11-12. 123 Basargin, N.W.: Aufzeichnungen. S. 35. 124 Rylejew, K. F.: Sämtl. Gedichte. Leningrad 1971, S. 168, 214. 125 Basanow, W.: Die Gelehrtenrepublik. Moskau/Leningrad 1964, S. 267. 126 Gerschenson, M. O.: Geschichte des jungen Rußland. Petrograd 1923, S. 70. 127 Ebenda,. 128 Wolkonskaja, M. N.: Aufzeichnungen. Sankt Petersburg 1914, S. 57. 129 Predtetscheski, A.W.: Die Aufzeichnungen T. E. Bocks. - In: Die Dekabristen und ihre Zeit. S. 193. 130 Belogolowy, N. A.: Erinnerungen und andere Aufsätze. Moskau 1898, S. 70. 131 Der Zwerg des Günstlings: Lebensgschichte Iwans Andrejewitsch Jakubowskis. S. 62. 132 Wjasemski, P. A.: Ausgew. Gedichte. Moskau/Leningrad 1935, S. 141 133 Siehe: Stschegolew, P. E.: Puschkin. Skizzen. Sankt Petersburg 1912 (Kapitel „Grüne Lampe"). - Und Stschegolew, P. E.: Leben und Schaffen Puschkins. Moskau/Leningrad 1931. 134 Modsalewski, B. L.: Zur Geschichte der „Grünen Lampe". - In: Die Dekabristen und ihre Zeit. Bd. 1, Moskau 1928. 135 Netschkina, M.W.: Die Dekabristenbewegung. Moskau 1955, Bd. 1, S. 239-246. 136 Tomaschewski, B. Puschkin. Bd. 1 (1813-1824) Moskau/Leningrad 1956, S. 212. 137 Ebenda, S. 197. 138 Die Tagebücher N. Turgenjews. Bd. III. - In: Archiv der Brüder Turgenjew, Ausg. 5. Petrograd 1921, S. 259. 139 Tomaschewski, B.: Puschkin. B. 1, S. 206. 140 Pustschin, 1.1.: Aufzeichnungen über Puschkin. Briefe. (Moskau) 1956. S. 81. 141 Grossman, L.: Puschkin. Moskau 1958, S. 143. 142 Der Dekabrist N. I. Turgenjew. Briefe an den Bruder S. I. Turgenjew. S. 208. 143 Arsamas und die Protokolle des Arsamas. Leningrad 1933, S. 206. 144 Grumm-Grshimailo, A. G./Sorokin, W.W.: „Gesellschaft für dröhnendes Gelächter": Zur Geschichte der „Freien Gesellschaft Wohlfahrtsbund". In: Die Dekabristen in Moskau. Moskau 1963, S. 148.
Anmerkungen
443
145 D e r Dekabrist Murawjew-Apostol. Erinnerungen und Briefe. Petrograd 1922, S. 85. 146 Russisches Archiv. 1986. B. 7, Spalte 1255. 147 Die Erinnerungen der Bestushews. 1951, S. 53. 148 Sawalischin, D . I.: Aufzeichnungen. S. 40. 149 Slowzow, P. A.: Sendschreiben an M. M. Speranski. - In: Poeten der Jahre 1790-1810. S. 209. 150 Pypin, A. N.: Gesellschaftliche Bewegungen in Rußland unter Alexander I. Sankt Petersburg 1908, S. 567. 151 Dawydow, D.: Werke, S. 102. 152 Sawalischin, D. I.: Aufzeichnungen. S. 41. 153 Erzählungen über den Rylejew des Kuriers der Zeitschrift „Polarstern". In: Literarisches Erbe, Bd. 9, S. 254. 154 Sawalischin, D. I.: Aufzeichnungen. S. 41. 155 Rylejew, K.: Sämtl. Gedichte. S. 309. 156 Semewski, W. I.: Die politischen und gesellschaftlichen Ideen der Dekabristen. Moskau 1909, S. 315. 157 Murjanow, M. F.: Über Puschkins „Bacchisches Lied". - Russische Literatur 1971, N r . 3, S. 77-81. 158 Siehe: Achmatowa, A.: Werke in 2 Bdn. Moskau 1986, Bd. 2, S. 119-126. 159 Die Aufzeichnungen N. N . Murawjews. - Russisches Archiv, 1885, Buch 9, S. 26. - Siehe: Tschernow, S. N.: An den Quellen der russischen Befreiungsbewegung. Saratow 1960, S. 24-25; Lopatin, J.: Die Tartinsker Periode des Vaterländischen Krieges 1812 und die Entwicklung der russischen Befreiungsideen. - Gelehrte Bl. der Tartuer Staatlichen Universität, Ausg. 139, 1963, S. 15-17. 160 Abteilung für Manuskripte, Staatliche Bibliothek, 95 (Durnowo), 9533, Bl. 19. Auszug aus der russischen maschinegeschriebenen Manuskriptabschrift, vermutlich für „Informationsblatt der Förderer der Geschichte" Staatliches Archiv, Abteilung für Manuskripte, 9 5 , 1 3 3 7 , 1, 71. 161 Staatliches Archiv, Abteilung für Manuskripte, 95, 9536, Bl. 7. 162 Siehe: Der russische Invalide. 4. Dez. 1828. 163 Sawalischin, D. I.: Aufzeichnungen. S. 46. 164 Die Erinnerungen der Bestushews. S. 9 - 1 1 . 165 Siehe: Stschukinsker Sammlung. Bd. IV. S. 39—40. - Russisches Archiv, 1905, I X , S. 132-133. - M. K. Asadowski. Die Erinnerungen der Bestushews. S. 711-712. 166 Erinnerungen an die Dekabristen. Briefe W. A. Oleninas an P. I. Bartenew. - In: Die Dekabristen. Chroniken des Staad. Literaturmuseums. Buch 3. Moskau 1938, S. 485. 167 Tolstaja-Suchotina, T. L.: Neben dem Vater. - Neue Zeit, 1973, Nr. 12, S. 194. 168 Fet, A.: Meine Erinnerungen. Teil 1, Moskau 1890, S. IV. 169 Dawydow, D.: Erfahrungen der Theorie des Partisanenkriegs. S. 26, 83. 170 Zitiert nach: Selinski, W.: Die russische kritische Literatur über die Werke A. S. Puschkins. Teil 1. Moskau 1887, S. 68.
444
Anmerkungen
STATT EINES EPILOGS: „ZWISCHEN ZWIEFACHEM ABGRUND..."
1 2 3 4
Dershawin, G . R.: Gedichte. S. 107. Baratynski, E.: Sämtl. Gedichte. Moskau 1936, Ed. 1, S. 209-210. Kazuragawa, Chosju: Kurze Berichte über Reisen in die Nördlichen G e wässer. Moskau 1978, S. 263. Ebenda, S. 207.
Hinweis zur Umschrift der russischen Namen und Begriffe: Für die Namen und Begriffe wurde die eingebürgerte Schreibweise und nicht die philologisch-wissenschaftliche Transkription benutzt.
Zu den Nachdichtungen: Für Puschkins „Eugen Onegin" wurde die noch immer bewährte Nachdichtung von Theodor Commichau (1916) herangezogen, ausgenommen einige Zeilen, die wörtlichen Bezug zum Lotmanschen Kontext haben. Die weiteren Nachdichtungen stammen (in alphabetischer Reihenfolge) von Heinz Czechowski, Roland Erb, Johannes von Guenther, Gennadi E . Kagan, Hasso Laudon.
PERSONENREGISTER
Achmatowa, Anna A. (1889-1966): Lyrikerin. 409, 415 Addison, Joseph (1672-1719): engl. Schriftsteller. 233 Aksakow, Sergej T. (1791-1859): Schriftsteller. 46, 199, 200, 203 Alexander I. (1777-1825): Zar. 32, 36, 40, 71, 72, 82, 83, 98, 105, 111, 139, 140, 143,145,196, 202,204, 206, 209, 210, 211, 212,227, 240, 311, 334, 342, 345, 346, 360, 377, 380, 382, 383, 384, 385, 386, 387, 392, 409, 419 Alexander II. (1818-1881): Zar. 36 Alexander (der Große) von Macedonien (336-323 v.u.Ztr.). 242 Alexandra Fjodorowna: Großfürstin, Gattin Alexanders I. 98 Alexej Michailowitsch (1629-1676): russischer Zar. 316 Alexej (1690-1718): Zarewitsch, Sohn Peters I., 1718 hingerichtet. 270, 271, 319 Alphons I. (1105-1134): König von Aragonien und Navarra. 255 Andronikow, Irakli L. (1908-1986): Literaturwissenschaftler. 285, 286 Anna Iwanowna (Ioannowna), (1693-1740): Zarin. 48, 251, 259, 270, 315, 319, 321, 322, 323, 324, 325, 329 Annenkow, P.W. (1812 od. 13-1887): Kritiker und Schriftsteller. 221, 397, 399 Apraksin, Fjodor Matwejewitsch Graf (1661-1728): Generaladmiral, Mitstreiter Peters I. 257 Araktschejew, Alexej A. Graf (1769-1834): russ. Kriegsminister 1808-1810, Günstling Alexanders I. 200, 244, 334, 346, 373, 375, 376, 384, 386 Arbusow, Alexej: einer der russ. Marinekadetten 1718 in Italien. 252 Aristides ( 5 9 0 ^ 6 7 v.u.Ztr.): griech. Staatsmann und Feldherr. 66, 199, 377 Asenkowa, Warwara N. (1817-1841): Schauspielerin, Tochter der ber. Schauspielerin A.E. Asenkowa. 216 August II. (der Starke), (1670-1733): Kurfürst von Sachsen. 316 Augustinus, Aurelius (354—430 v.u. Ztr.): Kirchenlehrer. 236 Augustus, Gaius Julius Cäsar Octavianus (63 v.d.Z.-14 v.u.Ztr.): röm. Kaiser. 408 Awramow, Michail Petrowitsch (1681-1752): erster Direktor der Petersburger Druckerei. 262-275, 326 Awwakum, Petrowitsch (1620-1682): russ. Geistlicher (Protopope). 269, 305, 316,317,329 Babkin, D.S.: Literaturwissenschaftler. 280, 285 Bachtin, Nikolai I. (1796-1855): Kritiker, Verleger. 376, 377 Balaschow, A.D. (1770-1837): Staatsmann. 210, 419 Balzac, Honore de (1799-1850): frz. Schriftsteller. 5, 71, 149 Bantysch-Kamenski, D.N. (1788-1850): Historiker. 27 Bantysch-Kamenski, N.N. (1737-1844): Historiograph. 237, 238, 239 Baratynski, Jewgeni A. (1800-1844) Dichter. 70, 84, 216, 248, 249, 398, 425 Barbey d'Aurevilly, Jules (1808-1889): frz. Schriftsteller. 142 Barclay de Tolly, M.B. (1761-1818): Feldmarschall. 36, 245, 357 Bartenew, Pjotr I. (1829-1912): Historiker. 221, 397
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Personenregister
Baschilow, A.A. (1. Hälfte d. 19. Jhdts.): Schauspieler. 200 Bassargin, Nikolai Wassiljewitsch (1799-1861): Dekabrist. 389 Bassargina, geb. Fürstin Mestscherskaja, Gattin N.W. Bassargins. 389 Batenkow, Gawril Stepanowitsch (1793-1863): Dekabrist, Oberstleutnant. 375, 376, 405 Batjuschkow, Konstantin N. (1796-1869) Dichter. 74, 221, 222, 223, 224, 388, 400,415 Begitschew, Dmitri N. (1786-1855): Schriftsteller. 165, 171 Belinski, W.G. (1811-1848): Literaturkritiker. 60, 97, 98, 260, 314, 343, 420 Belogolowi, N.A. (1834-1895): Staatsmann, Arzt. 393, 423 Bely, Andrej, eigtl. B.N. Bugajew (1880-1934): Schriftsteller. 375 Benckendorff, A.Chr. Graf (1783-1844): General, Chef des Gendarmenkorps. 59, 74, 153, 362 Bennigsen, L.L. Graf (1745-1826): General. 36, 345 Beranger, Pierre J. de (1780-1857): frz. Dichter. 221 Bering, Vitus J. (1680-1741): Seeoffizier, Leiter der „Großen Nördlichen Expedition". 272 Bestushew, Alexander (1797-1837): Dekabrist. 187, 189, 366, 370, 409, 417 Bestushew-Marlinski, A.A. (1797-1837): Schriftsteller, Dekabrist. 77 Bestushew, Michail (1800-1871): Dekabrist. 404, 405, 417 Bestushew, Nikolai (1791-1855): Dekabrist. 199, 417, 420 Bestushew, Pjotr (1808-1840): Dekabrist. 417 Bestushew-Rjumin, M.P. (1803-1826): Dekabrist. 1826 hingerichtet. 424 Bezkoi, I.I.: Staatsmann i.d. Epoche Katharinas II. 81, 83, 85, 86 Biron, E.J. (1690-1772): Staatsmann. 218 Blok, A.A. (1880-1921): Dichter. 7, 78 Bludow, D.N. (1785-1864): Staatsmann. 143, 369 Bobristschew-Puschkin, Nikolai (1800-1871): Dekabrist. 417 Bobristschew-Puschkin, Pawel (1802-1865): Dekabrist. 417 Bock, Timofej von : russ. Diplomat z.Zt. d. Dekabristen. 105, 206, 392 Bogdanowitsch, I.F. (1743-1803): Dichter. 427 Bolotnikow, I.I. (?- 1608): Anführer eines Bauernaufstandes. 18 Bolotow, A.T. (1738-1833) Naturforscher, Schriftsteller. 80 Borisow, Andrej (1798-1854): Dekabrist. 417 Borisow, Pjotr (1800-1854): Dekabrist. 417 Borowikowski, W.L. (1757-1825): Maler. 54 Bouffiers, Stanislas, Chevalier de (1738-1815): frz Philosoph. 242 Bour, R.Ch. (1667-1717): General. 315 Brjus, Jakow W. (1670-1735): Staatsmann, Generalfeldmarschall. 266, 267, 315 Broglio, S.F. Graf (1799-1820er Jahre): Teilnehmer a.d. griech. Befreiungsbewegung. 351 Brüllow, Karl P. (1799-1852): Maler. 215 Brutus, Marcus Junius (85-42 v.u.Zt.): röm. Senator, an der Ermordung Cäsars beteiligt. 140,199, 380, 383, 387, 396, 412 Bulgakow, M.A. (1891-1940): Schriftsteller. 191,198 Bulgarin, F.W. (1789-1859): Schriftsteller u. Verleger. 153 Bulwer-Lytton, Edward Baron (1803-1873): engl. Schriftsteller. 9,131, 133,135, 185, 186
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Bunin, I.A. (1870-1953): Schriftsteller. 62 Buturlin, Iwan I. (1661-1738): General en chef. 127 Buturlin, M.D. Graf (1807-1876): Staatsmann. 104, 105 Byron, George Gordon Lord (1788-1824): engl. Dichter 70, 131, 132, 135, 142, 198, 279, 378, 379 Cäsar, Gajus Julius (100-44 v.u.Ztr.): röm. Staatsmann, Feldherr. 230, 242, 293, 299, 377, 380 Camoes, Luis de (1524/25-1580): portugies. Dichter. 360 Casanova, Giacomo (1725-1798): ital. Schriftsteller, Abenteurer. 183 Cato d. Jüngere (95^16 v.u.Ztr.): röm. Republikaner. 66, 194, 195, 199, 233, 240, 2 4 1 , 2 4 2 , 2 8 9 , 3 7 7 , 396 Cervantes Saavedra, Miguel de (1547-1616): span. Dichter. 297 Cheraskow, M.M. (1733-1807): Schriftsteller. 57, 335, 336, 337, 343 Chitrowo, Jelisaweta Michailowna (1783-1839): Tochter Kutusows. 104, 388 Chwostow, D.I. Graf (1757-1835): Dichter, „Vielschreiber". 230, 306, 309, 311 Cicero, Marcus Tullius (106-43 v.u.Zt): röm. Staatsmann u. Redner. 299 Cincinnatus, L. Quintus (um 460 v.u.Zt): röm. Konsul u. Feldherr. 194, 241 Claudius, Tiberius C. Nero Germanicus (10-54): röm. Kaiser. 77 Condorcet, Antoine Marquis de (1743-1794): frz. Philosoph, Mathematiker. 281 Constant de Rebecque, H.-B. (1767-1830): frz. Schriftsteller. 73, 164, 202 D'Anthès, Georges-Ch. (1812-1825): frz. Offizier, Adoptivsohn d. niederländ. Gesandten Baron Heeckeren. Nach dem Duell mit Puschkin 1837 aus Rußland ausgewiesen. 181,182, 183 D'Archiac, Auguste (1811-1847): frz. Attaché in Petersburg. Sekundant D'Anthes' beim Duell mit Puschkin. 184 Dansas, Boris K. (1799-1868): Moskauer Beamter, Theaterliebhaber. 200 Dansas, K.K. (1801-1870): Puschkins Sekundant beim Duell mit D'Anthès. 184 Dante Alighieri (1265-1321): ital. Dichter. 79, 212, 309 Daschkow, Dmitri Wassiljewitsch (1788-1839): Diplomat. 143 Daschkowa, Jekaterina R. (1744-1810): unter Katharina II. Direktorin der Petersburger Akademie der Wissenschaften. 93 Davout, Louis Nicolas (1770-1823): frz. Marschall. 419 Dawydow, Denis W. (1792-1855): General u. Dichter, organisierte 1812 den Partisanenkrieg. 172, 173,196, 198, 242, 349, 350, 393, 400, 410, 414, 424 Delwig, Anton A. Baron (1798-1831): Dichter, Freund Puschkins. 62, 104, 105, 137, 139, 249, 367, 368, 369, 370 Dershawin, Gawril R. (1743-1816): Dichter u. Staatsmann. 13, 45, 112, 150, 192, 222, 226, 227, 228, 230, 255, 277, 312, 313, 425 Descartes, René (lat. Cartesius), (1596-1650): frz. Philosoph u. Mathematiker. 144 Desnizki (Strojew), (1878-1958): Sprach- u. Literaturwissenschaftler. 285 Diderot, Denis (1713-1784): frz. Philosoph, Enzyklopädist. 242, 280 Dmitrijew, Iwan I. (1760-1837): russ. Dichter. 359, 360 Dmitrijew-Mamonow, A.M. (1758-1803): Günstling Katharinas II. 46 Dmitrijew-Mamonow, M.A. Graf (1790-1863): Memoirenverfasser. 361, 403, 409,414,415
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Dobroljubow, Nikolai A. (1836-1861): Kritiker, Publizist. 199 Dolgorukaja (geb. Scheremetjewa), Natalja Borisowna (1714-1771): Gattin I.A. Dolgorukis. 275, 314, 317, 320, 321, 322, 324, 325, 326, 327, 328, 329, 389, 390 Dolgoruki, Iwan Alexejewitsch Fürst (1708-1739): Günstling Peters I. 258, 314, 317, 318, 319, 320, 322, 323, 324, 327, 328, 329, 390 Dolgoruki, Wassili Lukitsch Fürst (ca. 1670-1739): Diplomat. 251, 324 Dolgorukow, Wassili A. Fürst (1804-1868): Staatsmann. 276, 373 Dostojewski, Fjodor M. (1821-1888): Schriftsteller. 8, 16, 36, 136, 162, 166, 168, 196, 235, 279, 286, 314, 373, 375, 423 Durowa, Nadeshda A. (1783-1866): Schriftstellerin, erster weibl. Offizier in Rußland. 49, 51 Eisenstein, S.M. (1898-1948): Filmregisseur, Kinotheoretiker. 207, 217 Elisabeth I./Jelisaweta Petrowna (1709-1762): russ. Kaiserin. 43, 48, 50,106,127, 192, 259, 260, 261,323 Engelhardt, W.W. Graf (1785-1837). 107 Ermolow/Jermolow, Alexej P. (1777-1861): General. 309 Eropkina/Jeropkina, Nadesda M. (1808-1895): Bekannte Puschkins. 134, 135 Etkind, E.G. (geb. 1922): Philologe, Literaturwissenschaftler. 222 Euripides (um 460—406 v.u. Ztr.): griech. Tragödiendichter. 41 Ewdokia/Jewdokija Fjodorowna (1669-1731): 1. Gattin Peters I. 49 Fabius, Quintus F. Maximus Verrucosus, gen. Cunctator (275-203 v.u.Ztr.): röm. Konsul und Feldherr. 223 Falconet, Etienne M. (1716-1791): frz. Bildhauer. 340 Fenelon, Francois (1651-1715): frz. Theologe, Schriftsteller. 80 Fet (Schenschin), A.A. (1820-1882): Dichter. 165, 424 Flaubert, Gustave (1821-1880): frz. Schriftsteller. 5 Fontenelle, Bernarde (1657-1757): frz. Schriftsteller. 273 Fonwisin, D.I. (1744 od. 45-1792): Schriftsteller, Aufklärer. 13,24, 48, 50, 80, 95, 112, 129, 257, 2 6 0 , 3 1 3 , 3 1 4 , 403 Fonwisin, M.A. (1788-1854): Generalmajor, Dekabrist. 400 Fuks, E.B. (1762-1829): Historiker. 295, 296, 299, 309, 310, 312 Garrick, David (1717-1779): engl. Schauspieler. Dramatiker. 299 Genlis, Stephanie F. Gräfin de (1746-1830): frz. Schriftstellerin. 99, 100, 146, 197 Ginsburg, L.J. (1902-1991): Schriftstellerin. Literaturwissenschaftlerin. 193 Glinka, Fjodor N. (1786-1880): Dichter. Dekabrist. Bruder v. S.N. 36, 196, 373, 377, 397, 399, 402 Glinka, Sergej N. (1775-1847): Schriftsteller. 194,195,196, 241, 242, 347, 389 Gluschkowski, A.P. (1793-1870): Ballettmeister, Tänzer. 96 Gneditsch, N.I. (1784-1833): Dichter, Übersetzer. 222 Goethe, Wolfgang von (1749-1832): Dichter. Schriftsteller. 99,194, 215, 217, 218, 232, 354, 371 Gogol, Nikolai W. (1809-1852): Dichter. 6 , 1 3 , 1 8 , 25,28, 33, 34, 36, 37,109,156, 157, 162, 170, 172, 196, 216, 306, 372 Golikow, I.I. (1735-1801): Historiker. 254, 256, 262, 271
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Golizyn, Alexander Nikolajewitsch Fürst (1773-1844): Staatsmann. 144, 145, 210, 342, 385 Golizyn, Boris A. Fürst (1654-1714): Staatsmann. 263 Golizyn, Dmitri Michailowitsch Fürst (1665-1735): Staatsmann. 321 Golizyn, N.S. Fürst (1796-1863): Staatsmann, Freund Puschkins. 27, 298 Golowkin, G.I. Graf (1660-1734): Staatsmann. 257 Gontscharow, I.A. (1812-1891): Schriftsteller. 110, 379 Gontscharowa, Natalja N . : Siehe Puschkina. Gortschakow, W.P. (1800-1867): Offizier, Freund Puschkins. 178 Gribojedow, A.S. (1795-1829): Schriftsteller. 69, 115, 136, 158,182,184, 186,187, 246, 347, 373, 383, 399, 403, 405, 420 Gukowski, G.A.: Historiker. 194, 233, 280, 285 Heine, Heinrich (1797-1856): Schriftsteller. Dichter. 76, 195, 379, 414 Helvetius, Claude-Adrian (1715-1771): frz. Philosoph. 92, 231, 232 Herzen, Alexander Iwanowitsch (1812-1870): Schriftsteller. Philosoph. 13, 17, 46, 60, 97, 282, 343, 382, 385, 420 Hoffmann, E.T.A. (1776-1822): Schriftsteller. 144,154 Hume, David, (1711-1776): engl. Philosoph. 359 Hugo, Viktor (1802-1885): frz. Dichter. 73 Iljinski, Igor W. (1901-1982): Schauspieler, Regisseur. 216 Insow, I.N. (1768-1845): Generalleutnant. 409 Ismailow, A.E. (1779-1831): Schriftsteller. 177 Iwan IV. (der Schreckliche), (1530-1584): Erster russ. Zar. 269, 329 Iwan V. (1666-1696): Bruder Peters I., zeitw. mit diesem 2. Zar. 323 Jakubowitsch, A.J. (1792-1845): Dekabrist. 177, 182, 186, 187, 199 Jakuschkin, Iwan D. (1793-1857): Dekabrist. 141, 351, 393, 405 Jasykow, N.M. (1803-1847): Dichter. 250, 400 Jogel, Pjotr A. (1768-1855): Moskauer Tanzlehrer. 66, 96 Juvenal, Decimus Iunius (um 60-um 127): röm. Dichter. 369, 415 Kachowski, P.G. (1797-1826): Dekabrist. 62, 159 Kaisarow, Andrej S. (1782-1813): Historiker, Aufklärer. 332, 354, 356, 357, 358 Kantemir, Antioch D. Fürst (1708-1744): Dichter. 314, 321 Kantemir, Dmitri K. Fürst (1673-1723): Staatsmann unter Peter I. 258 Kapnist, W.W. (1758-1823): Dramatiker, Dichter. 24, 25, 372 Karamsin, Nikolai Michailowitsch (1766-1826): Schriftsteller, Historiker. 6, 23, 36, 56, 57, 61, 77, 110, 130, 136, 141, 143, 216, 222, 230, 233, 238, 239, 240, 289, 290, 306, 314, 338, 346, 347, 358, 359, 360, 370, 383, 385, 386, 396, 400 Karamyschew, Alexander Matwejewitsch: 315, 331, 332, 333, 337, 339, 340, 341, 342, 343 Karamyschewa, s. Labsina, A.J. Karasin, W.N. (1773-1842): Staatsmann, Gelehrter. 382, 385 Katenin, Pawel A. (1792-1853): Dichter, Kritiker. 220, 376, 377 Katharina I. (?-1727): Zarin. 34, 271
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Katharina II. (1729-1796): Zarin. 36, 3 8 , 4 0 , 4 4 , 45, 46, 81, 82, 85, 93, 9 5 , 1 0 6 , 1 0 7 , 1 1 2 , 1 2 9 , 1 6 4 , 1 7 6 , 1 9 2 , 1 9 5 , 2 0 5 , 208, 229, 2 3 0 , 2 5 2 , 2 6 1 , 262, 2 7 6 , 2 8 0 , 2 9 1 , 292, 298, 301, 306, 308, 311, 336, 338, 342 Kawerin: 185, 4 0 1 , 4 0 6 Kiprenski, O . A . (1782-1836): Maler. 227 Knjashin, J.B. (1740-1791): Dichter, Dramatiker. 286 Kokoschkin, F.F. (1773-1838): Dramatiker. 199', 200 Koloschin, P.I. (1799-1854): Dekabrist. 419 Konownizin, P.P. Graf (1764-1822): General. 245 Konstantin Pawlowitsch (1779-1831): Großfürst. 3 2 , 1 0 5 , 1 9 5 , 202, 206, 207, 361, 382, 394, 406 Koslow, Iwan I. (1779-1840): Dichter, Übersetzer. 315 Koslowski, M.I. (1753-1802): Bildhauer. 192 Kotljarewski, P.S. (1782-1852): General. 149 Kotzebue, August von (1761-1819): dtsch. Dramatiker. 203 Krylow, Iwan A. (1765-1844): Schriftsteller, Fabeldichter. 82, 149, 204, 242, 283 Küchelbecker, Michail (1798-1859): Leutnant, Dekabrist. Bruder W.'s. 417 Küchelbecker, Wilhelm (1797-1846): Dichter, Dekabrist. 178, 356, 369, 373, 417 Kulnew, Jakow P. (1763-1812): Generalleutnant. 196 Kunizyn, A.P. (1783-1840): Jurist. 355 Kuprin, A.I. (1870-1938): Schriftsteller. 188 Kurakin, A.B. Fürst (1752-1818): Diplomat. 129, 237, 238 Kusmin, M.A. (1875-1936): Schriftsteller. 142 Kutaissow, A.I. Graf (1784-1812): Generalmajor. 243 Kutusow, Michail I. Fürst (1745-1813): Feldmarschall. Oberkommandierender d. russischen Armee gegen Napoleon (1812). 36, 223, 232, 345, 349, 357, 358, 359, 360, 388 Labsina (verh. Karamyschewa), Anna Jewdokimowna: 57, 329, 330, 331, 333, 334, 335, 336, 337, 339, 340, 341, 342, 343, 344 Laharpe, Frederic C. (1754-1838): schweizer. Politiker. 195 Leonidow L.M. (1873-1941): Schauspieler. 136 Leopold I. (1640-1705): röm.-dtsch. Kaiser. 316 Lermontow, M.J. (1814-1841): Dichter. 1, 13, 68, 77, 107,143, 144, 152, 172, 185, 191, 243, 249, 370, 378, 379, 380, 416 Leskow, N.J. (1814-1895): Schriftsteller. 48 Lewizki, D . G . (1735-1822): Maler. 192 Linné, Carl von (1707-1778,): schwed. Naturforscher. 332 Liprandi, I.P. (1790-1880): Militärhistoriker. 102, 403 Locke j o h n (1632-1704): engl. Philosoph. 341 Lomonossow, M . W . (1711-1765): Dichter, Historiker, enzyklopädischer Wissenschaftler. 16, 86, 208, 209, 227, 255, 294, 314 Ludwig X I V . (1638-1715): König von Frankreich. 59 Lunin, Michail S. (1787-1845): Dekabrist. 206, 207, 351, 393, 394, 421 Mably, Gabriel (1709-1785): frz. Schriftsteller, Freund Rousseaus. 92 Maikow, W.I. (1728-1778): Dichter. 148 Maria Fjodorowna (1759-1828): Gattin des Zaren Paul I. 53, 165, 202
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Martos, I.P. (1754-1835): Bildhauer. 194 Masséna, André Herzog (1758-1817): frz. Marschall. 300 Matwejew, Andrej Artemonowitsch: russ. Botschafter in Holland. 263, 264 Matwejew, A.S. (1625-1682): Bojar. 263 M azeppa I.S. (1644-1709): Kosaken-Hetman. 35 Menschikow, A.D. Fürst (1673-1729): Staatsmann, Feldherr. Jugendfreund Peters I. 29, 37, 38, 46, 258, 315, 319 Mercier, Louis (1740-1814): frz. Schriftsteller. 92 Mereshkowski D.S. (1866-1941): Schriftsteller. 17, 250 Mérimée, Prosper (1803-1870): frz. Schriftsteller. 197, 243 Mersljakow, A.F. (1788-1830): Dichter, Übersetzer. 264, 354, 383 Michail Pawlowitsch (1798-1849): Großfürst. 202 Mickiewicz, Adam (1798-1885): poln. Dichter. 71, 72 Milonow, M.W. (1792-1821): Dichter. 369 Miloradowitsch, M.W. Graf (1771-1825): General. 173, 223 Minin, Kusma (?—1616): Kaufmann, organisierte mit Posharski den Kampf gegen die polnischen Interventen. 246 Modsalewski, B.L. (1874-1928): Literaturwissenschaftler. 397 Mojer, I.F. (1786-1858): Mediziner, Prof. a.d. Dopater Univ. 62, 64 Molière, (Jean Baptiste Poquelin), (1622-1673): frz. Dramatiker. 199, 216 Montesquieu, Charles (1689-1755): frz. Schriftsteller, Philosoph. 176, 233, 286 Moore, Thomas (1779-1852): engl. Dichter. 99 Morosowa, (Sokowina) F.P. (?—1675): Bojarin. 330 Mozart, Wolfgang Amadeus (1756-1791): österr. Komponist. 216 Muchanow, P.A. (1799-1854): Dekabrist. 421 Murawjew, Alexander M. (1802-1853): Dekabrist. 418, 419 Murawjew, Alexander Nikolajewitsch (1792-1863): Dekabrist. 418 Murawjew-Apostol M.I. (1793-1886): Dekabrist, Oberstleutnant. 141, 192, 403 Murawjew-Apostol S.I. (1796-1826) Dekabrist, Oberstleutnant, hinger. 422, 424 Murawjew, Michail Nikolajewitsch Graf (1796-1866): Staatsmann. 417 Murawjew, Nikita M. (1796-1843): Dekabrist. 66, 67, 403, 404, 405, 418, 422 Murawjew (Karski), N.N. (1794-1866): General. 186, 349, 418 Musset, Alfred de (1810-857): frz. Schriftsteller. 23, 240, 241 Nabokow, W.W. (1899-1977): russ.-amerik. Schriftsteller. 178 Napoleon, I. (Bonaparte) (1769-1821): frz. Kaiser. 10, 196, 197, 198, 205, 207, 208, 211, 214, 241, 243,244, 246, 344, 345, 346, 353, 357, 359, 370,403, 419, 422 Nareshny, W.T. (1780-1825): Schriftsteller. 377 Naryschkin, Michail Michailowitsch (1798-1863): Dekabrist. Oberst. 244 Naryschkina, M.A. Geliebte Alexanders I.: 98, 361 Nastschokin, P.W. (1800-1863): Moskauer Freund Puschkins. 109, 119, 126, 134 Nekrassow, N.A. (1821-1877): Dichter. 68, 165, 379 Neplujew, Iwan Iwanowitsch: Mitstreiter Peters I. 230, 250-262, 263, 269 Netschkina, M.W. (1901-1980): Historikerin. 366, 376, 397, 398, 416 Newerow, J.M. (1810-1893): Literat. Pädagoge. 110, 111 Nikitenko, A.W. (1804-1877): Kritiker, Literarhistoriker. 84 Nikolai (Nikolaus) I. (1796-1855): Zar. 21, 23, 32, 40, 42, 74, 83, 87, 88, 103,105, 137, 143,176, 202, 206, 248, 382, 417, 418, 419, 424
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Nowikow, Nikolai Iwanowitsch (1744-1818): Schriftsteller. 13, 56, 65, 93, 149, 252,412 Nowosilzew, W.D.: 177,182, 247 Obolenski, E.P. Fürst (1796-1865): Dekabrist. 177,191, 192, 248 Odojewski, Alexander I. Fürst (1802-1839): Dichter, Dekabrist. 97, 247, 371 Olenina, W.A. (1802-1877): Memoirenverfasserin. 191, 192, 404, 422 Opotschinin, Iwan Michailowitsch: 234, 235, 236, 326 Orlow, Alexej G. Graf (1737-1808): General en chef. 44 Orlow, Alexej N. Fürst (1786-1861): Staatsmann. 306, 417 Orlow, Grigori G. Graf (1734-1788): Günstling Katharinas II. 44,106 Orlow, Michail F. (1788-1842): Dekabrist. Generalmajor. 61, 71, 345, 351, 402, 403, 408, 409, 410, 411, 414, 417, 418, 419, 420 Ossian: irische Sagengestalt, deren angebl. Gedichte Macpherson 1760 herausgab. 300, 377 Ostermann A.I. (1686-1747): Staatsmann, Diplomat. 20, 223, 258, 260, 319 Ostrowski, A.N. (1823-1886): Dramatiker. 75, 203 Ovid (Publius Ovidius Naso), (43 v.u.Ztr.-18 n.u.Ztr.): röm. Dichter. 408 Panin, Nikita Iwanowitsch Graf (1718-1783): Staatsmann, Diplomat. 259, 260 Panin, Pjotr Iwanowitsch Graf (1721-1789): General en chef. 259 Parrot, G.F. (1767-1852): Mathematiker. 210 Paul (Pawel) I. (1754-1801): Kaiser. 32, 35, 40, 53, 105, 129, 130, 143, 204, 206, 207, 208, 275, 297, 300, 302, 308, 309, 310, 311, 312, 348, 354, 392 Pawlowa, K.K. (1807-1893): Dichterin. Perikles (um 5 0 0 ^ 2 9 v.u.Ztr.): athen. Staatsmann. 383, 387 Pestel, P.I. (1793-1826): Dekabrist, hingerichtet. 71, 72, 206, 370, 391, 405, 422 Peter I. (der Große), (1672-1728): Zar, erster russ. Kaiser. 15, 16, 17, 18, 19, 20, 22, 23, 24, 28, 29, 32, 33, 35, 37, 40, 43, 44, 45, 46, 49, 52, 79, 92, 175, 208, 218, 228,230,250,251,253, 254,255, 256,257, 258,259, 262, 263,264, 265,266,269, 270, 273, 274, 275, 305, 316, 317, 319, 322, 323, 365 Peter II. (1715-1730): Kaiser (Enkel Peters I.) 270, 318, 319, 320, 323, 325, 328 Peter III. (1728-1762): Kaiser. (Enkel Peters I.) 40, 44, 261 Petraschewski (Butaschewitsch-Petraschewski) M.W. (1821-1866): Revolutionär, utopischer Sozialist. 374 Phidias (gr. Pheidias), (5. Jhdt. v.u.Ztr.): athen. Bildhauer. 41 Pimenow, N.S. (1812-1864): Bildhauer. 246 Pirogow, N.I. (1810-1881): Chirurg, Anatom. 62 Pissarew, D.I. (1840-1868): Publizist, Kritiker. 64, 200, 203 Plato (427/28-348 v.u.Ztr.): altgriech. Philosoph. 41 Platow, M.I. Graf (1751-1818): General, Kosakenataman. 278 Pletnew, Pjotr Alexandrowitsch (1792-1866): Dichter, Kritiker. 84, 220 Plutarch (um 45-ca. 127): griech. Schriftsteller, Historiker. 65, 233, 308 Pnin, I.P. (1773-1805): Dichter. 244, 313 Pogodin, M.P. (1800-1875): Schriftsteller, Historiker. 153 Polewoi, N. (1796-1846): Schriftsteller. 369 Polozki, Simeon (weltl. Name: Samuel Jemeljanowitsch Petrowski-Sitnianowitsch), (1629-1680): Staats- u. Kirchenmann, Schriftsteller. 16, 255
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Posharski, D . M . Fürst (1578-1642): organisierte mit Minin Kampf gegen die polnische Intervention. 199, 246 Pososchkow, I.T. (1652-1726): Ö k o n o m und Publizist. 17, 39 Potemkin, Grigori A. Fürst von Taurien ( 1 7 3 9 - 1 7 9 1 ) Staatsmann. 30, 46, 252, 276, 277, 291, 298, 302, 308, 332, 342, 357 Praxiteles (um 3 9 0 - 3 3 0 v.u.Ztr.): altgriech. Bildhauer. 41 Prokopowitsch, Feofan (1681-1736): Staats- u. Kirchenmann. 198, 228, 255, 270, 318, 3 2 1 , 3 2 2 , 323, 324 Pufendorf, Samuel (1632-1694): dtsch. Jurist und Historiker. 19, 321 Puschkin, A.M. (1771-1825): General, Schriftsteller. 199, 200 Puschkin, Alexander Sergejewitsch ( 1 7 9 9 - 1 8 3 7 ) : Dichter. Begründer der neuen russichen Literatur und der russischen Literatursprache. 5, 7 , 1 2 , 1 3 , 1 6 , 1 7 , 1 8 , 27, 29, 30, 37, 38, 51, 55, 57, 58, 60, 61, 67, 68, 69, 70, 71, 72, 73, 74, 75, 76, 78, 79, 84, 87, 88, 90, 91, 93, 94, 96, 98, 99, 102, 103, 104, 105, 107, 109, 110, 111, 1 1 3 , 1 1 6 , 1 1 7 , 1 1 9 , 1 2 4 , 1 2 5 , 1 2 6 , 1 2 9 , 1 3 3 , 134, 1 3 5 , 1 3 6 , 1 3 7 , 1 3 8 , 1 3 9 , 140, 141, 143,144,145,150,151,152,153,154,155,156,158,161,162,163,164,172,173, 1 7 7 , 1 7 8 , 1 7 9 , 1 8 0 , 1 8 1 , 1 8 2 , 1 8 3 , 1 8 4 , 1 8 5 , 1 8 7 , 1 8 8 , 2 0 1 , 2 0 2 , 2 0 7 , 2 1 2 , 2 1 6 , 220, 221, 2 2 2 , 2 2 7 , 2 2 8 , 2 2 9 , 230, 232, 233, 2 3 8 , 2 4 2 , 2 4 4 , 2 4 6 , 2 4 9 , 250, 261, 2 6 8 , 2 7 4 , 2 7 6 , 2 7 9 , 2 8 0 , 2 8 4 , 2 8 5 , 2 8 7 , 290, 302, 306, 311, 313, 314, 315, 329, 334, 336, 341, 345, 347, 351, 353, 355, 356, 366, 368, 369, 370, 377, 378, 380, 383, 392, 393, 395, 396, 397, 398, 3 9 9 , 4 0 0 , 4 0 2 , 4 0 3 , 404, 405, 4 0 6 , 4 0 7 , 4 0 8 , 4 0 9 , 4 1 0 , 4 1 3 , 4 1 4 , 415, 416, 420, 422, 425, 426, 427 Puschkin, L.S. (1805-1852): Offizier, Bruder A.S. Puschkins. 139 Puschkin, Wassili Lwowitsch ( 1 7 7 6 - 1 8 3 0 ) : Dichter, Onkel A.S. Puschkins. 39, 220, 221, 358, 359, 360 Puschkina, Natalja Nikolaewa, geb. Gontscharowa ( 1 8 1 2 - 1 8 6 3 ) : Gattin Puschkins. 7 2 , 1 2 6 Pustschin, I.I. (1798-1859): Dekabrist, Jurist. 399, 411 Quiroga, (1784-1841): span. General. 412 Radistschew, Alexander Nikolajewitsch (1749-1802): Schriftsteller. 13,41, 52, 77, 93, 112, 143, 176, 218, 232, 233, 234, 236, 240, 244, 2 7 9 - 2 9 2 , 311, 312, 313, 338, 388 Rajewskaja, M . N . , verehel. Wolkonskaja ( 1 8 0 5 - 1 8 6 3 ) : Tochter N . N . Rajewskis. 379, 390 Rajewski, A . N . (1795-1868): Oberst. 71 Rajewski, N . N . ( 1 7 7 1 - 1 8 2 9 ) : General. 71, 74, 223, 224, 225, 379, 388, 390, 417 Rajewski, W . F . (1795-1872): Dekabrist.406, 408, 409, 410, 411, 414 Rasumowski, A . G . Graf (1709-1771): russ. Generalfeldmarschall. 38, 50 Rembrandt, (R. Harmensz van Rijn), (1606-1669): niederländ. Maler. Repin, I.E. (1844-1930): Maler. 424 Repnin, A.I. Fürst (1668-1726): Generalfeldmarschall. 315 Richardson, Samuel (1689-1761): engl Schriftsteller. 51, 78 Riego y Nunez, Rafael de (1785-1823): span. General. 412 Robespierre, Maximilian de (1758-1794): frz. Revolutionär. 281, 396 R o k o t o w , F.S. (1735-1808): Maler. 58 Roshdestwenski, W . A . (1895-1977): Dichter. 162
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Personenregister
Rostand, Edmond (1868-1918): frz. Dichter, Dramatiker. 179 Rostoptschin, F.W. Graf (1763-1826): Staatsmann. 66, 67, 300, 310, 345, 347, 359 Rousseau, Jean-Jaques (1712-1778): frz. Schriftsteller, Philosoph. 10, 53, 55, 63, 87, 92, 232, 242, 262, 280, 294, 295, 335, 336, 339, 396 Rumjanzew, Sergej Petrowitsch Graf (1753-1838): Staatsmann. 164 Rylejew, K.F. (1795-1826): Dichter. Dekabrist; hingerichtet. 55, 68, 177, 178, 199,247,261, 364, 367, 368, 369, 370, 371, 377, 378, 389, 390, 397, 398,404,405, 407, 409, 411, 412, 413, 416, 417, 420, 422, 425 Sabolozki, N.A. (1903-1958): Dichter. 58 Sagoskin, M.N. (1789-1852): Schriftsteller. 60 Sagrjashskaja, Natalja Kirillowna (1747-1837): einflußr. Dame am russ. Hof. 104 Sakrewskaja, A.F. Gräfin (1800-1879). 69, 70 Sallust (Gaiius Sallustius Crispus), (86-ca. 35 v.u.Ztr.): röm. Historiker. 308 Saltischicha (Saltykowa), (1730-1801): grausame russ. Gutsbesitzerin. 13, 47 Saltykow, P.S. Graf (1696-1773): Generalfeldmarschall. 195 Saltykow-Stschedrin, M.E . (1826-1889): satir. Schriftsteller. 59, 260 Sawadowski, A.P. Graf (1794-1856): Beamter. 46, 184,185, 186, 290 Sawalischin, D.I. (1804-1892): Dekabrist. 369, 375, 405, 407 Schachowskoi, A.A. Fürst (1777-1846): Dramatiker. Schachowskoi, F.P. Fürst (1796-1829): Militär, Dekabrist. 216, 403 Schafirow, P.P. (1669-1739): Staatsmann, Diplomat. 46 Schalamow, Walam: Schriftsteller, verbrachte Jahre im „Gulag". 12 Scheremetjew, Boris Petrowitsch Graf (1652-1719): Generalfeldmarschall. 37, 89, 184, 185, 186, 187, 315, 316, 317, 389 Scheremetjewa, N.B. s. Dolgorukaja Schilder, N.K. (1842-1902): Historiker. 211 Schiller, Friedrich (1759-1805): dtsch. Dramatiker, Dichter. 75, 194, 281, 352, 354, 369, 382, 384, 385, 386, 396 Schischkow, A.S. (1754-1891): Admiral, Schriftsteller. 143, 201 Schlözer, August L. (1735-1809): dtsch. Historiker, Philologe. 355, 356 Schtorm, Georgi P. (1898-1978): Schriftsteller. 285, 286 Semewski, W.I. (1848-1916): Historiker. 410 Serno-Solowjewitsch, N.A. (1834-1866): Publizist. 382 Shakespeare, William (1554-1616): engl Dramatiker, Dichter. 352, 354, 429, 430 Shukowski, Wassili A. (1783-1830): Dichter. 54, 55, 61, 62, 63, 64, 68, 77, 97, 98, 111, 223, 246, 354, 357, 359, 369, 404, 405, 411, 420 Slepzow, W.A. (1836-1878): Schriftsteller. 39 Smirnowa-Rosset A.O. (1809-1862): Hofdame am Zarenhof. 102,103, 248 Smith, Adam: 102, 202 Sokrates (470-399 v.u.Ztr.): altgriech. Philosoph. 232, 289 Solowjew, S.M. (1820-1879): Historiker. 263 Sosnizki, I.I. ( 1754-1872): Schauspieler. 200 Speranski, Michail Michailowitsch (1772-1829): Staatsmann. 209, 210, 211, 346 Stendhal (eigtl. Marie-Henri Beyle), (1783-1842): frz. Schriftsteller. 149,197, 348 Strachow, Nikolai Nikolajewitsch (1828-1896): Philosoph, Publizist, Literaturkritiker. 146, 147, 154,168,169, 170 Stschegolew, P.E. (1877-1931): Literaturwissenschaftler. 389, 397
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Stschepkin, M.S. (1788-1863): Schauspieler. 200 Stscherbatow, M.M. Fürst (1733-1790): Publizist, Historiker. 17, 127, 320, 381 Stschogolew, P.E. (1877-1931): Literaturwissenschaftler. 386, 394 Suchowo-Kobylin, Alexander Wassiljewitsch (1817-1903): Dramatiker. 163, 372 Sumarokov, Alexander Petrowitsch (1718-1777): Dramatiker. Dichter. 24,25, 56, 80, 85, 86, 195 Suthof, A.N. (1801-1872): Dekabrist, Oberleutnant. 421 Suworow, Alexander Wassiljewitsch (1729/30-1800): General. 129,130,133,177, 192, 196, 230, 243, 266, 277, 278, 292-313, 342, 357 Tacitus (um 58-um 117): römischer Historiker. 308 Talleyrand, Charles M. Herzog v. (1754-1826): frz. Staatsmann. 164 Talma, Francois J. (1763-1826): frz. Schauspieler. Tatistschew, W.N. (1686-1750): Staatsmann, Historiker. 18, 258, 321 Tirtei (7. Jhdt.): altgriech. Dichter. Tjutschew, F.I. (1803-1873): Dichter. 13, 16, 88, 89, 281, 426 Tolstoi, F.I. Graf, der „Amerikaner" (1782-1846): Offizier. 140, 157, 158, 159, 172, 395 Tolstoi, Fjodor P. (1783-1873): Maler, Bildhauer. 194, 198, 242, 394 Tolstoi, Leo N. Graf (1828-1910): Schriftsteller. 3, 10, 11, 12, 13, 16, 69, 75, 76, 88, 97, 98, 100, 103, 108, 122, 123, 126, 158, 159, 160, 165, 172, 173, 174, 196, 197, 225, 244, 245, 250, 294, 307, 308, 344, 347, 348, 352, 372, 394, 424, 427 Tomaschewski, Boris W. (1890-1957): Literaturwissenschaftler. 148, 193, 397, 398, 399 Tredjakowski, W.K. (1703-1768): Dichter, Philologe. 50, 264 Trefolew, L.N. (1839-1905) Dichter. 237 Trubezkoi, Nikita Jurjewitsch Fürst (1699-1767): Generalfeldmarschall. 260, 320 Trubezkoi, Sergej P. Fürst (1790-1860): Dekabrist, Oberst. 97, 351, 365, 399 Tschaadajew, P.A. (1794-1858): Offizier, Philosoph. 13, 60, 139, 140, 141, 142, 143, 158, 364, 380, 381, 382, 383, 384, 385, 387, 397, 406, 422 Tschechow, Anton P. (1860-1904): Schriftsteller, Dramatiker. 4, 372 Tschernow, W.P.: 177,182, 188, 247 Tschernyschew, Grigori Petrowitsch Graf (1672-1745): Oberst, Staatsmann. 254, 256 Tschernyschewski, Nikolai Gawrilowitsch (1828-1889): demokr. Schriftsteller. 339, 366, 374 Turenne, Henri, Vicomte de Latour d'Auvergne (1611-1675): frz. Marschall. Turgenjew, Andrej I. (1784-1845): Historiker, Schriftsteller. 354 Turgenjew, Iwan S. (1818-1883): Schriftsteller. 18, 68, 303, 366, 378, 379 Turgenjew, Nikolaj I. (1789-1871): Dekabrist, Ökonom. 102,113, 355, 363, 365, 367, 368, 374, 383, 397, 398, 402, 403, 411 Turgenjew, Sergej Iwanowitsch (1790-1827): Diplomat. 102, 143, 368, 402, 403 Tutschkow, Alexander Alexejewitsch, „der Vierte" (1778-1812): Generalmajor. 244, 245, 246 Tutschkow, Nikolai, „der Erste" (1765-1812): Generalleutnant. 244, 245 Tutschkow, Pawel, „der Dritte" (1776-1858): Generalmajor. 244 Tutschkow, Sergej, „der Zweite" (1770-1840): General. 244 Tynjanow, J.N. (1894-1943): Schriftsteller, Literaturwissenschaftler. 382
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Vergil, Publius Vergilius Maro, ( 7 0 - 1 9 v.u.Ztr.): röm. Dichter. 79 Voltaire, Francois Marie Arouet, (1694-1778): frz. Schriftsteller, Philosoph. 74, 8 5 , 1 2 3 , 1 4 4 , 1 6 9 , 231, 242, 280, 401 Wassiltschikow: 380, 381, 382 Weressajew, eigtl. Smidowitsch, W.W. (1867-1945): Schriftsteller. 70 Werstowski, A.N. (1799-1862): Komponist. 200 Wigel, F.F. (1786-1856): Staatsbeamter, Memoirenverfasser. 193, 360, 361 Wittgenstein, P.Ch. (1769-1843): Generalfeldmarschall. 222, 223, 360 Wjasemski, Pjotr Andrejewitsch Fürst (1792-1878): Dichter, Literaturkritiker. 48, 6 1 , 7 0 , 8 9 , 1 1 9 , 1 4 0 , 1 4 2 , 1 4 6 , 1 5 3 , 1 5 8 , 1 6 1 , 1 6 4 , 1 6 6 , 2 2 0 , 2 3 1 , 2 7 6 , 359,366, 372, 384, 394, 395, 425 Wjasemskaja, Wera Fjodorowna Fürstin (1790-1876): Gattin von P.A. Wjasemski. 359 Wojeikow, A.F.: 62, 64 Wolf, Pius A. (1782-1828): dtsch. Schauspieler. 215 Wolkonskaja, S.G. Fürstin (1786-1869): Schwester des Dekabristen S.G. Wolkonski. 59, 390 Wolkonski, P.M. Fürst (1776-1852): Staatsmann, Generalfeldmarschall. Wolkonski, S.G. Fürst (1788-1865): Generalmajor, Dekabrist. 417, 418, 419, 423 Wolynski, Artjom P. (1689-1710): Staatsmann, Diplomat. 260, 329 Woronzow, A.R. (1741-1805): Staatsmann, Diplomat. 283, 286 Woronzow, Michail Semjonowitsch Fürst (1782-1856): Generalfeldmarschall. 9 0 , 1 0 2 , 1 4 3 , 1 4 8 , 1 4 9 , 306 Woronzow, R.I. (1707-1783): General en chef. 45 Wsewoloshski, Nikita W. (1799-1862): Staatsbeamter. 398, 400, 402 Wulf, A.N. (1805-1881): Offizier, Gutsbesitzer. Ypsilanti, Alexander (1792-1828): russ. Generalmajor, Führer d. nat. Befreiungsbewegung in Griechenland. 67 Zjawlowski, M.A. (1883-1947): Literaturwissenschaftler. 383 Zola, Emile (1840-1902): frz. Schriftsteller. 5 Zwetajewa, Marina I. (1892-1941): Lyrikerin. 244, 264, 286
Aaron J. Gurjewitsch
Stumme Zeugen des Mittelalters Weltbild und Kultur der einfachen Menschen Aus dem Russischen von Ulrike Fromm 1997. 340 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. ISBN 3-412-14496-7
Der russische Historiker Aaron J. Gurjewitsch tritt dem immer noch verbreiteten Vorurteil des "dunklen Mittelalters" entschieden entgegen. Seine Aufmerksamkeit gilt besonders den einfachen Menschen, die selbst keine Textzeugnisse hinterlassen haben, ihrem Denken, Fühlen und ihrer Weltwahrnehmung. Seine Quellen sind die hohe Literatur des Mittelalters und vor allem Predigten, Heiligenviten und Sagen. Gurjewitsch läßt sie in völlig neuem Licht erscheinen und weist nach, daß sie nicht nur die Absichten ihrer gelehrten Verfasser widerspiegeln, sondern auch Weltbild und Lebenseinstellung, Probleme und Sehnsüchte der dargestellten Personen. Bis dahin stumme Zeugen des Mittelalters werden so wieder zum Sprechen gebracht: "Ich bin von der Feststellung ausgegangen, daß dem Bauern fast überhaupt kein Platz in der mittelalterlichen Kultur eingeräumt wurde. Die Figur des Bauern steht tatsächlich nicht im Vordergrund, und man braucht bestimmte ,Reagenzien', um sie sichtbar zu machen. In diesem Sinne erinnert diese Kultur des Mittelalters an ein Palimpsest, bei dem neue Schriftzeichen den alten Text verbergen. Ihn zu lesen, stellt eine Forderung dar, zu der die historische Wissenschaft bisher noch nicht vorgedrungen ist." (Aaron J. Gurjewitsch) BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN Theodor-Heuss-Str. 76, D - 51149 Köln
Alexander Demandt
Geschichte der Geschichte Wissenschaftshistorische Essays Mit einer Einleitung von Karl Christ (Histórica Minora, Band 1) 1997. 290 Seiten. Gebunden mit Schutzumschlag. ISBN 3-412-15096-7
Mankind is governed by names. Dieses Wort von Edward Gibbon gilt noch heute, in der Politik genauso wie in Kultur und Wissenschaft. Darum empfiehlt es sich nicht zuletzt für den Historiker, dem Namenszauber auch in seinem eigenen Fach nachzuspüren. Wissenschaftsgeschichte, die das versucht, ist eine vergleichsweise junge Disziplin, die, je nach Zielrichtung, einerseits erbaulich-beschaulich als Bestandsaufnahme, andererseits als fachbezogene Sach- und Selbstkritik beschrieben werden kann. In den hier vorliegenden Essays dominiert das kritisch-praktische Bemühen, von den großen Historikern und Geschichtsdenkern etwas für das Verständnis der Vergangenheit zu lernen. Dabei geht es überwiegend um Autoren, deren Perspektive das Altertum einschließt.
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