Russland in Zentralasien: Autobiografische Texte der Eroberung und Erschließung Turkestans (1860 - 1917) [1 ed.] 9783412525149, 9783412525125


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Russland in Zentralasien: Autobiografische Texte der Eroberung und Erschließung Turkestans (1860 - 1917) [1 ed.]
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RUSSLAND IN ZENTRALASIEN Autobiografische Texte der Eroberung und Erschließung Turkestans (1860 – 1917)

Matthias Golbeck

IMPERIAL SUBJECTS Autobiographik und Biographik in imperialen Kontexten

Herausgegeben von Martin Aust, Robert Luft, Maurus Reinkowski, Frithjof Benjamin Schenk Band 5

Matthias Golbeck

RUSSLAND IN ZENTRALASIEN Autobiografische Texte der Eroberung und Erschließung Turkestans (1860 – 1917)

BÖHLAU VERLAG WIEN KÖLN



Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Zugl. Diss. Rheinisch-Friedrich-Wilhelms Universität Bonn 2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2022 Böhlau, Lindenstraße 14, D-50674 Köln, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung : An den Festungsmauern. Lasst sie hinein! Episode aus der Verteidigung der Festung Samarkand gegen die Söhne des Emirs von Buchara 1868. Gemälde, 1871, von Wassili Wassiljewitsch Wereschtschagin 1842 – 1904. Öl auf Leinwand, 95 × 160,5 cm. Moskau, Staatliche Tretjakow-Galerie. © akg-images Einbandgestaltung : Michael Haderer, Wien Satz : le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52514-9

Inhalt

Vorwort ................................................................................................

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1. Einleitung ........................................................................................ 1.1 Militärischer Aufbruch: Die russische Expansion nach Mittelasien .... 1.2 Literarischer Aufbruch: Biografik, Autobiografik und das Zarenreich .. 1.3 Material: Dokumente autobiografischer Praxis und Turkestan .......... 1.4 Theoretischer Zugang und Forschungsfragen: Autobiografische Praxis und imperiale Peripherie ........................... 1.5 Forschungsstand: Biografik, Autobiografik und Turkestan ................ 1.6 Offene Perspektiven .................................................................... 1.7 Aufbau der Arbeit .......................................................................

11 12 16 19 22 23 26 30

2. Ruhe, Ordnung und Fortschritt? Die russische Eroberung Turkestans ...................................................................................... 2.1 Russlands langer Weg nach (Süd-)Osten ........................................ 2.2 Das südliche Mittelasien vor der russländischen Eroberung.............. 2.3 Erobern und sichern, erforschen und verwalten .............................. 2.4 Ruhe, Ordnung und Fortschritt: Rechtfertigungen der Expansion ..... 2.5 Schlussfolgerungen .....................................................................

33 34 37 39 49 57

3. Turkestan und die russischsprachige Autobiografik............................ 3.1 Die „dicken Journale“ .................................................................. 3.2 Monografien .............................................................................. 3.3 Sonderdrucke ............................................................................. 3.4 Sammelbände ............................................................................. 3.5 Redaktionen, Redakteure und das Umfeld der Autoren .................... 3.6 Zensur ....................................................................................... 3.7 Autoren ..................................................................................... 3.8 Schreibzeitpunkte und Schreibanlässe............................................ 3.9 Schlussfolgerungen .....................................................................

63 64 67 71 73 76 80 82 85 91

4. Die Natur als Gegner ........................................................................ 95 4.1 Räumliche Selbstverortungen: Wo liegt Turkestan?.......................... 96 4.2 Die Natur als Gegner in der militärischen Memoiristik .................... 103

6

Inhalt

4.3 Die Natur als Gegner in Texten über die Erforschung und Erschließung .............................................................................. 116 4.4 Schlussfolgerungen ..................................................................... 130 5. Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten ........................................ 5.1 Indigene als Masse ...................................................................... 5.2 Indigene als Individuen................................................................ 5.3 Negative Charakterisierungen....................................................... 5.4 Negative Darstellungen indigener Lebensräume und ihrer Herrschaftsordnungen ................................................................. 5.5 Die indigene Perspektive?............................................................. 5.6 Schlussfolgerungen .....................................................................

137 138 144 152

6. Der militärische Gegner.................................................................... 6.1 Der militärische Kampf als Mittel der Selbstauszeichnung ................ 6.2 Direkte und indirekte Darstellungen von Gewalt ............................. 6.3 Heldentum absichern und verteidigen ........................................... 6.4 Schlussfolgerungen .....................................................................

183 184 201 211 225

7. „Turkestancy“ oder das Imperium? Gruppenbildung und soziale Selbstverortung .................................................................... 7.1 Kampfgemeinschaften ................................................................. 7.2 Gemeinschaften des Entdeckens, Erschließens und Verwaltens ......... 7.3 Das Imperium als Kontext............................................................ 7.4 Schlussfolgerungen .....................................................................

231 231 245 255 262

8. Verschwundenes Land: Turkestan in Erinnerungen nach 1917........... 8.1 Begründungsweisen der Expansion und ihres Charakters................. 8.2 Turkestan, seine Lage und seine Natur ........................................... 8.3 Die indigenen Bevölkerungen, ihre Gemeinwesen und ihre Lebensräume .............................................................................. 8.4 Der militärische Kampf................................................................ 8.5 Selbstverortungen in Gruppen und im Imperium............................ 8.6 Schlussfolgerungen .....................................................................

165 173 178

267 268 273 280 286 288 294

9. Schlussbetrachtungen ..................................................................... 299 Anhang ................................................................................................ 311 Biogramme ...................................................................................... 311 Übersichtskarte................................................................................. 319

Inhalt

Literatur- und Quellenverzeichnis .......................................................... Publizierte Quellen ........................................................................... Biografische und bibliografische Wörterbücher, Enzyklopädien und Verzeichnisse ............................................................................. Atlanten........................................................................................... Sekundärliteratur ..............................................................................

321 321 326 328 328

7

Vorwort

Eine Promotion lässt sich mit einem Langstreckenlauf vergleichen. Durch eine intensive Vorbereitung ist der Anfang, wie im vorliegenden Fall, zumeist von einem enthusiastischen Aufbruch gekennzeichnet. Bei der Bewältigung der unterwegs auftretenden Herausforderungen geben die Unterstützer am Streckenrand dem Läufer Halt und Antrieb. Bei diesen möchte ich mich im Folgenden bedanken. Zu den Menschen, die mich auf diesen Weg vorbereitet und mich auf ihm begleitet haben, gehören Lieselotte Müller und Elena Safronova. Sie haben den erfolgreichen Ausgang dieses Laufes bereits erahnen, ihn aber nicht mehr erleben können. Ihrem Andenken ist diese Arbeit in Dankbarkeit gewidmet. Für die erfolgreiche Durchführung sind die uneingeschränkte Unterstützung und das Vertrauen meiner Eltern Jutta und Hans-Peter maßgeblich gewesen. Ihre Großzügigkeit ermöglichte mir mein Studium. Mein Bruder Christoph wies mir oft an seinem eigenen Beispiel einen möglichen Weg und stand mir stets als kritischer Beobachter zur Seite. Dafür sei ihnen herzlich gedankt. Meine Frau Daria hat mich dabei unterstützt, dass ich den Weg und das Ziel in den vergangenen Jahren im Blick behalten habe. Ihre Geduld und ihr Verständnis für meine akademische Leidenschaft gaben mir stets Halt und veranlassen mich zu großer Dankbarkeit. Bei meinem Betreuer Martin Aust bedanke ich mich auch herzlich. Er unterstützte mich von Anfang an bei der Projektentwicklung, der Stipendienbeantragung und bei der Vorbereitung meiner Forschungsaufenthalte in Sankt Petersburg. Während der Anfertigung der vorliegenden Arbeit waren die regelmäßigen Gespräche mit ihm für mich von besonderem Wert. Sie eröffneten mir neue Perspektiven auf vorhandene Fragen und boten mir Orientierung in der unübersichtlichen Forschungslandschaft. Zudem ermöglichte er mir den Austausch mit den Mitgliedern des DFG-Forschungsprojektes „Imperial Subjects“. Meine Arbeit profitierte maßgeblich von der Möglichkeit, einzelne Abschnitte in diesem Kreis zur Diskussion stellen zu können. Ebenso dankbar bin ich Martin Schulze Wessel für die freundliche Übernahme des Zweitgutachtens. Das von ihm geleitete Master-Programm an der LudwigMaximilians-Universität München bot mir einen ausgezeichneten Rahmen für meine fachliche Entwicklung. Hierbei eröffnete mir eine von ihm durchgeführte Summer School in Usbekistan die mir zuvor weitgehend unbekannte Geschichte Russlands in Zentralasien. Zudem erfuhren einzelne Abschnitte der vorliegenden Arbeit auf Doktorandenworkshops seines Lehrstuhles wichtige Impulse.

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Vorwort

Kritische Anregungen erfuhr die Arbeit in den Kolloquien von Jan Kusber in Mainz und von Andreas Renner in München. Hilfreiche Ratschläge zu einzelnen Aspekten der Arbeit erhielt ich zudem von Jochen Hellbeck, Ulrich Hofmeister, Adeeb Khalid, Alexander Morrison, Christoph Neumann, Malte Rolf und Alexander Semyonov. Ihnen allen sei dafür herzlich gedankt. Als sehr wertvoll für den Fortgang meines Laufes erwies sich der fachliche Austausch mit meinen Laufpartnern Boris Ganichev und Max Trecker, unter anderem in unseren Trainingslagern am Brombachsee. Beiden bin ich für die stets offenen Diskussionen über die mir während der Arbeit entstandenen Fragen dankbar. Ihnen beiden, meiner Mutter Jutta und meiner Frau Daria schulde ich zudem großen Dank für die sorgfältige Durchsicht des Manuskriptes. Hera Shokohi hat dieses schließlich für den Druck vorbereitet und Boris Ganichev die beigefügte Karte angefertigt. Beiden sei hierfür herzlich gedankt. Meine Promotion hätte nicht ohne das Promotionsstipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes durchgeführt werden können. Ihr täglicher Fortgang wurde zudem durch die Einrichtung eines Einzelarbeitsplatzes in der Universitätsund Landesbibliothek Düsseldorf in Vertretung durch die verantwortliche Referentin, Christine Wilhelm, befördert. Stiftung und Bibliothek bin ich für das entgegengebrachte Vertrauen und die gewährte Unterstützung sehr dankbar. Die Publikation wurde durch einen Druckkostenzuschuss der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften unterstützt. Hierfür bedanke ich mich bei der Stiftung. Für den erfolgreichen Zieleinlauf – die Veröffentlichung des Textes in der Reihe „Imperial Subjects“ – bin ich deren Herausgebern sehr dankbar. Dorothee Wunsch vom Böhlau Verlag gebührt schließlich mein herzlicher Dank für ihr umsichtiges Lektorat. Wiesbaden, im April 2022

1. Einleitung

Die Eroberung des südlichen Mittelasiens1 durch das Russländische Kaiserreich2 in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hat, verglichen mit der vorausgegangenen Unterwerfung des Kaukasus, nur wenige Spuren in der zeitgenössischen russischsprachigen Hochliteratur hinterlassen.3 Dieser Umstand scheint angesichts der internationalen Bedeutung der Expansion, beispielsweise für das „Great Game“, umso erstaunlicher. Eine bekannte Ausnahme bildet der 1877/18784 veröffent-

1 Vgl. für verschiedene Raumkonzeptionen und deren unterschiedliche Bezeichnungen Bert G. Fragner: „Zentralasien – Begriff und historischer Raum.“ In: Bert Fragner/Andreas Kappeler (Hrsg.): Zentralasien. 13. bis 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft (Edition Weltregionen 13). Wien 2006, S. 11–31, hier S. 11–13, Jürgen Paul (Hrsg.): Zentralasien. Neue Fischer Weltgeschichte. Bd. 10. Frankfurt/M. 2012, S. 15–21. Die vorliegende Arbeit verwendet die in den untersuchten russischsprachigen Quellen üblichen Begriffe Turkestan (Turkestan) und Mittelasien (Srednjaja Azija) synonym für das Gebiet des Generalgouvernements Turkestan in seinen Grenzen ab 1899. 2 Für die wissenschaftliche Transliteration der russischen Sprache vgl. Paul Georg Geiß: „Transliterationstabellen“. In: Thomas Bohn/Dietmar Neutatz (Hrsg.): Studienhandbuch Östliches Europa. Bd. 2. Geschichte des russischen Reiches und der Sowjetunion. Köln u. a. 2002, S. 482–488. Da die vorliegende Arbeit überwiegend auf russischsprachigen Quellen beruht, wird für Begriffe aus mittelasiatischen Sprachen der Einheitlichkeit wegen auf die russische Bezeichnung zurückgegriffen. Abweichungen hiervon existieren für Eigennamen und Ortsbezeichnungen, für die im Deutschen eine etablierte Schreibweise existiert. In offiziellen Amts- und Institutionsbezeichnungen wird die Übersetzung „russländisch“ für den Begriff „rossijskij“ verwendet. Um den Bedeutungsunterschied zu „russkij“ wissend, finden im Folgenden aus stilistischen Gründen auch die Begriffe „russisch“ beziehungsweise „Russland“ Verwendung. 3 Kappeler, Schimmelpenninck van der Oye und Campbell bestätigen diesen Standpunkt. Vgl. Andreas Kappeler: „Russlands zentralasiatische Kolonien bis 1917“. In: Bert Fragner/Andreas Kappeler (Hrsg.): Zentralasien. 13. bis 20. Jahrhundert. Geschichte und Gesellschaft. Wien 2006, S. 139–160, hier S. 148, David Schimmelpenninck van der Oye: Russian Orientalism. Asia in the Russian Mind from Peter the Great to the Emigration. New Haven, London 2010, S. 74, Ian W. Campbell: ‘Our friendly rivals’: rethinking the Great Game in Ya’qub Beg’s Kashgaria, 1867–77. Central Asian Survey 33/2 (2014), S. 199–214, hier S. 200. Morrison benennt das 1912 veröffentlichte Poem „Turkestanische Generäle“ (Turkestanskie generaly) von Nikolaj Stepanovič Gumilev als eine der zeitgenössisch bekannteren Ausnahmen, vgl. Alexander Morrison: The ‘Turkestan Generals’ and Russian Military History. In: War In History (2018), S. 1–32, hier S. 3. [zuletzt aufgerufen am 08.06.2018]. Aus dem deutlich größeren Bereich der damaligen Populärliteratur zu Turkestan sei die als „Roman-Chronik“ betitelte Veröffentlichung „Im neuen Gebiet“ (V novom kraju) von Nikolaj Dmitrievič Il’in angeführt. Vgl. Nikolaj Stepanovič Gumilev: Turkestanskie generaly. In: ders.: Čužoe nebo. Sankt Peterburg 1912, S. 56–57, Nikolaj Dmitrievič Il‘in: V novom kraju. Taškent 1913. 4 Alle Datumsangaben in der Arbeit entsprechen dem bis Februar 1917 in Russland gültigen julianischen Kalender.

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Einleitung

lichte Roman „Anna Karenina“ von Lev Nikolajevič Tolstoj. In ihm verspürt Graf Vronskij einen gewissen Neid angesichts der in Mittelasien erreichten Erfolge eines Schulkameraden: „Sein [Vronskijs, Anm. d. A.] Jugendfreund Serpuchowskoj, der mit ihm das Pagenkorps absolviert hatte, dem gleichen Gesellschaftskreise angehörte, ihm in der Klasse im Turnen und bei allen Jugendstreichen und ehrgeizigen Zukunftsträumen den Rang abzulaufen versucht hatte, war in diesen Tagen aus Mittelasien zurückgekehrt. Er war dort zweimal befördert worden und hatte eine Auszeichnung erhalten, die so jungen Offizieren ganz selten zuteil wird. Kaum war er in Petersburg angekommen, sprach man schon von ihm als von einem neuen Stern erster Größe. Obwohl Altersgenosse und Klassenkamerad Wronskijs, war er bereits General und stand unmittelbar vor einer Ernennung, durch die er Einfluss auf den Gang der Staatsgeschäfte gewinnen konnte.“5

Tolstoj verknüpft die imperiale Randregion Turkestan – so eine weitere zeitgenössische Bezeichnung Mittelasiens – noch während deren Eroberung mit einem positiven und augenscheinlich steilen Karriereweg eines jungen, aristokratischen Offiziers, der den Ehrgeiz seines Altersgenossen geweckt hat. Die Bedeutung, die Tolstoj der Region in dem fiktiven Lebensweg seiner Figur Serpuchovskoj beimisst, regt zu der Frage an, welchen Stellenwert die realen russischen Eroberer, Entdecker und Verwalter der entfernten Grenzregion in ihren Biografien zugeschrieben haben. Welchen Einfluss hatte das Leben und Arbeiten in Turkestan auf das Selbstverständnis der russischen Akteure? Diesen und angeschlossenen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit anhand von publizierten Dokumenten autobiografischer Praxis.

1.1 Militärischer Aufbruch: Die russische Expansion nach Mittelasien Erste russische Versuche, militärisch in die Großregion vorzustoßen, datierten mit 1716/1717 und 1839/1840 auf die Regierungsjahre von Peter I. und Alexander I. Die hier betrachtete Eroberung des südwestlichen Mittelasiens, dass sich ganz oder teilweise über die gegenwärtigen Staatsgebiete Turkmenistans, Usbekistans, Tadschikistans, Kirgisistans und Kasachstans erstreckt, hat sich erst ab Mitte der 1860er Jahre in gut zwei Jahrzehnten vollzogen. In dieser Zeit hat das Reich seine Herrschaft vor Ort durch die Errichtung des Generalgouvernements Turkestan und

5 Leo N. Tolstoi: Anna Karenina. Düsseldorf 2007, S. 370. Wie die Schreibweise der Namen der Figuren zeigt, folgt die zitierte Übersetzung nicht der wissenschaftlichen Transliteration, welche in der vorliegenden Arbeit Anwendung findet.

Militärischer Aufbruch: Die russische Expansion nach Mittelasien

der Protektorate über die Chanate von Kokand und Chiva sowie das Emirat von Buchara gefestigt. So entstanden in der Großregion schließlich Grenzen mit Persien, Afghanistan und dem Chinesischen Kaiserreich. Der dadurch allmählich schwindende territoriale Abstand zu Britisch-Indien erhöhte zunehmend die Spannungen zwischen den beiden Großmächten. Ihr beiderseitiges Ringen um Einflusszonen in der Region bildete die Hochphase des „Great Game“ in Mittelasien.6 Die skizzierten Entwicklungen haben, neben den von Tolstoj erwähnten Militärangehörigen, auch russländische Akteure aus Wissenschaft, Verwaltung, Handel oder Landwirtschaft sowie deren Familienangehörige in diese geografisch, klimatisch und ethnografisch sehr heterogene Region gebracht. Mit den Wüsten Karakum und Kyzylkum existieren in Mittelasien große, sehr trockene Gebiete. Die Gebirge Tjan‘ Šan‘ und Pamir besitzen dagegen einige der höchsten Gipfel und größten Gletscher der Erde. Darüber hinaus gibt es entlang großer Ströme, wie dem Syrdarja oder dem Amudarja, ausgedehnte und fruchtbare Oasengebiete. Die russischen Eroberer stießen sowohl auf sehr alte sesshafte Ackerbaukulturen als auch auf vollnomadische Lebensformen. Darunter haben sich iranisch-, mongolisch- und turksprachige Bevölkerungsgruppen befunden, die überwiegend dem sunnitischen Islam angehörten. Die vorliegende Arbeit untersucht, wie sich die russischen Eroberer, Entdecker und Verwalter in ihren autobiografischen Schriften mit den vorgefundenen Bedingungen auseinandergesetzt haben.7 Die militärische Expansion und Herrschaft des Imperiums in Turkestan sind bereits zeitgenössisch Gegenstand der nationalen, wie auch internationalen Historiografie gewesen. Arbeiten, wie die Terent’evs, ordneten das russische Vordringen nach Mittelasien in eine umfassende Expansionsgeschichte seit etwa dem 16. Jahrhundert ein.8 Diese auf militärische und politische Ereignisabläufe und deren

6 Vgl. hierzu umfassend Kapitel 2. Für einen fundierten Überblick siehe Christoph Baumer: The History of Central Asia. The Age of Decline and Revival. London, New York 2018, S. 138–172. Vgl. für Aufbau und Struktur des Generalgouvernements Yuri Bregel: An Historical Atlas of Central Asia. Leiden, Bosten 2003, S. 90 und Ju.N. Morukov/N.F. Samochvalov: Gubernii Rossijskoj imperii. Istorija i rukovoditeli 1708–1917. Moskva 2003, S. 395–400. 7 Für physische und politische Karten für das 19. und frühe 20. Jahrhundert siehe Hugh Kennedy: An Historical Atlas of Islam. Atlas historique de l’Islam. Leiden u. a. 2002, S. 42, Bregel: Atlas, S. 31, 32, 44 und Andreas Birken: Atlas of Islam. 1800–2000. Leiden, Bosten 2010, S. 72–73. Zu Naturraum und Bevölkerungen vgl. Fragner: Zentralasien, S. 16–22 und Paul (Hrsg.): Zentralasien, S. 42–45. 8 Vgl. Michail Afrikanovič Terent’ev: Istorija zavoevanija Srednej Azii. S kartami i planami. Bd. 1. Sankt Peterburg 1906, Michail Afrikanovič Terent’ev: Istorija zavoevanija Srednej Azii. S kartami i planami. Bd. 2. Sankt Peterburg 1906, Michail Afrikanovič Terent’ev: Istorija zavoevanija Srednej Azii. S kartami i planami. Bd. 3. Sankt Peterburg 1906. Für eine britische Darstellung siehe Alexis Krausse: Russia in Asia. A record and a study. 1558–1899. London, New York 1899.

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Einleitung

zentrale Protagonisten konzentrierten Darstellungen setzten sich beispielsweise bei Lobanov-Rostovsky bis Mitte des letzten Jahrhunderts fort.9 In jüngeren Gesamtdarstellungen zur russischen Geschichte fand die Eroberung Turkestans, wenn überhaupt, vor allem als Teil der imperialen Außenpolitik statt, wie beispielsweise zuletzt bei Hildermeier.10 Darüber hinaus haben jüngere Darstellungen die Folgen für die Kulturen, die Religion oder die Gemeinwesen der indigenen Bevölkerungen aufgenommen oder die russische Eroberung zu einem Teil einer eigenständigen Erzählung über die Geschichte eines jeweils verschieden definierten Mittelasiens gemacht.11 Das Ende der Sowjetunion machte neue Quellenbestände des alten imperialen Zentrums, wie auch der alten imperialen Randregion zugänglich, denen sich jüngere Arbeiten mit neuen Fragen und veränderten, analytischen Zugängen gewidmet haben. Die Geschichte RussischTurkestans wurde dabei in Gänze oder bezüglich einzelner Teilgebiete aus kolonialoder religionsgeschichtlicher Perspektive12 , mit mikrohistorischer oder strukturgeschichtlicher Herangehensweise13 oder mit einem Fokus auf Akteure oder Ideologien untersucht.14 Dabei wurde die Region sowohl in Erklärungszusammenhänge für den nahen Untergang des Zarenreiches, wie auch für dessen bemerkenswerte Persistenz gestellt.15

9 Vgl. Andrej Lobanov-Rostovsky: Russia and Asia. Ann Arbor 1951, S. 147–192. Ein deutschsprachiges Pendant ist Otto Hoetzsch: Russland in Asien. Geschichte einer Expansion. Stuttgart 1966, S. 76–122. 10 Vgl. Manfred Hildermeier: Geschichte Russlands. Vom Mittelalter bis zur Oktoberrevolution. München 2013, S. 1112–1119. Bei Haumann fand die Eroberung Turkestans keine Erwähnung. Vgl. Heiko Haumann: Geschichte Rußlands. Zürich 2003. 11 Vgl. Edward Allworth (Hrsg.): Central Asia. 130 Years of Russian Dominance. A Historical Overview. Durham, London 1994, Part I, Svat Soucek: A History of Inner Asia. Cambridge u. a. 2000, S. 195–224, Peter B. Golden: Central Asia in World History. Oxford u. a. 2011, S. 105–121. 12 Vgl. Brower für den kolonialgeschichtlichen Blickwinkel und Crews für die religionsgeschichtliche Perspektive: Daniel Brower: Turkestan and the Fate of the Russian Empire. London u. a. 2003, S. ix-xv, Robert D. Crews: For Prophet and Tsar. Islam in Russia and Central Asia. Cambridge, MA. u. a. 2006, S. 6–7. 13 Vgl. Morrison für eine strukturgeschichtliche Perspektive und Happel für einen mikrohistorischen Zugang: Alexander Morrison: Russian Rule in Samarkand. 1868–1910. A Comparison with British India. Oxford u. a. 2008, S. 2–3, Jörn Happel: Nomadische Lebenswelten und zarische Politik. Der Aufstand in Zentralasien 1916. Stuttgart 2010, S. 15–16, 20. 14 Vgl. Sahadeo für imperiale Vorstellungswelten in den kolonialen Eliten in Taschkent und Obertreis für Modernitätsvorstellungen am Beispiel von Bewässerungsmaßnahmen und Baumwollanbau: Jeff Sahadeo: Russian Colonial Society in Tashkent. 1865–1923. Bloomington, Indianapolis 2007, S. 2–3, 5, Julia Obertreis: Imperial Desert Dreams. Cotton Growing and Irrigation in Central Asia, 1860–1991. Göttingen 2017, S. 18–19. 15 Russisch-Turkestan ist mittlerweile auch zum Untersuchungsgegenstand benachbarter Felder geworden, beispielsweise in der Studie von Mark zur Außenpolitik des zweiten deutschen Kaiserreiches.

Militärischer Aufbruch: Die russische Expansion nach Mittelasien

Der zuletzt genannte Punkt berührt einen Gegenstand der gegenwärtigen Imperien-Forschung. In jüngeren Arbeiten wurden die Großreiche Aust und Schenk zufolge „wieder verstärkt als langlebige, anpassungsfähige und relativ erfolgreiche Organisationssysteme ethnischer, kultureller und politischer Vielfalt“16 gesehen. Hinsichtlich der Frage nach den die Reiche stabilisierenden Faktoren habe Cannadine argumentiert, so die beiden Autoren weiter, dass Imperien auch als „culturally created and imaginatively constructed artifact[s]“17 verstanden werden können. Aust und Schenk haben diese Perspektive aufgegriffen und mit Bezug auf Anderson formuliert, dass auch Imperien als „imagined political communit[ies]“18 aufgefasst werden können. Beide Autoren haben weiter argumentiert, dass der Zusammenhalt des jeweiligen Reiches auch auf „Diskursen imperialer Selbstbeschreibung und Identifikation“19 der Untertanen mit dem Staat gegründet gewesen sei.20 Diese These haben die Autoren im Kontext des Forschungsprojektes „Imperial Subjects. Autobiographische Praktiken und historischer Wandel in den Kontinentalreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen (Mitte 19. bis frühes

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17 18 19

20

Vgl. Rudolf A. Mark: Im Schatten des Great Game. Deutsche „Weltpolitik“ und russischer Imperialismus in Zentralasien 1871–1914. Paderborn u. a. 2012, S. 14–17. Martin Aust/Frithjof Benjamin Schenk: „Einleitung: Autobiographische Praxis und Imperienforschung“. In: dies. (Hrsg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2015, S. 11–38, hier S. 11. Siehe beispielsweise die Studien in den Bänden von Gehler/Rollinger. Vgl. Michael Gehler/Robert Rollinger (Hrsg.): Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche. Bd. 1. Imperien des Altertums, Mittelalterliche und frühneuzeitliche Imperien. Wiesbaden 2014, Michael Gehler/Robert Rollinger (Hrsg.): Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche. Bd. 2. Neuzeitliche Imperien, zeitgeschichtliche Imperien, Imperien in Theorie, Geist, Wissenschaft, Recht und Architektur, Wahrnehmung und Vermittlung. Wiesbaden 2014. David Cannadine: Ornamentalism. How the British saw their Empire. Oxford u. a. 2002, S. 3. Benedict Anderson: Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism. London, New York 2006, S. 6. Aust/Schenk: Einleitung, S. 12. Zur Untersuchung von Diskursen der Selbstbeschreibung im Russländischen Reich siehe Ilya Gerasimov/Sergey Glebov/Jan Kusber/Marina Mogilner/Alexander Semyonov: “New Imperial History and the Challenges of Empire”. In: Ilya Gerasimov/Jan Kusber/ Alexander Semyonov (Hrsg.): Empire Speaks Out. Languages of Rationalization and Self-Description in the Russian Empire. Leiden 2009, S. 3–32. Jobst hat diesen Gedanken in ihrer Studie über den russischen Krim-Diskurs indirekt ebenfalls reflektiert. Für Großbritannien, so die Autorin, sei für die Zeit nach dem Krimkrieg festgestellt worden, „daß [sic!] von da an ein militarisiertes Männlichkeitsbild bewusst zur Stabilisierung des British Empire [Herv. im Orig., Anm. d. A.] eingesetzt wurde.“ Als Medium habe die militärische Erinnerungskultur gedient. Für Russland wies Jobst auf Parallelen in der Verwendung der Erinnerungen an die Verteidigungen Sevastopol’s im Schulunterricht hin. Vgl. Kerstin S. Jobst: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007, S. 371–372.

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Einleitung

20. Jahrhundert)“ entwickelt.21 Die nachfolgende Studie ist in engem Austausch mit dem Forschungsprojekt entstanden und greift die These von Aust und Schenk auf. Sie untersucht Beiträge aus dem russischsprachigen autobiografischen Diskurs22 innerhalb des Turkestan-Diskurses im späten Zarenreich hinsichtlich der darin zirkulierten Deutungs- und Identifikationsmuster für die geschilderten historischen Zusammenhänge.23

1.2 Literarischer Aufbruch: Biografik, Autobiografik und das Zarenreich Parallel zur Expansion des Imperiums in Mittelasien ist sowohl eine Belebung des russischen Verlagswesens als auch ein Aufblühen der russischsprachigen Autobiografik zu verzeichnen gewesen. Für beide Aspekte sind unter anderem das im Verlauf des 19. Jahrhunderts steigende Bildungsniveau in breiteren Bevölkerungsschichten, die gesellschaftliche Öffnung im Zuge der „Großen Reformen“ nach der Jahrhundertmitte und die damit einhergehende partielle Liberalisierung der Zensur sowie die Einführung technischer Innovationen, wie der Rotationspresse, verantwortlich gewesen. Die sich erweiternde Verlagslandschaft bediente den sich herausbildenden Massenmarkt auch mit einer wachsenden Zahl periodisch erscheinender Publikationen in diversen Formaten. In diesen „dicken Journalen“, wie beispielsweise „Russisches Altertum“ (Russkaja starina) oder „Russisches Archiv“ (Russkij archiv), ist ein erheblicher Teil der Memoiren, Erinnerungen, Zeitzeugenund Teilnahmeberichte erschienen, die neben der steigenden Zahl an Autobiografien den „autobiographische[n] Boom“24 in der zweiten Jahrhunderthälfte ausgemacht haben. Die mit Russisch-Turkestan verbundene Autobiografik, welche

21 Für weiterführende Informationen zu dem von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und dem Schweizerischen Nationalfonds (SNF) geförderten Projekt siehe: https://dg.philhist.unibas.ch/de/bereiche/osteuropaeische-geschichte/forschung/imperial-subjects/. 22 Der Begriff Diskurs wird hier nach Steinmetz als „Abfolge von Aussagen, die sich auf ein Thema beziehen und gewissen Regeln folgen […] und als […] vernünftige[r] Dialog mehrerer Sprecher“ verstanden. Vgl. Willibald Steinmetz: ‚Diskurs‘. In: Stefan Jordan (Hrsg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart: 2007, S. 56–57. Siehe auch Achim Landwehr: Historische Diskursanalyse. Frankfurt/M., New York 2008, S. 15–17, 20–22. 23 Vgl. für eine jüngere Untersuchung, die auch nach den Kohäsionskräften fragt und einen biografischen Zugang nutzt, Willard Sunderland: The Baron’s Cloak. A History of the Russian Empire in War and Revolution. Ithaca, New York 2014, S. 7. 24 Martin Aust: Die Russische Revolution. Vom Zarenreich bis zum Sowjetimperium. München 2017, S. 236. Aust und Schenk konstatieren das Anwachsen der Autobiografik im Zarenreich für das späte 19. Jahrhundert. Vgl. Aust/Schenk: Einleitung, S. 15.

Literarischer Aufbruch: Biografik, Autobiografik und das Zarenreich

den Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit darstellt, ist Teil dieser Entwicklung gewesen.25 Hatte Schmid noch eine umfangreiche Untersuchung des publizierten Teiles der russischen Autobiografik empfohlen, stellte Aust unlängst fest, dass die jüngere Forschung zu Biografik und Autobiografik des russischen Imperiums eine steigende Zahl von Arbeiten verzeichnet. Biografische Ansätze seien einerseits dazu eingesetzt worden, so Aust weiter, um strukturelle Zusammenhänge beispielhaft aufzuarbeiten.26 Andererseits seien sie für die Untersuchung der kulturellen Konstruktion von Individualität27 verwendet worden. Die fruchtbare Verbindung geschichts- und literaturwissenschaftlicher Theorieangebote, wie sie beispielsweise der von Hellbeck und Heller vorgeschlagene und bei Aust und Schenk weiter verfolgte Ansatz der „autobiografischen Praktiken“ nutzt, haben unter anderem zu einem integrativen Quellenverständnis geführt, das neben Autobiografien auch Memoiren, Tagebücher, Briefe oder Reiseberichte berücksichtigt.28 Bereits vorliegende Studien zu Angehörigen des Adels, der Kauf-

25 Siehe hierzu ausführlich Kapitel 3. Vgl. Toby W. Clyman/Judith Vowles: “Introduction”. In: dies. (Hrsg.): Russia through Women’s Eyes. Autobiographies from Tsarist Russia. New Haven, London 1996, S. 1–46, hier S. 10, Barbara Walker: On Reading Soviet Memoirs: A History of the ‘Contemporaries’ Genre as an Institution of Russian Intelligentsia Culture from the 1790s to the 1970s. In: The Russian Review 59/3 (2000), S. 327–352, hier S. 337–338, Jeffrey Brooks: “[3] The Literature of the Lubok”. In: Stephen Colclough/Alexis Weedon (Hrsg.): The History of the Book in the West: 1800–1914. Bd. IV. Farnham 2010, S. 45–48, 77–80, Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1263–1265. 26 Siehe hierfür beispielsweise Malte Rolf: Einführung: Imperiale Biographien. Lebenswege imperialer Akteure in Groß- und Kolonialreichen (1850 – 1918). In: Geschichte und Gesellschaft 40 (2014), S. 5–21, hier S. 7–8 und Tim Buchen/Malte Rolf: Eliten und ihre imperialen Biographien. Zur Einführung. In: dies. (Hrsg.): Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918). Berlin 2015, S. 3–31, hier S. 6–9, sowie die bei ihnen veröffentlichten Studien. In ähnlicher Weise sehen Norris und Sunderland individuelle Erfahrung als Schlüssel zu Dynamiken hinter historischen Entwicklungen. Ihr Band untersucht in 31 biografischen Studien die Wirkung der ethnischen, kulturellen oder religiösen Diversität des Imperiums seit dem 16. Jahrhundert. Vgl. Stephen M. Norris/Willard Sunderland: “Introduction: Russia’s People of Empire”. In: dies. (Hrsg.): Russia’s People of Empire. Live Stories from Eurasia, 1500 to the Present. Bloomington, Indianapolis 2012, S. 1–15, hier S. 3–4. 27 Schmid fragt nach dem Aufkommen des Individuums im Zarenreich. Vgl. Ulrich Schmid: Ichentwürfe. Die russische Autobiographie zwischen Avvakum und Gercen. Zürich 2000, S. 42. Die bei Herzberg und Schmidt versammelten Studien sind an den Merkmalen individueller Identitätsauffassung interessiert. Vgl. Christoph Schmidt: „Einleitung“. In: Julia Herzberg/Christoph Schmidt (Hrsg.): Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Köln u. a. 2007, S. 7–14, hier S. 14. 28 Vgl. Jochen Hellbeck/Klaus Heller: „Vorwort“. In: dies. (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia – Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, S. 7–9, hier S. 8, Martin Aust/ Frithjof Benjamin Schenk (2015): „Einleitung: Autobiographische Praxis und Imperienforschung“.

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Einleitung

mannschaft, des Militärs29 , aus der Beamten- und Bauernschaft oder speziell zur Autobiografik von Frauen30 decken ein größeres soziales und gesellschaftliches Spektrum ab, das zunehmend über die Reichseliten hinausreicht. Darüber hinaus

In: dies. (Hrsg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2015, S. 11–38, hier S. 15–16. 29 Vgl. beispielsweise zum Adel Larisa Zacharova: „Die Persönlichkeit des Autokraten: Alexander II. in seinen Tagebüchern und Briefen“. In: Jochen Hellbeck/Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia – Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, S. 103–126 oder Christoph Schmidt: „Die Kirche des Ivan Annenkov. Adelige Frömmigkeit und Säkularisierungsvermutung in der russischen Provinz 1745–1766“. In: Julia Herzberg/Christoph Schmidt (Hrsg.): Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Köln u. a. 2007, S. 95–108, zur Kaufmannschaft Klaus Heller: „Selbstzeugnisse aus dem ‚Moskau der Kaufleute‘ vor 1917 und ihre Interpretationen“. In: Jochen Hellbeck/Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia – Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, S. 127–154 oder Galina Ul’janova: Autobiographische Texte russischer Kaufleute und ihre kulturelle Dimension. In: Jochen Hellbeck/Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia – Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, S. 155–178 und zu den Militärs Bradley D. Woodworth: “The Imperial Career of Gustaf Mannerheim. Mobility and Identity of a Non-Russian within the Russian Empire”. In: Tim Buchen/Malte Rolf (Hrsg.): Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918). Berlin 2015, S. 135–154. 30 Vgl. zu Beamten Boris Ganichev: Reflexionen imperialen Wandels in der bürokratischen Autobiographie des Geheimrats Nikolaj A. Kačalov (1818–1891). In: Bios 28/1–2 (2015), S. 19–40, Peter Holquist: “Bureaucratic Diaries and Imperial Experts. Autobiographical Writing in Tsarist Russia in the late Nineteenth Century: Fedor Martens, Dmitrii Miliutin, Petr Valuev.” In: Martin Aust/Frithjof Benjamin Schenk (Hrsg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2015, S. 205–232 oder Jörg Ganzenmüller: „Vom Modernisierer zum Russifizierer? Michail N. Murav’ev und die Polenpolitik des Russischen Reiches“. In: Tim Buchen/Malte Rolf (Hrsg.): Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918). Berlin 2015, S. 49–64, zur Bauernschaft Roland Cvetkovski: “Ich, Šalagin! Person, Individualität und Identität eines russischen Bauernjungen“. In: Julia Herzberg/Christoph Schmidt (Hrsg.): Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Köln u. a. 2007, S. 325–346 oder Julia Herzberg: Gegenarchive. Bäuerliche Autobiographik zwischen Zarenreich und Sowjetunion. Bielefeld 2013. Für die Autobiografik von Frauen siehe beispielsweise Part I. und II. bei Catriona Kelly: A History of Russian Women’s Writing 1820–1992. Oxford 1994, die Anthologie von Clyman und Vowles, vgl. Toby W. Clyman/Judith Vowles (Hrsg.): Russia through Women’s Eyes. Autobiographies from Tsarist Russia. New Haven, London 1996, S. 1–46, Elena Gretchanaja: „Marginalität als Mechanismus der Selbsterkenntnis: Autobiographische Texte russischer Katholikinnen des frühen 19. Jahrhunderts“. In: Jochen Hellbeck/Klaus Heller (Hrsg.): Autobiographical Practices in Russia – Autobiographische Praktiken in Russland. Göttingen 2004, S. 49–76 oder Angelika Schmähling: „Auf dem Tugendpfad. Die Aufzeichnungen der Freimaurerin A.E. Labzina (1758–1828)“. In: Julia Herzberg/Christoph Schmidt (Hrsg.): Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Köln u. a. 2007, S. 147–176.

Material: Dokumente autobiografischer Praxis und Turkestan

haben mittlerweile verschiedene Projekte den Mehrwert einer interimperial vergleichenden Perspektive verdeutlicht.31 Zu Recht stellte Aust aber fest, dass bisher vor allem Russen aus den westlichen Reichsteilen Gegenstand der Betrachtung waren und die Heterogenität des Imperiums noch ungenügend erfasst wurde.32

1.3 Material: Dokumente autobiografischer Praxis und Turkestan Die vorliegende Arbeit wendet sich daher bewusst mit Akteuren, die in Turkestan tätig gewesen sind, der südöstlichen Reichsperipherie zu. Ebenso bewusst wurde ein Textsample aus publizierten autobiografischen Schriften dieser Akteure ausgewählt, weil diese Quellen innerhalb der Forschungen zu Mittelasien aus russisch-imperialer Perspektive laut Morrison immer noch „vital and under-used sources“33 darstellen. Zudem haben sie durch ihre Veröffentlichung erst die Wirkmächtigkeit erlangt, durch die der Diskurs, zu dem sie beigetragen haben, die angesprochenen kohäsiven Kräfte entfalten konnte.34 Der Quellenauswahl dienten zunächst 139 teils mehrteilige Schriften als Grundlage, die in der Bibliografie zu russischsprachiger Memoiren-Literatur bis 1917 von Zajončkovskij verzeichnet sind und einen inhaltlichen Bezug zu Mittelasien aufweisen.35 In der Mehrzahl handelt es sich um Augenzeugen-, Reise- und Teilnah-

31 Die Bände von Aust/Schenk und Buchen/Rolf haben beispielsweise Studien zu Angehörigen des Habsburger, des Osmanischen und des Russischen Reiches in vergleichender Perspektive versammelt. Vgl. Martin Aust/Frithjof Benjamin Schenk (Hrsg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2015, Tim Buchen/Malte Rolf (Hrsg.): Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918). Berlin 2015. 32 Vgl. Schmid: Ichentwürfe, S. 38, Aust: Revolution, S. 215–219, 221. 33 Alexander Morrison: ‘Nechto eroticheskoe’, ‘courir après l’ombre’? – logistical imperatives and the fall of Tashkent, 1859–1865. In: Central Asian Survey 23/2 (2014), S. 153–169, hier S. 135. 34 Der Gedanke ist durch Clyman und Vowles angeregt. Vgl. Clyman/Vowles: Introduction, S. 9. 35 Vgl. Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 1: XV-XVIII veka. Moskva 1976, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 2,1: 1801–1856. Moskva 1977, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 2,2: 1801–1856. Moskva 1978, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 3,1: 1857–1894. Moskva 1979, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 3,2: 1857–1894. Moskva 1980, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 3,3: 1857–1894. Moskva 1981, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominani-

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Einleitung

meberichte, in denen die Autoren über ihre Teilnahme an einzelnen militärischen Schlachten oder ganzen Kampagnen, wissenschaftlichen Expeditionen oder über ihre Mitwirkung in der Verwaltung berichten. Die zweitgrößte Gruppe stellen die als Memoiren erkennbaren oder als Erinnerungen (vospominanija) bezeichneten Texte dar, die zumeist kurze Lebensphasen in Turkestan zum Gegenstand haben. Zudem sind vereinzelt Kriegs- oder Reisetagebücher verzeichnet. Die Schriften erschienen überwiegend als Artikel beziehungsweise Artikelserien in den angesprochenen Periodika und wurden in deutlich geringerer Zahl als Monografie beziehungsweise Sammelbandbeitrag veröffentlicht. Vollständige Autobiografien wurden nicht aufgefunden.

jach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 3,4: 1857–1894. Moskva 1982, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 4,1: 1895–1917. Moskva 1983, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 4,2: 1895–1917. Moskva 1984, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 4,3: 1895–1917. Moskva 1985, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 4,4: 1895–1917. Moskva 1986, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 5,1: Literatura. Moskva 1988, Petr A. Zajončkovskij: Istorija dorevoljucionnoj Rossii v dnevnikach i vospominanijach. Annotirovannyj ukazatel knig i publikacij v žurnalach. Bd. 5,2: Dopolnenija k T. 1–5. XV v.-1917 g. Moskva 1989. Zu der aus den Jahren 1911 und 1912 stammenden Bibliografie von Minclov existieren zahlreiche Überschneidungen. Aufgrund fehlender biografischer Informationen zu den verzeichneten Autoren wurde sie jedoch nicht in die systematische Quellenauswahl einbezogen. Vgl. Sergej R. Minclov: Obzor zapisok, dnevnikov, vospominanij, pisem i putešestvij, otnosjaščichsja k istorii Rossii i napečatannych na russkom jazyke. Cambridge 1971. Ein weiteres, jedoch nicht primär auf Dokumente autobiografischer Praxis ausgerichtetes Findmittel stellt der dreibändige, zwischen 1878 und 1888 erschienene „Turkestanskij sbornik“ dar. Vgl. Vladimir Izmajlovič Mežov (Hrsg.): Turkestanskij sbornik sočinenij i statej otnosjaščichsja do Srednej Azii voobšče i turkestanskogo kraja v osobennosti, sistematičeskij i azbučnyj ukazateli sočinenij i statej na russkom i inostrannom jazykach. Tomy 1–150. Bd. 1. Sankt Peterburg 1878, Vladimir Izmajlovič Mežov (Hrsg.): Turkestanskij sbornik sočinenij i statej otnosjaščichsja do Srednej Azii voobšče i turkestanskogo kraja v osobennosti, sistematičeskij i azbučnyj ukazateli sočinenij i statej na russkom i inostrannom jazykach. Tomy 151–300. Bd. 2. Sankt Peterburg 1884, Vladimir Izmajlovič Mežov (Hrsg.): Turkestanskij sbornik sočinenij i statej otnosjaščichsja do Srednej Azii voobšče i turkestanskogo kraja v osobennosti, sistematičeskij i azbučnyj ukazateli sočinenij i statej na russkom i inostrannom jazykach. Tomy 301–416. Bd. 3. Sankt Peterburg 1888. Bibliografische Angaben sowie vollständige Texte zu diversen, unter anderem mit Turkestan verbundenen Themen von vor 1914 finden sich auch in der Datenbank „Zerrspiegel“, die von dem Orientalischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg betrieben wird. Vgl. Orientalisches Institut der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg: Zerrspiegel [zuletzt aufgerufen am 04.09.2018].

Material: Dokumente autobiografischer Praxis und Turkestan

Clyman und Vowles haben darauf hingewiesen, dass der Publikation von Memoiren bis in die 1860er Jahre der Vorwurf des Egozentrismus angehaftet hat. Zuvor wurden autobiografische Texte meist unpubliziert im engen Familien- und Freundeskreis zirkuliert. Ob die angesprochene Kritik ihre Wirkung auf das Format der Autobiografie deutlich länger behalten hat, kann hier nicht abschließend geklärt werden.36 Es ist zumindest auffällig, dass produktive Autoren, wie zum Beispiel der Orenburger Lehrer Aleksandr Fedorovič Ivčenko, keine Autobiografie hinterlassen haben. Ivčenko hat neben einem Lehrbuch verschiedene Berichte über seine Reisen in Mittelasien publiziert.37 Die Autorenschaft hat zum überwiegenden Teil aus Offizieren bestanden. In absteigender Anzahl folgten Wissenschaftler, Publizisten und verschiedene zivile Staatsbedienstete, wie der angesprochene Lehrer. Zwischen diesen Kategorien existierten jedoch zahlreiche Überschneidungen, weil durch die kombinierte militärisch-zivile Verwaltung des Generalgouvernements zahlreiche zivile Verwaltungsposten von Offizieren ausgefüllt wurden. Zudem hatten beispielsweise Forschungsreisende nicht selten militärische Ränge.38 Aus diesem Material wurden 41 Autoren ausgewählt, die ihre Schriften zwischen den frühen 1860er Jahren und etwa der Mitte des Ersten Weltkrieges veröffentlicht haben.39 Die Auswahl des Samples ist durch sechs Kriterien bestimmt worden: Die Autorenschaft sollte möglichst verschiedene (1) gesellschaftliche und (2) berufliche Gruppen abbilden, die in Turkestan aktiv gewesen sind. (3) Alter und (4) Geschlecht sollten ebenfalls variieren. Die verschiedenen, bereits genannten (5) Textsorten sollten berücksichtigt werden. Mit diesen Kriterien sollte eine möglichst heterogene Autorenschaft zusammengestellt werden und die angenommene Vielfalt ihrer autobiografischen Praktiken zum Gegenstand der Analyse gemacht werden.

36 Vgl. Clyman/Vowles: Introduction, S. 13–14. 37 Vgl. die im OPAC der Russischen Nationalbibliothek (RNB), St. Petersburg verzeichneten Schriften Ivčenkos, die Publikationsverweise bei Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 4,1, sowie den Hinweis in der Fußnote bei Ivčenko selbst. Vgl. Aleksandr Fedorovič Ivčenko: Čerez Kizyl-kum. In: Izvestija Imperatorskago Russkago Geografičeskago Obščestva 52/1 (1916), S. 71–92, hier S. 71. 38 Vgl. hierzu umfassend Kapitel 3.7 sowie die Biogramme in Anhang. Ein prominentes Beispiel für die enge Verzahnung von militärischen und wissenschaftlichen Institutionen, Interessen und dem Denken in Bezug auf Mittelasien zeigt sich in der Biografie von Nikolaj Michajlovič Prževal’skij. Vgl. David Schimmelpenninck van der Oye: Toward the Rising Sun. Russian Ideologies of Empire and the Path to War with Japan. DeKalb, Illinois 2001, S. 24–41. 39 Hinsichtlich der Frage der Repräsentativität schließt sich die vorliegende Arbeit Schattenberg an, die argumentiert: „dass es oft genügt, eine relativ geringe Zahl von Memoiren miteinander zu vergleichen, um ein gewisses Grundmuster zu erkennen und so einen Anhaltspunkt dafür zu bekommen, was eher typisch und was eher exzeptionell war.“ Vgl. Susanne Schattenberg: Die korrupte Provinz? Russische Beamte im 19. Jahrhundert. Frankfurt/M., New York 2008, S. 38.

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Schließlich sollten die gewählten Texte möglichst (6) viele Phasen der russischen Eroberung und Herrschaft in Mittelasien im Untersuchungszeitraum abdecken.

1.4 Theoretischer Zugang und Forschungsfragen: Autobiografische Praxis und imperiale Peripherie Der Vielfalt der genannten Textsorten in dem Quellensample begegnet die Arbeit mit dem bereits erwähnten Konzept der „autobiografischen Praktiken“ von Hellbeck und Heller. Während ältere theoretische Ansätze vor allem auf die klassische Autobiografie ausgerichtet gewesen sind40 , ermöglicht der Fokus auf die Praktiken ein integratives Quellenverständnis, das den Einbezug der angesprochenen Textsorten ermöglicht. Demnach sind „autobiografische Texte nicht nur als eine literarische Form und nicht nur als passive Dokumente, sondern als aktive Werkzeuge einer bestimmten Selbstkonzeption“41 zu verstehen. Daran anknüpfend betrachten Aust und Schenk die in den Texten niedergelegten Biografien und die in ihnen handelnden Subjekte selbst „als Produkte eines rückblickenden Deutungs-, Konstruktions- und Sinngebungsprozesses einer sich erinnernden Person zu einem spezifischen Zeitpunkt“42 , während der Erarbeitung des Textes. Dieses Verständnis macht sich die nachfolgende Arbeit zu eigen und untersucht welche Selbstdeutungen und -konstruktionen die Autoren im Hinblick auf die spezifischen Bedingungen Turkestans, am Rand des Imperiums, von sich entworfen haben und welchen Sinn sie ihrem Handeln vor Ort während der Eroberung, Erschließung und Beherrschung gegeben haben. Welche Begründungsweisen der Expansion finden sich in ihren Schriften wieder? Welchen Sinn geben die Akteure ihrem militärischen Kampf beziehungsweise ihrem Handeln zur Erforschung, Erschließung und Verwaltung der Großregion in ihren Selbstbeschreibungen? Entsprechend den genannten Textsorten werden keine vollständigen Selbstbeschreibungen, sondern einzelne Elemente davon untersucht.

40 Vgl. für ein Überblick wirksamer Begriffsbildungen aus dem mitteleuropäischen Forschungskontext Julia Herzberg: „Autobiographik als historische Quelle in ‚Ost‘ und ‚West‘“. In: Julia Herzberg/ Christoph Schmidt (Hrsg.): Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographik im Zarenreich. Köln u. a. 2007, S. 15–62, hier S. 17–18. Für Stand und Perspektiven der Autobiografie-Forschung in der Geschichtswissenschaft siehe Volker Depkat: Zum Stand und zu den Perspektiven der Autobiographieforschung in der Geschichtswissenschaft. In: BIOS 23/2 (2010), S. 170–187, hier S. 172–179. Zu theoretischen Diskussionen im Bereich life writing (nicht nur) aus dem angloamerikanischen Raum vgl. Sidonie Smith/Julia Watson: Reading Autobiography. A Guide for Interpreting Life Narratives. Minneapolis, London 2001, S. 193–234. 41 Hellbeck/Heller: Vorwort, S. 8. 42 Aust/Schenk: Einleitung, S. 16.

Forschungsstand: Biografik, Autobiografik und Turkestan

Zudem ist autobiografisches Schreiben laut Depkat in „Prozesse sozialer Selbstverständigung eingebunden […], durch die Gesellschaften ihr Wissen von der Vergangenheit in konkreten historischen Konstellationen aufbereiten, verfestigen, kontrollieren und weitergeben.“43 Im konkreten Untersuchungszusammenhang ist es das historische Wissen um die militärische Eroberung, die Erforschung, die Verwaltung und Erschließung des Raumes, der Natur und der Bevölkerungen Mittelasiens gewesen, an dessen diskursiver Aushandlung die Autoren mit ihren Publikationen teilgenommen haben. Die nachfolgende Untersuchung fragt daher nach den spezifischen Inhalten, die hinsichtlich der fünf Punkte zirkuliert wurden. Sie untersucht charakteristische Erzählweisen und Figuren für diese in den Schriften und fragt nach deren Funktionen innerhalb der autobiografischen Erzählungen. Sowohl Hellbeck und Heller als auch Depkat haben auf die gesellschaftliche und kulturelle Rückgebundenheit dieser Prozesse hingewiesen. Autobiografisches Schreiben ist nach Depkat ein „Akt sozialer Kommunikation, durch den sich der Verfasser zu seinem Umfeld in Beziehung setzt und in seiner Erzählung zugleich durch dieses Umfeld geprägt ist“44 . Die vorliegende Studie wird daher einerseits untersuchen, welchen Einfluss die von den Autoren imaginierte Leserschaft, ihre persönlichen Umfelder, institutionelle Rahmenbedingungen oder die Redaktionen der Journale auf Entstehung und Ausformung der Selbstentwürfe besessen haben. Andererseits fragt sie nach den Gemeinschaften und Gruppen innerhalb und außerhalb Turkestans, denen sich die Autoren in ihren Schriften zugeordnet haben.45 Mit dieser Untersuchung der in den Dokumenten autobiografischer Praxis verhandelten Inhalte, verwendeten Erzählweisen, deren Funktionen innerhalb der Selbstbeschreibungen und den damit verbundenen Selbstkonstruktionen, -deutungen und -verortungen begibt sich die vorliegende Studie im Sinne der bereits angesprochenen, jüngeren Imperien-Forschung auf die Suche nach dem kohäsiven Potential des autobiografischen Diskurses innerhalb des Turkestan-Diskurses im späten Zarenreich.

1.5 Forschungsstand: Biografik, Autobiografik und Turkestan Als gedanklicher Ausgangspunkt haben der Untersuchung zunächst die Studien von Schenk und Golbeck gedient. Die zuerst genannte Analyse behandelt die Memoiren Varvara Fedorovna Duchovskajas, der Ehefrau Sergej Michajlovič Duchovskojs, 43 Volker Depkat: Autobiographie und die soziale Konstruktion von Wirklichkeit. In: Geschichte und Gesellschaft 29/3 (2003), S. 441–476, hier S. 462. 44 Ebd., S. 442. 45 Hellbeck/Heller: Vorwort, S. 8.

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dem fünften Generalgouverneur Turkestans. In den Erinnerungen der Fürstin an die 1890er Jahre erscheint unter anderem Taschkent als persönliche und gesellschaftliche Endstation. Die das gesellschaftliche Leben Moskaus, St. Petersburgs sowie Westeuropas gewöhnte Hochadelige übte vor Ort an der Seite ihres Mannes repräsentative und wohltätige Funktionen aus, mit denen sie, laut Schenk, aber zunehmend weniger zurechtkam. Die Expansion schilderte die Fürstin als ein „männlich[es] imperial[es] Projek[t]“46 , das sie distanziert beobachtete.47 Dagegen hat sich der Finanzbeamte, Generalkonsul und Amateurwissenschaftler Nikolaj Fedorovič Petrovskij in seinen Briefen zwischen 1870 und 1895 aus Taschkent und Kaschgar, laut Golbeck, gegenüber seinen diversen Korrespondenzpartnern als kritischer, engagierter, versierter und loyaler Staatsdiener, Regionalexperte und Amateurwissenschaftler dargestellt. In den Briefen über seine beruflichen und privaten Aktivitäten erschienen seine abgelegenen Dienst- und Wohnorte, anders als bei Duchovskaja, auch als Ermöglichungsraum. Ähnlich der eingangs zitierten Romanfigur Tolstojs hat Petrovskij in Turkestan auf verschiedenen Ebenen Karriere gemacht und Ansehen erworben.48 Beide Studien verdeutlichen sehr unterschiedliche Perspektiven auf das Imperium an seiner mittelasiatischen Peripherie, die dortige Expansion und den Platz der beiden Akteure darin. Die nachfolgende Untersuchung wird zeigen, dass zahlreiche Diskursbeiträge, ähnlich Petrovskijs, vor allem durch positive Selbstbeschreibungen sowie positive Bezüge auf das Imperium, dessen Institutionen, Akteure und die eigenen Aufgaben vor Ort gekennzeichnet gewesen sind.49 Neben den zwei benannten Studien existieren weitere Arbeiten, die bereits bestimmte Teile des vorgestellten Materials analysiert haben. Levteeva hat sich ausschließlich der russischsprachigen Memoiristik aus und über Mittelasien zugewandt. Der Wert ihrer Arbeit besteht in dem breiten Spektrum publizierter und

46 Frithjof Benjamin Schenk: „Ich bin des Daseins eines Zugvogels müde“. Imperialer Raum und imperiale Herrschaft in der Autobiographie einer russischen Adeligen. In: L’Homme. Europäische Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 23/2 (2012), S. 49–64, hier S. 63. 47 Vgl. ebd., S. 53–6, Varvara Fedorovna Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija. Čto projdet, to budet milo. Sankt Peterburg 1913. 48 Eine ähnliche Sichtweise wurde zeitgenössisch laut Menning auch von dem Militärtaktiker Michail Ivanovič Dragomirov vertreten, der von 1878 bis 1889 Kommandant der Nikolai’schen Akademie des Generalstabes gewesen ist. Turkestan sei laut Dragomirov eine „vast factory for upstarts“ gewesen. Vgl. Bruce W. Menning: Bayonets Before Bullets. The Imperial Russian Army. 1861–1914. Bloomington, Indianapolis 2000, S. 281, FN 27. 49 Vgl. Matthias Golbeck: „(Selbst)beschreibungen von den Grenzen des Imperiums. Die Briefe des russischen Beamten und Amateurwissenschaftlers N.F. Petrovskij aus dem Generalgouvernement Turkestan und Kaschgar. 1870–1895.“ In: Martin Aust/Frithjof Benjamin Schenk (Hrsg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2015, S. 291–323.

Forschungsstand: Biografik, Autobiografik und Turkestan

unveröffentlichter autobiografischer Schriften, die sie für ihre Arbeit zusammengetragen hat. Allerdings wurde das Material im Sinne marxistisch-leninistischer Paradigmen unter anderem hinsichtlich der „charakteristische[n] Details und Besonderheiten der untersuchten Epoche“50 betrachtet und auf historische Fakten in Bezug auf die Eroberungs- und Verwaltungspolitik des Zarenreiches sowie die wissenschaftliche Erforschung Turkestans ausgewertet. Dabei orientierte sich die Darstellung an der von der sowjetischen Historiografie allgemein vertretenen Interpretation, wonach die russische Eroberung, trotz Gewalt und Ausbeutung, Fortschritt und Entwicklung in die Region gebracht habe und schließlich in einer sozialen und nationalen Befreiung gemündet sei. Ansatz und Interpretation wurden von jüngeren Darstellungen bereits kritisch hinterfragt.51 Zu deren Kreis zählen einige Studien, die das Material ganz oder teilweise nicht nur für die Erarbeitung struktureller Zusammenhänge verwendet haben. Matveev hat sich mit der Repräsentation Mittelasiens in auflagenstarken russischen Journalen befasst. Allerdings konzentriert sich seine Auswertung einerseits auf die Zeitschrift „Kornfeld“ (Niva) und andererseits auf die Berichterstattung über die Eroberung des Chanats von Chiva im Jahr 1873. Wesentliche Befunde Matveevs können mit der breiteren Quellenbasis und dem längeren Untersuchungszeitraum der vorliegenden Arbeit für weitere Abschnitte der Eroberungsgeschichte bestätigt werden.52 Abashin und Mamadaliev haben beide mikrohistorische Untersuchungen zur Einnahme Ošobas während der Unterwerfung des Chanats Kokand, in den Jahren 1875 bis 1876, und zur Belagerung Chodžents, im Jahr 1866, unternommen. Hierbei haben die Autoren unter anderem die Perspektive der an den Schlachten beteiligten russischen Offiziere analysiert. Deren dadurch aufgezeigte Erzählweisen über den militärischen Kampf werden in der vorliegenden Untersuchung aufgegriffen und ergänzt.53 Campbell hat sich unter anderem mit der Selbstdarstellung ziviler Akteure in Ostturkestan befasst, die an der Erforschung der Region beteiligt gewesen sind,

50 Larisa Georgievna Levteeva: Prisoedinenie Srednej Azii k Rossii v memuarnych istočnikach. Istoriografija problemy. Taškent 1986, S. 3. 51 Vgl. ebd., S. 3–5, Inomjon Mamadaliev: The defence of Khujand in 1866 through the eyes of Russian officers. In: Central Asian Survey 33/2 (2014), S. 170–179, hier S. 171. Siehe auch die Dissertation der Autorin: Larisa Georgievna Levteeva: Memuarnye istočniki po istorii Srednej Azii (vtoraja polovina XIX – načalo XX veka). Aftoref. dis. na soisk. učen. stepeni k. i. n. Taškent 1975. 52 Vgl. Aleksandr Matveev: “Perceptions of Central Asia by Russian Society: The Conquest of Khiva as Presented by Russian Periodicals”. In: Beate Eschment/Hans Harder (Hrsg.): Looking at the Coloniser. Cross-Cultural Perceptions in Central Asia and the Caucasus, Bengal and Related Areas. Würzburg 2004, S. 274–298. 53 Vgl. Sergei Abashin: The ‘fierce fight’ at Oshoba: a microhistory of the conquest of the Khoqand Khanate. In: Central Asian Survey 33/2 (2014), S. 215–231, Mamadaliev: Khujand.

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Einleitung

und hierfür auf Dokumente autobiografischer Praxis zurückgegriffen. Seine vergleichende Betrachtung der russischen und britischen Missionen nach Kaschgar, während der Herrschaft Jakub Beks, hat die auf wissenschaftlichen Forschungsund Untersuchungspraktiken beruhende Selbstdarstellungsweise dieser Akteure herausgearbeitet. Die nachfolgende Untersuchung wird diesen Befund um Erkenntnisse aus dem Bereich der Naturrezeption ergänzen. Hofmeisters umfassende und wegweisende Untersuchung zur russischen Zivilisierungsmission in Mittelasien dient der vorliegenden Arbeit vor allem hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den Indigenen und ihren Kulturen als wichtiger Referenzpunkt.54 Gleiches gilt für eine Reihe von Arbeiten, die sich ebenfalls ganz oder teilweise Dokumenten autobiografischer Praxis von russischsprachigen Akteuren in randständigen Gebieten des Imperiums und darüber hinaus gewidmet haben. Sherry, Jobst, Andreeva und Taki haben die Verarbeitung des Kaukasus, der Krim, des persischen und osmanischen Reiches sowie von deren Bevölkerungen und Kulturen in publizierten und unveröffentlichten Quellen russischer Akteure aus Militär, Diplomatie oder Wissenschaft untersucht. Die von ihnen gewonnenen Erkenntnisse über die in diesen Quellen zirkulierten Fremd- und Selbstbilder dienen der nachfolgenden Analyse als Einordnung, weil sie deren zeitliche Stabilität und überregionale Verbreitung verdeutlichen. Zu demselben Zweck wird trotz der anderen Quellengrundlage auch auf die Studie von Layton über die Repräsentation des Kaukasus in der russischen Literatur aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückgegriffen.55

1.6 Offene Perspektiven Auch in dieser Arbeit sind lohnenswerte Untersuchungsgegenstände unberücksichtigt geblieben. Zum einen konzentriert sich die vorliegende Arbeit fast ausschließlich auf Quellen russischer Provenienz. Das ist vor allem der Quellenlage geschuldet. So scheint es keine quantitativ vergleichbare, autobiografische Praxis im

54 Vgl. Campbell: Rethinking, Ulrich Hofmeister: Die Bürde des Weißen Zaren. Russische Vorstellungen einer imperialen Zivilisierungsmission in Zentralasien. Unveröffentlichte Dissertation: Universität Wien 2014. [zuletzt aufgerufen am 07.09.2018]. 55 Vgl. Susan Layton: Russian Literature and Empire. Conquest of the Caucasus from Pushkin to Tolstoy. Cambridge u. a. 1994, Dana Sherry: Kavkaztsy: Images of Caucaus and Politics of Empire in the Memoirs of the Caucasus Corps’ Officers, 1834–1859. In: Ab Imperio 2 (2002), S. 191–222, Elena Andreeva: Russia and Iran in the Great Game. Travelogues and Orientalism. London u. a. 2007, Jobst: Krim-Diskurs, Victor Taki: Tsar and Sultan. Russian Encounters with the Ottoman Empire. London, New York 2016.

Offene Perspektiven

Untersuchungszeitraum in den verschiedenen mittelasiatischen Kulturen gegeben zu haben. Die Gründe hierfür können an dieser Stelle nicht geklärt werden. Fest steht, dass das Druckereiwesen erst mit der russischen Eroberung in die Region kam. Zu dessen gängigen Erzeugnissen zählten Poesie, religiöse Texte aus Mittelasien sowie anonyme Werke aus oralen Traditionen. Hierbei handelte es sich überwiegend um bekannte Klassiker. Zu den wenigen zeitgenössisch verfassten Schriften gehörten Lehrbücher der islamischen Reformbewegung der Jadidisten oder Kommentare zu religiösen Schriften.56 Darüber hinaus existieren einige bekannte Ausnahmen: Die „Bābur-nāma“ genannte Autobiografie von Z.ahīr ad-Dīn Muh.ammad Bābur, dem Begründer des Mogul-Reiches, der von 1483 bis 1530 gelebt hat, liegt weit vor dem Untersuchungszeitraum.57 Der Reisebericht von Seid Abdul-Achad-chan, dem vorletzten Emir von Buchara, konzentriert sich auf dessen 1892/93 durchgeführte Reise nach St. Petersburg und verlässt damit den Untersuchungsraum.58 Zum erst 2004 in Übersetzung herausgegebenen Tagebuch des Bucharischen Rechtsgelehrten und Literaten Muh.ammad Sharīf-i S.adr-i Ziya bemerkte der Projektdirektor, den Herausgeber Edward Allworth zitierend, dass die Schrift ein seltenes Beispiel war. Aus Allworths Anmerkungen zu diesem Dokument wird zudem deutlich, dass es sich hierbei aufgrund der tadschikischen Sprache und des anderen literarischen und kulturellen Kontextes um einen eigenständigen Forschungsgegenstand handelt, der im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht untersucht werden konnte.59 Gleiches

56 Vgl. Adeeb Khalid: Printing, Publishing, and Reform in Tsarist Central Asia. In: International Journal of Middle East Studies 26/2 (1994), S. 187–200, hier S. 188–196. Babadzhanov griff für seine Untersuchung der Sicht indigener Intellektueller auf die russische Eroberung vielfach auf nicht-publizierte Dokumente in den verschiedenen regionalen Sprachen zurück. Vgl. Bakhtiiar Babadzhanov: “Russian Colonial Power in Central Asia as Seen by Local Muslim Intellectuals”. In: Beate Eschment/Hans Harder (Hrsg.): Looking at the Coloniser. Cross-Cultural Perceptions in Central Asia and the Caucasus, Bengal and Related Areas. Würzburg 2004, S. 75–90. 57 Vgl. Z.ahīr ad-Dīn Muh.ammad Bābur: Die Erinnerungen des ersten Großmoguls von Indien. Das Babur-nama. Zürich 1988. 58 Vgl. Abdulachad: Točnyj perevod dnevnika ego svetlosti emira Bucharskogo. Kazan’ 1894. Siehe auch Yastrebovas Untersuchung der zeitgenössischen Berichterstattung über die Reise in den Journalen „Kornfeld“ und „Heimat“. Vgl. Olga Yastrebova: “The Bukharan Emir ‘Abd al-Abad’s Voyage from Bukhara to St. Petersburg”. In: Beate Eschment/Hans Harder (Hrsg.): Looking at the Coloniser. Cross-Cultural Perceptions in Central Asia and the Caucasus, Bengal and Related Areas. Würzburg 2004, S. 63–73. 59 Vgl. Shahrbanou Tadjbakhsh: “Preface of the project director”. In: Edward Allworth (Hrsg.): The Personal History of a Bukharan Intellectual. The diary of Muh.ammad Sharīf-i S.adr-i Ziya. Leiden 2004, xix-xxv. Erkinov betont an einem Beispiel aus Chiva die Bedeutung von Poesie in Mittelasien für die Vermittlung des eigenen Standpunktes: „In general, Central Asians typically used poetry to express their thoughts and feelings connected with important matters and events taking place in their society.“ Vgl. Aftandil Erkinov: “The Conquest of Khiva (1873) from a Poet’s Point of

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Einleitung

gilt für etwaige autobiografische Texte in der indigenen Publizistik, wie in der bucharischen Zeitung „Edles Buchara“ (Buxara-yi šarif) oder der russisch initiierten Zeitung „Turkestanische einheimische Zeitung“ (Turkestanskaja Tuzemnaja Gazeta).60 Zum anderen erfährt die Arbeit eine zweite Einschränkung durch das fast vollständige Fehlen von Dokumenten autobiografischer Praxis von Autorinnen im Quellensample. Trotz intensiver Recherche konnten während der Zusammenstellung des Korpus zunächst nur die Texte von Duchovskaja, Lobri und Zlata Kapeljuš (Simonova) ausfindig gemacht werden. Auf die Schriften von Apreleva, Golovnina und Rossikova ist der Autor der vorliegenden Arbeit zu spät aufmerksam geworden, um sie in die nachfolgende Untersuchung einzubeziehen.61 Mit Blick auf diese und weitere Leerstellen im Quellensample müssen nachfolgende Untersuchungen die Unvollständigkeit der Bibliografie von Zajončkovskij berücksichtigen und nach neuen Zugängen zum Material suchen. Während auf den Text von Zlata Kapeljuš (Simonova) im Kapitel 5.5 eingegangen wird, sollen an dieser Stelle einige zentrale Befunde aus den Schriften Lobris und Duchovskajas angesprochen werden, weil sie auf Unterschiede im Vergleich zu den nachfolgend untersuchten Texten ihrer männlichen Zeitgenossen hindeuten. Beide Texte liegen hinsichtlich der behandelten Ereigniszeit, den Jahren um 1900, dicht beieinander. Lobris kurzer Artikel im „Russischen Boten“ (Russkij vestnik) umfasst ihren Aufenthalt in Andižan und Margelan, kurz vor dem Aufstand 1898. Dagegen behandeln Duchovskajas monografisch erschienene, deutlich längere Memoiren ihren Aufenthalt in der Region während der mehrjährigen Dienstzeit

View (Shaydā’ī)”. In: Beate Eschment/Hans Harder (Hrsg.): Looking at the Coloniser. Cross-Cultural Perceptions in Central Asia and the Caucasus, Bengal and Related Areas. Würzburg 2004, S. 91–103, hier S. 93–94. Die Analyse dieser Zeugnisse stellt somit einen eigenen Forschungsgegenstand dar. 60 Zu indigenen Zeitungen vgl. Morrison: Russian Rule, S. 78–79. Die von Simonova aufgenommenen und publizierten Erinnerungen von vier Samarkander Einwohnern wurden aufgrund ihrer nachfolgend behandelten Entstehung als Teil des russischen Diskurses über Turkestan in das Sample aufgenommen. Vgl. Ljudmila Christoforovna Simonova: „Razskazy o vzjatii Samarkanda. (So slov učastnikov dela)“. In: O. A.: Turkestanskij literaturnyj sbornik v pol’zu prokažennych. Sankt Peterburg 1900, Ljudmila Christoforovna Simonova: Razskazy očevidcev o zavoevanii russkimi Samarkanda i o semidnevnom sidenii. In: Istoričeskij vestnik 97/9 (1904), S. 859–866. 61 Vgl. Ol’ga Petrovna Lobri: Iz turkestanskich vospominanij. In: Russkij vestnik 261/5 (1899), S. 220–228, Simonova: Razskazy, Julija D. Golovnina: Na Pamirach. Zapiski russkoj putešetvennicy. Moskva 1902, Anna Efimovna Rossikova: Po Amu-Dar’e ot Petro-Aleksandrovska do Nukusa. In: Russkij Vestnik 47/230 (1902), S. 562–588, Anna Efimovna Rossikova: Po Amu-Dar’e ot Petro-Aleksandrovska do Nukusa. In: Russkij Vestnik 47/281 (1902), S. 630–656, Varvara Fedorovna Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija. Čto projdet, to budet milo. Sankt Peterburg 1913 und Elena Ivanovna Apreleva: Sredne-Aziatskie Očerki. Šanchaj 1935. Siehe für Informationen zu einigen der Autorinnen Kapitel 3.7 und die Biogramme in Anhang.

Offene Perspektiven

ihres Ehemannes als Generalgouverneur.62 Während zahlreiche zeitgenössische Autoren Begründungen für die Expansion geliefert haben, fehlen diese bei Lobri und Duchovskaja. Dennoch assoziierten sich beide mit dem Imperium beziehungsweise dessen Funktionsgruppen als Initiator und Träger der Expansion. Die für ihre männlichen Zeitgenossen zentralen Gemeinschaften der Kämpfenden, der Entdecker oder Verwalter und der Themenkomplex des militärischen Kampfes sind für die beiden Autorinnen vermutlich mangels entsprechender Tätigkeiten vor Ort keine Bezugsgrößen gewesen.63 Nur bei Duchovskaja lassen sich hinsichtlich ihrer repräsentativen und wohltätigen Aufgaben Aspekte einer eigenständigen Selbstdarstellung nachvollziehen. Diese sind allerdings eng mit der Karriere und Funktion ihres Mannes verbunden geblieben, mit der sie sich in ihrem Text stark identifiziert hat. Wie ihre männlichen Zeitgenossen hob sie einzelne Leistungen hervor. Anders als diese beschrieb sie bemerkenswert offen persönliche Schwierigkeiten, die sich aus ihren Aufgaben ergäben hätten.64 Wie ihre männlichen Zeitgenossen verortete sowohl Lobri als auch Duchovskaja Turkestan am Rand des Imperiums. Duchovskaja beschrieb die Natur und das Klima vor Ort sehr negative und sprach wörtlich vom Kampf, der gegen diese geführt würde. Anders als die nachfolgend untersuchten Autoren, nutzten aber weder Lobri, noch Duchovskaja das als abgelegen markierte Turkestan und seine als bedrohlich gezeigte Natur für ihre Selbstdarstellung. Beide Autorinnen berichteten im Gegenteil auch über positive Eindrücke des Naturraumes.65 Die Darstellung der indigenen Bevölkerungen und ihrer Lebensräume stimmte bei beiden Autorinnen in vielem mit den nachfolgend betrachteten Autoren überein. Beide nutzten gebräuchliche Elemente exotischer Beschreibungen für von ihnen verallgemeinernd als „asiatisch“ bezeichnete Orte. Ebenso üblich ist Lobris

62 Einzelne dieser Schriften wurden bereits bei Hokanson, Schenk und in der unveröffentlichten MAArbeit von Bumann untersucht. Vgl. Katya Hokanson: Russian Women Travelers in Central Asia and India. In: The Russian Review 70/1 (2011), S. 1–19, Schenk: Raum und Herrschaft, S. 49–64, Ninja Bumann: Der weibliche Blick auf die imperiale Peripherie. Die Wahrnehmung Zentralasiens und Bosnien-Herzegowinas um 1900 im Vergleich. Unveröffentlichte Masterarbeit. Universität Wien 2016. 63 Vgl. Lobri: Turkestanskich vospominanij, 261/5 (1899), S. 224, 226, 228, Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija, S. 9–10, 15, 19, 25, 53, 68, 102. 64 Vgl. Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija, S. 28–34, 55, 72, 75, 77–78, 101. 65 Vgl. für die Randständigkeit Lobri: Turkestanskich vospominanij, 261/5 (1899) S. 220, Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija, S. 3, 5, 47. Vgl. für negative Naturdarstellungen Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija, S. 6, 8, 12, 20, 40–41, 42, 62, 65, 81. Vgl. für die Naturschönheit Lobri: Turkestanskich vospominanij, 261/5 (1899), S. 220–221, Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija, S. 15, 17, 24, 54, 69, 74. Hokanson hat allerdings gezeigt, dass zumindest Apreleva die Erzählung des heldenhaften Kampfes der russischen Expansionstruppen gegen die feindliche Natur in ihrem Text reproduziert hat. Vgl. Hokanson: Travelers, S. 5, Apreleva: Očerki.

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Einleitung

Beschreibung einer vermeintlichen Naivität und Leichtgläubigkeit der Indigenen gewesen. Beide Autorinnen evozierten durch ihre Zuschreibungen somit Vorstellungen von Fremdheit und Unterlegenheit der Indigenen, gegen die sie sich als Angehörige einer vermeintlich höher entwickelten und überlegenen Gruppe abgrenzten. Im Unterschied zu den untersuchten männlichen Autoren lieferte Lobri auch positive Personenbeschreibungen einzelner Indigener, die sie teils auf die gesamte Bevölkerung übertrug. Damit äußerte sie sich deutlich differenzierter, als viele ihrer schreibenden Zeitgenossen.66 Die bei Lobri und Duchovskaja aufgezeigten Unterschiede zu den Untersuchungsergebnissen aus der nachfolgenden Analyse von Texten männlicher Provenienz lassen eine umfangreichere Untersuchung von Dokumenten autobiografischer Praxis von Frauen aus Turkestan wünschenswert erscheinen, die im Rahmen der vorliegenden Arbeit nicht geleistet wird. Neben deren Überprüfung könnte auch untersucht werden, ob sich die hier gezeigten Übereinstimmungen mit den Beiträgen männlicher Diskursteilnehmer hinsichtlich bestimmter Erzählweisen über die Natur und die indigenen Bevölkerungen bestätigen lassen. Ebenso verspricht eine solche Untersuchung weiteren Aufschluss über die von Hokanson vorgeschlagene Interpretation, dass die Autorinnen hierdurch männliche Rollenmuster und die damit verbundenen Privilegien in Anspruch zu nehmen versucht hätten, um eigene Ziele im Kontext der weiblichen Emanzipation zu verfolgen.67

1.7 Aufbau der Arbeit Die nachfolgende Arbeit beginnt in Kapitel 2 einerseits mit einem kurzen Überblick über die Expansionsgeschichte des Russländischen Reiches in Asien und konzentriert sich dabei vor allem auf den mittelasiatischen Raum. Andererseits achtet sie hierbei auf die verschiedenen Gründe, welche die Forschung für die verschiedenen Phasen aufgezeigt hat, und fragt schließlich (Kap. 2.4) nach den konkreten Begründungen, welche die untersuchten Autoren für die Eroberung Turkestans angeführt haben. Hierbei wird gezeigt, dass staatliche Deutungsangebote für das eigene Handeln vor Ort von den Autoren nicht pauschal kopiert wurden und Erweiterungen erfahren haben. Kapitel 3 wendet sich anhand des ausgewählten Quellenmaterials der autobiografischen Praxis zu, um die Befunde der folgenden inhaltlichen Analysen angemessen

66 Vgl. Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija, S. 15, 21–22, Lobri: Turkestanskich vospominanij, 261/5 (1899), S. 220–222, 224–226, 228. 67 Vgl. Hokanson: Travelers, S. 10.

Aufbau der Arbeit

einordnen zu können. Durch die Untersuchung der verschiedenen Publikationsformen, der Redaktionen, der Verlage, der Zensur, den Autoren und ihren Umfeldern sowie den Schreib- und Publikationszeitpunkten werden zum einen wesentliche Einflüsse auf Entstehung und Ausformung der Texte ausgelotet. Zum anderen werden die Charakteristika des russischsprachigen autobiografischen Diskurses innerhalb des Turkestan-Diskurses kenntlich gemacht. In dem darauffolgenden vierten Kapitel wird die Auseinandersetzung der Autoren mit dem Raum und der Natur Mittelasiens untersucht. In einem ersten Schritt wird gezeigt, wie die Autoren die Region als eine unbekannte und weit abgelegene Randregion des Imperiums abgebildet haben. Daraufhin arbeitet das Kapitel heraus, wie die sehr verschiedenartige Natur dieser Randregion in den Erzählungen vielfach negativ und bedrohlich dargestellt wurde. Die Analyse zeigt hier, dass die Autoren sich in ihren autobiografischen Schriften durch die erzählte Überwindung der solchermaßen „gegnerischen Natur“ als Held68 auszuzeichnen versucht haben. Danach schließt sich in Kapitel 5 eine Untersuchung der Fremd- und Feindbilder an, die die Autoren für die verschiedenen indigenen Bevölkerungsgruppen Turkestans konstruiert haben. Es wird gezeigt, wie die russischen Akteure durch spezifische kollektive und individuelle Abbildungsweisen, durch negative Charakterisierungen einzelner Menschen, ihrer Gemeinwesen und Herrschaftsordnungen die indigenen Bevölkerungen abgewertet und sich selbst als Vertreter einer vermeintlich überlegenen und höher entwickelten Gruppe aufgewertet haben. Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Darstellung des militärischen Kampfes während der Eroberungen und für die Absicherung der russischen Herrschaft. Hierbei wird herausgearbeitet, wie die Autoren bestrebt gewesen sind, sich durch die Darstellung ihres eigenen Handelns im Gefecht, durch das Überstehen von Lebensgefahren, die Betonung erhaltenen Lobes und durch direkte und indirekte Gewaltdarstellungen als Helden auszuzeichnen. Zudem werden narrative Strategien für die Absicherung und Verteidigung des postulierten Heldentums aufgezeigt. Im folgenden Kapitel 7 werden die verschiedenen Gruppen analysiert, denen sich die Autoren zuordneten. Hierbei wird gezeigt, wie sich die militärisch aktiven Autoren sowohl in lokal und regional verorteten Kampfgemeinschaften einschrieben und wie sich die in der Erforschung, Erschließung und Verwaltung aktiven Autoren andererseits solchen Gemeinschaften aus ihren Tätigkeitsbereichen zuordneten. Zudem wird herausgearbeitet, wie das Imperium als Gesamtrahmen selten direkt adressiert und stattdessen beständig als Kontext beschrieben wurde.

68 Der Begriff Held wird hier nach Stegmann als „nachahmenswerte Identifikationsfigu[r]“ verwendet. Es handelt sich um eine „charismatische Gestal[t]“, die sich durch positive Eigenschaften wie Entschlossenheit, Opferbereitschaft, Kühnheit, Standhaftigkeit, Solidaritätssinn und Würde auszeichnet. Vgl. Natali Stegmann: Kriegsdeutungen Staatsgründungen Sozialpolitik. Der Heldenund Opferdiskurs in der Tschechoslowakei 1918–1948. München 2010, S. 13.

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Einleitung

Abschließend wirft die Arbeit in Kapitel 8 einen Blick über die Epochengrenze von 1917 hinaus. Hierbei stehen vier Texte im Mittelpunkt, die nach dem Ende des Imperiums und außerhalb der Grenzen des ihm nachfolgenden Staates veröffentlicht wurden. Diese werden auf die in den vorangegangenen Kapiteln herausgearbeiteten charakteristischen Begründungsmuster, Erzählweisen und Inhalte hin befragt, wobei bemerkenswerte Kontinuitäten aufgezeigt werden. Im Anhang finden sich biografische Informationen zu den untersuchten Autoren sowie eine Übersichtskarte.

2. Ruhe, Ordnung und Fortschritt? Die russische Eroberung Turkestans

„Die Position von Russland in Zentralasien ist die aller zivilisierten Staaten, die in Kontakt mit halbwilden, nomadischen Völkern stehen, die keine feste Organisation besitzen. In solchen Fällen passiert es immer, dass der zivilisiertere Staat gezwungen ist, im Interesse der Sicherheit seiner Grenzen und seiner Handelsbeziehungen eine gewisse Vormachtstellung über jene Nachbarn auszuüben, deren turbulenter und instabiler Charakter sie zu höchst unerwünschten Nachbarn macht.“1

Die russländische Eroberung des südlichen Mittelasiens ab den 1860er Jahren lässt sich aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln erzählen, wie die außenpolitische Makroperspektive Lobanov-Rostovskys, die religionsgeschichtlichen Innenansichten des Generalgouvernements Turkestan bei Crews oder die auf ökonomische Modernisierungspläne und Zukunftsvorstellungen konzentrierte Untersuchung von Obertreis verdeutlicht haben.2 Das nachfolgende Kapitel gibt in den ersten drei Abschnitten einen kurzen historischen Überblick, der die lange Geschichte der russischen Ausdehnung in Asien als Vorgeschichte der Expansion nach Turkestan umreist und die politischen Ausgangsbedingungen in der Großregion anspricht, die sich den russischen Akteuren Mitte des Jahrhunderts gestellt haben. Die sich anschließende Schilderung der eigentlichen Expansion und der Herrschaft des Imperiums vor Ort konzentriert sich auf wesentliche Ereignisse und Zusammenhänge der militärischen Eroberungen, der damit verbundenen außenpolitischen Folgen, der administrativen Organisation und der wissenschaftlichen Erforschung der neuen Gebiete.3 Hierbei wird auch nach den möglichen Beweggründen der beteiligten Akteursgruppen für die Expansion gefragt, wie sie die Forschung herausgearbeitet hat.

1 Aleksandr Michajlovič Gorčakov: Circular Despatch addressed by Prince Gortchakow to Russian Representatives abroad [1873]. Parliamentary Papers. Accounts and Papers C-704. In: House of Commons Parliamentary Papers: Correspondence respecting Central Asia 2, S. 70–75, hier S. 72. 2 Vgl. Lobanov-Rostovsky: Russia, S. 147–176, Crews: Prophet, S. 7–9, 241–292, Obertreis: Dreams, S. 15–19, 49–138. 3 Während Uyamas Ablehnung einer reinen Eroberungsgeschichte grundsätzlich geteilt wird, ergibt sich die stärkere Berücksichtigung der militärischen Aspekte im Folgenden aus der notwendigen Kontextualisierung der in den folgenden Untersuchungen stark vertretenen Militär-Memoiristik. Vgl. Tomohiko Uyama: “Introduction. Asiatic Russia as а space for asymmetric interaction”. In: ders. (Hrsg.): Asiatic Russia. Imperial power in regional and international context. London u. a. 2012, S. 1–9, hier S. 7.

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Ruhe, Ordnung und Fortschritt? Die russische Eroberung Turkestans

Ein zentraler Bezugspunkt vieler Auseinandersetzungen mit den politischen Rechtfertigungen der Eroberung ab Mitte der 1860er Jahre war die eingangs zitierte Depesche des russländischen Außenministers Aleksandr Michajlovič Gorčakov von Ende 1864.4 Der letzte Abschnitt in diesem Kapitel untersucht, welche Argumente vom Beginn der militärischen Kampagnen bis kurz vor den Ersten Weltkrieg in die Selbstbeschreibungen beteiligter Akteure aufgenommen wurden. Das eingangs zitierte Argument Gorčakovs, das Imperium habe sich wie andere europäische Kolonialmächte auch in einer Zwangslage an seinen Grenzen befunden, hat in der untersuchten russischsprachigen Autobiografik über Turkestan in dieser Form eine untergeordnete Rolle gespielt. Dagegen haben die Argumente des Außenministers, sichere Grenzen und den Schutz des russischen Handels erreichen zu wollen, häufig Verwendung gefunden. Das Kapitel schließt mit Überlegungen zur Funktion dieser und weiterer Argumente innerhalb der autobiografischen Erzählungen.5

2.1 Russlands langer Weg nach (Süd-)Osten Die Beziehungen zwischen Russland und Mittelasien reichen bis an das Ende des 15. Jahrhunderts zurück. Für die 1490er Jahre sind Handelskontakte in die aus russischer Sicht damals noch in weitgehend unbekannten Gebieten liegende Stadt Buchara verbürgt. Doch bevor sich das spätere Russländische Imperium Mitte des 19. Jahrhunderts der Territorien zwischen dem Kaspischen Meer im Westen, den Gebirgsgürteln aus Tjan‘ Šan‘ und Pamir im Osten und bis an die Grenzen Persiens, Afghanistans und Chinas bemächtigt hat, standen ab dem 16. Jahrhundert zunächst die Eroberung, Unterwerfung und Erforschung gewaltiger Gebiete und ihrer Einwohner in Sibirien, Alaska, im Transkaukasus, am Schwarzen und am Kaspischen Meer im Fokus der Moskauer Großfürsten beziehungsweise der russischen Zaren. Diese komplexen Entwicklungen unterlagen laut Hoetzsch und Dahlmann weder einer langfristigen Planung, noch sind sie systematisch erfolgt. Vielmehr können sie als ein im Zeitverlauf jeweils unterschiedliches Zusammenspiel aus machtpolitischen, wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und persönlichen Interessen diverser Akteure aufgefasst werden. An der etwa um die Mitte des 16. Jahrhunderts einsetzenden Expansion waren bis in das 18. Jahrhundert die russischen Herrscher seit Ivan IV., russische Handelsdynastien, wie die Stroganovs, oder internationale Akteure, wie Handelskonsortien aus den Niederlanden oder Großbritannien beteiligt. Ebenso müssen Kosaken in staatlichem oder privatem Auftrag unter Anführern, wie 4 Vgl. beispielsweise Hoetzsch: Russland in Asien, S. 27–28, Andreas Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall. München 2001, S. 163 oder Morrison: Russian Rule, S. 30. 5 Vgl. Gorčakov: Despatch, S. 72–73.

Russlands langer Weg nach (Süd-)Osten

Ermak, Vasilij Pojarkov oder Vladimir Atlasov berücksichtigt werden. Schließlich sei auch auf den Anteil von Forschungsreisenden und Wissenschaftlern verwiesen. Zu ihnen gehörten zum Beispiel Daniel Gottlieb Messerschmidt oder Peter Simon Pallas. Infolge der Übernahme eines „europazentrische[n] Superioritätsbewusstsein[s]“6 während der Herrschaft des Zaren Peter I. kam die Christianisierung und „Zivilisierung“ der asiatischen Bevölkerungen7 als weiteres Ziel der russländischen Expansion in Asien hinzu.8 In die Amtszeit des „großen“ Zaren gehört auch der Plan, Indien auf dem Wasserweg zu erreichen. Hierfür sollten unter anderem Flussläufe in Mittelasien korrigiert werden. 1716 wurde Aleksandr Bekovič-Čerkasskij mit der dafür als notwendig erachteten Eroberung Chivas und Bucharas beauftragt, woran er aber bereits 1717 scheiterte. Die Ausdehnung der nach europäischem Vorbild modernisierten zarischen Herrschaft in die Steppengebiete stieß in den 1730er Jahren auf heftigen Widerstand. Die nicht sesshafte Bevölkerung wehrte sich letztendlich vergeblich gegen die Einhegung ihrer nomadischen Lebensweise durch Besiedelungsmaßnahmen und die Errichtung von Festungslinien. Als Folge des Sieges von Ekaterina II. im Krieg gegen die Osmanen gelangten bis 1774 ausgedehnte Territorien nördlich des Schwarzen Meeres in russländischen Besitz. Die Halbinsel Krim blieb zunächst russisches Protektorat, bevor sie 1783 ebenfalls annektiert wurde. Wie in den angrenzenden Steppengebieten forcierte die russländische Führung auch hier die Besiedelung der einstmals tatarischen Ländereien. Im Verlauf des Jahrhunderts trat das Imperium auf diese Weise in steigendem Maß in Konkurrenz zu den anderen europäischen Großmächten um Einfluss, Rohstoffe und Untertanen in Asien.9 Mittelasien tauchte in diesen Zusammenhängen an der Wende zum 19. Jahrhundert erneut auf, dieses Mal in den Eroberungsplänen von Paul I. Kurz vor seinem Tod war der Zar 1801 zu einem gemeinsamen Feldzug mit Napoleon Bo-

6 Kappeler: Vielvölkerreich, S. 139. 7 Die Pluralform betont in Anlehnung an Mamadaliev die ethnische, konfessionelle, politische und ökonomische Heterogenität der verschiedenen Bevölkerungsgruppen Mittelasiens. Vgl. Mamadaliev: Khujand, S. 171. 8 Vgl Lobanov-Rostovsky: Russia, S. 31–32, Hoetzsch: Russland in Asien, S. 23–26, Franckesche Stiftungen zu Halle: Siberia – Terra incognita. The role of German scholars in the early exploration of Siberia in the 18th century. Halle/Saale 1999, S. 18–41, Kappeler: Kolonien, S. 139–140, Dittmar Dahlmann: Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Paderborn u. a. 2009, S. 39, 42, 48–87, 90–104, 111–135, Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 549–550. Sahadeo argumentiert ähnlich wie Kappeler. Vgl. Jeff Sahadeo: Visions of Empire. Russia’s Place in an Imperial World. In: Kritika 11/2 (2012), S. 381–409, hier S. 389, Kappeler: Vielvölkerreich, S. 139. 9 Vgl. Hoetzsch: Russland in Asien, S. 25, 50, 155, Soucek: Inner Asia, S. 196–197, Kappeler: Vielvölkerreich, S. 144–145, Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 551–555, Baumer: History, S. 24, 112.

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naparte gegen Großbritannien in Indien entschlossen.10 Ähnlich, wie knapp 100 Jahre zuvor, sollten unterwegs Chiva und Buchara erobert werden. Während dieses Unterfangen eine Fantasie blieb, erreichten die Nachfolger von Paul I., Alexander I. und Nikolai I., in den Kriegen gegen das Osmanische Reich 1806 bis 1812 beziehungsweise gegen Persien 1804 bis 1813 und 1826 bis 1828 deutliche Gebietsgewinne im Transkaukasus. Deren Befriedung, Durchdringung und Eingliederung jedoch noch Jahrzehnte dauern sollte. Zugleich bestärkte der wachsende russische Einfluss, wie Kappeler erläutert, die Konkurrenz gegenüber Großbritannien. Baumer argumentiert, dass Russland mit diesen und den folgenden Kriegen auf der Krim und gegen die Osmanen 1877/1878 einerseits nach einem dauerhaft eisfreien Warmwasserhafen und andererseits nach der Möglichkeit strebte, von dort aus die britische Seehoheit in Frage zu stellen und Britisch-Indien anzugreifen. Diese Sorge der Engländer verstärkte sich nach der Jahrhundertmitte, als das Zarenreich auch auf dem Landweg in Mittelasien deren indischen Gebieten zunehmend näher kam.11 In den 1820er Jahren begann das Russländische Reich auch in den Steppengebieten mit einer aktiven Eingliederungspolitik gegenüber den Kasachen, die es bereits seit den 1730er Jahren als untertänig ansah. Festungslinien wurden errichtet und weiter vorgeschoben, die Weidegebiete beschränkt und Siedler in die Grenzregion geschickt. Die Annexionen der Kleinen und der Mittleren Horde in den Jahren 1822 und 1824 sowie die Absetzung der Chane waren Teil dieser Politik. Die kurz darauf einsetzende Erhebung der Kasachen konnte erst Mitte der 1840er Jahre endgültig niedergeworfen werden. Laut Kappeler hat das Zarenreich hierbei das Ziel der Sesshaftmachung der Nomaden verfolgt. Für das Imperium waren die Kasachen als Steuerzahler und Konsumenten russischer Waren von Interesse. Entgegen den russischen Interessen unterstützte das Chanat von Chiva die Kasachen jahrelang in ihrem Unabhängigkeitskampf. Als Konsequenz ließ Alexander I. 1839 Vasilij Alekseevič Perovskij auf Chiva marschieren. Der Gouverneur von Orenburg scheiterte jedoch im Februar des folgenden Jahres an einem unerwartet strengen Winter. Die Errichtung der Festung Rajmskoe im Jahr 1847 unweit des Syrdarja verdeutlicht dennoch, dass das Imperium sich in den südlichen Steppengebieten etablierte.12

10 Siehe hierzu David Schimmelpenninck van der Oye: Paul’s great game: Russia’s рlaп to invade British India. In: Central Asian Survey 23/2 (2014), S. 143–152. 11 Vgl. Hoetzsch: Russland in Asien, S. 25, Kappeler: Vielvölkerreich, S. 145–149, Baumer: History, S. 112, 124–127. Laut Marshall, der ähnlich wie Baumer argumentiert, sei die Idee eines russischen Warmwasserhafens auf das Testament von Peter I. zurückzuführen. Vgl. Alex Marshall: The Russian general staff and Asia. 1800–1917. London u. a. 2006, S. 1–2, Baumer: History. 12 Vgl. David MacKenzie: “The Conquest and Administration of Turkestan, 1860–85”. In: Michael Rywkin (Hrsg.): Russian Colonial Expansion to 1917. London u. a. 1988, S. 208–234, hier S. 210–212,

Das südliche Mittelasien vor der russländischen Eroberung

Westlich des Kaspischen Meeres war Russland bereits unter Ekaterina II. in den Kaukasus vorgestoßen. Der Gründung von Vladikavkaz 1784 folgte bereits im Jahr darauf der Beginn eines Guerillakrieges tschetschenischer und dagestanischer Stämme unter Šejch Mansur. Während das Zarenreich seinen Zugang zu den transkaukasischen Gebieten zu sichern und zu verbessern suchte, sahen die Bergbewohner ihren Handel und die Weidewirtschaft gefährdet. Der Krieg setzte Ende der 1820er Jahre ein. Aufseiten der indigenen Stämme wurde er ab 1834 unter Imam Šamil ausgesprochen effektiv geführt. Trotz des Todes tausender russischer Soldaten unter erfahrener Führung ist kein abschließender Sieg gelungen. Deshalb hatte sich die Unterwerfung der Region spätestens nach dem desaströsen Ausgang des Krimkrieges 1856 für das russische Militär zu einer Prestigefrage entwickelt. Erst durch die Gefangennahme Šamils 1859 sind bis 1864 die Beendigung des Krieges und der Beginn des Aufbaues einer Zivilverwaltung gelungen.13

2.2 Das südliche Mittelasien vor der russländischen Eroberung Als das Russländische Reich Mitte des 19. Jahrhunderts in die Region nordöstlich des Kaspischen Meeres vorzustoßen begann, war West-Turkestan mehrheitlich unter drei muslimisch geprägten Staaten aufgeteilt.14 Zu diesen zählte das Emirat von Buchara, das seit Mitte des 18. Jahrhunderts von der Mangut-Dynastie beherrscht wurde. Unter Emir Šachmurad prosperierte Buchara ab Mitte der 1780er Jahre durch den Handel. Das Emirat eroberte Merv und zwang dessen schiitische Bevölkerung, den sunnitischen Islam anzunehmen. Unter seinem Nachfolger Emir Chajdar verlor Buchara in militärischen Auseinandersetzungen in den Jahren 1805/ 1806 und 1822/1823 Territorien an seinen Nachbar in Chiva, zu denen unter anderem die Oase Merv gehörte. Mitte der 1820er Jahre war die Herrschaft des Emirs zudem intern stark unter Druck geraten. Zahlreiche usbekische Stämme erkannten seine Autorität nur noch nominell an. Sein despotischer Nachfolger Emir Nasrulla ging während seiner Herrschaft bis 1860 gewaltsam gegen seine internen Widersacher vor. Nach außen führte er zum einen in den frühen 1840er Jahren Krieg gegen Chiva, den er verlor. Zum anderen stritt er mit Kokand um die Herrschaft über Ura Tjube. Gegen Ende der 1840er Jahre verlor der Emir zudem seine Besitzungen auf

Soucek: Inner Asia, S. 197, Kappeler: Vielvölkerreich, S. 156–159, Bregel: Atlas, S. 62, Kappeler: Kolonien, S. 140–141, Baumer: History, S. 113. 13 Vgl. Hoetzsch: Russland in Asien, S- 35–39, 43, Kappeler: Vielvölkerreich, S. 150–155. 14 Vgl. Fragner: Zentralasien, S. 20–21, 24–28 und Baumer: History, S. 3–44, 83–100 für einen Überblick über historische Reichsbildungen in Mittelasien vor der russischen Eroberung. Zu den verschiedenen mittelasiatischen Herrscherdynastien siehe Bregel: Atlas, S. 54–60 und Baumer: History, S. 301–310.

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der linken Seite des Amudarja an den Emir von Afghanistan. Die Gesandtschaft Nikolaj Pavlovič Ignat’evs aus dem Jahr 1858 in Chiva und Buchara sei stellvertretend für die zahlreichen britischen und russischen Kundschafter seit den 1830er Jahren genannt, die sich um die Gewinnung militärstrategischer Informationen, die Öffnung der Märkte für ihre heimischen Waren oder die Befreiung von Geiseln bemühten.15 Des Weiteren existierte in der Region das Chanat von Chiva, das seit 1806 von Muchammad Rachim Chan aus der Dynastie der Kungrat beherrscht wurde. Der Chan vereinigte die Region um den Aralsee bis 1811 und begann mit der Unterwerfung und Umsiedlung zahlreicher, halb- und vollnomadischer Stämme der Usbeken, Turkmenen und Karakalpaken in seinem Herrschaftsbereich. Diesen hat er weiter ausgedehnt, als er 1822 Merv von Buchara eroberte. Unter seinen Nachfolgern erlebte das Chanat zahlreiche Aufstände turkmenischer Stämme. Chan Muchammad Amin verlor 1855 nicht nur Merv, sondern auch sein Leben in den Gefechten gegen die Turkmenen. Diese blieben allerdings für seine Nachfolger wichtige Partner. Zum einen waren sie an der Beute der turkmenischen Raubzüge aus dem persischen Grenzgebiet oder den russisch dominierten Steppengebieten der Kasachen interessiert. Zum anderen waren die Steuern aus dem Sklavenhandel mit den Turkmenen in Chiva eine wichtige Einnahmequelle. Raub und Sklavenhandel waren für die regelmäßig in russischen Führungskreisen erwogene Eroberung des Chanates und den konkreten Versuch Perovskijs 1839/1840 verantwortlich. Dagegen bemühte sich Großbritannien in der ersten Jahrhunderthälfte aktiv, Chiva als Puffer gegen das russische Vordringen zu erhalten.16 Darüber hinaus rangen Mitglieder der usbekischen Ming-Dynastie, die späteren Chane von Kokand, seit dem frühen 18. Jahrhundert mit bucharischen, chinesischen und afghanischen Akteuren um die Macht im Fergana-Tal. Mit der Erweiterung ihres Herrschaftsgebietes versuchten die usbekischen Ming auch ihren Einfluss auf den Handel mit China zu erweitern. Während der Handelsplatz Oš 1762 erobert wurde, schwankte der kokandische Einfluss auf das in der chinesischen Machtsphäre gelegene Kaschgar. Alim Bij, der erste Chan von Kokand, eroberte unter anderem 1809 Taschkent, ließ Festungen anlegen und drang in die kasachischen Gebiete vor. Unter Alim Bijs Nachfolgern, Umar Chan und Muhammad Ali Chan, erweiterte sich der Einflussbereich Kokands bis in die 1830er Jahre erheblich. In verschiedenen Feldzügen erzwangen sie von China das Recht, Zolleinnahmen auf ausländische Waren in Kaschgar zu erheben. Darüber hinaus kontrollierten sie den Opiumhandel zwischen Indien und Westchina. In den 1860er und 1870er

15 Vgl. Soucek: Inner Asia, S. 179–180, Bregel: Atlas, S. 62, Kappeler: Vielvölkerreich, S. 161–162, Morrison: Russian Rule, S. 12–13, Baumer: History, S. 115–119. 16 Vgl. Soucek: Inner Asia, S. 187, Bregel: Atlas, S. 62, Baumer: History, S. 111–114.

Erobern und sichern, erforschen und verwalten

Jahren war es der kokandische Heerführer Jakub Bek, der sich bis zur chinesischen Rückeroberung in Kaschgar für ein Jahrzehnt zum Machthaber erhob. Anfang der 1840er Jahre brachen Unruhen in Kokand aus, die der bucharische Emir für einen Einfall ausnutzte. Er eroberte mehrere Städte und ließ den Chan Sultan Machmud ermorden. Ein Volksaufstand vertrieb die Eroberer kurz darauf jedoch wieder. Kokand kam dennoch bis zu den russischen Vorstößen in den 1850er Jahren und seiner Unterwerfung im folgenden Jahrzehnt aufgrund von Spannungen zwischen der sesshaften und der nomadischen Bevölkerung nicht mehr zur Ruhe.17 Während des russischen Vordringens in die kasachischen Gebiete in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts expandierten vor allem Chiva und Kokand von Süden aus. Obwohl Russland sich immer weiter südlich etablierte, realisierten Chiva und Kokand diese Bedrohung nicht. Nach dem Tod von Muhammad Amin Chan versank Chiva bis zur Ankunft russischer Truppen in der Region in Unruhen. Während russische Truppen Mitte der 1860er Jahre ihre Expeditionen in das Chanat von Kokand begannen, versuchte der bucharische Emir zunächst durch Territorialgewinne von der Zwangslage seines Nachbarn zu profitieren, bevor er selbst in den russischen Fokus geriet. Diese Streitigkeiten untereinander, häufige Herrscherwechsel sowie Konflikte zwischen den Volksgruppen und Religionsgemeinschaften wurden, laut Morrison, von russischen und sowjetischen Historikern zu einem Bild des allgemeinen Niederganges der Region verdichtet. Die folgende Analyse wird zeigen, dass diese Bilder auch bei den russischen Zeitgenossen als Teil der Überzeugung von der eigenen Überlegenheit und als Teil der Rechtfertigung der Eroberungen existiert haben.18

2.3 Erobern und sichern, erforschen und verwalten Das angesprochene russische Vorrücken in den Steppengebieten Anfang der 1850er Jahre wurde durch die Eroberung oder Errichtung von Festungen und deren Zusammenfassung in Verteidigungslinien organisiert. Zar Alexander II. verfügte bereits 1854, dass die Syrdarja-Linie von Ak Mečet‘ (1853 erobert) mit der westsibirischen Linie von Vernyj (1854 gegründet) durch die nötigen Eroberungen verbunden werden sollte. Zunächst verhinderten jedoch die Kriege auf der Krim und im Kaukasus diese Pläne. Erst 1864 setzten die beiden späteren Generäle Nikolaj Aleksandrovič Verevkin und Michail Grigor’evič Černjaev diese mit höchster Genehmigung um. Bis Mitte 1865 eroberten sie von Kokand bereits die Städte Turkestan, Aulie-Ata, 17 Vgl. Soucek: Inner Asia, S. 189–193, Bregel: Atlas, S. 62, Morrison: Russian Rule, S. 13, Baumer: History, S. 119–122. 18 Vgl. Bregel: Atlas, S. 62, 64, Morrison: Russian Rule, S. 11–12, 15–16, Baumer: History, S. 119–122.

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Čimkent und Taschkent. Über die Einnahme der zuletzt genannten Großstadt und den Umgang mit den neuen Gebieten herrschte zwischen dem Hof, dem Außenund Kriegsministerium, dem verantwortlichen Orenburger Militärgouverneur Nikolaj Andreevič Kryžanovskij sowie Černjaev Uneinigkeit. Während Außenminister Gorčakov in beschwichtigendem Ton mit seiner eingangs zitierten Depesche von 1864 Großbritannien wegen der russischen Eroberungen zu beruhigen suchte, befürwortete Černjaev mit Blick auf die Ansprüche Bucharas – der Emir hatte einen Heiligen Krieg ausgerufen – die Annexion Kokands. Als man 1865 aus den bereits angeeigneten Gebieten den „Oblast Turkestan“ (Turkestanskaja oblast‘) bildete, wurde Černjaev trotz der Unstimmigkeiten zunächst zu dessen Militärgouverneur ernannt.19 Die möglichen Gründe für die geschilderten Ereignisse sind zahlreich. Über ihre genaue Gewichtung herrscht in der Forschung bis zuletzt Uneinigkeit, weshalb die folgende Auswahl kein abschließendes Urteil darstellt. Bereits Hoetzsch konstatiert, neben dem allgemeinen russischen Ziel fester und sicherer Grenzen im Südosten, ein diffuses Bild. Auf der einen Seite hätten sowohl Stimmen im Zentrum als auch in Orenburg das Vordringen unter anderem aus Kostengründen für falsch erklärt. Auf der anderen Seite hätten Militärs für den Einsatz plädiert, um dem Heiligen Krieg des Emirs entgegenzutreten. Außerdem seien die bestehenden Festungslinien, laut diesen Militärs, aufgrund von Versorgungsschwierigkeiten schwer zu halten gewesen. Allgemein, so Morrison, sollte mit der Unterbindung von Raubzügen gegen russische Stellungen das russische Prestige gestärkt werden. Soucek und Kappeler argumentieren, dass Teile der Eliten in den Erfolgen in Turkestan auch eine Kompensation für die Niederlage im Krimkrieg gesehen haben. Darüber hinaus habe, so Morrison, der US-amerikanische Bürgerkrieg eine Verknappung der Baumwolle in der russischen Textilindustrie verursacht. Daher hätten sich bereits Anfang der 1860er Jahre, laut Carrère d’Encausse, Kaufleute bei staatlichen Stellen um Unterstützung für den Einkauf in Buchara bemüht. Nicht zuletzt deswegen sei Morrison zufolge die auch bei Gorčakov erwähnte Absicherung des russischen Fernhandels ein weiteres Argument für die Expansion gewesen. Diese und weitere

19 Vgl. Gorčakov: Despatch, Hoetzsch: Russland in Asien, S. 78–79, MacKenzie: Conquest, S. 213–216, Hélène Carrére d’Encausse: “Systematic Conquest, 1865 to 1884”. In: Edward Allworth (Hrsg.): Central Asia. 130 Years of Russian Dominance. A Historical Overview. Durham, London 1994, S. 131–150, hier S. 132–136, Soucek: Inner Asia, S. 198, Baumer: History, S. 138–139. Morrison hat Komplexität und Wandel der Entscheidungsprozesse im Vorfeld der Eroberungen aufgezeigt. Vgl. Alexander Morrison: ‘Nechto eroticheskoe’, ‘courir après l’ombre’? – logistical imperatives and the fall of Tashkent, 1859–1865. In: Central Asian Survey 23/2 (2014), S. 153–169, hier S. 155–157, 161–165.

Erobern und sichern, erforschen und verwalten

Argumente waren auch Teil der nachfolgend untersuchten Begründungen in den autobiografischen Texten.20 Viele folgende Entwicklungen ergaben sich auch, weil sich Funktionsträger beider Seiten für gewaltsame Konfliktlösungen entschieden. Die Forderung auf Herausgabe Taschkents und die Inhaftierung einer Gesandtschaft des Militärgouverneurs hatten schließlich die Festsetzung bucharischer Händler auf russischem Gebiet und Angriffe auf bucharische Stellungen zur Folge. Das Scheitern Černjaevs während seines nicht autorisierten Angriffes auf Džizak Anfang 1866 führte schließlich zu seiner Ablösung durch Dmitrij Il‘ič Romanovskij. Dieser verurteilte das Vorrücken zwar, setzte es aber dennoch fort. Unter seiner Führung schlugen russische Einheiten 1866 die Truppen des Emirs bei Irdžar. Im Folgejahr wurden unter anderem Džizak, Chodžent und Ura Tjube erobert. Das Chanat von Kokand verlor einen Teil seiner nördlichen Gebiete und musste den Status eines russischen Protektorates akzeptieren. Das Fortbestehen der Uneinigkeit zwischen dem Außenministerium in St. Petersburg, Kryžanovskij in Orenburg und Romanovskij vor Ort über das genaue Vorgehen bei gleichzeitigem Fortschreiten russischer Truppen verdeutlicht den Eigensinn der russischen Heerführer als eine weitere Triebkraft der Expansion, die auch Morrison gegeben sieht.21 Ihre Eroberungen mittels technisch und strategisch den indigenen Armeen weit überlegener russischer Truppen wurden so lang toleriert, wie sie erfolgreich verliefen. Den Teilnehmern dieser Kampagnen boten sie, wie die folgende Analyse zeigen wird, ausgiebig Gelegenheit, sich im heldenhaften Kampf für das Imperium und den Zaren darzustellen.22 Im Juli 1867 entschied St. Petersburg, die seit 1847 in der Region gewonnenen Gebiete im Generalgouvernement Turkestan mit Taschkent als dessen Zentrum zusammenzufassen. Der territoriale Zuschnitt dieser dem Kriegsministerium unterstehenden Gebietseinheit blieb bis zur Jahrhundertwende im Wandel begriffen.23 In der „military-popular administration (voenno-narodnoe upravlenie) [Hervorh. i. Orig.]“24 bekleideten Offiziere alle wesentlichen Positionen. Auf der lokalen Ebe-

20 Vgl. Gorčakov: Despatch, S. 72, Hoetzsch: Russland in Asien, S. 27, 77–79, Carrére d’Encausse: Conquest, S. 131, Soucek: Inner Asia, S. 199, Kappeler: Kolonien, S. 142, Morrison: Russian Rule, S. 30–36, Morrison: Nechto eroticheskoe, S. 156, 165. Geyer sah ebenfalls einen kompensatorischen Charakter gegeben. Vgl. Dietrich Geyer: Der russische Imperialismus. Studien über den Zusammenhang von innerer und auswärtiger Politik 1860–1914. Göttingen 1977, S. 79. 21 Morrison hebt am Beispiel Černjaevs aber zu Recht hervor, dass bei der Beurteilung der Eigenmächtigkeit der russischen Befehlsträger vor Ort Vorsicht geboten ist, weil dieser Umstand von den Verantwortlichen im Zentrum gezielt zur eigenen Entlastung eingesetzt worden sei. Vgl. Morrison: Nechto eroticheskoe, S. 154. 22 Vgl. MacKenzie: Conquest, S. 217–218, Bregel: Atlas, S. 64, Morrison: Russian Rule, S. 18, 31, Mamadaliev: Khujand, S. 173–177. 23 Vgl. Bregel: Atlas, S. 64, 90. 24 Ebd., S. 90.

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ne erhielt die indigene Bevölkerung eine begrenzte Selbstverwaltung. Über die Ämtervergabe bestimmte die Bevölkerung mehrheitlich selbst. Die Amtsinhaber mussten aber von den russischen Funktionsträgern bestätigt werden. Die tradierte Gerichtsbarkeit auf Grundlage von Scharia und Adat blieb intakt. Über die Verwaltung, ihre Struktur, die sie leitenden Grundsätze oder erkannte Missstände, wie Korruption oder Verschwendung25 , herrschte seit den 1860er Jahren in Fachkreisen und Öffentlichkeit Uneinigkeit. Mehrfach sind Reformversuche infolge der Revisionen von Fedor Karlovič Girs und Konstatin Konstantinovič Palen Anfang der 1880er und Mitte der 1910er Jahre ohne durchgreifende Wirkung geblieben.26 Laut Kappeler sahen konservative Politiker und Militärs Turkestan als andersartige Kolonie, deren Integration in das Reich sie ablehnten, die sie aber administrativ durchdringen wollten. In den Augen liberaler Staatsbeamter sollten die rückständigen Muslime Mittelasiens dagegen zivilisiert und zu vollwertigen Bürgern eines sozial und politisch reformierten Imperiums werden. Beiden Standpunkten lag eine paternalistische, von der europäischen Überlegenheit überzeugte Haltung zugrunde. Diese hat die Autobiografik der Akteure stark geprägt.27 Militärgouverneur Romanovskij wurde 1867 von Konstantin Petrovič Kaufman als neuem Generalgouverneur abgelöst. Allein dem Zaren verantwortlich, war das Amt mit bemerkenswerten Vollmachten ausgestattet. Kaufman und seine Nachfolger durften ihre eigene Außenpolitik und Diplomatie betreiben. Als Kaufmans Bemühen um einen Friedensschluss mit dem Emir 1868 ergebnislos blieb, ging er militärisch gegen Buchara vor. Er eroberte zwischen Januar und Juni 1868 Samarkand, Katta-Kurgan und Zerabulak und schlug die versuchte Rückeroberung Samarkands nieder. Als Folge ergab sich das Emirat und wurde in territorial verkleinerter Form zu einem russischen Protektorat gemacht. Auf eine direkte Annexion wurde, wie in Kokand, aus Rücksicht auf britische Vorbehalte gegen die russische Expansion verzichtet. Neben den Gebietsabtretungen erzwang Kaufman die Öffnung der Märkte beider Protektorate für den russischen Handel. Eine stärkere

25 Vgl. hierzu Morrisons detailreiche Ausführungen: Morrison: Russian Rule, S. 160–161, 181–189, 192–194, 219–222. 26 Vgl. Brower für die frühen Diskussionen und für die Revisionen und Reformvorschläge von Girs und Palen: Brower: Turkestan, S. 27–35, 59–65, 102–109. 27 Vgl. Carrére d’Encausse: Conquest, S. 141, Hélène Carrére d’Encausse: “Organizing and Colonizing the Conquered Territories”. In: Edward Allworth (Hrsg.): Central Asia. 130 Years of Russian Dominance. A Historical Overview. Durham, London 1994, S. 151–171, hier S. 153–160, Soucek: Inner Asia, S. 201, Morrison: Russian Rule, S. 74, 193–195, 267–274, Kappeler: Kolonien, S. 143–144.

Erobern und sichern, erforschen und verwalten

Anbindung der annektierten Gebiete fand zudem ab 1868 durch die Aufhebung der Zollgrenze zu den anderen Reichsteilen statt.28 Parallel zu den laufenden Eroberungen und dem Aufbau des Generalgouvernements beförderten Kaufman und seine Nachfolger die Erforschung der Großregion. Beispielsweise hat der Zoologe Modest Nikolaevič Bogdanov zu Studienzwecken 1873 an dem Feldzug gegen Chiva teilgenommen. Hierüber hat er ein Reisetagebuch geführt, aus dem ein Auszug Gegenstand der nachfolgenden Analyse ist. Kaufman zog Gelehrte, wie den Naturforscher Aleksej Pavlovič Fedčenko oder den Pädagogen und Orientalisten Nikolaj Petrovič Ostroumov, für einzelne Forschungsaufenthalte oder die längerfristige Aufbauarbeit vor Ort an. Spezialisten kamen aus den akademischen Zentren der institutionalisierten Orientalistik in Kasan, Moskau oder St. Petersburg.29 Der Generalgouverneur verfolgte dabei zwei Ziele: Erstens sollte das neue Wissen ihm und seiner Verwaltung für die Herrschaft vor Ort dienen. Ethnografie und Anthropologie sollten die nötigen Kenntnisse über die indigenen Bevölkerungen, die verschiedenen naturkundlichen Disziplinen das erforderliche Wissen über das neue Staatsgebiet bereitstellen. Hierzu warb Kaufman auch um die Eröffnung von Abteilungen der Forschungsgesellschaften in Taschkent. So eröffnete die „Kaiserliche Gesellschaft der Liebhaber der Naturwissenschaft, Anthropologie und Ethnografie“ (KGLNAE) 1870 eine Zweigstelle. Zudem unterstützte er Forschungsreisende, wie Nikolaj Michajlovič Prževal’skij, die im Auftrag der „Kaiserlich Russischen Geografischen Gesellschaft“ und nicht selten mit Unterstützung hoher militärischer Kreise noch unbekannte Gegenden untersuchten. Die Armeestäbe in St. Petersburg und Taschkent erhofften sich davon strategisches Wissen. Zweitens förderte Kaufman die Popularisierung des geschöpften Wissens in diversen Formen. Beispielsweise ließ er bereits 1867 Artefakte für eine Ausstellung der KGLNAE nach Moskau

28 Vgl. Lobanov-Rostovsky: Russia, S. 156–157, Carrére d’Encausse: Conquest, S. 141–143, Bregel: Atlas, S. 64 Kappeler: Kolonien, S. 143–144, A.M. Malikov: The Russian conquest of the Bukharan Emirate: military and diplomatic aspects. In: Central Asian Survey 33/2 (2014), S. 180–198, hier S. 185–193. Die Dissertation von Ganichev beschäftigt sich mit Fragen der Raumintegration im späten Zarenreich anhand der Zoll- und Handelspolitik und nimmt dabei unter anderem Turkestan in den Blick. Vgl. Boris Ganichev: “Integrating Imperial Space: The Russian Empire’s Customs System in the Post-Reform Period”. In: Graduiertenschule für Ost- und Südosteuropastudien (Hrsg.): Jahresbericht 2017. München 2017, S. 15–18. [zuletzt aufgerufen am 08.10.2018]. 29 Sahadeo hat einen breiten Einblick in die gebildeten Führungskreise Taschkents, über deren Selbstsicht und Diskussionen über die Expansion erarbeitet. Vgl. Sahadeo: Society, S. 58–68. Marshall hat die Bedeutung von und die Verbindung zwischen der Asienabteilung des Außenministeriums, der Akademie der Wissenschaften, der Asienabteilung des Generalstabes sowie der Kaiserlich Russischen Geografischen Gesellschaft für die Erforschung von und die Lehre über (Mittel)Asien herausgearbeitet. Vgl. Marshall: Russian general staff, S. 11–30.

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schicken. Zudem ließ er eine umfangreiche Sammlung anlegen, in der publizierte Titel mit Bezug zu Turkestan verzeichnet wurden. Darüber hinaus warb er beispielsweise den Maler Vasilij Vasil’evič Vereščagin an, dessen Gemälde die Expansion auf Ausstellungen visuell vermittelten.30 Kaufman wollte in der gebildeten Öffentlichkeit ein Verständnis von der Region und ihren Einwohnern schaffen. Archäologie und Geschichte sollten zeigen, dass man in Turkestan einen einstmals kulturell bedeutenden Gegner erobert hatte, um so Akzeptanz für die Expansion zu schaffen. Viele der nachfolgend untersuchten Schriften waren Teil dieses komplexen Prozesses aus Wissensproduktion und Wissensvermittlung. Wie gezeigt wird, haben die in ihnen transportierten Vorstellungen von der abseitigen Grenzregion mit ihrer gefährlichen Natur und der unzivilisierten, ungebildeten oder fanatischen Einwohnerschaft auch zur Bedeutungsstiftung für das individuelle und kollektive Handeln beigetragen. Das letzte unabhängige Chanat von Chiva setzte unterdessen seine Unterstützung für einzelne nomadische Gruppen in den Steppengebieten und die turkmenischen Stämme im Südwesten fort und geriet so in den Fokus Kaufmans. Zunächst etablierten russische Einheiten aus dem Kaukasus 1869 den Hafen Krasnovodsk an der Ostküste des Kaspischen Meeres. Hier startete 1873 Vasilij Ivanovič Markozov mit einer Marschkolonne in den Feldzug gegen das Chanat, während in einer konzertanten Aktion Kaufman in Taschkent und Verevkin in Orenburg mit je einer weiteren Kolonne nach Chiva zogen. Während die beiden zuletzt Genannten das Chanat fast kampflos Mitte des Jahres einnahmen, scheiterte Markozov an den naturräumlichen Bedingungen der Wüstendurchquerung. Erneut bereiteten den russischen Truppen die Natur und das Klima die größten Schwierigkeiten. Dieser Umstand hat die nachfolgend untersuchte Autobiografik der Militärs nachhaltig geprägt. Mit dem im August geschlossenen Friedensvertrag schuf Kaufman ein drittes Protektorat in Mittelasien, das dem Handel und der Wirtschaft des Imperiums fortan offenstand. Unterdessen brachen auf dem Gebiet Kokands vermehrt Unruhen aus, die von Spannungen zwischen sesshaften und nomadischen sowie zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen herrührten. Darüber hinaus hatte die despotische Herrschaft Chudojar Chans seine Bevölkerung aufgebracht. Als die

30 Vgl. Daniel Brower: Islam and Ethnicity: Russian Colonial Policy in Turkestan. In: Daniel R. Brower/Edward J. Lazzerini (Hrsg.): Russia’s Orient. Imperial Borderlands and Peoples, 1700–1917. Bloomington, Indianapolis 1997, S. 115–135, hier S. 123–131, Rostislav Borisovič Rybakov (Hrsg.): „300 Years of Oriental Studies in Russia“ (Imperial, Soviet and Post-Soviet Periods). Moscow 1997, S. 20–34, Brower: Turkestan, S. 43–51, Schimmelpenninck van der Oye: Ideologies, S. 28–30. Für das Beispiel Bogdanovs siehe sein Biogramm in Anhang. Speziell zu Person und Standpunkten Ostroumovs siehe umfassend Bakhtiyar Babajanov: ‘How will we appear in the eyes of inovertsy and inorodtsy?’ Nikolai Ostroumov on the image and function of Russian power. Central Asian Survey 33/2 (2014), S. 270–288.

Erobern und sichern, erforschen und verwalten

Aufstände 1875 auf russisches Territorium übergriffen, antirussische Züge annahmen und der Chan in russische Obhut flüchtete, ließ Kaufman den Aufstand durch Michail Dmitrievič Skobelev niederschlagen und löste das Chanat im Einvernehmen mit St. Petersburg auf. Mit der Eroberung der drei Staaten hat das Imperium einerseits versucht, die Grenzregion zu befrieden, für seinen Handel zu öffnen und seine Herrschaft dauerhaft vor Ort gegen regionale Machtansprüche abzusichern. Andererseits waren die Protektorate als Pufferstaaten innerhalb der russischen Einflusszone gegen Machtansprüche Großbritanniens gerichtet.31 Die bereits angesprochenen Spannungen zwischen Russland und Großbritannien gewannen an Dynamik, als das Reich sich auch nach Ostturkestan – in die unter chinesischer Vorherrschaft stehende Region Xinjiang – auszubreiten begann. Als Folge der Schwächung der Qing-Herrschaft im Zuge des Taiping-Aufstandes nach der Jahrhundertmitte wurde die Region durch verschiedene muslimische Erhebungen in den 1860er Jahren stark verwüstet. 1867 etablierte der aus kokandischem Dienst stammende Heerführer Jakub Bek von Kaschgar aus seine rund zehn Jahre andauernde Kontrolle in den urbanen Zentren am westlichen Rand des Tarim-Beckens. Um seine Herrschaft nach allen Seiten zu stabilisieren, schloss er in den Jahren 1872 und 1873 Verträge mit dem Russländischen Reich und Großbritannien, die den Imperien Handelsrechte einräumten. Dagegen führte die Weigerung zu ähnlichen Konzessionen des seit 1866 in Kul’dža regierenden Sultans Ala Chan sowie anhaltende Unruhen in dieser östlichen Grenzregion des Generalgouvernements zu dessen Unterwerfung. Kaufman nutzte die Umstände als Vorwand, um 1871 die Stadt und große Teile des Ili-Flusstales auf chinesischem Gebiet zu besetzen. Eine Rückgabe erfolgte erst 1881 im Vertrag von St. Petersburg, nachdem die Chinesen die gesamte Region zurückerobert hatten. Beide Großmächte blieben jedoch in der chinesischen Provinz präsent. Russland sicherte sich in besagtem Vertrag lukrative Handelsprivilegien, zu denen auch die Einrichtung von Konsulaten auf chinesischem Gebiet zählte. Großbritannien war zeitgleich mit eigenem Personal vor Ort um die Behauptung seiner wirtschaftlichen Interessen in Nordwestchina und die Sicherheit seiner Kolonien in Indien bemüht.32 In der zweiten Hälfte der 1870er Jahre stießen russische Truppen südöstlich des Kaspischen Meeres erkundend in turkmenische Gebiete vor. 1877 wurde der Stützpunkt Kizyl Arvat errichtet. Im folgenden Jahr begannen Planungen für die Eroberung der Festung Geok-Tepe, die unter General Nikolaj Pavlovič Lomakin 1879 zunächst scheiterte. Erneut wurden hierfür auch die naturräumlichen Bedingungen verantwortlich gemacht. Die Eroberung gelang erst 1881 mit einem Großaufgebot 31 Vgl. Lobanov-Rostovsky: Russia, S. 158–161, Hoetzsch: Russland in Asien, S. 80–82, MacKenzie: Conquest, S. 223–225, Carrére d’Encausse: Conquest, S. 143–145, Abashin: Khoqand, S. 217–219. 32 Vgl. Hoetzsch: Russland in Asien, S. 72, 89, Bregel: Atlas, S. 64, Baumer: History, S. 144–147.

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und verhältnismäßig hohen Verlusten unter Skobelev. Laut Lobanov-Rostovsky und Carrère d’Encausse erfolgte diese Eroberung auch aus Sorge um das militärische Prestige des Imperiums nach Lomakins Niederlage. Nach der Einnahme Aschabads durch den späteren Kriegsminister Aleksej Nikolaevič Kuropatkin wurde der Transkaspische Oblast gebildet und der Kontrolle des russischen Statthalters im Kaukasus unterstellt. Maßgeblich für den Sieg in Geok-Tepe war die 1880 unter General Michail Nikolaevič Annenkov begonnene Errichtung der Transkaspischen Eisenbahn, da sie Truppen- und Materialtransporte vereinfacht und beschleunigt hat. Gleichzeitig zu dem Heranrücken des russischen Herrschaftsbereiches an Britisch-Indien bemühte sich Großbritannien um die Kontrolle Afghanistans, das es als Teil einer Pufferzone betrachtete. Trotz britischer Kritik erwirkten geheim agierende russische Unterhändler sowie Truppen unter General Aleksandr Vissarionovič Komarov bis 1884 die kampflose Unterwerfung der Oase Merv. Im Jahr darauf kam es weiter südlich, an der Kuška bei Pendžde, schließlich zu einem Gefecht zwischen russischen und afghanischen Truppen um die Hoheit in diesen Gebieten. In dessen Folge drohte Großbritannien dem Russländischen Reich ultimativ mit Krieg, sollten russische Einheiten nach Herat vorstoßen. Der konkrete Konflikt konnte in Verhandlungen mit Afghanistan im selben Jahr beigelegt werden. Das eigentliche Ringen beider Großmächte um die Vorherrschaft in Mittelasien verlagerte sich jedoch in den folgenden Jahren weiter östlich in den Pamir. Die Auseinandersetzung um Territorien sowie die Erschließung und Dominanz neuer Handelswege und lukrativer Märkte wurde nicht nur in militärischen Auseinandersetzungen zwischen russischen, afghanischen und chinesischen Truppen ausgetragen. Teil dieser populärsten Phase des „Great Game“33 waren auch zahlreiche verdeckt agierende Forschungsreisende, Kundschafter, Handelsagenten oder Diplomaten. Als Beispiel seien hier die Missionen Frederic Forsyths um 1870 oder die Machtkämpfe zwischen dem russischen Konsul in Kaschgar, Nikolaj Fedorovič Petrovskij, und seinen britischen Kontrahenten Francis Younghusband und George Macartney in Ostturkestan genannt.34 Erst 1895 und ohne chinesische Zustimmung einigten sich beide Seiten auf einen gemeinsamen Grenzverlauf im Pamir.

33 Da das Great Game für die nachfolgende Analyse nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, wurde es hier nicht näher ausgeführt. Siehe dazu: Hermann Kreutzmann: „Das Great Game. Asien als Bühne eines imperialen Machtkampfes.“ In: Moritz von Brescius/Friederike Kaiser/Stephanie Kleidt: Über den Himalaya. Die Expedition der Brüder Schlagintweit nach Indien und Zentralasien 1854 bis 1858. Köln u. a. 2015, S. 89–95. 34 Von Petrovskij wurde ein Teil seiner Korrespondenz veröffentlicht, der einen Einblick in das Denken russischer Akteure in Mittelasien und speziell über den Pamir-Konflikt liefert. Vgl. Nikolaj Fedorovič Petrovskij: Turkestanskie pis’ma. Hrsg. v. V.S. Mjasnikov. Moskva 2010.

Erobern und sichern, erforschen und verwalten

Eine endgültige Aufteilung Mittelasiens wurde schließlich 1907 im Vertrag von St. Petersburg festgeschrieben.35 Eine Folge des Ausbaus der transkaspischen Eisenbahn und deren Anschluss an Orenburg im Jahr 1906 war der spätestens ab Mitte der 1880er Jahre wachsende Zustrom von Siedlern aus den russischen Kerngebieten. Während Kosakensiedlungen als Grenzsicherungsmaßnahme von Anbeginn Teil des Expansionsprozesses waren, standen die verschiedenen staatlichen Stellen der koordinierten Besiedelung Turkestans bis zur Jahrhundertwende unterschiedlich skeptisch gegenüber. Man sorgte sich vor dem Aufbegehren der einheimischen Bevölkerung. Der sukzessive Ausbau der Infrastruktur, zu der auch Postkutschen- und Dampfschifflinien zählten, vereinfachte jedoch das Reisen nach Turkestan zunehmend. Missernten in den Jahren 1891/1892 und nach 1900 erhöhten den Druck auf die ländliche Bevölkerung in den westlichen Reichsteilen dermaßen, dass die Zahl der Siedler, trotz eines temporären Verbotes, weiter stieg. Laut Uyama wurde die später staatlich organisierte Besiedelung Turkestans bald als Gelegenheit begriffen, Druck aus dem Agrarsektor in Westrussland zu nehmen und die Russifizierung Mittelasiens zu fördern.36 Unabhängig davon wie das Land in den Besitz der Ankömmlinge gelangt ist, entstand durch ihre Anwesenheit ein Konflikt um Land, Wasser und Vieh mit den Nomaden, der sich im Aufstand von 1916 blutig entlud. Eine andere Folge der neuen Infrastruktur war die Vereinfachung und Beschleunigung des Warenverkehrs zwischen dem Generalgouvernement und den anderen Reichsteilen. Bereits Kaufman hat den Anbau von Baumwolle forciert. Anstelle der weniger ertragreichen einheimischen Sorten, ließ er US-amerikanische Sorten einführen. Durch deren Anpflanzung auf großen Plantagen nahe den Bahnlinien wurde das Geschäft profitabel. Die Monokulturen verringerten die Subsistenzwirtschaft der Indigenen, wodurch Turkestan von russischen Getreidelieferungen abhängig wurde. Im Ersten Weltkrieg führte das zu erheblichen Versorgungsengpässen. Zudem wuchs mit der Gruppe landloser verarmter Arbeiter aus den Reihen der Nomaden die Kritik in den

35 Vgl. Lobanov-Rostovsky: Russia, S. 167–171, Hoetzsch: Russland in Asien, S. 86–88, Carrére d’Encausse: Conquest, S. 147–149, Baumer: History, S. 146–167. Campbell hat mit Blick auf die zeitgenössische Wissenschaft überzeugend dargelegt, dass die Interaktion zwischen Großbritannien und Russland in Ostturkestan keineswegs nur als antagonistisch gesehen werden kann. Vgl. Campbell: Rethinking. 36 Vgl. Tomohiko Uyama: “Introduction. Asiatic Russia as а space for asymmetric interaction”. In: ders. (Hrsg.): Asiatic Russia. Imperial power in regional and international context. London u. a. 2012, S. 1–9, hier S. 4. Morrison hat auf die parallel existierende Kritik an den für die Zivilisierung der Indigenen ungeeignet erscheinenden Siedlern und auf die zeitgenössische Sorge hingewiesen, diese könnten sich an die lokalen Gegebenheiten anpassen. Vgl. Alexander Morrison: Peasant Settlers and the ‘Civilising Mission’ in Russian Turkestan, 1865–1917. In: The Journal of Imperial and Commonwealth History 43/3 (2015), S. 387–417, hier S. 388–391.

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indigenen Volksgruppen an der russischen Herrschaft. Der Ausbau der Eisenbahn und die Entwicklung des Baumwollanbaus waren bemerkenswerterweise dennoch zwei Aspekte einer ökonomischen Fortschrittserzählung, mit der die handelnden Akteure die russländische Herrschaft in Mittelasien rechtfertigten.37 Seit den 1860er Jahren ist die russische Herrschaft keineswegs unangefochten geblieben. Bereits kurz nach der Einnahme der Stadt musste Samarkand 1868 gegen einen Rückeroberungsversuch verteidigt werden. Der Aufstand im Chanat Kokand wandte sich Mitte der 1870er Jahr auch gegen die russischen Eroberer. Laut Becker und Carrère d’Encausse wiegelten ab Mitte der 1880er Jahre Mitglieder der geistlichen Oberschicht die Bevölkerung gegen die russische Fremdherrschaft auf. Die Choleraunruhen 1892 in Taschkent richteten sich gegen die russischen Gegenmaßnahmen, die als Eingriff in die göttliche Ordnung verstanden wurden. In Andižan lehnten sich wenige Jahre später die alten Eliten gegen ihren Machtverlust und die Bauern gegen den Preisverfall der Baumwolle auf. Der Revolution im Jahr 1905 blieben die indigenen Bevölkerungen weitestgehend fern. In den folgenden Jahren sorgten Banden landloser und verarmter Bauern in einigen Regionen des Generalgouvernements für Unruhen. Auch die Bevölkerung der Protektorate begehrte gegen die Verhältnisse auf. In Buchara führten 1910 hohe Steuern und Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten zu Unruhen. In Chiva haben sich 1912 turkmenische Stämme gegen die Herrschaft Asfandijar-Chans gewandt.38 Der Erste Weltkrieg brachte den Bevölkerungen Mittelasiens viele Entbehrungen. Der Preis für die von ihnen exportierte Baumwolle wurde fixiert. Gleichzeitig stieg der Preis für das zu importierende Getreide. Kriegssteuern und Konfiskationen erschwerten ihre Lebensbedingungen zusätzlich. Als im Frühjahr 1916 die Einberufung junger Männer in den Arbeitsdienst hinter den Frontlinien publik wurde, brach Anfang Juli ein Aufstand ungeahnten Ausmaßes aus. Er breitete sich aus dem Oblast Samarkand nach Taschkent und in das Fergana-Tal aus. Zunächst richtete sich die Gewalt gegen die indigene Lokalverwaltung, die für die Durchführung der Einberufung zuständig war, und konnte bis Ende Juli militärisch niedergeschlagen werden. Anfang August brachen die Unruhen in Semireč’e von neuem aus 37 Vgl. Carrére d’Encausse: Organizing, S. 160–161, 176, Soucek: Inner Asia, S. 203–205, Brower: Turkestan, S. 75–85, 127–149, Kappeler: Kolonien, S. 147–148, 152–153, Morrison: Russian Rule, S. 3, 47, 49–50, Sven Beckert: King Cotton. Eine Globalgeschichte des Kapitalismus. München 2014, S. 332–334, Morrison: Settlers, S. 388–397. Bereits Geyer hat die negativen Konsequenzen der wirtschaftlichen Durchdringung Mittelasiens für breite Schichten der indigenen Bevölkerung hervorgehoben. Vgl. Geyer: Imperialismus, S. 245–248. 38 Vgl. Seymour Becker: Russia’s Central Asian Empire 1885–1917. In: Rywkin, Michael (Hrsg.): Russian Colonial Expansion to 1917. London u. a. 1988, S. 235–256, hier S. 251–252, Carrére d’Encausse: Organizing, S. 163–170, Hélène Carrére d’Encausse: “The Stirring of National Feeling”. In: Edward Allworth (Hrsg.): Central Asia. 130 Years of Russian Dominance. A Historical Overview. Durham, London 1994, S. 172–188, hier S. 184–186, Kappeler: Kolonien, S. 155–156.

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und richteten sich diesmal direkt gegen russische Soldaten, Beamte und Siedler, die zu blutigen Gegenangriffen übergingen. Während die Unruhen hier bis Ende August unter Kontrolle gebracht wurden, dauerten sie in den Gebieten der Turkmenen bis in den Dezember 1916. Tausende starben auf beiden Seiten. Gewaltige Flüchtlingsströme setzten in chinesische und persische Gebiete ein. Kuropatkin, der Ende Juli 1916 zum neuen Generalgouverneur Turkestans ernannt wurde und die Aufstände militärisch niederschlagen ließ, plante umfangreiche Reformen. Die Februarrevolution 1917 verhinderte jedoch deren Verwirklichung.39 Im Revolutionsjahr 1917 flammten die blutigen Auseinandersetzungen zwischen den aus dem Arbeitsdienst zurückkehrenden Indigenen und den russländischen Siedlern wieder auf. Hungersnöte dezimierten die indigenen Bevölkerungen weiter. Unter dem Eindruck der Februarrevolution, der Abdankung des Zaren und der Amtsübernahme der provisorischen Regierung konstituierte sich im April 1917 der erste Kongress der Muslime Mittelasiens, der jedoch bald in verschiedene Flügel zerfiel. Die auf ihm geäußerten Forderungen nach Gleichberechtigung, Mitbestimmung und Autonomie blieben ungehört. Die Oktoberrevolution erreichte Taschkent Mitte November und erzeugte eine Konkurrenzsituation zwischen den Bolschewisten und den indigenen Interessenvertretungen. Deren Autonomiebestrebungen, wie beispielsweise im Dezember 1917 in Kokand, wurden schließlich von der Roten Armee unterbunden. In der Führung der im April 1918 gegründeten Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik Turkestans (TASSR) blieben die Muslime weiter marginalisiert. Das sollte sich in der Folge erst durch die Intervention Moskaus ändern. In den alten Protektoraten Chiva und Buchara, die noch bis Mitte der 1920er Jahre fortbestanden, erreichten die Bolschewisten die Machtübernahme schließlich im Juli 1920.40

2.4 Ruhe, Ordnung und Fortschritt: Rechtfertigungen der Expansion Welche Sichtweise auf die geschilderten Ereignisse und Zusammenhänge haben die Autoren41 in ihren autobiografischen Erzählungen über ihre Arbeit und ihre Leben in Turkestan entwickelt? Womit rechtfertigten sie die militärische Expansion des Russländischen Imperiums und seine Herrschaft vor Ort?

39 Vgl. Becker: Empire, S. 252–254, Hélène Carrére d’Encausse: “The Fall of the Czarist Empire”. In: Edward Allworth (Hrsg.): Central Asia. 130 Years of Russian Dominance. A Historical Overview. Durham, London 1994, S. 207–223, hier S. 208–213, Kappeler: Kolonien, S. 156–157. 40 Vgl. Soucek: Inner Asia, S. 209–223, Happel: Nomadische Lebenswelten, S. 307–309, Golden: Central Asia, S. 131–133. 41 Siehe für biografische Informationen zu den nachfolgend untersuchten Autoren die Biogramme in Anhang.

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In Schriften aus den 1870er Jahren wurden im Verhältnis zu den folgenden Jahrzehnten relativ indirekte Aussagen über einen höheren Nutzen des russischen Vordringens transportiert. In Fišers Ausführungen über die Eroberung Chodžents 1866 spielte die Befreiung von Geiseln eine diese Eroberung legitimierende Rolle. Er berichtete eingangs von einer russischen Gesandtschaft im Auftrag General Černjaevs, die von Oktober 1865 bis Mitte Mai 1866 in Samarkand in Gefangenschaft gewesen sei. Noch bevor die russischen Truppen Chodžent am 17. Mai 1866 erreicht hätten, so der Autor, habe ihr Befehlshaber ein Schreiben besagter Gefangener erhalten. Darin hätten sie ihn über ihre Freilassung und Abreise aus Samarkand informiert. Fišer kam gegen Ende seiner folgenden Erinnerungen an die Belagerung, Erstürmung und Einnahme Chodžents erneut auf die gefangengenommene Gesandtschaft zu sprechen. Ende Mai 1866 sei einer der ehemaligen Gefangenen in ihrem Heerlager eingetroffen. Er habe ihrem Befehlshaber einen Brief des Chans von Džizak übergeben, worin dieser darüber informiert habe, dass der Emir sich Frieden wünsche und bereit sei, die gesamte Gesandtschaft freizulassen, die bereits auf dem Weg nach Džizak gewesen sei. Abschließend fasste Fišer die Ereignisse von Irdžar zu einem Feldzug zusammen, als dessen erstes Ergebnis er die Freilassung der russischen Gefangenen benannte. Fišer stellte die Befreiung der russischen Gesandtschaft als Folge des Sieges russischer Truppen bei Irdžar dar und rahmte damit sprachlich die von ihm berichtete Eroberung Chodžents ein. Die Freilassung der russischen Geiseln gewann durch den gewählten Zeithorizont des Feldzuges eine legitimierende Bedeutung für die Eroberung Chodžents.42 Kol’devin verknüpfte in seinen Erinnerungen an Straßenbauarbeiten seiner Pioniereinheit im Tjan‘ Šan‘-Gebirge ebenfalls mehrere Handlungsverläufe. Auch er nutzte die Befreiung von Geiseln sowie seine Erzählung erzielter Fortschritte durch das russische Engagement vor Ort, um seinem Handeln Legitimität zu verleihen. Zunächst fasste der Autor die russische Erschließungsgeschichte der Region bis zu dem von ihm ausführlich behandelten Bauabschnitt zusammen: Nach der Machtübernahme des kokandischen Militärführers Jakub Bek 1867 in Kaschgar und als Reaktion auf das angespannte Verhältnis zu ihm sei 1868 zunächst die Festung Narynskoe im Grenzgebiet gegründet worden. Daraufhin sei die Grenzregion zwischen 1869 und 1871 jeweils in den Sommermonaten von russischen Pionieren durch die Anlage von Wegen erschlossen worden, worüber der Autor ausführlich berichtete. Diese die Erschließungsfortschritte betonende Darstellung trat umso klarer aus dem Text hervor, weil Kol’devin ihr einen regionalgeschichtlichen Abriss

42 Vgl. Valerian Adamovič Fišer: Zametka o vzjatii goroda Chodženta našimi vojskami 24 maja 1866 goda. In: Inženernyj Žurnal 1 (1873), S. 1–38, hier S. 2–3, 37–38.

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ab Mitte des 18. Jahrhunderts vorangestellt hat, der eine fortwährende Abfolge von Aufständen, Herrschaftsstreitigkeiten und Instabilität zeigte.43 Teil dieser Erzählung über die friedliche Erschließung dieser Region und den vermeintlich defensiven Schutzmaßnahmen an ihren Grenzen war eine in Kaschgar festgehaltene russische Handelskarawane. Laut Kol’devin hatte sich Generalgouverneur Kaufman entschieden, zu deren Befreiung eine Gesandtschaft zu Jakub Bek zu schicken. Für den Fall ihres Scheiterns seien zusätzlich Truppen zu der Festung Narynskoe geschickt worden. Für deren Verlegung an die Grenze hätten der Autor und seine Pioniere das letzte Wegstück errichten müssen, worüber er in seinem Text ausführlich berichtete. Am Ende seiner Erinnerungen konnte der Autor vermelden, dass sowohl seine Straßenbauarbeiten erfolgreich zu Ende geführt worden seien, als auch, dass die russische Handelskarawane durch das erfolgreiche Verhandeln der russischen Gesandtschaft aus der Geiselhaft entlassen worden sei. In der Festung Narynskoe seien sie schließlich auf „endlose Reihen und Karawanen der Händler“44 aus Kaschgar getroffen, die sich auf dem Weg in die russländischen Gebiete befunden hätten. Kol’devin bettete somit die Erzählung über seine Straßenbauarbeiten im Tijan‘ Šan‘ einerseits in den größeren Zusammenhang der infrastrukturellen Erschließung der Region durch die russische Administration ein. Vor dem Hintergrund einer einst vermeintlich instabilen Region, verband er sein eigenes Handeln mit einer positiven Fortschrittserzählung. Andererseits verknüpfte er seine Straßenbauaktivitäten mit einer erfolgreich erscheinenden russländischen Außenpolitik, die Geiseln befreite, Konflikte beilegte, die Grenzen sicherte und russische Handelsinteressen förderte. Obwohl seine Pioniere nur indirekt damit verbunden waren, legitimierte der größere Rahmen die Arbeit des Autors und erhöhte deren Bedeutung.45 In seinem Bericht über seine Reise in das Emirat von Buchara zum Zweck der Informationsgewinnung über den regionalen Handel befasste sich Petrovskij mit mehreren Begründungen der russischen Expansion in Mittelasien. Neben den wirtschaftlichen Vorteilen für das Imperium benannte er das Argument, das Zarenreich könne aus seiner Dominanz in Mittelasien Vorteile für seine Außenbeziehungen mit Westeuropa generieren. Weiterhin verwies er auf Publizisten, die die Möglichkeit sahen, die indigenen Herrscher Bucharas und Kokands zu friedlichen Beziehungen und der Übernahme der Zivilisation zu bewegen. Schließlich erwähnte er die populäre Ansicht, die russische Eroberung Turkestans hätte unmittelbar die Abschaffung der Sklaverei zur Folge gehabt. Während andere Autoren diese Begründungen zur Legitimation ihres eigenen Handelns vor Ort aufgriffen, setzte 43 Vgl. Petr Fedorovič Kol’devin: Dejstvija Tokmaksko-Narynskogo otrjada v 1872 g. (Vospominanija turkestanskogo sapera). In: Inženernyj žurnal 8 (1873), S. 851–886, hier S. 851–855. 44 Ebd., S. 886. 45 Vgl. Ebd., S. 855–856, 883–886.

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sich Petrovskij während der noch laufenden Eroberungen bemerkenswert kritisch mit diesen auseinander. Er nutzte beispielsweise seine auf der Reise gewonnen Erkenntnisse dazu, die Abschaffung der Sklaverei als Folge der russischen Eroberungen in Zweifel zu ziehen. Petrovskij lieferte keine alternativen Begründungen für das russische Vorgehen in Mittelasien. Allerdings lassen seine detailreichen Ausführungen über den bucharischen Handel mit Britisch-Indien und Persien den Schluss zu, dass er in der Erlangung der Kontrolle über diesen durchaus eine Begründung gesehen hat.46 Eine vergleichbare Kritik an den einzelnen Begründungen der Expansion ließ sich in späteren Jahren nicht mehr finden. Južakov lieferte in seinem Text über die Eroberung Taschkents im Gegenteil eine geradezu mustergültige Aufzählung gängiger Argumente. Bereits eingangs formulierte er: „[…] [Diese] Handvoll kühner russischer Pioniere […] führte in sie [die Steppe, Anm. d. A.] den russischen Namen, die russische Ehre, die russischen Interessen ein und schuf in ihr mit ihnen Ruhe und Ordnung.“47

Den letzten Aspekt griff er kurz darauf nochmals auf und bezeichnete die Stadt als „Spelunke“48 (priton), ohne deren Einnahme Ruhe und Ordnung nicht herzustellen gewesen wären. Besagte Gruppe von Pionieren, so der Autor weiter, seien Gesandte des „großen Mütterchen Russlands“49 gewesen, die mit der „hohen Mission“50 betraut gewesen seien, den Weg nach Asien zu öffnen. Weiterhin sei durch die Einnahme Taschkents mit den Kuraminskij-Bergen und dem in der Region verlaufenden Syrdarja eine „herrliche natürliche Grenze“51 entstanden. Die russischen Interessen ansprechend, verwies er auf die Größe sowie die wirtschaftliche und politische Bedeutung Taschkents in der Region. Ein solches Zentrum, so der Autor weiter, hätte nicht außerhalb der russischen Gebiete bleiben dürfen. Er fügte wenig später an, dass die Stadt die „Kornkammer“52 (žitnica) der Region sowie ein wichtiges Handels- und Produktionszentrum gewesen sei, das 46 Vgl. Nikolaj Fedorovič Petrovskij: Moja poezdka v Bucharu. Putevye nabljudenija i zametki. Vestnik evropy 2/4 (1873), S. 209–248, hier S. 209–210, 237, 243–244. Petrovskij schrieb seiner Arbeit indirekt Bedeutung zu, als er ausführte, dass man den Handel Bucharas zu dessen Kontrolle „enträtseln“ (razgadat’) müsse, wofür sein Reisebericht notwendiges Wissen bereitstellen würde. Vgl. ebd., S. 237. 47 Jurij Dmitrievič Južakov: Šestnadcatiletnjaja godovščina vzjatija Taškenta. (Vospominanie starago turkestanca). Sankt Peterburg 1881, S. 1–2. 48 Ebd., S. 3. 49 Ebd., S. 2. 50 Ebd., S. 2. 51 Ebd., S. 2. 52 Ebd., S. 3.

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man nicht dem Emir von Buchara überlassen hätte können. Kurz darauf behauptete er, dass der Verlust Taschkents an Buchara wahrscheinlich „der Anfang vom Ende“53 Russlands in Mittelasien gewesen wäre. Durch dessen Einnahme hätte man sich jedoch „hohe Bedeutung“54 in der Region erworben. General Černajev zitierend, erklärte er, Taschkent sei „der Würde des Imperiums und der Macht des russischen Volkes angemessen“55 gewesen. Abschließend versuchte der Autor aus der zeitlichen Distanz des Schreibzeitpunktes die postulierte Bedeutung der Stadt zu bestätigen, indem er ein stetes Wachstum des russischen Stadtteils behauptete und die allgemeine politische und ökonomische Bedeutung erneut unterstrich. Južakov rechtfertigte das russische Vordringen umfassend mit wirtschaftlichen, machtpolitischen und geostrategischen Argumenten und führte zu deren Bestätigung ähnlich Kol’devin die seiner Meinung nach positive Entwicklung unter der russischen Herrschaft an. Die einzelne Eroberung Taschkents und damit das Wirken des Autors und seiner Kameraden erhielt durch ihre Verortung in größeren Wirkungszusammenhängen ihre Bedeutung.56 In Sorokins Reisebericht erfuhr die Expansion ihre Rechtfertigung auch von Seiten eines Wissenschaftlers. Seinem Text über seine Expedition in das Tijan‘ Šan‘-Gebirge im Jahr 1884 stellte er eine Aufzählung der verschiedenen früheren Forschungsunternehmungen voran und formulierte darin: „Mit besonderer Schnelligkeit kam die Erforschung des Tjan‘ Šan‘ nach der Gründung des Bezirks57 Turkestan 1867 in Bewegung […].“58

Kurz darauf bekräftigte er diese Aussage für sich persönlich, indem er den „aufgeklärten Beistand“59 des Generalgouverneurs Kolpakovskij als ursächlich für die Durchführung seiner Forschungsreise benannte. Das Generalgouvernement – als sichtbarstes Resultat der militärischen Eroberungen – und einer seiner zeitweilig höchsten Vertreter erschienen hier direkt und indirekt als Voraussetzung und als

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Ebd., S. 5. Ebd., S. 3. Ebd., S. 15. Vgl. Ebd., S. 2–3, 5, 15. Kolokol’cov vertrat in seinen Erinnerungen an Generals Kaufmans Ankunft in Vernyj ebenfalls die Argumentation, Russland habe Ordnung in die Grenzregion gebracht, indem es erfolgreich Maßnahmen gegen die Raubüberfälle der Nomaden ergriffen habe. Vgl. Dmitrij Grigor’evič Kolokol’cov: Ėkspedicija v Chivu v 1873 godu. Ot Džizaka do Chivy. Pochodnyj dnevnik polkovnika Kolokol’cova. Sankt Peterburg 1873, S. 4–6. 57 Der Jahreszahl nach zu urteilen war das Generalgouvernement gemeint. 58 Nikolaj Vasil’evič Sorokin: V gorach i dolinach russkago Tjan’ Šanja. In: Istoričeskij vestnik 24/5 (1886), S. 360–386, hier S. 361. 59 Ebd., S. 362.

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förderlicher Rahmen der wissenschaftlichen Erforschung eines Teils von Turkestan.60 Der Militärmediziner Gejfel’der betonte ebenfalls den vielfältigen Fortschritt, der den russischen Eroberungen gefolgt sei. In seinem Reisebericht verglich der einstige Chefarzt der Kampagne General Skobelevs gegen die Turkmenen in GeokTepe 1880/1881 seine Eindrücke aus den Kampfeinsätzen mit denen von einer erneuten Reise aus dem Jahr 1887. Gejfel’der beschrieb wiederholt eine rasche Entwicklung von Siedlungen und Stützpunkten, die das Imperium an den westlichen und östlichen Küsten des Kaspischen Meeres gegründet oder ausgebaut habe, zu prosperierenden Orten.61 So sei beispielsweise Petrovsk um 1879 nur ein Militärzentrum gewesen, stellte sich ihm 1887 aber bereits als ein „friedliches Städtchen“62 dar. Überdies ging Gejfel’der ausführlich auf die Entwicklung ein, die der Bau der Transkaspischen Eisenbahn bereits bis 1887 in den turkmenischen Gebieten bewirkt hätte. Er betonte den Komfort der Bahnreise und kontrastierte diesen mit seinen früheren Erfahrungen der schwierigen, klimatischen Bedingungen. Erst die Eroberung Geok-Tepes habe diese Entwicklung ermöglicht. Zudem verwies der Autor auf General Skobelev, der bereits 1880 die zukünftigen Vorteile für den russischen Handel durch den Bahnbau hervorgehoben habe.63 Gejfel’der nutzte zudem die bereits bei Gorčakov angelegte Argumentation von einem wilden Stamm, dessen Unterwerfung als notwendig für Stabilität und Ordnung in der Grenzregion dargestellt wurde. Deutlicher als bei Gorčakov erschienen die Eroberer dabei als Träger von Kultur und Zivilisation, deren Verbreitung sie befördert hätten. Anders als der damalige Außenminister versuchte Gejfel’der das Fortschreiten der Expansion aber nicht als scheinbar notwendiges Übel zu rechtfertigen, sondern stellte im Gegenteil die Eisenbahn als Möglichkeit für ein weiteres

60 Im zweiten Teil seines Textes blieben die Strukturen des Generalgouvernements für den Forschungsreisenden weiterhin hilfreich. Sorokin beschrieb seine Kooperation mit der lokalen Verwaltung, die ihn mit Führern und Proviant versorgt habe. Vgl. Nikolaj Vasil’evič Sorokin: V gorach i dolinach russkago Tjan’ Šanja. In: Istoričeskij vestnik 24/6 (1886), S. 628–655, S. 628. Auch Kolokol’cov nutzte, ähnlich wie Kol’devin und Južakov, das Argument der infrastrukturellen Erschließung der Region. Als Beispiel führte er den Ausbau des Gastfort-Passes im Tjan‘ Šan‘ durch den gleichnamigen westsibirischen Gouverneur an. Vgl. Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 8–9, Kol’devin: Tokmaksko-Narynskogo otrjada, 8 (1873), Južakov: Vzjatija. Das russische Vordringen erfuhr somit auch bei ihm als Teil einer Fortschrittserzählung seine Legitimation. Vgl. zu Gasfort N. Aleksandrevič: „Gasford“. In: Imperatorskoe rossijskoe istoričeskoe obščestvo (Hrsg.): Russkij Biografičeskij Slovar‘. Bd. 25. Moskva 1914, S. 265–268. 61 Vgl Oskar Ferdinandovič Gejfel’der: V Zakaspijskoj oblasti. Vospominanija o M.D. Skobeleve vrača O.F. Gejfel’dera. In: Russkaja starina 75/7 (1892), S. 181–216, hier S. 181–184, 187. 62 Ebd., S. 181. 63 Vgl. ebd., S. 184–187, 190, 192.

Ruhe, Ordnung und Fortschritt: Rechtfertigungen der Expansion

Vordringen dar.64 Teil dieser Argumentation von der Verbreitung der europäischen Zivilisation ist der Kampf gegen die Sklaverei gewesen. Gejfel’der beschrieb am Ende seines Berichts die Befreiung zahlreicher persischer Sklaven in Folge der Unterwerfung der Turkmenen bei Geok-Tepe.65 In den Jahren nach 1900 blieb die Verwendung einer individuellen Auswahl der bereits herausgearbeiteten, legitimierenden Argumente gängig. Stellvertretend hierfür wird auf Fedorov verwiesen. In seinen 36 Dienstjahren ist der Autor in der Verwaltung des Gouvernements bis zum Geheimrat aufgestiegen. In seinen umfangreichen Memoiren hat er detailreich auf die aufgezeigten Begründungen zurückgegriffen. Der Autor betonte, dass Russland in Mittelasien „beharrlich seiner zivilisatorischen Mission“66 gefolgt sei. Zunächst habe man die indigene Bevölkerung von ihren despotischen Herrschern befreit und das, so der Autor, gegen den Widerstand ihrer fanatischen Geistlichkeit. Hierbei sei man seiner Aussage zufolge human vorgegangen und habe der Bevölkerung ihren Glauben, ihre volkstümlichen Bräuche und ihre Gerichtsbarkeit gelassen sowie die Unverletzlichkeit ihrer Frauen garantiert. An anderer Stelle wiederholte er diese Punkte in Abgrenzung zu der von ihm kritisierten Herrschaft der Briten in Indien. Dabei fügte er der Liste der durch das Imperium geschaffenen Vorteile die Bewahrung von Ruhe und Ordnung67 , die Garantie des Eigentums der indigenen Bevölkerung, die Beschaffung

64 Vgl. ebd., S. 192, Gorčakov: Despatch, S. 74. 65 Vgl. Gejfel’der: Zakaspijskoj oblasti, 75/7 (1892), S. 194, 212, 214–215. 66 Georgij Pavlovič Fedorov: Moja služba v Turkestanskom krae, (1870–1906 goda). In: Istoričeskij vestnik 133/9 (1913), S. 786–812, hier S. 803. 67 Das legitimierende Argument, Ruhe und Ordnung gestiftet zu haben, wurde nach 1900 von weiteren Autoren aufgegriffen. Vgl. Gunaropulos Ausführungen über die von der russischen Marine bewirkte Befriedung der südöstlichen Küstengebiete des Kaspischen Meeres. Laut dem Autor hätte dies eine Belebung des regionalen Handels und eine Hebung des Wohlstandes unter den einheimischen Turkmenen bewirkt. Vgl. Spiridon Afanas’evič Gunaropulo: V Turkmenskoj stepi (Iz sapisok černomorskago oficera). In: Istoričeskij vestnik 82/11 (1900), S. 565–583, hier S. 577, 581, Spiridon Afanas’evič Gunaropulo: V Turkmenskoj stepi. (Iz sapisok černomorskago oficera). In: Istoričeskij vestnik 82/12 (1900), S. 1033–1050, hier S. 1037–1044. Kamberg formulierte hinsichtlich der Unterbindung von Überfällen auf Handelskarawanen und Geiselnahmen durch Turkmenen in Transkaspien ganz ähnlich. Vgl. Aleksandr Ivanovič Kamberg: Dejstvija Turkestanskogo otrjada v Achal-Tekinskoj ėkspedicii. S 12 nojabrja 1880 g. po 14 marta 1881 g. (Vospominanija učastnika pochoda). In: Voennyj sbornik 1 (1906), S. 43–56, hier S. 43–44. Siehe auch Nikolaj Pavlovič Lomakin: Desjat’ let v Zakaspijskom krae. 1870–1880. Zapiski. In: Voenno-istoričeskij vestnik 1/2 (1911), S. 29–42, hier S. 38–39 und Nikolaj Pavlovič Lomakin: Desjat’ let v Zakaspijskom krae. 1870–1880. Zapiski. In: Voenno-istoričeskij vestnik 3/4 (1911), S. 61–81, hier S. 61–62, 67–68, 71 für die Halbinsel Mangišlak sowie Maksud Alichanov-Avarskij: Zakaspijskie vospominanija. 1881–1885. Vestnik evropy 5/9 (1904), S. 73–125, hier S. 74–75 für die Grenzregion zu Afghanistan mit ganz ähnlichen Argumentationen.

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von Arbeit für diese, die Senkung von Steuern sowie die Abschaffung von Hinrichtungen und Sklaverei hinzu. Schließlich versuchte der Autor am Beispiel des in den 1880er Jahren in Buchara auf den Thron gelangten Emirs Seid Abdul Achad die seiner Auffassung zufolge positiven Auswirkungen des beschriebenen Engagements zu verdeutlichen. Hierbei erschien das Imperium indirekt als Stifter und Träger von „Zivilisation und Fortschritt“68 . Deren „Wohl“69 (blago) und „Nutzen“70 (pol’za) hätte der neue Emir schnell erkannt, so Fedorov weiter, und beispielsweise die traditionelle Hinrichtungspraxis in dem Emirat beendet sowie ein für seine Unmenschlichkeit bekanntes Gefängnis in der Stadt Buchara geschlossen.71 Ein ähnlich gelagertes Beispiel wusste Fedorov auch aus Chiva zu berichten. In der Sklaverei des dortigen Chans hätten „[…] sich einige Russen und Tausende von Persern gequält. Das Prestige des russischen Namens in Mittelasien […]“72 habe daher ein militärisches Eingreifen notwendig gemacht. Dem Sieg über Chiva folgten, so der Autor, die Befreiung der persischen Sklaven und die Angliederung großer Teile seines Gebietes. Kurz darauf zählte der Autor indirekt die Öffnung Mittelasiens für Westeuropäer zu den positiven Folgen der russischen Expansion. Als Beleg berichtete er, dass der ungarische Orientalist Hermann Vámbéry Samarkand in den frühen 1860er Jahren nur unter großen Gefahren und als Derwisch verkleidet betreten habe können. Als Wohltaten des Fortschrittes sah Fedorov auch die von Generalgouverneur Kaufman initiierte Weiterentwicklung der Baumwollund Seidenproduktion sowie des Weinanbaus an. Die ersten beiden Bereiche seien in Turkestan traditionell vorhanden, aber jeweils wenig entwickelt gewesen. Auf Betreiben des Generalgouverneurs hin seien neue Baumwollsorten aus den Vereinigten Staaten von Amerika beschafft, auf einer neu errichteten Versuchsfarm kultiviert und vergünstigt an die indigene Bevölkerung verkauft worden. Für das Seidengewerbe habe Kaufman unter anderem eine Ausbildungseinrichtung in Taschkent geschaffen. Hinsichtlich des Weines sei der Generalgouverneur um dessen Qualitätssteigerung bemüht gewesen. Die seiner Auffassung nach positiven Ergebnisse betonend, hob der Autor hervor, dass das Geld der russländischen

68 Georgij Pavlovič Fedorov: Moja služba v Turkestanskom krae, (1870–1906 g.g.). In: Istoričeskij vestnik 134/11 (1913). S. 437–467, hier S. 448. 69 Ebd., S. 448. 70 Ebd., S. 450. 71 Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 786–812, hier S. 803, Georgij Pavlovič Fedorov: Moja služba v Turkestanskom krae, (1870–1906 g.g.). In: Istoričeskij vestnik 134/10 (1913), S. 33–55, hier S. 47–48, Georgij Pavlovič Fedorov: Moja služba v Turkestanskom krae, (1870–1906 g.g.). In: Istoričeskij vestnik 134/11 (1913). S. 437–467, hier S. 448–450. 72 Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 809.

Schlussfolgerungen

Textilindustrie nun nicht mehr zu den Produzenten in die USA, sondern in das russische Generalgouvernement flösse.73 Die Verwaltungsbeamten Turkestans und vor allem seine ehemaligen Kollegen lobend, bezeichnete er am Ende seiner Memoiren die von ihnen geleistete Arbeit als Teil des „[…] russischen staatsbürgerlichen Engagements im fernen muslimischen Grenzgebiet.“74 Dieses Engagement und die von ihm hervorgehobenen positiven Folgen dienten ihm als Legitimation seines langjährigen persönlichen Dienstes vor Ort.75

2.5 Schlussfolgerungen Mit Blick auf die historische Forschung waren die Gründe für den Beginn und die jahrhundertlange Fortsetzung des Weges der Moskauer Großfürsten beziehungsweise der russischen Zaren nach und durch Asien vielfältig. Die Befreiung von Fremdherrschaft, die Absicherung und Vergrößerung eigener Macht, die Erlangung und Mehrung wirtschaftlichen Wohlstandes, die Steigerung eigenen Prestiges oder die Christianisierung und „Zivilisierung“ eroberter Volksgruppen wurden genannt. Der skizzierte Wandel der Beweggründe verdeutlichte, dass es für die Expansion keinen übergreifenden Plan gab. Auf die geschilderten Entwicklungen nahmen seit dem mittleren 16. Jahrhundert neben den russischen Herrschern, militärische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Akteure, Entdecker oder Glücksritter Einfluss. Hinsichtlich des südlichen Mittelasiens ist die unter den naturräumlichen Bedingungen nur schwer zu schaffende Grenzsicherheit zu beachten. Die andauernden Überfälle durch chivinische oder kokandische Einheiten sowie die Unterstützung Chivas für die kasachischen Nomaden haben sowohl Führungskreise in St. Petersburg als auch militärische Akteure vor Ort beschäftigt. Im Zuge zeitweise international steigender Preise für Rohbaumwolle, weckte deren Vorhandensein in

73 Die legitimierende Argumentation, die Infrastruktur und Wirtschaft nach der Eroberung entwickelt zu haben, wurde nach 1900 von weiteren Autoren genutzt: Vgl. die Beschreibung der Entwicklung des russischen Militärstützpunktes Termez zu einem Ort mit Wasserversorgung und einer Anbindung an die Dampfschifffahrt auf dem Amudarja bei Roževic. Der Autor verknüpft die Entwicklung von Infrastruktur und Handel in der mittelasiatischen Peripherie mit der Anwesenheit russischen Militärs. Vgl. Roman Jul’evič Roževic: Poezdka v Južnuju i Srednjuju Bucharu v 1906 g. In: Izvestija Imperatorskago Russkago Geografičeskago Obščestva 44/9 (1908), S. 593–656, hier S. 598, 648. 74 Georgij Pavlovič Fedorov: Moja služba v Turkestanskom krae, (1870–1906 g.g.). In: Istoričeskij vestnik 134/12 (1913), S. 860–893, hier S. 892. 75 Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 809–810, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/10, S. 39–40, 50). Auch Fedorov benannte die Erschließung Turkestans durch die russische Eisenbahn als Fortschritt. Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 134/10, S. 50.

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Mittelasien Interessen in der Moskauer Textilwirtschaft. Schließlich beeinflusste die durch regionale Kriege und interne Machtkämpfe verursachte Schwäche der Regionalmächte den Beginn der russischen Eroberungen. Für dessen rasches Fortschreiten ist auch das Streben militärischer und administrativer Akteure nach einer Kompensation für vorausgegangene Kriegsniederlagen und nach persönlichem Fortkommen zu berücksichtigen. Im Zuge der territorialen und institutionellen Manifestation der russländischen Herrschaft in der Großregion sind mit der Öffnung lukrativer Absatzmärkte für russische Fertigwaren, der Entlastung westlicher Reichsteile im Kontext der Agrarkrise durch Duldung beziehungsweise Förderung der Besiedelung Turkestans, der Umsetzung einer russischen Zivilisierungsmission gegenüber den indigenen Bevölkerungen oder der Durchsetzung außenpolitischer Interessen im „Great Game“ als weitere Gründe hinzugetreten. Hinsichtlich der genauen Umsetzung, der etwaigen Aufgabe oder der Abänderung der angesprochenen Ziele sind erneut vielfältige Interessengruppen aus den politischen Machtzentren in St. Petersburg, Orenburg oder Taschkent, aus den militärischen Kreisen oder den zivilen Verwaltungs-, Wirtschafts- und Wissenschaftskreisen zu berücksichtigen. Zahlreiche dieser Begründungen fallen auf theoretischer Ebene mit Münkler und Hausteiner gesprochen in das breite Spektrum legitimatorischer Mittel und Strategien von imperialer Herrschaft. In den untersuchten Dokumenten autobiografischer Praxis von Akteuren aus den zuletzt genannten Kreisen haben sie sowohl der persönlichen Sinnstiftung über das eigene Handeln als auch aufgrund ihrer Publizität der Legitimation zarischer Herrschaft in der lesenden Öffentlichkeit gedient.76 Vergleicht man die herausgearbeiteten Begründungen für die russländische Expansion in Mittelasien mit den in der Depesche Gorčakovs aufgeführten Argumenten aus der Frühphase der Eroberungen, wird deutlich, welche Begründungen des imperialen Zentrums in den autobiografischen Diskurs eingeflossen sind. Mit Kol’devin, Južakov, Kolokol’cov, Gejfel’der, Gunaropulo oder Kamberg nutzten Autoren von den 1870er Jahren bis in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg in ihren Begründungen (1) die Schaffung von Ruhe und Ordnung in den Grenzräumen, (2) die Absicherung des Handels sowie (3) die Eindämmung von Überfällen und Plünderungen.77 Alle Punkte wurden sowohl gebündelt als auch einzeln verwendet und gehören in das „traditionelle, legitimatorische Arsenal kolonialer Expansion“78 . Für Osterhammel stellte die Fähigkeit eines Imperiums, seine Außengrenzen

76 Herfried Münkler/Eva Marlene Hausteiner: „Einleitung“. In: dies. (Hrsg.): Die Legitimation von Imperien. Strategien und Motive im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt/M., New York 2012, S. 7–14, hier S. 10–11. 77 Vgl. auch Hofmeister, der diese und weitere Argumente auch als Begründungen für die Zivilisierungsmission angeführt hat. Vgl. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 166–167. 78 Kappeler: Vielvölkerreich, S. 163.

Schlussfolgerungen

gegen Piraten, Banditen oder konkurrierende Imperien zu schützen, auf theoretischer Ebene einen von vier Faktoren horizontaler Integration dar, die dessen Zusammenhalt beförderten.79 Dabei hat keiner der Autoren direkt auf die Depesche selbst zurückgegriffen.80 Selbst eine so deutliche Nähe zu Gorčakovs Formulierungen, wie bei Gejfel’der, ist selten geblieben. Nur wenige Autoren zitierten, wie Alichanov-Avarskij, überhaupt amtliche Dokumente für die Rechtfertigung der Expansion. Offensichtlich ist ihnen ihre Autorität als Teilnehmer der Expansion für die glaubwürdige Tätigung der Aussagen als ausreichend erschienen. Die bei Gorčakov in der Formulierung über die Sesshaftmachung nomadischer Gruppen angesprochene Zivilisierung der Bewohner Mittelasiens durch die russischen Eroberer wurde in dem spezifischen Zusammenhang mit der Rechtfertigung der Expansion ebenfalls verhältnismäßig selten aufgegriffen. Dies bestätigt Hofmeisters Feststellung aus dem gesamten Turkestan-Diskurs. Gleichwohl bildete die Auseinandersetzung mit den indigenen Bevölkerungen und ihren Kulturen einen wichtigen Bestandteil der Autobiografik, auf den nachfolgend gesondert eingegangen wird. Gejfel’der blieb bei der zu verbreitenden Kultur und Zivilisation recht unscharf. Diese Unbestimmtheit kennzeichnete auch Fedorovs plakative Verwendung des Begriffes, den er aber durch Verweise auf die Eisenbahn sowie auf die Abschaffung alter Hinrichtungspraktiken und die Schließung eines Gefängnisses in Buchara zu illustrieren vermocht hat. Hiermit griff er, wie Hofmeister dargelegt hat, die nach der Jahrhundertmitte weit verbreitete Darstellung indigener Herrschaftspraktiken als grausam und unmenschlich auf. In den Ausführungen vieler Autoren gewann die Expansion des Imperiums folglich an Legitimität, weil sie auch als Einsatz gegen als inhuman markierte Bestrafungsweisen ausgelegt wurde.81 Noch seltener ließ sich die versuchte Einordnung des Außenministers nachweisen, der zufolge Russland in Mittelasien genauso handele, wie andere Staaten in ihren Kolonien. Lediglich Fedorov formulierte seine Begründungen der Expansion und ihrer positiven Folgen als Vergleich mit der seiner Auffassung zufolge negativen Herrschaft Großbritanniens in Indien. Schließlich ist festzuhalten, dass Gorčakovs Darstellung der Expansion als quasi sich selbst bedingender, schwer zu beendender Prozess überhaupt keine Resonanz in dem vorliegenden Sample gefunden hat. Stattdessen nutzten die Autoren einige Argumente, die der russländische Außenminister 1864 nicht angesprochen hatte. Hierzu zählte die von Fišer, Kol’devin, 79 Vgl. Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, S. 613–614. 80 Ob das Dokument möglicherweise nicht an die Öffentlichkeit gelangte, ließ sich nicht abschließend klären. 81 Vgl. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 126–131, 297–298.

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Gunaropulo, Kamberg, Lomakin und Fedorov formulierte Behauptung, die Sklaverei in Mittelasien abgeschafft zu haben. Hofmeister sah darin „eine zentrale Säule des russischen Selbstverständnisses als zivilisierte Großmacht.“82 Da vor allem auf die Befreiung persischer Sklaven hingewiesen wurde, entstand in der vorliegenden Untersuchung der Eindruck, dass die Autoren sich bemühten, das Imperium als eine Art Schutzmacht der Perser in Zentralasien darzustellen. Berücksichtigt man die angesprochene russische Vormachtstellung im nordpersischen Raum, spätestens seit Ende der 1820er Jahre, sowie die verschiedenen in Russland, Frankreich, Großbritannien oder dem Deutschen Reich zirkulierten Projektionen, wie dem lang gehegten Wunsch russischer Eliten, über den Persischen Golf einen Zugang zum Indischen Ozean zu erlangen, oder die ebenfalls lange populäre Idee einer Transpersischen Eisenbahn, erscheint die Abbildung einer schwachen, von der russischen Intervention abhängigen persischen Bevölkerung plausibel. Bemerkenswert bleibt daran, dass es sich um den behaupteten Schutz für muslimische Untertanen eines anderen Staates gehandelt hat. Eine gewisse Entsprechung besaß dieses Verhalten im von Deutschmann erwähnten Einsatz des Imperiums für zahlreiche christliche Gemeinschaften im Nahen und Mittleren Osten.83 Weitere Bestandteile der Begründungen zahlreicher Autoren war die Behauptung, der russischen Expansion seien ökonomischer Fortschritt und ein vielfältiger Ausbau der Region gefolgt. Laut Kolokol’cov seien Handelswege erschlossen worden, bei Roževic beförderte die reine Präsenz russischer Truppen den Handel und laut Fedorov wurden unter der russischen Verwaltung ganze Wirtschaftszweige entwickelt. In den Schriften von Kol’devin, Gejfel’der und Gunaropulo waren russische Kräfte für die Erschließung ganzer Regionen mit Straßen und Eisenbahntrassen verantwortlich. Zudem hätten sie urbane Orte gegründet oder erschlossen. Damit griffen die Autoren, laut Hofmeister, zentrale Elemente aus den zeitgenössischen Leistungsbilanzen hinsichtlich der Errungenschaften in Folge der russischen Herrschaft auf. Dabei wurden häufig sowohl die Vorteile für die russische Seite als auch für die Indigenen hervorgehoben, so der Autor weiter.84 Die Autoren gestalteten damit die allgemeine Behauptung Gorčakovs, generell den Handel in Turkestan oder russische Handelsinteressen im Besonderen schützen

82 Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 237. 83 Vgl. Milan Hauner: What is Asia to us? Russia’s Asian Heartland Yesterday and Today. Boston u. a. 1990, S. 75–76, 101–111, Milan Hauner: “Russia’s geopolitical and ideological dilemmas in Central Asia”. In: Robert L. Canfield (Hrsg.): Turko-Persia in Historical Perspective. Cambridge u. a. 1991, S. 189–216, hier S. 191–195, Andreeva: Iran, S. 185–186, Moritz Deutschmann: Iran and Russian Imperialism. The ideal anarchists, 1800–1914. London u. a. 2016, S. 2–4, 6–7, 40–41, 49. 84 Vgl. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 168–169, 171, 239–241. Jobst hat für den Krim-Diskurs bis Mitte des 19. Jahrhunderts eine ähnliche, den durch Russland gebrachten Fortschritt betonende, Argumentation gezeigt. Vgl. Jobst: Krim-Diskurs, S. 312, 316, 324.

Schlussfolgerungen

zu wollen, detailreich aus. Die dafür verwendeten Argumente sind auch im Hinblick auf die zeitgenössisch wiederholt geführten Debatten über das Verhältnis von Kosten und Nutzen der Eroberung Turkestans zu sehen.85 Für die Befürworter war die bei Fedorov angesprochene Baumwollproduktion ein Argument. Wie dargestellt, hat die imperiale Expansion unter russländischen Industriellen die Hoffnung auf günstigere Rohbaumwolle sowie lukrative Absatzmärkte für russische Produkte steigen lassen. Entgegen der seltenen Kritik Petrovskijs schaffte Russland es, bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg über die Hälfte seines Baumwollbedarfs aus Turkestan zu decken und erreichte im internationalen Vergleich den fünften Platz unter den Produzenten.86 Schließlich haben Južakov, Lomakin und Fedorov für unterschiedliche Ereignisse während der russischen Eroberungen auf die Notwendigkeit verwiesen, das mit der jeweiligen militärischen Intervention auch die Ehre, die Würde oder das Prestige des Staates geschützt worden seien. Für diese drei Autoren scheint das Russländische Reich in Turkestan unter einem Interventionsdruck gestanden zu haben. Laut Münkler hätten Imperien im Fall der Verletzung ihrer Souveränität aufgrund eines möglichen Glaubwürdigkeitsverlustes unter eben diesem Druck gestanden, militärisch einzugreifen. Unabhängig davon, ob diese Notwendigkeit in den drei Fällen der Autoren vorlag, wurde sie zu legitimierenden Zwecken eingesetzt.87 Im Verlauf des Untersuchungszeitraumes nahmen Zahl und Vielfalt der den Begründungen der Expansion beigegebenen und diese unterstützenden Beispiele zu. Hierdurch gewannen die Argumentationen zunehmend den Charakter einer positiven Fortschritts- und Erfolgserzählung, die ein wesentliches Merkmal des autobiografischen Erzählens über Turkestan war. Explizite Vergleiche persönlicher Eindrücke aus Turkestan, die zu aufeinanderfolgenden Zeitpunkten gewonnen wurden, wie bei Gejfel’der oder partiell bei Gunaropulo, waren in diesen Fortschrittserzählungen offensichtlich eine Ausnahme. Stattdessen stellten Autoren, wie auch Hofmeister gezeigt hat, ihren Ausführungen historische Skizzen voran, die eine schlechte Ausgangslage vor dem Beginn der Expansion konstatierten. Dadurch

85 Vgl. hierzu umfassend Ekaterina Pravilova: Finansy imperii. Den’gi i vlast’ v politike Rossii na nacional’nych okrainach, 1801–1917. Moskva 2005, S. 271–301. 86 Vgl. für die zeitgenössische Kritik an der Expansion Morrison: Russian Rule, S. 31–33. Ebenfalls aufschlussreich für die Kritik sind die Briefe des bereits erwähnten Finanzbeamten und Generalkonsuls Petrovskij, der ab den frühen 1870er Jahren in Turkestan gearbeitet hat. Vgl. Petrovskij: Turkestanskie pis’ma, S. 98–99, 103–105, 121. Siehe zu Petrovskijs Briefen auch Golbeck: (Selbst)beschreibungen. Zur russischen Baumwollproduktion in Mittelasien siehe auch Golden: Central Asia, S. 128. 87 Vgl. Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Köln 2013, S. 30–31.

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traten die am Textende oft beschriebenen, vermeintlich besseren Zustände in Folge der russischen Interventionen hervor.88 Mit der Verortung einzelner militärischer Ereignisse, ganzer Kampagnen oder größerer Phasen der russischen Expansion, an denen die Autoren beteiligt waren, in übergeordneten politischen und wirtschaftlichen Wirkungszusammenhängen, gaben die Autoren ihrem eigenen Handeln Sinn und verliehen ihm eine größere Bedeutung. Durch den oft legitimierenden Charakter der Argumente trugen sie gleichzeitig zur Rechtfertigung einzelner Ereignisse sowie im Verlauf der Expansion ergriffener Mittel bei. In dieser engen Verzahnung von Selbstbeschreibung und positiven Bezügen auf das Imperium als Teil einer übergeordneten Erfolgserzählung lag das kohäsive Potential des autobiografischen Diskurses innerhalb des Turkestan-Diskurses im Sinne der These von Aust und Schenk begründet. Bevor in den folgenden Kapiteln weitere Elemente dieser Fortschritts- und Erfolgserzählung erarbeitet werden, die diese Argumentation unterstützen, wendet sich das nachfolgende Kapitel zunächst zentralen Charakteristika des untersuchten Diskurses zu.89

88 Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 170–171. 89 Vgl. Aust/Schenk: Einleitung, S. 11–12.

3. Turkestan und die russischsprachige Autobiografik

Parallel zu der russländischen Expansion in Mittelasien, über die im vorangegangenen Kapitel berichtet worden ist, haben sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Aufleben der Autobiografik im Russländischen Reich und ein allgemeines Anwachsen der Verlagsbranche vollzogen. Für den letzten Punkt sind technische Innovationen, wie die Einführung der Rotationspresse, oder die im Verlauf des Jahrhunderts zunehmende Lesefähigkeit breiter Bevölkerungsschichten mitverantwortlich gewesen.1 Auf den sich bis gegen 1900 bildenden Massenmarkt für Druckerzeugnisse drängten ab der Jahrhundertmitte zahlreiche neue Verlage und Buchhändler in St. Petersburg, Moskau oder Kiew. Zu den neuen Produkten zählten auch Zeitungen in unterschiedlichen Formaten. Deren schnell steigende Verbreitung wurde auch durch die im Zuge der Großen Reformen erleichterten Zensurbedingungen begünstigt.2 Vor diesem Hintergrund widmet sich das nachfolgende Kapitel der materiellen Ebene des autobiografischen Diskurses innerhalb des Turkestan-Diskurses. Zunächst werden die Publikationspraktiken der Diskursteilnehmer untersucht, um die Befunde der in den folgenden Teilen der Arbeit vorgenommenen, inhaltlichen Analysen angemessen einordnen zu können. Einerseits wird gefragt, welche Formate die Autoren für ihre Veröffentlichungen bevorzugt haben, welche Gestalt die Diskursbeiträge darin besessen haben und welche Reichweite sie erlangen konnten. Andererseits werden die Redaktionen der Journale, die Verlage, das Umfeld der Autoren, die zeitgenössische Zensur und die Autoren selbst als praktische, gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen und Einflussfaktoren auf die nachfolgend untersuchten Diskursinhalte in den Blick genommen. Der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit möglichen Aussagen über den Diskurs anhand von Schreibzeitpunkt und -anlass der Texte. Indem diese Aspekte anhand des der Arbeit zugrundeliegenden Quellenmaterials erörtert werden, findet gleichzeitig eine Einführung in das im Folgenden untersuchte Quellensample statt.3

1 Clyman/Vowles: Introduction, S. 10, Brooks: Lubok, S. 45–48, 77–80. 2 Vgl. Brooks: Lubok, S. 77–80, Walker: Memoirs, S. 337–338, Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1263–1265. 3 Für biografische Informationen zu den in diesem Kapitel erwähnten Autoren siehe Anhang.

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Turkestan und die russischsprachige Autobiografik

3.1 Die „dicken Journale“ Bis in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts haben vor allem Literaten und Publizisten aus den gebildeten Oberschichten ihre Memoiren mehrheitlich monografisch veröffentlicht. Der gesellschaftliche Wandel zur Jahrhundertmitte hin erweiterte die Autorenschaft um weitere soziale Gruppen. Herausgeber, wie der des Journals „Der Moskauer“ (Moskvitjanin), Michail Petrovič Pogodin, veröffentlichten nun auch kürzere Erinnerungstexte und initiierten deren Anfertigung. Die Autoren der für die vorliegende Untersuchung ausgewerteten Schriften sind Teil dieser sich in der zweiten Jahrhunderthälfte fortsetzenden Dynamik gewesen. Der überwiegende Teil der aufgefundenen autobiografischen Literatur über Mittelasien ist in den sogenannten „dicken Journalen“4 veröffentlicht worden. Der Umfang der Publikationen variierte stark. Die Mehrheit schrieb entweder, wie Fišer, über ein einzelnes Ereignis, an dem sie teilgenommen hat. Fišer veröffentlichte im „Ingenieurs-Journal“ (Inženernyj žurnal) 38 Seiten über die Einnahme der Stadt Chodžent im Jahr 1866. Oder sie nahm einige Jahre in den Blick, wie Gejfel’der, der zunächst 57 Seiten in drei Teilen über seine Teilnahme an den Schlachten in den turkmenischen Gebieten zwischen 1879 und 1881 und später weitere 35 Seiten über dasselbe Thema sowie eine neuerliche Reise zu den ehemaligen, turkmenischen Schlachtfeldern verfasst hat. Gejfel’ders Erinnerungen wurden vollständig im Journal „Russisches Altertum“ (Russkaja Starina) publiziert.5 Viel seltener ordneten

4 Vgl. Walker: Memoirs, S. 338. Einen detailreichen Überblick über die Genese dieses Formates mit einem Fokus auf die mit Literatur befassten Journale von den 1840er Jahren bis 1917 bieten Belknap und Grossman. Vgl. Robert L. Belknap: Survey of Russian journals, 1840–1880. In: Deborah A. Martinsen (Hrsg.): Literary journals in Imperial Russia. Cambridge u. a. 1997, S. 91–116, Joan Delaney Grossman: “Rise and decline of the “literary” journal. 1880–1917”. In: Deborah A. Martinsen (Hrsg.): Literary journals in Imperial Russia. Cambridge u. a. 1997, S. 171–196. In dem Sammelband der beiden Texte sind weitere Studien zu einzelnen Journalen und Autoren enthalten. Einen Eindruck von der Vielfalt des Zeitungs- und Zeitschriftenmarktes vor dem Ersten Weltkrieg liefert Lisovskij. Vgl. Nikolaj M. Lisovskij: Russkaja periodičeskaja pečat’ 1703–1894 gg. Bd. 1. 1703–1856. Sankt Peterburg 1895, Nikolaj M. Lisovskij: Russkaja periodičeskaja pečat’ 1703–1894 gg. Bd. 2. 1856–1880. Sankt Peterburg 1901, Nikolaj M. Lisovskij: Russkaja periodičeskaja pečat’ 1703–1900 gg. Bd. 3. 1881–1900. Sankt Peterburg 1913, Nikolaj M. Lisovskij: Russkaja periodičeskaja pečat’ 1703–1900 gg. Bd. 4. Dopolnitelnyj. Sankt Peterburg 1915. Für die periodische Publizistik der nachrevolutionären Diaspora siehe Marc Raeff: Russia Abroad. A Cultural History of the Russian Emigration, 1919–1939. Oxford u. a. 1990, S. 73–94. 5 Vgl. Fišer: Vzjatii goroda, 1 (1873), Oskar Ferdinandovič Gejfel’der: Vospominanija vrača o M.D. Skobeleve. 1880–1881 gg. In: Russkaja starina 52/11 (1886), S. 391–404, Oskar Ferdinandovič Gejfel’der: Vospominanija vrača o M.D. Skobeleve. 1880–1881 gg. In: Russkaja starina 54/4 (1887), S. 217–239, Oskar Ferdinandovič Gejfel’der: Vospominanija vrača o M.D. Skobeleve. 1880–1881 gg. In: Russkaja starina 55/7 (1887), S. 203–225, Gejfel’der: Zakaspijskoj oblasti, 75/7 (1892). Wie Fišer schrieb auch Ivanov jeweils kurze Texte über einzelne Ereignisse. Vgl. Dmitrij L’vovič Ivanov:

Die „dicken Journale“

die Autoren die geschilderten Ereignisse aus Turkestan in ihre gesamte Biografie ein, wie das Fedorov mit seiner 36 Jahre umfassenden Dienstzeit in Mittelasien getan hat. Er veröffentlichte seine Memoiren in vier Ausgaben des „Historischen Boten“ (Istoričeskij vestnik).6 Es ist auffällig gewesen, dass sich eine große Zahl dieser periodisch publizierten Texte inhaltlich um die bekannten Feldzüge und Schlachten der 1860er, 1870er und 1880er Jahre gruppiert hat.7 Gründe hierfür sind im Einzelnen nicht nachvollziehbar gewesen, können aber bei den Autoren gesucht werden. Nicht jedem war die Ausdauer gegeben, die eine umfassende Lebenserzählung verlangte.8 Ein einzelnes, zeitlich und räumlich relativ klar umgrenztes Ereignis erleichterte die Erarbeitung des Textes. Zudem wird ein Journal vor allem bekannten Autoren oder solchen mit einem außergewöhnlichen Thema, das aus der Menge an autobiografischen Erzählungen über Turkestan herausgestochen hat, potentiell einen größeren Umfang eingeräumt haben. Außerdem könnte die Gruppierung der Texte um die einzelnen militärischen Kampagnen mit der größeren Aufmerksamkeit beim Publikum zu begründen sein, welche ein Schlachtenbericht den Verantwortlichen in den Redaktionen versprochen hat. Vielleicht ist hierin aber auch der dokumentarische Charakter sichtbar geworden, der der russischen Autobiografik bereits Mitte des 19. Jahrhunderts zugeschrieben worden ist und auf den Herzberg hingewiesen hat. Demnach hätten die Autoren sich auf ein Ereignis konzentriert, für das sie als Beobachter oder Teilnehmer schriftlich Zeugnis abzulegen wünschten.9

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Iz vospominanij turkestanca. In: Istoričeskij vestnik 64/6 (1896), S. 830–859. Wie Gejfel’der nahmen auch Šul’c und Kolokol’cov längere Zeitabschnitte in den Blick. Vgl. Gejfel’der: Vospominanija, 52/11 (1886), Gejfel’der: Vospominanija, 54/4 (1887), Gejfel’der: Vospominanija. 55/7 (1887), Vasilij Karlovič Šul’c: Plavanie aral’skoj flotilii v 1858 i 1859 godach. In: Morskoj sbornik 53/5 (1861), S. 119–154, Kolokol’cov: Vospominanija. Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), Fedorov: Turkestanskom krae, 134/10, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), Fedorov: Turkestanskom krae, 134/12. Ein weiteres Beispiel findet sich in dem Sonderdruck von Kolokol’cov, der den Gegenstand seines Textes, die Ankunft Kaufmans in Vernyj, zumindest durch seine Dienstzeit davor und danach in einen gewissen biografischen Rahmen setzte. Vgl. Kolokol’cov: Vospominanija. Für Informationen über den „Historischen Boten“ (Istoričeskij vestnik) und das „Russische Altertum“ (Russkaja starina) vgl. A.G. Dement’eva/A.V. Zapadova/M.S. Čerepachova: Russkaja periodičeskaja pečat’. Spravočnik. Bd. 1. 1702–1895. Moskva 1959, S. 611, 532–533. Darauf hat bereits Levteeva hingewiesen. Vgl. Levteeva: Prisoedinenie, S. 16–18. Umfassender, als im Sample dieser Arbeit, wird dieser Umstand durch die Kapiteleinteilung bei Zajončkovskij im Band 3.2 belegt. Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2. Fedorov eröffnete seine Memoiren mit der Feststellung, wie schwer es sei, sich an alle Ereignisse des Lebens nach langer Zeit zu erinnern, besonders, wenn man kein Tagebuch geführt habe. Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 786. Vgl. Clyman/Vowles: Introduction, S. 6, Herzberg: Autobiographik, S. 30.

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Die Tages-, Wochen-, Quartals- und Monatsschriften, aus denen das Material entnommen worden ist, bildeten ein breites Spektrum an Meinungen und publizistischen Formaten ab.10 Zahlreiche Artikel stammten aus dem „Boten Europas“ (Vestnik evropy), einer Zeitschrift für historische, literarische und politische Themen. Er stand für gemäßigte, liberale und bürgerliche Positionen. Der „Historische Bote“ (Istoričeskij vestnik) ist beispielsweise eines der bekanntesten Journale für Geschichtswissenschaft und Literatur gewesen und vertrat konservative Meinungen. In dem „Militärischen Sammelband“ (Voennyj sbornik), dem Organ des Kriegsministeriums, wurden neben militärwissenschaftlichen Beiträgen und Kriegs-Memoiristik auch Anordnungen des Imperators und des Kriegsministers veröffentlicht. Ziel war die Propagierung gemäßigter Ansichten im Sinne der Regierung. Autobiografische Beiträge zu Turkestan erschienen auch in der populären illustrierten Zeitschrift „Kornfeld“ (Niva), die wöchentlich über Politik, Literatur und das gesellschaftliche Leben berichtete. Forschungsreisende veröffentlichten ihre Reiseberichte aus Mittelasien beispielsweise in den „Mitteilungen der Kaiserlich Russischen Geografischen Gesellschaft“ (Izvestija Imperatorskago Russkago Geografičeskago Obščestva) (MKRGG), dem thematisch breit aufgestellten Fachjournal dieser Forschungsgesellschaft.11 Wie sich an dem häufigsten Erscheinungsort der Periodika – St. Petersburg – ablesen lässt, ist der Diskurs institutionell auf das Zentrum des Imperiums konzentriert gewesen.12 Gleichzeitig hat er aber auch eine reichsweite Verbreitung erfahren, weil seine Rezipienten und Beiträger in Bibliotheken, Clubs oder Lesestuben in allen Landesteilen gesessen haben, in welche die Journale mit teils großer Zeit-

10 Journale, aus denen Material stammt, sind: Ingenieurs-Journal (Inženernyj žurnal), Russisches Altertum (Russkaja starina), Bote Europas (Vestnik evropy), Mitteilungen der Kaiserlich Russischen Geografischen Gesellschaft (Izvestija Imperatorskago Russkago Geografičeskago Obščestva), Historischer Bote (Istoričeskij vestnik), Militärischer Sammelband (Voennyj sbornik), Beobachter (Razvedčik), Militärhistorischer Bote (Voenno-istoričeskij vestnik), Altertümliches und neues Russland (Drevnjaja i novaja Rossija), Russischer Reichtum (Russkoe bogatstvo), Sammlung des Beobachters (Izbornik razvedčika), Kornfeld (Niva), Mitteilungen der Turkestanabteilung der Kaiserlich Russischen Geografischen Gesellschaft (Izvestija Turkestanskago Otdela Imperatorskago Russkago Geografičeskago Obščestva) und Marine-Sammelband (Morskoj sbornik). 11 Für die angesprochenen Journale vgl. Dement’eva/Zapadova/Čerepachova: Russkaja periodičeskaja Bd. 1., S. 470–472, 611, 358–360, 530–531, 463. 12 Natürlich fand der Diskurs auch in Regionalzeitungen wie dem „Turkestanischen Anzeiger“ (Turkestanskie vedomosti) statt, der ab 1870 wöchentlich beziehungsweise ab 1893 zwei Mal pro Woche in Taschkent erschienen ist. Brower bezeichnete das Journal als „Stimme dieser Entdecker“. Vgl. Brower: Turkestan, S. 47. Der Hinweis auf den „Uralischen Heeresanzeiger“ (Ural’skie vojskovye vedomosti) bei Guljaev bestätigte ebenfalls, dass Beiträge auch außerhalb der westlichen Reichszentren erschienen sind. Vgl. Aleksandr Lazarevič Guljaev: Pochod na Amu-Dar’ju i v Tekinskij oazis ural’skich kazakov v 1880–81 godach. Ural’sk 1882, Einband.

Monografien

verzögerung geliefert worden sind.13 Ein solcher Leseraum ist beispielsweise in Kizyl Arvat, unweit der Grenze zu Persien, in den Memoiren der Fürstin Varvara Fedorovna Duchovskaja erwähnt, der Ehefrau des fünften Generalgouverneurs von Turkestan, Sergej Michailovič Duchovskoj.14

3.2 Monografien Die „Turkestanskije vospominanija“ der eben erwähnten Duchovskaja stellten mit etwa einhundert Seiten die umfangreichsten Memoiren in monografischer Form im vorrevolutionären Sample dar. In St. Petersburg im Verlag M. O. Vol’f erschienen ist der Text inhaltlich an die mehrjährige Amtszeit des Ehemannes der Autorin als Generalgouverneur von Turkestan geknüpft gewesen. Der Einband enthielt ein Portrait von Duchovskaja.15 Gleiches galt für den monografisch publizierten Reisebericht „Auf dem Dach der Welt“ von Revelioti, einem russischen Vizekonsul in Kalkutta. Revelioti reiste 1913 von Kalkutta, durch Nordindien, nach Taschkent. Sein Text ist nur knapp halb so lang gewesen, wie der Duchovskajas. Der Fotografie auf dem Deckblatt, die vermutlich ihn selbst sowie seine Begleiter in einer Gebirgslandschaft zeigt, ist die Bildunterschrift „Riskante Überquerung des Gletschers Batur“ beigegeben worden. Der Text ist im Verlag V. F. Kiršbaum in Petrograd erschienen. Durch ihren deutlich größeren Umfang und die Kombination aus Bild und Text ermöglichten beide Schriften eine umfassendere Form der autobiografischen Selbstbeschreibung, als die nur sehr selten bebilderten Artikelserien in den zuvor benannten Journalen.16 Diese erweiterten Möglichkeiten wurden jedoch von der geringeren Reichweite der monografischen Publikationsform begrenzt, welche sich aus den kleineren Auflagenzahlen ergab.17 M. O. Vol’f, der Verlag Durchovskajas, gehörte zu den renommierten Verlagshäusern der imperialen Hauptstadt und besaß auch zur

13 Die Bedeutung der Journale als Informationsquelle und die unterschiedlich verursachte Zeitverzögerung der Informationsübermittlung wurde beispielsweise bei Guljaev deutlich. Der Autor berichtete, dass er zwar in der ersten Märzhälfte 1881 vom Tod des Zaren Alexander II. durch seinen Vorgesetzten erfahren habe, sich aber erst ungefähr eineinhalb Monate später in Taschkent über die genauen Todesumstände in den Zeitungen informieren konnte. Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 86–87. 14 Vgl. Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija, S. 82. Morrison bestätigt die Existenz von „military club libraries“ für Turkestan. Vgl. Morrison: Russian Rule, S. 137. 15 Vgl. Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija. 16 Vgl. Leontij Charlamovič Revelioti: Na kryše mira. Iz Kal’kutty v Taškent čerez Kašmir, Gil’git, Chunzu i Pamiry. Petrograd 1915. 17 Matveev argumentierte ebenfalls, dass Monografien über das Themenfeld Mittelasien bis gegen 1900 einerseits verhältnismäßig selten gewesen sind und andererseits eine begrenzte Leserschaft besessen haben. Vgl. Matveev: Perceptions, S. 277.

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Zeit Duchovskajas eine universale Ausrichtung, die Kinder- und Jugendliteratur, gesammelte Werke in- und ausländischer Schriftsteller sowie Literatur verschiedener Wissensgebiete umfasste.18 Das Renommee des Verlages korrespondierte mit Duchovskajas gesellschaftlicher Stellung und lässt zusammen mit einer anzunehmenden Bekanntheit der Autorin durch ihre früheren Veröffentlichungen19 eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit für ihre Memoiren möglich erscheinen. Für die Publikation Reveliotis wird das weniger gegolten haben. Er war davor schriftstellerisch noch nicht in Erscheinung getreten. Über seinen Verlag ist wenig bekannt. V. F. Kiršbaum führte ab 1868 mit Lizenz die Druckerei des Departements für Außenhandel (Departament vnešnej torgovli) des Finanzministeriums. Der Verlag zählte nicht zu den bekannten Größen in St. Petersburg.20 Ein dritter monografischer Erinnerungstext von Južakov kann zwischen Duchovskajas und Reveliotis Veröffentlichungen eingeordnet werden. Einerseits ist er mit der Tipografija V. V. Komarov wie Duchovskajas Schrift bei einem wirtschaftlich starken St. Petersburger Verlag erschienen. Andererseits handelte es sich bei den nicht illustrierten 16 Seiten über die Einnahme Taschkents um eine sehr einfache Herstellung im Papiereinband, wie bei Revelioti.21 An die bei Dement’eva, Zapadova und Čerepachova erwähnten Auflagen von Journalen wie dem Militärischen Sammelband oder dem Kornfeld, die zeitweilig zwischen mehreren tausend und einigen hunderttausend Exemplaren betragen haben, werden Publikationen wie die genannten Monografien nur selten herangereicht haben. Dies galt unabhängig von den genannten Unterschieden der drei Texte. Ihre Inhalte passten nicht in das breitenwirksame Spektrum, das Brooks für den Massenmarkt beschrieben hat.22 Von diesen Überlegungen unabhängig müssen die vier in das Sample aufgenommenen Monografien von Čarykov, Stepun, Drejer und Kerenskij betrachtet

18 Vgl. Irina I. Frolova (Hrsg.): Kniga v Rossii, 1895–1917. Sankt Peterburg 2008, S. 56–61. Liebermann hat Verlag und Verleger detailreich in ihrem Beitrag für die Wochenzeitung DIE ZEIT portraitiert. Vgl. Doris Liebermann: Der Zar der Bücher. In: DIE ZEIT 41 (02.10.2003). [zuletzt aufgerufen am 17.01.2017]. 19 Vgl.: Varvara Fedorovna Duchovskaja: Iz dnevnika russkoj ženščiny v Ėrzerume v 1878 g. Sankt Peterburg 1879, Varvara Fedorovna Duchovskaja: Otryvok iz moich vospominanij. Čerez Velikij okean. Iz San-Francisko v Japoniju. Sankt Peterburg 1900. 20 Vgl. Revelioti: Kryše mira. 21 Vgl. Južakov: Vzjatija, Irina I. Frolova (Hrsg.): Kniga v Rossii, 1861–1881. Bd. 2. Moskva 1990, S. 13–14, 27–28. 22 Dement’eva, Zapadova und Čerepachova verzeichnen für den Voennyj sbornik 1858 eine Auflage von 6.000 Stück und für die Niva zwischen 1880 und 1900 Auflagen zwischen 50.000 und 235.000 Stück. Vgl. Dement’eva/Zapadova/Čerepachova: Russkaja periodičeskaja Bd. 1, S. 359, 530. Ebenso bei Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1265. Vgl. für den Massenmarkt Brooks: Lubok, S. 46–47, 53–66.

Monografien

werden. Die gänzlich anderen Umstände, unter denen sie nach 1917 und außerhalb der Sowjetunion erschienen sind, zeigten sich bereits in ihrer Publikationspraxis. Čarykovs Text erschien 1931 posthum auf Englisch in London im Verlag George Allen & Unwin.23 Stepuns Memoiren sind wahrscheinlich in russischer Sprache verfasst, aber ab 1947 zuerst auf Deutsch bei Joseph Kösel in München in drei Bänden erschienen, bevor sie 1956 auf Russisch in New York veröffentlicht worden sind.24 Drejers Text ist dagegen nur auf Russisch im Selbstverlag in Madrid erschienen.25 Ähnlich kompliziert verhält es sich mit den Memoiren Kerenskijs, die vermutlich zeitnah 1965 auf Englisch bei Cassell in London und auf Deutsch bei Zsolnay in Wien und erst 1993 auf Russisch in Moskau bei Respublika erschienen sind.26 Anders als Duchovskaja oder Revelioti haben alle vier Autoren umfassendere Lebenserzählungen vorgelegt, die sich nicht nur auf ihren Lebensabschnitt in Turkestan bezogen haben. Alle vier Monografien enthalten Portraitfotografien ihrer Autoren. Bei der Betrachtung der Verlage der Erstveröffentlichung ist aufgefallen, dass drei Autoren in für die jeweilige Publikationszeit renommierten Unternehmen erschienen sind. George Allen & Unwin, ein Konglomerat diverser Verlage, prosperierte unter seinem Verleger Stanley Unwin nach 1914. Das inhaltliche Spektrum reichte von den Schriften des Philosophen und späteren Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell bis zu den literarischen Werken J. R. R. Tolkiens. Wenngleich mangels genauer Informationen keine konkrete Verortung Čarykovs im Verlagsprogramm möglich ist, so bot das aufgezeigte Spektrum zumindest Raum für seinen Text.27

23 Vgl. Nikolaj Valer’evič Čarykov: Glimpses of High Politics. Through War and Peace 1855–1929. London 1931. 24 Vgl. Fedor Avgustovič Stepun: Vergangenes und Unvergängliches. Aus meinem Leben. Erster Teil 1884–1914. München 1947, Fedor Avgustovič Stepun: Vergangenes und Unvergängliches. Aus meinem Leben. Zweiter Teil 1914–1917. München 1948, Fedor Avgustovič Stepun: Vergangenes und Unvergängliches. Aus meinem Leben. Dritter Teil 1917–1922. München 1950, Fedor Avgustovič Stepun: Byvšee i nesbyvšeesja. Bd. 1. N’ju Jork 1956, Fedor Avgustovič Stepun: Byvšee i nesbyvšeesja. Bd. 2. N’ju Jork 1956. Schwieder gibt das Erscheinungsjahr von Bd. 1 bei Kösel fälschlicherweise mit 1948 an. Vgl. Wolfram Schwieder: „Chronik“. In: O. A.: 400 Jahre Kösel-Verlag. 1593–1993. München 1933, S. 187–251, hier S. 230. 25 Vladimir Nikolaevič Drejer: Na zakate imperii. Madrid 1965. 26 Vgl. Aleksandr Fedorovič Kerenskij: Die Kerenski-Memoiren. Russland und der Wendepunkt der Geschichte. Wien, Hamburg 1966, Aleksandr Fedorovič Kerenskij: Rossija na istoričeskom povorote. Memuary. Moskva 1993. Die Angaben der hier zitierten deutschen und russischen Ausgabe widersprechen sich hinsichtlich des Jahres der Erstveröffentlichung der englischen Originalausgabe. Die Württembergische Landesbibliothek führt eine englische Ausgabe von 1965, erschienen bei Cassell. Die Universitätsbibliothek Bielefeld führt eine deutsche Ausgabe von 1965, erschienen bei Zsolnay. Für die vorliegende Arbeit wurde die deutsche Ausgabe von 1966 verwendet. 27 F.A. Mumby/Frances H. S. Stallybrass: From Swan Sonnenschein to George Allen & Unwin Ltd. London 1955, S. 83–86.

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Der Joseph Kösel Verlag gehörte 1947, als dort Stepuns Memoiren erschienen sind, bereits zu den ältesten Verlagen im deutschsprachigen Raum. Das katholisch geprägte Verlagsprogramm reichte vor dem Zweiten Weltkrieg von Belletristik über Pädagogik bis Philosophie. Mit der Zeitschrift „Das Hochland“ gab der Verlag ein bedeutendes Forum des katholischen Geisteslebens heraus. In das von inund ausländischen Autoren mit geistlichen und weltlichen Themen geprägte Verlagsprogramm der Nachkriegsjahre passten die Erinnerungen des Philosophen Stepun.28 Der Paul Zsolnay Verlag, in dem Kerenskijs Memoiren auf Deutsch veröffentlicht worden sind, hatte sich bis Ende der 1930er Jahre zum größten belletristischen Verlag Österreichs entwickelt. Seine dezidiert internationale Autorenschaft umfasste zahlreiche preisgekrönte Schriftsteller, wie den Literaturnobelpreisträger John Galsworthy. Nach dem Zweiten Weltkrieg haben sich Kerenskijs Erinnerungen in das breite Sortiment, von moderner Literatur über Politik bis Zeitgeschichte gut eingefügt. Als ebenso renommiert darf der Verlag Cassell gesehen werden. In das breite Repertoire der 1930er und 1940er Jahre gehörten Novellen Stefan Zweigs ebenso, wie Schriften Winston Churchills. Kerenskijs Memoiren standen in einer längeren Reihe von Titeln dieses Genres bei Cassell.29 Über die in dem Einband bei Drejer angegebene Druckerei ist nichts bekannt. Eine größere Verbreitung kann demnach nur für die vier zuvor genannten Monografien angenommen werden. Russisch ist nur noch in einem der vier Fälle die ausschließliche Sprache der Erstveröffentlichung gewesen. Anders als für die Mehrheit der Texte vor 1917, stand eine rein russischsprachige Leserschaft demnach nicht mehr im Fokus der Autoren. Der Diskurs wurde damit international geöffnet. Darüber hinaus hat die russischsprachige Diaspora, laut Raeff über einen guten Bildungsstand verfügt, zu dem nicht zuletzt auch aufgrund ihrer Lebensumstände Fremdsprachenkenntnisse gehört haben. Dies galt für die in der Emigration nachgeborenen Generationen umso mehr. Die visuell erweiterte Selbstdarstellung korrespondiert mit den umfangreicheren Erzählungen, der mehrheitlich qualitativ wertigen Herstellung der Bücher und den jeweils bekannten Verlagen.30

28 Vgl. Reinhard Wittmann: „400 Jahre Kösel. Lust und Last der Geschichte“. In: O. A.: 400 Jahre KöselVerlag. 1593–1993. München 1993, S. 11–40, hier S. 11, 25–34, Schwieder: Chronik, S. 220–230. 29 Vgl. Hans W. Polak: „Paul (von) Zsolnay (1895–1961)“. In: Herbert Fleissner/Kurt Skalnik (Hrsg.): Neue Österreichische Biographie ab 1815. Große Österreicher. Bd. XXII. Wien, München 1987, S. 133–143, Simon Nowell-Smith: The House of Cassell. 1848–1958. London 1958, S. 219–245. 30 Vgl. Raeff: Russia Abroad, S. 4–5, 26–27.

Sonderdrucke

3.3 Sonderdrucke Neben periodischen Veröffentlichungen und Monografien existierte das bemerkenswerte Format der Sonderdrucke. Hierbei handelt es sich um monografische Veröffentlichungen von Artikeln, die ebenfalls in Journalen erschienen sind. Beispielsweise hat Kolokol’cov im „Militärischen Sammelband“ in zwei Ausgaben sein Feldtagebuch der Chiva-Expedition von 1873 veröffentlicht. Im selben Jahr erschien der identische Text unter demselben Titel in der „Druckerei des kaiserlichen Domänenamtes“ (Tipografija departamenta udelov).31 Die Übereinstimmung beider Texte wird auch dadurch belegt, dass die Monografie nicht durchgehend paginiert gewesen ist. Der erste Abschnitt mit den Seitenzahlen 380 bis 394 trug in der Kopfzeile der Seiten die Beschriftung „Militärischer Sammelband“ und somit den klaren Verweis auf das Medium der Erstveröffentlichung. Das uneinheitliche Layout dieses Textes korrespondierte mit einer im Verhältnis zu den vorher genannten Monografien qualitativ minderwertigen Herstellung des Buches im Papiereinband.32 Im Einband der monografischen Fortsetzung von Kolokol’covs Text findet sich der Hinweis: „Aus Nr. 1 des Militärischen Sammelbandes von 1874“. Dem Leser sollte also deutlich werden, dass der Text bereits in einem bekannten Journal einer größeren Öffentlichkeit präsentiert worden war. In beiden Fällen handelte es sich also um Nachdrucke der Journalbeiträge.33 Dass hier kein Einzelfall vorgelegen hat, bestätigten Arnol’ldis Erinnerungen an den transkaspischen Raum im Jahr 1877. Arnol’dis Text ist ebenfalls einerseits in der „Druckerei des kaiserlichen Domänenamtes“ in St. Petersburg und andererseits im selben Jahr ebenfalls in zwei Ausgaben im „Militärischen Sammelband“ erschienen. Ob der Sonderdruck ebenfalls ein Nachdruck gewesen ist, ist leider

31 Über die Druckerei sind keine Informationen verfügbar. Es ist aber anzunehmen, dass es sich hier, ähnlich wie bei dem erwähnten Verlag des Departements für Außenhandel, um eine auf Lizenz an einen privaten Verleger vergebene Druckerei gehandelt haben könnte. 32 Vgl. Dmitrij Grigor’evič Kolokol’cov: Ėkspedicija v Chivu v 1873 godu. Ot Džizaka do Chivy. Pochodnyj dnevnik polkovnika Kolokol’cova. Sankt Peterburg 1873, Dmitrij Grigor’evič Kolokol’cov: Ėkspedicija v Chivu v 1873 godu. Ot Džizaka do Chivy. Pochodnyj dnevnik polkovnika Kolokol’cova. In: Voennyj sbornik 92/8 (1873), S. 379 und Dmitrij Grigor’evič Kolokol’cov: Ėkspedicija v Chivu v 1873 godu. Ot Džizaka do Chivy. Pochodnyj dnevnik polkovnika Kolokol’cova. In: Voennyj sbornik 93/9 (1873), S. 149–182. Der Verlag ist im Impressum der Monografie nicht verzeichnet, wird aber bei Zajončkovskij in Bd. 3.2 unter dem Lemma 3409 erwähnt. Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2. 33 Vgl. Dmitrij Grigor’evič Kolokol’cov: Prebyvanie Turkestanskogo otrjada v Chive v 1873 godu i pereezd is Chivy v Kazalinsk. Sankt Peterburg 1874, Dmitrij Grigor’evič Kolokol’cov: Prebyvanie Turkestanskogo otrjada v Chive v 1873 godu i pereezd is Chivy v Kazalinsk. In: Voennyj sbornik 95/1 (1874), S. 169–186.

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nicht festzustellen gewesen. Für beide Autoren ist anzunehmen, dass ihre ähnlichen militärhistorischen Themen die Aufnahme in dasselbe Journal und denselben Verlag ermöglicht haben.34 Ein drittes, etwas anders gelagertes Beispiel stellte der von Sorokin im „Russischen Boten“ (Russkij vestnik) veröffentlichte Reisebericht dar. Der Autor publizierte diesen in der Kasaner Universitätsdruckerei 1881 nochmals, weil er sich von dem Journal falsch wiedergegeben fühlte. Hierauf wird im Folgenden noch genauer eingegangen. Die Wahl der Druckerei ist vermutlich mit Sorkins Position als Professor an der Kasaner Universität zu erklären. Sein monografischer Nachdruck zeichnete sich ebenfalls durch eine sehr einfache Herstellung aus. Der Beitrag Ošanins ist dagegen nach Aussage des Autors zuerst monografisch in Taschkent erschienen und erst danach als Artikel in den MKRGG veröffentlich worden. Allerdings ließ sich die Monografie nicht nachweisen.35 Guljaevs Sonderdruck über die Feldzüge gegen die Turkmenen, der in Ural’sk in dem unbekannten Verlag V. I. Žavoronkov erschienen ist, zeichnete sich ebenso durch eine sehr einfache Herstellung aus. Der Eintrag „Aus den Uraler Truppennachrichten“36 im Einband verweist auf den Nachdruck eines Artikels. Der Erscheinungsort lässt sich vermutlich mit dem Wohnort des Autors erklären, der in Ural’sk beheimatet gewesen ist und auch dort verstorben ist.37 Ivčenkos Text über seine Reise durch die Wüste Kysylkum ist sogar dreifach erschienen: (1) Zuerst in Auszügen im „Jahrbuch zu Geologie und Mineralogie Russlands“ (Ežegodnik po geologii i mineralogii Rossii). Das hat der Autor am Anfang des vollständigen (2) Artikels in den MKRGG erklärt. Schließlich findet sich im Einband des (3) Nachdrucks aus dem Petrograder Verlag M. M. Stasjulevič der Verweis auf die zuvor genannte Veröffentlichung. Der monografische Nachdruck führt sogar die in Klammern gesetzten Seitenzahlen des zweiten Journalartikels weiter. In dem seit 1866 existierenden Verlag erschien das Journal „Bote Europas“

34 Vgl. Michail Pavlovič Arnol’di: V Zakaspijskom krae v 1877 godu. (Vospominanija oficera). Sankt Peterburg 1885, Michail Pavlovič Arnol‘di: V Zakaspijskom krae v 1877 godu. (Vospominanija oficera). In: Voennyj sbornik 165/9 (1885), S. 132, Michail Pavlovič Arnol‘di: V Zakaspijskom krae v 1877 godu. (Vospominanija oficera). In: Voennyj sbornik 165/10 (1885), S. 314. 35 Vgl. Nikolaj Vasil’evič Sorokin: Srednie-Azijatskie Kara-Kumy i Francuzskija landy. Očerk. In: Russkij vestnik 144/11–12 (1879), S. 459–516, Nikolaj Vasil’evič Sorokin: Puteščestvija v Srednjuju Aziju i Franciju v 1878 i 1879 godach. Kazan 1881, Vasilij Fedorovič Ošanin: Na verchov’jach Muk-su. In: Izvestija Imperatorskago Russkago Geografičeskago Obščestva 16/1 (1880), S. 34–59, hier S. 34. 36 Guljaev: Na Amu-Dar’ju, Einband. 37 Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju. Bei Zajončkovskij im Bd. 3.2 unter dem Lemma 3433 findet sich ein Verweis auf das Periodikum. Die genaue Ausgabe konnte nicht ausfindig gemacht werden. Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2.

Sammelbände

(Vestnik evropy). Daneben wurden sowohl Belletristik als auch wissenschaftliche und Studienliteratur verlegt, zu der man Ivčenkos Text zählen konnte.38 Genauso hat es sich mit dem Bericht von Roževic über dessen Forschungsreise durch das südliche Buchara verhalten. Er ist ebenfalls zunächst in den MKRGG und dann bei M. M. Stasjulevič in Petrograd erschienen. Belegt wurde das durch einen entsprechenden Hinweis auf der letzten Seite der Monografie. Auch bei Roževic sind die Seitenzahlen des Journalartikels in Klammern erhalten geblieben.39 Im Fall Sorokins lieferte der Autor die Gründe für den Nachdruck selbst. Ošanin hat vermutlich erst nach der monografischen Erstveröffentlichung die Möglichkeit zur Publikation in dem renommierten Fachjournal erhalten. Bei Arnol’di erlaubt die Quellenlage keine Rückschlüsse. In den restlichen skizzierten Fällen stellte sich die Frage nach dem Grund für den Nachdruck der Journalartikel. Die Texte Kolokol’covs und Guljaevs sind, anders als Roževic und Ivčenko, in keinen großen oder bekannten Verlagshäusern veröffentlicht worden. Insgesamt scheint aber keiner der genannten Verlage im Verhältnis zu den Journalen der geeignetere Weg für eine öffentlichkeitswirksame Verbreitung der Schriften gewesen zu sein. Ein möglicher Grund für die doppelte Publikationsweise könnte eine Fortsetzung der von Clyman und Vowles erwähnten Verbreitung autobiografischer Texte im privaten Kreis aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts gewesen sein. Während dies bis in die 1850er Jahre nicht zuletzt mit dem noch negativen Beigeschmack des Genres als „egozentrisch“ zu begründen ist, könnte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gerade der Wunsch nach persönlichem Prestige im eigenen Bekanntenkreis ein Grund für die doppelte Publikation gewesen sein. Das starke Anwachsen autobiografischer Texte in den Journalen ließ den eigenen Beitrag womöglich rasch als einen unter vielen erscheinen. Der Sonderdruck ermöglichte es den Autoren, einen ausgewählten Kreis gesondert auf ihre Selbstbeschreibung und Auffassungen von der miterlebten Geschichte aufmerksam zu machen. Der Hinweis auf den Ort der Erstveröffentlichung steigerte das Prestige des Autors, weil es dem Leser verdeutlichte, wo es diesem bereits gelungen war, zu reüssieren.40

3.4 Sammelbände Zusätzlich zu den Artikeln und den verschiedenartigen Monografien versammelten die Bände von Bogdanov und Vereščagin je einige Schriften des jeweiligen Autors. 38 Vgl. Ivčenko: Kizyl-kum, 52/1 (1916), S. 71, Aleksandr Fedorovič Ivčenko: Čerez Kizyl-kum. Petrograd 1916, Einband, Frolova (Hrsg.): Kniga, S. 62–63. 39 Vgl. Roževic: Poezdka, 44/9 (1908), Roman Jul’evič Roževic: Poezdka v Južnuju i Srednjuju Bucharu v 1906 g. Sankt Peterburg 1908, S. 64. 40 Vgl. Clyman/Vowles: Introduction, S. 10–14.

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Bogdanovs41 posthum erschienenes Buch enthielt einen Auszug aus seinem Reisetagebuch von dem Chiva-Feldzug, der bereits zeitnah in der Anthologie „Ameise“ (Muravej) erschienen ist. Laut dem Vorwort zu dem Sammelband von 1902 habe sich diese Anthologie speziell an Kinder gerichtet.42 Diese Zielgruppe hat der Sammelband von 1902, der in St. Petersburg im Verlag M. L. Merkuševa erschienen ist, beibehalten.43 Der Verlag veröffentlichte Werke der Kunstrichtung der Symbolisten aber auch zum Beispiel Texte der Schriftstellerin Zinaida Nikolaevna Gippius. In Bogdanovs Sammelband besaß der Diskurs einen den Journalen vergleichbaren Charakter, wenn auch mit einer sicher geringeren Reichweite aufgrund der geringeren Auflage. Bogdanovs Auszug aus dem Reisetagebuch wurde zwischen realistischen Naturbeschreibungen anderer Regionen des Reiches und fiktiven Erzählungen eingefügt. Ein Blick in ein beliebiges Inhaltsverzeichnis eines der oben angeführten Journale zeigt einen beliebigen autobiografischen Beitrag zu Turkestan inmitten einer thematisch und formal ebenso heterogenen Umgebung, die jeweils vom konzeptionellen Zuschnitt des Journales abgehangen hat.44

41 Dieser Sammelband hat zwischen 1889, dem Jahr seiner Erstauflage, und 1914, dem Jahr der letzten Vorkriegsauflage, 10 Auflagen in 4 verschiedenen Verlagen erlebt. Diese sind in den Katalogen der Russischen Nationalbibliothek St. Petersburg und der Russischen Staatsbibliothek Moskau verzeichnet. Die Verwendung des Textes aus der 6. Auflage für die vorliegende Arbeit ergab sich aus ihrer Verfügbarkeit für den Scan. Ein Textvergleich mit der Erstauflage hat ergeben, dass der analysierte Tagebuchauszug nur wenige, für den Inhalt unwesentliche Veränderungen erfahren hat. Vgl. Modest Nikolaevič Bogdanov: Ot Chalaata do Amu-Dar’i (Vyderžki iz dnevnika, vedennago v Chivinskom pochode 1873 goda). In: ders.: Iz žisni russkoj prirody. Zoologičeskie očerki i razskazy. Sankt Peterburg 1902, S. 434–462, Modest Nikolaevič Bogdanov: Ot Chalaata do Amu-Dar’i (Vyderžki iz dnevnika, vedennago v Chivinskom pochode 1873). In: ders.: Iz žizni russkoj prirody. Zoologičeskie očerki i razskazy. Sankt Peterburg 1889, S. 407–434. 42 Vgl. Bogdanov: Chalaata (1902), Predislovie, O. A.: Muravej. Literaturnyj sbornik. Sankt Peterburg 1875. 43 Das mag ob des martialischen Inhaltes zunächst verwundern, scheint aber im Sinne einer patriotisch nationalistischen Jugenderziehung nicht nur im Russländischen Reich vorgekommen zu sein. Michels erwähnte eine gekürzte und überarbeitete „Jugend- und Volksausgabe“ der Memoiren des zeitgenössisch bekannten Kolonialoffiziers Paul von Lettow-Vorbeck, die 1920 fast zeitgleich mit dessen Memoiren über seinen Dienst in der deutschen Kolonie Deutsch Ostafrika erschienen ist. Vgl. Eckard Michels: „Ein Feldzug – zwei Perspektiven? Paul von Lettow-Vorbeck und Heinrich Schnee über den Ersten Weltkrieg in Ostafrika“. In: Michael Epkenhans/Stig Förster/Karen Hagemann (Hrsg.): Militärische Erinnerungskultur. Soldaten im Spiegel von Biographien, Memoiren und Selbstzeugnissen. Paderborn u. a. 2006, S. 152–168, hier S. 156–157. 44 Zum Verlag M. L. Merkuševa vgl. Frolova (Hrsg.): Kniga, S. 234. Als Beispiel für den angesprochenen Vergleich sei hier auf das Inhaltsverzeichnis des Istoričeskij vestnik aus dem April 1900 verwiesen. In dieser Ausgabe hat S. Kodinec seine Erinnerungen an die 1879 durchgeführte Expedition in die turkmenischen Gebiete veröffentlicht. Vgl. C. Kodinec: Neudavšajasja ėkspedicija. In: Istoričeskij vestnik 80/4 (1900), S. 221–241.

Sammelbände

Vereščagins Band versammelte dagegen ausschließlich seine Erinnerungstexte von verschiedenen Kriegsschauplätzen, zu denen auch jener über die Belagerung Samarkands gehört hat, der in das Sample aufgenommen worden ist. Das Buch ist im Verlag I. N. Kušnerev i Ko in Moskau erschienen. Kušnerev, 1869 gegründet, gehörte gegen Ende des Jahrhunderts zu den großen und bekannten Häusern in Moskau. In demselben Jahr ist eine deutsche Übersetzung bei Gressner & Schramm in Leipzig herausgekommen.45 Es existierte also auch vor 1917 in begrenztem Umfang eine internationale Dimension des autobiografischen Schreibens über Turkestan. Mit dem Fall Vereščagins wird hier aber argumentiert, dass eine autobiografische Publikation mit Bezug zu Turkestan russophoner Autoren in anderen Sprachen vor 1917 stark an die internationale Bekanntheit des jeweiligen Autors geknüpft gewesen ist, die der Künstler Vereščagin bereits zu seinen Lebzeiten erlangt hatte.46 Eine als „Turkestanischer literarischer Sammelband“ betitelte Publikation aus dem Jahr 1900, die im Verlag A. E. Benke in St. Petersburg erschienen ist, enthielt dagegen Texte diverser Autoren und Genres. Mit dem Erlös der Publikation, die aus Mitteln der Turkestaner Bezirksverwaltung des Roten Kreuzes finanziert worden ist, sollte eine Einrichtung für Leprakranke in Taschkent unterstützt werden. Der Band enthält vier von Simonova gesammelte und unter ihrem Namen publizierte Erinnerungen an die Eroberung und Verteidigung Samarkands. Entsprechend dem Titel des Sammelbandes hat die Veröffentlichung Simonovas zwischen Gedichten, Märchen und Auseinandersetzungen mit der Lepra gestanden und glich hier, wie Bogdanovs Band, dem Aufbau eines der Journale. Die Erscheinungsorte und Verlage der drei Sammelbände bestätigten den Eindruck, dass die Publikationspraxis autobiografischer Texte zu Turkestan mit Moskau und St. Petersburg an die großen Zentren der westlichen Reichsteile gekoppelt gewesen ist.47

45 Vgl. Vasilij Vasil’evič Vereščagin: „Samarkand. 1868.“ In: ders.: Na vojne v Azii i Evrope. Vospominanija chudožnika V.V. Vereščagina. Moskva 1894, S. 1–55, Vasilij Vasil’evič Vereščagin: Kriegsfahrten in Asien und Europa. Erinnerungen von W. W. Wereschtschagin. Leipzig 1894. Vgl. für den Verlag I. N. Kušnerev i Ko Frolova (Hrsg.): Kniga, Bd. 2, S. 7. 46 Vgl. zur in- und ausländischen Wirkung von Vereščagins Turkestan-Zyklus sowie dessen internationalem Ansehen Orlando Figes: Nataschas Tanz. Eine Kulturgeschichte Russlands. Berlin 2003, S. 430–433. 47 Vgl. Sergej Nikolaevič Syromjatnikov: Prokaza v Kitae. In: O. A.: Turkestanskij literaturnyj sbornik v pol’zu prokažennych. Sankt Peterburg 1900, S. I-VI, Simonova: Razskazy. Der Verleger A. E. Benke mietete den Verlag des Verkehrsministeriums 1871 und publizierte auch Werke Gogols und Aleksej Tolstojs. Vgl. Frolova (Hrsg.): Kniga, Bd. 2, S. 27.

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3.5 Redaktionen, Redakteure und das Umfeld der Autoren Neben dem beschriebenen passiven Einfluss der Publikationsform hatten Redakteure und das Umfeld der Autoren aktiven Einfluss auf die einzelnen Diskursbeiträge. Im Zusammenhang mit den Journalen sind vor allem die Redaktionen zu beachten gewesen. Zunächst oblag ihnen die Textauswahl. Hierbei buhlten im Fall Turkestans zahllose Autoren um die Aufmerksamkeit der Redaktionen. Wie schwierig es selbst für höhere Beamte gewesen ist, als Regionalexperten oder Informanten der Öffentlichkeit im Zentrum zu reüssieren, verdeutlichte das Beispiel Nikolaj Fedorovič Petrovskijs, des ersten russischen Konsuls in Kaschgar, Chinesisches Kaiserreich. Petrovskij, der bereits ab 1870 als Agent für das Finanzministerium im Generalgouvernement gearbeitet hat, ist zwischen 1882 und 1904 einer der wenigen russischen Funktionsträger gewesen, die permanent in dieser Grenzregion gelebt haben, in der Großbritannien und Russland um die Vormachtstellung gerungen haben. In diesen Jahren brachte er es aufgrund seines wirkungsvollen Auftretens gegen den britischen Einfluss zu einiger, auch internationaler Beachtung. Dennoch blieb es auch für ihn kompliziert, seine publizistischen Beiträge zu veröffentlichen, wie eine Auswertung seiner Briefe gezeigt hat. Petrovskij bemühte häufig Kontakte in St. Petersburg, die seine publizistischen Anliegen an die Redaktionen vermitteln sollten. Es wird hier analog zu Petrovskijs Fall argumentiert, dass bei der bereits aufgezeigten Fülle autobiografischer Schriften zu Turkestan den Redaktionen eine zentrale Rolle bei der Auswahl der Texte zugekommen ist. Damit gestalteten sie den Diskurs inhaltlich mit.48 Die Redaktionen übernahmen in vielen Fällen auch die Einleitung der abgedruckten Texte, wie im Fall der ab 1893 veröffentlichten Erinnerungen Vladimir Alekseevič Poltorackijs. Mit der biografischen Skizze zeichnete der Redakteur bereits das Bild eines im Kaukasus wie auch in Turkestan erfolgreichen Militärs, der sich nach der Bauernbefreiung auch in der lokalen Selbstverwaltung engagierte. Die Redaktion beschrieb Poltorackij zudem als „akkurat […] aufmerksam, glaubwürdig und scharfsinnig“.49 Die Redakteure erweiterten somit die durch den Autor entworfene Selbstbeschreibung. Da Diskursbeiträge, zu denen auch immer ihr Vorwort

48 Vgl. für Petrovskijs Vita und Wirken Vladimir Stepanovič Mjasnikov: „Obraz N.F. Petrovskogo v anglijskom zerkale“. In: Nikolaj Fedorovič Petrovskij: Turkestanskie pis’ma. Hrsg. v. V.S. Mjasnikov. Moskva 2010, S. 4–19, Vladimir Genrichovič Buchert: …I ego russkij portret. In: Nikolaj Fedorovič Petrovskij: Turkestanskie pis’ma. Hrsg. v. V.S. Mjasnikov. Moskva 2010, S. 20–66. Für seine Aktivitäten im russisch-britischen Spannungsfeld siehe auch Kreutzmann: Asien, S. 93, 106–110. Für die Analyse seiner Briefe vgl. Golbeck: (Selbst)beschreibungen, S. 308–310. 49 Vgl. Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 51/1 (1893), S. 39–86, hier S. 39–40.

Redaktionen, Redakteure und das Umfeld der Autoren

gehörte, auch als Antwort auf bereits veröffentlichte Beiträge verfasst worden sind, hatten die Redaktionen auch über die Vorworte Einfluss auf die Diskursinhalte.50 Wie umfangreich ein direkter Eingriff der Redaktion in einen Text ausfallen konnte, schilderte der bereits erwähnte Sorokin an mehreren Beispielen in seinem Reisebericht selbst. Der Autor stellte in tabellarischer Form einer Passage seines ursprünglichen Textes eine durch die Redaktion des „Russischen Boten“ (Russkij vestnik) gekürzte Fassung gegenüber, die so 1879 erschienen ist. Zusätzlich zu der Kürzung hatte die Redaktion auch Bezeichnungen verändert. Eine von Sorokin als Konsul benannte Person erschien in der bearbeiteten Version als „Prefekt“. Das veranlasste den Kasaner Professor, sein Original in der Universitätsdruckerei als Monografie erneut drucken zu lassen.51 Im Fall Chasan Asfendiarovič Čanyševs ging der Einfluss V. Kulešovs, Redakteur beim „Historischen Boten“ (Istoričeskij vestnik), noch weiter. Čanyšev war 1875 Übersetzer in der von Michail Dmitrievič Skobelev geleiteten Gesandtschaft, die Jakub Bek in Kaschgar treffen sollte. Der Einleitung Kulešovs ist zu entnehmen, dass Čanyšev ihm bei einem gemeinsamen Kennenlernen von seiner Mission berichtet habe. Der Redakteur habe dessen Erzählung sogleich mitgeschrieben, weil er sie für interessant gehalten habe. 1887 veröffentlichte Kulešov sie nach eigenen Angaben mit dem Einverständnis Čanyševs aus dessen Erzählperspektive und unter dessen Namen. Somit wechselte Kulešov aus der Rolle des auswählenden und einleitenden Redakteurs in die Rolle des Interviewers und Ko-Autors. Dadurch gewann er eine nicht mehr nachzuvollziehende, sprachliche Kontrolle über die Erzählung selbst.52 Auch hier lag wieder kein Einzelfall vor. Die bereits erwähnte Ljudmila Christoforovna Simonova hat unter ihrem Namen mehrere Erinnerungen anderer Personen veröffentlicht. In dem bereits angesprochenen Sammelband publizierte sie 1900 die Erinnerungen von vier Zeitzeugen der russischen Eroberung und Verteidigung Samarkands. 1904 erschienen unter ihrem Namen im „Historischen Boten“ (Istoričeskij vestnik) die Erinnerungen an dieselben Ereignisse von zwei weiteren Zeitzeugen. In beiden Publikationen trennte sie die Beiträge der Erzähler voneinander und macht diese namentlich kenntlich. Es existierte nur für den Journalbeitrag eine Einleitung von ihr. In dieser erklärte Simonova, woher sie die Erzähler kannte und, dass sie die Texte „[n]ach ihren Worten“53 verfasst habe. Der Untertitel des

50 Ein weiteres Beispiel ist die Einleitung zum Text Čanyševs. Vgl. Chasan Asfendiarovič Čanyšev: Russkoe posol’stvo v Kašgar v 1875 godu. In: Istoričeskij vestnik 30/12 (1887), S. 694–708, hier S. 694–695. 51 Vgl. Sorokin: Puteščestvija, S. 4–5, Nikolaj Vasil’evič Sorokin: Srednie-Azijatskie Kara-Kumy i Francuzskija landy. Očerk. In: Russkij vestnik 144/11–12 (1879), S. 459–516. 52 Vgl. Čanyšev: Kašgar, 30/12 (1887), S. 695. 53 Simonova: Razskazy, 97/9 (1904), S. 844.

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Sammelbandbeitrages „Nach den Worten der Teilnehmer der Angelegenheit“54 lässt aber vermuten, dass Simonova hier ähnlich vorgegangen ist. Alle sechs Texte sind in der ersten Person Singular verfasst worden. Nur im Text von Komel’-boj55 (Simonova) im Journalartikel wurden die Eingriffe Simonovas deutlich, als sie die Erzählperspektive änderte und sich als Interviewende zu erkennen gab. Simonova erzählte Teile der Geschichte selbst zu Ende oder berichtete aus der Rückschau über eine Frage an den Erzähler.56 Genau wie Kulešov schlüpfte Simonova in die Rolle der Interviewenden oder Ko-Autorin, mit dem gleichen Zugewinn an Kontrolle über die Erzählung. Weder in Kulešovs, noch in Simonovas Fall kann daher noch von einem rein autobiografischen Text gesprochen werden. Unter Berücksichtigung dieser Spezifika sind sie aufgrund ihrer Veröffentlichung dennoch als Teil des russischsprachigen autobiografischen Diskurses betrachtet und in die nachfolgende inhaltliche Analyse einbezogen worden. Beispielsweise sind die vier bei Simonova publizierten Erinnerungen ehemaliger Bewohner Samarkands im Zusammenhang mit der Darstellung der einheimischen Bevölkerungen Turkestans nicht als originär indigene Diskursbeiträge aufgefasst worden. Es existierten zwei weitere Funktionen der Redaktionen, mit denen sie Einfluss auf die Texte genommen haben. Einerseits sind viele Artikel auf unterschiedliche Weise durch einen Redakteur kommentiert worden. In den Erinnerungen Nikolaj Pavlovič Lomakins beispielsweise benutzte der Redakteur V. Alekseev Fußnoten, um Begriffe, Personen oder Ereignisse in den detailreichen Ausführungen des Autors für den Leser zu erklären. Indem Alekseev hinter die von ihm eingefügten Fußnoten seinen Namen schrieb, ermöglichte er dem Leser, diese von denen des Autors zu unterscheiden. Dieses Verfahren ist aber sicher nicht in allen Journalen angewandt worden, sodass häufig nicht vollständig klar gewesen ist, wessen Kommentare oder Wertungen die Fußnoten enthalten haben.57

54 Simonova: Razskazy, S. 131. 55 Die hier verwendete Schreibweise des Namens (Komel‘-boj) ist dem Fließtext von Simonova entnommen und weicht von der Schreibweise in der Überschrift des Textabschnittes ab (Kombel’boj). Vgl. Simonova: Razskazy, 97/9 (1904). 56 Vgl. Simonova: Razskazy, 97/9 (1904), S. 858–859. Ein ähnliches Beispiel der durch Dritte aufgezeichneten Erinnerungen ist die kurze Monografie von Petrov, die wahrscheinlich von einer weiblichen Familienangehörigen aufgeschrieben worden ist. Vgl. Aleksandr Afanas’evič Petrov: Putevye zametki o chivinskich pochodach 1876 i 1877 gg. učastvovavšego v ėtich pochodach podpraporščika Aleksandra Afanas’eviča Petrova. G. Krasnovodsk – g. Petrovsk 1878 goda. – Kavkaz. Elisavetgrad 1905. 57 Vgl. umfassend Lomakin: Zakaspijskom krae, 1/2 (1911), Lomakin: Zakaspijskom krae, 3/4 (1911), Nikolaj Pavlovič Lomakin: Desjat’ let v Zakaspijskom krae. 1870–1880. Zapiski. In: Voennoistoričeskij vestnik 7/8 (1911), S. 95–112, Nikolaj Pavlovič Lomakin: Desjat’ let v Zakaspijskom krae. 1870–1880. Zapiski. In: Voenno-istoričeskij vestnik 11/12 (1911), S. 163–184, Nikolaj Pavlovič

Redaktionen, Redakteure und das Umfeld der Autoren

Andererseits wurden Texte auch in das Russische übersetzt. Im Fall des gebürtigen Trierers Oskar Ferdinandovič Gejfel’der wurden die Kapitel 3 und 4 von dem deutschen Manuskript durch V. V. Timoščuk „unter Anleitung des Autors“58 übersetzt, wie die Redaktion anmerkte. Welcher bedeutende Einfluss dem Übersetzer bei einer literarischen Übersetzung auf den Inhalt zukommt, muss an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden. Dieser Aspekt mag bei Gejfel’ders Text aber nur bedingt ins Gewicht gefallen sein, weil er seit über 30 Jahren in russischen Diensten gestanden hat. Es ist daher anzunehmen, dass er die Sprache ausreichend beherrscht hat, um die Übersetzung zu kontrollieren. Übersetzung und Kommentierung bleiben dennoch zwei beachtenswerte Einflussgrößen auf die Diskursinhalte. Inwiefern die Redaktionen oder einzelne Redakteure mit Hilfe der aufgezeigten Einflussmittel eine eigenständige Agenda im Turkestan-Diskurs verfolgt haben, ließ sich in den untersuchten Quellen nicht untersuchen. Hierzu wären Untersuchungen von Archivalien der Redaktionen notwendig. Eine weitere wichtige Rolle spielte auch das Umfeld der Autoren. Im Fall des bereits angesprochenen Poltorackijs erläuterte die Einführung der Redaktion zunächst, dass der Autor „[…] nicht nur die Ereignisse seines Lebens in lebendigen Farben schildert, sondern auch die Gesellschaft, inmitten derer er sich bewegte und in der er immer einen sichtbaren Platz eingenommen hat.“59 Die Einleitung schließt mit dem Hinweis, dass man die vollständigen Memoiren aus „vielen Gründen“60 noch nicht drucken könne, aber vom Sohn des Autors die Genehmigung für die Veröffentlichung „einiger Auszüge“61 erhalten habe. Es ist denkbar, dass ein Grund hierfür in den Beschreibungen des Autors noch lebender Protagonisten der besagten Gesellschaft gelegen hat. Festzustehen scheint jedenfalls, dass der Sohn nur die teilweise Veröffentlichung autorisiert hat. Hinsichtlich der Erinnerungen von Aleksandr Afanas’evič Petrov liegt der Fall genau andersherum. Hier scheint seine Schwester oder Ehefrau Marija Afanac’evna Petrova die Erinnerungen „aus den Erzählungen“62 ihres Ehemannes oder Vaters aufgeschrieben und möglicherweise auch publiziert zu haben. Letztere Annahme begründete sich aus dem Übereinstimmen von Erscheinungs- und Todesjahr des eigentlichen Erzählers. Zuletzt sei noch auf den Einfluss von Erinnerungsgesprächen hingewiesen. Karandakov berichtete beispielsweise, wie sich an den Kämpfen bei Kuška beteiligte

58 59 60 61 62

Lomakin: Desjat’ let v Zakaspijskom krae. 1870–1880. Zapiski. Voenno-istoričeskij vestnik 3 (1913), S. 21–44. Gejfel’der: Vospominanija. 55/7 (1887), S. 203. Poltorackij: Vospominanija, 51/1 (1893), S. 40. Ebd. Ebd. Petrov: Putevye zametki, Einband.

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Offiziere seiner Einheit nach dem Ende der Gefechte in abendlichen Runden über das Erlebte gemeinsam ausgetauscht hätten. Welche formative Bedeutung solcher Kommunikation auf Inhalt und Struktur der Erinnerungen zukommt, die schließlich eine zentrale Quelle der schriftlichen Autobiografik gewesen ist, hat beispielsweise Welzer aufgezeigt. Ähnlich den Redakteuren kam dem engeren Umfeld der Autoren also sowohl eine Selektionskompetenz als auch ein die konkreten Inhalte formende Funktion zu, welche den publizierten Diskurs beeinflusst haben.63 Bevor nun näher auf die Autoren eingegangen wird, soll mit der Zensur eine weitere Einflussgröße, und zentrale politische Rahmenbedingung, thematisiert werden, die alle genannten Publikationsformen gleichermaßen betroffen hat.

3.6 Zensur Das Zensurregime ist eng mit den jeweiligen innenpolitischen Entwicklungen verknüpft und keinesfalls statisch gewesen. Für den Untersuchungszeitraum sind zunächst die gelockerten Zensurbedingungen der späten 1850er Jahre bedeutend. Die Niederlage im Krimkrieg hatte, laut Kaiser, den allumfassenden Hegemonieanspruch des Staates über das geistige Leben seiner Untertanen in Zweifel gezogen.64 In den Anfangsjahren der Reformära schaffte Alexander II. beispielweise früh das scharfe Kontrollsystem der Buturlin-Kommission ab. Es entstand eine Reformdebatte über die Zensur, welche schließlich 1865 in ein reformiertes Zensurgesetz mündete. Bis dahin hatten die gelockerten Verhältnisse bereits zahlreiche neue Presseerzeugnisse hervorgebracht. Innenminister Petr Aleksandrovič Valuev, der laut Hildermeier „[…] zu den Vorsichtigen im Lande gehörte […]“65 , hatte erwirkt, dass die administrative Verantwortung für die Zensur vollständig dem Innenministerium übergeben wurde. Zahlreiche staatliche und akademische Institutionen sowie die vom Innenministerium autorisierten Periodika wurden von der Präventivzensur befreit. Allerdings mussten deren Herausgeber in bestimmten Fällen mit Kautionen bürgen. Die Einhaltung der Zensurbestimmungen wurde von den durch die Justiz-

63 Vgl. Poltorackij: Vospominanija, 51/1 (1893), S. 40, Petrov: Putevye zametki, N. Karandakov: Murgabskij otrjad i Kuškinskij boj. (Po zapiskam učastnika). In: Voennyj sbornik 3 (1910), S. 207–226, hier S. 222, Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis. Eine Theorie der Erinnerungen. München 2002, S. 15–16, 95–96. 64 Vgl. Friedhelm Kaiser: „Zensur in Rußland von Katharina II. bis zum Ende des 19. Jahrhunderts“. In: Hans-Joachim Torke u. a. (Hrsg.): Werner Philipp zum 70. Geburtstag. Forschungen zur Osteuropäischen Geschichte. Bd. 25. Wiesbaden 1978, S. 146–155, hier S. 151, Herzberg: Autobiographik, S. 35. 65 Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1263.

Zensur

reform 1864 geschaffenen, unabhängigen Schwurgerichten beurteilt. Zudem stand nun auch der Presse selbst der Rechtsweg offen. Mit der Verankerung des Prinzips der Öffentlichkeit durch die Justizreform geriet das Gerichtswesen darüber hinaus in den öffentlichen Fokus. Gleichzeitig lag das Recht, diese neuen Regeln bei Bedarf wieder einzuschränken, weiterhin bei der Regierung.66 Mit den ersten für die Regierung unpassenden Gerichtsurteilen wurden die getroffenen gerichtlichen und administrativen Zuständigkeiten bereits kurze Zeit später schrittweise wieder abgeändert. Ende der 1860er Jahre übertrug man wieder Verwaltungs- und Polizeibehörden zensorische Befugnisse. Die Sanktionsmittel des Innenministers wurden wieder erweitert. Ab 1868 konnte er den Einzelverkauf einer missliebigen Zeitschrift unterbinden und diese damit wirtschaftlich unter Druck setzen. Ab 1873 durfte er den Umlauf bestimmter Informationen reglementieren und Verstöße dagegen mit Publikationsverboten ahnden. In der Auseinandersetzung zwischen dem Regime und den radikaloppositionellen Bewegungen wurde in den 1870er Jahren von diesen Rechten umfangreich Gebrauch gemacht. Die Ermordung Alexanders II. zog eine weitere Verschärfung nach sich. Ab 1882 war es dem Innenminister gestattet, Herausgebern und Autoren Berufsverbote zu erteilen. Im selben Jahr wurde ein „Hohes Komitee“ für die Presse eingerichtet, das zwischen 1883 und 1904, laut Hildermeier, 17 Periodika geschlossen hat. Durch eine strenge Aburteilung aufgefundener Vergehen versuchte die Regierung die Publizistik einzuhegen.67 Für die nachfolgende Analyse bedeutet dies, zum einen die Existenz von Selbstzensur bei Autoren, Redakteuren und Herausgebern in Erwägung zu ziehen, die die jeweils gegebenen Bedingungen verinnerlicht hatten. Mit Kaiser gesprochen werden also keine (1) beleidigenden oder die Gesellschaft beunruhigenden Aussagen über die Reichsgesetze und Reichsbehörden, keine (2) Aussagen, die zur Feindschaft zwischen Schichten oder Ständen aufrufen und keine (3) Angriffe gegen Familie und Eigentum in den Texten zu finden sein. Vielmehr gewährt das Material Einblick in das „official thinking“68 , in die öffentlich sagbaren und anerkannten Positionen und Selbstbilder.69

66 Vgl. Kaiser: Zensur, S. 151–155, Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1263–1265. 67 Vgl. Kaiser: Zensur, S. 151–155, Hildermeier: Geschichte Russlands, S. 1263–1265. Siehe auch John L. H. Keep: From the pistol to the pen. The military memoir as a source on the social history of pre-Reform Russia. In: Cahiers du monde russe et soviétique 21/3–4 (1980), S. 295–320, hier S. 296. 68 Keep: Military memoir, S. 296. Die von dem Autor auf die militärische Memoiristik beschränkte Aussage ist ohne weiteres auf das vorliegende, nicht rein militärische Sample anwendbar. 69 Vgl. Kaiser: Zensur, S. 153.

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3.7 Autoren Neben den bisher erwähnten Einflussfaktoren ist der Diskurs auch von seinen Autoren geprägt worden. Deren Vielfalt ließ sich aufgrund der vorhandenen biografischen Informationen nur in der Bibliografie von Petr Zajončkovskij großräumig überblicken. Die größte Gruppe haben hier Offiziere gebildet. Darunter sind mit Maksud Alichanov-Avarskij oder Nikolaj Pavlovič Lomakin nicht wenige bekannte Personen gewesen, die es in ihren Karrieren in einen der Generalsränge gebracht haben. Daneben haben sich zahlreiche Personen mit mittleren Offiziersrängen gefunden, die keine größere historische Bekanntheit erlangt haben. Hierzu zählten beispielsweise der Kapitän 1. Ranges Spiridon Afanas’evič Gunaropulo oder der Unteroffizier P. Tat‘janin. Schriften von einfachen Soldaten oder Autoren mit niedrigen militärischen Rängen haben sich dagegen nicht beziehungsweise selten zeigen lassen. Im Gegensatz dazu sind es beispielsweise, laut Michels, in der Memoiristik über die deutsche Kolonie Ostafrika kurz nach dem Ersten Weltkrieg nicht die Berufsoffiziere gewesen, die ihre Erinnerungen veröffentlicht haben, sondern vermehrt Reservisten, Freiwillige oder Wehrpflichtige. Die große Zahl schreibender Offiziere im russischen Fall lässt sich einerseits durch die langandauernde Eroberung und militärische Verwaltung Turkestans und andererseits möglicherweise mit der erst allmählich wachsenden Bildung in anderen Bevölkerungsgruppen begründen.70 Am zweithäufigsten sind Wissenschaftler diverser Fachrichtungen und Institutionen gewesen. Darunter haben sich sowohl Professoren russischer Universitäten als auch Reisende im Auftrag der kaiserlichen Forschungsgesellschaften befunden. Die verschiedenen beruflichen Stationen des bereits erwähnten Modest Nikolaevič Bogdanovs verdeutlichten dies eindrucksvoll. Bogdanov hat als Mitarbeiter der Russischen Akademie der Wissenschaften gearbeitet, war Ordinarius der St. Petersburger Universität und forschte auch im Auftrag der Kaiserlich Russischen Geografischen Gesellschaft. An dritter Stelle folgten Schriftsteller, Journalisten und Dichter, wie Aleksandr Lazarevič Guljaev, der als Militärschriftsteller einige Bekanntheit erlangt und in seiner Karriere, die er als General-Major beendet hat, an zahlreichen Schlachten in Turkestan teilgenommen hat. Noch seltener ließen sich nichtmilitärische Staatsdiener, wie der Orenburger Lehrer Aleksandr Fedorovič Ivčenko ausfindig machen, der in seiner Freizeit an der Erforschung der Wüsten Mittelasiens teilgenommen hat. Männer wie Nikolaj Valer‘evič Čarykov oder Nikolaj Fedorovič Petrovskij, die als Diplomaten Karriere gemacht haben, hatten häufig auch militärische Ränge und sind in Turkestan auch militärisch aktiv gewesen. Die mit Abstand kleinste Gruppe bildeten Geistliche, wie Andrej Evgrafovič Malov, der

70 Vgl. Michels: Ostafrika, S. 156.

Autoren

als Feldgeistlicher unter anderem aktiv an der Eroberung Taschkents teilgenommen haben soll. Zuletzt hat er in der Kathedrale Taschkents als Oberpriester gewirkt, aber keine autobiografischen Schriften hinterlassen.71 Die geringe Zahl von Texten geistlicher Würdenträger, die vor allem auf das nördlichere Gouvernement der Steppe bezogen gewesen sind und daher in dieser Arbeit keine Berücksichtigung gefunden haben, hing vermutlich mit dem Missionsverbot zusammen, das unter dem ersten Generalgouverneur Kaufman eingeführt und erst 1912 aufgehoben worden ist.72 Diese grobe Einteilung der Autoren nach Tätigkeitsfeldern muss insgesamt aber unscharf bleiben. In der „military-popular administration“73 des Generalgouvernements wurden viele, den zivilen Bereich betreffende Aufgaben von ehemaligen oder aktiven Militärs ausgeführt.74 Zwei Beispiele sollen das nochmals verdeutlichen: Georgij Pavlovič Fedorov hat nach eigener Darstellung zunächst als Soldat an den Eroberungsfeldzügen teilgenommen, bevor er in der Kanzlei des Generalgouverneurs bis zum Geheimrat aufgestiegen ist. Dmitrij L’vovič Ivanov diente sich in den Eroberungsfeldzügen bis in die frühen 1870er Jahre bis zum Rang eines Fähnrichs hoch, absolvierte dann das Berg-Institut und kehrte als Beamter Ende der 1870er zur besonderen Verfügung beim Generalgouverneur nach Turkestan zurück. In den folgenden Jahrzehnten hat er zur Erforschung diverser Teile der Großregion beigetragen. Neben der Dominanz militärischer Karriereverläufe sind zwei weitere Punkte im Sample auffällig gewesen. Zum einen sind zahlreiche Autoren adeliger Herkunft gewesen. Beispielsweise stammten einerseits Aleksandr Lazarevič Guljaev aus einer adeligen Familie aus der Region des Ural und andererseits Varvara Fedorovna Duchovskaja aus der Familie Golicyn. Zum anderen ist aufgefallen, dass viele nichtadelige Autoren den gebildeten, bürgerlichen Schichten entstammten. Das traf auf den Orenburger Lehrer Aleksandr Fedorovič Ivčenko, auf den Generalmajor Aleksandr Ivanovič Kamberg aus der Bürgerschaft des Gouvernements Pskov oder auch auf den späteren Botaniker Roman Jul’evič Roževic zu. Mit beiden Aspekten spiegelt das Sample eine allgemeine Tendenz wider, die Sdvižkov für die russische Autobiografik zwischen 1830 und 1860 festgestellt hat und die sich erst allmählich in der zweiten Jahrhunderthälfte zu wandeln begonnen hat.75

71 Vgl. O. A.: “Malov, Andrej”. In: K.I. Veličko u. a. (Hrsg.): Voennaja ėnciklopedija. Bd. 15. Moskva 1914, S. 138–139. 72 Vgl. zum Missionsverbot unter Kaufman Morrison: Russian Rule, S. 56–57. 73 Vgl. Bregel: Atlas, S. 90. 74 Brower hat darauf im Kontext des Zusammenspiels von Erforschung und Eroberung hingewiesen. Vgl. Brower: Turkestan, S. 46–47. 75 Vgl. Denis Sdvižkov: „ИмпериЯ/ „Ich“ und Imperium. Das Kaiserreich und die russische Autobiographik, 1830–1860“. In: Martin Aust/Frithjof Benjamin Schenk (Hrsg.): Imperial Subjects.

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Bei der Durchsicht der Bibliografie Zajončkovskijs fiel schließlich die geringe Zahl von Autorinnen auf. In das Sample wurden nur die bereits angesprochene Varvara Fedorovna Duchovskaja und die Dichterin Ol’ga Petrovna Lobri aufgenommen. Der in dem Artikel von Simonova enthaltene Auszug aus den Jugenderinnerungen von Zlata Kapeljuš, einer Samarkander Jüdin und Ehefrau von Isaak Kapeljuš, einem Krankenpfleger des 9. Turkestaner Bataillons, wurde aufgrund der Herkunft der Autorin und der vermutlich unselbstständigen Entstehungsweise des Textes unter der Redaktion von Simonova einer kleinen Gruppe von indigenen Autoren in russischer Sprache zugeordnet und hier nicht als Teil der originär russischsprachigen weiblichen Autobiografik aus Turkestan gewertet.76 Zu spät für die vorliegende Untersuchung erlangte der Autor der vorliegenden Arbeit Kenntnis von den publizierten Texten von Elena Apreleva, Julija Golovnina und Anna Efimovna Rossikova.77 Insgesamt stand diese bemerkenswert geringe Zahl veröffentlichter autobiografischer Schriften von Frauen in einem Missverhältnis zu der zum Jahrhundertende hin steigenden Zahl von im Generalgouvernement lebenden Frauen. Die größere Zahl von Männern in den ersten Jahren der militärischen Eroberung veränderte sich unter anderem durch den Familiennachzug bei Militärs und zivilen Bediensteten, die im Zuge des Aufbaus des Gouvernements angeworben worden sind. Hier ist auch der in den letzten beiden Jahrzehenten des Jahrhunderts einsetzende Zuzug von Siedlern in das Generalgouvernement zu berücksichtigen, wenngleich dieser bis zum Bahnanschluss Taschkents im Jahr 1906 begrenzt geblieben ist.78 Warum die autobiografische Praxis der Frauen so wenig Einzug in die autobiografische Publizistik über Turkestan gefunden hat, ob vielleicht mehr Frauen unter Pseudonymen veröffentlicht haben, wie Hokanson vermutet hat, und ob sich von ihnen in russischen Archiven oder solchen der postsozialistischen Nachfolgestaaten noch unveröffentlichtes Material auffinden lässt, muss die zukünftige Forschung zeigen.79

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Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2015, S. 113–133, hier S. 114, 122. Laut dem Autor sind bis gegen 1900 Memoiren zahlreicher Reichsbeamter in Journalen veröffentlicht worden. Dadurch haben sich zumindest die Karrierewege der Autoren diversifiziert. Vgl. Simonova: Razskazy, S. 149–151. Vgl. Apreleva: Očerki, Golovnina: Na Pamirach, Rossikova: Po Amu-Dar’e, 47/230 (1902), Rossikova: Po Amu-Dar’e, 47/281 (1902). Mit dem Aufsatz von Hokanson (2011) und der an der Universität Wien eingereichten Masterarbeit von Bumann (2016) liegen bereits zwei Analysen zu den Autorinnen vor. Vgl. Morrison: Russian Rule, S. 31–32, 47–48. Morrison spricht von ca. 30.000 bis 50.000 in Turkestan stationierten russischen Soldaten in den 1870er Jahren. Für den Zuzug in Militär und Wissenschaft vgl Brower: Turkestan, S. 46–47. Vgl. für die russische Besiedlung nach ca. 1850 Kappeler: Kolonien, S. 147–150 und Morrison: Settlers, S. 392–397. Vgl. Hokanson: Travelers, S. 1.

Schreibzeitpunkte und Schreibanlässe

Neben den Frauen sind es die angesprochenen Siedler, von denen sich keine Texte auffinden ließen. Morrison hat gezeigt, dass zeitgenössische Publikationen einerseits eine Reihe von negativen Assoziationen wie beispielsweise Alkoholismus mit den Siedlern Turkestans verbanden. Anderseits ist die Selbstsicht dieser Akteure weitestgehend unbekannt und stellt ebenfalls einen lohnenden Gegenstand für zukünftige Untersuchungen dar.80 Ein Blick auf die Lebens- und Karrierewege der in dieser Arbeit behandelten Akteure im Anhang verdeutlicht drei von Rolf benannte Merkmale „imperialer Biografien“. Die Mehrzahl war von einer (1) großen Mobilität geprägt. Das traf auf die Forschungsreisenden genauso, wie auf die beispielsweise während der Eroberungen eingesetzten kaukasischen Truppenverbände zu. Das Imperium war (2) der Rahmen ihres Handelns, wie sich an den verschiedenen beruflichen Tätigkeiten der Beamten, Wissenschaftlern oder Militärs ablesen lässt, die auf unterschiedliche Weise mit dem Imperium verbunden gewesen sind. Inwieweit es auch der Rahmen ihres Denkens und damit Schreibens gewesen ist, wird sich im Folgenden noch zeigen. Die Biografien standen (3) in einer engen Wechselwirkung mit den grundlegenden Ordnungsmustern des Reiches. Das Imperium ermöglichte Karrierewege und behinderte an anderer Stelle aber auch Lebenswege.81

3.8 Schreibzeitpunkte und Schreibanlässe Über die Publikationsformen, die Erscheinungsorte, die Redaktionen, die Zensur und die Autoren als wichtige Einflussgrößen hinaus gaben der Schreibanlass und der Schreibzeitpunkt weiteren Aufschluss über den Diskurs. Beide Aspekte konnten hier nur auf Grundlage des publizierten Materials und der verfügbaren biografischen Informationen betrachtet werden. Für die überwiegende Zahl der Texte im Sample fehlen aber entsprechende Informationen. In diesen Fällen lässt sich der Schreibzeitpunkt nur zwischen dem Ereigniszeitpunkt und dem Jahr der Veröffentlichung eingrenzen. Dies betrifft beispielsweise Petrovskijs Reisebericht, Arnol’dis Erinnerungen und Fedorovs Memoiren.82

80 Vgl. Morrison: Settlers, S. 388, 407–408. 81 Vgl. Rolf: Biographien, S. 5–11. 82 Weitere Beispiele sind: Fišer: Vzjatii goroda, 1 (1873), Kol’devin: Tokmaksko-Narynskogo otrjada, 8 (1873), Južakov: Vzjatija, Guljaev: Na Amu-Dar’ju, Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 1 (1906), Aleksandr Ivanovič Kamberg: Dejstvija Turkestanskogo otrjada v Achal-Tekinskoj ėkspedicii. S 12 nojabrja 1880 g. po 14 marta 1881 g. (Vospominanija učastnika pochoda). In: Voennyj sbornik 2 (1906), S. 51–58, K.K. Trionov: Zabytye pervye žertvy Kokandskago pochoda 1874 goda. In: Russkij archiv 3/11 (1909), S. 208–215 und Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija.

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In wenigen Fällen ließen sich die Schreibzeitpunkte aus den Texten oder ihren Einleitungen sowie aus biografischen Informationen näher bestimmen, freilich ohne abschließende Sicherheit. Beispielsweise hat P. Tat’janin einen Text über die Eroberung der Festungen Ura Tjube und Džisak im Mai 1867 im Journal „Lektüre für Soldaten“ (Čtenie dlja soldat) veröffentlicht. Auf der letzten Seite hielt er fest, dass die Truppen beide Festungen am 2. beziehungsweise 18. Oktober eingenommen haben. Beide Schlachten fanden 1866 statt. Demnach ist der Text vermutlich zwischen dem 18. Oktober 1866 und dem Mai 1867 fertiggestellt worden. Im Fall Čanyševs verwies die Bemerkung „kürzlich“83 im Vorwort des Redakteurs auf die Entstehung des Textes nahe dem Veröffentlichungszeitpunkt. Eine Vorblende im Text von den geschilderten Ereignissen des Jahres 1875 auf das Jahr 1877 legte nahe, dass der Text nach 1877 entstanden sein muss.84 In einigen Fällen machten die Autoren selbst genaue Angaben zum Schreibzeitpunkt. Šul’c setzte neben seine Unterschrift am Ende des Textes die Angabe „1861. 10. März“85 . Bei Lomakin ist das Jahr 1896 in einer Anmerkung des Redakteurs erwähnt.86

83 Čanyšev: Kašgar, 30/12 (1887), S. 695. 84 Vgl. P. Tat’janin: Vesti tovariščam iz Turkestanskago kraja. In: Čtenie dlja soldat 5/20 (1867), S. 160–166, hier S. 160, 166, Čanyšev: Kašgar, 30/12 (1887), S. 695, 701. In den Fällen Kolokol’covs, Sorokins, Ivanovs, Poltorackijs, Simonovas und Roževic lässt sich der Schreibzeitpunkt auf ähnliche Weise grob eingrenzen. Vgl. Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), Ivanov: Vospominanij turkestanca 64/6 (1896), Poltorackij: Vospominanija, 51/1 (1893), Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 51/2 (1893), S. 367–410, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 51/3 (1893), S. 723–757, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 52/4 (1893), S. 72–89, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 52/5 (1893), S. 355–372, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 52/6 (1893), S. 667–689, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 53/7 (1893), S. 31–55, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 53/8 (1893), S. 301–322, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 53/9 (1893), S. 583–602, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 54/10 (1893), S. 29–45, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 59/1 (1895), S. 109–133, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 59/2 (1895), S. 412–441, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 59/3 (1895), S. 773–791, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 60/4 (1895), S. 85–109, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 60/5 (1895), S. 414–444, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 60/6 (1895), S. 759–782, Vladimir Alekseevič Poltorackij: Vospominanija. In: Istoričeskij vestnik 61/7 (1895), S. 66–80. 85 Šul’c: Plavanie, 53/5 (1861), S. 154. 86 Vgl. Lomakin: Zakaspijskom krae, 1/2 (1911), S. 30. Revelioti überlieferte mit „Senigallija, AugustSeptember 1913“ auch Ort und Datum. Vgl. Revelioti: Kryše mira, S. 53. Bei Gejfel’der ist neben seiner Unterschrift das Jahr 1887 vermerkt. Vgl. Gejfel’der: Zakaspijskoj oblasti, 75/7 (1892),

Schreibzeitpunkte und Schreibanlässe

Während der Betrachtung des zeitlichen Abstandes zwischen Ereigniszeit und Publikationszeitpunkt ist aufgefallen, dass deutlich mehr als die Hälfte der Texte im Sample später, als ein bis zwei Jahre nach den geschilderten Ereignissen in Turkestan veröffentlicht worden sind. Dieses Verhältnis verändert sich nicht wesentlich, wenn man die Publikationsjahre in den wenigen bekannten Fällen durch die Schreibzeitpunkte austauscht. Der publizierte Teil des Diskurses fand demnach überwiegend mit einer größeren zeitlichen Verzögerung statt. Diese reichte von einigen Jahren bis zu mehreren Jahrzehnten. Das Schreiben über sich selbst, das eigene Handeln und die gewonnenen Ansichten von Turkestan fand also keineswegs immer unter den noch unmittelbaren Eindrücken vor Ort statt, wie das beispielsweise Kolokol’cov für sich – in seinem Fall wohl zu Recht – in Anspruch genommen hat.87 Dies unterstreicht die von Depkat vertretene Ansicht, dass die Texte nicht mit Blick auf den Ereigniszeitpunkt, sondern auf den Schreib- beziehungsweise Veröffentlichungszeitpunkt hin zu lesen sind. In vielen Fällen ist anzunehmen, dass nachfolgende Entwicklungen, die Konsequenzen des eigenen Handelns oder Meinungen Dritter im Schreibprozess bereits berücksichtig worden sind.88 Die Schreibanlässe sind so vielfältig gewesen, wie die Autorenschaft selbst. Nicht überall ließen sie sich zweifelsfrei bestimmen. Sei es, weil die Autoren keine Aussage darüber gemacht haben.89 Sei es, weil die Autoren mehr als einen Grund für ihr Schreiben vorgebracht haben. Drei Schreibmotive tauchten im Sample häufiger auf. Zunächst ist hier (1) die Vermittlung von Wissen zu nennen. Das Generalgouvernement Turkestan lag an einer entfernten Reichsgrenze und wurde erst im Zuge der militärischen Expansion wissenschaftlich erschlossen beziehungsweise für die russische und europäische Öffentlichkeit umfassend entdeckt. Daher erschienen viele Reiseberichte von Wissenschaftlern und Laien sowohl in Fachjournalen als auch in populären Zeitschriften. Der mit der Evaluation des regionalen Handels beauftragte Petrovskij verfolgte mit seinem Bericht über eine Reise in das erst wenige Jahre zuvor eroberte Emirat von Buchara das Ziel, die Öffentlichkeit über alles zu informieren, was er dort gesehen oder gehört hatte.90 Ein weiteres Beispiel ist der Reisebericht des Biologen und Pilzkundlers Sorokin über seine Reise in das Tjan‘ Šan‘-Gebirge gewesen, mit

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S. 215. Bei Alichanov-Avarskijsteht „Mai 1904 Gori“ am Ende seiner Einführung. Vgl. AlichanovAvarskij: Zakaspijskie, 5/9 (1904), S. 74. Vgl. Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 71. Vgl. Depkat: Konstruktion, S. 450. So bei Fišer: Vzjatii goroda, 1 (1873), Kol’devin: Tokmaksko-Narynskogo otrjada, 8 (1873), Guljaev: Na Amu-Dar’ju, Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/12 (1900) und Duchovskaja: Turkestanskie vospominanija. Vgl. Petrovskij: Poezdka, 2/4 (1873), S. 210.

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dem der Autor die „lesende Öffentlichkeit“91 über seine Eindrücke informieren wollte. Während dieses Motiv in einem Reisebericht zu erwarten gewesen ist, scheint bemerkenswert, dass es auch in der vielfältigen Memoirenliteratur über Turkestan auftauchte. In der Phase kurz vor der Expansion und in deren erstem Jahrzehnt erklärte sich die Motivation in den Erinnerungstexten, der Öffentlichkeit Wissen vermitteln zu wollen, zunächst wie in den Reiseberichten. Es gab noch wenige Akteure vor Ort und der Informationsfluss ins Zentrum kann als langsam angenommen werden. Daher konnte der Marineangehörige Šul’c in seinen Erinnerungen an zwei Dienstjahre auf dem Aralsee das Ziel verfolgen, den Leser mit dem See vertraut machen zu wollen. In gewisser Weise galt dies auch für den Erinnerungsbericht Tat’janins, mit dem der Autor unter anderem über die kurz zuvor gelungene Einnahme der Festungen Ura Tjube und Džizak informierte. Der Autor äußerte seine Absicht nicht explizit. Sein Text ist aber von konkreten Datums- und Ortsangaben geprägt gewesen und hat in Fußnoten auch militärische Termini erklärt.92 Hinzu kam, dass beide Texte kurze Zeit nach den Aufenthalten der Autoren, in der beschriebenen Frühphase der Expansion, veröffentlicht worden sind. Zeitlich einige Jahre später hob Kolokol’cov bereits eingangs in den Erinnerungen an den Feldzug gegen Chiva im Jahr 1873 hervor, dass es sich bei diesem um einen der wichtigsten der Neuzeit gehandelt habe. Diesen Aspekt griff er am Ende des Artikels nochmals auf und verortete die Ereignisse auf den „Ehrenseiten der Geschichte unserer Streitkräfte“93 . Er bezeichnete sich als Augenzeugen, der über diese historischen Begebenheiten und die dabei erlittenen „Lasten und Entbehrungen“94 der einfachen Soldaten berichten wollte.95 In den Memoiren und Erinnerungstexten der nachfolgenden Jahrzehnte wurde der Wunsch der Autoren, informieren zu wollen, etwas anders gebraucht. Južakov, Alichanov-Avarskij und Lomakin hatten gemeinsam, dass sie über Ereignisse schrieben, die zu ihrem jeweiligen Publikationszeitpunkt mehr als ein Jahrzehnt zurücklagen. Das Generalgouvernement ist also längst keine Terra incognita mehr gewesen. Über die Ereignisse, welche Gegenstand ihrer Erzählungen waren, hatten bereits andere Autoren berichtet.96 Južakov war hinsichtlich der Eroberung

91 Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 362. Ein drittes Beispiel stellte der Reisebericht des Botanikers Roževic dar. Vgl. Roževic: Poezdka, 44/9 (1908). 92 Vgl. Šul’c: Plavanie, 53/5 (1861), S. 154, Tat’janin: Turkestanskago kraja, 5/20 (1867), S. 161, 163, 166. 93 Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 71. 94 Ebd., S. 66. 95 Ebd., S. 48. 96 Das sprach beispielsweise Guljaev hinsichtlich der Schwierigkeiten bei der Fortbewegung der Truppen in den Wüstengebieten explizit an. Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 5–6.

Schreibzeitpunkte und Schreibanlässe

Taschkents dennoch überzeugt, dass dieses Ereignis „[…] bis in die gegenwärtige Zeit nicht im Gedächtnis und der Belehrung der Nachkommenschaft verewigt […]“97 sei. Alichanov-Avarskij sah aufgrund zu weniger Schriften über die Einnahme Mervs die Gefahr des Vergessens und der Verfälschung historischer Fakten gegeben. Lomakin hob ebenfalls hervor, dass über das transkaspische Gebiet noch zu wenig veröffentlicht worden sei.98 Alle drei nahmen den selbst postulierten Mangel an Veröffentlichungen Jahre nach den Ereignissen zum Anlass ihrer Erinnerungsschriften. Ein weiterer Schreibanlass ist (2) die Aufforderung durch Dritte gewesen. Gejfel’der berichtete, dass er von Bekannten und der Redaktion aufgefordert worden ist, seine bereits erschienenen Erinnerungen fortzusetzen. Bei Poltorackij wies der Redakteur in seinem Vorwort darauf hin, dass der Autor von „nahen Personen“99 um die Niederschrift seiner Erinnerungen gebeten worden sei. Alichanov-Avarskij erwähnte ebenfalls, mehrfach gebeten worden zu sein, über die Einnahme Mervs zu berichten.100 Den letzten übergreifenden Schreibanlass boten (3) Jahrestage aus der Eroberungsgeschichte des Generalgouvernements. Dabei musste es sich scheinbar um kein rundes Jubiläum handeln, wie Južakovs „16. Jahrestag der Eroberung Taschkents“101 verdeutlicht hat. Bei Alichanov-Avarskij lag die Eroberung Mervs im Jahr seiner Veröffentlichung 20 Jahre zurück, worauf der Autor auch hingewiesen hat. Kamberg gab für seinen Erinnerungsbericht über die Eroberung der Festung Geok-Tepe im Jahr 1881 keinen Schreibanlass an. Da der Text aber auf den Monat genau 25 Jahre nach dem Ereignis erschienen ist, scheint dieser Jahrestag als Veröffentlichungsgrund plausibel. Dass es sich hierbei in der russischen Memoiristik um ein klassisches Vorgehen der Autoren gehandelt hat, bestätigte Sdvižkovs Hinweis auf die ab den 1830er Jahren zu den entsprechenden Jubiläen des Vaterländischen Krieges wellenartig publizierten Memoiren.102

97 Južakov: Vzjatija, S. 15. 98 Vgl. Alichanov-Avarskij: Zakaspijskie, 5/9 (1904), S. 73 und Lomakin: Zakaspijskom krae, 1/2 (1911), S.33. Ein viertes Beispiel ist Fedorov der mit seinen Memoiren über seine 36 Dienstjahre im Generalgouvernement Material für nachfolgende Historiker der Region bereitstellen wollte. Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 786. 99 Poltorackij: Vospominanija, 51/1 (1893), S. 40. 100 Vgl. Gejfel’der: Zakaspijskoj oblasti, 75/7 (1892), S. 181, Alichanov-Avarskij: Zakaspijskie, 5/9 (1904), S. 74. 101 Južakov: Vzjatija, Deckblatt. 102 Vgl. Alichanov-Avarskij: Zakaspijskie, 5/9 (1904), S. 73, Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 1 (1906), Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), Sdvižkov: Autobiographik, S. 117. Bei Lomakin ist der Schreibzeitpunkt 1896 zu beachten, von dem aus der Autor auf die 25 Jahre hinwies, die seit der Unterstellung des transkaukasischen Raumes unter die Kaukasusverwaltung vergangen seien. Vgl. Lomakin: Zakaspijskom krae, 1/2 (1911), S. 29.

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Turkestan und die russischsprachige Autobiografik

Darüber hinaus lassen sich bei einzelnen Autoren einige weitere interessante Gründe für das Niederschreiben ihrer Erinnerungen finden. Ivanovs Erinnerungen an verschiedene Feldzüge gegen Buchara sind als kritische Erwiderung auf die Erinnerungen Poltorackijs verfasst worden. Der Autor formulierte eingangs, dass er mit zahlreichen Ansichten dieses Offiziers über die Feldzüge nicht übereinstimme, an denen auch er nach eigener Aussage teilgenommen hätte. Ivanov wollte, gleich dem oben erwähnten Kolokol’cov, aus der Sicht „des einfachen Soldaten“103 korrigierend über die Schlachten berichten. Ein an zwei Stellen anzutreffendes Motiv für das eigene Schreiben ist das Opfergedenken gewesen. Trionov gab zumindest am Ende seines Textes über einen Einsatz in Kokand aus dem Jahr 1875 indirekt zu erkennen, dass es ihm um das Andenken an die ersten zivilen russischen Opfer dieses Feldzuges gegangen sei. Južakov berichtete am Ende seines Textes ausführlich über das aus seiner Sicht mangelhafte Gedenken an die Gefallenen der Eroberung Taschkents.104 Eine als außergewöhnlich aufgefasste Geschichte war in zwei weiteren Fällen der Schreibanlass. Bei Čanyšev gab der Redakteur Auskunft über den Publikationsgrund. Als er Čanyšev kennengelernt habe, habe er dessen Geschichte für „so interessant“105 befunden, dass er sie direkt mitgeschrieben habe. Im Fall des Reiseberichtes von Revelioti zeigte sich der Autor selbst von der Außergewöhnlichkeit seiner Reise durch Nordindien an mehreren Stellen in seinem Text überzeugt, dass diese als Publikationsgrund angenommen werden kann.106 Schließlich sind der Bericht über den eigenen Dienst und das Versterben der Augenzeugen als Motive der Niederschrift festzustellen gewesen. Arnol’di äußerte gleich zu Beginn seiner Schrift das Bedürfnis über „unser[en] Dienst in Mittelasien“107 berichten zu wollen. Wenngleich er der Einzige im Sample gewesen ist, der dies so explizit tat, wird im Folgenden zu zeigen sein, welche Rolle das eigene Mitwirken an der Eroberung, Erschließung und Verwaltung Turkestans in den Selbstentwürfen der Autoren gespielt hat. Simonova begründete ihre Veröffentlichung zweier Augenzeugenberichte von Samarkander Einwohnern über die versuchte Rückeroberung im Jahr 1868 dagegen mit den immer seltener werdenden Zeitzeugen.108 Der Wunsch, Wissen vermitteln zu wollen, weil man sich im Besitz eines verhältnismäßig exklusiven Zuganges zu diesem glaubte, weil man fürchtet, dass es sonst

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Ivanov: Vospominanij turkestanca 64/6 (1896), S. 830. Vgl. Trionov: Kokandskago Pochoda, 3/11 (1909), S. 215, Južakov: Vzjatija, S. 15–16. Čanyšev: Kašgar, 30/12 (1887, S. 695. Vgl. Revelioti: Kryše mira, S. 1, 2, 52. Arnol’di: Zakaspijskom krae, S. 1. Vgl. Simonova: Razskazy, 97/9 (1904), S. 844.

Schlussfolgerungen

vergessen oder verfälscht würde oder weil man von der Außergewöhnlichkeit der eigenen Erlebnisse überzeugt gewesen ist, das Bestreben, zu bestimmten Jubiläen zum öffentlichen Erinnern an Helden oder Opfer beizutragen, die Aufforderung zum schriftlichen Erinnern durch das nahe Umfeld oder das Bedürfnis, den Erinnerungen anderer die eigenen entgegenzusetzen: Diese Schreibanlässe exemplifizieren in Anlehnung an Depkat, wie höchst unterschiedlich autobiografisches Schreiben und Publizieren in soziale Kontexte eingebettet gewesen ist. Autoren dachten ihr Auditorium mit, das auch aktiv in die Textproduktion eingegriffen hat oder gleich selbst mit dem Schreiben begonnen hat. In diesem dynamischen Prozess sind Ansichten zur Ereignisgeschichte, Gruppenzugehörigkeiten oder Selbstentwürfe produziert und ausgehandelt worden. Die nachfolgende Analyse wird das für diese und weitere Aspekte des autobiografischen Diskurses innerhalb des Turkestan-Diskurses untersuchen.109

3.9 Schlussfolgerungen Der mit Blick auf die Erscheinungsorte in St. Petersburg und Moskau lokalisierte publizierte autobiografische Diskurs innerhalb des Turkestan-Diskurses ist im Untersuchungszeitraum an kein einzelnes Publikationsformat, an keine bestimmten Institutionen oder Unternehmen und an keine einzelnen politischen Strömungen geknüpft gewesen. Dennoch ließen sich einige Charakteristika erkennen. In den konzeptionell, inhaltlich und politisch heterogenen Periodika erlangten die Diskursbeiträge mit einer teils reichsweiten Distribution ihre größte Verbreitung. Allerdings sind die Journalbeiträge von überschaubarer Länge gewesen. Ihre Autoren konzentrierten sich mehrheitlich auf einzelne Schlachten oder militärische Kampagnen der Eroberungsgeschichte, die selten in die jeweilige Biografie eingebettet worden sind. Memoiren in monografischer Form waren weniger häufig, umfassten aber deutlich öfter größere Lebensabschnitte und verfügten durch die Integration von Bildmaterialien über erweiterte Möglichkeiten der Selbstbeschreibung. Mit ihnen hat der Diskurs nur im Falle eines entsprechend großen und renommierten Verlagshauses eine größere Verbreitung erfahren, die allerdings weit hinter den auflagenstarken Journalen zurückgelegen haben muss. Hiervon auszunehmen sind allerdings die nochmals umfangreicheren Monografien, die nach 1917 in der Emigration erschienen sind. Durch ihre anderen Erscheinungsorte, durch ihre Abfassung auch in anderen Sprachen, hat sich der Diskurs durch sie deutlich internationalisiert. Die geringere Verbreitung wird umso mehr auf die bemerkenswerten Sonderdrucke

109 Vgl. Depkat: Konstruktion, S. 454, 462–465, Depkat: Autobiographieforschung, S. 177.

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Turkestan und die russischsprachige Autobiografik

zugetroffen haben. Diese preiswert hergestellten Ausgaben einzelner Journalartikel beziehungsweise Artikelserien sind mehrheitlich in kleinen, wenig bekannten Druckereien erschienen. Ihre Existenz begründete sich wahrscheinlich durch die Möglichkeit der gezielten Verbreitung im persönlichen Umfeld und das durch sie zu erlangende Prestige für ihre Auftraggeber. In den auf einzelne Autoren oder Themen zugeschnittenen Sammelbänden hat der Diskurs eine den Monografien vergleichbare Reichweite besessen. Konzeptionell ähnelten sie jedoch den Periodika, weil die Beiträge in den Bänden in einem thematisch und formal sehr heterogenen Umfeld erschienen sind. Das Überwiegen kurzer und mittellanger Texte bedingt einen fragmentarischen Charakter der Selbsterzählung. Nicht vollständige retrospektive Lebensentwürfe, sondern Selbstdeutungen einzelner Lebensabschnitte in Turkestan sind demnach Gegenstand der nachfolgenden Analyse. Neben den Publikationsformaten hatten die Redaktionen, das persönliche Umfeld der Schreibenden, das staatliche Zensurregime, die Autoren selbst sowie Zeitpunkt und Anlass der Niederschrift beziehungsweise Publikation Einfluss auf Form und Inhalt der Diskursbeiträge. Den Redaktionen oblag die Textauswahl. Ihre Mitarbeiter haben aber auch Texte redigiert, eingeleitet, kommentiert oder übersetzt. Als Interviewer oder Ko-Autoren sind sie manchmal sogar für die Verschriftlichung verantwortlich gewesen. Ihr Einfluss auf Form, Inhalt und Sprache konnte somit sehr weit reichen und ist nur in wenigen Fällen bestimmbar gewesen. Wenn für die Verlagslektorate der in das Sample aufgenommenen Monografien auch keine Informationen aufgefunden werden konnten, so kann hier von vergleichbaren Einflussmöglichkeiten ausgegangen werden. Dass die Redaktionen und Lektorate über ihren Einfluss eine eigene Agenda im Turkestan-Diskurs verfolgt haben, ließ sich mit dem untersuchten Material nicht zeigen. Nicht minder einflussreich sind die privaten Umfelder der Autorenschaft gewesen. Angehörige, Freunde oder Kollegen übernahmen manchmal die angesprochenen Funktionen der Redakteure und Lektoren oder wurden bei posthumen Veröffentlichungen durch ihre Autorisierungsgewalt zum Selektionsfaktor für die Inhalte. In den Texten des vorliegenden Samples, so war aus der Betrachtung von Ereigniszeit und Schreib- beziehungsweise Publikationszeitpunkten zu erkennen, hat der Diskurs überwiegend mit einer zeitlichen Verzögerung stattgefunden, die von einigen Jahren bis zu mehreren Jahrzehnten gereicht hat. Es ist daher zu berücksichtigen, dass die Reflexion über das eigene Handeln und dessen Konsequenzen oder über die den Ereignissen folgenden öffentlichen Debatten in den Schreibprozess eingeflossen sind. In der nachfolgenden inhaltlichen Untersuchung wurden die Quellen daher mit Blick auf den Publikationszeitpunkt gelesen. Die Betrachtung der Schreibanlässe hat einerseits erbracht, dass der Wunsch, Wissen vermitteln zu wollen, die Aufforderung durch Dritte und sich aus der Expansionsgeschichte herleitende Jubiläen den Autoren am häufigsten Anlass zur

Schlussfolgerungen

Niederschrift ihrer Erinnerungen gegeben haben. Anderseits ist der von Depkat hervorgehobene Aspekt der sozialen Rückgebundenheit autobiografischen Schreibens deutlich geworden. Die Reformära unter Alexander II. brachte zunächst eine Liberalisierung der Zensur und beförderte so die wachsende Verlagsbranche und die Publizistik. Gegen Ende der 1860er Jahre sind die Zensurbedingungen jedoch wieder verschärft worden. Der publizierte autobiografische Diskurs hat daher vor allem die öffentlich sagbaren Inhalte transportiert. Wie die nachfolgenden inhaltlichen Untersuchungen zeigen werden, standen diese dem Imperium und dessen Herrschaftsanspruch nicht entgegen. Die Autorenschaft entstammte überwiegend den gebildeten Mittel- und Oberschichten sowie dem Adel. Trotz der begrenzten biografischen Informationen ist die Dominanz militärischer Karrierewege sichtbar geworden, die nicht selten in hohe Positionen geführt haben. An zweiter Stelle folgten Akteure mit einem akademischen Hintergrund, die als Hochschullehrer oder Forschungsreisende im Auftrag der Generalgouverneure oder der großen Forschungsgesellschaften in Turkestan gearbeitet haben. Eine Dritte Gruppe bestand aus zivilen Akteuren der Verwaltung, des Schulwesens oder der Diplomatie. Nicht selten besaßen die zivilen Autoren aber militärische Ränge. Mit Bezug auf Rolf konnte der überwiegende Teil der aufgefundenen Lebenswege aufgrund ihrer großen Mobilität, dem durch das Imperium gerahmten Handeln und den engen Wechselwirkungen mit dessen Ordnungsmustern als „imperiale Biografien“ eingestuft werden.110 Wenig bis gar nicht in der publizierten Autorenschaft vertreten sind Frauen, Geistliche, Siedler oder auch Kaufleute gewesen. Ob deren Schriften unpubliziert noch in Archiven aufzufinden sind, ob diese Akteure unter Pseudonymen veröffentlicht haben oder ob im Fall der Geistlichen die eingeschränkten Aktivitäten der orthodoxen Kirche in Turkestan für das Fehlen publizierter Aufzeichnungen verantwortlich gewesen sind, muss die folgende Forschung zeigen. Hinsichtlich der großen Verbreitung zahlreicher Diskursbeiträge, der von der Zensur vorgegebenen Bedingungen für die Inhalte und mit Blick auf die eng mit dem Imperium verbundene Autorenschaft wird argumentiert, dass der publizierte autobiografische Diskurs innerhalb des Turkestan-Diskurses im Sinne von Aust und Schenk dazu geeignet gewesen ist, eine den Zusammenhalt des Reiches unterstützende Wirkung zu entfalten. Zusätzlich zu den im vorangegangenen Kapitel herausgearbeiteten Begründungsweisen der Expansion wird die nachfolgende Analyse weitere diese These stützende Argumente aufzeigen.111

110 Vgl. Rolf: Biographien, S. 5–11. 111 Vgl. Aust/Schenk: Einleitung, S. 12.

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4. Die Natur als Gegner

„Unsere Trophäen waren immer: die gesamte feindliche Artillerie, alle Geschütze, Lager und Besitz, weil sie [die Gegner, Anm. d. A.] in der Panik so schnell sie die Beine trugen, davongerannt sind. Aber genau diese Siege, den russischen Waffen so billig und leicht zugefallen [Hervorh. d. A.], riefen bei uns allen übermäßiges Selbstbewusstsein hervor, mehr noch, Verachtung für den Feind, welcher uns, allerdings, dennoch zwingen konnte das zu bereuen.“1

Das Generalgouvernement Turkestan ist in einem Teil Mittelasiens gelegen gewesen, der bis in die Gegenwart von geografisch und klimatisch großen Gegensätzen geprägt ist. In der Region existieren mit Karakum und Kysylkum sowohl Steppenlandschaften und diverse Wüstenformen als auch die mit Eis und Schnee bedeckten Hochgebirgsgebiete von Tjan‘ Šan‘ und Pamir, in denen sich einige der größten Gletscher der Erde befinden. Das sehr unterschiedliche Vorhandensein natürlicher Wasservorkommen verursachte in der Untersuchungszeit eine ebenso verschiedenartige Nutzung der Regionen durch deren Bewohner. Fruchtbare Flussoasen mit intensivem Ackerbau oder Hoch- und Flachländer mit unterschiedlichen Arten von Weidewirtschaft wechselten sich mit Räumen ab, die keine landwirtschaftliche Nutzung zuließen.2 Die naturräumlichen Gegebenheiten Mittelasiens und die aus ihnen resultierenden Existenzbedingungen für den Menschen nahmen in der russischsprachigen Autobiografik aus und über Turkestan inhaltlich einen zentralen Platz ein. Dieser Umstand kann einerseits mit dem starken Kontrast erklärt werden, der zwischen der Natur Mittelasiens und den natürlichen Gegebenheiten der Reichsteile existiert hat, aus denen die verschiedenen Autoren stammten.3 Andererseits bildeten Geografie, Flora oder Fauna Turkestans für zahlreiche an der Erforschung und Erschließung beteiligte Akteure einen zentralen Gegenstand ihres Arbeitsalltages, womit ihre ausgedehnte Thematisierung beispielsweise in Reise- oder Forschungsberichten begründet werden kann.

1 Poltorackij: Vospominanija, 59/2 (1895), S. 422. 2 Vgl. Dov B. Yaroshevski: Russian Regionalism in Turkestan. In: The Slavonic and East European Review 65/1 (1987), S. 77–100, hier S. 80, Fragner: Zentralasien, S. 14–15, Jörg Stadelbauer: Zwischen Hochgebirge und Wüste. Der Naturraum Zentralasien. In: OSTEUROPA 57/8–9 (2007), S. 9–26, Paul (Hrsg.): Zentralasien, S. 29–39. Siehe auch die physischen Karten bei Thomas Michael (Hrsg.): Diercke Weltatlas. Braunschweig 2008, S. 152, 158–159. 3 Yaroshevski bestätigt diesen Punkt. Vgl. Yaroshevski: Regionalism, S. 80.

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Die Natur als Gegner

Beide Umstände bieten jedoch keine Erklärung für die spezifische Darstellungsweise der Natur in den untersuchten Schriften, mit der sich das nachfolgende Kapitel befasst. Von den 1860er bis in die 1910er Jahre wurden die Region und ihre Natur sowohl in der Memoiristik aus dem Eroberungsprozess als auch in Texten über die Erforschung und Erschließung als randständig, gegnerisch oder feindlich konstruiert. Die drei nachfolgenden Unterkapitel erarbeiten zunächst gemeinsam für Militärs, Wissenschaftler und Beamte die in ihren Schriften enthaltene räumliche Verortung Turkestans. Daraufhin werden getrennt für die Erinnerungen der Militärs und die Reise- und Forschungsberichte der Wissenschaftler und Beamten die verschiedenen negativen Naturbilder aufgezeigt. Dabei werden die über diese Bilder begründete Gegnerschaft der Natur, die erzählerische Überwindung dieses Gegners und die damit einhergehende Selbstauszeichnung der Autoren mit positiven Tugenden dargestellt. Hierbei wird argumentiert, dass eine Funktion der Figur4 in den autobiografischen Erzählungen die Bekräftigung des soldatischen Heldentums war, das in den Texten große Bedeutung besessen hat. Der Darstellung der Autoren zufolge wurde dieses nicht nur in den militärischen Auseinandersetzungen errungen, worauf in Kapitel 6 noch eingegangen wird, sondern auch im Kampf gegen eine feindliche Natur. Die Figur bildete für die Autoren somit eines von zwei Argumenten um auf den zeitgenössischen Vorwurf „leichter Siege“ über eine als unterlegen abgebildete Bevölkerung Mittelasiens zu reagieren, der selbst von an den Schlachten beteiligten Offizieren wie dem eingangs zitierten Vladimir Aleksandrovič Poltorackij geäußert worden ist.5

4.1 Räumliche Selbstverortungen: Wo liegt Turkestan? Ein Blick auf eine beliebige Karte des Russländischen Reiches aus der Mitte des 19. Jahrhunderts verdeutlicht, dass Mittelasien in den 1860er Jahren zunächst ein Gebiet jenseits der südöstlichen Grenzen des Kaiserreiches gewesen ist. In den Jahren bis zum Ersten Weltkrieg wurde es aber in zahlreichen schriftlichen Darstellungen immer mehr zu einer Grenzprovinz. Aus den Erinnerungen des Marineangehörigen Šul’c über seinen Einsatz auf dem Aralsee in den Jahren 1858/1859 trat

4 Der Begriff wird hier in Anlehnung an Anz verwendet. Wie zu zeigen sein wird, wurde die Natur in den analysierten Texten in einem abstrakten Sinn zur Figur des Gegners stilisiert und von den Autoren durch zahlreiche, negative Eigenschaften charakterisiert. Vgl. Thomas Anz: „4.4 Figuren“. In: ders. (Hrsg.): Handbuch Literaturwissenschaft Bd. 1. Stuttgart u. a. 2013, S. 122–126. 5 Laut Matveev argumentierte der Maler und Schriftsteller Nikolaj Nikolaevič Karazin mit Bezug auf den Feldzug gegen Chiva in einem Zeitungsartikel im Jahr 1874 im Journal „Kornfeld“ ähnlich, wie Poltorackij. Vgl. Matveev: Perceptions, S. 287.

Räumliche Selbstverortungen: Wo liegt Turkestan?

Mittelasien dem Leser als noch unerforschter Ort entgegen. Der Autor beschrieb beispielsweise zu Beginn, dass es ihnen nach einem Süßwasserfund an einem Zufluss in den See nicht möglich gewesen sei, den Ort auf ihrer Karte zu markieren. Deren Maßstab sei zu groß und ihr Kompass zu ungenau gewesen. Wenig später erzählte Šul’c von einem Treffen mit dem Flügeladjutanten Oberst Nikolaj Pavlovič Ignat’ev, der eine russische Gesandtschaft nach Chiva angeführt habe. Ihr Angebot, die Gesandtschaft auf dem Fluss Amudarja an ihr Ziel zu transportieren, habe Ignat’ev „[…] nicht zugestimmt, wegen der Befürchtung, viel Zeit während der Fahrt auf dem unerforschten Fluss zu verlieren […].“6 So sei nicht klar gewesen, ob der Zufluss des Amudarja überhaupt die Durchfahrt ihrer Barkasse vom See aus gestattet hätte. Dem Autor bot der von ihm festgestellte Umstand, dass er sich in einer vielerorts noch unbekannten Region befunden habe, die Möglichkeit, in der Rolle des Entdeckers die Erstmaligkeit bestimmter Ereignisse und Befunde für sich und seine Kameraden in Anspruch zu nehmen. Besagte schiffbare Einfahrt in den Amudarja hätten sie zunächst vergeblich gesucht und sie erst durch Hinweise von Angehörigen der Volksgruppe der Karakalpaken gefunden, sodass der Autor schließlich verkünden konnte: „[…] [Z]um ersten Mal zeigte sich die russische Flagge auf den inneren Gewässern des chivinischen Chanates.“7

Im Jahr darauf war es die Hoffnung, eine Gesandtschaft des Emirs aus Buchara abholen zu dürfen, über den Amudarja Richtung St. Petersburg zu befördern und dabei ein „[…] interessantes und unbekanntes Land zu besuchen und die ersten genauen Informationen über es nach Europa zu bringen […]“8 , die aber unerfüllt geblieben zu sein scheint. In dem Teilnahmebericht von Šul’c erschienen der Aralsee, das Chanat von Chiva und das Emirat Buchara als noch weitgehend unerforschte Gebiete von Interesse, die außerhalb der für Europäer zugänglichen Weltregionen lokalisiert worden sind. Dieser Umstand ermöglichte es dem Autor, sich als Entdecker neuer Gebiete für das Imperium auszuzeichnen. Zudem gewannen seine Aufgaben vor Ort und das von ihm vermittelte Wissen dadurch an Bedeutung.9 Ganz ähnlich formulierte Kolokol’cov in seinen Erinnerungen an den Feldzug gegen Chiva 1873. Über ihre Ankunft am Fluss Amudarja bemerkte er, dass sie

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Šul’c: Plavanie, 53/5 (1861), S. 124. Ebd., S. 125. Ebd., S. 131. Vgl. ebd., S. 123–125, 131. Dagegen erschien das „Turkestanische Gebiet“ (Turkestanskij kraj) in Tat’janins Erinnerungen nur wenige Jahre später schon deutlich vertrauter. Der Autor berichtete über seine Teilnahme an verschiedenen Gefechten im Jahr 1866 und verortete die gleichwohl randständigen Gebiete bereits im Imperium. Vgl. Tat’janin: Turkestanskago kraja, 5/20 (1867), S. 60.

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Die Natur als Gegner

sich „einige tausend Werst entfernt vom Vaterland“10 befunden hätten. Der Autor erwähnte, dass an diesem Ort seit Alexander dem Großen keine europäische Armee mehr gestanden hätte. Ähnlich wie Šul’c beanspruchte er damit zumindest eine gewisse Exklusivität der geschilderten Eindrücke, wenngleich er nicht mehr die Position der ersten Russen oder Europäer in der Region behauptete. An anderer Stelle wob er die Anmerkung in seinen Wegbericht ein, dass sein Herz „[…] gefüllt mit Erinnerungen an die ferne Heimat […]“11 gewesen sei. Anders als bei Šul’c erschien die Region aber nicht mehr als nur interessant oder unerforscht. Kolokol’cov sah sich vielmehr „in der Tiefe des barbarischen Asiens selbst“12 . An anderer Stelle sprach er über die morgendliche Stille in ihrem Lager und das Gerede der Soldaten, „[…] manchmal unterbrochen von einem leisen russischen Lied, welches gewissermaßen besonders bedeutungsvoll in dieser tödlichen mittelasiatischen Einöde tönt […]“13 . In dieser habe er sich darüber gefreut, vor den Mauern Chivas angekommen, vertraute Landsmänner anderer Einheiten zu treffen. Turkestan blieb für den Autor, obwohl bereits partiell zu einem Teil des Reiches geworden, ein dezidiert von seiner Heimat entfernter Ort. Anders als bei Šul’c besaß die Region aber eine deutlich negative, von einer gewissen Gefährlichkeit geprägte Konnotation. Diese lud seine Selbstbeschreibung erzählerisch mit einer gewissen Spannung auf.14 Die Distanz zur Heimat, die Unerforschtheit sowie ein gewisses Bedrohungspotential blieben auch in den Texten aus den 1880er und 1890er Jahren Bestandteil der Einordnungen Mittelasiens. Der Insektenkundler und Naturforscher Ošanin griff in seinem Reisebericht über seine 1878 durchgeführte Expedition in den Pamir für die Einordnung seiner Zielregion verschiedene, bereits gezeigte Elemente auf, als er eingangs formulierte: „Von den vielen entlegenen Ecken russisch Turkestans war bis jetzt vielleicht das Tal am wenigsten bekannt, das von dem Strom des Muk-su eingenommen wird, dem größten von den Zuflüssen des Suchab.“15

10 11 12 13 14

Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 45. Ebd., S. 63. Ebd., S. 45. Ebd., S. 34. Vgl. ebd., S. 34, 45, 63, 67. In einem weiteren Erinnerungsbericht über Vernyj im Jahr 1867 und General Kaufmans dortiger Ankunft, nach seiner Ernennung zum Generalgouverneur, betonte Kolokol’cov ebenfalls die randständige Lage der Region und die große Distanz zu seinem Vaterland. Eine gewisse Bedrohlichkeit der Umgebung ergab sich hier allerdings nicht durch die Natur, sondern durch die indigene Bevölkerung. Vgl. Kolokol’cov: Vospominanija, S. 9. 15 Ošanin: Muk-su, 16/1 (1880), S. 34.

Räumliche Selbstverortungen: Wo liegt Turkestan?

Die Formulierung „russisch Turkestan“ ist eine zeitgenössisch gängige Bezeichnung gewesen. Sie verdeutlichte, dass Turkestan entsprechend der politischen Landkarte um 1880 für Ošanin Teil des Russländischen Reiches gewesen ist. Die Vertrautheit mit Turkestan reichte soweit, dass der Autor um die noch unerforschten Gebiete in der Region wusste, die er in der sich anschließenden Forschungsgeschichte seiner Zielregion dann auch hervorhob. Beispielsweise führt er über das obere Bassin des Muk-su bei Altyn mazar aus, dass es erst 1876 in den Besitz des Imperiums übergegangen sei. Bis zu seiner Expedition habe es sich dabei deshalb um „vollkommene terra incognita“16 gehandelt, was der Autor am Textende nochmals wiederholte. Kurz darauf bemerkte er, dass seine Expedition in diesem Gebiet weiter als ihre Vorgänger vorgestoßen sei. So habe er eine Karte des Generalstabs von 1878 um einen darauf nicht verzeichneten Gipfel ergänzt und in Altyn mazar schließlich einen Ort betreten, „[…] wo noch kein einziges Mal ein Europäer seinen Fuß hingesetzt hat […].“17 Diese als noch unerforscht bezeichnete Region in einem bereits deutlich dem Russländischen Reich zugeordneten Turkestan gestattete es dem Autor, Neuland zu betreten, sich als dessen Entdecker auszuzeichnen und so seinem Handeln vor Ort besondere Bedeutung zu geben.18 Dagegen charakterisierte Arnol’di die transkaspischen Gebiete in seinen Erinnerungen an seine dortige Dienstzeit Ende der 1870er Jahre deutlich distanzierter. Gleich zu Beginn bestimmte er die Lage seines Dienstortes Petro-Aleksandrovsk „[…] am nordöstlichen Ufer des Kaspischen Meeres, das heißt im Land der Kirgisen.“19 Hieraus sprach keine Verbundenheit mit dem Herrschaftsgebiet des Imperiums. In den folgenden Beschreibungen einer militärischen Expedition General Lomakins bemerkte der Autor über die südlicheren turkmenischen Gebiete bei 16 Ebd., S. 34. 17 Ebd., S. 46. Diese Aussage steht in Widerspruch zu der von Ošanin eingangs selbst gemachten Aussagen über drei russische Personen, die den Ort bereits vor ihm aufgesucht haben (vgl. ebd., S. 34). Hierauf wird im Folgenden noch eingegangen. 18 Vgl. ebd., S. 34–35, 38, 46, 58. In Sorokins Bericht über seine Reise in den Jahren 1878/1879 erschien Turkestan ebenfalls als unerforschtes, entlegenes Randgebiet, abseits der Zivilisation. Hier konnte der Autor sich zumindest in seiner Fachdisziplin noch als Entdecker abbilden. Vgl. Sorokin: Puteščestvija, S. 7–8, 56. Siehe auch Guljaevs Erinnerungen an seine Teilnahme an Skobelevs Feldzug 1880/1881 gegen die Turkmenen in Geok-Tepe. Turkestan erschien auch hier in einem Spannungsverhältnis aus bereits erlangter Vertrautheit und abseitiger Lage. Kalte Winter hätten den Autor an solche in seiner fernen Heimat erinnert. In Chiva sei man zu dieser Zeit zwar schon wie über eigenes Territorium gegangen, habe aber auch an einer Grenze der eigenen Einflusssphäre gestanden. Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 1, 15, 26, 85. Ähnlich Guljaev verglich auch Sjarkovskij die Kälte im Winter 1864/1865 in den Bergen bei Čimkent mit Eindrücken aus einem nicht näher bestimmten Herkunftsgebiet seiner Einheit in einem anderen Reichsteil. Vgl. Giljarij Sjarkovskij: Vospominanija oficera o Turkestanskich pochodach 1864–1865 gg. In: Voennyj sbornik 197/2 (1891), S. 357–381, hier S. 381. 19 Arnol’di: Zakaspijskom krae, S. 1.

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Kizil’ Arvat, dass sie sich dort „in einem feindlichen Land“20 befunden hätten. Diese Einschätzung behielt der Autor im weiteren Textverlauf bei, als er ihre Lage nach einem Gefecht mit turkmenischen Einheiten während der Expedition resümierte: „Wir befanden uns in feindlichem Land mit einer Handvoll Leute, abgeschnitten von der restlichen Welt […].“21 Ähnlich den Erzählungen älterer Autoren erschien der transkaspische Raum bei Arnol’di als noch nicht deutlich zum Reich gehörig oder sogar als gefährliche Region, was seiner dortigen Anwesenheit in seiner Selbstdarstellung erzählerisch Spannung verlieh. In einem Reisebericht über eine Expedition in den Tjan‘ Šan‘ wiederholte Sorokin die aufgezeigte Erzählweise. Die von ihm bereisten Teile Turkestans blieben darin in der „Finsternis der Unkenntnis“22 gelegene Regionen, in denen es noch immer „Krähwinkel“23 (truščoba) gegeben habe, „[…] wo noch niemals ein Europäer gewesen ist […].“24 Daher hob der Autor wie in seiner Schrift von 1881 mehrfach den Wert einzelner Orte für deren wissenschaftliche Erforschung hervor. Der Fund eines fluoreszierenden Insekts, und damit erneut der Bereich seiner Fachdisziplin, ermöglichte Sorokin die Selbstauszeichnung als zumindest einer der Ersten, der dieses Tier beschrieben hat.25 Um die Jahrhundertwende herum und in den letzten Jahren des Imperiums blieb vor allem die Betonung der abseitigen Lage Mittelasiens das übergreifend aufgefundene Element. Ivanov, ein Teilnehmer der Kampagnen gegen das Emirat Buchara, am Ende der 1860er Jahre, verortete die damaligen Schlachtfelder, ähnlich den Autoren zuvor, „in dem fernen Grenzgebiet“26 und behielt diese Lokalisierung bis zum Ende seines Textes bei.27 In Gunaropulos Aufzeichnungen über seinen Dienst am Kaspischen Meer Anfang der 1870er Jahren fand sich einerseits die bereits vorgefundene Bezeichnung „Krähwinkel“28 (zacholust’e), womit der Autor Baku bezeichnete. Andererseits paraphrasierte er den späteren General Skobelev, der ihm versichert habe, dass man im kaspischen Raum „viel Interessantes“29 sehen könne. Indirekt war der transkas-

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Ebd., S. 29. Ebd., S. 36. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 634. Ebd., S. 650. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 362. Vgl. ebd., S. 362, Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 642. Ivanov: Vospominanij turkestanca 64/6 (1896), S. 834. Vgl. ebd., S. 859. Bei Gejfel’der besteht die negative Einordnung der Region fort. Der ehemalige Chefarzt der Kampagne Skobelevs gegen die Turkmenen 1880/1881 gab die Einschätzung des transkaspischen Raumes von anderen Militärs als „ungastlich“ wieder. Vgl. Gejfel’der: Zakaspijskoj oblasti, 75/7 (1892), S. 182. 28 Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), S. 566. 29 Ebd., S. 566.

Räumliche Selbstverortungen: Wo liegt Turkestan?

pische Raum in der Darstellung des Autors aber mit anderen Reichsteilen durch den Handel verbunden. So berichtete er, dass turkmenische Filzteppiche aus Kameloder Ziegenhaar in den Kaukasus und auf den Jahrmarkt nach Nižni Novgorod geliefert worden seien. Gunaropulo verortete den kaspischen Raum der 1870er Jahre also am äußersten Rand des Imperiums, mit welchem er zumindest durch den Handel verbunden gewesen ist. Abseitige Lage und postuliertes Potential steigerten die Bedeutung seines Dienstes vor Ort in seiner Selbsterzählung.30 Ähnlich verhielt es sich in dem Reisebericht Šnitnikovs. Der Ornithologe war Mitarbeiter der Umsiedlungsverwaltung des Generalgouvernements. Er stellte von ihm einige Jahre zuvor bereiste Gebiete des Oblasts Semireče ebenfalls als „[…] abgeschnitten von der kultivierten Welt durch einen Weg von einigen Tagen […]“31 dar. Allerdings lag die kultivierte Welt für Šnitnikov, anders als für ältere Autoren, bereits im Generalgouvernement. In „dieser Ecke“32 Turkestans sei vor ihm, so der Autor, mancherorts nur der deutsche Geograf Gottfried Merzbacher oder der russische Militärtopograf Tokovenko gewesen. Der Autor nutzte diesen von ihm behaupteten Umstand mehrfach, um sich selbst mindestens als einen der ersten Russen oder Europäer an bestimmten Orten auf seiner Reise darzustellen. Gleichwohl gab Šnitnikov in seinen Aufzeichnungen klar zu verstehen, dass Semireče Teil des Russländischen Reiches gewesen ist, etwa, wenn er am damaligen Grenzfluss mit China, dem Tekes, von „unserem Ufer“33 sprach.34

30 Vgl. ebd., S. 568, 572. Die randständige Lage ihrer Einsatzorte in turkmenischen Gebieten östliches des Kaspischen Meeres, auf bucharischem Territorium und nahe der afghanischen Grenze blieb auch für die Militärangehörigen Alichanov-Avarskij, Trionov und Karandakov ein erzählenswertes Merkmal. Vgl. Alichanov-Avarskij: Zakaspijskie, 5/9 (1904), S. 74, Alichanov-Avarskij: Zakaspijskie, 5/10 (1904), S. 492, Trionov: Kokandskago Pochoda, 3/11 (1909), S. 209, Karandakov: Murgabskij otrjad, 3 (1910), S. 213. 31 Vladimir Nikolaevič Šnitnikov: Poezdki po Semireč’ju, Džarkentskij i Prževal’skij uezdy. In: Izvestija Turkestanskago Otdela Imperatorskago Russkago Geografičeskago Obščestva 11/2 (1915), S. 45–171, hier S. 118. 32 Ebd., S. 45. 33 Ebd., S. 86. 34 Vgl. ebd., S. 45, 137–138, 144. Der Beamte Fedorov nutzte in seinen Memoiren zusätzlich zu den bereits gezeigten Beschreibungen konkrete Distanz- und Zeitangaben von absolvierten Reisen in andere Reichsteile, um Turkestan als entlegene Grenzregion zu markieren. Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), Fedorov: Turkestanskom krae, 134/10 (1913), Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), Fedorov: Turkestanskom krae, 134/12 (1913). Die Region war demnach für ihn fest mit dem Reich verbunden. Weil er sie als gut erforscht beschrieb, wirkte sie vertrauter, als bei älteren Autoren. Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 802, 811, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), S. 455, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/12 (1913), S. 861, 864, 890. Vergleiche für ähnliche, die räumlichen Dimensionen Turkestans betreffende Angaben Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), S. 568 und Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/12 (1900), S. 1035.

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Ob als abgelegene und ferne Ecke oder als Krähwinkel, das südliche Mittelasien ist von militärisch wie zivil aktiven Autoren ab den 1860er Jahren bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges hinein als weit entfernter Ort beschrieben worden. Verschiedene Militärs haben sich auf ihren unterschiedlichen Feldzügen als fern ihrer Heimat oder ihres Vaterlandes abgebildet. Die an der Erforschung und Erschließung Turkestans beteiligten Autoren haben sich an unterschiedlichen Orten in Mittelasien gar außerhalb der zivilisierten beziehungsweise kultivierten Welt beschrieben oder als von dieser abgeschnitten dargestellt. Einige militärisch aktive Autoren sprachen über ihre verschiedenen Einsatzorte zudem als von Grenzgebieten. Öfter bekam die jeweilige Region einen wahlweise bedrohlichen oder gefährlichen Charakterzug.35 Dieser jeweils randständige Ort in dem zuletzt mehrheitlich russisch besetzten oder dominierten Mittelasien konnte aber zu verschiedenen Zeiten auf sehr unterschiedliche Weise mit dem Imperium verbunden beziehungsweise in es eingebunden erscheinen. Erstaunlich ist hierbei, dass bereits Autoren früh im Untersuchungszeitraum Mittelasien nahe des oder sogar im Imperium verortet haben, wohingegen ihnen nachfolgende Autoren Turkestan noch als unbekannt und randständig beschrieben haben. Hieraus ergeben sich zwei Schlussfolgerungen. Einerseits ist der Prozess, in dessen Folge das Russländische Reich und damit auch Turkestan auf den mentalen Karten seiner Bewohner bis zum Ende des Untersuchungszeitraumes immer enger zusammengewachsen ist, und über den beispielsweise Schenk berichtet hat, für Mittelasien keinesfalls gradlinig verlaufen. Andererseits unterlag den dargestellten Sichtweisen auf Turkestan ein Verständnis, demzufolge Russland aus älteren Teilen und weit entfernten Grenzgebieten bestand. In den alten Gebieten wurde St. Petersburg unterschiedlich explizit als Zentrum und die eigene Heimat verortet. Darüber hinaus stehen die herausgearbeitete Randständigkeit und Abgeschiedenheit Turkestans in einem gewissen Widerspruch zu den bereits im Zusammenhang mit den Begründungsstrategien der Expansion aufgezeigten Fortschrittsbekundungen zahlreicher Autoren im Bereich der Infrastruktur.36 Eine mögliche Erklärung für diesen Widerspruch liefert die Frage nach der Funktion der Befunde innerhalb der autobiografischen Erzählungen. Die Abbildung Turkestans oder einzelner seiner Gebiete als abgelegene Grenzgebiete verschaffte den meisten Autoren und ihren jeweiligen Aufgaben vor Ort größere Bedeutung. Diese stieg nochmals bei denjenigen Militärs, die ihrem Einsatzort in ihren Texten allgemein Gefahrenpotential beimaßen. Der Einsatz in einem umstrittenen, russländischen Grenzgebiet, so das Argument, ermöglichte seinem Autor deutlich mehr Prestige. Dasselbe galt auch für die an der Erforschung und Erschließung 35 Matveev hat für die Publizistik zum Feldzug gegen Chiva 1873 auf die Beschreibung Turkestans als weitentfernte Heimat hingewiesen. Vgl. Matveev: Perceptions, S. 291. 36 Vgl. Frithjof Benjamin Schenk: Russlands Fahrt in die Moderne. Mobilität und sozialer Raum im Eisenbahnzeitalter. Stuttgart 2014, S. 380–381, 384–385.

Die Natur als Gegner in der militärischen Memoiristik

beteiligten Akteure. Eine als abseits gelegen und unerforscht präsentierte Untersuchungsregion besaß für den jeweiligen Autor deutlich mehr Potential, sich selbst als der Erste oder zumindest als einer der ersten Europäer oder Russen vor Ort zu beschreiben und so das Prestige des Entdeckers zu erlangen. Turkestan konnte also bis in den Ersten Weltkrieg hinein zugleich als zunehmend besser erschlossen und als dennoch weitabgelegen und gefährlich erscheinen, weil beide Aspekte unterschiedliche Funktionen in den Selbstdarstellungen erfüllten. Die konstruierte Randständigkeit des südlichen Mittelasiens bildete eine wichtige Voraussetzung für die Figur der Natur als Gegner, welche in den folgenden Unterkapiteln untersucht wird. Als Teil der übergeordneten Erfolgserzählung bildete das weit abgelegene Turkestan die erzählerische Umgebung, in der die Autoren ihr Heldentum aufgrund der erzählten Überwindung einer als feindlich dargestellten Natur postulieren konnten.

4.2 Die Natur als Gegner in der militärischen Memoiristik Bereits in den ersten Jahren der russischen Eroberung gingen Militärangehörige wie Kolokol’cov in ihren Texten auf die naturräumlichen und klimatischen Bedingungen vor Ort ein. Der bisherige Bataillonskommandeur veröffentlichte sein Tagebuch über den Feldzug gegen das Chanat Chiva im Jahr 1873. An diesem hatte er unter anderem als Kolonnenführer im Heeresteil des Oberkommandierenden General Kaufman teilgenommen. In Kolokol’covs Text wurde die Natur beständig mit negativen Attributen versehen. Er charakterisiert die Steppe auf seinem Weg als „unübersehbar“ (neobozrimyj), „wasserlos“ (bezvodnyj) oder „leblos“ (bezžiznennyj). Ebenso beschrieb der Autor die Wüste, durch die sie zogen, als „tödlich“ (mertvyj). In ihr existiere „nicht das kleinste Zeichen von Leben“37 . In Steppe und Wüste sind die russischen Einheiten über den gesamten Text hinweg, in Kolokol’covs Worten, den verschiedenen Wettereinflüssen schutzlos ausgeliefert gewesen. Anfangs seien zwei Kameltreiber bei Kälte und Frost gestorben. Im weiteren Textverlauf hätten sie abwechselnd Sandstürme und Sprühregen ertragen müssen. Dem Autor zufolge hätte ihnen aber die „mörderische sonnige Glut“38 (ubijstvennoe solnečnoe peklo) und der heiße Wind auf ihrer Wüstendurchquerung die größten Probleme bereitet. Kolokol’cov beschrieb praktisch ununterbrochen ihren Durst, die Appetitlosigkeit oder den Sonnenbrand.39

37 Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 29. Vgl. für die vorausgegangenen Begriffe ebd., S. 380, 381, 391, 24, 45. 38 Ebd., S. 386. 39 Vgl. ebd., S. 380–381, 385, 386, 389, 19, 20, 21, 32, 34, 36, 38, 65.

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Die deutlichste Ausnahme hiervon stellte seine Beschreibung des Flusses Amudarja dar: „Sich in der wasserlosen Hungersteppe bewegend, standen wir schließlich an der Stelle zum für uns gelobten Land […].“40

In seinen Worten wurden die Flussufer zu einem sakralen, positiven Ort, den er deutlich von der negativen Wüste unterschied. Den sie rettenden Strom bezeichnete Kolokol’cov weiter als „silberiges Band“ (serebristaja polosa) und sprach von dessen „Schönheit“ (krasota).41 Der Autor schuf dadurch einen starken Kontrast zu den endlosen Strapazen in Steppe und Wüste, der diese nochmals unterstrich.42 In seiner Rückschau auf den Weg zum Amudarja hätten sie „[...] im Verlauf von zwei Monaten mit der schrecklichsten leblosesten Natur gekämpft […]“43 Einen während ihrer Anwesenheit am Flussufer aufkommenden Sturm stilisierte er schließlich zum Widerstand der Natur gegen ihre dortige Anwesenheit.44 Die so konstruierte Gegnerschaft zur Natur nutzte Kolokol’cov im gesamten Text, um seine eigenen Leistungen und die seiner Kameraden herauszustellen. Seiner Aussagen nach seien sie unter den beschriebenen Verhältnissen 1.000 Werst durch die Wüste gezogen, davon 800 ohne Wasser, hätten beständig bei starker Hitze gearbeitet und ihre Geschütze durch den weichen Wüstensand über die Dünen bewegen müssen. Die von der Natur geschaffenen Umstände nutzte der Autor zudem dazu, seine angeblich erbrachten persönlichen Opfer hervorzuheben. Er berichtete über den angeblichen Verlust von Teilen seines privaten Gepäcks und das Aufgeben sämtlicher dem Komfort dienender Gegenstände, weil ihnen die Lastentiere zunehmend verendet seien. Auf die Hygiene hätte er wegen des Wassermangels ebenfalls verzichten müssen. Indem er die durchlebten Entbehrungen dieses Feldzuges im Kampf mit der Natur herausstellte, markierte er diese dadurch als Leistungen, durch die er sich als tapfer, standhaft und opferbereit auszeichnete. Zudem ordnete er seine Leistungen im Zusammenhang mit ihrer Ankunft am Amudarja in eine Reihe mit den Feldzügen Alexanders des Großen ein, dessen Heer seiner Auffassung zufolge zuletzt an dieser Stelle gestanden hätte. Im weiteren Verlauf des Textes hatte er für ihre Leistungen bereits eine „Belohnung“ in Form

40 Ebd., S. 43. 41 Vgl. für beide Begriffe ebd., S. 44. 42 Es existieren einige weitere Stellen im Text, wo die Natur als schön und positiv von Kolokol’cov beschrieben wurde. Aufgrund ihrer geringen Zahl wirken sie als Kontrast, der die überwiegenden negativen Naturdarstellungen hervortreten lässt. Vgl. ebd., S. 391, 392, 28, 29. 43 Ebd., S. 45. 44 Vgl. ebd., S. 46.

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der schöneren Natur bei Chazar asna gegen Ende ihres Weges erhalten.45 Nun formulierte er: „Ehre und Lob dem russischen Heer in Gestalt unserer Truppe, und Ruhm dem Oberkommandierenden, das Heer gegen Chiva führend!“46

Kolokol’cov forderte deutlicher, als andere Autoren für die überstandenen Strapazen und gezeigten Tugenden in der Wüste Anerkennung von seinem Leser. Die Figur der Natur als Gegner ist auch in den 1880er und 1890 Jahren, wenn auch in unterschiedlichem Maß, fester Bestandteil der untersuchten Erzählungen gewesen. Arnol’di berichtete aus seiner Dienstzeit im transkaspischen Raum, wo er ab 1876 in Aleksandrovsk und Krasnovodsk stationiert war. 1877 hat er an dem missglückten Vorstoß auf die turkmenischen Gebiete im Süden unter General Lomakin teilgenommen. Schon auf den ersten Seiten seines Berichtes fanden sich regelmäßig negative Naturdarstellungen, die sich schrittweise im Textverlauf zur Figur der Natur als Gegner zusammenfügten. Von seiner Anreise zu seinem Dienstort über das Kaspische Meer erwähnte er das zwanzigtägige strapaziöse Schaukeln. Die Umgebung an dessen Ostufer erschien ihm kahl. Der Hitzeperiode im Herbst folgten mehrere Wintermonate, in denen sie durch das Eis von der Außenwelt abgeschnitten gewesen seien. Ebenso negativ erschienen im Folgenden seine Schilderungen der Natur auf ihrem Weg nach Krasnovodsk, entlang des Kaspischen Meeres. Der Autor beschrieb die Steppe als „unfruchtbar“47 (besplodnyj) und menschenleer. Unterwegs hätten sie bei Regen und Wind unter freiem Himmel lagern müssen.48 Im Folgenden wandelte sich seine Darstellung der Natur vom Hindernis zum Gegner. Ein Sturm habe ihr Lager auf dem Weg nach Krasnovodsk verwüstet. Auf einem 86 Werst langen Abschnitt habe es nur einen Brunnen gegeben. Das habe sie, laut Arnol’di, zu Wasserrationierungen bei Mensch und Tier gezwungen und den Konsum von versalzenem, „ungenießbarem“49 (negodnyj) Wasser nötig gemacht.

45 Vgl. ebd., S. 380, 386, 20, 24–25, 28, 36, 38, 43, 63. 46 Ebd., S. 45. Für ein sehr frühes Beispiel siehe den Bericht des Marineangehörigen Šul’c über seine Einsätze am Aralsee in den Jahren 1858 und 1859. Vgl. Šul’c: Plavanie, 53/5 (1861), S. 119, 122–123, 129–131, 134, 138–139, 141, 149. Der Autor beschrieb die große Hitze, den sie bedrohenden Wassermangel, starken Wind und sie behindernde Sandbänke wörtlich als Kampf mit der Natur. Die hierbei erzählerisch errungenen Erfolge nutzte er, um sich und seine Kameraden als tapfer, standhaft und durchsetzungsfähig auszuzeichnen. 47 Arnol’di: Zakaspijskom krae, S. 4. 48 Vgl. ebd., S. 1–2, 3, 4, 13, 15. 49 Ebd., S. 16.

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Dieses Problem erfuhr eine erzählerische Steigerung, als Arnol’di über Erkrankungen unter den Soldaten in Folge der schlechten Wasserqualität berichtete. Zudem haben Berge ihrem Tross den Weg erschwert. Weiterhin haben ihnen der Wind im Frühjahr und die Aprilsonne zugesetzt. Über ihren Feldzug von Krasnovodsk in die südlicher gelegenen, turkmenischen Gebiete wiederholte der Autor die bekannte Darstellung der wasserlosen Steppe bei 40 Grad Celsius. Auf 118 Werst habe es nur einen Brunnen gegeben. In seiner Erzählung wechselten sich die Beschreibungen von Wassermangel, Wasserrationierungen und Durchfallerkrankungen ab.50 Den Rückzug der Truppen nach dem missglückten Eroberungsversuch verknüpfte Arnol’di erneut mit den Strapazen, die ihnen die Natur bereitet habe. In der Festung Kisil arvat hob er die Hitze, den Staub und den Wassermangel hervor. Der 140 Werst lange Rückweg in die Michailovsky Bucht am Kaspischen Meer sei in den Worten des Autors zum Fiasko geraten, weil ihre Führer sich bezüglich einer Wasserstelle geirrt hätten. Arnol’di beschrieb hier, wie sie dem Verdursten nahe, bis zur vollständigen Erschöpfung ihren Weg fortgesetzt hätten. Eine vorauseilende Kavallerieeinheit hätte schließlich das rettende Wasser aus einem Regenwassersee zu ihnen gebracht.51 Positive Naturdarstellungen wirkten auch in diesem Text kontrastiv. Sie schärften das allgemein negative Bild. Bereits zu Beginn stellte Arnol’di seinen negativen Eindrücken vom Ostufer des Aralsees kontrastreich die ordentlichen Straßen der Vorstadt von Aleksandrovsk, die aus der Festung emporragende Kirche und den Anblick des Aralsees aus der Distanz als schön gegenüber. Auf dem Weg nach Krasnovodsk erwähnte er den ungewohnten Anblick von Vögeln im Röhricht an der Küste des Kaspischen Meeres oder allgemeiner die Flora als visuelle Abwechslung in einer als eintönig beschriebenen Umgebung. Schließlich stellte er die Natur in Kisil arvat, auf ihrem Feldzug in die turkmenischen Gebiete, positiv dar und unterschied sie damit deutlich von der zuvor geschilderten Wüstenlandschaft.52 Die so über den gesamten Textzusammenhang verteilte Figur der Natur als Gegner nutzte Arnol’di wie die Autoren zuvor, um sich und seine Kameraden durch das

50 Vgl. ebd., S. 15, 16, 20, 24, 25, 38, 39. 51 Vgl. ebd., S. 37–42. 52 Vgl. ebd., S. 1–2, 15, 18, 29. Für ein ähnlich gelagertes Beispiel vgl. Guljaevs Ausführungen zu seiner Teilnahme am Feldzug Skobelevs 1880/1881 gegen die Turkmenen in Geok-Tepe. Er beschrieb den Mangel an Wasserquellen und den Durst, die schwierige Überquerung des Amudarja bei Frost im Winter, das Kampieren unter freiem Himmel bei Dauerregen und Kälte, das schwere Atmen und Sichteinschränkungen während Sandstürmen sowie die unerträgliche Hitze und den Sonnenbrand. Diese Darstellung unterstützte auch dieser Autor durch den kontrastierenden Einsatz von Aussagen über die Schönheit des Amudarja. Die Natur erschien daher ebenso als Hindernis und Gegner, dessen Überwindung er zur Selbstauszeichnung nutzte. Auch Guljaev ordnete die postulierten Leistungen durch historische Vergleiche mit früheren russischen Expeditionen ein. Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 4–6, 9, 10–11, 19, 22, 27, 58, 77, 83.

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Überstehen der durch die naturräumlichen Bedingungen verursachten Strapazen und die Überwindung aller natürlichen Hindernisse als tapfer und standhaft auszuzeichnen.53 Für die 1890er Jahre54 wird ein Text Gejfel’ders herangezogen, der dessen Erinnerungen an die Eroberung der turkmenischen Gebiete durch General Skobelev in Geok-Tepe zum Thema hat. Der Text ist zeitnah zu einer Reise des Autors aus dem Jahr 1887 zu den ehemaligen Schlachtfeldern entstanden. Gejfel’der verglich darin seine Eindrücke und den Zustand der Region zum Reisezeitpunkt mit seinen Erinnerungen. Hierbei kam die Natur ebenso wie in einer früheren Veröffentlichung von 1886 und 1887 punktuell als Gegner zum Tragen. Der Autor schilderte negative Natureindrücke auf seiner Reise. Die Hitze und der Mangel an schattenspendenden Pflanzen hätten die Gegend „unwirtlich“ (negostepriimnyj) für ihn gemacht. Die „endlose graue Ebene“ hätte eine „mörderische Eintönigkeit“55 (ubijstvennoe odnoobrazie) verbreitet. Dem stellte er jeweils verschiedene Neuerungen gegenüber, die in den Jahren nach der Eroberung erst entstanden seien, und die naturräumlichen Bedingungen aus seiner Sicht nun erträglicher gemacht hätten. In seinen Worten hätte nun vor allem die Eisenbahn, die sich damals noch im Bau befunden habe, alle „natürlichen Hindernisse“56 überwunden. Der Zug hätte nun Schutz vor Hitze und Staub verschafft. Die Stationen seien komfortabel gewesen, so der Autor. Während des Feldzuges hätten sie dagegen auf dem Boden geschlafen und salziges Wasser getrunken. Ebenso kontrastreich beschrieb Gejfel’der die neuen Lebensumstände in Kisli Arvat, wo sie während des Feldzuges ebenfalls auf dem Boden geschlafen hätten.

53 Bemerkenswert: Der Militärarzt Gejfel’der nutzte das Motiv im Zusammenhang mit einer Dienstreise im Frühjahr 1880 im Kaukasus, bevor er über seine Teilnahme an der Kampagne Skobelevs bei Geok-Tepe berichtete. Vgl. Gejfel’der: Vospominanija, 52/11 (1886), Gejfel’der: Vospominanija, 54/4 (1887), Gejfel’der: Vospominanija. 55/7 (1887). Gejfel’der beschrieb gleich den älteren Autoren, wie sich ihm die Natur des Kaukasus‘ in Gestalt eines Erdrutsches, einer Lawine und eines reißenden Flusses auf seinem Weg entgegenstellte. Indem er sie beständig unter Gefahren erzählerisch überwand und seine Pflicht erfüllte, versuchte er sich als tapfer und loyal auszuzeichnen. Vgl. Gejfel’der: Vospominanija, 52/11 (1886), S. 391–394. 54 Siehe für die 1890er Jahre auch Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), Giljarij Sjarkovskij: Vospominanija oficera o Turkestanskich pochodach 1864–1865 gg. (Okončanie). In: Voennyj sbornik 198/3 (1891), S. 157–164. Der Offizier des 8. Westsibirischen Linienbataillons nutzte die Figur in seinen Erinnerungen an die Feldzüge von 1864 und 1865 nur punktuell aber mit demselben Ziel, sich und seine Kameraden auszuzeichnen. Positive Naturbeschreibungen hoben auch bei ihm negative oder bedrohliche Abbildungen kontrastierend hervor. Die Natur wurde bei ihm beispielsweise in Gestalt hoher Bergpässe oder der Flüsse Kastek und Talas zum Gegner. Durch dessen erzählte Überwindung zeigte er sich als tapfer und widerstandsfähig. Vgl. Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 357, 359–362, 367–371 und Sjarkovskij: Vospominanija, 198/3 (1891), S. 157–158. 55 Gejfel’der: Zakaspijskoj oblasti, 75/7 (1892), S. 185 für alle Zitate in diesem Satz. 56 Ebd., S. 185.

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Mittlerweile seien hier Häuser sowie eine Station mit Buffet entstanden. Nach der Zugreise hätte er sich hier die „[…] entzündeten Augen voller Staub waschen […]“ können und fügte hinzu, dass die Freude darüber nur verstehen könne, wer damals wie er „Hunger und Hitze“57 erfahren hätte. Im vorletzten Abschnitt seines Textes ging er erneut auf die Schlacht ein und betonte nochmals die schwierigen Umstände in der „[…] langweiligen wüstenhaften Ebene, getrennt von der kultivierten Welt, von der Familie, von der Gesellschaft der Musik, Literatur und Wissenschaft.“58 Die Natur erschien hier punktuell als Gegner, den er auf dem Feldzug überwunden hatte. Hierbei funktionierte der Vergleich zwischen Eindrücken aus der Schlacht von 1880/1881 und solchen während der Reise als verstärkender Kontrast. Wie für die Natur des Kaukasus in seiner früheren Artikelserie benannte er deren Überwindung in den turkmenischen Gebieten deutlich als Leistung, mit der er sich als tapfer und standhaft auszeichnete. Anders als die anderen Autoren erklärte Gejfel’der, dass die Natur in Gestalt der Wüste als Kulturgrenze durch den technischen Fortschritt in Form der Eisenbahn dauerhaft überwunden worden sei.59 Wie die folgenden Textbeispiele zeigen werden, ist die Figur auch nach der Jahrhundertwende noch Bestandteil von Erinnerungserzählungen gewesen; so auch bei Bogdanov. Der Naturforscher hat an der Erforschung Turkestans unter anderem während des Feldzuges von General Kaufman 1873 gegen Chiva teilgenommen. In einem Sammelband des Autors über die Natur Russlands ist ein Auszug seines Tagebuches enthalten, der den Weg eines Truppenteils von Chalaata bis zum Fluss Amudarja umfasst, dem der Autor zugeordnet gewesen ist. Wie im Fall Vereščagins wurde der Text auf Grund seines Inhaltes der militärischen Memoiristik zugeordnet, wenngleich der Autor insgesamt der Erforschung und Erschließung Turkestans zugeordnet werden kann. Bogdanovs Text durchzog eine Beschreibung der Wüste, mit der er die negativen Eigenschaften und Gefahren für die Teilnehmer des Feldzuges herausstellte. Zunächst beschrieb er am Brunnen Adam Kirylgan die sie umgebenden Sanddünen als „hohe Wellen eines Sandmeeres“60 , das er kurz darauf als quasi grenzenlos, trocken und tödlich charakterisierte. Im weiteren Textverlauf fügte er noch den „eintönigen

57 Ebd., S. 187 für beide Zitate im Satz. 58 Ebd., S. 206. 59 Ebd., S. 184–187. Siehe auch die Erinnerungen des Malers Vereščagin an die Verteidigung Samarkands 1868. Vgl. Vereščagin: Samarkand, S. 7, 41–42. Hier war die Natur weniger ein Gegner und mehr ein lästiges Hindernis in Gestalt von Sand, Staub und Hitze, das der Autor ebenfalls nur sporadisch beklagte. Für Vereščagins (1894) Selbstdarstellung war sein erfolgreicher militärischer Kampf deutlich wichtiger. Hierauf wird in einem folgenden Kapitel noch eingegangen. 60 Bogdanov: Chalaata (1902), S. 445.

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Anblick der Sanddünen“61 als Attribut hinzu. Als angenehme Abwechslung sei ihm unterwegs dagegen die Musik des Militärorchesters in der „tödlichen sandigen Steppe“62 erschienen. Gegen Ende ihres Weges, unweit des Amudarja wiederholte er Teile dieser Beschreibungen.63 Vor diesem Hintergrund stellte er die erlittenen Strapazen im gesamten Text heraus. An vielen Stellen betonte er die „Hitze und die ungewöhnliche Trockenheit der Luft“64 . In seinen Beschreibungen ihrer Tagesmärsche hob er hervor, dass die Hitze direkt mit dem Sonnenaufgang begann und die Sonne dann „[…] erbarmungslos brannte […]“65 . Unter diesen Bedingungen, so erwähnte der Autor, hätten selbst ihre Pferde den mitgeführten Hafer nicht mehr gefressen.66 Neben der Hitze und der Sonne hob er auch mehrfach die Nächte als „schrecklich kalt“ hervor, sodass ihm die „[…] Zähne klapperten […]“67 . Bogdanov setzte also Sonne, Hitze und Kälte beständig dazu ein, ihre Aufgabe – den Marsch zum Amudarja – als außerordentlich beschwerlich darzustellen. Ein weiteres, so von ihm verwandtes Element, das in den Worten des Autors als regelrechte Qual erschien, war der sie umgebende Wüstensand. Bei starkem Wind habe er die Sonne verdunkelt und die Sicht behindert. Darüber hinaus beklagte der Autor: „Der glühende Sand peitschte unbarmherzig Gesicht und Hände, sammelte sich in den Augen, in den Ohren, überall wohin er gelangte, und verursachte ein Jucken auf der Haut, die ohnehin schon durch den trockenen heißen Wind entzündet gewesen ist.“68

Parallel zu den genannten Elementen hob Bogdanov durchgehend den Durst hervor, den sie vor und nach Chalaata erlitten hätten. Im Textverlauf wies er mehrfach auf ihre langwierige Suche der Brunnen, die Wasserknappheit und ihren Durst hin. Wenn Wasser gefunden worden sei, war es in Bogdanovs Worten häufig versalzen, also von minderer Qualität und habe selten für Mensch und Tier gereicht. Der Text endete mit seinem Hinweis, dass sie „[…] mehrmals vom schweren, qualvollen Tod durch Verdursten […]“69 bedroht gewesen seien.

61 62 63 64 65 66 67 68 69

Ebd., S. 453. Ebd., S. 454. Vgl. ebd., S. 446, 462. Ebd., S. 436. Ebd., S. 449. Vgl. ebd., S. 443, 436. Vgl. für beide Direktzitate ebd., S. 447, 448. Ebd., S. 436. Ebd., S. 462. Vgl. auch ebd., S. 431, 451, 452, 455.

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Wie zahlreiche Autoren zuvor nutzte auch Bogdanov positive Naturbezüge. Gegen Ende seines Textes berichtete er zunächst über den positiven Eindruck, den die grünen Gewächse unweit des Amudarja auf ihn gemacht hätten, weil sie so etwas ihm zufolge während der Wüstendurchquerung lange nicht gesehen hätten. Noch deutlicher wurde er, als sie den Fluss selbst erreichten: „Die reichen grünen Pflanzen, die seine Ufer säumten, stellten gemeinsam mit dem breiten Band des Wassers einen scharfen Kontrast zu der umliegenden Wüste dar, gelb von der Sonne verbrannt, mit wenigen Sträuchern ärmlicher Steppengewächse.“70

Bogdanov setzte diese positiven Bezüge ebenfalls kontrastiv ein, um die Natur als Gegner deutlich herauszustellen. Da der Autor nicht primär als Soldat an der Kampagne teilgenommen hat, versuchte sich Bogdanov deutlich weniger durch im Kampf erworbenes Heldentum auszuzeichnen und nutzte stattdessen die Figur der Natur als Gegner. Mehrfach machte er genaue Angaben zur Distanz absolvierter oder bevorstehender Wegabschnitte oder der dafür benötigten Zeit. Dadurch bekamen die überstandenen Unannehmlichkeiten eine gewisse Permanenz.71 Der „schwere Marsch“72 , ohne die Berücksichtigung militärischer Kampfhandlungen, wurde in Bogdanovs Erzählung durch die beständige Betonung der Strapazen, die die klimatischen und naturräumlichen Umstände verursacht hätten, zu einer ihn als standhaft und mutig auszeichnenden Leistung. In den Memoiren des Generals Lomakin tauchte die Figur nur im fünften Teil auf, nahm hier aber eine bestimmende Rolle ein. Der Textabschnitt behandelte die Verlegung der Einheiten des Autors von der Halbinsel Mangišlak am Kaspischen Meer nach Chiva für die Teilnahme an der Eroberung des Chanates durch General Kaufman 1873. Der Autor formulierte direkt zu Beginn:

70 Ebd., S. 460. 71 Vgl. ebd., S. 443, 450, 452, 456. 72 Ebd., S. 445. Auf derselben Seite bezeichnete der Autor ihre Märsche als „schwere Arbeit“. Vgl. Ebd., S. 445. An anderer Stelle unterstrich er diese Aussagen durch die Angabe von 1.400 verendeten Lastentieren. Vgl. ebd., S. 448. Siehe auch die Erinnerungen des Seemannes Gunaropulo an seine Dienstzeit am Kaspischen Meer Anfang der 1870er Jahre. In diesen nahm die Natur als Gegner ebenfalls keine beherrschende Stellung ein. Der Autor beklagte die ermüdende Hitze, den Wassermangel und die trostlose Wüste. In dieser stellte sich ihm die Natur beispielsweise in Gestalt des schwer zu begehenden, weichen Sandes oder eines bedrohlichen Sandsturmes gegenüber. Der Autor kontrastierte seine negativen Naturdarstellungen nicht nur mit positiven Darstellungen, sondern auch mit einem Portrait einer von ihm als schön und zart beschriebenen jungen Turkmenin. Wie die Autoren zuvor, verwendete er die Figur zur Selbstauszeichnung als tapfer, widerstandsfähig und leistungsstark. Vgl Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), S. 571, 575–576, 582 und Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/12 (1900), S. 1036–1037, 1048–1050.

Die Natur als Gegner in der militärischen Memoiristik

„Dieser Art waren die anrückenden Truppen gezwungen, sich fast vom ersten Schritt an von Angesicht zu Angesicht mit jenen Feinden zu treffen, mit denen sie in den hiesigen Steppen kämpften und die sie vor allem anderen überwinden mussten – Das sind der tiefe Flugsand, Wasserlosigkeit und die unerträgliche Hitze.“73

Auch bei Lomakin stellte die Natur einen Gegner allerersten Ranges dar, der in dessen Bewertung augenscheinlich noch vor den Truppen des Chans von Chiva rangierte, die keine vergleichbare Einordnung durch ihn erfuhren. Im Folgenden verwies der Autor bei seiner Beschreibung ihrer Märsche durchgehend auf den tiefen Sand, die große Hitze und den Wassermangel. Dabei machte er wiederholt exakte Angaben über die von ihnen absolvierten Distanzen und die erlebten Temperaturen. Beispielsweise hätten sie bis Senek 90 Werst bei 37 Grad Celsius Lufttemperatur und auf 42 Grad Celsius heißem Sand gänzlich ohne Wasser zurücklegen müssen. An anderer Stelle berichtete der Autor über Stearinkerzen, die bei 35 Grad Celsius geschmolzen seien. Der Eindruck der „unerträglich[en] Hitze“74 wurde in seinen Worten noch durch den stickigen und heißen Wind verstärkt. Die Temperaturen, die der Autor als „schreckliche Qualen“75 für die Soldaten bezeichnete, hätten die Einheiten gezwungen, ihre Märsche in die kühleren Nachtstunden zu verlegen.76 Der tiefe Sand hätte laut Lomakin sowohl den marschierenden Soldaten als auch dem Fortkommen ihrer Artillerie große Schwierigkeiten bereitet. Auf den 17 Werst nach Biš Akt hätte er die Soldaten behindert. Auf den Wegabschnitten nach Kamysta, Karačik und Busag hätte er in den Worten des Autors den Transport der Geschütze erschwert. Neben dem Durst sei der Wassermangel auch dafür verantwortlich gewesen, dass weder Mensch noch Tier sich hätten waschen können. Zudem hätten ihre erschöpften und verendeten Lastentiere das regelmäßige Umpacken beziehungsweise Zurücklassen ihrer mitgeführten Traglasten nötig gemacht, was die Soldaten zusätzlich erschöpft hätte.77 Gegen Ende des Textes wiederholte der Autor die genannten Aspekte in einer Rückschau erneut. Er betonte, dass sie den Feind trotz der geschilderten Umstände „[…] fast als erste erreicht hatten, obwohl wir als letzte losgelaufen waren.“78 Neue Befehle hätten sie jedoch nun gezwungen, umzukehren und sich mit einem anderen Truppenteil zu treffen. Diesen letzten Wegabschnitt, der sie unter anderem durch ein ausgetrocknetes Salzbecken geführt habe, charakterisierte der Autor erneut mit 73 74 75 76 77 78

Lomakin: Zakaspijskom krae, 3 (1913), S. 22. Ebd., S. 23. Ebd., S. 23. Vgl. ebd., S. 22–23, 28. Vgl. ebd., S. 23, 25, 28–29, 36, 40. Ebd., S. 38.

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Verweisen auf Hitze, Wassermangel und Sand sowie mit Distanz- und Temperaturangaben als außerordentlich anstrengend. Sein zitiertes Lob für die Leistungen der Soldaten erneuerte er mehrfach, als er beispielsweise die unter diesen Bedingungen gewachsene „Tatkraft und Tapferkeit“79 der Soldaten hervorhob, die noch sehr jung und unerfahren gewesen seien. Wie in der Mehrzahl der hier aufgeführten Fälle nutzte der Autor seine negative und gegnerische Naturdarstellung, um sich und seine Einheiten durch die postulierte Überwindung des natürlichen Gegners als tapfer, standhaft und mutig auszuzeichnen. Zur Bestätigung des seiner Darstellung nach in der Auseinandersetzung mit der Natur erworbenen Ansehens paraphrasierte der Autor einen Artikel des Preußischen Leutnants des Generalstabes Štum aus der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung, der seine Einheiten begleitet habe. In den Worten des Leutnants, die die Figur erneut wiederholten, geriet das letzte Wegstück zu „[…] einer der vielleicht hervorragendsten Großtaten, die jemals von einer Infanterieeinheit ausgeführt worden ist, seit es Armeen gibt.“80 Während ältere Autoren ihre Leistungen selbst historisch einordneten, erhöhte sich die dadurch beanspruchte Bedeutung bei Lomakin noch dadurch, dass er hierzu seinen ausländischen Gast zitierte. Wie die Autoren zuvor nutzte Lomakin die positiv geschilderte Natur als scharfen Kontrast. In seinem Fall handelte es sich um die kultivierten und bewässerten Teile der Oase Chiva, über welche er am Schluss seines Textes erzählte.81 In den Texten der an der militärischen Erkundung und Eroberung beteiligten Autoren wurde die Natur als negativ, gegnerisch oder feindlich dargestellt. Matveev hat diesen Umstand bisher nur für die Berichterstattung über die Kampagne gegen Chiva festgestellt. Er kam zu dem Schluss, dass mit der Natur als Gegner und der mit ihr verbundenen Abbildung militärischen Heroismus vor allem Schwierigkeiten und Rückschläge der Kampftruppen erklärt werden sollten.82 Auch hier wird argumentiert, dass die Figur zur Selbstauszeichnung der Autoren als tapfer, standhaft, mutig oder leistungsbereit eingesetzt worden ist. Allerdings ist dies einerseits bereits vor der Expedition nach Chiva geschehen und andererseits lassen sich weitere Gründe für die Verwendung der Figur zeigen. Die bei Kolokol’cov, Bogdanov oder

79 Ebd., S. 40. Für das Lob siehe auch ebd., S. 39. 80 Ebd., S. 41. 81 Vgl. ebd., S. 38–41. Siehe für einen punktuellen Einsatz der Figur nach 1900 auch die Erinnerungen Kambergs. Der Autor beschrieb wie viele Autoren zuvor in seinen Erinnerungen an den Feldzug General Skobelevs gegen Geok-Tepe den Wassermangel und den weichen Wüstensand. Er machte auch konkrete Distanzangaben und benannte ihre Leistungen wörtlich als Heldentaten, für die er Anerkennung einforderte. Durch einordnende Vergleiche mit antiken und russischen Feldzügen versuchte er zudem ihre Bedeutung zu steigern. Vgl. Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 1 (1906), S. 45–47, 49 und Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), S. 57. 82 Vgl. Matveev: Perceptions, S. 284–286.

Die Natur als Gegner in der militärischen Memoiristik

Lomakin berichteten Ereignisse waren relativ gefechtsarm und daher nur schwer für den erzählerischen Erwerb von Anerkennung brauchbar. Hier ermöglichte erst die Figur die Selbstauszeichnung und nahm daher in den Texten viel Raum ein. Arnol’di hatte dagegen an einer militärisch nicht erfolgreichen Kampagne teilgenommen. Bei ihm fungierte die Figur als Kompensation für die Unmöglichkeit, sich in den geschilderten militärischen Zusammenhängen auszuzeichnen. Dementsprechend nutzte Arnol’di die Figur im gesamten Textzusammenhang. Kolokol’cov oder Gejfel’der haben an militärisch insgesamt erfolgreichen Kampagnen teilgenommen. Für sie stellt sich in je unterschiedlichem Maß die Frage, warum sie die Figur überhaupt eingesetzt haben. Matveevs Interpretation greift hier nicht mehr. Boten doch gerade militärische Ereignisse, trotz des sinkenden Potentials, noch immer ausgiebig Gelegenheit zur Selbstdarstellung. Hierauf wird in Kapitel 6 noch eingegangen. In Gejfel’ders Text bestimmte die Figur die Selbstbeschreibung nicht und scheint nur noch punktuell genutzt worden zu sein. Sie stellte eine Ergänzung oder Unterstützung anderer Aspekte dar, die in der jeweiligen Erzählung zentrale Mittel der Selbstbeschreibung gewesen sind. Lomakin setzte die Figur dagegen in seinem Textteil über die aus russischer Sicht militärisch insgesamt erfolgreiche Kampagne General Kaufmans in Chiva prominent ein. Eine mögliche Antwort auf die Frage nach dem warum, liegt in der eingangs bereits angesprochenen Art und Weise, wie zahlreiche Siege in Turkestan errungen worden sind. Trotz vorhandener Verluste und erlittener Rückschläge siegten die russischen Truppen in Mittelasien häufig in Unterzahl durch ihre technische und organisatorische Überlegenheit. Beispielsweise sprach Hoetzsch für die Eroberung Geok-Tepes von einigen hundert toten und verwundeten russischen Soldaten und stellte dieser Angabe etwa 6.000 getötete Turkmenen gegenüber. Der Autor fügte an, dass die russischen Opferzahlen für die Schlachten in Mittelasien sogar verhältnismäßig hoch gewesen seien. Zudem sei die russische Artillerie unter Verwendung von mit Petroleum geladenen Geschossen maßgeblich für den Sieg verantwortlich gewesen.83 Hoetzschs Argumente lassen sich auch für die frühen russischen Eroberungsschlachten in Mittelasien bestätigen. Einem umfangreichen Einsatz der Artillerie folgte der Sturm der Festungen.84 Die russischen Truppen sahen sich 83 Vgl. Hoetzsch: Russland in Asien, S. 86. Kappeler nennt weniger als 300 tote Russen und rund 8.000 turkmenische Opfer. Vgl. Kappeler: Vielvölkerreich, S. 164. Malikov gibt einen Einblick in die militär-technische Ausgangslage des Emirates von Buchara. Vgl. Malikov: Emirate, S. 182–183. 84 Vgl. Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 372–378, Sjarkovskij: Vospominanija, 198/3 (1891), S. 161–164. Der erfolgreiche Einsatz von Artillerie-Batterien ist beispielsweise auch bei folgenden Autoren beschrieben: Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 51, 52, 54, Fišer: Vzjatii goroda, 1 (1873), S. 16, 24, 28, Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 40–41 oder Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), S. 51. Mamadaliev unterscheidet für die Schlachten in Mittelasien idealtypisch zwischen (1) der Eroberung durch eine umfassende, länger andauernde Belagerung mit geringen Verlusten, (2) einer Belagerung ohne Belagerungstechnik, aber mit Artillerie-Beschuss und der

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folglich der Kritik „leichter Siege“ von Zeitgenossen, wie Poltorackij ausgesetzt, der selbst einige Jahre für Generalgouverneur Kaufman gearbeitet und am Feldzug gegen Chiva teilgenommen hat. Gegen dessen eingangs zitierten Vorwurf wehrte sich beispielsweise Ivanov, wenngleich dieser für seine Verteidigung andere erzählerische Strategien verwendete.85 Diese Überlegungen fügen sich zudem in eine bei Wagner festgestellte, allgemeine europäische Entwicklung ein: „Von den Napoleonischen Kriegen bis zum Ersten Weltkrieg wird die Verehrung der Kriegshelden konterkariert durch Darstellungen und Analysen eines dramatischen Abbaus individueller Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeiten in der Wirklichkeit der Schlacht und der mit ihr verbundenen Medientechnologien. Dieser Machtverlust wird in der Literatur und den verschiedenen Kriegsdiskursen des 19. Jahrhunderts unabweisbar […].“86

Mit der Figur der Natur als Gegner versuchten die Autoren dem Verlust an Möglichkeiten zur Selbstauszeichnung im Kampfgeschehen und der speziell an den Feldzügen in Mittelasien geschilderten Kritik erzählerisch zu begegnen und das Postulat eines auch in schwerem Kampf gegen die Natur errungenen, persönlichen Heldentums87 für ihre eigene und oft auch für die Selbstbeschreibung ihrer Kammeraden und Einheiten aufrechtzuerhalten. Dass dafür nicht ausschließlich diese Figur genutzt worden ist, sondern auch der eigene militärische Kampf, darauf wird in Kapitel 6 ausführlich eingegangen. Die Schönheit bestimmter Naturerscheinungen, die mehrere Autoren in ihren Texten festgestellt haben, fungierte häufig als Kontrastmittel, welches das über-

Erstürmung vermittels Sturmleitern sowie (3) der Einnahme von urbanen Zentren ohne Verteidigungsanlagen mit Gefechten in den die Städte umgebenden Gärten. Vgl. Mamadaliev: Khujand, S. 172–173. 85 Vgl. Ivanov: Vospominanij turkestanca 64/6 (1896), S. 831. Laut Matveev hat der Offizier, Maler und Schriftsteller Nikolaj Nikolaevič Karazin die Eroberung Chivas ebenfalls durch die militär-technische Überlegenheit der russischen Truppen erklärt. Vgl. Matveev: Perceptions, S. 287. Hoetzsch nannte die Eroberung Geok-Tepes „militärisch nicht besonders großartig“. Vgl. Hoetzsch: Russland in Asien, S. 87. Morrison weitete diese Kritik auf die militärische Eroberung Zentralasiens insgesamt aus. Vgl. Morrison: Turkestan Generals, S. 9–10. Mark argumentierte gegen leichte Siege, allerdings mit Verweis auf nur eine Untersuchung des indigenen Widerstandes. Vgl. Mark: „Weltpolitik“, S. 42. 86 Vgl. Karl Wagner: „Einleitung“. In: Karl Wagner/Stephan Baumgartner/Michael Gamper (Hrsg.): Der Held im Schützengraben. Führer, Massen und Medientechnik im Ersten Weltkrieg. Zürich 2014, S. 9–13, hier S. 10. 87 Der Begriff Held wird hier nach Stegmann als „nachahmenswerte Identifikationsfigu[r]“ verwendet. Es handelt sich um eine „charismatische Gestal[t]“, die sich durch positive Eigenschaften wie Entschlossenheit, Opferbereitschaft, Kühnheit, Standhaftigkeit, Solidaritätssinn und Würde auszeichnet. Vgl. Stegmann: Opferdiskurs, S. 13.

Die Natur als Gegner in der militärischen Memoiristik

wiegend negative Bild schärfte. Der punktuell im Text erzeugte Gegensatz ließ die überwundenen Hindernisse und überstandenen Gefahren deutlicher hervortreten. Das trifft auf die Darstellung des Amudarja bei Kolokol’cov oder Bogdanov zu. Bedenkenswert scheint zudem, dass die Natur in Gestalt des rettenden Flusses in allen drei Fällen gleichzeitig von größtem Nutzen gewesen ist, weil sie das Überleben gesichert hat. Bemerkenswert sind weiterhin die historischen Rückbezüge und Einordnungen gewesen, die Matveev vor allem mit dem Feldzug gegen Chiva verbunden hat. Ihr Vorhandensein bei Kolokol’cov und Lomakin unterstützt seine Einschätzung, dass historische Rückbezüge in den 1880er und 1890er Jahre gängig geworden sind. Allerdings hat das nicht nur auf Schriften über die Chiva-Kampagne zugetroffen. Mit den historischen Einordnungen verorteten die Autoren sich selbst, das von ihnen berichtete Unterfangen und die damit verbundene Überwindung der Natur als prestigeträchtige Leistungen in der Geschichte. Dadurch gaben sie ihrer Anwesenheit und ihrem Handeln in Turkestan Bedeutung oder versuchten diese zu steigern.88 Indem sie sich und ihre Unternehmen in eine Reihe mit historischen Feldherren oder früheren Kampagnen stellten, versuchten sie an der bereits durch diese erworbenen Reputation zu partizipieren. Hier sind der Alexander-Bezug Kolokol’covs und Lomakins allgemeine Verortung in einer universellen Armeegeschichte einzuordnen. Abschließend sei auf Gejfel’ders Darstellung der Wüste als Grenze zwischen sich und der kultivierten Welt hingewiesen. Mit der Eisenbahn benannte er auch ein Mittel zu deren Überwindung. Indem er dem Leser von seiner Teilnahme an dem Unternehmen berichtete, das aus seiner Sicht zur Überwindung dieser postulierten Kulturgrenze beigetragen hat, versuchte er sein Ansehen zu steigern. Mit der als heldenhaft markierten Überwindung der als negativ und gegnerisch dargestellten Natur des südlichen Mittelasiens bekräftigten und verteidigten die militärisch aktiven Autoren nicht nur ihre eigene Selbstbeschreibung als Helden der Expansion. Sie trugen durch die Verwendung der Figur auch zur übergeordneten Erfolgs- und Fortschrittserzählung des Imperiums in Turkestan bei. Selbst hinsichtlich militärisch nicht erfolgreicher Kampagnen unterstützten sie auf diese Weise eine positive Gesamtsicht.

88 Vgl. Matveev: Perceptions, S. 287. Liulevicius hat auf ganz ähnliche Versuche der Sinnstiftung und Selbstpositionierung von deutschen Soldaten in seiner Studie zum deutschen Besatzungsgebiet „Ober Ost“ an der Ostfront des Ersten Weltkrieges hingewiesen. Vgl. Vejas Gabriel Liulevicius: Kriegsland im Osten. Eroberung, Kolonisierung und Militärherrschaft im Ersten Weltkrieg. Hamburg 2002, S. 59–60.

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4.3 Die Natur als Gegner in Texten über die Erforschung und Erschließung Anders als bei den Militärs war die Natur Turkestans in unterschiedlichem Maß für viele zivile Reisende der Grund ihrer Anwesenheit in der Region. Dementsprechend stellte sie grundsätzlich ein zentrales Thema in ihren Texten dar. Dabei ist bemerkenswert, dass auch die zivilen Forscher und Beamten, abseits der militärischen Kampagnen, die Figur der Natur als Gegner nutzten, um sich selbst und ihre Mitstreiter in ihren Schriften auszuzeichnen. Für die 1870er Jahre lässt sich dies gut in den Aufzeichnungen Kol’devins nachvollziehen. Der Kriegsingenieur nutzte die Figur in seinen Aufzeichnungen über zivile Straßenbauarbeiten im östlichen Grenzgebiet des Generalgouvernements im Jahr 1872. Auf von China beanspruchtem Gebiet jenseits der Grenze hatte sich in der Stadt Kaschgar nach 1867 Jakub Bek für rund 10 Jahre als lokaler Machthaber etabliert. Der von Kol’devins Einheit angelegte Weg führte zu einem russischen Vorposten im Grenzgebiet. Seine Arbeit fiel zeitlich mit Verhandlungen zwischen Kaschgar und dem Zarenreich zusammen, die schließlich zu friedlichen Beziehungen und einem Handelsvertrag führten, und diente auch dem späteren Warenverkehr.89 Kol’devins Ausführungen enthielten viele negative Naturbezüge. Häufig erschien die ihn umgebende Bergwelt als bedrohlich. Bereits eingangs in seinem Abriss der regionalen Straßenbaugeschichte seit 1868 bezeichnete er den Pass Šamsi als „hoch und gefährlich“90 . Über den Weg zu ihrem Bestimmungsort erwähnte er „ordentlich steile Abhänge“ und „senkrecht abfallende Felswände“91 . Kol’devin betonte die „besondere Vorsicht“92 , die ihr großer Treck in diesem Gelände erfordert hätte. Auf seiner Erkundung des neu zu errichtenden Streckenabschnittes seien ihm der Weg in den Tälern Semisty-bejli und Džuvan Aryk „langweilig und ermüdend“93 erschienen. Im Tal Džuvan Aryk hätte sie ein Kamelskelett an die durch Schneeleoparden drohende Gefahr erinnert. Kol’devin gab hier Erzählungen der Indigenen wieder, wonach der Fluss besonders in ihrer Reisezeit – dem Sommer – als „zornig“ gegolten habe, weil er viel Wasser geführt hätte.94 Wie bei den Autoren im vorangegangenen Teilkapitel, hob auch Kol’devin den die allgemeinen Umstände erschwerenden „Einfluss des Wetters“95 an verschiedenen Stellen hervor. Beispielsweise hätten sie keine Zelte mitgeführt, sodass die Soldaten sich nur durch Filzmatten in den Nachtlagern vor dem Wetter hätten schützen

89 90 91 92 93 94 95

Vgl. Bregel: Atlas, S. 64. Kol’devin: Tokmaksko-Narynskogo otrjada, 8 (1873), S. 854. Vgl. für beide Direktzitate ebd., S. 861. Ebd., S. 862. Ebd., S. 868. Ebd., S. 869. Ebd., S. 859.

Die Natur als Gegner in Texten über die Erforschung und Erschließung

können. Hinsichtlich seiner schon angesprochenen Erkundung des neuen Weges, beschrieb der Autor im Tal des Flusses Tjulek, während ihres Aufstieges zum Pass Sara Bulak, die sie plagende Hitze. Auf dem Pass selbst seien sie Regen und Gewitter ausgesetzt gewesen. Im Flusstal des Dolon seien sie in seinen Worten dagegen auf Schnee, Hagel und Regen getroffen. Die Schluchten des Dževan Aryk oder des Dolon stellte Kol’devin als „wild“ (dikij) dar.96 Textpassagen, die dagegen den Reiz mancher Umgebung wiedergaben, fügten sich insgesamt als Kontrast in die Schilderungen von Gefahr und Wildnis ein. Wenn Kol’devin beispielsweise über ihre Arbeiten im Tal Tajgach taš feststellte, dass ihm der hohe Wasserstand des Flusses wie eine Begünstigung ihrer Arbeit durch die Natur vorkam, weil sie so einen überflutungssicheren Weg hätten auswählen können, dann suggerierte das Situationen, in denen die Natur ein Hindernis gewesen sei.97 Kol’devin berichtete beispielsweise über eine Passage in den Bergen, dass immer 15 Mann einen mit Material beladenen Wagen (arb) führten. Er schilderte einerseits ausführlich die Schwierigkeiten, die sie mit den für das Flachland konzipierten Wagen im Gebirge hatten und andererseits, wie schwer ihren Pferden die Fortbewegung in den Bergen gefallen sei. Während sie die Wagen hätten technisch anpassen können, hätten schließlich die Soldaten, laut dem Autor, teilweise die Zugpferde ersetzen müssen. Erschöpfung und Hunger seien auf diesem 15 Werst langen Abschnitt die Folge gewesen.98 An anderer Stelle stießen sie in einem Tal auf eine Gräserart namens Či, die sich durch Festigkeit und tiefe Wurzeln ausgezeichnet habe. Beides hätte ihnen, wie Kol’devin beschrieb, viel Mühe bei der Rodung der Flächen für den Weg bereitet. An anderer Stelle hob er für einen Wegabschnitt entlang eines Berghanges hervor, dass dieser den Einsatz aller verfügbaren Männer erforderte habe. Kol’devin erwähnte, dass sogar die Offiziere mitgearbeitet hätten. Aus Mangel an Werkzeugen hätten hier die für den Kriegseinsatz vorgesehenen Werkzeuge seiner Pioniereinheiten genutzt werden müssen. Ähnliche Anstrengungen erwähnte er im Folgenden auch für ihre Arbeiten in der Schlucht Kulgan Taš oder am Fluss Kara Gaty. Über seine Überquerung des Passes Koj Džol, während seiner Erkundung des neu zu errichtenden Wegabschnittes, berichtete Kol’devin, dass sie sich beim Aufstieg an die Felsen hätten klammern müssen. Auf dem steilen Abstieg seien sie teils im Sitzen hinab gerutscht und – „äußerst unangenehm“99  – hätten ihre Hände zum Bremsen genutzt. Kol’devin berichtete weiter über die Durchführungen notwendiger Sprengarbeiten vor Tajgach Taš. In deren Verlauf hätte der Unteroffizier Ivan Kulenk durch 96 97 98 99

Vgl. ebd., S. 868, 873–874. Vgl. ebd., S. 863, 875, 876, 883. Ebd., S. 861–862. Ebd., S. 873. Vgl. weiterhin ebd., S. 864–866, 872, 885.

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seine „Findigkeit“ ein Unglück verhindert, indem er die Arbeiter vor einer nicht explodierten, aber noch glimmenden Sprengladung rechtzeitig gewarnt hätte und diese in den Worten des Autors mit einer Mütze voll Wasser gelöscht hätte. Für diese „Heldentat“100 (podwig) und „Selbstaufopferung“101 (samopožertvovanie) habe man ihn für den Orden der Heiligen Anna vorgeschlagen.102 Der Autor illustrierte hier, dass auch abseits der Schlachtfelder in der Auseinandersetzung mit der Natur Heldenhaftes vollbracht werden konnte. Wenngleich er in diesem Fall nicht selbst der Protagonist gewesen ist, so partizipierte er dennoch als Vorgesetzter und Chronist am Erfolg des ihm untergebenen Soldaten. Durchzog die Figur Kol’devins Text auch nicht mit der Häufigkeit wie bei den Autoren im vorangegangenen Abschnitt, nutzte er das Ringen mit der Natur dennoch gezielt zur Selbstauszeichnung. Auch in dem Reiseberichten Ošanins aus den 1880er Jahren, fand sich die Figur wieder. Der Bericht des Insektenkundlers und Naturforschers behandelte eine Reise von Samarkand über Gissar, Karategin und Alaj im Herbst 1878, auf welcher er einen ersten Teil des Fedčenko-Gletschers entdeckte und diesem zu Ehren des bekannten Naturforschers seinen Namen gab.103 In seinem Text stellte Ošanin die Natur punktuell als Hindernis und Gefahr dar. Bereits zu Beginn berichtete er, wie sie während eines Nachtlagers unweit von Ters-agar „ordentlich unangenehm“104 von einsetzendem Schneefall überrascht worden seien. Einige der ihn begleitenden Kosaken seien bereits aufgrund der Witterung erkrankt. Im weiteren Verlauf betonte der Autor beispielsweise die Gefahren, die ihnen auf dem Pass Kaindy gedroht hätten, weswegen er sich schließlich für einen anderen Weg entschieden habe. Er begründete diese Entscheidung mit verschiedenen potentiellen Schwierigkeiten. So sei der Pass permanent verschneit. Daher sei fraglich gewesen, ob sie ihn mit ihren Lastentieren überqueren hätten können. Der mögliche Verlust von Lastentieren hätte den Verlust von Proviant bedeuten können. Ein Schneesturm in diesem Gebiet ohne Feuerholz, so der Autor weiter, hätte sie endgültig in eine ausweglose Situation gebracht. Erschienen die Gefahren an dieser

100 Ebd., S. 881. 101 Ebd., S. 881. 102 Vgl. für das Bespiel ebd., S. 881. Siehe für ein weiteres Beispiel aus den 1870er Jahren Petrovskij: Poezdka, 2/4 (1873), S. 213, 220, 231, 247. Der Mitarbeiter des Finanzministeriums hat die Figur in seinem Bericht über eine Reise durch das Emirat Buchara im Jahr 1872 nur punktuell eingesetzt. Er beschrieb die Einwirkungen von Hitze, Staub und Gewitter, den Wassermangel unterwegs und das beschwerliche Reisen durch unwegsames Gelände im Gebirge. Durch die erzählerische Überwindung der Natur stellte auch er sich als tapfer und standhaft dar. Zusätzlich nutzte er die Beschreibung eines unbekannten Wetterphänomens, um sich – in Abgrenzung zu seinen indigenen Begleitern – als rationalen, wissenschaftlich orientierten Akteur darzustellen. 103 Vgl. O. A.: “Fedčenko lednik”. In: A. M. Prochorov (Hrsg.): Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. Bd. 27. Moskva 1977, S. 778–779. 104 Ošanin: Muk-su, 16/1 (1880), S. 36.

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Stelle noch hypothetisch, so war die Natur in Ošanins Ausführungen dennoch bereits das handlungsleitende Hindernis. Über den weiteren Verlauf ihres Weges berichtete der Autor über unwegsames Gelände entlang des Flusses Souk-su. Der steinige Untergrund hätte das Vorankommen ihrer Pferde behindert.105 In der Sandal’-Schlucht, seine Expedition hatte ihren Höhepunkt fast erreicht, betonte Ošanin schließlich die Gefahren, denen er sich persönlich im Hochgebirge ausgesetzt gesehen habe, als er formulierte: „Wir gerieten in eine Umgebung, in der es schwierig war, sich zu bewegen, weil die Füße auf den glatten Oberflächen der Felsen ausgleiten und obwohl ich nicht schlecht auf den Bergen gehe und nicht anfällig für Schwindel bin, passierte es mir, mir mit den Händen helfen zu müssen, weil der kleinste ungenaue Schritt unvermeidlich den Sturz auf den Grund der Sandal’ [Schlucht, Anm. d. A.] nach sich ziehen musste.“106

Vor dem Hintergrund einer schroffen Bergwelt hob der Autor seine bergsteigerischen Fähigkeiten hervor und zeichnete sich als mutig aus. Die natürlichen Gegebenheiten seien es schließlich dennoch gewesen, aufgrund derer Ošanin seine Expedition hätte abbrechen müssen. Auf der Erkundung der Schlucht sei ihr Weg so schmal geworden, dass weder sie noch ihre Pferde durchgekommen seien. War die Natur erzählerisch bisher eine bedrohliche Kulisse und einige Male ein Hindernis, durch dessen Überwindung der Autor sich selbst als mutig, ausdauernd und risikobereit ausgezeichnet hatte, so stilisierte er sie im letzten Teil seines Textes zum finalen Gegner, an dem er scheiterte. Ošanin beschrieb ausführlich seinen Abwägungsprozess: Während er selbst das unwegsame Gelände vor ihnen erkundet hätte, in welchem sie beachtliche Höhenunterschiede zu bewältigen gehabt hätten, hätte man ihn über zwei gestürzte Pferde und den Verlust von Teilen ihres Proviants und ihrer Barmittel informiert.107 In Anbetracht seiner Schilderungen der unsicheren Versorgungslage mit Nahrung, Wasser und Ersatztieren, den Witterungsbedingungen des Jahresendes und bereits sechs von 18 erkrankten Kosaken formulierte er: „Ich hielt mich nicht für berechtigt, das Leben der mir anvertrauten Menschen für die Aufklärung interessanter wissenschaftlicher Fragen zu riskieren.“108

105 106 107 108

Vgl. ebd., S. 42–43, 47. Ebd., S. 52–53. Vgl. ebd., S. 53. Ebd., S. 53.

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Indem Ošanin die Natur des Pamir hier als ultimative Gefahr für das menschliche Leben präsentierte, erschien seine Entscheidung zur Umkehr im Kontext einer wohlgemerkt wissenschaftlichen Expedition als verantwortungsvoll und ehrenhaft. Während das zuvor genannte Beispiel den gewöhnlichen Gebrauch der Figur – die Selbstauszeichnung durch Überwindung des natürlichen Gegners – demonstriert, zeigte Ošanin zuletzt, dass selbst das Scheitern an der Natur positiv für die jeweilige Selbstbeschreibung nutzbar gewesen ist. Die Reisebeschreibungen von Sorokin unterschieden sich von den anderen Texten in diesem Abschnitt durch ihre langen Passagen im Stil einer wissenschaftlichen Publikation. In diese hat der Autor seine Reiseerfahrungen gezielt einfließen lassen. Der Kasaner Professor nahm nach eigener Aussage 1878/1879 als Botaniker an einer Expedition zur Erkundung der Gebiete teil, durch welche die zukünftige Eisenbahnlinie Orenburg-Taschkent verlaufen sollte. Hierbei habe er sich auf die Untersuchung der Bewegung des Wüstensandes und der Flora konzentriert, welche den Sand stabilisieren sollte. Zudem wurde für die Flussschifffahrt auf dem Amudarja dessen Bett untersucht. Sein Bericht enthielt zudem Aufzeichnungen über eine zeitnah durchgeführte Reise des Autors nach Westfrankreich, die ebenfalls der Untersuchung dortiger Wanderdünen und deren erfolgreicher Stabilisierung diente. In seinen Ausführungen zur Wüste Karakum ist die Figur einer bedrohlichen und gegnerischen Natur über weite Teile seines Textes sehr präsent gewesen. Gleich zu Beginn wies er der Wüste das Attribut „unfreundlich“109 (neprivetlivyj) zu. Während er seine Aufgaben skizzierte, charakterisierte Sorokin den sich in ihr bewegenden Wüstensand als für den Menschen und seine Ziele bedrohlich.110 In seiner Beschreibung der Karakum und ihrer Entstehungsgeschichte wählte der Autor die bereits bekannte Metapher des Sandmeeres, in dem die Oasenstadt Chiva wie eine Insel gelegen hätte.111 Im Folgenden sprach er dann das „eintönige Bild“112 (odnoobraznaja kartina) an, das die Wüste dem „erschöpft[en] Reisenden“113 (putešestvennik utomlennyj) oft präsentiert hätte. Entlang der Postkutschenroute existiere die „[…] wilde sandige Wüste, die völlige Abwesenheit von Leben.“114 Über seine Reise in das Untersuchungsgebiet, die er als „lange[n], fast endlosen Weg“115 bezeichnete, bemerkte er dementsprechend, dass man dazu eine „Menge

109 110 111 112 113 114 115

Sorokin: Puteščestvija, S. 3. Vgl. ebd., S. 3–4. Vgl. ebd., S. 26. Ebd., S. 36. Ebd., S. 36. Ebd., S. 50. Ebd., S. 7.

Die Natur als Gegner in Texten über die Erforschung und Erschließung

Energie“116 und einen „starken Willen“117 benötigt hätte. Sorokin stellte sich vor der bedrohlich wirkenden Wüstennatur als ausdauern und willensstark dar, während er Gründe für die Bewegung des Sandes diskutierte. Dabei berichtete der Autor von einem Sandsturm unweit der Stadt Kara Tugaj, den er vor Ort erlebt hätte. Er führte aus, dass es um 2 Uhr nachmittags vollkommen dunkel geworden sei.118 Ansichten aus zeitgenössischen Publikationen aufgreifend, ging er im Folgenden auf die schwierigen naturräumlichen und klimatischen Verhältnisse vor Ort ein. Beispielsweise führte er aus, dass auf der Postkutschenroute durch die westlichen Randgebiete der Karakum alle 10 Werst Versorgungsstationen notwendig seien. Je nach Jahreszeit könne man entweder von der Sonne „gebraten werden“119 (izžarit’sja) oder vor Kälte erfrieren. Hinzu käme der Süßwassermangel. In der weiteren Literaturschau zur Karakum sowie zu Wüsten auf anderen Kontinenten kritisierte der Autor einige gängige negative Vorurteile, ohne jedoch seine zuvor und daraufhin beschriebene, negative Charakterisierung der Karakum damit zu relativieren. Indem er den Verweis auf seine eigenen Leistungen in den Jahren zuvor anschloss und darauf hinwies, dass er zwei Jahre selbstständig zum Wüstensand und den Wanderdünen in Zentralasien und Frankreich geforscht hätte, teilte er dem Leser mit, dass er sich den beschriebenen Strapazen und Gefahren ausgesetzt und diese überstanden hätte.120 Auch in den weiteren fachlichen Textteilen, die bestehendes Wissen rezipieren und neue Erkenntnisse diskutieren, ließ Sorokin die Figur des Gegners einfließen. In seiner Erörterung des komplexen Verhältnisses zwischen Kaspischem Meer, Aralsee, den Flüssen Amu und Syrdarja sowie der in der Großregion lebenden Bevölkerung sprach Sorokin von einem „Kampfe zwischen Natur und Mensch“121 . Dieses Bild griff er nochmals auf, als er die Bewegungen des Sandes und die damit verbundene Gefahr ansprach, durch den Sand verschüttet zu werden. Hierbei zitierte er Beobachtungen Fedčenkos aus dem Chanat Kokand über die „zerstörende Tätigkeit des Sandes“122 bei Kara-kujljuk, wo der Sand unter anderem die Gärten einer kleinen Siedlung bereits teilweise verschüttet hätte. „Dann vollzog sich vor unseren Augen der direkte Prozess der Verdrängung der Kultur durch den Sand, das ist der Kampf zwischen Leben und Tod.“123

116 117 118 119 120 121 122 123

Ebd., S. 7. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 31–33. Ebd., S. 9. Vgl. ebd., S. 10–12, 13–14. Vgl. ebd., S. 25. Ebd., S. 42. Ebd., S. 43.

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Die Natur als Gegner

Sorokin assoziierte die Wüste mit dem Tod, der die lebendige, durch den Menschen kultivierte Natur in Gestalt der Gärten bedrohte. Aus seinen eigenen Reiseerfahrungen fügte er die Beschreibung der bereits halb verschütteten Postkutschenstation bei Aty Kuduk am Ufer des Aralsees hinzu. Hierbei sprach Sorokin von „tiefem Flugsand“124 , der bereits Dach und Tür erreicht hätte, inmitten der „glühenden Höhen einer ganzen Menge von Hügeln“125 . Wie Gejfel’der steigerte der Autor das Gefahrenpotential der Wüste, indem er mit ihr die Grenze zwischen menschlicher Kultur und wilder Natur markierte. Hierdurch stieg auch das Bedrohungspotential der während seiner Forschungsreise überstandenen Gefahren, durch welche er sich auszuzeichnen suchte. Die Waffe des Menschen im Kampf gegen den Sand – um im Bild zu bleiben – war in Sorokins Worten die Bepflanzung der Dünen. Am Beispiel der Stadt Irgis führte er aus, dass das Verbot des russischen Kommandanten im Jahr 1871, die umliegenden Gehölze zu roden, bereits kurzfristig den Sand stabilisiert hätte. Dementsprechend positiv schilderte er den „fruchtbaren Teppich“126 , also die begrünte Wüste, die er auf seinen Reisen ebenfalls kennenlernt hätte.127 Im letzten Textabschnitt mündeten die auf seiner Reise an die französische Atlantikküste gewonnen Informationen über die Stabilisierung der Sanddünen durch Bepflanzung in einer positiven Prognose des Autors für die Karakum in Turkestan. „[I]ch bin zu tiefst überzeugt, dass, wenn man sich der Sache annimmt, wie es sich gehört und sie nicht auf die lange Bank schiebt, kann die Physiognomie der Karakum sehr schnell verändert werden – es werden keine 25 Jahre vergehen und in diesen Sanden rauschen Buschwäldchen.“128

124 Ebd., S. 44. 125 Ebd., S. 44. In seinem letzten Textabschnitt über die Sanddünen in Arcachon, Frankreich und anderen Staaten West-Mitteleuropas nutzte Sorokin dieselbe martialische Metaphorik, um die Sanddünen im unbepflanzten Zustand als Bedrohung darzustellen. Vgl. ebd., S. 63–64, 70–73. 126 Ebd., S. 52. 127 Vgl. ebd., S. 52–53. 128 Ebd., S. 80. Siehe auch Sorokins Bericht über eine Reise in den russischen Teil des Tjan‘ Šan‘Gebirges im Jahr 1884. Der Autor beschrieb die Einwirkungen von Hitze, Sand und Kälte, schwere Auf- und Abstiege, gefährliche Abhänge und Schluchten und reißende Flüsse in einer unübersichtlichen Bergwelt. Die Berge erschienen hier als bedrohliche Kulisse und als Gegner seiner Forschungsarbeit, die er auch trotz Symptomen der Höhenkrankheit fortgesetzt habe. Sorokin nutzte die geschilderte Auseinandersetzung mit den Bergen, um sich als mutig, erfahren und belastbar auszuzeichnen. Vgl. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 362–363, 367–369, 375–380 und Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 630–633, 636–639, 649, 651, 654.

Die Natur als Gegner in Texten über die Erforschung und Erschließung

Die von ihm bereits unter Beweis gestellte Willenskraft und Leistungsbereitschaft waren schließlich die Voraussetzungen, durch welche die Wüste in Turkestan in naher Zukunft überwunden werden würde. Um den Einsatz des Motivs für die Phase nach der Jahrhundertwende zu veranschaulichen, wird unter anderen der Reisebericht Šnitnikovs angeführt. Der Ornithologe und Beamte leitete 1912 nach eigener Aussage im Auftrag der Umsiedlungsverwaltung (Pereselenčeskoe upravlenie) eine „erd-botanische“129 (počvennobotaničeskaja) Expedition durch wenig erforschte Teile des Oblasts Semireče, worüber er 1915 einen ausführlichen Reisebericht vorgelegt hat. Ziel der Reise sei es laut dem Autor gewesen, Gebiete für die Kolonisation zu erkunden. Den gesamten Text hindurch berichtete Šnitnikov über die verschiedenen Schwierigkeiten, die ihm und seinen Mitreisenden auf ihrem Weg durch die Gebirgslandschaft des Tjan‘ Šan‘ begegnet seien. Bereits eingangs, als sie eine Etappe in getrennten Gruppen absolviert hätten, hätte ihn sein Weg über einen „äußerst schwierigen Reitweg“130 , über den Fluss Merk, mit „großen Anstrengungen“131 in das Tal des Flusses Karkara geführt. Der Autor beeilte sich, hinzuzufügen, dass er dennoch pünktlich und als zweiter am vereinbarten Sammelpunkt eingetroffen sei. Am Berg Tur-Ajgyr verdeutlichte Šnitnikov seine Anstrengungen bei der Überquerung des 1.950 Meter hohen Passes durch die Zeitangabe von über achteinhalb Stunden, die sie benötigt hätten. Entlang des Flusses Merk illustrierte er ein steiles Wegstück mit dem Hinweis, dass er „genötigt“132 gewesen sei, sein Fuhrwerk aufzugeben und seine Ausrüstung auf Lastenpferde umzupacken. Auf dem Aufstieg zum Pass Tjuz, entlang des gleichnamigen Flusses, war es der sumpfige und zugleich von Steinen übersäte Untergrund, den der Autor als Grund für ihre Schwierigkeiten benannte. Als sumpfig und steinig stellte er auch die Verhältnisse bei ihrem Aufstieg vom Fluss Inyl’ček dar. Laut seinen Angaben, seien ihre Pferde auf dem folgenden Abstieg auf dem losen Geröll gestolpert und gestürzt. Ein weiteres Beispiel in diesem Zusammenhang, mit dem Šnitnikov die ihnen und ihren Tieren begegneten Schwierigkeiten im Hochgebirge illustrierte, habe sich im Flusstal der Karasa zugetragen. Ein Packpferd sei auf unwegsamen Grund gestürzt, auf dem Rücken gelandete und hätte sich aufgrund des Bodenprofils und der Traglast nicht mehr selbständig aufrichten können. Laut dem Autor hätten sie es vollständig entpacken müssen, es zunächst an einen geeigneten Ort schleppen müssen, um es dort aufzurichten.

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Vgl. Šnitnikov: Poezdki, 11/2 (1915), S. 45. Ebd., S. 48. Ebd., S. 48. Ebd., S. 63.

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Im Text folgten Ausführungen zur Passüberquerung im Ottuk-Tal, wo der Autor den gefrorenen Boden als Gefahr hervorhob. Als „mörderischer Weg“133 erschien schließlich in Šnitnikovs Worten ihr steiler Abstieg im Tal Turgen-Aksu durch einen Wald. Gefahr hätte ihnen und ihren Pferden laut dem Autor von Wurzeln, Felsbrocken und von dem Astwerk gedroht.134 Die beständigen Hinweise auf die erlebten Schwierigkeiten und überwundenen Hindernisse dienten dem Autor dazu, sich als ausdauernd und widerstandsfähig auszuzeichnen. Neben dem unwegsamen Gelände hob Šnitnikov vor allem Regen und Kälte als beschwerlich oder hinderlich für sich und ihre Reiseziele hervor. Im Tal Čolkud und seiner Umgebung berichtete der Autor von viel Regen, der sie völlig durchnässt hätte. Zudem beklagte er die niedrigen Temperaturen aufgrund der Höhe des Ortes, sodass sie stark gefroren hätten. Er betonte zudem, dass der Regen ihm unterwegs die Beobachtung der umliegenden Natur erschwert hätte. Im Folgenden hätten Regenwolken den Inyl’ček-Gletscher verdeckt, als er ihn fotografieren habe wollen. Auf dem Weg zum Pass Sart-Džol erwähnte der Autor, neben Regen auch niedrige Temperaturen. Auf dem Pass selbst hätten sie sich einem Schneesturm ausgesetzt gesehen, der ihren Abstieg erschwert hätte. Im weiteren Verlauf der Reise hätten sie laut dem Autor auch während eines Nachtlagers auf 3.400 Metern Höhe im Flusstal des Tjuz sowie auf einem Pass von 3.850 Höhenmetern unweit des Flusses Tez unter der Kälte gelitten.135 Aus den geschilderten Kälteerfahrungen verdeutlichte besonders das Nachtlager auf dem Weg zum Pass Sart-Džol deren gezielten Gebrauch: „Einzig die Temperatur wurde abends ordentlich niedrig, sodass wir schon bei diesem Lager begannen uns auf jenen Zustand des ewigen Kampfes mit der Kälte vorzubereiten, in welchem wir uns im Verlauf einer Reihe der folgenden Tage befanden […].“136

Šnitnikov stilisierte die Kälte stellvertretend für weitere naturräumliche Bedingungen zu einem Gegner, durch dessen beständige Überwindung er sich auszuzeichnen suchte. Dazu führte er, ähnlich wie Ošanin, seinem Leser auch hypothetische Gefahren vor Augen. Über den Abstieg in das Tal Kok-Džar berichtete der Autor, dass er „ordentlich schwierig“137 gewesen sei und sie mit ihren Pferden eine Art enge und steile, natürliche Treppe hätten passieren müssen. Ähnlich Kol’devin betonte

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Ebd., S. 170. Vgl. ebd., S. 60, 63–64, 120, 135–136, 162, 170. Vgl. ebd., S. 83–84, 125, 104, 120, 165. Ebd., S. 103. Vgl. ebd., S. 104.

Die Natur als Gegner in Texten über die Erforschung und Erschließung

der Autor die große Aufmerksamkeit, die der Abschnitt ihnen abverlangt hätte. Er erläuterte weiter: „[M]an kann sich mehr oder weniger ernsthaft stoßen, man kann stürzen und wahrscheinlich kann ein Lastenpferd sich das Bein brechen, aber das Risiko, tödlich zu verunglücken und definitiv Ausrüstung zu verlieren, gibt es hier nicht.“138

Die aufgezählten Gefahren, obwohl in dem konkreten Zusammenhang nicht eingetreten, unterstrichen die Natur als Gefahr für die Erfüllung von Šnitnikovs Mission. Zu diesem Zweck nutzte der Autor auch Handlungen und Aussagen seiner indigenen Führer. Den Grad der Neigung des Weges bei der Erkundung des Passes Čičar unterstrich der Autor durch die Feststellung, dass selbst sein indigener Bergführer genötigt gewesen sei, vom Pferd abzusteigen und zu Fuß zu gehen. Dieselbe Handlung seiner kirgisischen Begleiter illustrierte den schmalen Weg entlang des Flusses Karnis. Um ihre Schwierigkeiten auf dem bereits erwähnten, letzten Abstieg im Tal Turgen-Aksu zu beglaubigen, zitierte der Autor seinen Bergführer mit der Aussage, dass es im gesamten Bezirk nichts Schwierigeres gäbe.139 Als Šnitnikov über seinen Versuch berichtete, aus dem Tal des Kaindy zum Fluss Kujukap vorzudringen, beschrieb er ausführlich die steilen Anstiege sowie die Länge und geschätzte Dauer der vor ihm liegenden Wegabschnitte. Aus Mangel an Material und Versorgungsmöglichkeiten sowie der Tatsache, dass die Erforschung des Flusses und seines Canyons nicht Teil seiner Aufgaben gewesen seien, brach der Autor die Erkundung ab: „[S]o entschied ich, das solche Resultate es nicht wert sind, zu riskieren, sich den Kopf zu brechen und wenn nicht selbst, dann das Bein des Pferdes.“140

Die Erklärung fiel ähnlich wie bei Ošanin aus. Die durch die naturräumlichen Gegebenheiten drohenden Gefahren ließen den Abbruch ehrenhaft erscheinen. Weil Šnitnikov aber nur sein eigenes Leben, nicht aber das seiner Begleiter im Blick hatte, zeichnete ihn sein Verzicht nicht im selben Maß aus, wie das bei Ošanin der Fall gewesen ist. Auch Šnitnikov verwies öfter im Text auf die Schönheit der ihm begegneten Natur. Den sich zahlreich durch die Berge von Tur-Ajgyr windenden Weg bezeichnete er als „malerisch“141 , weil dieser effektvolle Aussichten auf die Berge eröffnet hätte.

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Ebd., S. 104. Vgl. ebd., S. 148, 155, 171. Ebd., S. 146. Ebd., S. 61.

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Auch als „schön“142 beschrieb der Autor den Blick vom darauf folgenden Pass auf ihren zurückgelegten und den vor ihnen liegenden Weg.143 In Šnitnikovs Worten erschien eine Ebene am Ausgang des Flusses Muratal aus den Bergen ebenso als malerisch, weil sie von Tannenwäldern umgeben gewesen sei, die sich die Hänge hinaufgezogen hätten.144 Den Blick von dem 3.700 Meter hohen Pass Myntur auf einen Teil der schneebedeckten Gipfel des Tjan‘ Šan‘, darunter der „majestätische“145 Chan-Tengri, nannte er „prachtvoll“146 (velikolepnyj). In ganz ähnlicher Weise sprach der Autor über den Anblick des Oberlaufes des Flusses Inyl’ček mit dem ihn speisenden Gletscher, über den erneuten Anblick des Chan-Tengri von einem anderen Standpunkt aus sowie über einen Lagerplatz im Flusstal des Tez.147 Auch wenn Šnitnikov im Zusammenhang mit der Naturschönheit, gleich Sorokin, nicht den Begriff „wild“ verwendete, so bezogen sich viele Beispiele auf die schroffe Bergwelt, deren Gefahren er für sich und seine Aufgaben deutlich öfter aufgezeigt hat. Mehrmals beschrieb der Autor Orte als schön, die in seiner Darstellung von Menschen kultiviert worden waren oder dazu geeignet gewesen seien. Am deutlichsten betraf das die junge Kosaken-Siedlung Džalanaš und die Siedlungen der Taranči.148 Auch wenn die Bewertung von Land für dessen potentielle Besiedlung zu Šnitnikovs konkreten Aufgaben gehörte, entstand der Eindruck, dass die Natur in ähnlicher Weise wie bei den militärisch aktiven Autoren, immer dann als schön beschrieben worden ist, wenn sie den Autoren oder allgemeiner den Menschen genützt habe beziehungsweise das Potential dazu besessen habe. Der zeitlich späteste Reisebericht, der hier betrachtet werden soll, stammt von dem Orenburger Realschullehrer Ivčenko, und behandelt dessen Forschungsreise in die Wüste Kysylkum im Jahr 1905. Der Autor nutzte die Figur im gesamten Text, um sich auszuzeichnen. In seiner Darstellung war die Wüste für ihn als Reisenden

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Ebd., S. 61. Ebd., S. 61. Vgl. ebd., S. 96. Ebd., S. 110. Ebd., S. 110. Vgl. ebd., S. 125, 134, 158. Vgl. ebd., S. 62–63, 79–80. Vgl. zusätzlich den Bericht des Botaniker Roževic über dessen 1906 durchgeführte Forschungsreise durch das Emirat Buchara. Auch für diesen Autor stellte die Wüste eine Gefahr für historische Kulturgüter dar. In seinen Beschreibungen von Orientierungslosigkeit im Gelände und der Absturzgefahr im Gebirge erschien die Natur als bedrohlich. Wie viele Autoren zuvor berichtete er von erlittener Kälte, Hitze und Durst, von schweren Anstiegen in unwegsamem Gelände und reißenden Flüssen, die zu überqueren gewesen seien. Durch die erzählte Überwindung dieser Hindernisse und Gefahren sowie die Fortsetzung seiner Arbeit gelang ihm eine Selbstbeschreibung als mutiger, risikobereiter und strapazierfähiger Forschungsreisender. Vgl. Roževic: Poezdka, 44/9 (1908), S. 594, 596, 599, 600–603, 606, 610, 614, 618–619, 622, 626–627, 631, 633–634, 636, 640, 643, 646, 649–650.

Die Natur als Gegner in Texten über die Erforschung und Erschließung

einerseits gefährlich und erschwerte andererseits seine Untersuchungen vor Ort. Zu Beginn seiner Reise, auf dem Weg zum See Džuvan-kul’, erwähnte Ivčenko bereits für die Morgendämmerung, dass „[…] die Augen nichts anderes sahen, außer Sand […]“149 und Sträucher. Neben der geschilderten Eintönigkeit, beklagte der Autor im weiteren Textverlauf: „Die Augen schmerzten unerträglich vom Glanz des Sandes.“150 Zu Ivčenkos negativen Eindrücken zählte auch der Geruch von Fäulnis, auf den sie am See Kil’temnara stießen. Unterwegs klagte der Autor mehrfach über unwegsames Gelände. Einmal seien ihre Kamele ins Stolpern geraten. Ein anderes Mal seien sie am See Kil’temnara auf sumpfigem Untergrund nicht vorangekommen, in dem ihre Tiere eingesunken seien. Hinderlich erschienen mehrfach auch die Tiere selbst, als sie sich dem Willen des Autors und seines Führers widersetzt hätten. Gegen Ende seiner Reise berichtete er in diesem Zusammenhang von zerrissener Kleidung und Bisswunden. Im Textverlauf betonte Ivčenko in seiner Naturdarstellung deutlich die Gefahren, denen er ausgesetzt gewesen sei. Beispielsweise reichte dem Autor das Wasser bei der als schwierig beschriebenen Durchquerung des Flusses Kuvan Dar’ja bis an die Unterschenkel, obwohl er nach eigener Aussage auf einem großen Kamel gesessen habe. Gefahr hätte ihnen in seiner Darstellung auch durch Tiger gedroht, deren Spuren sie unterwegs entdeckt hätten und deswegen eine Rast an einem bestimmten Brunnen ausgelassen hätten. Unweit des Berges Bukantau stieß Ivčenko inmitten von Sanddünen auf rund 40 Kamelkadaver. Indem der Autor hier mutmaßte, dass es sich um eine ganze Karawane gehandelt hätte und deren Führer unter den umliegenden Dünen gelegen hätte, betonte er den todbringenden Charakter der Wüste, dem auch er ausgesetzt gewesen sei. Mehrfach berichtete er von Sandstürmen, die sie erfasst hätten. In seinen Worten hätte der Sand die Sonne verdunkelt. Einmal sei sein Führer umgeworfen worden. Ein anderes Mal sei er selbst fast aus dem Sattel gehoben worden. Während eines dritten Sturmes hätten beide bei ihren Kamelen Schutz gesucht und seien dabei „[…] buchstäblich vom Sand verschüttet […]“151 worden. Gegen Ende seines Berichtes erwähnte der Autor zwei Mal, dass er sich bei seinen Untersuchungen bei Einbruch der Nacht verirrt hätte und nur durch den Mondschein wieder zurück in ihr Lager gefunden hätte.152 Parallel wies Ivčenko beständig auf die Hitze hin. Mehrfach machte er konkrete Temperaturangaben, die immer ungefähr bei 40 Grad Celsius lagen. In der Folge beschrieb er oft ihren Durst, das durch die Hitze erschwerte Atmen oder den

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Ivčenko: Kizyl-kum, 52/1 (1916), S. 72. Ebd., S. 83. Ebd., S. 89. Vgl. ebd., S. 72–73, 75, 80, 82–83, 86–87, 89, 91.

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Sonnenbrand, vor dem sie sich zu schützen versucht hätten. Diese Umstände seien in seinen Worten mehrfach durch unzureichendes oder verdorbenes Wasser erschwert worden, wie beispielsweise am Brunnen Truchmen-kuduk. Während der wesentlich kälteren Nächte beschrieb er, dass sie gefroren hätten.153 Ivčenko nutzte auch die Hitze und deren Folgen, um sich in seinen Reisebeschreibungen auszuzeichnen. Beispielsweise erwähnte er gleich zu Beginn mehrfach, dass er „ungeachtet der Hitze“154 die Sanddünen besichtigt und somit seine selbstgestellte Aufgabe unter schwersten Bedingungen erfüllt hätte.155 Bei Kagaz-baj erfuhr seine Selbstauszeichnung nochmals eine Steigerung. Bei seinen Besichtigungen sei er in eine laut seiner Aussage 15 Meter tiefe Senke zwischen den Dünen geraten, wo die Luft sehr heiß und stickig gewesen sei, sodass ihm schwindelig geworden sei. Bei dem Versuch die Senke zu verlassen, hätte er das Bewusstsein verloren und sei wieder hinabgefallen. Nur der glückliche Umstand, dass er im Schatten eines Strauches gelandet sei, hätte laut Ivčenko Schlimmeres verhütet. Der Autor beschrieb weiter, dass seine Hand, die während seiner zwanzigminütigen Ohnmacht in der Sonne gelegen hätte, verbrannt worden sei. „Meine Schirmmütze ausfindig machend, die sich einige Schritte von mir entfernt herumwälzte, und ein wenig ausruhend, erreichte ich trotz allem die Spitzen der Dünen, machte die notwendigen Beobachtungen und kehrte nachher ohne Eile ins Lager zurück, wo Masakbaj [sein indigener Führer, Anm. d. A.] fest in einer Art Hütte schlief, die er aus unseren Čapany [eine Art Kaftan, Anm. d. A.] gebaut hatte.“156

Ivčenko stellte hier bewusst seine Tapferkeit und sein Pflichtbewusstsein heraus, als er nach der überstandenen Gefahr und unter den beschriebenen Schmerzen, die von der erlittenen Verbrennung herrührten, dennoch die Beendigung seiner begonnenen Untersuchung erwähnte. Wie in diesem Beispiel nutzte der Autor auch zu Beginn seines Textes seinen Begleiter als Kontrastfolie, der in der Darstellung des Autors schlief, während dieser sich in Erfüllung seiner Aufgaben gegen alle Hindernisse und Gefahren abbildete.157 Die inhaltliche Auseinandersetzung mit der Natur Turkestans machte in den Texten der an der Erforschung und Erschließung des Raumes beteiligten Autoren einen großen Teil aus. Dies galt sowohl für den Straßenbauer Kol’devin als auch für den Naturforscher Ošanin, wie auch für den Mitarbeiter der Umsiedlungsverwal-

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Vgl. ebd., S. 72, 73, 74, 76, 78, 81, 82, 83, 91. Ebd., S. 73. Vgl. ebd., S. 73, 74, 79. Ebd., S. 80. Vgl. auch ebd., S. 74.

Die Natur als Gegner in Texten über die Erforschung und Erschließung

tung Šnitnikov. Alle behandelten Autoren haben die Figur der Natur als Gegner in unterschiedlichem Maß in ihren Berichten verwendet. Die Natur erschien hier als Hindernis der Erfüllung ihrer Aufgaben. Die erzählte Überwindung dieses Gegners erlaubte es ihnen, sich gegenüber ihren Lesern als risikobereit, mutig, leistungsstark und verantwortungsvoll darzustellen. In den Texten von Kol’devin, Šnitnikov und Ivčenko tauchten die negativen Naturbezüge beziehungsweise die in den Augen der Autoren durch die Natur verursachten Schwierigkeiten, Hindernisse und Bedrohungen über weite Strecken ihrer Erzählungen auf. Neben der angesprochenen persönlichen Selbstauszeichnung ermöglichte die Figur einerseits militärischen Akteuren in zivilen Bereichen, wie dem Straßen bauenden Pionier Kol’devin, während der noch laufenden Eroberung Turkestans durch die dargestellte Überwindung der Natur, den Anschluss an die Selbstdarstellung seiner Kammeraden. Kol’devin illustrierte am Beispiel eines Untergebenen in direkter Auseinandersetzung mit der Natur bei Sprengarbeiten, wie abseits der Schlachtfelder Heldentum erworben werden konnte. Andererseits scheint die Figur auch für wissenschaftliche Akteure wie Sorokin einen Anknüpfungspunkt an die aufgezeigte Selbstbeschreibung in der quantitativ umfangreicheren, militärischen Memoiristik geboten zu haben. Nicht jedem Forscher war wie Ošanin die Entdeckung und Benennung eines Gletschers vergönnt. Ebenso erschloss sich der lesenden Öffentlichkeit die Bedeutung des Fundes eines seltenen Spinnentieres wie bei Šnitnikov158 nicht automatisch als außeralltägliche Leistung. Hier ermöglichte die Figur den Autoren das Postulat anerkennenswerter Leistungen, die sich gleich den militärischen Heldentaten einer breiten Leserschaft vermitteln ließen. Zu diesem Zweck nutzten Ošanin und Šnitnikov auch hypothetische Gefahren, vor deren Hintergrund sie ihre persönlichen Fähigkeiten und ihre Tapferkeit herausstellen konnten oder denen sie sich in scheinbar weiser Voraussicht nicht ausgesetzt hatten. Beide Autoren wussten auch ihr freiwilliges Scheitern an den als unüberwindlich abgebildeten Hindernissen für ihre Selbstbeschreibung zu nutzen, die ihnen die Natur scheinbar in den Weg gelegt hatte. Indem sie ihr Aufgeben mit ihrer Verantwortung gegenüber den restlichen Expeditionsteilnehmern begründeten, wirkte ihr Zurückweichen ehrenhaft. Durch die Stilisierung der Wüste zur Gefahr für die menschliche Kultur ergab sich im Text Sorokins eine Steigerung des Bedrohungspotentials. Sorokin berichtete im Rückgriff auf Fedčenko über die Bedrohung kultivierten Landes durch Verschüttung. Gleichzeitig lieferte er mit seinen Aufforstungsideen das Mittel zur Eindämmung dieser Gefahr. Der Autor versuchte diese Bedrohung dadurch für

158 Vgl. Šnitnikov: Poezdki, 11/2 (1915), S. 134.

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ihre Selbstdarstellung nutzbar zu machen, dass er den Leser wissen ließ, dass er sich dieser Bedrohung ausgesetzt hätte, ihr aber entgangen sei. Am Beispiel Šnitnikovs sei schließlich auf die Verwendung schöner Naturabbildungen auch in den Schriften aus der Entdeckung und Erschließung verwiesen. Seine Ausführungen über den Reiz bestimmter Bergpanoramen funktionierten ebenso kontrastiv und verstärkten seine Erzählung von einer negativen und bedrohlichen Natur. Es ist zudem bemerkenswert, dass die Natur bei Šnitnikovs, ähnlich einigen militärisch aktiven Autoren, nicht selten dort positiv dargestellt wurde, wo sie durch den Menschen nützlich gemacht wurde oder in den Augen des Autors das Potential dazu besessen hat. Analog zu den Schriften der militärisch aktiven Autoren diente die Figur der Natur als Gegner auch in den Texten der an der Entdeckung und Erschließung Turkestans beteiligten Autoren nicht nur der Bekräftigung oder Verteidigung ihres Heldentums. Mit der Überwindung der als gegnerisch beschriebenen Natur Mittelasiens trugen die Autoren ebenso zu der übergeordneten Erfolgs- und Fortschrittserzählung über die imperiale Expansion bei.

4.4 Schlussfolgerungen In den Memoiren, Reise- und Teilnahmeberichten ist das westliche Turkestan überwiegend am Rand des Imperiums verortet worden. Für einzelne Regionen existierte im gesamten Untersuchungszeitraum eine große Bandbreite an Zuschreibungen. Diese reichten von einer engen Anbindung an das Reich und einer umfassenden Vertrautheit mit der jeweiligen Gegend bis hin zu Beschreibung von Bedrohung, Gefahr und völliger Unbekanntheit einzelner Gebiete. Vor allem die Natur des südlichen Mittelasiens wurde vielfach als für den Menschen hinderlich oder bedrohlich dargestellt, worauf bereits Hofmeister in seiner Untersuchung des russischen Turkestan-Diskurses hingewiesen hat.159 Wasserlose Steppen, Sandwüsten mit Wanderdünen, reißende Flüsse, Untiefen in den Küstengewässern des Kaspischen Meeres sowie des Aralsees oder die unübersichtliche Bergwelt mit hochgelegenen Pässen und schwer zugänglichen Tälern stellten den notwendigen Hintergrund dar, vor dem sich die an der Eroberung, Erforschung und Erschließung beteiligten Soldaten, Forscher und Beamte durch die erzählerische Überwindung des Naturraumes persönlich und als Teil einer Gruppe auszeichneten. Für ihre postulierten Leistungen forderten sie für sich, ihre Kammeraden und Kollegen von ihren Lesern die Anerkennung als Helden ein.

159 Vgl. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 238–245.

Schlussfolgerungen

Hierbei setzten vor allem die Militärs die Natur als Gegner als eine von zwei Reaktionen auf den eingangs angesprochenen zeitgenössischen Vorwurf „leichter Siege“ ein. Auf die zweite Reaktion – die Selbstauszeichnung im militärischen Kampf – wird im Kapitel 6 eingegangen. Die Figur diente den Autoren auch als Kompensation gefechtsarmer Militärkampagnen160 , militärischer Niederlagen und des im Verlauf des Jahrhunderts zunehmenden Mangels an Möglichkeiten zur individuellen Selbstauszeichnung. Zudem war die Natur als Gegner dazu geeignet, die Selbstauszeichnung in dem militärischen Kampf zu ergänzen oder zu erweitern. Für Akteure mit zivilen Aufgaben in Erforschung oder Erschließung der Region ermöglichte die Figur die Anschlussfähigkeit ihrer autobiografischen Erzählung an den quantitativ deutlich größeren Diskurs der Militärs. Der hier herausgearbeiteten Naturdarstellung lag ein anthropozentrisches Weltbild zugrunde, dessen Anfänge sich laut Groh und Groh bis in die antiken und frühchristlichen Naturvorstellungen zurückverfolgen lassen. Demnach sei die Natur ein Objekt, das der menschlichen Verfügbarkeit und Ausbeutung unterliege. Diese Auffassung sei mit dem Glauben an die Zweckmäßigkeit eines göttlichen Weltenplanes, der Unerschöpflichkeit der Natur und deren Nützlichkeit für den Menschen verknüpft gewesen. Im Kern habe sich diese Sichtweise, so die Autoren weiter, bis in die Neuzeit erhalten. Ab Mitte des 16. Jahrhunderts, mit dem einsetzenden, technischen Fortschritt und dem naturkundlichen Erkenntniszuwachs entstanden bis in das 19. Jahrhundert hinein Fortschrittsoptimismus und technische Machbarkeitsvorstellungen, welche die Beherrschbarkeit der Natur durch den Menschen betonten. Nur in wenigen Ausnahmen erschien die Natur Turkestans nicht als passives Objekt. Bei Sorokin bedrohte sie erzählerisch in Form von Wüstensand und Sandstürmen aktiv menschliche Kulturgüter in Gestalt historischer Ruinen oder Postkutschenstationen. Ivčenko sah gar sich selbst während Sandstürmen von Verschüttung bedroht.161 Im Zuge der europäischen Industrialisierung des 18. und 19. Jahrhunderts entkoppelte sich der menschliche Lebensrhythmus zunehmend von der Natur. Für den Tagesablauf der sich entwickelnden Industriearbeiterschaft in den naturferneren, urbanen Zentren, mit ihrer künstlichen Straßenbeleuchtung, wurde schließlich der Arbeitsrhythmus der Fabriken maßgebend. Die aus dem angesprochenen, technischen Fortschritt generierten, praktischen Alltagsanwendungen erleichterten und verlängerten das Leben zunehmend und schufen bis dahin ungekannten Komfort. Zu dem sich parallel entwickelnden Glauben an die Überwindbarkeit der natürlichen Begrenzungen des menschlichen Lebens trugen nicht zuletzt die Fortschritte 160 Auf diesen Punkt hat auch Matveev hingewiesen. Allerdings beschränkte er seine Aussage auf Schriften über die Chiva-Kampagne. Vgl. Matveev: Perceptions, S. 284–286. 161 Vgl. Ruth Groh/Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur. Frankfurt/M. 1991, S. 7–8, 60–67.

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eines Louis Pasteur oder eines Robert Koch in der Bakteriologie und Infektionslehre bei.162 Parallel verlief die Entdeckung und Erforschung in den europäischen Gesellschaften noch unbekannter Weltregionen. Natur wurde erfasst und gegliedert, geordnet und zerlegt. Neben den scheinbar übermenschlichen Leistungen einzelner Entdecker, schufen vor allem die aufkommende Dampfschifffahrt und das sich ausbreitende Eisenbahnnetz eine sich steigernde Vorstellung von Überwindbarkeit und Kontrolle zuvor unübersehbarer Räume. Wenn Autoren wie Šnitnikov dagegen einzelne Gebiete Turkestans als Terra incognita abgebildet haben, dann widersprach das nicht der allgemeinen Entwicklungstendenz. Vielmehr verdeutlichte es den Versuch, die bekannte Erzählweise des heldenhaften Entdeckers, trotz ihrer sinkenden Glaubwürdigkeit, für die eigene Selbstdarstellung nutzbar zu machen.163 Darüber hinaus scheinen die aufgezeigten negativen Naturdarstellungen an eine sich von westeuropäischen Vorstellungen lösende, russische Landschaftsästhetik anschlussfähig, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der russischen Literatur und Malerei herauszubilden begann. Bis in die 1840er Jahre fand vom Spätwerk Puškins über die Schriften Gogol’s und Lermantovs eine Umdeutung der bis dahin vorwiegend negativ charakterisierten flachen Steppen, dichten Wälder und des rauen Klimas West- und Zentralrusslands statt. Die flache Steppe wurde zur unermesslichen Weite. Aus erschreckender Einöde wurde angenehme Einsamkeit. Die von historischen Überresten freien, russischen Räume wurden nun als unberührt und voller Potentiale gesehen. War die Natur zuvor vor allem „betrachtet“ worden, „erlebten“ die Protagonisten in den Werken Turgenevs diese nun in direkter, aktiver Auseinandersetzung mit ihr. An die Stelle arkadischer Hirten oder einer fröhlichen Landbevölkerung in Schriften des 18. und frühen 19. Jahrhunderts war nun eine dezidiert russische, hart arbeitende Bauernbevölkerung getreten, die sich in ihrer permanenten Auseinandersetzung mit der Natur durch Tugenden wie Tatendrang, Selbstbehauptungswillen und sozialen Zusammenhalt auszeichnete.164 Diese Aspekte fanden in der russischen Malerei der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beispielsweise in den Werken von Ivan Šiškin und Il’ja Repin ihren Wi162 Siehe auch: van Laak, der die Erkenntnisfortschritte in der Physik anspricht und auf deren Auswirkungen auf Technikentwicklung und Ingenieurwesen sowie das damit verbundene Denken eingeht. Vgl. Dirk van Laak: Weiße Elefanten. Anspruch und Scheitern technischer Großprojekte im 20. Jahrhundert. Stuttgart 1999, S. 22–25. 163 Vgl. Jörg Fisch: Europa zwischen Wachstum und Gleichheit 1850–1914. Stuttgart 2002, S. 263–265, 313, Werner Telesko: Das 19. Jahrhundert. Eine Epoche und ihre Medien. Köln u. a. 2010, S. 293–294, 305–307. Für die Entwicklung der Eisenbahn in Russland vgl. Schenk: Mobilität, S. 380. 164 Vgl. Klaus Gestwa: Der Blick auf Land und Leute. Eine historische Topographie russischer Landschaften im Zeitalter von Absolutismus, Aufklärung und Romantik. In: Historische Zeitschrift 279/1 (2004), S. 63–126, hier S. 96–98, 105–111, 114–116.

Schlussfolgerungen

derhall, die diesen Überlebenskampf des russischen Menschen herausstellten. Die Thematisierung harter, naturräumlicher Existenzbedingungen und der direkten Auseinandersetzung mit einer als feindlich beschriebenen Natur sowie die darauf aufbauende Begründung persönlicher Tugenden war also zu Beginn des Untersuchungszeitraumes in der russischen Hochliteratur bereits angelegt und fand in dessen Verlauf Einzug in Malerei und Druckmedien. Es erscheint daher wahrscheinlich, dass hierin Vorbilder für die herausgearbeitete Darstellungsweise zu sehen sind.165 Die bei Kolokol’cov oder Bogdanov aufgezeigten Charakterisierungen einzelner, „schöner“ Naturerscheinungen, in einer sonst als wild, feindlich und bedrohlich beschriebenen Umwelt, lassen sich in einem in der Neuzeit vollzogenen Umdeutungsprozess der „wilden Natur“ verorten. In dessen Verlauf wurde diese, laut Groh und Groh, in dem Maß positiver gesehen, in dem sich die menschliche Lebenswelt aus der Abhängigkeit von den natürlichen Bedingungen gelöst hat. Schließlich konnte die europäische Romantik die nun als ursprünglich wahrgenommene Bergwelt der Alpen, später des Kaukasus oder wie bei Šnitnikov des Tjan‘ Šan‘-Gebirges, als schön begreifen. Die bemerkenswerte Feststellung, dass die Natur Turkestans nicht selten dort als schön beschrieben worden ist, wo sie dem Menschen konkret von Nutzen gewesen ist, durch ihn nützlich gemacht worden ist oder in den Augen des jeweiligen Autors das Potential dazu besessen hat, verweist einerseits auf die vor-neuzeitliche Sichtweise, der zufolge nur die nützliche, gezähmte und kultivierte Natur als schön gegolten hat. Anderseits hat Hofmeister die zeitgenössische Vorstellung aufgezeigt, derer zufolge es auch darum gegangen sei, „[…] den Raum Turkestan selbst zu zivilisieren […].“166 Daher scheint es folgerichtig, dass Autoren durch positive Darstellungen darauf hingewiesen haben, wo dies beispielsweise durch Landwirtschaft vermeintlich bereits gelungen sei.167 Neben der angeführten Hochliteratur und Malerei, ist der Einsatz der Natur als Gegner als Erzählstrategie auch in der russischen Militär-Memoiristik nicht ohne Beispiel gewesen. Sherry zeigte die Verwendung einer ähnlich konzipierten Naturdarstellung in einzelnen Erinnerungen russischer Offiziere aus dem Kaukasus.168 Der ebenfalls auf Memoiristik beruhenden Analyse Takis zufolge haben russische Offiziere, die an den Kriegen mit den Osmanen vom frühen 18. Jahrhundert bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts teilgenommen haben, über Hitze, Durst,

165 Vgl. Christopher Ely: This meager nature. Landscape and national identity in imperial Russia. DeKalb, Illinois 2002, S. 5–8. 166 Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 239. 167 Vgl. Groh/Groh: Kulturgeschichte, S. 8, 93, Gestwa: Topographie, S. 93–95, Telesko: Jahrhundert, S. 294–296, Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 238–245. 168 Vgl. Sherry: Kavkaztsy, S. 191–222, hier S. 214, 216.

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Die Natur als Gegner

die schlechte Versorgungslage und damit einhergehende Krankheiten geklagt. Taki schlussfolgerte daraus unter anderem: „An emphasis on the adverse conditions of the war theatre at the expense of strategic tactical prowess of the enemy is a widespread means of denigrating the later.“169

Dies kann auch für die hier behandelten Autoren angenommen werden, die die Figur im Kontext einer Niederlage kompensatorisch eingesetzt haben. Andreeva zeigte in ihrer Studie zu russischer Reiseliteratur über Persien, überwiegend aus dem 19. Jahrhundert, eine ganz ähnliche Darstellung und Instrumentalisierung der Natur. Sie ordnete diese in einen sich im Verlauf des Jahrhunderts entwickelnden „discourse of discovery“170 ein. Durch diesen konnte der gereiste Autor sich in einen Helden verwandeln, so die Autorin weiter, der im Ringen mit der feindlichen Natur obsiegt und wertvolles Wissen in die Heimat zurückgebracht habe. Dieser Zusammenhang gilt auch für die hier untersuchten Akteure der Erforschung und Erschließung Mittelasiens.171 Auf eine ähnliche Verknüpfung einer negativen Naturdarstellung mit einer positiven Selbstdarstellung ihrer Eroberer hat Liulevicius in den Schriften deutscher Soldaten über das deutsche Besatzungsgebiet „Ober Ost“ an der Ostfront des Ersten Weltkrieges hingewiesen. Hier diente eine als kalt, nass, schmutzig und letztendlich unkultiviert dargestellte Umwelt und Natur als logische Voraussetzung für die durch die Besatzung gebrachte deutsche Kultur und Ordnung. Diese Erzählweisen besaßen demnach nicht nur innerhalb des russischen Kulturraumes Vorbilder und Parallelen, sondern waren zeitlich und räumlich weiter verbreitet. Obwohl die Autoren aus einem breiten Fundus an Vorbildern schöpften, stellt die konkrete Verwendung der herausgearbeiteten Erzählweisen und ihre Verdichtung in der Figur der Natur als Gegner in der russischsprachigen Autobiografik zu Turkestan eine eigenständige Entwicklung dar. Durch deren Verknüpfung mit weiteren spezifischen Inhalten und Erzählweisen, die in den folgenden Kapiteln dargelegt werden, betraten die Autoren in Turkestan neue Räume der russischsprachigen Autobiografik.172 Die erzählte Überwindung der als negativ und feindlich beschriebenen Natur des als abgelegen dargestellten Turkestans und die dadurch ermöglichte Selbstdarstellung als Helden beziehungsweise deren Aufrechterhaltung ist neben den 169 Taki: Sultan, S. 118. Vorbilder für die mit den russisch-osmanischen Kriegen befassten russischen Autoren sah Taki vor allem in den Berichten französischer Teilnehmer an Napoleons RusslandFeldzug. Vgl. ebd., S. 116–119. 170 Andreeva: Iran, S. 84. 171 Vgl. ebd., S. 84–85. 172 Vgl. Liulevicius: Kriegsland, S. 39, 41–46.

Schlussfolgerungen

bereits angesprochenen Begründungsweisen der Expansion ein weiteres Element der übergreifenden Erfolgs- und Fortschrittserzählung über die imperiale Eroberung Mittelasiens. Auch dieser Teil der Selbstbeschreibungen war indirekt eng mit dem Imperium verknüpft, weil viele der geschilderten militärischen und zivilen Aktivitäten von höchsten Stellen im Zentrum letztlich erdacht, autorisiert oder nachträglich legalisiert wurden. Indem die Autoren in ihren Diskursbeiträgen ihre Selbstbeschreibungen entwickelten, schrieben sie diesen Teil der Erfolgsgeschichte über das erfolgreiche Vordringen in diese Grenzregion für das Imperium beständig fort. Über den im vorausgegangenen Kapitel charakterisierten autobiografischen Diskurs erfuhr diese positive Gesamterzählung eine reichsweite Verbreitung. In dieser Verknüpfung aus Selbstbeschreibung und inhaltlicher Unterstützung der allgemeinen Erfolgserzählung liegt im Sinne der These von Aust und Schenk das kohäsive Potential des autobiografischen Diskurses. Ein weiteres Element der positiven Gesamterzählung war die Auseinandersetzung mit den indigenen Bevölkerungen, von der das nachfolgende Kapitel handelt.173

173 Vgl. Aust/Schenk: Einleitung, S. 11–12.

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5. Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

„In wenigen Minuten sind die Leichen der Feinde ausgeplündert gewesen. Außerdem sahen wir unerwartet auf den Bajonetten der Kirgisen tekinische Köpfe, sowohl die blutrünstigen, kriegerischen Instinkte der Kirgisen als auch der Turkmenen traten ungehemmt in den wilden, traditionellen Trophäen in Erscheinung.“1

Das südliche Mittelasien unterschied sich nicht nur naturräumlich von den anderen Reichsteilen. Es zeichnete sich auch durch ethnisch, kulturell und religiös andere Verhältnisse aus. Die heterogene Gesamtbevölkerung umfasste turk-, iranisch- und mongolischsprachige Volksgruppen. Voll- und halbnomadische Lebensformen existierten parallel zu urbanen Siedlungsräumen, in denen die sesshafte Bevölkerung Ackerbau, Handwerk oder Handel betrieb. Dementsprechend vielfältig waren die gesellschaftlichen Organisationsformen, die von tribalen Strukturen bis hin zu monarchischen Formationen reichten. Ein viele Bevölkerungsgruppen verbindendes Element stellte der weitverbreitete, hauptsächlich sunnitische Islam dar. Hatten durch den Handel bereits vor den 1860er Jahren langandauernde Beziehungen zwischen dem Zarenreich und den Handelszentren an der Seidenstraße in Turkestan bestanden, so brachte doch erst die militärische Expansion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine größere Zahl, in russischen Diensten stehende Akteure mit den Einwohnern des südlichen Mittelasiens persönlich in Berührung.2 Das nachfolgende Kapitel arbeitet zentrale Erzählweisen heraus, mit denen die indigenen Bevölkerungen in den russischsprachigen Texten charakterisiert worden sind. Zuerst werden die spezifischen Abbildungen von Indigenen als Gruppe und als Individuen untersucht. Daraufhin werden negative Eigenschaften und Handlungen in den Blick genommen, wie sie beispielsweise in der eingangs zitierten Passage von Arnol’di zum Ausdruck gekommen sind, und mit denen indigene Individuen, Gruppen, ihre Gemeinwesen und Lebensräume charakterisiert worden sind. Vermittels dieser Aspekte – so wird argumentiert – sind in den autobiografischen Erzählungen über sechs Jahrzehnte hinweg Fremd- und Feindbilder konstruiert und aktualisiert worden. Die unter anderem als grausam oder unterentwickelt abgebildeten Einwohner sind der erzählerische Hintergrund gewesen, vor dem die Autoren ihre positiven Selbstbeschreibungen entwickelten. Zuletzt schließt sich eine Auswertung weniger editierter Schriften von indigenen Autoren in russischer

1 Arnol’di: Zakaspijskom krae, S. 36. 2 Vgl. Paul (Hrsg.): Zentralasien, S. 42–46, 303–304, 327, 357–360, 376–384, Fragner: Zentralasien, S. 15–23, Kappeler: Kolonien, S. 139.

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Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

Sprache an. Diese funktionierten, so die hier vertretene Auffassung, als Bestätigung der russischen Sichtweisen innerhalb des autobiografischen Diskurses aus einer scheinbar indigenen Perspektive.

5.1 Indigene als Masse Im gesamten Untersuchungszeitraum wurden Indigene unterschiedlicher Ethnien häufig summierend als große Gruppen dargestellt. Parallel existierte auch eine spezifische Darstellungsweise indigener Individuen. Beide Aspekte werden im Folgenden getrennt und nacheinander untersucht, obwohl sie insgesamt zusammen gedacht werden müssen. Für die ersten Jahre der Expansion3 verdeutlicht der Text Fišers die Kollektivdarstellungen. Der Kriegsingenieur ging in seinen Aufzeichnungen über die Eroberung der Stadt Chodžent im Mai 1866 zunächst auf die Schlacht nahe des Waldortes (uročišče) Irdžar ein. Diese sei für die russischen Streitkräfte erfolgreich verlaufen. Hierbei sprach er von ihrem Gegner als „vierzigtausendköpfige Armee des bucharischen Emirs“4 , um damit dessen zahlenmäßige Überlegenheit zu zeigen. Im restlichen Text benutzte Fišer für die Verteidiger Chodžents mehrheitlich die Bezeichnung „Feind“ (neprijatel’) im Singular und Plural. Einige Male bezeichnete der Autor sie als „Chodženter“ (chodžentcy) oder, noch stärker verallgemeinernd, als „Asiaten“.5 Über eine Begebenheit während der Belagerung der Stadt berichtete er, dass ihre Schützen „irgendwelche Turbane“6 auf den Mauern unter Beschuss genommen hätten. Wenngleich Fišer den befehlshabenden General Romanovskij nach der Einnahme der Stadt von den „tapfersten Einwohnern“7 begrüßt wissen wollte, zeugten die zuvor aufgezählten Bezeichnungen von einer gleichgültigen, in allen Fällen summierenden Darstellung der Indigenen.

3 Die Verbreitung der summierenden Erzählweise über den militärischen Eroberungszeitraum hinaus verdeutlicht Šul’c. In seinem Bericht über seinen Dienst am Aralsee in den Jahren 1858 und 1859 schrieb der Marineangehörige Kasachen und Turkmenen kollektiv Eigenschaften wie Armut und negative Handlungsweisen wie das Plündern zu. Militärische Gegner fasste er sprachlich als Haufen oder zahlenmäßig weit überlegene Gruppe zusammen. Vgl. Šul’c: Plavanie, 53/5 (1861), S. 123, 127, 128, 135, 137, 144, 146. 4 Fišer: Vzjatii goroda, 1 (1873), S. 1. 5 Vgl. ebd., S. 9, 13, 15, 16, 20, 27, 30–34, 36. 6 Ebd., S. 30. 7 Ebd., S. 37. Siehe ergänzend auch den Auszug aus dem Feldtagebuch von Kolokol’cov über seine Teilnahme am Feldzug General Kaufmans 1873 gegen das Chanat von Chiva. Der Autor nutzte summierende Begriffe wie Feind, Turkmenen oder Asiaten und machte genaue Angaben zur Anzahl ihrer Gegner, um deren Übermacht darzustellen. Vgl. Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 388, 394, 24, 35, 39–42, 44, 51–55, 58, 64, 66–67, 69–70.

Indigene als Masse

Für die 1880er und 1890er Jahre ließen sich diese summierenden Darstellungsweisen beispielsweise in der Schrift Guljaevs zeigen. Dieser sprach in seinem Erinnerungsbericht über die Einnahme der Festung Geok-Tepe um den Jahreswechsel 1880/1881 in Bezug auf die Bewohner der umliegenden Oase Achal-Teke fast durchgehend von den „Tekinzen“ (tekincy).8 Diese Tekincy überfielen in Guljaevs Bericht eingangs „unsere Turkmenen“9 , wurden während der Kampfhandlungen in „Horden“10 von der russischen Artillerie verdrängt oder versuchten sich nach der Niederlage als persische Sklaven zu tarnen.11 In den meisten Fällen nutzte der Autor die Pluralform. Die passive Masse der Bevölkerung von Chiva diente am Ende seines Textes zudem als Kulisse von Schaulustigen, die dem feierlichen Empfang der siegreichen, russischen Truppen durch den Chan beigewohnt hätten.12 In den Erinnerungen Gejfel’ders und Kolokol’covs haben sich die aufgezeigten Schreibweisen ebenfalls wiedergefunden. Gejfel’der nutzte, wenn auch deutlich weniger, die verallgemeinernden und summierenden Begriffe „Turkmenen“, „Asiaten“ oder „Tekinzen“.13 Die lokalen Gegner der russischen Garnison in Vernyj fasste Kolokol’cov im Textverlauf mehrfach als „Horden“14 zusammen. Teilweise fügte er die Zusätze „asiatisch“, „wild“ oder „fanatisch“ hinzu. Ebenso quantifizierte der Autor ihre Gegner mit Formulierungen wie „einige Dutzend tausend Reiter“15 . Auch Vereščagin nutzte in seinen Erinnerungen an die Verteidigung Samarkands 1868 für die sie belagernden Gegner überwiegend die Bezeichnung „Feind“.16 In seiner Darstellung sei die russische Garnison von der „Masse usbekischer Truppen“17

8 Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 13, 19–20, 29–33, 35–36, 41, 44, 47, 51–54, 59–60, 66, 68, 73–74, 76–78, 82. 9 Ebd., S. 12. 10 Ebd., S. 41. 11 Vgl. ebd., S. 68. 12 Vgl. ebd., S. 86. Siehe auch Južakovs Gedenkschrift zum 16. Jahrestag der Einnahme Taschkents. Der Autor nutzte summierend den Begriff Feind und machte genaue Angaben über dessen zahlenmäßige Übermacht. Vgl. Južakov: Vzjatija, S. 2, 9, 11–13. 13 Vgl. Gejfel’der: Vospominanija, 54/4 (1887), S. 220, 223; 232, Gejfel’der: Vospominanija. 55/ 7 (1887), S. 208. Siehe ergänzend auch die Berichte des Forschungsreisenden Sorokin. In diesen schrieb er „den Nomaden“ kollektiv die Natur schädigende Verhaltensweisen zu oder charakterisierte „die Kirgisen“ kollektiv mit negativen Eigenschaften. Vgl. Sorokin: Puteščestvija, S. 45–46, 52, 76, Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 370, 376, 380 und Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 629. 14 Kolokol’cov: Vospominanija, S. 5. Vgl. weiter ebd., S. 12–15. 15 Ebd., S. 5. Vgl. weiter ebd., S. 12, 14. Arnol’di bestätigt die aufgezeigte Erzählpraxis für die 1880er Jahre ebenfalls. In seinem Bericht über seinen Dienst im Jahr 1877 im transkaspischen Gebiet nutze er summierend Ethnonyme wir Kirgisen und Tekinzen für die indigenen Bevölkerungen und machte Angaben zur Überzahl ihrer militärischen Gegner. Vgl. Arnol’di: Zakaspijskom krae, S. 4–5, 9, 12, 14–15, 28–29, 31, 33–38. 16 Vgl. Vereščagin: Samarkand, S. 5, 10, 14, 16, 30. 17 Vereščagin: Samarkand, S. 4.

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Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

bedrängt worden. Handgranaten seien „in den gegnerischen Menschenauflauf “18 zu werfen gewesen, den er an anderer Stelle als „undisziplinierte Masse“19 bezeichnet hat. Bei einem der zahlreichen Angriffe vernahm er das „Brüllen vieler tausend Stimmen“20 . Vereščagin stellte früh in seinem Text einer geringen Zahl russischer Verteidiger „mehr als 20.000“21 Angreifer gegenüber. Auch in den Jahren nach 190022 ist das summierende Erzählen über verschiedene Bevölkerungsgruppen Mittelasiens in den untersuchten Diskursbeiträgen enthalten gewesen. In seinen Erinnerungen an seine Dienstzeit an der südöstlichen Küste des Kaspischen Meeres, Anfang der 1870er Jahre, nutzte Gunaropulo für die indigene Bevölkerung mehrheitlich den summierenden Begriff „Turkmenen“23 . Beispielsweise erschien die lokale Bevölkerung in seinen Ausführungen über den russischen Außenposten Tašer Vat Kala nur als Gruppe. Wie die Autoren zuvor machte er überwiegend verallgemeinernde Aussagen über ganze Volksgruppen oder große Teile von ihnen. Zum Beispiel stellte er die Turkmeninnen als „sehr arbeitsam“24 dar und hielt fest, dass sie unter freieren Bedingungen lebten, als Frauen anderer „orientalischer Völker“25 . An anderer Stelle attestierte er den Turkmenen einen rachsüchtigen Charakter oder unterstellte ihnen, dass sie abergläubisch seien. Auch Gunaropulo konstruierte eine Übermacht des sie bedrohenden Gegners, als er in Bezug auf einen Überfall aus dem Jahr 1870 von 2.000 Reitern sprach.26 Am Ende seiner Erinnerungen nutzte Gunaropulo, ähnlich wie Guljaev, die Turkmenen als Kulisse. In seinem Bericht über die Enthüllung eines Gefallenendenkmales bei Krasnovodsk, zum 200. Geburtstag von Peter I.,

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Ebd., S. 16. Ebd., S.23. Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 10. Gejfel’der bezeichnete die lokale Bevölkerung in seinem Erinnerungsbericht über die Eroberung von Geok-Tepe durchgehend mit dem bereits erwähnten Begriff „Tekinzen“. Vgl. Gejfel’der: Zakaspijskoj oblasti, 75/7 (1892), S. 185, 188, 190, 195, 198, 201, 212, 215. Vgl. zusätzlich Bogdanov: Chalaata (1889), S. 439–441, 454–455, 457–458, 461–462. In seinem Bericht über einen Teil des Feldzuges gegen Chiva bezeichnete er ihren Gegner mehrheitlich summierend als „Chiviner“ (chivincy). Zudem verwendete er den Begriff Haufen und erwähnte die große Zahl gegnerischer Truppen. Trionov fasste in seinem Bericht über die Niederschlagung des Aufstandes in Kokand 1874 ihre Gegner oft mit dem Begriff „Bande“ (šajka) zusammen. Zivilisten der lokalen Siedlungen bezeichnete er summierend als „Bewohner“ (žiteli) oder „Einheimische“ (tuzemcy). Mehrfach nutzte er auch den Begriff „Sarten“ (sarty), womit er vermutlich sesshaft lebende Bewohner der Region gemeint hat. Vgl. Trionov: Kokandskago Pochoda, 3/11 (1909), S. 209–215. Vgl. umfassend Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/12 (1900). Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), S. 572. Ebd., S. 572. Vgl. Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/12 (1900), S. 1034, 1038, 1033.

Indigene als Masse

diente ihm die turkmenische Bevölkerung vor allem als staunende Masse, welche die Andacht haltenden Russen umringt habe.27 In den die 1870er Jahre umfassenden Memoiren des Generals Lomakin sind die indigenen Bewohner der Halbinsel Mangišlak am Kaspischen Meer ausschließlich als „Kirgisen“ bezeichnet worden, während der Autor die dortige russische Verwaltung beschrieben und die Vorbereitungen für den Feldzug gegen Chiva erläutert hat.28 Zudem sprach der Autor in Bezug auf dieselbe Gruppe fast ausschließlich von den „Adaevzern“ (Adaevcy), unten denen er „die zu den Unruhigsten zählenden“29 Gruppen auszumachen wusste.30 Neben diesen Bezeichnungen nutzte er auch das summierende und vereinnahmende Possessivpronomen „unsere“ (naši) in Bezug auf unterschiedliche, sich bereits in der Gefolgschaft des Russländischen Imperiums befindende Gruppen. Zudem unterschied er zwischen der friedlichen „Masse des Volkes“31 und einzelnen, gegen die russischen Anordnungen widerständige Gruppen. Als es mit diesen Gruppen zu Kampfhandlungen kam, stand besagtes „Volk“ in den Worten des Generals unbeteiligt daneben und bildete, ähnlich wie schon bei Guljaev und Gunaropulo, eine passive Kulisse für das Kampfgeschehen.32 Schließlich unterschied der Autor auch zwischen „uns feindlichen Nomaden“33 und vertrauenswürdigen Kirgisen.34 Auch Lomakin machte mehrfach genaue Angaben zur Überzahl der gegnerischen Einheiten.35

27 Vgl. ebd., S. 1046–1047. Eine ganz ähnliche Szene fand sich bei Petrovskij. In dessen Schilderung eines Essens bei einem russischen Händler in Buchara bildeten die Indigenen vor dem Fenster ebenfalls eine Zuschauermenge. Vgl. Petrovskij: Poezdka, 2/4 (1873), S. 245. 28 Vgl. Lomakin: Zakaspijskom krae, 1/2 (1911), S. 35–36, 41. 29 Lomakin: Zakaspijskom krae, 3/4 (1911), S. 73. Im dritten Teil der Memoiren variierte der Autor diesen Superlativ für dieselbe Gruppe, als er sie als die „wildesten“ und „kriegerischsten“ Adaevzy bezeichnete. Vgl. Lomakin: Zakaspijskom krae, 7/8 (1911), S. 103. 30 Vgl. Lomakin: Zakaspijskom krae, 3/4 (1911), S. 62–65, 67, 74, 76–78. 31 Lomakin: Zakaspijskom krae, 7/8 (1911), S. 103. 32 Vgl. ebd., S. 98–99, 104–106, 108, 101, 111. Das Possessivpronomen „unsere“ nutzte der Autor auch im vierten Teil seiner Memoiren, als er summierend auf Kirgisen einging, wobei er Kasachen meinte. Vgl. Lomakin Lomakin: Zakaspijskom krae, 11/12 (1911), S. 164. 33 Lomakin: Zakaspijskom krae, 3 (1913), S. 26. 34 Vgl. ebd., S. 27. 35 Vgl. Lomakin: Zakaspijskom krae, 7/8 (1911), S. 104, 106, Lomakin: Zakaspijskom krae, 3 (1913), S. 36. Siehe auch die Memoiren Fedorovs. Der Beamte verwendete in seinen Memoiren gängige ethnische und politische Gruppenbezeichnungen, wenn auch deutlich seltener. Er machte mehrfach summierende und negative Aussagen über indigene Gruppen, Moslems und die Stellung der Frauen im Islam. Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 795, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/10 (1913), S. 35, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), S. 458, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/12 (1913), S. 863. Die wenigen verallgemeinernden Aussagen über ganze Gruppe von Šnitnikov, einem Beamten der Siedlungsverwaltung, erschienen deutlich differenzierter, als bei

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Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

Abashin hat am Beispiel eines einzelnen Autors im Zusammenhang mit der Eroberung des Chanates Kokand darauf hingewiesen, dass die indigenen Bewohner Mittelasiens als „incomprehensible and anonymous mass“36 dargestellt wurden. Die vorliegende Untersuchung zeigte, dass diese Erzählweise in Texten autobiografischer Praxis über 60 Jahre hinweg enthalten war und nicht nur von militärischen Akteuren verwendet wurde. Die Autoren aus den Bereichen der Erforschung und Erschließung benutzten überwiegend gängige Ethnonyme, wie „die Turkmenen“ bei Gunaropulo oder „die Tekincy“ bei Gejfel’der. Die Kollektivdarstellungen waren weder an bestimmte Volksgruppen oder Regionen, noch an spezifische Lebensweisen oder gesellschaftliche Ordnungskonzepte geknüpft. Über die Gruppen trafen zahlreiche Autoren stark verallgemeinernde und häufig negative Aussagen, auf die im Folgenden noch eingegangen wird. Daneben tauchten summierende negative Bezeichnungen wie „Haufen“, „Horde“ oder „Masse“ bei Kolokol’cov oder Vereščagin auf. Vereinzelt aber genauso zusammenfassend wirkte die Verwendung des Wortes „Asiaten“ bei Fišer und Gejfel’der. Gleiches galt für die Zuschreibungen bei Gunaropulo, welche die betreffenden Menschen als Bewohner eines nicht näher bestimmten Orients charakterisierten. Der Logik der Kriegs-Memoiristik entsprechend nutzte beispielsweise Fišer die Pluralform „Feinde“ ausgiebig. Fast alle Autoren, die über militärische Kampagnen schrieben, hoben die scheinbar zahlenmäßige Überlegenheit ihres jeweiligen Gegners hervor. Zeitgenössisch gebräuchliche Begriffe, wie „Einheimische“ (tuzemcy) oder „Fremdstämmige“ (inorodcy), die trotz unterschiedlicher rechtlicher Implikationen, ebenso zusammenfassend wirkten und auf deren Gebrauch im Turkestan-Diskurs Hofmeister hinwies, wurden dagegen nicht vorgefunden.37 Neben ihrer Rolle als Feinde dienten die indigenen Gruppen zum Beispiel im Text Gunaropulos als staunende, schaulustige und passive Masse für als aktiv handelnd dargestellte russische Protagonisten.38

älteren Autoren. In seinem Reisebericht attestierte er den Kara-Kirgisen Kühnheit und Ausdauer, während er kirgisische Kosaken als faul und feige kritisierte. Der Volksgruppe der Taranči wies er sowohl positive als auch negative Eigenschaften zu. Vgl. Šnitnikov: Poezdki, 11/2 (1915), S. 46, 79, 124. 36 Abashin: Khoqand, S. 222. Siehe auch Babajanovs Ausführungen über die Darstellung der Einwohner Turkestans in den Schriften des in Taschkent tätigen Bildungsbeamten und Orientalisten Nikolaj Petrovič Ostroumov. Vgl. Babajanov: Russian power, S. 279–280. 37 Vgl. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 105–107. Siehe hierzu auch Kappeler: Vielvölkerreich, S. 158–159, 166–167. 38 Baberowski beschrieb das hier abgebildete Verhältnis zwischen russischen Akteuren und Indigenen als allgemeingültig für die Herrschaftsrepräsentation an Feiertagen im späten Zarenreich. Vgl. Jörg Baberowski: „Vertrauen durch Anwesenheit: Vormoderne Herrschaft im späten Zarenreich“. In: Jörg Baberowski/David Feest/Christoph Gumb (Hrsg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz.

Indigene als Masse

Andreeva hat in ihrer Studie zu russischer Reiseliteratur über den persischen Raum im 18. und 19. Jahrhundert ebenfalls den Gebrauch summierender Darstellungsweisen festgestellt. Die von ihr untersuchten russischsprachigen Autoren haben auch stark verallgemeinernde und negative Aussagen über die „Perser“ getroffen. Wie bei Fišer, Gejfel’der und Gunaropulo, so die Autorin weiter, hätten die russischen Akteure von Beobachtungen der Perser als Gruppe ausgehend Schlussfolgerungen auf die „Asiaten“, „Orientalen“ oder „Muslime“ als Ganzes gezogen. Die summierende Darstellungsweise in der russischsprachigen Autobiografik über Turkestan erscheint somit als Teil des zeitgenössischen Erzählens russischer Autoren über fremde Kulturen in Asien.39 Innerhalb der autobiografischen Erzählungen führte die summierende Darstellungsweise zu einer allgemeinen Komplexitätsreduktion der meist vielschichtigen sozialen, ethnischen, religiösen und politischen Verhältnisse in den indigenen Gesellschaften. Während sich die starken Vereinfachungen für die 1860er und frühen 1870er Jahre auch mit einem allgemeinen Wissensmangel begründen lassen, entfällt dieses Argument mit der fortschreitenden Erforschung und Wissensverbreitung ab den 1870er Jahren. Die gewonnene Eindeutigkeit erleichterte dagegen bis zuletzt die Konstruktion von klaren Fremd- und Feindbildern, von denen sich die Autoren in ihren autobiografischen Schriften abgrenzen konnten. Mit Moser und Wendt gesprochen, unterstützt die summierende Darstellung damit die sprachliche Konstruktion der Dichotomie zwischen einer Wir-Gruppe auf Seiten der Eroberer und einer Gruppe der „Anderen“ auf Seiten der Eroberten. Diese Dichotomie bedarf, so die Autoren, einer permanenten Stabilisierung und Aktualisierung. Im vorliegenden Zusammenhang wurde diese Aktualisierung durch die im gesamten Untersuchungszeitraum wiederholte Darstellungsweise gewährleistet. Hofmeister hat bereits auf das Bestreben der russischen Eliten in Turkestan hingewiesen, die angesprochene Differenz zu den Indigenen aufzubauen und aufrechtzuerhalten. Allerdings verdeutlichen die hier gezeigten Befunde eine größere Vielfalt summierender Darstellungsformen für die sprachliche Konstruktion der indigenen Bevölkerungsgruppen, als von ihm angenommen.40

Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich. Frankfurt/M., New York 2008, S. 18–37, hier S. 31–32. 39 Vgl. Andreeva: Iran, S. 124. 40 Vgl. Christian Moser/Daniel Wendt: „Das Barbarische – ein Grenzbegriff der Kultur. Einleitung“. In: Carla Dauven-van Knippenberg/Christian Moser/Daniel Wendt (Hrsg.): Texturen des Barbarischen. Exemplarische Studien zu einem Grenzbegriff der Kultur. Heidelberg 2014, S. 7–27, hier S. 13–14, Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 95–96.

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5.2 Indigene als Individuen Die summierende Abbildungsweise stand in engem Zusammenhang mit der parallel ebenso vorhandenen, spezifischen Darstellungsweise von indigenen Individuen. Beides fand sich häufig in demselben Text. Für die frühen Jahre der Expansion gibt Kolokol’covs Text darüber Aufschluss. Bei ihm waren es nur wenige, herausgehobene Persönlichkeiten, die als einzelne Figuren in seinem Text eine gewisse Deutlichkeit in ihrer Darstellung erlangten. Auf dem russischen Vormarsch gegen Chiva habe sie bei Chazarasp ein Gesandter des Chans getroffen, den der Autor nur als „Alte[n] Chivinze[n]“41 (starik-chivinec) charakterisiert hat. Eine genauere Beschreibung, beispielsweise seiner äußeren Erscheinung, fand nicht statt. Die verbale Interaktion mit diesem Gesandten paraphrasierte der Autor. In einer weiteren Szene, kurz vor der Ankunft der russischen Truppen in Chiva, bildete Kolokol’cov den Onkel und den Bruder des Chans von Chiva im Gespräch mit General Kaufman schriftlich ab. Auch dieses Gespräch paraphrasierte der Autor nur, wodurch er erneut der sichtbare Mittler zwischen den indigenen Figuren und dem Leser blieb. Der Autor ließ nicht unerwähnt, dass er während des Gespräches sowohl nahe bei Kaufman als auch nahe bei dem Bruder des Chans gestanden habe. Er inszenierte sich damit nahe dem Zentrum des Ereignisses. Eine separate Beschreibung der äußeren Erscheinung des Onkels und Bruders fand nicht statt. In dem dem Gespräch vorausgehenden Bericht über das Eintreffen der Verwandten des Chans wurden Statusattribute wie „prachtvolle“ Pferde oder „elegante“ Sättel der gesamten Gruppe der indigenen Deputierten zugeordnet. Insgesamt lieferte der Autor dem Leser ein distanziertes und unscharfes Bild dreier indigener Persönlichkeiten, das er teilweise dazu genutzt hat, sich selbst in Szene zu setzen.42 Der Bericht Petrovskijs über seine Reise nach Buchara enthielt ebenfalls zwei bemerkenswerte Beschreibungen herausgehobener indigener Personen. Anders als in dem vorangegangenen Beispiel konzentrierten sich diese nicht nur auf einige äußere Merkmale und wirkten weniger schematisch. Im Verlauf des Textes fertigte Petrovskij eine deutlich negative Beschreibung des bucharischen Gesandten Mirachur, seines Reiseführers und ständigen Begleiters, in zahlreichen Beispielen an. Der Autor berichtete zunächst, dass der Gesandte verschiedentlich mit seinem Ansehen bei der russischen Führung geprahlt habe. Weiter unterstellte er ihm mehrfach Unaufrichtigkeit. Bei einem Treffen mit dem Bek von Čirakči habe

41 Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 65. 42 Vgl. ebd., S. 67. Siehe auch die verhältnismäßig unscharfen Darstellungen weniger herausgehobener Figuren bei Šul’c. Der Autor beschrieb lediglich den Hofminister des Chans von Kungrad, Šach Nijaz, genauer. Insgesamt war die Darstellung der Indigenen von Armut, Gebrechlichkeit und Gewalt gekennzeichnet. Vgl. Šul’c: Plavanie, 53/5 (1861), S. 123, 141, 147.

Indigene als Individuen

Mirachur zunächst auf Turk seine Zuneigung für die Russen erklärt, um daraufhin auf Persisch das Gegenteil zum Ausdruck zu bringen. Ein ähnliches Verhalten erwähnte der Autor für ein Treffen mit bucharischen Händlern. Petrovskij stellte den Gesandten als argwöhnisch dar, als er ausführte, wie dieser seine Bediensteten verdeckt nach den wahren Gründen seiner Reise ausgefragt habe. Mit weiteren Beispielen charakterisierte Petrovksij Mirachur als hinterlistig. Einmal habe dieser seinen Gepäckwagen auf einen Umweg vorausgeschickt, sodass dem Autor drei Tage frische Wäsche gefehlt habe. In Buchara selbst erhielt Petrovskij nach eigener Aussage durch den Gesandten ständig ein Ehrengeleit, was ihn bei seinen Erkundigungen eingeschränkt habe. Ein anderes Mal erwähnte der Autor eine Absage für eine Exkursion von Buchara nach Čardžui. Schließlich beschrieb Petrovskij einzelne Beziehungen des Gesandten vor Ort als negativ, beispielsweise die zu Bij Magomeddi.43 Diese hochgestellte, zivile und militärische Führungsperson skizzierte der Autor in der zweiten Texthälfte sehr kompakt. Petrovskij beschrieb dessen Aufstieg und Ämter, seine Herkunft und familiären Status und lieferte eine Einschätzung seines Charakters sowie seines Einflusses auf den Handel. Im Gegensatz zu seiner Darstellung Mirachurs enthielt dieses Portrait auch positive Wertungen, war aber insgesamt von geringerem Umfang.44 Andere indigene Personen blieben in der Darstellung des Autors ähnlich schemenhaft, wie bei dem vorangegangenen Autor. Diese auf Würden- und Funktionsträger konzentrierte Darstellungsweise indigener Individuen ist in den 1880er45 und 1890er Jahren erhalten geblieben. Der Naturforscher Ošanin charakterisierte in seinem Text über eine Expedition in den Pamir im Jahr 1878 recht ausführlich seinen lokalen Führer. Der Autor bezeichnete ihn als Karakirgisen mit dem Namen Čin-kara aus einem Winterlager bei Kičik-karamuk. In den Worten Ošanins besaß er die notwendige Ortskenntnis. Der Autor hielt ihn jedoch für einen „richtigen Räuber“46 (nastojaščij razbojnik), dem er unterstellte, mehr als einmal auf Raubzug gewesen zu sein. Er lobte jedoch auch seine Ausdauer und attestierte ihm eine „eiserne Natur“47 . Čin-kara habe keine Pelzjacke getragen und sei bei Eis und Schnee auch Mitte September noch baden

43 Vgl. Petrovskij: Poezdka, 2/4 (1873), S. 216, 219, 226, 233, 242–243. 44 Vgl. ebd., S. 241. 45 Vgl. auch Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 11, 12, 85. Er portraitierte ebenfalls nur hochgestellte Persönlichkeiten, etwa den Vorsteher einer bucharischen Festung oder den Chan von Chiva. Dabei paraphrasierte der Autor zumindest ein Gespräch mit dem Vorsteher und wies den Figuren sowohl negative, als auch positive Eigenschaften und Handlungen zu. 46 Ošanin: Muk-su, 16/1 (1880), S. 42. 47 Ebd., S. 42.

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gegangen. Ošanin gab weder direkte noch indirekte Äußerungen seines Führers wieder.48 Vereščagins Beschreibung der Verteidigung Samarkands ist, bedingt durch die erzählte Situation, vor allem auf die russischen Akteure fokussiert gewesen. Erst kurz vor dem Schluss seines Textes berichtete der Autor über einen namenlosen Boten der Belagerer, der am Tor der von den Russen gehaltenen Festung aufgetaucht sei. Äußerlich sei er ein „großer und kräftiger, bärtiger Kerl“49 (zdorovennyj borodatyj detina) gewesen, den der Autor für mutig gehalten habe und der sich in seinen Worten mit großer Würde bewegt habe. Vereščagin berichtete über seinen Auftrag, den Boten zum Kommandanten zu führen, wofür er diesem die Augen verbunden habe. Anders als in bisherigen Darstellungen, ließ der Autor den Boten hier direkt zu Wort kommen, als er dessen Erwiderung auf einige beruhigende Worte seinerseits in einer einheimischen Sprache50 wiedergab. Der Bote habe ihm geantwortet, dass er keine Angst habe. Die Szene endete mit der brüsken Zurückweisung der überbrachten Übergabeaufforderung durch den Kommandanten. Der Bote tauchte am Schluss des Textes nochmals unter den von General Kaufman zur Hinrichtung befohlenen Gegnern auf. Vereščagin beschrieb seine letztlich erfolglose Intervention gegen dieses Todesurteil bei dem Festungskommandanten, in der er auf das ordentliche Verhalten des Boten verwiesen habe.51 Blieb der namenlose Bote in Vereščagins Beschreibung auch schemenhaft, so war er durch seine Tätigkeit doch eindeutig als Gegner markiert. Aber anders, als beispielsweise bei Petrovskij, besaß er durch seine bemerkenswerte Physis und die ausgestrahlte Würde ein positives Profil. Die Figur bot dem Autor einerseits die Gelegenheit, sich als einer indigenen Sprache mächtig darzustellen. Andererseits ermöglichte sie ihm die Inanspruchnahme eines unparteiischen Gerechtigkeitssinnes.52 In den Jahren nach 1900 hat die geschilderte individuelle Abbildung indigener Akteure keinen starken Wandel erfahren. Auch Gunaropulo stellte nur einzelne indigene Persönlichkeiten individuell dar. Neben einigen lokalen Chanen ist es die Nichte des Kadyr-chan gewesen, die der Autor umfangreich und durchgehend positiv portraitierte. Er führte sie im Kontext einer Bewirtung in der Siedlung ihres 48 Vgl. ebd., S. 41–42. Bei Arnol’di findet sich im Zusammenhang mit der Aushebung einer Miliz für eine Expedition General Lomakins im Jahr 1877 ein kurzer Nekrolog für den indigenen Milizführer Kasum. Darin würdigte der Autor dessen Leistungen als ortskundiger Führer, Übersetzer und Vertrauensmann gegenüber der lokalen Bevölkerung und erwähnte dessen gesellschaftliche Stellung und eine erhaltene Auszeichnung. Vgl. Arnol’di: Zakaspijskom krae, S. 4–5, 17–18. 49 Vereščagin: Samarkand, S. 49. 50 Vereščagin wählte hier die bemerkenswert ungenaue Formulierung „auf Einheimisch gesagt“ (skazavši po tuzemnomu). Vgl. ebd., S. 50. 51 Vgl. ebd., S. 49–50, 54–55. 52 Die Frage der moralischen Überlegenheit der russischen Einheiten spielte bei Vereščagin mehrfach eine Rolle. Vgl. ebd., S. 19.

Indigene als Individuen

Onkels in seine Erzählung ein. Bevor er ihren Namen, Saala, nannte, beschrieb er sie als ein freundliches, „sehr anmutiges Mädchen“53 und als „junge Hausfrau“54 im Alter von 18 Jahren. Er bemerkte, dass sie unverschleiert gewesen sei und beschrieb daraufhin ausführlich ihre Kleidung mit positiven Adjektiven. Ebenso lobt Gunaropulo ihre Eigenschaften als Gastgeberin. Er hob ebenfalls positiv hervor, dass sie etwas Russisch gesprochen hätte, da sie mit ihrem Onkel als Kind eine Zeit lang auf einer russischen Marinestation gelebt habe. Wenig später wiederholte der Autor, dass Saala ein „sehr attraktiv[es] Mädchen“55 gewesen sei. Zudem gab er ein kurzes Gespräch mit ihr teils in direkter Rede wider. Darin habe Saala ihren Wunsch geäußert, wieder unter Russen auf der Marien-Station leben zu wollen. Zudem zitierte er sie mit den Worten: „Der Russe ist gut […]“.56 In einer folgenden Szene erzählte Kadyr-chan dem Autor über die Todesumstände seines Bruders, dem Vater von Saala. Bei der Verabschiedung kontrastierte der Autor die erneut betonte Schönheit Saalas mit der sie umgebenden, als „grob“ und „wild“ beschriebenen Natur. Im Folgenden tauchte Saala erneut auf, als sie ihren Onkel für eine medizinische Behandlung zu den russischen Seeleuten begleitete. Erneut beschrieb Gunaropulo, wie sehr Saala die Anwesenheit bei ihnen geschätzt hätte.57 Eine ähnlich positive und umfangreiche Einzeldarstellung erhielt Kadyr-chan selbst, die der Autor im Zusammenhang mit ihrem Treffen und dem folgenden Aufenthalten in dessen Siedlung begann. Neben seinen guten Russischkenntnissen bestimmte er sein Alter auf 70 Jahre, erwähnte „das Brennen in den tiefen Höhlen der Augen“58 und Attribute wie klug, tapfer und ehrlich. Gunaropulo berichtete ausführlich sowohl über dessen Tätigkeiten als geachteter Richter vor Ort als auch über Kadyr-chans zehnjährige Arbeit als Mittelsmann für die russische Marinestation. Nach Ansicht Gunaropulos hätte er damit zum guten Verhältnis mit den lokalen Turkmenen beigetragen, wofür er von Zar Alexander II. ausgezeichnet worden sei. Der Autor erwähnte ebenfalls den russischen Lebensstil, den Kadyr-chan sich unterdessen angewöhnt hätte. Zu diesen ersten Ausführungen kamen im Verlauf der Erzählung noch Beschreibungen seines edlen Pferdes und der Unterkunft des Kadyr-chan hinzu, die ihn als wohlhabend abgebildet haben. Anders als seine Nichte erhielt die Darstellung Kadyr-chans auch negative Züge, als der Autor berichtete, wie dieser ihm Geld für

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Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), S. 571. Ebd., S. 571. Ebd., S. 574. Ebd., S. 574. Vgl. ebd., S. 571, 574–575, Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/12 (1900), S. 1045. Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), S. 69.

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die Tötung seines Erzfeindes angeboten hätte. Anders als im Falle Saalas, paraphrasierte der Autor die Gespräche mit Kadyr-chan nur. Deutlich kürzer aber ähnlich positiv beschrieb Gunaropulo die Figur des Atamurat-chan, welcher der Cousin des damaligen Chans von Chiva gewesen sei. Der Beschreibung eines freundlichen, älteren Herrn mit positiven Attributen folgte die paraphrasierte Wiedergabe eines Gespräches, aus dem einige biografische Fakten hervorgingen, die Atamurat-chan als pro-russisch erscheinen ließen. Noch kürzer, doch ebenso positiv, nahm sich die rein auf Äußerlichkeiten und Verhalten fokussierte Beschreibung des mit der russischen Marinestation kooperierenden Ėrgeld-chan aus.59 Bei dem zuvor genannten Erzfeind Kadyr-chans handelt es sich um einen anderen Ältesten, Dundur-chan, der das negative erzählerische Gegenstück zu Saala und ihrem Onkel bildete. Hierzu gab Gunaropulo zunächst die Geschichte vom versuchten Raub der Nichte durch Dundur-chan in den Worten ihres Onkels wider. Im weiteren Textverlauf charakterisierte er Dundur-chan im Zusammenhang mit dessen Tätigkeit auf dem russischen Militärstützpunkt Tašer Vat kala, etwas abseits der Küste des Kaspischen Meeres. Äußerlich beschrieb er ihn als groß und schmal, mit einer apathischen Physiognomie. Gunaropulo charakterisierte ihn als hinterlistig und erpresserisch. Der Autor berichtete, dass er Dundur-chan während eines persönlichen Zusammentreffens mit dem Vorwurf des Menschenraubes konfrontiert hätte. Hier bezeichnete er ihn als „grobe[n], grausame[n], zügellose[n] Wilden“60 , den er des Tötens für fähig gehalten habe. Konsequenterweise erwähnte er ihn abschließend im Zusammenhang mit einem militärischen Überfall auf den angesprochenen russischen Stützpunkt. Gunaropulo stellte somit, wie die Autoren zuvor, allerdings etwas ausführlicher, indigene Führungspersonen durch die Beschreibung ihres Aussehens, ihres Verhaltens und die Zuschreibung persönlicher Eigenschaften dar.61 In den Erinnerungen Fedorovs spielten Personenportraits eine herausgehobene Rolle. Beispielsweise stellte der Autor Seid Abdul-Achad-chan, den vorletzten Emir von Buchara, ausnahmslos positiv dar. In seinen Worten habe der Emir über eine ausgezeichnete religiöse Bildung verfügt und sein Leben nach der islamischen Tradition geführt. Er sei selbst für westeuropäische Fürsten ein vorbildhafter Herrscher gewesen, der beispielsweise die Todesstrafe nicht mehr verhängt hätte. Als Freund Russlands sei er, so der Autor weiter, den Zaren Alexander II. und Nikolai II. treu

59 Vgl. ebd., S. 569–570, 573–574, 580, Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/12 (1900), S. 1040. 60 Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), S. 579. 61 Vgl. ebd., S. 574, 578–579, Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/12 (1900), S. 1034. Vgl. auch Bogdanov, der einige indigene Führer und Gegner schemenhaft mit wenigen äußeren Attributen beschrieb. Häufig ohne Namen oder eigene Sprecherrolle erschienen diese sowohl positiv als auch negativ. Vgl. Bogdanov: Chalaata (1902), S. 440, 447, 450, 454–455, 458.

Indigene als Individuen

ergeben und verhandlungsbereit gewesen. Der Emir habe im Austausch mit den Russen, auch während einer Reise in das imperiale Zentrum, schnell „den großen Nutzen der Zivilisation“62 erkannt. Laut Fedorov lernte er Russisch und ließ seinen Sohn in einer St. Petersburger Kadettenanstalt ausbilden. Abschließend charakterisierte ihn der Autor als herzlichen, geistreichen, schlagfertigen und interessierten Menschen.63 Fedorov hob bei alledem hervor, dass er den Emir selbst sehr gut gekannt hätte, „[…] dank der langjährigen, nahen und persönlichen Bekanntschaft mit ihm.“64 Gegen Ende seiner Erinnerungen erzählte der Autor ebenfalls sehr positiv über den Lebensweg von Zaman-bek-Šichalibekov, den Übersetzer des Emirs, mit dem er den Emir auf einer dreimonatigen Reise in den Kaukasus und auf die Halbinsel Krim begleitet habe. Über den Übersetzer berichtet der Autor vor allem dessen Migrationsgeschichte, welche diesen während des russisch-türkischen Krieges 1877/1878 aus den russischen Kaukasus-Gebieten nach Konstantinopel, von dort im Auftrag des türkischen Sultans nach Kaschgar, zum lokalen Potentaten Jakub Bek, und nach dessen Tod schließlich in das Generalgouvernement Turkestan geführt hätte. Hier habe ihm der Zar seine Flucht als Jugendsünde erlassen, worauf er fortan der Kanzlei des Generalgouverneurs gedient habe. Der Autor betonte auch hier, dass er persönlich, „an ihn das beste Andenken bewahrt“65 habe. Er lobte ihn abschließend als klugen, guten und hilfsbereiten Muslim, der den Christen dennoch aufgeschlossen gegenüber gewesen sei.66 Direkte oder indirekte Gespräche gab Fedorov in beiden Darstellungen dieser herausgehobenen indigenen Personen nicht wider. Sind beide Darstellungen in ihrem Umfang und ihrer Komplexität denen bei Petrovskij oder Gunaropulo vergleichbar gewesen, hat vor allem das Portrait des Emirs gezeigt, dass die Darstellung indigener Würdenträger, ähnlich der bei Kolokol’cov, auch diesem Autor dazu gedient hat, der eigenen Person durch die Inszenierung einer Nahbeziehung Bedeutung zu verleihen. In dem letzten hier angeführten Reisebericht des Orenburger Realschullehrers Ivčenko, ist es ebenfalls dessen Reiseführer Masakbaj Amandaev gewesen, der im gesamten Textverlauf in verschiedenen Situationen beschrieben worden ist. 62 Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), S. 450. 63 Vgl. ebd., S. 448–450. Diesem Bild des Emirs wurden in der nachfolgenden Beschreibung des Autors von dessen Reise nach St. Petersburg 1893 weitere Details hinzugefügt, die es aber nicht wesentlich veränderten. Vgl. ebd., S. 460–464. 64 Ebd., S. 448. 65 Fedorov: Turkestanskom krae, 134/12 (1913), S. 875. 66 Vgl. ebd., S. 874–875. Auch hier erschien der Emir auf dieselbe positive Weise, wie in den vorher zitierten Textabschnitten. Siehe auch Lomakin, der wenige indigene Älteste und nur punktuell in seinen Memoiren abbildete, ohne diese näher zu beschreiben. Hierbei teilte er diese klar in ein Freund-Feind-Schema ein, wobei für ihn positiv war, wer den Russen half. Vgl. Lomakin: Zakaspijskom krae, 7/8 (1911), S. 101–102, 106, Lomakin: Zakaspijskom krae, 11/12 (1911), S. 166–167.

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Amandaev, den der Autor eingangs durch die Darstellung seines Gebets als Muslim gekennzeichnet hat, erschien im Verlauf der Erzählung in der Rolle des Helfers, der den Autor mit seinen Lebensmitteln mitversorgt hätte, als sich dessen eigener Proviant als unzureichend erwiesen habe. Amandaev habe zudem für sie beide während ihrer Pausen gekocht und sich um die Kamele gekümmert. Von ihrem Nachtlager am Brunnen Baj-Murat berichtete der Autor, dass er mit Amandaev ein Gespräch zu führen versucht hätte, obwohl beide die Sprache des Anderen nur unzureichend beherrscht hätten.67 Ivčenko nutzte seine Beschreibungen von Amandaevs Verhalten mehrfach, um sich selbst davon positiv abzugrenzen. Zu Beginn seines Textes, sie hatten das Reiseziel – die Wüste Kysylkum – bereits betreten und ein Nachtlager bezogen, berichtete er, wie sein Begleiter sich schlafen gelegt hätte. Er selbst sei stattdessen, trotz hoher Temperaturen, die Umgebung erkunden gegangen. Einige Seiten weiter berichtete der Autor, wie er bei seinen Beobachtungen in einer Senke zwischen den Dünen aufgrund der Hitze bewusstlos geworden sei. Halb unter einen Strauch gefallen, habe die Sonne die Haut einer seiner Hände verbrannt, bis er wieder zu Bewusstsein gekommen sei. Daraufhin habe er dennoch seine Beobachtungen beendet, bevor er in das Lager zurückgekehrt sei. Hier habe er seinen Begleiter schlafend vorgefunden. Gegen Ende ihrer Reise beschrieb der Autor, wie er ein Wegstück zu Fuß zurückgelegt habe, um Dünen zu vermessen und ein Schema anzufertigen. Unterdessen drängte ihn sein Führer auf verschiedene Weise zur Eile. Ivčenko notierte: „Ungeachtet seiner Unzufriedenheit, gebe ich ihm nicht nach.“68 In allen drei Beispielen erschien Amandaev als passiv und den Zielen seines Auftraggebers gegenüber uninteressiert. Der Autor beschrieb sich in deutlicher Abgrenzung zu seinem Begleiter als leistungsfähigen und unbeirrbaren Forscher, der seine wissenschaftlichen Ziele verfolgt und dabei sogar seine Gesundheit riskiert hätte. Ivčenko nutzte die Individualdarstellung seines indigenen Begleiters somit ganz ähnlich, wie Vereščagin, zur Selbstauszeichnung. Trotz der drei genannten Beispiele blieb die Beschreibung Amandaev als Gehilfe insgesamt positiv. Andere indigene Personen erhielten in seinem Text keine vergleichbare individuelle Abbildung.69

67 Vgl. Ivčenko: Kizyl-kum, 52/1 (1916), S. 73, 77, 80, 90. 68 Ebd., S. 90. 69 Vgl. ebd., S. 74, 80, 87, 90. Ein weiteres Beispiel der positiven Abgrenzung findet sich in Ivčenkos Beschreibung ihres Nachtlagers bei Bukan-tau. Vgl. ebd., S. 86–87. Siehe zudem Šnitnikov. Der Beamte der Siedlungsverwaltung portraitierte in seinem Reisebericht seinen indigenen Führer Kudakel’dy Kyldaev ausführlich und positiv. Hierbei paraphrasierte der Autor dessen Aussagen. Indem er berichtete das sein Führer bereits für den deutschen Alpinisten und Geographen Gottfried Merzbacher vor Ort tätig gewesen ist, versuchte er seiner eigenen Expedition durch die konstruierte Verbindung Bedeutung zu verleihen. Vgl. Šnitnikov: Poezdki, 11/2 (1915), S. 46, 56, 66, 145, 148.

Indigene als Individuen

Parallel zur Kollektivdarstellung von Indigenen war deren individuelle Einzeldarstellung im gesamten Untersuchungszeitraum verbreitet. Häufig fanden beide Abbildungsweisen in ein und demselben Text statt. Dabei haben die Autoren in allen Zeitabschnitten überwiegend herausgehobene Funktions- oder Würdenträger in den Blick genommen. Deutlich wurde dies beispielsweise an Kolokol’covs Beschreibung des Onkels und Bruders des Chans von Chiva oder an Fedorovs Darstellung des Emirs von Buchara. Die jeweilige Darstellungsweise reichte mit vielen Abstufungen von mit wenigen Attributen und Handlungen charakterisierten Individuen bis hin zu sehr umfangreichen und komplexen Personenportraits. Das zuerst genannte Ende dieses Spektrums hat sich beispielsweise bei Vereščagin gefunden. Das Gegenteil ist bei Petrovskij oder Gunaropulo deutlich geworden. Wie die genannten Autoren gezeigt haben, sind beide Enden des Spektrums weder an eine bestimmte Autorengruppe, noch an eine spezifische Publikationsform gebunden gewesen. Indigene Individuen sind selbst in den komplexeren Personenportraits selten eigenständig in direkter Rede zu Wort gekommen. Der Bote bei Vereščagin oder die Nichte Saala des Kadyr-chan bei Gunaropulo stellten Ausnahmen dar. Einige Autoren paraphrasierten die Gespräche mit ihrem indigenen Gegenüber zumindest, wie beispielsweise Petrovskij. Erneut hat der Vergleich dieser Befunde mit den Ergebnissen der Studie Andreevas zu der russischsprachigen Reiseliteratur über den persischen Raum deutliche Parallelen ergeben. Auch in ihren Quellen aus dem gesamten 19. Jahrhundert sind es vor allem Herrscher oder Stammesfürsten gewesen, auf die die russischen Reisenden näher eingegangen sind. Während Andreeva diesen Befund allgemein mit der aristokratischen Abstammung und dem höheren Bildungsstand der abgebildeten, persischen Persönlichkeiten erklärt hat, die den russischen Reisenden „zivilisierter“ und daher akzeptabler erschienen seien70 , scheint die Frage nach der Funktion der Darstellungsweise im autobiografischen Erzählzusammenhang weiterführend. (1) Die zahlreichen neutralen bis negativen Einzeldarstellungen ermöglichten die detaillierte Ausgestaltung der Feindbilder, die ganze Gruppen betrafen. Die verschiedenen gegnerisch, feindlich oder fanatisch dargestellten Indigenen bei Petrovskij, Vereščagin oder Gunaropulo haben das gezeigt. Die Abgrenzung gegen diese so charakterisierten Gegner, Feinde und Fanatiker war Teil der bereits im vorangegangenen Abschnitt angesprochenen Konstruktion der eigenen Wir-Gruppe und ihres Gegenstücks. Darüber hinaus rechtfertigten die dargestellten Gegner und Feinde die eigenen Kriegshandlungen, beziehungsweise jene der eigenen Gruppe, worauf im Kapitel 6.3 noch eingegangen wird.71

70 Vgl. Andreeva: Iran, S. 124. 71 Vgl. Moser/Wendt: Das Barbarische, S. 13–14.

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Mit den positiv dargestellten Indigenen ließen sich (2) Fortschritt und Erfolg der russischen Eroberung, Erforschung und Zivilisierung in Mittelasien in die eigene autobiografische Erzählung anschaulich einbinden. Die positiv dargestellten Indigenen waren auf je eigene Weise pro-russisch. Sie (a) setzten sich entweder für die russischen Interessen vor Ort ein oder standen ihnen wohlwollend gegenüber, wie der Emir von Buchara bei Fedorov oder wie die verschiedenen lokalen Bijs und Chane bei Gunaropulo. Oder sie (b) dienten speziell den Zielen des jeweiligen Autors, wie die Reiseführer bei Ošanin und Ivčenko. Alternativ (c) sprachen diese positiven Beispiele mindestens teilweise Russisch und standen der russischen Kultur und Lebensweise aufgeschlossen gegenüber, wie das vor allem Kadyr-chan und dessen Nichte Saala bei Gunaropulo verdeutlichten. Darüber hinaus dienten die indigenen Individuen den Autoren auf unterschiedliche Weise dazu, (3) sich selbst auszuzeichnen. Vereščagin nutzte das wiedergegebene Gespräch mit dem Boten auch dazu, seine Kenntnis indigener Sprachen hervorzuheben. Ivčenko stellte seine als riskant beschriebene Forschungsarbeit der Darstellung seines schlafenden Reisebegleiters Amandaev gegenüber und zeichnete sich damit als mutigen und leistungsbereiten Wissenschaftler aus. (4) Schließlich ermöglichten die indigenen Individuen den Autoren die Abbildung oder Konstruktion bestimmter Nahbeziehungen, durch welche sie ihre Selbstdarstellung aufzuwerten versuchten. Bereits Kolokol’cov schien es wichtig gewesen zu sein, bei dem Zusammentreffen mit dem Onkel und Bruder des Chans von Chiva hervorzuheben, dass er unter anderem unweit des Bruders des Chans gestanden habe. Deutlicher wurde der Zusammenhang in dem Personenportrait des Emirs von Buchara bei Fedorov.

5.3 Negative Charakterisierungen Im gesamten Untersuchungszeitraum ordneten Autoren sowohl ganzen Gruppen als auch einzelnen Personen der indigenen Bevölkerungen Turkestans negative Eigenschaften zu, die im Folgenden näher betrachtet werden. Für die Phase unmittelbar vor der militärischen Expansion lohnt der Blick in den Text von Šul’c. Gleich zu Beginn seiner Erinnerungen beschrieb der Seemann die Armut (niščeta) der lokalen Bevölkerung. War es zunächst ein einzelner Reiter, den man aufgrund seiner ärmlichen Kleidung keinem Stamm zuordnen konnte, so schilderte er im Folgenden ganze Siedlungen (auly) der Kirgisen, respektive Kasachen, und Karakalpaken an den Ufern im Delta des Amudarja auf seiner Vorbeifahrt als in „Lumpen“72 (lochmot’ja) gekleidet und in abgenutzt wirkenden Hütten und

72 Šul’c: Plavanie, 53/5 (1861), S. 127. Vgl. auch Šul’c: Plavanie, 53/5 (1861), S. 123.

Negative Charakterisierungen

in schmutzigen Siedlungen wohnend. An anderer Stelle seien einige Indigene, in seinen Worten, „im Anzug des Urvolkes: völlig nackt“73 aufgetreten. Im weiteren Verlauf erschien Šul’c das Fragen der Bevölkerung am Ufer, wohin die Reise der russischen Flottille ginge, als „zudringlich“ (dokučlivyj). Zugleich berichtete er über die Angst der Menschen vor ihrem Boot und dessen Kanonen und nannte sie „feige Beobachter“74 . Als sie an Land, bei Kungrad, direkt auf die lokalen Bewohner trafen, erwähnte der Autor ihr „Staunen“ (udivlenie) über alles, was mit den russischen Schiffen verbunden gewesen sei.75 Der Militär Šul’c sorgte sich mehrfach vor „Fallen“76 (zapadni) der Truppen Chivas, die er „in Asien“77 für sehr möglich gehalten habe. Dagegen haben ihn und seine Kameraden die „wütenden Schreie und die stumpfsinnigen Bewegungen“78 chivinischer Einheiten und ihre veraltete Bewaffnung belustigt, auf die sie im Vorüberfahren getroffen seien. Den Fund einer gehäuteten Leiche, dessen Henker er als „Barbaren“79 bezeichnete, brachte der Autor mit dem Chan von Chiva in Verbindung. Er paraphrasierte zudem Aussagen eines ehemaligen Gefangen Chivas, wonach dessen Häscher versucht hätten, ihn zu vergiften. Den Turkmenen unterstellte er zudem, sich nicht mit Landwirtschaft, Viehzucht oder Handel zu befassen, sondern hinterlistige Räuber zu sein, die auch Enthauptungen durchführen würden. Diese Vorwürfe gegen den Chan von Chiva und die Turkmenen wiederholte der Autor am Ende seines Textes indirekt, als er über die Rückeroberung des von ihnen besuchten Kungrads durch Chiva berichtete. Die Einheiten Chivas hätten, so habe man ihnen berichtet, einerseits den lokalen Usurpator Magomet Fana und dessen Gefolgsleute getötet. Andererseits wäre der Chan „bis zu den äußersten Grenzen der Barbarei“80 gegangen und hätte der schwangeren Frau Fanas den Bauch öffnen lassen, um dessen ungeborenen Nachkommen töten zu lassen.81 Šul’c beschrieb die indigene Zivilbevölkerung einerseits als arm, in ihrer Entwicklung zurückge-

73 Ebd., S. 135. Siehe auch weitere auf die Armut verweisende Beschreibungen im Text von Šul’c. Vgl. ebd., S. 144–145. 74 Ebd., S. 135. 75 Vgl. ebd., S. 145. 76 Ebd., S. 124. 77 Ebd., S. 146. 78 Vgl. ebd., S. 137. 79 Ebd., S. 140. 80 Ebd., S. 153–154. 81 Vgl. ebd., S. 123, 137, 140, 146. Siehe auch Fišer, der die Soldaten und Verteidiger in Nau, Ura Tjube und Chodžent auch der Feigheit und Hinterhältigkeit bezichtigte. Zudem erwähnte er mehrfach die schlechte Bewaffnung der bucharischen Truppen. Vgl. Fišer: Vzjatii goroda, 1 (1873), S. 3, 14, 17, 20, 37.

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blieben, zudringlich und feige. Andererseits fürchtete er sich vor Hinterhalten der bewaffneten Einheiten, denen er barbarische Grausamkeit attestiert. In den Texten aus den 1880er Jahren tauchten die gezeigten Charakteristika wie Feigheit, Hinterlist oder barbarische Grausamkeit weiterhin auf. Južakov nutzte den Begriff „barbarisch“ in seinen Erinnerungen an die Einnahme Taschkents häufiger. Anders als Šul’c belegte der Autor damit aber nicht Handlungen von Gruppen oder einzelnen Personen, sondern charakterisierte damit Asien als Ganzes, dem er im Folgenden weitere Attribute wie „tief “ (glubokij), „verschlossen“ (zamknutyj) und „unbekannt“ (nevedomyj) beigefügt hat. Es ist allerdings anzunehmen, dass er diese Beschreibungen durchaus auch auf die Menschen in diesem Großraum bezogen hat.82 Die Bewohner und Verteidiger Taschkents beschrieb er im weiteren Textverlauf indirekt durch ihre Handlungen als feige und hinterhältig. Während des russischen Sturmangriffes seien Teile der Verteidiger in Panik geraten und geflohen. Im weiteren Verlauf der Eroberung hätten sie nachts Angriffe auf die „erschöpften russischen Truppen“83 durchgeführt.84 Barbarismus, Feigheit und Hinterhältigkeit waren bei Južakov die zentralen Charakteristika der Indigenen und ihres Lebensraumes. Arnol’di übte, wie die zuvor erwähnten, militärischen Akteure, in seinen Erinnerungen zunächst an einer kasachischen Milizeinheit Kritik. Bereits die uneinheitliche, bunte und teils indigene Bekleidung von deren Mitgliedern bezeichnete er als „Narrenposse“85 (šutovstvo). Ihr Training, das ein Untergebener des Autors durchgeführt habe, sei in seinen Worten aufgrund der „Unfähigkeit“86 der Milizionäre mangelhaft geblieben. Arnol’di beschwerte sich im Folgenden über das unkameradschaftliche Verhalten der Milizionäre, die während der Einsätze oft zuerst an den Wasserstellen eingetroffen seien und dort bereits vor den russischen Einheiten ihre Tiere getränkt hätten. In seinen folgenden Gefechtsbeschreibungen unterstellte er sowohl den kasachischen Milizionären als auch ihren turkmenischen Gegnern „blutrünstige kriegerische Instinkte“87 und somit Grausamkeit. Er berichtete, dass die Kasachen die Leichen der Gegner geplündert und deren Köpfe auf ihre Bajonette gesteckt hätten, die er als „wild[e] traditionell[e] Trophäen“88 bezeichnet hat. Anders als Šul’c oder Južakov operierte der Autor dabei nicht

82 Vgl. Južakov: Vzjatija, S. 1, 2, 3. 83 Južakov: Vzjatija, S. 13. 84 Vgl. ebd., S. 7–8, 13. Siehe auch den Reisebericht Sorokins, in dem dieser die kasachischen Nomaden und ihre Weidewirtschaft pauschal für die Ausbreitung von Wüsten in Mittelasien verantwortlich machte und sie als faul darstellte. Vgl. Sorokin: Puteščestvija, S. 45–46, 52, 80. 85 Arnol’di: Zakaspijskom krae, S. 5. 86 Ebd., S. 5. 87 Ebd., S. 36. 88 Ebd., S. 36.

Negative Charakterisierungen

mit dem Begriff des Barbarischen. Über ihre eigentlichen Gegner, die Turkmenen aus den Gebieten südöstlich des Kaspischen Meeres, berichtete Arnol’di einerseits, dass diese russische Untertanen an der Ostküste beraubt hätten. Andererseits stellte er sie als Lügner dar. In Verhandlungen hätten sie dem Rauben entsagt, ihre Raubzüge daraufhin aber dennoch fortgesetzt.89 Kasachen und Turkmenen erschienen bei Arnol’di als grausam. Erstere bezeichnete er als unfähig, unkameradschaftlich und machte sie in begrenztem Maße lächerlich. Letztere charakterisierte er als raubwütig und verlogen. In Sorokins Reisebericht über seine Expedition in das Tjan‘ Šan‘-Gebirge war es die kirgisische Bevölkerung, die der Autor negativ dargestellt hat. Von seinem Aufenthalt in Vernyj berichtete er von einem kirgisischen Familienzelt, das auf einer der Straßen gestanden hätte. Unweit hätten, laut dem Autor, nackte Kinder gespielt und Haustiere seien umhergelaufen. Über die Hausfrau des Zeltes erzählt er, dass sie sich oberkörperfrei gesonnt hätte, worüber sich aber niemand beschwert hätte. Anders als bei Šul’c, der die Nacktheit mit Armut in Verbindung gesetzt und einen Entwicklungsrückstand angedeutet hat, erschien das beschriebene Verhalten bei Sorokin als schamlos.90 Der Autor äußerte sich weiterhin mehrfach über die in seinen Augen unhygienischen und unappetitlichen Essmanieren der Kirgisen. In einer Siedlung am Fluss Merk befand sich das zu grillende Lammfleisch in einer „groß[en], schmutzig[en], hölzern[en] Tasse“91 . Hatte Šul’c allgemeiner eine ganze Siedlung als schmutzig beschrieben, fokussierte sich der Autor hier auf den Ess- und Kochprozess. Im weiteren Text erzählte er über ein gemeinsames Essen mit Dorfältesten in einer Siedlung am Fluss Taš-koga. Zunächst habe man sich die Hände gewaschen, doch anstelle eines Handtuches habe es nur einen Leinengürtel gegeben. Den Plov92 hätten die Kirgisen gemeinsam aus einigen Tassen mit den Händen gegessen.

89 Vgl. ebd., S. 12, 25, 28–29. Siehe auch die Erinnerungen Guljaevs an die Schlacht um Geok-Tepe. Darin beschrieb er die Turkmenen direkt und indirekt als dreist, hinterlistig und feige. Der Autor bezichtigte sie einer fanatischen Kampfweise und der Räuberei. Zudem warf er ihnen mit Verweis auf verstümmelte russische Soldaten Grausamkeit vor, benutzte aber nicht den Begriff „barbarisch“. Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 12, 32–33, 40–41, 60, 67–69, 86. 90 Vgl. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 370, 644. Unbekleidet umherlaufende Kinder fielen Sorokin auch im Folgenden in einer Siedlung am Fluss Taš-koga unangenehm auf. Vgl. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 644. 91 Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 380. Bereits zuvor wies Sorokin auf die Unsauberkeit eines jüdischen Dieners in einer Unterkunft in Vernyj hin. Vgl. ebd., S. 369. Der Militärmediziner Gejfel’der sprach von einer allgemeinen Unsauberkeit in ganz Asien, welche auf die russischen Truppen in Mittelasien quasi abgefärbt hätte. Indem er seine Gegenmaßnahmen hervorhob, versuchte er sich positiv herauszuheben. Vgl. Gejfel’der: Vospominanija. 55/7 (1887), S. 210. 92 Ein traditionelles Gericht, das Sorokin als gekochten Reis mit Lammfleisch beschrieb. Vgl. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 645.

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„Aber während die Kirgisen ihre Finger mit Gier in den heißen Brei steckten, aus ihm das Wasser pressend, (welches, man kann fast sagen, in schmutzigen Strömen in ihre Hände rann und wieder zurück in die Schüssel), war unsere Lage äußert kritisch, weil wir keine Löffel bei uns hatten.“93

Der Autor unterstrich sein Unbehagen über die Gesamtsituation, als er das „laute Rülpsen“94 der Kirgisen erwähnte, welches dem Gastgeber laut dem Autor das Wohlbefinden seiner Gäste signalisiert hätte. Über den für seine Begriffe mangelhaften Gebrauch von Gewürzen und Teigwaren führte der Autor aus, dass die Kirgisen davon „eine gänzlich unklares Verständnis“95 hätten. Tee, so der Autor an anderer Stelle, würde ohne Zucker getrunken.96 Auf seiner Reise berichtete der Autor ebenfalls über Armut bei und Gewalt von den Kirgisen. Beispielsweise sei einer seiner Gehilfen bei der Beschaffung neuer Reittiere von lokalen Kirgisen verprügelt worden. Der Autor beschrieb sich im Nachhinein als „standhaft“ (vyderžat’ charakter), als er das Bitten des Übeltäters, ihn dafür nicht zu melden, abgelehnt habe. An anderer Stelle bemerkte der Reisende den Hunger der Bewohner einer Siedlung und berichtete von einer Schlägerei um die von ihm gegebenen Almosen.97 Im Folgenden kritisierte der Autor den Lebensstil eines reich gewordenen Kirgisen und seiner Familie. Dieser wohnte zwar „auf europäische Art“98 in einem Haus. Seine Familie habe sich aber in den Bergen aufgehalten, „[…] wo sie den Sommer verbringt, in einer traditionellen Hütte wohnt, sich am Lagerfeuer wärmt, das Rauschen eines Bergflüsschens hörend. Von diesen Gewohnheiten werden die Kirgisen nicht schnell lassen […].“99

Eine weitere kirgisische Tradition, ein Reiterspiel mit einem toten Ziegenbock, beschrieb der Autor mit einer Mischung aus Bewunderung und Entsetzen. Als Zu-

93 Ebd., S. 645. Eine Ausnahme zu dieser Darstellungsweise findet sich bei Gejfel’der, der das Essen mit den Händen eines persischen Gesandten nicht als grob, sondern als geschickt bewertet hat. Allerdings dürfte die gesellschaftliche Stellung des Gesandten zu dieser positiven Einschätzung der Essweise beigetragen haben und daher eine Ausnahme sein. Gejfel’der: Zakaspijskoj oblasti, 75/7 (1892), S. 210–211. 94 Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 645. 95 Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 380. 96 Vgl. ebd., S. 380, Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 645. Sorokin kritisierte öfter das einseitige Essen, bestehend aus Lamm ohne Brot und Salz. Vgl. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 381. 97 Vgl. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 381–382. 98 Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 629. 99 Ebd., S. 629.

Negative Charakterisierungen

schauer „solch eines tollwütigen Galopprennens“100 berichtete er über die blutige Schlachtung des Tieres zu Beginn und über das folgende, auf ihn rücksichtslos und sehr gefährlich wirkende Spiel.101 Die Beschreibung der kirgisischen Bevölkerung reichte insgesamt von der Behauptung schamlosem Verhaltens, mangelnder Hygiene und fehlenden Essmanieren, einer traditionsverhafteten Lebenshaltung bis hin zu archaischen Bräuchen, Gewalt und Armut. Kolokol’cov beschrieb in seinen Erinnerungen eine ähnlich wage umrissene Gruppe mit negativen Verhaltensweisen. Zu den Beschäftigungen der „asiatischen Horden“102 zählte er plötzliche Überfälle und allgemeine Massaker. Wie Arnol’di nutzte er nicht den Begriff des Barbarischen und richtete seinen Vorwurf der Grausamkeit aber gegen eine ähnlich vage Gruppe wie Južakov. In seinen Worten entführten sie talentierte Männer und junge Frauen „[…] in die ewige Gefangenschaft oder verkauften sie nach Buchara, Taschkent oder Chiva […]“103 in die Sklaverei. Dieses Motiv der menschenraubenden Reiter erklärte der Autor wiederholt zum Normalzustand in der Steppe und ging damit über Arnol’dis Vorwurf gegenüber konkreten Gruppen hinaus. Im weiteren Text sprach er von „wilden“ (dikij), „zügellosen“ (neobuzdannyj) asiatischen Völkern und deren „Ordnungslosigkeit“ (bezurjadica) und führte aus, dass erst das russische Vordringen die Raubüberfälle verringert hätte.104 Raub, Mord, Wildheit und die Ordnungslosigkeit der Indigenen legitimierten für Kolokol’cov letztendlich seinen eigenen Dienst vor Ort. Diese negativen und abwertenden Beschreibungen sind in den 1890er Jahren beispielsweise bei Sjarkovskij bestehen geblieben. Der Autor, der über seine Erinnerungen an die russischen Feldzüge zwischen 1864 und 1865 in Turkestan geschrieben hat, nutzte die Figur des feigen Gegners mehrfach. So seien die Einheiten des Chanates von Kokand aus den Festungen Merk, Aulie-Ata und Čanas, in den Kämpfen bei Akbulak, Čimkent, Sara Tjube und Taschkent vor den russischen Truppen geflohen. In Merk hätten sie, so der Autor, einen toten, alten Mann und einen Jugendlichen zurückgelassen. Während des Sturmes auf Aulie-Ata, berichtete Sjarkovskij, „[…] warfen sie sich Hals über Kopf über die Mauer […]“105 . Bei dem zweiten Sturm auf Čimkent flohen die kokander Einheiten in den Worten

100 Ebd., S. 636. 101 Vgl Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 381–382, Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 634–636. Auch Petrovskij erwähnte das Spiel und seine mitreißende Wirkung auf die indigenen Zuschauer. Vgl. Petrovskij: Poezdka, 2/4 (1873), S. 223. 102 Kolokol’cov: Vospominanija, S. 5. 103 Ebd., S. 5. 104 Vgl. ebd., S. 6, 9, 11. An anderer Stelle sprach Kolokol’cov von Verwüstung (opustošenie) und Zerstörung (razrušenie) als den „Sitten dieses Volkes“. Ebd., S. 14. 105 Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 365.

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des Autors wie „eine verschreckte Herde“106 . In Taschkent saßen die Verteidiger schließlich „auf den Bäumen wie Raben“107 . Die schon bei Šul’c und Južakov unterstellte Feigheit wurde in Sjarkovskijs Darstellung noch durch das Postulat unmoralischen Verhaltens in Merk und den Verlust von Selbstachtung in Aulie-Ata ergänzt. Die Vergleiche mit dem Verhalten von Tieren in Čimkent und Taschkent rückten den Gegner, ähnlich wie bei Arnol’di, in den Bereich des Lächerlichen. Gleichzeitig würdigte der Autor den an seinen Kampfverletzungen gestorbenen Chan von Kokand als „klug“ (umnyj), „unternehmungslustig“ (predpriimčivyj) und „energisch“ (ėnergičnyj). Das ist als Versuch zu lesen, die russischen Siege durch einen als unterlegen aber geachtet dargestellten Gegner aufzuwerten.108 Auch Sjarkovskij erwähnte den Fanatismus des Gegners, als er von einem Aufruf aus Kokand zum heiligen Krieg gegen die ungläubigen Russen berichtete. Damit bezog er sich auf die religiöse Dimension des Begriffes. In seiner Erzählung über den Sturm Taschkents berichtete er zudem über nackt schlafende Verteidiger, auf die sie getroffen seien. Er erklärte dieses Verhalten zu einer „sartischen Gewohnheit“109 und markierte damit, ähnlich Šul’c, indirekt den Unterschied zwischen sich, seiner Gruppe und den Indigenen.110 Auch nach 1900111 fand sich eine vielfältige Verwendung negativer Zuschreibungen in den untersuchten Texten. Kamberg konstruierte über seine zwei Textteile 106 Ebd., S. 376. 107 Sjarkovskij: Vospominanija, 198/3 (1891), S. 163. Ganz ähnlich sprach Kolokol’cov über „schwarze Vögel“, als er über angreifende Reiter auf Vernyj berichtete. Vgl. Kolokol’cov: Vospominanija, S. 15. 108 Vgl. Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 361, 365, 369, 373, 375, Sjarkovskij: Vospominanija, 198/3 (1891), S. 160, 163. 109 Ebd., S. 162. 110 Vgl. Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 370. Siehe auch Vereščagins Erinnerungen an die Verteidigung Samarkands 1868, in denen er den Belagerern Grausamkeit vorwarf, ohne mit dem Begriff des Barbarischen zu operiere. Vgl. Vereščagin: Samarkand, S. 23, 20, 33, 46. Zum Beispiel verwies er auf enthauptete russische Soldaten. 111 Zusätzlich zu den ausführlicher dargestellten Beispiele siehe auch Gunaropulos Erinnerungen an seinen Dienst am Kaspischen Meer in den 1870er Jahren. Der Seemann attestierte den Turkmenen direkt und indirekt unkultivierte Essmanieren, einen rachsüchtigen Charakter, Hinterhältigkeit und die Neigung zu Raub und Plünderungen. Die Perser erschienen in seiner Darstellung dagegen als faul, erschöpft und schutzbedürftig. Vgl. Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), S. 572, Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/12 (1900), S. 1033–1035, 1037–1038, 1043–1044. Siehe auch Trionov. Der Autor beschrieb in seinem Bericht über den beginnenden Aufstand in Kokand in den frühen 1870er Jahren die Aufständischen als verlogen, grausam und barbarisch und berichtete von einer Entführung russischer Kinder durch diese. Vgl. Trionov: Kokandskago Pochoda, 3/11 (1909), S. 209–210, 213–215. Beachte auch Karandakovs Erinnerungen an die Schlacht bei Kuška 1885. Der Autor beschrieb die afghanischen Soldaten direkt und indirekt als überheblich, feige und hinterhältig und unterstellte ihnen religiösen Fanatismus. Vgl. Karandakov: Murgabskij otrjad, 3 (1910), S. 212–216, 219–220.

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hinweg durch die negative Charakterisierung der Turkmenen aus der Region um Geok-Tepe ein Feindbild, das dem eigenen Handeln Sinn verlieh. Zunächst berichtete er über die Raubzüge „dieses kleinen, wilden Stammes“112 , die ihm zur Begründung des von ihm berichteten russischen Feldzuges, um die Jahreswende 1880/1881 dienten. Den Vorwurf des Raubes formulierte er damit ähnlich wie Arnol’di. Anders als Kolokol’cov, bezog er die Beschreibung der Wildheit auf eine konkrete Gruppe. Die Turkmenen als Kriegsgegner schütteten in Kambergs Darstellung Brunnen zu oder vergifteten sie mit Aas. In den Beschreibungen der Belagerungsgefechte um die Festung Geok-Tepe sprach der Autor öfter nur von ihnen als „zottelige Mützen“113 , die sich mal vor den russischen Truppen während nächtlicher Gefechte versteckt, mal schlafenden russischen Soldaten die Kehlen durchgeschnitten hätten. Den Vorwurf der Feigheit teilte der Autor mit Šul’c, Južakov und Sjarkovskij. Hinsichtlich der Grausamkeit des Gegners nutzte der Autor ähnliche Formulierungen wie Arnol’di und Kolokol’cov. Laut Kamberg hätten einem getöteten russischen Offizier zudem die Stiefel gefehlt. Einen einzelnen Turkmenen, der in einer vorgelagerten Festung Widerstand geleistet habe, erklärte der Autor zum „Fanatiker“114 und formulierte damit im Sinne eines von den Gegnern fanatisch geführten Kampfes. Der indirekte Vorwurf des Diebstahls erfuhr nach der Eroberung eine Steigerung, als der Autor von Vorsichtsmaßnahmen an den Gräbern der russischen Gefallenen gegen turkmenische Grabräuberei berichtete. Kamberg bezichtigte die Turkmenen der Feigheit, der Grausamkeit, des Diebstahles und des Fanatismus. Die bei alledem von ihm geäußerte Anerkennung für ein gewisses taktisches Geschick der Turkmenen diente, wie bei Sjarkovskij, vor allem der Aufwertung des eigenen Sieges über einen dadurch nicht völlig unterlegen erscheinenden Gegner.115 In dem Bericht des Forschungsreisenden Roževic erschienen die Indigenen nicht in der Rolle des Feindes, sondern mehrheitlich in der des Gehilfen seiner Expedition. Das betraf sowohl die mit ihm reisenden Personen als auch die sie vor

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Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 1 (1906), S. 44. Ebd., S. 54. Siehe auch Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), S. 52. Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), S. 52. Vgl. Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 1 (1906), S. 46, 54, Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), S. 56. Isaak Kapeljuš (Simonova) würdigte ebenfalls ein gewisses technisches Können der indigenen Belagerer der russischen Garnison 1868 in Samarkand und attestiert ihnen gleichzeitig Undiszipliniertheit. Vgl. Simonova: Razskazy, S. 139. Karandakov gab am Ende seines Textes ebenfalls eine Würdigung der afghanischen Verteidigungsleistung eines Vorgesetzten wieder, nachdem er zuvor zahlreiche der negativen Zuschreibungen aufgeführt hatte. Vgl. Karandakov: Murgabskij otrjad, 3 (1910), S. 220. Siehe auch Lomakins Memoiren zu seiner Dienstzeit in den 1870er Jahren am Kaspischen Meer. Darin beschrieb er häufig und sehr konkret einzelne Nomadenstämme als wild und kriegerisch. Vgl. Lomakin: Zakaspijskom krae, 1/2 (1911), S. 36, Lomakin: Zakaspijskom krae, 3/4 (1911), S. 63, 73, Lomakin: Zakaspijskom krae, 7/8 (1911), S. 103, 111.

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Ort unterstützenden Einheimischen.116 Zwischen diesen und sich selbst markierte der Autor auf unterschiedliche Weise Unterschiede. Der Wissenschaftler nutzte dazu mehrfach den Wissensstand der Indigen. Über den Bek der Stadt Kurgan Tjube bemerkte er, dass dieser nicht nur Russisch sprach, sondern sich auch für die Fauna, das Arbeitsgebiet des Autors, interessierte und „[…] sich allgemein während des Gespräches völlig bemerkbar mit seinem Wissen über die zivilisierte Welt […]“117 hervorgehoben habe. Roževic drückte damit indirekt seine Überzeugung aus, dass der überwiegende Teil der indigenen Bevölkerung weder über dieses Wissen verfügte hätte, noch in dieser von ihm so bezeichneten, zivilisierten Welt leben würde. An anderer Stelle hob er aus der größeren Zahl von Bekannten seines bucharischen Reiseführers eine Person in Dušambe als lesekundig und gelehrt hervor und schränkte daraufhin ein: „Seine Gelehrsamkeit bestand hauptsächlich darin, dass er einige Bücher besaß, darunter eines mit Abbildungen von Tieren und Pflanzen (die Zeichnungen waren jenen ähnlich, welche man in Veröffentlichungen des XV. und XVI. Jahrhunderts antrifft), und in seiner Kenntnis des Korans.“118

Die Einordnung des Autors ließ zum einen keinen Zweifel daran, dass er das Wissen dieser Person für begrenzt und veraltet hielt. Zum anderen besaßen selbst dieses Wissen in der Darstellung des Autors nur wenige Indigene. Dieselbe Person stellte er im Folgenden indirekt auch als abergläubisch dar, als er berichtete, wie diese ihm aus Angst vor bösen Mächten von dem Besuch eines Ortes abgeraten habe. Über seinen bucharischen Reisebegleiter erwähnte er im weiteren Text, dass dieser Analphabet gewesen sei. Seinem Übersetzer schrieb er eine gewisse Einfältigkeit zu, als er dessen Erstaunen über die Größe der Sterne bei deren Betrachtung durch ein Teleskop erwähnte.119 Unterschiede zu der indigenen Bevölkerung beschrieb Roževic in weiteren Bereichen. Wie zuvor Sorokin erwähnte auch er, dass die Einheimischen – in seinem Fall die Bucharaer – mit den Händen gegessen hätten und Besteck, wenn überhaupt, nur für russische Gäste vorhanden gewesen sei. Da dieses aber oft unsauber ausgesehen hätte, hätten sie häufig ihr eigenes benutzt. Der Autor erzählte in diesem Zusammenhang von einem ihrer indigenen Begleiter, der sich mit einer Gabel, die

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Vgl. beispielsweise Roževic: Poezdka, 44/9 (1908), S. 603–604, 608, 612, 614, 619. Ebd., S. 616. Ebd., S. 634. Ebd., S. 604, 632.

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er für einen Kamm gehalten habe, den Bart gekämmt und behauptet hätte, dass nur Russen damit essen würden.120 Roževic machte sich zudem über eine militärische Einheit in Kuljab lustig, die er als „komische Parodie wirklicher Truppen“121 bezeichnet hat. Ähnlich den Ausführungen Arnol’dis beschrieb der Autor, dass deren Mitglieder einerseits uneinheitlich in indigene Kleidung und alte russische Uniformen, mit teils falschen Rangabzeichen, gekleidet gewesen seien. Andererseits bemerkte er, dass sie ihre Befehle in nur gebrochenem Russisch erhalten hätten und die Soldaten, parallel zu ihrem Dienst, weiteren Tätigkeiten nachgegangen seien. Schließlich bezeichnete der Autor auf seinem Weg durch das Emirat sowohl die seiner Auffassung nach unsystematischen Maßnahmen gegen Heuschrecken in der Landwirtschaft als auch eine Wassermühle als „primitiv“.122 Indem Roževic den Einwohnern des Emirates mangelnde Bildung, eine unzivilisierte Essweise, eine lächerliche Militärorganisation und teils technische Rückständigkeit unterstellt hat, hob er die Überlegenheit der eigenen Gruppe hervor. Dabei bezogen sich seine negativen Charakterisierungen nicht auf eine einzelne ethnische Gruppe, sondern auf die Untertanen eines ganzen Staates. Im gesamten Untersuchungszeitraum haben Autoren ethnisch und sozial heterogenen indigenen Individuen und Gruppen negative Eigenschaften und Handlungen zugeschrieben. Einen zentralen Vorwurf bildete die seit der griechischen Antike bekannte und mit einer an Bedeutungsverschiebungen reichen Begriffsgeschichte versehene „Barbarei“.123 Šul’c belegte mit dieser Anschuldigung explizit Turkmenen und Bewohner des Chanates Chiva, denen er grausame Handlungen wie das Enthaupten oder Leiböffnen vorwarf. Južakov wandte den Vorwurf ohne konkrete Tatvorwürfe auf ganz Asien an. Hofmeister hat mit Verweis auf ein zeitgenössisches Wörterbuch gezeigt, dass diese starke Verallgemeinerung üblich gewesen ist.124 Bemerkenswert schien dagegen, dass sowohl Arnol’di und Kamberg den Turkmenen und Kasachen als auch Kolokol’cov sehr vage umrissenen Gruppen ganz

120 Vgl. ebd., S. 607. 121 Ebd., S. 621. 122 Vgl. ebd., S. 619–620, 621, 630. Der Autor stellte seine und die allgemeine russische Überlegenheit auch am Beispiel der Musikalität dar, welche er den Bucharaern absprach. Vgl. ebd., S. 626. Siehe auch die Memoiren von Fedorov. Er beschrieb die indigenen Bevölkerungsgruppen des Generalgouvernements mittels zahlreicher Beispiele als wild, räuberisch, grausam, unsauber und rückständig. Zudem unterstellte er ihnen religiösen Fanatismus. Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 798, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/10 (1913), S. 49, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), S. 458–459, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/12 (1913), S. 862–863, 889. 123 Vgl. Moser/Wendt: Das Barbarische, S. 7–12, Münkler: Imperien, S. 152, Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 125–128. 124 Vgl. ebd., S. 102.

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ähnliche, grausame Vergehen vorwarfen, aber nicht mit dem Wortfeld des Barbarischen operierten. Abashin hat in seiner mikrogeschichtlichen Studie über die Unterwerfung des Chanates von Kokand auf die Charakterisierung der Indigenen als Barbaren anhand eines Einzelfalls hingewiesen. Die vorliegende Untersuchung konnte die auch von Hofmeister aufgezeigte Verwendung dieser Zuschreibung für weitere Phasen der Expansion detailliert bestätigen. Dabei wurde deutlich, dass die Zuschreibung von mit dem Bild verknüpften Eigenschaften ohne die Verwendung des Terminus beständig stattgefunden hat.125 Mit der Unterstellung von Grausamkeit ging häufiger die Beschreibung von Wildheit einher, die Kamberg konkret den Turkmenen attestierten und Kolokol’cov deutlich allgemeiner allen asiatischen Völkern unterstellten. Vor allem die Turkmenen wurden von Arnol’di und Kamberg des Raubes von Gütern und Menschen bezichtigt. Kolokol’cov sprach vage von den Steppenhorden als Räuber. Darüber hinaus existierten weitere Charakteristika, die im Zusammenhang mit als barbarisch beschriebenen Indigenen standen. Šul’c und Južakov warfen ihnen ein hinterlistiges Verhalten vor. Šul’c, Južakov, Sjarkovskij und Kamberg unterstellten ihnen Feigheit. Beide Merkmale wurden diversen Bevölkerungsgruppen zugeschrieben und betrafen Indigene sowohl in militärischen als auch zivilen Kontexten. Hierbei war auffällig, dass beide Charakteristika nur von in militärischen Zusammenhängen aktiven Autoren formuliert worden sind. Auf die Zuschreibung von Wildheit und Räuberei hat Matveev bereits in seiner Auswertung russischer Periodika hingewiesen. Während der Autor sich dabei nur auf die Eroberung Chivas bezog, bestätigte die vorliegende Untersuchung detailliert die Befunde Hofmeisters, wonach diese negativen Attribute seit den 1860er Jahren im gesamten Expansionszusammenhang Verwendung gefunden haben. Die von Hofmeister für den Turkestan-Diskurs gezeigte Darstellung der Nomaden als naiv und kindlich fand im vorliegenden Sample dagegen keine Bestätigung.126 Der vielfach geäußerte Vorwurf des Fanatismus besaß zwei Ebenen: Kamberg kennzeichneten damit die Kampfweise des konkreten Kriegsgegners. Auf dieses Vorgehen hat Abashin bereits an einem Einzelfall hingewiesen. Sjarkovskij warf den Indigenen dagegen einen religiösen Fanatismus vor. Dass diese Vorstellung weit verbreitet gewesen ist, bestätigen Hofmeister für den Turkestan-Diskurs im Allgemeinen und Babajanovs Untersuchung von Schriften des Orientalisten und Bildungsbeamten Nikolaj Petrovič Ostroumov im Speziellen. In den in der vorliegenden Arbeit betrachteten Texten waren es sowohl einzeln handelnde Fanatiker als auch ganze Gruppen, denen Fanatismus unterstellt worden ist. Vor allem die erste Ebene reichte eindeutig in die variantenreiche sprachliche Bilderwelt des Barbaren

125 Vgl. Abashin: Khoqand, S. 222, Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 127–131. 126 Vgl. Matveev: Perceptions, S. 288–291, Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 131–134.

Negative Charakterisierungen

hinein, die vor allem mit militärischen Erzählzusammenhängen verbunden schien. Die zweite Ebene verwies auch auf zivile Handlungszusammenhänge.127 Teil der Darstellung der Andersartigkeit und Fremdheit indigener Lebens- und Verhaltensweisen ist deren vielgestaltige Markierung als rückständig gewesen. Auf diesen Umstand haben bereits Kappeler und Hofmeister hingewiesen.128 Sorokin kritisierte die ungenügende Übernahme der sesshaften Lebensweise bei kirgisischen Nomaden und ihr Beharren auf ihrem jahreszeitlichen Wohnortwechsel. Roževic betonte einerseits mangelhaftes und veraltetes naturkundliches Wissen der Bevölkerung des Emirates Buchara. Andererseits bezeichnete er konkrete Maßnahmen und Techniken in deren Landwirtschaft als primitiv. Šul’c attestierte dem Chanat von Chiva und dem Emirat von Buchara eine veraltete und schlechte Bewaffnung. Zivilisatorische Rückständigkeit wurde von Šul’c, Sorokin und Sjarkovskij mit dem Motiv der Nacktheit verbunden. Bei den beiden zuerst genannten Autoren ging diese mit der Darstellung von Armut einher. Die Rückständigkeit der Indigenen wurde aber auch durch die Unterstellung von Unsauberkeit zum Ausdruck gebracht. Während Šul’c ganzen Siedlungen im Einflussbereich Chivas mangelnde Hygiene vorwarfen, kritisierte Sorokin diese nur für den Kochprozess in einigen kirgisischen Siedlungen. Gemeinsam mit Roževic kritisierte er die Verbreitung des Essens mit den Händen und das fehlende beziehungsweise verschmutzte Besteck bei den Indigenen. Schließlich nutzten Arnol’di, Sjarkovskij und Roževic unterschiedliche Beschreibungen, um die Indigenen gegenüber ihren Lesern lächerlich zu machen. Arnol’di und Roževic verhöhnten die Fähigkeiten, Ausrüstung und Organisation einer kasachischen Miliz beziehungsweise einer bucharischen Einheit. Sjarkovskij verglich das Verhalten von Bewohnern Taschkents während der russischen Eroberung mit dem von Vögeln. Diese Darstellungsweisen besaßen vielfältige Vorbilder. Diese entstammten zum einen der russischen Literatur. Layton hat gezeigt, dass in den mit dem Kaukasus und dessen Eroberung befassten Werken Aleksandr Sergeevič Puškins, Aleksandr Aleksandrovič Bestuževs und Michail Jur’evič Lermantovs bis in die frühen 1840er Jahre zahlreiche Bilder wilder, räuberischer, grausamer, indigener Krieger in exotischen, fremden und orientalischen Umgebungen existierten. Doch bei den genannten Autoren erschien der Kaukasus auch als Ort der Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen im Imperium. Es existierte das Motiv des „Edlen Wilden“ und damit verbundene Zweifel an der Richtigkeit der russländischen Expansion. Hofmeister hat allerdings festgestellt, dass die Figur des „edlen Wilden“ im mittelasiatischen Kontext nicht bedeutend gewesen ist. Dagegen waren, laut Layton,

127 Vgl. Abashin: Khoqand, S. 227, Babajanov: Russian power, S. 270, Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 141–143. 128 Vgl. Kappeler: Kolonien, S. 148–149, Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 91–92, 102, 114–119.

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die Werke populärer Autoren wie Aleksandr Ivanovič Poležaevs, Petr Kamenskijs, Dmitri Kropotkins oder M. Venediktovs von stereotypen Negativdarstellungen fremder, wilder und minderwertiger Asiaten gekennzeichnet, deren Eroberung, Pazifizierung und Zivilisierung nicht in Frage gestellt wurde.129 Zum anderen haben die Studien von Sherry, Andreeva, Jobst und Taki für die Verarbeitung und Thematisierung des Kaukasus, der Krim, des Persischen und Osmanischen Reiches sowie deren Einwohner durch russische Akteure aus unterschiedlichen Funktionsbereichen im 18. und 19. Jahrhundert das Vorhandensein ganz ähnlicher negativer Darstellungsweisen gezeigt. Ignoranz, Armut, Faulheit, Grausamkeit, ein Mangel an Hygiene oder Disziplin waren, laut Sherry und Andreeva, unter anderem Zuschreibungen in Texten russischer Offiziere im Kaukasus und Persien-Reisender. Laut Jobst wurden die Krimtataren übereinstimmend als lernunfähig, faul, degeneriert und unsauber abgebildet. Von russischer Seite konstatierte Entwicklungsrückstände auf der Krim um die Mitte des 19. Jahrhunderts seien, laut Jobst, den Tataren angelastet worden.130 Auch in den bei Taki behandelten, russischen Kriegsmemoiren und Reiseberichten des 18. und 19. Jahrhunderts aus dem Osmanischen Raum wurden Bevölkerung, Militär und Elite als irrational, degeneriert oder kindlich dargestellt. Die Militärs beschuldigten die Osmanen einer barbarischen, fanatischen und ordnungslosen Kriegsführung sowie eines grausamen Umgangs mit Kriegsgefangenen. Hier wird daher argumentiert, dass die in der vorliegenden Arbeit analysierten Autoren, die mehrheitlich über höhere Bildung sowie den Zugang zu Literatur und Publizistik verfügt haben und die nicht selten an der Eroberung des Kaukasus oder dem russisch-türkischen Krieg teilgenommen haben, die aufgezeigten Erzählweisen in ihren Schriften über Turkestan aufgegriffen und variantenreich verarbeitet haben.131 Mit der negativen und abwertenden Darstellung der Indigenen als grausame, hinterhältige und feige, Güter und Menschen raubende Barbaren trugen die Autoren einerseits zu der diskursiven Konstruktion des Feindbildes im Sinne Moser und Wendts bei.132 Gegen dieses grenzten sie sich beständig als scheinbar überlegene Angehörige der als höher entwickelt abgebildeten russischen Kultur ab. Die dabei verwendeten Tier-Mensch-Vergleiche schufen laut Jobst die Hierarchisierung im

129 Vgl. Layton: Conquest, S. 92–98, 101–103, 110–116, 133–143, 149, 156–166, Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 134–135. Layton verwies mehrfach auf die Thematisierung des Kaukasus in zeitgenössischen Memoiren. Vgl. Layton: Conquest, S. 128–129, 154, 171. 130 Vgl. Sherry: Kavkaztsy, S. 200–208, Andreeva: Iran, S. 3–4, 97–115, Jobst: Krim-Diskurs, S. 186, 191, 197–198, 283, 315. 131 Vgl. Taki: Sultan, S. 7, 95, 100, 108–110. 132 Moser/Wendt: Das Barbarische, S. 13, Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 92–96.

Negative Darstellungen indigener Lebensräume und ihrer Herrschaftsordnungen

kolonialen Diskurs.133 Anderseits leisteten die Autoren durch die stetige Variation der Zuschreibungen laut Münkler deren notwendige Ausgestaltung und Präzision. In ihren autobiografischen Schriften rechtfertigten die Autoren damit auch ihr eigenes oft gewaltvolles Handeln im Eroberungskontext. Wenn unter anderem Sjarkovskij und Kamberg, trotz der auch von ihnen geäußerten negativen Beschreibungen, den Chan von Kokand oder das taktische Geschick der Turkmenen lobten, dann diente das vor allem der Aufwertung ihrer eigenen Siege gegen einen dadurch nicht völlig unterlegen wirkenden Gegner.134 Der Vergleich der Befunde mit der Zirkulardepesche des russländischen Außenministers Aleksandr Michajlovič Gorčakov von 1864 verdeutlicht, dass sich das Imperium in Turkestan offiziell gegen ein Feindbild richtete, das bereits einige der hier herausgearbeiteten Merkmale aufwies.135 Indem die Autoren dieses Feindbild in ihren Schriften variantenreich aufgriffen, aktualisierten sie beständig diese staatliche Legitimation der Expansion, wie Hofmeister feststellte.136 Die kollektiv und individuell als rückständig, arm, unsauber und unzivilisiert dargestellte Bevölkerung Mittelasiens schuf zudem beständig die Begründung für die dauerhafte Vorherrschaft des Reiches in der Region. Die Selbstbeschreibungen und die Darstellungen des Imperiums in Mittelasien waren also auch hinsichtlich der Auseinandersetzung mit den indigenen Bevölkerungen eng verzahnt und trugen zu der übergeordneten Erfolgs- und Fortschrittserzählung über das Russländische Reich in Mittelasien bei.

5.4 Negative Darstellungen indigener Lebensräume und ihrer Herrschaftsordnungen In weiten Teilen des Untersuchungszeitraumes haben die Autoren deutliche Unterschiede zwischen den Siedlungen, Städten und Herrschaftsordnungen in und außerhalb Mittelasiens betont. Nicht selten stellten sie vorgefundene Verhältnisse in drastischer Weise negativ dar. Aus den ersten Jahrzehnten der russischen Expansion verdeutlicht das unter anderem der Texte von Šul’c. Der Seemann ging in seinen Erinnerungen einerseits auf das Chanat von Chiva und andererseits auf die

133 Vgl. Jobst: Krim-Diskurs, S. 189. 134 Vgl. Herfried Münkler: „Barbaren und Dämonen: Die Konstruktion des Fremden in imperialen Ordnungen“. In: Jörg Baberowski/Hartmut Kaelble/Jürgen Schriewer (Hrsg.): Selbstbilder und Fremdbilder. Repräsentationen sozialer Ordnungen im Wandel. Frankfurt/M., New York 2008, S. 153–189, hier S. 159. Zum Barbaren-Diskurs in imperialen Kontexten vgl. Münkler: Imperien, S. 150–157. 135 Vgl. Gorčakov: Despatch. 136 Vgl. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 109.

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Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

Herrschaft in der Stadt Kungrad ein. Zunächst charakterisierte der Autor in seiner Beschreibung einer Begegnung mit dem Chan von Chiva und seinen Einheiten das innere Machtgefüge der gegnerischen Partei: „Hier, in dieser zehntausendköpfigen Menge von Reitern, bestehend aus Kirgisen, Karakalpaken, Usbeken und Turkmenen, besaß jeder Stamm sein Oberhaupt, dem er mehr gehorchte und dem er sich mehr unterwarf, als dem Chan selbst. Diese unter dem Banner des chivinischen Chans versammelten Stämme, dessen Feinde sie immer sein werden, sind nur unter seiner Fahne erschienen, weil sie nicht die Kraft besessen haben, sich seinem Willen zu widersetzen, aber sie sind immer bereit, ihm zu schaden, wenn sich dazu die Möglichkeit mit der Hoffnung auf Straflosigkeit bietet.“137

Šul’c hob einerseits einen schwachen Chan hervor und verwies auf die Bedeutung einzelner Führungspersonen. Andererseits kennzeichnete er das Chanat als von Zwang, Feindschaft und Missgunst geprägt. Von seiner weiteren Reise in das Einflussgebiet der Stadt Kungrad berichtete der Autor über Klagen des Hofministers des dortigen Machthabers Magomet Fana, Šach Nijaz. Šul’c schlussfolgerte aus diesen unter anderem, dass Magomet Fana charakterschwach und ohne Anhänger in seiner Bevölkerung gewesen sein müsse. Aus Mangel an finanziellen Mitteln hätte dieser, so der Autor weiter, die Forderungen turkmenischer Akteure nicht bezahlen können. Diese würden zudem ihren Einfluss auf seine Regierung geltend machen, seine Untertanen berauben, deren Frauen und Kinder entführen und sein Geld ummünzen. Wie in seinen Einschätzungen über das Chanat Chiva war auch seine Darstellung der inneren Zustände in Kungrad von der Vorstellung eines schwachen, rückhaltlosen Potentaten, allgemeiner Rechtlosigkeit und gewaltvoller Unordnung gekennzeichnet.138 Ähnlich negativ hat sich Petrovskij in seinem Reisebericht sowohl über die Städte Karši und Buchara als auch über die Herrschaft des Emirs geäußert. In Abgrenzung zu der wesentlich positiveren Meinung eines ungenannten russischen Ethnographen berichtete der Autor, dass Karši nur eine „[…] nicht besonders schmale Straße mit auf ihr hingeworfenen Steinen [hätte], auf denen man weit gefährlicher fährt, als auf allen anderen […]139 . Die von dem Ethnographen erwähnten Glasfenster hätte er nirgends gesehen. Stattdessen bezeichnete er die Gebäude als „grob“

137 Šul’c: Plavanie, 53/5 (1861), S. 137. 138 Vgl. ebd., S. 144. Siehe auch Kol’devins Erinnerungen an seinen Arbeitseinsatz im russischen Teil des Tjan‘ Šan‘-Gebirges. Darin beschrieb er die angrenzenden chinesischen Territorien – das östliche Turkestan – als rechtlos, von Gewalt und religiösen Konflikten geprägten Raum, der zwischen muslimischen Gruppen und dem Kaiserreich China umkämpft sei. Vgl. Kol’devin: Tokmaksko-Narynskogo otrjada, 8 (1873), S. 851–853. 139 Petrovskij: Poezdka, 2/4 (1873), S. 227.

Negative Darstellungen indigener Lebensräume und ihrer Herrschaftsordnungen

(grubovatyj) und „geschmacklos“ (aljapovatyj). Schließlich verwies der Autor auf eine dreißig Jahre ältere Beschreibung Karšis, die er weiterhin für gültig hielt, weil sich in der Stadt wenig verändert habe.140 In Buchara wurden seine Erwartungen enttäuscht, weil er die einstige historische Bedeutung dieses Zentrums, anders als in Samarkand, nicht gespürt habe: „Die große staubige Stadt, ohne Gärten, mit sehr engen und krummen Sträßchen und hohen hässlichen Häusern machte auf uns bei weitem keinen fröhlichen Eindruck.“141 Die Lebensbedingungen der bucharischen Bevölkerung verglich der Reisende mit der „vor-petrinischen“142 Zeit in Russland, als „sehr einfach und eintönig“143 . In seinen Augen hätte es keinen bedeutenden Unterschied „hinsichtlich ihres Lebens, ihrer Entwicklung und Bildung“144 zwischen der allgemeinen Bevölkerung und ihrer Oberschicht gegeben, wenngleich er deren materielle Bedingungen als besser eingeschätzt hat. Petrovskij präzisierte hier nochmals, als er von der Gleichheit der „geistig[en] und moralisch[en] Entwicklung“145 beider Gruppen sprach, die er für niedrig erachtet hat. Aufgrund des fehlenden „geistig[en] Leben[s]“146 bei den asiatischen Herrschern könnten diese sich nicht weiter, als ihre Bevölkerung entwickeln, so der Autor weiter. Dies ermöglichte laut Petrovskij ein gegenseitiges Verständnis zwischen dem Emir und der Bevölkerung. Der Herrscher säße „[…] mit seinen Hofnarren und Knechten, von denen viele vielleicht morgen Minister werden […]“147 , so der Autor, Märchen erzählend in seinem Schloss. Die Bediensteten würden jedwede Gesprächsinhalte daraufhin unter der Bevölkerung verbreiten. Die umfassende Ähnlichkeit von Herrscher und Volk sowie die dargestellte Kommunikationsweise zwischen beiden begründeten für den Autor die höhere Glaubwürdigkeit der Gerüchte von asiatischen Basaren, im Gegensatz zu solchen „in zivilisierten Ländern“148 . Petrovskij bewertete die Straßen der von ihm besuchten Städte als unbrauchbar und deren Architektur als hässlich und formulierte damit ganz ähnlich, wie zuvor Kolokol’cov. In Karši sah er keinen städtebaulichen Fortschritt und für Buchara

140 141 142 143 144 145 146 147 148

Vgl. ebd., S. 227. Ebd., S. 234. Ebd., S. 229. Ebd., S. 229. Ebd., S. 229. Ebd., S. 230. Ebd., S. 230. Ebd., S. 230. Ebd., S. 230. Siehe auch Kolokol’cov, dessen Beschreibung Chivas weniger negativ als bei anderen Autoren war aber dennoch deutlich die Andersartigkeit der städtischen Struktur und Architektur hervorhob. Vgl. Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 69.

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Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

postulierte er mit seinen Bezügen auf eine einstige Größe indirekt den Verfall der Stadt. Weiterhin diskreditiert er die Lebensbedingungen, Bildung und Moral der gesamten Bevölkerung des Emirates. In seinen Worten erschien die politische Führung und Verwaltung unprofessionell und nicht einem unbestimmten Kreis zivilisierter Staaten zugehörig. Anders als Šul’c, ordnete er die gesamte Gesellschaft in einem historischen Entwicklungsmodell einer von der russischen Gesellschaft in seinen Worten bereits überwundenen Stufe zu, der vor-petrinischen Zeit. Diese negativen Darstellungen indigener Lebensräume und Gemeinwesen bestanden in den folgenden Jahrzehnten fort, wovon Sorokins Text ein Beispiel gibt. In dessen Reisebericht fanden sich zunächst ähnlich negative Städteportraits, wie bereits bei Petrovskij. Bemerkenswert ist, dass er bereits auf seiner Reise in das Generalgouvernement aus den asiatischen Reichsteilen beispielsweise aus Tobol’sk über die schlechten Straßen sowie den Abfall und Schmutz auf selbigen berichtet hat. Zu Pavlodar bemerkte er: „Etwas langweiligeres kann man sich nirgends vorstellen.“149 Die Stadt sei bemitleidenswert (žalkij) und dem Aussehen nach ein ungastlicher (negostepriimnyj) Ort. Die einzige Kirche und die einzige Moschee seien unter den die Stadt einhüllenden Staubwolken kaum sichtbar gewesen. In Semipalatinsk beschrieb er die Lehmgebäude als „unansehnlich“ (nevzračnyj). Im russischen Stadtteil fiel ihm negativ auf, dass es weniger Kirchen als Moscheen gegeben habe.150 In seiner Beschreibung der Städte Kopal und Vernyj dominierte dagegen weniger die Negativdarstellung, als vielmehr die Behauptung eines spezifisch asiatischen Charakters. Über Kopal berichtete der Autor beispielsweise, dass die Stadt „ziemlich asiatisch“151 (vpolne aziatskij) ausgesehen habe. Das begründete er mit dem Vorhandensein zahlreicher kleiner Läden für alle Arten von Waren oder der Anwesenheit vieler Reiter auf Pferden und Kühen sowie Behältern voller Stutenmilch. Über den Basar von Vernyj bemerkte er, dass dieser „[…] wie gewöhnlich alle Basare in Mittelasien ein großes Chaos darstellt […].“152 Während der Autor sowohl Städte in Sibirien, den kasachischen Gebieten als auch im südlicheren Mittelasien deutlich negativ charakterisierte, markierte er mit dem Merkmal „asiatisch“ vor allem die Andersartigkeit bestimmter Orte Mittelasiens zu solchen außerhalb der Region. Nach 1900 fanden sich beispielsweise bei Roževic ebenfalls negative und die Unterschiede zum Russischen Reich oder Europa betonende Darstellungsweisen

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Vgl. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 364. Vgl. ebd., S. 364, 366–367. Ebd., S. 368. Ebd., S. 370. Siehe auch Vereščagins Erinnerungen an Samarkand. Er stellte positiven Beschreibungen aus antiken Quellen seine Eindrücke einer dreckigen und stinkenden Stadt gegenüber. Vgl. Vereščagin: Samarkand, S. 3.

Negative Darstellungen indigener Lebensräume und ihrer Herrschaftsordnungen

von mittelasiatischen Städten und Herrschaftsformen. Der Botaniker portraitierte auf seiner Reise durch das südliche und mittlere Buchara einige Siedlungen und Städte. Dabei stand weniger deren klare Abwertung im Vordergrund, als vielmehr deren einordnender Vergleich. In Džar-kurgan erzählte er über die Lehmgebäude, in denen sie untergebracht gewesen seien, dass die Bewohner diese ihrem Glauben an die Heiligkeit der Schwalben entsprechend, mit den Vögeln teilen würden. Zudem stellte er fest, dass es keine Fenster „in unserem Sinne des Wortes“153 gegeben habe. Die Öffnungen in den Wänden hätten mehrheitlich auf den Innenhof hinausgereicht. Weiter fiel dem Autor auf, dass es nur wenige Möbel in den Häusern gegeben habe. Stühle und Tische, deren geringe Größe oder deren Ausfertigung aus einem Türflügel er erwähnte, seien vor allem für russische Gäste vorhanden gewesen.154 Über Kurgan-Tjube berichtete Roževic nur von der „großen Schlamperei und Unordnung der Bebauung“155 im Vergleich zu seinen vorhergehenden Stationen. Zudem bemerkte er die veraltete Bewaffnung der Festung des lokalen Beks.156 Kuljab gestand der Autor im Vergleich mit Alt-Buchara den Status einer Stadt zu, „[…] wo die europäische Zivilisation im Ganzen zu sehen ist […]“157 . Mit Europa und der Stadt Buchara als Vergleichsgrößen bemerkte er den fast europäischen Charakter seiner Unterkunft „mit richtigen Fenstern“158 , die vielen großen Holzhäuser „[…] mit Dächern wie bei uns (d. h. nicht flach) […]“159 oder eine Art Bürgersteig auf der Hauptstraße, den er als Schritt hin zur Zivilisation bewertete.160 Dieses Schema blieb im weiteren Textverlauf erhalten, als der Autor auch in Bal’djuan über das Gästehaus des Beks erwähnte, dass es „nach europäischem Geschmack“161 gestaltet gewesen sei. Anders als Petrovskij oder Sorokin, beschrieb Roževic die bereisten Orte nicht pauschal als negativ, sondern unterstrich durch die zitierten Vergleiche mit unscharfen, russischen Vorbildern oder einer ebenso

153 Roževic: Poezdka, 44/9 (1908), S. 605. 154 Vgl. ebd., S. 605–606. Auch Sorokin bemerkte auf seiner Reise im Tjan‘ Šan‘, dass im Haus eines wohlhabenden Kirgisen nur wenige Möbel existierten. Vgl. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 629. 155 Roževic: Poezdka, 44/9 (1908), S. 616. 156 Vgl. ebd., S. 616–617. 157 Ebd., S. 620. 158 Ebd., S. 620. 159 Ebd., S. 620. 160 Vgl. ebd., S. 620–621. 161 Ebd., S. 624. Siehe auch Lomakins eindeutig negatives Bild des Chanates von Chiva der 1870er Jahre. Der Chan erschien darin insgesamt als verschlagener und gewaltsamer Herrscher, der Kriminelle und Aufständische unterstützt habe. Vgl. Lomakin: Zakaspijskom krae, 1/2 (1911), S. 35, Lomakin: Zakaspijskom krae, 3/4 (1911), S. 69, 71, Lomakin: Zakaspijskom krae, 7/8 (1911), S. 99–102, Lomakin: Zakaspijskom krae, 11/12 (1911), S. 164.

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Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

unbestimmten, europäischen Zivilisation einen Entwicklungsrückstand des Emirates. Hierbei nutzte er allerdings gebräuchliche Figuren, wenn er beispielsweise auf die Andersartigkeit der Fenster, veraltete Bewaffnung oder fehlende Möblierung verwies. In seinen Memoiren kritisierte Fedorov einerseits das Staatsoberhaupt von Chiva und das Zivilrecht in Buchara und stellte andererseits Taschkent negativ dar. Ähnlich wie Šul’c kolportierte der Autor die Vorstellung des Chans von Chiva als einem Lügner voller „Heimtücke“162 (kovarstvo), der nach der russischen Eroberung und dem Abschluss eines Friedensvertrages keine der auferlegten russischen Forderungen erfüllt hätte. Erst unter dem neuerlichen militärischen Druck russischer Einheiten, so der Autor weiter, „[…] verwandelte er sich von einem stolzen, überheblichen Despoten-Herrscher in einen bescheidenen, russischen Gebietsvorsteher […].“163 Der Autor fügte an, dass das einst mächtige Chanat von seiner Unbesiegbarkeit überzeugt gewesen sei, weil es frühere russische Vorstöße in die Region abgewehrt hätte.164 Über den Thronwechsel im Jahr 1885 in Buchara führte er aus: „In mohammedanischen Staaten, wo kein Thronfolgegesetz existiert, wird der Tod des Herrschers normalerweise von ernsthafter Unordnung, Volksunruhen und sogar Massakern begleitet. Als Anwärter auf die Macht erscheinen einige Verwandte des Verstorbenen; jeder von ihnen besitzt seine Anhängerschaft, bereit das Recht ihres Patrons mit allen erlaubten und unerlaubten Mitteln zu verteidigen.“165

Wenngleich der Autor daraufhin einschränkte, dass die Lage in Buchara 1885 etwas besser gewesen sei, weil der Emir seinen Sohn bereits zu Lebzeiten zum Nachfolger bestimmt hatte, nahm er das Emirat nicht grundsätzlich von seiner Einschätzung aus. Er fügte stattdessen an, dass die Machtübergabe durch russisches Militär abgesichert worden sei. Daraufhin erklärte der Autor an einem Beispiel das seiner Auffassung nach „[…] vereinfacht[e] und äußerst naive mohammedanisch[e] Zivilrecht […]“166 , welches im Emirat von Buchara zur Anwendung gekommen sei. Der Autor erzählte, dass der erste Minister des Emirs in der Pflicht gewesen sei, sich persönlich um die Pfändung des Eigentums eines hochverschuldeten, bucharischen Offiziers zu kümmern. Dabei habe der Schuldner den hohen Staatsbeamten 162 Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 810. 163 Ebd., S. 810. Wörtlich hat der Autor den Begriff „ispravnik“ benutzt, der hier mit dem Wort Gebietsvorsteher übersetzt worden ist. 164 Vgl. ebd., S. 810. 165 Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), S. 447. 166 Ebd., S. 451.

Negative Darstellungen indigener Lebensräume und ihrer Herrschaftsordnungen

schließlich erschossen. Der Autor führte aus, dass der Emir den Täter zum Tod durch Enthauptung oder durch das Schmeißen vom Minarett hätte verurteilen können. Er hob als Fortschritt hervor, dass sich der Emir aber bewusst dagegen und entsprechend dem muslimischen Kriminalrecht zur Überstellung des Täters in die Verantwortung der Verwandten des Opfers entschlossen habe. In der Folge sei der Täter auf einem zentralen Platz der Stadt zunächst grausam gefoltert und daraufhin von einem Esel aus der Stadt geschleift worden, wo er unter Aufsicht auf einer städtischen Müllhalde von Hunden zerfleischt worden sei.167 Im Zusammenhang mit seinen bereits angesprochenen Erklärungen zum Choleraaufstand 1892 charakterisierte Fedorov den indigenen Teil Taschkents. Die Häuser der Einheimischen bezeichnete er als „scheußliche schmutzige Schuppen“168 und hob, wie Roževic, hervor, dass diesen die Fenster fehlen würden. In den Höfen lägen Dung und Exkremente. Die Straßen seien in der Regenzeit, so der Autor weiter, „undurchdringliche Sümpfe“169 und im Sommer voller Staub, sodass er diese Ausführungen mit der Einschätzung schloss, dass Taschkent eine „riesig[e] stinkend[e] Kloake“170 gewesen sei. Fedorov verknüpfte mit dem Chan von Chiva das Bild eines stolzen, überheblichen und selbstüberschätzten Lügners. Waren es bei Petrovskij der materielle Wohlstand, das Verhältnis zwischen Herrscher und Volk und die unprofessionelle Beamtenschaft, so disqualifizierte Fedorov am Beispiel Bucharas die Thronfolgeverfahren in muslimischen Staaten sowie die lokale, muslimische Zivilrechtstradition als nicht praktikabel, archaisch und grausam, wenngleich er auch gewisse Fortschritte im Verhalten des Emirs ab 1885 gesehen hat. Drastischer, als zuvor Petrovskij oder Sorokin erhob er schließlich den bekannten Vorwurf des Schmutzes gegen den indigenen Teil Taschkents. Die als eng, lang, uneben oder staubig beschriebenen Straßen und die als hässlich dargestellten Gebäude mit ihren meist fensterlosen Straßenfassaden und flachen Dächern sind feste Bestandteile des Erzählens über mittelasiatische Städte, wie Buchara, Chiva, Taschkent oder Samarkand beziehungsweise deren alte, indigene Teile gewesen. Hierauf hat bereits Hofmeister hingewiesen.171 Das Spektrum der Darstellungen reichte von deren insgesamt negativer Abbildung bei Petrovskij bis zu deutlich moderateren Beschreibungen bei Roževic. Bemerkenswert ist, dass Sorokin als Einziger die genannten Bilder bereits in seine Ausführungen über ältere Städte im asiatischen Teil des Russländischen Imperiums verwendet hat. Weitere Merkmale waren das vermeintliche Chaos sowie der behauptete Schmutz oder 167 168 169 170 171

Vgl. ebd., S. 451. Ebd., S. 458. Ebd., S. 458. Ebd., S. 458. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 102, 251–252.

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Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

Gestank, worüber Sorokin und Fedorov geschrieben haben. Ihre Darstellungen reichten von moderat bis drastisch und pauschal. Darüber hinaus existierte eine vielfältige Kritik an den mittelasiatischen Machthabern und den von ihnen repräsentierten Herrschaftsordnungen, die besonders am Beispiel des Chans von Chiva vor dessen Unterwerfung 1873 deutlich geworden ist. Šul’c und Fedorov unterstellten ihm eine schwache, von Lügen, Angst und Gewalt geprägte und gegen das Imperium gerichtete Amtsführung, mit der er beispielsweise die Kriminalität in der ganzen Region gefördert habe. Die weite Verbreitung dieser Ansichten bestätigte Matveevs auf die Eroberung Chivas im Jahr 1873 konzentrierte Analyse russischer Periodika. In ganz ähnlicher Weise haben Šul’c über Kungrad und Petrovskij und Fedorov über Buchara geschrieben. Die lokalen Herrscher erschienen in ihren Texten als grausame, charakterlose oder ungebildete Despoten, deren Verwaltungen ineffektiv und von negativen Effekten für die Bevölkerungen gekennzeichnet gewesen seien. Laut Hofmeister blieb diese Erzählweise im Turkestan-Diskurs beständig erhalten und rechtfertigte so die Ungleichbehandlung der regionalen Machthaber.172 Sowohl für die negativen Darstellungen der Städte als auch der Herrschaftsordnungen war ein Denken in linearen und zyklischen Entwicklungskonzeptionen markant, auf das Hofmeister bereits hingewiesen hat. Petrovskijs Klage über die vergangene, historische Bedeutung Bucharas verwies indirekt auf die Idee einer negativen Rückentwicklung der Stadt bis in die Gegenwart des Autors. Das gesamte Emirat ordnete er materiell und politisch eindeutig in einer russischen Entwicklungsgeschichte auf der vor-petrinischen, und damit weniger entwickelten Stufe, als das Russländische Imperium ein. Roževic nutzte Vorstellungen von Unter- und Weiterentwicklung, als er den Siedlungsaufbau, die Architektur und Einrichtung bucharischer Städte erläuterte, wobei vage Vorbilder einer russischen oder europäischen Zivilisation die höherentwickelten Vergleichsgrößen darstellten. Bei Fedorov wurden in seiner Beurteilung der bucharischen Rechtstraditionen ähnliche Vorstellungen deutlich. In diesen Darstellungen waren die Siedlungen, Städte und Gesellschafsordnungen Mittelasiens in ihrer Entwicklung unterschiedlich weit von den als Vergleichsgröße herangezogenen, weiterentwickelten westlichen Reichsteilen oder Europa entfernt.173 Auch für diese Sichtweisen haben den Autoren verschiedene Vorbilder zur Verfügung gestanden. Jobst zeigte beispielsweise, dass enge Straßen, ein unübersichtliches Straßennetz und ein generell planlos wirkender Aufbau von Gebäuden auch gängige Zuschreibungen für tatarische Siedlungen, Städte und Paläste im Krim-Diskurs gewesen sind. Russische Persien-Reisende nutzten, laut Andreeva, ganz ähnliche

172 Vgl. Matveev: Perceptions, S. 291, Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 129. 173 Vgl. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 114–124.

Die indigene Perspektive?

Vorstellungen einer allgemeinen europäischen Überlegenheit. Beispielsweise erschien die persische Architektur in ihren Texten als geschmacklos oder keiner Beachtung wert. Es existierte ebenfalls die Meinung, dass nur die altpersische Kunst und Architektur von Wert gewesen sei. Hiermit unterstellten die russischen Betrachter der persischen Kultur ebenfalls einen Degenerationsprozess. Laut Andreeva existierten in der russischen Memoiristik Vorstellungen von grausamem Despotismus in Persien. Die Autoren machten die vermeintlich gewalttätige und willkürliche Herrschaft allgemein für einen vermeintlich niedrigen Entwicklungsstand der Perser verantwortlich. Auch Taki hat auf den im frühen 19. Jahrhundert von russischen Autoren gegen die osmanischen Heerführer erhobenen Vorwurf eines „militärischen Despotismus“ hingewiesen, angesichts des Luxus und Komforts, der diesen in ihren Heerlagern zur Verfügung gestanden hätte.174 Gleich den negativen Charakterisierungen indigener Gruppen und Individuen, ermöglichten die präsentierten Sichtweisen auf deren Wohn- und Lebensräume sowie deren Herrschaftsordnungen insgesamt deren Markierung als fremdartig, unter- oder rückentwickelt sowie minderwertig. Die Autoren grenzten sich in ihren autobiografischen Schriften durch ihre Kritik an Stadtplanung, Architektur, Hygienestandards, Herrschaftsordnungen oder Rechtstraditionen als Teil einer vermeintlich überlegenen und weiterentwickelten, russisch-europäischen Gruppe unterschiedlich deutlich von den Indigenen ab. Dadurch gewann die in einem der vorangegangenen Kapitel bereits aufgezeigte Argumentation, die Verbesserung der kritisierten Verhältnisse betreiben zu wollen beziehungsweise betrieben zu haben, an Glaubwürdigkeit. Dabei betonten die teils konkreten historischen Einordnungen die vermeintliche Größe und Langfristigkeit der russischen Aufgaben vor Ort, wie Hofmeister anmerkt. Dass nur im Fall Sorokins eine vergleichbare Kritik an ähnlichen Zuständen in wesentlich älteren Städten des Reiches gefunden wurde, deutet darauf hin, dass derlei Selbstkritik nicht erwünscht war, weil sie die Argumentation der weiterentwickelten russischen Eroberer, deren Vorherrschaft umfangreiche Verbesserungen bedeutet hat, zu deutlich in Frage gestellt hätte.175

5.5 Die indigene Perspektive? In dem autobiografischen Diskurs innerhalb des russischsprachigen TurkestanDiskurses existierten einige höchstwahrscheinlich unselbstständig entstandene Erinnerungs- und Augenzeugenberichte indigener Akteure, von denen bereits die

174 Vgl. Jobst: Krim-Diskurs, S. 191, Andreeva: Iran, S. 78, 110, 118, 120, 125, 126–128, Taki: Sultan, S. 105. 175 Vgl. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 120.

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Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

Rede gewesen ist. Die bei Simonova veröffentlichten Texte von Zlata Kapeljusch (Simonova), Sadyk-Šerif-Malik (Simonova), Komel’-boj (Simonova)176 und Magomet Sufi (Simonova) sind, wie bereits dargestellt worden ist, unter teils erkennbarer Mitwirkung ihrer Editorin entstanden und lieferten daher eine nur scheinbar indigene Perspektive auf die Eroberung und Verteidigung Samarkands durch russische Truppen im Jahr 1868. Vielmehr sind sie, so wird hier argumentiert, Teil des russischen autobiografischen Schreibens über Turkestan gewesen. Daher verwundert es nicht, dass die vier Autoren zahlreiche, in diesem Kapitel bereits herausgearbeitete Ansichten über die indigene Bevölkerung der Stadt wiedergegeben haben. Komel’-boj (Simonova), nach eigener Aussage Gehilfe im Fleischhandel seines Vaters auf dem Basar, berichtete von der Angst der Stadtbewohner in der Phase vor der russischen Eroberung. Zwei russische Deserteure, Usman und Bogdanov177 , „[…] brachten [ihnen] schießen, marschieren bei, führten Disziplin und Ordnung ein […]“178 . In dieser Phase der Unentschlossenheit hätten die für die Verteidigung der Stadt plädierenden Mullas die Bevölkerung, laut dem Autor, gegen den abwartenden Bek aufgewiegelt. Komel’-boj (Simonova) berichtete von Gewaltausbrüchen und Toten. Über die folgenden Verteidigungsversuche der Samarkander, gemeinsam mit bucharischen Einheiten, berichtete der Autor, dass die indigenen Soldaten angesichts ihrer wirkungslosen Kampfmaßnahmen in Panik geraten und schließlich vom Schlachtfeld geflohen seien. Komel’-boj (Simonova) habe sich nach der Eroberung der Stadt nach eigener Aussage an Gegenangriffen umliegender Siedlungen beteiligt, sei aber bald darauf von russischen Einheiten festgenommen worden. Sein Vater erreichte, so der Autor weiter, bei dem russischen Festungskommandanten schließlich seine Freilassung und Begnadigung. Angst, Feigheit, innerer Streit und das Aufwiegeln einer Mehrheitsbevölkerung durch einzelne, religiöse Persönlichkeiten waren Merkmale, die den Indigenen auch von den russischen Autoren zugeschrieben worden sind.179 Der Autor erzählte über die folgenden Vorbereitungen des Aufstandes gegen die russische Besatzung, dass er während seiner Arbeit auf dem Markt von Gerüchten gehört habe. Narren (divany, jurodivye), die auf den Straßen gewöhnlich heilige

176 Die hier verwendete Schreibweise des Namens (Komel‘-boj) ist dem Fließtext von Simonova entnommen und weicht von der Schreibweise in der Überschrift des Textabschnittes ab (Kombel’boj). Vgl. Simonova: Razskazy, 97/9 (1904). 177 Bei diesem hat es sich nicht um den in das Sample aufgenommenen Zoologen gehandelt. 178 Simonova: Razskazy, 97/9 (1904), S. 846. Die indigenen Akteure Magomet Sufi, Sadyk-ŠerifMalik, Komel’-boj und Zlata Kapeljusch werden im Folgenden als selbstständige Autoren ihrer Erinnerungserzählungen namentlich geführt. Die Zitierweise erfolgt aber entsprechend der beiden Artikel von Simonova, in denen die Erinnerungen publiziert worden sind. 179 Vgl. Simonova: Razskazy, 97/9 (1904), S. 845–846, 848–849, 851.

Die indigene Perspektive?

Lieder singen und den Koran verbreiten würden, „predigten“180 (propovedovat’) nun in seinen Worten den Aufstand. Erneut waren es in seiner Erzählung die Mullas, die die Bevölkerung kurz vor dessen Ausbruch in den Moscheen darauf vorbereitet hätten. Nachdem der Sieg trotz ihres Überraschungsangriffes auf die russische Garnison ausgeblieben sei, berichtete der Autor von dem langsamen Zerfall ihrer Koalitionskräfte, der schließlich in offenem und blutig ausgetragenem Streit unter den indigenen Belagerern gemündet sei. Erneut erschienen die Samarkander von innerer Ordnungs- und Rechtlosigkeit zerrüttet. Der Hinterhalt ihrer religiösen Führer war gescheitert, wiederholte aber das bekannte Motiv. Wie die Editorin schließlich berichtete, habe ein Mord an einem Einwohner Samarkands den Autor in die russische Verbannung nach Sibirien gebracht, wo er seine Strafe unter anderem im Bergbau abgeleistet habe.181 Ähnlich verhielt es sich mit der Erzählung des Seidenwebers Magomet Sufi (Simonova), wenngleich sich bei ihm wenige der bekannten Erzählweisen fanden. In seiner Darstellung sind es ebenfalls die Samarkander Mullas gewesen, deren Schüler den Gedanken an einen Aufstand gegen die russischen Eroberer in die Bevölkerung getragen hätten. Auch er stellte die eigene Bevölkerung im Kampf mit den russischen Truppen als ängstlich und feige dar.182 Auch sein Text zeichnete ein verhältnismäßig positives Bild der russischen Eroberer. Der Autor gab General Kaufmans Verlautbarung wieder, in welcher der russische Heerführer zu Frieden und Ordnung aufgerufen und seine die Stadt schützenden Absichten betont hätte. Weiterhin erschienen die Russen in der Auffassung des Vaters des Autors als in religiösen Belangen tolerant. So würden sie die islamische Religion respektieren und hätten versprochen, Moscheen wieder aufzubauen. Zudem sei das Leben unter den Russen besser, als unter den Bucharaern. Der Autor ließ seinen Vater zudem anerkennend die militärische Leistung der Russen erwähnen, die „[…] schon erfahren aus Russland kamen, und bis Samarkand gegangen sind, und bei jeder Stadt gekämpft haben und wir beherrschen das Kämpfen nicht.“183 Anders, als bei Komel’-boj (Simonova), wies Magomet Sufi (Simonova) den Samarkander Juden eindeutig eine feindliche und verräterische Rolle zu. Gleich Spionen hätten sie alle Vorgänge in der muslimischen Gesellschaft mitbekommen. Vor dem Aufstand seien sie zu den Russen in die Festung geflohen und hätten diese davor gewarnt. Nach dem gescheiterten Aufstand haben die Juden den Russen in den muslimischen Vierteln die versteckten Wertsachen gezeigt.184 180 181 182 183 184

Ebd., S. 852. Vgl. ebd., S. 852, 854, 856–859. Vgl. ebd., S. 862–864. Ebd., S. 863. Vgl. zudem ebd., S. 861, 863, 866. Vgl. ebd., S. 863–866.

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Auch die Erzählung des Händlers Sadyk-Šerif-Malik (Simonova) enthielt einige der bekannten Beschreibungen der Indigenen. Wie bei Komel’-boj (Simonova) endeten die inneren Streitigkeiten der Samarkander Stadtgesellschaft hinsichtlich des Verhaltens im Falle einer russischen Belagerung auch in seinem Text in blutiger Gewalt. Laut dem Autor hätten radikale Städter einen Vertreter des bucharischen Beks während einer Versammlung getötet. Daraufhin habe dieser die Versammlung gewaltsam auflösen und seine Soldaten die Stadt plündern lassen. Auch in Sadyk-Šerif-Maliks (Simonova) Beschreibung seien die Koalitionskräfte aus Städtern und Einheiten Bucharas letztendlich vor den auf Samarkand vorrückenden russischen Truppen geflohen und hätten sich in den die Stadt umgebenden Gärten versteckt. Der Autor berichtete, dass, während die städtischen Vertreter den russischen Eroberern versichert hätten, für Ruhe zu Sorgen und Aufständische zu melden, verschiedene Gruppen bereits den Aufstand im Geheimen vorbereitet hätten. Im Zuge der sich schließlich abzeichnenden Niederlage, so berichtete auch Sadyk-Šerif-Malik (Simonova), sei die Koalition unter den Aufständischen zerfallen und hätte sich teils ungeordnet desnachts zurückgezogen. Bis auf die ebenso, wie bei Magomet Sufi (Simonova), vorhandene Stellungnahme General Kaufmans, die Russen würden niemandem etwas tun und wünschten die Normalisierung der Zustände, fehlten positive Aussagen über die russischen Truppen. Dagegen war auch hier, wie bei Magomet Sufi (Simonova), der Verweis auf die Samarkander Juden zu finden, die den Russen die versteckten Wertsachen der muslimischen Stadtbewohner gezeigt hätten.185 Die Samarkander Jüdin Zlata Kapeljuš (Simonova) war zum Zeitpunkt der Eroberung der Stadt nach eigener Aussage erst elf Jahre alt und habe bei ihren Eltern gelebt, die mit Kurzwaren gehandelt hätten. Während des Aufstandes sei sie in ihren Worten von ihren Eltern getrennt worden, die sich in die russische Garnison geflüchtet hätten. Auch in der Darstellung dieser Autorin zeigten sich, wenn auch andere, interne Konfliktlinien der Samarkander Stadtgesellschaft. Sie berichtete beispielsweise, wie die Einwohner ihre Wertsachen vor den Bucharaer Truppen versteckten hätten, die bei ihrem Abzug dennoch viele Dinge gestohlen hätten. Indem sie in der Schuldfrage die dritte, auch bei Sadyk-Šerif-Malik (Simonova) angesprochene Gruppe, adressierte, bestätigte sie indirekt das Motiv eines inneren Machtgefüges unter den indigenen Gruppen, das von Rechtlosigkeit und Unordnung geprägt gewesen sei. Konfliktpotential hat auch aus ihrer Beschreibung der schwierigen Lebensmittelversorgung während der Kämpfe um die Stadt gesprochen. Während muslimische Kinder von den verbliebenen Erwachsenen versorgt worden seien, hätten die Muslime ihre Lebensmittel nicht immer mit ihr und ihren jüdischen Altersgenossen geteilt, sondern sie teils grob verjagt. Ihre Ausführungen

185 Vgl Simonova: Razskazy, S. 132–133, 135–138, 134.

Die indigene Perspektive?

über die Kampfhandlungen aus der Perspektive der unbeteiligten Beobachterin unterschieden sich nachvollziehbar von denen Komel’-bojs (Simonova), Magomet Sufis (Simonova) und Sadyk-Šerif-Maliks (Simonova). Sie enthielten dennoch deutliche Verweise auf die gewaltvollen Vorgänge im Stadtgebiet.186 Anders als die drei zuvor behandelten Autoren überlieferte Zlata Kapeljuš (Simonova) allerdings keine positiven Eindrücke der russischen Eroberer. Ganz im Gegenteil schilderte sie am Ende ihres Textes eine Begegnung am Eingangstor zu der russischen Garnison. Nach Kaufmans Rückkehr und der Niederschlagung des Aufstandes sei die Autorin mit weiteren jüdischen Kindern zur Festung gelaufen, um dort nach ihren Eltern zu suchen. Hier sei sie von drei russischen Soldaten aufgegriffen und ausgeraubt worden: „Als erstes erschossen sie meine Freundin, dann den Jungen. Ein Soldat schoss auf mich, aber es ereignete sich ein Fehler. Daraufhin schlug er mich mit dem Gewehrkolben auf die Brust, schob mich zur Wand, schrie auf Tatarisch ‚Bleib stehen‘ und begann selbst das Gewehr zu laden. Ich wurde plötzlich zu Stein, fühlte nichts, keinen Schmerz, keine Angst. In diesem Moment kam mein Vater mit Soldaten aus dem Tor. Mich sehend, warf er sich mir mit Schreien zur Hilfe und nahm mich bei den Händen. Der sich da befindende jüdische Soldat rief meinen Peinigern auf Russisch zu, dass ich Jüdin sei und das es verboten sei, Juden zu töten.“187

Wenngleich auch in den Texten von Komel’-boj (Simonova), Magomet Sufi (Simonova) und Sadyk-Šerif-Malik (Simonova) Gewalthandlungen russischer Einheiten abgebildet worden sind, reichten deren qualitative Darstellungen nicht an die bemerkenswert schonungslose Direktheit der zitierten Passage heran. Alle drei Autoren berichteten einerseits von dem Massaker an den aufständischen Bewohnern des Muchalinskaja Volost’ nach Kaufmans Rückkehr. Andererseits erwähnten alle drei, dass die russischen Verteidiger der Festung während des Aufstandes lebende und tote Gegner von den Mauern geschmissen hätten. Aber erstens waren diese Aspekte im Verhältnis zu den positiven Bezügen auf die russischen Eroberer in den drei Texten quantitativ von nachrangiger Bedeutung. Zweitens waren sie eng mit ohnehin als grausam bekannten, militärischen Kampfhandlungen im Kontext von Eroberung, Rückeroberung und Unterwerfungen verknüpft. Dagegen bezog sich die Schilderung Zlata Kapeljuschs (Simonova) eindeutig auf grausame Handlungen russischer Soldaten gegen unbewaffnete Zivilisten.188

186 Vgl. ebd., S. 149–150. 187 Ebd., S. 151. 188 Vgl. ebd., S. 134, 136, Simonova: Razskazy, 97/9 (1904), S. 851, 855, 864.

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Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

Die bei Simonova versammelten Texte der vier Samarkander Einwohner Zlata Kapeljusch (Simonova), Sadyk-Šerif-Malik (Simonova), Komel’-boj (Simonova) und Magomet Sufi (Simonova) wiesen bemerkenswert viele negative Zuschreibungen für die indigene Bevölkerungen auf, die als zentral für das russischsprachige autobiografische Erzählen im russischen Turkestan-Diskurs herausgearbeitet wurden. Die indigene Bevölkerung erschien in den Darstellungen der drei männlichen Autoren ängstlich und habe angesichts der herannahenden beziehungsweise zurückkehrenden russischen Truppen feige reagiert. Die innere Ordnung der Stadtgesellschaft ist während der russischen Eroberung, dem indigenen Aufstand und der russischen Verteidigung in den Worten aller vier Autoren von Streit, Unordnung und Gewalt gekennzeichnet gewesen. In der Beschreibung der Aufstachelung der Bevölkerung durch die Mullas und ihre Schüler fand sich das Motiv einer fanatischen Oberschicht wieder, die eine breite Bevölkerung zum Kampf gegen die Russen aufgewiegelt habe, wenn auch weniger deutlich, als in den vorangegangenen Kapiteln. Ebenso indirekt bestätigten Sadyk-Šerif-Malik (Simonova), Komel’-boj (Simonova) und Magomet Sufi (Simonova) das Motiv der Hinterhältigkeit, als sie von den geheimen Vorbereitungen des Aufstandes erzählten. Besonders die den Aufstandsgedanken unter dem Deckmantel religiöser Erbauung verbreitenden Narren bei Komel’-boj (Simonova) sowie die die russische Führung belügenden Ältesten bei Sadyk-Šerif-Malik (Simonova) verdeutlichten das. Parallel transportierten die drei männlichen Autoren einige positive Aussagen über die russischen Akteure. Bei Komel’-boj (Simonova) waren es russische Deserteure, die den Indigenen militärische Ordnung und Disziplin beibrachten. Die russischen Befehlshaber erschienen zudem milde, als sie Komel’-boj (Simonova) für seine fortgesetzte Teilnahme an der Verteidigung begnadigten. Sadyk-Šerif-Malik (Simonova) und Magomet Sufi (Simonova) bildeten General Kaufman als religiös tolerant und als Garant von Ordnung und Stabilität ab. Dennoch transportierten die vier Autoren durchaus zu Kritik anregende Passagen über Gewalthandlungen russischer Soldaten gegen die indigene Bevölkerung. Aus diesen trat Zlata Kapeljuschs (Simonova) bemerkenswert offener und drastischer Bericht über die grausame Hinrichtung zweier jüdischer Kinder durch russische Soldaten besonders hervor. Die indigenen Autoren verschafften den herausgearbeiteten Charakterisierungen eine vermeintlich authentische Bestätigung und trugen innerhalb des autobiografischen Diskurses zu deren Verfestigung bei.

5.6 Schlussfolgerungen Die indigenen Bevölkerungsgruppen Mittelasiens, ihre Lebensräume und Gemeinwesen sind von den frühen 1860er Jahren bis in die Jahre des Ersten Weltkrieges in dem russischsprachigen autobiografischen Diskurs innerhalb des Turkestan-

Schlussfolgerungen

Diskurses von militärischen, wie auch zivilen Diskursteilnehmern mit negativen Eigenschaften und Handlungen charakterisiert worden. Mit Ethnonymen oder mit Begriffen wie Horde, Masse, Asiaten oder Feinde fassten die Autoren die Indigenen sprachlich zusammen. Die so konstruierten Gruppen sind mit Attributen wie Feigheit, Hinterhältigkeit, Grausamkeit, Wildheit oder Unsauberkeit markiert worden. Die Autoren haben ihnen vor allem kollektiv Barbarismus, Räuberei, Sklaverei, Fanatismus oder allgemein Rückständigkeit vorgeworfen. Dabei sind die genannten Begriffe einerseits explizit benutzt worden. Andererseits haben zahlreiche Autoren lediglich die mit dem Bild des Barbaren verbundenen Gewalthandlungen geschildert, ohne den Terminus zu verwenden. Ähnlich verhielt es sich mit dem Postulat von Rückständigkeit oder Unterentwicklung. Beides wurde in Beschreibungen eines in Traditionen verharrenden Verhaltens, durch den vermeintlichen Mangel an modernem Wissen, durch die Darstellung technischer Rückständigkeit, Armut oder Unsauberkeit zum Ausdruck gebracht. Hierbei haben den Autoren zumeist vage russische oder europäische Vorbilder als vermeintlich höher- oder weiterentwickelte Vergleichsgrößen gedient. Eine individuelle Abbildung haben fast ausschließlich herausgehobene Funktions- und Würdenträger erhalten. Allerdings ließen die Autoren selbst diese in ihren Texten nur selten selbstständig zu Wort kommen. Die im folgenden Kapitel anschließenden Ausführungen zum militärischen Kampf werden allerdings zeigen, dass auch der „einfache, russische Soldat“ selten einzeln abgebildet worden ist beziehungsweise eine eigene Sprecherrolle erhalten hat. Indigene Lebensräume, Herrschaftsordnungen oder Machthaber sind von den russischen Autoren ebenso negativ charakterisiert worden. Die Städte wurden allgemein als chaotisch oder stinkend gezeigt. Straßen erschienen als eng und dreckig. Die Architektur wurde häufig als hässlich bezeichnet. Die indigenen Gemeinwesen wurden als von Angst und Gewalt geprägt beschrieben, in denen nur ineffektive Ordnungsstrukturen vorhanden gewesen seien. Die Machthaber sind schließlich als grausame, charakterschwache oder ungebildete Despoten dargestellt worden. Die separate Betrachtung der einzelnen Motive und Erzählweisen im Zeitverlauf verdeutlicht deren zumeist große Stabilität im Untersuchungszeitraum. Für die herausgearbeiteten Beschreibungen mittelasiatischer Kulturen, Lebensräume, Gemeinwesen, einzelner Angehöriger oder Herrscher haben den Autoren vielfältige Vorlagen zur Verfügung gestanden. Layton hat für die russische Hochund Populärliteratur der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Bezug auf den Kaukasus zahlreiche der hier besprochenen Bilder aufgezeigt. Bereits in den Werken Aleksandr Sergeevič Puškins sind Vorstellungen wilder, räuberischer, grausamer, indigener Krieger in als exotisch, fremd und orientalisch konzipierten Umgebungen eingeschrieben gewesen. Deren Entwicklung zu stereotypen Darstellungen, welche die Bewohner des Kaukasus unter anderem als minderwertig abgebildet

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haben, finden sich Layton zufolge erst bei populären Autoren späterer Jahre, wie Dmitri Kropotkin oder M. Venediktov. Während in der Autorengeneration Puškins auch Zweifel an der Unterwerfung des Kaukasus erkennbar gewesen seien, haben deren angesprochene Nachfolger die Eroberung, Pazifizierung und Zivilisierung der Region und ihrer Einwohner nicht mehr in Frage gestellt.189 Die Verbreitung der benannten Charakteristika und Erzählweisen unter russischen Militärs, Diplomaten, Beamten oder Wissenschaftlern und deren Anwendung auf indigene Individuen und Gruppen auf der Krim, in Persien und dem osmanischen Raum ist zudem für das 19. Jahrhundert in den Studien von Sherry, Andreeva, Jobst und Taki herausgearbeitet worden.190 Die hier untersuchten Autoren haben mehrheitlich über höhere Bildung und den Zugang zu Literatur und Publizistik verfügt. Nicht selten waren sie an der Eroberung des Kaukasus oder dem russisch-türkischen Krieg beteiligt. Daher wird argumentiert, dass sie die bekannten Erzählweisen und Figuren in ihren Schriften über Turkestan aufgegriffen, nicht pauschal kopiert aber variantenreich verarbeitet haben. Hierin lag eine eigenständige Leistung des autobiografischen Diskurses innerhalb des Turkestan-Diskurses, mit der die Autoren in Turkestan neue Räume der Autobiografik erschlossen haben. Innerhalb der autobiografischen Erzählungen haben die verschiedenen Figuren und Erzählweisen unterschiedliche Funktionen besessen. Die summierende Darstellungsweise hat eine Komplexitätsreduktion der teils komplizierten ethnischen, sozialen oder politischen Verhältnisse in den mittelasiatischen Bevölkerungen bewirkt. Die konstruierten Gruppen erleichterten die Etablierung klarer Fremdund Feindbilder, gegenüber denen sich die Autoren in Anlehnung an Moser und Wendt als Teil einer überlegenen Wir-Gruppe verorten konnten, die im Kapitel 7 untersucht werden. Den Feind-Gruppen sind vor allem in den Erzählungen der Militärs die Rolle der Eroberten, Unterworfenen oder Pazifizierten zugekommen. Die Abbildung ihrer Überzahl diente der Aufwertung des jeweiligen russischen Sieges. Die als fremd dargestellten Gemeinschaften bildeten den Gegenstand von Erforschung, Verwaltung oder Zivilisierung. In einigen Fällen erhielten sie die Rolle der passiven staunenden Masse, vor deren Hintergrund sich die russischen Protagonisten als aktiv handelnd

189 Vgl. Layton: Conquest, S. 92–98, 101–103, 110–116, 133–143, 149, 156–166. Auch Layton verwies mehrfach auf die Thematisierung des Kaukasus in zeitgenössischen Memoiren. Vgl. Layton: Conquest, S. 128–129, 154, 171. 190 Vgl. Sherry: Kavkaztsy, S. 200–208, Andreeva: Iran, S. 3–4, 78, 97–115, 118, 120, 125, 126–128, Jobst: Krim-Diskurs, S. 186, 191, 197–198, 283, Taki: Sultan, S. 7, 95, 100, 108–110. Auch Deutschmann ist überzeugt gewesen: „[…] ‘[D]isorder’ and ‘anarchy’ run like a red thread through numerous Russian accounts of Iran in the nineteenth century.“ Deutschmann: Imperialism, S. 1.

Schlussfolgerungen

darstellen konnten.191 Kippers Untersuchung zu literarischen Erinnerungen über den deutsch-französischen Krieg 1870/1871 bestätigt beispielhaft, dass die hier gezeigte Stiftung von Eigen- und Fremdbildern in publizierten Kriegserinnerungen zeitgenössisch auch im deutschen Sprach- und Kulturraum verbreitet war.192 Die Darstellungen von indigenen Individuen dienten den Autoren der Exemplifizierung und Präzisierung besagter Fremd- und Feindbilder. Gegen neutral und negativ abgebildete Figuren konnten die Autoren sich abgrenzen, eigene Fähigkeiten oder positive Verhaltensweisen und Eigenschaften betonen. Negative Zuschreibungen nutzten sie als Rechtfertigung ihres jeweiligen Verhaltens. Positiv gestaltete Portraits indigener Personen boten dagegen die Möglichkeit, den für die Legitimation der Expansion wichtigen Fortschritt zu bekunden, beispielsweise aufgrund vollzogener Verhaltensänderungen der Indigenen. Schließlich boten hohe Würdenträger, wie zum Beispiel Chane oder Emire, den Autoren die Gelegenheit, ihr Prestige zu steigern, indem sie sich in einer räumlichen oder sozialen Nahbeziehung zu diesen abgebildet haben. Die entstandenen Fremd- und Feindbilder dienten auch dazu, die etablierten Hierarchien zwischen untergeordneten Indigenen und übergeordneten Eroberern zu begründen und zu verfestigen. Mit Hofmeister wird argumentiert, dass dies ein permanenter, nie abgeschlossener Aushandlungsprozess gewesen ist.193 Um die Erzählung von der Unterlegenheit der Indigenen bis zuletzt aufrechterhalten zu können, mussten die negativen Charakterisierungen fortgeführt werden. Hierbei wurde offensichtlich in Kauf genommen, dass sie den angeblich von den Eroberern zu verbreitenden beziehungsweise gebrachten, kulturellen, ökonomischen oder sozialen Fortschritt zunehmend in Frage gestellt haben. Die editierten indigenen Autoren, deren Erzählungen ebenfalls zahlreiche der benannten, negativen Eigenschaften und Verhaltensweise reproduziert haben, funktionierten innerhalb des russischsprachigen autobiografischen Diskurses als vermeintlich authentische, indigene Beglaubigung der von russischer Seite kolportierten Einsichten. Zusätzlich zu den Begründungen der Expansion und der Selbstauszeichnung als Helden mittels der Überwindung der gegnerischen Natur bilden die konstruierten Fremd- und Feindbilder und die auf ihnen beruhende abgrenzende Selbstdarstellung als militärisch, technisch, kulturell oder zivilisatorisch überlegen ein weiteres Element der positiven Erfolgserzählung über die russische Expansion in Turkestan. Die behauptete individuelle Überlegenheit war in den genannten Bereichen immer

191 Vgl. Moser/Wendt: Das Barbarische, S. 13. Jobst hat im konkreten Zusammenhang mit den Krimtataren ähnlich argumentiert. Vgl. Jobst: Krim-Diskurs, S. 182. 192 Vgl. Rainer Kipper: „Formen literarischer Erinnerung an den Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71“. In: Helmut Berding/Klaus Heller/Winfried Speitkamp (Hrsg.): Krieg und Erinnerungen. Fallstudien zum 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 2000, S. 17–37. 193 Vgl. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 95.

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Von Barbaren, Asiaten und fremden Orten

auch die postulierte Überlegenheit eines Teilbereiches des Imperiums. Somit waren die Selbstbeschreibungen und die Darstellung des Reiches in Mittelasien erneut eng verzahnt. Im Kontext der übergeordneten positiven Gesamterzählung trug auch dies im Sinne von Aust und Schenk zum den Zusammenhalt des Reiches fördernden Potential des autobiografischen Diskurses bei.194 Das nachfolgende Kapitel wendet sich mit der Verarbeitung des militärischen Kampfes einem weiteren Element von Selbstdarstellung und übergeordneter Erfolgserzählung zu.

194 Vgl. Aust/Schenk: Einleitung, S. 11–12.

6. Der militärische Gegner

„Ein großer und starker Sarte1 mit einer langen Lanze warf sich auf das Soldatchen Dmitriev, der einen anderen Sarten erstach. Ich durchstach den Riesen mit dem Bajonett und zerbrach das Bajonett in ihm.“2

Der rund zwei Jahrzehnte andauernde Eroberungsprozess Mittelasiens, mit seinen zahlreichen militärischen Kampagnen und den folgenden Militäreinsätzen zur Niederschlagung verschiedener Aufstände gegen das russische Regime beziehungsweise die von ihm protegierten indigenen Herrschaftsordnungen, spielte in den Dokumenten autobiografischer Praxis über Turkestan eine bedeutende Rolle. Sichtbar wird dies bereits an der großen Zahl von publizierten militärischen Memoiren, Teilnahmeberichten oder Auszügen aus Feldtagebüchern. Ein großer Teil dieser Texte lässt sich inhaltlich direkt den einzelnen militärischen Feldzügen gegen Čimkent, Taschkent, Samarkand, Chiva, Geok-Tepe oder Merv zuordnen. Häufig enthalten schon die Titel entsprechende Orts- und Jahresangaben. Deren Autoren nutzten im gesamten Untersuchungszeitraum, neben der bereits in Kapitel 4 besprochenen Figur der Natur als Gegner, den Themenkomplex des militärischen Kampfes für ihre Selbstdarstellung als militärische Helden3 und gegen den zeitgenössischen Vorwurf vermeintlich „leichter Siege“. Wenngleich die eingangs zitierte Szene hierfür sehr illustrativ wirken mag, besaß die Selbstinszenierung im heroischen Nahkampf auf Leben und Tod quantitativ betrachtet in der untersuchten Autobiografik eine verhältnismäßig geringe Bedeutung. Das nachfolgende Kapitel analysiert daher, mit welchen Inhalten und Erzählweisen die Autoren den Themenkomplex für ihre Selbstdarstellung als Helden eingesetzt haben. Hierzu wird zunächst auf den beständig wiederkehrenden Erzählzusammenhang von persönlichen Handlungen und Leistungen im Gefecht, der Betonung der überstandenen Lebensgefahren und die Herausstellung erhaltenen

1 Mit dem Begriff wurden häufig aber nicht durchgehend sesshafte, turksprachige Volksgruppen bezeichnet. Vgl. Morrison: Russian Rule, S. 43. 2 Simonova: Razskazy, S. 148. Die verwendete Zitierweise betrifft in diesem Kapitel auch Isaak Kapeljuš. Beide Autoren sind unselbstständig in dem angegebenen Journalartikel von Simonova erschienen. 3 Der Begriff wird hier nach Stegmann als „nachahmenswerte Identifikationsfigu[r]“ verwendet. Es handelt sich um eine „charismatische Gestal[t]“, die sich durch positive Eigenschaften wie Entschlossenheit, Opferbereitschaft, Kühnheit, Standhaftigkeit, Solidaritätssinn und Würde auszeichnet. Vgl. Stegmann: Opferdiskurs, S. 13. Für eine kurze Begriffsgeschichte siehe Berny Sèbe: Heroic imperialists in Africa. The promotion of British and French colonial heroes, 1870–1939. Manchester 2013, S. 7–10.

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Der militärische Gegner

Lobes eingegangen, der sich von der Mitte der 1860er Jahre bis in die Jahre vor dem Ersten Weltkrieg in den Texten auffinden lässt. Es folgt eine Analyse der Verwendung direkter und indirekter Gewaltdarstellungen als Mittel der Selbstdarstellung. Hieran schließt sich eine Untersuchung narrativer Strategien zur Absicherung und Verteidigung postulierten Heldentums an. Abschließend findet eine zusammenfassende Reflexion über die erarbeiteten Aspekte als Teil der autobiografischen Erzählung statt.

6.1 Der militärische Kampf als Mittel der Selbstauszeichnung Im gesamten Untersuchungszeitraum beschrieben sich Autoren einzeln oder als Teil ihrer Einheiten in Kampfsituationen. Sie berichteten von den Erfolgen der Feldzüge, stellten eigene Leistungen heraus und betonten die vielfältigen Gefahren und schwierigen Umstände der Gefechtssituation, unter denen diese errungen worden seien. Für die 1860er und 1870er Jahre sollen diese Zusammenhänge anhand der Texte von Tat’janin und Kolokol’cov verdeutlicht werden. Der Unteroffizier einer Orenburger Pioniereinheit Tat’janin erzählte in seinem Teilnahmebericht von der Erstürmung der Festungen Ura-Tjube und Džizak im Jahr 1866. In seiner Selbstdarstellung konzentrierte er sich einerseits auf die Kampfhandlungen und andererseits auf die Sorge um seine verwundeten Kameraden. Für Ura-Tjube beschrieb er zunächst die Gefahrensituation. Während ihres Artilleriebeschusses der Festung „[…] überschütteten die Bucharaer unsere Geschützbatterie sprichwörtlich mit Geschossen […].“4 Er betonte, dass sie zuletzt nur etwa 200 Schritte von den Mauern entfernt postiert gewesen seien. Über den wenig später folgenden Sturm der Festung erzählte er, dass dieser seiner Sturmabteilung mit deutlich geringeren Verlusten – lediglich ein Pionier sei getötet worden – gelungen sei, als den übrigen Einheiten. Ihre Verluste dienten ihm mehrfach als Ausweis ihres Erfolges. War sein Text überwiegend in der ersten Person Plural verfasst, begann er seine Beschreibungen des Sturmes auf Džizak akzentuierend mit der Aussage in der ersten Person Singular, dass er sich in der Sturmkolonne befunden habe, die auf das Haupttor vorrückte. Ebenso betonte er: „Ich erklomm als Dritter die Mauer […].“5 Kurz zuvor seien bereits zwei Kameraden gefallen. Diese Angabe ihrer Verluste funktionierte als Beleg für die tödliche Gefahr, durch deren Überleben sich der Autor auszuzeichnen suchte. Die weiteren Beschreibungen der Kampfhandlungen im Inneren der Festung, über die im Folgenden noch gesprochen wird, beschloss

4 Tat’janin: Turkestanskago kraja, 5/20 (1867), S. 162. 5 Ebd., S. 163.

Der militärische Kampf als Mittel der Selbstauszeichnung

er mit der Aussage: „Viele meiner Kameraden wollten ihren Augen nicht glauben, mich gesund und unversehrt sehend.“6 Während er sich mit seinem dritten Platz auf der Sturmleiter selbst direkt lobte, drückte die Überraschung seiner Kameraden indirekt Anerkennung für seinen Einsatz aus. Aus der Phase nach der Einnahme von Džizak berichtete Tat’janin, wie er verwundete Kameraden im Lazarett besuchte. Er schilderte ausführlich und in Dialogform die schweren Verwundungen des Unteroffiziers Balandina. Dem Krankenbesuch folgte in der Erzählung ein Rapport bei seinem Vorgesetzten über die Erstürmung. Tat’janin hob hervor, dass sich der Kommandeur seiner Kompanie „im Besonderen über unsere Verwundeten“7 erkundigt habe. Bei einem erneuten Besuch der Verwundeten stellte der Autor schließlich den Tod des Unteroffiziers, aber das Überleben eines dem Anschein nach schwerer verwundeten Soldaten fest. Insgesamt wiesen diese Ausführungen den Autor indirekt als sorgsamen mitfühlenden Kameraden aus. Zudem unterstrich das scheinbar willkürliche Überleben und Sterben seiner Kameraden erneut die existentiellen Gefahren, denen somit auch er ausgesetzt gewesen sei.8 Abschließend formulierte Tat’janin eine Art Fazit und ordnete das Geschehene selbst ein und berichtete, dass man ihnen „für diese zwei heldenhaften Stürme“9 einige Auszeichnungen verliehen habe. Er selbst habe mit zwei weiteren Soldaten das Silberne Georgskreuz 3. Klasse (Znak Otličija Voennogo ordena Svjatogo Georgija)10 erhalten. Weiterhin erzählte er von dem erhaltenen Dank der Generalität „für die gezeigte Tapferkeit“11 . Tat’janin begründete sein selbst postuliertes Heldentum, indem er die überstandenen Gefahren während der Gefechte und ihre Folgen beschrieb, die Opferzahlen benannte, sein eigenes engagiertes Kämpfen direkt und indirekt herausstellte, seine kameradschaftliche Fürsorge abbildete und die erhaltenen Auszeichnungen und Belobigungen erwähnte. Die Erinnerungen des Offiziers Kolokol’cov waren – anders als bei Tat’janin – viel stärker von der Figur der Natur als Gegner geprägt. Dennoch nutzte auch er die wenigen Kampfsituationen seiner Armee im Vorfeld der weitgehend kampflosen 6 7 8 9 10

Ebd., S. 164. Ebd., S. 165. Vgl. ebd., S. 164–165. Ebd., S. 166. Es handelte sich hierbei nicht um den „Kaiserlichen Kriegsorden des heiligen Großmärtyrers und Siegesreichen Georgs“ (ugs. Georgsorden), sondern um eine 1807 von Alexander I. für Soldaten und Unteroffiziere gestiftete, ab 1856 in vier Klassen vergebene Auszeichnung. Für Informationen zu Orden und Zeichen vgl K.K. Arsen’ev: „Znaki otličija vojskovych častej“. In: K.K. Arsen‘ev/F.F. Petrušeskij (Hrsg.): Ėnciklopedičeskij slovar‘ Brokgauza i Efrona. Bd. 12A. Leipzig, Sankt Peterburg 1894, S. 615–616, P. f.-Vinkler: „Orden“. In: K.K. Arsen‘ev/ F.F. Petrušeskij (Hg.): Ėnciklopedičeskij slovar‘. Bd. 22. Leipzig, Sankt Peterburg 1897, S. 117–121. 11 Tat’janin: Turkestanskago kraja, 5/20 (1867), S. 166.

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Einnahme Chivas 1873, um sich und seine Kameraden direkt und indirekt auszuzeichnen. Hierbei hat es sich zumeist um turkmenische Überfälle auf ihre Truppen gehandelt, die keine weitere Bedeutung auf die russische Eroberung des Chanates gehabt haben. Vielmehr betonte der Autor beispielsweise mit seinem Bericht zu Überfällen auf ihr Lager in Chal Ata, bei denen Soldaten und Offiziere verletzt worden seien, die Gefahren, denen auch er ausgesetzt gewesen sei. Dabei hob er die „Ruhe und Standhaftigkeit“12 der Soldaten, die er auch als „Handvoll Tapferer“13 bezeichnete, hervor. Zu einem nächtlichen Angriff auf ihr Lager bei Adam Krylgan formulierte er über sich selbst, dass er bei dem Alarmsignal „[…] in derselben Minute bereit […]“14 gewesen sei und sich sogleich zum Oberkommandierenden Kaufman begeben habe, der „[…] völlig ruhig alle Bewegungen des Feindes betrachtete […]“15 und den Offizieren seine Befehle zu ihrer letztendlich erfolgreichen Verteidigung erteilt habe. Der Autor beschrieb sich als kampfbereit und kolportierte die Qualitäten Ruhe und Besonnenheit für den Heerführer General Kaufman. Über einen erfolgreich abgewehrten Angriff bei Alty-Kuduk erzählte der Autor, dass man von den dabei gefangen genommenen Turkmenen wertvolle Informationen über den vor ihnen liegenden Weg und die Truppenstärken des Gegners erfahren habe. Infolge von Kampfhandlungen am Amudarja konnte der Autor über die Zerstörung einer gegnerischen Geschützstellung und vom dafür erhaltenen Lob des verantwortlichen Generals für die Treffgenauigkeit der russischen Artillerie berichten. Sein Hinweis auf ein getötetes Pferd und ein beschädigtes Geschütz unterstrich erneut die Gefahren ihres Einsatzes. Einer letzten Kampfbeschreibung folgte schließlich mit der Einnahme der Festung Chazar-asna die letzte Erfolgsmeldung.16 Kolokol’cov nutzte drei Szenen mit Geschützeinsatz, um sich selbst scheinbar unberechenbaren Gefahrensituationen ausgesetzt zu zeigen. Hierbei wechselte er in die erste Person Singular, während große Teile des Textes in der ersten Person Plural verfasst worden sind. Erstmals tat er dies kurz vor ihrer Ankunft am Amudarja. Er beschrieb größere Kampfhandlungen am See Sardoba kul. Truppen des Chanats sollten ihnen den Weg zu den beiden Gewässern und nach Chiva abschneiden. Der Autor wies zunächst auf die Erfolge der russischen Einheiten bei der Abwehr der Angriffe hin und formulierte dann über ihr Nachtlager: „Ich war schon fast eingeschlafen, als plötzlich das Pfeifen einer Kugel über dem Kopf mich zum Erwachen nötigte; denkend, dass sich der Feind uns vielleicht genähert hat,

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Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 393. Ebd., S. 394. Ebd., S. 22. Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 388–389, 393–394, 22–23, 34–35, 54–55, 60–61.

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stand ich auf und ging zur 1. Schützenkompanie und dem Geschütz. Aber außer der Wache schliefen alle und auf meine Frage antwortete der Artillerist: ‚Die Hunde machen Dummheiten, Hochwohlgeboren‘.“17

Kurz darauf inszenierte er sich bei Uč-Čučak erneut in einer ähnlichen Gefahrensituation, als die Truppen sich in seinen Worten zum Fluss durchkämpften. Er berichtete wie ein feindliches Geschoss, das der Position des Oberkommandierenden gegolten habe, auf der auch er sich gerade aufgehalten habe, „[…] über unsere Köpfe mit durchdringendem Pfeifen hinwegflog.“18 Während ihres Lagers am Amudarja gerieten sie laut Kolokol’cov nochmals von der anderen Flussseite aus unter feindliches Feuer, in dessen Verlauf der Autor von einem Geschoss berichtete, dass nur zehn Fuß von ihm entfernt eingeschlagen sei.19 Anders als bei Tat’janin folgte bei Kolokol’cov kein umfassendes Fazit am Textende. Aber auch er zitierte das Lob des Oberkommandierenden Kaufman, der seinen Truppen nach ihrer Ankunft in Chiva „für den verwegenen und ehrenhaften Dienst“20 gedankt habe. Der Autor selbst attestierte den Ereignissen einen Platz auf den „Ehrenseiten der Geschichte der russischen Streitkräfte“21 . Kolokol’cov nutzte die Gefechtssituationen, um die Lebensgefahren ihres Einsatzes zu verdeutlichen und die erreichten Erfolge zu benennen. Dabei zeichnete er die Einheiten direkt und indirekt mit den Eigenschaften Ruhe, Standhaftigkeit und Tapferkeit aus, welche er mit dem Lob Kaufmans am Textende erneut zu belegen suchte. Kolokol’cov stellte sich in keiner der beschriebenen Gefechtssituationen selbst kämpfend dar. Folglich ist der Gebrauch der ersten Person Plural, durch die er die Erfolge und Positivzuschreibungen für seine Einheit auch für sich in Anspruch nahm, für seine Selbstbeschreibung noch bedeutender. Dennoch setzte Kolokol’cov sich mehrfach unter feindlichem Beschuss in Szene, wobei er akzentuierend die erste Person Singular nutzte. Er unterstrich hierbei, den Lebensgefahren auch persönlich ausgesetzt gewesen zu sein. Die aufgezeigten Erzählweisen über die verschiedenen Gefechte fanden sich auch in den Texten von Južakov und Arnol’di aus den 1880er Jahren wieder. Die

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Ebd., S. 40. Ebd., S. 43. Vgl. ebd., S. 40–43, 53. Ebd., S. 68. Ebd., S. 71. Vgl. auch die Erinnerungen des Kriegsingenieurs Fišer an die Belagerung und Einnahme der Stadt Chodžent 1866. Der Autor formulierte überwiegend in der ersten Person Plural und berichtete über seine persönlichen Leistungen (akzentuierend in der ersten Person Singular) und jene seiner Untergebenen. Er hob Erfolge hervor und beschrieb überstandene Gefahren. In seinem Fazit quantifizierte er die Leistungen, benannte deren politische Wirkung und zitierte das Lob seines Vorgesetzten. Vgl. Fišer: Vzjatii goroda, 1 (1873), S. 3–6, 9–19, 21–29, 31–38.

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Erinnerungen des Offiziers Južakov über die Eroberung Taschkents 1865 waren ebenso wie bei den Autoren der 1860er und 1870er Jahre eine Positivdarstellung, die auf militärische Erfolge, Schwierigkeiten und Gefahren fokussiert gewesen ist. Die erste Erfolgsmeldung bildete in Južakovs Darstellung die Einnahme der Taschkent vorgelagerten Festung Nijazbek, die er nicht näher beschrieb. Hinsichtlich des folgenden Gefechtes gegen kokandische Truppen bei Sarytjube, kurz vor Taschkent, betonte er einerseits die Gefahren, als er erwähnte, dass Mulla Alimkul „[…] mit einem Auflauf von 40.000 [erschienen sei], unter welchem bis zu 10.000 reguläre, formierte Infanterie, bei 40 Geschützen […]“22 gewesen sei. Anderseits wertete er dadurch den in kurzer Zeit über diesen Gegner errungenen Sieg auf. Auch mit der Beschreibung ihres nächtlichen Sturmangriffes auf Taschkent, des lautlosen Anschleichens, des für den Gegner überraschenden Überwindens der Festungsmauern und eines Stadttores betonte er ihre Erfolge. Schwierigkeiten und Gefahren kamen hier nur indirekt durch einzelne, namentlich benannte Verwundete oder gelegentliche Hinweise auf die große Zahl von Gegnern zum Ausdruck. Južakovs ebenso erfolgsbetonte Beschreibung des russischen Vordringens in die Stadt, das schließlich in der erstmaligen Besetzung der Zitadelle mündete, nahm einzelne Offiziere namentlich in den Blick. Er erzählte, wie deren Einheiten auf vielfältigen Widerstand trafen, diesen aber „mit entschlossenem Druck“23 überwanden. Die sich gegen die Einnahme der Stadt „mit Bajonetten, Lanzen […] und mit bloßen Fäusten“24 wehrenden Bewohner nutzte der Autor vielfach, um die russischen Soldaten als tapfer zu beschreiben. Die Gefahren der Eroberung verdeutlichte der Autor an einzelnen Gefechtssituationen über den gesamten Einnahmeprozess hinweg, in denen beispielsweise einzelne Einheiten aufgerieben zu werden drohten und erst im letzten Moment durch Verstärkung gerettet worden seien. Den letzten großen Erfolg vor der endgültigen Unterwerfung der Stadt markierte in Južakovs Erzählung die Errichtung und Verteidigung ihres Nachtlagers, was sie durch die gezielte Inbrandsetzung umliegender Straßenzüge erreicht hätten. Hunger, Müdigkeit und wiederholte nächtliche Angriffe verdeutlichten an dieser Stelle seiner Darstellung ausgestandene Schwierigkeiten und Gefahren.25 Deutlich öfter als die vorangegangenen Autoren bewertete Južakov das militärische Vorgehen mit Eigenschaften wie Kühnheit (smelost‘), Verwegenheit (derzost‘) oder Tapferkeit (chrabrost‘)26 und bezeichnete die handelnden Soldaten als „kühne

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Južakov: Vzjatija, S. 4. Ebd., S. 8. Ebd., S. 10. Vgl. ebd., S. 4, 6–14. Vgl. ebd., S. 1, 2, 6, 10, 14–15.

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russische Pioniere“27 oder direkt als „Helden von Uzun-agač, Pišpek, Aulie-Ata, Čimkent, Akmečet, Turkestan, Ikan, Akbulak und Sarytjube“28 . Wie Tat’janin und Fišer beendete auch Južakov seinen Text mit einem Fazit, indem er zum einen ihre seiner Auffassung nach geringe Truppenstärke, die Überzahl des Gegners, ihre Verwundeten und Getöteten sowie im Kampf errungene Trophäen zusammenfasste. Zum anderen bezog er die seiner Auffassung nach positiven Entwicklungen Taschkents in den darauffolgenden 16 Jahren bis zum Publikationszeitpunkt als Folge ihres Handelns in seine Erfolgsbilanz mit ein. Das rechtfertigte für ihn, von dieser Eroberung erneut als einer „heldenhaften Sache“29 zu sprechen. Ihren Offizieren schrieb Južakov bereits eingangs allgemein das Attribut „kämpferisch“ zu. Im Textverlauf hob er mehrfach allgemein das „planvolle“ Vorgehen während der einzelnen Kampfphasen hervor. Indirekt erschienen General Černjaev zugeschriebene Entscheidungen als strategisch und vorausschauend. Beispielsweise erwähnte der Autor, wie dieser anordnete, Taschkent in Nijazbek die Wasserversorgung abzuschneiden oder wie er mit der Inbrandsetzung umliegender Straßenzüge die folgende Verteidigung ihres Nachtlagers gewährleistete.30 Konsequenter als die zuvor genannten Autoren nahm Južakov die Erfolge, die überstandenen Gefahren und das darüber begründete und von ihm deutlicher als anderswo postulierte Heldentum der Gruppe für sich in Anspruch, indem er seinen Text ausnahmslos in der ersten Person Plural formuliert hat. Kein einziges Mal tauchte er selbst handelnd auf. Nicht einmal die von ihm selbst gelobte Überwindung der Festungsmauer während des nächtlichen Sturmangriffes, die beispielsweise für Tat’janin erwähnenswert schien, nutzte der Autor zur direkten Selbstbeschreibung. Wie Kolokol’covs Text waren auch Arnol’dis Erinnerungen an seinen Dienst im transkaspischen Raum um das Jahr 1877 stark von der Figur der Natur als Gegner geprägt. In seinen Ausführungen über die Arbeit in und um Petro-Aleksandrovsk und Krasnovodsk sowie die damit verbundenen Truppenverlegungen stellte der Autor sich als leitenden Offizier dar, beschrieb überstandene Schwierigkeiten und nahm persönlich erreichte Leistungen und solche seiner Untergebenen für sich in Anspruch.31 Dieses Muster setzte der Autor im letzten Textabschnitt fort, in dem er über Kampfhandlungen im Zusammenhang mit einem nicht erfolgreichen Vorstoß General Lomakins in die südlichen Gebiete der Turkmenen erzählte. Laut Arnol’di kam es nach ihrer Ankunft in den turkmenischen Gebieten auf einer Erkundungsmission bei Kizil Arvat zu einem Angriff auf seine Einheit. Der

27 Ebd., S. 1. 28 Ebd., S. 2. Für weitere Verwendungen des Begriffes siehe auch ebd., S. 11, 15. 29 Ebd., S. 15. So bereits bei Južakov für eine einzelne, als Schlüsselmoment dargestellte Kampfszene geschehen. Vgl. ebd., S. 11. 30 Vgl. ebd., S. 1, 4, 10, 12. 31 Arnol’di: Zakaspijskom krae, S. 1–5, 11, 15–16, 20, 23–26, 28, 37–41, 43.

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Autor stellte sich in den Mittelpunkt des Geschehens und sprach von der „kritischsten“ (samoe kritičeskoe) Lage. Er beschrieb, wie er erfolgreich von einem Beobachtungspunkt aus zu den bereits attackierten Einheiten durchgedrungen sei, ohne in Gefangenschaft zu geraten. In seinen Worten reorganisierte und leitete er hierauf ihre zunächst ungeordnete Verteidigung. Indem er die Überzahl des Gegners und ihre Munitionsknappheit hervorhob, spitzte er ihre Lage weiter zu und betonte dabei ihre Lebensgefahr, als er formulierte: „Mit jeder Sekunde wurde unsere Lage gefährlicher und Verstärkung war noch nicht in Sicht. Die Tekincen [Mitglieder eines turkmenischen Verbandes, Anm. d. A.] kreisten uns ein und begannen Angriffe von drei Seiten; wir hörten schon die ermutigenden Rufe Allah! und das Getrampel von tausend Pferden und zum Zurückschießen hatten wir fast nichts. Noch ein paar Sekunden länger und wir, 250 Personen an der Zahl, wären von 3.000 Feinden niedergehauen und zerquetscht worden.“32

Zusätzlich reicherte er diese Erzählung über ihre standhafte Verteidigung durch Beschreibungen des Agierens einzelner ihm untergebener Soldaten an. In einer Fußnote berichtete er beispielsweise von einem Soldaten, der vom Pferd gestürzt, durch den Gegner eingekreist, sich trotz Verwundungen gegen seine Gefangennahme gewehrt habe und schließlich zu seiner Einheit zurückgefunden hätte. Für diese Leistung sei er, so Arnol’di, ausgezeichnet worden. Ihre Lage wandelte sich in der Darstellung des Autors mit dem Eintreffen ihnen zur Hilfe geeilter Einheiten. Arnol’di berichtete von der „Verheerung“ (opustošenie), die sie dem Gegner nun beigebracht hätten. Er beendete diese Ausführungen ebenso wie die Autoren zuvor mit einem Fazit, indem er nochmals hervorhob, dass sie gegen 4.000 Feinde auf dem Schlachtfeld mit einer Reserve von weiteren 2.000 Gegnern gekämpft hätten, von denen rund 100 getötet worden seien. Ebenso erwähnte er ihre Verwundeten und Gefallenen. Wenngleich dieser Sieg nur eine kurze Episode blieb und der Feldzug insgesamt mit ihrem verlustreichen Rückzug durch die Wüste an die Küste des Kaspischen Meeres endete, nutzte Arnol’di die Kampfszenen für seine Selbstdarstellung als mutiger Offizier von sich tapfer verhaltenden Soldaten, der diese in größter Gefahr erfolgreich führte. Für die Abbildung der Gefahren nutzte er erstens eine ihm eigene starke Dramatisierung der Szene. Zweitens verwies er, wie die Autoren zuvor, auf die Überlegenheit des Gegners und die eigenen Verluste. Es fiel auf, dass Arnol’di die transportierten Eigenschaften wie Standhaftigkeit oder

32 Ebd., S. 34.

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Tapferkeit, anders als beispielsweise Južakov, nicht explizit formulierte, sondern indirekt durch die Beschreibung ihres Verhaltens ausdrückte.33 Anders als die bisherigen Autoren ist der Maler Vereščagin kein führender Offizier gewesen. Dennoch ist sein Teilnahmebericht aus den 1890er Jahren über die Verteidigung der im Jahr 1868 eroberten Festung Samarkand wie bei Tat’janin, Kolokol’cov und Arnol’di stark von der Selbstdarstellung im Gefecht geprägt gewesen. Der Autor erklärte eingangs, dass er sich als Maler den Truppen General Kaufmans angeschlossen habe, um mit dem Krieg in Kontakt zu kommen. Er berichtete über sein Malen an öffentlichen Orten in der Stadt und wie er noch versucht habe, seine Reise fortzusetzen, bevor er den Angriff auf die russische Garnison zu schildern begann: „Hier war das Bucharaer Tor. Auf dem Platz oberhalb von ihm waren Soldaten, durch den Qualm rennend, lebhaft im Gefecht mit dem Feind; ich rannte dorthin, die Unterzahl unserer Verteidiger sehend, nahm ich ein Gewehr von einem der ersten gefallenen Soldaten unweit von mir, füllte mir die Taschen mit Patronen der Getöteten und verteidigte acht Tage die Festung gemeinsam mit allen Kampfgenossen und das nicht einmal aus irgendeinem besonderen Heldenmut, sondern einfach, weil unsere Garnison ohnehin zahlenmäßig klein war, so dass alle Genesenen und Schwachen aus dem Hospital zurück in den Dienst geführt wurden, um die Zahl der Bajonett zu verstärken – ein untätig bleibender, gesunder Mensch wäre sündhaft gewesen – einfach nicht möglich.“34

Vereščagin inszenierte seine Kampfteilnahme als alternativlose Reaktion auf einen fast zufällig erscheinenden Angriff. Rückte er den „Heldenmut“ hier auch stark in den Hintergrund seiner Beweggründe, so räumte er seinem mutigen und tapferen Agieren in der folgenden Beschreibung der Verteidigung der russischen Garnison viel Platz ein. In einer frühen Phase der Kampfhandlungen berichtete der Autor beispielsweise, wie ihnen Handgranaten ausgeteilt worden seien, sie aber nicht gewusst hätten, wo genau der Gegner sich befunden hätte. In dieser Situation erzählte Vereščagin, wie er sich über die wiederholten Warnungen seines

33 Vgl. ebd., S. 32–36. Vgl. auch die Erinnerungen an die Eroberung der turkmenischen Gebiete bei Geok-Tepe um die Jahreswende 1880/1881 von Guljaev. Er stellte sein Handeln als Divisionskommandeur, erzielte Erfolge, überstandene Lebensgefahren, erhaltenes und erteiltes Lob sowohl für sich als auch für seine Einheiten heraus. Auf diese Weise schilderte er die Truppenverlegung in das Kampfgebiet, dessen Auskundschaftung, die Belagerung und Erstürmung der Festung sowie die gewaltsame Befriedung der Region. Auch dieser Autor benannte in seiner Bilanz am Textende die Opferzahlen, Lob und Dank der Generalität sowie die Auszeichnungen seiner Untergebenen. Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 1, 3, 10, 20–21, 25, 28, 32–47, 50–57, 61, 63–70, 73–75, 77, 79, 80–84, 88. 34 Vereščagin: Samarkand, S. 10.

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Vorgesetzten hinweggesetzt habe, auf die Mauer geklettert sei, die Position des Gegners dahinter erspäht und diese bei seiner Rückkehr der Einheit berichtet habe, woraufhin ihr gemeinschaftlicher Wurfangriff geglückt sei. Im weiteren Textverlauf berichtete er über diverse Angriffswellen ihrer Gegner. Beispielsweise sagte er, als einige Angreifer durch eine Mauerspalte eingedrungen waren, „[…] ich warf mich ins Gefecht […]“35 . Kurz darauf war es wieder mehrfach der Autor, der seine Kameraden mit Rufen wie „Brüder mir nach“36 allein oder mit seinem Vorgesetzten zum Vorstürmen aufgefordert habe. Ein letztes Mal stellte sich Vereščagin im Alleingang dar, als er ein großes rotes Banner mit Schriftzeichen bei den Festungsmauern selbstständig entfernt habe, weil er es für „schmählich“ (pozornyj) gehalten habe. In seinen Beschreibungen der verschiedenen Angriffswellen auf ihre Garnison folgte der Erzählung der einzelnen Kampfhandlungen gewöhnlich die Benennung erreichter Erfolge, etwa das Zurückdrängen der Angreifer oder der erfolgreiche Einsatz eines Geschützes. Vor allem sein eigenständiges, unabhängiges Handeln, das ihn wiederholt als wagemutig charakterisierte, unterschied seine Selbstdarstellung von denen der vorangegangenen Autoren.37 Bei seinen Alleingängen und in zahlreichen Kampfszenen in Gemeinschaft mit seinen Kameraden betonte Vereščagin die Lebensgefahren, denen sie ausgesetzt gewesen seien. Mehrfach erwähnte er ihre geringe Zahl und die große Überzahl der Gegner sowie den Umstand, dass die Festung zu groß und in zu schlechtem Zustand gewesen sei, um sie adäquat zu verteidigen. Beim Ausspähen des Gegners für ihren Handgranatenwurf „knallten ein Dutzend Kugeln in die Wand“38 neben ihm. Während der verschiedenen Angriffswellen erwähnte er vielfach die Gefallenen oder Verwundeten Soldaten. Mal fiel einer in seiner Erzählung „Hals über Kopf über die Mauer“39 , mal brach einer über ihm tödlich verwundet zusammen. An anderer Stelle „[…] hat mir eine Kugel die Mütze vom Kopf geschlagen, eine andere schlug auf den Lauf meines Gewehres, gerade auf der Höhe der Brust […]“40 . Auch erwähnte er eine erlittene Verletzung durch einen Steinwurf und seine Ablehnung ärztlicher Hilfe. Insgesamt hoben diese Verweise seine Kampfbereitschaft und Tapferkeit hervor und steigerten die Bedeutung der dargestellten Leistungen.41 Ebenso wie die vorhergehenden Autoren, mit Ausnahme von Kolokol’cov und Južakov, berichtete Vereščagin von erhaltenem Lob und Dank für seine Leistungen.

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Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ein weiteres Mal: Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 16–17, 21–24, 29–32, 34. Ebd., S. 17. Ebd., S. 20. Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 10, 14, 17–18, 29–30, 35.

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Beispielsweise erzählte er, wie ihm und seinem Vorgesetzen in einer Essenspause allgemein von verschiedenen Seiten für ihren Einsatz gedankt worden sei. Kurz darauf formulierte er klar, wozu ihm seine Kameraden beglückwünscht hätten: „[S]ie hatten davon gehört, dass ich gekämpft hatte, das Leben nicht schonend […]“42 . Die ihm durch selbige Personen zugesprochene Auszeichnung, das „erste Kreuz“43 (pervyj krest‘), habe er vehement abgelehnt. Er fügte hinzu, dass er während der gesamten Verteidigung niemals an eine Auszeichnung gedacht hätte. Wie bedeutend für Vereščagin das für seine Leistungen erhaltene Lob gewesen ist, zeigte sich allerdings daran, dass er damit das Vorwort zu dem Sammelband eröffnete, aus dem der hier zitierte Text stammte und der wohlgemerkt unterschiedliche Erinnerungstexte über dessen Leben enthielt. Der Autor ließ einen Pariser Kollegen pointiert zusammenfassen, woran er hinsichtlich seiner Leistungen in Turkestan erinnern wollte: „[…] dass du Soldaten in den Sturm geführt hast, dass sie dir das Georgskreuz verliehen haben, aber du hast es abgelehnt […].“44 Somit waren die Herausstellung der eigenen Leistungen im Kampf, das Benennen eigener und der Erfolge der Gruppe, die Betonung der überlebten Gefahren und die Herausstellung erhaltenen Lobes auch für Vereščagins Selbstbeschreibung maßgeblich. Ähnlich wie Kolokol’cov unterließ er es, am Ende des Textes ein Fazit zu ziehen. Erfolge und Leistungen der Autoren und ihrer Einheiten im Gefecht, die dabei überstandenen Lebensgefahren und die Herausstellung von erhaltenem Lob und Dank als Teil einer weithin positiven Gesamterzählung waren ebenso in den Texten von Kamberg und Karandakov nach 1900 enthalten. Die Erinnerungen des Offiziers Kamberg behandelten die Eroberung Geok-Tepes durch General Skobelev um die Jahreswende 1880/1881, an der er nach eigener Aussage als Kompaniechef teilgenommen hat. In seiner Beschreibung der Kampfhandlungen fanden sich ebenfalls die bereits bekannten Erzählweisen wieder. Wie Tat’janin, Kolokol’cov und Južakov beschrieb auch er die Gefechte mehrheitlich in der ersten Person Plural und nutzte die erste Person Singular akzentuierend, wenn er über seine eigenen Handlungen sprach. Bereits in den Gefechten um die der Hauptfestung vorgelagerten Forts, wie etwa Jangi Kala, setzte der Autor sich als Führungsoffizier in Szene. So beschrieb er, wie er seine Einheiten in die Gärten um das Fort vorrücken lassen habe. Hierbei betonte

42 Ebd., S. 35–36. 43 Gemeint war das Georgskreuz. 44 Ebd., S. iv. Vgl. auch die Erinnerungen des Offiziers Sjarkovskij an die Eroberungen von Čimkent, Aulie-Ata und Taschkent 1864 und 1865. Er stellte sich in der ersten Person Singular als seine Truppen führender Offizier dar, der inmitten der Kampfhandlungen großen Gefahren ausgesetzt gewesen sei. Zudem hob er erreichte Erfolge hervor und berichtete über erhaltenes Lob der Generalität. Vgl. Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 361–362, 372–373, 375–380, Sjarkovskij: Vospominanija, 198/3 (1891), S. 158–160, 162–164.

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er mehrfach ihre Schwierigkeiten und die Gefahren, denen sie ausgesetzt gewesen seien. Da das Gelände ihnen wenig und dem Gegner viel Deckung geboten habe, hätten sie beständig unter dessen Feuer gelegen „und ein ganzes Bündel von Kugeln flog mit Pfeifen über unsere Köpfe.“45 Als ihre Granaten die Gegner schließlich zur Aufgabe des Forts gezwungen hätten, benannte er ihren Erfolg, zählte aber auch ihre Verwundeten auf. Über ihr Nachtlager bei dem Fort berichtete Kamberg nochmals über Beschuss von allen Seiten. Er nutzte die Szene zu der Behauptung, sie hätten sich schrittweise an das Pfeifen der Kugeln gewöhnt, womit er sich und seinen Soldaten indirekt eine steigende Standhaftigkeit und Tapferkeit attestierte.46 Kamberg fügte in seine chronologische Erzählung der Eroberung, die er mehrheitlich aus Sicht seiner eigenen Einheiten formulierte, die Geschichte des Generals Petrusevič ein, der auf einer Erkundungsmission vom Gegner gemeinsam mit weiteren Soldaten getötet worden sei. Dem Autor diente dieser Einschub als Beleg der Lebensgefahren, denen auch er ausgesetzt gewesen sei. Seine folgenden Ausführungen über den übermäßig langen Einsatz beim Ausheben von Schützengräben und das in den Gräben verbrachte Weihnachtsfest sollten die Unannehmlichkeiten verdeutlichen, denen er und seine Truppen im Feldeinsatz ausgesetzt gewesen seien. Die Schwere ihrer Aufgaben betonte Kamberg auch in seiner Beschreibung eines abendlichen Wachdienstes in den Schützengräben, der sich durch einen Überraschungsangriff der Gegner in ein Gefecht gewandelt habe. Der Autor berichtete von Chaos an ihren Stellungen, das sich durch das gegnerische Feuer, angeblich teilweise fliehender russischer Soldaten und die Dunkelheit ergeben habe. Der Autor setzte sich in Szene, als er beschrieb, wie er die Besetzung einer zuvor überrannten Redoute befehligte. Seine Zahlenangaben über ihre hohen Verluste – er sprach von einem „Bil[d] völlig[er] Verwüstung“47 (kartina polnogo razgroma) – funktionierten erneut als Betonung der großen Gefahren. Es folgte in Kambergs Erzählung die Durchsicht ihrer wiederhergestellten Linien durch General Skobelev selbst. Der Autor berichtete von dem Vorwurf des Generals gegenüber den Überlebenden der zuvor dezimierten Einheiten, sie seien geflohen. In klarer Abgrenzung zu diesen hob er das von Skobelev dafür erhaltene Lob hervor, dass sie nicht geflohen seien. Für sich und seine Soldaten formulierte Kamberg, dass sie angesichts des schmachvollen Tadels des Generals lieber den „Tod des Helden sterben“48 hätten wollen.49 Im Verlauf der weiteren Eroberung berichtete der Autor, wie ihr Lager immer näher an die Hauptfestung gerückt sei. Seine Einheiten eroberten in seiner Darstel45 46 47 48 49

Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 1 (1906), S. 50. Vgl. ebd., S. 50. Ebd., S. 54. Ebd., S. 56. Vgl. ebd., S. 51–56.

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lung Fort um Fort, bis sie nur noch wenige hundert Schritte von der Hauptfestung entfernt gestanden hätten und unter das „mörderischste Feuer“50 (samyj ubjistvennyj ogon‘) geraten seien. Der Autor zählte erneut die Verluste in seiner Einheit auf, konnte aber auch die Umbenennung eines der eroberten Forts zu Ehren seiner Einheit in „Turkestanisches Fort“ berichten. Es folgten in Kambergs Darstellung verschiedene Angriffe des Gegners auf ihre Stellungen, deren erfolgreiche Abwehr er berichtete. Der Autor betonte dabei aber auch, dass „[…] unser Fort sich allen voran befand, es lag wie auf einer Handfläche und wurde von allen Seiten beschossen.“51 In seiner Erzählung über den Sturm der Hauptfestung hob der Autor zunächst hervor, dass seine Einheiten direkt der vordersten Jägereinheit gefolgt seien. Er betonte, dass trotz ihrer Gesamtzahl von rund 8.000 Soldaten ein „schneller und glänzender Ausgang des Sturmes“52 gelungen sei. Sein eigenes Überwinden der Festungsmauer erwähnte der Autor nicht gesondert, sondern nur indirekt im Zusammenhang aller Sturmtruppen. In den folgenden Ausführungen über die letztendliche Einnahme der Festung und die Flucht der Einwohner in die umliegende Wüste, stellte sich der Autor ein letztes Mal in einer Führungsrolle im Gefecht dar und betonte die Lebensgefahren ihres Unterfangens: „Ich stieß mit meiner Kompanie auf einen gänzlich ernsten Hinterhalt am Hauptwall der Festungsmauer, wo bei mir vier Männer getötet und drei verwundert worden sind.“53

Kamberg formulierte neben den erwähnten Aufzählungen ihrer Verluste wie Kolokol’cov und Vereščagin keine abschließende Bilanz. Allerdings erwähnte er wie die Mehrheit der Autoren den erhaltenen Dank für die „ehrenhafte Erfüllung der Pflicht und des Dienstschwures“54 (čestnoe izpolnenie dolga i prisjagi služba) und das Lob General Skobelevs für ihre „kämpferische Gewandtheit“55 (boevaja snorovka) und ihre Kühnheit. Indem der Autor an dieser Stelle den Hinweis des Generals zitierte, diese Eigenschaften sei er, Skobelev, bereits von den Einheiten des Autors aus seiner Dienstzeit in Mittelasien gewohnt gewesen, gewannen diese Zuschreibungen noch deutlicher als bei Fišer an Permanenz.56

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Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), S. 52. Ebd., S. 53. Ebd., S. 55. Ebd., S. 56. Ebd., S. 57. Ebd., S. 57. Vgl. ebd., S. 52–57. Siehe auch die bei Simonova editierten Erinnerungen des Krankenpflegers Isaak Kapeljuš. Er nutzte gezielt sowohl seine Leistungen im Sanitätsdienst als auch seine Kampfbeteiligungen bei der Verteidigung Samarkands für seine Selbstauszeichnung. Dabei formulierte er

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Der militärische Gegner

Der hier abschließend behandelte Offizier Karandakov berichtete in seinen Erinnerungen über die Kämpfe mit afghanischen57 Truppen an der Kuška im Jahr 1885. Karandakov hob gleich zu Beginn seiner Ausführungen über die Gefechte ihre Leistungen hervor, als er erzählte, dass es ihnen gelungen sei, sich „ohne jeden Lärm“58 (bez vsjakogo šuma) dem Kampfgebiet zu nähern und die Afghanen damit zu überraschen. Hierauf hätten die Kavallerieeinheiten beider Seiten sich aufeinander zubewegt, wobei er die russischen Kampfformationen mit einer „ordnungslose[n] Aufstellung“59 (bezporjadočnyj stroj) der Afghanen kontrastierte. Der Autor betonte weiter, dass die Kosaken unbeeindruckt geblieben seien, als die Afghanen das Feuer eröffnet hätten. Sie hätten den Kampf auch dann fortgesetzt, als ihre Pferde aufgrund des Schlachtenlärms gescheut hätten, so der Autor. Die Lebensgefahr des Unterfangens verdeutlichte Karandakov, indem er einerseits erwähnte, wie „[…] Kugeln über unserer Köpfe pfiffen und zischten […]“60 . Andererseits benannte er den Kommandeur einer auf russischer Seite kämpfenden Miliz als ihr erstes Opfer. Das Eingreifen der russischen Infanterie, der der Autor nach eigener Aussage angehörte, sei dagegen planvoll, „wie im Manöver“61 verlaufen. In der Folge hätten sie die afghanische Reiterei zurückgedrängt. Hier band Karandakov den Hinweis auf den Bataillonskommandeur Nikšič ein, der trotz Verletzungen weitergekämpft habe, und betonte damit dessen Tapferkeit. Der Autor beschrieb ihr weiteres Vorrücken und die erfolgreiche Überwindung des Widerstandes afghanischer Einheiten in den Schützengräben. Hierbei lobte er ihre Kampfmoral, als er erzählte, wie sich ihre Männer infolge des erstmaligen Einsatzes eines ihrer Geschütze „[…] begeisterten und in die Attacke stürzten.“62 Schließlich hätten die russischen Truppen die Brücke an dem Fluss Kuška und das auf der anderen Seite befindliche, afghanische Lager eingenommen. Karandakov hob erneut ihre Leistungen hervor, als er beispielsweise berichtete, wie Schützen seiner Einheit die letzten afghanischen Wachposten an einem Flussübergang überwältigt hätten.63 Karandakov sprach abschließend mehrmals ihre Kriegsbeute an, zu denen er afghanische Lastenpferde, Zelte mit Lebensmitteln, Getreide, Geschirr oder die

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mehrheitlich in der ersten Person Plural und verwendete die erste Person Singular nur akzentuierend. Er berichtete von überstandenen Gefahren und machte Angaben zu ihren Gefallenen, ihrer Kriegsbeute und erhaltenem Lob. Vgl. Simonova: Razskazy, S. 138–145. Die Bezeichnung ist der Quelle entnommen und bezieht sich auf das bis 1926 existierende Emirat von Afghanistan. Karandakov: Murgabskij otrjad, 3 (1910), S. 214. Ebd., S. 214. Ebd., S. 215. Ebd., S. 216. Ebd., S. 217. Vgl. ebd., S. 214–220.

Der militärische Kampf als Mittel der Selbstauszeichnung

Kasse ihres Gegners zählte. Als „Kriegstrophäen“64 bezeichnete er zudem verschiedene Abzeichen des Gegners. Die detailreiche Darstellung der errungenen Güter diente ihm als Ausweis ihres Erfolges. Wie zahlreiche Autoren zuvor zitierte auch er daraufhin das Lob für diese Leistungen aus dem Bericht des Heerführers General Komarov. In dessen Worten hätten sich die Truppen gegen „[…] sich tapfer, energisch und hartnäckig schlagende […]“65 Afghanen mit „schallendem Ruhm“66 bedeckt. Der General lobte weiter die „Kaltblütigkeit, Ordnung und Tapferkeit“67 der beteiligten Einheiten und hob besonders eine Milizeinheit aus Merv hervor, die „sich heldenhaft geschlagen“68 habe. Das Lob für den Gegner erhöhte den eigenen Erfolg. Dem Lob seines Kommandeurs folgte die gesonderte Erwähnung des erhaltenen Dankes des Zaren, der sich wenig später der Hinweis auf verteilte Auszeichnungen sowie eine Prämie des Zaren in Höhe von drei Rubel pro Person anschlossen. Karandakov übernahm auch das Fazit General Komarovs, der die Überzahl des Gegners, dessen hohe personelle und materielle Verluste, die russische Kriegsbeute sowie die russischen Verwundeten und Gefallenen aufzählte.69 Somit standen in der Positivdarstellung des Autors ebenso wie bei zahlreichen Autoren zuvor die Leistungen der russischen Einheiten, die überlebten Gefahren und die Betonung von Eigenschaften wie Standfestigkeit, Mut, Tapferkeit und heldenhaftem Verhalten vor dem Feind im Vordergrund. Die erhaltenen Belobigungen, vor allem die des Zaren, dienten als Beleg der beschriebenen Leistungen und Verhaltensweisen. Diese nahm Karandakov wie Južakov durch die ausnahmslose Verwendung der ersten Person Plural auch für sich in Anspruch, wenngleich er sich in seinen Gefechtsdarstellungen nicht persönlich in Szene gesetzt hat. Die Natur als Gegner spielte wie bei Sjarkovskij, Vereščagin und Kamberg für seine Selbstauszeichnung eine untergeordnete Rolle.

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Ebd., S. 219. Ebd., S. 220. Ebd., S. 220. Ebd., S. 220. Ebd., S. 220. Vgl. ebd., S. 218–220. Vgl. auch die Aufzeichnungen des Naturforschers Bogdanov über den Feldzug General Kaufmans gegen Chiva 1873. Als ziviler Teilnehmer ohne Kampfbeteiligung berichtete der Autor dennoch von überstandenen Gefahren, betonte die Tapferkeit der russischen Soldaten und hob ihre Erfolge hervor. Er zählte ebenfalls Gefallene und Verwundete und benannte ihre Kriegsbeute. Dabei formulierte er in der ersten Person Plural. Vgl. Bogdanov: Chalaata (1902), S. 439–441, 446–448, 454, 457–460, 462. Siehe zudem Trionovs Erinnerungen an Ereignisse während des Aufstandes im Chanat Kokand im Jahr 1875. Auch dieser Autor nutzte die herausgearbeiteten Erzählweisen und Inhalte. Bemerkenswert ist hier der Einsatz hypothetischer Überlegungen, um die vermeintliche Lebensgefahr zu betonen. Vgl. Trionov: Kokandskago Pochoda, 3/11 (1909), S. 209–212.

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Der militärische Gegner

In den untersuchten Texten über die Eroberung Turkestans verliefen die Berichte über Truppenbewegungen, Geländeerkundungen, die Errichtung und den Einsatz militärischer Anlagen, Kampfhandlungen von Kavallerie und Infanterie, das Erstürmen befestigter Orte oder Stellungs-, Häuser- und Straßenkämpfe als Erfolgserzählungen, die in den meisten Fällen in die Erklärung eines russischen Teiloder Gesamtsieges mündeten. Diesen Rahmen nutzten die Autoren, um sich und ihre Kameraden einerseits wörtlich als Helden zu beschreiben. Tat’janin und Južakov sprachen explizit selbst von ihrem heldenhaften Kampf oder zitierten ähnlich lautende Bewertungen eines Kommandeurs. Kolokol’cov, Južakov und Kamberg berichteten ähnlich explizit von im Kampf gezeigtem Mut, Standhaftigkeit, Tapferkeit oder Kühnheit. Auch sie zitierten zu deren Bestätigung öfter ihre Vorgesetzten. Andererseits schrieben sich viele Autoren mit Hilfe bestimmter erzählerischer Mittel und unter Verwendung spezifischer Inhalte indirekt die besagten Eigenschaften zu. Betrachtet man die Wahl der (1) Erzählperspektive, so fällt auf, dass das Kampfgeschehen nur in wenigen Texten mehrheitlich aus der ersten Person Singular heraus beschrieben worden ist, unter anderem von Arnol’di, Vereščagin und Karandakov. In der größeren Gruppe mit Tat’janin, Kolokol’cov, Južakov, Kamberg und Karandakov kam dagegen überwiegend die erste Person Plural zur Anwendung. Das „Wir“ bezog sich dabei auf die eigene Einheit oder den gesamten an der Schlacht beteiligten Truppenverband. Die Mehrheit dieser Autoren verwendete jedoch zur Herausstellung ihres eigenen Handelns in unterschiedlichem Maß akzentuierend auch die erste Person Singular. Ermöglichte die erste Person Singular den Autoren die eindeutige und direkte Inanspruchnahme postulierter Leistung und Erfolge, so ließ die Verwendung der ersten Person Plural die Vereinnahmung anderer Einzelleistungen, beispielsweise von Untergebenen, oder der Gruppenleistung der gesamten Einheit zur Erhöhung des eigenen Prestiges zu. Zudem könnte die Verwendung der Pluralform auch als Versuch gewertet werden, dem bei Stegmann angesprochenen, möglichen Vorwurf des Eigenlobes durch das sprachliche Zurückstellen des Autors zu begegnen. Eigenlob, so das Argument, wirkte sich negativ auf die Anerkennung des postulierten Heldentums aus.70 Ein weiterer möglicher Grund für die von Južakov und Karandakov ausschließlich genutzte Wir-Form könnte ihr Schreibanlass dargestellt haben. Beide verwiesen explizit auf Jahrestage der behandelten Ereignisse. Möglicherweise forderten besonders militärische Jubiläen, die als Teil einer staatlichen Erinnerungspolitik öffentlich zelebriert wurden und den militärischen Ereignissen größere Aufmerksamkeit ver-

70 Vgl. Stegmann: Opferdiskurs, S. 64.

Der militärische Kampf als Mittel der Selbstauszeichnung

schaffen konnten71 , das vorrangige Erinnern an die kollektive Leistung und die Zurückstellung des individuellen Beitrages. Innerhalb der positiven Gesamtdarstellung und aus der je eigenen Perspektive waren die Autoren bemüht, ihr (2) individuelles, im besten Fall, wirkungsvolles Handeln in den Gefechtssituationen zu betonen, wobei die Darstellungen stark variierten. Während Tat’janin eher zurückhaltend seine vordere Position beim Sturm der Mauern von Džizak erwähnte, inszenierte sich Vereščagin als Teilnehmer von Schusswechseln in Kampfsituationen. Schließlich haben Offiziere unterschiedlicher Ränge, wie Arnol’di oder Kamberg, ihre verschiedenen Führungsfunktionen hervorgehoben. Dem Leser präsentierten sie sich beispielsweise bei der Leitung von Erkundungen und Requirierungen von Nahrungsmitteln oder als leitende Offiziere von Einheiten im Gefecht. Hierbei spielte das Benennen von (3) Leistungen und Erfolgen eine zentrale Rolle, unabhängig davon, ob diese in der Darstellung der Autoren individuell oder kollektiv erreicht worden sind. Wie Tat’janin unterstrichen verschiedene Autoren, kein beziehungsweise nur geringe Verluste in ihren Einheiten während der Eroberungen von Ura-Tjube, Džizak, Čimkent, Aulie-Ata und Taschkent erlitten zu haben. Vereščagin betonte mehrfach das erfolgreiche Zurückdrängen der angreifenden Gegner während der Verteidigung Samarkands. Južakov und Karandakov hoben hervor, dass es ihnen beziehungsweise ihren Truppen während den Erstürmungen von Taschkent und den Gefechten an der Kuška gelungen sei, sich leise an den Gegner anzuschleichen. Als letztes Beispiel sei Arnol’di erwähnt, der herausstellte, wie er sich gegen die eigene Gefangennahme erfolgreich zur Wehr gesetzt hätte. Ausnahmslos alle Autoren waren bemüht, die Bedeutung und den Wert der berichteten Leistungen und Erfolge durch beständige Hinweise auf die dabei überstandenen (4) Lebensgefahren zu steigern. Bei Tat’janin, Južakov und Kamberg war es der Beschuss durch die Verteidiger der verschiedenen Festungen, dem sie sich als besonders ausgesetzt zeigten. Bei Kolokol’cov und Arnol’di waren es die zahlreichen, meist nächtlichen Attacken gegnerischer Einheiten auf die Truppenkonvois, die ihre Leben bedroht hätten. Kolokol’cov, Vereščagin, Kamberg und Karandakov behaupteten, ihnen persönlich oder in der Gruppe seien gegnerische Geschosse über die Köpfe geflogen, unweit von ihnen eingeschlagen oder hätten sie gar selbst verletzt. Kamberg versuchte die überlebten Gefahren erzählerisch dadurch zu steigern, dass er betonte, mit seinen Einheiten während des jeweiligen Sturmangriffes nahe der Spitze ihrer Truppen eingesetzt worden zu sein.

71 Vgl. umfassend zu staatlichen und militärischen Jubiläen sowie der Praxis öffentlicher Gedenkfeiern im späten Zarenreich Konstantin Tsimbaev: „‚Jubiläumsfieber‘. Kriegserfahrung in den Erinnerungsfeiern in Russland Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts“. In: Gert Melville/Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Gründungsmythen Genealogien Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität. Köln u. a. 2004, S. 75–107.

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Der militärische Gegner

Die Hinweise im Textverlauf bei Tat’janin, Južakov, Vereščagin, Kamberg und Karandakov auf verwundete oder getötete Kameraden funktionierten zunächst ebenfalls als Hervorhebung der Lebensgefahren, bevor sie im Textfazit im Verhältnis zu Angaben über den Gegner relativiert und dadurch als Beleg des eigenen Erfolges erneut verwendet werden konnten. Erst durch die Erwähnung der überstandenen Lebensgefahren erhielten die berichteten militärischen Leistungen ihre Bedeutung. Erst die Gefahren ließen die postulierten Eigenschaften wie Mut, Standhaftigkeit oder Tapferkeit erzählerisch glaubwürdig erscheinen. Neben der einfachen Erwähnung der erreichten Leistungen und Erfolge im Textverlauf wurden diese zusätzlich quantifiziert. Bei Tat’janin, Južakov, Arnol’di und Karandakov fanden sich entweder am Ende oder mehrfach über den Text verteilt (5) Fazits. Diese enthielten unter anderem eine Gegenüberstellung konkreter Angaben über die eigene und die Truppenstärke des Gegners, die Anzahl der eigenen Verwundeten und Gefallenen sowie eine Schätzung der Verluste des Gegners. Hierbei wurde häufig die eigene Unterzahl, geringe eigene Verluste und das jeweilige Gegenteil auf der gegnerischen Seite betont.72 Weiter gaben Južakov und Karandakov Auskunft über die erlangte Kriegsbeute und Trophäen. Hierbei handelte es sich meist um gegnerische Waffen und Feldzeichen. Južakov führte zudem positive politische Entwicklungen als Folge der erkämpften Siege an. Während Arnol’di selbstständig eine Leistungsbilanz formulierte, zitierte Karandakov auch aus den Berichten der jeweils federführenden Vorgesetzten. Zur Leistungsbilanz gehörte schließlich (6) das erhaltene Lob und die verliehenen Auszeichnungen, die Tat’janin, Arnol’di, Vereščagin, Kamberg und Karandakov aufzählten, indem sie dabei ebenfalls mehrheitlich aus den Abschlussberichten ihrer Generäle zitierten. Neben der häufig expliziten Nennung erhaltener Orden, Belobigungen oder Prämien, nutzten Tat’janin, Arnol’di und Vereščagin auch indirektere Erzählstrategien. Tat’janin berichtete über die Verwunderung seiner Kameraden, dass er einen bestimmten Sturmangriff überlebt habe, und unterstrich so seine Kampfleistung. Arnol’di berichtete von der Auszeichnung, die ein ihm untergebener Soldat erhalten hätte und suchte so sein Prestige als Vorgesetzter zu steigern. Vereščagin sprach seine Leistungen und Auszeichnungen nicht selbst an, sondern ließ sie einen Bekannten in einem wiedergegebenen Gespräch rekapitulieren. Weil der überwiegende Teil der beschriebenen Inhalte eng mit Personen, Institutionen und Strukturen des Reiches verknüpft war, dienten die aufgezeigten Erzählmuster nicht nur der individuellen Selbstauszeichnung als Held der militärischen Expansion, sondern auch der positiven Gesamterzählung über das Imperium in Turkestan.

72 Auch Mamadaliev berichtete über diese Erzählweise in Dokumenten General Romanovskijs über die Eroberung Chodžents. Vgl. Mamadaliev: Khujand, S. 176.

Direkte und indirekte Darstellungen von Gewalt

6.2 Direkte und indirekte Darstellungen von Gewalt Teil des Schreibens über den eigenen militärischen Kampf war die Darstellung von Gewalt. Dabei erschöpften sich die Abbildungsweisen keineswegs in der klassischen Selbstdarstellung im heldenhaften Nahkampf, wie die Schriften von Tat’janin und Fišer zunächst für die 1860er und 1870er Jahre zeigen sollen. Tat’janin wählte eine verhältnismäßig indirekte Erzählweise, als er über die Erstürmung von Džizak sprach. In seinen Worten „warfen wir uns auf die Bucharaer mit den Bajonetten“73 (my brosilis‘ na Bucharcev v štyki), als sie die Mauern überklettert hatten. Kurz darauf „verdrängten wir sie mit den Bajonetten“74 (ich my vytesnili štykami). Den finalen Kampf mit den Gegnern auf dem städtischen Hauptplatz beschrieb der Autor mit den Begriffen „Nahkampf “ (rukopašnaja) und „Zusammenstoß“ (schvatka). Dessen Ergebnis bezeichnete er schließlich als „fast vollkommen[e] Vernichtung“75 (počti soveršennym istrebleniem) ihres Gegners. Die Begriffe „verdrängen“ und „Vernichtung“ in Verbindung mit der beschriebenen Waffe, dem Bajonett, ließen keinen Zweifel an dem gewaltvollen Charakter der Handlungen. Allerdings fügte Tat’janin, anders als nachfolgende Autoren, keine detaillierteren Beschreibungen ein, wozu ihm der angesprochene Nahkampf Gelegenheit gegeben hätte. Zudem beschrieb er die Kampfhandlungen nur in der ersten Person Plural. Er unterließ somit seine individuelle Selbstauszeichnung im Kampfgeschehen.76 Dagegen wurde Fišer in seinen Erinnerungen an die Erstürmung der Mauern Chodžents deutlich präziser: „Die Vorderen erstachen die verdutzten Verteidiger, und die Hinteren stiegen bereits über ihre Leichen.“77

Seine ersten Eindrücke vom Inneren der Stadtmauern schildernd, sprach der Autor von nur wenigen Einwohnern, „[…] welche das fürchterliche Bajonett unserer Soldaten noch nicht geschafft hatte, niederzumachen […].“78 Er berichtete weiter von Leichen in noch „glimmenden Mänteln“79 . In seiner Beschreibung der Kampfhandlungen auf dem Stadtgebiet „[…] verfolgte [eine Kolonne] mit Schüs-

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Tat’janin: Turkestanskago kraja, 5/20 (1867), S. 163. Ebd., S. 164. Ebd., S. 164. Vgl. ebd., S. 163–164. Fišer: Vzjatii goroda, 1 (1873), S. 31–32. Ebd., S. 32. Ebd., S. 32.

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Der militärische Gegner

sen […]“80 fliehende Gegner. Über das Vorgehen einer Kosakeneinheit während der abschließenden Besetzung des Stadtgebietes berichtete er, sie hätten die Straßen „gereinigt“81 (očistit‘). Deutlicher als Tat’janin berichtete Fišer über ihre Kampfmittel, deren Einsatz und deren drastische Wirkung. Dennoch nutzte auch er mit dem Verb „reinigen“ eine Form der indirekten Beschreibung der Kampfhandlungen, die sich auch bei Kolokol’cov fand.82 Auch Fišer setzte sich in seiner Darstellung der Kampfhandlungen nicht persönlich in der ersten Person Singular bei der Gewaltausübung in Szene. Wie die Texte von Guljaev und Arnol’di verdeutlichten, blieb diese Mischung aus direkter und indirekter Gewaltdarstellung, die vorwiegend in der ersten Person Plural stattgefunden hat, auch in den 1880er Jahren bestehen. Guljaev nutzte in seinen Erinnerungen an den Feldzug General Skobelevs gegen die Turkmenen in Geok-Tepe 1880/1881 andere Begriffe und Formulierungen, die die Gewalt aber ähnlich indirekt abbildeten, wie bei den Autoren zuvor. Über ihre Erkundungen der gegnerischen Gebiete, von ihrem Versorgungspunkt Samurskoe aus, berichtete der Autor, wie ihre Reiter erstmals ein „ernsthaftes Schießen eröffneten“83 . Während ihres Vorrückens auf die vorgelagerte, turkmenische Festung Jangi Kala „[…] begann [ihre Einheit, Anm. d. A.] schnell das Feuergefecht […]“84 . Hinsichtlich folgender Gefechte auf ihrem weiteren Vormarsch formulierte er beispielsweise: „Raketen und Schrapnelle pressten [vyžat‘] sie [den Gegner, Anm. d. A.] schnell von dort weg […].“85 Gleich den Autoren zuvor schrieb Guljaev hier, dass eine Flanke „gereinigt“86 (očistit‘) worden sei. Über die Wirkung ihrer Artilleriegranaten formulierte er, dass nach deren Explosionen „sich Menschen und Pferde umherwälzten“87 . In seinen Gefechtsschilderungen benutzte der Autor zudem mehrfach die Formulierung des „ununterbrochenen“88 Beschusses oder Gewehrfeuers, die beispielsweise in der Dämmerung die Schützengräben erhellt haben. Indirekt blieb seine Gewaltdarstellung auch abseits des Schlachtfeldes. Über eine von ihm verantwortete Requirierung von Lebensmitteln während ihrer mehrwöchigen Belagerung Geok-Tepes formulierte er: „Ich ließ zwei Hundertschaften in Reih und Glied antreten und die Bajonette aufpflanzen und begann

80 Ebd., S. 33. 81 Ebd., S. 34. 82 Vgl. Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 55: „[…] [B]ald darauf reinigten unsere Schützen das gegnerische Ufer gänzlich.“ 83 Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 35. 84 Ebd., S. 38. 85 Ebd., S. 39. 86 Ebd., S. 39. 87 Ebd., S. 40. 88 Ebd., S. 42. Siehe auch ebd., S. 49.

Direkte und indirekte Darstellungen von Gewalt

die Requirierung.“89 Im Zusammenhang mit der Belagerung beschrieb er, ähnlich Južakov, dass Ausfälle der turkmenischen Garnison auf ihre Linien „zurückgeschlagen“90 (otbit‘) worden seien. In diesen Kämpfen „fielen unter dem tödlichen Feuer unserer Einheiten“91 die Gegner. Über die Explosionswirkung einer die Festungsmauer letztendlich brechenden Miene führte der Autor aus: „Einige sahen in dieser Erdmasse die in die Luft fliegenden Menschen […].“92 Deutlich indirekter sprach er gegen Ende seines Textes von „gewissen, in solchen Fällen, zulässigen Mitteln“93 , mit denen er zwei turkmenische Führer nach der Eroberung der Festung dazu gebracht habe, ihnen den Weg zu den Fluchtorten ihrer Landsleute in der Wüste zu weisen. Wie die Autoren zuvor verwendete Guljaev mit „wegpressen“, „zurückschlagen“ oder „reinigen“ verhältnismäßig indirekte Beschreibungen der Kampfhandlungen gegen den Gegner. Das „Aufpflanzen von Bajonetten“ suggerierte mehr den mutmaßlich folgenden Einsatz von Gewalt, als es ihn tatsächlich beschrieb. Ebenso blieben die vom Autor mutmaßlich angeordneten Zwangsmittel zur Informationsgewinnung eine Andeutung. Allerdings existierten mit den Schilderungen der Sprengwirkung ihrer Artilleriegranaten oder ihrer mauerbrechenden Miene die Gewalt eindeutiger ausdrückende Sprachbilder in seinem Text. Wie die Autoren zuvor nutzte Guljaev überwiegend die erste Person Plural. Nur im Fall der Zwangsmittel gegen die Führer war die Anordnung dieser Maßnahmen durch die Verwendung der ersten Person Singular ihm persönlich zurechenbar. Guljaev beschrieb noch an zwei weiteren Stellen deutlich direkter und eindrücklicher, als die Autoren zuvor, die Auswirkungen der Gewalt, allerdings auf seine eigenen Einheiten. Bereits in seinen Ausführungen über die Vorgefechte erwähnte er, dass ein russischer Offizier „angeschossen“94 (podbit‘) worden sei, während viele Autoren allgemeiner überwiegend von „verwundet“ (ranenyj) sprachen. In seiner Beschreibung der finalen Belagerung der Hauptfestung erzählte er wie folgt über das Schicksal eines Artillerie-Offiziers: „Um die Flugbahn seiner Geschosse zu verfolgen, war Grek eben erst aufgesprungen, als eine feindliche Kugel ihn direkt ins Auge traf und den Kopf durchdrang.“95

89 90 91 92 93 94 95

Ebd., S. 45. Ebd., S. 52. Ebd., S. 56. Ebd., S. 65. Ebd., S. 74. Ebd., S. 39. Ebd., S. 64.

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Während des darauffolgenden Sturmangriffes sei der Autor an dem Mauerdurchbruch auch auf zahlreiche russische Verwundete getroffen, worüber er ebenso eindrücklich formulierte: „Ringsherum stöhnten zwei Dutzend Verwundete, aber die Schreie der Kämpfenden, die bei dem Mauerdurchbruch gespielte Musik und die Schüsse übertönte ihr Stöhnen.“96 Die eindeutige Darstellung von Gewalt und deren Auswirkungen ist bei Guljaev demnach nicht nur gegen den Gegner gerichtet und damit Teil seiner positiven Erfolgsgeschichte gewesen. Er setzte die teils drastischen Bilder nicht nur zur Auszeichnung der russischen Truppen im Kampf ein. Auf dem Höhepunkt seiner Erzählung, den Belagerungskämpfen um Geok-Tepe, nutzte er die drastische, sprachliche Abbildung eines Kopfschusses auf einen Kameraden auch, um die Lebensgefahren zu betonen, denen er sich und seine Truppen ausgesetzt zeigen wollte und mit denen er die Bedeutung ihrer Leistung zu erhöhen suchte. Arnol’di verwendete ebenfalls sowohl verhältnismäßig indirekte als auch direkte Formulierungen, als er über die Gewalt in einem Gefecht während des Feldzuges von General Lomakin in die turkmenischen Gebiete, Ende der 1870er Jahre sprach. Die Gesamtsituation seiner vom Gegner überraschten und zunehmend eingekreisten Einheiten beschreibend, sprach er, wie Guljaev, von ihrem „Schießen“97 (pal‘ba) auf den Gegner und der Erwartung, von diesem dennoch „niedergehauen“98 (izrubit‘) zu werden. Die Situation habe sich erst zu ihren Gunsten gewendet, als ihre Verstärkung eingetroffen sei. Nun erzählte der Autor „von dem verstärkten Feuer unserer Artillerie“99 , das den Gegner in die Flucht getrieben habe. Er fügte hinzu: „[S]ie ertrugen eine Menge von unseren Geschossen, eine schreckliche Verheerung in ihren Menschenhaufen hervorrufend.“100 Im Verlauf der Kampfhandlungen mit dem sich zurückziehenden Gegner, sei es zu einem unerwarteten Zusammenstoß seiner Einheiten mit einem Teil der gegnerischen Infanterie gekommen. Seinen daraufhin begonnen Vorbereitungen, eine Schlucht von diesem zu „reinigen“101 (očistit‘), seien schließlich andere russische Einheiten zuvorgekommen. Dennoch hätten sie es noch geschafft, „[…] dem Ende der tekinischen Kolonne einen Schlag zu versetzen.“102 Während das

96 Ebd., S. 66. Vgl. auch Južakovs Beschreibung der Eroberung Taschkents. Der Autor berichtete nur indirekt über die ausgeübte Gewalt. Dabei gebrauchte er die erste Person Plural und verwendete Begriffe, wie „zurückwerfen“ (otbrosit‘) und „säubern“ (očistit‘). Vgl. Južakov: Vzjatija, S. 10, 12–13. 97 Arnol’di: Zakaspijskom krae, S. 34. 98 Ebd., S. 34. 99 Ebd., S. 35. 100 Ebd., S. 35. 101 Ebd., S. 35. 102 Ebd., S. 35.

Direkte und indirekte Darstellungen von Gewalt

Schießen auf den Gegner oder die Sorge, von diesem niedergehauen zu werden, und die Hinweise auf die Wirkung von Gewehr- und Artilleriegeschossen klare Vorstellungen von Gewalteinwirkung evozierten, wirkten die Formulierungen wie das bereits bekannte „reinigen“ deutlich indirekter. Beide Formen dienten Arnol’di dazu, die Wirksamkeit ihres Kampfes zu betonen und sich darüber auszuzeichnen. Gleichwohl hat auch er es unterlassen, sich selbst kämpfend darzustellen. Der Text von Sjarkovskij verdeutlicht als Beispiel für die 1890er Jahre vor allem den Gebrauch direkter Gewaltdarstellungen in sehr eigenständigen Ausprägungen. Sjarkovskijs Erinnerungen an die Eroberungsfeldzüge General Černjaevs unterschieden sich einerseits in der Deutlichkeit einiger Gewaltdarstellungen und andererseits in der Rückbindung der Gewalthandlungen an den Erzähler von den bisherigen Texten. Anders als die Autoren zuvor bildete sich Sjarkovskij mehrfach sprachlich direkt im Gefecht ab. Gleich zu Beginn seines ersten Textteiles, in seinem Bericht über ihren Vormarsch auf Aulie-Ata, betonte der Autor seine eigene Beteiligung an der Kampferöffnung, als er formulierte: „[…] ich begann ein Feuergefecht mit den Kokandern […].“103 Im zweiten Textteil eröffnete erneut er „das Schießen auf die Reiter“104 des Gegners bei Sara Tjube. Hinsichtlich Aulie-Ata sei zunächst eine „Bombardierung“105 (bombardirovka) von einem der Stadt vorgelagerten Militärlager durch die russische Artillerie durchgeführt worden. Hierzu berichtete der Autor offen: „[…] [I]m Lager entstand eine schreckliche Panik: die Zelte verschwanden und das Lager leerte sich vollständig, an seiner Stelle blieb ein rauchender Scheiterhaufen.“106

Stand hier die Wirkung ihrer Attacke im Vordergrund, so ging Sjarkovskij auch auf ihre Kampfmittel ein, als er beispielsweise über Kampfhandlungen direkt vor AulieAta schrieb: „[…] [A]ber da kam unsere Rakete angezischt, wie eine Schlange sauste sie über die Reiter, und zerplatze über der kokandischen Kolonne selbst […]“107 . Sjarkovskij war auch in seiner Darstellung der zur russischen Einnahme der Stadt führenden Gefechte und den teils dramatischen Folgen ihres Eroberungskampfes keineswegs zurückhaltend, als er schrieb: „Kaum hatten wir uns den Kokandern genähert, als sie sich den Turm verlassend, Hals über Kopf über die Mauer stürzten, zur Seite des [Flusses, Anm. d. A.] Talas hin […]“108 . Ein solches Verhalten der

103 104 105 106 107 108

Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 362. Sjarkovskij: Vospominanija, 198/3 (1891), S. 160. Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 362. Ebd., S. 362. Ebd., S. 363. Ebd., S. 365.

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indigenen Verteidiger beschrieb er in vergleichbarer Offenheit nochmals kurz darauf, als er über die Eroberung Čimkents berichtete.109 Sjarkovskijs Schilderung ihres ersten Artilleriebeschusses von Čimkent schien zunächst von einer gewissen Indirektheit gekennzeichnet zu sein, als er formulierte, dass „[…] die Kartätschen sie [den Gegner, Anm. d. A.] zwangen, den Weg zu unserer Position freizumachen.“110 Seine folgende Beschreibung des Sturmangriffes auf die Stadt ließ jedoch über die Kampfmittel und deren Wirkung auf den Gegner keinen Zweifel: „Die sich am Tor sammelnde Masse konnte nicht in einem Zug in es hineingehen: Die Berittenen zerdrückten die Infanteristen, es entstand ein allgemeines Durcheinander, auf Schritt und Tritt folgten unsere tapferen Soldaten. Der Zug des Stabskapitäns Michajlovskij schüttete seinerseits Kartätschen aus. Für die Kokander gab es keine Gnade: vor dem Tor bildete sich aus ihren Leichen ein ordentlicher Berg.“111

Hatte Sjarkovskij mit seiner verhältnismäßig direkten und drastischen Gewaltdarstellung bisher vor allem den Kampferfolg der Gruppe betont, so nutzte er diese am Ende des ersten Teils seiner Erinnerungen auch dazu, die Lebensgefahren herauszustellen, denen er sich und seine Kameraden ausgesetzt zeigen wollte. Gleich Guljaev erzählte er über den Tod eines Offiziers während ihres ersten Angriffs auf Taschkent, nahe der Stadtmauer: „Er wollte mir scheinbar etwas sagen, doch in diesem selben Moment geriet er ins Wanken und fiel auf die rechte Seite, mit der Hand an den Kopf greifend.“112 Anders als Guljaev ließ der Autor die genaue Todesursache ungenannt. Dennoch unterstrich der als willkürlich und unvermittelt dargestellte Tod des Kameraden ebenso die überlebten Gefahren der Schlacht, denen sich der Autor ausgesetzt zeigen wollte. Über das bereits angesprochene Gefecht bei Sara Tjube, vor ihrem zweiten Angriff auf Taschkent berichtete er einerseits deutlich indirekter von ihrer „Arbeit mit den Bajonetten“113 . Andererseits erwähnte er im Zusammenhang mit dem folgenden Sturm der Stadt, dass ein russischer Offizier eine Wache auf den Mauern „erstochen“114 (kolot‘) hätte und sie in Folge ihres weiteren Vordringens in die Stadt weitere Indigene „erschossen“115 (perestreljat‘) hätten. Wenngleich Formulierungen

109 110 111 112 113 114 115

Vgl. ebd., S. 377. Ebd., S. 373. Ebd., S. 376–377. Ebd., S. 380. Sjarkovskij: Vospominanija, 198/3 (1891), S. 160. Ebd., S. 162. Ebd., S. 162. Vgl. auch die Ausführungen Vereščagins zur Verteidigung Samarkands 1868. Der Autor nutzte überwiegend sehr direkte Beschreibungen von Gewalt und deren Einwirkung auf

Direkte und indirekte Darstellungen von Gewalt

wie jene zu den Geschützen, die den Gegner zu etwas gezwungen hätten, oder wie die Arbeit mit den Bajonetten auch für Sjarkovskij die Verwendung indirekterer Gewaltdarstellung belegen, so bildete der Autor von der Gruppe ausgeübte Gewalt mehrheitlich sehr direkt in seinen Erinnerungen ab. Ähnlich wie Guljaev stellte er sich zwei Mal bei Gefechtseröffnungen handelnd dar, ohne sich jedoch direkt bei der Ausübung von Gewalt abzubilden. Der Autor sprach sowohl eindeutig über die verwendeten Mittel als auch deren konkrete Folgen. Er bezeugt damit ihre Kampferfolge und bestätigte durch die singuläre Abbildung der auch ihnen widerfahrenen, tödlichen Gewalt den Einsatz ihres Lebens. Die Direktheit der Gewaltdarstellung und die Selbstdarstellung der Autoren bei deren Ausübung blieben auch nach 1900 in den Texten von Vasilij Petrov (Simonova) und Trionov erhalten. In den Erinnerungen Vasilij Petrovs (Simonova) an die Verteidigung der russischen Garnison in Samarkand im Jahr 1868, die unselbstständig bei Simonova veröffentlicht worden sind, beschrieb der Autor ausschließlich direkt und sehr drastisch Gewalthandlungen sowie sich selbst bei deren Ausführung. Dies wurde in seiner Erzählung über Kampfhandlungen am Fluss Zeravšan deutlich, die der Einnahme der Stadt vorausgegangen sind: „Ich sehe, im Schilf versteckte sich ein Sarte, ich gab einen Schuss ab, er fiel um, ich sehe, von der anderen Seite kam ein Reiter herangaloppiert, ich gab einen Schuss ab und tötete das Pferd unter ihm, es passierte, dass er abstieg, und noch zwei weitere Reiter.“116

Ebenso deutlich benannte er auch für ihren folgenden Verteidigungskampf die eingesetzten Kampfmittel und deren Wirkung. Einige Gegner hätten sie aus der Distanz „erschossen“117 beziehungsweise „im Nahkampf “118 (v rukopašnuju) getötet. Andere Gegner „schlugen [sie] mit den Bajonetten tot“119 (pobit‘ štykami). Der Autor vergaß auch nicht zu erwähnen, dass sie die von ihnen in der Festung getöteten Gegner über die Mauern geschmissen hätten. Deren Leichen seien, laut Vasilij Petrov (Simonova), bei dem folgenden nächtlichen Abbrennen von sich nah vor den Festungsmauern befindlichen Hütten mit verbrannt.120 Vasilij Petrov (Simonova) beschrieb seine Beteiligung an den Ausfällen russischer Soldaten in die umliegenden Stadtviertel, gegen Ende der Belagerung. Dabei setzte

116 117 118 119 120

die russischen Soldaten und sich selbst, um die vorgeblichen Lebensgefahren ihres Verteidigungskampfes zu verdeutlichen. Zudem inszenierte er sich mehrfach selbst bei der Gewaltausübung im Nahkampf. Vgl. Vereščagin: Samarkand, S. 11–12, 20–21, 24, 28, 38–39, 41–42. Simonova: Razskazy, S. 145. Ebd., S. 147. Ebd., S. 147. Ebd., S. 147. Vgl. ebd., S. 147.

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er die bereits geschilderte, direkte Gewaltdarstellung fort. Dabei bildete der Autor sich im Nahkampf ab, als er schrieb: „Bei der Hütte war Klee hingeworfen worden, wir zündeten ihn an, die Hütte entzündete sich. Aus ihr sprangen 15 Personen hervor und wir waren acht. Wir empfingen sie mit den Bajonetten. Ein großer und starker Sarte [unscharfes Ethnonym für sesshafte Volksgruppen, Anm. d. A.] mit einer langen Lanze warf sich auf das Soldatchen Dmitriev, der einen anderen Sarten erstach. Ich durchstach den Riesen mit dem Bajonett und zerbrach das Bajonett in ihm.“121

Der Autor stellte sich hier deutlicher als alle anderen Autoren während der Gewaltausübung im Nahkampf dar. Das durch die Tötungsleistung zu erwerbende, persönliche Heldentum versuchte er noch dadurch zu steigern, indem er beschrieb, dass es sich um einen ihm physisch überlegenen Gegner gehandelt habe. Von dem für die Selbstdarstellung idealen Zweikampf unterschied sich die Szene in Petrovs (Simonova) Erzählung allerdings dadurch, dass die Kampfhandlung seines Gegners sich nicht primär gegen den Autor, sondern dessen Kameraden gerichtet hat. Diesem Umstand scheinen die überlegene Physis des Gegners und die kurz zuvor postulierte Unterzahl von Petrovs (Simonova) Einheit zu begegnen, welche ihren daraufhin erwähnten Sieg über die Gegner dennoch heldenhaft erscheinen lassen hat. In dem hier zuletzt angeführten Text von Trionov über dessen Erinnerungen an den Aufstand im Chanat Kokand 1875 fanden sich schließlich ebenso direkte wie indirekte Gewaltdarstellungen. In einer Kampfsituation, in der er mit wenigen Kameraden vom Gegner eingekreist worden sei, stellte sich der Autor in direkter Gewaltausübung dar. Während einer seiner Begleiter nachladen musste, habe er, bei nur noch einer verbliebenen Patrone, die heranreitenden Gegner ins Visier genommen: „Einer von ihnen [den Gegnern, Anm. d. A.] kam mit einer großen Lanze auf 25 Schritte an meinen Kameraden herangesprengt und ich war gezwungen zu schießen. Ich traf ihn an der rechten Hand und er galoppierte davon, die Lanze fortschmeißend […].“122

Der Autor inszenierte sich hierbei als guter Schütze, dessen Fähigkeiten scheinbar das Leben seiner Mitstreiter geschützt haben. Er betonte die überstandene Gefahr, als er eine detaillierte Beschreibung der Lanze des Gegners anschloss. In ihrer Direktheit vergleichbar schien eine weitere Szene, in der Soldaten aus der Einheit

121 Simonova: Razskazy, S. 148. 122 Trionov: Kokandskago Pochoda, 3/11 (1909), S. 212.

Direkte und indirekte Darstellungen von Gewalt

des Autors einen Dorfältesten in Nau zum Zweck der Informationsgewinnung gefoltert haben: „Sie [die russischen Soldaten, Anm. d. A.] legten ihn sofort auf die Erde und begannen ihn mit Reitpeitschen der Kosaken auf den nackten Körper zu schlagen. Nach den ersten Schlägen zerplatze seine alte, schrumpelige und irgendwie runzelige Haut, löste sich in Stückchen ab und entblößte das Fleisch […].“123

Der Autor beschrieb, dass der Ausgepeitschte bewusstlos geworden sei, ohne dass sie die geforderten Informationen erhalten hätten. Erst bei der Wiederholung der beschriebenen Prozedur an einem weiteren Ältesten habe sich ein anderer Dorfbewohner bereit erklärt, die Informationen preiszugeben. Dass Trionov, anders als beispielsweise Guljaev, der ebenfalls von Zwangsmitteln berichtet hat, die Grausamkeiten so plastisch beschrieben hat, könnte damit zusammenhängen, dass er sich nicht als deren Urheber dargestellt hat und durch die Verwendung der dritten Person Plural auch keine Rückschlüsse auf diesen zugelassen hat. Er erschwerte damit etwaige Fragen nach der persönlichen Verantwortung für die Gewalthandlungen gegen die Zivilisten. Im Allgemeinen ließ sich aus der Szene eine unbedingte Durchsetzungsfähigkeit herauslesen, die sich auch nicht vor moralisch fragwürdigen Methoden gescheut hat. Darüber hinaus nutzte Trionov auch die bereits bekannten, indirekten Formulierungen, als er beispielsweise von der Aussendung einer Einheit „für die Reinigung des Weges“124 zwischen Ura Tjube und Chodžent sprach. Der Einsatz von Gewaltdarstellungen war im gesamten Untersuchungszeitraum sehr vielfältig. Bei Fišer oder Trionov wurden Straßen „gesäubert“. Bei Tat’janin oder Sjarkovskij wurde der Feind kollektiv mit dem Bajonett bekämpft. Vasilij Petrov (Simonova) schilderte, wie er seinen Gegner im Nahkampf erstochen hat. Darüber hinaus erlitten russische Soldaten bei Guljaev drastisch geschilderte Verwundungen. Indirekte und direkte Abbildungsweisen von ausgeübter oder erlittener Gewalt existierten überwiegend parallel. Hierbei ist die Tendenz zu erkennen gewesen, dass die Texte der 1860er und 1870er Jahre überwiegend von indirekten und die Texte ab den 1880er Jahren zunehmend von direkteren Gewaltdarstellungen geprägt gewesen sind.125 Ob diese Tendenz über das vorliegende Sample hinaus Bestand haben kann, müssen folgende Untersuchungen zeigen. Mit Blick auf die zum Jahrhundertende hin stark wachsende Konkurrenz auf dem Printmarkt scheint sie 123 Ebd., S. 214. 124 Ebd., S. 213. 125 In einem Zitat aus einem anonymen Text von 1866 über die Eroberung Chodžents bei Mamadaliev findet sich ebenfalls die Formulierung von den Straßen, die „gesäubert“ worden seien. Vgl. Mamadaliev: Khujand, S. 176.

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plausibel. Diese ergab sich unter anderem aus der wachsenden Zahl von Journalen und der beträchtlichen Zahl der Autoren von Memoiristik im Allgemeinen und zu Turkestan im Speziellen. Vor allem die direkte Abbildung von Gewalt versprach, so das hier vertretene Argument, Aufsehen und Nachfrage der Leser zu steigern.126 Im gesamten Untersuchungszeitraum betraf die abgebildete Gewalt in den Erzählungen die indigenen Gegner der russischen Armeen. In der Mehrheit der Fälle unterstrich sie die erzählte Wirksamkeit des russischen Kampfes. Dieses Grundmuster änderte sich erst bei Guljaev, der zusätzlich auch Gewalt und deren drastische Auswirkungen auf die russischen Soldaten thematisierte. Diese Erweiterung fand sich im Folgenden auch bei Sjarkovskij und Trionov wieder. Aus den verschiedenen Konstellationen von Gewaltdarstellung und der Zielrichtung der Gewalthandlungen ergaben sich zwei unterschiedliche Funktionen in den autobiografischen Erzählungen. (1) Indirekte und direkte Abbildungen von Gewalthandlungen im Gefecht, die sich gegen die indigenen Gegner richteten, dienten in den autobiografischen Erzählungen der Selbstauszeichnung der Autoren. Dies galt vor allem, wenn ihnen, wie in der Mehrzahl der Fälle, ein russischer Sieg folgte. Die Autoren postulierten Standhaftigkeit, Mut und Tapferkeit vor dem Feind. Wurden die Handlungen wie bei Tat’janin, Fišer und Arnol’di in der ersten oder dritten Person Plural beschrieben, nahmen die Autoren die zum Ausdruck gebrachten Eigenschaften als Angehörige und Chronisten der beschriebenen Einheiten auch für sich in Anspruch. Gleichzeitig bot die Anonymität der Gruppe die Möglichkeit, Gewaltanwendungen abzubilden, die mutmaßlich das gewünschte Ziel erreicht hätten, aber moralisch fragwürdig gewesen sind. Ein Beispiel stellt das Foltern von Zivilisten bei Trionov dar. Während die benannten Autoren es unterließen, sich individuell bei der Gewaltausübung im Gefecht gegen den Gegner darzustellen, schrieb sich Guljaev in einer Situation zusätzlich das Attribut „durchsetzungsfähig“ zu, als er seine persönliche Anordnung nur indirekt benannter Zwangsmaßnahmen ansprach. Dagegen ließen Sjarkovskij, Vasilij Petrov (Simonova) und Trionov durch die Verwendung sehr direkter und zum Teil drastischer Gewaltdarstellungen keinen Zweifel an der von ihnen persönlich ausgeübten Gewalt gegen den Gegner. Sie nutzten Gefechtsszenen, um sich individuell als tapferer Führungsoffizier, guter Schütze oder mutiger und geübter Nahkämpfer auszuzeichnen. Hierbei scheint bemerkenswert, dass nicht mehr Autoren den Kampf Mann gegen Mann, quasi die Keimzelle soldatischen Heldentums, für ihre Selbstauszeichnung genutzt haben. Als Erklärung kann erneut die bereits zitierte Feststellung von Wagner herangezogen werden, der zufolge die individuellen Möglichkeiten zur Auszeichnung im militärischen Kampfgeschehen im Verlauf des Jahrhunderts abgenommen habe.

126 Vgl. Walker: Memoirs, S. 337–340, Belknap: Russian journals, S. 91, 96, 100, 105, 110–111.

Heldentum absichern und verteidigen

Zudem lässt sich argumentieren, dass eine erhebliche Zahl der Autoren als Offiziere oft gar nicht mehr unmittelbar an den Kampfhandlungen beteiligt gewesen ist. Dagegen lässt sich allerdings anführen, dass mehr als nur die vier benannten Autoren davon berichtet haben, wie sie ihre Männer in den Gefechten geführt hätten. Dass Autoren wie Fišer oder Arnol’di keine detailreichen Nahkampfbeschreibungen von sich selbst eingefügt haben, wirkt daher wie eine bewusste Auslassung.127 (2) Die Abbildung vor allem sehr direkter Gewalteinwirkungen auf russische Soldaten diente den Autoren zur Betonung der Lebensgefahren, denen sie sich in den Gefechten ausgesetzt zeigen wollten. Hatte dazu in den 1860er und 1870er Jahren noch mehrheitlich die bloße Summierung der toten oder verwundeten Kameraden oder deren namentliche Erwähnung gedient, so schien diese Schreibstrategie ab etwa den 1880er Jahren durch die deutliche Beschreibung der von russischen Soldaten erlittenen Versehrungen erweitert worden zu sein. Die bei Sjarkovskij und Trionov berichteten Kopfschüsse, Verwundungen, versuchten und erfolgreichen Gefangennahmen betonten die scheinbare Unvorhersehbarkeit des Todes in den Gefechten und erhoben quasi das Überleben des Autors selbst zur lobenswerten Leistung. Die von den eigenen Einheiten überlebten Verheerungen der Schlachten steigerten den in der Folge mehrheitlich erreichten Sieg, weil dieser trotz der postulierten Opfer dennoch erreicht worden ist. Ob die Autoren auf die angesprochene allgemeine Abnahme von Möglichkeiten des Einzelnen zur Selbstauszeichnung im Kampf mit der vermehrten Darstellung erlebter Gefechtseinwirkungen auf sich selbst und die eigenen Kameraden reagierten, müssen folgenden Untersuchungen zeigen. Denkbar ist ebenfalls, dass es sich um eine spezifische Reaktion der Autoren im Turkestan-Diskurs auf die gezeigte Kritik an vermeintlich „leichten Siegen“ handelte. Auch hinsichtlich der abgebildeten Gewalt waren die Selbstdarstellungen und die übergeordnete Erfolgserzählung des Imperiums eng verzahnt. Weil die gegen den Gegner gerichtete Gewalt sowohl der individuellen Selbstauszeichnung diente als auch die allgemeine Wirksamkeit des Kampfes der imperialen Truppen hervorhob, trug sie ebenfalls zur positiven Gesamterzählung über das russländische Engagement in Mittelasien bei.

6.3 Heldentum absichern und verteidigen Das für sich und die eigenen Kameraden erschriebene Heldentum blieb keineswegs unangefochten, wie der bereits angesprochene Vorwurf „leichter Siege“ von Poltorackij gezeigt hat. Daher lässt sich eine Reihe von Inhalten und Erzählweisen

127 Vgl. Wagner: Einleitung, S. 10.

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Der militärische Gegner

benennen, die verschiedene Autoren eingesetzt haben, um das postulierte Heldentum abzusichern beziehungsweise gegen verschiedenartige Kritik zu verteidigen. Für die 1870er und 1880er Jahre sollen die Schriften von Fišer und Gejfel’der die einzelnen Elemente und Erzählweisen zeigen. Fišer stellte seiner Erzählung von der Erstürmung Chodžents einige Szenen voran, die ein ehrenhaftes Verhalten der russischen Befehlshaber betonte. So hätten sie, damit „[…] die Stadt von unserem Vormarsch weiß […]“128 und sich vorbereiten konnte, diesen mit Kanonenschüssen angekündigt. Daraufhin hätten die russischen Parlamentäre den Städtern ihre Unversehrtheit garantiert, wenn sie Chodžent freiwillig übergäben. Der Autor führte weiter aus, dass man im Folgenden sogar einen Sturmangriff abgebrochen hätte, weil die Unterhändler der Stadt das russische Angebot im letzten Moment angenommen hätten. Bei ihrem friedlichen Vorrücken auf Chodžent seien sie dann aber von der Stadt aus unter Beschuss genommen worden. Die Vorwarnung der Stadtbevölkerung suggerierte, dass man zu einem friedlichen Vorgehen bereit gewesen sei und alternativ einen als ehrenhaft verstandenen, offenen Kampf gesucht hätte. Diese Darstellung trat im Kontrast zu einem als hinterhältig präsentierten Angriff der Städter umso deutlicher hervor. Die Szene fügte sich somit in die Erzählung von einem ehrenvollen, heldenhaften Kampf der russischen Einheiten. Das als hinterhältig dargestellte Ausschlagen des russischen Übergabeangebotes wirkte daraufhin wie eine vorangestellte Rechtfertigung der im Folgenden geschilderten Gewalthandlungen.129 Der Autor reagierte also nicht auf explizite Vorwürfe, sondern versuchte möglicherweise von ihm antizipierter Kritik zu begegnen. Gegen Ende seiner Erinnerungen wies Fišer zudem auf die medizinische Hilfe hin, um die die Stadtbewohner die russischen Truppen am Morgen nach der Einnahme gebeten hätten. Dabei betonte der Autor, dass die russischen Feldärzte ihnen diese „gern“130 (ochotno) gewährt hätten. Er attestierte den russischen Truppen damit ein humanes Verhalten, das wie eine Ergänzung des zuvor im Kampf erworbenen, soldatischen Heldentums wirkte. Ihre medizinische Hilfe ließ die russischen Truppen zudem als überlegen erscheinen. Der Militärmediziner Gejfel’der ist Chefarzt der Kampagne General Skobelevs gegen die Turkmenen in Geok-Tepe gewesen. Anders als Fišer hat er nach eigener Aussage nicht primär als Soldat an den Kampfhandlungen teilgenommen, sondern hinter den Frontlinien in den Lazaretten gearbeitet. Mit Bezug auf explizite Kritik General Skobelevs an einem in einer Kampfsituation getöteten Arzt konstatierte 128 Fišer: Vzjatii goroda, 1 (1873), S. 3. 129 Vgl. ebd., S. 3–4, 19–20. 130 Ebd., S. 37. Vgl. auch Južakov, der die militärisch verhältnismäßig leichte Einnahme Taschkents mit Verweis auf die geringe Truppenstärke der Russen als bedeutende Leistung zu stützen versuchte. Vgl. Južakov: Vzjatija, S. 6.

Heldentum absichern und verteidigen

der Autor für sich und seinen Berufsstand eine problematische Stellung innerhalb der Kampfverbände: „Wenn sie [die Ärzte, Anm. d. A.] tapfer sind, beschuldigt man sie, dass sie sich unnötig hinreißen lassen, dass Tapferkeit nicht ihre Sache ist. Wenn sie aber vorsichtig sind, so lacht man über sie, wie über Feiglinge.“131

Gejfel’der war daher bemüht, seine Leistungen als Mediziner im Feldeinsatz herauszustellen. Vier Beispiele sollen das verdeutlichen. Aus der mehrwöchigen Belagerung der Festung schilderte er eine Situation, in der Skobelev sich außerhalb der Schützengräben, gut sichtbar für den Gegner, aufgehalten habe. Der Autor führte aus, dass er sich sogleich mit seinen chirurgischen Instrumenten und Verbandsmaterial zu ihm begeben habe, für den Fall, dass er verwundet würde. In der folgenden Diskussion mit dem General hätte er diesem erklärt, wo dieser sich aufhalte, dort „[…] muss auch ich sein […]“132 , unabhängig von der drohenden Gefahr, auf die Skobelev ihn hingewiesen habe. Erst als der General ihn unter Androhung von Arrest fortgeschickt habe, sei er gegangen. Über seinen Einsatz nach einem nächtlichen Angriff der Turkmenen auf ihr Lager berichtete der Autor: „Ich nähte und verband die ganze Nacht Wunden.“133 Die Lichtverhältnisse seien schlecht gewesen. Tische, Stühle oder Betten hätte es nicht gegeben, so dass sie auf den Knien oder hockend hätten arbeiten müssen. Der Autor erwähnte mehrere Schwerverletzte, die er erfolgreich versorgt habe. Als Beleg führte er an, dass er diese später nochmals gesund in Bami angetroffen habe. Er schloss seine Ausführungen mit der Bemerkung, dass er sich nach der Krankenversorgung, auf dem Weg zu einer nächtlichen Besprechung mit Skobelev, noch verschwitzt und blutverschmiert, eine schwere Angina eingehandelt hätte. Während eines weiteren nächtlichen Überfalls auf ihre Lager hätten sich er und seine Mitarbeiter sogar selbst zur Verteidigung der Patienten in ihrem Lazarett „entschieden“134 (rešit‘), da zunächst keine Verstärkung in ihrer Nähe gewesen sei. Er selbst habe einen Säbel ergriffen und gemeinsam mit dem medizinischen Personal vor dem Lazarett Aufstellung genommen. Sie hätten sich bestärkt, die Kranken „bis zu den letzten Kräften“135 zu verteidigen. Er erwähnt auch umherfliegende Kugeln. Schließlich seien ihnen Einheiten zur Hilfe geeilt und hätten den

131 132 133 134 135

Gejfel’der: Vospominanija, 54/4 (1887), S. 224. Ebd., S. 222. Ebd., S. 229. Ebd., S. 231. Ebd., S. 232.

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Gegner zurückgeschlagen, woraufhin er sogleich die Versorgung der Verwundeten aufgenommen hätte. In seinem Bericht über die dem Sturmangriff vorausgehende Erkundung der Festung mit dem General und seinem Stab stellte der Autor sich ebenfalls als aktiv handelnd dar, obwohl er mit den militärstrategischen Zielen der Erkundung nichts zu tun hatte. Der Autor erzählte, er habe einem leicht verletzten Offizier geholfen, die Schusswunde des Generals Annenkov versorgt und sei mit diesem auf dem Rückweg fast noch in die Hände des Gegners gefallen. Gejfel’der stellte sich mehrheitlich als aktiv leitender, tapferer Feldarzt dar, der seine Pflicht unter schwersten Bedingungen und unter Einsatz seines Lebens zu erfüllen versucht habe. Wie die Autoren zuvor, allerdings nicht so häufig, erwähnte auch er den diese Darstellung scheinbar bestätigenden Dank und das erhaltene Lob, das ihm beispielsweise für die gezeigte Tapferkeit bei der Verteidigung des Lazaretts von Skobelev erteilt worden sei.136 Vor allem um die besagte Tapferkeit zu belegen, betonte Gejfel’der, wie die Autoren zuvor, die Lebensgefahren, denen er sich und seine Mitarbeiter ausgesetzt zeigen wollte. So seien zwei Ärzte während einer Dienstbesprechung zur Vorbereitung der Lazarette für den Sturmangriff in ihrem Besprechungszelt angeschossen worden. Als persönliches Beispiel führte er sein eigenes Krankenlager in Folge eines Fiebers an. Während seiner Genesung seien 15 Kugeln in seinem Zelt eingeschlagen, eine habe das Bett, unterhalb seines Kopfes, getroffen. Der Autor betonte, dass die Ärzte unter diesen Bedingungen dennoch ihre Pflichten erfüllt hätten. Wie die Autoren zuvor berichtete auch Gejfel’der detailreich über die verwundeten und gefallenen Ärzte, Krankenschwestern und Feldschere. Er selbst habe eine Quetschung am Kopf erlitten, die er zum Schreibzeitpunkt noch gespürt hätte. Auf Basis seiner Darlegungen forderte er: „Wenn in einem kleinen Feldzug drei Ärzte und ein Feldscher getötet, zwei Ärzte verwundet wurden, zwei Ärzte und eine Schwester Quetschungen erlitten haben, ein Arzt durch einen Schlag starb, sieben Ärzte schwer an Typhus erkrankt sind, von denen einer verstorben ist, und das Sanitätspersonal, auf diese Weise mit Blut und Gesundheit bezahlend, alle Schwierigkeiten des Lebens auf dem Feldzug ertragen hat, dann muss man ihm die Ehrenbezeugung für die heldenhafte Erfüllung des Dienstes erweisen.“137

Die Angemessenheit seiner Forderung begründend, paraphrasierte er den damaligen deutschen Reichskanzler Otto von Bismarck, der die Ärzte im deutschfranzösischen Krieg, an dem Gejfel’der teilgenommen hat, für ihre „passive Tap-

136 Vgl. ebd., S. 222–223, 229–232, 237–238. 137 Ebd., S. 233.

Heldentum absichern und verteidigen

ferkeit“138 (passivnoe mužestvo) hinter den Kampflinien gelobt hätte. Der Autor führte aus, welch enorme Anstrengung es sei, nicht selbst in den Kampf eingreifen zu können und dessen Ausgang abwarten zu müssen. Diese Aussagen ergänzte er jedoch sogleich um eine Beschreibung dreier Militärärzte, die mit den Einheiten in und um Geok-Tepe in den aktiven Kampfeinsatz gezogen seien. Tapferkeit, Mut, Diensteifer und Selbstlosigkeit waren die Eigenschaften, die Gejfel’der für sich selbst und seine Kollegen in Anspruch nahm und auf denen er sein und ihr im Kampfeinsatz erworbenes Heldentum begründete. Zu dessen Postulat nutzte er soweit möglich auch den militärischen Kampf, anders als die bereits untersuchten Wissenschaftler und Beamte. Der Kritik leichter Siege oder der Verteidigung einer ehrenwerten Kampfweise widmete er sich nicht. Wenngleich Gejfel’der beispielsweise vermittels eines Dialoges mit Skobelev hervorhob, dass er sich als Militärmediziner immer den Verwundeten beider Seiten verpflichtet gefühlt habe, nutzte er, anders als beispielsweise Fišer, humanitäre Aspekte nur selten als Argument.139 Das Hervorheben ehrenhaften Verhaltens im Gefecht, die Zurückweisung von Diebstahl oder Gewalt gegen Zivilisten sowie das Postulat von Humanität blieben auch in den 1890er Jahren im Modus der Rechtfertigung Bestandteil der Texte von Sjarkovskij, Vereščagin und Ivanov. Sjarkovskijs Rechtfertigung von Gewalt und seine postulierte Humanität russischer Militärs wiesen deutliche Ähnlichkeiten mit den vorangegangenen Autoren auf. Laut dem Autor sei eine Mutter mit ihrem Kind auf dem Rücken an einem Stadttor Aulie-Atas während des russischen Angriffes von einer „zufälligen Kugel“140 getötet worden. In einer Fußnote auf derselben Seite formulierte er im Ton der Verwunderung, dass die Städter offensichtlich so sehr von ihrer Stärke überzeugt gewesen seien, dass sie ihre Angehörigen nicht vor einem möglichen russischen Sturmangriff in Sicherheit gebracht hätten. Zudem stellte er noch deutlicher als Fišer die Humanität der russischen Truppen zur Schau. Er berichtete, dass ihre zwei Ärzte einige Tage mit dem Verbinden von Verwundeten aus der Bevölkerung Aulie-Atas befasst gewesen seien. Diesen hätten die russischen Offiziere von ihrem Tee und Zucker abgegeben. Weiter hätten russische Soldaten ihren Zwieback mit ihren Gefangenen geteilt. Als Bestätigung ihres Verhaltens führte der Autor die Reaktion der Stadtbewohner an:

138 Ebd., S. 234. 139 Vgl. ebd., S. 228, 230, 233–234, Gejfel’der: Vospominanija. 55/7 (1887), S. 224. Vgl. zudem die Beschreibungen Guljaevs. Dieser beschuldigte die Turkmenen in Geok-Tepe, für ihre zivilen Opfer (Frauen und Kinder) selbst verantwortlich gewesen zu sein, weil sie diese, trotz der Aufforderung dazu, nicht rechtzeitig evakuiert hätten. Der Autor betonte zudem, dass es zu keinen Vergewaltigungen und Diebstählen durch russische Soldaten gekommen sei. Zudem hätten sie persische Sklaven befreit. Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 60, 67–68, 73, 78. 140 Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 365.

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Der militärische Gegner

„Die Aulieatainer würdigten sogleich den humanen Umgang mit ihnen; sie bezeichneten die Soldaten nicht anders, als ‚Tamyr‘ (Kumpel).“141

Sjarkovskij argumentierte somit für eine grundsätzlich ehrenhafte russische Kriegsführung, gegen einen auch bei ihm unausgesprochenen Vorwurf, man hätte speziell Frauen und Kinder nicht geschont. Er wies die Schuld an zivilen Opfern ebenfalls den Indigenen selbst zu und hob die humanitäre Hilfe der russischen Soldaten beziehungsweise der Militärärzte hervor, welche er durch die Reaktionen der indigenen Bevölkerung selbst zu belegen suchte. Von Gejfel’der ist posthum ein weiterer Erinnerungstext über seine Beteiligung an der Eroberung Geok-Tepes erschienen. Anders als in seiner Schrift aus den 1880er Jahren befasste er sich nun auch mit der Rechtfertigung der Plünderung und Zerstörung der Festung durch russische Einheiten. Hierbei wählte er eine bemerkenswerte, weil zweigleisige, Strategie. Einerseits übte er aus Sicht des Arztes eine sonst seltene Kritik an diesem Vorgehen, ohne dabei jedoch auf explizite Vorwürfe zu reagieren. Seinen Untergebenen hätte er das Plündern verboten. Andere Soldaten hätten sich dabei mit Fleckfieber infiziert und die Gier weiterer Soldaten geweckt. Darüber hinaus habe er dadurch eine der Aufgaben des russischen Militärs vor Ort gefährdet gesehen, die Einführung der europäischen Zivilisation in den Kampfgebieten. Gegenüber dem befehlshabenden General Skobelev hätte er daher argumentiert: „[…] [W]ir sollen uns nicht, so scheint es mir, schlechter verhalten, als die Asiaten selbst.“142 Andererseits zitierte er Skobelev, der auf seine Kritik geantwortet habe, dass es sich bei den Plünderungen um eine „Besonderheit des asiatischen Krieges“143 handeln würde. Erst die Plünderung und Zerstörung würden zu der endgültigen Unterwerfung der Asiaten führen, so der General weiter.144 Gejfel’der ergänzte, dass er zum Schreibzeitpunkt durch gestiegene Erfahrungen mit dem Leben in Asien die Argumentation Skobelevs „verständlicher“145 finde, als zum Ereigniszeitpunkt. Mit dieser Anmerkung wechselte er von der Kritik graduell zu der Rechtfertigung.

141 Ebd., S. 366. Vgl. auch Gejfel’der: Zakaspijskoj oblasti, 75/7 (1892), S. 200. Der Militärmediziner behauptete, dass General Skobelev ihm gesagt habe, dass die Plünderung und Zerstörung der Festung Geok Tepe 1881 für die gewünschte Unterwerfung der Turkmenen unumgänglich gewesen sei. Für diese Behauptung äußerte der Autor ein gewisses Verständnis. 142 Ebd., S. 200. 143 Ebd., S. 200. 144 Ganz ähnlich argumentierte auch schon Petrovskij, dessen Text hier nicht aufgenommen worden ist, weil er sich hauptsächlich mit einer zivilen Erkundungsmission des Autors in Handelsfragen befasste. Vgl. Petrovskij: Poezdka, 2/4 (1873), S. 210. 145 Gejfel’der: Zakaspijskoj oblasti, 75/7 (1892), S. 200.

Heldentum absichern und verteidigen

Gejfel’der bildete sich somit einerseits selbst als strenger Vorgesetzter, vorausschauender Arzt und zivilisierter Europäer ab, der die sachliche Kritik an der ausgeübten Praxis zu teilen schien. Andererseits stützte er bis zu einem gewissen Grad die geschilderte Rechtfertigung der Plünderungen und hielt damit seine bereits geschilderte Verortung im russisch militärischen Nexus aufrecht. Vereščagin erachtete die Begründung von Brandschatzungen, Plünderungen und verübten Grausamkeiten wie Gejfel’der für bedeutsam, da er diese mehrfach in seinen Erinnerungen an die Verteidigung Samarkands aufgegriffen hat. Zu Beginn seines Textes berichtete der Autor von der Einnahme der Festung Katy Kurgan durch General Golovačev. Hierbei kleidete er den Viehdiebstahl einer der beteiligten Kosakeneinheiten in eine verharmlosende Erzählung. Da die lokale Bevölkerung sämtliche Tiere vor ihnen vertrieben hätte, habe der Führungsoffizier der Einheit kurzerhand einige auf ihrem Weg grasende Bullen zu ihrem Eigentum erklärt und schlachten lassen. Sie hätten, so der Autor, „nicht wenig darüber gelacht“146 . Als die Bevölkerung sich bei dem befehlshabenden General darüber beschwert hätte, habe dieser den „Trick“147 (fokus) seines Offiziers verstanden und für die Tiere nachträglich bezahlt. Das Vorgehen des russischen Offiziers wurde, ähnlich wie bei Fišer oder Sjarkovskij, als Reaktion auf das Fehlverhalten der indigenen Bevölkerung gerechtfertigt. Ihre schwierige Versorgungslage erneut ansprechend, dieses Mal während ihrer Verteidigung Samarkands, berichtete der Autor über einen Ausfall in die die Festung umgebenden Gärten auf einem verborgenen Weg. Dort hätten sie Klee für ihre Pferde und ihr Vieh besorgt. Den erneuten offensichtlichen Diebstahl begründete der Autor hier mit dem „Recht der Kriegszeit“148 . Die letztlich umfassende Brandschatzung und Plünderung der Stadt, die zeitnah mit der Rückkehr der russischen Truppen unter General Kaufman einsetzten, beschrieb der Autor ähnlich verharmlosend, wie zuvor den Viehdiebstahl, als eine Art buntes Treiben der russischen Soldaten. Man habe ihnen gestattet, „[…] die Läden zu besichtigen […]“149 , woraufhin sich die Soldaten einen Spaß daraus gemacht hätten, sich mit den indigenen Kleidungsstücken zu verkleiden. Der Autor fügte bedauernd hinzu, dass die Brandschatzung so viel Altes vernichtet hätte. Eine allgemeine Begründung hatte dieses Vorgehen auf der Seite zuvor durch die wiedergegebene Anordnung Kaufmans erfahren, die Städter nicht zu schonen.150

146 147 148 149 150

Vereščagin: Samarkand, S. 3. Vereščagin: Samarkand, S. 4. Ebd., S. 48. Ebd., S. 53. Vgl. ebd., S. 53–54.

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Der militärische Gegner

Zusätzlich zu den geschilderten Rechtfertigungen behauptete Vereščagin im Verlauf seiner Ausführungen über ihren Ausfall aus der Samarkander Festung, gegen Ende der Belagerung: „Obwohl hier lauter Läden waren, verhielten sich die Soldaten sehr anständig. Ihnen ist es nicht eingefallen, etwas zu rauben […].“151

Auf ähnliche erzählerische Weise versuchte Vereščagin auch die verschiedenen Grausamkeiten einzuordnen und zu begründen. Zunächst hob er ihre moralische Kampfweise während der Belagerung der Festung hervor, als er berichtete, dass sie einen getroffenen und am Boden davonkriechenden Gegner nicht erschossen hätten, weil man „[…] einen Liegenden nicht schlägt.“152 Hinsichtlich der ausgeübten Gewalt während des Ausfalles gegen ihre Belagerer formulierte der Autor zunächst einschränkend, dass man zwar alle getötet habe, die ihnen in die Hände gefallen seien. Allerdings hätte es keine „unnütze Grausamkeit“153 gegeben. Er hätte nur „einmal“154 gesehen, wie einem Gegner das Bajonett in dessen Auge hineingestoßen worden sei. Er fügte hinzu, dass der Soldat daraufhin mit einer Ohrfeige von ihrem Vorgesetzten für diese Tat gerügt worden sei. Die während der Brandschatzung ausgeübte Gewalt verdeutlichte der Autor nur durch zwei weitere Beispiele, die auf Hörensagen beruhten. Einerseits schilderte er die Ermordung einer alten Frau und eines Jugendlichen, der sich bei dieser versteckt hatte. Anderseits erzählte er über die Tötung eines Mullas, der sich auf das Minarett einer Moschee geflüchtet habe. Von dort hätte man ihn hinuntergeworfen. Vereščagin versuchte dieses Vorgehen dadurch zu erklären, dass von dieser Moschee aus auf ihre Kranken gefeuert worden sei und er selbst diesen Mulla insgeheim der Organisation dieses Beschusses verdächtigt habe. Beiden Szenen ging zudem der rechtfertigende Hinweis auf Kaufmans Anordnung voraus, […] die Stadt vorbildlich zu bestrafen […]“155 . Vereščagin war offensichtlich bemüht, die russischen Soldaten als ehrbare Kombattanten darzustellen, die grundsätzlich nicht stahlen oder auf wehrlose Gegner schossen. Etwaiges Fehlverhalten, wie der Viehdiebstahl oder übermäßig grausame Tötungspraktiken seien von den Offizieren ausgeglichen oder geahndet worden. Zudem verharmloste er von der Regel abweichendes Verhalten sprachlich, indem er es ins Lächerliche zog, beziehungsweise zu Einzelfällen herabstufte. Requirierungen

151 152 153 154 155

Ebd., S: 39. Ebd., S. 19. Ebd., S. 39. Ebd., S. 39. Ebd., S. 52. Vgl. auch ebd., S. 39–40, 52–54.

Heldentum absichern und verteidigen

und Grausamkeiten begründete er weiterhin mit den Kriegsumständen oder führte sie auf erteilte Befehle zurück, die ebenfalls lediglich Reaktionen auf die erlebten Umstände gewesen seien. Indem Vereščagin über einzelne dieser Vorgänge sein Bedauern ausdrückte, oder vorgab, von diesen nur durch Dritte gehört zu haben, distanzierte er sich selbst davon. Wie bereits angesprochen, ist der Text von Ivanov ein seltenes Beispiel für eine rechtfertigende Reaktion auf explizite Vorwürfe des Autors Poltorackij gewesen, der die militärischen Leistungen der russischen Truppen in Mittelasien verschiedentlich in Frage gestellt hat. Ivanov wählte eine sehr systematische Herangehensweise für seine Erwiderungen, indem er Poltorackijs Aussagen nutzte, „[…] um das von ihm dargelegte mit jenem zu vergleichen, das mir gut bekannt ist.“156 Aus der größeren Zahl seiner Widerlegungen seien hier drei beispielhaft herausgegriffen. Ivanov argumentierte erstens gegen den Vorwurf leichter Siege. Hierzu versuchte er einerseits die Behauptung ihrer vermeintlich überlegenen Waffentechnik zu entkräften. So wären sie keineswegs mit verbesserten, schnellschießenden Gewehren oder der „Berdanka“157 ausgestattet gewesen. Ihre Gewehre wären dagegen vor allem im Feldeinsatz und nach vorherigem Gebrauch umständlich zu laden gewesen. Mit einzelnen Episoden aus den Schlachten gegen das Emirat von Buchara war der Autor bemüht, ihre schweren, veralteten Geschütze mit geringer Schussweite oder unpassender Munition zu illustrieren. Bessere Geschütztypen hätten nur wenigen Einheiten zur Verfügung gestanden. Mit spöttischem Ton mutmaßte Ivanov, dass bessere Waffentechnik vor allem in den Gardeeinheiten in St. Petersburg existiert habe. Beziehungsweise hätten einige Offiziere über eigene, bessere Waffen verfügt.158 Andererseits gab der Autor zu bedenken, dass die mittelasiatischen Gebiete, im Verhältnis zu ihrer Größe, mit verhältnismäßig wenigen Soldaten erobert und gehalten worden sind. An den Beispielen der Gefechte um Ikan und der Verteidigung Samarkands versuchte der Autor zu belegen, dass viele Schlachten bei zahlenmäßiger Überlegenheit der Gegner gewonnen worden seien. Schließlich zählte er zahlreiche Schlachten zwischen 1864 und 1870 auf und erwähnte entweder russische Opferzahlen oder unterstrich einzelne Schwierigkeiten. In Ura Tjube hätten beispielsweise zwei Sturmkolonnen circa 30% ihre Männer bei dem Sturmangriff

156 Ivanov: Vospominanij turkestanca 64/6 (1896), S. 831. 157 Hierbei handelte es sich um das Berdan-Gewehr, das in mehreren Ausführungen existierte und in den 1870er und 1880er Jahren in der Armee des Russischen Imperiums genutzt worden ist. Vgl. O. A.: „Berdanka“. In: S. I. Vavilov (Hrsg.): Bol‘šaja sovetskaja ėnciklopedija. Bd. 4. Moskva 1950, S. 623. 158 Vgl. Ivanov: Vospominanij turkestanca 64/6 (1896), S. 831–833, 852.

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Der militärische Gegner

verloren. In Džizak seien „nicht wenige Belagerungsarbeiten“159 durch Pioniere nötig gewesen.160 Speziell für die Eroberung Kitabs führte Ivanov zweitens sein eigenes Handeln unter schwierigsten Bedingungen zum Beleg des heldenhaften Einsatzes ihrer Einheiten an. In der Folge eines fehlgeschlagenen Angriffes auf die Festungsmauern und der Verwundung der führenden Offiziere, sei es zu einem ungeordneten Rückzug gekommen. Belegte diese Schilderung zunächst die Schwierigkeiten, berichtete der Autor nachfolgend, wie er sich mit einigen Kameraden unter diesen Bedingungen den sie verfolgenden Gegnern gestellt und diese getötet habe. Die damit postulierte Standhaftigkeit und den Mut versuchte er ein weiteres Mal zu belegen, indem er sich dabei abbildete, wie er Soldaten dazu auffordert, ihrem Führungsoffizier in einen letztendlich erfolglosen Angriff nachzufolgen und wie er diesem daraufhin selbst nachgefolgt sei. In einer dritten Szene zeigte sich der Autor bei der Gefechtsorganisation im Feld helfend. Die schwierigen Umstände betonend, nutzte der Autor sein eigenes heldenhaftes Agieren als Erwiderung auf den Vorwurf leicht errungener Siege.161 Drittens rechtfertigte Ivanov, wie zuvor Vereščagin, verschiedene Formen von Plünderungen und Diebstahl durch russische Soldaten. Im Fall Kitabs hob er zunächst hervor, dass das „Marodieren“162 (maroderstvo) durch den befehlshabenden General Abramov verboten gewesen sei. Nach der Einnahme der Stadt seien die Truppen aber zu einer langen Pause gezwungen gewesen. Aufgrund von aufkommendem Hunger und Fleischmangel in der Truppe hätte er um Genehmigung einer Lebensmittelrequirierung bei seinem Vorgesetzten gebeten. Der Autor gab hier die Diskussion mit diesem wieder, in deren Verlauf er die Requirierung als geordnete Beschaffungsmaßnahme zur Versorgung der Soldaten darstellte. Sein Vorgesetzter habe erst eingewilligt, als Ivanov persönlich die Verantwortung übernommen habe. Er fügte den Diebstahl herunterspielend hinzu, dass es sich schließlich nur um „einige Kälber“163 gehandelt habe.164 Ivanov versuchte seine Beschaffungsmaßnahme daraufhin weiter einzuordnen und damit als Unrecht abzuschwächen. Er berichtete über die von General Kaufman 1868 als Bestrafung angeordnete Plünderung Samarkands. Nur eine unter General Abramov stehende afghanische Hundertschaft habe den Befehl zur Beendigung besagter Plünderung missachtet und sei daraufhin hart bestraft worden. Der Autor nutzte die Episode nicht nur, um mit diesem Beispiel großflächiger Plünderungen

159 160 161 162 163 164

Ebd., S. 835. Vgl. ebd., S. 834–835. Vgl. ebd., S. 843–847. Ebd., S. 853. Ebd., S. 854. Ebd., S. 853–854.

Heldentum absichern und verteidigen

seine Requirierung als bedeutungslos darzustellen und die russischen Offiziere als streng auszuzeichnen, sondern auch, um die Befehlstreue der regulären russischen Soldaten zu betonen, die man zunächst für die Täter gehalten habe. Nach diesem Exkurs rechtfertigte Ivanov seine Requirierung in Kitab abschließend mit den „politischen Umständen“.165 Einerseits brachte er das bereits bekannte Argument vor, dass die Mittelasiaten ihre Unterwerfung erst im Zuge einer Plünderung (baranta) anerkennen würden. Andererseits sei die Einnahme Kitabs Teil einer Strafaktion gegen dortige Aufständische gewesen, deren Unbesiegbarkeitsmythos (slava nepobedimosti) man erfolgreich habe brechen müssen.166 Ivanov begegnete zahlreichen Vorwürfen, die das von in Turkestan eingesetzten Soldaten postulierte, soldatische Heldentum gefährdeten. Als Erwiderung auf den Vorwurf leichter Siege nutzte er einerseits rational wirkende Argumente wie die Waffentechnik, ihre Truppenstärke, ihre Verluste oder die geografischen Dimensionen. Weiter führte er sein eigenes tapferes Handeln unter schwierigsten Gefechtsbedingungen an, um Standhaftigkeit, Mut und Tapferkeit der Truppen zu bezeugen. Diebstahl oder das Marodieren versuchte er, ebenso wie die Autoren zuvor, als alternativlos hinzustellen, als stark eingehegte Requirierungen darzustellen, zu verharmlosen oder durch unausgewogene Vergleiche unbedeutend erscheinen zu lassen. Dabei war er bemüht, seine Führungsoffiziere als strenge, ehrenhafte Vorbilder für ihre folgsamen Soldaten zu zeigen. Schließlich rechtfertigte er Plünderungen als in Mittelasien notwendiges Mittel einer erfolgreichen Kriegsführung. In den Schriften nach 1900 standen nicht die geschilderten Rechtfertigungen bestimmter Ereignisse oder Handlungen im Vordergrund. Alichanov-Avarskij und Šnitnikov hoben mehr die Humanität der russischen Eroberer hervor. AlichanovAvarskij berichtete in seinen Memoiren über die Eroberungen von Merv und Kuška von der Wohltätigkeit der russischen Militärs. Eingangs beschrieb er die unter anderem dem Wetter geschuldeten, schwierigen Lebensumstände in ihrem Heerlager bei Aschabad, nach der Eroberung Geok-Tepes 1881. Dessen besiegte Bewohner, so stellte er fest, hätten ihr gesamtes Vieh, ihre Vorräte und ihren Besitz verloren. „[…] [B]uchstäblich das gesamte Volk hungert.“167 Daher habe es viele bettelnde Turkmenen aus Geok-Tepe in und um Aschabad gegeben. Statt die Verantwortung für diesen Zustand der russischen Einsatzführung zuzuschreiben, „nach [deren] Pogrom“168 die Bevölkerung Geok-Tepes in die umliegenden Regionen geflohen sei, sah Alichanov-Avarskij die Schuld für diese Hungerkrise bei den Turkmenen

165 166 167 168

Ebd., S. 855. Vgl. ebd., S. 854–855. Alichanov-Avarskij: Zakaspijskie, 5/9 (1904), S. 76. Ebd., S. 76.

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selbst. Seiner Meinung nach seien die Menschen zu spät aus ihren Fluchtorten zurückgekehrt und hätten „[…] sich nicht beeilt, ihre Felder einzusäen […].“169 Vor diesem Hintergrund stellte der Autor daraufhin die humanitäre Unterstützung durch den befehlshabenden russischen Offizier Baron Aminov heraus. Dieser […] habe alles dafür getan, um dem armen Volk zu helfen […].“170 Er habe Geschenke gemacht, Spenden gesammelt und Nahrung sowie Kleidung aus den staatlichen Depots ausgeben lassen. Hunger und der einsetzende Winter hätten dennoch große Opfer unter den Turkmenen gefordert. Ähnlich wie Sjarkovskij wies Alichanov-Avarskij damit die Verantwortung für die Folgen der russischen Eroberung partiell den Indigenen selbst zu, ohne dass er damit jedoch auf konkrete Vorwürfe Bezug nahm. Wie Fišer und Sjarkovskij betonte er die humanitäre Hilfe der russischen Militärführung für die Bevölkerung.171 Der Verwaltungsbeamte Fedorov behauptete in seinen Memoiren über seine drei Jahrzehnte umfassende Dienstzeit in Turkestan, dass die russische Herrschaft vor Ort „immer human zu den Besiegten“172 gewesen sei. Als Beleg führte er die Befreiung persischer Sklaven an. Nach der Eroberung Chivas, so der Autor, habe man die Sklaverei verboten und „[e]inige zehntausend persische Sklaven strömten in die Heimat […].“173 Schließlich fand sich auch in Šnitnikovs Ausführungen über seine Reise durch den Oblast Semireč’e der bereits von Fišer und Sjarkovskij bekannte Verweis auf die ärztliche Versorgung der indigenen Bevölkerung. In seinem Fall handelte es sich um den Expeditionsteilnehmer und zukünftigen Arzt B. K. Šiškin, der neben den Reiseteilnehmern auch Kirgisen ärztlich versorgt habe, […] die es natürlich liebten, sich behandeln zu lassen.“174 Auch hier unterstützte die vorgeblich positive Reaktion der Indigenen auf die erteilte Hilfe deren Funktion in der Erzählung. Wenngleich nur Gejfel’der und Ivanov in ihren Erinnerungen auf unterschiedlich explizite Kritikpunkte reagierten, enthielten zahlreiche Schriften spezifische

169 Ebd., S. 76. 170 Ebd., S. 76. 171 Vgl. ebd., S. 75–76. Vgl. auch Gunaropulo, der über die medizinische Versorgung indigener Verbündeter durch russische Kräfte am Kaspischen Meer berichtete und dies als quasi übliche und in der Bevölkerung bekannte Hilfeleistung darstellte. Vgl. Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/11 (1900), S. 572, Gunaropulo: Turkmenskoj stepi, 82/12 (1900), S. 1045. 172 Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 803. Fedorov wiederholte diese Behauptung in einem ganz ähnlichen Erzählzusammenhang. Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 134/10 (1913), S. 48. 173 Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 810. Vgl. auch Lomakin, der wie einige Autoren zuvor ebenfalls über die ärztliche Versorgung der einheimischen Bevölkerung berichtete. Zudem erwähnte er russische Maßnahmen zur Seuchenprävention. Vgl. Lomakin: Zakaspijskom krae, 3/4 (1911), S. 79–80. 174 Šnitnikov: Poezdki, 11/2 (1915), S. 45.

Heldentum absichern und verteidigen

Inhalte und Erzählweisen, mit denen impliziter Kritik begegnet und das postulierte, soldatische Heldentum abgesichert, ergänzt oder verteidigt werden sollte. Teil dieser Strategie war die Betonung einer (1) ehrenhaften Kriegsführung und Kampfweise. Hierzu wurden zivile Opfer bei Sjarkovskij oder Alichanov-Avarskij heruntergespielt oder grundsätzlich verneint. Vor allem von der Schuld am Tod von Frauen und Kindern versuchten sich die Autoren zu entlasten, indem sie diese der indigenen Bevölkerung selbst gaben. Weitere Aspekte sind Fišers Vorwarnung des Gegners oder der Verweis Vereščagins auf die Regelkonformität ihres Kampfes gewesen. Das ehrenhafte Verhalten der russischen Soldaten versuchte Vereščagin auch dadurch zu belegen, dass er für alle oder bestimmte Teile der russischen Truppen angab, dass diese nicht gestohlen hätten oder ihnen solches Verhalten verboten gewesen sei. Des Weiteren waren die Autoren bemüht, sich von der (2) Ausübung übermäßiger Grausamkeit im Gefecht zu distanzieren. Dies geschah beispielsweise bei Vereščagin dadurch, dass er solche Vorkommnisse als Ausnahmen marginalisierte oder verharmloste, indem er sie ins Lächerliche zog. Brandschatzungen und Plünderungen wurden auch von Ivanov heruntergespielt, indem er sie durch unverhältnismäßige Vergleiche unbedeutend erscheinen ließ. Er rechtfertigte sie zudem als notwendiges Kampfmittel im Krieg mit asiatischen Völkern. Er griff damit ein Argument auf, dass bereits in der Zirkulardepesche des Außenministers Gorčakov von 1864 enthalten gewesen ist175 und von Babajanov beispielsweise in Schriften des Orientalisten und Bildungsbeamten Nikolaj Petrovič Ostroumov gezeigt wurde.176 Darüber hinaus wurde versucht, die errungenen Siege mit Verweis auf die (3) Opferzahlen und die Gegenüberstellung der quantitativen Größe der russischen und indigenen Streitkräfte als schwer errungene Siege zu rechtfertigen. Ivanov tat dies explizit. Wenn hier nicht alle Autoren des ersten Unterkapitels erneut aufgezählt werden, die die russischen Opferzahlen vorwiegend in ihren Fazits erwähnt und öfter mit der vermeintlichen Truppenstärke ihrer Gegner kontrastiert haben, dann geschieht das, weil diese die Zahlen nicht im Modus der Rechtfertigung einsetzten, sondern damit ihren heldenhaften Kampf überhaupt erst konstituierten. Ivanov versuchte zudem durch eine (4) sachliche Gegendarstellung dem Argument überlegener russischer Militärtechnik zu begegnen, das die Siege zu entwerten drohte. Eine gewisse Sonderstellung nimmt hier Gejfel’der ein, weil er nur für die Verteidigung des Heldentums der Militärmediziner hinter der Front eingetreten

175 „Wird die Expedition zurückgezogen, weil die Räuber einmal bestraft worden sind, so ist die Lektion schnell vergessen; der Rückzug wird für Schwäche gehalten. Es gehört zu den Eigenarten der Asiaten nichts zu respektieren als sichtbare und greifbare Gewalt […].“ Gorčakov: Despatch, S. 73. 176 Vgl. Babajanov: Russian power, S. 278–279.

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Der militärische Gegner

ist. Er nutzte die Opferzahlen des Sanitätspersonals und dessen vorgeblich mutiges Verhalten unter Beschuss als Beleg einer spezifischen, passiven Tapferkeit der Mediziner hinter der Front. In gewisser Weise ähnelten die von ihm mehrfach behaupteten unzureichenden und daher schwierigen Arbeitsbedingungen dem Hinweis Ivanovs auf die ungenügende Militärtechnik. Beide Autoren versuchten damit, die jeweils erreichten Leistungen an und hinter der Front als anerkennenswert zu behaupten und ihr darüber begründetes Heldentum somit zu verteidigen. Schließlich war es zahlreichen Autoren wichtig, die (5) Humanität der russischen Truppen gegenüber der einheimischen Bevölkerung zu bezeugen. Fišer, Sjarkovskij und Šnitnikov berichteten in unterschiedlicher Ausführlichkeit von der medizinischen Hilfe, welche den Indigenen von russischer Seite gewährt worden sei. Dabei nutzten Sjarkovskij und Šnitnikov am deutlichsten eine postulierte, positive Resonanz der indigenen Bevölkerung auf die russische Hilfe. Das Beispiel Šnitnikovs bezeugt überdies, dass sich auch die zivilen Akteure dieses die russischen Aktivitäten vor Ort positiv auszeichnende Element zu eigen machten. Weiterhin gehört die von Sjarkovskij und Alichanov-Avarskij berichtete materielle Wohltätigkeit gegenüber den Indigenen und das von Fedorov behauptete Engagement der russischen Armeen bei der Abschaffung der Sklaverei und die Befreiung vor allem persischer Sklaven in diesen Rechtfertigungszusammenhang. Während einer unehrenhaften Kriegsführung und einer übermäßig grausamen Kampfweise in den Schriften begegnet worden ist, weil sie das Potential besessen haben, das postulierte soldatische Heldentum zu schmälern, wurden hohe russische Opferzahlen oder die große Unterzahl russischer Truppen sowie humanitäre und wohltätige Handlungen angeführt, weil sie das soldatische Heldentum bestätigen und erweitern konnten. Folgt man Fuller, der in der russischen Literatur um 1900 allgemein negative Bilder russischer Offiziere verbreitet sieht, so können zahlreiche der hier aufgeführten Inhalte und Erzählweisen als grundsätzlicher Versuch interpretiert werden, die kursierenden Vorstellungen über russische Militärangehörige zu korrigieren.177 Darüber hinaus passen die beschriebenen Darstellungsweisen zum Eintreten des Imperiums für eine Verrechtlichung des Kriegswesens, allen voran in Gestalt seines bekannten Völkerrechtlers Fedor Fedorovič Martens. Holquist hat überzeugend dargelegt, wie sich das Reich im letzten Dritte des 19. Jahrhunderts auf diversen internationalen Konferenzen einerseits für die Etablierung von Standards im Umgang mit Gefangenen, Zivilisten und besetzten Territorien eingesetzt hat. Andererseits verdeutlicht Holquist deren erstmalige Anwendung im Krieg gegen die Osmanen 1877/1878 sowie in der russischen Besatzungsphase der bulgarischen Territorien

177 Vgl. William C. Fuller Jr.: “The imperial army”. In: Dominic Lieven (Hrsg.): The Cambridge History of Russia. Bd. 2. Imperial Russia, 1689–1917. Cambridge u. a. 2006, S. 530–553, hier S. 547.

Schlussfolgerungen

kurz danach. Das Reich war nachweislich um die Versorgung der Kriegsflüchtlinge bemüht und ging gegen bulgarische und griechische Gräueltaten an der muslimischen Zivilbevölkerung vor. Teile der gebildeten russischen Oberschichten nutzten dieses Engagement, um das Imperium selbst, so Holquist, unter den „zivilisierten Staaten“ Europas zu verorten. Genau hier versuchten sich die zuvor genannten Autoren mit den geschilderten Erzählweisen gegen alle Kritik einzuordnen. Bemerkenswert erscheint dies dennoch, weil sie die keineswegs unumstrittenen Maßstäbe eines sich gerade erst herausbildenden Völkerrechts in Turkestan auf Kampfeinsätze abseits offiziell erklärter Kriegssituationen zwischen sogenannten „zivilisierten Staaten“ anlegten.178 Indem die Autoren ihre eigene Abbildung als militärische Helden absicherten und bekräftigten, traten sie gleichzeitig für die Stabilisierung und Verteidigung der übergeordneten Erfolgserzählung des Imperiums in Turkestan ein. Selbstdarstellung und positive Gesamterzählung waren auch in diesem Punkt eng verbunden. Wenn einige Autoren Maßstäbe des jungen internationalen Völkerrechts für die Eroberungen in Turkestan in Anspruch nahmen, schrieben sie das Russländische Reich in den Kreis der „zivilisierten“ europäischen Mächte ein. Weil sie dies für Kampfgeschehnisse abseits offiziell erklärter Kriege unter „zivilisierten“ Staaten taten, erhoben sie höhere Ansprüche, als dies westeuropäische Akteure eben dieser Staaten getan haben.

6.4 Schlussfolgerungen Im gesamten Untersuchungszeitraum bemühten sich zahlreiche Autoren in ihren Teilnahme- und Reiseberichten sowie in ihren Memoiren über die militärische Eroberung, Befriedung und Verteidigung Mittelasiens, sich selbst und ihre Kameraden als Helden, beziehungsweise ihr militärisches Handeln als heldenhaft darzustellen. Neben der direkten Selbstbezeichnung als Held existierten einige indirektere Erzählweisen. So versuchten die Autoren ihr soldatisches Heldentum durch ihr (1) individuelles Handeln im Kampfgeschehen und durch (2) einzeln oder in der Gruppe erreichte Leistungen und Erfolge zu konstituieren. Dabei verdeutlichte die (3) direkte und indirekte Abbildung von Gewalthandlungen, die sich gegen die indigenen Gegner richteten, die Wirksamkeit des russischen Kampfes. Mit der Betonung überstandener (4) Lebensgefahren in den Schlachten bemühten sich

178 Vgl. Peter Holquist: “The Russian Empire as a „Civilized State“. International law as principle and practice in imperial Russia, 1874–1878”. In: The National Council for Eurasian and East European Research. Titel VIII Program 2004, S. 1–37. [zuletzt aufgerufen am 21.03.21], hier S. 1–5, 7, 22–25.

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die Autoren, die geschilderten Leistungen in ihrer Bedeutung zu steigern. Hierfür bildeten die (5) Darstellungen direkter Gewalteinwirkungen auf die russischen Soldaten ein wichtiges Erzählmittel. Erhaltenes (6) Lob von Seiten der Generalität, ihnen gezeigte Anerkennung durch Kameraden oder von höchster Stelle erhaltene Orden und Prämien dienten den Autoren als vorweisbare Bestätigungen der postulierten Leistungen. Ein wichtiges Darstellungsmittel der eigenen und kollektiven Erfolgsbilanz sind (7) die zusammenfassenden Fazits am Ende der Texte gewesen. Explizit geäußerter und potentiell möglicher Kritik versuchten die Autoren durch die Behauptung (8) einer ehrenwerten, regelkonformen Kampfweise, von (9) Humanität und Wohltätigkeit gegenüber der indigenen Bevölkerung und durch die (10) Zurückweisung übermäßiger Grausamkeiten in den Gefechten zu begegnen. Der genaue Anteil dieser zehn Aspekte und ihr Mischungsverhältnis in den einzelnen Texten bildet die individuelle Spezifik der jeweiligen Selbstbeschreibung als heldenhafter Soldat. Neben der in Kapitel 4 dargelegten Argumentation mittels der Figur der Natur als Gegner dienten den Autoren vor allem die Aspekte 1, 3, 4 und 5 dazu, der Kritik an vermeintlich „leichten Siegen“ zu begegnen. Die in den autobiografischen Erzählungen direkt und indirekt benannten Tugenden Entschlossenheit, Opferbereitschaft, Kühnheit, Tapferkeit, Standhaftigkeit und Durchsetzungsfähigkeit entsprechen mehrheitlich der von Stegmann mit Bezug auf Étienne François formulierten Definition des Begriffes „Held“ als „nachahmenswerte Identifikationsfigu[r]“179 . Heldenbilder, so Stegmann weiter, bilden das Verbindungsglied zwischen dem jeweiligen Krieg in der Vergangenheit und der Gemeinschaft in der Gegenwart. Die schreibenden Kriegsteilnehmer schufen, laut Kipper, sinnstiftende Deutungsangebote für die lesende Bevölkerung in ihrer Heimat. Den Mitgliedern dieser Gemeinschaften gaben sie damit, laut Immer und Marwyck, „physisch[e], psychisch[e] und ethisch[e] Orientierung“180 . Der Wunsch zur Nachahmung wird, so die Autoren weiter, durch die Faszination erzeugt, die von den als außergewöhnlich charakterisierten Handlungen ausgeht. Der häufige Gebrauch der ersten Person Plural in den untersuchten Texten verweist auf die bei Stegmann angesprochene, kollektive Dimension des Helden-Begriffes. Indem sich die Autoren auf die Gruppenleistungen beriefen, orientierte sich ihre Selbsterzählung automatisch zu einem gewissen Grad an den bereits zirkulierten Heldenbildern. Gleichzeitig wirkten die Autoren durch die individuellen Aspekte

179 Stegmann: Opferdiskurs, S. 13. 180 Nikolas Immer/Mareen van Marwyck: „Helden gestalten. Zur Präsenz und Performanz des Heroischen.“ In: dies. (Hrsg.): Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden. Bielefeld 2013, S. 11–28, hier S. 11.

Schlussfolgerungen

ihrer Selbstbeschreibung auch formierend an der Aushandlung und Fortschreibung der Heldenbilder mit.181 Auch die herausgearbeiteten Aspekte der Darstellung des militärischen Kampfes in der russischsprachigen Autobiografik über Turkestan besaßen Parallelen und Vorbilder. So ist Phillips in ihrer Studie zu geschlechtsspezifischen Zuschreibungen physischer Fähigkeiten beziehungsweise Einschränkungen am Beispiel der medizinisch psychologischen Behandlung russischer Soldaten um 1900 unter anderem auf einige Eigenschaften des idealen Kriegers in einer nicht-autobiografischen Veröffentlichung des Generalstabs-Oberst Družinin von 1910 eingegangen. Für diesen, so die Autorin, musste ein Offizier im Gefecht „beherrscht“ (cool), „ruhig“ (calm) und „gelassen“ (composed) sein. Das entsprach den zeitgenössischen, westlichen Vorstellungen von einem im Gefecht tapferen, seine Gefühle kontrollierenden Soldaten, so Phillips weiter. Sie vermutet, dass diese Vorstellung in russischen militärischen Führungskreisen weiter verbreitet gewesen ist. Wenngleich die drei Begriffe nur selten direkt in den untersuchten Quellen vorgefunden worden sind, wie beispielsweise bei Kolokol’cov, so scheinen sie eng mit den aufgefundenen Tugenden „Tapferkeit“, „Kühnheit“ oder „Standhaftigkeit“ verbunden zu sein. Daher liegt die Vermutung nahe, dass die skizzierten Ideale bereits seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts auch in den autobiografischen Schriften russischer Militärangehöriger geformt worden sind, aber in unterschiedlichen, professionellen Kreisen sprachliche Variationen erfahren haben.182 In der Studie von Sherry über einige publizierte Memoiren russischer Offiziere über deren Einsätze im Kaukasuskrieg tauchte die direkt und indirekt formulierte Rechtfertigung von Grausamkeiten gegen die Indigenen als Reaktion auf die den russischen Truppen von diesen entgegengebrachte Gewalt ebenfalls auf. Taki hat in seiner Untersuchung russischer Reiseliteratur über das Osmanische Reich auch darauf hingewiesen, dass die von russischer Seite verübte Gewalt in deren Schriften ebenfalls als Reaktion auf die Kriegsführung der Osmanen gedeutet worden ist. Anders als in den Quellen zu Turkestan konstatierten die Autoren bei Sherry ihr Heldentum weniger über Leistungen in den Kampfhandlungen, als vielmehr durch die behauptete Fähigkeit, sich seine moralische Überlegenheit unter schwierigsten Umständen und in auswegloser Situation bewahrt zu haben. Zumindest bei Vereščagin fand diese Selbstaussage eine klare Entsprechung in der vorliegenden Untersuchung. Die von Sherry benannten, positiven Merkmale „innere Stärke“ und

181 Vgl. Stegmann: Opferdiskurs, S. 12–13, 64, Kipper: Erinnerung, S. 34, Immer/Marwyck: Helden, S. 11–12. 182 Vgl. Laura L. Phillips: Gendered Dis/ability: Perspectives from the Treatment of Psychiatric Casualties in Russia’s Early Twentieth-Century Wars. In: Social History of Medicine 20/2 (2007), S. 333–350, hier S. 336–337.

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„Gemeinschaftssinn“ stimmten ebenfalls mit den für Turkestan herausgearbeiteten Tugenden überein.183 Andreeva zeigte in ihrer Studie zu russischer Reiseliteratur über Persien die in den Quellen indirekt formulierte Überzeugung, dass „[…] die einzige Sprache, die die ‚Orientalen‘ fähig sind, zu verstehen, die der Gewalt und Macht […]“184 sei. Ein Autor begründete auf diese Weise sein Verhalten gegenüber der indigenen Bevölkerung. Wenngleich alle aufgezeigten Parallelen teils nur von wenigen Beispielen, auch aus nicht publizierten Quellen oder nicht-militärischen Zusammenhängen stammten, so verdeutlichten sie dennoch, dass diese Inhalte, Darstellungs- und Erzählweisen eine überzeitliche und überregionale Verbreitung besessen haben. Weitere Befunde erfuhren auch durch bereits existierende Einzelstudien zur Darstellung der Eroberung Mittelasiens aus russischer Perspektive Bestätigung. Die Auswertung populärer, auflagenstarker Journale von Matveev hinsichtlich der Darstellung der Eroberung Chivas stimmt mit der hier vertretenen Auffassung überein, dass die Betonung einer zahlenmäßigen, russischen Unterlegenheit dazu genutzt worden ist, um den jeweiligen russischen Sieg und seine postulierte Heldenhaftigkeit aufzuwerten.185 Abashins mikrogeschichtliche Untersuchung des Gefechtes um Ošoba, im Zusammenhang mit der Niederschlagung des Aufstandes im Chanat von Kokand und dessen endgültiger Unterwerfung 1875, bestätigte ebenfalls die hier gezeigten, grundlegenden Elemente des Erzählens über den militärischen Kampf. Der Autor untersuchte unter anderem den für den internen Gebrauch gedachten, unpublizierten Dienstbericht des befehlshabenden Oberst Pičugin. Darin stellte der Offizier seine Leistungen im Gefecht und die Tapferkeit der ihm untergebenen Einheiten heraus, erwähnte einzelne Soldaten lobend und schätzte die Zahl der getöteten Gegner, denen er dennoch eine hartnäckige und effektive Kampfweise attestierte. Anders als für die publizierten Quellen der vorliegenden Arbeit, ging es Pičugin in seiner Positivdarstellung ihres heldenhaften Kampfes gegenüber seinem Vorgesetzten General Kaufman darum, das größtmögliche Ansehen und damit den größtmöglichen zu erwartenden Bonus für sich zu erzielen, wie Abashin richtig schlussfolgerte. Im Fall der hier untersuchten publizierten Quellen hat der persönliche Mehrwert der Autoren in der grundsätzlichen Erlangung öffentlicher Anerkennung über den mit Turkestan befassten Kreis von Militärs hinaus bestanden.186 Morrison hat schließlich für einige der führenden Offiziere der militärischen Expansion des Russländischen Reiches nach Turkestan wie Michail Grigor’evič Čern183 184 185 186

Vgl. Sherry: Kavkaztsy, S. 210, 212, 216, 218, Taki: Sultan, S. 116. Andreeva: Iran, S. 96. Vgl. Matveev: Perceptions, S. 286–287. Vgl. Abashin: Khoqand, S. 220–222.

Schlussfolgerungen

jaev, Konstantin Petrovič Kaufman oder Michail Dmitrievič Skobelev die Existenz eines relativ einheitlichen Heldenbildes in der russischen Öffentlichkeit um 1900 festgestellt. Ein wesentlicher Bestandteil dieses Bildes sei die Vorstellung gewesen, es habe sich um sorgfältig handelnde Befürworter einer quasi wissenschaftlichen Kriegsführung gehandelt. Dies scheint eine Reaktion auf die zeitgenössische Kritik von Fachleuten, wie dem Militärtaktiker Michail Ivanovič Dragomirov, gewesen zu sein, dem zufolge während der Eroberung Mittelasiens Taktik und Strategie nur wenig bedeutend gewesen seien. Die bei Fišer oder Kolokol’cov aufgezeigte Zuschreibung von Sorgfalt und strategischem Vorgehen für ihre Vorgesetzten könnte eine vorsorgliche Verteidigung gegen solche Vorwürfe gewesen sein.187 Das eigene Handeln im Kampfgeschehen, ausgeführte Gewalthandlungen und erlebte Gewalteinwirkungen, erreichte Leistungen, überstandene Lebensgefahren und das Aufzählen von Belobigungen, Orden und Prämien bildeten die Grundlage für die Selbstdarstellung der Akteure als militärische Helden. Diese Aspekte besaßen zeitlich und räumlich anders gelagerte Vorbilder. Dennoch stellte ihre konkrete Verwendung in der russischsprachigen Autobiografik zu Turkestan eine eigenständige Entwicklung dar. Indem die Autoren diese mit der Natur als Gegner und den spezifischen Erzählweisen über die indigenen Bevölkerungen verknüpften, betraten sie in Turkestan neue Räume der russischsprachigen Autobiografik. Weil die dargestellten Erzählweisen über das militärische Kämpfen eng mit Personen, Institutionen und Strukturen des Imperiums verbunden waren, weil die Wirksamkeit des eigenen Kämpfens immer auch die Leistungen der russländischen Truppen insgesamt vor Ort unterstrich und weil das Verteidigen der individuellen Heldenhaftigkeit immer auch den militärischen Gesamtzusammenhang in Turkestan verteidigte, unterstützten die herausgearbeiteten Aspekte als weiteres Element die übergeordnete Fortschritts- und Erfolgserzählung über das Imperium im südlichen Mittelasien. Aus dem Zusammenwirken aller Elemente bezog der autobiografische Diskurs im Sinne von Aust und Schenk seine potentiell kohäsive Wirkung.188 Das folgende Kapitel geht mit der bereits in Kapitel 5 angesprochenen Konstruktion und Selbstverortung der Autoren in verschiedenen Gruppen auf das letzte Element der übergeordneten Erfolgserzählung ein.

187 Vgl. Morrison: Turkestan Generals, S. 5, Menning: Russian Army, S. 12, 281, FN 27. 188 Vgl. Aust/Schenk: Einleitung, S. 11–12. Unterstützung erfährt die Argumentation an dieser Stelle durch Jobst. Laut der Autorin wirkte ein auch über die Memoiristik publiziertes „militarisiertes Männlichkeitsbild“, das sie sowohl in Russland als auch in Großbritannien nach dem Krimkrieg gegeben sieht, stabilisierend auf die Imperien. Vgl. Jobst: Krim-Diskurs, S. 372.

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7. „Turkestancy“ oder das Imperium? Gruppenbildung und soziale Selbstverortung

„Nach der Parade bin ich bei unseren Verwundeten gewesen. Die tödlich verwundeten Kosaken Sarmin, Džaldybakov und Sobolev lagen ruhig, in voller Besinnung, nicht einmal ein Stöhnen von sich gebend. Sarmin, am Kopf verwundet mit einer Verletzung des Gehirns, schien sich seiner Lage bewusst zu sein und sagte zu mir: ‚Schade, Euer Hochwohlgeboren, ich habe dem Zaren wenig gedient‘.“1

Zusätzlich zur Selbstauszeichnung im militärischen Kampf, zur Abgrenzung gegenüber den als unterlegen dargestellten indigenen Bevölkerungen und zusätzlich zur Selbstauszeichnung im Ringen mit der Natur ist die Positionierung der Autoren in unterschiedlich komplex erzählten Gemeinschaften ein weiterer wichtiger Bestandteil in vielen der untersuchten Schriften. Die naheliegende Bezugnahme auf das Russländische Reich mit dem Zaren an seiner Spitze, wie sie in dem vorangestellten Zitat Guljaevs zum Ausdruck kommt, ist jedoch quantitativ eine Ausnahme. Vielmehr haben sich militärisch aktive Autoren in Gemeinschaften von Kämpfenden eingeordnet. Analog dazu haben sich Akteure, die in der Erforschung und Erschließung Turkestans tätig gewesen sind, in Erforscher-Gemeinschaften eingeschrieben. Wie zu zeigen sein wird, bildete das Imperium dabei häufig den Kontext, auf den nur indirekt Bezug genommen wurde. Das nachfolgende Kapitel untersucht daher in den ersten zwei Abschnitten zunächst, wie diese erzählten Gemeinschaften beschaffen gewesen sind, welche Subgruppen es gab und wie diese adressiert wurden. Daraufhin widmet sich das Kapitel im dritten Abschnitt den vorhandenen Bezügen auf das Imperium und dessen Vertretern. Für die verschiedenen Bezugnahmen aller drei Kapitel wird gefragt, welche Funktion sie innerhalb der autobiografischen Gesamterzählung besessen haben. Hierbei wird unter anderem argumentiert, dass die jeweiligen Gruppen der Selbstbeschreibung der Autoren eine größere Glaubwürdigkeit und deutlich mehr Bedeutung verliehen haben.

7.1 Kampfgemeinschaften Bereits in den 1860er und 1870er Jahren haben sich Tat’janin und Kolokol‘cov in ihren Texten auf ähnliche Weise in Beziehung zu verschiedenen Gruppen beziehungs1 Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 71.

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„Turkestancy“ oder das Imperium? Gruppenbildung und soziale Selbstverortung

weise einzelnen, herausgehobenen Personen gesetzt. Tat‘janin tat dies beispielsweise direkt mit der Aussage „[w]ir, die Pioniere“2 in seinem Teilnahmebericht über verschiedene Gefechte gegen bucharische Truppen im Jahr 1866. Gemeint war eine militärische Pioniereinheit (sapery) aus Orenburg, auf die er mehrheitlich unter Verwendung des Personalpronomens „wir“ oder der Bezeichnung „Kameraden“3 (tovarišči) Bezug genommen hat. Tat‘janin hat über ihre Erfolge, Kampfweisen oder auch summierend über ihre Toten und Verwundeten geschrieben. Indem er über die Verwundung oder den Tod einzelner Offiziere der Einheit berichtet hat, drückte er seine herausgehobene Verbundenheit mit dieser Teilgruppe aus. Während ihres Sturmangriffes auf die Festung Ura Tjube seien der Kompaniechef, Kapitän Plec, und der Unteroffizier Il’in getötet worden. Letzterer habe einer früheren Galvanisierungseinheit4 angehört. Vor allem der Tod von Plec habe die Pioniere betrübt, so der Autor. „[…] [D]ie ganze Kompanie liebte und verehrte ihren tapferen Kapitän […].“5 Für dessen Tod hätten die Pioniere den Bucharaern, so Tat‘janin, Rache geschworen und sich daraufhin bei der folgenden Erstürmung von Džizak hervorgetan. Bei dieser sei der Unteroffizier Balandin schwer verwundet worden, was den Autor persönlich sehr betroffen gemacht hätte: „Das war der beste Unteroffizier aus allen unseren Kompanien, hochgewachsen, selbst ein Hübscher.“6 Der Autor fügte an, dass Balandin aus einem Leibgardebataillon zu ihnen gekommen sei. In direkter Rede gab er sein letztes Gespräch mit dem Schwerverletzten am Verbandsplatz wieder und berichtete wenig später von dessen Tod. Dabei erzählte er von dessen Begräbnis und dokumentierte dessen Grabstelle, unweit ihres Lagers. Im Fazit am Textende erwähnte er nur Kapitän Plec nochmals namentlich. Tat‘janin verortete sich demnach allgemein in der Kampfgemeinschaft seiner Orenburger Pioniereinheit durch sprachliche Gruppenbezüge. Zudem berichtete er über ihre kollektiven Leistungen und Opfer während der Gefechte. Darüber hinaus assoziierte der Autor sich vor allem mit den Offizieren seiner Einheit, die einerseits allein namentliche Erwähnung fanden. Andererseits hat er in kurzen Nachrufen an einzelne, gefallene Offiziere und deren persönliche Qualitäten erinnert.7 2 Tat’janin: Turkestanskago kraja, 5/20 (1867), S. 162. 3 Ebd., S. 160. 4 Wenngleich der genaue Auftrag der Einheit unbekannt ist, verweist ihre Bezeichnung auf die Galvanotechnik. Dabei handelt es sich um ein elektrochemisches Verfahren zur Oberflächenbeschichtung. Beispielsweise lassen sich Metalle damit vor Korrosion schützen. 5 Ebd., S. 163. 6 Ebd., S. 164. 7 Vgl. ebd., S. 160–166. Vgl. zudem Fišers Bericht über die Eroberung Chodžents. Bei ihm bildete das gesamte Expeditionsheer die Bezugsgruppe. Mit General-Major Romanovskij und Oberst Kraevskij sowie einigen weiteren Offizieren konzentrierte er sich bei den individuellen Erwähnungen auf die hohe Führungsebene. Er zitierte aber auch einen anonymen Soldaten. Vgl. Fišer: Vzjatii goroda, 1 (1873), S. 1–2, 10, 16, 30–31, 33.

Kampfgemeinschaften

Kolokol‘cov hat nach eigener Aussage am Feldzug General Kaufmans gegen Chiva als Teil des Hauptquartieres und als Kolonnenführer teilgenommen. In einem Auszug aus seinem Feldtagebuch konstruierte der Autor ebenfalls verschiedene Gemeinschaften, zu denen er sich in Beziehung setzte. Am deutlichsten sind dies die Offiziere gewesen, die auch er ausschließlich namentlich erwähnte. Eingangs benannte er die Kommandeure und Befehlshabenden des gesamten Feldzuges und verortete sich in deren Hauptquartier. Während einer der wenigen Kampfszenen benannte er einzelne Offiziere, die er in Erfüllung ihnen übertragener Aufgaben abbildete. Hierbei ging er unterschiedlich detailliert aber insgesamt sehr sparsam auf die Biografien einzelner Personen ein. Niedrigere Ebenen fanden ebenfalls nur summierend durch die militärischen Bezeichnungen ihrer Einheiten Erwähnung. Ähnlich Fišer zählte er beispielsweise detailliert alle Teile der von ihm geführten Marschkolonne auf. Vor dem Hintergrund des Gesamtfeldzuges und der von ihm selbst geführten Kolonne konstruierte der Autor durch verschiedene Gruppenbezüge eine allgemeine Schicksalsgemeinschaft der Teilnehmer dieses Waffenganges. So lobte er allgemein die „Herren Offiziere“8 in seiner Kolonne für ihre Fürsorge um alle Mitglieder ihrer Einheiten während eines Kälteeinbruches auf ihrem Weg. An anderer Stelle beschrieb der Autor die von Sand und Hitze verursachten Widrigkeiten während ihrer Durchquerung von Wüstengebieten bei Chal Ata. Hierbei betonte er: „[…] [A]lle tragen fast dieselben Unglücke, der Unterschied an sich ist unbedeutend.“9 In diese Aussage bezog er sowohl die hohe Generalität als auch die einfachen Soldaten ein. Diese Gemeinschaft der Leidenden bekräftigte er im Folgenden nochmals, als er sich selbst fragte „[…] wie der Mensch, im Besonderen der russische, in einer Lage, die ihm manchmal durch das Schicksal zuteilwird, die schweren Qualen und Entbehrungen übersteht […].“10 Er schloss ein Lob auf ihre Soldanten an, deren engagierte Zusammenarbeit bei den schweren Transporten ihrer Artillerie über den weichen Wüstensand er später nochmals unterstrich.11 Gesondert ist Kolokol‘cov mehrfach nur auf eine Gruppe von Offizieren einer Pioniereinheit aus seiner Kolonne eingegangen:

8 9 10 11

Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 382. Ebd., S. 389. Ebd., S. 31. Vgl. ebd., S. 379–380, 22–23, 31, 37. Hinsichtlich der erlittenen Entbehrungen in der Wüste konstruierte Kolokol’cov eine Gemeinschaft der Wissenden, als er davon sprach, dass „wir“ unter den beschriebenen Bedingungen alle an die zeitgenössisch bekannten Reiseberichte aus Mittelasien von Hermann Vámbéry gedacht und dessen Beschreibungen zugestimmt hätten. Vgl. ebd., S. 391–392.

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„Turkestancy“ oder das Imperium? Gruppenbildung und soziale Selbstverortung

„[…] [N]iemals werde ich jene liebenswürdigen Beziehungen vergessen, in welchen ich mich zu dieser wunderbaren Gesellschaft der Offiziere mit ihrer Anständigkeit befunden habe.“12

Diese hätten ihn auf seine Bitte hin mit Proviant versorgt, weswegen er ihre Gastfreundlichkeit lobte. Diesen Offizieren blieb er auch auf den folgenden Seiten verbunden, als er zunächst ihren persönlichen Einsatz bei der Errichtung von Verteidigungsanlagen bei Chal Ata bei großer Hitze lobte und gegen Ende seiner Ausführungen nochmals den großen Nutzen der Pioniereinheiten für den Feldzug hervorhob.13 Neben den bereits erwähnten, kurzen Personenbeschreibungen einzelner Offiziere im Einsatz nahm Kolokol‘cov, ähnlich wie Tat’janin, einen kurzen Nachruf auf einen Oberst Vejmarn in seinen Text auf. Der Kommandeur des 2. Schützenbataillons sei bei einem Unfall mit seinem Pferd tödlich verletzt worden. Der Autor lobte ihn als guten Menschen und hervorragenden Offizier, der für außergewöhnliche Ordnung in seinen Einheiten gesorgt habe. Es sei die Sorge um das Eigentum seiner Soldaten gewesen, die ihn unausgeruht einen Transport habe begleiten lassen, auf dem er schließlich verunglückt sei.14 Darüber hinaus hat Kolokol‘cov General Kaufman im Verlauf seines gesamten Textes umfassend portraitiert. Zu Beginn habe ein fleißiger Oberkommandierender am Tag ihres Aufbruches seine Truppen um vier Uhr morgens, trotz schlechten Wetters, persönlich verabschiedet. Unterwegs erschien Kaufman als guter Gesellschafter, der seine Offiziere bei Tisch aufgemuntert habe, und als selbstloser Offizier, der seine Kutsche für den Transport von Verwundeten bereitgestellt habe. In einer der wenigen Gefechtssituationen bildete der Autor den General als ruhig handelnden Befehlshaber inmitten großer Aufregung ab. Auf ihrem weiteren Weg durch die Wüste bewertete er dessen Entscheidungen als umsichtig und zeigte ihn an der Spitze seiner Einheiten, den Tross nach Chiva führend. Mit der Aussage, dass „mein Sohn, Adjutant des General-Adjutanten fon Kaufman“15 gewesen ist, versuchte er eine persönliche Beziehung zu dem Generalgouverneur aufzubauen. Mehrfach bildete Kolokol‘cov den Oberkommandierenden dabei ab, wie er Einheiten für einen Einsatz dankte oder Einzelne auszeichnete. Vor der Hauptstadt des Chanates beschrieb der Autor Kaufman im Gespräch mit dem Bruder und dem Onkel des Chans, dem er unnachgiebig mit dem Entzug seines Thrones drohen lassen habe. Kolokol‘cov hob hervor, dass er bei dieser Unterredung genötigt gewesen

12 13 14 15

Ebd., S. 381. Vgl. ebd., S. 381, 390, 58. Vgl. ebd., S. 63–64. Ebd., S. 21.

Kampfgemeinschaften

sei: „neben dem Feldstabführer zu stehen, unweit des Oberkommandierenden“16 Kaufman und behauptete ein weiteres Mal eine gewisse Nähe zu ihm. Nach der Einnahme Chivas besuchte in der Erzählung des Autors ein nochmals fürsorglicher Oberbefehlshaber einen seiner verwundeten Kommandeure.17 Kolokol‘cov ordnete sich selbst somit deutlich mehr Gruppen zu, als der Autor zuvor. Dazu zählten sowohl die Führungsebene des Feldzuges, der er als Kolonnenführer angehört hat, als auch eine allgemeine Leidensgemeinschaft derer, welche seiner Aussage nach das Schicksal auf diesem Feldzug zusammengeführt hatte. Wenngleich es sich insgesamt um militärische Gruppen gehandelt hat, trat der noch bei Tat’janin konstitutive Aspekt des Kampfes hier hinter dem des Leidens zurück. Dennoch blieb sein Bezug auf die teilnehmenden Offiziere, vor allem die der Pioniere, wichtig. Durch unterschiedlich umfangreiche aber durchweg positive Charakterisierungen einzelner Führungspersonen versuchte der Autor zum Ausdruck zu bringen, mit welch bemerkenswerten Männern er gedient hätte. Von besonderer Bedeutung für das zu erlangende Prestige erschien hierbei General Kaufman, zu dem der Autor zwei Mal erzählerisch eine Beziehung herzustellen versucht hat. Das genaue Einordnen in die truppen-organisatorischen Zusammenhänge, das In-Beziehung-Setzen zu einzelnen Einheiten oder Gruppen sowie das Charakterisieren und Portraitieren einzelner Personen ist auch in den 1880er Jahren im Text von Guljaev zu beobachten gewesen. In seinen Erinnerungen an die Eroberung Geok-Tepes unter General Skobelev, über den Jahreswechsel 1880/1881, fanden sich, ähnlich wie bei Kolokol‘cov, mehrere differenzierte Gruppenbezüge wieder. Beispielsweise erzählte er über das Zusammenleben in der lokalen Garnison an ihrem zeitweiligen Stationsort Petro-Aleksandrovsk, dass sie „in den engen, freundschaftlich-familiären Kreis der Garnison“18 aufgenommen worden seien. Die von Guljaev darüber hinaus für die Schlacht um Geok-Tepe konstruierte, allgemeine Kampfgemeinschaft umfasste zahlreiche Gruppen und Personen. Auf ihrem Weg in das Kampfgebiet trafen sie mit „unseren ruhmreichen Kaukasiern“19 zusammen, die sie mit Wasser und Lebensmitteln versorgt hätten. Gemeint war eine dagestanische Infanterieeinheit. Auf ähnliche Weise berichtete er nach Beendigung der gemeinsam gekämpften Schlacht über die Verabschiedung von eben jener Gruppe. Bekräftigt wurde die Gemeinschaft in Szenen, in denen der Autor einen

16 Ebd., S. 67. 17 Vgl. ebd., S. 381, 386, 394, 21, 22, 41, 44, 47, 67, 70. Ein ähnliches Portrait, wenn auch deutlich kürzer, entstand durch Kolokol‘covs Beschreibungen des Offiziers und Forschungsreisenden Baron Aleksandr Vasil’evič Kaul’bars, mit dem der Autor nach eigener Aussage das Zelt geteilt habe. Vgl. ebd., S. 31–32, 57–59, 61, 63. 18 Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 14. 19 Ebd., S. 29.

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gemeinsam erlebten, entbehrungsreichen Dienst in den Feldlagern, Lazaretten und Schützengräben dargestellt hat. Hierbei verwies er im Plural auf die „Leute“20 (ljudi) oder sprach von „uns Turkestanern“21 . In seinen umfangreichen Ausführungen über die Belagerung und Eroberung der turkmenischen Festung sind es zudem die zahlreichen, unterschiedlich langen Erwähnungen von getöteten, verwundeten oder erfolgreich agierenden Personen gewesen, durch die der Autor der Kampfgemeinschaft ein Gesicht gegeben hat. Beispielsweise erwähnte er die in Gefechten getöteten Offiziere General Petrusevič, Major Bulygin und den Esaul22 Ivanov sowie deren Todesumstände. Einen Sotnik23 Kunakovskij und einen Leutnant Kalitin benannte der Autor, weil Ersterer sich trotz Verwundung weiter am Gefecht beteiligt und der Zweite auf einem Wüstenmarsch das rettende Wasser für die Einheiten besorgt hätte. Eine ausführlichere Beschreibung hat beispielsweise der Ordonanzoffizier des Autors, Bižeič, in einer Fußnote erhalten. Guljaev berichtete über dessen nicht geradlinigen aber letztendlich erfolgreichen Karriereweg. Damit und mit den auf den ersten Seiten gemachten Aussagen „[w]ir Offiziere“24 ließ er keinen Zweifel daran, in welche Gruppe er sich einordnete. Anders als Tat’janin und Kolokol‘cov hat er aber nicht ausschließlich Schicksale von Offizieren in seine Aufzeichnungen aufgenommen. Er erwähnte nicht nur den Tod einiger einfacher Kosaken, sondern gab auch vermeintlich letzte Aussagen von einfachen Soldaten vor deren Tod im Lazarett in direkter Rede wieder. Darin drückte sich eine fatalistische Haltung ihrem Schicksal gegenüber sowie patriotische Zarentreue aus.25 Eine herausgehobene Stellung kam den Uraler Kosaken in Guljaevs Selbstverortung zu. Gleich zu Beginn erwähnte er, dass er 1879 zu deren 2. Regiment in Samarkand gestoßen sei. Weiter habe er eine aus Hundertschaften dieses Regiments aufgestellte Division zur Verstärkung in die Festung Petro-Aleksandrovsk geführt. Dass sich seine Bezugnahme auf eine umfassender verstandene Gruppe Uraler

20 Ebd., S. 54. 21 Ebd., S. 34. Der Begriff „die Turkestaner“ (turkestancy) leitete sich von den Truppenbezeichnungen der Einheiten her, die der russischen Militärführung in Mittelasien unterstellt gewesen sind. Der Begriff bezog sich aber auch auf Angehörige von Einheiten, die in der Frühphase der Expansion aus anderen Reichsteilen nach Mittelasien verlegt worden sind und mit hoher Wahrscheinlichkeit zunächst andere Bezeichnungen getragen haben. Kolokol’cov hat beschrieben, wie der neu ernannte Generalgouverneur Kaufman bei seiner Ankunft in Vernyj zwei westsibirische Bataillone umbenannt hat, die daraufhin das Wort „turkestanskij“ in ihrer Bezeichnung getragen hätten. Auch Južakov nutzte den Begriff. Vgl. Kolokol’cov: Vospominanija, S. 9–10, Južakov: Vzjatija, Titelblatt. 22 Es handelte sich um einen Offiziersdienstgrad in einer Kosakeneinheit. 23 Gemeint war ein Kommandeur einer Hundertschaft in einer Kosakeneinheit. 24 Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 15. 25 Vgl. ebd., S. 14, 29–30, 42–43, 45, 48, 51, 54–55, 61, 64, 70–71, 80, 83. Für weitere, bloße Erwähnungen gefallener Offiziere sowie deren Todesumstände siehe: ebd., S. 64, 66, 70.

Kampfgemeinschaften

Kosaken bezogen hat, wurde in seiner Erzählung über „unsere verbannte[n] Kosaken“26 deutlich, auf die sie in Petro-Aleksandrovsk getroffen seien. Deren Schicksal hat der Autor ausführlich und anteilnehmend beschrieben. So hätte seine Division diese während ihrer Anwesenheit materiell unterstützt und für sich arbeiten lassen. Deren Status als Verbannte schien die Solidarität des Offiziers Guljaev nicht zu beeinträchtigen. Im weiteren Textverlauf erwähnte der Autor die von ihm befehligten Kosakeneinheiten vor allem lobend. Er selbst hob ihre Widerstandsfähigkeit bei Einsätzen in den Steppen hervor. Nach der Schlacht um Geok-Tepe zitierte er einerseits das Beileid des Oberst Kuropatkins: „[…] Brüder Uraler, ich bedauere die Toten und Verwundeten unter euren Kameraden […].“27 Guljaev konstatierte damit eine besonders enge und quasi blutsverwandtschaftliche Bindung mit den kämpfenden Uraler Kosaken. Andererseits gab er die Bewunderung eines Arztes wieder, der die Kosaken als „wahre Athleten“28 bezeichnet hätte.29 Aus den angesprochenen Personenbeschreibungen stachen die von Oberst Kuropatkin und General Skobelev heraus. In seinen Beschreibungen erschien Kuropatkin direkt und indirekt als weitsichtig und um das Wohl der ihm untergebenen Einheiten auf den Wüstendurchquerungen besorgt. Wie bei Kolokol‘cov bildete auch Guljaev beide Offiziere im Gefecht aktiv und erfolgreich handelnd ab. Öfter waren an solchen Aktivitäten der beiden Offiziere Einheiten des Autors beteiligt. Wie Kolokol‘cov zu Kaufman, versuchte auch Guljaev sich in einer nahen Beziehung zu Skobelev darzustellen, als er formulierte: „Der General erkannte mich, grüßte liebevoll und erkundigte sich nach einigen Personen, die wie ich das Vergnügen gehabt haben, bereits früher mit ihm zu dienen.“30 Der Autor fügte hinzu, dass Skobelev seine Karriere in Turkestan begonnen hatte, berichtete detailliert dessen Werdegang, in dessen Verlauf er zu einem in ganz Russland berühmten Offizier geworden sei. Turkestan erschien hier als ein Ort, der militärische Karrieren ermöglicht hat. Mit den Kampfgemeinschaften, den Uraler Kosaken und den Offizieren des Feldzuges allgemein verortete sich auch Guljaev, wie Kolokol‘cov, in mehreren Gruppen. Deutlicher als bei den Autoren zuvor, standen diese in Beziehungen zu anderen,

26 27 28 29 30

Ebd., S. 12. Ebd., S. 69. Ebd., S. 71. Vgl. ebd., S. 1, 3, 12–18. Ebd., S. 33–34. Vgl. zudem Kolokol’covs Aufzeichnungen zur Ankunft des neuen Generalgouverneurs Kaufman in Vernyj. Er schrieb sich durch die Verwendung der ersten Person Plural u. a. in die Gruppe der Eroberer Chivas und die der Offiziere der Festung Vernyj ein. Der Autor portraitierte General Kaufman umfassend und verknüpfte dabei seine eigene Biografie sprachlich eng mit der des Generalgouverneurs. Vgl. Kolokol’cov: Vospominanija, S. 3–4, 6–7, 10–14, 16–22, 26–30, 32–35.

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namentlich erwähnten Gruppen. Das Benennen von Gefallenen, Verwundeten und erfolgreich agierenden Personen diente ihm, wie den Autoren zuvor, zur Dokumentation der von ihnen erbrachten Opfer. Hierbei beschränkte sich Guljaev allerdings nicht nur auf die Offiziere. Mit längeren Personenbeschreibungen, vor allem durch die Portraits Kuropatkins und Skobelevs, ordnete er sich dem Kreis zweier zeitgenössisch bekannt gewordener Offiziere zu. Auch er versuchte so am Ansehen der Gruppen und der Personen teilzuhaben.31 Differenzierte Selbstverortungen in häufig mehr als einer Gruppe, die Würdigung erfolgreich agierender oder gefallener Kammeraden und das umfassendere Portraitieren hoher Führungspersonen blieb auch in den 1890er Jahren in der Erinnerungsschrift von Ivanov zentral. Wie Guljaev verortete sich auch dieser Autor bereits mit dem Haupttitel „Aus den Erinnerungen eines Turkestaners“32 seiner Aufzeichnungen über die militärischen Kampagnen gegen das Emirat von Buchara in der überaus großen Gemeinschaft der Soldaten, die in den „turkestaner Truppen“33 gedient haben. In seinen detailreichen Gefechtsbeschreibungen vor allem der Eroberung Kitabs erschienen die Kämpfenden ähnlich, wie bei Guljaev, als fast familiär verbundene Kampfgemeinschaft. Zum Ausdruck kam das beispielsweise in dem von ihm wiedergegebenen Ausruf eines Verwundeten: „Brüder! Ich bin getroffen… .“34 Daneben sind vor allem die aus Sicht des Autors schwierigen Umstände vor Ort ein konstitutiver Aspekt dieser Kampfgemeinschaft gewesen. Beispielsweise beschrieb er in deutlicher Abgrenzung zu zeitgenössisch geäußerter Kritik35 ausführlich die Bewaffnung der Truppen als unzureichend und fügte abschließend ironisch auf die

31 Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 27, 31, 33–34, 42, 44, 52, 82. Vgl. auch Južakov, der an die Einnahme Taschkents im Jahr 1865 erinnerte und deren Teilnehmer zu „Brüdern“ erklärte. Zudem sah er diese als „Pioniere“, als Teil der Frühphase der Eroberung. Der Autor bezeichnete sich als „Turkestaner“ und ordnete sich so den russländischen Einheiten zu, die in der Region aktiv waren. Auch er konstruierte eine Offiziersgemeinschaft, aus der er einzelne Mitglieder und ihre Leistungen benannte. Indem er ihre aktuellen Ränge zum Schreibzeitpunkt angab, erschien Turkestan als Ort, der militärische Karrieren befördert hat. Zudem schuf er ein Helden-Portrait des kommandierenden Generals Černjaev. Vgl. Južakov: Vzjatija, S. 1–3, 5–7, 9–11, 14. 32 Ivanov: Vospominanij turkestanca 64/6 (1896), S. 830. 33 Ebd., S. 830. 34 Ebd., S. 843. 35 Ivanov nahm Bezug auf Poltorackij. Vgl. Poltorackij: Vospominanija, 51/1 (1893), Poltorackij: Vospominanija, 51/2 (1893), Poltorackij: Vospominanija, 51/3 (1893), Poltorackij: Vospominanija, 52/4 (1893), Poltorackij: Vospominanija, 52/5 (1893), Poltorackij: Vospominanija, 52/6 (1893), Poltorackij: Vospominanija, 53/7 (1893), Poltorackij: Vospominanija, 53/8 (1893), Poltorackij: Vospominanija, 53/9 (1893), Poltorackij: Vospominanija, 54/10 (1893), Poltorackij: Vospominanija, 59/1 (1895), Poltorackij: Vospominanija, 59/2 (1895), Poltorackij: Vospominanija, 59/3 (1895), Poltorackij: Vospominanija, 60/4 (1895), Poltorackij: Vospominanija, 60/5 (1895), Poltorackij: Vospominanija, 60/6 (1895), Poltorackij: Vospominanija, 61/7 (1895).

Kampfgemeinschaften

Memoiren Vladimir Aleksandrovič Poltorackijs Bezug nehmend hinzu: „Welch ‚verbesserte schnellschießende‘ Gewehre das in den Händen der Turkestaner gewesen sind.“36 In diese Gemeinschaft versuchte sich Ivanov als Teil der „einfache[n] Soldat[en]“37 einzuordnen, deren „gute Eigenschaften“38 er beispielsweise lobte. Aus dieser Perspektive heraus und mit derselben verteidigenden Haltung dem vorgenannten Kritiker gegenüber hat Ivanov einige Personenbeschreibungen von Offizieren in seinem Text eingebaut. Zunächst lobte er diese insgesamt als „erfahrene, gescheite kämpferische Offiziere“39 , die es verstanden hätten, die Soldaten zu führen. Die mit Abstand längste Darstellung erhielt im Folgenden General Aleksandr Konstantinovič Abramov. Der Autor würdigte, recht allgemein gehalten, auf rund zwei Seiten dessen Verdienste bei Eroberung, Erforschung und Reorganisation Turkestans, seine „überdurchschnittlichen Fähigkeiten“40 sowie dessen Energie, Fleiß oder Tapferkeit im Gefecht. Ivanov ging auf den steilen Karriereverlauf und erhaltene Orden des Generals ein. Seiner Aussage zufolge habe Abramov diese ohne Protektion und Beziehungen unter zahlreichen Vorgesetzten selbst erreicht. Dagegen waren die kürzeren Ausführungen über Nikolaj Nikolaevič Raevskij deutlich stärker auf Gefechtssituationen bezogen. Bei der Belagerung Kitabs habe dieser beispielsweise auf den Vorwurf der Feigheit seine Tapferkeit dadurch zu beweisen versucht, dass er umstandslos vorgestürmt sei. In Folge einer Verwundung hätte Raevskij zudem darauf bestanden, dass vor ihm zunächst alle anderen Verwundeten versorgt worden seien. Erst gegen Ende des Textes erfuhr der Leser mehr zu der Herkunft, Ausbildung und persönlichen Eigenheiten dieses Offiziers, was sich zu einem insgesamt positiven Bild zusammengefügt hat. Tapferkeit war schließlich auch die vorgebliche Eigenschaft des späteren Generalmajors Aleksandr Vasil‘evič Pistol’kors, den der Autor zudem mit der Bezeichnung „Kaukasier“41 (kavkasec) als Angehöriger der Kaukasustruppen einordnete. Ebenfalls während

36 Ivanov: Vospominanij turkestanca 64/6 (1896), S. 833. Ivanov unterstrich diesen Punkt auch dadurch, dass er die schlechtere Bewaffnung der Schützen durch den Vergleich mit der vermeintlich besseren Ausrüstung einzelner Offiziere wie beispielsweise der von Nikolaj Nikolaevič Raevskij herausstellte. Vgl. ebd., S. 852. 37 Ebd., S. 830. 38 Ebd., S. 859. 39 Ebd., S. 835. 40 Ebd., S. 835. 41 Ebd., S. 832. Vgl. auch Sjarkovskij, der sich in seinen Erinnerungen an die Feldzüge Černjaev 1864/ 1865 ebenfalls als Offizier und innerhalb einer konkreten Einheit verortete. Auch er bezog sich sehr konkret auf die Kampfgemeinschaften und bildete konkrete Offiziere und ihrer Leistungen ab. Hierzu nutzte er auch einen kurzen Nekrolog. Vereinzelt gab er Auskunft über deren weitere Karrierewege. Ebenso einzeln lobte er allgemein die kämpfenden Soldaten. Ein mögliches Por-

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„Turkestancy“ oder das Imperium? Gruppenbildung und soziale Selbstverortung

der Eroberung Kitabs habe dieser Offizier an einem Geschütz selbst den zuvor gefallenen Schützen ersetzt.42 Die Beschreibungen aller drei Offiziere unterstrichen wahlweise deren ausgezeichnete Fähigkeiten, deren überdurchschnittliche persönliche Qualitäten und deren positive Wirkung auf die Gefechte. Vor allem durch die biografischen Angaben über Abramov erschien Turkestan, wie schon bei Guljaev, als Ort, der Karrieren ermöglicht hat. Anders als die Autoren zuvor, trug Ivanov nicht nur zu der Konzeption seiner Kampfgemeinschaft und den Portraits ihrer herausgehobenen Persönlichkeiten bei, um schließlich an deren Prestige zu partizipieren. Vielmehr verteidigte er das Ansehen der Gruppe und ihrer Führungsfiguren gegen geäußerte Kritik, weil diese sich in letzter Konsequenz auch auf ihn auszuwirken drohte. Die Schriften von Vasilij Petrov (Simonova) und Kamberg aus den Jahren nach 1900 bestätigen die bisherigen Befunde. In dem kurzen Erinnerungstext von Vasilij Petrov (Simonova) über seine Teilnahme an der Verteidigung Samarkands im Jahr 1868 ließen sich ebenfalls in beschränktem Maß Bezugnahmen auf lokale Kampfgemeinschaften auffinden. Beispielsweise verwendete er häufig die erste Person Plural. Auf diese Art paraphrasierte er beispielsweise die Durchhalteparole des russischen Festungskommandanten Štempel‘, man würde dem Gegner notfalls in der Festung im Nahkampf Widerstand leisten.43 Der Autor erwähnte ebenfalls tote und gefallene Offiziere namentlich. Zudem berichtete er beispielsweise über die angeblich bravourösen Leistungen des Unteroffizieres Petrinkevič im Nahkampf. Er lobte und beschrieb den Kampfgeist des Oberst Nazarov, der überall dort mitgewirkt habe, wo es am gefährlichsten gewesen sei und den Mut und die Hoffnung aller auf ihre Rettung bestärkt hätte. Es ist an dieser Stelle bemerkenswert, dass mit Petrinkevič und Nazarov nicht die höchsten, befehlshabenden Offiziere, wie Baron Štempel oder General Kaufman im Fokus der Erzählung gestanden haben. Vielmehr hat es sich um zwei Personen aus dem direkten Kampfumfeld des Autors gehandelt. Dieses Umfeld wurde auch durch die gemeinsame Erfahrung von Mangel, Standhaftigkeit und der Freude des

trait Černjaevs unterließ er. Vgl. Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 357–360, 365–366, 373–375, 379–381, Sjarkovskij: Vospominanija, 198/3 (1891), S. 161–162. 42 Vgl. Ivanov: Vospominanij turkestanca 64/6 (1896), S. 835–837, 845–848, 851, 859. Vgl. zudem Vereščagins Erinnerung an die Verteidigung Samarkands. Er konstruierte eine Kampf- und Schicksalsgemeinschaft der Garnison von Samarkand, hob die quasi blutsverwandtschaftliche „Brüderlichkeit“ hervor und grenzte sie gegen die anwesenden aber nicht kämpfenden Kaufleute ab. Obwohl er kein Offizier war, bildete er vor allem diese und sich in deren Kreis ab. Auch dieser Autor konstruierte in seinem Protrait von Generalgouverneur Kaufman eine Nahbeziehung zu diesem. Vgl. Vereščagin: Samarkand, S. 1–2, 5, 11–13, 15–16, 25–26, 28, 30, 34, 36, 38 48. 43 Vgl. Simonova: Razskazy, S. 148.

Kampfgemeinschaften

Überlebens zusammengehalten. Aus dem Text sprach das Bemühen, am Prestige der Gruppe und ihrer herausragenden Personen teilzuhaben.44 Kamberg stellte, ähnlich wie Ivanov, mit Haupt- und Untertitel seines Textes klare Bezüge her: „Operationen der Turkestaner Truppe auf der Achal-Tekischen Expedition. Vom 12. November 1880 bis zum 14. März 1881. (Erinnerungen eines Teilnehmers des Feldzuges)“.45 Wie die Mehrzahl der hier ausgewerteten Autoren, spezifizierte er die Angabe aus dem Haupttitel im Folgenden durch den Verweis auf die genaue militärische Einheit, eine Kompanie des 5. Turkestaner Linienbataillons, die er in dem Feldzug General Skobelevs in den turkmenischen Gebieten 1880/1881 geführt habe. Der Autor nahm auch Fremdzuschreibungen in seine Charakterisierung der Gruppe auf, als er berichtete, dass sie aufgrund ihrer qualitativ neuen Oberbekleidung als „Turkestaner Garde“46 bezeichnet worden seien. Kamberg zählte ebenso wie viele Autoren zuvor, alle Infanterie- und Kavallerieeinheiten sowie deren Führungsoffiziere auf, mit denen seine Kompanie in das spätere Kampfgebiet gezogen sei. Der sich hierbei zeigende Fokus auf die höheren Offiziere, den viele Erinnerungen seit den 1870er Jahren aufweisen, blieb im restlichen Text erhalten. Beispielsweise benannte er in seinen Ausführungen über den finalen Sturm der turkmenischen Festung nur Einheiten und die sie führenden Offiziere. Darüber hinaus kam sein Bezug zu dieser Reise- und der späteren Kampfgemeinschaft im gesamten Text durch die häufige Verwendung der ersten Person Plural zum Ausdruck. Teil der Kampfgemeinschaft sind, wie bei Guljaev, auch „kaukasisch[e] Kameraden“47 gewesen, deren Empfang seiner Einheiten in Bami der Autor als „liebevoll“48 (laskovyj) bezeichnet hat. Mit kaukasischen Einheiten seien sie später, von Skobelev zu einer Jägereinheit umformiert, in das Gefecht gezogen. Über die während der Belagerung gemachten Erfahrungen formulierte der Autor: „[U]nd so eine Feder gibt es nicht, die jene seelischen Qualen beschreiben könnte, die wir empfunden haben. Wie man es auch erzählt und beschreibt, heraus kommt es welk und bleich im Vergleich mit jener Wahrheit, die dort gewesen ist, die persönliche Teilnahme ist nötig, um all das zu verstehen.“49

44 Vgl. ebd., S. 147–148. Vgl. auch die Erinnerungen von Isaak Kapeljuš an die Verteidigung Samarkands im Jahr 1868. Er beschrieb die Garnison als eine Art Schicksals- und Leidensgemeinschaft und sich als deren Angehörigen. Dieser Autor portraitierte mit Oberst Nazarov keinen hohen Offizier, sondern einen aus seinem direkten Gefechtsumfeld. Vgl. Ebd., S. 141–144. 45 Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 1 (1906), S. 43. 46 Ebd., S. 48. 47 Ebd., S. 47. 48 Ebd., S. 47. 49 Ebd., S. 53.

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Stärker als Kolokol‘cov oder Vasilij Petrov (Simonova) konstruierte er damit eine exklusive Erfahrungsgemeinschaft der Teilnehmer des Feldzuges.50 Wie viele Autoren seit den 1870er Jahren, portraitierte auch Kamberg über den gesamten Text verteilt, mit Oberst Kuropatkin und General Skobelev, zwei wesentliche Führungspersonen des Feldzuges. Er dokumentierte die Funktion Kuropatkins als Leiter der angesprochenen Truppenverlegung und lobte dessen Erfüllung dieses Auftrages. Weiter bildete der Autor sich in seiner Beschreibung der Belagerung und Unterwerfung der Turkmenen als Teil von Kuropatkins Einheiten und in indirekter Interaktion mit diesem ab. Skobelev bezeichnete Kamberg als „große[n] Feldherren“51 , der bereits in Europa bekannt gewesen sei. Dessen persönliche Begrüßung bei „seinen Turkestanern“52 hätte deren Enthusiasmus gesteigert. Im Folgenden erschien der General als freigiebiger Kommandeur, der die Offiziere zu sich eingeladen und den Soldaten Vodka und Fleisch auf seine Rechnung spendiert hätte. Zugleich präsentierte Kamberg ihn in seinen Gefechtsbeschreibungen als mutigen aber strengen Offizier inmitten der Soldaten in den Schützengräben. Somit ist die Positionierung dieses Autors ebenfalls von der genauen Verortung in der Kampf- und Erfahrungsgemeinschaft einer bestimmten, militärischen Kampagne geprägt gewesen. Diese Gemeinschaft und ihre führenden Offiziere wurden mit Erfolgen, erhaltenen Ehrungen, positiven Eigenschaften sowie tugendhaften Verhaltensweisen charakterisiert. In geringerem Maß als Kolokol‘cov oder Guljaev beschrieb sich Kamberg dabei in einer Nahbeziehung zu Kuropatkin.53 Schließlich lassen sich für die Jahre bis zum Ersten Weltkrieg weitere Autoren anführen. Trionov verortete sich ebenfalls klar unter den Offizieren der Turkestaner Truppen und zeichnete von General Skobelev bei dessen Einsätzen in Kokand, Mitte der 1870er Jahre, ebenfalls das Bild eines mutigen und heldenhaften Offiziers. Auch Lomakin setzte sich einerseits zu Gruppen wie den Kaukasustruppen in Beziehung, die ihm auf der Halbinsel Mangišlak unterstanden haben. Diese sind bereits bei Guljaev und Kamberg Teil der Kampfgemeinschaften gewesen. Zudem assoziierte sich der Autor auch, wie schon Guljaev, mit der Garnison und den Bewohnern von Petro-Aleksandrovsk. Weiterhin schrieb sich Lomakin umfassend in die Kampfgemeinschaft eines von ihm befehligten Expeditionsheeres im südlichen, transkaspischen Raum ein,

50 Vgl. ebd., S. 43, 45, 47–48, Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), S. 55. Kamberg verwies im Folgenden mit der Bezeichnung „Turkestaner Einheit“ weiter auf seine Einheiten. Vgl. Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 1 (1906), S. 49, Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), S. 55. Zudem dokumentierte Kamberg die Umbenennung einer von seinen Einheiten eroberten, vorgelagerten Befestigung (kala) zu ihren Ehren in „Turkestanische“. Vgl. ebd., S. 52. 51 Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 1 (1906), S. 47. 52 Ebd., S. 47. 53 Vgl. ebd., S. 44, 46–47, 49, 52, 55, Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), S. 54, 56.

Kampfgemeinschaften

wobei er ebenfalls deutlich die ihm untergeordneten Offiziere und deren Leistungen hervorhob. Da der Feldzug gescheitert ist, wirkten seine Ausführungen, ähnlich denen Ivanovs, wie eine Verteidigung der Gruppe und ihres Ansehens. Aufgrund der starken Ähnlichkeit dieser Befunde aus den Texten der beiden Autoren mit den restlichen Untersuchungsergebnissen in diesem Unterkapitel, müssen diese hier nicht nochmals ausführlich dargelegt werden.54 Von den späten 1860er Jahren bis in die letzten Jahre vor dem Ersten Weltkrieg konstruierten militärisch aktive Autoren in ihren Erinnerungsschriften unterschiedlich stark ausdifferenzierte Gemeinschaften und schrieben sich zugleich in diese ein. In der Mehrheit sind das Kampfgemeinschaften gewesen, über deren Mitglieder behauptet worden ist, dass sie gemeinsam an militärischen Ereignissen in Turkestan teilgenommen haben. Diese reichten von einzelnen Schlachten bis zu größeren Feldzügen. Dementsprechend unterschiedlich fielen die aufgefundenen Gruppen aus. Darunter waren militärische Truppengattungen, wie die Pioniere bei Tat’janin und Kolokol‘cov, militärische Einheiten, wie Kompanien und Bataillone bei Tat’janin und Kamberg, und militärische Verbände, wie die in Turkestan insgesamt stationierten Truppen bei Ivanov und Kamberg oder ganze Armeen eines Feldzuges, wie bei Kamberg. Spätestens ab den 1880er Jahren ist die Übernahme der sich aus den Stationsund Einsatzorten herleitenden Bezeichnungen „Turkestaner“ oder „Kaukasier“ als Eigen- oder Fremdbezeichnung häufig vorzufinden gewesen, wie die Schriften von Guljaev, Ivanov oder Kamberg gezeigt haben.55 Die Mehrfachnennungen einzelner Autoren verdeutlichen die Einbindung der Individuen in komplexe, soziale Zusammenhänge und deren erzählerische Abbildung. Guljaev assoziierte sich zudem mit lokalen Gesellschaften an seinem temporären Stationsort Petro-Aleksandrovsk, die sowohl aus militärischen Formationen als auch aus Zivilisten bestanden haben. Alle untersuchten Autoren haben deutliche Bezüge zu der jeweiligen Gruppe der Offiziere hergestellt. Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass die Mehrheit von ihnen selbst Offiziersränge bekleidet hat. Fuller hat beispielsweise auf das allgemein starke Zusammengehörigkeitsgefühl im zarischen Offizierskorps hingewiesen, das vor allem auf der Abgrenzung der Offiziere nach außen beruht habe.56 Vor allem Guljaev und Ivanov haben sich mit den untergebenen Soldaten auf vergleichbare Weise erzählerisch verbunden.

54 Vgl. K.K. Trionov: V gostjach u chana Nasr-Ėddina. In: Istoričeskij vestnik 121/7 (1910), S. 130–139, hier S. 131, Lomakin: Zakaspijskom krae, 7/8 (1911), S. 96, 105, 110, Lomakin: Zakaspijskom krae, 11/12 (1911), S. 167–168, 170–171, 173, 179–180, 182–184, Lomakin: Zakaspijskom krae, 3 (1913), S. 21, 23, 25–27, 35–36, 38, 40, 43. 55 Sahadeo führt den Begriff bereits auf einen Beitrag in den „Turkestanischen Nachrichten“ aus dem Jahr 1870 zu einem militärischen Jubiläum zurück. Vgl. Sahadeo: Society, S. 64–65. 56 Vgl. Fuller Jr.: Imperial army, S. 547.

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Neben der Benennung der jeweiligen militärischen Formationen wurde im Textverlauf üblicherweise durch die Verwendung der ersten Person Plural und durch Begriffe, wie „Kameraden“, der Gruppenbezug aufrechterhalten. Mit der Verwendung des Begriffes „Brüder“ bei Guljaev erfuhr die postulierte Beziehung eine Aufwertung zu einer quasi blutsverwandtschaftlichen Verbindung. Die Gruppenbeziehung wurde hierdurch mit einer über das Einzelereignis hinausreichenden Permanenz aufgeladen und stabilisiert. Der so konstituierten Kampfgemeinschaft wurden unterschiedliche, in den Einsätzen errungene Erfolge zugeschrieben. Dies konnten militärische Teil- oder Gesamtsiege sein. Weil aber beispielsweise bei Kolokol‘cov und Vasilij Petrov (Simonova) neben dem gemeinsamen Kampf auch die behauptete, gemeinsame Erfahrung von Entbehrung und Mangel als gruppenbildendes Moment genutzt worden ist, haben in diesen Fällen das kollektive Überstehen von Hitze, Durst oder Hunger als prestigestiftende Erfolge der Gruppe erzählerisch Verwendung gefunden. Sowohl in den Erzählungen über den Kampf als auch über die überstandenen Entbehrungen wurden die Gruppen mit positiven Zuschreibungen wie Tapferkeit, Mut, Kampf- oder Durchhaltewillen ausgestattet, die sich die darüber schreibenden Autoren als Teil der Gemeinschaften zu eigen zu machen versuchten. Für die Abbildung dieser Eigenschaften an konkreten Beispielen nutzten alle untersuchten Autoren, jedoch in unterschiedlichem Maß, die Beschreibung von Individuen aus der permanent in den Texten präsenten Gruppen der Offiziere. Am deutlichsten kam dies in den umfangreicheren Portraits von Heerführern wie Černjaev, Kaufman oder Skobelev zum Ausdruck. Diese haben Kolokol‘cov, Guljaev, Ivanov und Kamberg häufig über ihren ganzen Text verteilt angefertigt. Darüber hinaus haben Kolokol‘cov und Guljaev diese Portraits dazu genutzt, um eine individuelle Nahbeziehung zu diesen hohen Offizieren abzubilden, die ihnen über die Tatsache hinaus, unter diesen Militärs gedient zu haben, Ansehen verschaffen sollte. Die Schriften von Tat’janin und Kolokol‘cov enthielten zudem kurze Nekrologe von historisch wenig bis unbekannten Offizieren. Hierin bedauerten die Autoren den Tod des Gefallenen und würdigten daraufhin sowohl seine Fähigkeiten als Offizier als auch seine persönlichen Qualitäten als Mitglied der Offiziersgemeinschaft. Alle kurzen Personenbeschreibungen erfüllten einerseits dieselbe Aufgabe wie die ausführlichen Portraits. Sie sollten die in den Einheiten vorherrschenden Tugenden beispielhaft belegen und so der Gruppe sowie dem Autor Prestige verschaffen. Indem Guljaev und Ivanov andererseits durch die Angabe aktueller Ränge oder in kurzen Skizzen positive Militärkarrieren in Verbindung mit Mittelasien

Gemeinschaften des Entdeckens, Erschließens und Verwaltens

angedeutet haben, erschien Turkestan in diesen Texten für das Individuum als ein Ermöglichungsraum.57 Das bei allen Autoren vertretene, bloße namentliche Benennen oder Aufzählen von Offizieren kann als eine Art „Zeugnis ablegen“ gesehen werden.58 Ziel ist es gewesen, den Kreis der militärischen Führungskräfte um die herausgehobene Persönlichkeit des jeweiligen Heerführers sichtbar zu machen. Wo gefallene Offiziere und seltener auch gefallene Soldaten aus den Mannschaften eine reine namentliche Erwähnung gefunden haben, hat eine Dokumentation des Blutzolles der Kampfgemeinschaft stattgefunden. Je höher dieser ausgefallen ist, desto größer erschien das durch den in der Regel errungenen Erfolg erreichte Prestige. Indem die Autoren Kampfgemeinschaften konstruierten, ihnen Erfolge, Tugenden und Prestige zusprachen, sich in diese einschrieben, um an den positiven Zuschreibungen zu partizipieren, trugen sie gleichzeitig zu der übergeordneten Erfolgserzählung des Imperiums in Mittelasien bei. Ihre persönliche Selbstdarstellung als Mitglieder siegreicher Kampftruppen diente zugleich der öffentlichen Machtrepräsentation des Reiches.

7.2 Gemeinschaften des Entdeckens, Erschließens und Verwaltens Eine Bezugnahme auf bestimmte Gruppen ist auch in den Texten über die Erforschung und Erschließung des südlichen Mittelasiens festzustellen gewesen. Angesprochen wurde dies bereits im Zusammenhang mit der räumlichen Einordnung Turkestans. Wie gezeigt worden ist, bot die als abseitig charakterisierte Region den Autoren die Möglichkeit, sich als der erste oder einer der ersten Europäer oder Russen an bestimmten Orten darzustellen. Solche Formen der Selbstverortungen in bestimmten Gruppen werden im Folgenden näher betrachtet. Wenn für die 1870er Jahre die Erinnerungen des militärischen Pioniers (saper) Kol‘devin herangezogen werden, geschieht dies, weil in seinem Text, trotz des militärischen Kontextes, der militärische Kampf nicht den primären Erzählgegenstand dargestellt hat. Der Autor berichtete über zivile Straßenbauarbeiten im östlichen Generalgouvernement, im Jahr 1872. Wie bei den Militärs des vorangegangenen Unterkapitels, stellten für Kol‘devin die militärische Einheit und der größere Truppenverband eine wichtige Bezugsgruppe dar, was bereits aus seinem

57 Dies zeigte sich auch in den Briefen Petrovskijs. Vgl. für die Analyse Matthias Golbeck: „Letters from the Edge of Empire. Self-Descriptions of the Imperial Official and Scientific Amateur N.F. Petrovskii from Turkestan, 1870–1895.“ In: Jan Arend (Hrsg.): Science and Empire in Eastern Europe. Imperial Russia and the Habsburg Monarchy in the 19th Century. München 2020, S. 135–149, hier S. 147–149. 58 Der Gedanke ist durch Herzberg angeregt. Vgl. Herzberg: Autobiographik, S. 29–30.

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Haupt- und Untertitel ersichtlich gewesen ist: „Tätigkeiten der tokmakisch narynischen Truppen im Jahr 1872 (Erinnerungen eines turkestanischen Pioniers)“.59 Der Autor lieferte zunächst eine genaue Beschreibung der bereits durch ein „PionierKommando“60 geleisteten Bauarbeiten in den Jahren 1868–1871, beschrieb daraufhin genau, welche militärischen und technischen Teileinheiten für den Einsatz 1872 zusammengestellt worden sind und benannte daraufhin einen Oberst Kolokol’cev als Befehlshaber des Einsatzes sowie einen Stabskapitän Pukalov als Chef der Pioniereinheit, als dessen Gehilfen sich der Autor einordnete. Auch Kol‘devin erwähnte im Weiteren ausschließlich die aktiv handelnden Offiziere namentlich. Bis zu einem gewissen Grad unterschied er zwischen diesen und den Soldaten, als er beispielsweise die Ausrüstung und Bekleidung der Pioniere darstellend, von „unseren Soldaten“61 sprach und darin nicht die Offiziere einschloss. Andererseits assoziierte er sich häufiger in der ersten Person Plural mit den ihm untergebenen Soldaten, indem er von „wir“ oder „uns“ sprach oder den angesprochenen Begriff „Kommando“ verwendete. Diese Gruppe besaß in seinen Ausführungen über ihre Straßenbauarbeiten teilweise den Charakter einer Arbeitsgemeinschaft: „An allen Arbeiten nahmen selbst der Truppenchef und die Offiziere direkt teil, was die Lust in den Soldaten weckte und jeder von ihnen arbeitete so viel die Kräfte hergaben.“62 Der Autor fügte im Sinne der Zusammenarbeit hinzu, dass die nicht direkt an den Arbeiten beteiligten Männer sich unterdessen um ihr Gepäck gekümmert hätten. Gegen Ende schrieb Kol‘devin zudem den „Erfolg“63 (uspech) an einem Bauabschnitt der Gruppe zu. Dennoch ließ sein Schreiben über die Untergebenen keinen Zweifel an der bestehenden Hierarchie. Somit nahm Kol‘devin, wie die Autoren des vorangegangenen Kapitels, durch die Nennung der Truppennamen und die Verwendung der Pluralformen Bezug auf die militärischen Einheiten, in denen er gedient hat. In seiner Darstellung konzentrierte er sich auf die agierenden Offiziere. An die Stelle der Kampfgemeinschaft ist in seinen Ausführungen eine Arbeitsgemeinschaft getreten, der schließlich der erreichte Erfolg zugerechnet worden ist.64 Von dieser Darstellungsweise haben sich die Gruppenbezüge in den Reise- und Forschungsberichten der Wissenschaftler Ošanin und Sorokin aus den 1880er Jahren deutlich unterschieden. In seinem Bericht über eine 1878 durchgeführte Expedition in das Pamir-Gebirge führte der Insektenkundler und Naturforscher

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Kol’devin: Tokmaksko-Narynskogo otrjada, 8 (1873), S. 851. Ebd., S. 855. Ebd., S. 859. Ebd., S. 865. Ebd., S. 882. Vgl. ebd., S. 854–857, 859, 865 867, 881–882.

Gemeinschaften des Entdeckens, Erschließens und Verwaltens

Ošanin eingangs, ganz ähnlich der Erschließungsgeschichte bei Kol‘devin, die Forschungsgeschichte seiner Zielregion am Oberlauf des Flusses Muk-su aus. Dort sei nur der Ort Altyn-mazar während der Alaj-Expedition 1876 des Fürsten Witgenštejn65 besucht worden und durch L. F. Kostenko66 erstmal beschrieben worden, worüber man in dessen Korrespondenz im Journal „Russischer Invalide“ lesen könne. Im Jahr darauf, so der Autor weiter, sei I. V. Mušketov67 ebenfalls bis zu demselben Ort, aber nicht darüber hinaus, durchgedrungen. Vor diesem Hintergrund formulierte Ošanin schließlich, dass es ihm 1878 gelungen sei, weiter vorzudringen als seinen Vorgängern. Im weiteren Text nahm der Autor noch mehrfach Bezug auf andere Forschungsreisende beziehungsweise Institutionen, die an der Entdeckung der Region beteiligt gewesen sind. So korrigierte er Angaben über einen Berggipfel auf einer Karte des russischen Generalstabes. Kurz darauf sah er Aussagen lokaler Kirgisen über die Beschaffenheit eines bestimmten Wegabschnittes durch eine Expedition N.A. Severcovs68 bereits bestätigt. An anderer Stelle nahm er auf Beobachtungen einiger Wasserläufe unterhalb eines Gletschers des nicht näher bekannten M.I. Nevesskij Bezug. Schließlich ist in diesem Zusammenhang Ošanins Benennung eines Gletschers zu Ehren des russischen Biologen und Geographen Aleksej Pavlovič Fedčenko zu erwähnen. Durch die Zusammenschau dieser Bezüge ergab sich eine Erforscher-Gemeinschaft, deren Forschungsergebnisse dem Autor als Rahmen seiner eigenen Tätigkeit dienten und in die er sich gezielt durch eigene Beiträge eingeschrieben hat. Der bereits aufgezeigte Widerspruch zwischen den eingangs gemachten Aussagen zu den vorhergehenden Entdeckern des Ortes Altyn-mazar und der später im Text folgenden Behauptung, dass dort noch kein Europäer gewesen sei, lässt vermuten, dass Ošanin bemüht gewesen ist, eine betont russische Entdecker-Gemeinschaft zu konstituieren.69 Darüber hinaus verwies die häufige Verwendung der ersten Person Plural auf die lokale Gemeinschaft der Reisenden, in der sich der Autor befunden hat. Auch erwähnte Ošanin die Leistungen einzelner seiner Begleiter, etwa als er auf G. E. Rodionovs grundlegenden Beitrag zur Kartografie der Region verwies. Auch schuf er, ganz ähnlich Kolokol‘cov oder Vasilij Petrov (Simonova), eine seine Reisebegleiter integrierende Erfahrungsgemeinschaft, als er feststellte, dass es einen Unterschied sei, ob man über die bis in die Waldzone reichenden Ausläufer von Gletschern lese, oder ob man diese, wie der Autor und seine Begleiter, tatsächlich gesehen habe.

65 Gemeint war der russische Generalleutnant Ferdinand Wilhelm Emil von Sayn-WittgensteinBerleburg. 66 Gemeint war der russische General Lev Feofilovič Kostenko. 67 Gemeint war der Geologe und Geograf Ivan Vasil’evič Mušketov. 68 Gemeint war der Zoologe und Forschungsreisende Nikolaj Alekseevič Severcov. 69 Vgl. Ošanin: Muk-su, 16/1 (1880), S. 34–35, 38, 45–46, 48–50, 53.

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Schließlich ist es, wie bereits dargestellt worden ist, die vermeintliche Sicherheit dieser Gruppe gewesen, welche ihm als Begründung gedient hat, das weitere Vordringen in den westlichen Pamir abzubrechen. Ähnlich, aber zurückhaltender als die militärisch aktiven Autoren, nutzte der Autor die Erfolge seiner Reisegruppe für sein Ansehen beziehungsweise, um dieses zu bewahren. Gleich den Personenbeschreibungen der Militärs dienten Ošanins Verweise auf einige verdiente, teils bekannte Wissenschaftler seinem Versuch, an deren Prestige teilzuhaben, wenngleich diese Personen nicht Teil der geschilderten Ereignisse gewesen sind. Gleichzeitig bildete diese Gruppe den personellen Kontext, von dem der Autor sich durch die Behauptung eigener, weiterreichender Beiträge abzugrenzen versucht hat.70 Mit seinem Untertitel „(Bericht, vorgelegt in der physikalisch-mathematischen Fakultät der Kasaner Universität)“71 nahm Sorokin gleich zu Beginn seiner Reiseund Forschungsaufzeichnungen eine konkrete Selbstverortung in seinem lokalen akademischen Umfeld vor. Der Kasaner Professor berichtete in seinem Text über die Ergebnisse seiner Untersuchungen von Sanddünen in der Wüste Karakum und an den Küsten Südwestfrankreichs in den Jahren 1878 und 1879. Wie Ošanin ordnete er seine Unterfangen zu Beginn in eine Forschungsgeschichte der Region ein: „Angefangen bei Doktor Daniėl Messeršmidt72 , ausgeschickt von Peter dem Großen 1720 für die Erforschung Sibiriens, der nur die nördlichen Teile der genannten Region73 streifte, endend mit der Expedition im vergangenen Jahr, haben die Gelehrten sich bemüht, sich Klarheit über die Entstehung und Struktur dieses bemerkenswerten Talkessels zu verschaffen […].“74

Der Autor stellte hiermit eine klare Verbindung zwischen seiner eigenen Forschungsarbeit und der des berühmten Naturforschers her. Dabei spannte er den historischen Bogen deutlich weiter als Ošanin. Dies wurde in seinen folgenden, umfangreichen Auseinanderersetzungen mit zahlreichen Forschungsfragen noch deutlicher. So bezog Sorokin in seine entstehungsgeschichtliche Erörterung der Aralo-Kaspischen Niederung Autoren diverser Jahrhunderte seit der griechischen Antike mit ein. An anderer Stelle diskutierte er die Entstehung von Sanddünen und nahm dabei unter anderem auf Eduard 70 71 72 73

Vgl. ebd., S. 35, 49, 53. Sorokin: Puteščestvija, Deckblatt. Gemeint war der Arzt und Naturforscher Daniel Gottlieb Messerschmidt. Sorokin sprach von der „Aralo-Kaspischen Niederung“ (Aralo-Kaspijskaja nizmennost‘). Vgl. Sorokin: Puteščestvija, S. 8. 74 Ebd., S. 8.

Gemeinschaften des Entdeckens, Erschließens und Verwaltens

Friedrich Poeppigs Arbeit über solche in Südamerika, aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts, Bezug. Gleichwohl hatte der Kasaner Professor mit Vladimir Michajlovič Lochtins Publikation über den Amudarja oder Nikolaj Alekseevič Severcovs Aussagen über Dünen in der Wüste Kysylkum auch zeitgenössische, russische Wissenschaftler im Blick. Die von ihm erzählerisch konstituierte Erforscher-Gemeinschaft schien, anders als bei Ošanin, keine zeitlichen oder nationalen Grenzen zu kennen. Auf die Reisegruppe, der Sorokin auf seiner Forschungsreise in die Wüste Karakum angehört hat, ging er dagegen nicht näher ein. So ist in seinem Text keine die anderen Teilnehmer einbeziehende Verwendung der ersten Person Plural festzustellen gewesen. Zu Beginn sprach der Autor zwar über den „Chef der Expedition“75 , ließ aber offen, um wen es sich gehandelt hat. Lediglich gegen Ende seines Textes, als er einige Aussagen Ivan Vasil’evič Mušketovs über Bewegungen des Sandes paraphrasierte, bezeichnete er diesen als „meinen Kollegen auf der Reise“76 . Wenngleich mit der Einordnung in die Forschungsgeschichte und dem Bezug auf die Reisegruppe Parallelen zu Ošanin bestanden haben, so sind mit der bemerkenswert breiten und zeitlich weit zurückreichenden Einordnung und der überaus zurückhaltenden Bezugnahme auf die eigentlichen Forschungsreise vor allem die Unterschiede mit dem vorangegangenen Autor festzuhalten.77 Das Einordnen in eine Gemeinschaft von vorangegangenen Wissenschaftlern, Entdeckern und Verwaltern sowie die Bezugnahme auf die eigene Reise- oder Arbeitsgruppe blieb in eigenständiger Weise auch in den Texten von Šnitnikov und Fedorov nach 1900 bestehen. Šnitnikov nahm in seinem Reisebericht über eine 1912 durchgeführte Expedition in der Region Semireč’e, ähnlich wie Kol‘devin und Sorokin, zunächst eine institutionelle Einordnung vor, als er die regionale Umsiedlungsverwaltung (pereselenčeskoe upravlenie) als seinen Auftraggeber benannt hat. Hinsichtlich der vorausgegangenen Erforschung dieser Region verwies er namentlich nur auf den deutschen Geografen und Kartografen Gotfrid Mercbacher78 , den ungarischen Orientalisten Almaši79 , einen nicht näher präzisierten Prinzen von Bayern und den Professor Sapožnikov, der auch an der Expedition des Autors

75 Ebd., S. 4. 76 Ebd., S. 83. 77 Vgl. ebd., S. 6, 22–23, 39–41, 83. Vgl. auch Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 361–362, 372, 378, 381 und Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 629, 639. In diesem Reisebericht über eine 1884 durchgeführte Expedition in das Tjan‘ Šan‘-Gebirge beschrieb er erneut eine umfangreiche Erforschergemeinschaft, in die er sich und seine Leistungen einordnete. Erneut unterließ er bis auf wenige Ausnahmen Bezüge auf seine Reisegruppe. 78 Gemeint war Gottfried Merzbacher. 79 Der vollständige Name lautete György Ede Almasy de Zsadany et Törökszentmiklos.

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teilgenommen hat. Auf Mercbacher nahm Šnitnikov im Folgenden noch mehrfach, vor allem abgrenzend, Bezug. Bereits zu Beginn seiner Aufzeichnungen betonte er ebenso die eigene Leistung, als er erwähnte, dass noch kein russischer Reisender zuvor das genaue Zielgebiet der Expedition besucht hätte. Diese Einschätzung erfuhr im Textverlauf punktuell jedoch Einschränkungen, als der Autor beispielsweise in dem Tal des Flusses Inyl’ček bereits durchgeführte Vermessungsarbeiten russischer Topographen erwähnte. Der Erste beziehungsweise einer der Ersten an bestimmten Orten gewesen zu sein, blieb für den Autor im weiteren Text bedeutend. Beispielsweise bemerkte er zu dem Flusstal des Kuju Kap, nahe der Grenze zu China, dass Mercbacher nur über den dortigen Winter habe berichten können und er nun erstmal über den lokalen Sommer informieren konnte.80 Teil der Selbstverortung Šnitnikovs ist seine Reisegruppe gewesen. Zu Beginn des Reiseberichtes zählte er mit V.V. Sapožnikov, A.I. Bezsonov, B.K. Šiškin, P.N. Krylov, V.V. Sapožnikov und G.F. Burov die weiteren Expeditionsteilnehmer auf und hielt ihre Qualifikationen und Funktionen innerhalb der Gruppe fest. Auf einzelne dieser Personen nahm der Autor nachfolgend wiederholt Bezug. So berichtete er, dass ihr Arzt Šiškin Angehörige der indigenen Bevölkerung behandelt habe. An anderer Stelle erzählte er, dass weder er selbst, noch ihr Botaniker Sapožnikov, noch ihr Arzt eine bestimmte Pflanze im Tal des Flusses Kainda haben bestimmen können. Indirekt wurde die Gruppe als Arbeitsgemeinschaft auch erzählerisch sichtbar, als er beispielsweise die sichere Passage ihrer Pferde durch den Fluss Tez beschrieb. Hierfür sei „die Anstrengung aller Bediensteten der Expedition nötig gewesen“81 . Öfter sprach der Autor in der ersten Person Plural über die Gruppe oder adressierte sie kollektiv mit dem Begriff „Expedition“82 (ėkspedicija). Im Weiteren Textverlauf bezog auch Šnitnikov sich mehrfach und vor allem abgrenzend auf Erkenntnisse, Aussagen oder Publikationen anderer Reisender und Wissenschaftler. Beispielsweise kritisierte er die Beschreibung von M.N. Ptašickij83 als falsch, dass die Gegend um den See Burado-Bosun trocken und unfruchtbar gewesen sei, und stellte dieser seine eigenen Beobachtungen gegenüber. An anderer Stelle bezog er in der Diskussion, ob auf dem Karkarinskij Plateau Landwirtschaft möglich sei, Position, indem er das positive Votum des Agronomen V.P. Mazurenko unter Verwendung von ihm gesammelter Informationen in der Lokalverwaltung anzweifelte. Schließlich nutzte er die berichteten Schwierigkeiten eines russischen Obersts und Astronomen Auzan bei der Überwindung des Tjuzskij-Gletschers,

80 81 82 83

Vgl. Šnitnikov: Poezdki, 11/2 (1915), S. 45–46, 125, 134, 144. Ebd., S. 165. Ebd., S. 49. Vgl. weiter ebd., S. 45–46, 49, 104, 141, 165. Bei dem Vatersnamen liegt vermutlich ein Fehler vor. Die Russische Nationalbibliothek in St. Petersburg verzeichnet in ihrem Online-Katalog vier thematisch und zeitlich passende Einträge für Mečislav Ivanovič Ptašickij.

Gemeinschaften des Entdeckens, Erschließens und Verwaltens

um den Schwierigkeitsgrad dieser Passage zu verdeutlichen, die auch er genommen habe. Šnitnikov hielt seine Einordnung in die Gruppe der vorausgegangenen Erforscher seiner Zielregion deutlich kürzer als andere Autoren. Verweise auf vorausgegangene Wissenschaftler dienten oft der Abgrenzung von diesen und der Herausstellung eigener Erkenntnisse. Ähnlich wie Kol‘devin und Ošanin, ging der Autor dafür ausführlicher auf seine Reisegruppe ein, auf die er sowohl namentlich als auch kollektiv Bezug genommen hat. Dabei bildete er, wie Kol‘devin, die punktuelle Zusammenarbeit aller Teilnehmer ab.84 Der hier abschließend angeführte Offizier und Beamte Fedorov hat nach eigener Aussage 36 Jahre in der Verwaltung des Generalgouvernements gedient. Seine Memoiren wurden in dieses Unterkapitel gleich den Erinnerungen von Kol‘devin aufgenommen, weil in ihnen überwiegend seine zivilen, administrativen Tätigkeiten im Vordergrund gestanden haben. Wie bei den Autoren zuvor fanden sich auch in diesen Memoiren Bezüge auf verschiedene Institutionen. Zu Beginn waren das Bildungseinrichtungen, wie die Kadettenanstalt in Tambov und die Alexandrinische Kriegsschule in Moskau. Später folgte das 3. Schützenbataillon im Gouvernement Vladimir und die Kanzlei des Generalgouverneurs von Turkestan in Taschkent. Diesen Einrichtungen hat Fedorov sich als Schüler, Auszubildender, junger Offizier und Mitarbeiter zugeordnet, wobei die zuletzt genannte Kanzlei den weitaus größten Anteil erhielt.85 Hinsichtlich seiner militärischen Dienststationen verband der Autor sich, wie die militärischen Akteure Guljaev oder Ivanov zuvor, einerseits mit den „russisch[en] Soldat[en]“86 , deren Leistungsbereitschaft unter den schwierigen klimatischen Bedingungen der kasachischen Steppe er beispielsweise gelobt hat. Dabei lag sein Fokus dennoch auf den Offizieren, als er an anderer Stelle die von ihm als unzureichend kritisierte, finanzielle Ausstattung der Offiziere seiner Einheit für ihren Weg von Orenburg nach Taschkent beschrieben hat. Seiner Verbundenheit mit seinem langjährigen Wohn- und Arbeitsort verlieh er gleich zu Beginn Ausdruck,

84 Vgl. Šnitnikov: Poezdki, 11/2 (1915), S. 92, 100, 123. Vgl. ebenso den Bericht von Roževic über seine 1906 durchgeführte Reise in das Emirat Buchara. Er ordnete sich institutionell dem Botanischen Garten in St. Petersburg zu. Seinen kurz gehaltenen Forschungsüberblick nutzte er zur Abgrenzung gegen ältere Reisende. Im Textverlauf nahm er vor allem korrigierend und ergänzend auf ältere Autoren Bezug. Umso deutlicher trat sein Dank an den zeitgenössisch bekannten Arabisten Vasilij Vladimirovič Bartol’d als Versuch heraus, an dessen Prestige zu partizipieren. Dagegen blieb seine Reisegruppe fast ungenannt. Vgl. Roževic: Poezdka, 44/9 (1908), S. 593, 594, 616, 624, 631, 635–636, 640–641, 644, 647, 650, 552, 593. 85 Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 787, 789, 791, 806. 86 Ebd., S. 800.

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„Turkestancy“ oder das Imperium? Gruppenbildung und soziale Selbstverortung

als er festhielt, wie er nach dem dortigen Eintreffen seiner Einheit zum „Bürger Taschkents“87 geworden sei.88 Im Zusammenhang mit dem Generalgouvernement nutzte Fedorov, wie beispielsweise Ivanov, die Gruppenbezeichnungen „Turkestan[er]“89 oder „alter Turkestaner“90 , als er einerseits über die Freude aller russischen Akteure vor Ort über die Wahl General Černjaevs zum Generalgouverneur berichtet und andererseits über einen im Generalgouvernement altgedienten Beamten erzählt hat. Wenngleich der Autor diese Bezeichnung nicht selbst für sich in Anspruch genommen hat, bestätigte deren Verwendung in seinem verhältnismäßig späten Text die Etablierung dieser Gruppenbezeichnung im Untersuchungszeitraum. Selbst assoziierte sich der Autor mit der „Beamtenschaft des turkestanischen Kreises“91 und den „Hunderten bescheidener, arbeitsamer Menschen“92 . Beiden Gruppen attestierte er, dass sie dem russischen Staat und seinen Interessen vor Ort immer gedient hätten. Über Erstere habe er das sogar „mit Gewissheit und Stolz“93 sagen können. Der Autor hat in seinen Erinnerungen, ähnlich wie Kolokol‘cov, Guljaev oder Kamberg, zumeist hochrangige Mitglieder der militärischen und zivilen Führung des Generalsgouvernements portraitiert. Während die vorausgegangenen Autoren mehrheitlich eine kleine Zahl zumeist hoher Offiziere in den Blick genommen haben, ist die Anzahl der beschriebenen Personen bei Fedorov deutlich größer gewesen. Hierzu zählten beispielsweise der Direktor der bereits erwähnten Kadettenanstalt, General Bronevskij, ein Kanzleichef und Vorgesetzter des Autors, Kammerherr Kablukov, oder einer der Amtsnachfolger Kaufmans, General-Leutnant Baron Vrevskij. Während der Autor Einzelne, wie beispielsweise einen Grafen Apraksin auf nur wenigen Zeilen behandelt hat, ohne, dass der Grund für dessen Nennung deutlich geworden ist, räumte er Generalgouverneur Kaufman an gleich mehreren Stellen in seiner Darstellung ungleich viel mehr Platz ein. Ähnlich Kolokol’cov, der seine Selbstbeschreibung um seine Darstellung Kaufmans herum geschrieben hat, flocht Fedorov seine Dienstbiografie in diese Gruppe von Portraits einer Vielzahl von Kollegen, Untergebenen und Vorgesetzten ein.94

87 88 89 90 91 92 93 94

Ebd., S. 802. Vgl. ebd., S. 800, 802. Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), S. 437. Ebd., S. 439. Fedorov: Turkestanskom krae, 134/12 (1913), S. 892. Ebd., S. 892. Ebd., S. 892. Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 787–788, 804–805, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/10 (1913), S. 33–34, 39–41, 45–46, 54–55, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), S. 353–355.

Gemeinschaften des Entdeckens, Erschließens und Verwaltens

Fedorov hob für Kaufman, gleich den Portraits der militärisch aktiven Autoren zuvor, sowohl dessen dienstliche Eigenschaften als auch dessen persönliche Qualitäten hervor. Die aus seiner Sicht zahlreichen positiven Entwicklungen aus dessen Amtszeit resümierend formuliert er: „All dem hat der erste Generalgouverneur Konstantin Petrovič fon Kaufman den Ton und die Richtung gegeben.“95 Daran schloss er eine Erzählung über Kaufmans Aufstieg bis zu dessen Ernennung in Turkestan an. Aufgrund seiner militärischen Erfolge nähme er einen „Ehrenplatz“96 (početnoe mesto) in der Geschichte des Imperiums ein. Hierbei lobte der Autor Kaufman zudem als „gute[n], edle[n], sanfte[n], einfache[n] und verständnisvolle[n] Mensche[n].“97 An anderer Stelle schrieb er ihm die Entwicklung der Stadt Taschkent, die Gründung der dortigen Bibliothek sowie die Entwicklungen in Baumwoll-, Seiden- und Weinanbau und -verarbeitung zu. Fehlentwicklungen führte er dagegen auf Kaufmans Vertrauen in die falschen Untergebenen zurück. Die Stagnation in dessen später Amtszeit begründete der Autor mit dessen Erkrankung und dem schweren Schlag, den der Tod des Zaren Alexander II. für ihn bedeutet hätte. Mit der Leistungsschau, dem beständigen Lob und der Entlastung von jeglicher Verfehlung schuf der Autor das Heldenbild eines herausragenden Militärs und visionären Beamten für Kaufman. Teil dieser Darstellung war ein Personenkreis im Umfeld der konstruierten Lichtgestalt Kaufmann, der am deutlichsten sichtbar wurde, als der Autor das anfänglich schlechte Verhältnis zwischen der Kanzlei und dem nachfolgenden Generalgouverneur Černjaev beschrieben hat. Dieser habe sich nicht persönlich mit den Abteilungsleitern seiner höchsten und engsten Verwaltungseinheit treffen wollen. Dem Kanzleichef habe er dazu mitgeteilt: „Ich kenne sie [die Abteilungsleiter der Kanzlei, Anm. d. A.] durch ihre Tätigkeit unter Kaufman gut genug und eine persönliche Bekanntschaft ist für ihre richtige Beurteilung nicht erforderlich.“98

Der Autor merkte zu der Angelegenheit an, dass „[w]ir alle peinlich berührt waren“99 aufgrund des ihnen entgegengebrachten Misstrauens. Mit dieser Verwendung der ersten Person Plural schrieb er sich in diese Gruppe hoher Funktionsträger aus dem Arbeitsumfeld Kaufmans ein. Diese Konstruktion verwendete er häufige in seinen Memoiren. Somit blieben auch für Fedorovs Selbstbeschreibung die

95 96 97 98 99

Fedorov: Turkestanskom krae, 133/9 (1913), S. 804. Ebd., S. 805. Ebd., S. 805. Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), S. 441. Ebd., S. 440.

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Zuordnung zu mehreren, institutionellen Gruppen und die Einordnung in die Arbeitsgemeinschaft der regionalen Beamtenschaft markant. Erstere hat sich bei den militärischen Autoren als üblich erwiesen. Allerdings ist bei diesem Autor die deutlich größere Anzahl an Institutionen bemerkenswert gewesen. Die zweite Zuordnung hat hier die Kampfgemeinschaft der Soldaten oder die lokale Reisegemeinschaft der Forscher ersetzt. Aus der Beamtenschaft portraitierte der Autor zahlreiche hohe Funktionsträger, allen voran Kaufman. Zudem bildete er sich als Teil eines engeren Kreises von leitenden Verwaltungsangestellten aus der Amtszeit dieses ersten Generalgouverneurs ab. Auch nahm er durch die Verwendung der ersten Person Plural Bezug auf sein engeres Arbeitsumfeld. Wie bei der Mehrzahl der vorangegangenen Autoren, versuchte der Autor durch diese Selbstverortung an dem durch Erfolg und Leistung begründeten Prestige der Gruppen und ihrer herausgehobenen Persönlichkeiten teilzuhaben. Dies hat bis zu einem gewissen Grad auch unabhängig davon gegolten, wie gut oder nah der Autor die beschriebenen Personen gekannt hat, wie das Beispiel des Grafen Apraksin verdeutlicht hat.100 Auch die an der Entdeckung, Erforschung, Erschließung und Verwaltung Turkestans beteiligten Autoren nahmen, wie ihre militärisch aktiven Pendants, in ihren Texten auf vielfältige Gruppen Bezug. Allen untersuchten Akteuren war gemeinsam, dass sie ihren Reise-, Forschungs- und Erinnerungsberichten Verweise auf ihnen vorausgegangene Reisende und Wissenschaftler vorangestellt haben. Der Charakter dieser Einordnung in die Gemeinschaft der Erforscher und Erschließer der jeweiligen Region reichte von der Aufzählung weniger Namen, wie bei Šnitnikov, bis zu veritablen, historischen Darstellungen von beträchtlicher Länge, wie bei Kol‘devin. Teil dieser Zuordnung ist die Bezugnahme auf Aussagen oder Meinungen bereits genannter oder weiterer Entdecker und Forscher im Textverlauf gewesen. Anders als in den Schriften der Militärs, bestanden die Gruppen der Erforscher und Erschließer überwiegend aus namentlich bekannten Personen. Eine der militärischen Memoiristik vergleichbare Praxis des Portraitierens einzelner, herausgehobener Personen ist, mit Ausnahme Fedorovs, nicht zu erkennen gewesen. Eine gewisse Entsprechung fanden die verhältnismäßig anonymen Großgruppen der Militärs in den akademischen Institutionen, auf die Ošanin, Sorokin und Šnitnikov Bezug genommen haben. Der zweite Gruppenbezug, der sich in allen untersuchten Texten, mit Ausnahme Fedorovs, wiedergefunden hat, ist der auf die eigentliche Reisegruppe der Autoren gewesen. Wie zuvor reichte die Intensität der Bezugnahme von wenigen Verwendungen der ersten Person Plural oder der Nennung einzelner Mitreisender bei

100 Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 134/10 (1913), S. 33–34, 39–41, 54–55, Fedorov: Turkestanskom krae, 134/11 (1913), S. 439–443.

Das Imperium als Kontext

Ošanin bis zu einer umfangreichen Abbildung der Reisegruppe bei Šnitnikov. Das Äquivalent hierfür bei Fedorov ist die erzählte Arbeitsgemeinschaft der Beamten gewesen. In einigen Fällen, wie beispielsweise bei Ošanin, nutzten die Autoren die Leistungen einzelner Gruppenmitglieder, um an diesen als deren Reise- und Forschungskollegen teilzuhaben. Kol‘devin und Šnitnikov haben dagegen deutlicher die kollektiv erbrachten Leistungen und Erfolge hervorgehoben, indem sie das Bild einer zusammenarbeitenden Gemeinschaft in ihren Texten erzeugt haben. Darüber hinaus hat Ošanin, ähnlich wie einige der militärischen Akteure, unter Verwendung seiner Erfahrungen des Gletscherwanderns sich in eine Gemeinschaft von Personen mit geteilten Erfahrungen eingeschrieben. Diese erzählten Gemeinschaften besaßen somit Prestige, das auf ihnen zugeschriebenen Leistungen, Erfolgen oder Erfahrungen beruhte. Durch das Einschreiben in diese Gemeinschaften konnten die Autoren daran teilhaben und dadurch ihren eigenen Tätigkeiten mehr Ansehen verleihen. Eindrückliche Beispiele hierfür sind der Messeršmidt-Bezug von Sorokin oder das Portrait Kaufmans bei Fedorov gewesen. Eine andere Funktion ist die Abgrenzung von diesem Personenkreis beziehungsweise einzelner Figuren gewesen. So erschien die erzählte ErforscherGruppe, neben der als randständig abgebildeten Region, als zweite Bedingung für die Selbstauszeichnung der Autoren als der Erste oder einer der Ersten an einem bestimmten Ort gegolten haben zu können. Vor allem bei Ošanin und Šnitnikov ist zu erkennen gewesen, wie sie sich vor dem Hintergrund der zuvor konstituierten Erforscher-Gemeinschaft dadurch auszuzeichnen suchten, dass sie weiter als ihre sprichwörtlichen Vorgänger in unerforschtes Gebiet vorgedrungen seien. Auch in diesen zivilen Zusammenhängen verschaffte die Konstruktion erfolgreicher Gemeinschaften von Erforschern, Erschließern und Verwaltern und die Selbstverortung darin dem Einzelnen eine prestigeträchtige Selbstdarstellung. Gleichzeitig trugen die Autoren damit auch auf der Ebene der Erforschung, Erschließung und Verwaltung zu der positiven Gesamterzählung über das Wirken des Russländischen Reiches in Mittelasien bei.

7.3 Das Imperium als Kontext Überblickt man nochmals die Einordnungen in die diversen Groß- und Kleingruppen sowie die Zuordnung zu einer überschaubaren Zahl von hohen Führungsfiguren und etwaigen Kreisen um diese herum, so wird deutlich, dass deren Erwähnungen auch immer ein indirekter Verweis auf eine der größtmöglichen Gemeinschaften bedeutet hat – auf das Russländische Reich. Die diversen militärischen Einrichtungen und Einheiten, die akademischen Institutionen, die Offiziere eines Feldzuges, die Mitglieder einer Forschungsexpedition, sie alle sind immer auch Teil des Reiches gewesen. Wenngleich dieser Umstand nicht immer explizit

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angesprochen worden ist, so bildete das Imperium in Gestalt seiner verschiedenen Teilgruppen und Individuen den beständigen Rahmen, in dem die Autoren ihre Erzählungen entwickelt haben. Dabei musste dieser Rahmen nicht immer einen staatlichen Charakter tragen. In Petrovskijs Aufzeichnungen über seine Reise in das Emirat Buchara ist es die Gastfreundschaft des „einzige[n] Vertreter[s] der russischen Kaufleute in Buchara“101 , I.N. Šmelev, gewesen, mit der er einen klaren Bezug zum Russländischen Reich hergestellt hat. Der Autor nutzte seine positive Beschreibung eines Mittagessens mit dem Händler, um die vermeintlich erlebte „Heuchelei“102 (licemerstvo)103 von bucharischer Seite deutlich herauszustellen. Auch der explizit abgebildete Umgang mit anderen Untertanen des Zaren bei privaten Aktivitäten, wie gemeinsamen Mahlzeiten, hielt das Russländische Reich in den Schriften präsent.104 In den bereits dargestellten Begründungsweisen der russländischen Expansion nach Mittelasien erschien dieses Reich häufig als eine mächtige Institution im Hintergrund, deren Interessen und Ziele vor Ort durchgesetzt worden sind und die so dem Handeln der einzelnen Akteure Sinn verliehen haben. Zu diesem Zweck erzählten zahlreiche Autoren über den Fortschritt, der mal als Ziel imperialen Agierens, mal als Folge von der russländischen Expansion in den Texten präsentiert worden ist. Južakov und Fedorov berichteten beispielsweise über die gestiftete Ruhe und Ordnung. Fišer, Kolokol’cov oder Kamberg erzählten von der Befreiung von Geiseln und der Reduktion von Überfällen der Nomaden. Kol’devin, Gejfel’der oder Lomakin betonten den Ausbau verschiedener Infrastrukturen. Kolokol’cov und Roževic hoben die Beförderung des Handels hervor. Gejfel’der und Fedorov sahen Kultur und Zivilisation nach Turkestan gebracht. Hinter diesen Aktivitäten stand letztendlich immer auch das Imperium als Auftraggeber und treibende Kraft.105 Die Machtentfaltung des Reiches ist in den zahlreichen Schlachtenberichten der Militärs regelmäßig durch die Verlautbarung von Verteidigungen, Eroberungen oder Unterwerfungen deutlich geworden. Wenngleich alle hier behandelten Berichte über die wissenschaftliche und administrative Erkundung, Erforschung oder Erschließung Turkestans als Postulate imperialer Machtausübung in diesen Teilbereichen aufgefasst werden können, sind die zwei folgenden Beispiele in den Schriften der russischen Entdecker und Erschließer Turkestans Ausnahmen gewesen.

101 102 103 104

Petrovskij: Poezdka, 2/4 (1873), S. 244. Ebd., S. 245. Der Autor verwendete die heute unübliche Form von „licemerie“. Vgl. auch Roževic: Poezdka, 44/9 (1908), S. 598–599, 624–625. In seinem Reisebericht lobte er die Gastfreundschaft von Angehörigen einer russischen Garnison in Termez und jene eines russischen Kaufmannes in Bal’djuan. Siehe hierzu auch ausführlich die Unterkapitel 7.1 und 7.2. 105 Vgl. hierzu ausführlich das Unterkapitel 2.4.

Das Imperium als Kontext

Wie bereits gezeigt worden ist, hat Sorokin in seinem Reisebericht über seine Tjan‘ Šan‘-Expedition einerseits behauptet, dass die Gründung des Generalgouvernements die Erforschung der Region allgemein beschleunigt hätte. Andererseits hat er für seine eigene Expedition auch auf die hilfreiche Unterstützung durch verschiedene staatliche Stellen hingewiesen. Der Autor benannte hierzu neben dem zu diesem Zeitpunkt höchsten imperialen Beamten Turkestans, Generalgouverneur Kolpakovskij, zwei Gebietsvorsteher (uezdnyj načal’nik). In Karakol habe ein Mitarbeiter eines Vorstehers der Reisegruppe des Autors ein leerstehendes Haus als Nachtquartier verschafft. Ein „gastfreundliche[s] Haus des Gebietsvorstehers P.V. Aver‘janov“106 in der Stadt Namangan erwähnte der Autor ein weiteres Mal auf seinem Rückweg.107 Ein anders gelagertes Beispiel lieferte Šnitnikov in seinem Bericht über eine Erkundung des Oblasts Semireč‘e. Darin beschrieb er unter anderem die topografische Erfassung einer Hochebene (syrt) in dem Uezd Prževal’sk. Laut dem Autor habe man die lokalen kirgisischen Nomaden unter Androhungen harter Strafen erfolgreich dazu verpflichtet, bis zu einem bestimmten Datum nicht mit ihren Tieren auf die Hochebene zu ziehen, weil man sie als bezahlte Hilfskräfte für die topografische Erschließung des Gebietes benötigt habe. Diese hätten beispielsweise die Versorgung der Landvermesser übernommen.108 In allen Fällen tauchte das Russländische Reich in Gestalt seiner lokalen Vertreter, wenn auch nur punktuell, in den Texten auf und wurde von den Autoren als ermöglichende und unterstützende Rahmenbedingung ihrer Forschungsvorhaben positiv dargestellt. Dennoch wurden auch die Hürden deutlich, die die imperiale Machtdurchsetzung zu bewältigen hatte. In den Berichten der Militärs geschah dies unter anderem, wenn von erlittenen Niederlagen die Rede gewesen ist. Ein Beispiel ist der bei Arnol’di berichtete Rückzug General Lomakins aus den Gebieten der Turkmenen im Jahr 1877 gewesen. Ein Äquivalent in den Schriften der Forschungsreisenden fand sich in Sorokins Expeditionsbericht aus dem Tjan‘ Šan‘. Dem Kasaner Professor ist es nach eigener Aussage einmal unterwegs nur durch Drohen gelungen, Lastenpferde für seinen weiteren Weg von der lokalen Bevölkerung zu erhalten. Einer seiner indigenen Begleiter sei dabei zunächst „mit einer Reitpeitsche verprügelt“109 worden, obwohl Sorokin für sein Anliegen über eine „Anordnung des Gouverneurs

106 Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 655. 107 Vgl. Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 382, Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/6 (1886), S. 655 und ausführlich dazu im Unterkapitel 2.4. Vgl. für ein ähnliches Beispiel Ivčenkos Bericht über seine Reise in die Wüste Kysylkum. In diesem würdigte er die Unterstützung durch die Lokalverwaltung. Vgl. Ivčenko: Kizyl-kum, 52/1 (1916), S. 71. 108 Vgl. Šnitnikov: Poezdki, 11/2 (1915), S. 117–118. 109 Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 381.

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in zwei Sprachen“110 verfügt hätte. Erst seine Ankündigung einer Beschwerde bei der russischen Gebietsleitung habe zu der Erfüllung seines Wunsches geführt. Ebenso wie Sorokin seinen Willen letztendlich bekam, setzte General Skobelev 1880/1881 die ihm befohlene, endgültige Unterwerfung der südlichen turkmenischen Gebiete durch, worüber beispielsweise Guljaev ausführlich in seinen Erinnerungen berichtet hat. Trotz der umfangreicheren Abbildung imperialer Machtentfaltung in den Schriften russischer Militärs und Zivilisten, ist das Imperium auch in Zusammenhang mit vorhandenen Widerständen gegen die Ausdehnung seines Einflusses von den Autoren immer wieder gezeigt worden. Diese Umstände machten die Autoren in ihren autobiografischen Erzählungen unterschiedlich produktiv. Arnol’di verlegte sich, wie bereits gezeigt, auf die Figur der Natur als Gegner, um sein militärisches Heldentum aufrechtzuerhalten. Sorokin nutzte die oben beschriebene Szene, um seine Standfestigkeit zu demonstrieren. Auf die entschuldigende Bitte seines Kontrahenten habe er sein Ansinnen wiederholt, diesen bei der Gebietsverwaltung zu melden.111 In der vorausgegangenen Auseinandersetzung mit der Verortung Turkestans auf den mentalen Karten der untersuchten Akteure ist zudem bereits deutlich geworden, mit welchen Bezeichnungen und Symbolen dieses expandierende Machtgefüge von den Autoren bezeichnet worden ist. Bereits Šul’c sprach über dessen „russisch[e] Flagge“112 , die seine Einheit auf den Amudarja gebracht hätte. Tat’janin bezeichnete es als „Mütterch[en] Russland“113 . Für Kolokol’cov, Guljaev und Karandakov ist es „Vaterland“ (otečestvo) oder „Heimat“ (rodina) gewesen.114 Sjarkovskij verband mit ihm einen dezidiert „russisch[en] Frost“115 . In vielen Fällen wurde das Imperium zu Turkestan als Ort oder zu bestimmten Erscheinungen in dieser Region mit dem Ziel in Beziehung gesetzt, Vergleiche anzustellen, Parallelen aufzuzeigen oder Verbundenheit zu ihm zu demonstrieren. Zu dem imperialen Kontext in den Texten gehörten auch die zahlenmäßig wenigen und nicht selten indirekten Bezugnahmen auf die Zaren. Hierfür sei stellvertretend auf den Text Guljaevs verwiesen. In seinen Erinnerungen an die Eroberung Geok-Tepes 1880/1881 finden sich gleich mehrere Bezüge auf den Kaiser. Über eine Siedlung verbannter, russischer Kosaken nahe Petro-Aleksandrovsk stellte er fest, dass deren Bewohner, trotz ihrer Lebensumstände, auf „die göttliche und zarische

110 Ebd., S. 381. 111 Vgl. Arnol’di: Zakaspijskom krae, S. 34–38, Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 381, Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 38–76. Vgl. auch die Unterkapitel 4.2 und 4.3. 112 Šul’c: Plavanie, 53/5 (1861), S. 125. 113 Tat’janin: Turkestanskago kraja, 5/20 (1867), S. 160. 114 Vgl. Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 45, 63, Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 1, Kolokol’cov: Vospominanija , S. 9, Karandakov: Murgabskij otrjad, 3 (1910), S. 213. 115 Sjarkovskij: Vospominanija, 197/2 (1891), S. 381.

Das Imperium als Kontext

Gnade“116 vertraut hätten. An anderer Stelle beschrieb der Autor den üblichen Tagesausklang während der Truppenverlegung in die Kampfgebiete und erzählte, dass neben dem „Vater unser“ auch das Lied „Gott schütze den Zaren“117 gesungen worden sei. In seinen Ausführungen über die Erstürmung der Festung erwähnte er, dass die „Standarte des Imperators“118 auf dem bereits eingenommenen Gelände aufgestellt worden sei. Viel Platz räumte Guljaev dem Tod Alexanders II. ein. Oberst Kuropatkin habe sie am 12. März, auf dem Rückweg aus Geok-Tepe, von dem „Ableben unseres geliebten Zaren-Wohltäters“119 in Kenntnis gesetzt. Er beschrieb, wie die Truppen ohne Musik und Gesang „finster“120 (ugrjumo) ihren Weg fortgesetzt hätten. Aus dem Telegramm an ihre Einsatzleitung, das er zitierte, seien die Gründe für den Tod des Zaren nicht hervorgegangen. Über die „Katastrophe am Ekaterininskij-Kanal“121 habe er erst viel später aus den Zeitungen in Taschkent erfahren. Es folgten in der Darstellung des Autors der Verweis auf die Totenmesse für den Zaren und den Schwur auf dessen Nachfolger. Er schloss seine Erinnerungen mit dem Hinweis, dass die Offiziere der turkestaner Einheiten „von unserem gnädigen Monarchen“122 für ihren Kampferfolg hohe Auszeichnungen erhalten hätten. Der Imperator ist bei Guljaev damit einerseits der übergeordnete Grund für militärisches Agieren und damit die letztgültige Begründung des individuellen Handelns gewesen. Andererseits erschien er als Spender höchster Ehrungen. Der Zar fand im Kontext symbolischer Handlungen, wie dem Abendgebet oder der Standartenaufstellung, indirekte Erwähnung. Das Erzählen über seinen Tod bot dem Autor Gelegenheit zur Abbildung seiner Zaren- und Monarchietreue.123 In den Reiseaufzeichnungen Sorokins über seine Forschungsreise in das Tjan‘ Šan‘-Gebirge tauchten das Imperium und sein Herrscher in den von dem Autor wiedergegebenen Erzählungen eines lokalen Oberhauptes aus der Volksgruppe

116 117 118 119 120 121

Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 18. Ebd., S. 26. Ebd., S. 68. Ebd., S. 87. Ebd., S. 87. Ebd., S. 87. Siehe auch Gejfel’der und Kamberg, die ebenfalls in ihren Erinnerungen über die Eroberung Geok-Tepes auf die dargestellte Weise den Tod Alexanders II. thematisierten. Vgl. Gejfel’der: Vospominanija. 55/7 (1887), S. 224, Kamberg: Achal-Tekinskoj ėkspedicii, 2 (1906), S. 58. 122 Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 88. Kolokol’cov erwähnte in seinem Bericht über den Feldzug gegen Chiva ebenfalls den Dank des Zaren, überbracht durch den Oberkommandierenden Generalgouverneur Kaufman. Vgl. Kolokol’cov: Pochodnyj dnevnik, S. 45, 68. 123 Vgl. Guljaev: Na Amu-Dar’ju, S. 86–88. Bereits zu Beginn seines Textes hat Guljaev auch den Tod der Zarin Marija Alexandrovna erwähnt, von dem er „18 Tage nach der Zeit dieses traurigen Ereignisses“ erfahren hätte. Vgl. ebd., S. 12.

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der Taranči, in der Siedlung Alekseevsk auf, in der der Forschungsreisende Station gemacht habe. Der Autor berichtete über den Hass seines Gastgebers auf die Chinesen und von seiner Bereitschaft, für „mein[en] Zar[en]“124 eine Armee von 25.000 Mann gegen diese aufzustellen. Von diesen seien einerseits bereits dessen Vorfahren massakriert worden. Andererseits sei China der Grund gewesen, weswegen die Bewohner der Siedlung ihre Heimat Kuldža im Zuge der Rückgabe an die Chinesen durch das Russländische Reich hätten verlassen müssen. Sorokin berichtete weiter von der „groß[en] Ehrfurcht“125 , mit der sein Gastgeber über ein persönliches Gespräch mit dem russischen Imperator erzählt habe, das anlässlich von dessen Krönungsfeier in Moskau stattgefunden hätte. Für den Autor bedeutete diese Erzählung einerseits die Möglichkeit, seine eigene Forschungsreise in einen erzählten Zusammenhang mit übergeordneten politischen Ereignissen abzubilden und ihr so indirekt mehr Bedeutung zu verschaffen. Anderseits gab es ihm die Gelegenheit, sein Prestige zu heben, indem er sich selbst in der Nähe von Personen dargestellt hat, die vermeintlich an diesen Ereignissen teilgenommen haben.126 Trionov und Karandakov führte das bereits bei Guljaev angedeutete Bild des wohltätigen und spendablen Zaren stärker aus. Der erste Autor berichtete in seinen Erinnerungen an einen Einsatz im Zusammenhang mit dem Aufstand im Chanat Kokand, Mitte der 1870er Jahre, unter anderem über die letztendliche Befreiung zweier russischer Waisenmädchen aus der Geiselhaft des Chans. Beide Mädchen seien, laut dem Autor, in einer entsprechenden Fürsorgeeinrichtung in St. Petersburg untergebracht worden. „[…] [G]emäß höchster Verfügung wurden für jede von ihnen je zehntausend Rubel auf einer Bank hinterlegt.“127 Der zweite Autor führte ein militärisches Beispiel an. Als Belohnung für ihren 1885 über afghanische Einheiten errungenen Sieg in Kuška hätte der Kaiser den unteren Rängen der beteiligten Streitkräfte eine finanzielle Prämie (nagradnye den‘gi) in Höhe von drei Rubel pro Person zugestanden. Der ihnen diese Nachricht überbringende Oberst Kazancev habe daraufhin einen „Toast auf die Glückseligkeit Seiner Hoheit“128 ausgebracht, dem ein nicht enden wollendes „Ura“ der Soldaten als Antwort gefolgt sei. In seinen Aufzeichnungen zitierte der Autor im Folgenden aus einem Telegramm des besagten Obersts an dessen Vorgesetzten, General Komarov: „Wenn Gott es herbeiführt, wenn der Zar es gebietet, sind die Ränge der Einheiten bis zum Letzten bereit, sich für Väterchen-Zar129 und unser teures Va-

124 125 126 127 128 129

Sorokin: Tjan’ Šanja, 24/5 (1886), S. 373. Ebd., S. 374. Vgl. ebd., S. 373–374. Trionov: Kokandskago Pochoda, 3/11 (1909), S. 215. Karandakov: Murgabskij otrjad, 3 (1910), S. 225. Wörtlich: Batjuška-Car‘.

Das Imperium als Kontext

terland hinzulegen.“130 Beide Positivdarstellungen des Herrschers funktionierten, ebenso wie bei Guljaev, als Postulat der Zarentreue der Autoren, wenngleich diese unterschiedlich direkt artikuliert worden ist.131 Schließlich sei noch die Beschreibung eines Korruptionsfalles aus den Memoiren Fedorovs angeführt. Hierbei sei es um die Unterschlagung von rund 12.000 Rubel im Gebiet Kul‘dža gegangen, die ein Offizier während eines fingierten Überfalles entwendet hätte. In der Folge seien zwei Indigene aus der Volksgruppe der Dunganen von einem Gericht für schuldig befunden und zum Tod verurteilt worden. Einige Jahre später sei der Fall in Folge des Selbstmordes und eines schriftlichen Schuldeingeständnisses des vermeintlich überfallenen Offiziers neu aufgerollt worden. Dabei habe sich herausgestellt, dass ein von Generalgouverneur Kaufman damals für die Untersuchung eingesetzter Vertrauter der Drahtzieher hinter dem Vorfall gewesen sei. Dessen gerichtliche Verurteilung zur Verbannung sei aber von Zar Alexander II. mit Rücksicht auf die Verdienste von dessen Vater in eine kürzere Haftstrafe umgewandelt worden. Indem Fedorov einerseits die Strenge des gefällten Urteiles befürwortete und andererseits den mildernden Eingriff des Zaren zugunsten des verurteilten Drahtziehers nicht bewertete, hob er indirekt die zarische Allmacht und die unhinterfragbare Richtigkeit von dessen Entscheidungen hervor und stellte sich damit als treuen Befürworter dieser Ordnungsvorstellung dar.132 Alle angesprochenen Gruppen, Institutionen oder Individuen sowie deren Aktivitäten sind letztendlich Teil des russländischen Staates gewesen. Durch ihre Erwähnung nahmen die Autoren mehrheitlich indirekt Bezug auf das Imperium. Hinter den Begründungen der russischen Expansion stand indirekt immer der Staat. Es waren seine Truppen, die laut Fišer Geiseln befreiten, die Zahl der Überfälle reduzierten oder die bei Južakov vermeintlich Ruhe und Ordnung brachten. Auch hinter dem Ausbau der Infrastruktur oder der Beförderung des Handels, die als Argumente bei Kol’devin, Gejfel’der oder Roževic angeführt wurden, standen indirekt immer staatliche, wirtschaftliche oder politische Führungskreise des Reiches. Das Imperium wurde auch überall dort sichtbar, wo Autoren über dessen konkrete Machtentfaltung beziehungsweise damit verbundene Schwierigkeiten sprachen. Dies betraf die Beschreibung der Eroberung, Unterwerfung und Verteidigung Turkestans im gesamten Untersuchungszeitraum. Ebenso kam die imperiale Machtentfaltung in der staatlichen Unterstützung wissenschaftlicher Aktivitäten bei Sorokin oder bei der erfolgreichen Durchsetzung von administrativen Maßnahmen bei

130 Karandakov: Murgabskij otrjad, 3 (1910), S. 225. 131 Vgl. ebd., S. 224–225. 132 Vgl. Fedorov: Turkestanskom krae, 134/10 (1913), S. 40–43.

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Šnitnikov zum Ausdruck. Grenzen zeigten sich bei der Erwähnung von militärischen Niederlagen oder Rückzügen bei Arnol’di. Ebenso wurden Hürden durch die notwendigen Drohungen zur Durchsetzung staatlich garantierter Rechte auf der Expedition Sorokins deutlich. Das Russländische Reich beziehungsweise einzelne seiner Teile erschienen auch dort indirekt, wo Autoren mit Symbolen darauf verwiesen. Während Šul’c die russische Flagge erwähnte, zog Sjarkovskij den „russischen Frost“ als Vergleichsgröße heran. Gleiches gilt für die Bezeichnungen „Heimat“, „Vaterland“ oder „Mütterchen Russland“ bei Tat’janin, Guljaev oder Karandakov. Den direktesten Bezug auf das Imperium stellte die Erwähnung des Zaren dar. Allerdings blieb diese in den Texten häufig sehr formelhaft. Der Autokrat erschien beispielsweise bei Guljaev als Auftraggeber und Spender höchster Ehrungen, als fürsorglicher Patron bei Trionov oder als allmächtiger Herrscher bei Fedorov. Den Autoren ermöglichte sie die öffentliche Darstellung ihrer Zustimmung und Treue zu der durch den Monarchen verkörperten Ordnung. Eindrücklich gelang das Guljaev, der über den Tod des Zaren Alexander II. schrieb und seine Trauer zum Ausdruck brachte. Durch diese mehrheitlich indirekten oder formelhaften Bezüge und Verortungen erschien das Imperium in den autobiografischen Schriften als „context setting category“133 . Während die Autoren durch die Adressierung dieses übergeordneten Rahmens ihrem Handeln Sinn verliehen, erfuhr das Reich und die vielfältigen Formen seiner Herrschaft vor Ort mehrheitlich öffentliche Unterstützung. Die Selbstbeschreibung des Einzelnen und die Repräsentation des Imperiums in Mittelasien waren als Teil einer übergeordneten Erfolgserzählung eng verbunden.

7.4 Schlussfolgerungen Im gesamten Untersuchungszeitraum haben sich militärisch aktive Autoren in ihren autobiografischen Schriften in unterschiedlich große Kampfgemeinschaften eingeschrieben, die von einer verhältnismäßig kleinen Zahl gemeinsam kämpfender Soldaten bis zu sehr großen Truppenverbänden gereicht haben. Die Bezugnahme erfolgte durch Benennung der eigenen Zugehörigkeit, durch das fortfolgende Formulieren in der ersten Person Plural oder durch die Verwendung von die Gemeinschaft beschreibenden Begriffen wie „Kameraden“, „Brüder“ oder „Turkestaner“. Sahadeo und Sdvižkov deuteten den zuletzt genannten Begriff als Hinweis auf das Vorhandensein einer regionalen Identität. Sdvižkov sah darin konzeptionell eine

133 Gerasimov/Glebov/Kusber/Mogilner/Semyonov: Challenges, S. 25.

Schlussfolgerungen

„russisch kolonial[e] Misch-Identitä[t]“134 , deren Aufkommen als „Kaukasier“ er bereits in Memoiren über die Eroberung des Kaukasus aufgefunden hat. Laut Sdvižkov war für deren Entstehung im Kaukasus und in Mittelasien die Diensterfahrung vor Ort konstitutiv. Sahadeo hob dagegen den Anteil der zivilen Eliten in Taschkent an der Entstehung dieser Gruppenidentität hervor. Ihm zufolge speiste sie sich auch aus der Mitwirkung der Akteure an der Erforschung der Region und ihrem Bemühen um die Errichtung einer in ihrem Sinn fortschrittlichen Gesellschaft vor Ort.135 Über die Assoziation mit den Kampfgemeinschaften nahmen die Militärs die kollektiv errungenen Erfolge und Leistungen, die sie den Gruppen selbst zugeschrieben haben, auch für sich persönlich in Anspruch. Dabei konnte es sich sowohl um militärische Siege als auch naturräumlich bedingte Entbehrungen handeln. Sich als Teil dieser Kampf- und Erfahrungsgemeinschaften zu zeigen, verlieh der Selbstdarstellung der Autoren als militärische Helden deutlich mehr Gewicht und Glaubwürdigkeit. In den Reise- und Forschungsberichten der wissenschaftlichen Akteure ließ sich analog das Einschreiben in Erforscher-Gemeinschaften feststellen. Dies geschah einerseits durch die positive Bezugnahme auf eine übergeordnete akademische Institution, die beispielsweise der Auftraggeber der jeweiligen Expedition gewesen ist. Andererseits stellten die Autoren ihren Texten unterschiedlich lange Beschreibungen der Forschungsgeschichte ihrer jeweiligen Zielregion voran. Diese Erzählungen waren vor allem auf bekannte Wissenschaftler fokussiert. An ihren Enden setzte zumeist der Bericht des jeweiligen Autors ein. Darüber hinaus nahmen die Wissenschaftler im Textverlauf auf Meinungen und Erkenntnisse der ihnen vorausgegangenen Forscher Bezug. Anders als bei den Militärs, ging es den Autoren hierbei aber nicht ausschließlich um die Partizipation an dem Prestige der Expeditionen ihrer berühmten Vorgänger. Der jeweils behauptete eigene Erfolg wurde erst in Abgrenzung zu diesen darstellbar. Wenngleich hinsichtlich dieser Gruppenidentitäten die Kaukasier den Turkestanern zum Vorbild gereichten, stellt die beschriebene Herausbildung und Verarbeitung der „Turkestaner“, vor allem mit Blick auf die beiden benannten Subgruppen, eine eigenständige Leistung des russischsprachigen autobiografischen Diskurses innerhalb des Turkestan-Diskurses dar. Auch dieses Element trug dazu bei, dass die Autoren in Turkestan neue Räume der Autobiografik betreten haben.

134 Sdvižkov: Autobiographik, S. 120. 135 Vgl. ebd., S. 119–120, Jeff Sahadeo: Empire of Memories: Conquest and Civilization in Imperial Russian Tashkent. In: Canadian Slavonic Papers 46/1–2 (2004), S. 141–163, hier S. 147. Anknüpfend an Sahadeo siehe auch Yaroshevskys Ausführungen über eine landsmannschaftlich konzipierte Studentenverbindung von Studierenden aus dem Generalgouvernement ab den 1890er Jahren in St. Petersburg. Vgl. Dov B. Yaroshevski: Russian Regionalism in Turkestan. The Slavonic and East European Review 65/1 (1987), S. 77–100, hier S. 81–82.

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Vor allem innerhalb der erschriebenen militärischen Gruppen erfolgte in zahlreichen Texten die herausgehobene Abbildung einzelner Gruppenmitglieder. Dabei konnte es sich einerseits um kurze Nekrologe für wenig bis unbekannt gebliebene Offiziere handeln, die im Verlauf einer erinnerten Kampagne gefallen seien. Andererseits wurden die führenden Generäle, wie Michail Grigor’evič Černjaev, Konstantin Petrovič Kaufman oder Michail Dmitrievič Skobelev, umfassend, meist im Verlauf des ganzen Textes, portraitiert. Kurze und lange Personenbeschreibungen dienten der personalisierten und beispielhaften Verdeutlichung der für die Kampfgemeinschaft und den jeweiligen Autor selbst in Anspruch genommenen Tugenden wie Mut, Tapferkeit, Standhaftigkeit oder Leistungsbereitschaft. Darüber hinaus boten vor allem die Bilder von Černjaev und Kaufman umfassendere Orientierung, weil sie laut Sahadeo mit unterschiedlichen Zukunftsvorstellungen für das Generalgouvernement identifiziert wurden.136 Zudem nutzten einzelne Autoren die von ihnen verfassten Portraits hoher Generäle, um sich individuell in unmittelbarer Nähe zu diesen abzubilden, um so an deren Prestige zu partizipieren. Eine vergleichbare Praxis ist auf Seiten der Wissenschaftler nicht zu erkennen. Wie in Kapitel 6 bereits ausgeführt wurde, hat Morrison überzeugend dargelegt, dass bis um 1900 von den mit der Eroberung und Verwaltung Turkestans verbundenen Generälen Černjaev, Kaufman oder Skobelev, ein verhältnismäßig einheitliches Heldenbild im medialen Diskurs über die Region existiert hat. Morrison sieht hier deutliche Parallelen zu bekannten Kolonialoffizieren in Großbritannien oder Frankreich gegeben. Die hier herausgearbeiteten Portraits besagter Generäle machen deutlich, dass diese Bilder auch in den autobiografischen Schriften zu Turkestan definiert und beständig reproduziert wurden. Die prominenten Heerführer wurden in zahlreichen Texten zu „imperial hero[es]“137 stilisiert. Darüber hinaus zeigt die vorliegende Analyse, dass nicht nur die Karriereverläufe dieses imperialen Spitzenpersonals, sondern auch solche von unbekannten Offizieren das Generalgouvernement Turkestan als einen Ort erscheinen ließen, der individuelles Fortkommen ermöglicht hat.138 Mit der Abbildung hoher Generäle oder wenig bekannter Forscher, unbekannter militärischer Einheiten oder berühmter akademischer Institutionen nahmen die Autoren indirekt immer auch Bezug auf das Zarenreich als übergeordnete sinnstiftende Entität. Der Zar, als dessen höchste Verkörperung, erschien als Auftraggeber militärischen Handelns, als Spender höchster Ehrungen, als großzügiger Wohltäter oder allmächtiger Herrscher. Er tauchte auch durch in seinem Namen vollzogene, symbolische Handlungen in den Texten auf. Durch die vereinzelte, indirekte oder

136 Vgl. Sahadeo: Memories, S. 142–143. 137 Morrison: Turkestan Generals, S. 6. 138 Vgl. ebd., S. 5–6.

Schlussfolgerungen

formelhafte Bezugnahme auf den Imperator erschien diese Figur häufig sehr distanziert und aufgrund ihrer geringen erzählerischen Komplexität nicht mit Portraits der Generäle vergleichbar. Von dieser allseits bekannten Person existierte offenbar eine vermeintlich klare Vorstellung, die nur der sprachlichen Aufrufung bedurfte, nicht aber der weiteren Ausgestaltung. Die Referenz auf den Herrscher, vor allem die Abbildung der eigenen Trauer über dessen Tod, ermöglichte den Autoren die Darstellung ihrer Treue gegenüber der durch den Imperator verkörperten Ordnung. Eine deutlich abstraktere Repräsentation erfuhr das Reich als übergeordneter Urheber der in Turkestan verfolgten Expansionspolitik. In den autobiografischen Schriften geriet es zum Garanten eines umfassenden Fortschrittes, der sich in der zunehmenden Befriedung der Region, im Ausbau verschiedener Infrastrukturen, in der Entwicklung des Handels oder der Verbreitung von Kultur und Zivilisation ausdrückte und dem individuellen Handeln der Autoren Sinn verlieh. Das Imperium wurde auch in seiner konkreten Machtausübung in Turkestan in den Schriften sichtbar. Dies geschah einerseits in den zahlreichen Berichten über siegreiche Schlachten und andererseits in Erzählungen über die erfolgreiche Durchsetzung von administrativen Maßnahmen. Darüber hinaus war es die den Autoren bei ihren Unternehmungen geleistete Unterstützung der russischen Verwaltung vor Ort, durch die im fortgeschrittenen Untersuchungszeitraum auf das Imperium verwiesen worden ist. Gleichwohl machten Erzählungen militärischer Rückzüge oder beschriebene Schwierigkeiten der Forschungsreisenden auch die Grenzen der Machtentfaltung des Reiches partiell deutlich. Ermöglichte die Abbildung der Machtentfaltung den Autoren die positive Assoziation mit einer erfolgreichen und prestigeträchtigen Entität, so konnte deren Scheitern dennoch zur individuellen Selbstauszeichnung unter als außergewöhnlich oder schwierig deklarierten Bedingungen eingesetzt werden. In der erzählten Gestalt seiner Teilgruppen und ihrer herausgehobenen Führungsfiguren, der Treuebekundungen für den Zaren, der Befürwortung der Politik des Reiches in Turkestan und seiner militärischen und administrativen Machtentfaltung stellte das Imperium den nicht immer expliziten, aber mehrheitlich positiv beschriebenen Rahmen der autobiografischen Erzählungen dar. Gerasimov, Glebov, Kusber, Mogilner und Semyonov sprachen von der „context setting category“139 , die das Imperium in den untersuchten Schriften war. Dies spricht nicht gegen die Bedeutung der Turkestan-Autobiografik für den imperialen Zusammenhang, so wird hier argumentiert. Vielmehr konnten die Autoren davon ausgehen, dass die imperialen Zusammenhänge ihrer Leserschaft so vertraut gewesen sind, dass es nur der Bezugnahmen in den beschriebenen Weisen bedurfte.

139 Gerasimov/Glebov/Kusber/Mogilner/Semyonov: Challenges, S. 25.

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„Turkestancy“ oder das Imperium? Gruppenbildung und soziale Selbstverortung

Weil die aufgezählten Aspekte ebenfalls Teil der Selbstbeschreibungen der Akteure waren, wird erneut die enge Verflechtung beider Ebenen in den untersuchten Schriften deutlich. Die Verortung in den Gruppen und im imperialen Kontext bildet das letzte Element der angesprochenen Fortschritts- und Erfolgsgeschichte über die russländische Expansion nach Mittelasien. In der engen Verbindung der Selbstbeschreibungen und der Darstellungen des Imperiums in Turkestan liegt in Anlehnung an Aust und Schenk das den Zusammenhalt des Reiches fördernde Potential des autobiografischen Diskurses innerhalb des Turkestan-Diskurses begründet. Das folgende Kapitel gibt einen Ausblick darauf, wie sich diese Gesamterzählung und ihre einzelnen Elemente nach dem Ende des Zarenreiches entwickelt haben.140

140 Vgl. Aust/Schenk: Einleitung, S. 11–12.

8. Verschwundenes Land: Turkestan in Erinnerungen nach 1917

„Turkestan, einst Schauplatz einer verschwundenen großartigen Zivilisation, erwachte nach etwa dreißig Jahren russischer Herrschaft zu neuem Leben und Wohlstand.“1

Als Folge der epochalen Umbrüche, die sich mit der Februarrevolution, der Abdankung Zar Nikolais II. im März, dem bolschewistischen Umsturz im Oktober 1917 und der Etablierung der Russischen Sowjetrepublik2 bis Mitte 1918 vollzogen haben, hörten das Generalgouvernement Turkestan, das Emirat von Buchara und das Chanat von Chiva auf zu existieren. An ihre Stellen traten im Verlauf der 1920er und 1930er Jahre verschiedene autonome Gebiete und sozialistische Republiken als Teile der Sowjetunion. Eigenständige, politische Bestrebungen mit unterschiedlichen ethnischen, religiösen und ideologischen Orientierungen, die sich nach der Februarrevolution 1917 in verschiedenen Teilen Mittelasiens artikuliert hatten, wurden letztendlich ebenso gewaltsam unterbunden, wie während der Zarenherrschaft. Der sich bis in das Frühjahr 1921 hinziehende Russische Bürgerkrieg brachte gewaltige Verheerungen über weite Teile des alten Imperiums. Millionen Menschen fanden durch Hunger und Gewalt den Tod. In dessen Verlauf konsolidierten die Bolschewisten ihre Macht auch in Mittelasien.3 Diejenigen aus den alten Mittel- und Oberschichten, die Regimewechsel und Bürgerkrieg überlebt hatten und die trotz allem oder aus Mangel an Möglichkeiten geblieben sind, sahen sich in den folgenden Jahrzehnten unter den neuen Machthabern starken Repressionen ausgesetzt. Diejenigen, denen es gelungen war, ihre alte Heimat zu verlassen, die sich bei Kriegsende im Ausland wiedergefunden haben oder die von den neuen Machthabern zwangsweise exiliert worden sind, standen in den sich herausbildenden, russischen Emigrationszentren in Nachkriegseuropa, in Amerika oder in Asien vor nicht minder großen Herausforderungen. Das nachfolgende Kapitel geht anhand der Schriften von Čarykov, Stepun, Drejer und Kerenskij

1 Kerenskij: Kerenski-Memoiren (1966), S. 33. Die Zeitangabe bezieht sich auf die Jahrzehnte nach der Gründung des Generalgouvernements im Jahr 1867. 2 Wörtlich: Russländische Sowjetische Föderative Sozialistische Republik. 3 Vgl. für den Gesamtzusammenhang Aust: Revolution, S. 97–176, 194–201. Für die Entwicklungen im südlichen Mittelasien siehe Carrére d’Encausse: Empire, S. 213–221, Helmut Altrichter: Rußland 1917. Ein Land auf der Suche nach sich selbst. Paderborn u. a. 1997, S. 531–537 und Golden: Central Asia, S. 130–135.

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Verschwundenes Land: Turkestan in Erinnerungen nach 1917

der Frage nach, wie das einstige imperiale Turkestan, seine Einwohner, deren russische Eroberung sowie das eigene Leben und Handeln vor Ort unter den neuen Bedingungen und mit zunehmendem Zeitabstand zu den historischen Ereignissen autobiografisch verarbeitet wurde. Das eingangs angeführte Zitat Kerenskijs gibt einen Eindruck von den bemerkenswerten Kontinuitäten, die über das Ende des Imperiums hinaus in den Erzählweisen existiert haben. Es wird argumentiert, dass sich dies zum einen mit dem Fortbestehen der Funktionen innerhalb der autobiografischen Schriften begründen ließ, die für diese Erzählmuster in den Texten vor 1917 erarbeitet wurden. Zum anderen wird gezeigt, dass sich die Kontinuitäten aus einer jeweils spezifischen Kombination der in Turkestan verbrachten Lebensphasen der Autoren und dem Schreib- beziehungsweise Publikationszeitpunkt begründen lassen.4

8.1 Begründungsweisen der Expansion und ihres Charakters Die Auflösung des Zarenreiches beziehungsweise die Emigration der vier Autoren aus der schließlich neu entstandenen Sowjetunion hatte zur Folge, dass alle vier ihre Erinnerungen an Turkestan unter gänzlich veränderten Bedingungen verfasst haben. Stepun und Drejer sprachen diesen Umstand explizit an. Ersterer erläuterte in einem Nachwort zu einer späteren Ausgabe seiner Memoiren, dass er den nachfolgend behandelten Abschnitt zwischen März und April 1940 und somit in seinem deutschen Exil und nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verfasst habe. Drejer erklärte in seinem Vorwort, dass er seine Aufzeichnungen auf der Farm seiner Tochter in den USA begonnen und später in Frankreich fortgesetzt hätte.5 Ein Druck zu einer treuen Haltung gegenüber der Monarchie oder dem Sozialismus hat somit für keinen der Autoren bestanden. Umso bemerkenswerter erschienen

4 Vgl. für Wege des autobiografischen Erzählens des eigenen vorrevolutionären Lebens in der Sowjetunion Franziska Thun-Hohenstein: „‚Der Petrinische Ehrenspiegel lag zertrümmert …‘. Autobiographie und Epochenbruch (Oleg Volkov, Kirill Golicyn, Evfrosinija Kersnovskaja)“. In: Martin Aust/Frithjof Benjamin Schenk (Hrsg.): Imperial Subjects. Autobiographische Praxis in den Vielvölkerreichen der Romanovs, Habsburger und Osmanen im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Köln u. a. 2015, S. 482–505. Vgl. zu der kollektiven Ausweisung per Schiff, die als „Philosophenschiff “ bekannt geworden ist, und einzelnen Exilierungsmaßnahmen aus den Bereichen Wissenschaft, Kultur und Religion Sergej Chorushi: Das Philosophenschiff. In: Sinn und Form 42/5 (1990), S. 1022–1025. Siehe Raeff zu den russischen Bürgerkriegsflüchtlingen und der weltweiten Entstehung und Entwicklung russischer Emigrationsgemeinden. Vgl. Raeff: Russia Abroad, S. 16–46. 5 Vgl. Fedor Avgustovič Stepun: Das Antlitz Rußlands und das Gesicht der Revolution. Aus meinem Leben. 1884–1922. München 1961, S. 509, Drejer: Zakate imperii, S. 5. Siehe für alle vier Autoren die biografischen Angaben im Anhang.

Begründungsweisen der Expansion und ihres Charakters

die bei Čarykov, Drejer und Kerenskij vorgefundenen Gründe für die russländische Expansion nach Turkestan. Der in der Spätphase der Expansion noch als Offizier wirkende, aber hauptsächlich als Diplomat aktive, Čarykov rechtfertigte die Eroberung Turkestans sowohl allgemein als auch in Bezug auf konkrete Ereignisse wie der Unterwerfung der transkaspischen Region oder der Einflussnahme auf die Thronfolge in Buchara mit den auch vor 1917 üblichen Argumenten. Das Russländische Imperium habe einerseits in Mittelasien eine feste Grenze gesucht und mit seinem Vordringen zunächst auf die Ausbreitung Großbritanniens in Asien reagiert. Andererseits hätte die sich etablierende, russische Herrschaft vor Ort für vielfältigen Fortschritt gesorgt. Im Verlauf seiner Ausführungen über seine Aktivitäten im transkaspischen Raum und im Emirat von Buchara erwähnte Čarykov für verschiedene Orte wie Krasnovodsk, Bajramali oder Aschabad, dass diese durch russische Bemühungen an die Eisenbahn angeschlossen worden seien. Deren Anlage pries er als bedeutende Leistung der russischen Ingenieurskunst. Der Autor hob weiter hervor, dass es Russen waren, die zunächst die erste Telegraphen- und später die erste Telefonleitung nach Buchara gebracht hätten. Auf dem Gebiet des Emirates seien sie zudem für die Anlage von drei neuen Städten verantwortlich gewesen.6 Am Beispiel der Eroberung Geok-Tepes und der Turkmenen in Transkaspien bemühte sich Čarykov zu zeigen, dass deren Unterwerfung zu einer Reduktion von Raub, Plünderungen und Sklavenhandel geführt hätte. An anderer Stelle behauptete er als Beleg für die gute Entwicklung Transkaspiens, dass Turkmenen in der Folge auch in der russischen Armee gedient hätten. Das Argument eines erfolgreichen russischen Einsatzes gegen die Sklaverei und den Sklavenhandel wiederholte der Autor nochmals, als er über das Emirat Buchara unter russischer Vorherrschaft und seine Arbeit als politischer Agent vor Ort sprach. Unter dem Emir Seid AbdulAchad Chan seien ab 1885 Sklaverei und Sklavenhandel endgültig abgeschafft worden, ein für seine Grausamkeit berüchtigtes Gefängnis geschlossen worden und die traditionelle Todesstrafe reformiert worden. Zudem habe es die russische Führung geschafft, das laut dem Autor traditionell blutige Ringen um die Thronfolge in Buchara für Emir Seid Abdul-Achad Chan unblutig zu vollziehen.7 Für Kol’devin, Južakov, Gejfel’der oder Gunaropulo waren diese bekannten Argumente Teil eines übergeordneten Rahmens, in den sie sich durch deren Übernahme in ihre eigenen Erzählungen einordneten und welcher ihrem individuellen Handeln allgemein Sinn verliehen hat. Čarykov, der es zwischen 1908 und 1909 kurzzeitig zum stellvertretenden Außenminister gebracht hatte und der bereits Mitte der

6 Vgl. Čarykov: Politics, S. 159, 165, 178, 186, 190, 208, 210–211. 7 Vgl. ebd, S. 160, 162–163, 184, 200, 203, 205–206.

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Verschwundenes Land: Turkestan in Erinnerungen nach 1917

1880er Jahre als politischer Agent in Buchara über Einfluss verfügte, erklärte darüber hinaus einige der aufgezählten, positiven Entwicklungen zu Ergebnissen seines persönlichen Wirkens vor Ort. Dies betraf beispielsweise die angesprochenen Veränderungen im Emirat Buchara unter Emir Seid Abdul-Achad Chan, den dortigen Ausbau der Eisenbahn oder der russischen Ansiedelungen. Für diese Punkte stellte er seinen persönlichen Anteil heraus.8 In dem Text des Offiziers und späteren General-Majors Drejer wurde nur das eine bereits bekannte Argument, die russische Eroberung in Mittelasien habe die Verkehrsinfrastruktur verbessert, sehr indirekt aufgegriffen. Drejer war in Taschkent aufgewachsen und hatte nach eigener Aussage die Kadettenanstalt für im Generalgouvernement geborene Angehörige von Mitgliedern der Turkestaner Einheiten in Orenburg, Ende der 1880er Jahre, besucht. In seine Beschreibung seiner jährlichen An- und Abreisen nach und aus Orenburg fügte der Autor ein indirektes Lob für die „in Rekordzeit“9 von General Annenkov errichtete und in den 1890er Jahren eröffnete Transkaspische Eisenbahn ein. Zuvor hätte man die Strecke per Postkutsche bewältigen müssen. Für den Betrieb der Verbindung sowie von 90 Postkutschenstationen unterwegs sei der Taschkenter Kaufmann Ivanov vom Staat bezahlt worden. Noch deutlicher kam dieser Entwicklungsgedanke zur Geltung, als Drejer seine Eindrücke von Taschkent im Jahr 1903 schilderte, dessen „Physiognomie […] sich stark verändert“10 hätte. Für den Besuch der Akademie des russischen Generalstabes sei er im Sommer 1900 für mehrere Jahre nach St. Petersburg umgezogen. Nach seinem erfolgreichen Abschluss und einer kurzen Dienstzeit in Vilnius habe der Autor erneut einen Posten in einem Turkestaner Schützenbataillon angetreten. Zu den bemerkenswerten Veränderungen seiner Heimatstadt zählte Drejer deren Anschluss an die Eisenbahn nach Orenburg, die Errichtung einer Pferdestraßenbahn, die Anlage neuer Straßen und den Zuzug neuer Bevölkerungsgruppen. In seinen Ausführungen war einerseits der Staat Urheber neuer Verkehrswege und sorgte für die Modernisierung der Verkehrsmittel. Anderseits förderte die russische Herrschaft, laut dem Autor, die rapide Urbanisierung großer Zentren, allen voran Taschkents. Anders als Čarykov, nutzte Drejer das Aufzeigen eines vermeintlichen Fortschrittes nicht, um seinen eigenen Anteil daran herauszustellen. Dies wäre ihm zumindest für die Dienstjahre nach seiner Ausbildung möglich gewesen. Vielmehr flocht er einzelne Beispiele dafür in die eigene Lebenserzählung ein. Sein eng mit den staatlichen Bildungseinrichtungen sowie dem russländischen Militär

8 Vgl. ebd., S. 196–198, 218–220. 9 Drejer: Zakate imperii, S. 10. 10 Ebd., S. 36.

Begründungsweisen der Expansion und ihres Charakters

verbundener Werdegang und die von ihm dargestellte Entwicklung des Generalgouvernements verbanden sich dadurch, wie schon bei Kol’devin, Kolokol’cov oder Fedorov, zu einer positiven Fortschrittserzählung.11 Kerenskij hat ähnlich wie Drejer größere Teile seiner Kindheit und Jugend kurz vor der Jahrhundertwende in Taschkent verbracht, wohin sein Vater als GeneralSchulinspektor für das Generalgouvernement berufen worden war. Der spätere Anwalt und Politiker, der 1917 kurzzeitig Vorsitzender der provisorischen Regierung gewesen ist, griff, wie Čarykov, deutlich auf die bereits vor dem Revolutionsjahr 1917 üblichen Begründungen zurück. Mit diesen versuchte der Autor die Expansion und deren Charakter gegen ein seiner Auffassung nach „[i]m Westen“12 vorherrschendes, negatives Urteil zu verteidigen. Auch er behauptete zunächst ganz ähnlich Čarykov, dass die russländische Expansion geendet habe, als „die Russen ihre natürlichen Grenzen gefunden hatten.“13 Darüber hinaus nannte er „Eisenbahnen, Kreditinstitute, Industrieanlagen, die Entwicklung des Baumwollanbaus und der Landwirtschaft [sowie] Bewässerungsprojekte“14 , um die positive Entwicklung der Region unter der russischen Herrschaft zu belegen. Hinsichtlich der militärischen Eroberung ging Kerenskij beispielsweise auf die Unterwerfung Geok-Tepes 1880/1881 durch General Skobelev ein, welche erst wenige Jahre vor der Ankunft seiner Familie stattgefunden hatte, und bezeichnete sie als „Friedensexpedition“15 . Das Verhältnis zu der indigenen Bevölkerung sei friedlich gewesen, weil man deren Lebensweise toleriert habe, so der Autor weiter. Religiöse und ethnische Diskriminierung habe nicht stattgefunden. Das russische Bildungssystem sei für die indigene Bevölkerung offen gewesen und das islamische Rechtswesen habe weiter Bestand gehabt. Kerenskij schloss diese Ausführungen, indem er zusammenfasste: „Turkestan, einst Schauplatz einer verschwundenen großartigen Zivilisation, erwachte nach etwa dreißig Jahren russischer Herrschaft zu neuem Leben und Wohlstand.“16 Kerenskij war es noch weniger als Drejer möglich, aufgrund seines geringen Alters während seiner Anwesenheit in Turkestan, einen eigenen Anteil an den von ihm als positiv dargestellten Entwicklungen für sich in Anspruch zu nehmen. Dennoch konnte auch er seine eigene Lebensgeschichte, wie die beiden Autoren zuvor sowie die Autoren vor 1917, durch die Übernahme der geschilderten Argumente mit einer positiven Fortschrittserzählung verknüpfen.17

11 12 13 14 15 16 17

Vgl. ebd., S. 7, 10–11, 24, 31, 36. Siehe auch die biografischen Informationen im Anhang. Kerenskij: Kerenski-Memoiren (1966), S. 32. Ebd., S. 32. Ebd., S. 33. Ebd., S. 32. Siehe hierzu die Ausführungen am Ende von Kapitel 4.2. Ebd., S. 33. Vgl. ebd., S. 28, 32–33. Siehe auch die biografischen Informationen im Anhang.

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Es kann festgehalten werden, dass in den die jeweilige Lebensphase in Turkestan betreffenden Abschnitten der Memoiren von Čarykov, Drejer und Kerenskij einige aber nicht alle der bereits bekannten, vorrevolutionären Argumente Verwendung gefunden haben, um die russländische Expansion nach Mittelasien zu rechtfertigen. Alle drei Autoren griffen auf die Anlage und den Ausbau von Verkehrsinfrastruktur zurück, die beispielsweise schon Kol’devin, Gejfel’der oder Lomakin als Argument verwendet haben. Čarykov und Kerenskij nutzten den Verweis auf die Suche nach den natürlichen Grenzen des Imperiums, den auch Južakov angeführt hat. Schließlich war die Abschaffung von Sklaverei und Sklavenhandel als Argument weiter gebräuchlich, die auch Fedorov verwendet hat. Direkte Zitate alter, staatlicher Verlautbarungen waren in keinem der drei Texte aufzufinden. Bemerkenswert sind diese Befunde, weil die öffentliche Zurschaustellung der eigenen Befürwortung der imperialen Ordnung im Allgemeinen und ihrer Politik in Mittelasien im Speziellen mit dem Untergang des Reiches obsolet geworden war. Die aufgezeigte unkritische Verwendung der alten Argumente scheint vor allem bei Drejer und Kerenskij interessant, weil beide zu einer Zeit veröffentlicht und vermutlich auch geschrieben haben, als die Dekolonialisation und eine öffentliche Kritik an den Verhältnissen in den verschiedenen Kolonialgebieten der alten Imperien bereits eingesetzt hatte. Eine allgemeine Zustimmung zur Kolonialpolitik des Imperiums durch die Autoren ist als Erklärung theoretisch denkbar.18 Indem Čarykov, Drejer und Kerenskij diese auf eine positive Entwicklung der Region unter russischer Herrschaft abzielenden Argumente in ihren Texten verwendet haben, verbanden alle drei den jeweiligen Teil ihres Lebensweges auch mit einer übergeordneten Fortschrittserzählung. Darüber hinaus lässt sich die Verwendung imperialer Begründungsweisen bei Čarykov und Drejer mit deren Karriereverläufen im zarischen Turkestan begründen. Eine im Nachhinein deutliche Kritik an den dortigen Verhältnissen hätte vor allem bei Čarykov eine nachträgliche Selbstrechtfertigung des eigenen Handelns erfordert. Möglicherweise ist die bei Drejer deutlich indirektere Verwendung der Begründungen ein Tribut an die sich in den 1960er Jahren wandelnde Sicht auf die koloniale Vergangenheit der alten Imperien. Kerenskij hat diesen Prozess zumindest in der Einleitung zu seinen Memoiren befürwortend reflektiert. Wie daher seine geradezu verharmlosende Bewertung einer der blutigsten Kampagnen in der Eroberung Mittelasiens einzuordnen ist, bleibt an dieser Stelle unklar. Bereits in einem Vortrag in einer geheimen Beratung der Duma über die gewaltsame Niederschlagung des Aufstandes der indigenen Bevölkerung in Turkestan im Jahr 1916 hat der Politiker eine deutlich kritische Haltung zu dem Vorgehen der verantwortlichen Militärs erkennen lassen. Hierbei

18 Vgl. Martin Shipway: Decolonization and its Impact. A Comparative Approach to the End of the Colonial Empires. Oxford u. a. 2008, S. 1, 3, 11, 13.

Turkestan, seine Lage und seine Natur

stützte er sich auf eine persönliche Untersuchung vor Ort. Der Umstand, dass diese Untersuchung sowie sein Vortrag in der Duma in seinen hier untersuchten Memoiren nur als Randnotiz, im Vorfeld der Februarrevolution 1917, Berücksichtigung gefunden hat, passte in gewisser Weise zu seiner beschönigenden Darstellung der Unterwerfung Geok-Tepes.19

8.2 Turkestan, seine Lage und seine Natur Bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges hatten sich die Erforschung Turkestans und die Verbreitung der neuen Erkenntnisse über diese Region beständig fortgesetzt. Davon zeugten Forschungsreisen, wie die bereits behandelte Expedition Šnitnikovs in Semireč’e. Ablesbar war dies auch an der Ausdifferenzierung von Forschungsstrukturen, wie beispielsweise die Eröffnung der Turkestanischen Abteilung der Kaiserlich Russischen Geografischen Gesellschaft in Taschkent im Jahr 1896 verdeutlicht. In dem Journal der Abteilung ist Šnitnikovs Reisebericht erschienen. Das Anwachsen der Wissensbestände über den Naturraum Mittelasien und deren Popularisierung hielt auch nach der Oktoberrevolution an.20 Auf Seiten der internationalen Forschung gelangte beispielsweise die deutschsowjetische Alaj-Pamir-Expedition im Jahr 1928 zu Bekanntheit. Hieraus ergibt sich die Frage, ob die angesprochene Wissensproduktion und der zunehmende zeitliche Abstand zu den in den Texten behandelten Lebensabschnitten in Turkestan vor 1917 sich auf die Positionierung Mittelasiens auf den mentalen Karten der Autoren und die Sicht auf die Natur ausgewirkt hat. Sind die Region und ihre Natur weiterhin als fernab und gegnerisch beschrieben worden? Setzten die Autoren die vor 1917 erarbeitete Darstellungsweise auch weiterhin als Mittel ihrer Selbstauszeichnung ein?21 Der ehemalige politische Agent des Zaren in Buchara Čarykov bezeichnete in seinen Memoiren Transkaspien zu der Zeit der Skobelev-Kampagne, kurz vor seinem Dienstbeginn, als eine „entfernte und damals teilweise unbekannte“22 Region.

19 Vgl. Kerenskij: Kerenski-Memoiren (1966), S. 15–16, 191, Happel: Nomadische Lebenswelten, S. 126–127, 139, 175, F. Božko/S. Volin/P.G. Galuzo: Stenografičeskij otčet Gosudarstvennoj Dumy. Zasedanie 13 dekabrja 1916 goda. In: dies. (Hrsg.): Vosstanie 1916 goda v Srednej Azii. Sbornik dokumentov. Taškent 1932, S. 105–126. 20 Vgl. Šnitnikov: Poezdki, 11/2 (1915), Ju. M. Šokal’skij: „Otdely Imp. Rus. Geograf. Obščestva“. In: K.K. Arsen‘ev/F.F. Petrušeskij (Hrsg.): Ėnciklopedičeskij slovar‘ Brokgauza i Efrona. Bd. 22. Leipzig, Sankt Peterburg 1897, S. 402–403. 21 Vgl. zur Alaj-Pamir-Expedition siehe Franziska Torma: Turkestan-Expeditionen. Zur Kulturgeschichte deutscher Forschungsreisen nach Mittelasien (1890–1930). Bielefeld 2011, S. 179–212. 22 Čarykov: Politics, S. 160.

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Merv sei bei seinem Dienstbeginn noch unabhängig gewesen. An anderer Stelle bemerkte er zu Buchara, dass von ihr eine Straße über 2.000 Meilen nach Orenburg geführt hätte. Turkestan erschien also punktuell, wie bei zahlreichen Autoren vor 1917, als ein weit abseitsgelegener Ort. Vor diesem Hintergrund bildete Čarykov sich drei Mal als der erste Europäer an bestimmten Orten im damaligen Grenzgebiet zu Persien und Afghanistan ab. Auf seiner Hin- beziehungsweise Abreise nach und aus Merv im Gefolge General Komarovs, habe er als erster Europäer den Gaudan-Pass, den Karanki-Pass und den Zul‘fakar-Pass überquert. Der Autor bemühte sich hier, die Bedeutung dieser Leistungen hervorzuheben. So erklärte er einerseits, dass über den Gaudan-Pass in der Folge ein befahrbarer Weg in die persische Nachbarprovinz angelegt worden sei, wodurch er die von ihm gesammelten Erkenntnisse als bedeutsam markierte, weil sie wie die notwendige Voraussetzung für die Straße wirkten. Andererseits seien die bei seiner folgenden Erkundung des Flusstales des Tedžen und der Überquerung der beiden anderen Pässe gewonnenen Erkenntnisse, so Čarykov, die letzten Informationen gewesen, die vor der folgenden Grenzziehung in dieser Region zwischen dem Zarenreich und Afghanistan gesammelt worden seien. Der Autor erzählte weiter, dass seine Berichte über diese Erkundungen an den russischen Generalstab geschickt worden seien. Zudem nahm er für sich in Anspruch, dass in einem Bericht in der britischen „The Times“ über seine Unternehmungen berichtet worden sei. Die Zeitung hatte allgemein über russische Aktivitäten in der Region zur Zeit seiner Expedition informiert.23 Teil dieser Ausführungen über die russischen und seine persönlichen Aktivitäten in Transkaspien und Buchara sind verschiedene Verweise auf die jeweiligen naturräumlichen Bedingungen gewesen. In seine Beschreibung der Turkmenen in der Region um Geok-Tepe vor deren Unterwerfung durch General Skobelev 1880/1881 fügte er beispielsweise den Hinweis ein, dass diese „durch einige hundert Meilen sandiger und wasserloser Wüste“24 geschützt worden seien. Diese Darstellungsweise fand sich auch in seiner Erzählung über seinen Weg nach Merv im Jahr 1884, auf dem er sich schließlich russischen Einheiten unter General Komarov angeschlossen hatte. An dem Landungspunkt in der Michajlovskij-Bucht des Kaspischen Meeres, wo der Autor seinen Weg an Land begonnen habe, sei „kein Tropfen Frischwasser“25 gefunden worden. Über den Streckenabschnitt von der Küste bis zu der ersten Oase Kysyl Arvat erwähnte er erneut nur die große, zu überwindende Distanz, die ihn durch die Wüste und über Sanddünen geführt hätte. Ebenso formulierte er über einen der letzten Wegabschnitte vor Merv: „eine

23 Vgl. ebd., S. 163, 167, 183–187, 193. 24 Ebd., S. 160. 25 Ebd., S. 166.

Turkestan, seine Lage und seine Natur

wasserlose Wüste von 80 Meilen“26 . In Čarykovs folgenden Ausführungen über seine angesprochenen Erkundungen am Fluss Tedžen erschien die Natur zudem als bedrohliche Rahmenbedingung, als der Autor von „Ballen-Abdrücken von einem großen Tiger“27 erzählte, die er eines Morgens nahe ihrem Nachtlager entdeckt habe. Schließlich hätten ihn der Sonnenbrand bei den Passüberquerungen in den Bergen und das mehrmonatige Leben in der freien Natur so sehr „entstellt“28 , dass ihn seine Freunde bei seiner Rückkehr nicht erkannt hätten. Die Natur blieb auch in den folgenden Beschreibungen des Autors über seine Tätigkeit als politischer Agent in Buchara, wenngleich weniger drastisch, eine erschwerende Rahmenbedingung. Sand und Schnee hätten beispielsweise den ohnehin 2.000 Meilen langen Handelsweg zwischen Orenburg und Buchara zusätzlich erschwert. Ebenso wirkte Čarykovs Nebenbemerkung über ein „schreckliches Unwetter, begleitet von sintflutartigen Regenfällen […]“29 im November 1885, während dem er in das Taschkenter Telegrafenamt hätte fahren müssen, um die Übermittlung der Gratulation des Generalgouverneurs an den bucharischen Emir nach dessen Thronbesteigung sicherzustellen. Dies sei trotz der meteorologischen Umstände schließlich gelungen. Wie schon Šul’c, Ošanin oder Šnitnikov nutzte auch Čarykov einerseits seine Darstellung eines bestimmten Teiles Mittelasiens als abseitig und weit entfernt, um sich als der erste Europäer an bestimmten Orten abzubilden. Die Bedeutung dieser prestigeträchtigen Selbstauszeichnung versuchte der Autor noch dadurch zu steigern, dass er auf den Nutzen von dabei gewonnenen Informationen für folgende Entwicklungen hingewiesen hat. Anderseits erschien die Natur in allen seinen Lebensabschnitt in Turkestan betreffenden Textteilen als eine erschwerende, beeinträchtigende oder gefährliche Bedingung, die beschriebene Handlungen des Autors, wie das Reisen in der Region, das Campieren in der freien Natur oder die Nachrichtenübermittlung beeinträchtigte und dadurch als anerkennenswerte Leistungen erscheinen ließ. Čarykovs Darstellung schloss somit nahtlos an jene der Autoren vor 1917 an.30 Der Religionsphilosoph und spätere Hochschullehrer Stepun hat sich nach eigener Aussage nur für einen einzelnen Vortrag in einer lokalen Vortragsgesellschaft für etwa zwei Wochen in Kokand aufgehalten. Der Titel des übergeordneten Kapitels in seinen Memoiren, „Rußland [sic!] am Vorabend des Krieges“31 , legte nahe,

26 27 28 29 30 31

Ebd., S. 168. Ebd., S: 185. Ebd., S: 186. Ebd., S. 204. Vgl. ebd., S. 160, 166, 168, 185–186, 193, 204. Stepun: Vergangenes. Erster Teil, Inhaltsverzeichnis.

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dass dies in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg gewesen sein muss. Sein Aufenthalt sei auf Betreiben seines Vaters zustande gekommen, der in der Stadt aus beruflichen Gründen gelebt habe. Der Autor verknüpfte seine Erzählung über diese Vortragsreise mit der Beschreibung einer folgenden Reise mit seiner Frau in den Kaukasus. Beide Regionen bezeichnete er als „unser[e] exotischen Grenzgebiete“32 . Von seinem Hinweg mit der Eisenbahn nach Kokand berichtete er, wie er „tagelang am offenen Fenster des Schlafwagens“33 gestanden habe und erstmals die Größe des Reiches begriffen hätte. Auf seinen Aufenthalt in Turkestan zurückblickend, formulierte er nochmals, dass dieser ihm zu einer „neuen Schau Rußlands [sic!]“34 verholfen hätte, die auf seiner Reise in den Kaukasus gefestigt worden sei. Russland sei ihm nun erst als „Imperium“35 erschienen. Teil dieser die randständige Lage und große Distanz Turkestans zu den westlichen Reichszentren sowie die Größe des Landes betonende Darstellung war der Hinweis Stepuns „als einziger Moskauer Lektor in Turkestan“36 gesprochen zu haben. Hieran ist eine Čarykov ähnliche Verwendung der Lage der Region zu erkennen. Allerdings hat Stepun die Natur dieser Grenzregionen anders als der zuvor genannte Autor nicht als hinderlich, gefährlich oder gegnerisch abgebildet. Vielmehr drückte er an wenigen Stellen sein Gefallen an der „Wildheit“37 der Natur des Kaukasus und dem Eindruck von deren Ursprünglichkeit aus, den er in ihr erfahren hätte. In Stepuns Vorstellung ist Turkestan demnach als abgelegener Grenzraum fester Bestandteil des Imperiums gewesen, das er erst durch das Reisen als solches begriffen hat. Damit schloss der Autor an ähnlich lautende Sichtweisen bei Tat’janin, Guljaev oder Alichanov-Avarskij an. Die behauptete Einzigartigkeit seiner Vortragstätigkeit vor Ort war als Teil seiner Selbstdarstellung ebenso auf die Steigerung des persönlichen Prestiges ausgerichtet, wie die postulierten Entdeckeransprüche Čarykovs und einiger zuvor genannter ähnlich formulierender Autoren. Anders als Čarykov hat Stepun die Natur Turkestans nicht als gegnerisch oder bedrohlich dargestellt.38 Dieser Umgang mit dem Naturraum Turkestan ist in gewisser Weise auch bei Drejer zu erkennen gewesen. Wie die beiden Autoren zuvor, verortete er sein früheres Leben bereits in einem Vorwort zu seinen Erinnerungen „in einem entfernten

32 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 295. Ebd., S. 289. Ebd., S. 295. Ebd., S. 295. Ebd., S. 287. Ebd., S. 290. Vgl. ebd., S. 287. Siehe auch die biografischen Informationen im Anhang.

Turkestan, seine Lage und seine Natur

Randgebiet des Russländischen Staates“39 . Indirekt erschien Turkestan im Folgenden nicht als Teil Europas, weil der Autor Orenburg als nächstgelegene „größere europäische Stadt“40 bezeichnet hat. Mehrfach hob er mit der Distanzangabe von 2.000 Werst zwischen Taschkent und Orenburg die eingangs behauptete Randständigkeit der Region hervor. Mit der Beschreibung seines fast jährlich absolvierten Schulweges von Taschkent nach Orenburg und zurück veranschaulichte Drejer die zuvor genannte abstrakt große Zahl. Für diesen hätten er und seine Schulkameraden bis zu der Eröffnung der transkaspischen Eisenbahn die Postkutsche benutzt. Später seien sie über die Wolga und das Kaspische Meer mit dem Dampfschiff bis Krasnovodsk gefahren und daraufhin in die Eisenbahn umgestiegen. Anders als die Mehrzahl der zuvor behandelten Autoren, konnte Drejer von Taschkent behaupten, dass es sich um jene Stadt gehandelt habe, „[…] wo ich geboren worden bin.“41 In geradezu schwärmerischem Ton formulierte er an anderer Stelle: „Für uns gebürtige Turkestaner schien es, als ob es auf dem ganzen Erdball kein ähnliches Paradies gäbe.“42 Dieser durchweg positiven Sichtweise entsprach der Umstand, dass der Autor ebenso wenig wie Stepun, von einer gegnerischen oder gefährlichen Natur berichtete. Einzelne Hinweise, beispielsweise auf das „immer stürmische [Kaspische, Anm. d. A.] Meer“43 traten hinter der Beschreibung des erlebnisreichen Schulweges zurück.44 In Drejers Worten lag Turkestan demnach am Rand des Reiches und befand sich außerhalb Europas, was vor ihm in der vorliegenden Arbeit bereits Kolokol’cov so beschrieben hat. Anders als Čarykov und Stepun machte er aber von dieser Verortung keinen Gebrauch für seine eigene Selbstdarstellung, obwohl ihm dazu – wenn auch in begrenzterem Maß als Čarykov – die Möglichkeit gegeben gewesen wäre. Während Kolokol’cov, Guljaev oder Karandakov das Imperium von den westlicheren und zentraler gelegenen Reichsteilen aus betrachtet zu haben scheinen, weil sie dort beispielsweise ihre Heimat oder ihr Vaterland verortet haben, war dies bei Drejer anders. Der Autor sah in Taschkent nicht nur seine Heimat, sondern auch das Paradies auf Erden. Der gewisse Makel, der den Positionierungen Turkestans außerhalb von Zivilisation und Kultur bei Sorokin 1881 und Šnitnikov angehaftet hat, schien in der Verortung der Region außerhalb Europas bei Drejer nicht mehr sichtbar. Auch bei Kerenskij, der zwar nicht in dem Generalgouvernement geboren worden ist, aber dort große Teile seiner Jugend verbracht hat, setzte sich diese Sichtweise

39 40 41 42 43 44

Drejer: Zakate imperii, S. 5. Ebd., S. 18. Ebd., S. 7. Ebd., S. 18. Ebd., S. 11. Vgl. ebd., S. 5, 7, 10–11, 18, 46. Siehe auch die biografischen Informationen im Anhang.

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auf die Region fort, wenn auch indirekter. Als er Anfang 1889 von dem bevorstehenden Umzug seiner Familie nach Turkestan erfahren habe, sei ihm diese Region vollkommen unbekannt gewesen. Die sich hier in der Erzählung anschließende Wegbeschreibung ähnelte der von Drejer. Die verschiedenen Reiseabschnitte auf der Wolga, dem Kaspischen Meer und durch die Steppen und Wüsten des südwestlichen Mittelasiens sowie die verschiedenen, dabei benutzten Verkehrsmittel verdeutlichten auch hier die große räumliche Distanz, welche zwischen Kerenskijs Heimatstadt Simbirsk und Taschkent zu überwinden gewesen ist. In seinen folgenden Ausführungen tauchte der Verweis auf die abseitige Lage des „ferne[n] Taschkent[s]“45 nochmals auf, als der Autor erwähnte, dass er mit Frau und Kind in der zweiten Jahreshälfte 1906 für kurze Zeit aus St. Petersburg dorthin zwangsweise verwiesen worden sei. Kerenskij hob zudem hervor, dass Turkestan ihm bei ihrer Ankunft in Taschkent, Ende der 1880er Jahre, nicht als „‚besetztes Land‘“46 erschienen sei. Das Bild, welches sich ihm auf den Straßen der Stadt geboten habe, beschrieb er als „farbenfroh[e] Mischung aus Europa und Asien.“47 Anders als die beiden vorausgegangenen Autoren und ähnlicher den Ausführungen Čarykovs entwarf Kerenskij ein teils negatives Bild des südwestlichen Transkaspiens. Usun Ada, wo der Autor für die Weiterreise in die Transkaspische Eisenbahn umgestiegen ist, beschrieb er als „elenden Hafen“48 . Bereits von ihrem Schiff aus haben sie auf „einen Streifen kahlen, roten Landes“49 geblickt, der in seiner Darstellung trostlost wirkte. Unter dem Eindruck großer Hitze sprach Kerenskij weiter von dem Hafen als einem „Glutofen“50 . Turkestan und speziell Taschkent blieben, wie bei den Autoren der Jahrzehnte vor der Revolution, auch in Kerenskijs Erinnerungen eine entfernte, unbekannte, aber bereits fest in das Imperium eingebundene Region, die für den Autor sowohl europäische als auch asiatische Züge getragen hat. Wie Drejer nutzte auch Kerenskij diese Darstellungsweise Turkestans nicht für seine eigene Selbstdarstellung. Das galt auch für seine negative Abbildung der Natur an der Küste des Kaspischen Meers.51 Alle vier untersuchten Autoren haben Turkestan in ihren Memoiren direkt und indirekt als abseits und entfernt gelegene Grenzprovinz charakterisiert. Bei Stepun, Drejer und Kerenskij bildete das Generalgouvernement einen exotischen, halb europäisch, halb oder gänzlich asiatischen aber immer festen Bestandteil des

45 46 47 48 49 50 51

Kerenskij: Kerenski-Memoiren (1966), S. 93. Ebd., S. 32. Ebd., S. 31. Ebd., S. 30. Ebd., S. 30. Ebd., S. 30. Vgl. ebd., S. 28–29, 31–32, 92–94.

Turkestan, seine Lage und seine Natur

Imperiums. Alle drei haben vor allem Beschreibungen ihrer jeweiligen Wege in, beziehungsweise aus der Region benutzt, um die große Distanz zu den Zentren der benachbarten Reichsteile zu illustrieren. Dass die Region bei Čarykov noch nicht deutlich als Teil des Reiches erkennbar gewesen ist, lag vermutlich daran, dass er Turkestan schon zu Anfang der 1880er Jahre und somit noch während der russischen Eroberung betreten hatte. Dagegen haben mit Hitze und Trockenheit, Schnee oder wilden Tieren nur Čarykov und Kerenskij einige Erscheinungen der Natur Mittelasiens in ihren Ausführungen als negativ, bedrohlich oder gegnerisch beschrieben. In den Schriften Stepuns und Drejers ist die Natur, wenn überhaupt, neutral bis positiv dargestellt worden. Diese verhältnismäßig uneinheitlichen Befunde entsprechen denen in den Schriften vor 1917. Bereits in den Texten von Kolokol’cov, Guljaev, Ivanov oder AlichanovAvarskij war die Vorstellung enthalten, wonach Mittelasien ein weit abgelegener Grenzraum war, der mal als europäisch und als Teil des Reiches, mal als asiatisch und zivilisationsfern beschrieben wurde. Ebenso berichteten diese Autoren vor dem Revolutionsjahr 1917, dass die Natur Turkestans das Leben und die Arbeit vor Ort erschwert oder bedroht habe. Das Erzählmuster hat sich somit über das Ende des Zarenreiches hinaus in der russischsprachigen Autobiografik über Turkestan erhalten, obwohl sich der Prozess der Entdeckung und Erschließung des Naturraumes unterdessen fortgesetzt hatte. Die Verortung eines Teiles der eigenen Biografie in einer als abgelegen behaupteten Weltregion bedeutete mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nach 1917 einen Zugewinn an Außergewöhnlichkeit und Exotik für die Selbstbeschreibung der Autoren. Ähnlich wird es sich mit der aufgefundenen Verbindung aus einem als abgelegen und teilweise noch unbekannt dargestellten Turkestan und einer Selbstdarstellung als erster Europäer an bestimmten Orten beziehungsweise als einziger Lektor aus Moskau verhalten haben. Čarykov und Stepun konnten durch die Verwendung dieser Erzählweise auch weiterhin auf eine Steigerung an persönlichem Prestige hoffen. Die Figur der Natur als Gegner hat dagegen vermutlich an Bedeutung verloren. Sie ließ sich zwar bei Čarykov und Kerenskij zeigen, ist aber nur bei Ersterem in gewissem Maß zur Selbstauszeichnung eingesetzt worden. Während Kerenskij vermutlich aufgrund seines zu geringen Alters und daraus resultierenden abweichenden Erfahrungen keine Čarykov vergleichbare Selbstdarstellung entworfen hat, hätte Drejer aufgrund seiner Aufgaben vor Ort und seines Alters zumindest theoretisch die Möglichkeit dazu besessen. Eine Erklärung könnte ein Wegfallen der alten Kritik an „leichten Siegen“ der russischen Truppen zum Publikationszeitpunkt Drejers gewesen sein, gegen die sich der Einsatz der Figur in den Texten vor 1917 gerichtet hat.

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8.3 Die indigenen Bevölkerungen, ihre Gemeinwesen und ihre Lebensräume Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges sind nicht nur das Imperium der Romanovs mit seinen Besitzungen in Mittelasien oder das Reich der Hohenzollern mit seinen afrikanischen Kolonien verschwunden. In der folgenden Zwischenkriegszeit artikulierte sich auch in den Kolonialgebieten Großbritanniens oder Frankreichs zunehmend der Wunsch nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit. Beispiele sind die Phase des Ungehorsams des Indischen Nationalkongresses in BritischIndien zwischen 1919 und 1921 oder nationalistische Bewegungen in Algerien oder Vietnam in der Zwischenkriegsjahren. Nicht zuletzt der Zweite Weltkrieg führte in großen Teilen Südostasiens und Afrikas zu der rund zwei Jahrzehnte umfassenden Dekolonialisation, in deren Verlauf Staaten wie Sri Lanka 1948 oder Algerien 1962 ihre Unabhängigkeit erlangten. Vor allem die Jahre nach 1945 waren dazu geeignet, auch einen Wandel in den Sichtweisen auf die einstigen kolonialen Bevölkerungen zu bewirken, dessen Rezeption für Čarykov, Stepun, Drejer und Kerenskij an ihren verschiedenen Exilorten in unterschiedlichem Maß möglich gewesen ist. Daher stellte sich die Frage, in welcher Weise die vier Autoren über die indigenen Bevölkerungen Mittelasiens, ihre Gemeinwesen und Lebensräume in ihren Memoiren geschrieben haben.52 In Čarykovs Memoiren tauchten viele der bereits bekannten Erzählweisen erneut auf. Wie die Autoren vor 1917 nutzte auch er summierende Formulierungen und traf gleichzeitig stark verallgemeinernde Aussagen über die jeweils konstruierten Gruppen und Räume. Ein Beispiel ist „Asien“ gewesen, das der Autor für die Mitte des 19. Jahrhunderts in einem „mittelalterlichen Zustand von Apathie und Anarchie“53 beschrieben hat. Die Behauptung anarchischer Verhältnisse übertrug er kurz darauf ebenso allgemein auf Merv vor dessen Einnahme durch russische Truppen, indem er auf eine britische Quelle verwiesen hat. In ähnlicher Weise formulierte er den pauschalen Vorwurf der Räuberei gegen die Turkmenen als Gruppe, die dadurch die Nutzung bestimmter Weidegründe durch Schäfer verhindert hätten. In seinen folgenden Erinnerungen über seine Arbeitsjahre in Buchara kam er zu der Einschätzung, dass die Bevölkerung des Emirates der 1880er Jahre den Russen gegenüber reserviert eingestellt gewesen sei, was er als die „traditionelle Haltung der Mohammedaner gegenüber den Christen im Mittelalter“54 interpretiert hat. Auch behauptete er, dass die „Massen der Mohammedaner“55 durch Ereignisse, wie eine Mondfinsternis, beunruhigt würden. 52 53 54 55

Vgl. Shipway: Decolonization, S. 1, 3, 11, 13. Čarykov: Politics, S. 159. Ebd., S. 193. Ebd., S. 194.

Die indigenen Bevölkerungen, ihre Gemeinwesen und ihre Lebensräume

Solche Gruppen bildeten ähnlich wie bei Guljaev oder Gunaropulo auch bei Čarykov als passive Masse den Hintergrund, vor dem er sein Handeln inszeniert hat, als er beispielsweise für seine erste Audienz beim Emir dessen Palast „unter den Blicken tausender Einheimischer“56 vom Basar aus betreten habe.57 Ebenso haben auch bei Čarykov vor allem hochgestellte indigene Persönlichkeiten eine individuelle Abbildung erfahren. Im Zusammenhang mit seiner Audienz beim Emir lieferte er beispielsweise eine Beschreibung von dessen Äußerem, von dessen Kleidung und Accessoires. Indem er hierbei Gold, Diamanten oder ein gekrümmtes Schwert erwähnte und dabei Adjektive wie „fantastisch“58 verwendete, schuf er ein exotisches Portrait dieses Herrschers, das mit dem dargestellten Luxus auf Elemente des historischen Orientalismus zurückgegriffen hat.59 In seinen Ausführungen über die russische Annexion von Merv sind es mit Kadja Chan und Siah Push zwei Anführer einer regionalen Gegenbewegung gewesen, auf die Čarykov im Zusammenhang mit einer Verhörsituation genauer eingegangen ist. Den Ersten bezeichnete er als „typischen turkmenischen Anführer und Räuber“60 . Den Zweiten beschrieb er als charismatischen, religiösen Fanatiker. Neben solch negativen Zuschreibungen, nutzte der Autor die individuelle Abbildung indigener Würdenträger auch, um die kulturelle Distanz zwischen sich und diesen zu zeigen. Über einen von ihm in seiner Eigenschaft als politischer Agent in Buchara ausgerichteten Ball zur Feier der Eröffnung der Eisenbahnlinie auf bucharischem Gebiet berichtete der Autor, dass ihn der bucharische Bek der Stadt Tjardjui gefragt habe, als dieser die tanzenden russischen Offiziere erblickt habe, wieviel er den Tänzern für ihre Darbietung gezahlt hätte. Darüber hinaus hat Čarykov seine Beschreibung des Emirs mehrfach genutzt, um zu betonen, dass er sich bereits als junger Diplomat mit der Etikette an mittelasiatischen Höfen ausgekannt hätte. Zudem hob er während des Verhörs der beiden Aufrührer seine Sprachkenntnis des Persischen hervor.61 Čarykov verdeutlichte an verschiedenen Stellen, wie beispielweise Fedorov vor ihm, die seiner Meinung nach deutliche Rückständigkeit der bucharischen Gesellschaft und ihrer Führungspersonen. So hätten bei seinem Amtsantritt in Buchara dasselbe Hofzeremoniell sowie dieselben Sitten bei Hof und in der Bevölkerung

56 57 58 59

Ebd., S. 191. Vgl. ebd., S. 161, 170–171. Ebd., S. 191. Taki hat gezeigt, dass bereits in Berichten russischer Akteure in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts über osmanische Militärlager die Vorstellung von Luxus und Überfluss verbreitet war. Die negativen Merkmale Chaos und Unordnung hätten diese Vorstellung erst langsam ersetzt. Vgl. Taki: Sultan, S. 105. 60 Čarykov: Politics, S. 179. 61 Vgl. ebd., S. 179–180, 191–192, 209.

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gegolten, wie sie von russischen Gesandten in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts beschrieben worden seien. Daraus schlussfolgerte der Autor, dass das Emirat noch immer ein mittelalterlicher islamischer Staat mit einer islamischen Rechtsordnung und mit „unterentwickeltem Handel und Industrie“62 gewesen sei. In diese Ausführungen fügte er den Hinweis ein, dass seine Vergleiche auf seinen Studien in Moskauer Archiven und dem Besuch des 1876 in St. Petersburg abgehaltenen Orientalisten-Kongresses beruht hätten. Teil seiner Abbildung von Rückständigkeit sind Hinweise auf einen allgemeinen Wissensmangel gewesen, ähnlich wie bei Roževic. Beispielsweise sei der Emir von seiner Ankündigung einer Mondfinsternis beeindruckt gewesen. Der Autor führt aus, er habe mit dieser Information zu der Vermeidung von Unruhe in der Bevölkerung beitragen wollen, wofür ihm der Emir gedankt hätte. Obwohl ihm ein hoher Hofbeamter über ein historisches Observatorium in der Region und die Fähigkeit indigener Gelehrter, astronomische Ereignisse vorherzusagen, berichtet habe, war der Autor überzeugt, dass seine „[…] Ankündigung der kommenden Mondfinsternis gegenüber dem Emir hauptsächlich geholfen hat, das russische Ansehen und meinen persönlichen Einfluss in Buchara zu heben.“63 Der Eindruck einer weniger gebildeten indigenen Gesellschaft trat noch deutlicher aus Čarykovs Beschreibung der Einführung des Telefons in Buchara heraus. Aus seiner Erzählung, wie er einem höheren Beamten das Telefonieren erklärt habe, ging vor allem hervor, dass dieser spätere bucharische Minister nicht über das physikalische und technische Grundwissen verfügt habe, um die Funktionsweise des Gerätes zu verstehen. Čarykovs Erinnerungen enthielten auch negative Bezüge auf die Stadt Buchara und die dortigen Lebensverhältnisse. Er erwähnte beispielsweise die bettelnden Leprakranken auf den Straßen und fügte hinzu, wie er einem russischen Arzt, der die Krankheit untersucht habe, Unterkunft sowie Unterstützung im Umgang mit den Behörden gewährt habe. An anderer Stelle berichtete der Autor über Fadenwürmer im Trinkwasser Bucharas, das sie zum Abkochen des Wassers und dem Konsum von Mineralwasser genötigt hätte.64 Zusammengenommen bedeuteten die Verwendung der summierenden, negativen Darstellungsweise, die hauptsächliche Einzelabbildung von Führungspersonen in Verbindung mit negativen Eigenschaften sowie die Beschreibung indigener Gemeinwesen und ihrer Lebensräume als rückständig oder negativ ein ungebrochenes Fortbestehen der Erzählweisen von vor 1917 bei Čarykov. Der Autor nutzte diese Inhalte und Darstellungsweisen nicht nur, um eine Fremdheit, Andersartigkeit und

62 Ebd., S. 190. 63 Ebd., S. 195. 64 Vgl. ebd., S. 189–190, 193–195, 199, 211–212.

Die indigenen Bevölkerungen, ihre Gemeinwesen und ihre Lebensräume

Unterlegenheit der indigenen Bevölkerungen zu postulieren, sondern bildet sich selbst als gebildeten und erfahrenen Angehörigen der als umfassend überlegen erscheinenden Gruppe ab. In Stepuns Erinnerungen ließen sich ebenfalls einige der bekannten Erzählweisen zeigen und das nicht nur für Turkestan. Im Rahmen seiner Vortragstätigkeit hat der Autor nach eigener Aussage auch in Astrachan gesprochen, einer am WolgaDelta, unweit des Kaspischen Meeres gelegenen Stadt. Zu seinen Eindrücken aus Astrachan zählten auch der Schmutz und der Gestank des Hafens. Ähnlich wie Čarykov hat der Autor die Kleidungsstile und die Physiognomie einzelner Angehöriger verschiedener Volksgruppen auf den Straßen der Stadt beschrieben, allerdings ohne ihnen plakativ negative Eigenschaften zuzuweisen. Das Nebeneinander von Armut und Wohlstand durch den Handel bemerkend, kam er zu dem Schluss: „[…] alles in allem ein buntes, wüstes Gemisch von Europa und Asien […].“65 In der städtischen Bibliothek und dem Museum, wo er vorgetragen hätte, habe er „eine lebendige Sehnsucht der halbasiatischen Provinz nach dem fernen Moskau mit seinen Konzerten, Vorträgen und Theatern“66 wahrgenommen. Wie sich bereits bei Sorokin gezeigt hatte, waren Zuschreibungen wie der Schmutz, die ungewöhnliche ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung oder ein Mangel an Kultur und Bildung Merkmale, die auch weiterhin älteren Städten in den südöstlichen Peripherien des Reiches zugeordnet worden sind.67 Kokand beschrieb Stepun als eine der „kolonialen Städte“68 . Dies machte er an ihrer Zweiteilung in „einen alten sartischen und einen neuen europäischen“69 Teil fest. Neben dieser klaren Assoziation des indigenen Stadtteiles mit der Vergangenheit, erklärte er über diesen, dass er ein „einziger großer Basar“70 gewesen sei. Dessen Hauptstraße habe, durch Segeltücher beschattet, im Halbdunkeln gelegen. Zudem behauptete der Autor weiter, dass die dortigen Lebensverhältnisse schlechter gewesen seien, als in dem von ihm mit Europa verbundenen russischen Stadtteil. Wie für die Bevölkerung Astrachans beschrieb Stepun auch in Kokand das Äußere einzelner Gruppen, wie den Händlern, ohne negative Konnotationen. Eine individuelle Abbildung erhielt nur Machmed, der Koch und Diener seines Vaters. Über ihn berichtete der Autor, dass er die „Eigenschaften einer alten Kinderfrau und eines Jagdhundes“71 besessen habe. Er habe für seinen Vater in der Stadt

65 66 67 68 69 70 71

Stepun: Vergangenes. Erster Teil, S. 276. Ebd., S. 277. Vgl. ebd., S. 276–277. Ebd., S. 287. Ebd., S. 287. Ebd., S. 288. Ebd., S. 288.

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alles für dessen Versorgung nötige beschaffen können. Dieser Tiervergleich schuf einerseits eine Distanz zwischen dem Autor und seinem Vater sowie dem indigenen Bediensteten, gab die Person aber anders als bei Sjarkovskij nicht der Lächerlichkeit preis, sondern versuchte dessen positive Eigenschaften zu würdigen. Ein deutliches Befremden brachte der Autor im Folgenden einerseits in einer Beschreibung eines Besuches bei einem indigenen Barbier zum Ausdruck. Dieser habe nach der Rasur noch zwei unerwartet heftige Bewegungen mit den Armen des Autors vollführt, von denen Stepun vermutete, dass es sich um eine Art Massage gehandelt haben müsse, deren Bedeutung er allerdings nicht verstanden hätte. Andererseits sei er während eines Essens bei einem indigenen Geschäftspartner seines Vaters genötigt gewesen, „einen unglaublich fetten, widerlich süßen Pilaw72 mit großen Stücken stinkenden Hammelfettes mit den Händen zu essen.“73 Wie bei Sorokin, Gunaropulo und Roževic diente die Szene vor allem dazu, über die Darstellung einer als unhygienisch und unkultiviert markierte Essweise Distanz und Überlegenheit zum Ausdruck zu bringen.74 Stepuns Beschreibungen Astrachans und Kokands sowie deren Bevölkerung waren weniger von negativen abwertenden Zuschreibungen, als vielmehr von Andersartigkeit, Differenz und Exotik betonenden Inhalten und Erzählweisen gekennzeichnet. Während bereits Astrachan durch seine aufgezeigte andersartige, ethnische Zusammensetzung und den postulierten Mangel an kulturellem Leben und Bildungsmöglichkeiten in einer nicht vollständig Europa zuzurechnenden Peripherie verortet worden ist, war Kokand durch seine Zweiteilung in einen indigenen und einen europäischen beziehungsweise russischen Teil als kolonial gekennzeichnet. Die eigene Verortung in dem europäisch-russischen Kontext und dessen Distanz zu der indigenen Sphäre hat Stepun durch Erzählungen über die ungewöhnlichen Praktiken eines Barbiers oder die als unhygienisch abgebildeten Essweise eines Indigenen deutlich herausgestellt. Er nutzte auch die vor 1917 gebräuchliche, summierende Abbildungsweise der indigenen Bevölkerung, markierte aber die Gruppen anders als Čarykov nicht mit verallgemeinernden negativen Aussagen. Auch eine individuelle Darstellung diente nicht mehr dem Aufzeigen der Unterlegenheit des Indigenen. Es erscheint bemerkenswert, dass sich weder in den Memoiren von Drejer, noch von Kerenskij vergleichbare Bezugnahmen auf die indigenen Bevölkerungen Turkestans, ihre Lebensräume und Gesellschaftsordnungen auffinden ließen. Drejer erinnerte lediglich sein mit „asiatisch[en] Süßigkeit[en]“75 (dastarchan) gefülltes 72 73 74 75

Gemeint ist hier das in Mittelasien und in Russland weitverbreitete Reisgericht „Plov“. Stepun: Vergangenes. Erster Teil, S. 289. Vgl. ebd., S. 287–289. Drejer: Zakate imperii, S. 12. Apreleva erklärte den vermutlich Turk-sprachigen Begriff „dastarchan“ in dem ihren Erinnerungen beigefügten Glossar in seiner häufigsten Verwendung als verschiedenar-

Die indigenen Bevölkerungen, ihre Gemeinwesen und ihre Lebensräume

Gepäck, das er nach den Ferien von Taschkent auf den Weg nach Orenburg mitgenommen habe. Kerenskij hat nur für die Beschreibung Taschkents auf einige bekannte Erzählweisen zurückgegriffen. Hierbei sprach er beispielsweise, analog zu Stepuns Ausführungen zu Astrachan, von einer „farbenfrohen Mischung aus Europa und Asien“76 , die das Straßenbild geprägt habe. Der russische Stadtteil habe mit seinen breiten, begrünten Straßen einem „einzige[n] große[n] Garten“77 geglichen. Für den indigenen Teil der Stadt betonte er stattdessen dessen hohes Alter und beschrieb ihn als „ein[e] Anhäufung enger Straßen und Gassen.“78 Wie Kolokol’cov oder Roževic erwähnte er die fensterlosen Lehmwände, die das gesamte Leben dahinter verborgen hätten. Detaillierte Beschreibungen indigener Personen oder lokaler Sitten und Bräuche haben sich bei keinem der beiden Autoren wiedergefunden. Ein Fortbestehen der bekannten Erzählweisen von vor 1917 über die indigenen Bevölkerungen, ihre Gemeinwesen und Lebensräume ließ sich vor allem bei Čarykov und in geringerem Maß bei Stepun nachweisen. Drejer und Kerenskij haben entweder gar nicht mehr oder nur noch partiell über diese Aspekte geschrieben. Čarykov berichtete summierend über Großgruppen wie „die Asiaten“ oder „die Turkmenen“ und traf negative, das Verhalten, den Bildungs- oder Entwicklungsgrad betreffende Aussagen über diese. Auch inszenierte er sein aktives Handeln im Gegensatz zu den als passiv abgebildeten Gruppen. Damit setzte er Erzähl- und Inszenierungsweisen fort, die bereits bei Šul’c, Guljaev oder Gunaropulo gezeigt worden sind. Stepun beschrieb zwar größere Bevölkerungsgruppen in Kokand, allerdings ohne negative Zuordnungen. Wie die Autoren vor 1917 bildete Čarykov gesellschaftlich höherstehende, indigene Persönlichkeiten individuell ab. Mal exemplifizierte er damit von ihm behauptete, negative Eigenschaften. Mal bildete er lediglich eine postulierte Distanz zwischen sich und dem als unterlegen gezeigten Gegenüber ab. Stepun hob in einer Personenbeschreibung dagegen die positiven Qualitäten hervor. Ihm scheint es vermehrt um das Aufzeigen einer Andersartigkeit und Fremdheit der lokalen Bevölkerung und weniger um deren Abwertung gegangen zu sein, wenn er beispielsweise deren Speisen und Essweise negativ abgebildet hat. Dagegen hat dem Verweis auf das regionale Naschwerk bei Drejer eine positive Wertung zugrunde gelegen. Hinsichtlich der indigenen Lebensräume in Buchara, Taschkent und Kokand hat vor allem Čarykov mit Lepra und Fadenwürmen auf die negativen Lebensumstände verwiesen. Stepun und Kerenskij hoben in ihren tige Süßigkeiten, die bei feierlichen Anlässen auf kleinen, kupfernen Servierplatten gereicht worden sind. Vgl. Apreleva: Očerki, S. 214. 76 Kerenskij: Kerenski-Memoiren (1966), S. 31. 77 Ebd., S. 31. 78 Ebd., S. 31.

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Beschreibungen der Altstädte zwar deutlich die städtebaulichen Unterschiede und somit deren Andersartigkeit zu den russischen Neustädten hervor. Negative Herabwürdigungen, wie sie sich vor 1917 etwa bei Petrovskij oder Fedorov zeigen lassen haben, sind hier jedoch nicht mehr zu finden gewesen. Noch deutlicher als in den vorangegangenen Kapiteln, ist hier der Eindruck entstanden, dass mit zunehmendem Zeitabstand zu dem Revolutionsjahr 1917 ein verminderter Einsatz der für die Zarenzeit gängigen Darstellungsweisen der indigenen Bevölkerung stattgefunden hat. Zumindest für Drejer und Kerenskij scheint der Einfluss der Dekolonialisation und angeschlossener Prozesse auf ihr Denken und Schreiben möglich. Es ist jedoch auch möglich, dass das auffällige Fehlen entsprechender Erzählweisen und Inhalte bei beiden Autoren vielmehr mit ihrem Alter und dem Zeitpunkt ihrer Anwesenheit in Turkestan zu tun gehabt hat. Demnach hätten die Jugend Kerenskijs in dem russischen Stadtteil von Taschkent und der Dienst in den bereits jahrzehntealten, russischen Garnisonsorten von Drejer keine den Erfahrungen der älteren Autorengenerationen vergleichbaren Eindrücke geboten.

8.4 Der militärische Kampf Das Erzählen über die eigene Teilnahme an der militärischen Eroberung Mittelasiens hat in der russischsprachigen Autobiografik über Turkestan vor 1917 eine bedeutende Rolle gespielt.79 Von den in diesem Kapitel behandelten Autoren hat strenggenommen nur Čarykov durch seine Teilnahme an der Einnahme Mervs eigene Erinnerungen aus der Spätphase des russischen Eroberungsprozesses in Turkestan beizutragen gehabt. Drejer hat im Verlauf seiner militärischen Laufbahn zwischen 1896 und 1906 zwar mehrfach im Generalgouvernement Dienst getan, ist aber nicht mehr aktiv an den Eroberungen beteiligt gewesen. In seinen Erinnerungen tauchte General Skobelev bereits als Teil eines nationalen Heldenkanons auf, den er während seiner Militärschulzeit Ende der 1880er Jahre vermittelt bekommen habe. Stepun und Kerenskij haben schließlich aufgrund ihres zu geringen Alters keine persönlichen Erinnerungen an diese Phase besessen. Daraus ergab sich die Frage, ob die Autoren dem militärischen Kampf in ihren Texten überhaupt noch Bedeutung beimaßen.80

79 Vgl. hierzu umfassend Kapitel 6. 80 Vgl. Drejer: Zakate imperii, S. 8. Die von Morrison vertretene Position, dass sich für die militärisch maßgeblichen Generäle der Expansion bis Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verhältnismäßig stabile Heldenbilder etabliert hätten, lässt sich daher möglicherweise erweitern. Militärs wie Skobelev wurden bereits in eine Reihe mit älteren, siegreichen Heerführern des Imperiums gestellt. Vgl. Morrison: Turkestan Generals, S. 5–6.

Der militärische Kampf

Obwohl die russische Einnahme Mervs im Jahr 1884, aufgrund ihres verhältnismäßig unblutigen Charakters, den Autoren wenige Möglichkeiten geboten hat, sich in einer Gefechtssituation darzustellen, hat Čarykov seine Beteiligung an den Ereignissen mit ähnlichen erzählerischen Mitteln dargestellt, wie sie von Autoren vor 1917 eingesetzt worden sind. Während ihres Marsches auf die Hauptzitadelle der Oase Merv seien sie kurz vor ihrem Ziel nachts von turkmenischen Einheiten angegriffen worden, die sich gegen die Unterstellung Mervs unter russische Hoheit gewandt hätten. Der Autor berichtete, dass sie von ihren Verbündeten gewarnt worden seien und stellte die geringe Anzahl ihrer Männer fest. Ihre Vorbereitungen erläuternd, hielt er zudem fest, dass er sich während der folgenden Ereignisse inmitten ihrer Männer, unweit des leitenden Generals Komarov, befunden habe. Über den „ungeordneten Ansturm“81 ihres Gegners schrieb er, die Gefahr betonend, dass „die Kugeln über unsere Köpfe gepfiffen“82 seien. Die russischen Einheiten hätten dagegen geordnet drei Salven auf Kommando zurückgefeuert, woraufhin eine Kosakeneinheit die Flucht der Angreifer festgestellt habe. Der Autor erwähnte zudem, dass nur ein russischer Soldat gefallen sei und sie 14 getötete Gegner gezählt hätten. Nach ihrer Ankunft in der Zitadelle bildete der Autor sich dabei ab, wie er als erster die von ihrem Gegner geräumte Festung inspizierte. Im Folgenden erwähnte Čarykov einerseits, dass ihm für seine Teilnahme in Merv die Medaille für die Feldzüge in Zentralasien verliehen worden sei. Andererseits nahm er für sich in Anspruch, dass seine privaten Briefe von dem Feldzug an den Direktor der Asien-Abteilung im Außenministerium, Ivan Alekseevič Zinov’ev, „die frühsten und vollständigsten Informationen“83 über die Vorgänge in Merv gegeben hätten. Sie seien sowohl an den deutschen Botschafter in St. Petersburg als auch an Zar Alexander III. weitergeleitet worden.84 Vor allem mit der Hervorhebung der Gefahr, der er persönlich ausgesetzt gewesen sei, mit der Beschreibung der wirkungsvollen russischen Verteidigung, mit dem Quantifizieren des Erfolges und der Inanspruchnahme der Ergebnisse sowie der postulierten Tapferkeit durch die Verwendung der ersten Person Plural verfuhr Čarykov, analog zu Tat’janin, Arnol’di, Sjarkovskij oder Kamberg. Den Mangel an eigenen Kampfhandlungen versuchte der spätere Diplomat durch die Betonung des Wertes der von ihm übermittelten Informationen zu kompensieren. Ebenso wie für die Selbstverortung in einem entfernten Grenzraum, inmitten einer als gefährlich gezeigten Natur, kann auch für die Selbstdarstellung als Teil einer scheinbar

81 82 83 84

Čarykov: Politics, S. 173. Ebd., S. 174. Ebd., S. 187. Vgl. ebd., S. 173–175, 187.

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heldenhaft agierenden Kampfgemeinschaft angenommen werden, dass diese nach 1917 weiterhin das Potential für eine positive Selbstauszeichnung besessen hat.

8.5 Selbstverortungen in Gruppen und im Imperium Wie in den autobiografischen Schriften vor 1917 hat sich auch in den Texten von Čarykov, Drejer und Kerenskij ein vielfältiges Wechselspiel aus Bezugnahmen auf bestimmte Gruppen und einzelne, herausgehobene Mitglieder dieser Gemeinschaften gefunden. Im Fall von Stepun ist dies mehrheitlich seine Zuhörerschaft in den lokalen Vortragsgesellschaften von Nižnij Novgorod, Kasan oder Pensa gewesen, der er sich in unterschiedlichem Maß als verbunden beschrieben hat. Aus deren Kreisen hat der Autor häufig diejenigen aktiven Persönlichkeiten genauer dargestellt, die ihn eingeladen, vor Ort empfangen oder bewirtet haben. Auch portraitierte er einzelne Reisebekanntschaften. Dass hierauf an dieser Stelle nicht ausführlicher eingegangen wird, ist mit dem gänzlich anderen geografischen Fokus der angesprochenen Ausführungen zu begründen.85 In den Memoiren von Čarykov ist es vor allem die Gemeinschaft der Teilnehmer an der Eroberung Mervs gewesen, auf die der Autor durch die Verwendung der ersten Person Plural Bezug genommen hat. So seien „einige von uns“86 unter dem Eindruck der sich wandelnden Zustimmung in Merv zu der russischen Einnahme der Oase zu einem Rückzug bereit gewesen. An anderer Stelle seien „einige unserer Offiziere“87 überrascht gewesen, dass der den Einsatz leitende General Komarov einen gefangenen Gegner wieder freigelassen hätte. Aus der größeren Zahl von näher beschriebenen Personen ist es besagter General gewesen, den Čarykov mit Abstand am ausführlichsten portraitiert hat. Hierbei ist der Autor um die Konstruktion einer Nahbeziehung bemüht gewesen. So hätte ihn Komarov eingeladen, ihn nach Merv zu begleiten. Unterwegs habe das Zelt Čarykovs nah dem des Generals gestanden, dessen Gast der Autor fortfolgend gewesen sei. Die persönliche Gastfreundschaft des Generals unterstrich Čarykov nochmals gegen Ende seiner Ausführungen über Merv, als er erwähnte, bei diesem und dessen Familie in Aschabad gewohnt zu haben. Unterwegs hätte sich Komarov „offen und vollständig“88 mit ihm über alle Vorgänge ausgetauscht. Der Autor hob im Folgenden mehrfach hervor, wie er von dem General über Ereignisse persönlich informiert worden sei oder wie Komarov sich mit ihm beraten hätte. Zudem habe er Komarov mehrfach bei dessen Besichtigungen lokaler 85 86 87 88

Vgl. Stepun: Vergangenes. Erster Teil, S. 259, 261–265, 279–280. Čarykov: Politics, S. 170. Ebd., S. 172. Ebd., S. 168.

Selbstverortungen in Gruppen und im Imperium

Altertümer oder auf dessen Ausflügen in die Natur begleitet. Bei ihrer Besichtigung der Zitadelle in Merv, habe der passionierte Käfersammler Komarov Exemplare einer noch unbekannten Art entdeckt, so der Autor, die später nach ihm benannt worden sei. Schließlich stattete der Autor sein Portrait des Generals mit zahlreichen, positiven Eigenschaften aus. So hob er dessen Wissen über die turkmenischen Sitten und Bräuche sowie dessen Standhaftigkeit im Umgang mit den Oasenbewohnern, dessen Patriotismus und dessen strategisches Geschick lobend hervor.89 Ähnliche aber deutlich kürzere Personenbeschreibungen hat Čarykov für eine Reihe weiterer militärischer und ziviler Akteure entworfen. Für den Kriegsingenieur Pavel Michajlovič Lessar, den späteren General Petr Petrovič Kalitin oder den späteren Diplomaten Vasilij Oskarovič Klemm berichtete Čarykov nicht nur über die gemeinsamen, zumeist beruflichen Berührungspunkte und hob einzelne Qualitäten oder Leistungen der jeweiligen Person hervor, sondern berichtete auch über deren positive Karriereverläufe. Wie bereits bei Južakov, Guljaev und Ivanov erschien das Generalgouvernement erneut als ein Ort, der das individuelle Fortkommen befördert zu haben schien.90 Čarykov nahm in seinem Text mehrfach auf die Figur des Zaren Bezug. Zu Beginn seiner Ausführungen über seinen Dienst in Mittelasien berichtete er, dass er an der Krönungsparade Alexanders III. in Moskau teilgenommen habe. Hierbei hob er einerseits die Außergewöhnlichkeit des Ereignisses und den tiefen Eindruck hervor, den der neue Zar auf die Bevölkerung in den Straßen gemacht habe. Andererseits berichtete der Autor, wie er bei dieser Gelegenheit den Direktor der Asien-Abteilung des Außenministeriums, Zinov’ev, kennengelernt und von diesem die Position des russischen Agenten in Buchara angeboten bekommen habe. Darüber hinaus fand der Herrscher in Čarykovs Erinnerungen Erwähnung, als er einen Sohn des Bucharischen Emirs als dessen Nachfolger anerkannt habe. Hierbei hob der Autor hervor: „Bald darauf wurde es mein Schicksal, diesem Mann auf seinen Thron zu helfen.“91 An anderer Stelle berichtete der Autor, dass man die Einnahme Mervs verschoben habe, damit sie nicht auf den Todestag Alexanders II. falle. Über die krankheitsbedingte Aufgabe seines Postens als russischer Agent in Buchara erwähnt der Autor schließlich, dass seine Vorgesetzten für ihn „von dem Imperator eine außergewöhnlich hohe Auszeichnung“92 erwirkt hätten. Während die verschiedenen Gruppen für Čarykovs Selbstverortung nur eine untergeordnete Bedeutung besessen zu haben scheinen, nutzte der Autor dagegen verschiedene Personenbeschreibungen, allen voran die General Komarovs, um sich im Umfeld von und in Kontakt mit 89 90 91 92

Vgl. ebd., S. 167, 169–170, 173, 176–177, 186. Vgl. ebd., S. 167, 170, 183–184, 188, 212. Ebd., S. 163. Ebd., S. 221.

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wichtigen Funktionsträgern abzubilden und an deren Prestige zu partizipieren. Verschiedene Ereignisse, bei denen der Zar als Machtzentrum erschienen ist, verband der Autor erzählerisch mit seinem Werdegang, seinem persönlichen Handeln und seinen Erfolgen. Die Rücksicht auf den Todestag Alexanders II. erschien zudem, ähnlich der geäußerten Trauer bei Guljaev und Gejfel’der über dessen Tod selbst, als Möglichkeit, die eigene Monarchietreue auszudrücken.93 In den auf Turkestan bezogenen Teilen der Memoiren Drejers sind es vor allem die Gemeinschaften an seinen verschiedenen Ausbildungs- und Dienststätten gewesen, auf die der Autor durch die Verwendung der ersten Person Plural Bezug genommen hat. Hatte er sich eingangs seinen Mitschülern an der Kadettenanstalt in Orenburg und an der Infanterieschule in St. Petersburg sowie diesen Institutionen selbst zugeordnet, schuf er im Folgenden durch Aussagen wie „für uns gebürtige Turkestaner“94 oder „[m]eine Batterie“95 deutliche Verbindungen zu der Region, in der er geboren worden ist, und seinem dortigen Dienstposten. Eine konkrete Inanspruchnahme von postulierten Eigenschaften oder Leistungen dieser Gruppen für seine eigene Selbstdarstellung, wie das bei Fišer, Južakov oder Sjarkovskij gezeigt worden ist, hat hierbei nicht stattgefunden.96 Anders als bei Čarykov enthielten die zahlreichen Personenbeschreibungen selbst bekannter Persönlichkeiten deutlich mehr negative Charakteristika. So bezeichnete Drejer einen Lehrer seiner Kadettenanstalt, Stabsrittmeister Ljubarskij, als „apathisch[en] Dicken“97 . Über Il’ja Michailovič Okunev, den Chef der Batterie, in welcher der Autor in Taschkent gedient hatte, führte er aus, dass dieser ein schwerer Alkoholiker gewesen sei und grenzte sich in seiner Erzählung als dienstbeflissen gegen diesen ab. Generalgouverneur Nikolaj Nikolaevič Tevjašev bezeichnete der Autor als „nicht bemerkenswerte Person“98 . Daneben existierten in Drejers Memoiren Personenbeschreibungen, die die positiven Eigenschaften und Leistungen der Beschriebenen hervorgehoben haben. So lobte er beispielsweise seinen Taschkenter Kollegen Kapitän Starov als ausgezeichneten Offizier und guten Schützen. An anderer Stelle berichtete der Autor positiv über den ihm vorgesetzten General und „[a]lten Turkestaner“99 Konstantin Vikent’evič Cerpickij, der sich sehr um das Wohl der Soldaten bemüht habe. Das nicht einseitig positive Portrait seines zeitweiligen Vorgesetzten in Vilnius, General Pavel Karlovič Rennenkampf, nutzte Drejer, um eine Nahbeziehung zu diesem

93 94 95 96 97 98 99

Vgl. ebd., S. 162–164, 176. Drejer: Zakate imperii, S. 18. Ebd., S. 19. Vgl. ebd., S. 10, 12–14. Ebd., S. 8. Ebd., S. 38. Ebd., S. 39.

Selbstverortungen in Gruppen und im Imperium

hohen Offizier abzubilden. Einer Beschreibung von dessen Äußeren, von dessen persönlichen Qualitäten, Dienstauffassung und Auszeichnungen schloss der Autor eine Erzählung über ein Übungsmanöver bei Minsk an, während dem er sich in unmittelbarer Nähe des Generales abgebildet und schließlich von einer zwischen ihnen entstandenen Freundschaft gesprochen hat. Wie in den Texten vor 1917 sind es vor allem mittlere bis hohe Offiziere und Persönlichkeiten gewesen, die der Autor beschrieben hat. Anders als in den älteren Texten zeigte er dabei auch negative Eigenschaften auf und grenzte sich gegen diese teilweise ab.100 Der Zar, beziehungsweise das Imperium als solches, wurden bei Drejer nur verhältnismäßig beiläufig angesprochen. Von seiner Teilnahme an der Krönungsparade für Nikolai II. und dem Ehrenwachdienst im Kreml‘ im Sommer 1896, erinnerte er, anders als Čarykov, vor allem negativ die vorausgegangenen Exerzierübungen und einen aus seiner Sicht langweiligen Besuch des Schlachtfeldes von Borodino, kurz vor ihrer Abreise aus Moskau. In seinen Ausführungen über seinen Dienst in Turkestan war das Imperium in Gestalt des in die Region verbannten Großfürsten Nikolaj Konstantinovič sichtbar. Drejer berichtete ausführlich und durchaus kritisch über die verschiedenen gesellschaftlichen Skandale dieses Mitgliedes der Herrscherfamilie. Er nutzte somit anders als die Autoren zuvor mögliche Bezüge auf den Monarchen und seine Familie nicht mehr, um seine Zarentreue zu belegen. Seine Teilnahme an wichtigen, staatlichen Ereignissen diente ihm nicht mehr dazu, sich als Teil der imperialen Gemeinschaft darzustellen. Aufgrund fehlender Teilnahmen an Feldzügen hat Drejer sich vor allem den Mitgliedern und Institutionen als zugehörig gezeigt, die mit seiner Ausbildung und seinem Dienst verbunden gewesen sind. Dabei hat die in den Texten vor 1917 vorgefundene Teilhabe an dem Prestige der Gruppen keine besondere Rolle gespielt. Wie Guljaev, Vereščagin, Kamberg oder Čarykov nutzte auch Drejer dafür vor allem Personenbeschreibungen hoher Offiziere, in deren Nähe und als deren Freund er sich beschrieben hat. Anders als viele der genannten Autoren zeichnete der Autor auch negative Portraits, gegen die er sich abgegrenzt hat.101 In den mit dem Generalgouvernement verbundenen Kindheits- und Jungenderinnerungen Kerenskijs spielten Kampf- oder Erforscher-Gemeinschaften nachvollziehbarerweise keine Rolle mehr. Vielmehr ist es seine Familie gewesen, in deren Kreis er sich mit Erzählungen über den gemeinsamen Alltag in der ersten Person Plural eingeschrieben hat. Auf dieselbe Weise hat der Autor positiv auf Literaturund Musikgruppen, in denen er seine Freizeit verbracht habe, und seine Schul-

100 Vgl. ebd., S. 19–20, 31–35, 37–41, 44–45. 101 Vgl. ebd., S. 16–17, 42–44.

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klassen Bezug genommen. Über letztere formulierte er beispielsweise: „Vielmehr liebten wir unsere Lehrer und unsere Klassengemeinschaften.“102 Entsprechend diesem jugendlichen Lebensumfeld in Taschkent ist es beispielsweise sein Vater gewesen, den der Autor ausführlicher charakterisiert hat. Er erzählte einerseits über dessen berufliche Verpflichtungen als Generalschulinspektor, dessen Arbeitsalltag oder dessen Bewunderung für den damaligen Finanzminister Sergej Jul‘evič Vitte. Andererseits berichtete er von der Kontrolle seiner Hausaufgaben durch den Vater, dem „klaren und knappen Stil“103 im Schreiben, den dieser ihm beigebracht habe, oder den Diskussionen über historische Themen, die er mit ihm geführt hätte. Kerenskij entwarf so das Bild eines liberalen Beamten und fürsorglichen Vaters, das er um jenes des begabten und geachteten Pädagogen ergänzte, indem er einen längeren Auszug aus den lobenden Erinnerungen eines Schülers seines Vaters, des späteren Landwirtschaftsministers Aleksandr Nikolaevič Naumov, anfügte.104 Die Bezüge auf das Imperium als Ganzes und auf seine Herrscher fielen bei Kerenskij disparat aus. Einerseits berichtete er von seiner kindlichen Zaren- und Monarchietreue, aufgrund derer er 1896 über den Tod Alexanders III. getrauert, die Totenmessen besucht und für Kränze gesammelt habe. Auch nahm der Autor mehrfach positiv Bezug auf die Reformbemühungen Alexanders II., etwa im Bildungswesen. Zudem lobte er die Amtszeit des Generalgouverneurs Kaufmann, die unter diesen Einflüssen gestanden hätte. Weiter vermittelten seine Ausführungen über die Biografien seiner Eltern den Eindruck, dass das Reich der persönlichen Entfaltung und dem gesellschaftlichen Aufstieg seiner Untertanen nicht grundsätzlich entgegengestanden hätte. Dem Autor zufolge habe sein Vater, als Sohn eines armen Geistlichen, nach seiner Ausbildung in kirchlichen und staatlichen Bildungseinrichtungen Karriere im Schuldienst gemacht. Seine Mutter sei die Enkelin eines Leibeigenen gewesen, der als Kaufmann reich geworden sei. In dieses Bild passten die lobenden Worte des Autors über die liberalen Verhältnisse, die er während seiner Schulzeit in Turkestan erlebt hätte. Hier sei „die Äußerung unabhängiger Gedanken“105 möglich gewesen. In der Schule seien sie „nicht durch den indifferenten Formalismus erstickt“106 worden. Andererseits erwähnte Kerenskij auch die seiner Ansicht nach herrschende Armut der Bauern, den rückwärtsgewandten Landadel, die reaktionäre Beamtenschaft oder den Reformunwillen Nikolais II. Viele dieser negativen Aspekte betrafen aus seiner Sicht vor allem die anderen Reichsteile. Mit Blick auf Kerenskijs zuvor 102 103 104 105 106

Kerenskij: Kerenski-Memoiren (1966), S. 35. Ebd., S. 33–34. Vgl. ebd., S. 30, 33–37. Ebd., S. 31. Ebd., S. 35.

Selbstverortungen in Gruppen und im Imperium

besprochene Verwendung der alten Begründungsweisen der Expansion und die ausführliche Würdigung seines Vaters, scheint er versucht zu haben, das Generalgouvernement seiner Jugendjahre als eine Art Ausnahme darzustellen, wofür er die Arbeit seines Vaters indirekt als Grund angeführt hat. Dies ermöglichte ihm einerseits eine insgesamt positive Bezugnahme auf seine Jugend und schuf andererseits die Möglichkeit, seine Kritik an den Zuständen in weiten Teilen des Imperiums aufrechtzuerhalten. Der Wunsch, „[…] meinem Volk zu dienen, Rußland [sic!] und dem Staat […]“107 , den der Autor retrospektiv sich selbst als Schüler sagen lässt, erschien trotz der zahlreichen positiven Bezüge auf das Imperium und seine höchsten Vertreter nicht als Widerspruch, weil es sich um eine Vorblende gehandelt hat, mit der Kerenskij bereits auf einen veränderten, russischen Staat angespielt hat, für den er sich in späteren Jahren politisch eingesetzt hat.108 Grundsätzlich ist die Orientierung, Identität und Ansehen stiftende Funktion der Selbstverortung in Gemeinschaften auch über das Jahr 1917 hinaus erhalten geblieben. Von Čarykov über Drejer bis Kerenskij ist dennoch ein Wandel in den Bezugnahmen auf Gruppen, das Imperium im Ganzen oder dessen Herrscher im Einzelnen zu beobachten gewesen. Čarykov operierte mit Bezugnahmen in der ersten Person Plural auf die Kampfgemeinschaft in Merv und mit dem positiv gestalteten Portrait des den Feldzug leitenden Generals Komarov sowie der Abbildung einer Nahbeziehung zu diesem noch mehrheitlich mit den Erzählweisen der Autoren aus der Zarenzeit. Deutlich sichtbar wurde das im Vergleich mit den Texten von Kolokol‘cov, Guljaev, Vereščagin oder Kamberg. Bei Drejer und Kerenskij verhielt es sich dagegen anders. Entsprechend den sich aus ihrem Alter ergebenden, veränderten Erfahrungshorizonten vor Ort, hat der Erste sich seinen militärischen Bildungs- und Diensteinrichtungen und der Zweite seiner Familie und seinen Bildungseinrichtungen zugeordnet. Wenngleich sich Drejer auch in Nahbeziehungen zu führenden Offizieren abgebildet hat, haben seine Personenbeschreibungen, anders als bei Čarykov, deutlich mehr kritische Elemente enthalten. Versuchte Čarykov also noch deutlich an den Erfolgen der Gruppe in Merv und dem Prestige ranghoher Militärführer teilzuhaben, traf das auf Drejer nur noch eingeschränkt zu. Dieser zeichnete sich auch durch die Abgrenzung gegenüber Vorgesetzten selbst aus. Es scheint möglich, dass Kerenskij, der mit seinen Erinnerungen an seine Schulzeit keine vergleichbare Selbstdarstellung aufbauen konnte, seiner nachfolgenden Biografie mit der positiven Abbildung seines familiären Umfeldes sowie seines Vaters als Pädagoge und Beamter einen positiv besetzten Ausgangspunkt geben wollte.

107 Ebd., S. 5. 108 Vgl. ebd., S. 21–23, 31–32, 35.

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8.6 Schlussfolgerungen Rückblickend hat Čarykov in allen Punkten die vor 1917 in dem autobiografischen Diskurs üblichen Figuren und Erzählweisen verwendet. Das betraf die Begründungsweisen der russischen Expansion, die räumliche Einordnung Turkestans sowie der Darstellung seiner Natur. Ebenso stimmte dies für die Abbildung der indigenen Bevölkerungen, ihrer Gemeinwesen und Lebensräume. Auch hinsichtlich des militärischen Kampfes, der Selbstverortung in einzelnen Gruppen und der Bezugnahme auf das Imperium setzte dieser Autor die vor dem Revolutionsjahr 1917 üblichen Erzählmuster weiter ein. In den anderen drei Fällen stellt sich das Gesamtbild weniger eindeutig dar, weißt aber auch starke Kontinuitäten auf. Stepun stellte das Generalgouvernement nicht nur als randständig dar, sondern versuchte sein Ansehen zu steigern, indem er auch behauptet hat, dort der einzige Moskauer Lektor gewesen zu sein. Seine Beschreibungen der Einheimischen Kokands wiesen, wenngleich weniger stark, auf deren Andersartigkeit und Distanz gegenüber der russischen Bevölkerung hin. Drejer griff die die Expansion rechtfertigende Fortschritts-Argumentation auf und inszenierte sich in einer weit abgelegenen Region, wenngleich weniger direkt. Hat es sich bei seinen Gruppenbezügen nicht mehr um Kampf- oder ErforscherGemeinschaften gehandelt, so verband er sich dennoch mit seinen Turkestaner Dienstposten und bildete sich in Nahbeziehungen zu hohen Offizieren ab. Gleichwohl übte Drejer hierbei deutlicher als die Autoren zuvor Kritik an den Personen und Umständen in seinem Umfeld. Kerenskij griff auf vor 1917 übliche Rechtfertigungen der Expansion zurück und stellte die Natur Turkestans negativ dar, wenngleich er diese nicht für seine Selbstauszeichnung eingesetzt hat. Demnach scheinen trotz der unterschiedlichen Lebensabschnitte, die die vier Autoren in Turkestan verbracht haben, und den verschiedenen Publikationszeitpunkten in der Zwischen- beziehungsweise Nachkriegszeit, von den frühen 1930er Jahren bis in die mittleren 1960er Jahre bemerkenswerte Kontinuitäten hinsichtlich der klassischen Erzähl- und Argumentationsweisen über das eigene Leben in Turkestan aus den Jahrzehnten vor der Russischen Revolution bestanden zu haben. Der fortgesetzte Einsatz einiger der genannten Aspekte lässt sich teilweise dadurch erklären, dass diese Erzähl- und Argumentationsweisen auch über das Ende des Imperiums hinaus in den autobiografischen Erzählungen eine Funktion besessen haben. Die Abbildung der eigenen Person an einem weit entfernten Ort in Verbindung mit einer bedrohlich wirkenden Natur konnte der Selbstdarstellung auch nach 1917 einen exotischen oder heroischen Zug geben. Ebenso ließ sich diese Darstellung auch weiterhin in Kombination mit der Abbildung als Erster oder Einziger an bestimmten Orten für die Steigerung des eigenen Prestiges einsetzen.

Schlussfolgerungen

Die Darstellung des eigenen Kampfes mit der Natur, oder jenes der jeweiligen Bezugsgruppe, scheint dagegen seine Funktion verloren zu haben. Ähnlich verhielt es sich mit als fremdartig dargestellten indigenen Bevölkerungen und ihren Lebensweisen sowie dem eigenen Kontakt zu diesen. Deren Verwendung verschaffte den Selbsterzählungen auch weiter einen exotischen Charakter. Zudem hat sie beispielsweise das Potential besessen, den sich erfolgreich mit den distanziert abgebildeten Umständen arrangierenden Autor als souverän zu zeigen. Die vor 1917 oft mit den indigenen Bevölkerungen, ihren Lebensweisen und Gemeinschaften in den Erzählungen verbundenen, negativen Abwertungen und die sich daraus ergebende Selbstdarstellung als Angehöriger einer weiterentwickelten und daher überlegenen Zivilisation scheinen dagegen zunehmend an Bedeutung verloren zu haben. Das Wegfallen bestimmter, für die Erzählungen vor 1917 charakteristischer Inhalte und ihrer angenommenen Funktionen ist möglicherweise eine Folge der in der Emigration rapide sinkenden Zahl von älteren Diskursteilnehmern gewesen, die Raeff festgestellt hat. So ist beispielsweise die Figur der Natur als Gegner verschwunden, weil sowohl die sich mit dieser Figur gegen vermeintlich „leichte Siege“ wehrenden Militärs als auch ihre Kritiker verstorben sind. Eine andere Erklärung könnte in einer zunehmenden Verklärung der Eroberungsereignisse gelegen haben. Analog zu der von Morrison bereits für die Zeit um 1900 festgestellten Vereinheitlichung des Heldenbildes der führenden Generäle der Expansion, durch das politische oder persönliche Konfliktlinien zwischen diesen verdeckt worden sind, könnte eine allgemeine Verklärung der Eroberung zu einer heldenhaften Leistung in der Emigration den weiteren Gebrauch von Figuren mit einer Rechtfertigungsfunktion zunehmend überflüssig gemacht haben.109 Wie aber lässt sich die nach 1917 fortgesetzte Verwendung imperialer Begründungsweisen der russländischen Expansion oder die positive Bezugnahme auf die autokratischen Herrscher und Führungseliten des Imperiums erklären? Durch die definitive Auflösung des Imperiums sind die einstiegen Loyalitätsbeziehungen, die sich in diesen Erzählweisen ausgedrückt haben, erloschen. Raeff hat dennoch für die erwachsenen Emigranten festgestellt, dass unter diesen zwar alle politischen Strömungen vertreten gewesen seien, aber viele von ihnen monarchistische und konservative politische Vorstellungen und Werte geteilt und bewahrt hätten. Vom kommenden Zusammenbruch der bolschewistischen Sowjetunion noch lange überzeugt, hätten sie sich nicht umfassend in den Gastländern integriert, sondern für die Rückkehr bereitgehalten. Vor allem in diesen älteren Generationen seien, trotz aller Gegensätze, die gemeinsame Vergangenheit vor 1917 und das gemeinsam erfahrene Schicksal der Emigration Kernbestandteile einer geteilten Identität gewesen.

109 Vgl. Raeff: Russia Abroad, S. 8–9, 24–25, Morrison: Turkestan Generals, S. 5–6.

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Verschwundenes Land: Turkestan in Erinnerungen nach 1917

Ein Wandel, so Raeff, sei erst durch die jüngeren, in der Emigration aufgewachsenen oder geborenen Generationen entstanden. Ihre zunehmende Integration durch die häufig entstandene Bilingualität, die Arbeitserfahrungen in den Gastländern oder die Teilnahme am Zweiten Weltkrieg auf der Seite des jeweiligen Gastlandes sowie die Einsicht in die politische Stabilität der Sowjetunion hätten einen Wandel in den Anschauungen in Gang gesetzt. Es ist anzunehmen, dass sich die skizzierten Umstände vor allem auf die Schriften Čarykovs und mit unterschiedlichen Einschränkungen auch auf jene von Stepun, Drejer und Kerenskij ausgewirkt haben. Čarykov hat mit seinen in den alten Erzählweisen verhafteten Erinnerungen sowohl an den kollektiven Deutungsangeboten einer konservativen und der Monarchie treuen Teilgruppe der russischen Emigranten partizipiert, als auch diese durch seinen eigenen Beitrag stabilisiert. Vor allem für ihn, aber auch für Drejer, hätte eine zu radikale Abwendung von der Monarchie aufgrund ihrer Arbeitsjahre im Dienst des Zaren einen starken Rechtfertigungsdruck bedeutet.110 Drejer und Kerenskij haben ihre Memoiren zumindest gegen Ende der Hochphase der Dekolonialisation veröffentlicht und wahrscheinlich auch bereits während dieser verfasst. Möglicherweise lassen sich die nur noch teilweise aufgefundenen Erzähl- und Argumentationsweisen der vorrevolutionären Zeit, neben den angesprochenen, generationsbedingten Veränderungen in der Diaspora, auch auf diese gewandelten Rahmenbedingungen zurückführen. Laut Shipway hätten die Kolonialmächte auf die weltweit entstehenden antikolonialistischen Bestrebungen gegen Ende des Ersten Weltkrieges nicht nur mit einer Anpassung ihrer Politik reagiert, sondern auch ihre Sprache zu verändern versucht. Hier können die Erinnerungen Stepuns eingeordnet werden, deren hier behandelter Abschnitt im Zweiten Weltkrieg verfasst worden ist, und der mit dem distanzierten Schreiben über die Bevölkerung Kokands und ihren Lebensraum noch deutliche Züge der alten Art und Weise zu formulieren getragen hat, sich gleichzeitig aber bereits deutlich von den ungebrochenen Erzählweisen Čarykov entfernt hatte.111 Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges setzte dann die krisenhafte, oft gewaltsame Phase der Auflösung der alten, imperialen Kolonialgebiete ein. Die hier parallel verlaufende, kritische Auseinandersetzung mit dem Kolonialismus insgesamt, so wird hier argumentiert, könnte den Rahmen geboten haben, in dem Drejer und Kerenskij auf die klassischen Erzählweisen über die indigenen Bevölkerungen verzichtet haben. Schließlich sei für die beiden zuletzt genannten Autoren noch auf den Umstand hingewiesen, dass sie als Schüler und junge Erwachsene in dem Generalgouvernement nicht mehr an dessen Eroberung beteiligt gewesen sind und somit unter den veränderten Bedingungen im russischen Stadtteil Taschkents oder

110 Vgl. Raeff: Russia Abroad, S. 4–9, 42–46. 111 Vgl. Shipway: Decolonization, S. 1, 3, 5, 11.

Schlussfolgerungen

in den bereits jahrzehntealten, russischen Garnisonen andere Erfahrungen mit der Natur, der indigenen Bevölkerung oder der russischen Gesellschaft gemacht haben als Čarykov.

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9. Schlussbetrachtungen

Nur in wenigen Fällen ließen sich die Werdegänge der russischen Akteure so deutlich aus ihren untersuchten autobiografischen Schriften erschließen wie in der eingangs aus Lev Tolstojs „Anna Karenina“ entnommenen Beschreibung des Offiziers Serpuchovskoj.1 Dennoch verdeutlichen verschiedene Biografien aus dem untersuchten Sample bemerkenswerte Karrieren im Verlauf der russländischen Eroberung, Erkundung und Verwaltung Turkestans ab Mitte der 1860er Jahre.2 Dieser Feststellung entspricht die Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte, als welche die Soldaten, Wissenschaftler und Beamten die Expansion, deren Folgen und ihren eigenen Anteil daran bis in die Zeit des Ersten Weltkrieges erzählten. In ihren publizierten Memoiren, Tagebuchauszügen, Reise-, Teilnahme- oder Forschungsberichten bildeten sie sich dabei als standhafte, tapfere, zivilisierte, opferbereite, leistungsstarke und heldenhafte Eroberer, Entdecker und Verwalter ab. Damit waren sie Teil der öffentlichen Aneignung dieser imperialen Randregion mittels der Autobiografik. Diesen Prozess hat die vorliegende Arbeit exemplarisch untersucht. Mit ihren Texten trugen die Autoren zum autobiografischen Diskurs innerhalb des Turkestan-Diskurses bei. Den Erscheinungsorten ihrer Beiträge nach zu urteilen, war dieser Diskurs überwiegend in St. Petersburg und Moskau lokalisiert. In diesen Zentren des russländischen Verlagswesens war er weder an einzelne Formate, noch an bestimmte Institutionen, Unternehmen oder politische Strömungen geknüpft. Kurze Artikel beziehungsweise Artikelserien umfassten selten eine ganze Biografie, erlangten aber in den vielgestaltigen Periodika eine teils reichsweite Verbreitung. Beiträge in Sammelbänden besaßen einen ähnlichen Zuschnitt, erlangten aber keine vergleichbare Auflage. Zahlreiche Artikel aus den Journalen wurden auch in Sonderdrucken reproduziert. Ihre Existenz erklärt sich vermutlich mit dem Ansehen, das ihre Verteilung den Autoren in ihren persönlichen Umfeldern ermöglichte.3 Die Verbreitung der inhaltlich umfangreichen Memoiren in monografischer Form hing von Größe und Renommee des jeweiligen Verlages ab. Das Überwiegen kurzer Erinnerungstexte bedingt einen fragmentarischen Charakter der russischsprachigen Autobiografik zu Turkestan, die auf einzelne Lebensabschnitte in Mittelasien fokussiert ist.

1 Eine aufschlussreiche Ausnahme ist der Text von Kolokol‘cov, der in Kapitel 7.1 behandelt wird. Vgl. Kolokol’cov: Vospominanija. 2 Siehe hierzu die Biogramme in Anhang. 3 Die Interpretation wurde durch Clyman und Vowles angeregt. Vgl. Clyman/Vowles: Introduction, S. 10–14.

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Schlussbetrachtungen

Neben den Autoren, die zumeist aus den gebildeten Mittel- und Oberschichten stammten, hatten vor allem Redaktionen und das persönliche Umfeld Einfluss auf Form, Inhalt und Sprache der Diskursbeiträge. Dies geschah unter anderem durch die Textauswahl und Textredaktion, die Ko-Autorenschaft oder das Autorisierungsrecht von Publikationen. Zudem sorgte das ab Ende der 1860er Jahre zunehmend strengere Zensurregime dafür, dass die publizierten Inhalte insgesamt nicht die bestehenden Verhältnisse in Staat und Gesellschaft angriffen. Inhaltlich war der Diskurs im Untersuchungszeitraum durch fünf Themenkomplexe sowie einige spezifische Erzählweisen und Figuren gekennzeichnet. Die Autoren beschrieben und deuteten damit zum einen ihr Leben und Wirken in Turkestan und trugen zum anderen zu der übergeordneten Fortschritts- und Erfolgserzählung des Reiches in Mittelasien bei. Zu nennen sind hier die Auseinandersetzung mit dem Naturraum und den indigenen Bevölkerungen Mittelasiens, die Beschäftigung mit dem militärischen Kampf, die Selbstverortung in Gemeinschaften und die Rechtfertigung der Expansion. Das südliche Mittelasien wurde, wie in Kapitel 4 dargestellt, allgemein als weitabgelegene Randregion beschrieben. Verschiedene Autoren sahen sich bis in die Jahre des Ersten Weltkrieges in ihr von der kultivierten beziehungsweise zivilisierten Welt abgeschnitten und stellten die Grenzregion auch als bedrohlich oder gefährlich dar. Entgegen der Annahme, dass Turkestan im Zeitverlauf in den Texten als zunehmend eng an das Staatsgebiet angebunden, erkundet und ungefährlich erschienen sein müsse, zeigen die Befunde ein disparates Bild. So existieren einerseits Darstellungen, die Turkestan bereits zur Zeit der Gründung des Generalgouvernements im Jahr 1867 als Bestandteil des Reiches sahen. Andererseits finden sich Reiseberichte aus späteren Jahrzehnten, die noch unbekannte Gebiete auf den Landkarten der Region konstatierten. Vor allem der letzte Punkt steht in einem Spannungsverhältnis zu den gleichzeitigen Berichten über die erfolgreiche Erschließung der Region in Folge ihrer Eroberung. Hieraus lässt sich zum einen ersehen, dass das Zusammenrücken des Reiches auf den mentalen Karten russischer Akteure im Fall Turkestans kein linearer Prozess gewesen ist.4 Zum anderen lässt sich das konstatierte Spannungsverhältnis durch die Funktion dieser Abbildungsweise in den Texten verstehen. Die Erzählung über den eigenen Dienst als Militär oder Wissenschaftler im vermeintlich abgelegenen, unerforschten und gefährlichen Turkestan verschaffte den Autoren auch in der Spätphase des Imperiums mehr Prestige, verlieh ihrer jeweiligen Arbeit vor Ort mehr Bedeutung und ermöglichte weiterhin die Selbstauszeichnung als Entdecker eines bestimmten Ortes.

4 Vgl. Schenk: Mobilität, S. 380–381, 384–385.

Schlussbetrachtungen

Die sowohl von militärischen, als auch zivilen Akteuren im gesamten Untersuchungszeitraum negativ, bedrohlich oder feindlich dargestellte Natur Mittelasiens korreliert häufig mit der Beschreibung von deren postulierter Überwindung. Diese Figur der Natur als Gegner erfüllte mehrere kompensatorische und ergänzende Funktionen in der untersuchten Autobiografik. Allgemein bot die Figur den Militärs die Möglichkeit, auf den Verlust an Handlungsmöglichkeiten im Kampfgeschehen im Verlauf des 19. Jahrhunderts zu reagieren.5 Militärs, die an gefechtsarmen oder gescheiterten Kampfeinsätzen beteiligt waren, konnten sich durch die erzählerische Überwindung der Natur dennoch als militärische Helden darstellen oder das mittels ihres Kampfeinsatzes postulierte Heldentum ergänzen. Zudem konnten die Autoren durch ihren siegreichen Kampf über die Natur dem zeitgenössischen Vorwurf der in Turkestan militärisch leicht erworbenen Siege begegnen. Den zivilen Akteuren gab die Figur die Möglichkeit, ihre Selbstdarstellung anschlussfähig an die quantitativ größere Gruppe der militärischen Memoiristik zu gestalten, da sich abstrakte, wissenschaftliche Erfolge nicht immer einer breiten Leserschaft als prestigewürdige Leistungen vermitteln ließen. Zudem konnte die Natur als Gegner das Scheitern eines Forschungsvorhabens verständlich machen oder dessen Abbruch durch die Betonung der drohenden Lebensgefahren als ehrenhaft erscheinen lassen. Die Abbildung der Einwohner Mittelasiens war, wie in Kapitel 5 herausgearbeitet wurde, im gesamten Untersuchungszeitraum durch fünf Merkmale gekennzeichnet. Die Autoren verwendeten eine die Indigenen summierende Darstellung. Wo eine individuelle Abbildung verwendet wurde, betraf sie überwiegend herausgehobene Persönlichkeiten. Die Einwohner, ihre Gemeinschaften, Lebensräume und Herrschaftsordnungen wurden allgemein negativ und abwertend charakterisiert. Insgesamt dienten die dazu verwendeten Figuren, Sprachbilder und Erzählweisen der diskursiven Konstruktion, Aktualisierung und Präzisierung von Fremd- und Feindbildern.6 Die Autoren fassten die Einwohner Mittelasiens mit gängigen Ethnonymen zusammen oder summierten sie mit negativen Begriffen wie „Haufen“, „Horde“ oder „Masse“. Damit leisteten sie eine notwendige Komplexitätsreduktion der oftmals vielschichtigen ethnischen, religiösen und politischen Verhältnisse in den mittelasiatischen Gesellschaften. In der umfangreichen militärischen Memoiristik kam den indigenen Gruppen die Rolle der Feinde zu, deren Überzahl häufig behauptet worden ist. Damit wurden errungene Siege aufgewertet oder Niederlagen gerechtfertigt. Alternativ bildeten indigene Gruppen die passive schaulustige Kulisse für russische Protagonisten, die sich als aktiv handelnd darstellten. Parallel waren einzeln abgebildete Indigene

5 Vgl. Wagner: Einleitung, S. 10. 6 Vgl. Moser/Wendt: Das Barbarische, S. 13–14.

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Schlussbetrachtungen

häufig hochgestellte gesellschaftliche, militärische oder politische Persönlichkeiten, denen dennoch selten eine eigene Sprecherrolle in den russischen Erzählungen zukam. Mit positiv markierten Individuen demonstrierten die Autoren einerseits den mit der Eroberung eingeleiteten, vermeintlichen Fortschritt und die begonnene Verbreitung der Zivilisation. Andererseits dienten den russischen Akteuren vor allem hochgestellte Indigene zur Abbildung prestigeträchtiger Nahbeziehungen. Weitaus öfter sind Gruppen wie auch einzelne Personen mit zahlreichen negativen und abwertenden Begriffen, Handlungen und Eigenschaften beschrieben worden. Das prominenteste Beispiel hierbei ist das Begriffsfeld des „Barbarischen“ gewesen, das sowohl wortwörtlich als auch durch Umschreibungen zur Anwendung kam. Zu den gebrauchten Charakteristika dieses bedeutungsreichen Konzeptes zählten die Wildheit, die Räuberei von Menschen und Gütern, die Hinterlist und Feigheit sowie der militärische und religiöse Fanatismus. Diese Zuschreibungen betrafen ethnisch diverse Personen und Gruppen sowohl in militärischen als auch zivilen Zusammenhängen. Negativ abgebildete Indigene wurden zur allgemeinen Begründung der Eroberung eingesetzt. Zudem dienten sie den Militärs als Rechtfertigung ihres oft gewaltvollen Handelns. Zudem ist den Indigenen der Vorwurf einer umfassenden Rückständigkeit beziehungsweise Unterentwicklung gemacht worden. Als vermeintliche Belege führten zahlreiche Autoren ein traditionsverhaftetes Verhalten oder veraltetes Wissen und rückständige Technik an. Darüber hinaus wurde zivilisatorische Rückständigkeit mit Verweisen auf Armut, Nacktheit, fehlende Esskultur oder mangelnde Hygiene beschrieben. In ganz ähnlicher Weise sind Städte als chaotisch und dreckig, Straßen als eng und baufällig oder die Wohnarchitektur als hässlich charakterisiert worden. Die indigenen Machthaber wurden als grausam oder charakterschwach, die Herrschaftsordnungen als ineffektiv oder wenig entwickelt und die Gemeinwesen als von Angst oder Gewalt geprägt, abgebildet. Die Autoren nutzten diese Beschreibungen zur umfassenden Abgrenzung. Sie ermöglichten ihnen die Selbstbeschreibung als Mitglieder einer auf den angesprochenen Feldern weiterentwickelten Gruppe. Die vorgestellten vermeintlich indigenen Perspektiven (Kapitel 5.5) wiederholten zahlreiche der präsentierten Zuschreibungen für die indigenen Bevölkerungen. Sie dienten als vermeintlich authentische Bestätigung der von den russischen Autoren eingenommenen Positionen. Zahlreiche Autoren berichteten, wie in Kapitel 6 thematisiert wurde, über ihre Teilnahme an einzelnen Schlachten oder ganzen Kampagnen während der rund zwei Jahrzehnte andauernden russischen Eroberung Mittelasiens. Hierfür wählte die Mehrzahl die erste Person Plural und wechselte nur akzentuierend in die erste Person Singular, um sich selbst im Kampfgeschehen hervorzuheben. Der Plural gab den Autoren die Möglichkeit, Leistungen ihrer Kampfverbände auch für sich in Anspruch zu nehmen. Zudem erhöhte er die Glaubwürdigkeit der Erzählung, weil er das beglaubigende Potential der Gruppe nutzte.

Schlussbetrachtungen

Die Autoren betonten weiter ihr aktives Handeln im Einsatz. Ob als Offizier, der seine Einheit führt, oder als Mitglied der Sturmkolonnen an den gegnerischen Festungsmauern, immer wurden individuell oder kollektiv im Gefecht erbrachte Leistungen und erreichte Erfolge hervorgehoben. Hierzu zählten das Postulat geringer Verluste bei einem Einsatz, das Zurückdrängen des Gegners oder das Entgehen einer Gefangennahme. Teil dieser Ausführungen war weiter die Behauptung überstandener Lebensgefahren. In einigen Fällen wurden die geschilderten Ereignisse durch Bezüge und Vergleiche auf historische Schlachten und Feldherren der russischen und internationalen Militärgeschichte eingeordnet. Mit diesen vier Erzählmitteln wurde versucht, die Bedeutung der berichteten Ereignisse und das persönliche Prestige zu steigern. Am Ende vieler Kriegserinnerungen folgte ein Fazit. Durch die Angabe der Unterzahl der eigenen Truppen, einer geringen eigenen Opferzahl und das Aufzählen erbeuteter Trophäen wurden die erreichten Erfolge quantifiziert. Teil dieser Zusammenfassungen ist häufig die Erwähnung von erhaltenem Lob, Orden oder finanziellen Prämien durch die Einsatzleitung oder höhere Stellen gewesen. Öfter wurden hierzu Abschlussberichte oder Korrespondenzen der führenden Generäle zitiert. Auf diese Weise schrieb eine Mehrzahl der Autoren militärische Erfolgsgeschichten, in denen sie sich und ihre Kameraden direkt als Helden bezeichneten. Indem sie auf die dargestellte Weise über die einzeln oder gemeinsam gezeigte Standhaftigkeit, Tapferkeit oder den Mut berichteten, definierten sie beständig, was soldatisches Heldentum ausmacht und wie davon zu erzählen ist. Der autobiografische Diskurs über Turkestan trug zur Verbreitung dieser Vorstellungen bei.7 Im Untersuchungszeitraum war die direkte und indirekte Darstellung von Gewalt Teil dieser autobiografischen Erzählungen. Das Spektrum reichte von zurückhaltenden Umschreibungen bis zu drastischen Abbildungen blutiger Nahkämpfe. Wo die Gewaltanwendung sich gegen die Indigenen richtete, illustrierte sie die Wirksamkeit eines vermeintlich bis zum Äußersten geführten Kampfes. In den Erzählungen darüber konnten die Autoren ihr soldatisches Heldentum anschaulich behaupten. Die Beschreibung im Plural bot neben der Inanspruchnahme kollektiver Leistungen auch eine gewisse Anonymität hinsichtlich möglicher Kritik an der beschriebenen Gewaltausübung. Die vor allem gegen Ende des Jahrhunderts vermehrt beschriebenen Gefechtseinwirkungen auf russische Soldaten unterstrichen die Lebensgefahren und ließen nun das bloße Überleben heldenhaft erscheinen. Diese Erzählweise diente zudem für die Entkräftung des bereits angesprochenen Vorwurfs, in Turkestan seien durch die

7 Phillips hat auf die Verbreitung solcher Vorstellungen im russischen Offizierskorps hingewiesen. Vgl. Phillips: Dis/ability, S. 336–337.

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Schlussbetrachtungen

militärtechnische Überlegenheit der russischen Armeen „leichte Siege“ errungen worden. Wenngleich in den Schriften nur selten Kritik an den Feldzügen angesprochen wurde, so geht deren Vorhandensein dennoch aus einer Reihe von eingearbeiteten Rechtfertigungen hervor. Auf den Vorwurf einer unehrenhaften Kriegsführung reagierend, spielten die Autoren die Zahl ziviler Opfer herunter, marginalisierten exzessive Gewaltanwendungen und erhoben Plünderungen zur Notwendigkeit. Auch wurde berichtet, wie die Kontrahenten vor dem Angriff gewarnt worden wären und wie vermeintlich human im Nachhinein mit den Besiegten und der Zivilbevölkerung umgegangen worden sei. Insgesamt zielte diese Argumentation auf die Bekräftigung und Verteidigung ihres militärischen Heldentums. Darüber hinaus erscheint sie bemerkenswert, weil sie Positionen des sich in Europa zeitgenössisch entwickelnden, internationalen Völkerrechts reflektierte, die hier allerdings auf Konstellationen abseits offiziell erklärter Kriege zwischen vermeintlich „zivilisierten Staaten“ Anwendung fanden.8 Alle Autoren konstruierten, wie in Kapitel 7 gezeigt wurde, in ihren Schriften im gesamten Untersuchungszeitraum Gemeinschaften, in die sie sich einschrieben. Die Militärs bildeten Kampfgemeinschaften. Üblich waren Bezüge auf die Truppengattungen, unterschiedlich große militärische Einheiten oder Ranggruppen wie zum Beispiel die Offiziere. Ab den 1880er Jahren war eine Selbstbeschreibung als „Turkestaner“ oder „Kaukasier“ zu beobachten. Beide Begriffe verweisen auf die Herausbildung regionaler Identitäten.9 In allen Fällen bildete die gemeinsame Erfahrung von Kampf, Entbehrung und Dienst in Mittelasien das gruppenbildende Element in den Erzählungen. Im Verlauf der Texte wurde der Gruppenbezug durch die Verwendung der ersten Person Plural und Begriffe wie Kameraden oder Brüder aufrechterhalten. Den Gruppen wurden errungene Erfolge, überstandene Entbehrungen und die bereits angesprochenen Tugenden zugeschrieben. Kurze Personenbeschreibungen in Form von Nekrologen für Gefallene und umfangreiche Portraits, zumeist von hohen Führungsoffizieren, dienten einerseits dazu, die Zuschreibungen beispielhaft zu verdeutlichen. Andererseits ließen die oft positiven Karriereverläufe Turkestan als einen Ort erscheinen, der berufliche Perspektiven ermöglichte.10 Für die hohe Generalität wurden umfangreiche Heldenbilder entworfen, die mit hohem Prestige ausgestattet waren und den Gruppen Orientierung boten. Einige Autoren konstruierten Nahbeziehungen zu den Ge-

8 Vgl. Holquist: Law as principle, S. 1–5, 7, 22–25. 9 Vgl. Sahadeo: Memories, S. 147, Sdvižkov: Autobiographik, S. 119–120. 10 Diese Einschätzung bestätigt sich auch in der Korrespondenz des russischen Generalkonsuls und Amateurforschers Nikolaj Fedorovič Petrovskij. Vgl. Golbeck: (Selbst)beschreibungen.

Schlussbetrachtungen

nerälen, um stärker an deren Ansehen zu partizipieren. Bis gegen 1900 fand eine Vereinheitlichung dieser Heldenbilder statt.11 Ihre Konstruktion und Verbreitung erfolgte auch über den untersuchten autobiografischen Diskurs. Mit dem bloßen Aufzählen weiterer Gruppenmitglieder wurde für diese Zeugnis abgelegt und der Offizierskreis um die Heerführer sichtbar gemacht. Die Nennung der gefallenen Kameraden dokumentierte den Blutzoll der Gemeinschaft und sollte so ihr Ansehen heben. Akteure aus den Bereichen der Erforschung und Erschließung Turkestans ordneten sich Erforscher-Gemeinschaften zu. Dies geschah durch die Bezugnahme auf vorausgegangene Expeditionen, Wissenschaftler oder Forschungsinstitutionen in ihren Zielregionen sowie durch die inhaltliche Auseinandersetzung mit deren Meinungen zu bestimmten Forschungsfragen. Außerdem wurden die jeweiligen Reisegemeinschaften unterschiedlich komplex abgebildet und im Textverlauf auf diese auch in der ersten Person Plural Bezug genommen. In beiden Fällen stellte das wissenschaftliche Interesse an der Region und die Reise- und Arbeitserfahrung vor Ort die für die Gemeinschaft konstitutive Schnittmenge dar. Auch diese Autoren nahmen Leistungen der Gruppe für sich in Anspruch und partizipierten am Prestige einzelner Expeditionsteilnehmer oder ihrer Vorgänger. Während sich die Militärs vor allem gegen indigene Akteure abgrenzten, taten die Forscher und Entdecker dies auch gegenüber ihren eigenen Gemeinschaften. Ihrer Selbstdarstellung diente es, wenn sie glaubhaft vermitteln konnten, in der Zielregion weiter als ihre Kollegen vorgestoßen zu sein. Das Imperium wurde in den Erzählungen häufig nur indirekt als Gesamtkontext sichtbar, wenn die Autoren beispielsweise auf militärische Einheiten, wissenschaftliche oder administrative Institutionen Bezug nahmen.12 Ebenso indirekt wurde es angesprochen, wenn die Akteure konkrete militärische, politische oder administrative Maßnahmen in Mittelasien beschrieben. Die Autoren assoziierten sich hierbei mit einer als mächtig und durchsetzungsfähig dargestellten Entität und partizipierten hierdurch an deren Reputation. Auf deren höchsten Repräsentanten, den Zar, wurde nur selten und zumeist formelhaft Bezug genommen. Er erschien als Auftraggeber, Spender höchster Ehrungen, Wohltäter oder allmächtiger Herrscher. Vor allem die Abbildung der eigenen Trauer über dessen Tod diente den Autoren zur Darstellung ihrer Treue gegenüber der von ihm symbolisierten Ordnung. Die Leserschaft war mit diesen imperialen Zusammenhängen offensichtlich so vertraut, dass die Autoren diese nur auf die

11 Vgl. Morrison: Turkestan Generals, S. 5–6. 12 Der Gedanke ist durch Gerasimov, Glebov, Kusber, Mogilner und Semyonov angeregt. Vgl. Gerasimov/Glebov/Kusber/Mogilner/Semyonov: Challenges, S. 25.

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Schlussbetrachtungen

gezeigte Weise sprachlich aufrufen mussten. Eine umfangreichere Thematisierung war demnach nicht notwendig, um sich in ihnen glaubhaft zu verorten. Die Herstellung und Aufrechterhaltung der besagten Ordnung in Turkestan ist, wie in Kapitel 2.4 beschrieben wurde, allgemein mit drei Argumenten gerechtfertigt worden. Diese waren die Etablierung von Ruhe und Ordnung in den imperialen Grenzräumen, die Absicherung des Handels sowie die Eindämmung von Überfällen und Plünderungen. Dagegen fanden drei bereits in der Gorčakov-Depesche von 1864 formulierte Rechtfertigungen – die Sesshaftmachung der Nomaden, die Anwendung von unter den Großmächten üblichen Verfahrensweisen und die Darstellung der Expansion als einen vermeintlich unaufhaltsamen Prozess – selten bis gar keine Verwendung. Stattdessen argumentierten die Autoren mit dem russischen Einsatz für die Humanität zugunsten der Expansion. Hierfür beschrieben sie die medizinische Versorgung der Bevölkerung und ihre materielle Wohltätigkeit gegenüber dieser oder verwiesen auf die Bekämpfung der Sklaverei, die Schließung berüchtigter Gefängnisse oder die Abschaffung grausamer Hinrichtungspraktiken. Zudem führten sie die mit der russischen Herrschaft einhergehende Regionalentwicklung und den ökonomischen Fortschritt als Begründung an. Als Beispiele dienten ihnen der Ausbau von Straßen, Eisenbahnstrecken oder Handelswege, die Gründung urbaner Orte oder der Ausbau verschiedener Industriezweige. Seltener wurden in ihren Erzählungen durch die Expansion die Ehre, Würde oder das Prestige des Reiches verteidigt oder gestärkt. Mit allen Argumenten verliehen die Akteure ihrem eigenen Handeln vor Ort eine größere Bedeutung und gaben ihm Sinn. Gleichzeitig brachten die Autoren ihre persönliche Unterstützung für die Politik des Imperiums in Turkestan öffentlich zum Ausdruck, weil zahlreiche Begründungen Teil des breiten Spektrums legitimatorischer Strategien imperialer Herrschaft sind.13 Die von Aust und Schenk angenommene kohäsive Wirkung autobiografischer Diskurse auf das Russländische Imperium beruht im vorliegenden Fall auf der engen Verknüpfung der Selbstbeschreibungen und den verschiedenen Teilen der positiven Gesamterzählung.14 Über rund sechs Jahrzehnte hinweg verknüpften die Autoren in den untersuchten Dokumenten autobiografischer Praxis unterschiedlich große Teile ihrer eigenen Biografie eng mit dieser Erfolgs- und Fortschrittserzählung. Hierbei ermöglichte die Eroberung des Naturraumes Mittelasiens und die seiner indigenen Bewohner den militärischen und zivilen Akteuren die individuelle und kollektive Selbstdarstellung als Helden der Eroberung, Erschließung und

13 Vgl. Münkler/Hausteiner: Einleitung, S. 10–11. 14 Vgl. Aust/Schenk: Einleitung, S. 11–12.

Schlussbetrachtungen

Verwaltung Turkestans. Die Autoren schrieben sich und ihren Kameraden dabei positiv verstandene Tugenden zu. Der Entwurf dieser Heldenbilder wurde erst durch die Aktivitäten des Reiches in Turkestan möglich, dessen Führungskreise die Auftraggeber, Financiers oder Koordinatoren der angesprochenen Unternehmungen waren. Die kriegerische und friedliche Auseinandersetzung mit den indigenen Bevölkerungen ermöglichte den Autoren die persönliche Selbstdarstellung als militärisch, wissenschaftlich, kulturell oder zivilisatorisch überlegen. Diese Zuschreibungen waren erneut eng mit Personen, Institutionen oder Strukturen des Reiches verbunden. Als dessen Angehörige machten die Akteure sich diese zu eigen. Auf der Ebene ihres Wirkens und Lebens vor Ort assoziierten sich die Autoren in ihren Selbstbeschreibungen mit lokalen und regionalen Kampf- und Erforscher-Gemeinschaften. Die militärischen Einheiten oder wissenschaftlichen Institutionen und deren Mitglieder, auf die die Autoren Bezug nahmen, waren in letzter Konsequenz Teil des Reiches. Das Imperium und der Zar an seiner Spitze bildeten in den autobiografischen Erzählungen also beständig den Kontext der Selbstbeschreibungen. Diese enge Verzahnung von Selbstbeschreibung und imperialer Erfolgs- und Fortschrittserzählung wurde in den Begründungen der russländischen Expansion am deutlichsten. Die Autoren übernahmen Rechtfertigungen aus der imperialen Metropole, erweiterten und passten diese im Verlauf der Jahrzehnte an. Hierdurch entwickelten sie für sich, ihre Kameraden und Kollegen sinnstiftende und legitimierende Argumente für das eigene Handeln. Parallel erfuhr dadurch ein keineswegs unumstrittenes und oft riskantes politisches Projekt der Reichsführung durch die es tragenden Akteure vor Ort über Jahrzehnte hinweg öffentliche Unterstützung. Indem die Autoren ihre eigenen Selbstbeschreibungen gegen externe Kritik verteidigten, schützten sie zugleich die positive Gesamterzählung über das Imperium in Mittelasien. Das hierin zum Ausdruck kommende kohäsive Potential erfuhr durch die bereits genannten Charakteristika des Diskurses seine Entfaltung. Im südlichen Mittelasien betraten viele der untersuchten Akteure Neuland. Davon zeugt auch ihr öfter geäußerter Wunsch, der lesenden Öffentlichkeit mit ihrem Text Wissen darüber vermitteln zu wollen. Gleichwohl wiesen ihre Naturdarstellungen Ähnlichkeiten zu jenen in der russischen Literatur und Malerei um die Mitte des 19. Jahrhunderts auf. Die Abbildung indigener Individuen, Gruppen und deren verschiedener Gemeinwesen und Lebensräume korrespondierten ebenso auffällig mit jenen in der zeitgenössischen russischen Hoch- und Populärliteratur über den Kaukasus. Auch die Darstellungen ihres militärischen Kampfes zeigten Parallelen zu solchen von Akteuren aus dem Kaukasus, dem osmanischen oder persischen Raum. Schließlich griffen die Autoren auch auf vergleichbare Konzeptionen ihrer eigenen Gemeinschaften vor Ort zurück, wie sie aus Schriften über die Kaukasuskriege bekannt sind. Jedoch stellte bei genauer Betrachtung keiner der aufgezeigten Bezüge

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Schlussbetrachtungen

eine reine Kopie dar. Vielmehr verdeutlichte der Vergleich der hier erarbeiteten Erzählmuster, Figuren und Inhalte mit den benannten Vorbildern und Parallelen vor allem deren variantenreiche Ausgestaltung im mittelasiatischen Kontext. In diesem Sinne betraten die russischen Akteure in Turkestan auch neue Räume der Autobiografik, die sie in der hier präsentierten Art und Weise ausgestaltet haben. Die eingangs angesprochenen Akteure Duchovskaja und Petrovskij repräsentieren in der russischsprachigen Autobiografik zu Turkestan zwei entgegengesetzte Punkte eines Spektrums möglicher Selbstdarstellungen im Kontext der übergeordneten Fortschritts- und Erfolgserzählung des Imperiums und seiner Akteure vor Ort. Während Erstere sich dem imperialen Projekt distanziert gegenüber zeigte und Taschkent als persönliche Endstation beschrieb, bot die Expansion Letzterem Raum zur Selbstinszenierung als einem erfolgreich handelnden Akteur. Die in der vorliegenden Studie untersuchten Autoren gruppieren sich in dem autobiografischen Raum dazwischen. In ihren Selbstbeschreibungen tendieren sie jedoch deutlich zur Position Petrovskijs hin.15 Wie stabil die aufgezeigten Inhalte und Erzählmuster waren, lässt ihr Vorhandensein in Texten nach 1917 erkennen. Diese sind unter umfassend veränderten Bedingungen in den weltweiten Emigrationsgemeinden erschienen. Noch immer wurde die Expansion mit dem Ausbau von Infrastrukturen, der Suche des Imperiums nach festen Grenzen oder der Abschaffung der Sklaverei gerechtfertigt. Turkestan blieb weiterhin in den Texten ein abgelegener, exotischer oder halbasiatischer Grenzraum des Reiches, dessen Natur zumindest vereinzelt als bedrohlich und gegnerisch abgebildet wurde. Auch das summierende und herabwürdigende Erzählen über seine indigenen Bewohner, der bevorzugte Fokus auf deren hohe Repräsentanten und die negative Abbildung ihrer Lebensräume sind weiterhin in den Schriften vorhanden. Das gilt auch für das Postulieren eigenen Heldentums im militärischen Kampf, die Bezugnahme auf die eigene Kampfgemeinschaft oder vermeintliche Nahbeziehungen zu bekannten Führungsoffizieren. Der Fortbestand dieser Erzählweisen lässt sich auch weiterhin durch ihre Funktionen innerhalb der Erzählungen erklären. Das Postulat militärischen Heldentums, die Abbildung als Erster an einem exotischen Ort gewesen zu sein oder die Beschreibung der eigenen technischen oder zivilisatorischen Überlegenheit ermöglichten den Autoren weiterhin eine positive Selbstdarstellung. Regionale Gemeinschaften verloren nach 1917 nicht automatisch ihre orientierungs- und identitätsstiftende Funktion. In den konservativen und monarchistischen Kreisen der Diasporen hätte ein Abrücken von den alten Begründungsweisen der Eroberung vermutlich einen größeren Rechtfertigungsdruck bedeutet.

15 Vgl. Schenk: Raum und Herrschaft, S. 53–61, Golbeck: (Selbst)beschreibungen.

Schlussbetrachtungen

Dennoch veränderten sich die Erzählmuster mit zunehmendem Zeitabstand der Publikationen zu den historischen Ereignissen. Der Gebrauch der Figur der Natur als Gegner nahm ab. Autoren erwähnten zwar weiterhin die Andersartigkeit der indigenen Bevölkerungen. Die Bewohner Turkestans wurden aber nicht mehr pauschal diffamiert. Anstelle der Kampfgemeinschaften nahmen Autoren vermehrt Bezug auf Bildungseinrichtungen, die sie besucht haben. Für diese Veränderungen war einerseits vermutlich der demografische Wandel in der Diskursgemeinschaft verantwortlich. Das Versterben älterer Diskursteilnehmer führte zum Wegfallen bestimmter Inhalte. Andererseits scheint plausibel, dass bestimmte Inhalte als Reaktion der Autoren auf übergeordnete Veränderungsprozesse verschwanden, wie der einsetzenden Dekolonialisation und aufkommender Kritik an den alten Kolonialpolitiken. Die Bezugnahme auf andere Gemeinschaften vor Ort verweist schließlich auf veränderte Erfahrungswelten jüngerer Generationen, die das zarische Turkestan noch erlebten. Aus diesen Befunden ergeben sich einige weiterführende Fragen, die in der vorliegenden Arbeit nicht bearbeitet werden konnten. So verwundert die geringe Zahl publizierter Dokumente autobiografischer Praxis von Frauen beziehungsweise das Fehlen solcher Texte von Geistlichen, Kaufleuten oder Siedlern. Es wurde gezeigt, dass diese Gruppen in der Region vertreten waren, wenn auch nicht von Beginn der Eroberung an. Der Aufbau des Generalgouvernements, das Aufkommen kommerzieller Interessen an den Märkten Mittelasiens oder die Besiedlung durch russische Bauern brachten Vertreter dieser Gruppen nach Turkestan. Sind die Texte von Frauen oder Siedlern unveröffentlicht geblieben oder unter Pseudonymen erschienen?16 Kann das Fehlen von Schriften Geistlicher mit den lange nur eingeschränkten Aktivitäten der orthodoxen Kirche im Generalgouvernement erklärt werden?17 Die Suche nach Antworten erscheint lohnenswert, weil die Selbstbilder und Erzählweisen dieser Akteure dazu beitragen würden, die aufgezeigten Fortschrittsund Erfolgsgeschichten ihrer Zeitgenossen weiter einzuordnen. Des Weiteren hat das Beispiel Gejfel‘ders in Kapitel 4.2 Parallelen in der Darstellung und Instrumentalisierung der Natur des kaukasischen und des transkaspischen Raumes gezeigt. Hofmeister hat bereits am Beispiel der Vorstellungen russischer Eliten vom Umgang mit den indigenen Bevölkerungen auf eine Gleichsetzung von Kaukasus und Mittelasien hingewiesen. Eine komparative kulturgeschichtliche Untersuchung russischer Grenzräume könnte beleuchten, ob dies auch auf die Naturrezeption dieser und womöglich weiterer Grenzräume zutraf.18

16 Vgl. Hokanson: Travelers, S. 1. 17 Vgl. Morrison: Russian Rule, S. 56–57. 18 Vgl. Hofmeister: Zivilisierungsmission, S. 78–79.

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Schlussbetrachtungen

Darüber hinaus verdeutlichte die Untersuchung der Selbstdarstellung im militärischen Kampf in Kapitel 6 eine bemerkenswert häufige Verwendung der ersten Person Plural. Weil der militärische Kampf den Autoren die zentrale Möglichkeit zur individuellen Selbstauszeichnung gegeben hat, scheint vor allem die ausschließliche Inanspruchnahme von Kampferfolgen in der Pluralform erklärungswürdig. Weitere Untersuchungen militär-memoiristischer Diskurse im Russischen Reich könnten Aufschluss darüber geben, ob es sich hierbei um eine Schreibkonvention gehandelt hat, mit der die Autoren dem Vorwurf eines übermäßigen Eigenlobes oder Egozentrismus begegneten.19 In diesem Zusammenhang wäre auch zu betrachten, ob speziell Jubiläen militärischer Ereignisse die Zurückstellung der individuellen Leistung der Autoren hinter jene der Gruppe in der Autobiografik erfordert haben.20 Die spezifische Abbildung von Gewalt und ihr im vorliegenden Sample beobachteter Wandel in den Kapiteln 6.1 und 6.2 lohnen ebenfalls einer weiteren Untersuchung. Es entstand der Eindruck, dass die Gewalt ab den 1880er Jahren zunehmend direkter und drastischer in den publizierten Erinnerungen der Militärs abgebildet wurde. Zudem richtete sich die dargestellte Gewalteinwirkung deutlich öfter auch gegen russische Soldaten. Der erste Befund könnte dem Versuch geschuldet sein, aus der stark wachsenden Masse an Memoiren – nicht nur über die russische Expansion in Turkestan – herauszustechen. Der zweite Aspekt könnte in das Spektrum möglicher Reaktionen auf den angesprochenen Vorwurf „leichter Siege“ während der Eroberung gehören. Die notwendige Überprüfung beider Interpretationen würde zum Verständnis darüber beitragen, welchen Umgang die Militärs im Verlauf des 19. Jahrhunderts mit dem angesprochenen Verlust individueller Handlungsmöglichkeiten im Kriegseinsatz entwickelten.21

19 Clyman und Vowles gaben Anlass zu dieser Vermutung. Vgl. Clyman/Vowles: Introduction, S. 14. 20 Vgl. Tsimbaev: Kriegserfahrung. 21 Vgl. Wagner: Einleitung, S. 10.

Anhang

Biogramme Die nachfolgende Aufstellung enthält biografische Informationen zu den 41 Autoren aus dem Quellensample. Die Informationen sind überwiegend dem World Biographical Information System (WBIS), der Bol‘šaja Russkaja Biografičeskaja Ėnciklopedija und der Bibliografie von Petr Zajončkovskij entnommen. Die Einträge in den beiden zuerst genannten Datenbanken enthalten weiterführende Quellenverweise.1 Alichanov-Avarskij, Maksud (1846–1907): General-Leutnant, stammte aus Chunzach im Dagestanischen Oblast. In St. Petersburg ausgebildet. Nach Einsätzen im Kaukasus, Dienstposten in Turkestan. Nahm 1873 am Feldzug gegen Chiva teil. War an der Einnahme Mervs und Kuškas in den frühen 1880er Jahren beteiligt und Kommandant von Merv. Ab 1905 zeitweise Gouverneur von Tiflis und ab 1906 ebenso temporär Generalgouverneur des Generalgouvernements Kutais. Durch einen Bombenanschlag in Aleksandropol‘ getötet.2 Arnol‘di, Michail Pavlovič (1838-?): Kommandeur einer Hundertschaft, Regiment Labinsk, Kosakenstreitkräfte.3 Bogdanov, Modest Nikolaevič (1841–1888): Zoologe, Professor an der Universität St. Petersburg. Entstammte einer Gutsbesitzerfamilie aus dem Gouvernement Simbirsk. Abschlüsse 1864 an der physikalisch-mathematischen Fakultät der Universität Kasan und 1871 an der Universität St. Petersburg. Arbeitete ab 1872 im Zoologischen Museum der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften und ab 1874 als Privatdozent an der Universität St. Petersburg. Nahm am Feldzug gegen Chiva 1873 teil und reiste daraufhin wiederholt nach Turkestan. Forschungsaufenthalte ab Mitte der 1870er bis Mitte der 1880er Jahre in Westeuropa, am Weißen Meer und im Kaukasus. Ab 1886 Ordinarius an der Universität St. Petersburg. Dort verstorben.4

1 Vgl. O. A.: World Biographical Information System (WBIS). Berlin 2018. [zuletzt aufgerufen am 30.10.2018], O. A.: Bol‘šaja Russkaja Biografičeskaja Ėnciklopedija. Moskva 2007, Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 1–5. Die Nummern in den Zitationen aus der Bibliografie Zajončkovskijs sind keine Seitenzahlen, sondern direkt den einzelnen Publikationen und Autoren zugeordnet. Die Bibliografie ist zudem in digitaler Form auf http://uni-persona.srcc. msu.ru/site/ind_res.htm verfügbar. 2 Vgl. O. A.: Biographical Information. 3 Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2, 3416. 4 Vgl. O. A.: Biografičeskaja Ėnciklopedija, O. A.: Biographical Information.

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Čanyšev, Chasan Asfendiarovič (?-?): Übersetzer in der Kanzlei des Generalgouverneurs von Turkestan.5 Čarykov, Nikolaj Valer‘evič (1855–1930): Diplomat, Schriftsteller, Absolvent des Alexandrinischen Lyzeums. Trat 1875 in den Dienst des Außenministeriums. Diente während des russisch-türkischen Krieges in einer Gardeeinheit und wurde zum Offizier ernannt. War an der Eroberung Mervs beteiligt und wirkte von 1886 bis 1890 als politischer Agent in Buchara. Hatte daraufhin diplomatische Posten in Bulgarien, Berlin, im Vatikan, Serbien und den Niederlanden inne. Von 1907 bis 1909 war er einer der Stellvertreter des Außenministers. Zwischen 1909 und 1912 war er als Gesandter in Konstantinopel um die Verstärkung des russischen Einflusses auf das Osmanische Reich bemüht. Das Scheitern von Verhandlungen u. a. über den Zugang zu den Dardanellen wurde ihm öffentlich angelastet, infolge dessen er 1912 demissionierte. Emigrierte nach der Oktoberrevolution. Er ist Autor einiger Bücher zur Diplomatie-Geschichte.6 Drejer, Vladimir Nikolaevič fon (1876–1967): General-Major, Kriegskorrespondent, geboren in Taschkent. Absolvent der 2. Kadettenanstalt in Orenburg. Weitere Ausbildung an der Pavelschen Militärschule und der Nikolaischen Generalstabsakademie. Daraufhin verschiedenen Einheiten zugeordnet. Zwischen 1911 und 1913 unter anderem auf dem Balkan als Kriegskorrespondent tätig. Im Ersten Weltkrieg auf leitenden Stabsposten der Kavallerie eingesetzt. Floh nach der Oktoberrevolution nach Südrussland. Fand aufgrund unterstellter Verbindungen nach Deutschland keine Aufnahme in die antibolschewistischen Streitkräfte. Arbeitete bis zu seiner Emigration 1920 in die USA erneut als Kriegskorrespondent.7 Duchovskaja, Varvara Fedorovna (1854–1931): geborene Fürstin Golicyna. Erhielt häusliche Bildung. War die Ehefrau von Sergej Michailovič Duchovskoj, dem 5. Generalgouverneur von Turkestan. Dessen Dienstposten führten sie in den Transkaukasus und den Priamurskij Kraj. Unternahm mit ihrem Mann zwei Weltreisen. Wurde zeitgenössisch als Autorin durch die Veröffentlichung mehrerer, auf ihren Erinnerungen beruhender Schriften bekannt.8 Fedorov, Georgij Pavlovič (?-?): zuletzt Leiter der Kanzlei des Generalgouverneurs von Turkestan.9 Fišer, Valerian Adamovič (1839-?): Sekondeleutnant, stammte aus dem Adel des Gouvernements Wilna. Zwischen 1855 und 1864 Ausbildung an einer Ingenieursschule und einer Ingenieursakademie des Militärs. 1861 temporär wegen nicht näher bekannter Vergehen aus der Ingenieursakademie ausgeschlossen. Diente daraufhin in Turkestan.10

5 6 7 8 9 10

Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2, 3392. Vgl. O. A.: Biographical Information. Vgl. ebd. Vgl. O. A.: Biografičeskaja Ėnciklopedija, O. A.: Biographical Information. Vgl Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2, 3295. Vgl. O. A.: Biographical Information.

Biogramme

Gejfel‘der, Oskar Ferdinandovič (1828–1890): Dr. med., Staatsrat, geboren in Trier. Studium der Medizin in Erlangen, Würzburg und Heidelberg. Folgte seinem Vater 1854 als Arzt in den russischen Dienst. 1860 Aufnahme in die St. Petersburger Medizinisch-Chirurgische Akademie. Arbeitete ab 1861 als Militärarzt im 1. Heeres-Hospital. Einsätze während des Aufstandes 1863 in Polen, später in Militärhospitälern in Wilna und Carskoe Selo. Nahm in leitenden Funktionen als Arzt am deutsch-französischen Krieg auf Seiten Preußens in Neuwied, Lille und Metz teil. In den 1870er Jahren Forschungsaufenthalte in der Schweiz und in Brüssel. Leitende Funktionen in Militärhospitälern in Aleksandropol‘, während des russisch-türkischen Krieges, und im Georgischen Militärhospital ab 1880. Teilnahme am Feldzug General Michail Dmitrievič Skobelevs gegen die Turkmenen 1880/1881. Daraufhin bis 1884 Leiter des Militärhospitals in Pjatigorsk. Bis zu seinem Tod leitender Arzt der Transkaspischen Eisenbahn. Verstarb in Čardžu.11 Guljaev, Aleksandr Lazarevič (1845-?): Oberst des 2. Uraler Kosakenregiments.12 Gunaropulo, Spiridon Afanas’evič (1837-?): Kapitän a. D., Teilnahme an der Schlacht um Sevastopol. Abschluss der Schwarzmeer-Junkerschule 1855. 1888 aus gesundheitlichen Gründen außer Dienst gestellt. 1902 ansässig in Riga.13 Ivanov, Dmitrij L’vovič (1846–1924): Oberstleutnant, Bergingenieur, stammte aus dem Adel des Gouvernements Nižnij Novgorod. War Gymnasiast in Penza und Nižnij Novgorod. Studierte ab 1864 an der Moskauer Universität. 1866 wegen Teilnahme an revolutionären Bestrebungen zunächst zur Verbannung nach Sibirien verurteilt, schließlich zum Militärdienst in Taschkent verpflichtet. Stieg dort zum Offizier auf und quittierte 1873 den Dienst. Trat daraufhin in das Berginstitut ein, dass er 1878 abschloss. Wurde zu einem bekannten Geologen. War von 1888 bis 1893 Expeditionsleiter im Südussurischen Kreis und einer der Organisatoren des Museums der Abteilung der Russischen Geografischen Gesellschaft in Vladivostok.14 Ivčenko, Aleksandr Fedorovič (?-?): Lehrer an einer Orenburger Realschule.15 Južakov, Jurij Dmitrievič (?-?): Offizier.16 Kamberg, Aleksandr Ivanovič (1856-?): zuletzt General-Major. Stammte aus der Bürgerschaft des Gouvernements Pskov. Abschlüsse der Pskover Landvermesser-Schule, der St. Petersburger Junkerschule (1878) und der Schützenschule für Offiziere. Teilnahme am russisch-japanischen Krieg. Garnisonschef von Ačinsk (1909). Vor dem Ersten Weltkrieg pensioniert und Rückkehr in verschiedenen Führungsfunktionen während des Ersten

11 Vgl. O. A.: Biografičeskaja Ėnciklopedija. 12 Vgl Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2, 3433. 13 Vgl. Morskaja Biblioteka im. admirala M. P. Lazareva: Morskaja Biblioteka v Licach. Biobibliografičeskij spravočnik na pravach rukopisi. Sevastopol‘ 2011. [zuletzt aufgerufen am 30.10.2018]. 14 Vgl. O. A.: Biographical Information. 15 Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 4,1, 243. 16 Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2, 3386.

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Weltkrieges. Nach Kriegsende Dienstort in Irkutsk und Krasnojarsk. Zuletzt in einem Befehl des Stabschefs des Oberkommandierenden der Streitkräfte Aleksandr Vasil‘evič Kolčaks vom 24.12.1919 erwähnt.17 Kapeljuš, Isaak (?-?): Krankenpfleger des 9. Turkestaner Bataillons. Teilnehmer der Eroberung Samarkands.18 Kapeljuš, Zlata: (?-?): Einwohnerin Samarkands. Erlebte die russische Eroberung der Stadt als Kind. Ehefrau des Isaak Kapeljuš.19 Karandakov, N. (?-?): Offizier des 3. Transkaspischen Schützen-Bataillons.20 Kerenskij, Aleksandr Fedorovič (1881–1970): Anwalt und Politiker, wuchs in Simbirsk und Taschkent auf. Studierte zwischen 1899 und 1904 u. a. Rechtswissenschaften in St. Petersburg. Arbeitete daraufhin als Anwaltsgehilfe und ab 1909 als vereidigter Anwalt in St. Petersburg. Erlangte durch die Übernahme politischer Prozesse öffentliche Bekanntheit. War 1912 Mitglied der Untersuchungskommission der 3. Duma über die gewalttätige Niederschlagung des Streiks der Goldmienenarbeiter an der Lena. Wurde im selben Jahr für das Gouvernement Saratov über die Liste der Trudoviki in die 4. Duma gewählt. Nach der Februarrevolution 1917 Wechsel in die Partei der Sozialrevolutionäre. Wurde zunächst Teil des Provisorischen Komitees der Duma und Mitglied im Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat. Übte daraufhin in der Provisorischen Regierung verschiedene Ministerämter aus. War zuletzt ihr Vorsitzender. Agierte nach der Oktoberrevolution kurzzeitig aus dem Untergrund gegen die Bolschewisten. Verließ aber bald das Land. Warb ab Mitte 1918 im Auftrag der von ihm mitbegründeten Organisation „Union der Wiedergeburt Russlands“ in Frankreich und England um Unterstützung gegen die Bolschewisten. Führte ab 1922 die sozialrevolutionäre Zeitung „Tage“. Lebte ab 1940 in den USA, lehrte dort an verschiedenen Universitäten und verfasste zahlreiche Bücher.21 Kodinec, S. (?-?): Offizier.22 Kol‘devin, Petr Fedorovič (1851–1900): Kriegsingenieur.23 Kolokol‘cov, Dmitrij Grigor‘evič (1815–1896): General-Leutnant, trat 1831 in das Preobraženskij Leib-Garderegiment und dessen Schule für Garde Podpraporščiki und Junker ein. Ab 1834 Offizier des besagten Regiments. 1834 außer Dienst gestellt.24

17 Vgl E. V. Volkov/N. D. Egorov/I. V. Kupcov: Belye generaly Vostočnogo fronta Graždanskoj vojny. Biografičeskij spravočnik. Moskva 2003, S. 105. 18 Vgl. Simonova: Razskazy. 19 Vgl. ebd. 20 Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2, 3450. 21 Vgl. O. A.: Biographical Information. 22 Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2, 3422. 23 Vgl. ebd., 3376. 24 Vgl. O. A.: Biographical Information. Der Katalog der Russischen Nationalbibliothek in St. Petersburg gibt sein Sterbejahr mit 1896 an.

Biogramme

Komel‘-boj (?-?): in Samarkand geboren. Im Fleischhandel des Vaters in Samarkand tätig. Beteiligte sich an dem Rückeroberungsversuch Samarkands. Für die Beraubung und Ermordung eines reichen Sarten zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Nach Ableistung der Strafe unter anderem in den Mienen in Algač als Arbeiter tätig. Konvertierte zur Orthodoxie und wechselte seinen Namen zu Konstantin Bogdanov. Zuletzt Wächter in der Polizeiverwaltung von Troickosavsk.25 Lobri, Ol’ga Petrovna (?-?): Dichterin, in den 1890er Jahren Mitarbeiterin des Journals „Russischer Bote“ (Russkij vestnik).26 Lomakin, Nikolaj Pavlovič (1830–1902): General der Infanterie, Ausbildung in der Polocker Kadettenanstalt und in einer militärischen Ausbildungsanstalt für Adelige (Dvorjanskij polk). Trat 1848 in den Dienst einer Artillerie-Brigade. Nahm an den Kaukasus-Kriegen teil. Wurde nach 1863 Chef der transkaspischen Militärabteilung. Nahm 1873 am Feldzug gegen Chiva teil. Führte 1879 eine nicht erfolgreiche Expeditionsarmee in die südlichen Gebiete der Turkmenen. Wurde 1881 zum Militärchef von Tiflis ernannt. Erhielt 1886 als General-Leutnant das Kommando über die 19. Infanterie-Division. Trat 1897 in den Ruhestand.27 Magomet Sufi (?-?): Seidenweber, Einwohner Samarkands und Sohn eines Mullas und Imams. Nahm an dem Rückeroberungsversuch Samarkands teil. Für einen Mord zu Zwangsarbeit in Sibirien verurteilt. Zuletzt in einer Ziegelei tätig.28 Ošanin, Vasilij Fedorovič (1844–1917): Entomologe, aus dem Adel des Gouvernements Rjazan. Besuchte in Rjazan das Gymnasium. Studierte zwischen 1861 und 1865 an der Moskauer Universität. Arbeitete bis 1872 als Lehrer für Naturwissenschaften an einem Moskauer Waisenhaus und einem Gymnasium. Von 1872 bis 1883 war er Direktor der Turkestanischen Schule für Seidenzucht in Taschkent. Daraufhin Lehrer am Turkestanischen Lehrerseminar. Arbeiten zur Systematik und Verbreitung diverser Insektenarten. Große Sammlung mittelasiatischer Arten und solcher aus den europäischen Reichsteilen. Erstbeschreibung vieler neuer Arten aus Mittelasien. 1878 Leiter einer Pamir-Expedition, auf der er den Gebirgsgrad Peter I. und den Fedčenko-Gletscher entdeckte.29 Petrov, Aleksandr Afanas‘evič (1852–1905): zwischen 1876 und 1879 Offizier des 81. Apšeronskij Infanterie-Regiments.30 Petrov, Vasilij (?-?): Unteroffizier a. D. Teilnehmer der Eroberung Samarkands.31 Petrovskij, Nikolaj Fedorovič (1837/38–1908): Stabskapitän, Generalkonsul, schloss 1858 die 2. Kadettenanstalt in Moskau ab und diente daraufhin zunächst in der 12. Astrachaner

25 26 27 28 29 30 31

Vgl. Simonova: Razskazy, 97/9 (1904). Vgl. O. A.: Biografičeskaja Ėnciklopedija. Vgl. O. A.: Biographical Information. Vgl. Simonova: Razskazy, 97/9 (1904). Vgl. O. A.: Biographical Information. Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2, 3419. Vgl. Simonova: Razskazy.

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Grenadiereinheit, bevor er ab 1859 Russisch in der Alexandrinischen Kadettenanstalt für Waisen in Moskau unterrichtete. Schied 1861 aus dem Militärdienst aus. Wurde 1862 wegen Kontakten zu im Ausland ansässigen Exilkreisen in St. Petersburg inhaftiert, 1863 entlassen und 1864 verurteilt. Arbeitete ab 1865 für die Staatskontrolle des Ministerkabinetts. Ging 1870 als Agent des Finanzministeriums in das Generalgouvernement Turkestan. Wurde 1882 zum russischen Konsul und 1895 zum Generalkonsul in Kaschgar ernannt und trat 1904 in den Ruhestand. Seit den 1860er Jahren Mitglied zahlreicher Gelehrtengesellschaften. Sammelte aktiv Altertümer und stand darüber in regem Austausch mit Petersburger Fachkreisen.32 Poltorackij, Vladimir Alekseevič (1828–1889): General-Major, im Gouvernement Tver aufgewachsen. Schloss 1846 die Pagenanstalt ab. Begann seinen Militärdienst in einer Infanterieeinheit im Kaukasus. Stieg dort bis 1854 zum Major auf. Wurde vielfach für seine Leistungen und Tapferkeit ausgezeichnet. Trat 1862 einstweilen in den Ruhestand und betätigte sich als Adelsvertreter. Diente erneut zwischen 1869 und 1874 beim Generalgouverneur Turkestans. Nahm unter anderem am Feldzug gegen Chiva teil und stieg bis zum Oberst auf. War nach seiner Rückkehr aus Mittelasien am Aufbau einer neuen Krimdivision beteiligt. Nahm 1877/1878 am russisch-türkischen Krieg teil. Wurde 1882 zum General-Major ernannt. Ging dann aus gesundheitlichen Gründen endgültig in den Ruhestand. Wurde der Öffentlichkeit durch Auszüge aus seinem Tagebuch bekannt, die in den 1890er Jahren im „Historischen Boten“ (Istoričeskij vestnik) erschienen sind.33 Revelioti, Leonid Charlampievič (?-?): russischer Vizekonsul in Kalkutta.34 Roževic Roman Jul‘evič (1882-?): Botaniker, Mitarbeiter des Botanischen Gartens in St. Petersburg.35 Sadyk-Šerif-Malik (?-?): in Samarkand geboren. Teilnehmer der versuchten Rückeroberung von Samarkand. Zuletzt Händler für Galanteriewaren.36 Simonova (Chochrjakova), Ljudmila Christoforovna (1843–1906): Schriftstellerin, verfasste sowohl Erzählungen als auch zahlreiche journalistische Beiträge in unterschiedlichen Periodika. Lebte länger in den Regionen Ural und Sibirien. Verfasste unterdessen ethnografische Schriften über die indigenen Bevölkerungen.37 Sjarkovskij, Giljarij (?-?): Offizier des 8. West-Sibirischen Linienbataillons.38 Sorokin, Nikolaj Vasil‘evič (1846–1909): Professor der Botanik, stammte aus einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie. Abschluss des Gymnasiums in Kursk 1865. Studienabschluss

32 Vgl. O. A.: Biographical Information, Buchert: Russkij portret. Hinsichtlich des Geburtsjahres widersprechen sich verschiedene Quellen. 33 Vgl. O. A.: Biographical Information. 34 Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 4,1, 578. 35 Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 4,3, 5080. 36 Vgl. Simonova: Razskazy. 37 Vgl. O. A.: Biografičeskaja Ėnciklopedija. 38 Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3, 3383.

Biogramme

an der Physikalisch-Mathematischen Fakultät der Universität Charkiw 1869. Magister in Botanik 1871, mit Spezialisierung in Pilzkunde. Arbeitete ab 1871 als Dozent, ab 1874 als außerordentlicher und ab 1885 als ordentlicher Professor bis 1909 an der Universität Kasan. Organisierte in den 1870er Jahren Veranstaltungen im Bereich der Erwachsenenbildung in Kasan. Umfangreiche Reisen in den späten 1870er Jahren und nach 1900 in Mittelasien. Nahm zwischen 1878 und 1879 zwei Mal auf Einladung des Großfürsten Nikolaj Konstantinovič an Expeditionen in die Wüste Karakum und die urbanen Zentren Mittelasiens teil. Führte 1884 eine vom Generalgouverneur Turkestans finanzierte Expedition im Tjan‘ Šan‘-Gebirge durch. Infolge seines Forschungsberichtes nahm ihn die Kaiserlich Russische Geografische Gesellschaft als Mitglied auf.39 Stepun, Fedor Avgustovič (1884–1965): Philosoph, Schriftsteller, geb. in Moskau. Sein Vater war Generaldirektor einer Papierfabrik. Studierte von 1903 bis 1907 Philosophie in Heidelberg und promovierte sich 1910. Gründete im selben Jahr die internationale philosophische Zeitschrift „Logos“, deren russische Ausgabe er in Moskau herausgab. Öffentliche Vortragstätigkeiten im ganzen Land, auch in Turkestan. Diente im Ersten Weltkrieg als Artillerieoffizier. Betätigte sich während der Februarrevolution 1917 gegen die Bolschewisten und für demokratische Freiheiten. War nach der Oktoberrevolution 1917 im Bereich Theater tätig. Wurde 1922 exiliert und ging nach Berlin. Ab 1926 außerordentlicher Professor für Soziologie an der TU Dresden. 1937 durch den NSStaat zwangspensioniert. Überlebte den Zweiten Weltkrieg bei München. Dort ab 1946 Honorarprofessor für russische Geistesgeschichte. In München verstorben.40 Šnitnikov, Vladimir Nikolaevič (1873–1957): Ornithologe, verbrachte seine Kindheit in Simferopol. Schulausbildung an zwei Gymnasien in St. Petersburg und einer Realschule in Sevastopol. Folgende Ausbildung am Land- und Forstwirtschaftlichen Institut in Novoaleksandrovsk. Später Beamter zur besonderen Verfügung der Siedlungsverwaltung in der Hauptverwaltung für Raumordnung und Bodenbewirtschaftung.41 Šul‘c, Vasilij Karlovič (1826–1883): Kapitän-Leutnant, Schriftsteller, schloss 1845 die Kadettenanstalt der Marine in St. Petersburg ab. Nach Einsätzen unter anderem auf dem Mittelmeer, ab 1849 auf verschiedenen Posten im Hauptstab der Marine tätig. Nahm 1854 unter Admiral Rikord an der Verteidigung Kronštadts teil. Diente ab 1855 in der Führung des Hafens von Reval. Verließ 1860 den Militärdienst und wurde Direktor in der neugegründeten russischen Reederei und Handelsgesellschaft „Samolet“ auf dem Schwarzen Meer. Wirkte darüber hinaus als Autor, Herausgeber und Redakteur. Arbeitete für verschiedene Journale wie beispielsweise den „Marine Sammelband“ (Morskoj sbornik).42

39 40 41 42

Vgl. O. A.: Biographical Information. Vgl. ebd. Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 4,3, 5389. Vgl. O. A.: Biographical Information.

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Tat‘janin, P. (?-?): Unteroffizier einer Orenburger Pioniereinheit.43 Trionov, K. K. (?-?): Am Ende des zitierten Artikels wurde der Name als Pseudonym bezeichnet. Als für den Inhalt verantwortlich wurde „Oberst fon Drejer“ angegeben, der den Text laut Inhaltsverzeichnis übermittelt hat. Hierfür kommt der oben aufgeführte Vladimir Nikolaevič fon Drejer in Frage. Als eigentlicher Autor des Textes scheidet er jedoch aus, da die im Text behandelten Ereignisse vor dessen Geburt stattgefunden haben.44 Vereščagin, Vasilij Vasil’evič (1842–1904): Maler, stammte aus einer Familie mit Grundbesitz in Czernowitz. Absolvent der Kadettenanstalt der Marine in St. Petersburg. Von 1861 bis 1863 Studium an der St. Petersburger Kunstakademie. Im Anschluss ausgedehnte Reisen auf die Krim, in den Kaukasus, nach Indien und Mittelasien, woraus zahlreiche Bilderzyklen entstanden. Nahm in Turkestan 1868 an Kampfhandlungen russischer Truppen teil. Lehnte 1874 aus Kritik an der Institution und ihrem Kunstverständnis eine Professur an der St. Petersburger Kunstakademie ab. Nahm Ende der 1870er Jahre am russisch-türkischen Krieg teil. Es folgten Reisen nach Syrien, Palästina, durch Russland und nach Japan, aus denen weitere Gemäldeserien hervorgingen. Verstarb während des russisch-japanischen Krieges bei einem feindlichen Angriff auf Port Arthur.45

43 Vgl. Zajončkovskij: Dorevoljucionnoj Rossii, Bd. 3,2, 3403. 44 Vgl Trionov: Kokandskago Pochoda, 3/11 (1909), Inhaltsverzeichnis, S. 215. 45 Vgl. O. A.: “Vereščagin, Vasilij Vasil‘evič”. In: S. I. Vavilov (Hrsg.): Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. Bd. 7. Moskva 1951, S. 491–492.

Das südwestliche Zentralasien 1901

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Übersichtskarte

Literatur- und Quellenverzeichnis

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