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German Pages 690 [692] Year 2013
Rudolf Otto
Rudolf Otto
Theologie – Religionsphilosophie – Religionsgeschichte
Herausgegeben von Jörg Lauster, Peter Schüz, Roderich Barth und Christian Danz
DE GRUYTER
ISBN 978-3-11-031087-0 e-ISBN 978-3-11-031096-2 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Umschlagabbildung: Universitätsbibliothek Marburg, Nachlass Rudolf Otto, Ms. 797/739 (6) Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort Siglen I
XI XVII
Zur Person Rudolf Ottos
Martin Kraatz „[…] meine stellung als ‚modernistischer pietistisch angehauchter lutheraner mit gewissen quakerneigungen‘ ist eigen […]“ – Bio- und Epistolographisches 3 zu Rudolf Otto II
Gesamtperspektiven und Aktualität
Gregory D. Alles Rudolf Otto and the Cognitive Science of Religion Ulrich Barth Rudolf Ottos Entwurf einer Religionspsychologie Werkgeschichtliche Zugangsbetrachtungen Hans Joas Säkulare Heiligkeit Wie aktuell ist Rudolf Otto?
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III Zugänge zur Theologie in systematischer und historischer Perspektive Reinhard Feldmeier Der Heilige Rudolf Ottos Impulse für eine biblische Gotteslehre
81
Thorsten Dietz „Das Kreuz Christi, dieses Monogramm des ewigen Mysteriums“ 95 Sühne und Erlösung bei Rudolf Otto Roderich Barth Phänomenologie der Sünde Ein Vergleich zwischen Otto und Ricœur
111
VI
Inhalt
Peter Schüz Numinose „Scheu“ als „artlich andere Zuständlichkeit“ 127 Rudolf Otto und der moderne Angstbegriff Saskia Wendel Das Kreaturgefühl bei Rudolf Otto – Gewissheit oder Glaube? Jörg Lauster Der unbekannte Otto – Ottos Glaubenslehre Wolf-Friedrich Schäufele Rudolf Ottos Lutherbild
143
153
165
Claus-Dieter Osthövener Ottos Auseinandersetzung mit Schleiermacher 179 Religionstheorie als Zeitdiagnose Markus Iff Religionsphilosophie und Theologie Rudolf Ottos Bezug auf Wilhelm Martin Leberecht de Wette Stephan Feldmann Rudolf Otto und Albrecht Ritschl Eine Verhältnisbestimmung
191
203
Martin Laube Rudolf Otto und die Religionsgeschichtliche Schule
219
Folkart Wittekind Transzendenz und Mystik Bultmanns Rezeption von Ottos Religionsphilosophie
235
Melissa Raphael Gender, Idolatry and Numinous Experience A Feminist Theological Approach to Rudolf Otto’s The Idea of the 251 Holy Katharina Wiefel-Jenner Rudolf Ottos Konzeption des Kirchenjahrs Eine Perikopenordnung für das Reich Gottes
263
VII
Inhalt
IV Religionsphilosophie Notger Slenczka Rudolf Ottos Theorie religiöser Gefühle und die aktuelle Debatte zum 277 Gefühlsbegriff Dietrich Korsch Rudolf Ottos Aufnahme der Fries’schen Religionsphilosophie
295
Todd Gooch „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil“: Über die Goethe-Rezeption 307 Rudolf Ottos Hermann Deuser „A feeling of objective presence“ Rudolf Ottos Das Heilige und William James’ Pragmatismus zum 319 Vergleich Christian Danz Zwischen Transzendentalphilosophie und Phänomenologie Die methodischen Grundlagen der Religionstheorien bei Otto und 335 Tillich Werner Schüßler Gott erfahren – Gott denken Paul Tillich im Anschluss an Rudolf Otto
347
Tobias Braune-Krickau Reverenzen von unerwarteter Stelle Rudolf Otto in der späten Religionsphilosophie Ernst Tugendhats V
361
Ethik
Friedemann Voigt Ethik und Religionspsychologie Rudolf Ottos ethisches Denken im Kontext der Werkgeschichte Harald Matern Wertgefühle und gelebte Moral Rudolf Ottos Begründung der Ethik im Anschluss an Kant
391
377
VIII
Inhalt
Georg Pfleiderer Wert und Würde. Ottos späte Sittenlehre
403
VI Religionsästhetik Martin Fritz Verborgene Verwandtschaft Ottos religionstheoretische Beerbung von Kants Ästhetik des 419 Erhabenen Annika Schlitte Heilige Orte – Orte des Erhabenen? Überlegungen zu einem Berührungspunkt von Naturästhetik und 435 Religionsphilosophie bei Kant und Otto Markus Buntfuß Rudolf Ottos (neu)romantische Religionstheologie im Kontext der ästhetischen 449 Moderne Jan Rohls Das Heilige und die Kunst Rudolf Otto und die theologische Ästhetik der zwanziger Jahre
463
Thomas Erne Affektübertragung Kunst und Architektur als Ausdrucksformen des Heiligen bei Rudolf 477 Otto Christian Pöpperl Das Heilige, das Erhabene und die Negative Theologie VII Religionsgeschichte und Kontextualisierungen Marianne Schröter Rudolf Otto und die Religionswissenschaft Stefan S. Jäger Das Buddhismusbild bei Rudolf Otto
523
511
493
IX
Inhalt
Yoshitsugu Sawai Rudolf Otto’s View of Indian Religious Thought Arnulf von Scheliha Rudolf Ottos Deutung des Islam
539
551
Markus Walther Rudolf Ottos Konzept des Heiligen als gemeinsame Perspektive für Christentum und Islam? 563 Eine Skizze anhand der Autoren Meister Eckhart und al-Ġazālī Bärbel Beinhauer-Köhler Rekurs auf Rudolf Otto? Dimensionen des Gefühls bei der Erschließung von Reiseberichten als 577 religionshistorischer Quelle Jeong Hwa Choi Rudolf Ottos globales Netzwerk und der Religiöse Menschheitsbund Eiji Hisamatsu Rudolf Ottos Rezeption in Japan
591
605
Aldo Natale Terrin Die Rezeptionsgeschichte von Das Heilige in Italien
615
Hanno Willenborg Von der Billard- zur Bowling- zur Erdkugel Psychologische Ideen in der Evolutionstheorie Charles Darwins und ihre 625 Rezeption durch Rudolf Otto Tomas Sodeika Das Heilige im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Jörg Probst Otto digital! Technikgeschichte, Ideenforschung und 651 Religionsphänomenologie Autorinnen und Autoren Namensregister
667
663
639
Vorwort Rudolf Otto ist eine der bemerkenswertesten Gestalten der neueren protestantischen Theologiegeschichte in Deutschland. Mit seinem Buch Das Heilige verfasste er eines der berühmtesten und meistgelesenen theologischen Werke des 20. Jahrhunderts, in seinem Gesamtwerk zeigt sich ein Denken, das enge Fachgrenzen sprengt. Das gilt für die theologischen Disziplinen und auch darüber hinaus. Otto war zudem ein weitgereister Mann, der Kontakte nach Indien und Japan knüpfte und das Gespräch zwischen den Religionen mit Engagement vorantrieb. Er besorgte Übersetzungen heiliger Schriften des Fernen Ostens und verfolgte überdies stets mit großer Sensibilität die gesellschaftspolitischen und sozialen Themen seiner Zeit. Das war offensichtlich manchem zu viel des Guten. Rudolf Ottos Wirkungsgeschichte in seinem eigenen Land ist verschlungen. Er war zwar auch in Deutschland nie ganz vergessen, bis hinein in die 60er Jahre dokumentiert das eine Reihe von einschlägigen Veröffentlichungen über sein Werk. Aufs Ganze gesehen muss man aber sagen, dass der rigide dogmatische Konservatismus der herrschenden Theologie der fünfziger und sechziger Jahre der Weite von Ottos Denken nicht wohlgesonnen und auch nicht gewachsen war. In liberalen Kreisen wiederum war Otto wegen seines Interesses am Irrationalen suspekt. Während Otto in seiner Heimat in den Hintergrund geriet, galt er in Nordamerika und Asien als einer der berühmtesten protestantischen Theologen Deutschlands. Es ist also eine Art intellektueller Reimport, wenn Otto seit einigen Jahren in die theologischen Debatten auch in Deutschland zurückkehrt. Auf der Suche nach Gründen für die Otto-Renaissance fällt die Antwort leicht: Rudolf Otto ist ein interessanter, facettenreicher und anregender Denker. Otto hatte ein außergewöhnliches Gespür für die Herausforderungen, die das moderne Lebensgefühl an die Theologie und christliche Lebenspraxis stellten. Mit seiner Theorie des Heiligen unterbreitete er einen Vorschlag, durch die Wende zum religiösen Erleben die Sphäre des Göttlichen in der modernen Welt plausibel zu halten. Zugleich weitete er den Blick auf die Vielfalt religiöser Ausdrucksformen vom Dogma bis hin zu den modernen kulturellen Transformationen in Kunst, Architektur, Literatur und Musik.Vor diesem Hintergrund holte er schließlich auch den weiten Horizont der Religionen der Welt und ihrer Geschichte in die Theologie hinein. Ottos sprachliche Extravaganz hat auch damit zu tun, dass er so viele Fäden zusammenhalten wollte, wie kaum ein anderer Theologe sonst in der Geschichte des modernen Protestantismus. Das alles ist nicht wenig. Ottos Rückkehr in die aktuellen Debatten ist ein Zeichen dafür, dass sich seit geraumer Zeit der Wind gedreht hat. Die Religionswissenschaften, die Otto lange in die Reihe Klassiker von gestern gestellt haben, entdecken gegenwärtig, dass es jenseits des empirischen und vermeintlich von
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Vorwort
höherer Warte geschehenden objektivistischen Blicks auf die Religionen noch einen anderen Zugang geben muss, der die Religion in ihrem Selbsterleben ernst nimmt. Aber auch in der Theologie mehren sich seit einigen Jahren die Arbeiten, die sich mit Otto beschäftigen. Ottos Fragen sind auch unsere Fragen, und sein reiches Schrifttum ist in all seiner Sperrigkeit und zuweilen mühsamen Zugänglichkeit doch voller aufwühlender Anregungen. Es gibt bei Otto vieles zu holen, was unser theologisches Denken heute voranbringt. Bei alledem ist Otto ein Denker, der einem niemals den Kadavergehorsam einer Schulbildung abverlangt, sondern die Freiheit der eigenen Urteilsfindung fördert. Der 75. Todestag von Rudolf Otto war der Anlass, das vielfältig gestiegene Interesse an Otto in einem Kongress zu bündeln. Alle weltweit führenden OttoExperten sind der Einladung mit spektakulärer Bereitwilligkeit gefolgt, ebenso wie jene, die von ihren bisherigen Forschungsschwerpunkten her einen Blick auf Otto für lohnend und interessant hielten. Diesen einen Superlativ wird man sich entgegen aller üblichen Höflichkeitsgebräuche daher erlauben dürfen: Mehr Sachverstand in Sachen Rudolf Otto ist seit langer Zeit nicht mehr zusammengekommen und wird vermutlich auch für einige Zeit nicht mehr zusammenkommen. Der vorliegende Band versammelt die verschiedenen Beiträge des Kongresses. Den Anfang macht Martin Kraatz, der als einer der besten Kenner der Briefe Ottos gilt. Auf Grundlage seiner Quellenstudien gewährt er bemerkenswerte Einblicke in Ottos theologische und zeitgeschichtliche Selbstpositionierung. Gregory D. Alles, Ulrich Barth und Hans Joas bieten umfassende Gesamtperspektiven auf Ottos Arbeiten aus einem kognitionswissenschaftlichen, religionsphilosophischen und religionssoziologischen Blickwinkel. Allein diese Beiträge legen das enorme Potential frei, das Ottos Werk an gegenwärtigen Anknüpfungsmöglichkeiten in sich birgt. So wie sich Otto selbst einer einfachen systematischen Katalogisierung entzieht, so geschieht dies notwendigerweise auch mit den Untersuchungen zu seinen Schriften. Die folgende Einteilung hat mit Blick auf Ottos Intentionen etwas Äußerliches, bisweilen sogar Gewaltsames an sich, da Otto die unterschiedlichen Fäden zusammenhalten wollte. Sie lässt sich allein mit dem Vorzug rechtfertigen, verschiedene Fragerichtungen zu bündeln. Es war ein Hauptanliegen des Kongresses, Otto als Theologen in Erinnerung zu rufen. Das Kapitel zur „Theologie in systematischer und historischer Perspektive“ untersucht Ottos Arbeiten zu klassischen Lehrbeständen der christlichen Theologie und deren Reformulierungen im Kontext der Moderne. Die Aufsätze zur Theologiegeschichte belegen, dass sich Otto dabei stets im Gespräch mit der Tradition Luthers und der neuprotestantischen Theologie verstanden hat. Eine Sonderstellung nimmt die Ethik ein, der sich Otto vor allem in seinen letzten Jahren intensiv gewidmet hat. Er prononciert darin den Autonomie- und Wertbegriff in einer eigenen Weise, die ihn nicht einfach als eine Fortführung der Linie protestantischer Ethik erscheinen lässt, wie sie etwa sein
Vorwort
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Vorgänger in Marburg,Wilhelm Herrmann,vertreten hatte. Die Religionsphilosophie nimmt in Ottos Werk traditionell einen prominenten Rang ein. Die Beiträge belegen die Bandbreite der Referenzpunkte und Perspektiven, die von Kant, Fries und Goethe über William James und Paul Tillich bis hin zu Ernst Tugendhat reicht und schließlich auch in die gegenwärtige Debatte zum Gefühlsbegriff einzuzeichnen ist. Aktuelle Diskussionszusammenhänge sind es auch, die Anlass bieten, Ottos Religionsästhetik als ein eigenes Feld seiner Religionsphilosophie zu betrachten. Das Kapitel „Religionsgeschichte, Religionswissenschaft, Kontextualisierungen“ vereint die Beiträge, die Ottos Bedeutung für die Religionswissenschaft sowie seine Sicht auf die anderen Religionen untersuchen. Zudem wird die Rezeption seines Werkes in unterschiedlichen Kontexten in den Blick genommen. Mit dem Kongress, der vom 4. bis 7. Oktober 2012 in Marburg stattfand, trägt der Fachbereich Evangelische Theologie auch eine Dankesschuld ab. Denn Rudolf Otto hat wie andere große Theologen, die hier lehrten, die Marburger Theologie und auch die Philipps-Universität zu einem klangvollen Namen gemacht. In einer gewissen Traditionslinie früherer akademischer Veranstaltungen zur Erforschung aber auch zum Gedenken Ottos, kehrt die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem großen Theologen damit an den Ort zurück, an dem 75 Jahre zuvor die Epoche Ottos in Marburg endete.¹ Wichtige Wirkungsstätten aus Ottos Marburger Zeit konnten so im Zuge des Kongresses besucht und als anschauliche Zeugen befragt werden: Das Fachgebiet Religionswissenschaft der Universität Marburg ermöglichte unter der Leitung von Edith Franke dankenswerterweise einen Besuch der Kongressteilnehmer in der Religionskundlichen Sammlung, deren Gründung und Gestaltung Otto über viele Jahre äußerste Anstrengungen widmete. Mit einer „Religionswissenschaftlichen Hommage“ machte die Kustodin Katja Triplett so teilweise von Otto selbst erworbene Ausstellungsstücke sowie persönliche Gegenstände aus seinem Nachlass zugänglich. Eine Sonntagsandacht – gehalten von Katharina Scholl und an der Orgel begleitet von Ulrich Barth – führte am 7. Oktober die Teilnehmer des Kongresses in die Kapelle St. Jost, die einst der Ort von Ottos Andachten und liturgischen Reformprojekten war. Schließlich wurde für die Hauptvorträge des Kongresses mit der historischen Alten Aula der Philipps-Universität ein wichtiger akademischer Wirkungsort Ottos
Zu den früheren Veranstaltungen zur Wissenschaftlichen Rezeption und zum Gedenken Ottos, vgl. Martin Kraatz, Die Religionskundliche Sammlung, eine Gründung Rudolf Ottos, in: Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg.v. I. Schnack, Marburg 1977, 382– 389. Als jahrzehntelanger Zeuge der Ottorezeption in Marburg gab Martin Kraatz auch in der Einleitung seines Vortrags auf dem Kongress die Geschichte der Otto-Forschung eindrücklich wieder.
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Vorwort
gewählt – man denke nur beispielweise an das hier stattgefundene denkwürdige Zusammentreffen Ottos mit Rabindranath Tagore. Hier fand vor 75 Jahren – am 20.6.1937 – auch die akademische Gedenkfeier anlässlich des Todes Ottos statt. Die damals erklungenen Musikstücke – Auszüge aus Streichquartetten von Mozart und Brahms² – kamen anlässlich des Kongresses ebenso erneut zu Gehör wie zwei von Otto selbst in Zusammenarbeit mit dem Marburger Musikwissenschaftler Hermann Stephani geschriebene Chorsätze aus Ottos Buch „Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes“.³ Der vorliegende Band versammelt die zahlreichen Beiträge der Forscherinnen und Forscher, die den Kongress durch ihre Vorträge und Diskussionsbeiträge bereichert haben. Wir danken den Beiträgerinnen und Beiträgern für ihr großes Otto-Engagement sowie den zahlreichen Helferinnen und Helfern, die bei der Organisation und Vorbereitung des Kongresses mitgewirkt haben und für sein Gelingen unersetzlich waren. Zu danken ist auch der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die den Kongress großzügig finanziert und damit erst ermöglicht hat. Gleiches gilt für die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck und die Evangelische Kirche in Hessen und Nassau, die den Kongress ebenfalls unterstützten. Schließlich sei den zahlreichen Personen gedankt, ohne deren unermüdlichen Einsatz der vorliegende Band nicht hätte entstehen können. In Marburg haben sich Heike Mevius, Andreas Bechstein, Gregor Bloch, Megan Arndt und Hannah-Sophia Rogg mit großer Sorgfalt um alle Belange der Druckvorbereitung gekümmert, in Gießen Hannah Döhnert und Lukas Debus, in Wien Alexander Schubach. Für Auskünfte, Bildmaterial und Unterstützung danken wir der Universitätsbibliothek Marburg, namentlich insbesondere Frau Renate Stegerhoff-Raab und Herrn Dr. Bernd Reifenberg sowie den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Rudolf-Otto-Archivs und der Religionskundlichen Sammlung in Marburg.
Aufgeführt wurden die Stücke von Mitgliedern und Freunden des Fachereichs Evanglische Theologie in Marburg. Gespielt wurde frei nach den Angaben Heinrich Fricks aus dem Dokumentationsheft der Gedenkveranstaltung von 1937: Andante cantabile aus dem „DissonanzenQuartett“ in C Dur aus dem Jahre 1783 von W.A. Mozart (KV 465), sowie der Satz Andante in F Dur aus dem Streichquartett Nr. 3, Op. 667 von J. Brahms. Gespielt wurden aus Ottos Gottesdienstbuch Stück Nr. 3 „Großer Lobreis“ für Chor und Orgel von Hermann Stephani, Op. 33, Nr. 16 (vgl. Rudolf Otto, Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes, Gießen 1925, 108 f.), sowie Stück Nr. 9., der Chorsatz „Zum Gedächtnissonntag“ geschrieben von Rudolf Otto, komponiert von Hermann Stephani, Op. 33, 31. (vgl. a.a.O., 120 f.). Vorgetragen wurden die Beiträge von Mitgliedern des Marburger Bachchors und Mitgliedern des Fachbereichs Evangelische Theologie in Marburg.
Vorwort
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Seitens des Verlags hat sich Herr Dr. Albrecht Döhnert für das Gelingen des vorliegenden Buchs maßgeblich eingesetzt. Auch ihm gebührt unser Dank. Marburg, Gießen, Wien im August 2013 Jörg Lauster Peter Schüz Roderich Barth Christian Danz
Siglen¹ AHG
Anschauung vom heiligen Geiste bei Luther. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, Göttingen 1898.
RE
Friedrich Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Zum Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt neu herausgegeben und mit Übersichten und mit Vor- und Nachwort versehen von Rudolf Otto, Göttingen 1899.
NRW Naturalistische und religiöse Weltansicht (= Lebensfragen 2), Tübingen 1904. KFR
Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie. Zur Einleitung in die Glaubenslehre für Studenten der Theologie, Tübingen 1909.
DH
Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 23–251936.
DH1
Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, Breslau 1917.
AN
Aufsätze das Numinose betreffend, Gotha 1923.
EAG
Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes (= Aus der Welt der Religionen 4), Gießen 1925.
WÖM West-östliche Mystik. Vergleich und Unterscheidung zur Wesensdeutung, Gotha 1926. GÜ
Das Gefühl des Überweltlichen (sensus numinis), München 1932.
SU
Sünde und Urschuld. Und andere Aufsätze zur Theologie, München 1932.
GICh Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum. Vergleich und Unterscheidung, Gotha 1930 (zugleich: München 1930). GGA
Gottheit und Gottheiten der Arier (= Aus der Welt der Religionen 20), Gießen 1932.
RGM Reich Gottes und Menschensohn. Ein religionsgeschichtlicher Versuch, München 1934.
Es handelt sich bei alle Siglen um die Erstauflage. Weitere Auflagen sind im Text mit hochgestellter Ziffer gekennzeichnet. Einzige Ausnahme ist Ottos Werk Das Heilige von 1917: DH bezeichnet die letzte von Rudolf Otto korrigierte Auflage (23. – 25. Aufl. von 1936), die bis heute als Nachdruck im Verlag C.H. Beck, München erscheint. Die Erstauflage von 1917 aus dem Verlag Trewendt und Garnier, Breslau und sowie die nachfolgenden Auflagen (bis einschl. 21. – 22. Auflage von 1932) werden am Siglum DH mit hochgestellter Ziffer gekennzeichnet.
I Zur Person Rudolf Ottos
Martin Kraatz
„[…] meine stellung als ‚modernistischer pietistisch angehauchter lutheraner mit gewissen quakerneigungen‘ ist eigen […]“ – Bio- und Epistolographisches zu Rudolf Otto¹ Am 24. August 1917 teilte der Orientalist Geh. Rat. Carl Heinrich Becker im Preußischen Kultusministerium Rudolf Otto mündlich und vertraulich mit, dass der Minister ihn auf die Herrmannsche Professur für Systematische Theologie in Marburg berufen werde. Otto schrieb sogleich an Wilhelm Herrmann, mit einem dreifachen Dank: Er dankte Herrmann für seine Befürwortung, Gott für das ihn nun erfüllende tiefe Glück und der Fakultät für das Vertrauen.² In einem undatierten, aber wohl nicht lange davor, jedenfalls zwischen der Publikation von Das Heilige ³ und C.H. Beckers Mitteilung anzusetzenden Brief an Hermann Mulert hatte er noch geschrieben: „[…] [E]s gehen allerlei Sagen, daß Herrmann abgehen wolle. Dann muß es allerlei Verschiebungen geben. Ich rechne, daß, da ich durch mein Heiliges in Marburg wohl einigermaßen unmöglich geworden bin, Wobbermin, der so wie so der Nächste sein würde, hinkommen würde.“⁴
Doch Otto wurde nach Marburg berufen, und 10 Jahre später sah das anders aus. 1927, zum 400-jährigen Jubiläum der Philipps-Universität, ließ man ihn die
Der Vortrag war, angepasst an das Spontane von Denken und Sprache der hier hauptsächlich genutzten Quellen, der Briefe Rudolf Ottos, nicht durchformuliert. Redevorlage waren lediglich Notizen und Zitate. Das verknüpfend frei Ausgeführte ließ sich jetzt, bedingt auch durch eine Erkrankung, inhaltlich wie formal nur begrenzt rekonstruieren. Diese Druckfassung folgt zwar den tatsächlich vorgetragenen Gedankenwegen, bleibt aber, weil vieles gekürzt oder ganz weggelassen werden musste, ein etwas hölzernes Fragment. 24.8.1917/UB Marburg: Ms. 691/405. Nach Briefen Ottos an Wilhelm Bousset (5.12.1916/UB Göttingen: NL Bousset 90/2) und Gottfried Naumann (23.12.1916/UB Marburg: Ms. 797/816) gab es schon im Dezember 1916 Reaktionen auf das verlegerisch erst 1917 erschienene Buch. Am 14.9.1916 (UB Marburg: Ms. 797/ 816) hatte Otto noch an Gottfried Naumann geschrieben: „Ich sitze […] an der Arbeit an neuem Buche: ‚Das Heilige‘, eine Untersuchg. über das Irrationale im christl. Gottesbegriffe. Es wird langsam gedruckt.“ O.D./UB Marburg: Ms. 797/772.
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Martin Kraatz
Festrede halten: „Sinn und Aufgabe moderner Universität“.⁵ In der umfangreichen Jubiläumsschrift hieß es: „Mit dem Rücktritt Herrmanns vom Lehramt hat eine neue Phase in der Entwicklung unserer Fakultät eingesetzt. Rudolf Otto trat 1917 an Herrmanns Stelle als systematischer Theologe, und bald spürte man auf allen Seiten eine neue Art. Nicht eine der vorigen feindliche, im Gegenteil, in manchem geradezu vorbereitet, und doch eine Reaktion. Vielleicht eine gesunde, denn nach langer Zurückziehung auf das Inwendigste war der Drang nach außen, nach neuen Aufgaben, nach Erweiterung des Blicks und der Arbeitsfelder nicht bloß begreiflich, sondern berechtigt. Auch Herrmann wollte das Eigene nicht pflegen nur um des Eigenen selbst willen, sondern damit zuletzt Segen für alles andere daraus fließe. Diesem Drang gibt man unter der Führung Ottos nach; die Beschäftigung mit den anderen Religionen, mit der Religion, wird jetzt das Markzeichen Marburgischer Theologie, Ottos Buch ‚Das Heilige‘ gegenüber dem Hauptwerke Herrmanns ‚Der Verkehr des Christen mit Gott‘ – wobei er doch nur an den evangelischen Christen dachte – charakterisiert den Wandel. Es wird ein neuer Lehrstuhl für Religionswissenschaft eingerichtet und an Heiler übertragen […].“⁶
Doch schon wenige Jahre später war diese Euphorie am Ende. Der Philosoph Karl Löwith, der sich in Marburg 1928 (noch unter dem Einfluss Martin Heideggers) habilitiert hatte und dann bis zu seiner Entlassung durch die Nationalsozialisten 1934 hier als erfolgreicher Privatdozent wirkte, schreibt in einem autobiographischen Text: „Auch fehlte Marburg die freie Luft der Freiburger Jahre, alles war muffiger und verfilzter und vorwiegend durch die Theologen bestimmt, unter denen Bultmann unserm Lehrer [Heidegger (Anm. d. Verf.)] am nächsten stand, wogegen R. Otto die dialektische Theologie und die Existenzphilosophie ‚Inflationserscheinungen‘ nannte und seine eigene Unzeitgemäßheit mit stolzer Würde ertrug.“⁷
„Unzeitgemäß“ sagt Otto auch von sich selbst, aber in anderem Zusammenhang, in der Abgrenzung von den auf eine kirchenfreie religiöse Bewegung zielenden Plänen Jakob Wilhelm Hauers: „[…] [I]ch selber kann nur leben und sterben als das, was ich immer gewesen bin, als ‚pitistisch[!] gefärbter Lutheraner mit einer liberalen theologie‘. damit sitze ich gewiss nicht nur
Rudolf Otto, Sinn und Aufgabe moderner Universität (=Marburger Akademische Reden 45), Marburg 1927. G[ustav] A[dolf] Jülicher, Zur Geschichte der Theologischen Fakultät, in: Die Philipps-Universität zu Marburg 1527– 1927, Marburg 1927, 572 f. Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933, NA Stuttgart/Weimar 2007, 65 f. (1940 in den USA geschrieben, 1986 veröffentlicht).
Zur Person Rudolf Ottos
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zwischen zwei sondern zwischen 22 stühlen, weiß, daß ich damit so unzeitgemäß wie möglich bin und daß ich still auf die seite zu gehen habe […].“⁸
Doch auch zu Heidegger und zur Dialektischen Theologie äußert Otto sich ausdrücklich selbst. Zu Heidegger schreibt er: „Heidegger geht nach Heidelberg[!]. Sein Buch⁹ habe ich gelesen. Ich kann dies ‚Filosofieren‘ wirklich nur für eine Art Geisteskrankheit halten, ganz abgesehen von ganz massiven logischen Fehlern, die mit unterlaufen. Da aber offenbar ganz ernste und urteilsfähige Menschen ihn ernst nehmen, so wäre ich dankbar, wenn mir Jemand den Zugang eröffnen könnte. Vielleicht gelingt es Ihnen.“¹⁰
Zur Dialektischen Theologie: „Bultmann liest vor 200 Hörern und alles swimmt in dialektischer Theologie.“¹¹ Und schon 1924 wundert er sich, dass Hermelink über die „Barhtschen¹² Händel“ schweigt, und berichtet, er „treibe ihn [Heitmüller (Anm. d. Verf.)] lange, endlich zu Bahrt u. Bultmann Stellg. zu nehmen“.¹³ Im Briefwechsel Barth-Bultmann wird Otto meistens süffisant erwähnt, nur einmal nahezu sachlich, als Bultmann Ottos Schleiermacher-Interpretation widerspricht: Man dürfe sich nicht, wie Otto, „durch die romantische Terminologie und den Terminus ‚Gefühl‘ verführen lassen, Sätze zu übersehen oder in ihrem Gewicht zu unterschätzen […]“.¹⁴ Im Hause Bultmann fiel, wie eine der Töchter Bultmanns erzählt, Rudolf Ottos Name nur dann, wenn man sich, zum Beispiel bei gemeinsamen Mahlzeiten, über die „Religionskundliche Sammlung“ als Ottos „Götzentempel“ amüsierte. Doch in einem kurzen autobiographischen Rückblick schreibt Bultmann: „Ein großer Gewinn für die Marburger theologische Fakultät war die Berufung des Systematikers Rudolf Otto. Wir waren, obwohl wir uns einst in Breslau angefreundet hatten, einander doch so fremd geworden, daß auch unsere Studenten den Gegensatz zwischen seiner und meiner Arbeit empfanden.“¹⁵
24.8.33/BA Koblenz: NL Hauer 54, 389 ff. Martin Heidegger, Sein und Zeit, in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung 8 (1927), 1– 438. 20.5.28/BA Koblenz: NL Hauer 45, 390. Ebd. Otto verwendet oft diese Schreibweise. Warum? 14.2.24/UB Marburg: NL Heiler, Ms. 999. Karl Barth – Rudolf Bultmann. Briefwechsel 1911– 1966, hg.v. Bernd Jaspert, 2. rev. u. erw. Aufl., Zürich 1994, 18 (Karl Barth, Gesamtausgabe. V. Briefe). A.a.O. 312.
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Martin Kraatz
Während der Name Rudolf Otto unter der Dominanz der Dialektischen Theologie in Deutschland nur als theologiegeschichtliches Stichwort existierte, diskutierte man in der Religionswissenschaft seine Überlegungen weiter, teils zustimmend, sie teils im Detail kritisierend, teils grundsätzlich ablehnend – sie wurden nie ignoriert. Zustimmung und eine gewisse Weiterführung seiner Anregungen fand und findet noch heute vor allem Das Heilige in England, den USA, Japan, Indien. Dieses Buch, das seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1917 immer greifbar gewesen und in gut zwanzig, nicht nur europäische Sprachen übersetzt worden ist, hat über lange Zeit hin die vielen anderen Interessen, Aktivitäten und Publikationen Rudolf Ottos vergessen lassen. Typisch dafür formuliert Lavinia CohnSherbok: „He is primarily remembered for his Das Heilig[!], transl. into Engl. as ‚The Idea of the Holy‘.“¹⁶ Nicht vergessen wurde Rudolf Otto hier in Marburg, wo mit den Professoren Friedrich Heiler, Ernst Benz, Theodor Siegfried, Georg Wünsch, auch der Bibliothekarin Ingeborg Schnack noch Menschen aus seinem engeren Bekanntenkreis lebten und wirkten. Im Jahre 1960 fand auf Einladung von Friedrich Heiler hier in Marburg der X. Internationale Kongress für Religionsgeschichte statt, mit etwa 550 Teilnehmern, darunter mindestens zwei Dutzend, die Rudolf Otto noch persönlich gekannt hatten. Da ich den Kongress selbst mit organisierte, begegnete mir in Listen, in die Teilnehmer sich zu verschiedenen Anlässen einzutragen hatten, bei dem Namen Margarete Ottmer immer wieder ein Zusatz, „Nichte Rudolf Ottos“. Sie hatte mit ihrer verwitweten Mutter Johanne Ottmer, einer Schwester Rudolf Ottos,von früher Kindheit an bei Otto gelebt und sich nach seinem Tod um die Veröffentlichung seiner Werke sowie, vergeblich, einer Biographie bemüht. Heiler erklärte bei der Eröffnung des Kongresses in einer längeren Würdigung Rudolf Ottos: „Rudolf Ottos überragender Persönlichkeit ist es letztlich zu verdanken, daß wir hier zu diesem internationalen Kongreß versammelt sind.“¹⁷ Ein Referat speziell über ihn gab es nicht. Aber dies war der Kongress, bei dem der Gegensatz zwischen den religiös engagierten Religionsforschern, zu denen Otto doch wohl zu zählen wäre, und denen, die Religionen aus historisch-kritischer Distanz betrachten, offen ausbrach. Er wird bis heute von Generation zu Generation immer wieder neu diskutiert. Zu Ottos 100. Geburtstag 1969 organisierten wir hier in Marburg eine Tagung. Und zum 70. Jahrestag des Erscheinens von Das Heilige, 1987, gab es ein Sym-
Lavinia Cohn-Sherbok, Who’s Who in Christianity, London 1998, s.v. Otto. X. Internationaler Kongress für Religionsgeschichte. 11.–17. September 1960 in Marburg/ Lahn, hg.v. d. Organisationsausschuß, Marburg 1961, 39.
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posium, aber nicht in Deutschland, wo das Datum gar nicht beachtet wurde, sondern in England, in Exeter. Teilnehmer aus Deutschland waren Hans-Jürgen Greschat und ich, aus den USA, aus Atlanta, kam Jack Stewart Boozer (1918 – 1989), der erste Amerikaner, der sich intensiv Rudolf Otto zugewandt hatte.¹⁸ Doch ein ganz Rudolf Otto gewidmeter mehrtägiger Kongress mit etwa 50 Beiträgen findet erst heute statt. Etliche Referenten kenne ich, sie haben über Otto gearbeitet, als ich noch das Otto-Archiv betreute. Wenige darunter sind allerdings Deutsche – es sind Engländer, Amerikaner, Japaner, eine Koreanerin, ein Australier. Gerne wüsste ich,wieweit die größere Zahl der anderen, die in diesen Tagen über Rudolf Otto referieren werden, schon länger an Rudolf Otto interessiert sind oder erst durch die Einladung zu diesem Kongress zur Beschäftigung mit Otto herausgefordert wurden. Für mich ist Otto präsent seit 1955, meinem ersten Semester in Marburg. Ein Referat für ein Seminar bei Friedrich Heiler erarbeitete ich in der Bibliothek der von Otto 1927 gegründeten Religionskundlichen Sammlung. Und mir begegneten Menschen, die Otto noch persönlich gekannt hatten. Heute leben von diesen nur noch wenige, und die können nur von Kindheitsbegegnungen mit ihm und seinem Hund berichten, darunter die Töchter Friedrich Heilers und Urban Forell, der Sohn von Birger Forell (1893 – 1938).¹⁹ Mein Kongressbeitrag war angekündigt „zur Einführung“ in Rudolf Ottos Biographie und seine Briefe, in maximal 40 Minuten. Die habe ich im Vortrag überschritten, muss mich hier in der Druckfassung aber beschränken. Die biographischen Grunddaten von seiner Geburt am 25.9.1869 in Peine bis zu seinem Tod am 6. 3.1937 in Marburg sind inzwischen mehrfach nachlesbar.²⁰ Doch allein die Briefe gäben Stoff für viele Stunden. Ich greife hier aus dem Biographischen
Jack S. Boozer, Rudolf Otto (1869 – 1937). Theologe und Religionswissenschaftler, in: Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts (=Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen 35. Lebensbilder aus Hessen, Bd. 1), hg.v. Ingeborg Schnack, Marburg 1977, 362– 382; Rudolf Otto, Aufsätze zur Ethik, hg.v. Jack S. Boozer, München 1981. Schwedischer Pfarrer, ab 1919 mit Otto bekannt; Harald von Koenigswald, Birger Forell. Leben und Wirken in den Jahren 1933 – 1958, Witten/Berlin 1962; Martin Kraatz, Birger Forell. Der Mensch − in seinen Marburger Wurzeln und in dem, was daraus wuchs, 2008 (Vortr. ms. zum 50. Todestag). Rudolf Boeke, Rudolf Otto. Leben und Werk, in: Numen 14 (1967), 130 – 143; Reinhard Schinzer, Rudolf Otto − Entwurf einer Biographie, in: Rudolf Otto’s Bedeutung für die Religionswissenschaft und die Theologie heute, hg.v. Ernst Benz, Leiden 1971, 1– 29; Jack S. Boozer, Rudolf Otto (Anm. 17); Gregory D. Alles, Rudolf Otto (1869 – 1937), in: Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, hg.v. Axel Michaels, München 1997, 198 – 210.
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und aus den Briefen nur einiges heraus, an dem sich das Besondere seiner Persönlichkeit erkennen lässt. Nach Studiensemestern im rechtgläubigen Erlangen und im liberalen Göttingen wurde Göttingen seine akademische Heimat. Er gehörte zu dem guten Dutzend von Göttinger Theologen, die ihre historisch-kritische Arbeit in der Theologie als religionsgeschichtlich ansahen und dann unter der Bezeichnung „Religionsgeschichtliche Schule“ bekannt wurden. Es ging um die nicht dogmatische, sondern die historisch-kritische Arbeit am Christentum, eingeschlossen die Religionen der Umwelt des Alten und des Neuen Testaments. Doch zwei Mitglieder der Gruppe übersprangen diese Grenzen, Rudolf Otto und der fünf Jahre ältere Heinrich Hackmann²¹. Sie studierten u. a. Religionen Indiens, Japans, Chinas. Schon Ottos Privatdozentur war zwar der Geschichte der Systematischen Theologie gewidmet, daneben aber den angrenzenden Gebieten der Religionsgeschichte und Religionsphilosophie. Und Otto wie Hackmann lernten Quellensprachen, Hackmann Chinesisch, Otto Sanskrit, beide allerdings mit begrenztem Erfolg. Doch sie studierten Religionen nicht nur in ihren Texten, sondern auch vor Ort. Beide waren, für diese Zeit nicht selbstverständlich, schon so etwas wie Feldforscher. Hackmann nutzte eine Position als Pfarrer der deutschen Gemeinde in Shanghai und studierte dort auf zwei Reisen (1901– 1903 und 1910 – 1912) in situ die Religionen Chinas, später übernahm er eine religionsgeschichtliche Professur in Amsterdam. Otto, anders als die meisten der philologisch ausgerichteten Religionsforscher seiner Zeit, reiste in Länder, in denen ihm bis dahin fremde Religionsformen praktiziert wurden. Seine lebendigen Reiseberichte – Briefe, Tagebuchnotizen, Dankschreiben für Mitfinanzierung an Behörden, Zeitungsartikel – mischen sorgsames Protokoll und reflektiertes spontanes Empfinden. Schon als Student machte er sich 1889 in England mit der anglikanischen Hochkirche bekannt, bald darauf, 1891, in Griechenland, 1895 auf dem Athos mit der Orthodoxie, auch mit den Kopten in Kairo. Den gelebten Islam lernte er in diesem Jahr und noch einmal 1911 in Nordafrika kennen. Indien, Burma, dann Japan, China und Russland waren 1911/12 die Stationen seiner ersten großen Asienreise. Eine zweite Reise, in der ersten Hälfte zusammen mit dem schwedischen Pastor Birger Forell, führte ihn 1927/28 zuerst nach Ceylon, dann durch den
Fritz-Günter Strachotta, Religiöses Ahnen, Sehnen und Suchen. Von der Theologie zur Religionsgeschichte. Heinrich Friedrich Hackmann 1864– 1935, Frankfurt a.M. 1997; Otto und Hackmann blieben bis zu Hackmanns Tod 1935 in freundschaftlicher Verbindung. Hackmanns Bibliothek, seine Sammlung religiöser Gegenstände, Materialien für ein buddhistisches Wörterbuch und Teile seines handschriftlichen Nachlasses wurden der Religionskundlichen Sammlung übereignet.
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Süden Indiens,²² schließlich durch Ägypten und über Jerusalem nach Konstantinopel zur 2. Weltmissionskonferenz.²³ Nicht als Reisender, sondern als Vikar des „Kellnerpastors“ Hermann Schmidt in Cannes erlebte er, frisch examiniert, dort den Gemeindealltag einer deutschen Auslands- und Touristengemeinde, wovon er lebendig, teils drastisch, in seinen Beiträgen zu einem zwischen ehemaligen Kommilitonen vereinbarten Brief-Kränzchen erzählte.²⁴ Der Vielfalt und Breite seiner Interessen und Aktivitäten kann man in einem kurzen Überblick nicht nachgehen, ich nenne nur einige in Stichworten, als Hinweise, denen folgen kann, wer an dem einen oder anderen interessiert ist: Rudolf Ottos Reisen waren zwar religionswissenschaftlich motiviert, er bemühte sich, besonders in China und Japan, aber auch darum, kulturelle Kontakte zu schaffen und Elemente der deutschen Kultur dort zu etablieren. In Aufsätzen hat er sich programmatisch dazu geäußert.²⁵ Ein China-Institut, an dessen Gründung in Frankfurt am Main er mitwirkte und mit dessen erstem Direktor, Richard Wilhelm (1873 – 1930),²⁶ er befreundet war, sollte, neben anderem, auch diesem Zweck dienen. Von 1913 bis 1918 war er Landtagsabgeordneter der Nationalliberalen Partei. Welchem Ziel 1916 eine diplomatische Mission in die Türkei diente, die ihm den „türkischen Kronenorden“²⁷ (Osmanier-Orden 2. Klasse) einbrachte, ist noch zu erkunden. In dieser Zeit arbeitete er auch an dem Werk, das ihn, unter den Fachkollegen wie auch im Bildungsbürgertum, in kürzester Zeit weltweit bekannt werden ließ, Das Heilige. ²⁸ Die hier miteinander verschlungenen philosophischen, psychologischen, theologischen und religionsgeschichtlichen Gedankengänge werden in vielen Beiträgen zu diesem Kongress eine Rolle spielen. Sozialethische Ziele, verknüpft für die Realisierung mit politischen, grundlegend mit theologischen und religionsgeschichtlichen Motiven ließen ihn 1920, als religiöses Pendant zum Völkerbund, den „Religiösen Menschheitsbund“ gründen.²⁹
Über diesen Teil der Reise vgl. Birger Forell, Från Ceylon till Himalaya, Stockholm 1929. Die Reisen Ottos sind seit mehr als 20 Jahren Forschungsschwerpunkt von Tsuyoshi Maeda aus Kagoshima. Eine japanische Publikation mit seinen Forschungsergebnissen bereitet er vor. 29.12.1892– 12.1.1893; 15. 3.1893/UB Marburg: Ms. 797/338; 797/339. Z.B. Rudolf Otto, Deutsche Kulturaufgaben im Ausland, in: Der Ostasiatische Lloyd 26 (1912), 483 – 485. Richard Wilhelm – bekannt vor allem als Übersetzer klassischer chinesischer Werke. 15. 2.1920/UB Uppsala: Nathan Söderbloms brevsamling. S. o. Fußnote 2. Jeong Hwa Choi, Religion als „Weltgewissen“. Rudolf Ottos „Religiöser Menschheitsbund“ und das Zusammenspiel von Religionsforschung und Religionsbegegnung nach dem Ersten Weltkrieg, Diss. Leipzig 2010; siehe auch ihren Beitrag in diesem Band.
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1925 dichtete er ein „Vaterlandslied“, das er in seinen liturgischen Anregungen als Gemeindelied in einen Gottesdienst am „Vaterlands-Sonntag“ übernahm.³⁰ Otto gehörte zu den regelmäßigen Autoren der sich dem Verhältnis zwischen Christentum und Kultur produktiv-kritisch widmenden Zeitschrift Die Christliche Welt. ³¹ Hier konnte er auch ein Ziel der Göttinger Religionsgeschichtlichen Schule weiterverfolgen, die anspruchsvolle Popularisierung theologischer Forschung. Einen Plan, den er schon in den Jahren in Göttingen und Breslau entwickelt hatte, konnte er 1927, zur Vierhundertjahrfeier der Philipps-Universität, verwirklichen, er gründete die fakultätsfreie Religionskundliche Sammlung. Ursprünglich ein Institut mit einem Museum, einer Bibliothek, Archiven, Nachlässen, besteht sie, wenigstens im Kern, bis heute und kann im Rahmen des Kongressprogramms besichtigt werden.³² Schon früh hatte er religiöse Kunst und Architektur in seine Überlegungen einbezogen, und das blieb so bis in seine letzten Lebensjahre. Eine Hausarbeit im Predigerseminar auf der Erichsburg, im Wintersemester 1894/95, hatte den Titel „Die Entwicklung des protestantischen Kirchenbaus von der Reformation bis zur Gegenwart“.³³ Wie er an das Thema heranging und welche Fragen sich ihm stellten, beschreibt er, in der ihm eigenen saloppen Weise Sachliches und Persönliches miteinander spielen lassend, in einem seiner Briefkränzchen-Briefe.³⁴ In seinem vorletzten Lebensjahr, im Frühjahr 1936, erzählte er Carola Barth³⁵ beim gemeinsamen Besichtigen von Kölner Kirchen, dass er, wenn er nicht schlafen könne, oft Kirchenbauten entwerfe.³⁶ In zwei Studien in Weiterführung des in Das Heilige Ausgeführten behandelt er unter dem Aspekt der Kunst ausdrücklich re-
Rudolf Otto, Eine Gottesdienstordnung für den Vaterlands-Sonntag (Verfassungstag), in: Die Christliche Welt 39 (1925), Nr. 20/21, Sp. 433 – 438. Text des Liedes 436, mit der von Hermann Stephani komponierten Melodie auf ungezählter Beilage zu Nr. 22/23 „Gesänge zum Vaterlandstage“; Vaterlands-Sonntag (Verfassungstag), in: EAG, 72– 77; Zum Vaterlands-Sonntag, in: Die Christliche Welt 48 (1934), Sp. 151– 153. Die Christliche Welt, erschienen von 1886 bis 1941, bis 1931 redigiert von Martin Rade. Martin Kraatz, Die Religionskundliche Sammlung, eine Gründung Rudolf Ottos, in: Marburger Gelehrte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, hg.v. Ingeborg Schnack, Marburg 1977, 382– 389. Archiv der Erichsburg: Hs.154 S. (A 5). 27.7.1894/UB Marburg: Ms. 797/342. Die erste in Deutschland promovierte Theologin (Lic.theol. Jena 1907). Brief an „Sehr verehrte, liebe Frau Ottmer und liebes Fräulein Ottmer“ nach Ottos Tod, Ostermontag 1937, Bibliothek Religionswissenschaft Marburg, Rudolf-Otto-Archiv: OA 467.
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ligionsgeschichtliche Themen: „Numinoses in buddhistischem Bildwerk“ und „Das Leere in der Baukunst des Islam“.³⁷ Den Zugang zum Verständnis von Religionen für nicht der jeweiligen Sprache Kundige förderte er mit der Begründung der Quellen der Religionsgeschichte, deutsche Übersetzungen religiöser Quellentexte, ein Sammelwerk,wie es zu seiner Zeit in englischer Sprache in den Sacred Books of the East bereits vorlag. Nach dem Erscheinen des 15. Titels³⁸ wurde die Reihe nicht fortgeführt. Unabhängig davon erarbeitete Otto selbst einige Übersetzungen aus dem Sanskrit, einzelne vedische Verse, Upanishads, Philosophisches, Texte der BhaktiTradition, zuletzt, verbunden mit einer recht subjektiven Werkanalyse, die Bhagavadgītā.³⁹ Diese Arbeit wurde von Indologen teils zustimmend aufgenommen, aber auch heftig kritisiert, was ihn, wie seine Nichte Margarete Ottmer berichtete, kränkte, er aber ignorierte. In nur noch diktierten Briefen vom November/Dezember 1936 an Birger Forell⁴⁰, wo es um eine englische Übersetzung seiner drei Bhagavadgītā-Arbeiten geht, weist er auf zwei positive Reaktionen hin.⁴¹ In die Begründung der Eranos-Tagungen in Ascona war er durch Olga FröbeKapteyn, die ihn in Marburg aufsuchte, einbezogen, hat vielleicht sogar den Namen vorgeschlagen. Doch teilgenommen an einer Tagung hat er nicht, nur aus dem Kreis der ihm bekannten Kollegen einige als Referenten vorgeschlagen.⁴² Obwohl selbst Universitätstheologe, äußerte er sich auch zu Problemen, die in der Kirche diskutiert wurden. So legte er in einem Aufsatz dar, welche Dienste in der Kirche Frauen übertragen werden könnten.⁴³ Und um jungen Theologen den Übergang vom Studium in die Gemeinde-Praxis zu erleichtern, gründete er mit befreundeten liberalen Pfarrern und Kollegen die Schleiermacher-Stiftung.⁴⁴ Schon zu dem bis hierher gewagten Versuch, Rudolf Otto kurz zu charakterisieren, haben Zitate aus seinen Briefen beigetragen. Es liegt eine Sammlung
GÜ, 253 – 257.258 – 260. Herman Lommel, Die Yäšt’s des Avesta, Göttingen 1927. Rudolf Otto, Die Urgestalt der Bhagavad-Gita, Tübingen 1934; Ders., Die Lehrtraktate der Bhagavad-Gita, Tübingen 1935; Der Sang des Hehr-Erhabenen. Die Bhagavad-Gita, übertr. u. erl. v. Rudolf Otto, Stuttgart 1935. 12.11.und 12.12.1936/UB Marburg: Ms. 797/176; 797/178. Otto Strauss, Zur Interpretation der Bhagavadgītā, in: Nieuw Theologisch Tijdschrift 25 (1936), 247– 262; Heinrich Zimmer in Heidelberg, der sich „schriftlich darüber sehr günstig ausgesprochen“ habe. Zu Otto und dem Eranos: Hans Thomas Hakl, der verborgene Geist von Eranos. Unbekannte Begegnungen von Wissenschaft und Esoterik, Bretten 2001, vor allem 92 ff. Rudolf Otto, Kirchliche Ämter für Frauen, in: Die Christliche Welt 17 (1903), 920 – 924. Rudolf Otto, Schleiermacherstiftung. Ein Vorschlag für die Nürnberger Tagung, in: An die Freunde 33 (1910), 369 f.
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solcher Briefe vor, zusammengetragen hauptsächlich von der Historikerin und Germanistin Margarete Dierks (1914– 2010)⁴⁵, zu erweitern und dann zu edieren jetzt von mir. Rudolf Otto hatte in seinem am 10. August 1924 abgefassten Testament verfügt, dass seine Schwester Johanne Ottmer die Erbin seines gesamten Nachlasses sein solle. Und dann: „Meine Briefschaften und Kolleghefte sollen verbrannt werden.“ Wiederholt und bestätigt hatte er diese Verfügung am 15. September 1936. Nach seinem Tod drängten die ihm befreundeten Kollegen Heinrich Frick, Theodor Siegfried und Georg Wünsch, auch der Testamentsvollstrecker Paul Neff, darauf, dass Johanne Ottmer das Verbrennen unterlassen solle, vor allem wohl im Blick auf die Kolleghefte, in denen sie bedeutende Erkenntnisse vermuteten, die der Menschheit nicht vorenthalten werden dürften. Unter Siegfrieds Leitung gründeten sie ein der Religionskundlichen Sammlung zugeordnetes Rudolf-Otto-Archiv und riefen in Handzetteln, die sie Zeitschriften beilegten, dazu auf, OttoMaterialien jeder Art dem Archiv zur Verfügung zu stellen. Das hatte einen gewissen Erfolg. Ein Teil des Archivs liegt als „Nachlass Rudolf Otto“ heute in der Marburger Universitätsbibliothek.⁴⁶ Ottos Wunsch, seine Kolleghefte zu verbrennen, ist wohl als Konsequenz seines Arbeitsstils anzusehen. Was er publizierte, war für ihn nie endgültig, er arbeitete immer daran weiter, wie es auch seine Handexemplare bezeugen. Umso weniger wird er das, was er sich für Vorlesungen und Seminare notierte, als etwas Abgeschlossenes angesehen haben. Das Notierte waren nur Denkanstöße, über die er dann, wie berichtet wird, in der Vorlesung frei weiter nachdachte. Unter „Briefschaften“ verstand er wohl alles an Korrespondenz, das, als er starb, bei ihm lag, private wie offizielle Post an ihn, bestimmt auch einige von ihm an andere geschriebene Briefe, im Durchschlag wie im Original. Denn manchmal bat er, im Brief selbst, darum, ihm seinen Brief zurückzuschicken. Über Briefe anderer an ihn äußerte er sich in der Antwort freimütig, z. B. sei ein Brief von Eberhard Vischer „verkramt“⁴⁷, einer von Birger Forell „aufgebrannt oder von Schaute [seinem Hund (Anm. d. Verf.)] aufgefressen“.⁴⁸ Im Detail ist der Umfang dieser von Otto hinterlassenen „Briefschaften“ unbekannt. Es ist offenbar zunächst alles in das Archiv gegeben worden. Welche Briefe später von außen dazugekommen sind, darüber ist nicht Buch geführt worden. Bekannt ist das nur von drei Korrespondenzblöcken, Ottos Briefe an Heinrich Hackmann, Birger Forell und
S. Fußnote 49. UB Marburg: Ms. 797. 16.11.1903/UB Basel: NL Vischer, G 6,6. 22. 2.1926/UB Marburg: Ms. 797/52.
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Richard Wilhelm samt deren Gegenbriefen. Doch, unabhängig davon, ist im Archivbestand die Zahl von Briefen Ottos an andere erstaunlich hoch. Margarete Dierks war bei der Arbeit an einer recht deutlich beeindruckt-engagierten Biographie Jakob Wilhelm Hauers⁴⁹ auf Rudolf Otto aufmerksam geworden. Seine Gedanken faszinierten sie, und sie wollte der Hauerschen eine OttoBiographie folgen lassen. Dazu, schließlich erst einmal für eine eigene Briefedition, sichtete sie die Briefbestände von Archiv und Nachlass hier in Marburg und begann, immer in Kontakt mit mir, aus anderen Archiven, Nachlässen und Privatsammlungen Briefe Rudolf Ottos zusammenzutragen. Die Sammlung umfasst heute etwa 850 Otto-Briefe und -Karten an etwa 70 Adressaten. Unter diesen fehlen manche, mit denen er in engerem Kontakt stand. Und viele sind nicht vertreten, mit denen nach Bemerkungen in Ottos Briefen an andere und nach deren Briefen an Otto er eine gewisse Korrespondenz geführt haben muss. Solche Briefe an Otto lassen übrigens manches über ihn erkennen, was seine eigenen Briefe so nicht hergeben. Umso interessanter wäre es, auch diese noch zu entdecken und zu erfahren, ob und wie Otto auf das eine oder andere reagiert hat. Ich suche also weiter. Auch der Titel meines Vortrags ist einem Brief entnommen:⁵⁰ „[…] meine stellung als modernistischer pietistisch angehauchter lutheraner mit gewissen quakerneigungen ist eigen […].“ Jedes Wort dieser Selbstbeschreibung öffnet den Blick in ein besonderes Moment seines Lebens und Wirkens. Mit den Modernisten sympathisierte er und hatte Kontakt mit einem der Prominenten unter ihnen, mit Ernesto Buonaiuti. Er hätte vielleicht gerne auch den Protestanten einen Modernismus verschrieben, sah sich wohl selbst als einen protestantischen Modernisten. Pietistisch war das religiöse familiäre Milieu, in dem er aufgewachsen war. Ein handfester Pietist war offenbar der Kellnerpastor Hermann Schmidt in Cannes, bei dem er hospitierte und dem er bis zu dessen Tod verehrend-freundschaftlich verbunden blieb. Und die Bedeutung, die er im Religiösen der Erfahrung und dem Gefühl zuschrieb, hat mit diesem Kongress heute wieder an ihn erinnern lassen. Auch hat seine Nichte Margarete Ottmer mir gegenüber mehrfach davon gesprochen, ihr Onkel Rudolf habe sein Leben lang darauf gewartet, eine ihn im Tiefsten treffende Gotteserfahrung zu erleben. Luther begleitete sein theologisches Denken von der Dissertation an.⁵¹ Und von den Quäkern übernahm er in seine liturgischen Entwürfe den „schweigenden Dienst“.⁵² Eine ihm „eigene“ Stellung zu haben und
Margarete Dierks, Jakob Wilhelm Hauer 1881– 1962. Leben – Werk – Wirkung, Heidelberg 1986. An Jakob Wilhelm Hauer/23. 5.1933/BA Koblenz: NL Hauer, 52, 268 ff. Publiziert u. d. Titel: Rudolf Otto, Die Anschauung vom Heiligen Geiste bei Luther. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, Göttingen 1898. Katharina Wiefel-Jenner, Rudolf Ottos Liturgik, Göttingen 1997.
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zu zeigen, war ihm immer wichtig. Von Gruppierungen, in denen Bekenntnisse ideologisiert zu Gemeinschaftsparolen wurden, hielt er sich fern – so von der Bekennenden Kirche ebenso wie von den Deutschen Christen. Otto will sich hier mit seiner wohl zwischen einer gewissen Koketterie und tiefem Ernst changierenden Bemerkung von der für Hauer wichtigen „freiprotestantischen bewegung“ abgrenzen, da „passe [er] ja kaum hinein“. Und er fährt, vielleicht unbewusst seine Selbstcharakteristik leicht interpretierend, fort: „[…] [E]ine religiöse haltung die nicht bestimmt ist von den biblischen grundgehalten von busse, rechtfertigung, glaube und ganz festem transcendentalismus ist mir innerlich fremd, jedenfalls nicht die meine. was mich zu den freiprotestanten zog, war die hoffnung, menschen zu finden, die die entschlossene historische Kritik anerkennen und daraus die folgen ziehen wollen zu einem entschiedenen umbau auch in lehre, ritus, predigt, unterricht der Kirche.“
In einem Brief an Hauer wenig später erklärt Otto dann als Religionswissenschaftler, er könne „den studierenden deines [Hauers (Anm. d. Verf.)] kreises […] dienen, sofern ich religionsgeschichtliche objekte versuche in ihrer echtheit zu erfassen und vorzutragen und in ihrer eigenheit sie reden zu lassen […]“.⁵³ Diese Aussagen über sich selbst, herausgegriffen aus einer Fülle anderer ähnlicher, zeigen, wie differenziert Rudolf Otto sich sah, im Fühlen, im Denken, im Handeln. Das macht den Reiz und das Problematische aller seiner Publikationen und auch seiner Briefe aus. Man wird ihm niemals gerecht, wenn man ihn einbahnig festlegen will. Rudolf Ottos Briefe sind in Sprache, Stil und Gedankenführung anders als seine Publikationen. Sie sind spontan, locker, unakademisch, nicht die übliche „Gelehrtenkorrespondenz“. Man liest sich in ihnen fest und staunt über die von Brief zu Brief plastischer heraustretende verwirrend facettenreiche Persönlichkeit eines Gelehrten mit einem ungewöhnlich starken Temperament, der allem, was ihm begegnete und was er tat, intellektuelle Neugier, emotionale Teilnahme und zupackendes soziales Verantwortungsbewusstsein entgegenbrachte. So sind seine Briefe nie Abhandlungen, Literatur, sondern immer gezieltes Gespräch mit dem aktuellen Adressaten, den erkennen lassend, dass er sich dessen Sache auch zu seiner eigenen macht. In dieser Weise hat er sich wohl auch wissenschaftlichen Fragestellungen genähert. Er hat sie nicht als solche behandelt und zu lösen versucht, sondern sich dann mit ihnen beschäftigt, wenn er in ihnen etwas empfand, was ihn persönlich beunruhigte und wofür er für sich selbst eine Antwort brauchte. Hinweise darauf
24.8.1933/BA Koblenz: NL Hauer, 54, 389 ff.
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gibt es in den Briefen viele, einen stark zugespitzten, auf Das Heilige bezogen, will ich zitieren. Otto schreibt an den Leipziger Pastor und späteren Praktischen Theologen in Straßburg Gottfried Naumann⁵⁴: „Herzlichen Dank […] auch für Ihre freundlichen Worte über mein Buch. Ich habe Zustimmungen dazu von Kattenbusch und Bousset. Aber den Punkt, den Sie gleich erkannt haben, berühren beide nicht. Die Beziehung des Buches zu dem drückenden Rätsel, das uns jetzt alle umgiebt. Ich wollte kein ‚Kriegsbuch‘ schreiben. Aber die Gedanken meiner Schrift sind das Einzige, was mir die furchtbare Qual der Gegenwart erträglich macht. Und die Zuflucht zu dem unsagbaren u doch fühlbaren ewigen Geheimnis, das sich uns jetzt in Hiobischer Größe auftut, ist wol der einzige Trost u Kraftquell, der uns bleibt. Ich möchte wol, daß das einmal jemand deutlich ausspräche […].“
Es ist wohl nicht übertrieben, Rudolf Ottos Biographie, seine Briefe und seine Publikationen der Religionsforschung als ein hochinteressantes Quellenmaterial zu empfehlen. In dem Sinne, in dem wir Religionshistoriker die Theologen ohnehin sehen, was bei Rudolf Otto aber in unverhüllter Deutlichkeit hervortritt, ist das ein zeugnishaftes Material, das uns vorführt, wie ein gelehrter Theologe als homo religiosus sich ein Leben lang um seine religiöse Selbstvergewisserung bemüht hat. Zwar wäre es nicht im Sinne von Rudolf Ottos Verfügung, dass seine „Briefschaften“ verbrannt werden sollten, es rundete aber in vielerlei Hinsicht das Profil seiner Persönlichkeit ab, wenn ich mit einem kommentierten Florilegium aus seinen Briefen abschlösse. Doch da erlaubte beim Vortrag das Zeitlimit nur ein paar Andeutungen und jetzt im Druck erlaubt das Zeichenlimit es gar nicht. So schließe ich ab mit dem vollen Wortlaut eines Antwortbriefes des alten Rudolf Otto (knapp 67 Jahre alt) an einen jungen Doktoranden, Hanfried Krüger (22), wahrscheinlich der letzte Brief dieser Art, den Otto, gut ein halbes Jahr vor seinem Tod, geschrieben hat, am 19. 8.1936.⁵⁵ In diesem Brief sehe ich vieles von dem widergespiegelt, was die in so manchem doch besondere Persönlichkeit Rudolf Ottos ausmacht, eingeschlossen die Sachfragen, die er hier bespricht. „Marburg 19 8 36 Lieber Herr Krüger.⁵⁶ Sie stellen fragen, die zur beantwortung ein ganzes buch erfordern würden. das kann ich nicht schreiben. aber einige gesichtspunkte will ich geben.
23.12.1916/UB Marburg: Ms. 797/816. Ende September 1936 stürzte Otto, ob versehentlich oder willentlich, ist ungeklärt, von „einer hohen Mauer“ der Burgruine Staufenberg bei Lollar, mit „schweren Beinbrüchen und inneren Verletzungen“ (Kurhessische Landes-Zeitung/28.9.1936: „dieser Tage“). Bibliothek Religionswissenschaft Marburg: Rudolf-Otto-Archiv: noch o. Sign. Hanfried Krüger (1914– 1998, Ökumeniker) promovierte im Oktober 1937 bei Friedrich Heiler mit der philo-
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1. Meine Unterscheidung von gläubiger und mystischer frömmigkeit ist selber nur ein notbehelf, um gewisse zusamm[en]gehörigkeiten anzudeuten, die bei der traditionellen unterscheidung übersehen werden. 2. Die religiösen typen sind viel mannigfaltiger als daß sie in solche zwei klassen eingeordnet werden könnten. – In WÖM ist es mein hauptanliegen darauf hinzuweisen, daß z. B. der Name ‚Mystik‘ ganz central verschiedenen seelenhaltungen beigelegt wird. Wir nennen eckart und theresa Mystiker, und doch würde Eckart die Theresa schwerlich als eine geistesverwandte anerkannt haben. 3. Söderblom unterscheidet Mystik und profetische religion, und doch ist die große willensmystik von Eckart der Intention der Profeten verwandter als der Mystik Plotins, und andrerseits ist rein quietistische ‚Gläubigkeit‘ manchen Typen von Mystik näher als den Intentionen der Profeten. 4. Ferner, die tief in Eckart liegende ‚Demutsmystik‘, die doch zum vollendeten Theopantismus führt, ist an sich dem profetischen ‚Distanzgefühle‘ wieder viel näher als dem Überschwenglichen seiner Homo-nobilis-lehre. 5. Meine Bestimmungen über Mystik in den früheren auflagen meines DH waren noch selber zu sehr von der traditionellen Zweiteilung abhängig. Ich habe sie in meiner neuesten auflage (Aufl. 23 – 25) sehr eingeschränkt. Das Überwiegen der irrationalen Momente in ‚mystischen‘ Typen ist ein faktum, aber ich würde heute nicht mehr von da aus die eigentliche definition dieser Typen zu gewinnen suchen. 6. Das Erlebnis ‚des Heiligen‘ ist indertat das ‚religiöse Grunderlebnis‘. aber, das Heilige ist eben nicht das bloße ‚Numinose‘ sondern ist für mich grade die innige Einheit irrationaler und rationaler Momente. 7. ‚Gläubige‘ Frömmigkeit ist als solche nicht identisch mit ‚profetischer‘ Religion, sondern ist da vorhanden, wo die gemütsfunktion gegenüber dem Transce[n]denten besteht im vertrauenden ergreifen ‚des Wortes‘ als Wortes des Gebotes und der gnädigen Zusage. Letztere Haltung setzt also ‚das Wort‘ als Grundlage voraus, aber wieder ist damit nichts gesagt darüber, ob mir dieses Wort kommt durch ‚Profeten‘ und ihre Autorität oder ob dieses Wort vernommen wird direkt durch eigene Einsprache ‚des Geistes‘ zum Einzelnen unmittelbar. Ja, die ‚profetische‘ frömmigkeit selber nimmt häufig das letztere als den eigentlichen Idealzustand an, ‚Wo alle selber von Gott belehrt sein werden‘. 8. So sehe ich als hauptaufgabe an, zunächst den nebel zu beseitigen, der durch den völlig undeutlichen wortgebrauch von ‚Mystik‘ mit jeweilig verschiedenen und sehr willkürlichen Definitionen entstanden ist, und charakteristisch verschiedene, zugleich viel zahlreichere religiöse Typen zu unterscheiden, diese dann nicht en masse sondern einzeln miteinander zu vergleichen, den Ursachen ihrer häufigen wechseldurchdringung nachzudenken und dann vielleicht ganz zuletzt über eine vielleicht vorhandene höchste gattungseinheit solcher Typen nachzudenken, auf die ja die Verw[a]ndtschaftszüge hinzuweisen scheinen, die mir in dem (allzudürftigen!) Schema von Vergleichung ‚mystischer und gläubiger frömmigkeit‘ entgegen getreten sind. Ich würde Ihnen raten, einmal sehr gründlich dem ganz selbständigen Typus nachzudenken, den ich in meiner letzten auflage von DH noch schärfer als früher als ‚Demutsmystik‘ (besser
sophischen Dissertation: Verständnis und Wertung der Mystik im neueren Protestantismus (=Christentum und Fremdreligionen, Heft 6), München 1938.
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Demuts-theopantismus) bei Eckardt dargestellt habe und ihn in seiner sonderbaren eigenständigkeit und Unterschiedenheit von seiner sonstigen mystik der ‚Einheitsschau‘ bestimmt aufzufassen. man hat damit einen festen faden in der hand, und indem man ihn langsam und vorsichtig anzieht, gelingt es vielleicht, ein ungeheuer verschlungenes gewebe sehr verschiedener momente langsam auseinander zu ‚rebbeln‘, (wie die Frauen bei uns sagen, wenn sie einen alten strumpf ‚aufdröseln‘). Mit gruß Ihr R. Otto [handschriftlich:] RO.“
II Gesamtperspektiven und Aktualität
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Rudolf Otto and the Cognitive Science of Religion The last time I was in Marburg was July 1998, shortly after Robert McCauley, a leading voice in the cognitive science of religion, had delivered a lecture entitled “Ritual and Memory: Assessing Two Hypotheses.” I missed the talk, because a few days earlier I had received word that my father was dying, and I had gone back to the U.S. to join the rest of my family. When I returned, I heard about it from a man to whom all Otto scholars are immensely indebted, the man who must know more about Otto than anyone else in the world, Dr. Martin Kraatz, then still director of the Religionskundliche Sammlung and keeper of the Otto Archives. If I remember his account correctly, Dr. Kraatz was not particularly impressed by what McCauley had to say. My choice of theme, “Rudolf Otto and the Cognitive Science of Religion,” may seem, then, to be rhetorically odd. Why not pick a topic more likely to be amenable to one’s audience? It may seem theoretically odd, too. Otto and the cognitive science of religion would seem to be diametrically opposed. For much of the twentieth century, analyses like Otto’s provided the chief mode of defense for those who opposed reduction in the study of religions, while those who engage in the cognitive science of religion have been some of reduction’s most vocal and vigorous advocates. Besides noting this incommensurability, what more is there to say? The opposition between reductionism and anti-reductionism is certainly important, but I would urge us not to let it obscure another point: in important respects the cognitive science of religion is today’s successor to Otto’s program. This is the point I want to take up here, and I will do so in four stages. First, I will examine some underlying similarities that the project of cognitive science shares with Otto’s. Then I will consider some of the profound differences in perspective between the two. Following that, I will briefly indicate where I stand on these differences, and finally conclude with some suggestions on what relevance Otto’s analysis of the holy might have for work in the cognitive science of religions today. My aim here is not to think as Otto but to think along with him. I am engaged not in an act of translation, interpretation, or analysis but in one of creative appropriation. I want to suggest that the study of religions will benefit not by adopting Otto’s ideas (although it may wish to do that, too) but by not forgetting Otto’s questions and the ways he attempted to answer them. It should be apparent through-
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out that although Otto thought of moderne Theologie as Religionswissenschaft,¹ I personally prefer to maintain a sharp distinction between the two, and I stand firmly with Religionswissenschaft, the non-confessional, non-theological, naturalistic study of religions – what some in the English-speaking world call, not entirely fairly, “the academic study of religion.” In other words, I take up my theme not because I think it can help us better discover, formulate, or prove religious truth or engage in religious practice, but because I think bringing Otto and the cognitive science of religion into dialogue can help us understand a little better the human activities and expressions that we categorize as religious.
1 A Shared Project What Otto and the cognitive science of religion share, I would suggest, is first and foremost a project. I like to say that this project is to identify the mental mechanism or mechanisms that make religion possible.² (For ease of exposition I will generally use the present tense in referring to Otto.) To be sure, they do so in very different ways and for rather different motives, but instead of jumping to these differences immediately, let us linger a little over some similarities. To speak in overly broad terms: for much of the twentieth century scholars of religions have generally simply taken it as a given that people are religious; I suspect most still do. They have envisioned the principal aim of scholarship in religions – of Religionswissenschaft – as the examination of the structure and forms that religions have taken, currently take, and perhaps by implication are likely to take in the future. They have also been eager to emphasize religion’s cultural and historical contingencies and to talk about religion’s functions, especially when they could give these functions positive social value. As the twentieth century proceeded they became increasingly self-critical about their claims to knowledge and its political implications, leading them not the least to question the aptness of the category “religion” itself. But scholars of religion have been quite wary of any claim that, while mental processing certainly varies from human being to human being, it is possible to explain religion in terms of the operation of mental mechanisms. In many respects the position of twentiethcentury psychologists was much the same, especially the behaviorists, who thought it unnecessary to invoke unobserved mental events to explain behavior. Not so Otto, and not so the cognitive science of religion. Both try to identify men-
KFR, 192. Cf. KFR, 165.
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tal mechanisms that account for the origins and persistence of religion, and in doing so they formulate – in contrast to behaviorism – models of mental activity that are not directly observable, at least not publicly. I do not want to ignore the differences in how Otto and cognitive science go about modeling these mechanisms, but it would be misleading not to recognize that there are also other similarities between the two. For example, both entertain the conviction that the human mind is not a blank slate but is modular; it has built-in structures dedicated to specific mental tasks. In Otto’s case, mental modularity is inherited from a Kantianism that his phenomenological successors by and large rejected. In cognitive science, Jerry Fodor recalled Kant when he first proposed that pre-conscious mental processing was modular.³ In the time since modularity has become crucial to the analysis of conscious mental processing as well. Here is another similarity: despite the emphasis on the mental, neither Otto nor the cognitive science of religion neglects the physiological. This is perhaps more obvious for cognitive science. In that field, for example, Edward Slingerland has written quite explicitly and extensively about the embodied mind. Among other things, he has combined George Lakoff and Mark Johnson’s metaphor theory, which emphasizes physiological experience as a foundation for abstract thought, with conceptual blending theory to formulate sophisticated interpretations of early Chinese texts.⁴ Otto’s account takes the body seriously, too, although that is perhaps more easily overlooked. In Otto’s account numinous experience is not solely an internal matter. It has crucial physiological correlates, such as creeping skin. So far as I know, however, Otto never envisioned actually measuring these correlates, as cognitive scientists do with galvanic skin response, pupillometry (changes in the pupils of the eyes), and so on. I want to note very briefly a couple of other shared characteristics that are, perhaps, a little less obvious. Both Otto and cognitive science agree that, although religion itself is limited to the human species, elements of religion are found in other species as well. Granted, in Otto’s work this is muted, but you may recall how in one striking passage he notes that his horse, Diana, displayed disgust and fright upon encountering the body of a dead horse.⁵ There is even room in cognitive science for an appreciation of Otto’s central concept: mystery.
Jerry A. Fodor, The Modularity of Mind. An Essay on Faculty Psychology, Cambridge, Mass. 1983. Edward Slingerland, What Science Offers the Humanities. Integrating Body and Culture, Cambridge 2008; cf. esp. George Lakoff/Mark Johnson, Metaphors We Live By, Chicago 1980, and Gilles Fauconnier/Mark Turner, The Way We Think. Conceptual Blending and the Mind’s Hidden Complexities, New York 2002. DH1, 128.
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In a little noticed passage Dan Sperber writes about the idea of God: “Here is a belief which … does not lend itself to a final, clear interpretation …. Part of the interest of religious beliefs … comes precisely from the fact that you are never through interpreting them. … [i]t is not too difficult to see how their very mysteriousness makes them ‘addictive’.”⁶ Finally, both Otto and the cognitive science of religion derive a significant impetus from the theory of biological evolution. This is perhaps obvious for contemporary cognitive science, with its concerns for a materialistic explanation of the transmission of religious concepts and, more broadly, evolutionary psychology. But we should not forget that in important respects Otto’s entire theological project was a response to the religious problematics created by the publication of Darwin’s Origin of Species and its popularization in books such as Ernst Haeckel’s Welträtsel. ⁷ To state the point bluntly: Das Heilige was intended to create a safe haven for religion in an intellectual world in which evolution was a dominant paradigm. Of course, we should not overemphasize these similarities. The cognitive science of religion approaches evolution – and more broadly the question of the mental mechanism(s) that make religion possible – quite differently than Otto does. Beneath a surface of similarities lurk profound differences, among them differences in motive, in conceptualization, and in investigative procedure. It is to these differences which I now turn.
2 Different Minds As just noted, one of the principal motives behind Otto’s thought is to create a safe haven for religion in the face of evolutionary thinking. In other words, Otto is at heart an apologist; he wants to identify what makes religion possible in order to preserve the possibility of religion. One might think that the motive of cognitive scientists is just the opposite. After all, high-profile neo-atheists with an overt mission to destroy religion, such as Richard Dawkins or Daniel Dennett, make liberal use of cognitive science.⁸ This motivation does not, however, characterize all cognitive scientists. Justin Barrett and Andrew Newberg, for example, use cognitive science and neuroscience, respectively, to develop what amounts to
Dan Sperber, Explaining Culture. A Naturalistic Approach, Oxford 1996, 90, cf. 72. Ernst H. P. A. Haeckel, Die Welträthsel gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Bonn 1899. Richard Dawkins, The God Delusion, Boston 2008; Daniel C. Dennett, Breaking the Spell. Religion as a Natural Phenomenon, New York 2006.
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natural theologies.⁹ Others, like Robert McCauley, simply take religion as an inevitable consequence of the structure of the human mind, one that the mind finds easier than scientific thinking.¹⁰ The real difference is not between wanting to preserve and destroy religion; it is a difference in the logic of scientific explanation. All cognitive scientists are reductionists; Otto is an anti-reductionist. His first major publication, Naturalism and Religion (NRW), unequivocally asserts that all conscious experience is sui generis and as such cannot and never will be explained in terms of matter functioning mechanistically. This difference has its corollaries in both theory and method, in the conceptualization of the mental mechanisms that make religion possible and the procedures needed to investigate them. As I have just noted, Otto’s anti-reductionism is rooted in a mind-body dualism; he insists that mental events – specifically, events of consciousness – cannot be explained in terms of material, mechanistic processes. Although the earlier Otto does theorize the categories that structure the mind, in Das Heilige and many of the publications that followed it his analytical attention focuses on what today we might call the qualia of mental experience – what Thomas Nagel has referred to as “what it’s like to be a bat.”¹¹ For the sake of argument let us grant these qualia. Otto is not interested in all of the different qualia associated with religious thought and behavior; he is only interested in what he takes to be the specifically religious quale. This quale – the experience of the numinous – is typified by the intense experiences normally associated with religious virtuosi (as people called them back then). But it is also accessible, in a passive way, to almost everyone.¹² It results from the operation of a dedicated mental module, the sensus numinis, which is fundamentally disconnected from the mental systems responsible for normal, conscious cognition. The output of this module is a Gefühl, “feeling,” usually conceived of as emotion but which at times Otto clearly specifies as a pre-conception or conscious intuition incapable of further clarification¹³ – an awareness, one might suggest, that conscious mentation cannot make sense of, but whose reality it also cannot dismiss, as it does with, say, a
Justin L. Barrett, Why Would Anyone Believe in God? Walnut Creek, Calif. 2004; Andrew B. Newberg/Eugene G. D’Aquili/Vince Rause, Why God Won’t Go Away. Brain Science and the Biology of Belief, New York 2001; Andrew B. Newberg/Mark R. Waldman, How God Changes Your Brain. Breakthrough Findings from a Leading Neuroscientist, New York 2009. Robert N. McCauley, Why Religion is Natural and Science is Not, New York 2011. Thomas Nagel, What is it Like to Be a Bat?, in: The Philosophical Review 83, no. 4 (1974), 435 – 450. DH1, chap. 23. Cf. DH45–49, 57.
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mirage. As he himself put it, the numinous does not consist of sense perceptions per se but of “unique interpretations and valuations, at first [interpretations and valuations] of perceptual data, and then”¹⁴ – as the final German text puts it – “on a higher level, of objects and entities whose forms are quite obviously products of the imagination (Fantasie).”¹⁵ Although the brain attempts to classify these percepts in familiar terms, its attempts ultimately and inevitably fail. The religious quale is qualitatively distinct from the output of the systems responsible for normal, lucid, conscious awareness. It is sui generis, experienced as an encounter with an intentional object that is, for want of better terms, mysterium tremendum et fascinans, das ganz Andere. It is linked to fully formed concepts only through an associative network whose fundamental link would appear to be based on a false – but also persistent – perception of resemblance. My interests at the moment are more with cognitive science than with neuroscience, which stands one step down on the reductionism ladder. The theory which the cognitive science of religion formulates is significantly different from Otto’s in almost every aspect that I have just mentioned. Inasmuch as cognitive science stands on the reductionism ladder, it presupposes a mind-body unity: mental events ultimately depend upon material, electro-chemical events and are, in principle at least, capable of analysis as such, just as biological processes are ultimately capable of analysis in terms of chemistry and chemical processes in terms of physics. If we do not routinely employ such analyses, even in academic work, that may be primarily because they are too cumbersome and complex and so require too much mental expenditure. Furthermore, for cognitive science qualia, if they exist at all, are not the focus of analytical attention; concepts are. Qualia remain in the background. The concepts upon which cognitive science (unlike much neuroscience to date) focuses are not those of religious virtuosi, nor does cognitive science assign to extreme religionists or religious experts the role of originating religion. Instead, it looks at the concepts of ordinary people, often giving special attention to developmental psychology and, in the process, the religious concepts of children. Furthermore, although cognitive scientists differ on many points, they all seem to agree that there is no need for a special mental module – an equivalent to Otto’s sensus numinis – to account for the emergence, retention, and successful transmission of religious concepts. For example, Stewart Guthrie’s emphasis on the inevitability of facial perception,¹⁶ Justin Barrett’s account of hyperactive agency detection,¹⁷ and Pascal Boyer’s ap
Rudolf Otto, The Idea of the Holy, Oxford 19502, 113. DH45–49, 138. Stewart E. Guthrie, Faces in the Clouds. A New Theory of Religion, New York 1993. Justin L. Barrett, Why Would Anyone Believe in God? (n. 8.).
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peal to the memory effects of a limited number of attributed properties that violate “maturationally natural” conceptual schema¹⁸ all see religion as resulting from the operation of the same mental modules that function in ordinary activity. For cognitive science, then, religious concepts are not qualitatively different from ordinary concepts in the absolute sense which Otto had in mind. They are extensions of ordinary concepts – a point made quite forcefully by the adaptations of George Lakoff and Mark Johnson’s metaphor theory by scholars such as Edward Slingerland and Ann Taves.¹⁹ Otto and the cognitive science of religion offer, then, two very different theoretical accounts of the mental operations from which religion results. They develop them according to two very different methods. Qualia are private features. Nagel may invite us to wonder what it is like to be a bat, but ultimately I only know what it is like to be me. Furthermore, although I presume that you know what it is like to be you, for all I really know there is nothing that it is like to be you. As a result, there is only one way to examine directly the religious quale, and all other qualia, for that matter. That is through personal introspection. For Otto, then, religious scholarship requires scholar-participants who analyze their own internal religious quale – or qualia – and search for hints of the same qualia in the observable features of other people, past and present. In expositing his views on the religious quale Otto has little choice but to seek to evoke similar qualia in his readers and hope that they would characterize them in similar ways. Elements of Otto’s method are not entirely unknown in cognitive science circles. However one cuts it, mental life is inaccessible to outside observers. This is the fundamental point that underlies “theory of mind” (ToM) – our attribution of intentionality to other beings whom we perceive as agents – and for that matter the general behaviorist objection to cognitive science, namely, that it too easily slips into the language of a homunculus in the brain, a ghost in the machine, or better, that it unnecessarily postulates mechanisms beyond stimulus and response that cannot be examined empirically. But cognitive science approaches unobservable mental events differently than Otto does. It does not employ introspection; in fact, it presumes that much significant mental activity is not directly
Pascal Boyer, The Naturalness of Religious Ideas. A Cognitive Theory of Religion, Berkeley 1994; Idem., Religion Explained. The Evolutionary Origins of Religious Thought, New York 2001; cf. Robert N. McCauley, Why Religion is Natural and Science is Not (n. 9.). Edward Slingerland, What Science Offers the Humanities (n. 3); Ann Taves, Religious Experience Reconsidered. A Building Block Approach to the Study of Religion and Other Special Things, Princeton, N.J. 2009. This position goes back to William James, The Varieties of Religious Experience, London 1902, 27– 28.
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accessible to introspection. It also does not require scholars to be religious participants, although some clearly are. Rather, it formulates models of conceptual processing that would generate the features that we do observe, including those we call religion. Then, ideally, at least, it tests them out by seeing whether predictions based on these models prove reliable in statistically assessable studies. Serious questions can be raised about the testing on which much of what passes for cognitive science orthodoxy is based today. Like people generally, cognitive scientists of religion seem to be captivated by “the law of small numbers” and a confirmation bias. In the literature, at least, experiments in this field amazingly seem never to fail to produce the desired results, and one or two experiments with small samples are often taken as reliable demonstrations of the way the minds of over 7 billion people work and have always worked. It is important to emphasize, however, that these are problems with implementation, not with the approach itself. If we botch a recipe – as often happens when we try it for the first time – we would be rash simply to throw it away. Of course, there are many other differences between Otto and the cognitive science of religion. For example, unlike cognitive science, Otto is interested primarily in the process of religion’s generation; for him, transmission of a genuine, living religion requires the awakening of a numinous consciousness, for which he identifies various stimuli but no mechanism by which they work.²⁰ Similarly, Otto uses physiological factors as signals of internal states, but he overlooks the possibility that they might also play an instrumental role, as they do in metaphor theory. For Otto, environmental factors serve to evoke the sense of a numinous presence, but they are not co-determinative of religion, as they are in the accounts of cognitive science that focus on the transmission of religion. Furthermore, Otto insists that religion does not evolve; it just appears, leaving the question of how it happened to appear mysteriously unaddressed.²¹ By contrast, evolution is, of course, a frequent and prominent topic in the cognitive science of religion. Now, Otto was after all just one person, and cognitive science is an entire field. We would only expect his range of interests to be narrower. At the same time, it is difficult to see why an approach centered on qualia – that is, an approach centered on a generalized account of what it is like to be Rudolf Otto encountering the Holy – would address any of the issues that I have just mentioned. Even further, the differences between Otto’s and cognitive science’s
DH45–49, 79. Otto is, however, aware of the issue. Cf. Mythos und Religion in Wundts Völkerpsychologie, in: Theologische Rundschau 13 (1910), 251– 275.293 – 305, esp. 252– 257. DH45–49, 137.
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theories and methods are so broad and pervasive that it would be difficult to maintain both accounts simultaneously.
3 Of Two Minds Now I must make a confession: I generally find the perspective of cognitive science preferable to Otto’s. I do not share Otto’s apologetic agenda, nor do I share his opposition to reductionism. To me it makes intuitive sense that the mind and the brain are, so to speak, simply two sides of the same coin. Moreover, if it is legitimate or helpful to talk about qualia at all, I am quite sure that there is no single quale associated with religion; rather, there are a lot of different qualia associated with religious thought and practice, and under no circumstances does it make sense to assert that any of them are absolutely qualitatively different from all other qualia that people experience. Furthermore, I am skeptical about Otto’s use of introspection, although the best technical critique of introspective methods that I know applies to introspective accounts of mental processing, not of qualitative mental states.²² In addition – and this is a topic I have not yet mentioned – although Otto insists that judgments of truth ultimately rest upon a Wahrheitsgefühl, much psychological research shows that our intuitions – our Wahrheitsgefühle – often contain predictable errors and biases, sometimes biases that are difficult if not impossible to eliminate at the intuitive level; at best, intuitions are an uncertain guide to what we as scholars should want to assert.²³ Finally, unlike Otto, I am totally comfortable with talking about the evolution of religion, even if I sometimes suspect that evolutionary accounts are nothing more than convenient “just-so stories.” In other words, my interest in Otto may have started out a long time ago – when I was a beginning undergraduate – as a personal interest in Otto’s theology, but that interest has long since dissipated. If Otto remains a focus of my attention, he does so principally as an important piece of the history of our field. This confession would seem to have set a rather high bar for the conclusion of my essay. In fact, after what I have just said, one might reasonably expect that I would have little to say about my final promised topic: “some thoughts on what
Richard E. Nisbett/Timothy D. Wilson, Telling More Than We Can Know. Verbal Reports on Mental Process, in: Psychological Review 84, no. 3 (1977), 231– 259. Cf. Daniel Kahneman/Amos Tversky, eds., Choices, Values, and Frames, New York 2000; Richard Thaler, Quasi-Rational Economics, New York 1991; and in a more popular vein, Daniel Kahneman, Thinking Fast and Slow, New York 2011; and Dan Ariely, Predictably Irrational. The Hidden Forces That Shape Our Decisions, New York 2008.
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relevance Otto’s analysis of the holy might have for work in the cognitive science of religions today.” A single phrase should suffice: Not much. But this is not the case. It is always worthwhile – if it is too rarely done – to ask of the great figures of the past what we can learn from them about how we ourselves want to think. Besides, one of the odd features about Otto’s most successful book is that it was so successful, even though virtually from the beginning most of its scholarly readers rejected its intellectual apparatus, its Kantian frame. To judge from this reaction, Otto’s contemporaries seem to have been convinced that Otto was on to something, and on to something that many of them found compelling; he just did not know exactly what. I want to make some suggestions about how we might re-conceive that “what” today, and in the process I want to suggest that attending a little to Otto’s “what” might help advance work in the cognitive science of religion. In doing so I must stress emphatically that what follows is speculative. It is meant to be suggestive and perhaps provocative, but not conclusive. I start with the subtitle of Das Heilige: “Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen” – “on the non-rational in the idea of the divine and its relation to the rational.” If we simply paraphrase these phrases as “religious emotion and its relation to conceptualization,” I suspect that we will have a lot to talk about, but that we will not get very far, at least not in terms of analytical work. The relations between the two are simply too complex. But there is another contrast to which Otto’s binary might direct our attention, and it is receiving a great deal of attention these days. This is the contrast between what we might call type 1 and type 2 processing. These two types are often referred to as systems, specifically, System 1 and System 2, as in Daniel Kahneman’s recent best-selling book, Thinking Fast and Slow (see n. 22), but this terminology is misleading. Dual-processing models do not – at least, they should not – postulate two distinct, integrated, coherent mental systems; it is more accurate to say that they identify two kinds of processing that take place within the brain. These types have been given many different names, which vary with the interests and preferences of theorists. Among other designations, they have been referred to as automatic and controlled, experiential and rational, heuristic (or intuitive or holistic) and analytic, associative and rule-based, reflexive (or impulsive) and reflective.²⁴ More cumbersomely, Keith Stanovich contrasts TASS with the analytic system. TASS stands for “the autonomous set of systems,” that is, what he calls “the parts of your brain that you ignore.”²⁵ One sees a re Jonathan S. B. T. Evans, Dual-Processing Accounts of Reasoning, Judgment, and Social Cognition, in: Annual Review of Psychology 59 (2008), 255 – 278. Keith Stanovich, The Robot’s Rebellion. Finding Meaning in the Age of Darwin, Chicago 2004.
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flection of these two types of processing when Robert McCauley, whom I mentioned at the beginning, calls religion natural and science unnatural²⁶ – but this is better rhetoric than theory, since both types of processing are perfectly natural to the human brain. In this talk I do not see much need to worry about the niceties of nomenclature, so for convenience I will simply speak of type 1 and type 2 processing. In a review article that appeared in 2008, from which I have taken the terms that I have just cited, Jonathan Evans nicely outlined several contrasts associated with the two types of processing. In terms of consciousness, he said, type 1 processing is unconscious or preconscious, automatic, requires little effort, and is rapid; type 2 processing is conscious, controlled, requires a great deal of effort, and is slow. Perhaps think of the difference between multiplying 2 times 2 and 135 times 283. I knew the answer to the first problem even as I was writing it; I still do not know the answer to the second, because I have not bothered to take the time to work it out; it was not worth the effort it would take, even with a calculator. In terms of function, Type 1 processing may be associative, domain specific, pragmatic, and parallel; parallel means that a lot of processing is going in a lot of directions all at once. Type 2 processing may be rule-based, domain general, logical, and sequential; that is, we consciously attend to one thing after another. Evans contrasts these two types in terms of another variable, too: where they emerge in terms of evolution. Type 1 processing, some say, is old, shared with animals, and nonverbal, while type 2 processing is evolutionarily recent, distinctly human, and linked with language. These contrasts are, I think, less convincing. As anyone who has studied a second language knows, the recognition of one’s native language is usually a type 1 process, while studying a language as an adolescent or an adult requires type 2 processing pursued in the hopes that someday one’s mind will handle significant chunks of the target language with type 1 processing. This actually exemplifies a more general point: some type 1 processing results from learning. For example, in significant ways “experts” perform tasks with type 1 processing that most of us address with type 2 processing. Taken together, all of these observations lead to my first suggestion: the “what” that Otto invites us to attend to is not the role of emotion in religion and its relation to conceptualization; it is the role of type 1 processing in the study of religion, and then – the subsequent subject that Otto handles less well – its relationship to type 2 processing.²⁷ (On type 1 processing in cognitive science, see below.)
Robert N. McCauley, Why Religion is Natural and Science is Not (n. 9.). Cf. KFR, 149 – 150, where Otto distinguishes fast and slow mental processing.
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My second suggestion follows immediately: if we accept this as Otto’s invitation – or perhaps better, inspiration – we should avoid his major mistake, which is to assume that there is one and only one way in which type 1 processing is involved in religion. For Otto that way, of course, was the numinous Gefühl, a preconceptual awareness of a mysterium tremendum et fascinans. As I have come to conceive of it over the years, “religion” is “clump,” not a kind or a class. It is not defined by specific stable features, the way a class is, nor is it defined by generative mechanisms, as kinds are. Rather, it is a “clump,” that is, a word that evokes an associative network of instances. Indeed, different persons associate different instances with this clump according to different prototypes and norms, depending upon their personal experiences. In dual-processing terminology, “religion” is not the kind of concept that type 2 processing manufactures and prefers. It is a type-1, associative concept. Thus, if our aim is to study religion – a study which in its active phase is a type 2 endeavor – we must find a way to deal with religion’s “clumpiness.” I do not think that the way to do so is to define religion as a polythetic class, a procedure that has attracted high-profile advocates but has never seemed to live up to its promise and produce firm results. Nor do I think it is helpful in the long run to resort to stipulative definitions and say, “What I mean by religion is” x, y, or z. This procedure also has high-profile advocates, and it has been taught to graduate students for decades, but it is still a bad procedure. In effect if not in syntax, it substitutes a less clear analytical term – “religion” – for what is presumably a clearer one, whether x, y, or z. In the interests of analytical clarity, the best way to deal with the clumpiness of religion is to identify clearly what it is that is linked to the associative network “religion” that one aims to study – in other words, to say, “as a scholar of religions, I intend to study” x, y, or z, and then to talk about x, y, or z, not religion. This, I take it, is what cognitive scientists such as Harvey Whitehouse and Pascal Boyer have meant when they have said that to explain religion, it is necessary to “fractionate” it.²⁸ I have two more suggestions that I wish to make, and then I will be finished. The third concerns the kind of type 1 processing that Otto invites us to consider – if you will, the x, y, or z that we as scholars of religions might choose to study if we take Otto’s inspiration seriously. As my reference to Robert McCauley shows, cognitive scientists have certainly not neglected the difference between these two types of processing. When Stewart Guthrie reminds us that it is impossible for
Harvey Whitehouse, Cognitive Evolution and Religion. Cognition and Religious Evolution, in: The Evolution of Religion. Studies, Theories, and Critiques, ed. by Joseph Bulbulia et al., Santa Margarita, Calif. 2008, 31; and Pascal Boyer, A Reductionist Model of Distinct Modes of Religious Transmission, in: Mind and Religion. Psychological and Cognitive Foundations of Religiosity, ed. by Harvey Whitehouse /Robert N. McCauley, Walnut Creek, Calif. 2005, 4.
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human beings not to perceive faces in certain formal configurations, he is talking about type 1 processing. So is Justin Barrett when he refers to hyperactive agency detection: our brain gives us an intuitive sense of the presence of agency – a device not entirely different from Otto’s sensus numinis, even if it replaces Otto’s “qualitative” difference with the quantitative difference of hyperactivity. More generally, the contrast between type 1 and type 2 processing underlies what I see as poorly phrased claims, also derived from experiments by Barrett, about religion being “theologically incorrect.” That is, people may follow, let us say, Maimonides in denying that God really has personal attributes, but this is a result of type-2 processing: slow, conscious, effortful reflection. When people, even theologians, are forced to rely on fast, intuitive, reflexive, type 1 processing, they revert to conceiving of God in personal terms. One final instance: Pascal Boyer’s notion of minimally counterintuitive beings in effect postulates that the disruptive effects of certain concepts activate type 2 processing and in doing so draw attention to the themselves, thereby making them more memorable. Type 1 processing does not, however, comprise a single processing system. It refers to a multiplicity of systems. My suggestion – and this is my third one – is that Otto’s account invites us to expand the range of type 1 processing in our accounts of religion. It would be possible to examine the various types-1 correlates of numinous experience. For example, the art historian Barbara Stafford Miller writes, “Why … do vaulted caves, pyramidal tombs, colossal funerary sculptures still maintain their power to seize attention and induce a sensation of sublime awe …? What makes people persist in replaying the formal categories handed down to them from the distant past? These are all questions that, when viewed from the perspective of neuroscience, reveal how forward-looking the Romantics were in understanding that creating, feeling, and decisionmaking functions somehow ride atop biological systems that operate largely beyond our awareness.”²⁹
Indeed, at the neuroscientific level, much work – too much work, one might suggest – has focused on relatively rare and extreme religious experiences, such as those associated with meditative realization, and although few if any people cite Rudolf Otto’s account of Das Heilige, their conception of these experiences and the vocabulary in which they talk about them reflects in a vague way Otto’s influence. It will be more useful, however, if we range more broadly and consider three topics as both particularly Ottonian and relatively worth exploring: nonconceptual (or preconceptual) religious content, emotion, and associative networks –
Barbara M. Stafford, Echo Objects. The Cognitive Work of Images, Chicago 2007, 29.
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this last topic resurrecting Otto’s use of the association of ideas from the oblivion to which his own account has probably justly been consigned. In the interests of time, let me say just a few words about the first of these topics, nonconceptual (or preconceptual) religious content. In the German-speaking world, there has been a good deal of interest in what is called Religionsästhetik – so much interest that the Deutsche Vereinigung für Religionswissenschaft has an Arbeitskreis devoted to the subject. Unfortunately, Religionsästhetitk is a term that translates poorly into English. That is because – as I understand it – in German Ästhetik can have a meaning close to that of the Greek noun, αἴσθησις, “sense perception,” whereas in English this sense has become obsolete, and the word “aesthetics” generally refers to an account of the beautiful or the artistic. As a study of the contribution of human sensation to what we call religion, Religionsästhetik provides an important complement to Semiotik, the study of religious symbols and meanings. But to judge from my very limited acquaintance, what the field of Religionsästhetik needs is theoretical and analytical depth, and that depth is properly the domain of cognitive science. I certainly do not want to deny the importance of Justin Barrett’s work on agency detection, but I think that there is more to be said here, even about personal gods, because as Einar Thomassen has pointed out, gods are not just conceived of as agents; they are also conceived of as patients – the recipients of gifts – and sometimes as simple observers. I have recently been thinking about material structures and ritual actions among the indigenous people with whom I have been working in India. These people construct gateways and erect boundary posts as ways to approach their devs – their gods, if you will. In another practice, adults who have lost a parent sometimes pour out a little bit of liquor onto the cow-dung plaster floors of their houses for their deceased parent before drinking it themselves. Indeed, in these contexts I have poured out liquor for my father, too. I do not think that my father is actually receiving the liquor; it somehow just seemed like the right thing to do. I suspect that what underlie these practices are, in fact, preconscious sensations that derive from type 1 processing. Somewhat analogous to Barrett’s hyperactive agency detection, the use of gates and boundary posts activates type 1 processing concerned with spatial recognition and evokes a sense of connection to but separation from another place. The offering of liquor or, in other cases, food activates type 1 processing concerned with social cognition and evokes a sense of connection to persons who are not actually present.³⁰ Both kinds of sensation may activate type 2
K. M. Hodge, On Imagining the Afterlife, in: Journal of Cognition and Culture 11 (2011), 367– 389, relying upon the notion of “alief” developed by Tamar S. Gendler in her articles, Alief and
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reflection, but they also may not. In terms of time and effort, type 2 reflection is relatively expensive, and as with the multiplication problem I gave earlier, we may decide – by default – that such reflection is simply not worth our effort. Indeed, although I have a sense that pouring out liquor for my father is the right thing to do, I do not normally feel compelled to reflect on that action. So far as I can judge many indigenous people do not show much inclination to reflect on these activities, either. In this respect I think they are probably representative of most religious people most of the time everywhere. Granted, in neither of the two cases that I have mentioned do I detect much if any evidence of Otto’s numinous Gefühl. If we retain Otto’s terminology, we might say that I have been talking about Gefühle more broadly. If, however, our goal is a richer understanding of religions, perhaps we honor Otto’s work best not by insisting upon the species but by exploring the genus – not by concentrating on the numinous but by looking more intensely at what Otto called Gefühle. I have only one more suggestion to offer, and it is this: What I have been talking about is how an engagement with Otto might broaden work in the cognitive science of religion, not how it should define it. Whatever their merits might be, Otto’s own comparative studies from the 1920s and 1930s show that a concentration on the numinous leaves a great deal that we might want to say about religions both unsaid and unsayable. Even a cursory glance at Otto’s successors will confirm this impression. For reasons of personal biography, the example of Joachim Wach comes immediately to my mind, even though Wach was not a strict Ottonian and, I suspect, he is now largely forgotten, at least by English-speaking scholars. While Wach sought to ground religion in religious experience – characterized by four propositions – very little of his analysis in, let us say, the Sociology of Religion has anything whatsoever to do with his analysis of religious experience. There is, I would suggest, a two-fold lesson here. On the one hand we should not center cognitive science on Ottonian themes. Why would we want to? Most broadly, one can point to the distinction that Edward Slingerland and Joseph Bulbulia have drawn between proximate and ultimate explanations, that is, between mental mechanisms that explain the generation of what we observe and explanations which account for the evolutionary success and persistence of those mechanisms.³¹ Here, of course, I have only been talking about proximate explanations, not ultimate ones. Much more narrowly, one can ask how extenBelief, in: Journal of Philosophy 105 (2008), 634– 663, and Alief in Action (and Reaction), in: Mind and Language 23 (2008), 552– 585. Joseph Bulbulia/Edward Slingerland, Religious Studies as a Life Science, in: Numen 59, no. 5 & 6 (2012), 564– 613.
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Gregory D. Alles
sive a role Ottonian themes should play in accounts of type 1 processing. Consider the following non-Ottonian example. (It strikes me as more typically Malinowskian.) One standard topic for dual-process analysis has been judgment and decision-making, and one quite consistent result has been that when people have the possibility of gaining something with certainty, most people do not gamble on a less certain but larger gain; given a choice between an outright gift of € 3,000 and the opportunity to bet where the odds are 75 % that I will gain € 4000, 25 % that I will gain nothing, I will take the outright gift. By contrast, when they are facing losses that are absolutely certain, most people will gamble on loss that is larger but less certain. I have often wondered about the impact this regularity may have on religious cognition. For most purposes, the mind does not employ religious concepts. Even religious people do not usually take conceptual gambles with what looks like a sure thing, such as walking to a conference venue instead of praying to God that she or he would miraculously transport one there. Similarly, under most circumstances the mind easily corrects for the detection of agents who cannot be directly perceived, that is, for hyperactive agency detection. Under what circumstances, then, does the mind gamble on religious concepts? The other lesson derives from my brief observations on Wach, and it is this: we should not expect a broadening of the cognitive science of religion to result in a transmutation of the study of religions into the cognitive science of religions. In the current state of affairs, linking cognitive science up with other disciplines that study religions remains a distant dream – and this is typical of many fields in the humanities. The divide which separates cognitive science from critical cultural studies is particularly wide; perhaps for theoretical or ideological reasons it is simply unbridgeable. I do not think that Otto’s example and inspiration will provide much assistance in pursuing such a linkage, but there is no reason why it should. Otto – indeed, no one – can be expected to solve every problem and meet every challenge in any field. If an engagement with Otto’s thought can result in a broadening and enriching of the study of religions – in this case, of the cognitive science of religion – then we will all continue to honor his memory and remain in his debt.
Ulrich Barth
Rudolf Ottos Entwurf einer Religionspsychologie Werkgeschichtliche Zugangsbetrachtungen Keine Frage: Rudolf Ottos Denken ist zwischen die Mühlsteine geraten, nicht nur zwischen die von Religionswissenschaft und Theologie – dies wäre bei einem auf Vermittlung angelegten Werk nichts Außergewöhnliches –, sondern auch innerhalb der beiden Disziplinen selbst. In der Theologie wurde Ottos Rede von Gott als dem ‚Ganz Anderen‘ anfangs freudig begrüßt, schien sie doch aus den ausgefahrenen Gleisen von Vermittlungstheologie und Kulturprotestantismus kraftvoll herauszuführen. Doch die Stimmung schlug rasch um. Karl Barth monierte den distanzierten Standpunkt der bloßen „Betrachter-Rolle, die sich mit dem ziemlich wohlverstandenen Objekt nicht verträgt“.¹ Rudolf Bultmann schoß aus allen Rohren gegen die sich der formgeschichtlichen Methode verweigernde JesusDeutung.² Und Marburger Theologiestudenten, die vor Kraft nicht laufen konnten, verhöhnten Ottos mit viel Sorgfalt angelegte ‚Religionskundliche Sammlung‘ kurzerhand als „Götzentempel“.³ In der Religionswissenschaft verlief das Echo ähnlich, wenn auch gemächlicher. Über mehrere Jahrzehnte besaß Ottos Buch ‚Das Heilige‘ den Rang eines methodischen Vorbildes, insbesondere bei jenen Fachgenossen, die sich dem Paradigma der ‚Religionsphänomenologie‘ verpflichtet wußten. Ich erinnere an Namen wie Gerardus van der Leeuw, Friedrich Heiler, Mircea Eliade oder Gustav Mensching. Doch in dem Maß, als dieses Forschungsprogramm innerdisziplinär auf Ablehnung stieß, geriet auch Otto, der mit gegenständlicher Phänomenologie nichts am Hut hatte, in Verruf.⁴ Die Suche nach ‚dem Heiligen‘ galt nun als Signum einer verfehlten Fragestellung. Philosophische Einwände unterschiedlichster Provenienz verstärkten den Abwärtssog. Ottos Konzept von Religionswissen-
Karl Barth, Brief an E. Thurneysen vom 3. Juni 1919, in: Ders., Gesamtausgabe, V. Briefe, Bd. 1, Zürich 1973, 330. Vgl. Rudolf Bultmann, Reich Gottes und Menschensohn, in: ThR NF 9 (1937), 1– 35. Vgl. den Bericht von Ernst Benz, Rudolf Otto als Theologe und Persönlichkeit, in: Rudolf Otto’s Bedeutung für die Religionswissenschaft und die Theologie heute, hg.v. Ernst Benz, Leiden 1971, 30 – 48, hier 33. Vgl. Carsten Colpe (Hg.), Die Diskussion um das ‚Heilige‘, Darmstadt 1977; Ders., Art. Das Heilige, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg.v. Hubert Cancik/Burkhard Gladigow/Karl-Heinz Kohl, Stuttgart/Berlin/Köln 1988 – 2001, Bd. III (1993), 80 – 99, hier 93.
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schaft – oder ‚Religionskunde‘ (wie er lieber sagte) – figurierte als Paradefall von ahistorischem Denken, irrationalem Subjektivismus oder religionswissenschaftlich verkleideter Kryptotheologie – um von noch gröberen Vorwürfen zu schweigen. Als Beleg dienten problematisch anmutende Einzeläußerungen, aufgebauscht durch selektive Textlektüre. Kritik und autorintentionales Verstehen hielten sich selten die Waage. Ein besonders gewitzter Kritiker meinte, die „Unstimmigkeiten“ des Buchs über ‚Das Heilige‘⁵ resultierten daraus, daß es sich hierbei um ein „aus raschem Impuls entstandene[s] Werk[]“ handle.⁶ Ihm war offensichtlich entgangen, daß Otto bereits zwei Jahrzehnte zuvor damit begonnen hatte, sich in die fragliche Thematik einzuarbeiten, und daß es aus den dazwischen liegenden Jahren eine Fülle von Veröffentlichungen gibt, die das allmähliche Reifen seines neuen Verständnisses von Religion dokumentieren. Ich werde mich im Folgenden deshalb darauf konzentrieren, die werkgeschichtlichen Hintergründe der berühmten Schrift von 1917 zu sichten. Dabei sollen vier Publikationen als Leitfaden dienen: Erstens, die Luther-Dissertation von 1898,⁷ zweitens die Schleiermacher-Edition von 1899,⁸ drittens das Kant/FriesBuch von 1909,⁹ und viertens die Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundt von 1910.¹⁰ Aus Platzgründen ausgespart bleiben die zahlreichen apologetischen Texte zum zeitgenössischen weltanschaulichen Naturalismus,¹¹ obwohl gerade sie heute noch brennend aktuell sind, sowie die zweieinhalb Dutzend Arbeiten zur Religionsgeschichte Indiens,¹² insbesondere zum Vischnuismus, mit denen Otto die im 19. Jahrhundert gewachsene Fokussierung auf Buddhismus und AdvaitaBrahmanismus aufsprengen wollte. Sie betreten fast durchweg neuen Boden, sind darüber hinaus aber auch hermeneutisch äußerst aufschlußreich, hat Otto doch nirgends so deutlich wie hier zu erkennen gegeben, was er unter ‚Religionskunde‘
Vgl. DH. Friedrich Karl Feigel, ‚Das Heilige‘. Kritische Abhandlung über Rudolf Ottos gleichnamiges Buch, Tübingen 21948, 12. Vgl. AHG. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, zum Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt neu hg.v. Rudolf Otto, Göttingen 1899 [RE]. Vgl. KFR. Vgl. Rudolf Otto, Mythos und Religion in Wundts Völkerpsychologie, in: ThR 13 (1910), 251– 275.293 – 305 [=MRW]. Die wichtigste davon ist NRW. Vgl. dazu das Literaturverzeichnis bei Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 143 – 150. – Schüttes Göttinger Habilitationsschrift ist die bis heute weiträumigste und tiefgründigste Deutung des großen Marburger Theologen und Religionswissenschaftlers.
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verstand, nämlich ein Forschungsunternehmen aus drei unterschiedlichen Arbeitsschritten bzw. Darstellungsformen: erstens philologisch-literarische Quellenkritik, zweitens historisch-genetische Rekonstruktion und drittens Typologie. Für letztgenannte verwies er auf das Vorbild Goethes.¹³ Doch lassen wir diese Fragen auf sich beruhen und konzentrieren uns auf die Durchsicht der genannten vier Schlüsselpublikationen. Zunächst zur Dissertation. Konservative Luther-Forscher haben es Otto stark verübelt, daß er es wagte, die Theologie des Reformators nicht in der üblichen Weise durchzubuchstabieren, sondern einer religionspsychologischen Betrachtung zu unterziehen.¹⁴ Mit dieser Zugriffsart hatte Otto in der Tat die ihm gemäße Methode von Religionstheorie gefunden, die ihm dann auch die Mitherausgeberschaft an der ‚Zeitschrift für Religionspsychologie‘ erbrachte. Doch ihre Anwendung allein bezeichnet noch gar nicht das Besondere der Erstlingsarbeit. Den Rahmen bildet vielmehr eine Auseinandersetzung mit der Dogmengeschichte Adolf von Harnacks. Otto hielt das berühmte Kapitel über ‚Die Ausgänge des Dogmas im Protestantismus‘ für eine der besten Luther-Darstellungen überhaupt. Doch an einer Stelle glaubte er einhaken zu müssen. Harnack hatte die These aufgestellt, daß „die neue Betrachtung des Evangeliums bei Luther ein Ganzes bildet und die Elemente des Alten, die er beibehalten, zu diesem Ganzen nicht stimmen“.¹⁵ Diese Behauptung hält Otto für unzutreffend. Seine Rekonstruktion von Luthers Pneumatologie soll dafür paradigmatisch den Beweis erbringen. Das Neue bei Luther verhandelt Otto unter den Titeln ‚Geist und Glaube‘ sowie ‚Geist und Wort‘ (AHG, 25 ff.45ff). Diesbezüglich stellt sich die Genese des christlichen Lebens als eine Abfolge von ethisch-religiösen Gemüts- und Willenszuständen dar: Hören der öffentlichen Predigt, Vernehmen des inneren Wortes, Aneignung der dargebotenen Verheißung, Gewißwerden des Glaubens, Trosterfahrung des Gewissens und schließlich Freiwerden des inneren Menschen. All dies „muss der Geist wirken“ (AHG, 25). Otto bezeichnet jene Sequenz als ‚psychologische Reihe‘, weil der Zyklus der Stationen, empirisch betrachtet, einen „Vorgang klarster und stringentester psychologischer Motivation“ bildet (AHG, 49). Luther beschränkt sich jedoch keineswegs auf diese Darstellungsart. Überall schießt vielmehr „das schlechthin Supranaturale, Überempirische, Wunderhafte“ (AHG, 14) der traditionellen Geistlehre dazwischen. „Das Neue überkommt den
Vgl. Rudolf Otto, Rez. O. Meyerhof, Über Goethes Methode der Naturforschung 1910, in: DLZ 1911, 1428 – 1432, hier 1431. Die schärfsten Einwände finden sich bei Regin Prenter, Spiritus Creator. Studien zu Luthers Theologie, München 1954, 7 f.203 f.334 f. Adolf Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3. Aufl., Tübingen 1897, Bd. 3, 808; zitiert in AHG, 1 f.
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Menschen, ohne dass er zu sagen weiss oder wissen will, wie“ (AHG, 14). Luther verfügt, wenn er das Wirken des Heiligen Geistes beschreibt, offensichtlich über eine „doppelte Betrachtungsweise“ (AHG, 102.103), eine empirisch-psychologische und eine transzendent-supranaturale. Zwischen beiden Beschreibungen besteht kein Bruch, keine Unverträglichkeit. Luther kann unbekümmert zwischen ihnen hin- und herwechseln. „Des eigentümlichen Dilemmas zwischen seiner Anschauung vom Wirken wie des Wortes so des Glaubens und der traditionellen vom Wirken des Geistes ist Luther sich niemals bewusst geworden“ (AHG, 67). Das aber besagt: Altes und Neues lassen sich gerade nicht randscharf trennen. Mit diesem Fazit ist die Begründung des Einspruchs gegen Harnack im Wesentlichen abgeschlossen. Doch Otto läßt es nicht dabei bewenden. Vielmehr vertieft er das Dargelegte sogleich ins Prinzipielle. Und allererst mit diesem Schritt gibt er sich als eigenständiger Systematiker zu erkennen. Das anhand von Luther entfaltete religionstheoretische Problem lautet: Welche Funktion kommt dem Supranaturalen im Aufbau religiösen Erlebens zu? Genau an dieser Stelle nimmt der Gedanke eine Wende, die für einen im Neuprotestantismus erzogenen Theologen überrascht: Otto hält Luthers Rekurs auf supranaturale Faktoren durchaus für richtig. „Das religiöse Gefühl sträubt sich dagegen und wird es nie für recht anerkennen, dass es mit der Erzeugung des Glaubens, des inneren Lebens, nur ‚so einfach‘ zugehe, dass es erwachsen solle aus menschlichen […] Gefühlen, Motiven, Stimmungen, die von Mensch zu Mensch sich fortpflanzen, statt aus überweltlichen Faktoren. Und eine Theologie, die diesem wahrsten religiösen Empfinden nicht gerecht würde, wäre keine“ (AHG, 67). Darum stellt Otto die These auf, das Spezifische der „religiösen Anlage“ des Menschen bestehe in dem „Vermögen […], den Eindrücken des Überweltlichen […] fähig zu sein“ (AHG, 85) und bestimmt Religion kurz und knapp als „Vermögen für das Übersinnliche“ (AHG, 48). Ich denke, diese Aussagen lassen sich kaum anders verstehen denn als religionstheoretisches Plädoyer für einen geläuterten Supranaturalismus. ‚Geläutert‘ deshalb, weil Otto keinen Zweifel daran läßt, daß er einen „Supranaturalismus im geschichtlichen Sinne des Wortes“ (NRW, 41) unter den erkenntnistheoretischen Bedingungen der Moderne für schlechterdings abwegig hält. Dessen Fehler lag darin, daß er doktrinär auftrat und sich anmaß, eine Art Physik höherer Ordnung zu liefern. Psychologisch hingegen läßt sich der supranaturale Faktor aus dem Selbstverständnis von Religion kaum tilgen. Neuzeitliche Frömmigkeit aber weiß, daß sie es hierbei mit „einem im letzten Grunde Verborgenen und Unverstandenen und Geheimnisvollen“ zu tun hat (NRW, 29 f).¹⁶ Was jedenfalls den geläuterten
Diese thematische Weite bildet – unbeschadet dessen, daß Otto persönlich tief im lutherischen Christentum verwurzelt war – eine wesentliche Voraussetzung dafür, daß er sich wenige
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vom traditionellen Supranaturalismus unterscheidet, ist dies, daß ersterer als Mysterium stehen läßt,was letzterer meint, theoretisch bewältigen zu können, und daß jenes Mysterium nicht draußen in den Dingen, sondern im Innern des eigenen Erlebens seinen Ort hat. Otto hat das Verhältnis von Tradition und Innovation bei Luther nicht nur am Beispiel der Pneumatologie erläutert, sondern auch anhand der Gotteslehre. Gemeint ist Luthers Rekurs auf den nominalistischen Begriff der potestas absoluta und dessen Einordnung in das Gefüge der Gnadenlehre. Otto bezieht sich hier vor allem auf die berühmte Passage aus ‚De servo arbitrio‘, wo Luther darauf zu sprechen kommt, daß die tiefste Erschütterung des Glaubens darin bestehe, sich vor Gott selbst (Deus ipse), den verborgenen Gott (deus absconditus) und unerforschlichen (imperscrutabilis) Herrn der Erwählung (electio), gestellt zu wissen. Hier helfe kein anderes Mittel, als derartige Gedanken zu unterdrücken und zur festen Zusage des Evangeliums zu fliehen. Jenes Angefochtensein bezeichnet Otto als „das heilige Erschauern vor dem Ewigen“ (AHG, 86) und zugleich als diejenige Situation, „wo das religiöse Gefühl am meisten das praesens numen begehrt“ (AHG, 96). An anderer Stelle verallgemeinert Otto sogar noch: Die stärksten religiösen Empfindungen seien diejenigen, die „das numen praesens in der menschlichen Brust erregt hat“ (AHG, 100). Beide Zitate zusammen besagen nichts weniger, als daß Otto die psychologische Bestimmung von Religion als Gefühl des Numinosen¹⁷ offensichtlich bei der Lektüre Luthers aufgegangen ist. Diese Feststellung mag auf den ersten Blick als Überinterpretation erscheinen. Doch Otto selbst bestätigt diesen Zusammenhang, wenn er 1917 rückblickend erklärt: „Ja, an Luthers ‚De servo arbitrio‘ hat sich mir das Verständnis des Numinosen und seines Unterschieds gegen das Rationale gebildet“ (DH, 123).¹⁸ Auch für Ottos materiale Durchführung der Religionspsychologie ist der Einfluß Luthers kaum zu überschätzen.¹⁹ Angesichts dessen ist es ganz unsinnig, Otto zu unterstellen – wie in der Sekundärliteratur geschehen –, er habe seine Theorie des numinosen Gefühls vornehmlich zu dem Zweck entworfen, der Religionswis-
Jahre später als Religionswissenschaftler vergleichsweise unbefangen der bunten Vielfalt der Religionsgeschichte öffnen konnte. Wir werden darauf noch zu sprechen kommen. Im Ausgang vom Phänomen des Schauders vor dem Unheimlichen erblickt Hans Blumenberg die wegweisende und geradezu klassische Bedeutung von Ottos Religionstheorie (Ders., Arbeit am Mythos, 6. Aufl., Frankfurt a.M. 2001, 35; vgl. auch 20.27 f). Vgl. Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos (Anm. 12), 12. Die dem ‚Heiligen‘ zugrunde liegende Zweiheit – oder besser gesagt – Spannungseinheit von mysterium ‚tremendum‘ und ‚fascinans‘ bildet eine religionspsychologische Übersetzung von Luthers Unterscheidung von Gesetz und Evangelium.
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senschaft einen psychologischen „Gottesbeweis“ überzustülpen, um sie dann als „natürliche Theologie“ instrumentalisieren zu können.²⁰ Wir kommen zur zweiten Publikation. Ist in der Literatur vom Verhältnis Schleiermacher/Otto die Rede, dann stehen meist die kritischen Äußerungen zum Begriff des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls, also zur ‚Glaubenslehre‘, im Vordergrund. Ohne deren Bedeutung herabzuspielen ist jedoch daran zu erinnern, daß Ottos erste Beschäftigung mit Schleiermacher dem Verfasser der ‚Reden‘ galt. Sie scheint mir in der Tat systematisch bedeutsamer zu sein als jene Überlegungen aus den Anfangskapiteln des ‚Heiligen‘. Otto unternahm 1899 nicht bloß einen Wiederabdruck der lange – sieht man von Pünjers Synopse²¹ ab – nicht mehr zugänglichen Urfassung, sondern versah sie darüber hinaus mit einer Einleitung, einem Nachwort und zahlreichen Fußnoten. Sie sollten nicht nur der Erläuterung dienen, sondern zugleich das Textverständnis in eine Richtung lenken, die mit dem Duktus des Originals nicht unbedingt identisch war.²² Dreierlei scheint mir hervorhebenswert zu sein. Zunächst fällt auf, daß Otto vorzugsweise mit einer psychologischen Kategorie arbeitet, die bei Schleiermacher so nicht begegnet, nämlich mit dem Begriff des Erlebnisses bzw. des Erlebens. Er durchzog bereits die Luther-Dissertation und kehrt auch in allen späteren Texten prominent wieder. Woher Otto ihn nahm, läßt sich nicht mehr eindeutig klären. Zwei Quellen legen sich nahe: Die Schleiermacher-Edition ist Wilhelm Dilthey gewidmet, in der Dissertation war auf Wilhelm Herrmanns Luther-Buch verwiesen worden. Beide Autoren waren – neben Hermann Lotze – Protagonisten jenes Begriffs, der in der Fachphilosophie um 1900 dann außerordentlich Konjunktur machte. Otto scheint ihn wohl deshalb rezipiert zu haben, weil er einen weiteren Bedeutungsspielraum besaß als der Gefühlsbegriff, wodurch ein gewisses Komplexitätsgefälle zwischen beiden beschreibbar wurde. Zugespitzt formuliert: Nicht der Gefühlsbegriff – und schon gar nicht der Erfahrungsbegriff –, sondern der Begriff des Erlebens bildet die Elementarkategorie von Ottos Religionspsychologie. Gefühle sind immer bereits Verarbeitungsformen von Erlebnissen. Ich hebe diesen Punkt eigens hervor, weil man in
So Kurt Rudolph, Die Problematik der Religionswissenschaft als akademisches Lehrfach, in: Kairos 9 (1967), 22– 42, hier 34. Vgl. Friedrich Schleiermachers Reden über die Religion. Kritische Ausgabe mit Zugrundelegung des Textes der ersten Auflage, besorgt von Georg Christian Bernhard Pünjer, Braunschweig 1879. Nebenbei ist zu erwähnen, daß Otto unmittelbar nach jener Edition zahlreiche Literaturbesprechungen zu Schleiermacher verfaßte, worin er zugleich seine eigene Fachkompetenz als Schleiermacherforscher anmeldete.
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der Sekundärliteratur Otto häufig für einen linientreuen Schüler, wenn nicht Epigonen Schleiermachers hält. Sodann fällt auf, daß Otto sich weniger für Schleiermachers abstrakte Behandlung der Struktur des Gefühls²³ interessiert, als vielmehr für die sich daran anschließenden Beschreibungen konkreter Gefühle.²⁴ Otto spricht von „Schauer“, „Ehrfurcht“, „fliehendem Grauen“, „schwärmender Entzückung“, „demütiger Hingabe“ und „kindlichem Trauen“ (RE,VIII). Diese Termini sind nur zum Teil aus Schleiermacher entlehnt, auch Luther scheint Pate gestanden zu haben. Jedenfalls liest sich die Aufzählung fast wie ein Vorblick auf das Inhaltsverzeichnis des Hauptwerks von 1917. Bemerkenswert an jener Liste ist, daß ‚das Heilige‘ noch nicht auftaucht. Otto wurde zu dessen Hervorhebung wohl erst durch die religionswissenschaftlichen Forschungen Nathan Söderbloms inspiriert.²⁵ Der Sache nach wäre zu sagen, daß das Gefühl des Heiligen in der Tat nicht auf derselben Ebene steht wie die oben zitierten Empfindungen. Otto hat das Erlebnis des Heiligen 1917 darum ausdrücklich als hochstufiges ‚Komplexgefühl‘ bzw. als ‚Komplexkategorie‘ (DH, 63.61) konstruiert. Als religiöses ‚Urgefühl‘ (DH, 60) hingegen fungiert das ‚Gefühl des Numinosen‘. Nicht ‚das Heilige‘, sondern ‚das Numinose‘ bildet den systematischen Grundbegriff. An Schleiermachers Anschauungsbegriff waren die frühen Erwägungen nicht interessiert. Dies führt uns auf den dritten Unterpunkt. Textbeleg dafür ist jener vieldiskutierte Übergangsabschnitt zwischen Schleiermachers abstrakter und konkreter Behandlung von Gefühl und Anschauung.²⁶ Otto bezeichnet ihn als „Zwischenstück“ (RE, 41 Fn.) und mißt ihm religionstheoretisch eine zentrale Bedeutung bei. Es geht um den Sachverhalt der ursprünglichen Einheit von Anschauung und Gefühl und um deren Auseinandertreten als Bedingung ihrer Diversifizierung. Schleiermacher behauptete, jenes Auseinandertreten vollziehe sich in einem ‚geheimnisvollen Augenblick‘ und sei eben darum keiner Beschreibung fähig.²⁷ Otto dient diese Passage geradewegs als „Schlüssel zu Schleiermachers Gedanken vom Erleben des Ewigen“ (RE, 43 Fn.). Eine Reserve gegenüber dem Begriff des Universums und den darin enthaltenen pantheistischen Gedanken der Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Orig.pag. 66 – 71. Vgl. A.a.O. 108 – 111. Vgl. Rudolf Otto, Rez. N. Söderblom, Gudstrons uppkomst, 1914, in: ThLZ 40 (1915), 1– 4: „Es kann wirkliche Frömmigkeit geben ohne ausgestalteten Gottesglauben und ohne Kult. Aber es gibt keine Frömmigkeit ohne Auffassung des Heiligen“ (a.a.O. 3). Zum ersten Teil des Zitats vgl. auch unsere Ausführungen unten zu Wundt. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, Orig.pag., 71– 78. Vgl. A.a.O. 73 f.
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Immanenz des Göttlichen, der Dilthey so faszinierte, ist unverkennbar. Otto umschreibt den systematischen Gehalt jenes Zwischenstücks folgendermaßen: „Religiöse Anschauungen und Gefühle sind […] noch nicht die Religion selbst“, sondern „nur die sekundären Zerfall-Produkte eines ursprünglichen unmittelbaren […] Erlebens […] des Überweltlichen im Weltlichen“. Dieses noch ungeteilte Erleben rückt damit zum eigentlichen Einheitspol des religiösen Bewußtseins auf. Aber auch an der Duplizität seines faktischen Vollzugs nimmt Otto Korrekturen vor: Das Erleben des Überweltlichen im Weltlichen – so seine Paraphrase – „endet“ als „Widerfahrnis von außen […] in unsrem Innern immer zwiefach: nämlich mit einer Bewegung unsrer Vorstellungskraft, mit einer Vorstellung, und mit einer Erregung unsres inneren Befindens, mit einem Gefühl“ (RE, 41 Fn.). Otto ersetzt also Schleiermachers Differenz von Gefühl und Anschauung durch die Differenz von Gefühl und Vorstellung. Der religionsphilosophische Sinn dieses begrifflichen Umarrangements liegt auf der Hand. Otto will darauf hinaus, daß im ursprünglichen Erleben Vorstellung und Gefühl bzw. Intentionalität und Selbstreferentialität noch strukturell geeint sind, wenn auch in opaker Weise. Was hier vom Erleben gesagt wird, nämlich seine Funktion als Einheitspol, hat Otto später auf das Gefühl übertragen. Über die Gründe gibt eine Bemerkung im Anhang zur ‚West-Östlichen Mystik‘ Auskunft.²⁸ Otto macht geltend, daß Schleiermachers Beschränkung des Gefühls auf den Aspekt des Inneseins des eigenen Zustands sich letztlich einem begriffsgeschichtlichen Eingriff verdankt, der von dem Philosophen Johann Nikolaus Tetens zum Zwecke einer klareren terminologischen Einteilung der Vermögenspsychologie vorgenommen wurde. Zuvor sei dem Gefühl immer auch das Moment der Objektbezogenheit und „Objekterfassung“ im Sinne von „gefühlmäßigem Erkennen“ (WÖM2, 383) zueigen gewesen. Wie dem auch sei: Otto wollte jedenfalls zu jenem älteren Sprachgebrauch zurück. Gefühle sind für ihn bereits als solche mit einem Vorstellungs- und Erkenntnisgehalt behaftet – mag er bestimmungslogisch auch noch so dunkel und vage sein. Letzteres gilt erst recht für das Gefühl des Numinosen und dessen Bestandteile, von Otto als ‚numinose Emotionen‘ bezeichnet.²⁹ An der entscheidenden Einsicht der frühen Schleiermacher-Edition aber hat sich nichts geändert, daß nämlich der religiöse Grundakt nur als Einheit von Intentionalität und Selbstreferentialität gedacht werden kann. Ich komme zum dritten der hier zu besprechenden Bücher. Carsten Colpe hat seine methodischen Vorbehalte gegenüber Otto in der Forderung zusammengefaßt, die von ihm vorgelegte Konzeption des Heiligen bedürfe dringend einer
Vgl. WÖM. GÜ.
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„Herauslösung“ aus der „Zweideutigkeit zwischen psychologischem und transzendentalem Apriori“.³⁰ Ich kann diesen Einwand nicht nachvollziehen. Geht man sämtliche einschlägigen Äußerungen durch, kann meines Erachtens kein Zweifel bestehen, daß Otto sich über die Differenz beider Theorieebenen vollständig im Klaren war. Colpes Kritik ist aber auch darum wenig hilfreich, weil sie die gedankliche Rekonstruktion auf eine falsche Fährte lenkt. Ottos Problem bestand nicht darin, Transzendentalphilosophie und Psychologie genau auseinanderzuhalten, sondern umgekehrt in der Frage, wie beide von Haus aus geschiedenen Disziplinen konstruktiv aufeinander bezogen werden können. Genau dafür steht das Kant/Fries-Buch von 1909.³¹ Daß nicht nur Kant, sondern auch Jakob Friedrich Fries zurate gezogen wird, rührt daher, daß Otto in ihm einen wichtigen Orientierungspunkt für die „neuerlichen Bemühungen um das ‚religiöse a priori‘“ erblickte.³² Der im herrnhutischen Niesky erzogene und in Jena unter Fichte habilitierte Philosoph wurde wegen seiner sogenannten Ahndungslehre von Hegel gern als ‚der seichte Fries‘ apostrophiert. Mag jenes Theorem bei spekulativen Köpfen vielleicht zu Recht nur mildes Lächeln hervorrufen: religionstheoretisch ist solche Überheblichkeit indes fehl am Platz. Denn Fries’ Begriff des religiösen Ahndens entspricht ziemlich genau dem, was wir heute als religiöse Sinnvermutung bezeichnen: eine durchaus affirmative, begrifflich aber höchst unbestimmte Einstellung zum Transzendenten, für die der dogmatische Begriff ‚Gewißheit‘ viel zu steil wäre. Wenn in der Forschung von Ottos Verhältnis zu beiden Autoren die Rede ist, dann steht meist das Thema Ideenlehre, die Basis jenes Ahndungsbegriffs, im Vordergrund. In der Tat hat Fries den Ideenbegriff Kants stark umgemodelt, indem er aus schlußtheoretisch gewonnenen regulativen Prinzipien schnurstracks intuitive Vernunftgegebenheiten herausdestillierte. Otto erachtete diesen Schritt gleichwohl für sachlich notwendig. Der darauf gegründete Begriff des Ahnens diente ihm – kurz gesagt – zur gedanklichen Präzisierung dessen, was wir oben als intentionale Komponente des numinosen Gefühls bezeichnet haben: Solches Intendieren hat immer den Charakter der Ideation. In diesem Sinn kann das religiöse Gefühl ebensowohl als „ahnende[s] Gefühl“ (NRW, 58) bezeichnet werden. Es gab bei Fries daneben allerdings auch noch ein ganz anderes Theoriesegment, das wesentlich enger an Kant anschloß und das für Otto nicht minder relevant wurde. Ich denke an Fries’ Erläuterungen zu Kants dritter ‚Kritik‘. Es ist meine feste
Carsten Colpe (Hg.), Die Diskussion um das ‚Heilige‘ (Anm. 4), XXIV. Wie Anm. 9. Vorüberlegungen dazu finden sich bereits in NRW, 53.57. – Zu den von Otto herangezogenen Werken Fries’ vgl. KFR, 14. Ich erspare mir hier darum deren bibliographische Auflistung. Rudolf Otto, Wissen, Glaube und Ahnung, in: ChrW 22 (1908), 818 – 822, hier 819.
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Überzeugung, daß Ottos Religionsphilosophie nur dann angemessen verstanden werden kann, wenn Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ gebührend in Rechnung gestellt wird, und zwar zunächst ohne deren Interpretation durch Fries. Kant warf anläßlich der Analyse des ästhetischen Geschmacksurteils einmal die Frage auf, worin eigentlich der Unterschied zwischen den Aussagen ‚Diese Tulpe ist gelb‘ und ‚Diese Tulpe ist schön‘ bestehe. Der Oberflächensemantik nach handelt es sich in beiden Fällen um singuläre Urteile, worin einem Gegebenen ein einstelliges Prädikat beigelegt wird. Die entscheidende Differenz besteht jedoch darin, daß im einen Fall dem betreffenden Ding ein objektives Merkmal zugesprochen wird, im andern nicht. Im zweiten Fall wird vielmehr nur zum Ausdruck gebracht, daß besagtes Ding den Gegenstand eines ästhetischen Wohlgefallens bildet. Oder mit den Worten Kants: Im Fall des ästhetischen Urteils handelt es sich um ein von der Urteilskraft produziertes „Gefühl […], welches die Vorstellung des Objekts begleitet und derselben statt Prädikats dient“ (KdU, 147). D.h. nicht ein reales Merkmal, sondern ein Gefühl übernimmt mit Bezug auf Gegebenes die Rolle der prädikativen Charakterisierung. Genau diese Struktur scheint mir Otto vor Augen zu haben, wenn er ‚numinos‘ nicht als objektive Eigenschaft, sondern als „objektbezogene Gefühlsbestimmtheit“ (DH, 13) verstanden wissen will. ‚Numinos‘ ist kein gegenständliches Prädikat, so wenig wie ‚schön‘, obwohl beide Begriffe prädikativ verwendet werden. Die Analogie, die Otto faszinierte, besteht in dem Sachverhalt, daß beidesmal ein Gefühl als Ausdruck einer Leistung der Urteilskraft zu stehen kommt. Kants Analyse des ästhetischen Geschmacksurteils diente ihm – wie schon Fries – offenkundig als eine Art Propädeutik zur Erhellung des besonderen Status des religiösen Gefühls.³³ Damit ist aber nur erst die eine der beiden Seiten des Wirkzusammenhangs zwischen Urteilskraft und Gefühl bezeichnet. Für die inverse Relation lassen sich ebenfalls gute Gründe angeben. Fries monierte an Kant, daß er nur im Falle von Lust und Unlust dem Gefühl die Rolle einer Urteilsinstanz zumaß.³⁴ Tatsächlich komme diese Funktion allen Arten von Gefühl zu, insonderheit dem, was Fries als ‚Wahrheitsgefühl‘ bezeichnet.³⁵ Otto machte sich jene Kritik voll und ganz zueigen. Er verdeutlicht den infrage stehenden Punkt anhand der Differenz zwischen Gefühlen und sinnlichen Empfindungen. Bei letzteren haben wir es ausschließlich
Vgl. KFR, 59 Anm. 74 f.112 f. Vgl. Jakob Friedrich Fries, Das System der Logik, 3. verbesserte Aufl., Heidelberg 1837, ND Leipzig 1914, 267. Vgl. A.a.O. 265.267– 271. – Zur Funktion dieses Begriffs bei Otto und zu seinen transzendentalidealistischen Hintergründen vgl. Roderich Barth, Das Psychologische in Rudolf Ottos Religionstheorie, in: Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne, hg.v. Roderich Barth/ Claus-Dieter Osthövener/Arnulf v. Scheliha, Frankfurt a.M. u. a. 2005, 371– 388.
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mit von außen erregten Reizen zu tun. Bei Gefühlen hingegen nehmen wir immer schon Stellung zu dem, was uns erregt. Dies trifft bereits auf das Gefühl der Lust/ Unlust zu und gilt erst recht für alle höheren Gefühle. Ottos These lautet kurz und knapp: „Gefühl ist Urteilskraft“, nämlich im Sinne eines präreflexiven „Vermögen[s] des Wertens“ (KFR, 89 f). Damit nimmt Otto geradewegs das Ergebnis der gegenwärtigen Gefühlsphilosophie und Gefühlspsychologie vorweg, die besagten Sachverhalt als die ‚evaluative‘ Dimension von Gefühlen bezeichnen. Otto lag aber wohlbemerkt an beidem: Gefühle sind sowohl Ausdruck wie Akteur von Beurteilungsprozessen. Otto ist der Meinung, daß auch die religionspsychologische Konstitutionsleistung des Gefühls nur dann zutreffend beschrieben werden kann, wenn beide Relationen des Wirkzusammenhangs zwischen Gefühl und Urteilskraft zur Geltung gelangen. Die Beurteilungsaktivität des ersteren ist mindestens ebenso wichtig wie seine Ausdrucksfunktion. Es ist „das urteilende Gefühl“, welches die „Beziehung des Endlichen auf das Unendliche“ herstellt (KFR, 121). Der im religiösen Gefühl erahnten Idee des Überweltlichen kommt gleichsam die Rolle einer Kategorie zu, nämlich im Sinne einer „Bewertungskategorie“ (DH, 7). Erst „infolge einer Anwendung“ derselben „auf ein wirkliches oder vermeintliches Objekt“ kommt überhaupt ein konkretes „Etwas numinosen Charakters“ zustande, das diese Qualität wiederum nicht als objektive Eigenschaft besitzt, sondern lediglich als eine solche, die „gefühlt wird“ (DH, 11). Die Vollgestalt des numinosen Gefühls enthält also ganz unterschiedliche Momente: Intentionales Ideieren, selbstreferentielles Innewerden, Beurteilungsaktivität und Ausdrucksfunktion. Eine prinzipientheoretische Synthesis dieser Momente hat Otto nicht unternommen. Dazu war sein Interesse an konkreter Religionsgeschichte viel zu groß. Zu deren psychologischer Erschließung genügte es, den Gefühlsbegriff in der angegebenen Weise aufzuschlüsseln. Statt von ‚Beurteilung‘ und ‚Bewertung‘ kann Otto auch, und zwar zunehmend, von ‚Deutung‘ sprechen.³⁶ Der Rückgriff auf das Modell der Urteilskraft bei Kant und Fries hat Otto auf einen deutungstheoretischen Begriff von Religion geführt, nicht kulturalistischer Art wie etwa bei Max Weber, sondern bewußtseinstheoretisch. Bereits innerhalb des Mentalen artikuliert das religiöse Bewußtsein unterschiedliche Erlebnisse mit Hilfe von „Deute-Zeichen“ (DH, 35), den sogenannten ‚Ideogrammen‘. Die Stärke dieses Ansatzes – ohne daß der andere darum überflüssig würde – scheint mir darin zu liegen, daß die Ebenen von Erleben und Deuten bzw. Erfahrung und Sinngebung hier nicht auseinanderfallen, sondern innersubjektiv miteinander verbunden sind. Ein Rückgang auf diese
Vgl. DH, 7.21.35.48.54.64.76.97.110.113.138 – 140.145.153.162.172.174– 177.181.189.200.
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Basis ist deswegen unumgänglich, weil sämtliche kulturellen Deutungsmuster und symbolischen Bedeutungspostulate, unter religionspsychologischem Blickwinkel betrachtet, dem Kriterium unterliegen, in der individuellen Selbstdeutung der betroffenen Subjekte gleichsam ratifiziert oder gegengezeichnet werden zu können – womit ich keineswegs behaupten will, daß die von Otto entfalteten Näherbestimmungen des Numinosen in der heutigen Erlebniswelt von Religion samt und sonders jenen Test beständen. Dafür waren sie – zumindest teilweise – doch zu herb-lutherisch imprägniert. Aber dies ändert nichts daran, daß es vor allem die Aneignungsproblematik ist, welche die emotionspsychologische Tieferlegung des semiotischen Deutungsprozesses erforderlich macht. Wir kommen zur vierten und letzten Station unseres werkgeschichtlichen Durchgangs, Ottos Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundt.³⁷ Ich bitte um Nachsicht, daß ich hier etwas weiter ausholen muß. Meinem Eindruck nach ist diese Kontroverse in der Sekundärliteratur kaum präsent. Sie ist aber nicht nur als solche bedeutsam, sondern auch deswegen, weil sie Licht auf die Beantwortung der Frage wirft, wie Otto zur gegenwärtigen Religionswissenschaft in Beziehung zu setzen wäre.Wundt war der damals wohl einflußreichste Vertreter dieser Disziplin in Deutschland. Im Zentrum unserer folgenden Überlegungen³⁸ steht Ottos WundtStudie aus dem Jahre 1910. Sie wurde dann den Neuauflagen des Hauptwerks als Beilage zugefügt und schließlich in die Sammelbände ‚Aufsätze, das Numinose betreffend‘ bzw. ‚Das Gefühl des Überweltlichen‘ übernommen,³⁹ allerdings in stark veränderter und erweiterter Fassung.⁴⁰ Den Anlaß zu jener Studie bot das Erscheinen der drei Teile des zweiten Bandes von Wundts ‚Völkerpsychologie‘ (1905 – 1909), speziell des dritten Teils, wobei allerdings die vorangegangenen Teile von Otto in die Betrachtung einbezogen werden, weil sie sich mit demselben
Vgl. oben Anm. 10. Hinzuzuziehen ist auch Rudolf Otto, Mythos und Religion nach W. Wundt, in: DLZ 31 (1910), 2373 – 2382. Otto hatte sich bereits im Jahre 1901 zu Wundt geäußert, damals allerdings noch eher indirekt und recht allgemein; vgl. Rudolf Otto, Rez. F.R. Lipsius, Die Vorfragen der systematischen Theologie. Mit besonderer Rücksicht auf die Philosophie W. Wundts kritisch untersucht, Freiburg 1899, in: ThLZ 1901, 578 – 580. – Ottos Wundt-Kritik äußerte sich hier als Skepsis, ob mit Hilfe einer physiologisch verfahrenden Psychologie, ergänzt durch Anleihen aus der idealistischen Metaphysik überhaupt möglich ist, „die Gemüthsbedürfnisse des religiösen Empfindens“ inhaltlich angemessen zu würdigen (a.a.O. 580). Wundt nahm seinen Ausgang ja in der Tat von der physiologischen Psychologie. Diesen Sachverhalt dürfte Otto damals vor Augen gehabt haben; vgl. auch NRW, 190.241. Zur Editionsgeschichte vgl. das Vorwort von GÜ. Vgl. GÜ, 11– 57 (Der Sensus Numinis als geschichtlicher Ursprung der Religion. Eine Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundts ‚Mythos und Religion‘).
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Generalthema befassen, dem Verhältnis von Mythos und Religion.⁴¹ Otto begegnet diesem „bewundernswerten Monumentalwerke deutscher Forschung“ mit gebührendem Respekt,⁴² sieht sich indes gleichwohl zu grundlegenden Einwänden veranlaßt,⁴³ die allesamt mit seinem eigenen, bereits erarbeiteten Religionsverständnis zusammenhängen. Wundts insgesamt zehnbändige ‚Völkerpsychologie‘ hat vielerorts dazu geführt, daß man diese Disziplin geradewegs mit seinem Namen gleichsetzte. Er selbst jedoch hat niemals Originalität dafür beansprucht, sondern diesbezüglich⁴⁴ auf die Arbeiten des Psychologen Moritz Lazarus⁴⁵ und des Sprachwissenschaftlers Heymann Steinthal⁴⁶ verwiesen. Die von diesen Forschern bereits 1859 gegründete ‚Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft‘ bildet in der Tat den Ursprung besagter Disziplin.⁴⁷ Ziel war es, zu einer sich auf das Gesamtleben der Völker erstreckenden Psychologie bzw. psychologischen Ethnologie zu gelangen. Wundt hielt dieses Forschungsprogramm für schlechterdings einleuchtend. Die strittigen Punkte⁴⁸ wie etwa die Frage, ob es sich dabei nur um eine beschreibende oder auch um eine erklärende Wissenschaft handle, oder die andere Frage, ob zu ihrer Durchführung die Annahme kollektiver Größen wie ‚Volksgeist‘ oder ‚Volksseele‘ erforderlich sei – Wundt erinnert in diesem Zusammenhang an Herder und Hegel –, können wir hier auf sich beruhen lassen.
Die dritte Auflage (1920) bietet, abgesehen von der Bandaufteilung, gegenüber der zweiten (1910) nach Wundts eigener Auskunft keine wesentlichen Neuerungen, sondern nur einige Korrekturen. Sie ist darum hier zugrunde gelegt; vgl. Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythos und Sitte, IV. Bd.: Mythos und Religion, 2 Teile, Leipzig 1920. Rudolf Otto, Mythos und Religion nach W. Wundt, in: DLZ 31 (1910), 2373. Zur positiven Rezeption Wundts seitens der zeitgenössischen Theologie vgl. demgegenüber Karl Thieme, Zu Wundt’s Religionspsychologie, in: Zeitschrift für Religionspsychologie 4 (1910), 145 – 161; Ders., Die genetische Religionspsychologie, in: Zeitschrift für wissenschaftliche Theologie 53 (1911), 289 – 316; Ders., Wilhelm Wundts Bedeutung für die Theologie, in ZThK 29 (1921), 213 – 238. Vgl. Wilhelm Wundt, Probleme der Völkerpsychologie, Leipzig 1911, 3 – 8. Vgl. Elke Natorp, Art. ‚Lazarus, Moritz‘, in: Neue Deutsche Biographie 14 (1985), 11– 13 [Onlinefassung]. Vgl. Michael Holzmann, Art. ‚Steinthal, Heymann‘, in: Allgemeine Deutsche Biographie 54 (1908), 467– 474 [Onlinefassung]. Vgl. Moritz Lazarus/Heymann Steinthal, Einleitende Gedanken über Völkerpsychologie, als Einladung zu einer Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft, in: Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft 1 (1860), 1– 73. – Im Hintergrund standen für Steinthal die Sprachphilosophie Wilhelm von Humboldts und für Lazarus die Experimentalpsychologie Johann Friedrich Herbarts. Vgl. Wilhelm Wundt, Probleme der Völkerpsychologie (Anm. 44), 8 – 19.
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Wichtiger ist vielmehr das Gemeinsame. Wie Lazarus/Steinthal war Wundt der Auffassung, daß das Leben der Völker durch Völkergeschichte, Ethnologie und Anthropologie allein nicht hinlänglich zu begreifen sei, weil damit noch nicht dessen geistige Dimension erfaßt werde, welch letztere sich nur mit Hilfe der Psychologie entschlüsseln lasse. Darum waren ihm die genannten Disziplinen – einschließlich vergleichender Religionsgeschichte – nur Hilfswissenschaften einer Völkerpsychologie. Zu deren sachgemäßer Bearbeitung bedarf es nach Wundt allerdings einer Erweiterung der traditionellen Psychologie: So zutreffend es ist, daß Bewußtseinsprozesse als solche immer nur an einzelnen Individuen greifbar werden, so offenkundig ist, daß an deren Heranbildung immer auch geistige Wechselbeziehungen des sie umgebenden Milieus beteiligt sind. Individuelle Bewußtseinsprozesse lassen sich nur vor dem Hintergrund der sie prägenden sozialen Medien begreifen. Letzteren komme nicht erst in höherstufigen Phasen der Völkerentwicklung Bedeutung zu, sondern bereits in archaischen Gesellschaften. Daher repräsentieren sie gleichsam das kontinuierliche Ferment allen kulturellen Lebens. Um dies einzusehen, seien sie allerdings als geistige Kommunikationssysteme und psychische Beziehungsgeflechte zu explizieren. Individualpsychologie und Völkerpsychologie sind für Wundt jedenfalls keine Konkurrenten, sondern einander ergänzende Perspektiven. Daß Wundt gerade hinsichtlich der Religionswissenschaft den völkerpsychologischen Aspekt betonte, hat auch damit zu tun, daß William James wenig zuvor eine Darstellung religiöser Erfahrung vorgelegt hatte, die durchgängig individualpsychologisch angelegt war. Wundt hielt dies für methodisch falsch – abgesehen davon, daß ihm die von James vorgenommene Fokussierung auf ekstatische Erlebnisse, die bei vielen Theologen auf Zustimmung stieß, nicht einleuchtete.⁴⁹ Als bereits in archaischer Zeit entstandene psychosoziale Medien nennt Wundt des Näheren Sprache, Mythos und Sitte.⁵⁰ Allen dreien kommt für die Entstehung und Ausbildung von Religion eine wichtige Rolle zu: ersterer für die Tradierung von Lehren, letzterer bezüglich der Verstetigung von Riten. Die Schlüsselfunktion fällt indes dem Mythos zu. Dessen Begriff wird von Wundt in einem denkbar weiten Sinn gefaßt. Unter ihn fallen Seelenannahmen, Zaubervorstellungen, Fetischglaube sowie Tier-, Ahnen- und Dämonenkulte. Sie alle sind für Wundt aber noch nicht Religion, sondern bilden nur deren Vorstufe. Die besondere Schwierigkeit bestand nun darin, jene mythologischen Phänomene auf einen gemeinsamen psychischen Ursprung zurückzuführen. Wundt
Vgl. A.a.O. 84– 120 (IV. Pragmatische und genetische Religionspsychologie). Vgl. A.a.O. 19 – 32.
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erblickt ihn im Zusammenspiel von ‚Phantasie‘ und ‚Apperzeption‘, mit dessen Explikation darum die Erörterung anhebt.⁵¹ ‚Phantasie‘ besagt: Aus der Wechselbeziehung von Wahrnehmungsreizen und eigenem Erleben entstehen Affekte, die in die äußere Realität hineinprojiziert werden. Doch dabei bleibt es nicht. Denn die so entstehenden mythologischen Gebilde werden nicht als subjektive Halluzinationen erfahren, sondern als tatsächliche Gegebenheiten. Ursache dafür ist der Hinzutritt der Apperzeption, deren Begriff Wundt Kant entlehnte. Sie sorgt dafür, daß die Einheit des eigenen Ich in die jeweiligen Vorstellungskorrelate übertragen wird, um auf diese Weise deren Gegenüber sicherzustellen. Wundt bezeichnet sie darum auch als ‚belebende‘ oder ‚personifizierende‘ Apperzeption. Musterbeispiel dafür war ihm der Seelenglaube.⁵² Von diesem Projektionscharakter des Mythos her wäre eigentlich zu erwarten gewesen, daß auch das Gebiet der Religion, die ja in mancherlei Weise an ihn anknüpft, einer scharfen Ideologiekritik verfällt. Doch dem ist nicht so. Im Gegenteil, Wundt grenzt letztere streng von ersterem ab. Auch wenn Religion eine Vielzahl mythischer Stoffe in sich verarbeitet, ruht sie doch auf ganz anderen Voraussetzungen, die von Wundt unter dem Titel ‚Metaphysik‘ im Sinne einer Theorie der ideellen Grundlagen von Realität zusammengefaßt werden. Demgemäß wird Religion definiert als ‚Glaube an die Zugehörigkeit zu einer übersinnlichen Welt‘. In ihr gründen auch alle letztgültigen Werte des Menschen. Dieser Ansatz hat zur Folge, daß das, was traditionell unter Religionsgeschichte subsumiert wird, nun in zwei Teile auseinanderfällt. Religion im eigentlichen Sinne existiert allein da, wo Ideen und ideelle Werte das Fundament bilden. Sämtliche Erscheinungen mythischer Weltanschauung werden hingegen unter der Rubrik ‚Vorreligion‘ verbucht. Nur mit Hilfe dieser Unterscheidung läßt sich – so Wundt – der rationale Charakter von Religion aufrecht erhalten, an dem ihm nicht nur als Philosoph, sondern auch persönlich-biographisch lag. Damit können wir zu Ottos Wundt-Kritik übergehen. Bevor wir uns seinen Einwänden zuwenden, ist es jedoch sinnvoll, die positiven Verbindungslinien hervorzuheben. Otto nimmt keineswegs an der ethnologischen Ausrichtung der Völkerpsychologie Anstoß, wie man zunächst vermuten könnte. Er betrachtet es vielmehr im Gegenteil geradezu als selbstverständlich, daß Erscheinungen elementarer Formen mythischer oder religiöser Erfahrung der „Einteilung nach
Vgl. Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie (Anm. 41), IV.1, 3 – 77. Aus diesem Grund erblickte Otto in Wundts Entwurf eine Spielart der Animismustheorie, auch wenn ihm nicht entging, daß Wundt eine ganze Reihe von Elementen der damit konkurrierenden Präanimismus und Manismustheorien eingebaut hatte.
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ethnologischen Gesichtspunkten“ unterliegen.⁵³ Er ist allerdings der Auffassung, daß deren methodische Erklärungskraft in dem Maße abnehme, als man es mit geschichtlich greifbaren Phänomenen höherer Stufe zu tun habe. Dies sah Wundt im Prinzip genauso. Umgekehrt sei einer völkerpsychologischen Betrachtung – so Otto – sogar noch ein weit stärkerer „soziologischer Einschlag“ zu wünschen, als es bei Wundt tatsächlich der Fall ist. Er vermißt hier vor allem eine Analyse jener „Gemeinschaftsgefühle und -triebe, die zur Gemeinschaftsbildung führen“. Darüber hinaus „wäre wohl die wichtigste Aufgabe [die] gewesen, […] die Formen […] des ‚gemeinschaftlichen Gedächtnisses‘ [zu untersuchen]“ (MRW, 256). Damit berührt Otto bereits ein Thema, dessen Bedeutung dann vor allem durch Aby Warburg, Maurice Halbwachs und Jan Assmann eingeschärft wurde. Was ich damit sagen will: Man kann den Gegensatz Wundt/Otto nicht auf die Formel ‚Sozialpsychologie versus Individualpsychologie‘ bringen, auch wenn Otto selbst zu ersterer kaum etwas beitrug. Wichtiger ist aber etwas Anderes: Die Auseinandersetzung mit Wundt hat Otto offenkundig darin bestärkt, daß die Religionswissenschaft dringend einer psychologischen Bearbeitung bedarf. Der Gegensatz zwischen ihnen betraf nicht die grundsätzliche Notwendigkeit einer Religionspsychologie überhaupt, sondern allein deren ‚Wie‘. Dies zu betonen erscheint mir darum von Belang, weil die Religionspsychologie unter der fortschreitenden Dominanz soziologischer und verhaltenstheoretischer Methoden als ganze ins Hintertreffen geriet. Davon wurde nicht nur das Bild Ottos in Mitleidenschaft gezogen. Ähnliche Vorbehalte würden auch Lazarus/Steinthal und Wundt tangieren. Es ist sicher kein Zufall, daß der Name Wundt – ebenso wie der von William James – im 1997 erschienenen Handbuch ‚Klassiker der Religionswissenschaft‘ mit keinem Artikel bedacht wurde.⁵⁴ Otto kommt vor, aber eher als abschreckendes Beispiel.⁵⁵ Nun aber zu Ottos eigentlicher Kritik. Sie besteht im wesentlichen aus zwei miteinander zusammenhängenden Einwänden. Der erste ist kategorialer, der zweite geschichtshermeneutischer Art. Zunächst also geht es um Wundts begriffliches Instrumentarium, danach um dessen Anwendung auf das Feld der Religionsgeschichte. Aus den vorgetragenen Argumenten wird zugleich Ottos Begriff des religiösen Apriori deutlich.
Vgl. Rudolf Otto, Rez. J.W. Hauer, Die Religionen. Ihr Werden, ihr Sinn, ihre Wahrheit. Erstes Buch: Das religiöse Erlebnis auf den unteren Stufen, Stuttgart/Leipzig 1923, in: Die Christliche Welt 28 (1924), 437– 439, hier 438. Vgl. Axel Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, München 1997. Vgl. Gregory D. Alles, Rudolf Otto (1869 – 1937), in: Klassiker der Religionswissenschaft, hg.v. Axel Michaels (Anm. 54), 198 – 210.
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Otto bemängelt an Wundts Entwurf bereits dessen methodische Ausgangsprämisse, nämlich die Konstruktion der Begriffe ‚mythenbildende Phantasie‘ und ‚mythologische Apperzeption‘. Wundt stelle beide Termini einfach in den Raum, ohne sie durch „psychologische Zergliederungsarbeit“ oder empirische „Induktion“ nachgewiesen zu haben (MRW, 259). Darüber hinaus hält er die Berufung auf Kant für einen runden Fehlgriff. In einer scharfsinnigen Fußnote wird dargelegt, daß Wundt wohl einem systematischen Mißverständnis aufgesessen sei.⁵⁶ Otto ist offenkundig bestrebt, sich als den besseren Kant-Kenner darzustellen. Doch nicht dies bildet den Kern des Einwands. Otto ist es vielmehr um die Auswirkung beider terminologischen Entscheidungen zu tun. Denn sie hätten unweigerlich zur Folge – und der Gang der materialen Untersuchung bestätige dies –, daß die mythische Welt insgesamt unter den Leitgesichtspunkt ihrer gegenständlichen bzw. pseudogegenständlichen Anschauungen gerät. Resultat dieses Zugriffs sei die „einseitige Verfolgung des Vorstellungsmäßigen“. Fruchtbarer sei es demgegenüber, jene Erscheinungen „in erster Linie“ einer „Gefühlsanalyse“ zu unterziehen (MRW, 264). Im Vergleich zum so zutage tretenden Emotionspotential seien Vorstellungen „etwas nur zweiter Hand“ (MRW, 264) Relevantes, das darum nicht den Leitfaden der Untersuchung abgeben könne.⁵⁷ Damit ist in der Tat ein neuralgischer Punkt bei Wundt getroffen. Denn von dessen Begriff der mythenbildenden Phantasie allein war jene Fokussierung keineswegs zwingend. Gegenüber den intellektualistischen Theorien der älteren Religionswissenschaft hatte Wundt ausdrücklich betont, daß „die wesentlichen Triebfedern des mythologischen Denkens und Handelns […] nicht die Vorstellungen [seien], sondern die Affekte, die überall die Vorstellungen begleiten und als die mächtigsten Erreger der Phantasie in die Vorstellungsbildung eingreifen“.⁵⁸ Zur
Da jene Fußnote bei der späteren Umarbeitung des Aufsatzes in GÜ, 11– 57 entfiel, sei sie hier in voller Länge wiedergegeben. „Übrigens ist auch die Beziehung auf Kants transzendentale Apperzeption angreifbar. Die Sache liegt doch garnicht so, daß ich in die Objekte eine Einheit hineintrage, die ich zuvor in mir beobachtet hätte und nun hinüberdeutete. Ich bin in dieser Hinsicht meinen eigenen inneren Zuständen gegenüber in gar keiner günstigeren Lage als der äußerlich gegebenen Mannigfaltigkeit der Sinneswahrnehmung gegenüber. Auch was ich in mir beobachten kann, ist immer nur eine Mannigfaltigkeit der Zustände. Und wenn ich diese in der Tat als ‚meine‘ zusammenfasse, so ist mir diese Apperzeption durchaus nicht in der beobachtbaren [inneren] Mannigfaltigkeit mitgegeben – deswegen nennt Kant sie auch mit Recht ‚rein‘ – sondern sie kommt hinzu, schießt mit ein. – Wenn ich das äußere Objekt aber als Einheit auffasse, so geschieht das nicht durch Übertragung der ‚transzendentalen Apperzeption‘, sondern durch die Anwendung der Kategorie der Substanz“ (MRW, 264). Vgl. auch GÜ, 2. Vgl. Wilhelm Wundt, Völkerpsychologie (Anm. 41), IV.1, 60. Zur konstitutiven Bedeutung subjektiver Empfindungen, Gefühle und Affekte vgl. auch a.a.O. 61.65.71.
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Konzentration auf die affektiv ausgelöste Vorstellungswelt sei Wundt erst durch die Einschaltung seiner Apperzeptionstheorie gelangt. Insofern konnte sich Otto mit seinem Alternativvorschlag – unabhängig von eigenen Überlegungen – sogar direkt auf Wundt berufen. Er räumt ein, daß die von ihm selbst ins Zentrum gerückten numinosen Empfindungen⁵⁹ beim gegenteiligen Ausgang von Objektvorstellungen in der Tat nur den Status von „Begleitgefühlen“ hätten (MRW, 299). Da sie seiner Auffassung nach jedoch dasjenige sind, welches Objektvorstellungen allererst zu numinosen qualifiziert, können und müssen sie die methodische Basis bilden. Damit sind wir beim zweiten Einwand angelangt. Er hängt mit dem ersten eng zusammen und besteht kurzgesagt darin, daß die zunächst bewußtseinstheoretisch aufgeworfene Frage ‚Priorität von Vorstellungen oder Gefühlen‘ nun hinsichtlich der Frage der Verstehensbedingungen von Religionsgeschichte aufgerollt wird. Otto ist der Meinung, daß Wundts Subsumtion der archaischen Mythenwelt unter den Begriff ‚Vorreligion‘ und die damit einhergehende Markierung eines fundamentalen Bruchs innerhalb dessen, was gemeinhin als Religionsgeschichte gilt, nurmehr die Folge seines unzulänglichen Begriffsapparats sei. Wenn der archaische Mythos insgesamt unter das Verdikt des Illusionären fällt, dann hat er in der Tat nichts mit dem zu tun, was wir unter Religion verstehen, und besitzt insofern keinerlei Bedeutung mehr für uns. Ottos ganzes Streben ist deshalb darauf gerichtet, Wundts Gegensatz von phantastischer Mythenwelt und ideeller Hochreligion zu unterlaufen. Das zunächst bewußtseinstheoretisch aufgeworfene Problem schlägt um in eine hermeneutische Fragestellung. Otto hält Wundts Beschränkung des Terminus ‚Religion‘ ausschließlich auf die metaphysische Fassung des Göttlichen für eine „Überschätzung des Theismus“ und erblickt darin die Folge eines „einseitig westlich eingestellte[n] Denkens“ (GÜ, 47). Bei einer solchen Perspektive nähme es nicht Wunder, daß sämtliche Gehalte des Mythos zu Kuriositäten einer vergangenen Zeit oder rückständigen Kultur absacken. Sie sind uns als eigene Vorstellungen in der Tat nicht mehr zugänglich. Die ihnen zugrunde liegenden Gefühle hingegen können wir noch verstehen. Ottos methodische Maxime lautet darum: Religionsgeschichte muß als „Geschichte des Gemütes“ dargestellt werden.⁶⁰ Statt nach ausgeklügelten Erklärungsmustern für Seelen-, Geister- oder Dämonenvorstellungen zu suchen, sei es sinnvoller, nach „elementaren Erlebnisarten“ Ausschau zu halten, die „auch heute noch“ nachvollziehbar sind (GÜ, 17). Religiöse Gefühle lassen sich – so seine These – bereits dort identifizieren, „wo klare Götter- oder Jenseitsvorstellungen noch garnicht gebildet waren“ (KFR, 115). Genannt werden etwa die Empfindungen des „Grauenvoll-Zauberischen“ oder „AnziehendUnheimlichen“ (MRW, 299) – womit bereits die spätere Polarität von Tremendum und Fascinans anklingt. Vgl. Rudolf Otto, Der unbekannte Gott, in: Die Christliche Welt 33 (1919), 627.
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Mit diesem Perspektivenwechsel verschiebt sich auch die Frage nach den Entstehungsbedingungen von Religion überhaupt. Sein Gegenmodell zu Wundt faßt Otto in folgenden Grundsatz zusammen: „Religion fängt mit sich selber an und ist selber schon in ihren ‚Vorstufen‘ des Mythischen und Dämonischen wirkend“ (DH, 160). Religiöses Leben läßt sich weder ontogenetisch noch phylogenetisch aus Entstehungsbedingungen erklären, die nicht ihrerseits bereits religiös geartet wären. Statt von Vorreligion spricht Otto darum von „Frühreligion“.⁶¹ Die Klammer, die die Geschichte der Religion verbindet, ist deren emotionelles Potential. Die hermeneutische Notwendigkeit, im Blick auf die Religionsgeschichte zwischen vergangenen Vorstellungsgehalten und noch heute zugänglichen Gefühlswerten zu unterscheiden, ist Otto erstmals am Beispiel der alttestamentlichen Schöpfungserzählungen aufgegangen.⁶² Mit Nathan Söderblom weiß er sich einig im Protest „gegen die bisherige Überschätzung des Begrifflichen und Vorstellungsmäßigen bei der Frage nach der Entwicklung der Religion“ und in der Forderung, daß tiefgreifende „Korrekturen unserer bisherigen ethnologischen und völkerpsychologischen Aufrisse“ vonnöten seien.⁶³ Söderblom hat einen alternativen Gesamtaufriß vorgelegt, Otto bekanntlich nicht.⁶⁴ Wundts Behauptung, von Religion als Verhältnis zum Übersinnlichen könne erst da die Rede sein, wo dessen Begriff in expliziter Form aufgestellt und argumentativ ausgewiesen wurde – sei es als Ontologie, Ideenlehre oder Metaphysik des Göttlichen – kann Otto auch aus anthropologischen Erwägungen nicht akzeptieren. Denn das würde bedeuten, daß die Fähigkeit des Geistes, vorfindliche Realität zu transzendieren, zu einer kontingenten Eigenschaft des Menschen herabsänke. Wenn man hingegen mit einer Stetigkeit der conditio humana rechnet – und dazu besteht seiner Auffassung nach nicht nur philosophisch, sondern auch phylogenetisch Anlaß, dann ist geradezu zwingend, jene psychische Fähigkeit bereits für die Anfänge des Menschengeschlechts zu veranschlagen, wie auch immer sie sich dann kulturell näher ausgestaltet haben mag. Darum sieht Otto schon in jenen Bewußtseinsoperationen, die Wundt noch der mythischen Vorstufe zurechnet, das für Religion signifikante Transzendierungsvermögen am Werk, das er selbst als ‚Gefühl des Überweltlichen‘ exponiert hatte. Seine These
Rudolf Otto, Hauer-Rezension (Anm. 53), 438. Vgl. NRW, 1. Den Anlaß zu jener hermeneutischen Differenzierung gab die zeitgenössische Kontroverse zwischen traditioneller Schöpfungstheologie und moderner Naturwissenschaft. Rudolf Otto, Söderblom-Rezension (Anm. 25), 3. Eine einigermaßen befriedigende Darstellung der Frühgeschichte von Religion erblickte er in dem 1923 erschienenen Handbuch seines nachmaligen Marburger Kollegen Wilhelm Jakob Hauer. Vgl. Rudolf Otto, Hauer-Rezension (Anm. 53).
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lautet: „der ganze ‚Prozeß‘ fing mit einem übersinnlichen Momente an; sonst wäre er garnicht in Gang gekommen“ (GÜ, 41). Damit sind wir der Sache nach bei unserem letzten Punkt angelangt, dem Begriff des religiösen Apriori. Er war von Troeltsch in die Debatte eingeführt worden. Otto zögerte zunächst, weil er ihn für einen „nicht sehr glücklichen und mit Mißverständnissen umgebenen Ausdruck“ hielt (KFR, 3). Erst im Zuge der Arbeit am ‚Heiligen‘ konnte er dem Terminus etwas abgewinnen. Aber auch hier sind zuallererst die Vorbehalte zu beherzigen. Mit ihm ist nicht gemeint, daß Menschen bereits qua Geburt über eine fertige Gestalt von Religion verfügten, geschweige denn in Form eines Urmonotheismus, wie Andrew Lang und Wilhelm Schmidt behaupteten.⁶⁵ Auch ist nicht gemeint, daß der Gottesgedanke – wie Leibniz dachte – eine angeborene Idee der Vernunft darstelle. Vielmehr geht es – im strengen Sinn des Wortes – lediglich um eine „Anlage des menschlichen Geistes“ zur Religion (DH, 140). Zu deren Entfaltung bedarf es einer „gefühlsmäßigen Ideengrundlage a priori“ (DH, 156 f). Otto betont, daß es sich hierbei jedoch nur um „ein apriori der Richtung“, um ein „apriori Eingestelltsein auf etwas“ handelt (DH, 140). Alle drei Bestimmungen bewegen sich im Umkreis dessen, was wir bereits oben zum Kant/Fries-Buch ausgeführt hatten. Neu ist lediglich die Aussage, daß jenen Strukturmomenten die Eigenschaft der Apriorität zukomme. Letztere wird von Otto ausschließlich limitativ gefaßt, nämlich als „Nicht-gegebensein durch Sinneswahrnehmung“ (GÜ, 58). Die Begründung dafür, daß besagte Anlage zur Religion apriorischen Status habe, verläuft erstaunlich einfach. Für Otto ist es geradezu evident, daß die Vorstellung des Übersinnlichen selber keine sinnliche Vorstellung sein kann. Und dies trifft selbstverständlich auch auf sie als intentionales, ideatives Moment des Gefühls zu. Religion – so Ottos These – lebt bereits in ihren frühesten Stadien von einem ideellen, weil übersinnlichen, und zugleich emotionellen, weil nur im Gefühl erahnten, Bezugspunkt. Immerhin wird von der limitativen Einführung des Terminus ‚Apriori‘ her im Nachhinein verständlich, warum Otto anstelle des sonst üblichen Gedankens des Göttlichen den Begriff des ‚Numen‘ favorisierte. „Mit diesem Ausdruck meinen wir etwas sehr bestimmtes. Aber noch bei klarster Explikation können wir begrifflich nicht sagen, was wir meinen“ (GÜ, 3). Darüber hinaus ermöglichte er es ihm, im religionswissenschaftlichen Schulstreit zwischen Animismus und Präanimismus eine übergeordnete Position zu beziehen. Das zweite Motiv, das Otto zur Aneignung des Begriffs des religiösen Apriori bewog, bestand in der Entdeckung seiner evolutionären Bedeutung. Troeltsch bemängelte an Ottos Konzept, daß es nicht auf das Thema ‚Apriorität und Geschichte‘
Vgl. Ottos Abgrenzung von beiden in DH, 157.
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eingehe.⁶⁶ Dieser Eindruck ist teils zutreffend, teils nicht. In der Tat hielt Otto nichts von einer begrifflichen Einteilung der Religionsgeschichte, etwa nach dem Schema ‚Fetischismus, Polytheismus, Monotheismus‘. Sie hatte ihn schon bei Schleiermacher⁶⁷ und Fries⁶⁸ nicht überzeugt. Nichtsdestoweniger sieht er bereits in der formalen Verfaßtheit des religiösen Apriori ein dynamisches Potential angelegt, das den Vollzug von Religion unweigerlich in einen Geschichtsprozeß überführt. Numinoses Erleben verharrt nie im Zustand seines erstmaligen Auftretens, sondern will „in tastender Regung, in suchender fantastischer Vorstellungs-bildung, in immer vorwärts treibender Ideenerzeugung über sich selbst klar werden“ (DH, 141). Es gelangt nicht zur Ruhe, bevor es „sein Ziel gefunden hat“ (DH, 140) – um auf der nächst höheren Stufe dann erneut in diesen Prozeß einzutreten. Dabei werden zwei Formen des Sich-dursichtig-Werdens unterschieden: zunächst der Vorgang der Ausdifferenzierung in unterschiedliche Momente noch innerhalb des Erlebens⁶⁹ – von Otto als ‚Ideogramme‘ bezeichnet –, sodann deren Explikation mit Hilfe von Sprache und Verstandesbestimmungen – genannt ‚Schematisierung‘.⁷⁰ Nimmt man beide Aspekte zusammen, dann kann der Prozeß der Religionsgeschichte insgesamt als ein sukzessives Zu-sich-Kommen des religiösen Apriori verstanden werden. Sicherlich spielen im soziokulturellen Werdegang von Religion auch „heterogene Elemente“ (RE, 177) eine Rolle. Insoweit kommt Otto Wundts Heterogenitätsprinzip partiell entgegen. Doch letzteres betrifft nur den zweitgenannten Aspekt, den Schematisierungsprozeß, und darf darum nicht verabsolutiert werden. Religiöse Gefühle sind bereits als solche in der Lage, „in sich selber […] einen eigenen Entwicklungs-Verlauf“ (DH, 134) zu initiieren. Ich komme zum Schluß. Rudolf Otto war einer der wenigen, die die Fächer Religionswissenschaft und Theologie mit gleicher Intensität bearbeiteten. Das wiegt schwer angesichts von mittlerweile mehr als einem Jahrhundert gegenseitiger Polemik, Beargwöhnung oder Interesselosigkeit. Zur Klärung dieses Gegenund Nebeneinanders hat man das Schema Außenperspektive/Innenperspektive vorgeschlagen. Schon Otto konnte von ihm Gebrauch machen. Doch dies war für ihn kein Grund zu positioneller Abschottung. Unzählige Male hat er die Fächergrenze nach beiden Richtungen überquert, nicht nur im Medium von Lektüre und
Vgl. Ernst Troeltsch, Zur Religionsphilosophie. Aus Anlaß des Buches von Rudolf Otto über ‚Das Heilige‘, in: Kant-Studien 23 (1918), 65 – 76. Vgl. RE, 177. Vgl. KFR, 123 f. Otto kann auch von „Selbst-auswicklung und Selbstverdeutlichung des Gefühles“ sprechen (DH, 153). Dieser Begriff der Schematisierung darf nicht mit dem im Kontext der Theorie der ‚Gefühlsgesellung‘ (vgl. DH, 60 f.) entfalteten verwechselt werden.
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Ulrich Barth
Publizistik, sondern auch in der Weise anschaulichen Erkundens. Es trieb ihn zu den Religionskulturen, über die er schrieb – noch bevor der Begriff ‚Feldforschung‘ erfunden war. Er wußte, daß sich das ebenso komplexe wie komplizierte Phänomen Religion nur dann erschließt, wenn die Offenheit des vergleichenden Blicks und die Vertrautheit mit der eigenen Tradition konstruktiv zueinander finden. Darum hat die Verwurzelung im Christentum auch nicht seine Neugier auf das Unbekannte, das Fremde beeinträchtigt. Es war eher umgekehrt: Durch die Betrachtung anderer Religionen und ihrer reichen Frömmigkeitspraxis wollte er auch dem christlichen Glauben zu einem tieferen Verständnis seiner selbst verhelfen. Der Blick nach außen sollte die Erlebnisvielfalt der eigenen Religion entdecken helfen. Nicht von ungefähr hat Otto sich innerhalb der Religionswissenschaft auf die Religionspsychologie geworfen. Subjektiv ursächlich waren wohl in erster Linie die Herkunft aus der Innerlichkeitstradition des Luthertums und der tiefe Eindruck von Schleiermachers Gefühlstheologie. Wir sprechen heute angesichts der kritischen Lage der Religion in der Moderne, sieht man vom Phänomen des Fundamentalismus einmal ab, gern von der Notwendigkeit einer Wiedererweckung von Spiritualität und Transzendenzerfahrung. Das ist zweifellos richtig. Ottos Religionspsychologie kann uns darüber hinaus belehren, daß Spiritualität und Transzendenzerfahrung nur gedeihen können, wenn sie auf den Boden einer wie auch immer gearteten Innerlichkeitskultur gegründet sind. Hinsichtlich des Kunsterlebens ist uns dieser Zusammenhang durchaus vertraut, worauf auch Otto mehrfach hinweist.Was ich mit dem Stichwort ‚Innerlichkeitskultur‘ sagen will, ist dies: Ottos Buch ‚Das Heilige‘ ist keine Religionstheorie im landläufigen Sinne, sondern eine Theorie der Frömmigkeit. Dies dürfte auch der Grund sein, warum es noch immer und heute erst recht wieder so tief fasziniert. Beide Sachverhalte, die Verknüpfung von Religionswissenschaft und Theologie sowie die methodische Aufwertung des religiösen Erlebens in Gestalt der Religionspsychologie, führen uns auf ein Drittes. Es fällt auf, daß Otto vergleichsweise häufig theologiekritische Äußerungen in seine religionspsychologischen Darlegungen einstreut. Ich meine nicht Korrekturen an einzelnen Lehrartikeln, sondern die Kritik an der Lehrbildung als solcher, insbesondere an deren Rationalisierungs- und Vereindeutigungsbestrebungen. Dies stellt eine Variante der bereits von der Aufklärung eingeschärften Differenz von Theologie und Religion dar. Übergriffigkeiten ersterer führen fast immer zu Beschädigungen letzterer. Die Betonung des Geheimnischarakters religiösen Erlebens impliziert jedenfalls auch eine Selbstrelativierung der theologischen Dogmatik, also jener Disziplin, die – wie wir alle wissen – fast zwangsläufig in Geschwätzigkeit und Besserwisserei umschlägt. Unter diesem Blickwinkel ist es vielleicht gerade kein Verlust, daß Otto selbst keine Glaubenslehre veröffentlicht hat.
Hans Joas
Säkulare Heiligkeit Wie aktuell ist Rudolf Otto?¹ Als Rudolf Ottos Buch „Das Heilige“ im Jahr 1917 erschien – noch während des Weltkrieges also und kurz vor dem von diesem Kriege bewirkten epochalen politischen und kulturellen Umschlag in Deutschland – wurde es sofort und anhaltend als ein Buch der „Befreiung“ und des „Durchbruchs“ empfunden. Paul Tillich war es, der diese Ausdrücke rückblickend verwendete, um sein eigenes und das verbreitete Gefühl zu artikulieren, dass hier auf religionsphilosophischem Gebiet „unter all den rationalen Erstarrungen und Belastungen, die nicht nur das kirchliche, sondern auch das philosophisch-idealistische Bewusstsein der letzten Jahrzehnte mit sich trug, das Urfeuer des Lebendigen sich regte und jene Schichten der Verhärtung zu zittern und zu zerreißen begannen“.² „Bis in die Sphäre der persönlichen Frömmigkeit hinein“ reichte die Wirkung, ob das Buch nun im Felde gelesen wurde – Tillich selbst las es in der Champagne – oder zu Hause und nach der Demobilisierung. Rudolf Otto hatte es auf eine solche über den akademischen Bereich weit hinausreichende Leserschaft auch durchaus abgesehen und sein Buch in einer suggestiven Prosa verfasst, die sich vom Stil der Kompilation exotischer Tatsachen wie in Wilhelm Wundts Völkerpsychologie oder der Entwicklung abstrakter philosophischer Gedankengänge wie in Wilhelm Windelsbands Studie zum Heiligen beträchtlich unterschied. Man hat Ottos Werk „das meistverkaufte theologische bzw. religionswissenschaftliche Buch der Neuzeit überhaupt“³ genannt; obwohl ich die Zahlen nicht kenne, erscheint mir die Aussage nicht unplausibel und könnte ich mir lediglich einen hinsichtlich des publizistischen Erfolgs vielleicht überlegenen Konkurrenten vorstellen: William James’ „The Varieties of Religious Experience“ von 1902. In der englischsprachigen Welt wird James’ Buch der eigentliche revolutionäre Durchbruch im Studium der Religion zugeschrieben – und nicht Rudolf Otto, und obwohl bei James „Heiligkeit“ nicht dieselbe begriffliche Zentralstellung einnimmt wie bei Otto, zeigt schon der Für Hinweise zur Verbesserung einer früheren Fassung danke ich insbesondere Matthias Jung. Die Gespräche mit Hermann Deuser haben ebenfalls zur Schärfung meiner Argumentation beigetragen. Paul Tillich, Die Kategorie des „Heiligen“ bei Rudolf Otto (1923), in: Begegnungen. Paul Tillich über sich selbst und andere. Gesammelte Werke, Bd. XII, hg.v. Paul Tillich, Stuttgart 1971, 184– 186, hier 184. Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992, 104.
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oberflächliche Blick methodische Ähnlichkeiten der beiden in Hinsicht auf die Analyse der religiösen Erfahrung. War Ottos Buch ein Durchbruch also nur in national beschränkter Perspektive? In welcher Hinsicht genau kann es überhaupt auch heute noch als Durchbruch bezeichnet werden? Bleibt denn, wenn wir zu Ottos Selbststilisierung und der Perspektive der Zeitgenossen Distanz nehmen, etwas übrig, das einen unüberholten Anspruch von Ottos Werk zu vertreten erlaubt? Ich stelle mir in diesem Beitrag die Aufgabe, nach der Aktualität Rudolf Ottos zu fragen, nicht in dem simplen Sinn aber, dass einzelne Elemente seiner Ausführungen aus dem Ganzen seines Werks herausgelöst und auf ihre Nützlichkeit für die Analyse heutiger Phänomene hin befragt würden, sondern in dem anspruchsvolleren doppelten Sinn, einerseits durch eine historische Kontextualisierung seines Werks hindurch nach seiner Aktualität zu fragen und andererseits durch eine Reflexion auf eine heute veränderte theoretische Lage herauszufinden, was Otto ihr gegenüber noch zu bieten hat. Ich werde also zunächst versuchen, Rudolf Otto nicht als Solitär in der religionswissenschaftlichen Landschaft zu behandeln, sondern ihn in den breiten Diskurs über „Heiligkeit“ einzubetten, der sich seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts international entwickelt hatte; dabei interessiert mich besonders, wie es eigentlich zu diesem Diskurs in eben dieser Zeit kommen konnte. Dann will ich Ottos Verständnis des Heiligen auf die aktuelle Theoriesituation beziehen, in der andere Autoren – Émile Durkheim, Max Weber, William James – eine größere Rolle zumindest in den Sozialwissenschaften spielen als Otto, wenn es um die Dynamik von Prozessen der Sakralisierung (und Entsakralisierung) in der Religionsgeschichte, gerade aber auch unter Bedingungen radikaler Säkularisierung geht. Auch meine eigenen Theorieversuche kommen dabei ins Spiel. Methodisch sind die beiden Schritte durch den Gedanken zusammengehalten, dass historische Kontextualisierung nicht das Gegenteil von Aktualisierung ist, sondern ihre notwendige Voraussetzung. So hatte Ernst Troeltsch argumentiert, als er einen Weg zur Verlebendigung des christlichen Glaubens gerade durch die Religionsgeschichte hindurch zu bahnen versuchte und diesen Weg überhaupt, d. h. weit über die religiösen Fragen hinaus, als Ausweg aus den Relativismusgefahren des Historismus empfahl.
1 Schon Ottos Zeitgenossen fiel auf, dass er in seinem Werk über „Das Heilige“ kaum auf neuere Literatur verwies, sondern nur auf Quellen und Denker aus der klassischen Phase der deutschen Philosophie, vor allem Kant, Schleiermacher und
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den ansonsten weitgehend vergessenen, damals kurze Zeit wiederentdeckten Jakob Friedrich Fries,⁴ über den Otto 1909 ein Buch veröffentlicht hatte. Kannte er die zeitgenössische Literatur nicht oder wollte er die Spuren verwischen, die den Weg zu seinen Thesen zu rekonstruieren erlauben? Nehmen wir als erstes Beispiel William James. Er kommt nur drei Mal in Ottos Buch vor,⁵ jedes Mal nur am Rande und zwei Mal eher negativ kommentiert; insbesondere James’ philosophische Grundlage im Pragmatismus oder „radikalen Empirismus“ wird ganz in dem Ton abgefertigt, wie dies in Deutschland damals in der Auseinandersetzung mit amerikanischen Denkern üblich war:⁶ als primitiver Irrweg, der jeden Zugang „zur Anerkennung von Erkenntnisanlagen und Ideengrundlagen im Geiste selber verbaut“ (S. 11). Einem James-Kenner wie Troeltsch musste das schon damals als unangemessen auffallen, weshalb er in seiner Rezension von 1918 festhielt, dass Otto mit James überaus nahe zusammentreffe, soweit dieser rein Psychologe bleibe, und sich wie dieser „wesentlich an die den objektiven Bildungen des Mythos, Dogma, Kultus usw. zugrunde liegende subjektive Religion [halte] und vor allem […] das von James gesammelte Material voraus[setze], zu dem er aus Bibel, Koran, Mystikern, Luther und indischer Religion nur wenige, aber gut gewählte Belegstellen hinzufügt“.⁷ Troeltsch weist auch auf die Nähe zu Dilthey hin, vor allem aber auf seine eigenen, Dilthey im Wesentlichen folgenden, Ausführungen in seinem umfangreichen Aufsatz von 1894/95⁸ zur „Selbständigkeit der Religion“ und nennt Ottos Buch,vielleicht mit leisem Vorwurf, „eine vollständige Parallele“⁹ zu diesem mehr als zwanzig Jahre älteren Text. Noch merkwürdiger als die Einsilbigkeit Ottos in puncto James und Troeltsch ist, dass zwei weitere zentrale Gestalten des internationalen religionswissenschaftlich-theologischen Heiligkeitsdiskurses (Robert Ranulph Marett und Nathan Söderblom) von Otto zwar kurz erwähnt werden (S. 16 f.; Anm. 2), aber nicht als Vorläufer oder eigentliche Pioniere, obwohl er Maretts Arbeiten sogar als bahnbrechend bezeichnet, sondern als „erfreuliche“ nachträgliche „Bestätigungen“ seiner in den Auseinandersetzungen mit Wilhelm Wundt 1910 aufgestellten Behauptungen. Daran ist mehreres rät Ernst Troeltsch, Zur Religionsphilosophie. Aus Anlass des Buches von Rudolf Otto über „Das Heilige“, zuerst in: Kant-Studien 23 (1918), 65 – 76, jetzt in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, Bd. 13, Berlin 2010, 412– 425, hier 413. DH, 11.50.217. Hans Joas, Amerikanischer Pragmatismus und deutsches Denken. Zur Geschichte eines Mißverständnisses, in: Ders., Pragmatismus und Gesellschaftstheorie, Frankfurt a.M. 1992, 114– 145. Ernst Troeltsch, Zur Religionsphilosophie (Anm. 4), 414. Ernst Troeltsch, Die Selbständigkeit der Religion (1894/95), jetzt in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, Bd. 1, Berlin 2009, 359 – 535. Vgl. dazu auch Hans Joas, Die Selbständigkeit religiöser Phänomene. Ernst Troeltsch als Vorbild der Religionsforschung, in: Die Fuge 6 (2010), 15– 28. A.a.O. 413.
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selhaft, denn Maretts Arbeiten über „mana“, Tabu und prä-animistische Religion waren schon vor seiner Aufsatzsammlung von 1909¹⁰ größtenteils veröffentlicht und weithin rezipiert worden, und in Bezug auf Söderblom nennt Otto zwar seine Rezension von dessen Buch „Das Werden des Götterglaubens“ von 1915 – in meiner Ausgabe mysteriöserweise mit der Angabe 1925! –; es ist aber durch die Auswertung der Korrespondenz von Otto inzwischen bekannt,¹¹ dass die beiden gleich nach der Veröffentlichung von Ottos Schleiermacher-Ausgabe von 1899 in Kontakt kamen, Otto im Jahr 1900 Söderblom in Paris besuchte, dieser Kontakt anhielt und Söderbloms eigene einflussreiche Schriften über das Heilige,vor allem der Beitrag zur „Encyclopedia of Religion and Ethics“ von 1913, ganz offen auf die Arbeiten von Émile Durkheim und seiner Schüler Marcel Mauss und Henri Hubert verweisen.¹² Deren Arbeit zur Magie von 1904¹³ wiederum hatte Marett als systematisch überlegene Parallele zu seiner eigenen Forschung erwähnt, so dass es überraschend wäre, wenn Otto diesem Hinweis nicht nachgegangen wäre. Es sieht zudem durchaus so aus, als habe Otto auch Durkheims Werk von 1912 „Die elementaren Formen des religiösen Lebens“ zur Kenntnis genommen, ohne es aber dann zu erwähnen.¹⁴ Hinter Marett, Söderblom, Durkheim, Hubert und Mauss liegen noch weitere Forschungen zur griechisch-römischen (Fustel de Coulanges) und semitischen (Robertson Smith) Religion, die von der Religionsgeschichte her in eine ähnliche Richtung wiesen wie William James von der Religionspsychologie her: dass Religionen nämlich nicht in erster Linie als Lehrgebäude oder Institutionen zu erfassen seien, sondern als Systeme kollektiver und individueller Ritualpraktiken und der durch diese ermöglichten Erfahrungen. Auf die unübersichtlichen Einflussbahnen im Heiligkeitsdiskurs um 1900¹⁵ will ich an dieser Stelle nicht weiter eingehen, da es mir gewiss nicht um die
Robert Ranulph Marett, The Threshold of Religion, London 1909. Jan Nicolaas Bremmer, ‚Religion‘, ‚Ritual‘ and the Opposition ‚Sacred vs. Profane‘, in: Ansichten griechischer Rituale. Geburtstags-Symposium für Walter Burkert, hg.v. Fritz Graf, Stuttgart/Leipzig 1968, 9 – 32, hier 26 f. Nathan Söderblom, Das Heilige (Allgemeines und Ursprüngliches) (1913), in: Die Diskussion um das „Heilige“, hg.v. Carsten Colpe, Darmstadt 1977, 76 – 116. Henri Hubert/Marcel Mauss, Entwurf einer allgemeinen Theorie der Magie (1904), in: Marcel Mauss. Schriften zur Religionssoziologie, hg.v. Stephan Moebius u. a., Frankfurt a.M. 2012, 239 – 402. (Es ist ein großes Verdienst von Stephan Moebius, Frithjof Nungesser und Christian Papilloud, diese in Deutschland bisher kaum rezipierten Arbeiten endlich in deutscher Sprache zugänglich gemacht zu haben.); vgl. Robert Ranulph Maret, The Threshold of Religion (Anm. 10), XII. Vgl. Camille Tarot, Le symbolique et le sacré. Théories de la religion, Paris 2008, 485 im Anschluss an Henri Hatzfeld, Les Racines de la religion. Tradition, rituels, valeurs, Paris 1993, 27 f. Dieser ist schon verschiedentlich in interessanter Weise rekonstruiert worden. Vgl. u. a. Carsten Colpe, Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Meisenheim
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Klärung urheberrechtlicher Fragen oder wissenschaftsgeschichtlicher Prioritätsansprüche geht. Die Berücksichtigung der Tatsache aber, dass Ottos Werk ein Zufluss zu einem breiten Strom, nicht aber dessen hauptsächliche Quelle ist, relativiert die Bedeutung autobiographischer Selbstauskünfte über Motive wie der, dass für Ottos gedankliche Entwicklung die Inspiration durch den gewiss nicht rationalistischen „Bauernsohn“ Luther oder ein ekstatisches Erlebnis in einer marokkanischen Synagoge ausschlaggebend gewesen seien. Sie relativiert überhaupt die Bedeutung jedes einzelnen Beiträgers, da ein solcher überpersönlicher Diskurs sich nur entwickeln kann, wenn eine ganze Konstellation von historischen Veränderungen ihn ermöglicht, an die dann vielerlei Motive angeknüpft werden können. Nach dieser Konstellation aber will ich eigentlich fragen. Zwei historische Veränderungen scheinen mir entscheidend für die Charakterisierung dieser Konstellation. Die eine betrifft den Aufstieg der säkularen Option in weiten Kreisen des Bürgertums und der Arbeiterschaft etwa in Deutschland und Frankreich in dieser Zeit. Ich ziehe es vor,von der Entscheidung der Menschen für die säkulare Option und nicht von „Säkularisierung“ zu reden – in Anlehnung an die Begrifflichkeit von Charles Taylor¹⁶ – weil damit deutlich wird, dass es sich nicht um einen quasi zwangsläufigen Prozess handelte, der alle gleichermaßen betraf, sondern um ein die Individuen je nach soziokulturellem Milieu und politischer Orientierung höchst unterschiedlich betreffendes, von ihren subjektiven Situationsdeutungen abhängiges Geschehen. Dieser Aufstieg der säkularen Option machte zahlreichen Beobachtern bewusst, dass der verbreitete Abschied von den tradierten Religionsgemeinschaften nicht gleichzusetzen ist mit einem Abschied von aller „Gläubigkeit“. Es kommt mit der säkularen Option zunächst ja etwas Zusätzliches in die Welt, das gewiss Platz beansprucht, aber diesen nicht widerstandslos gewinnt. Auf jeden Fall wird so der Glaube selbst zur Option; er verliert die Selbstverständlichkeit, die er vielleicht gehabt hat, und wird zu einem Glauben im Angesicht der Möglichkeit des Unglaubens.¹⁷ Diese Erkenntnis konnte empirisch genutzt werden, durch die Aufmerksamkeit etwa auf religiöse Erweckungsbewegungen und die Neuentstehung von Religionen – so bei William James – oder normativ und programmatisch gewendet, durch die Bemühung um die Hervorbringung einer postchristlichen „religion de l’humanité“ bei Émile Durkheim mit der Idee der Menschenrechte als einer Sakralisierung der Person und der Nation als eines Mittels zur Verwirklichung dieser Menschenrechte. Empirisch
1990; Arie Leendert Molendijk, The Notion of the Sacred, in: Holy Ground. Re-inventing Ritual Space in Modern Western Culture, hg.v. Arie Leendert Molendijk/Paul Post, Leuven 2010, 55 – 89. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M. 2009. Dazu ausführlich Hans Joas, Glaube als Option. Zukunftsmöglichkeiten des Christentums, Freiburg 2012.
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konnten hier auch – schon bei Marcel Mauss, aber vor allem dann später bei Eric Voegelin, Raymond Aron und anderen – Versuche anschließen, die säkularen nationalen und sozialen Bewegungen des neunzehnten Jahrhunderts, vor allem aber dann die Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts, als politische oder säkulare Religionen, als Religionsersatz oder Ersatzreligion, Pseudo- oder Kryptoreligion – in äußerst schwankender Weise also – auf den Begriff zu bringen. Gemeinsam ist all diesen Denkansätzen, dass sie auf die massenhafte Entscheidung für die säkulare Option oder doch zumindest (in den USA) auf eine fortschreitende Individualisierung der Religion nicht einfach glaubensapologetisch mit einer These von der anthropologischen Unentbehrlichkeit von Religion reagieren, aber eben auch nicht flach-säkularistisch einfach den ersatzlosen Wegfall überholten „Aberglaubens“ und die Überwindung eines unzivilisierten „Fanatismus“ proklamierten – zwei Schlagwörter aus dem Arsenal aufklärerischer Religionskritik –, sondern dass sie es unternahmen, die spezifischen Qualitäten menschlicher Erfahrung zu bestimmen, die aller Religion zugrunde liegen und durch den Aufstieg der säkularen Option nicht einfach verschwinden. Der Begriff, der sich für diese Erfahrungsqualität weithin durchsetzte, war der des „Heiligen“. Religionen mussten dann als Systeme erscheinen, die die Erfahrung des Heiligen organisieren – „l’administration du sacré“ – das Heilige selbst aber als „l’idée mère de la religion“ (Henri Hubert),¹⁸ womit die bisherige Vorstellung, die sich aus der Innenperspektive einer Religion ergibt und aus einer Religionskritik, die diese Innenperspektive nur entwertet, analytisch auf den Kopf gestellt wird. Das „Heilige“ wird so aus den institutionellen und doktrinären Einfassungen gelöst, die der Begriff „Religion“ suggeriert. So verschieden die religionspolitische Situation in Deutschland von der im Frankreich Durkheims oder der in den Vereinigen Staaten zur Zeit von William James war, gemeinsam ist Rudolf Otto mit den genannten Denkern der Versuch, auf die sich ausbreitende Religionskritik nicht einfach glaubensapologetisch zu reagieren, sondern durch eine neue Bestimmung der Ebene, auf der ein Religionsdiskurs überhaupt methodisch zu führen sei. Vor allem für James und für Otto gilt, dass sie eine Ebene suchten, auf der eine Wissenschaft von der Religion betrieben werden kann, deren Aussagen sowohl für Gläubige verschiedener Glaubensrichtungen wie für Säkularisten plausibel sind. Dazu war ein gleicher Abstand nötig zu einer Theologie, die für ihre Aussagen einfach „offenbarungspositivistisch“ nicht weiter herleitbare Setzungen zum Ausgangspunkt wählt, wie zu einer reduktionistischen Religionswissenschaft, die religiöse Phänomene
Henri Hubert, Introduction à la traduction française, in: P.D. Chantepie de la Saussaye, Manuel d’histoire des religion, Paris 1904, V-XLVIII, hier XLVII.
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grundsätzlich nur als Ausdruck anderer Phänomene anerkennen kann. William James nannte solche reduktionistischen Erklärungen „nothing but“-Erklärungen. Es ist mir wichtig, darauf hinzuweisen, dass solche Reduktionismen den Aufstieg der säkularen Option zur unausgesprochenen Voraussetzung haben. In ihnen wird Religion als solche zum Explanandum und nicht nur ein bestimmter Glaube. Ohne Religionslosigkeit wäre diese Fragestellung und ein solcher gewissermaßen von außen kommender Blick auf alle Religion gar nicht möglich. Die Wende zur „Erfahrung“ erlaubt es nun, gegen Apologetik und Reduktionismus einen Phänomenbereich zu bestimmen, über den Aussagen möglich sind, die eine gewisse Unabhängigkeit von religiösen oder antireligiösen Großdeutungen haben. Die zweite Entwicklung, die den Heiligkeitsdiskurs um 1900 bestimmte, lag in der zunehmenden Einsicht, dass Begriffe, die an den abrahamitischen Religionen (Judentum, Christentum, Islam) gewonnen worden waren, ungeeignet sind, die nicht oder weniger theistischen Religionen Süd- und Ostasiens zu begreifen und die Religionen Afrikas oder der Südsee, für die Begriffe wie Naturismus, Animismus, Präanimismus und Totemismus aufkamen. Ende des neunzehnten Jahrhunderts verstärkten Kolonialismus und Imperialismus hier eine Kulturkonfrontation, die schon früher eingesetzt hatte, deren intellektuelle Auswirkungen aber lange Zeit sehr begrenzt blieben.¹⁹ Das Wissen führender Religionsdenker des achtzehnten Jahrhunderts – von David Hume bis Friedrich Schleiermacher – war in dieser Hinsicht noch sehr begrenzt, und selbst Ernst Troeltsch war hundert Jahre später – anders als Max Weber – mit nichtchristlichen Religionen schlecht vertraut. Ganz anders Rudolf Otto, der ein veritabler Hinduismus-Experte war, und alle anderen führenden Beiträger zum Heiligkeitsdiskurs. Durkheim und Mauss beschäftigten sich mit der Universalgeschichte der Religion und konzentrierten sich etwa auf die australischen Aborigines, die nordamerikanischen Indianer und die Eskimos. R. R. Marett entwickelte seine Ideen über prä-animistische Religion, die für den Heiligkeitsdiskurs zentral waren, an den Melanesiern und suchte nach dem Vorstellungsstoff, an dem Göttervorstellungen sich allererst bilden können, dem „common plasm“²⁰ oder „Theoplasma“. Begriffe wie „Gott“ und „Götter“ und erst recht das „Übernatürliche“ wurden als viel zu voraussetzungsreich durchschaut. Auf der Suche nach fundamentaleren Strukturen stieß man auf Tabu und „mana“, eine unpersönliche Kraft; in unterschiedlichen Weisen wurden Beziehungen hergestellt zwischen diesen Phänomenen und den von ihnen abstrahierten Begriffen.
Für den Beginn dieser Geschichte jetzt: Guy Gedalyah Stroumsa, A New Science. The Discovery of Religion in the Age of Reason, Cambridge, Mass. 2010. Robert Ranulph Marett, The Threshold of Religion (Anm. 10), XI.
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Dabei waren die beiden Entwicklungen: Aufstieg der säkularen Option und verstärkte Konfrontation mit nicht-theistischer religiöser Erfahrung in ihren geistigen Verarbeitungsformen durchaus nicht völlig getrennt. Schon im achtzehnten Jahrhundert ging die aufklärerische China-Mode teilweise darauf zurück, dass man den Konfuzianismus als rein säkulare Weisheitslehre interpretierte,²¹ und im neunzehnten Jahrhundert hielt man jahrzehntelang die australischen Aborigines für eine praktisch religionslose Kultur.²² Die Möglichkeit der Religionslosigkeit in der Vergangenheit oder auf früheren Stufen der Menschheitsentwicklung erschien als Stärkung der Aussicht, in der Zukunft ebenfalls eine rein säkulare Kultur zu entwickeln. Sich auf religiöse Erfahrung und insbesondere auf die Erfahrung von Heiligkeit zu konzentrieren, änderte die Parameter der vielfältigen Religionsdebatten in höchst innovativer Weise. Für Otto hieß dies mehr noch als für James, eine neue Chance zur Revitalisierung des christlichen Glaubens wahrzunehmen. Nach Ottos Meinung löste sich durch die religionspsychologische und religionshistorische Perspektive der Wahrheitsanspruch des Christentums ja nicht relativistisch auf. Obwohl er – wie Max Weber – von „Versittlichung und allgemeiner Rationalisierung des Numinosen“ (DH, 95) sprach, bedeutete das für ihn nicht – wie für Weber – fortschreitende „Entzauberung“, denn – schreibt er – „solche Versittlichung und Rationalisierung ist nicht die Überwindung des Numinosen, sondern Überwindung seines einseitigen Vorwiegens. Sie vollzieht sich am Numinosen und wird von ihm umfaßt“ (DH, 95). Dieser Gedanke entspricht genau einem der Leitmotive in dem vielleicht bedeutendsten Werk historisch orientierter Religionssoziologie in unserer Zeit, nämlich der Formel „nothing is ever lost“ bei Robert Bellah.²³ Theoretische Rationalität etwa ersetzt in dieser Sicht nicht das Mimetisch-Rituelle und das Mythisch-Narrative, sondern kommt als Frage nach der richtigen zu erzählenden Geschichte, auch im Sinn der kritischen Umgestaltung aller vorliegenden Geschichten, zu diesem hinzu. Deshalb zielt Otto mit seiner Herausarbeitung des Numinosen auch im Christentum nicht einfach auf dessen Vergangenheit. Für ihn kann „die christliche Glaubenslehre […] auf dieses Moment nicht verzichten, wenn sie christliche und biblische Religiosität vertreten will.“
Jürgen Osterhammel, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998. William Edward Hanley Stanner, Religion, Totemism and Symbolism, in: Aboriginal Man in Australia, hg.v. Ronald und Catherine Berndt, Sydney 1965, 207– 237. Robert Neelly Bellah, Religion in Human Evolution. From the Paleolithic to the Axial Age, Cambridge, Mass. 2011, 267 und passim. Bellah stützt sich dabei insbesondere auf die Arbeiten des kanadischen Kognitionspsychologen Merlin Donald. Vgl. von diesem v. a. Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Evolution of Culture and Cognition, Cambridge, Mass. 1991.
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(DH, 72). „Sache christlicher Kultur, christlicher Verkündigung, christlicher Glaubenslehre wird es sein, das Rationale in der christlichen Gottesidee immerdar auf dem Untergrunde ihrer irrationalen Momente zu hegen, um ihm so seine Tiefe zu sichern.“ (DH, 133). Da Otto aber eben nicht einfach das Irrationale gegen die Rationalisierung stellt, sondern an die Rationalisierung am Numinosen denkt, hebt er hervor, dass „der Gott des Neuen Testaments nicht weniger heilig [ist] als der des Alten, sondern mehr, der Abstand der Kreatur gegen ihn nicht geringer, sondern absolut, der Unwert des Profanen ihm gegenüber nicht verflaut, sondern gesteigert. Dass der Heilige sich dennoch selber nahbar macht, ist keine Selbstverständlichkeit, wie es der gerührte Optimismus der ‚Lieber Gott‘-Stimmung meint, sondern unbegreifliche Gnade. Dem Christentum dafür das Gefühl rauben, heißt, es bis zur Unkenntlichkeit verflachen.“ (DH, 73) Die Stärke dieses zuletzt eben doch christlich-religiösen Impulses von Ottos Werk scheint mir dort verfehlt, wo sein Buch über das Heilige wie bei Carsten Colpe²⁴ als bloßes Trostbuch nach dem Zusammenbruch des Kulturprotestantismus und nationaler Hoffnungen interpretiert wird. Für manche Rezipienten mag dies zutreffen, aber nicht für die Intention des Autors. Auch Hans Gerhard Kippenberg²⁵ rückt mir Otto zu sehr in die Ecke einer bloßen Sehnsucht nach dem Heiligen in einer Epoche der Entzauberung, einer letztlich zum Scheitern verurteilten Sehnsucht nämlich. Treffender scheint mir die Reaktion des jungen Leo Strauss auf Otto,²⁶ der erkannte, dass sich durch die fortschreitende Ausbreitung der säkularen Option die Stellung der Theologie entschieden verändern musste. In einer Welt des Glaubens musste sie das Recht des Rationalen zur Anerkennung bringen, nun aber „in einer von der Ratio beherrschten geistigen Welt, ‚das Irrationale in der Idee des Göttlichen‘ durch das Medium des theoretischen Bewusstseins dem Zeitalter lebendig machen. Die frühere Theologie spekulierte in einem religiös geschlossenen Gewölbe – die neue Theologie lebt unter freiem Himmel und hat nach ihren Kräften selbst am Bau des Gewölbes mitzuhelfen. Damals war die erste Tatsache Gott – heute: Welt, Mensch, religiöses Erlebnis.“ In dieser methodischen Hinsicht also ist Otto und der ganze Heiligkeitsdiskurs der Zeit gewiss weiter höchst aktuell, zumal die beiden von mir genannten Ent-
Carsten Colpe, Über das Heilige (Anm. 15), 46. Hans Gerhard Kippenberg, Die Entdeckung der Religionsgeschichte. Religionswissenschaft und Moderne, München 1997, 249 ff.192 f. Eine alternative Sicht, in der Otto nicht durch Webers Augen betrachtet wird, findet sich in der ausgezeichneten Monographie: Todd A. Gooch, The Numinous and Modernity. An Interpretation of Rudolf Otto’s Philosophy of Religion, Berlin/New York 2000, 204 f. Leo Strauss, Das Heilige (1923), jetzt in: Ders., Philosophie und Gesetz – Frühe Schriften. Gesammelte Schriften, Bd. 2., Stuttgart 1997, 307– 310, hier 308.
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wicklungen der Zeit: Ausbreitung der säkularen Option und verstärkte Konfrontation mit nicht-theistischer Religiosität, ja eher weiter an Bedeutung gewonnen haben. Die Analyse von Sakralisierungsprozessen aller Art in Vergangenheit und Gegenwart ist für mich geradezu ein zentrales Thema der Religionssoziologie, aber weit darüber hinaus. Doch wird dieser meiner Behauptung, für mich subjektiv immer wieder erstaunlich, eine konfessionelle Schlagseite unterstellt. Ist die Rede von der Heiligkeit irgendwie katholisch? Bezieht man den Heiligkeitsdiskurs in seiner Breite ein, erscheint diese Unterstellung als abwegig. Die wichtigsten Beiträger, wie gesagt, waren französische Juden wie Durkheim und Mauss, der lutherische Theologe Otto und der nachmalige lutherische Erzbischof von Uppsala, Nathan Söderblom. Rudolf Otto hätte wohl, mit dieser Unterstellung konfrontiert, darauf verwiesen, dass zwar „das Gefühl des Numinosen“ im Katholizismus in der Tat „ungemein kräftig“ lebe: „in seinem Kult, in seiner sakramentalen Symbolik, in der apokryphen Form des Wunderglaubens und der Legende, in den Paradoxien und Mysterien seines Dogmas, in den platonischplotinischen und dionysischen Einschlägen seiner Ideenbildung, in der Feierlichkeit seiner Kirchen und Gebräuche und besonders in der engen Fühlung seiner Frömmigkeit mit der Mystik.“ (DH, 116). Otto wusste aber auch, dass die offiziellen Lehrgebäude des Katholizismus gerade Gegenstand einer sehr „starken Rationalisierung“ waren, „der doch die Praxis und das Gefühlsleben selber nicht nachkam und nie entsprach.“ (DH, 116). Er sah die Spannung zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen, die Chance einer Rationalisierung am Numinosen und die Gefahren einer Rationalisierung des Numinosen in allen christlichen Konfessionen und in aller Religion, soweit sie überhaupt Gegenstand von Rationalisierung geworden war. Die Frage aber, ob damit nicht nur ein Wunschbild vitaler moderner Religion gezeichnet wird oder ob der christliche Glaube nach der Aufklärung sich gerade von aller Religion und Heiligkeit distanzieren müsse, ist damit noch nicht beantwortet. Bevor auf Ottos Aktualität in dieser Hinsicht eingegangen werden kann, muss nach der Einbettung in den damaligen Denkkontext nun genauer untersucht werden, worin Ottos spezifische Konzeption des Heiligen innerhalb des genannten breiteren Diskurses bestand und ob sie denn in der heutigen Theorielandschaft noch mit guten Gründen verteidigt werden kann.
2 Als Ausgangspunkt für die genauere Verortung der spezifischen Position Rudolf Ottos im breiten Heiligkeitsdiskurs der Jahrzehnte um 1900 wähle ich die Frage, wie sich Otto eigentlich das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität des Heiligen vorstellt. Einfacher ausgedrückt: Kann alles in der Welt sakralisiert werden oder
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können Menschen in bestimmten Erfahrungen nicht umhin, diese als Begegnung mit einem an sich Heiligen zu erfahren? Kann Letzteres nur geschehen, wenn dieses auch unabhängig von aller menschlichen Erfahrung an sich heilig ist? Die Auffassungen der Beiträger zum Heiligkeitsdiskurs weichen bei dieser Frage sehr weit voneinander ab. Es findet sich das ganze Spektrum von einer komplett objektivistischen Sicht zu einer Denkweise, der zufolge das Heilige nichts anderes ist als eine kollektive Zuschreibung dieser Qualität. Am objektivistischen Pol sehe ich den wichtigsten katholischen Beiträger zum Heiligkeitsdiskurs der Zeit, nämlich Max Scheler. Er lobt zwar in seinem religionsphilosophischen Hauptwerk „Vom Ewigen im Menschen“²⁷ Rudolf Otto für die phänomenologischen Analysen seines „tiefen und schönen Buches“, kritisiert aber, dass er dann am Schluss wieder zurückfalle „in eine an Kant und Fries orientierte Auffassung dieses Heiligen als einer subjektiven Vernunftkategorie, die dem gegebenen Sinnesmaterial „aufgeprägt“ (also nicht als Gegenstandsbestimmtheit vorgefunden) werde.“ Am anderen Pol steht Émile Durkheim, für den zwischen der Sakralität und der Materialität keinerlei intrinsische Beziehung besteht: „Ein Fels, ein Baum, eine Quelle, ein Kiesel, ein Stück Holz, ein Haus, mit einem Wort, jedes Ding kann ein heiliges Wesen sein“ („une chose quelconque peut être sacrée“). „Ein Ritus kann diesen Zug haben; es gibt gar keinen Ritus, der ihn nicht in einem bestimmten Grad hat. Es gibt Wörter, Aussprüche, Formeln, die nur durch den Mund geweihter Personen ausgesprochen werden dürfen; es gibt Gesten und Bewegungen, die nicht von aller Welt gemacht werden dürfen.“²⁸ Sowohl bei Scheler als auch bei Durkheim ist eine substantielle Haltung zum Religiösen eindeutig verantwortlich für ihre Begriffsstrategie auf dem Gebiet des Heiligen. So großartig Schelers eigene phänomenologische Analysen moralischer Gefühle und religiöser Erfahrungen sind, überschätzt er doch deren Reichweite. Wie für ihn die Aufdeckung subjektiver Wertgewissheit zum Nachweis einer erfahrungsunabhängigen objektiven Präexistenz der Werte wurde, so wird ihm das Faktum der Religion zum Anhaltspunkt für die Existenz Gottes. Sowohl Otto wie James verfehlen für ihn deshalb die Tatsache, „dass es feste ontische Charaktere absoluter Heiligkeit an Christi Person selber [seien], die diese Intuitionen nur auffinden, entdecken – nicht aber gestalten und konstruieren.“²⁹ Spiegelverkehrt findet sich die gleiche Selbstsicherheit bei Durkheim, der ja den Anspruch erhob, das
Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen (1920), München 1954, 141. Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), Frankfurt a.M. 1981, 62. Vgl. Max Scheler, Vom Ewigen im Menschen (Anm. 27), 281. Dazu auch schon Hans Joas, Braucht der Mensch Religion? Über Erfahrungen der Selbsttranszendenz, Freiburg 2004, 74 f. und jetzt Ders., Evidenz oder Evidenzgefühl? Max Schelers Phänomenologie und ihr religiöser Anspruch, in: Erkennen – Handeln – Bewähren. Phänomenologie und Pragmatismus, hg.v. Michael Gabel/Christian Bermes/Matthias Müller, Nordhausen.
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Geheimnis aller Religion soziologisch gelüftet zu haben, indem alle Sakralität darauf zurück geführt wurde, nichts anderes zu sein als eine – so schon kritisch Nathan Söderblom³⁰ – „Objektivierung und Idealisierung des Sozialen“. In beiden Fällen wird damit aber die Analyse religiöser Erfahrung zu apologetischen oder säkularistischen Zwecken eingesetzt und nicht so, wie James das vorgeschwebt hatte, als gemeinsamer Bereich einer von Glaubensvoraussetzungen relativ unabhängigen Wissenschaft von der Religion. Während im Fall Scheler der fundamentalphilosophische Anspruch seiner Wesensphänomenologie in Zweifel zu ziehen ist, sich also die Frage stellt, ob Analysen der subjektiven Evidenz von Gläubigen zu einem objektiven Evidenzerweis von Bestimmungen des Göttlichen werden können, lässt sich Durkheims Engführung der Entstehung von Sakralität aus der kollektiven Ekstase im Ritual empirisch überprüfen. Hier hat die spätere Forschung zu den australischen Aborigines eindeutig ergeben, dass die Vorstellung von einer arbiträren Sakralitätsattribution ausschließlich aus der Dynamik von Ritualen heraus nicht zutrifft, vielmehr die Erfahrung der Welt bei den Aborigines zutiefst darin besteht, diese als von Zeichen durchsetzt wahrzunehmen, Zeichen, die auf einen der Welt innewohnenden Sinn verweisen.³¹ Auch im Fall der nordamerikanischen Indianer gilt nicht, dass individuelle religiöse Praxis nur abgeleitet ist vom kollektiven Ritual; in Einsamkeit gesuchte Visionen, d. h. Evidenzerlebnisse, spielen vielmehr eine zentrale Rolle.³² Schon zu Durkheims Lebzeiten hatte R. R. Marett gegen ihn eingewandt, dass er fälschlich die ritualfundierte Idee unpersönlicher sakraler Kräfte der Idee personaler sakraler Wesen chronologisch vorgeordnet habe³³ – ein weiterer Begriffszwang natürlich, der sich aus Durkheims säkularistischem Motiv ergab. Durkheims Idee des Fusionserlebnisses im Ritual, so wichtig sie ist, kann auch nicht erklären, warum dieses weit über die Sozialität hinaus reicht und zum „ozeanischen“ Gefühl der Einheit mit dem Kosmos wird. Ich will dies hier nicht vertiefen, weil die hier leitende Frage ja ist, wo Otto zu verorten ist. Ich sehe ihn ebenso wie James zwischen den beiden Polen angesiedelt; ein Vergleich mit James ist instruktiv, um seinen genauen Ort zu bestimmen. Verglichen mit James, wird deutlich, dass Otto relativ näher am objektivistischen Pol des Spektrums liegt. Das zeigt sich schon in den unterschiedlichen
Nathan Söderblom, Das Heilige (Anm. 12), 80. Z.B. William Edward Henley Stanner, Religion, Totemism and Symbolism (Anm. 22), 213 und Robert Neelly Bellah, Religion in Human Evolution (Anm. 23), 117– 174. Roy Abraham Rappaport, Ritual and Religion in the Making of Humanity, Cambridge 1999, 380. Robert Ranulph Marett, The Threshold of Religion (Anm. 10), im Vorwort und der Einleitung zur zweiten Auflage von 1914.
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Antworten auf die Frage, ob es so etwas wie spezifisch religiöse Gefühle eigentlich gibt. James betrachtete den Begriff „religious sentiment“ als Kollektivbezeichnung „for the many sentiments which religious objects may arouse in alternation“. Er meinte, dass es die ganze Fülle von Gefühlen bezogen auf religiöse Objekte gebe, aber eben kein spezifisch religiöses Gefühl: „There is religious fear, religious love, religious awe, religious joy, and so forth. But religious love is only man’s natural emotion of love directed to a religious object“,³⁴ und so auch bei Furcht und Ehrfurcht. Religiöse Gefühle seien selbstverständlich von anderen konkreten Emotionen empirisch unterscheidbar, aber nicht so, als gebe es „a simple abstract ‚religious emotion‘ […] as a distinct elementary mental affection by itself, present in every religious experience without exception.“³⁵ Otto dagegen versucht, in der numinosen Scheu den Ursprung der Religionsgeschichte zu identifizieren, der auch trotz aller Höherentwicklung im Verständnis des Numinosen erhalten bleibe, wie sich in Gewalt und Reiz des „Grausens“ zeige: „Die Gänsehaut ist etwas ‚Übernatürliches‘“ (DH, 18). Die numinose Scheu ist für ihn ein Gefühl sui generis, keine Steigerungsform etwa der „natürlichen Furcht“, sondern qualitativ verschieden von allen analogen Gefühlen (DH, 9). Otto interessiert sich dann zwar für die ganze Skala des numinosen Gefühls, die ja von ruhiger Feierlichkeit bis zur Ekstase reichen kann, glaubt aber doch, darin den Kern der Heiligkeitserfahrung gefunden zu haben, während James die Vielfalt religiöser Erfahrung in ihrer ganzen Breite auch von Gefühlen untersucht, weil für ihn der Kern dieser Erfahrung überhaupt nicht in einem spezifischen Gefühl steckt, sondern an anderer, später zu nennender Stelle. Was so auf den ersten Blick wie eine krasse Differenz wirkt, mildert sich allerdings etwas bei näherer Betrachtung. James grenzt nämlich die Skala möglicher religiöser Gefühle durchaus ein, wenn er Feierlichkeit und einen spezifischen über bloße Moralität hinausreichenden Enthusiasmus für charakteristisch erklärt. Grinsen und Kichern sowie komplette Ablehnung des Kosmos seien nie religiös. Und im Mystik-Kapitel seines großen Buches sagt er ausdrücklich, dass bestimmte Aspekte der Natur eine besondere Macht zu haben scheinen, mystische Stimmungen zu erwecken.³⁶ Umgekehrt sagt Otto in einer Auseinandersetzung mit Söderblom,³⁷ dass das Heiligkeitsgefühl „zwar aus einem durchaus eigentümlichen, gefühlsmäßigen Wert geboren wird“, sich aber „an das Allerverschiedenste hängen kann, an Gegenstände der unbelebten und belebten Natur, der körperli-
William James, The Varieties of Religious Experience, New York 1902, 27. A.a.O. 28. A.a.O. 394. Rudolf Otto, Rezension Nathan Söderblom, Gudstrons uppkomst, in: Theologische Literaturzeitung 40 (1915), Sp. 1– 4, hier Sp. 2.
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chen wie der seelischen, und an Zustände, Vermögen und Geschehnisse ebenso gut wie an Gegenstände.“ Doch bedeutet die gegenüber dem ersten Eindruck größere Nähe der beiden Denker zueinander nicht, dass sie wirklich sich selbst völlige Klarheit über das sich stellende Problem verschafft hätten. Die Nähe kann auch auf ein gemeinsames Defizit hinweisen. Ich behaupte nun in der Tat, dass dies der Fall ist, dass das Verhältnis von Subjektivität und Objektivität in der Erfahrung des „Heiligen“ (Otto) bzw. des „Göttlichen“ (James) bei beiden schwankt und letztlich ungeklärt bleibt, weil sie ein dualistisches Verhältnis von erfahrend-erkennendem Subjekt und erfahrenem-erkanntem Objekt zugrunde legten und nicht eine triadische Struktur der Interpretation von etwas durch jemanden für jemanden. Man kann dies ein hermeneutisches oder auch semiotisches Defizit beider nennen. Bei James erscheinen etwa Mythen und Dogmen als spontanes Produkt der religiösen Erfahrung, Deutungen überhaupt als bloße Emanation der Erfahrung. Das hat ihm schon sein Freund und Harvard-Kollege Josiah Royce in seinen Spätschriften vorgeworfen und durch seine eigene Theorie zu überwinden versucht.³⁸ Er hatte erkannt, dass die fundamentale Einsicht in die Zeichenvermitteltheit des menschlichen Weltverhältnisses auch unsere Vorstellung von „Selbst“ und „Gemeinschaft“ radikal verändert.Wir müssen die Vorstellung aufgeben, dass wir über einen nicht über Zeichen vermittelten Zugang zu uns selbst, eine reine Intuition unserer selbst, verfügen; wir müssen erkennen, dass „Gemeinschaften“ das Resultat von Kommunikationsprozessen sind. Wenn unser Verhältnis zu uns selbst, auch zu unseren intimsten Erfahrungen, und zu anderen, auch den intimsten anderen, zeichenvermittelt ist, dann wird Interpretation – die Interpretation von Zeichen – zu einem wesentlichen Bestandteil des alltäglichen Lebens der Menschen. Jede Interpretation wird dann immer auch sofort zu einem neuen Zeichen in der Welt und möglicherweise zum Gegenstand neuer Interpretationsakte. Solche Überlegungen zur Artikulation von Erfahrung bleiben aber bei James marginal. Ebenso besteht bei Otto ständig die Gefahr, dass sich – wie der Philosoph Matthias Jung schrieb – „die innere Beziehung von Akt und Inhalt in ein deterministisches Außenverhältnis [verwandelt], in dem der Gehalt seine Auffassungsweisen konstituiert.“³⁹ So sehr es zutrifft, dass religiöse Erfahrungen ein
Zur Kritik schon Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1997, 108 f. Royce’ Alternative in: Ders., The Problem of Christianity (1913), Washington, D.C. 2001, v. a. 273 ff. Dazu Hans Joas, Religious experience and its interpretation. Reflections on James and Royce (Manuskript 2012). In dieselbe Richtung zielt (in diesem Band): Hermann Deuser, „A feeling of objective presence“ – Rudolf Ottos „Das Heilige“ und William James’ Pragmatismus im Vergleich. Matthias Jung, Religiöse Erfahrung. Genese und Kritik eines religionshistorischen Grundbegriffs, in: Religionsphilosophie. Historische Positionen und systematische Reflexionen, hg.v. Matthias Jung u. a., Würzburg 2000, 135– 150, hier 145.
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Passivitätsmoment haben, rezeptiven Charakters sind, d. h. niemand seine eigene religiöse Erfahrung als selbstkonstituiertes Phänomen deuten und zugleich in ihr eine Begegnung mit dem Göttlichen sehen kann, so wenig folgt daraus, dass die religiöse Überzeugung aus der Erfahrung einfach herauswächst. In die Erfahrung gehen immer schon symbolisch strukturierte Erwartungen und Wahrnehmungsmuster ein, und der Erfahrende muss sich von der unmittelbaren Erfahrung immer auch distanzieren, um sie überhaupt als eine bestimmte zu identifizieren und anderen gegenüber zu artikulieren. Die Erfahrung ist auf Artikulation hin angelegt, ruft nach, ja nötigt zu ihr. Aktualität im theoretischen Sinn kommt einem Werk m. E. heute nur zu, wenn es gelingt, sowohl die quasi-strukturalistische Arbitraritätsauffassung des Sakralen à la Durkheim zu vermeiden wie eine rein gegenstandstheoretische Vorstellung vom Numinosen, dies aber nicht durch einen diffusen Mittelweg, sondern durch eine Konzeption, die die Vermittlung von Erfahrung, Artikulation und kulturellem Repertoire⁴⁰ konkret zu denken erlaubt. Otto stößt natürlich in seiner konkreten Arbeit ständig auf das Problem, das sein begrifflicher Rahmen nicht recht zu lösen erlaubt. Am spannendsten ist dies zu sehen in dem Kapitel „Ausdrucksmittel des Numinosen“ (DH, 79 – 91), aber eigentlich überall dort, wo er von „Ideogrammen“ spricht, also sein Wort für einen tastenden, sich seiner Unzulänglichkeit bewussten Versuch der Artikulation verwendet. Das „nihil“ der westlichen oder die „Leere“ der buddhistischen Mystiker sind ihm „numinose Ideogramme des ‚Ganz Anderen‘“ (DH, 35). Nur durch die „Notenschrift der deutenden Ideogramme“ (DH, 76) werde das Fascinans des Numinosen immerhin „andeutbar“. Wenn er allerdings eine Abstraktionsstufe höher Kants Begriff der Schematisierung heranzieht (DH, 60 ff.), um das „Verhältnis des Rationalen zum Irrationalen in der Komplex-Idee des Heiligen“ (DH, 61) zu fassen, dann ist dies ein kategorialer Missgriff, wie schon zeitgenössische Kritiker bemerkten („so unpassend wie möglich“; Troeltsch⁴¹). Er unterläuft aufgrund seines ungenügenden Verständnisses von Artikulation. Man könnte sagen, dass sich hier das Fehlen einer differenzierten Vorstellung von symbolischer Artikulation sogar schädlich auf die Phänomenologie religiöser Erfahrung auswirkte. Mit einer Berichtigung des Kant-Bezugs bei Otto ist es aber dann nicht getan, da Kant ja gerade für das Artikulationsproblem keine Lösung anzubieten hatte. So hatten schon Herder und auch Schleiermacher argumentiert.⁴²
Vgl. Hans Joas, Die Entstehung der Werte (Anm. 38), 210 ff. Vgl. auch Matthias Jung, Der bewußte Ausdruck. Anthropologie der Artikulation, Berlin 2009. Ernst Troeltsch, Die Selbstständigkeit der Religion (Anm. 8), 421. So auch Hermann Deuser, A feeling of objective presence (Anm. 38).
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Man kann aber noch weiter gehen. Weil bei James und Otto ein hermeneutisches oder semiotisches Defizit besteht, ist nicht nur ihr Bild von der Artikulation von Gefühlen bzw. Erfahrungen unzulänglich, sondern auch der Weg zum Kern religiöser Erfahrung teilweise versperrt. Bei James wird deutlich, dass er diesen Kern gar nicht auf der Ebene der Wahrnehmung ansiedeln will, sondern auf der einer Psychologie des Selbst; er liegt dementsprechend in Erfahrungen der „Selbsttranszendenz“, wie ich das genannt habe,⁴³ mit einem Ausdruck, den James selbst allerdings nicht verwendete. Aber ein Begriff wie „self-surrender“ war zentral für seine Psychologie religiöser Erfahrung, nur ging er den entscheidenden Schritt zu einer Theorie der symbolvermittelten Konstitution des Selbst nicht (Cooley, Mead). Bei Otto wiederum klingt dort, wo er sich von Schleiermacher abgrenzt, ein Befund am seelischen Tatbestand an, der von einer tieferen Einsicht zeugt. Er bestreitet nämlich, dass wir Religion aus dem „Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit“ ableiten dürften, mit dem starken Argument, dass dann das religiöse Gefühl „unmittelbar und in erster Hinsicht […] ein Selbst-Gefühl, das heißt ein Gefühl einer eigentümlichen Bestimmtheit meiner selbst, nämlich meiner Abhängigkeit“ (DH, 10) wäre, aus dem erst durch einen logischen Schluss eine Ursache für diese Abhängigkeit hinzugedacht würde. Damit kommt die Vorstellung von Erfahrungen ins Blickfeld, die der Konstitution des Selbst vorausgehen und ein primäres Gerichtetsein von mir auf etwas außer mir, aber Otto zielt dann nicht wirklich auf die Konstitution des Selbst und die Erfahrungen der Selbsttranszendenz, sondern erneut nur auf das Gefühl der numinosen Scheu als solcher, dessen „Schatten“ das Kreaturgefühl sei. Mit dem hermeneutischen Defizit sind aber James und Otto nicht einfach erledigt. Nach dem „linguistic turn“ in der Philosophie und der kulturalistischen Wende in den Sozialwissenschaften ist ja häufig zu konstatieren, dass der Abschied von der Vorstellung einer kulturell nicht vermittelten Erfahrung häufig so radikal ausfiel, dass nun umgekehrt Erfahrungen als völlig determiniert von den kulturellen Deutungsmustern erscheinen und damit die Frage der individuellen Erfahrungsartikulation von der anderen Seite her verfehlt wird. Doch löst – in einer präzisen Formulierung von Matthias Jung – „Vermittlung Unmittelbarkeit nicht auf, sondern macht sie artikulierbar“.⁴⁴ Der lebendige Reichtum von James’ Deskriptionen und die oft sehr knappen, aber tief eindringenden Analysen von Otto verlieren nicht ihren Wert nach dem Übergang zu einer Konzeption von Artikulation, Selbstbildung und Selbsttranszendenz, sondern bilden ein Gegenge-
In: Hans Joas, Die Entstehung der Werte (Anm. 38), und Ders., Braucht der Mensch Religion? (Anm. 29). Matthias Jung, Religiöse Erfahrung (Anm. 39), 146.
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wicht gegen bloßen Kulturalismus. Gerade Ottos Sensibilität für die Affinitäten zwischen materialer Bestimmtheit und Erfahrung kann dazu anregen, die situativen Bedingungen näher zu beschreiben, unter denen es zu Erfahrungen der Selbsttranszendenz kommen kann. Ein Beispiel soll an dieser Stelle genügen. Rudolf Otto widmet einige sehr schöne Sätze seines Buches der Erfahrung der Wüste (DH, 89), deren weite Leere er „das Erhabene in der Waagerechten“ nennt und auf deren Rolle in der chinesischen Baukunst mit ihrer Inszenierung stiller Weite er verweist. Der Kontrast zum berühmten Wüstenflieger Antoine de SaintExupéry ist hier bemerkenswert. Bei diesem nämlich steht nicht das Gefühl des Numinosen im Vordergrund, sondern die gesteigerte Selbsterfahrung: „Da die Wüste keinerlei greifbaren Reichtum bietet, da es in ihr nichts zu sehen, nichts zu hören gibt, drängt sich die Erkenntnis auf, dass der Mensch zuvörderst aus unsichtbaren Anreizen lebt, denn das innere Leben, weit entfernt davon einzuschlafen, nimmt an Kräften zu. Der Mensch wird vom Geist beherrscht. In der Wüste bin ich das wert, was meine Götter wert sind.“⁴⁵ Es geht bei der Erfahrung der Wüste dann nicht um ein bloßes Gefühl der Erhabenen, sondern um eine Situation der gesteigerten Erfahrung des Kraftfeldes, in dem wir unser Leben führen und das uns selbst ausmacht. Diese Einsicht setzt aber eine Vorstellung vom Selbst voraus, das in sozialen Beziehungen konstituiert wird, immer aber auch sich zu seiner eigenen Überschreitung hin öffnet.
3 Ich habe auf die innere Vielfalt des Heiligkeitsdiskurses in den Wissenschaften von der Religion um 1900 hingewiesen, in dem wir Otto verorten müssen, und ich habe hervorgehoben, wie sehr vor allem James und Otto – anders als Durkheim und Scheler – eine methodische Ebene anstrebten, die weder glaubensapologetisch noch säkularistisch ist. Ich habe aber auch darauf hingewiesen, dass Otto und James keinen Widerspruch sahen zwischen einer solchen Konzeption von Religionswissenschaft und ihrer Bemühung, auch zur Revitalisierung des Glaubens beizutragen. Auf die religiöse Pointe von Ottos Werk möchte ich abschließend kurz zurückkommen. Man hat sowohl James wie Otto und auch schon Schleiermacher und eigentlich allen Verfechtern der Wende zur Erfahrung im Studium der Religion immer wieder vorgeworfen, dass sie sich zumindest in der Gefahr befänden, einer ästhetizisti-
Antoine de Saint-Exupéry, Bekenntnis einer Freundschaft. Briefe an einen Ausgelieferten (1941), Düsseldorf 2010, 25.
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schen und sentimentalen Reduktion von Religion Vorschub zu leisten.⁴⁶ In Bezug auf die Motive der genannten Denker ist dies auf jeden Fall ungerecht. Mehr als James macht Otto deutlich, dass er durch seine Arbeit gerade die Voraussetzungen dafür schaffen will, zentralen Bestandteilen eines biblisch fundierten christlichen Glaubens neue Kraft zuzuführen. So endet das Buch über das Heilige nicht zufällig mit der Proklamation höherer Stufen von Heiligkeit: des Propheten und des Gottessohns. Die Propheten aber sind ja gerade auch für ihre Kraft der Kritik an falscher Sakralisierung, für ihre entsakralisierende Wucht, berühmt. Wenn wir nach der religiösen Aktualität Ottos fragen, dann berühren wir das Problem, ob das prophetische Wort eine Überwindung des bloß Numinosen darstellt oder eben seine Transformation. Für Otto ist die Antwort eindeutig: Die Rationalisierung ist nicht eine des Numinosen, sondern am Numinosen. Damit ist das Christentum Teil der Religionsgeschichte und nicht ein völliger Bruch mit ihr oder die Vorbereitung dieses Bruchs. Aber hier gehen die religiösen Auffassungen auch innerhalb des Christentums auseinander.Während für die einen Rudolf Ottos Werk und der ganze Heiligkeitsdiskurs in den Wissenschaften von der Religion unverzichtbar ist und von höchster Aktualität, weil nur so die unter Bedingungen der massenhaften Entscheidung für die säkulare Option gleichwohl zu findenden Sakralisierungsphänomene zu verstehen seien und zugleich das Christentum nur so sich seiner Grundlage versichern könne, fürchten die anderen gerade, dass damit der eigentlich radikale Anspruch des Christentums verlorengeht und es auf eine Ebene gebracht wird mit allen anderen religiösen und quasi-religiösen Phänomenen in Geschichte und Gegenwart. Mein eigenes Votum in dieser Lage ist klar. Wir brauchen gerade unter den Bedingungen der Säkularisierung die Erforschung von Sakralität,weil nur diese uns erlaubt, die Vielzahl von Erfahrungen der Selbsttranszendenz auch außerhalb der Religionen etwa in Kunst, Natur und Erotik zu bedenken. Dies ist eine unverzichtbare Voraussetzung für das Gespräch von Gläubigen und Nicht-Gläubigen.⁴⁷ Aber wir brauchen auch ein Verständnis der reflexiven Brechung von Sakralität, prototypisch etwa bei den Propheten, um der komplexen Geschichte des Verhältnisses von Religion und Politik gerecht zu werden und um das Gespräch zwischen Gläubigen verschiedener religiöser Traditionen produktiv führen zu
Paul Tillich, Systematic Theology, Vol. 1., Chicago 1951, 216. Da Charles Taylor nicht den Begriff der Heiligkeit, sondern den der Transzendenz zum Ausgangspunkt seiner Darstellung von Säkularisierung macht, hat er Schwierigkeiten, die Sakralitätsphänomene in der gegenwärtigen Kultur angemessen zu erfassen. So argumentieren zumindest Peter Eli Gordon und ich. Vgl. Peter Eli Gordon, The Place of the Sacred in the Absence of God. Charles Taylor’s „A Secular Age“, in: Journal of the History of Ideas 69 (2008), 647– 673; Hans Joas, Die säkulare Option. Ihr Aufstieg und ihre Folgen, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 57 (2009), 293 – 300.
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können.⁴⁸ Für beide Aufgaben ist Rudolf Ottos Werk – mutatis mutandis – von klassischem Rang und bleibender Aktualität.
Vgl. The Axial Age and Its Consequences, hg.v. Robert Bellah/Hans Joas, Cambridge, Mass. 2012.
III Zugänge zur Theologie in systematischer und historischer Perspektive
Reinhard Feldmeier
Der Heilige
Rudolf Ottos Impulse für eine biblische Gotteslehre
1 Gottes Sohn und Gottes Zorn. Zugang Als ich in Tübingen meine Doktorarbeit über die markinische Gethsemane-Perikope Mk 14,32– 42 schrieb,¹ war der Auslöser für das gewagte Unterfangen, über einen schon tausendfach ausgelegten Text eine eigene Dissertation zu versuchen, ein Unbehagen an den gängigen Auslegungen. Was ich da über das Leiden des Gerechten und dessen Vorbildlichkeit für den leidenden Christen geschrieben fand, hatte wenig zu tun mit der ungeheuren Spannung, ja Abgründigkeit, die ich in dieser Erzählung vom nächtlich angefochtenen Gottessohn und seinem vergeblichen Flehen zu einem schweigenden Himmel wahrzunehmen glaubte. Die genaue Analyse des Textes und der ihn prägenden alttestamentlichen und frühjüdischen Prätexte haben dann auch gezeigt, dass der Skopus jenes dreimaligen Gebetsringens in der Schilderung der ‚Preisgabe‘ des Menschensohnes durch Gott besteht,welche die Innenseite der Passion sichtbar macht: In der Verschlossenheit und dem Widerstand der Welt bis hin zu den engsten Vertrauten erlebt der Gottessohn die Verborgenheit seines Vaters und damit die Auslieferung an Gottes Zorn. Solches konnte man in den zeitgenössischen Auslegungen nicht lesen, aber zu meiner Überraschung habe ich, als ich am Ende meiner Untersuchung noch einmal die Auslegungsgeschichte durchsah, festgestellt, dass es immer wieder große Theologen gegeben hatte, welche auch ohne die von mir beigebrachten exegetischen Begründungen die Gethsemane-Perikope auf eine ähnliche Weise gedeutet hatten. Fündig wurde ich bei Martin Luther, Johann Gerhardt, Karl Barth und eben auch bei Rudolf Otto: „Hier ist Erschauern der Kreatur vor dem tremendum mysterium, vor dem Rätsel voller Grauen. Die alten Sagen von dem Jahveh der Mose seinen Diener ‚überfällt‘ bei der Nacht und von Jakob der ringt mit Gott bis an den Morgen kommen uns zu Sinne als deutende Parallele und Weissagung. ‚Er hat mit Gott gerungen und ist obgelegen‘, mit dem Gotte des ‚Zornes‘ und des ‚Grimmes‘.“²
Vgl. Reinhard Feldmeier, Die Krisis des Gottessohnes. Die Gethsemaneerzählung als Schlüssel der Markuspassion (WUNT II 21), Tübingen 1987. DH, 105.
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Bei dieser Auslegung wird weder der Zusammenhang der Perikope mit dem Evangelium beachtet noch werden im Blick auf die zur Interpretation herangezogenen alttestamentlichen Prätexte die Regeln der wissenschaftlichen Exegese beherzigt. Offenkundige Parallelen werden nicht beachtet, stattdessen stellt Otto kühn Bezüge zu Texten her, die ihm nur deshalb „als deutende Parallele und Weissagung zu Sinne kommen“, weil sie sich seiner Schlüsselkategorie des mysterium tremendum trefflich fügen. Und dennoch hat Otto etwas gesehen, was viele andere übersehen haben. Daher will der nachstehende Beitrag, einer Anregung des Kollegen Lauster folgend,³ sich den Zumutungen stellen, die Ottos Programmschrift „Das Heilige“ für den Exegeten darstellen.
2 „Das Numinose im Neuen Testamente“ Das einschlägige Kapitel über das „Numinose im Neuen Testamente“ beginnt mit einer doppelten Feststellung. Zunächst stellt Otto fest, dass die bei den Propheten und Psalmen begonnene Entwicklung im Neuen Testament zu ihrer Vollendung kommt: „Im Evangelium Jesu vollendete sich der Zug auf Rationalisierung Versittlichung und Vermenschlichung der Gottesidee, der von den ältesten Zeiten der Überlieferung Alt-israels an und vornehmlich in Profeten und Psalmen lebendig war und das Numinose hier immer reicher und voller mit den Prädikaten klarer und tiefer rationaler Gemütswerte durchsetzte. Und so ergab sich die durch nichts anderes überbietbare Form des ‚Gott-Vater-Glaubens‘, wie sie das Christentum besitzt.“⁴ Doch wie schon im vorigen Kapitel über das Numinose im Alten Testament wird das sofort gegen das mögliche Missverständnis abgegrenzt, dass damit das Numinose beseitigt wäre: „Nur wäre es auch hier wieder gefehlt wenn man meinen wollte, diese Rationalisierung sei eine Ausscheidung des Numinosen.“⁵ Gerade im Neuen Testament muss das nach Meinung Ottos besonders betont werden, denn die für Jesu Verkündigung zentrale Rede von Gott als dem Vater klinge „uns Heutigen linde und […] oft fast gemütlich, etwa wie der ‚liebe Gott‘“.⁶ Der „Vater“ suggeriere eine Vertraulichkeit, „die sicher nicht der Stimmung der
Ich möchte Jörg Lauster noch einmal ausdrücklich danken, dass er zu der von ihm im Oktober 2012 in Marburg veranstalteten Rudolf-Otto-Tagung auch mich als Exegeten eingeladen hat. Ich hoffe, mein Beitrag lässt erkennen, wie fruchtbar für mich der interdisziplinäre Austausch war. DH, 102. DH, 102. DH, 103.
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ersten Gemeinde entspricht.“⁷ Jesus ging es vielmehr um die „Verkündigung des denkbar numinosesten Objektes, nämlich ‚Evangelium vom Reich‘“.⁸ Dieses Reich Gottes aber – hier nimmt Otto „gegenüber allen rationalistischen Erweichungen“ auf „die neueste Forschung“ Bezug (gemeint ist wohl die Wiederentdeckung der Eschatologie durch J. Weiß und A. Schweitzer) – ist „die Wundergröße schlechthin, das allem Jetzigen und Hiesigen Entgegengesetzte ‚Ganz andere‘ ‚Himmlische‘, umdämmert und umwoben von allen echtesten Motiven ‚religiöser Scheu‘, das ‚Furchtbare‘ und das ‚Reizende‘ und das ‚Erlauchte‘ des Mysteriösen selber. […] Von der Mischung tief inneren Erschauerns vor Weltuntergang Gericht und der hereinbrechenden Überwelt mit dem seligen Schauer weihnachtlicher Erwartung, von der Mischung des tremendum mit dem des fascinans dieses Mysteriums machen wir uns […] heute meist falsche Vorstellungen, oder garkeine. Von ‚dem Reiche‘ und seinem numinosen Wesen aus fällt aber Farbe Stimmung Ton auf jede Beziehung zu ihm“.⁹ Von dem Bezug auf dieses Gottesreich muss nach Otto aber auch Jesu Rede von Gott als Vater verstanden werden: „Dieser ‚Vater‘ ist zuerst der heilig-erhabene König dieses ‚Reiches‘, das dunkel-dräuend mit der vollen emāt Jahveh aus den Tiefen des ‚Himmels‘ herannaht. Indem er sein Herr ist, ist er nicht weniger ‚heilig‘ numinos geheimnisvoll qādosch hagios sacer und sanctus als sein Reich sondern viel mehr, und alles das in absolutem Maße, und er ist nach dieser Seite die Erhöhung und Erfüllung alles dessen was der alte Bund je an ‚Kreaturgefühl‘, an ‚heiliger Scheu‘ und ähnlichem besessen hat.“¹⁰ Dass die Vateranrede Jesu nur recht zu verstehen ist auf dem Hintergrund jenes „seltsamen Erschauern[s] und Grauen[s] vor den Geheimnissen des Überweltlichen“,¹¹ begründet Otto mit einer Blütenlese aus Mt 10,28 und zwei Stellen aus dem Hebräerbrief, die Gott als verzehrendes Feuer beschreiben, in dessen Hände zu fallen schrecklich ist, um dann mit der erwähnten Auslegung der Gethsemaneerzählung den Abschnitt zu Jesus zu beschließen. Im zweiten Abschnitt kommt Otto dann auf Paulus zu sprechen. Dabei belegt er die von ihm gleich eingangs behauptete „Wolke numinoser Gestimmtheit bei
DH, 102. DH, 102. DH, 102 f. Exegetisch sorgfältiger und differenzierter legt Otto dann Jesu Verkündigung vom Reich Gottes in seinem späteren Werk aus: Rudolf Otto, Reich Gottes und Menschensohn. Ein religionsgeschichtlicher Versuch, München 31954. DH, 103. DH, 104.
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Paulus“¹² zunächst mit dem Zitat „Gott wohnt in einem Licht, da niemand zukommen kann“. ¹³ Dieses Wort aus 1 Tim 6,16 bildet den Ausgangspunkt für seine Charakterisierung der apostolischen Theologie als Ausdruck eines Erlebens, das nur aus dem Numinosen verständlich sei: „Das Überschwängliche des Gottesbegriffes und Gottesgefühles führt bei ihm zu mystischem Erleben. Es lebt überhaupt bei ihm in den Gefühlen allgemeiner enthusiastischer Hochgestimmtheit und in seinem pneumatischen Wortgebrauch, die beide weit hinausliegen über die nur rationale Seite der christlichen Frömmigkeit. Diese Katastrofen und Peripetien des Gefühlslebens, diese Tragik von Sünde und Schuld, diese Glut beseligenden Erlebens ist nur auf numinosem Boden möglich und verständlich.“¹⁴ Von hier aus handelt Otto dann hintereinander drei ausgewählte Topoi paulinischer Theologie ab (Gottes Zorn, Prädestination und Abwertung des Fleisches), um daraus das Numinose als Kern paulinischer Religiosität zu bestimmen. Den Abschluss bildet ein Abschnitt zum Johannesevangelium. Bei diesem, so Otto, klinge zwar das Moment des tremendum ab, dafür aber sei bei ihm „[um] so stärker […] das mysteriosum und das fascinans“.¹⁵ Besonders bei der für seine Theologie charakteristischen Rede vom Licht und vom Leben „saugt das Christentum aus den mit ihm wettstreitenden Religionen ‚fȏs‘ und ‚zōē‘ in sich: mit Recht, denn bei ihm erst kommen sie nach Hause.“¹⁶ Dabei bleiben sie aber Ausdruck für ein unsagbares Erleben, sie signalisierten „ein Überschwängliches des Irrationalen“.¹⁷
3 Einwände Wie schon gesagt: Ottos Auslegung provoziert den Widerspruch des Exegeten. Daher sollen, ehe im letzten Kapitel das Neue Testament in Auseinandersetzung mit Ottos Kategorie des Heiligen als eines Tremendum einer relecture unterzogen wird, zunächst die Haupteinwände gegen Ottos Auslegung skizziert werden. Wenn Otto das, was er Jesu „Gott-Vater-Glauben“ nennt, ganz aus dem Bezug zum Reich Gottes als dem „‚Furchtbare[n]‘ […] und […] ‚Erlauchte[n]‘ des Mysteriösen selber“ deutet,¹⁸ um daraus zu folgern, dass Gott als Vater „zuerst der heilig-erhabene König“ sei, der
DH, 105. DH, 105. DH, 105 f. DH, 114. DH, 114. DH, 114. DH, 102.
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„mit der vollen emāt Jahveh aus den Tiefen des ‚Himmels‘ herannaht,“¹⁹ so wird man zunächst einmal im Blick auf die in den Evangelien bezeugte Verkündigung Jesu sagen müssen, dass Jesus so gerade nicht von Gott redet. Mehr noch: Er nennt Gott nirgends den Heiligen und – noch unerwarteter – auch nicht König, obgleich die Königsherrschaft Gottes für seine Verkündigung zentral ist und die Anrede Gottes als König im zeitgenössischen Judentum weit geläufiger war als die Vateranrede. Gerade die sich von der Königstitulatur absetzende Anrede Gottes als „Abba,Vater“ (Mk 14,36) als Ausdruck der Verbundenheit Jesu mit seinem Gott (vgl. auch Lk 10,21 f par. Mt 11,25 – 27) und des Vertrauens in seine Güte (vgl. Lk 6,35 f par. Mt 5,45.48) muss als ein Spezifikum des Gottesverhältnisses des historischen Jesus gelten,²⁰ zu dem er dann im Herrengebet seine Nachfolger ermächtigt (Lk 11,2 par. Mt 6,9). Diese christologische Verortung der Vateranrede haben dann Paulus und Johannes weiter reflektiert und vertieft. Angesichts dieses Befundes wiegt es umso schwerer, dass Otto mit keinem Wort auf die Christologie eingeht. Die Gottessohnschaft Jesu kommt in diesem Kapitel überhaupt nicht vor. Stattdessen deutet Otto den Vater ganz von einer massiv reapokalyptisierten Gottesreichvorstellung her. Man geht wohl nicht fehl in der Annahme, dass Otto diesen Zusammenhang von Christologie und Vateranrede (vermutlich unbewusst) ausgeblendet hat, weil sie sich hier seinen Prämissen religiöser Erfahrung als Einbruch des gänzlich Anderen, Überwältigenden nicht fügt. Ähnliches gilt auch für die Deutung der Rede Jesu vom Gottesreich. Diese ist bei Jesus ja keineswegs in erster Linie erschreckend, hier dominieren nicht das „Furchtbare“ und das „Grauen“, sondern der Zuspruch. Sein Anbruch ist Frohbotschaft (Mk 1,14 f.) – das ist der entscheidende Unterschiede zur Verkündigung Johannes‘ des Täufers. Entsprechend kann Otto auch kaum Worte Jesu als Belege für das Tremendum anführen. Das einzige ist Mt 10,28, das aus dem Rahmen der übrigen Jesuworte herausfällt und gemeinhin als sekundäre Gemeindebildung angesehen wird.²¹ Deshalb ist er auch genötigt, stattdessen zwei Verse aus dem Hebräerbrief zu zitieren, die von der Verkündigung des irdischen Jesus denkbar weit entfernt sind.²² Wenn Otto, der dies sehr wohl gesehen hat, das damit erklärt, dass diese Vorstellung bei Jesus selbstverständlich vorausgesetzt sei, so liegt hier ein Zirkelschluss vor.
DH, 103. Das hat programmatisch bereits Joachim Jeremias, Abba, in: Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, hg.v. Joachim Jeremias, Göttingen 1966, 15 – 67, nachgewiesen. Vgl. Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium. Kommentar zu Kap. 1,1– 13,58 (HThK 1/1), Freiburg u. a., 391. Vgl. DH, 105.
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Die Problematik, dass Otto einzelne Momente nicht in ihrem Zusammenhang deutet, sondern sie aus diesem herausbricht und in einen neuen Kontext stellt, wird besonders bei Paulus deutlich. Schon dass er ein Zitat aus dem 1.Timotheusbrief zum Ausgangspunkt seiner Deutung der paulinischen Theologie macht, ist zumindest eine grobe Nachlässigkeit, denn dass dieser Brief nicht von Paulus stammt, gehörte damals schon zur communis opinio der wissenschaftlichen Theologie.²³ Die sich daran anschließenden Ausführungen zum Zorn Gottes in Röm 1,18 ff. legen diesen Topos nicht als Kehrseite der Offenbarung des Evangeliums und damit als Hintergrund der rechtfertigenden Gottesgerechtigkeit aus, was er im Römerbrief durch seine Einbettung zwischen Röm 1,16 f. und 3,21 ff. eindeutig ist, sondern isolieren dieses Theologumenon und deuten es als Äußerungen des „zürnenden eifernden Jahveh des Alten Testamentes […] als furchtbar gewaltige[r] Welten- und Geschichts-gott, der seinen lohenden Zorn ausgießt über alle Welt.“²⁴ Dem wird die Prädestination in Röm 9 zur Seite gestellt. Sie sei „vom Boden des Rationalen aus das absurdum und skandalon schlechthin.“²⁵ Um das zu belegen, grenzt er sie gegen eine lange Auslegungstradition aufs Schärfste von der Idee der Erwählung ab, indem er Röm 9,18 („Wessen er will, dessen erbarmt er sich, und wen er will, den verhärtet er.“) mit den Worten kommentiert: „Hier ist praedestinatio, und indertat praedestinatio ambigua, deren Idee ganz anders entspringt als die Idee der Erwählung. […] Denn diese Prädestinations-idee ist nichts anderes als der Selbstausspruch jenes ‚Kreaturgefühls‘, jenes Versinkens und ‚zu Nicht werdens‘ mit eigener Kraft, eigenem Anspruch und Geltung gegenüber der überweltlichen majestas. Das Numen, das übermächtig erlebte, wird alles in allem. Das Geschöpf wird zunichte mit seinem Wesen, seinem Tun, seinem Rennen und Laufen, seinem Planen und Entschließen, seinem Sein und Gelten.“²⁶ Kein Wort davon, dass es gerade das Problem der Erwählung Israels ist, das den Apostel im Römerbrief zu dieser Ausführung nötigt, kein Wort davon, dass der Exkurs nicht mit Röm 9 endet, sondern mit Röm 11, wo der Apostel deutlich macht, dass die Verstockung Israels der Umweg Gottes war, der den Heiden das Heil gebracht hat, und dass damit auch Israels Erwählung keineswegs widerrufen wird, sondern dass zuletzt „ganz Israel gerettet werden wird“ (Röm 11,26). Nicht die praedestinatio ambigua behält das letzte Wort, sondern der Zuspruch, dass Gott alle unter den Unglauben beschlossen hat, damit er sich aller erbarme (Röm 11,32. Statt diesen paulinischen Kontext zu beachten, konstruiert Otto wieder ei
Vgl. Paul Feine, Theologie des Neuen Testaments, Leipzig 21911, 503. DH, 106. DH, 107. DH, 109 f.
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nen eigenen Kontext, indem er den Versen aus Röm 9 zwei islamische Texte zur Seite stellt, welche die Unbeugsamkeit von Allahs Ratschluss betonen und damit zeigen, dass das „Numinose in Allah […] schlechterdings über[wiegt]“.²⁷ Diese einigermaßen gewagte Parallelisierung erlaubt es ihm dann, den so neu kontextualisierten paulinischen Prädestinationsgedanken „als ideogrammatische[n] Hinweis auf ein schlechthin irrationales Urverhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf“ ²⁸ zu interpretieren.
4 Die ‚tremenda majestas‘ des Vaters. Ottos Zumutungen Es geht Otto nicht um die Binsenweisheit, dass religiöse Erfahrung ambivalent sein kann, und schon gar nicht darum, dass der biblische Gott neben seinen menschenfreundlichen Zügen auch ‚dunkle Seiten‘ hat. Eine solche Unterscheidung zwischen positiven und negativen Glaubenserfahrungen und damit zwischen ‚hellen‘ und ‚dunklen‘ Seiten würde ja gerade auseinanderreißen, was für Otto zusammengehört als „das Unterste und Tiefste in jeder starken frommen Gefühls-regung sofern sie noch mehr ist als Heilsglaube Vertrauen oder Liebe, dasjenige was auch ganz abgesehen von diesen Begleitern auch in uns zeitweilig das Gemüt mit fast sinnverwirrender Gewalt erregen und erfüllen kann; [… das] Gefühl des mysterium tremendum, des schauervollen Geheimnisses.“²⁹ Es ist gerade die Scheu vor der „majestas“, der überwältigenden Heiligkeit Gottes als ein „Gefühl schlechthinniger Überlegenheit“,³⁰ die Otto als ein konstitutives Moment des Glaubens darstellt, weil das „Unheimlich-furchtbare“ eben auch die „Erhabenheit“ des Göttlichen ausmacht, so dass beide als zwei Seiten derselben Medaille erscheinen: „So grauenvoll-furchtbar das Dämonisch-Göttliche dem Gemüte erscheinen kann, so lockend-reizvoll wird es ihm. Und die Kreatur die vor ihm erzittert in demütigstem Verzagen hat immer zugleich den Antrieb sich zu ihm hinzuwenden, ja es irgendwie sich anzueignen“.³¹
DH, 112. DH, 113. DH, 13. DH, 24, vgl. 22: „Gefühl schlechthinniger Übergewalt“. DH, 42, vgl. auch 63.
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Das Erlebnis des Numinosen als ein mysterium tremendum ist vielmehr für Otto immer „etwas schlechterdings Positives“, weil hier etwas von dem „unsagbaren Geheimnis über aller Kreatur“ ³² erfahren wird, also das Göttliche als eine den Menschen übersteigende Größe gleichsam in der menschlichen Erfahrung evident wird. Die Anerkennung dieses Geheimnisses im „‚Tu solus sanctus‘ ist nicht ein Furcht-ausbruch, sondern ein scheuer Lobpreis“.³³ Deshalb geht es nicht um die zur Gottesvergiftung führende Angst, sondern um eine heilige Scheu, der die Andersartigkeit des Göttlichen selbst in ihren barbarischen Vorstufen des Grauens noch als „ein unaussprechlicher positiver Wert“ erscheint, als „ein admirandum und adorandum als auch ein fascinans“.³⁴ Mit seiner Betonung des „Kreaturgefühls“, das um den Unterschied von Gott und Mensch weiß und deshalb als „primäre objektbezogene Gefühlsbestimmtheit“³⁵ auch „zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht“,³⁶ insistiert Otto – man könnte sagen mit nachgerade „heiligem“ Eifer – auf dem Selbstwert und der Unableitbarkeit des Religiösen und damit letztlich auch auf der Göttlichkeit Gottes: „Gott ist, in sich selbst, noch eine Sache für sich“.³⁷ Gerade als der ,gänzlich Andere‘ wird Gott als numen praesens erfahren. Es macht daher, wie schon bei Ottos Auslegung der Gethsemane-Perikope angedeutet, die Größe dieses Entwurfes aus, dass er auch dort, wo seine Ansichten verzerrt sind, noch zu Recht zu rücken vermag. Deshalb soll zuletzt die Frage nach den positiven Impulsen Ottos diesen Beitrag beschließen, und zwar im Blick auf die von ihm für die Verkündigung Jesu als zentral angesehene Rede von Gott als Vater. Oben wurde Ottos Versuch kritisiert, gegen das Zeugnis der Evangelien diesen Vater ganz aus dem Bezug zu einer massiv reapokalyptisierten Reichgottespredigt zu deuten, um ihn als den „heilig erhabene[n] König“ eines „dunkel-dräuend [herannahenden] ‚Reiches‘“³⁸ zu verstehen. Doch wird man zugleich sagen müssen, dass Otto bei aller Einseitigkeit mit seiner Aversion gegen jede frömmelnde Zudringlichkeit gleichsam instinktiv etwas Richtiges erkannt hat. Denn die Anrede Gottes als Vater ist biblisch gesehen sehr viel weniger selbstverständlich, als heute gemeinhin angenommen wird. Das zeigt schon ein Blick in das Alte Testament, das sich gegenüber der Rede von Gott als Vater ausgesprochen spröde verhält. Und zwar nicht, weil es ihm an Vertrautheit mit seinem Gott gefehlt
DH, 14. DH, 68. DH, 100 f. DH, 13. DH, 11. DH, 52. DH, 103.
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hätte, sondern vielmehr deshalb, weil diese Prädikation, die Israel von den Vatergöttern der antiken Panthea von Babylon, Ugarit und Ägypten bis Griechenland und Rom kennt, heidnisch ist, insofern sie Gott (genealogisch oder ontologisch) in den Zusammenhang des Kosmos einbindet. Gerade weil ihm an der Begegnung mit dem sich in Freiheit an sein Geschöpf bindenden Schöpfer liegt, betont es dessen Souveränität als des – in Ottos Diktion – „gänzlich Anderen“. Auch das Neue Testament spricht daher zunächst nur sehr zögerlich von Gott als Vater, und dann fast immer direkt oder indirekt christologisch vermittelt. Der biblische Gott ist nicht von Natur aus der „Vater der Götter und Menschen“ (Homer), sondern er wird als der souveräne Schöpfer und Herr im Sohn zum Nahen. Hat der Vatername in der paganen Tradition eine protologische Pointe, so in der neutestamentlichen eine eschatologische: Nicht göttliche Herkunft wird durch ihn ausgedrückt, sondern die in Gottes freier Entscheidung zur Selbstbindung gründende Verheißung einer Zukunft bei ihm – das „Erbe“ der im Sohn zu Gottes Kindern Adoptierten (vgl. Röm 8,17; Gal 3,29; 4,7). So aber wird der Vater im Neuen Testament zuletzt mit einer Konsequenz, die in der Religionsgeschichte ohne Parallelen ist, zum nomen proprium des biblischen Gottes.³⁹ Zugleich jedoch bleibt dieser als Vater nahekommende Gott unverfügbar, wie gerade Gethsemane zeigt; er kann sich verbergen, ja scheinbar zum Feind werden.⁴⁰ Diese die neutestamentliche Rede vom Vater bestimmende Dynamik einer unverfügbaren Nähe hat Otto sehr deutlich wahrgenommen,⁴¹ und er weist zu Recht auf den bemerkenswerten Tatbestand hin, dass Jesus dort, wo er seine eigene Vateranrede erstmals den Jüngern übergibt und sie damit ermächtigt, nun ebenfalls Gott als ihren Vater anzurufen, das eigentliche Gebet ausgerechnet mit der Bitte um die Heiligung des Gottesnamens eröffnet, also die invocatio „Vater“ so präzisiert, dass neben das Moment der Inklusion, das bei der Anrede Vater dominiert, die Distanzierung durch die Bitte der Heiligung des Namens tritt. Die hier zum Ausdruck gebrachte Gleichzeitigkeit von göttlicher Nähe und Unverfügbarkeit, den inneren Zusammenhang von kindlichem Vertrauen und scheuem „Kreaturgefühl“ fasst Otto in der für ihn typischen Diktion zusammen:
Vgl. Reinhard Feldmeier/Hermann Spieckermann, Der Gott der Lebendigen. Eine biblische Gotteslehre, Tübingen 2011, 51. Deshalb ist der Glaube auch immer wieder der Anfechtung ausgesetzt – und ruft den Vater dennoch als den Nahen gegen das Widerfahrnis seiner Entzogenheit an, klagt seine Nähe gegen seine Ferne ein. Das gilt auch, wenn man seiner Deutung der ersten Bitte des Vaterunsers als „weniger Bitte als scheuer Huldigungs-anruf“ (DH, 103) zurückhaltend gegenübersteht.
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„Daß dieses geheimnisvoll-Scheubare, dieses fremde Unnahbare ‚im Himmel‘ zugleich selber heimsuchend-nahender Gnadenwille sei: dieser aufgelöste Kontrast erst macht die Harmonie echten christlichen Grundgefühles aus.“⁴² Im Blick auf die biblische Rede von Gott wird man zwar einerseits daran festhalten, dass die markante Asymmetrie von göttlichem Beziehungswillen und göttlicher Verborgenheit ein Charakteristikum nahezu aller biblischen Schriften ist – statt von der Liebe Gottes kann das Neue Testament auch vom Gott der Liebe sprechen (2 Kor 13,11), ja es kann Gott „die Liebe“ nennen (1 Joh 4,8.16), während eine solche Umkehrung beim Zorn Gottes bezeichnenderweise nicht möglich ist. Dennoch lohnt es sich auch hier wieder, die provokativen Sätze Ottos zu beherzigen, dass Christus zwar „Spiegel und Selbstoffenbarung eines ewigen Liebeswillens“⁴³ ist, dass aber die sich im Menschgewordenen und Leidenden offenbarende Liebe Gottes nichts mit einem ‚lieben Gott‘ zu tun hat, sondern dass im Gegenteil „die Kluft zwischen Kreatur und Schöpfer, zwischen profanum und sanctum, zwischen Sünde und Heiligkeit […] durch die höhere Erkenntnis aus dem Evangelium Christi nicht geringer sondern größer“ wird.⁴⁴ Eine von Otto sensibilisierte relecture der neutestamentlichen Schriften entdeckt schnell, dass auch im Evangelium das Erschrecken, ja Entsetzen über den in Jesus nahekommenden Gott eine weit größere Rolle spielt, als das in Theologie und Kirche heute gemeinhin wahrgenommen wird. Ein kurzer Durchgang mag dies zeigen: Schon das Auftreten der Engel am Beginn der Geburtsgeschichten löst zunächst keineswegs adventliche Erwartung aus, sondern Furcht und Schrecken (Lk 1,12.29) und muss deshalb von dem Zuspruch „Fürchte dich nicht“ begleitet werden (Lk 1,13.30). Dieses tremendum wiederholt sich beim Auftreten Christi: Als er mit Gottes heiligem Geist ausgestattet (Mk 1,9 – 11) als der „Heilige Gottes“ (Mk 1,24) auftritt, weckt er mit seiner Verkündigung der frohen Botschaft der angebrochenen Gottesherrschaft bei deren Durchsetzung gegenüber den „unreinen Geistern“ zunächst nicht Jubel und Dankbarkeit, sondern durch das ganze Evangelium hindurch mit erstaunlicher Konstanz immer wieder Furcht, Erschrecken und Entsetzen (Mk 1,22.27; 2,12; 5,15.42; vgl. 5,33),⁴⁵ wobei besonders ins Auge sticht, dass auch die mit Jesus vertrauten Jünger von solchem Schrecken keineswegs ausgenommen sind (Mk 4,41; 6,50 f.; 9,6; vgl. 10,32). Im Lukasevangelium wird dieses Erschrecken der Jünger sogar bereits in die Erzählung der Berufung der
DH, 104. DH, 199. DH, 198. In diesen Zusammenhang gehören wohl auch Notizen wie die, dass die Leute Jesus bitten, sie zu verlassen (Mk 5,17), oder auch die Reaktion der Verwandten Jesu, die ihn für verrückt erklären (Mk 3,21).
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ersten Jünger integriert, eine Erzählung, die auffällige Berührungen mit der von Otto so geschätzten Erzählung von Jesajas Berufung Jes 6 aufweist und die zeigt, dass das Erschrecken bei Jesus wie bei Jesaja aufs engste mit dem durch die Gottesnähe verursachten Innewerden der eigenen Gottferne verbunden ist: Als Jesus dort seine Vollmacht im wunderbaren Fischzug des Petrus offenbar macht, ergreift die Jünger Zittern und Erschrecken, und Petrus fällt sogar vor Jesus nieder und bittet ihn, von ihm wegzugehen, weil er ein sündiger Mensch ist (Lk 5,8 – 10). Dass der im Sohn sich ereignende Einbruch von Gottes machtvoller Gegenwart immer wieder Erschrecken und Furcht hervorruft, lässt vielleicht auch eine alte crux interpretum besser verstehen, den rätselhaften Schluss des Markusevangeliums: Als der Engel den Frauen die Auferstehung ankündigt, wird diese Nachricht von diesen nicht mit österlicher Freude aufgenommen; vielmehr sind sie erschüttert, als sie im Grab statt des erwarteten Leichnams einen Gottesboten vorfinden (Mk 16,5). Und als sie von diesem die Frohbotschaft der Auferstehung vernehmen, da gehen die bis dahin als einzige Jesus treu gebliebenen Frauen nicht etwa hin und gehorchen dem Auftrag des Engels, sondern „Zittern und Entsetzen“ ergreift sie und sie laufen in Panik davon, „denn sie fürchteten sich“ (Mk 16,8). Diese provokativen letzten Worte des Evangeliums sollen wohl nachdrücklich unterstreichen, dass es an Ostern nicht um ein ,happy end‘ geht, welches das Skandalon des Kreuzes rückgängig macht. Auferstehung als Einbruch der schöpferischen Macht in eine vom Tod bestimmte Welt bleibt bei aller Frohbotschaft immer auch ein tremendum. Das Erschrecken der Frauen ist somit nur die letzte Fortsetzung des Erschreckens der Menschen angesichts der Vollmacht Jesu. Auch in den Ostergeschichten der synoptischen Seitenreferenten dominiert das Erschrecken,⁴⁶ und der Zuspruch „Fürchtet euch nicht“ oder „Friede sei mit euch“ gehört deshalb zum festen Bestandteil der Erscheinungen des Auferstandenen (Mt 28,10; Lk 24,36 – 38; Joh 20,19.21.26; vgl. Mt 28,5). Furcht und Erschrecken stehen also im Evangelium nicht im Gegensatz zum offenbar werdenden Heil, sondern gehören unmittelbar dazu. So bestätigt sich, was sich damals bei der Auslegung der Gethsemane-Perikope angedeutet hat: dass Otto in all seiner Einseitigkeit Dinge wahrnimmt, die gerne übersehen oder doch unterschätzt werden. Von Ottos „Heiligem“ sensibilisiert nimmt man das Erschrecken als einen Zug wahr, der durchgängig die Reaktion der Menschen auf den im Sohn nahekommenden Gott kennzeichnet, von der Geburt bis zur Auferstehung. Auch wenn man der Zelebration des „grauenvoll Bei Lukas neigen sich die Frauen in dieser Szene in ihrem Schrecken zur Erde (Lk 24,5), und in der matthäischen Variante dieser Erzählung erschrecken dann die Wachen so, dass sie „wie tot“ werden (Mt 28,4), während die Frauen gleichermaßen von Freude wie von Furcht erfüllt werden (Mt 28,8).
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furchtbaren Dämonisch-Göttlichen“ bei Otto mit einer gewissen Zurückhaltung gegenüberstehen sollte, weil damit eine numinose Unbestimmtheit in einer nicht unproblematischen Weise zum Substrat der religiösen Erfahrung wird, so wird man Otto doch andererseits darin recht geben müssen, dass auch die durch Jesus Christus eröffnete Nähe Gottes schlechterdings nichts mit frommer Behaglichkeit zu tun hat, sondern sehr viel häufiger als gemeinhin wahrgenommen mit Furcht, Schrecken und Entsetzen verbunden ist. Der da nahe kommt, bleibt auch als der Vater der „ganz Andere“. Und nur weil der Nahekommende der ganz andere Heilige bleibt, ist seine Nähe heilbringend. Deshalb bittet das Herrengebet nicht um die Nähe des fernen Gottes. Vielmehr setzt es in der Anrufung „Vater“ diese Nähe voraus und bittet Gott daraufhin, sich in seinem Vaternamen als der Heilige zu erweisen. Die eröffnende Bitte erfleht also als erstes den Erweis von Gottes unverfügbarem Eigensein, weil der Vater gerade als der nahkommende „gänzlich Andere“ der Begegnende und Befreiende ist. Nicht der die Gottesferne affirmierende „liebe Gott“, sondern der sie unterbrechende Gott der heiligen Liebe bringt Heil – und zwar für die ganze Welt, wie die Parallelität zu den anderen beiden Bitten der ersten Strophe zeigt.⁴⁷ Man kann Vergleichbares auch bei Paulus finden. Der Zorn Gottes in Röm 1,18 – 3,20 zeigt, dass das Wunder der Gerechtigkeit Gottes nur recht verstanden wird auf dem dunklen Hintergrund der menschlichen Gottferne und des berechtigten Zornes Gottes. Und Röm 9 betont im Anschluss an Röm 8, dass die Erfüllung der Rechtfertigung in der Gotteskindschaft und die sich in Christus zeigende Liebe Gottes, von der nichts mehr zu scheiden vermag, keineswegs bedeutet, dass der Mensch über die Gnade verfügen könnte. Im nächsten Kapitel, in dem es um den Ungehorsam derer geht, denen diese Gotteskindschaft ursprünglich allein verheißen war, widerspricht der Apostel aufs schärfste der Anmaßung, Gott im Blick auf seine Entscheidungen bei der Erwählung zur Rechenschaft zu ziehen: „Wer bist du denn, Mensch, dass du mit Gott rechtest? Spricht etwa der Ton zum Töpfer: „Warum hast du mich so gemacht‘?“ (Röm 9,20). Die Selbstbindung Gottes als Vater setzt seine Souveränität in keiner Weise außer Kraft, auch wenn es wiederum bezeichnend ist, dass in den Ausführungen von Röm 9 – 11 gerade nicht der rex tremendae maiestatis das letzte Wort behält, sondern der Gott des wunderbaren Erbarmens (Röm 11,25 – 36). Diese „Kontrastharmonie“, wie Otto das nennt, findet sich beim Apostel auch an anderer Stelle. So besingt er etwa im Philipperhymnus das ganze Heilsge-
Auch die darauf folgende Bitte um das Kommen des Reiches erfleht ja nicht weniger als die grundstürzende Neuordnung der gesamten Welt, die zwar als Heil erwartet wird, aber dabei durchaus auch das Moment der Erschütterung beinhaltet.
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schehen, das in der Offenbarung der Herrlichkeit Gottes als des Vaters gipfelt (Phil 2,11), um dann unmittelbar folgernd fortzufahren: „Deshalb, meine Geliebten […] schafft euer Heil mit Furcht und Zittern“ (Phil 2,12). Doch auch das bleibt nicht für sich stehen, sondern dem folgt – erneut scheinbar im Widerspruch zum Vorherigen – die Zusage: „Gott aber ist es, der in euch das Wollen und das Verwirklichen verwirklicht“ (Phil 2,13), um dann wieder die in der Vaterschaft Gottes gründende Verpflichtung der Glaubenden zu betonen, sich durch ihr Verhalten in der Welt als Kinder Gottes zu erweisen (Phil 2,14 f). Neben den Zuspruch der Gottesnähe tritt die Zumutung der ehrfürchtigen Entsprechung zu Gott, ohne dass man das eine gegen das andere ausspielen könnte. In diesem Sinne ist gerade im Blick auf das Geheimnis des in Christus als Vater nahekommenden Gottes noch einmal zu beherzigen, was Otto in seinen Ausführungen über die neutestamentliche Versöhnungsbotschaft sagt: „Der Gott des Neuen Testamentes ist nicht weniger heilig als der des Alten sondern mehr, der Abstand der Kreatur gegen ihn nicht geringer sondern absolut, der Unwert des Profanen ihm gegenüber nicht verflaut sondern gesteigert. Daß der Heilige sich dennoch selber nahbar macht ist keine Selbstverständlichkeit wie es der gerührte Optimismus der ‚Lieber-Gott‘stimmung meint, sondern unbegreifliche Gnade.“⁴⁸
DH, 72 f.
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„Das Kreuz Christi, dieses Monogramm des ewigen Mysteriums“¹ Sühne und Erlösung bei Rudolf Otto
Einleitung Wenn es um die Entstehung seines Werkes Das Heilige ging, war Rudolf Otto nie verlegen, dafür maßgebliche Auslösungs- und Anregungszusammenhänge zu benennen. So heißt es in seiner Monographie Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum: „Mein Buch über ‚Das Heilige‘ ist seinerzeit entstanden aus den Versuchen, in meiner Vorlesung für mich selbst und für meine Hörer einen Zugang zu schaffen zu dieser tiefsten aller christlichen Intuitionen, die ich in den orthodoxen Konstruktionen der ‚Versöhnungslehren‘ sowohl angedeutet wie verschüttet erkannte, und die mir auch in den Versuchen Ritschls über ‚Rechtfertigung und Versöhnung‘ nicht gefunden erschien.“² Zunächst möchte ich Das Heilige mit der Frage betrachten, ob dieses Werk sich tatsächlich lesen lässt als eine Erörterung, in der es zentral um die Bedeutung der klassischen Versöhnungslehre geht. Sodann werde ich nachzeichnen, wie Otto die in Das Heilige gegebenen Ansätze in seinen Schriften der 1920er und 30er Jahre weiter zu entfalten versucht hat. Dabei wird zum einen zu zeigen sein, wie Otto in seinen theologischen und ethischen Texten den Erfahrungshintergrund vermisst, der für das Verständnis von Versöhnungssymbolen in Anspruch genommen wird. Zum anderen soll verfolgt werden, wie Otto sich in religionsgeschichtlichen und religionskomparatistischen Texten um eine erneute Darstellung der Erlösungssymbolik des Christentums bemüht und diesen Fragenkomplex dabei so weiter entwickelt, dass er als christliche Zentralanschauung verstehbar wird.
1 Das Heilige und seine Vermittlung Schon in der ersten Auflage von 1917 wird das Thema der Versöhnungslehre an zwei Stellen ausführlich behandelt: Die erste Erörterung erfolgt im 9. Kapitel, dem letzten systematischen Abschnitt, in dem es um die Rekonstruktion der Momente
DH, 200. GICh, 81.
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des Numinosen geht. Der zweite Zusammenhang findet sich in den Kapiteln, die sich mit der Divination beschäftigen: der deutenden Aneignung³ der Religion in den Intuitionen des religiösen Subjekts, vor allem im 22. Kapitel.
1.1 Augustum und Entsühnung Im 9. Kapitel führt Otto in die Wertdimension seiner Religionstheorie ein. Bislang wurde das Numinose vor allem im Blick auf seinen Machtcharakter hin beschrieben; dem tritt nun sein absoluter Wertcharakter zur Seite, eine Dimension, die Otto als Augustum bzw. als Semnon bezeichnen möchte. Mit deutlichen Anleihen an platonische Terminologie wird das Numinose quasi-realistisch als Grund aller Wertphänomene beschrieben: „Es ist der numinose Wert, der irrationale Urgrund und Ursprung aller möglichen objektiven Werte überhaupt.“⁴ Auch hier bringt sich der Polaritätscharakter der bisherigen Momentbestimmungen zur Geltung: Diesem positiven Wert korreliert nun im Selbstgefühl des Menschen eine Gegengröße, der „numinose Unwert oder Widerwert“,⁵ bzw. das „Gefühl der schlechthinnigen Profanität.“⁶ Erst im Verhältnis zum Numinosen als höchsten Wert erwächst das Bedürfnis nach Vermittlung zwischen dem Menschen und dem Heiligen. Dieses Bedürfnis nach Erlösung bzw. Entsühnung ergibt sich für Otto aus der inneren Dialektik der numinosen Erfahrung, in der das, was gefürchtet wird, zugleich „als höchstes Gut geliebt und begehrt wird“.⁷ Dabei sind es die Begriffe des „Mittels“, des „Mittlers“, oder der „Mitteilung“, die die weiteren Ausführungen dominieren. Terminologisch orientiert sich Otto stark an der Sprache der religiösen Symbolwelt. Diese verwendet für diese Vermittlung Worte wie Erlösung, Weihe, Bedeckung oder Entsühnung. Erlösung steht als religionswissenschaftlicher Oberbegriff für die Herstellung einer heilvollen Gemeinschaft zwischen dem Menschen und dem numinosen Wert. Die anderen Begriffe (Bedeckung, Weihe, Entsühnung) bezeichnen Vollzugsformen der Erlösung. Dabei werden sie wiederum so hierarchisiert, dass im Begriff der Entsühnung der umfassendste Ausdruck solcher
Zu diesem deutungstheoretischen Aspekt der Religionstheorie Ottos siehe die knappen wie instruktiven Ausführungen in: Ulrich Barth, Theoriedimensionen des Religionsbegriffs. Die Binnenrelevanz der sogenannten Außenperspektive, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 29 – 87.42– 48. DH, 67. DH, 69. DH, 67. DH, 71.
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Heilsvermittlung gegeben ist. Als Aufgabe einer Glaubenslehre bezeichnet es Otto, „zu verdeutlichen […] wie hier das ‚numen schlechthin‘ sich selber zum Mittel der Entsühnung macht durch Mitteilung seiner selbst.“⁸ Mag das Bisherige durchaus im Einklang mit konservativem wie kulturkritischem Bibelglauben stehen, so betont Otto, dass es ihm um die innere Konsequenz seiner Religionstheorie geht und nicht um eine autoritätsförmige biblische Theologie. „Hinsichtlich solcher Glaubensideen hängt nicht so übermäßig viel an den Entscheidungen der Ausleger, ob und was Petrus, Paulus oder Pseudo-Petrus über Sühne und Entsühnung geschrieben haben, ja ob die Sache überhaupt ‚geschrieben steht‘ oder nicht.“⁹ Vielmehr geht es um eine „Entfaltung des christlich-frommen Gefühls-erlebnisses“.¹⁰ Eine Glaubenslehre darf diese Zusammenhänge nicht überführen wollen in eine rationale Theorie, etwa eine „Imputations-lehre“,¹¹ die die religiöse Wahrheit einer solchen Erfahrung nur verfehlen könnte. Stand in Kapitel 9 die religiöse Symbolwelt im Zentrum, so wird im Kontext der Divinationskapitel die Aneignung durch das religiöse Subjekt zum Ausgangspunkt der Erörterung.
1.2 Divination und Entsühnung Den Zusammenhang der Divination eröffnet Otto mit einer kurz angerissenen Zeichentheorie: Religion lebt davon, dass sie greifbar wird in fixierten Zeichen und Erscheinungen, in denen religiöse Deutungsmöglichkeiten materialisiert und auf Dauer gestellt sind. Anhand bestimmter Zeichen eröffnet sich dem religiösen Subjekt die Möglichkeit, daran eine Erscheinung des Heiligen wahrzunehmen und zu erleben. Im Anschluss an Schleiermachers Sprachgebrauch kann Otto definieren: „Das etwaige Vermögen, das Heilige in der Erscheinung echt zu erkennen und anzuerkennen, wollen wir Divination nennen.“¹²
DH, 72. Kritisch gegenüber einer verbreiteten Zurückhaltung gegenüber diesem Aspekt führt Otto aus: „Daß der Heilige sich dennoch selber nahbar macht ist keine Selbstverständlichkeit wie es der gerührte Optimismus der ‚Liebe-Gott‘-Stimmung meint, sondern unbegreifliche Gnade. Dem Christentum dafür das Gefühl rauben, heißt, es bis zur Unkenntlichkeit verflachen“ (DH, 73). DH, 72. DH, 72. DH, 74. DH 173 (alle Kursivsetzungen in Zitaten entsprechen Hervorhebungen Ottos). Vgl. zur theoriegeschichtlichen Einordnung von Ottos Divinationskonzept in der Tradition von Kant, Schleiermacher und Fries nun Harald Matern, Rudolf Ottos religionsphilosophischer Gefühlsbegriff, in: Rudolf Otto. Religion und Subjekt, hg.v. Thorsten Dietz/Harald Matern (CuK 12), Zürich 2012, 109 – 153.146 ff.
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Über Schleiermacher hinaus gehend hält Otto es im Blick auf das Urchristentum für bezeichnend, dass Christus selbst im neutestamentlichen Glaubenszeugnis als das vornehmste Zeichen einer Offenbarung des Heiligen angesehen wurde.¹³ Die kategoriale Anlage des Religiösen im Gemüt und die geschichtliche Realisierung anhand konkreter Zeichen und konkreter Erschließungsereignisse sind aufeinander angewiesen. Im 22. Kapitel entfaltet Otto eine Sicht des Christentums als einer Erlösungsreligion, die in der Person Jesu ihr organisierendes Zentrum hat. An das religionsgeschichtliche Referat schließt Otto die Frage an, „wie nun […] auch für uns Entfernte dieser Lebensleistung Christi gegenüber die ‚Divination‘ erwachen könne“.¹⁴ In der Begegnung mit Christus wird die Divination des Heiligen so Ereignis, dass sie sich als Heilserfahrung darstellt, als Überbrückung der Kluft zwischen dem Heiligen und dem Menschen; wofür Termini wie Versöhnung, Rechtfertigung, Annahme zur Kindschaft etc. stehen. Für die Seite des Rezipienten versucht Otto geradezu eine Anleitung zu geben, wie sich das Heilige anhand von Christus erschließen lassen soll.¹⁵ Das intuitive Erfassen vollzieht sich „rein kontemplativ, durch ein hingebendes sich Öffnen des Gemütes gegen das Objekt zu reinem Eindruck.“¹⁶ Den Glaubenslehren des Christentums bleibt die Aufgabe, diese Grundintuition annäherungsweise zu entfalten: hier hätten dann Begriffe der dogmatischen Tradition wie der Heilsgeschichte, der Messianität Jesu, der Sohnschaft und der Bundesstiftung ihren legitimen Ort. In diesem Zusammenhang der reflexiven Entfaltung der religiösen Divination kommt es noch einmal zur Thematisierung von Erlösung und Entsühnung; wiederum als Höhepunkt und Abschluss des Gedankenkreises. Etwas vorsichtiger formuliert als zuvor, gibt es „nicht zum wenigsten auch die Intuition des ‚bedeckenden‘ und ‚sühnenden‘ Mittlers.“¹⁷ Diese Beschreibungen dürfen nicht „dogmatisiert und theoretisiert“¹⁸ werden; es sind „Ideogramme begrifflich nicht auflöslicher Gefühle“.¹⁹ Das Wort Ideogramm, bekanntlich eines der vielen begrifflichen Neuprägungen Ottos, hat er selbst mehrfach durch den Terminus Symbol erläutert.²⁰ Wie bei anderen Begriffen Ottos ist es auch diesem darum zu tun, die Eigenständigkeit
Vgl. DH, 183. DH, 195. DH, 195 – 196. DH, 195. DH, 198. DH, 198. DH, 198. Vgl. DH, 28.97.
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und Unableitbarkeit des Religiösen schon sprachlich zum Ausdruck zu bringen. Als Ideogramme verstanden, verweisen solche Beschreibungsversuche auf die Erfahrungswirklichkeit des Subjekts. Jede Theorie ist der Vergegenwärtigung des Heiligen im Gefühl nachgeordnet.²¹ Wenn Christus selbst als Zentralidee des Christentums das maßgebliche Zeichen der Divination ist, so gilt dies vor allem von seinem Leiden und Sterben. In religionsgeschichtlicher Perspektive sieht Otto im Leiden Christi eine zentrale Herausforderung des religiösen Bewusstseins. Die religiöse Bewertung dieses Geschehens löst dieses Rätsels mittels der Deutung, die sich, so Otto, schon bei Hiob als einzig mögliche erwiesen hat: Gerade am Ort möglicher Infragestellung des religiösen Bewusstseins wird dieses einer Selbstvergegenwärtigung des Heiligen inne. Jesu Sterben als Treue- und Liebesleistung erweise sich als „Spiegel und Selbstoffenbarung eines ewigen Liebeswillens.“²² Die Nähe des Numen werde offenbar inmitten seiner Verborgenheit. Davon sei das Kreuz Christi das „Monogramm des ewigen Mysteriums“.²³ „Monogramm“ ist ein auf seine Einzigartigkeit zugespitzter Sonderfall von Ideogramm.²⁴ Insofern ließ sich mit diesem Wort sowohl die Höchstgeltung in der Wertehierarchie religiöser Zeichen wie die unauflösliche Verknüpfung dieses Zeichens mit dem Mysterium selbst ausdrücken. Warum ist das Kreuz Christi die Erfüllung aller Symbole, in denen es um die Vermittlung von Mensch und Heilsgut geht? Otto bezieht sich auf die klassische Dialektik von Gnade und Zorn, wenn er vom Zusammentreffen höchster Liebe und dem „schauervolle[n] orge des numen“²⁵ redet. Dieser Zusammenhang von Gnade und Zorn wird zugleich verknüpft mit der Dialektik von Verborgenheit und Offenbarung Gottes. Die Vermittlung von Mensch und Gott umfasst die Beseitigung der Sünde auf der einen Seite und die Vergegenwärtigung des Heiligen auf der anderen Seite. Dabei kommt es im Symbol des Kreuzes zu einer Koinzidenz der Gegensätze: Offenbarung und Verborgenheit, Liebe und Zorn. Dieses Zusammenfallen gegensätzlicher Bestimmungen als Versöhnung, als Erlösung zu schauen, das ist die Leistung der christlichen Divination, die darin zugleich nach Otto „die tiefste religiöse Intuition“²⁶ der Religionsgeschichte ist. Es handelt sich um die tiefste, weil sich darin die „lebendigste Anwendung der ‚Kategorie des
Vgl. DH, 198. DH, 199. Ebd. Zeitgeschichtlich war dieses Wort auch gebräuchlich für die Kennzeichnung von Kleidungsstücken mit Namenskürzeln. Vgl. die Artikel „Monogramm“ und „Monogrammstickerei“ in: Meyers Großes Konversations-Lexikon, Bd. 14, Leipzig 1908, 77. DH, 197. Ebd.
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Heiligen‘ vollzieht“.²⁷ Die lebendigste Anwendung ist es insofern, als offenbar die numinosen Momente nicht in ihrer Einseitigkeit, sondern in wechselseitiger Durchdringung in einem Symbolkomplex zur Geltung kommen. Insofern lässt sich Das Heilige durchaus im vom Otto beschriebenen Sinn lesen: als eine Theorie der Religion, die mit ihren polaren Kontrastierungen von Nähe und Ferne, Heils- und Unheilserfahrung eine Matrix beschreibt, innerhalb derer die christliche Symbolik des Opfers als komplexe Verdichtung dieser Motive erscheint. Die Religionstheorie des Heiligen bietet den Verstehenshintergrund, auf dem sich die Erlösungssymbolik des Christentums als Lösung des Vermittlungsproblems lesen lässt. Zugleich ergibt sich damit eine Reihe von Folgefragen nach dem religiösen Erfahrungshintergrund, der nötig ist, damit die Aneignung dieses Symbolzusammenhangs nachvollziehbar wird. An diesem Problem arbeiten sich die dogmatischen und ethischen Texte der nächsten Jahre ab.
2 Das Erlösungsbewusstsein und seine religiösen/ethischen Erfahrungszusammenhänge 2.1 Sünde und Verlorenheit in theologischer Perspektive Die Studien zum christlichen Sündenverständnis in Aufsatzband Sünde und Urschuld sind ursprünglich herausgegeben als Ergänzungen von Das Heilige. Die spätere Einleitung stellt diese Texte vor als „eine erste Darstellung der Grundlinien meiner Theologie“.²⁸ Die Ausführungen decken sich zunächst mit denen aus Das Heilige. „Sünde“ ist der christliche Begriff für den Widerwert zum Heiligen. Im Sinne seiner Unterscheidung und Zuordnung von rationaler und irrationaler Sphäre geht es Otto auch hier um Abgrenzung und Verknüpfung. Zunächst gilt es, Sünde und unmoralisches Handeln zu unterscheiden. Die Tradition hat Sünde vom moralisch falschen Handeln her verstehbar gemacht und darin zugleich die Religion rationalisiert. Sünde kann aber nicht in moralischen Kategorien begriffen werden, als religiöser Begriff bezieht sie sich auf eine höhere Wertstufe. Das Schlechte und das Moralische sind demgegenüber abgeleitet als „Folge und Wirkung von Sünde“.²⁹
Ebd. SU, VII. SU, 2.
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Entscheidend für unseren Zusammenhang ist zunächst der dritte Abschnitt über Die christliche Idee der Verlorenheit. Auch darin sieht Otto eine ursprünglich „rein religiöse Lehre“, die „moralistisch verstellt worden“³⁰ sei. Der Heilssehnsucht des profanen Menschen korreliert seine Rettungsbedürftigkeit. „Verlorenheit ist die naturgegebene Profanität des Kreatürlichen überhaupt, die durch gar keine sittliche Akte berührbar oder auch nur in der Idee überwindbar ist.“³¹ Diese Erfahrung lässt sich gar nicht haben unabhängig von der Erlösung, die als Erfahrungsrealität vorgestellt wird. Diese Bestimmung ist selbst nur in religiöser Perspektive vorzunehmen. Das moralische Missverständnis des Sündengedankens habe auch zu einer Verflachung der Soteriologie geführt. „Damit wurde auch der tiefe Gedanke der ‚Sühne‘ und ‚Entsühnung‘ in ein falsches Schema hineingedacht, denn er wurde moralisiert und rationalisiert. Er wurde aus seiner ganz numinos-irrationalen-Sfäre alter biblischer Sühne-ideen übertragen ins Gebiet der Jurisprudenz.“³² In theologiegeschichtlicher Sicht handelt sich Otto mit seiner Definition des religiösen Sünden- und Verlorenheitsgefühls freilich ein Problem ein: in dieser Zuspitzung wird das menschliche Sein zu Sünde, eine Sicht, die in den Auseinandersetzungen der Reformationszeit mit Matthias Flacius ausdrücklich abgelehnt wurde. Ebenso problematisch ist es, dass nicht mehr die innere Selbstabwertung des Gefühls zur Geltung kommt, sondern verobjektivierend ein Seinszustand hypostasiert wird, wodurch die Einsicht in die werttheoretische Konstitution solcher religiöser Kategorien unterlaufen wird. Im Abschnitt Die religiöse Idee der Urschuld greift Otto jedoch zu einer solchen Erweiterung der Sündendefinition, die in transzendentaler Perspektive rationale, ja ethische Gesichtspunkte neu zur Geltung bringt. Profanität wird nun verstanden als Gottlosigkeit, die sich widerstrebend zur Aufnahme in die Gottesgemeinschaft verhält. Nun wird stärker die Aktivität des Menschen charakterisiert. Diese Ausrichtung sei so konstant, dass von einem „Zustand“³³ geredet werden muss. Zugleich könne dieser Zustand nicht nur als Naturgegebenheit beschrieben werden, sondern sei in religiöser Perspektive als Schuld zu sehen.³⁴ Darin liege das Wahrheitsmoment der Konstruktion des Sündenfalls, wie Augustin und Luther es unternahmen. Im Anschluss an Kant formuliert Otto: Der Christ tritt durch „intelligible, eigene schuldige Urtat aus diesem Gnadenstande heraus und verkehrt sich zu ‚Gottesferne und Gottesfremde‘, die sein ganzes empirisches Wesen bestimmt.“³⁵
SU, 25. SU, 33. SU, 27. SU, 37. SU, 37. SU, 40/41.
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Die religiösen Intuitionen der Sündenlehre werden insofern durch rationalethische Erwägungen ausdrücklich ergänzt. Die phänomenologisch notwendigen Beschreibungen der Verlorenheit als eines Seinszustandes werden sekundiert von transzendentalen Erörterungen, die die Aspekte von Verhängnis und Verschulden im Subjekt in eins fallen lassen. Eine solche Annäherung der religiösen und der rational-ethischen Perspektive lässt sich auch in Ottos ethischen Aufsätzen der 1930er Jahre beobachten.
2.2 Schuld und Vergebung in ethischer Perspektive Vielfach hat Otto die Moralisierung und Rationalisierung des Entsühnungsgedankens in seinen theologischen Ausführungen kritisiert. Dem korrespondiert der Gedankengang, dass diese Lehrgestalt nicht nur religiös, sondern eben auch ethisch höchst fragwürdig sei. Diese Beschreibungen „werden dann zugleich anstößig für das einfache moralische Gefühl, das mit Recht gegen manche traditionelle Lehren protestiert, die in der bloß moralischen Sfäre indertat illegitim sein würden. Erst wenn jene Begriffe und Lehren wieder zurückgeführt werden in die biblisch-numinose Atmosfäre, können sie ihr altes Leben wiedergewinnen und erweisen sich dann dem religiösen Gefühle auch unserer Zeit in ihrer unverlierbaren Wahrheit.“³⁶ Die Verdinglichung des Heils, die dem Erlösungsbewusstsein in moralisierender Sprache widerfährt, ist auch moralisch unerträglich. Darum ist das Verständnis von Schuld und Sühne auch in ethischer Perspektive ein wichtiges Thema. Die Themen Schuld, Sühne,Vergebung etc. gehören für Otto auch in den Kreis einer rationalen Ethik, die sich von allen religiösen Implikationen freihält. Das betont Otto gegenüber Nicolai Hartmann, der in seiner Entgegensetzung von autonomer und religiöser Ethik Themen wie Reue und Vergebung aus dem Kreis des ethischen Denkens verbannen wollte. Eine solche Konzeption würde nicht nur die Verbindung von Ethik und Religion ganz auflösen; sie würde auch der ethischen Herausforderung nicht gerecht werden, den Umgang mit Schuld und Unrecht rational zu durchdenken und zu verantworten. Auch das moralische Denken kenne einen Begriff von Sühne. Dieser sei jedoch signifikant verschieden vom religiösen Gedanken. Im ethischen Horizont gehöre zur Strafe des Bösen auf Seiten des Schuldigen immer auch die „Strafwilligkeit als Moment moralischer Sühne“.³⁷ Sühnen kann moralisch nicht nur ein Abbüßen sein, eine äußerliche Form des
SU, VII. Rudolf Otto, Das Schuldgefühl und seine Implikationen, in: Ders., Aufsätze zur Ethik, hg.v. Jack Stewart Boozer, München 1981, 127– 142.138.
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Straferleidens, was ein untersittlicher Gedanke wäre. Nötig ist die „motivierte, innere und dauerhafte Willigkeit zur Übernahme der Strafe.“³⁸ Dieses Moment der Selbsttätigkeit ist notweniger Bestandteil aller ethischen Wirklichkeit. Auch aus ethischer Perspektive ist somit der Unterschied von Sühne in ethischer und in religiöser Perspektive festzuhalten. Ist Verzeihung und Sühne im ethischen Horizont nie denkbar ohne das Moment sittlicher Selbsttätigkeit, so steht Sühne innerhalb des religiösen Horizonts für eine Erlösungserfahrung, die in der Schuldüberwindung ganz das Moment des passiven Widerfahrens betont. Auch von dieser Seite her ist nicht nur das Rationale auf die Anerkenntnis eines irrationalen Urgrundes angewiesen, auch das Irrationale bedarf zur rechten Selbsterkenntnis die Vergewisserung durch rationale Reflexion. Insofern ist es durchaus eine implizite Selbstkorrektur der früheren Betonung des Irrationalen, wenn Otto ausführt: „Schuld ist zwar noch nicht ein religiöser Begriff – das ist erst Sünde, und die Analyse des Sündenbewusstseins ist später noch eine Aufgabe für sich. Aber auch diese kann man nicht vollziehen, ohne zuvor Schuld erörtert zu haben. Denn auch Sünde ist Schuld, wennschon sie mehr ist als Schuld.“³⁹
3 Religionsgeschichtliche und komparatistische Bemerkungen zur Christentumstheorie 3.1 Das Christentum und die Religionswelt Indiens Eine abermalige Entfaltung des Sühnegedanken unternahm Otto in der Schrift Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum von 1930. In diesem Kontext fragt Otto einmal mehr nach der Besonderheit der christlichen Religion im Kontext der Weltreligionen. Dabei ist es wiederum der Gedanke der Sühne, der sich als ein Wesensmerkmal christlicher Religion aufdrängt. Im Vergleich mit indischen Formen der Erlösungsreligion können weder der Gottesgedanke noch der Heilsuniversalismus noch der Gnadencharakter des Christentums auf eine Sonderstellung zählen. Es ist die besondere Verwirklichungsform des christlichen Erlösungsbewusstseins, für das Otto Einzigartigkeit reklamiert. Das Besondere im Christentum ist, dass es wesentlich Gewissensreligion ist, mehr noch, es ist „die
Ebd. Rudolf Otto, Das Gefühl der Verantwortlichkeit, in: Ders., Aufsätze zur Ethik (Anm. 37), 143 – 174.174.
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Religion des ‚entsühnten und versühnten Gewissens‘“.⁴⁰ Nur von daher erschließt sich die klassische Christologie. Dass „Christus ein Versühner sei, ist der tiefste Sinn seiner Erscheinung, und alle spekulativen Lehren über seine Person finden erst von hier aus ihren besonderen Sinn und zugleich den theologischen Maßstab ihrer Gültigkeit.“⁴¹ Einige Motive aus Das Heilige entfaltet Otto in diesem Kontext ausführlicher, indem er sich detaillierter einlässt auf das Erbe der klassischen Versöhnungslehre mit ihren Ausführungen zur Strafwürdigkeit der Sünde, zum göttlichen Zornesgericht über menschliche Schuld sowie zum stellvertretenden Leiden des Gottessohnes. Otto gesteht zu, dass diese Stichworte sowohl aus moderner wie aus indischer Sicht einen pathologischen Eindruck machen können. Angesichts der christlichen Heilserfahrung hält Otto diese Begriffe jedoch recht verstanden für sinnvolle und notwendige Explikationen des christlichen Grunderlebnisses. Dabei verwendet Otto einen Gedanken wie den des Fluchs über die Sünde nach Gal 3,13 nicht als objektive Kategorie im Sinne einer göttlichen Strafgerechtigkeit und Strafübertragung, sondern macht ihn vom Empfinden des Subjekts her plausibel: als „notwendige Reaktion des Gemüts gegen ein Wesen, das nicht nur ‚mitleidig‘ ist mit Schmerzen und ‚versöhnlich‘ gegenüber Fehlern und Mängeln, sondern das als heiliges Wesen zürnen muß über Antastung heiligen Gebots“.⁴² In dieser Perspektive erscheint Otto die Sprache der klassischen Satisfaktionsterminologie durchaus als angemessen. „Gott kann nicht ‚nachlassen‘, wenn dieses Nachlassen nicht zugleich ein ‚Sühnen‘ ist, d. h. ein Tilgen und Aufheben eines objektiven Widerwertes. Sein Vergeben muß so sein, daß es selber, statt das ‚Gericht‘ zu beseitigen, dieses als Erleben des ‚Fluches der Sünde‘ als Vollendung der terrores conscientiae vollzieht und das zugleich das Selbstgericht des Sünders in nun überhaupt erst voll erweckter und zu ihrer tiefsten Tiefe gebrachten Reue und Buße erwirkt, indem es ihn dann im gleichen Akte durch Verzeihen der Verzweiflung entreißt: also als richtendes Niederwerfen und trostreiches Aufrichten zugleich.“⁴³ Dieser Zusammenhang, der als Höhepunkt und Abschluss des Religionsvergleichs durchgeführt wird, erfährt in der Indien-Schrift eine abermalige Vertiefung in einem Nachtragskapitel.⁴⁴ Hier ist nun nicht mehr das Gegenüber zur Religion Indiens leitend, hier führt Otto die innertheologische Auseinandersetzung um die rechte Deutung der klassischen Sühnesymbolik. Ausgangspunkt ist zunächst die
GICh, 81. In diesem Zusammenhang verweist Otto auf seine Ausführungen zu „Sühne im biblischen Sinne“ (81) in Das Heilige. Ebd. GICh, 83. GICh, 83 f. GICh, 94 ff.
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Entsühnung Jesajas nach Jes 6 – auch sonst ein biblisches Schlüsselkapitel für Ottos Konzeption des Heiligen. Für die Beseitigung des religiösen Widerwertes ist Vergebung die menschlich höchste, aber unzureichende Analogie. „Diese Entsühnung vollzieht ‚der Heilige‘ selber, nicht ein anderer ihm gegenüber“.⁴⁵ In den Religionen geschieht dies stets durch den Gebrauch eines Mittels. Im christlichen Glauben tritt der Mittler an die Stelle aller Mittel. „Die alte primitive Sühneidee ist hier ‚vergeistigt‘“.⁴⁶ Otto arbeitet sich dabei vor allem an den verdinglichenden Ausdrücken der alten Denkformen kritisch ab. Die Ablehnung dieser Ausdrucksmittel, wie sie im Neuprotestantismus, von der Aufklärungstheologie über Schleiermacher bis Ritschl geübt wurde, war insofern berechtigt. Das „Blut“ sei keine magische Substanz, sondern Ausdruck des vollen Glaubensgehorsams; der „Kontakt“ kein dingliches Annehmen oder Berühren, sondern „persönlich-geistiger Kontakt glaubenden Vertrauens“.⁴⁷ Unzureichend an der neuprotestantischen Deutung der Soteriologie war die völlige Preisgabe dieser Vorstellungswelt; diese wurde letztlich in ihrem Symbolcharakter verkannt. Die Sühneidee müsse wohl transzendiert, vergeistigt werden, verzichtbar wird sie nicht. Sie bleibt Ausdruck des atheoretischen Geheimnisses der Erlösung. Der Fehler der orthodoxen Fassung war nicht das Festhalten eines mythologischen Restes, sondern die Übertragung der alten Sakralmystik in juristische Termini. Die Übertragung in eine Theorieform zerstörte das, „was ganz im Bereiche reinen Gefühls bleiben, nur im Gebet und Hymnus und Sakrament sich ausdrücken, übrigens aber möglichst unberedet und unbemerkt bleiben sollte.“⁴⁸ Auch die Apostel haben nicht in Form einer Theorie davon geredet; die „fragmentarischen Andeutungen und Termini aus alter Opfersprache“ sind das, was „für jeden ‚Sünder‘ notwendig diesem Leben und Sterben gegenüber aus dem Wesen der Sache heraus sich als Gefühlsausdruck einstellen muß“.⁴⁹ Wie in Das Heilige ist auch hier entscheidend die Selbstvergegenwärtigung Gottes in Christus und keine verobjektivierbaren Heilstatsachen: „‚Entsühnende Gegenwart‘ aber ist der Sinn Christi, in seinem Leben und an seinem Kreuze.“⁵⁰
GICh, 96. GICh, 97. Ebd. GICh, 97 f. GICh, 98. GICh, 99.
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3.2 Das Christentum und seine religionsgeschichtlichen Wurzeln Die letzte ausführliche Thematisierung der Versöhnungsthematik erfolgt in Reich Gottes und Menschensohn von 1933. In permanenter kritischer Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann kombiniert Otto hier die Grundlagen seiner Religionssystematik mit dem Versuch einer religionsgeschichtlichen Erschließung der maßgeblichen Ideogramme des Christentums. Das „Reich Gottes“ und der „Menschensohn“ werden in diesem Sinne als Realisationsformen von religionstheoretischen Grundkategorien beschrieben. Das „Reich Gottes“ steht für das „reine Mirum“, das „reine Wunderding“, das „Mysterion“.⁵¹ Der „Menschensohn“ ist Inbegriff der Selbstvermittlung des Numinosen. Auch hier betont Otto, dass diese Vermittlungsleistung sich besonders auf das Leiden und Sterben des Mittlers zuspitzt. Dass der verheißene Christus gerade durch sein Leiden zum Mittler wird, ist der abschließende Höhepunkt der Ausführungen zur Menschensohnthematik. Otto versucht historisch wie religionsgeschichtlich zu erweisen, dass Jesus sich selbst als leidenden Gottesknecht im Sinne von Jesaja 53 gewusst habe. Er entfaltet dabei die uns wohl vertrauten Abgrenzungen gegenüber der rationalistisch-moralistischen Kirchenlehre.⁵² Im Blick auf das systematische Verständnis von Sühne und Versöhnung entwickelt Otto keine grundsätzlich neuen Einsichten mehr gegenüber der Indien-Schrift. Dabei ist es für das Jahr 1933 jedoch allemal bemerkenswert, mit welchen Worten Otto dieses Kapitel beschließt: „Dieses Tiefste, demgegenüber doch eben alles zurücktritt, was sonst in der Religions-geschichte aufgetreten ist, ward nicht von Griechen, nicht von Indern oder Iraniern gefunden. Es ist in Judenseelen geboren worden.“⁵³
4 Fazit Nach anfänglich großer Wirkung ist die Rezeption Rudolf Ottos sowohl auf religionswissenschaftlichem als auch auf theologischem Gebiet ins Stocken gekom-
RGM, 51. „Die Idee einer ‚Straf-stellvertretung‘ war bei einem solchen grade nicht dabei, und es wäre falsch, die Idee des willig-leidenden Übernehmens der von andern verdienten Strafe, so tief sie auch ist, einseitig und auf Kosten der begleitenden Assoziationen zum alleinigen Sinn dieses Schuld-opfers zu machen, in diesem dann den Schlüssel des ganzen Abschnitts zu sehen und es dann noch zu einer juridischen Straf-stellvertretungs-lehre zu rationalisieren und zu verflachen.“ RGM, 207. RGM, 209.
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men. Die Gründe dafür liegen auf der Hand. Otto betont wohl zu Recht, dass der Zusammenhang von religiöser Symbolik auf der einen Seite und religiöser Erfahrungs- wie Deutungspraxis auf der anderen Seite einer Erörterung bedarf, in der religionsgeschichtliche wie exegetische, religionsphilosophische wie systematisch-theologische Perspektiven aufeinander bezogen werden müssen. Sein Versuch jedoch, diesen Perspektivenpluralismus unter nur impliziten Bezügen zur jeweiligen Fachdiskussion selbst zu generieren, musste ihn je länger je mehr in Kollision bringen mit der jeweiligen Methodenstrenge der wissenschaftlichen Disziplinen und den Autonomieansprüchen ihrer jeweiligen Verfahrenslogik.⁵⁴ Ottos Oszillieren zwischen Perspektivendifferenz und holistischem Gesamtzugriff verunmöglichte auf Dauer seine Rezeption. Nicht nur geriet seine Konzeption von Religionsphilosophie und Religionsgeschichte unter Theologieverdacht, auch blieb der Status seiner theologischen Perspektive chronisch unpräzise. Wie verhalten sich die quasi realistisch-hypostasierenden Beschreibungen der Verlorenheit oder der Erlösung zur Einsicht in den interpretationistischen Status religiöser Intuitionen?⁵⁵ In Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum präsentiert Otto eine Definition von Theologie, die seiner früheren Konzeption der Theologie als christlicher Religionswissenschaft nicht mehr entspricht: „Theologie ist nicht ‚Religionsgeschichte‘, sie ist – in allen Religionen, die eine Theologie entwickelt haben – eine Funktion der Religion selbst, die nicht außerhalb ihrer steht sondern wesensnotwendig aus ihr selber hervorgeht und nicht profanwissenschaftliche Urteile sondern selber Glaubensaussagen enthält, auch wenn sie über die eigene oder eine fremde Religion urteilt.“⁵⁶ Eine so verstandene theologische Phänomenologie wäre auf dem Weg zu einem offenbarungstheologischen Denken, für das es in Ottos Zeit durchaus vergleichbare und prominente Nachbarschaft gegeben hätte. So verstanden hätten die theologische Sätze eine phänomenologische Struktur: Sie beziehen sich quasi objektiv auf den Gehalt ihrer Anschauung, wobei sie dessen konstituiert-Sein durch das Subjekt voraussetzen, aber nicht mehr explizit machen. Konsequent wird eine solche Perspektive freilich nicht durchgeführt. Die Kritik müsste dann mindestens lauten, dass es Otto
Die Grundsatzkritik, die etwa Rudolf Bultmann oder später Kurt Rudolph an ihm übten, ist insofern ein unvermeidlicher Reflex gesteigerten Methodenbewusstseins der historischen bzw. religionswissenschaftlichen Forschung. Vgl. Rudolf Bultmann, Reich Gottes und Menschensohn. Rezension von Rudolf Otto, Reich Gottes und Menschensohn, in: Theologische Rundschau 9 (1937), 1– 35. Vgl. auch die kritischen Anfragen bei Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992, 104– 139. GICh, 42.
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nicht gelungen ist, den Status theologischer Sätze hinreichend aufzuklären bzw. ins Verhältnis zu setzen zu seiner früheren Wissenschaftssystematik. Dies alles zugegeben, ist wiederum auch auf den Gewinn seiner Durcharbeitung der materialen Gehalte des Christentums einzugehen. 1. Mit seiner Hermeneutik religiöser Ideogramme ist Otto mindestens auf dem Weg zu einer solchen Symboltheorie, die die religiöse Zeichensprache geschichtlich rekonstruiert, auf ihre kategorialen Grundstrukturen hin befragt und zugleich die je kulturell konkreten Rezeptionsvollzüge des religiösen Subjekts berücksichtigt. In diesem Sinne zeigt sich bei Otto ein hermeneutisches Programm zur Entzifferung religiöser Symbole von hohem Problembewusstsein. Den Umriss einer solchen theologischen Hermeneutik, in der die Verschränkung von religiösen Symbolen und religiösen Erfahrungen immer schon konstitutiv ist, halte ich für einen überzeugenden Ansatz, nicht zuletzt im Blick auf die dadurch eröffnete reichhaltige Phänomenologie religiöser Gefühle und Erfahrungen. 2. Ebenfalls scheint mir Otto mit seinem Schlüsselgedanken der Vermittlung eine gelungene Verschränkung von Religionstheorie und Christentumstheorie gelungen zu sein. Wie Otto die eigentümliche Leistung des Symbolkomplexes zu Sühne und Versöhnung bestimmt, als Vermittlung der inneren Spannung der polaren Kontrastnatur der Religion, das halte ich für mindestens anregend. Ihm gelingt damit auf seine Weise eine Erfüllung der Formel Schleiermachers, das Christentum habe die Religion selbst als Stoff für die Religion verarbeitet.⁵⁷ Otto sah den Mangel der kulturprotestantischen Tradition darin, diese innere Vermittlungsleistung der christlichen Religion mittels seines klassischen Symbolbestands nicht mehr recht würdigen zu können. Nicht die Wiederherstellung eines klassischen Lehrbestandes, sondern das hermeneutische Verständnis seiner Symbolik wird für Otto zur entscheidenden theologischen Herausforderung.⁵⁸
Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 2001, 185. Angesichts der Umsicht, mit der Otto wie auch andere sich dieser Aufgabe gestellt haben, ist es geradezu befremdlich, dass noch zu Beginn des 21. Jahrhunderts in theologischen Debatten so getan werden konnte, als bestünde die heutige Aufgabe der Theologie noch darin, überlieferte Kirchenlehre in ihrer Unhaltbarkeit zu entlarven. Demgegenüber erscheint die Aufgabenbeschreibung Ottos allemal überzeugender: „Ich würde aber selbst von einem besonnenen und scharfsichtigen bloßen ‚Religionsgeschichtler‘ erwarten, daß er etwa gestehe, daß er zwar weder ‚begreifen‘ noch ‚fühlend verstehen‘ könne, was Leuten an diesem ‚fantastischen‘ Werte einer ‚Sühne‘ gelegen sei, aber daß allerdings die Christen wähnten, der gleichen zu kennen, ja sogar es zu erfahren, und daß ihnen von allen ihren ‚fantastischen Heilsgütern‘ dieses das wichtigste erscheine.“ GICh, 82.
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3.
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Schließlich zeigt sich sowohl in den ethischen Aufsätzen wie in der Indienschrift die Tendenz, inmitten der religiösen Zentralanschauung des Christentums das ethisch-rationale Moment zu stärken und dessen Unverzichtbarkeit für die Religion zu betonen. Ausgerechnet in seiner Rezeption der traditionellen Sühneanschauung korrigiert Otto die in Das Heilige bisweilen problematisch akzentuierte Unterscheidung des Rationalen und des Irrationalen.
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Phänomenologie der Sünde Ein Vergleich zwischen Otto und Ricœur Unter den vielfältigen Strömungen in der gegenwärtigen Religionstheorie spielt die Phänomenologie ohne Frage eine bedeutende Rolle, zumal in internationaler Perspektive. So unstrittig wie diese Behauptung sein dürfte, so schwierig ist es aber, genauer anzugeben, was eigentlich unter einem phänomenologischen Zugang zur Religion zu verstehen ist und welche Autoren dieser Richtung zugerechnet werden können. Wenig problematisch dürfte noch der Verweis auf die Bedeutung der Philosophie Husserls sein. Sie gilt allgemein als wichtigster Ausgangs- und bleibender Orientierungspunkt aller sich mit dem Titel der Phänomenologie identifizierenden Richtungen. Dies gilt gerade auch dort, wo man sich in methodischer und inhaltlicher Sicht von Husserl abzugrenzen und über ihn hinauszugehen sucht. Das trifft bekanntlich bereits auf Heideggers kritischen Anschluss an Husserl zu und wird dann in der vielgestaltigen Rezeption beider fortgesetzt, die man mit Waldenfels als ‚Phänomenologie in Frankreich‘ zusammenfassen kann – also Sartre, Merleau-Ponty, Levinas, Ricoeur und weitere.¹ Spätestens in dieser Phase treten vermehrt theologisch-religionsphilosophische Themen in das Blickfeld der Phänomenologie, was durch die seit Heidegger betonten Bezüge zur Hermeneutik und deren offenbarungstheologische Instrumentalisierung zusätzlich forciert wurde. Lässt sich jedoch schon für die französische Phänomenologie weder methodisch noch inhaltlich ein einheitliches Bild entwerfen, so gilt das umso mehr für deren theologische und religionsphilosophische Rezeption. Anders als in der religionswissenschaftlichen Tradition einer Religionsphänomenologie, in der Rudolf Otto zwar als veralteter, aber immerhin doch als Klassiker firmiert,² findet er in jener Traditionslinie kaum Beachtung.³ Auch mit Bezug auf die Zugehörigkeit zur Phänomenologie zeigt sich
Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt a.M. 1983. Vgl. Jacques Waardenburg, Religionsphänomenologie, in: TRE Bd. 28, hg.v. Gerhard Müller u. a., Berlin/New York 1997, 731– 749. Vgl. z. B. Hendrik Johan Adriaanse/Konrad Stock, Phänomenologie II/III, in: RGG4 Bd. 6, hg.v. Hans Dieter Betz u. a., Tübingen 2003, 1256– 1259; Phänomenologie der Religion. Zugänge und Grundfragen, hg.v. Markus Enders/Holger Zabarowski, Freiburg/München 2004; Religionspädagogik und Phänomenologie. Von der empirischen Wendung zur Lebenswelt, hg.v. Hans-Günter Heimbrock, Weinheim 1989. Ein entsprechendes Bild zeigt die Blumenbergrezeption innerhalb der Theologie, vgl. Philipp Stoellger, Metapher und Lebenswelt. Hans Blumenbergs Metaphorologie als Lebenswelthermeneutik und ihr religionsphänomenologischer Horizont, Tübingen 2000.
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also jene theologiegeschichtliche Heimatlosigkeit Ottos, die für sein Œuvre insgesamt gilt. Nicht nur Otto selbst konnte sich jedoch ganz unbefangen einem phänomenologischen Ansatz zurechnen,⁴ sondern er hat dafür auch von Husserl höchstpersönlich den Segen erhalten.⁵ Vor diesem Hintergrund soll es im Folgenden darum gehen, diese beiden Traditionen miteinander und damit vor allem Otto ins Gespräch zu bringen. Es geht also keinesfalls um rezeptions- oder wirkungsgeschichtliche Zusammenhänge, sondern einzig und allein um einen systematischen Vergleich zweier differenter, aber zumindest unter dem gemeinsamen Anspruch phänomenologischer Religionsforschung miteinander verwandter Ansätze. Dies soll allerdings nicht im abstrakten Medium methodischer Überlegungen zur Frage ‚Was ist Phänomenologie?‘ geschehen, sondern am Beispiel eines zentralen Phänomenbereichs – nämlich derjenigen Phänomene, die sich mit den Begriffen ‚Böses‘, ‚Sünde‘ oder ‚Schuld‘ verbinden. Dass diese Thematik für Otto zentral ist, erhellt nicht nur aus dem offenkundigen Umstand, dass ein Teil seiner das Hauptwerk ergänzenden ‚Aufsätze das Numinose betreffend‘ explizit dem Thema ‚Sünde und Urschuld‘ gewidmet sind. Sondern er konnte im Vorwort zu einer früheren Ausgabe derselben förmlich sagen: „Meine Untersuchung über ‚Das Heilige‘ entsprang mir einst aus dem Bedürfnis, mir selber und meinen Schülern die Frage zu beantworten, was Sünde, Schuld und Urschuld sei, und was im Zusammenhang damit ‚Sühne‘ und ‚Entsühung‘ im Christentume bedeute.“⁶ Als Gegenüber für einen an diesem Phänomenbereich orientierten Vergleich empfiehlt sich vor allem Paul Ricœur, näherhin dessen zweiter Anlauf zu einer ‚Philosophie des Willens‘ aus dem Jahr 1960, der in zwei Bänden unter den Titeln ‚Der fehlbare Mensch‘ und ‚Die Symbolik des Bösen‘ erschien. Die deutsche Ausgabe von 1970 erhielt dann den zusammenfassenden und von der methodologischen Selbstverortung im Werk gedeckten Obertitel ‚Phänomenologie der Schuld‘.⁷ Ricœurs Phänomenologie der Schuld eignet sich nicht zuletzt deswegen zu einem systematischen Vergleich, weil sich in diesem Zusammenhang genau das vollzog, was man als die theologisch-religionsphilosophisch so einschlägige
Vgl. z. B. die indirekte Selbstcharakterisierung in GÜ, 5. Vgl. die freilich mit Kritik gepaarte Würdigung im Brief Husserls an Otto vom 5. März 1919, abgedruckt in: Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 139 – 142, hier: 141 f. AN4 II, 135. Paul Ricœur, Philosophie de la volonté II. Finitude et culpabilité, 2 Bde., 1. L’homme faillible; 2. La symbolique du mal, Paris 1960; dt. von Maria Otto, Phänomenologie der Schuld. I. Die Fehlbarkeit des Menschen; II. Die Symbolik des Bösen, Freiburg/München 1971. Im Folgenden zitiert als PhSch I u. II.
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‚hermeneutische Wende‘ bezeichnet hat.⁸ Ich beginne mit einer Gegenüberstellung der unterschiedlichen Zugänge beider Denker zum Thema. Es folgt dann eine Darstellung der Grundlinien der jeweiligen Reduktion der Phänomene, um abschließend ein Resümee des Vergleichs ziehen zu können.
1 Grenzen des Begriffs Wie das bereits angeführte Zitat Ottos deutlich macht, findet sich der systematische Rahmen für sein Verständnis von Sünde, Schuld und damit verwandter Phänomene in seinem Hauptwerk. Auf weitere werkgeschichtliche Bezüge werde ich im Folgenden noch hinweisen. Beschränken wir uns zunächst aber auf die mit diesem systematischen Rahmen verbundenen Zugangsbedingungen. Ausgangsthese des Hauptwerkes ist bekanntlich, dass Religion einen irrationalen Kern besitzt. Diese Irrationalität der Religion findet sich sowohl auf der Ebene religiöser Objekte wie auf der Ebene ihrer mentalen Repräsentation, dem religiösen Erleben. Ohne hier der Frage nach Ottos Irrationalitätsverständnis weiter nachgehen zu können, kann jedenfalls festgehalten werden, dass für ihn Religion einen Kern hat, der „begrifflicher Erfassung völlig unzugänglich ist“ (DH23-25, 5). Diese Unzugänglichkeit für das begriffliche Denken bedeutet nun aber für Otto keine vollständige Opakheit, sondern führt zur methodologischen Konzentration auf andere Formen des epistemologischen Zugangs. Im kritischen Anschluss an Schleiermacher stehen hier die Gefühle als vorbegriffliche Formen mentaler Repräsentation im Zentrum seiner Religionstheorie des Hauptwerkes. „Verständnis von Religion“ – wie Otto es in seiner Wundt-Kritik programmatisch zusammenfasst – „muß mit Gefühls-analyse beginnen“ (GÜ, 17). Diese „Seelenkunde“ (AN4 I, VI) – wie Otto auch sagen kann – wird nun aber in zwiefacher Hinsicht näher bestimmt. Zum einen beschränkt sich diese Gefühlsanalyse nicht auf die psychischen Akte und ihre qualitativen Eigentümlichkeiten. Ganz im Sinne Husserls geht Otto vielmehr von einer strengen Korrelation von intentionalem Akt und intentionalem Gegenstand aus, wobei er letzterem wiederum nicht nur eine subjektive Geltung, sondern durchaus den Charakter objektiver Geltung zusprechen kann. Das ist gemeint, wenn Otto das Gefühl als eine spezifische Form der Werterkenntnis versteht. Die begründungslogischen Lasten dafür hat seine ‚Religionsphilosophie‘ von 1909 zu tragen, deren geisttheoretische Grundlegung eng Vgl. dazu: Don Ihde, Hermeneutic Phenomenology. The Philosophy of Paul Ricœur, Evanston, 1971. Zur religionstheoretischen Bedeutung vgl. Hendrik J. Adriaanse, Das Religionsthema in Husserls Phänomenologie, in: Hermeneutik der Religion, hg.v. Ingolf U. Dalferth/Philipp Stoellger, Tübingen 2007, 21– 34.
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mit dem Hauptwerk verzahnt ist und keineswegs „einen totalen Frontwechsel“ gegenüber jener Studie markiert, wie Ernst Troeltsch meinte.⁹ Zum anderen – und das ist mit Blick auf unseren Vergleich mit Ricœur entscheidend – handelt es sich bei dieser Gefühlsanalyse nicht um eine Art bloßes Nachfühlen samt Analogiebildung zu nicht-religiösen Gefühlen, sondern sie bedient sich gerade als analytisches Verfahren notwendig sprachlicher Mittel. „Es gilt also“ – wie Otto gleich zu Beginn seiner Untersuchung des rein religiösen Gefühls hervorhebt – „für dieses Moment in seiner Vereinzelung einen Namen zu finden“ (DH23-25, 6). Und diese Arbeit am sprachlichen Ausdruck religiöser Gefühle ist dann ein integraler Bestandteil seiner Untersuchung, die drei Funktionen hat. Zunächst ist sie aus analytischen Gründen erforderlich: Die analytische Ausdifferenzierung des religiösen Erlebens in unterschiedliche Gefühlsmomente lässt sich offenbar nur bewerkstelligen, wenn diese Unterschiede in sprachliche Bestimmtheit überführt werden. Die Aufklärung des dunklen Seelengrundes durch eine Ausdifferenzierung in verschiedene Gefühlsbestimmtheiten vollzieht sich in Korrelation mit deren sprachlichen Ausdrucksgestalten. Damit wird freilich die Differenz zu begrifflichen Ausdrucksformen und ihrer spezifischen Distinktionsleistung nivelliert – eine Differenz, die für Ottos Ansatz aber gleichwohl grundlegend bleibt. Dies kommt genau dort zum Ausdruck, wo Otto die sprachlichen Gefühlsausdrücke als etwas nur „Begriffs-Ähnliche[s]“ bezeichnet. Sprachliche Gefühlsausdrücke eröffnen insofern eine besondere Klasse von sprachlichen Zeichen, die Otto nicht nur wie im obigen Zitat als „Namen“, also als singuläre Ausdrücke bezeichnet, sondern auch „Ideogramme“, „Deute-Zeichen“ (DH23–25, 21), „symbolisierende Ausdrücke“ (a.a.O. 13), „Symbol-Namen“ (a.a.O. 22) oder einfach „Symbole“ nennt. Begriffsähnlich ist ihr sprachlich-diskursiver Charakter, begriffsunähnlich ist, dass sie sich auf eine Gefühlsbestimmtheit und den ihr korrelierenden Gehalt beziehen. Bereits das Merkmal der ‚Begriffsähnlichkeit‘ macht aber eine zweite Funktion erkennbar: Ideogramme bilden ihrerseits wiederum Anknüpfungspunkte für eigentliche Begriffe oder „rationale Schemata“,¹⁰ wie Otto auch sagen kann. Sie umfassen ein weites Spektrum, das von anthro-
Ernst Troeltsch, Zur Religionsphilosophie. Rudolf Otto: Das Heilige (1917), zuerst in: KantStudien 23 (1918), 65 – 76, hier 76, jetzt in: Ders., Kritische Gesamtausgabe Bd. 13, hg.v. Friedrich Wilhelm Graf u. a., Berlin/New York 2010, 367– 380. Diese auch heute noch oft rezipierte Rezension Troeltschs liegt insgesamt in ihrem Urteil über Otto leicht daneben, was aufrgrund der konzeptionellen Nähe beider Autoren erklärbar, aber um so bedauerlich ist. Vgl. dazu sowie zur Emotionstheorie Ottos meine Abhandlung: Religion und Gefühl. Schleiermacher, Otto und die aktuelle Emotionsdebatte, in: Religion und Gefühl. Praktisch-theologische Perspektiven einer Theorie der Emotionen, hg.v. Lars Charbonier/Matthias Mader/Birgit Weyel, Göttingen 2013. SU, 6; vgl. DH23-25, 61.
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pomorphen Vorstellungen und mythologischen Erzählungen bis hin zu Verstandeskategorien im engeren Sinne reicht – also Begriffen wie etwa Ursächlichkeit oder Realität. Ideogramme sind also gleichsam die Schnittstellen zwischen den irrationalen und rationalen Momenten der Religion oder anders formuliert: Sie unterlaufen den absoluten Gegensatz rational/irrational und transformieren ihn in ein graduelles Entwicklungsmodell.¹¹ Dabei werden die rationalen Entsprechungen der ideogrammatischen Gefühlsausdrücke von Otto grundsätzlich in eine religionsgeschichtliche Entwicklungslinie eingezeichnet, die insgesamt also als Rationalisierungsprozess verstanden wird. In dieser religionsgeschichtlichen Anschlussfähigkeit der Religionstheorie besteht die dritte Funktion der Ausdrucksdimension, wobei die Religionsgeschichte bereits eine konstitutive Funktion bei der Bestimmung der Ideogramme selbst hat. Denn hier schöpft Otto durchgängig aus dem religionsgeschichtlichen Material, auch wenn er bei seinem ersten Ideogramm, dem Numinösen, zunächst, bevor er auf Zinzendorf aufmerksam wurde, noch von einer eigenen Begriffsbildung ausging. Kommen wir nun zu Paul Ricœur. Seine Phänomenologie der Schuld nimmt ihren Ausgang nicht von einer Religionstheorie, sondern steht im werkgeschichtlichen Kontext seines großräumig angelegten Projekts zu einer Phänomenologie des Willens.¹² Der zunächst noch methodisch ausgesparte Phänomenbereich der Schuld fordert von Ricœeurs Eidetik des Wollens dann aber einen tiefgreifenden Transformationsprozess hin zu einer hermeneutischen Phänomenologie, die zwar in der genannten Phänomenologie der Schuld erstmals durchgeführt wird, gleichwohl aber unabgeschlossen bleibt und weitere werkgeschichtliche Neuorientierungen nach sich zieht.¹³ Der Grund für jene Neuorientierung ist darin zu sehen, dass mit dem Phänomen der Schuld zum einen das Problem der Irrationalität, zum anderen die Religion in das Zentrum seiner Phänomenologie rückt – wie wir sahen also zwei zentrale Themen des Ottoschen Denkens. Das Problem der Irrationalität macht Ricœur an der Differenz von Fehlbarkeit und Fehltat fest. Ersteres – die Möglichkeit der Verfehlung – wird dabei von Ricœur nicht nur ethisch expliziert, sondern zum Gegenstand einer ‚philosophischen Anthropologie‘ (PhSch I, 22.34.176), die sich in einem kreativen Anschluss an Kant, Hegel, Husserl und Heidegger der Methode einer transzendental-spekulativen Reflexion über die Disproportionalität des menschlichen
Daher kommt ihnen in einer nach dem Verhältnis von ‚Irrationalem und Rationalem in der Idee des Göttlichen‘ fragenden Untersuchung eine methodische Zentralstellung zu. Vgl. schon Paul Ricœur, Philosophie de la volonté I. Le volontaire et l’involontaire, Paris 1950. Der geplante dritte Teil der Trilogie, vgl. PhSch I, 10 f; PhSch II, 16.175.352, wird nicht erscheinen. Vgl. dazu die prägnante Darstellung der Werkgeschichte bei Bernhard Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich (Anm. 1), 266 – 335.
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Wesens und den fragilen Vermittlungsprozess zwischen Unendlichem und Endlichem bedient. Doch die Fehltat selbst entzieht sich der begrifflichen Aufklärung philosophischer Reflexion und weist als Faktum der Schulderfahrung auf das „Bekenntnis“ (PhSch II, 9) zur Fehltat. Durch die religiöse Konnotation des Ausdrucks ‚Bekenntnis‘ – also nicht wirklich systematisch abgeleitet – vollzieht Ricœur dann den Übergang zur Religion. Die Phänomenologie der Schulderfahrung wird also zur Phänomenologie der Religion. Gegenstand dieser Phänomenologie ist die sich auch nach Ricœur primär in komplexen bzw. zweideutigen Emotionen manifestierende Erfahrung (PhSch II, 13 f) des ‚religiösen Gewissens‘ (PhSch II, 9), was auf seine Weise noch einmal die anthropologische Fundamentalität des Gefühls bestätigt, die bereits die transzendentale Phänomenologie herausgearbeitet hatte.¹⁴ Ebenfalls noch in Übereinstimmung mit Otto betont Ricœur den Sachverhalt, dass sich die Verständigung über diese Erfahrung nur im Medium ihres sprachlichen Ausdrucks vollziehen kann. Anders jedoch als bei Otto tritt nun aber die Dimension der Emotionen methodisch zugunsten einer auf die Dynamik der „Sprache des Bekenntnisses“ (PhSch II, 13; vgl. I, 8) fokussierten Phänomenologie zurück. Genau hier wird die Phänomenologie der Schuld zur „Hermeneutik“ (PhSch II, 15) religiöser Sprache. Bevor Ricœur zu den materialen Analysen übergeht, werden zwei wichtige methodische Näherbestimmungen seiner Hermeneutik vorgenommen. Zunächst wird die Eigenart religiöser Sprache symboltheoretisch entfaltet, wobei hier die „doppelte Intentionalität“ (PhSch II, 22) der Symbole im Zentrum steht. Sodann begreift Ricœur wie bereits Otto die Religionsgeschichte als einen Vorgang der zunehmenden Rationalisierung. Näherhin unterscheidet er dabei drei aufeinander bezogene, wohl aber klar unterscheidbare Phasen der Symbolisierung: Zunächst die Herausbildung ursprünglicher Symbole, sodann die von einzelnen Symbolen ausgehende Mythenbildung sowie schließlich die spekulativ-rationale Theologie. Ich werde unten Ricœurs Hermeneutik der Ursymbole exemplarisch herausgreifen. Doch zuvor soll zunächst Ottos Interpretation des um die Symbole Sünde und Schuld gruppierten Erlebnis- und Phänomenbereichs skizziert werden.
2 Religiöses Werterleben Die oben angeführte werkgeschichtliche Notiz Ottos, seine Studie ‚Das Heilige‘ sei einst aus den Fragen nach der Bedeutung der Begriffe Sünde, Schuld und Urschuld hervorgegangen, scheint auf den ersten Blick verwunderlich. Erst recht spät – in der
Vgl. PhSch I, 110 – 172.
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letzten von ihm überarbeiteten Auflage ist es das 9. Kapitel – begegnet die Thematik am Rande.¹⁵ Doch auch wenn das fragliche Begriffsfeld hier von anderen Themen überlagert wird, so weist Otto zumindest ausdrücklich darauf hin: „erst mit ihrer Erörterung kommen wir zum eigentlichen Zentrum unserer Aufgabe“ (DH23-25, 66). Will man sich den Sinn dieser Auskunft verdeutlichen, so muss man sich den Gesamtaufriss seines Hauptwerkes vor Augen führen.¹⁶ Entgegen der vom Titel her sich nahelegenden Erwartung geht es im Hauptwerk eigentlich gar nicht primär um den Begriff des Heiligen. Er wird zunächst sogar als Leitfaden der Untersuchung verworfen, da er nach Otto bereits viel zu stark mit sittlichen Konnotationen versehen ist. Von derartigen Schematisierungen des religiösen Erlebens müsse jedoch abstrahiert werden, um den religiösen Gehalt in seiner reinen Gestalt erfassen zu können. Bekanntlich führt Otto sodann den Namen des ‚Numinösen‘ für diesen eigentümlichen, von einer ‚numinösen Gefühlsbestimmtheit‘ spezifizierten Gehalt religiösen Erlebens ein. Erst nachdem dessen mannigfaltigen, eine Kontrastharmonie zwischen Abdrängendem und Anziehendem bildenden Gefühlsmomente durchlaufen sind, kommt Otto noch einmal auf das Kreaturgefühl zurück, das bereits – in kritischer Auseinandersetzung mit Schleiermachers Konzept schlechthinniger Abhängigkeit – als subjektiver und somit sekundärer Gefühlsreflex auf das Erlebnis des Numinosen, genauer dessen Moment des Übermächtigen, analysiert worden war.¹⁷ Von diesem religiösen Nichtigkeitsgefühl sei nun aber noch „eine andere Abwertung“ (DH1, 52) zu unterscheiden. Jesajas Bekenntnis zur Unreinheit sowie das Sündenbekenntnis des Petrus werden als Schlüsselbelege für ein intuitives Gefühl vom kollektiven, wenn auch individuell empfundenen Unwert des Menschen gegenüber dem Numinosen angeführt. Die Differenz dieses Unwertsgefühls gegenüber dem Kreaturgefühl bestehe nicht etwa darin, dass es nun um ein genuin sittliches Selbstwertgefühl ginge. Auch hier geht es „zunächst überhaupt nicht“ um moralische Abwertungen, sondern vielmehr um das „Gefühl der schlechthinnigen Profanität“ (a.a.O. 53). Diesem subjektiven Begleitgefühl entspricht sodann ein intentionaler Gehalt, den Otto mit den Ideogrammen des sanctum oder augustum adäquat zum Ausdruck gebracht sieht. Damit ist nicht nur auf der Ebene der Gefühlsanalyse allererst der Begriff des Heiligen eingeholt,
DH23-25, 66 ff. Thema des Kapitels ist ‚Das Sanctum als numinoser Wert. Das Augustum‘ sowie Bedeckung und Sühne. In der ersten Aufl. von 1917 war die Thematik noch im 8. Kapitel untergebracht (DH1, 52ff). In der Auflage, auf die sich SU, 1, bezieht, also die sechste Überarbeitung von 1926 (DH14), die bis zur letzten Überarbeitung von 1936, also bis einschließlich DH21-22 unverändert bleibt, findet sich der Zusammenhang in Kapitel 10 (DH14, 68 ff.). Zu diesem Zweck orientiere ich mich im Folgenden an der diesbezüglich viel klarer strukturierten ersten Auflage von 1917. DH1, 9 ff.
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sondern es kommt mit diesem Gefühlsmoment allererst der spezielle Charakter des Werterlebens in den Blick. Denn im Unterschied zum Moment der majestas, also der Scheu vor einer Übermacht, ist hier die gefühlsmäßige Anerkennung eines „schlechthin unüberbietbare[n] Wert[es]“ (ebd.) gemeint. Diesen im religiösen Erlebnis ergriffenen numinosen Wert kann Otto in der letzten Überarbeitung des Hauptwerks sogar als „irrationale[n] Urgrund und Ursprung aller möglichen objektiven Werte“ (DH23-25, 67) bezeichnen, was für ihn ausdrücklich keinen Widerspruch zur Selbständigkeit sittlicher Werte oder zur Autonomie impliziert, sondern im Gegenteil eine wert- oder besser geltungstheoretische Vermittlung von Religion und autonomen Ethos ermöglichen soll.¹⁸ Da nach Otto alle anderen Momente des Numinosen als Bewertungskategorien aufzufassen sind, wird jedenfalls ersichtlich, warum erst mit diesem Gefühlsmoment das „Zentrum“ der Gefühlsanalyse erreicht sein soll. Die fundamentale Bedeutung des augustum zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die innere obligatio durch ein ‚Respekt-Heischendes‘ als bloße Scheu vor einem Abdrängenden unzureichend beschrieben wäre, weil darin zugleich etwas Anziehendes liegt, das uns rühmen macht oder „eine Art von Huldigung“ (SU, 5) darstellt. Als „scheuer Lobpreis“ (DH23-25, 68) überspannt also dieses Gefühl die Kontrastharmonie der übrigen Momente und man wundert sich, dass Otto hier nicht von Ehrfurcht spricht. In seinen ergänzenden Aufsätzen taucht sie jedoch genau in diesen Zusammenhang auf und zugleich damit auch eine Erklärung für die Zurückhaltung im Hauptwerk. Da die Ehrfurcht eigentlich ein Gefühl „gegen Menschen“ bezeichne (SU, 7), handele es sich bereits um ein rationales Schema, also nur eine Gefühlsanalogie. Das diesem genuin religiösen Erleben eines unbedingten Wertes – kurz könnte man sagen: der unbedingten Geltungsbetroffenheit – korrelierende Gefühl des eigenen, trans- oder vormoralischen Unwerts hat nach Otto vor allem in den Riten und Gefühlen der Jahwe-Religion (DH23-25, 71) exemplarisch Ausdruck erhalten. Hier sei das Bedürfnis nach Bedeckung als Mittel des Verkehrs mit der tremenda majestas zu erkennen, das dann in vertiefter Gestalt wiederum in der nicht nur in Jesajas Berufungsvision, sondern auch im Neuen Testament greifbaren Vorstellung wiederkehre, mit dem eigenen Unwert das numen beflecken (ebd.) zu kön-
Vgl. dazu Rudolf Otto, Autonomie der Werte und Theonomie, in: Ders., Aufsätze zur Ethik, hg.v. Jack S. Boozer, München 1981, 215 – 226, hier: 219 – 226, wo Otto vom Heiligen als dem „Urquell alles wirklichen oder möglichen Wertes“ (220) bzw. als einem „Überwert“ oder „Urwert“ (223) spricht. Werkgeschichtlich steht hinter der Frage nach dem Verhältnis von Religion und Autonomie, die hier in Auseinandersetzung mit Nicolai Hartmann entwickelt wird, eine intensive Beschäftigung mit Kants Ethik, vgl. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Mit Leitfaden und Erklärungen neu herausgegeben von Rudolf Otto, Gotha 1930.
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nen. In diesem Vorstellungskreis liegt nach Otto die eigentliche Wurzel religiöser Sühnevorstellungen als Ausdruck eines ‚Verlangens nach Aufhebung des Trennenden‘ (ebd.). Die religionsgeschichtlich vollendete Gestalt erblickt Otto schließlich im christlichen Grunderlebnis, dass sich das Heilige selbst nahbar bzw. zum Sühnemittel mache – ein Erlebnisgehalt, der für ein ethisches Christentumsverständnis ebenso befremdlich bleiben müsse, wie er durch das „mathematische[…] Kalkul der ‚Imputations-lehre‘“ seinem ursprünglichen Sinngehalt entfremdet werde.¹⁹ All dies ist – wie gesagt – noch frei von ethischen Konnotationen. Der Übergang in den Bereich des Sittlichen wird nach Otto durch den Begriff der Sünde markiert. Die Sündenvorstellung verdankt sich also nach Otto einer sittlichen Aufladung des religiösen Unwertgefühls bzw. der religiösen Vertiefung des Ethischen – Sünde ist also keine rein religiöse Kategorie, sondern ist Ausdruck einer Verschränkung von Religion und Ethos.²⁰ Darin ist auch der Grund zu sehen, weshalb sich das auf die Freilegung der religiösen Dimensionen konzentrierte Hauptwerk mit Bezug auf die mit dem Begriff der Sünde verbundene Ethisierung zurückhält. Gleichwohl bleibt es für die religionsgeschichtlich rekonstruierte Synthese zwischen religiöser und ethischer Erfahrung entscheidend, die jeweilige Selbständigkeit beider Sphären zu beachten.²¹ Die sowohl sozial- wie individualethischen Erfahrungen des Schlechten amalgamieren sich zwar mit dem religiösen Erlebnis, bleiben aber diesem gegenüber ebenso ursprünglich wie die religiösen Erfahrungen, die sich – wie Otto in Kritik an zeitgenössischen Debatten betont – eben nicht sozialpsychologisch ableiten ließen. Otto konnte daher auch eine Phänomenologie der ethischen Schuld gänzlich ohne Rückgriffe auf die religiöse Erfahrung entfalten.²² Und auch seine Phänomenologie der Sündenvorstellung hat stark analytischen Charakter und betont die Unterscheidung von religiösen und ethischen Aspekten. Unbeschadet dessen würdigt Otto die Verschränkung beider Sphären als bedeutsame Kulturleistung. Die Möglichkeit für eine „wechselseitige Subsumtion“ oder „Durchdringung“ (SU, 8) von religiösem Unwert und moralisch Schlechtem bietet zum einen eine Vgl. DH23-25, 72– 74. „Erst indem der Charakter dieses numinosen Unwertes sich dann auch auf die sittliche Verfehlung überträgt, sich in sie hineinsetzt oder sie sich subsumiert, wird die bloße ‚Ungesetzlichkeit‘ zur ‚Sünde‘, wird die Anomia zur Hamartia, wird sie ‚ruchlos‘ und ‚Frevel‘, DH23-25, 69; vgl. auch Rudolf Otto, Autonomie der Werte und Theonomie (wie Anm. 18), 220. Vgl. auch SU, 1– 11. Vgl. Rudolf Otto, Das Schuldgefühl und seine Implikationen, in: Zeitschrift für Religionspsychologie 4 (1931), 1– 19; Ders., Das Gefühl der Verantwortlichkeit, in: Zeitschrift für Religionspsychologie 4 (1931), 49 – 57.109 – 136. Beide Aufsätze wiederabgedruckt in: Rudolf Otto, Aufsätze zur Ethik (Anm. 18), 127– 174.
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religiöse Vertiefung des Sittlichen, wie sie oben bereits im Kontext von Wert- und Geltungsbetroffenheit angedeutet wurde, zum anderen eine ethische Aufladung des Numinosen. Anknüpfungspunkte für letzteres bietet der im religiösen Gefühl selbst angelegte Rationalisierungsprozess, an dessen Anfang die Schematisierung des ursprünglich ohne die Vorstellung personaler Götter und sittlicher Gebote auskommenden Wert-Unwertgefühls mit Gefühlen wie Ehrfurcht, Zutrauen, Dank oder Liebe steht, was dann wiederum Analogiebildungen mit der Sphäre des Ethischen ermöglicht.²³ Entscheidend sei ferner eine Vertiefung des religiösen Unwertgefühls, an der sich der aller Einzeltat voraus liegende und zugleich allgemeinmenschliche Charakter der Profanität sowie das Moment einer individuellen Zurechnung unterscheiden ließen.²⁴ Diese auch als Erweckung des religiösen Gewissens beschriebenen Phänomene sind nach Otto Inbegriff der Idee einer Urschuld, auf deren Momente sich sowohl Rationalisierungen wie die Erbsündenlehre als auch mythologische Deutungen wie die des Sündenfalls oder Kants „neuer philosophischer Mythus’ (SU, 40) von der intelligiblen Tat zurückführen ließen. Als Paradigma für die Wiederentdeckung der religiösen Tiefendimension der ethisch-religiösen Sündenvorstellung gilt Otto die Theologie Luthers, die freilich ihrerseits einer kritischen Rekonstruktion bedürfe.²⁵ Denn bei Luther fänden sich zwar supranaturale Vorstellungsreihen, die das Dilemma einer Rationalisierung der Sündenerfahrung mehr verschärft als gelöst hätten.²⁶ Aber Luther habe eben auch eine psychologische Beschreibung des Glaubens und neuen Lebens entwickelt, die es ihm etwa erlaube, den paulinischen Dualismus von Geist und Fleisch aus seinen anthropologischen und legalistischen Verengungen zu befreien und damit den eigentümlichen Sinn der christlichen Sünden- und Gnadenerfahrung bzw. der Ideen von Verlorenheit und Heil als ein die ganze Existenz des Menschen
SU, 6 f.: So kann Otto etwa zwischen einem religiösen und einem ethischen Sinn der ‚superbia‘ unterscheiden und darin einen möglichen Bezugspunkt zwischen beiden Dimensionen markieren. Einschlägig ist diese Passage auch insofern, als hier zwischenmenschliche Gefühle bereits als „rationale Schemata“ für rein religiöse, numinose Gefühlmomente eingestuft werden. SU, 38 f. Vgl. SU, 10. Die kritische Rekonstruktion der Theologie Luthers hat Otto in seiner werkgeschichtlich kaum zu überschätzenden Licentiatenarbeit (AHG) durchgeführt. Zentrale Passagen derselben werden dann in den einschlägigen Studien in SU, also der ›Theologischen Reihe‹ der ›Aufsätze das Numinose betreffend‹ (AN II), wieder abgedruckt: SU, 37– 36 (=AHG, 79 – 81), SU, 44– 60 (=AHG, 25 – 42). Hinter Formulierungen wie, die Sünde sei ein „Hemmen … der rein religiösen Gemütsfunktion“ (SU, 10), ist freilich auch Schleiermacher klar erkennbar. Nach Otto handelt es sich dabei um ein Dilemma, das vor allem in Augustins Schematisierung der Sündenerfahrung durch den Willensbegriff seinen Höhepunkt erreicht habe, mit der nicht nur die religiöse, sondern vor allem die sittliche Erfahrung in ihrem Sinn verkannt werde; vgl. dazu SU, 25 ff.
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betreffendes Werterleben freizulegen und von da aus auch den Sinn ihrer ethischen Interpretationen einzuholen.²⁷
3 Die Symbolik des Bösen Bei der Würdigung des Ansatzes der Ricœurschen Phänomenologie hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass deren systematischer Rahmen nicht in einer Religionstheorie, sondern in einer Theorie des Willens besteht. Die Irrationalität der bösen Tat fordert jedoch nach Ricœur den Übergang von der philosophischen Reflexion zur Symbolhermeneutik und damit zur ‚Sprache des Bekenntnisses‘, deren ursprünglichste Schicht in drei Ursymbolen identifiziert wird: den Symbolen des Makels, der Sünde und der Schuld.²⁸ In der Abfolge dieser typologischen, d. h. historisch sich durchaus überlagernden Trias artikuliert sich eine im Kern irrationale Erfahrung und verständigt sich über sich selbst, wobei eine erste Pointe darin besteht, dass Ricœur die Abfolge sowohl als Ablösungs- als auch als Anreicherungsmodell verstanden wissen will. Die jeweils folgende Symbolschicht transformiert den Sinn und damit die Erfahrung ihrer vorausliegenden Stufe, nimmt aber zugleich Momente derselben in ihre eigene Symbolik auf, ja kann letztlich nur vermöge derselben „zu Wort kommen“ (PhSch II, 176). Ziel dieses Durchgangs ist eine Annäherung an die paradoxe Idee eines unfreien Willens, die sich vor diesem Hintergrund selbst als „indirekter Begriff“ (a.a.O. 175.vgl. 118) erweist. Die Symbolik des Bösen ist daher vor allem als eine sukzessive Aneignung der Symbolelemente der Idee des unfreien Willens zu verstehen. Aus der ersten, den Makelregistern archaisch-magischer Gesellschaften entnommenen Schicht stammen die Aspekte einer dinglich-substantiellen, dem Menschen äußerlichen und sich durch Berührung oder Ansteckung übertragenden Vorstellung des Bösen, dessen Begriff mit Einsatz der Symbolhermeneutik an die Stelle des anthropologisch orientierten Fehlbarkeitsbegriffs tritt.²⁹ Ethisches und Physisches sind hier noch ungeschieden und als psychologisches Korrelat firmieren Angst und Furcht, die auch die Erfahrung des Heiligen ‚verdüstern‘.³⁰
Vgl. dazu v. a. SU, 12– 36.43 – 60. Vgl. PhSch II, 14, und sodann die Durchführung: 33 – 56 (Makel).57– 116 (Sünde).117– 173 (Schuld). Der „Flecken ist das erste ‚Schema‘ des Bösen“ (PhSch II, 56). In den Einleitungspassagen kann Ricœur den Begriff des Bösen förmlich an die Kategorie des Heiligen binden: „das Böse – Makel oder Sünde – ist der Nerv und gleichsam die ‚Krise‘ dieser Bindung“ [sc. der Bindung des Menschen an das ihm Heilige] (PhSch II, 12; vgl. dazu auch 190 – 196). A.a.O. 38 – 42, hier: 42.
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Diese Vorstellungswelt bliebe uns vollständig fremd wäre sie nicht aufbewahrt in einer sie zu Symbolen transformierenden Gestalt, wofür nach Ricœur die Ausbildung einer entsprechenden Symbolsprache, ein Zu-Wort-kommen entscheidend ist.³¹ Ob in der griechischen Idee einer Katharsis, in zeichenhaft verkürzenden Reinigungsriten, einer Tabuisierungspraxis oder im religiösen Bekenntnis der Unreinheit – exemplarisch ausgedrückt in Jesajas Berufungsvision: die Zweideutigkeit der Befleckungssymbolik verweist bereits auf eine ethische Dimension. Das Physische erhält einen symbolischen Sinn und sublimiert die physische Furcht zur Erwartung einer sinnhaften Strafe. In dieser Analyse der Symbolwerdung des Makels rekurriert Ricœur somit bereits auf religiöse Ausdrucksvollzüge. Religion ist auch für den Symbolkreis der Sünde konstitutiv – ja sogar mehr als das: Sünde, so lautet Ricœurs Urteil, ist ursprünglich „eine religiöse Größe, bevor sie ethisch ist“ (PhSch II, 63). Dabei wird nun, obwohl bereits zuvor vom religiösen Bekenntnis und der Erfahrung des Heiligen die Rede war, Religiosität exklusiv an personale Gottesvorstellungen gebunden.³² Des näheren bezieht sich Ricœur dabei zum einen auf die alttestamentliche Bundesvorstellung, zum anderen auf die ethische Prophetie, deren Proprium in der Verkündigung einer unbedingten Forderung erblickt wird. Diese trete jedoch mit den konkreten und insofern endlichen ethischen Geboten in ein dialektisches Spannungsverhältnis (a.a.O. 66 f.70 f.73ff). Aus diesem Syndrom von hineinziehendem Bund und unbedingter Forderung resultiere sodann auch eine neue Qualität der Angst, die sich im Symbol vom ‚Zorn Gottes‘ verdichte – dem „Gesicht der Heiligkeit für den sündigen Menschen“ (a.a.O. 76). Zur Hochform läuft Ricœurs Symbolhermeneutik dann bei der Analyse der diesen religiösen Vorstellungsgehalten korrelierenden Symbolsprache auf. Die Pointe besteht darin, dass die hebräische Bibel noch keinen abstrakten Begriff der Sünde kennt – also gleichsam eine Hermeneutik der Sünde avant la lettre erforderlich macht.³³ Zugleich begegnet hier ein weiteres Mal die Dialektik von Überwindung und Wiederaufnahme der vorausliegenden Symbolschicht.³⁴ Was das erste betrifft, so charakterisiert Ricœur die sich in unterschiedlichen Bildern symbolisierende Das gilt gegen eine verbreitete religionsethnologische Meinung nach Ricœur sogar für Riten: „kein Ritus ohne Wort“ (PhSch II, 46). A.a.O. 60 ff. Vgl. dazu die Herausarbeitung des um Vorstellungen wie Verstoß, Abweichung, Aufstand oder Verirrung kreisenden Symbolbündels sowie die bildlichen Schemata „des Dunstes, des Hauches, des Staubes“, a.a.O. 83 – 96, hier 89. „Durch andere Züge, man könnte sie realistische nennen, ist die Sünde auch Setzung, wie Kierkegaard sagt; es sind Züge, die eine gewisse Kontinuität zwischen den beiden Symbolsystemen und eine Übernahme des Befleckungssymbols in das neue Sündensymbol gewährleisten“ – a.a.O. 96, vgl. 96 – 116.
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Sünde als eine Erfahrung der Nichtigkeit, der als Erlösungssymbolik die Korrelation von Vergebung und Umkehr entspricht. Doch zugleich zeigt sich eine Kontinuität mit der Befleckungsvorstellung, denn auch die Sünde wird noch als eine dem Menschen äußerliche Realität vorgestellt, von der man sich in ritueller Sühnepraxis durch das von Gott gewährte Gnadenmittel (Blut) loskaufen kann – verdichtet in den Symbolen von Gefangenschaft und Exodus.³⁵ Der Schuldbegriff markiert schließlich eine weitere, in sich hoch komplexe Transformation des symbolischen Umgangs mit dem Bösen. Nach Ricœur zeichnet sich diese im Wesentlichen durch eine Individualisierung, eine graduelle Bewertung und Zurechnung der Einzeltat sowie eine Verinnerlichung in die Selbstbeurteilung des Gewissens aus – hiermit ist also die ethische Dimension im engeren Sinne erreicht.³⁶ In diesem vielschichtigen Wandlungsprozess läge nun aber die Tendenz zur Ablösung von der religiösen Dimension der Schuld – der Sünde. Anders als bei Otto steht hier jedoch kein positiver Begriff von sittlicher Autonomie im Hintergrund, sondern vielmehr das Konzept einer krisenhaften Entwicklung, die auf eine tiefe Paradoxie der Freiheit zuläuft. Diese pejorative Sicht der Ethisierung der Sünde wird daher von Beginn an intoniert: „das Schuldgefühl im Reinzustand ist zu einer Modalität des Menschen als Maß aller Dinge geworden“ (a.a.O. 122, vgl. 126). Dieser von Ricœur selbst in drei Schritten entfaltete Umformungsprozess lässt sich in zwei Entwicklungsreihen zusammenfassen.³⁷ Zum einen wird die Herausbildung einer ethisch-juridischen Begrifflichkeit der Schuld aus den Erfordernissen der griechischen Polis beschrieben. Diesem um die Begriffe des Willens und die strafrechtliche Zurechnung kreisenden Verständnis der Schuld stellt Ricœur beziehungslos eine zweite, die jüdische Religionsgeschichte fortsetzende Reihe zur Seite. Dort vollzieht sich die Verinnerlichung des Sündengefühls zum Gewissen. Zunächst in Gestalt des von Ricœur in seiner Bedeutung hochgeschätzten Pharisäismus zum skrupulösen, d. h. sich an das göttliche Gebot bindenden, Gewissens. Dieses ethisch-religiöse Schuldverständnis einer „gutgeheißene[n] Heteronomie“ (PhSch II, 147) erhebt die Beobachtung des Gesetzes zum Lebensprogramm und vertieft die persönliche Zurechnung von Verdienst und Schuld in einer Bußpraxis.
Auch bei der Deutung der Sühnevorstellung zeigt sich also eine große Nähe zu Otto, der freilich mit seiner Betonung des verwandten Bedürfnisses nach Bedeckung einen von Ricœur vernachlässigten psychologischen Aspekt hervorhebt, der gerade den Symbolcharakter der Befleckungs-/Unreinheitsvorstellung unterstreicht. Die erstgenannten Aspekte entfaltet Ricœur als „doppelte Errungenschaft des Schuldgefühls“ (a.a.O. 122 ff.), die Verinnerlichung wird in Relation zur Sünde expliziert: Das „Schuldgefühl ist die vollzogene Innerlichkeit der Sünde“ (a.a.O. 120, vgl. 165). Vgl. a.a.O. 126 – 137 (ethisch-juridische Erfahrung).137– 173 (Gewissen: ethisch-religiös/psychologisch-theologisch).
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Doch die inneren Grenzen dieses Grundtypus von Schuldgefühl setzten eine weitere Vertiefung des Gewissens ins psychologisch-theologische frei. Was von Otto an der Theologie Luthers demonstriert wird, entfaltet Ricœur am Paulinismus, wobei freilich beide auf die jeweiligen Kontinuitäten hinweisen.³⁸ Im Kern handelt es sich bei diesem Verfehlungsbewusstsein um eine Entfremdungserfahrung: Dem guten Willen wird seine eigene Dignität in einer radikalen Form zweifelhaft. Aus dieser „Hölle des Schuldgefühls“ (PhSch II, 161.171) befreit zu werden, aber auch allererst in sie hineinzugeraten, ist dann freilich wiederum eine religiöse Erfahrung, die sich im neuen Symbol der Rechtfertigung verdichtet.³⁹ Mit dieser Kulmination des Schuldgefühls sieht Ricœur das innere „telos“ (a.a.O. 175) der Symbolreihe erreicht: den paradoxen Begriff eines unfreien Willens. Dessen Bedeutung zeigt sich am Ende der symbolhermeneutischen Arbeit insofern, als erkennbar wird, wie sich der freie Wille im Schuldgefühl mit überholten und doch wiederaufgenommenen Symbolen der Gefangenschaft durch die Sünde und der Befleckung durch das Böse über sich selbst verständigt und sich so nicht nur ihrer Symbolizität bewusst wird, sondern diese allererst in ihrem Symbolssinn umfassend zur Geltung bringt.
Fazit Obwohl die beiden vorgestellten Analysen des mit dem Sündenbegriff verbundenen Phänomenkomplexes von ganz unterschiedlichen Fragestellungen und Theoriekontexten ausgehen – kurz: Religionstheorie hier, Philosophie des Willens dort –, und auch einen je eigenen Typus von Phänomenologie repräsentieren – kurz: Gefühlsanalyse hier, Symbolhermeneutik dort – zeigten sich auffallende Kongruenzen. Neben den methodischen Schnittstellen, die um die Korrelation von Erlebnis und Ausdruck kreisen, bestehen sie inhaltlich vor allem im Verständnis der Sünde als Symbol für eine genuin religiöse Nichtigkeitserfahrung, die jedoch in einer Auslegungsgeschichte steht, in der sie sich mit ethischer Bedeutsamkeit auflädt, die von beiden am Schuldbegriff festgemacht wird. Ricœurs Ansatz besticht dabei durch den Reichtum an verarbeiteten Symbolbeständen und die semantische Rekonstruktion einer ihnen inhärierenden Eigenlogik. Bei Otto ist die Ideogrammatik zwar ebenfalls methodisch angelegt, bleibt aber weitgehend implizit bzw. hat nur explanatorischen Charakter. Seine Stärken liegen vielmehr in einer den Symbolwelten adäquaten Religionspsychologie, die wiederum bei Ricœur reichlich schlicht ausfällt, also vorwiegend bei Primärgefühlen wie Angst,
A.a.O. 161; SU, 19. PhSch II, 170 f.
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Furcht oder Zorn stehen bleibt. Bei Otto überwiegt aus religionstheoretischen Gründen ein analytisches Interesse, in dessen Lichte Ricœurs Symbolhermeneutik, was die Bestimmung ethischer und religiöser Phänomene betrifft, in vielen Passagen, wie etwa in Bereich des Makels oder auch des Willensbegriffs, vage bleibt oder auch eng wird, wie im theistischen Religionsverständnis des Sündenbegriffs. So kann Otto etwa mit seiner Differenzierung von Kreatur- und Unwertgefühl die von Ricœur in seiner philosophischen Anthropologie zwar betonte, in der Symbolhermeneutik aber verschenkte Differenz von Endlichkeit und Schuld erschließen. Gerade diese Unschärfe erlaubt es wiederum Ricœur besser als Otto, mit Indifferenzen oder Zweideutigkeiten sowohl auf der Ebene des Symbols als auch des Erlebens umzugehen und vor allem die religiöse Valenz des Bösen auszuschöpfen. Es ist schon verwunderlich, dass Otto trotz seiner ausdrücklichen Hochschätzung von Luthers Schrift ‚De servo arbitrio‘ deren Spitzenbegriff nur als verfehltes moralisches Schema religiösen Erlebens einstuft, während Ricœur ihn förmlich zum Organisationszentrum seiner Symbolhermeneutik macht. Wie auch immer man nun in Einzelfragen entscheiden mag – unser Vergleich kann jedenfalls zeigen, dass sich religionspsychologische und symbolhermeneutische Phänomenologie keineswegs ausschließen, sondern vielmehr wechselseitig korrigieren und bereichern können. Oder, um es anders zu sagen: Das Geschäft einer theologischen Hermeneutik ist zu komplex, um auf Rudolf Ottos symboltheoretisch anschlussfähige Religionspsychologie verzichten zu können.
Peter Schüz
Numinose „Scheu“ als „artlich andere Zuständlichkeit“ Rudolf Otto und der moderne Angstbegriff Der Begriff Angst wird mit dem Lebensgefühl der Moderne häufig in besonderer Weise in Zusammenhang gebracht. Kaum ein Genre moderner Kunst und Kultur hat sich der Faszination der Angst entziehen können. Man mag die immer wieder geäußerte Bezeichnung der Moderne als „Zeitalter der Angst“¹ übertrieben finden, dennoch ist sie in gewisser Hinsicht zutreffend: Niemals zuvor ist die Gestalt und Bedeutung der Angst auf derart vielschichtige und intensive Weise diskutiert worden wie seit jener Zeit vor etwa hundert Jahren, die als Höhepunkt der klassischen Moderne gilt. Die damals neuen wissenschaftlichen Erkenntnisse besonders auf dem Gebiet der Psychologie und Psychoanalyse ließen die düsteren Stimmungen der Angst besonders eindrücklich zu Bewusstsein kommen. Rasante Veränderungen in Kultur, Gesellschaft und Politik, ungeahnte Kriegskatastrophen und das Zusammenbrechen traditioneller Wertmaßstäbe im frühen 20. Jahrhundert taten ihr Übriges und unterstrichen jenes Aufklärungsbedürfnis zur Deutung des allgegenwärtigen Phänomens der Angst.² Dabei besann man sich auf die großen Vordenker des Angstbegriffs, allen voran auf Søren Kierkegaard, sowie auf die Epoche der Romantik.³ Seit dem Ersten Weltkrieg wurde die Frage nach der Bedeutung der Angst für den Menschen unter den Bedingungen der Moderne intensiv und interdisziplinär aufgearbeitet. Von besonderer Wirkung waren dabei
Der in Literatur und Wissenschaft vielzitierte Ausdruck des „Zeitalters der Angst“ als Charakterisierung der Moderne wurde insbesondere durch Wystan H. Audens Werk „The Age of Anxiety“ von 1947 geprägt. Der auf Karl Jaspers zurückgehende Ausdruck der „Angst um das Selbstsein“ von 1931 mag hierfür bezeichnend sein: „Eine vielleicht so noch nie gewesene Lebensangst ist der unheimliche Begleiter des modernen Menschen. Er hat Angst um sein vitales Eigendasein, das, stets bedroht, stärker als jemals in das Zentrum der Aufmerksamkeit getreten ist“, vgl. Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit (1931), dritter Druck der 5. Aufl., Berlin 1953, 56 f. Die Romantik gilt seit jeher als ideengeschichtliche Quelle jenes Reigens von Stimmungen hinter den Begriffen der Angst, des Grauens, des Unheimlichen. Insbesondere im Kontext seiner Schleiermacherdeutung stellte Otto gerne Verbindungen zur Tradition der Romantik her (vgl. SU, 127), mit deren „Herold der Religion“ (gemeint ist Schleiermacher, vgl. ebd.) er selbst oft genug verglichen wurde. Zur Verbindung der angstvollen und düsteren Tradition der Romantik mit Rudolf Otto vgl. im vorliegenden Band den Beitrag von Markus Buntfuß.
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vor allem die existenzphilosophischen Überlegungen zur Angst im Anschluss an Martin Heidegger und Jean-Paul Sartre.⁴ Auch in der Theologie wurde in jener Zeit die Frage nach der Bedeutung der Angst gestellt. In den zahlreichen Publikationen und Forschungsprojekten zum Verhältnis von Angst und Religion, die seit der Mitte des 20. Jahrhunderts entstanden, wird die tiefe Verbindung des Gefühls der Angst mit der Religion und ihrer Erlebnisdimension offenkundig. Dabei beruft man sich auch auf frühere Versuche einer theologischen Deutung des Angstphänomens in den Zwanzigerjahren, wobei ein Name besonders häufig genannt wird: Rudolf Otto. ⁵ Ottos feine Zergliederung der Dimensionen religiösen Erlebens und die berühmten Begriffe, die er für die Grundstrukturen der Religion fand, wurden stark rezipiert. Seit den Vierzigerjahren kam kaum eine Abhandlung zum Verhältnis von Angst und Religion ohne Ottos schillernde Begriffe der „numinosen Scheu“, des „mysterium tremendum“ und des „Kreaturgefühls“ aus. Nicht nur innerhalb seines Werks, sondern auch in seiner Wirkungsgeschichte sind gerade die der Angst nahestehenden Begriffe Ottos die bedeutendsten und berühmtesten geworden.⁶ Doch geschieht diese Aneignung und Rezeption Ottos im Kontext des Angstbegriffs zu Recht? Die genauere Lektüre von Ottos Werken sowie der Re Für einen Überblick über die umfangreiche Debatte um den Angstbegriff bis in die Fünfzigerjahre vgl. u. a. die Studie von Mario Wandruszka, Angst und Mut, Stuttgart 1950. Exemplarisch für die weitere interdisziplinäre Entwicklung aus psychologischer Sicht vgl. das Standartwerk von Walter von Bayer/Wanda von Baeyer-Katte, Angst, Frankfurt 1973. Beide Bücher weisen ausdrücklich auf die Bedeutung Ottos für die religiöse Deutung der Angst hin. Vgl. die grundlegenden Hinweise auf Otto in den Artikeln zum Begriff Angst/Furcht von Axel Michaels und Heiko Schulz in RGG4, Bd. 1, 496 – 498. Exemplarisch seien unter den implizit auf Otto bezogenen Studien zur Angst im 20. Jahrhundert insbesondere die frühen Werke Werner Elerts genannt. Vgl. hierzu u. a. den ersten Band von Elerts Morphologie des Luthertums von 1931, und: Angst und Einsamkeit in der Geschichte des Luthertums, in: JELLB 20 (1925/26), 6 – 16. Vgl. außerdem die Studie des Ottoschülers Ernst Benz, Die Angst in der Religion, in: Die Angst. Studien aus dem C.G. Jung-Institut Zürich, Bd. 10, Zürich/Stuttgart, 1959, 189 – 222, insbes. 191 f. In den USA wurden die psychopathologischen Debatten um das Phänomen der Angst besonders durch Paul Tillich für die Theologie fruchtbar gemacht, der ebenfalls unter dem Eindruck Ottos stand (vgl. Tillichs wohl bekanntestes Buch The Courage to Be von 1952). Als Klassiker zum Verhältnis von Angst und Religion unter Berücksichtigung der frühen psychoanalytischen Forschungsgeschichte gilt im deutschsprachigen Raum das erstmals im Jahre 1944 erschienene Buch Das Christentum und die Angst von Oskar Pfister. Besonders der Begriff des „mysterium tremendum“ ist zu einem interdisziplinär standardisierten Fachbegriff geworden. Vgl. zur Aufnahme Ottos in die Angstdebatten des 20. Jahrhunderts: Hanno Willenborg, Das Heilige zwischen Gefühl und Emotion. Die klassischen Emotionstheorien von Charles Darwin, Wilhelm Wundt, William James und William McDougall im Vergleich zu Rudolf Ottos gefühlszentrierter Religionstheorie des Numinosen, Leipzig/Berlin 2011, 168.274 f. und 431.
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zeptionsgeschichte seines Hauptwerks Das Heilige lassen Zweifel aufkommen.Wie sich im Folgenden noch zeigen wird, verweigert sich Otto ausdrücklich dem Gedanken, Angst und Furcht hätten direkt etwas mit Religion zu tun. Vielmehr beansprucht er, durch seine theologische und religionsphänomenologische Arbeit eine ganz eigene – religiöse – Art der Angst gefunden und beschrieben zu haben, die von jeder profanen Angst zu unterscheiden sei: Eben jene Sphäre in der Kontrastharmonie religiösen Erlebens, die Otto mit Begriffen wie „schauervolles Geheimnis“, „numinose Scheu“ und „mysterium tremendum“ bezeichnet. Es stellt sich also bei Otto die Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion in besonderer Schärfe: Eröffnet Religion lediglich eine spezielle Deutungsweise oder Umgangsform mit dem alltäglichen Gefühl der Angst oder liegt dem religiösen Erleben tatsächlich eine völlig eigene Kategorie von Gefühlen zu Grunde, eben jenes numinose „Grauen“ und furchtsame „tremendum“, das sich von „natürlicher“ Angst und Furcht grundsätzlich unterscheidet? Angesichts der gegenwärtig in den Geisteswissenschaften zu beobachtenden Renaissance der Debatten um eine Theorie der Gefühle und des erstarkenden Interesses an der Frage nach der Bedeutung von Emotionen für menschliches Leben und Denken erhält Ottos Werk eine besondere Aktualität.⁷ Seine Beschreibung der angstvollen, furchterregenden Dimension religiösen Erlebens soll deshalb nun dahingehend befragt werden, wie sie sich zu dem allgemeinen Phänomen menschlicher Angst verhält. Ausgehend von Ottos besonders anschaulicher Auseinandersetzung mit religiösen Angsterlebnissen bei Kindern (1), wird hierfür Ottos grundlegende Unterscheidung „natürlicher“ und „numinoser“ Gefühle zu diskutieren sein (2), um letztlich in einem Ausblick der Frage nachzugehen, inwieweit sich womöglich eine der Gegenwart angemessene Theologie der Angst im Anschluss an Rudolf Otto formulieren ließe (3).
1 Die Entdeckung des „sensus numinis“ in religiösen Kindheitserlebnissen Schon bald nach dem Erscheinen seines Hauptwerks im Jahre 1917 begann Otto seine Theorie des Heiligen an vielerlei Beispielen und Anschauungsmaterialien zu präzisieren. Für den vorliegenden Zusammenhang von besonderem Interesse sind dabei die seit 1923 verfolgten Studien Ottos zur religiösen Entwicklung im Kin-
Vgl. zur aktuellen Gefühle-Debatte insbes. in der Philosophie exemplarisch: Sabine A. Döring (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt 2009, sowie im vorliegenden Band den Beitrag von Notger Slenczka.
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desalter, in denen er sich mit Erkenntnissen der zeitgenössischen Experimentalpsychologie auseinandersetzte.⁸ In den von Otto hier wiedergegebenen Erlebnisberichten findet er jene Reinform religiöser Begegnungen mit dem „Heiligen in der Erscheinung“ besonders eindrücklich dokumentiert, die er in seinem Hauptwerk als „Divination“ beschrieb. Es geht dabei um Ottos grundlegenden Gedanken, dass Menschen – freilich in unterschiedlichem Maße – die Anlage besitzen, das Heilige trotz seiner irrationalen Unsagbarkeit innerhalb der Welt als Erscheinung wiederzuerkennen.⁹ Jene bei Kindern besonders ausgeprägte „erhöhte Anlage für das Numinose“ findet Otto bei dem amerikanischen Prediger Theodore Parker als eine „nebelhafte Periode unserer religiösen Entwicklung“ beschrieben, „für die der Verstand keine adäquaten Begriffe zu bilden vermochte.“¹⁰ In den religiösen Erlebnissen von Kindern, in denen nach Ottos Auffassung jene Anlage zur Divination noch besonders unvoreingenommen und kraftvoll zum Durchbruch kommt, tritt nun – und das macht seine Studien für die vorliegende Fragestellung interessant – gerade jene Gruppe von Stimmungen und Gefühlen besonders hervor, die man gemeinhin zunächst ohne Weiteres mit dem Begriff der Angst umschreiben könnte. So wird aus den Jugenderinnerungen des Landschaftsmalers und Kunsthistorikers John Ruskin zitiert: “although there was no definite religious sentiment mingled with it, there was a continual perception of Sanctity in the whole of nature, from the slightest thing to the vastest; – an instinc-
Anders als in weiten Teilen seines übrigen Werks, in dem Otto seine Theorie des religiösen Erlebens besonders an Klassikern der Theologiegeschichte darstellt, kommen hier Beispiele für Erlebnisse und Stimmungen zur Sprache, die mehrheitlich in der modernen Lebens- und Alltagswelt „auch in unserer Zeit“ verortet sind, vgl. GÜ, 274. Die ersten Studien Ottos zu religiösen Kindheitserinnerungen sind dokumentiert in dem Aufsatz „Numinoses Erlebnis bei Ruskin und Parker“, den Otto seit 1923 in seine vom Hauptwerk (seit der 11. Aufl.) abgetrennten „Beilagen“ einreiht: vgl. AN, 56 – 60. Otto lieferte mit seinen Kindheitsstudien eine für seine Zeit bemerkenswerte empirische Beobachtungsgrundlage zur Erforschung der Religion und lag damit zugleich im Trend. Zu der „Flut an Publikationen zum Thema Kindheitsentwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts“ vgl. Hanno Willenborg, Das Heilige (Anm. 6), 221. Vgl. zum Divinationsbegriff in diesem Zusammenhang: AN, 58, ferner DH, 172 ff. Zu den religiösen Kindheitserlebnissen Theodore Parkers vgl. AN, 59 f. Als besonders bemerkenswert erachtet Otto die Analogie zur Menschheitsgeschichte, die Parker von jenem „Gefühl als ein Gedanke von einem vagen, dunklen, geheimnisvollen Etwas, das da war im Grunde der Dinge“ aus zieht: Auf der „großen Bühne in der Geschichte der Alten Völker“ sieht Parker in religiösen Bauten und Artefakten Ausdrucksformen genau jener besonders starken „Bewußstseins-tatsachen“ auftauchen, die bis heute in den religiösen Erlebnissen von Kindern vorkommen. So kann er „primitive“ Kulturen als „Kindheitsvölker“ bezeichnen, für deren religiöses Erleben „Sprache noch ein zu plumpes Werkzeug ist für den feineren Ausdruck“, weshalb sie versuchen, das Erlebte „in Stein zu schneiden“, also an Naturphänomenen oder Tierwesen zu objektivieren und zu personifizieren (zit. nach AN, 59 f.).
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tive awe. Mixed with delight, an indefinable thrill, such as we sometimes imagine to indicate the presence of a disembodied spirit. I could only feel this perfectly when I was alone; and then it would often make me shiver from head to foot with the joy and fear of it.”¹¹
Otto sieht „fast alle Momente“ der Kategorie des Heiligen, die er in seinem sechs Jahre zuvor veröffentlichten Hauptwerk beschrieb, im spontanen Erleben des jugendlichen Ruskin bestätigt.¹² Ohne eine konkrete Bedrohung begegnet hier ein junger Mensch in einem rätselhaften, angstvollen Schauer der irrationalen Dimension der Idee des Göttlichen als des „Ganz anderen“. Gerade jenseits von verfasster Religion und ohne jeden dogmatischen oder kirchlichen Zusammenhang findet Otto hier in einer einsamen Naturszenerie „die bezeichnenden Gefühle vor dem mysterium mirum ac tremendum, sich äußernd im ‚shivering from head to foot‘“, die „aus jenem stillen ‚mystischen Triebe‘, von dem Seuse und Augustin reden“, hervorbrechen.¹³ Besonders wichtig ist Otto im vorliegenden Falle die Spontaneität des Erlebten, welches „nicht aus Reflexion geboren“ wird, sondern aus der „Seelentiefe“ als Erkenntnis a priori aufbricht.¹⁴ In den folgenden Jahren widmete sich Otto in mehreren Veröffentlichungen immer wieder dem Versuch, das „Spontane und Selbstständige“ religiöser Erlebnisse an biographischen Beispielen von Kindheitserlebnissen zu untersuchen, die er extra hierfür sammelte.¹⁵ Von Jakob Wilhelm Hauer übernahm Otto beispielsweise den Bericht über einen Jungen, bei dem sich während des Ährenlesens auf dem Feld „ein Sehnen und Lauschen innerster Art“ in der Seele regt und schnell zum „rauschenden Akkord“ wird:
AN, 56 f. Otto zitiert aus John Ruskins monumentalem Werk “Modern Painters” Band 3, §19. Vgl. AN, 57 f. Vgl. AN, 57. Wer solches erlebt, ist für Otto ein „numine afflatus“, einer, der im Sinne von Schleiermachers „Anschauung und Gefühl des Unendlichen“ das Göttliche geschaut hat, vgl. AN, 58. Der Aufsatz Ottos schließt mit der Bitte an seine Leserschaft, man möge ihm nach Möglichkeit weitere ähnliche Erfahrungsberichte zukommen zu lassen (Vgl. AN, 60, Fußnote). Offensichtlich erhielt er auch einige Zuschriften, denn 1926 konnte Otto in einem weiteren Aufsatz mit neuen Beispielen aufwarten, vgl. Rudolf Otto, Religiöse Kindheitserfahrungen, in: Religionspsychologie. Veröffentlichungen des Wiener Religionspsychologischen Forschungs-Institutes durch die Internationale Religionspsychologische Gesellschaft, hg.v. Karl Beth, Wien/Leipzig 1926, 99 – 105. Ottos Verbindungen zu den religionspsychologischen Debatten der damaligen Zeit sind hierdurch deutlich belegt. Seine gesammelten empirischen Untersuchungen auf dem Gebiet der religiösen (Kindheits‐)Erlebnisse führte Otto dann in den Dreißigerjahren nochmals um zahlreiche Beispiele angereichert unter dem Titel „Spontanes Erwachen des sensus numinis“ zusammen, vgl. GÜ, 274– 281.
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„Riesengroß fühlt er es weben – denn er hat keinen Namen für diese rätselhafte, drängende Gegenwart, die auch nichts gemein hat mit allem, was er seither auch über Gott gehört. […] Und nun stürzt es hernieder auf ihn mit erdrückender Wucht, wie eine schauervolle Flut unfaßbarer Wesenheit. Er packt in Angst sein Ährensäckchen, das in der Furche liegt, stürzt bedrängt davon und läuft um sein Leben“.
Zu Hause erst legt sich die Beunruhigung und der Junge muss sich beschämt eingestehen, dass eigentlich gar nichts passiert war.¹⁶ Aus den religiösen Schilderungen von Menschen aus aller Welt, die Otto über die Jahre zusammentrug, wird ihm eines ganz besonders deutlich: Es handelt sich seiner Meinung nach in allen Fällen weder um ästhetische Naturerlebnisse, noch um Begegnungen mit anrührender und beeindruckender Sittlichkeit.¹⁷ Otto besteht darauf, eine ganz eigene und besondere Erlebniskategorie der Religion entdeckt zu haben, deren Objekt und Ursache sich jeder Begrifflichkeit entzieht und daher nur als das „Ganz andere“ beschrieben werden kann. Sehr wohl angebbar sind hingegen die körperlichen und emotionalen Wirkungen dieser Erlebnisse, unter denen besonders diejenigen Stimmungen hervortreten, die an das Gefühl von Angst und Furcht denken lassen. Letztlich scheinen überdies besonders vier Einsichten für Ottos Untersuchungen religiöser Kindheitserfahrungen von besonderer Wichtigkeit zu sein: Erstens bauen die beschriebenen Kindheitserlebnisse nach Ottos Einschätzung auf keine religiöse oder kirchliche Sozialisation auf. Es handelt sich demnach um unvoreingenommene „rein numinose Erlebnisse“, die sich im Kind ohne jede Anleitung oder Vorprägung allein aus seiner religiösen Anlage erheben und das Heilige unmittelbar in seiner Erscheinung wiedererkennen lassen.¹⁸ Eindrücklich zeigt sich dies besonders dann, wenn das Divinationserlebnis der religiösen Biographie und Bildung des Kindes sogar fremd oder entgegengesetzt ist. Hieraus ergibt sich zweitens die These, dass die Intensität numinoser Erlebnisse bei den meisten Menschen im Erwachsenenalter abnimmt. Hieraus schließt Otto, dass die religiösen Anlagen eines Menschen im Laufe des Lebens überlagert
Vgl. Rudolf Otto, Religiöse Kindheitserfahrungen (vgl. Anm. 15), 100 f. (= GÜ, 275 f.). In einer anderen Zuschrift an Otto wird von jahrelangen spontanen Angsterfahrungen im Kindesalter berichtet, die als „Angst vor dem Begriff der Ewigkeit“ beschrieben werden, vgl. den langen Brief a.a.O. 101– 103. So betont Otto schon in der ersten Studie von 1923, es handle sich hier um „Nichts ästhetisches, aber auch nichts ethisches oder teleologisches mischt sich ein“, AN, 58. Vgl. AN, 56.
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und verdrängt werden, wodurch die Tiefe des religiösen Erlebens in der Kindheit kaum je wieder erreicht wird.¹⁹ Drittens sieht Otto von hier eine Analogie zur menschheitsgeschichtlichen Entwicklung der Religion angezeigt: Demnach war die Religion früher Kulturen keine primitive animistische Vorstufe der sich erst später und immer höher entwickelnden eigentlichen Religionen, sondern es zeigt sich gerade in den frühsten und einfachsten Kulten und Ritualen der pure und sich mit schrankenloser Kraft entfaltende „sensus numinis“, der in den späteren Hochreligionen zwar noch vorhanden ist, aber von dogmatischer Schullehre und Metaphysik zuweilen überlagert und verdeckt wird.²⁰ Entgegen der völkerpsychologischen Theorie Wilhelm Wundts ist für Otto das numinose Erlebnis „ein Moment“, das „aller Kultur vorangegangen ist“ – Religion fängt für Otto auch menschheitsgeschichtlich mit sich selber an.²¹ Viertens und zusammenfassend bestärken Otto seine empirischen Untersuchungen in einer für seine Frömmigkeitstheorie fundamentalen Annahme: Er meint in den beschriebenen geheimnisvollen Erlebnissen eine Kategorie von Gefühlen und Stimmungen ausgemacht zu haben, die allein und ausschließlich der Sphäre des Numinosen, also der Provinz der Religion zuzuordnen ist. Otto möchte von jenen „echt numinosen“ Erlebnissen alle nichtreligiösen „natürlichen“ Erfahrungen strikt unterschieden wissen. Diese Grunddifferenz zwischen natürlichen und numinosen Gefühlen betrifft in besonderem Maße das Begriffsfeld der Angst: Das in Ottos Werk sowie in seinen empirischen Beispielen so grundlegende Moment des Schauervollen, der „numinosen Scheu“, des „mysterium tremendum“ hat, wie Otto ausdrücklich und immer wieder betont, zwar gewisse Ähnlichkeiten zu dem, was man gemeinhin Angst oder Furcht nennt, ist aber dennoch von jenen Stimmungen und Gefühlen konsequent zu unterscheiden. Keine Angst – und sei sie noch so diffus und rätselhaft – trägt in sich laut Otto jene
Von grundlegender Wichtigkeit für Ottos Interpretation seiner Kindheitsstudien war in diesem Zusammenhang der Austausch mit dem Marburger Entwicklungspsychologen und Pionier der Eidetik Erich Rudolf Jaensch. Besonders Jaenschs eidologische Forschungen haben wohl Otto dazu motiviert, eine empirische Grundlage für seine religionspsychologischen Überlegungen zu erarbeiten. Vgl. GÜ, 274 f.280. Jaensch vertritt in seinen Untersuchungen kindlicher Anschauungsanlagen die These, dass der an Anlagen reiche kindliche Geist mit zunehmendem Alter depotenziert oder eintrübt (vgl. AN, 60.). Vgl. zum Thema Angst im wahrnehmungspsychologischen Kontext am Beispiel Ottos und Jaenschs: Hanno Willenborg, Das Heilige (Anm. 6), 142 ff.151 ff.221 ff. Die These, dass die Rückentwicklung religiöser Erlebniskraft auch in „fylogenetischer Hinsicht“ zu beobachten ist (Vgl. AN, 60), entwickelt Otto insbes. im Anschluss an Theodore Parker (vgl. oben Anm. 10). Vgl. GÜ, 280.
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Qualität des „tremendum“ oder führt zu jenem „Kreaturgefühl“, das Otto exklusiv für die Religion in Anspruch nimmt.
2 Die Unterscheidung numinoser „Scheu“ und „natürlicher“ Angst Wie bereits gezeigt, geht es Otto in seinem Werk und besonders in seinen Kindheitsstudien um den Erweis der Ursprünglichkeit und Eigenständigkeit des religiösen Erlebens – so auch im Falle der Angst. Otto betont, durch saubere psychologische Analyse und intensive „Seelenforschung“ lasse sich zeigen, dass man „über die Maßen voller Furcht Angst Schrecken sein“ könne, ohne dass darin auch nur eine Spur des Numinosen enthalten sei.²² Scheinbar liegt ein tiefer Graben zwischen dem in der Religion erlebten „mysterium tremendum“ und der Angst, die Otto „natürlich“ nennt, wenn er schreibt: „Keine natürliche Furcht geht durch bloße Steigerung [in numinose „Scheu“] über“.²³ Um die Unterscheidung natürlicher Angst von numinoser „Scheu“ in seinen Schriften kenntlich zu machen, setzt Otto die numinosen Gefühlsbegriffe in Anführungszeichen.²⁴ Sie zeigen, dass jene „‚Furcht‘ mehr als Furcht ist“, eine „ganz artbesondere Gefühls-reaktion“, die natürlicher Furcht allenfalls ähnlich ist und daher durch sie „analogisch angedeutet werden kann“. Mit dem Hinweis, nicht „aus natürlichem Fürchten, auch nicht aus einer vermeintlichen ‚Weltangst‘“ sei „Religion geboren“, scheint Otto anzudeuten, dass es ihm dabei gerade nicht um die damals populäre Unterscheidung objektgerichteter Furcht von ungerichteter Angst im Sinne Kierkegaards ging.²⁵ Ottos energisches Bemühen um die Ab-
Vgl. DH, 18. Gegenüber jeder Form des Schreckens, der Furcht, des Gruselns und der Angst ist Ottos „‚Scheu‘ von völlig eigenem Wie“ (DH, 146). Besonders die Schriften Martin Luthers wurden Otto hierfür zur wichtigen Quelle (vgl. DH, 120 ff.). Vgl. DH, 18 (Ergänzung in Klammer: P.S.). Die „Scheu“ hat damit „in sich ihre eigenen Steigerungen aber sie ist nicht selbst Steigerung eines anderen“ (ebd.). Friedrich Feigel nennt diese daher „numinose Gänsefüßchen“ und wirft Otto in diesem Zusammenhang eine gewisse populistische Oberflächlichkeit vor (vgl. Friedrich K. Feigel, Das Heilige. Kritische Abhandlung über Rudolf Ottos gleichnamiges Buch, Tübingen 21948, 125). Tatsächlich scheint Otto jedoch mit den eigentümlichen Begriffen wie „mirum“, „tremendum“ usw. auf die Unmöglichkeit begrifflicher Fassbarkeit des Irrationalen hinweisen zu wollen. Die Gänsefüßchen deuten auf ein „sozusagen“ des damit eingerahmten Begriffs hin und schwächen seinen Anspruch, das mit ihm Bezeichnete begrifflich fassen zu können. Vgl. Ottos Begründung der „Gänsefüßchen“ in DH, 16. Vgl. DH, 17. Demnach fällt offensichtlich in Ottos Augen der vermeintlich objektlose „Schwindel der Freiheit“ in Kierkegaards „Der Begriff Angst“ als Gegenstand der Vorstellung
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grenzung einer ganz eigenen Provinz religiösen Erlebens mag vielleicht daher auch ein entscheidender Grund für den sensationellen Erfolg seines Hauptwerkes gewesen sein, das enthusiastisch als Wiederentdeckung der Religion aufgenommen wurde und Otto gerade als unzeitgemäßen Theologen berühmt machte.²⁶ Er verstand es, sich den naturalistischen wie den existenzialistischen Debatten seiner Zeit konsequent zu entziehen und kam dabei zugleich der abgründigen Krisenstimmung des Ersten Weltkriegs entgegen.²⁷ Doch blieb auch harsche Kritik nicht aus. Teile von Ottos empirischen Gefühlsanalysen wirken gerade aus heutiger Sicht konstruiert, so als wolle er der Religion auf empirischer Basis jene Eigenständigkeit zurückerobern, die damals besonders durch naturalistische Theorien in Frage gestellt wurde. Die Hoffnung auf den phänomenologischen Erweis der Originalität der Religion könnte demnach hier die Feder geführt haben.²⁸ Ist jedoch die in den dargestellten Kindheitserlebnissen entdeckte numinose „Scheu“ von „natürlichen“ Schauererlebnissen und von Momenten der Angst empirisch tatsächlich trennscharf zu unterscheiden? Der gegenüber Otto damals noch wohlgesonnene junge Rudolf Bultmann scheint sich im April 1918 in einem Brief an genau diesem Punkt zu
ebenfalls unter den Bereich des „Natürlichen“ und kann daher kein Moment des Numinosen sein. Zu Ottos Geringschätzung von Kierkegaards Angstbegriff, vgl. Todd A. Gooch, The Numinous and Modernity. An Interpretation of Rudolf Otto’s Philosophy of Religion, Berlin/New York 2000, 136. Vgl. die Bemerkung zur Unzeitgemäßheit Ottos in: Karl Löwith, Mein Leben in Deutschland vor und nach 1933. Ein Bericht (1940), Stuttgart 1986, 65, und ferner Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 6 f. Adolf v. Harnack rief aus, durch Ottos Hauptwerk sei ein „Schauer der Erleuchtung und der Befreiung durch deutsche evangelische Christen“ gegangen, vgl. Adolf v. Harnack, Die Neuheit des Evangeliums bei Marcion, in: Die Christliche Welt 43 (1929), 363. Otto verstand sich nicht zuletzt selbst als Durchbrecher des neuzeitlichen „Rationalismus“ und „Intellektualismus“ voller „nüchternkahler Verständigkeit“ (vgl. SU, 126 f.). Dennoch konnte Otto in dem ähnlich aufbruchsartig um sich greifenden Begriff der „Existenz“, der seit den Zwanzigerjahren in aller Munde war, lediglich eine fragwürdige Modeerscheinung sehen. Die besonders auch in der Stimmung der Angst wurzelnden fundamentalontologischen Überlegungen des damals ebenfalls in Marburg lehrenden Heidegger und dessen theologische Rezeption Bultmanns lassen ihn ebenso wie die erstarkende Kierkegaardrezeption der Zwanzigerjahre kalt. Otto sieht bei ihnen die Ursprünglichkeit der Religion untergraben, da „Existenz“ als unhintergehbare Kategorie „vor der Religion“ konstruiert sei, vgl. SU, 33. Der Krieg mag zusätzlich zum Erfolg des 1917 erstmals erschienenen Hauptwerks Ottos beigetragen haben. Eindrücklich belegt sind die Lektüreerlebnisse an der Front z. B. bei Paul Tillich oder Werner Elert. Vgl. hierzu DH, 18, mit der berüchtigten Zuspitzung Ottos: „Die Gänsehaut ist etwas „Übernatürliches“.
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stoßen, wenn er fragt: „Warum gilt dies Gefühl [der dämonischen Scheu] nicht als „natürlich“ im Unterschied von „natürlicher Furcht“?²⁹ Otto scheint besonders im Falle des Angstbegriffs jeder liberalen Kulturtheologie die Tür vor der Nase zuschlagen zu wollen. Die Abkapselung religiösen Erlebens von jeder vermeintlich profanen Kultur lässt schließlich auch den mit Otto freundschaftlich verbundenen Paul Tillich als Kritiker auf den Plan treten. Tillich befürchtet, das Erkenntnisvermögen zerfiele bei Otto auf fragwürdige Weise in zwei Reiche, indem die Welt in eine schlechthin profane und eine schlechthin numinose Sphäre aufgespalten werde.³⁰ Tillich hingegen bezweifelt, dass „irgend eine Kulturerscheinung schlechthin außerhalb der heiligen Sphäre“ stehen könne, ohne auf einen unbedingten „Grund“ hin transparent zu sein. Er fordert daher eine „Analyse sämtlicher religiöser und kultureller Ausdrucksformen […], durch welche die verhängnisvolle Nebenordnung von Religion und Kultur, von Irrationalem und Rationalem, von Heiligem und Profanem aufgehoben ist und das Heilige als das Unbedingte zu dem tragenden und zugleich verzehrenden Feuer aller Kultur wird. Erst in einer solchen zukunftsgerichteten Divination würde der Durchbruch, den Ottos Analyse des Heiligen bedeutet, zu voller Auswirkung kommen.“³¹
Derweil ist die empirische Ähnlichkeit der numinosen „Scheu“ zu dem, was gemeinhin mit dem Begriff Angst umschrieben wird, Otto freilich nicht entgangen. Er versucht daher seine etwas sperrige Unterscheidung natürlicher und „echt numinoser“ Gefühle anhand des Analogiebegriffs zu erklären. Einschlägige Naturerlebnisse, Motive aus Märchen, die man mit Adjektiven wie gruselig, grotesk oder paradox beschreibt, sind für Otto ebenso wie Angst und Furcht Analogien, die stets in der Gefahr der „Verwechslung mit der Kategorie des Heiligen“ stehen.³² Daher betont Otto: aus „Gespenstern“, „Rübezahl“ und dem „Waldschrat wird nie ein wirkliches numen“, sie sind „zur bloßen Spukfurcht degenerierte Absenker“ und
Vgl. den Brief Bultmanns an Otto vom 6.4.1918, zit. nach Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum (Anm. 26), 131 (Ergänzung in Klammer: P.S.). Süffisant setzt Bultmann hinzu, der „‚natürliche‘ Mensch“ könne sich „vorzüglich“ auch ganz natürlich grauen – und bestreitet, dass man einem „numinosen Erlebnis“ schon empirisch ansehen könne, dass es etwas Besonderes, etwas auf Übernatürliches zielendes sei. Vgl. Tillichs Vorschlag zur „Weiterarbeit“ in: Paul Tillich, Die Kategorie des ‚Heiligen‘ bei Rudolf Otto (urspr. in: Theologische Blätter 2, 1923), in: Gesammelte Werke XII, 184– 186. Vgl. zu Tillich und Otto in diesem Band die Beiträge von Werner Schüßler und Christian Danz, sowie ferner: Peter Schüz, Rudolf Otto und Paul Tillich – biographische und theologische Überlegungen, in: Rudolf Otto: Subjekt und Religion, hg.v. Thorsten Dietz/Harald Matern, Zürich 2012, 197– 236. Vgl. Paul Tillich, Die Kategorie (Anm. 30), 186. Vgl. DH, 172.
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„Abfall-produkte“ des dämonischen Schauers.³³ Niemals können, so Otto, die beiden Gefühlssphären ineinander übergehen – bestenfalls kommt es zu gelegentlicher „Angesellung eines art-besonderen nämlich eines numinosen Gefühlsmomentes an ein ‚natürliches‘“.³⁴ Offen bleibt aber noch immer die Frage, wie die Analogie vom numinosen Original zu unterscheiden ist. Der Schlüssel hierzu ist nach Meinung Ottos genaue empirische Beobachtung und Analyse. Durch ein immer besseres „Sortieren“ möchte er „Gefühle auf Qualitäts-unterschiede“ untersuchen und durch „seelische Zergliederung“ an der „körperlichen Rückwirkung“ erkennen, ob ein Erlebnis numinos ist oder nicht – dies erklärt sein empirisches Interesse für Kindheitserlebnisse.³⁵ Aus gegenwärtiger Sicht muss jene empirische Unterscheidung von Angst und „tremendum“, von natürlichen und numinosen Gefühlen eher befremdlich wirken. Die seit Otto immer weiter entwickelte psychologische Wissenschaft beurteilt seine empirischen Studien heute als kaum mehr haltbar.³⁶ Allerdings wäre es ein schweres Missverständnis, Otto rein psychologisch zu beurteilen. Seine eindrückliche Wiederentdeckung der Religion, die ihm den Titel „Schleiermacher redivivus“ einbrachte, ist kein psychologisches, sondern ein in erster Linie theologisches Unternehmen, das bis in Ottos frühste Lutherstudien zurückreicht. In einem letzten Schritt soll daher der Versuch unternommen werden, den hinter den empirischen Untersuchungen stehenden theologischen Fluchtpunkt in Ottos Konzept auszumachen, der für eine theologische Deutung der Angst auch heute von Belang sein könnte.
3 Ausblick: Skizze einer Theologie der Angst nach Rudolf Otto Ottos religionskundliche und psychologisch-empirische Studien waren kein Selbstzweck, sondern dienten der Ausführung eines theologischen Grundgedankens, der gerade am Phänomen der Angst besonders deutlich wird. Der Fokus von Ottos Studien ist nicht der Nachweis des banalen Vorhandenseins von „nu Vgl. GÜ, 46 f. DH, 32. Vgl. DH, 18 und ferner zur empirischen Erforschung religiöser Erlebnisse GÜ, 280 f. Vgl. exemplarisch Mario Wandruszka, Angst und Mut (Anm. 4), 65, der bei aller Wertschätzung Ottos gegen ihn einwenden muss: „Nein. Die Angst vor einem Überirdischen läßt sich nicht durch besondere Körperempfindungen von der gewöhnlichen Angst trennen. Es ist vielmehr in tausenderlei Gestalt immer die gleiche menschliche Angst, die als letzten unsichtbaren Urheber aller dunklen Ängste einen jenseitigen Zorn sucht.“
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minoser Scheu“, sondern die Frage nach der theologischen Rede von dem, worauf sich jene „Scheu“, jenes „mysterium tremendum“, jenes religiöse Angsterlebnis richtet. Es sei daher vorgeschlagen, den eigentlichen Unterschied zwischen numinoser und natürlicher Angst nicht nur in der Phänomenologie des Erlebens, sondern in ihrem Gegenstand zu suchen.³⁷ Der Gegenstand natürlicher Angst und Furcht ist laut Otto immer und ausschließlich innerhalb der natürlichen Welt zu finden – und sei es nur in der Form eines Gedankens, der letztlich auch rationaler Teil der natürlichen Welt ist.³⁸ Der Grund eines „echt numinosen“ Angsterlebnisses hingegen „entzieht sich aller Sagbarkeit“ und teilt sich allein als irrationales Gefühl mit. Als Wovor jener Angst lässt sich bestenfalls nennen: das gegenüber der Welt „Ganz andere“.³⁹ Als Folge der unmittelbaren Begegnung mit dem sich rationaler Erfassung entziehenden Numinosen entsteht dennoch die Ahnung eines erfahrenen „Objekts“ in der Gestimmtheit, die Otto „Kreaturgefühl“ nennt. Es ist die unmittelbare Gewissheit, vom Erfahrenen restlos unterschieden zu sein, eine radikale Selbstunterscheidung, die intuitiv und unabweisbar die eigene Endlichkeit, Beschränktheit und Nichtigkeit gegenüber dem schlechthin Heiligen und Höchsten körperlich fühlen lässt. Es handelt sich um einen „Begleit-reflex im Selbstgefühl“, der das „Gefühl eigener Nichtigkeit, eigenen Versinkens gegenüber dem in der ‚Scheu‘ objektiv erlebten Schauervollen und Großen selber“ erzeugt.⁴⁰ Der fundamentale Unterschied zwischen natürlicher und numinoser Angst liegt also weniger allein in der phänomenologischen Erscheinungsform als in dem hierin begegnenden „Objekt“. Selbiges ist im Falle der natürlichen Angst immer ein tatsächliches Objekt und Teil der Welt – und sei es nur als Vorstellung. Das in numinoser Angst als „Scheu“ begegnende numinose Objekt dagegen ist in jeder Hinsicht ein Mysterium – es ist von der Welt restlos zu unterscheiden und fällt nicht unter ihre Begriffe. Zugleich erzeugt jene „Scheu“ jedoch ein „Kreaturgefühl“, das dem Erlebenden die Gewissheit der schlechthinnigen Bezogenheit auf den geheimnisvollen Grund des Erlebnisses nahelegt.
Dementsprechend fühlt sich Otto von Heinrich Rickert wohlverstanden, der schon früh bemerkte, das Heilige sei nicht „der psychische Akt sondern sein ‚Gegenstand‘“ im Sinne einer „Religionsphilosophie als Wert-wissenschaft“, vgl. AN, VI. Vgl. DH, 77: „Bei gemeiner Furcht kann ich in Begriffen angeben, kann ich sagen, was das ist, was ich befürchte“. Vgl. DH, 76 f.: „Was aber das sei, was ich in der ‚Scheu‘ scheue […], das sagt kein Wesensbegriff. Es ist ‚irrational‘“. Im Kontext der im Anschluss an Fries entworfenen „Ahnungslehre“ kann Otto an anderer Stelle sagen: „Was aber das Begreifen nicht vermag, das vermögen wir im Gefühl.“ (KFR, 83). DH, 19 f.
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Fatal wäre es allerdings, aus diesen Überlegungen Ottos die Vorstellung von einem übernatürlichen Etwas abzuleiten, das supranatural auf den Menschen wirkt.⁴¹ Der von Otto vermeinte Vorgang, den er als „Divination“ bezeichnet, bedeutet keinen supranaturalen Einbruch in die Natur. Vielmehr kommt an einem restlos weltlichen Objekt intuitiv etwas im erlebenden Subjekt zur Anschauung, was über dieses Objekt und über die Welt hinausweist, ja ihr sogar restlos entgegensteht. Die angstvolle Begegnung mit dem „Ganz anderen“, die Otto besonders bei Kindern beobachtet, ist also – so ließe sich resümieren – keine Einwirkung von etwas Übernatürlichem, sondern eine Begegnung mit einem Stück Welt, an dem das schlechthin über sie Hinausgehende und alles Übersteigende unmittelbar, intuitiv und unabweisbar im Gefühl als das Göttliche bewertet wird. Es ist nicht zu sagen, was das Erlebte ist, vielmehr ist allein die Beschreibung des Gefühls möglich, in dem sich das Erlebte spiegelt. Beschaut man jenes numinose Gefühl genauer, so ähnelt es gewöhnlicher Angst oft zum Verwechseln – und geht doch über sie hinaus, weil sein Grund nicht eine konkrete Bedrohung ist, sondern eine Gewissheit, die sich auf den Fühlenden selbst richtet: die Gewissheit der eigenen Vergänglichkeit und des restlosen Verschiedenseins von dem, was das Göttliche ist. In traditioneller Terminologie geht es um die Gewissheit des eigenen Kreatur-seins im Gegenüber des allmächtigen Schöpfers. Dieses sich im Gewande der Angst einstellende Kreaturgefühl ist letztlich ein Unterscheidungserlebnis, das die Unterscheidung allen weltlichen Seins vom Göttlichen unmittelbar wertet, vergegenwärtigt und fühlbar macht. Religion ist demnach eine rationale Verarbeitungsform und Redeweise, die das im religiösen Angsterlebnis aufbrechende Kreaturgefühl verarbeiten, kultivieren, und zur Botschaft werden lässt. Es klingt in diesem Sinne wie Ottos Vermächtnis einer Theologie der Angst,wenn er resümiert: „Wir suchten in D.H. das Irrationale in der Idee des Göttlichen und fanden es im Numinosen, und indem wir es hier fanden, ward uns klar, daß die rationalistische Spekulation den Gott in Gott verdeckt. Ehe Gott ratio ist, die absolute Vernunft, der persönliche Geist, der sittliche Wille, ist er das ganz Irrationale, das „Ganz Andere“, das völlige Wunderding. Wir wurden zu den Gefühlen von Gruseln und Spuk getrieben, um durch diese Karikaturen echten „Grauens“ unsere allzu rationalisierten Gefühle aufzulockern und die Tiefe zum Schwingen zu bringen.“⁴²
Ob nun jenes „Grauen“ von dem, was man landläufig Angst nennt, empirisch sauber zu scheiden ist, ist heute mehr denn je fraglich und für die Theologie vielleicht auch gar nicht so entscheidend. Mit Paul Tillich wird man vielmehr fragen dürfen, ob nicht vielmehr jede Form der Angst letztlich auf unbedingte „Tiefe“ hin transzendierbar ist,
Zu Ottos strengem Anti-Supraturalismus vgl. insbes. Ottos Schrift KFR, sowie DH, 173 f. GÜ, 261 (kursiv im Original).
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die sie – als Reflex, wie Otto sagt – zum Kreaturgefühl werden lässt. Der entscheidende Gedanke für eine Theologie der Angst im Anschluss an Otto ist der des Kreaturgefühls als Unterscheidungserlebnis. Ganz gleich, wie sie nun empirisch genau entsteht oder verläuft, muss die Angst, wenn sie religiös sein soll, letztlich genau das erzeugen, was Otto „Kreaturgefühl“ nennt – ansonsten ist sie nur Gegenstand der Psychopathologie. Egal wer oder was der physische Auslöser der Angst ist – religiös ist das Angsterlebnis erst dann, wenn es den Menschen in die intuitive Selbstunterscheidung vom numinosen Objekt führt und in ihm die Gottesidee als „Grund und Abgrund zugleich“ vergegenwärtigt.⁴³ Die Erlösungsbotschaft des Christentums, das die unüberbietbare Geborgenheit des Menschen in jenem göttlichen Grund und in Jesus Christus die Überwindung der restlosen Geschiedenheit des Göttlichen von der Welt verkündet, findet am Phänomen der Angst eine eindrucksvolle Veranschaulichung. Es erweist sich für Otto das Christentum gerade in jenem „tremendum“ und Kreaturgefühl als „‚Erlösungsreligion‘ schlechthin“, indem es die Überwindung der in sich ruhenden Endlichkeit der Welt gerade im angstvollen Gefühl schlechthinniger Kreatürlichkeit verkündet.⁴⁴ Otto sieht förmlich den Kern des Christentums in jener Überwindung der sich am Kreaturgefühl intuitiv zeigenden „Kreatürlichkeit überhaupt, Überwindung von Gottesferne und Gottesfeindschaft, Erlösung von Sündenknechtschaft und Sündenschuld“.⁴⁵ Geradezu bekenntnishaft hat Otto die im religiösen Angsterleben wirksame christliche Erlösungsbotschaft in seiner Deutung der synoptischen Gethsemane-Perikope zu beschreiben versucht: Im nächtlichen Ringen Jesu wird das „tremendum mysterium“ als im Göttlichen aufgehobene Wirklichkeit Gottes selber erlebt, die damit alles Kreatürliche, alle Weltbezogenheit überwindet in der Gewissheit, dass jenes „Zittern und Zagen bis in den Seelengrund“, jenes „Erschauern der Kreatur […] und Rätsel voller Grauen“ letztlich „eben doch selber ‚MEIN VATER‘ ist“.⁴⁶ Anders als natürliche Angst, die allein auf die in sich ruhende Welt und ihre Bedrohungen gerichtet bleibt, wird in jenem sich aus „Scheu“ und „tremendum“ hebenden Kreaturgefühl paradoxerweise intuitiv die Erlösung und Überwindung aller Die Tatsache, dass Otto mit dem Begriff „Grund und Abgrund“ eine Formulierung Tillichs aufgreift, könnte vielleicht als eine gewisse Öffnung hin zu der oben geschilderten kulturtheologischen Anfrage Tillichs gedeutet werden, vgl. SU, 190. Vgl. DH, 198: „die Kluft zwischen Kreatur und Schöpfer, zwischen profanum und sanctum, zwischen Sünde und Heiligkeit wird durch die höhere Erkenntnis aus dem Evangelium Christi nicht geringer sondern größer, und aus spontaner Regung des dem korrespondierenden Gefühles wird hier, wie immer, eben das worin das Heilige selber sich offenbart zugleich als Mittel und Zuflucht ergriffen sich ihm zu nahen.“ DH, 191. DH, 105 (Hervorhebungen in Kapitalschrift im Original).
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weltlichen Gottesferne erlebt. Religion ist demnach kein pauschales Heilmittel gegen Angst.⁴⁷ Vielmehr bringt Religion selbst ein angstvolles Kreaturgefühl mit sich, das tief in ihrer Wirklichkeit verankert ist und den Menschen auf geheimnisvolle Weise mit dem Göttlichen als des „Ganz anderen“ und mit sich selbst konfrontiert. Ottos bleibendes großes Verdienst ist es, jene intuitive Selbstunterscheidung des Menschen von der Idee des Göttlichen in ihrer irrationalen Dimension für die Moderne wiedergewonnen und in der Lebenswirklichkeit verankert zu haben. An Ottos Wiederentdeckung der angstvollen Momente religiösen Erlebens, der numinosen „Scheu“, überzeugt bis heute der Gedanke, dass es sich beim religiösen Gefühl um eine Weise der Erkenntnis handelt, die in ihren psychisch-pathologischen Erscheinungsformen weder aufgeht noch erfassbar ist.Worum es dem Christentum geht, ist demnach keine Heilung der auf die Welt gerichteten „natürlichen“ Ängste, sondern die Gewissheit einer eben im völlig artbesonderen numinosen Angsterleben – der numinosen „Scheu“ – zum Durchbruch kommenden Überwindung der in sich selbst beschlossenen Endlichkeit der Welt in der Begegnung mit dem göttlichen „Ganz anderen.“ Im Johannesevangelium hat jener Gedanke der Überwindung der auf sich selbst bezogenen Welt und ihrer profanen Ängste seine vielleicht schönste Formulierung gefunden (Joh 16,33): „In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden“.
Der Versuch, die Religion als volkstümliches Therapeutikum gegen Angstneurosen zu verstehen, wird bis heute immer wieder unternommen. Otto kann als der entschiedenste Gegner dieser These gelten, da er die pathologische Angst vollends der Psychopathologie überlässt, die religiöse Angst als „Kreaturgefühl“ hingegen zum eigentlichen Kern religiösen Erlebens erklärt.
Saskia Wendel
Das Kreaturgefühl bei Rudolf Otto – Gewissheit oder Glaube? 1 Im dritten Kapitel seiner Schrift Das Heilige reflektiert Rudolf Otto unter der Überschrift „Das Kreaturgefühl als Reflex des Numinosen Objekt-Gefühls im Selbstgefühl“ über das Gefühl einer religiösen Ergriffenheit, das er als Kreaturgefühl bezeichnet.¹ Otto bezieht sich hier explizit auf Schleiermachers Überlegungen zum religiösen Gefühl als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, kritisiert Schleiermacher jedoch zugleich in zwei Punkten. Zum einen ist ihm zufolge die Bestimmung „Abhängigkeitsgefühl“ zu unspezifisch, da sich das religiöse Gefühl unbeschadet bestimmter Analogien qualitativ von Abhängigkeitsgefühlen unterscheide, die sich im Leben einstellen, etwa Gefühle eigener Unzulänglichkeit, Ohnmacht oder Gehemmtheit. Die besondere Qualität des religiösen Gefühls werde, so Otto, auch durch die Hinzufügung „schlechthinnig“ noch nicht wirklich erfasst. Zum anderen schließe Schleiermacher vom Selbstgefühl auf das Abhängigkeitsgefühl, also von meiner Abhängigkeit auf eine Ursache außer mir, auf das Göttliche, wovon ich mich in meinem Selbstgefühl der Abhängigkeit abhängig fühle.² Otto bestimmt das Kreaturgefühl deshalb in Absetzung von Schleiermacher zunächst als „zugleich qualitativ etwas anderes […] als alle natürlichen Abhängigkeits-gefühle. Ich suche nach einem Namen für die Sache und nenne es Kreaturgefühl – das Gefühl der Kreatur die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem was über aller Kreatur ist.“³ Dadurch glaubt Otto das Abhängigkeitsgefühl als schlechthinnige Abhängigkeit von einem absoluten Grund spezifiziert zu haben, dem gegenüber sich das Subjekt als Nichts, als nichtig erlebt und dementsprechend als kontingent, also als Kreatur: Nicht aus sich selbst kommend, nicht seiner selbst mächtig, nicht notwendig, sondern zufällig existierend, nicht ewig existierend, sondern vergänglich, endlich. Kreaturgefühl und Kontingenzerleben fallen hier zusammen. Des Weiteren bestimmt Otto das Kreaturgefühl nicht als Folge des Selbstgefühls, nicht als im Selbstbewusstsein aufkommend und sich in diesem als dessen höchstes Moment vollziehend,
Vgl. DH, 8 – 12. Vgl. DH, 9 f. DH, 10.
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sondern als „subjektives Begleitmoment und Wirkung“, als „Schatten eines anderen Gefühlsmomentes (nämlich der ‚Scheu‘), welches selber zweifellos zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht. Das aber ist das numinose Objekt.“⁴ Das Kreaturgefühl ist also nicht Ursprung des Bezugs auf ein Absolutes, sondern umgekehrt Reflex dieses Bezugs auf ein Objekt, das als real erlebt wird, Reflex eines Gefühls eines objektiv gegebenen Numinosen. Jenes Kreaturgefühl impliziert zudem Otto zufolge eine „Abwertung des erlebenden Subjektes hinsichtlich seiner selbst. Oder anders ausgedrückt: Das Gefühl einer ‚schlechthinnigen Abhängigkeit‘ meiner hat zur Voraussetzung ein Gefühl einer ‚schlechthinnigen Überlegenheit (und Unnahbarkeit)‘ seiner.“⁵ Bei Schleiermacher ist es, so scheint es jedenfalls Otto zu sehen, genau umgekehrt: Der höchste Selbstvollzug des Subjekts und damit das „Bei sich sein“ des Subjekts beschert quasi aller erst das Abhängigkeitsgefühl, das „Von einem Anderen her sein“. Genau diese Selbstverschränkung von Selbst- und Abhängigkeitsgefühl – die ja nebenbei bemerkt gerade die Pointe des Schleiermacherschen Konzeptes ist – wird von Otto abgelehnt. Das „Vom Anderen her sein“ muss vielmehr eine tiefgreifende Ohnmachtserfahrung des Subjektes auslösen, ein Gefühl des Sich-Entrissen-werdens, eine „annihilatio“ des Selbst zur Allein- und All-Realität des Transzendenten. Diese Abwertung des Selbst sieht Otto vor allem in Traditionen der Mystik gegeben, etwa bei Meister Eckhart. Otto spricht hier auch von „Majestas-Mystik“ im Vergleich zur Einheitsmystik.⁶ Die Bestimmung des Absoluten als geheimnisvolles Numinoses, als Heiliges, zudem als Objekt außer mir, d. h. als absolute Transzendenz, als das „Ganz Andere“, wirkt so auf die Bestimmung des religiösen Gefühls als Kreaturgefühl ein und führt zudem zu einer weiteren Bestimmung dieses Gefühls durch die Momente des fascinosum, tremendum und augustum, welche durch das Objekt ausgelöst werden, durch das es bewirkt wird. Im Mittelpunkt religiöser Ergriffenheit stehen dementsprechend neben Verzückung und Ekstase Schauder, Erzittern, Verstummen, Scheu vor dem erhabenen Objekt des Heiligen. Das Gefühl der eigenen Nichtigkeit, das Kontingenzerleben, das sich im Kreaturgefühl einstellt, ist somit für Otto immer auch mit Erschauern und Scheu verbunden. Eine strikt negative Theologie, eine Konstruktion des Absoluten als radikale Transzendenz, absolutes Geheimnis, hat so deutliche Auswirkungen auf die Bestimmung des religiösen Gefühls als Kreaturgefühl. Gleichwohl stimmt Otto mit Schleiermacher sowohl in der epistemischen Bedeutung des religiösen Gefühls überein als auch in dessen
DH, 11. DH, 12. Vgl. DH, 22 ff.
Das Kreaturgefühl bei Rudolf Otto – Gewissheit oder Glaube?
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apriorischer Funktion für Religion. Das Kreaturgefühl ist als Gefühl unmittelbar, d. h. nicht begrifflich bzw. sprachlich vermittelt, zugleich gewährt es einen vorbegrifflichen, ja überbegrifflichen Objektbezug, gewährt also unmittelbare Erkenntnis, ja Gewissheit. Denn eine Erkenntnis, die sich instantan und intuitiv einstellt, und die keiner begrifflichen Vermittlung bedarf, somit auch keiner weiteren Begründung und Rechtfertigung,verleiht unmittelbare Gewissheit. Sie ist keines Beweises fähig noch bedürftig, vergleichbar der Erkenntnisform, die Aristoteles als noetisch bezeichnet hat, und die dieser auf die Erkenntnis der Axiome des Wissens bezogen hatte. Sie ist Basis diskursiven Wissens, selbst aber nicht durch diskursives Wissen zu erlangen noch zu rechtfertigen. Eine Erkenntnis durch vorreflexive Gewissheit, nicht durch reflexives Wissen: unmittelbares Erfassen, nicht reflexives Begreifen.⁷ Das Kreaturgefühl ist Otto zufolge ein eigenes, aus keinem anderen Gefühl ableitbares Gefühl, ein Urgefühl im prinzipiellen Sinne. Als unmittelbar auftretendes, intuitives Urgefühl liefert es eine Erkenntnis a priori; es handelt sich um ein noch jeder Erfahrung vorausgehendes Gefühl, ein unmittelbares Erleben, welches konkrete Erfahrung allererst ermöglicht, zugleich aber in diesen Erfahrungen konkret erlebt wird, sich in ihnen ausdrückt, konkretisiert, realisiert. Es ist nicht aus ihnen, aber auch nicht ohne sie. Es ist ein unmittelbares Gefühl, welches sich in Erfahrungen hinein vermittelt: „Es bricht auf aus dem ‚Seelengrunde‘, aus dem tiefsten Erkenntnisgrunde der Seele selber, zweifellos nicht vor und nicht ohne Anregung und Reizung durch weltliche und sinnliche Gegebenheiten und Erfahrnisse sondern in diesen und zwischen diesen. Aber es entspringt nicht aus ihnen sondern nur durch sie.“⁸ Jene Erkenntnis verleiht Gewissheit, Einsicht, die für Otto mehr ist als Glaube im Sinne von Meinen, aber auch im Sinne von Vertrauen oder festem Überzeugt-sein. Gleichwohl nennt Otto dieses Erkenntnis verleihende unmittelbare Gefühl irrational, und zwar deshalb, weil er den Bereich des Rationalen auf das Feld der Reflexion eingrenzt, das Feld des Intellekts. Das Kreaturgefühl aber entzieht sich dem begrifflichen Denken, es ist unfasslich, unbegreiflich, unsagbar. Wie das Numinose sich als das „Ganz Andere“, als absolute Transzendenz, sich dem Denken entzieht, so auch das auf das Numinose bezogene Gefühl. Zugleich aber ist es Aufgabe des Intellekts, deutend von diesem Gefühl zu sprechen, es bezeichnend zu bedeuten. Otto expliziert selbst die deutliche Parallele zur Erkenntnisform, die in der Mystik beansprucht wird. Das mystische Erkennen des Absoluten ist eine Form intuitiver, vorreflexiver und instantaner Erkenntnis jenseits begrifflich-diskursiver
Vgl. DH, 75 ff.137 ff. DH, 138.
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Erkenntnis und somit auch jenseits propositional verfassten Wissens. Mystisches Erkennen ist unmittelbares Erfassen „in einem Schlage“, in einem Augenblick. Der Mediziner und Mystikforscher Carl Albrecht stellte denn auch in seiner Studie Das mystische Erkennen einen Bezug her zwischen der sich in der unio mystica vollziehenden Erkenntnis des Absoluten und der „intellektuellen Anschauung“ bei Fichte und Schelling und bezeichnet die mystische Erkenntnis dementsprechend als Erkenntnis a priori: „Der zentrale Phänomenkern der Einsicht ist das intuitive Zufallen einer Erkenntnis apriori.“⁹ Sie konkretisiert sich in Einzelerfahrungen, geht aber diesen in Form eines unmittelbaren Erlebens noch voraus und konstituiert diese in ihrem Vollzug. Das mystische Erkennen ist jedoch, anders als Otto meinte, nicht irrational. Denn Vernunfterkenntnis ist mehr als bloße Verstandeserkenntnis, mehr als diskursives Wissen. Auch intuitive Erkenntnis ist qua Erkenntnis ein Vollzug der Vernunft, der „ratio“, und in dieser Hinsicht rational. Die Vernunft besitzt mehrere Vermögen, darunter das Vermögen des Verstandes, und ist somit nicht mit dem Intellekt schlichtweg identisch. Gerade die noetische Qualität des mystischen Erkennens, welches Otto zum Kreaturgefühl in Bezug setzt, zeichnet dieses als rational, vernunftförmig aus und nicht als der Vernunft jenseitig oder gar entgegengesetzt. Die Erkenntnisform, die Otto für das Kreaturgefühl beansprucht, ist kein „Anderes der Vernunft“, sondern eine „andere Vernunft“ im Vergleich zum Vermögen des Verstandes. Das religiöse Apriori des Kreaturgefühls ist zwar jedem menschlichen Bewusstsein in seinem Vollzug möglich, dennoch aber für Otto nicht angeboren, also keine natürliche Anlage des menschlichen Bewusstseins. Sie ist eine durch Geschichte zu realisierende, oder besser: zu aktualisierende Anlage, grundsätzlich aber nur potentiell gegeben. Sie kann, muss aber nicht realisiert werden. Sie liefert die Möglichkeit, religiös zu sein, zwingt aber nicht dazu, religiös zu sein. In dieser Hinsicht ist niemand von Natur aus religiös, besitzt niemand Religiosität als anthropologische Grundkonstante: „Erkenntnisse a priori sind nicht solche die jeder Vernünftige hat (das wären ‚angeborene‘), sondern die jeder haben kann. Höhere Erkenntnisse a priori sind solche die jeder haben kann aber erfahrungsgemäß nicht durch sich selber sondern ‚erweckt‘ durch andere höher Befähigte. Die allgemeine ‚Anlage‘ ist hier nur das allgemeine Vermögen der Empfänglichkeit und ein Prinzip der Beurteilung nicht aber der eigenen selbständigen Hervorbringung der betreffenden Erkenntnisse. Solche Hervorbringung hat nur statt in den ‚Begabten‘. […] In der Masse ist […] die Anlage nur als die Empfänglichkeit vorhanden, das heißt als Erregbarkeit
Carl Albrecht, Das mystische Erkennen. Gnoseologie und philosophische Relevanz der mystischen Relation, Bremen 1952, 148.
Das Kreaturgefühl bei Rudolf Otto – Gewissheit oder Glaube?
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für Religion, und als das Vermögen eigenen freien Anerkennens und Beurteilens. Das besagt: Allgemeine Anlage ist der ‚Geist‘ nur in der Form des ‚testimonium spiritus‘. Die höhere Potenz und Stufe aber, unableitbar aus der ersten Stufe bloßer Empfänglichkeit, ist hier der Profet [sic!], das heißt der den Geist als das Vermögen der ‚Stimme von innen‘ und als das der Divination und, durch beide, als religiöse Produktionskraft besitzt.“¹⁰ Hier zeigt sich eine eigentümliche Ambivalenz: Einerseits ist das Kreaturgefühl ein allgemeines und so prinzipiell allen möglich. Die Gewissheit, die das Kreaturgefühl gibt, die religiöse Intuition, ist zudem Basis dafür, dass religiöse Überzeugungen autonom als wahr erkannt und anerkannt werden. Das eigene, persönliche Erleben steht einem bloßen Autoritäts- oder Traditionsglauben gegenüber, somit einem jeglichem Fideismus. Entgegen der Behauptung der Abwertung des Subjekts im Kreaturgefühl gewinnt hier das Subjekt bei Otto neue Bedeutung, das Glaubenssubjekt, das aus eigener Verantwortung, aus eigener, nicht fremder Einsicht, glaubt, religiös ist. Gleichzeitig ist der Rekurs auf die eigene Erfahrung Kriterium der ‚Unterscheidung der Geister‘, Kriterium auch für die eigene religiöse Wahl, die eigene Entscheidung für oder gegen bestimmte religiöse Überzeugungen, Praxen, Systeme. Hier nimmt Otto quasi die Theorie religiöser Individualisierung vorweg: Das Individuum entscheidet über seine eigene religiöse Praxis, es kann sich zu religiösen Traditionen verhalten, auch verändernd verhalten, und Quelle dieser Entscheidung ist die eigene religiöse Erfahrung und letztlich das religiöse Gefühl. Doch die schon erwähnte Ambivalenz zeigt sich darin, dass Otto dann doch noch von besonders Begabten spricht, von Religiösen höherer Potenz, die zu mehr befähigt sind als die Masse. Hier tut sich eine Leerstelle in der Reflexion auf: Wodurch sind diese besonders begabt? Durch besondere Begnadung? Durch eine besondere Geistesgabe? Was aber ist deren Wurzel? Das Numinose? Dieses entzieht sich jedoch, wie sollte es als purer Entzug zu einer besonderen Gabe fähig sein? Und wie verhalten sich allgemeines Kreaturgefühl und besondere Begabung zueinander? Hier lauert eine Asymmetrie, eine Ungleichheit in der Möglichkeit religiösen Erlebens in der Differenz zwischen Allgemeinem und Besonderem, hier schleicht sich hierarchisches Standes- bzw. Stufendenken ein. In ihm spiegelt sich die alte theologische Unterscheidung zwischen Natur und Gnade, natürlicher und übernatürlicher Gabe, Anlage und gnadenhafter Überformung bzw. Hinzufügung – eine Unterscheidung, die genau in dieser Differenzierung problematisch ist, und zwar sowohl anthropologisch als auch theologisch. Sie ist in anthropologischer Hinsicht problematisch, weil sowohl die menschliche Vernunft als auch die menschliche Freiheit als defizitär
DH, 204 f.
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gedacht werden, als durch die Sünde entstellt und verdunkelt, was letztlich zu einer negativen Anthropologie führt. Nur der Gehorsam Gott gegenüber macht dieser Perspektive zufolge frei und ledig von der Sünde; aus sich selbst heraus kann der Mensch niemals zu Gott finden, sondern er braucht dazu immer die aufhelfende und ihm zuvorkommende Gnade Gottes. Doch entsprechend der Gottebenbildlichkeitslehre kann weder die Vernunft noch die Freiheit des Menschen so verdunkelt sein, dass sie gar nichts zum „Hören des Wortes“ beitragen könnten. Im Gegenteil bedarf es ihrer, um überhaupt das göttliche Wort vernehmen zu können. Gottes zuvorkommende Gnade besteht dann genau besehen nicht in nachträglichen Akten des Aufhelfens und Hinzufügens, sondern darin, dass er sein Geschöpf sich ihm gleich geschaffen hat, als Bewusstsein, als Freiheit, und es macht die Würde des Geschöpfes aus, diese guten Gaben Gottes gebrauchen zu können und zu dürfen. In theologischer Hinsicht ist die Unterscheidung von „natürlich“ und „übernatürlich“ problematisch, weil Gott in seinen nachträglichen übernatürlichen Gnadenakten eigentlich beständig sein eigenes Schöpfungshandeln korrigieren müsste; er müsste ständig nachjustieren. Dann aber wird zum einen im Blick auf die Prädikate Allmacht und Allwissenheit ein Widerspruch in den Gottesbegriff eingeschrieben, und zum anderen wird ein interventionistisches Gottesverständnis formuliert. Das aber ist erstens nicht frei von Anthropomorphismen, und zweitens handelt es sich mit Blick auf die These der sogenannten mentalen Verursachung und mit Blick auf die These der kausalen Geschlossenheit der Welt Probleme ein, die schwerer wiegen als die vermeintliche Lösung des Natur-Gnade-Problems.
2 Damit bin ich bereits bei meinen kritischen Anmerkungen zu Ottos Überlegungen zum Kreaturgefühl angelangt. Neben der schon erwähnten Problematik der Differenz zwischen allgemeinem Gefühl und besonderer Begabung sind Ottos Bestimmungen des Kreaturgefühls meiner Ansicht nach in zwei weiteren Punkten problematisch. Der erste Punkt betrifft die These der „Abwertung des Selbst“ und die damit verknüpfte Bestimmung insbesondere der Mystik Meister Eckharts als „Majestas-Mystik“, verbunden mit einer strikt negativen Theologie, der zweite Punkt betrifft die epistemische Bestimmung des Kreaturgefühls als unmittelbares Gewissheitserlebnis. Zunächst zum ersten Punkt: Meines Erachtens hat Otto die Pointe der Verschränkung von Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis, die nicht nur Schleiermachers Religionsverständnis auszeichnet, sondern auch die Mystik gerade in der Tradition der Mystik Meister Eckharts, nicht wirklich verstanden. Schon die Mystik
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des Mittelalters zeichnet ja in der Herzens- bzw. Seelengrundlehre eine „Verinwendigung“ Gottes vor, die dann in späteren Traditionen, etwa bei Nikolaus Cusanus und radikalisiert bei Giordano Bruno, dann später auch bei Schleiermacher oder im Deutschen Idealismus unter Bezug auf neuzeitliche Bewusstseinstheorien weiter entfaltet werden. Gott bzw. das Absolute ist hier weder radikale Transzendenz bzw. das „Ganz Andere“ noch das Numinose,vor dem man in erster Linie Scheu zu empfinden hat. Das mystische Gottesverständnis zeichnet ja gerade die Vermittlung von Immanenz und Transzendenz des Göttlichen aus: Das Absolute ist schlechthin unbedingter, selbstursprünglicher Grund von allem, was ist, und darin, in seiner Unbedingtheit und in seiner Aseität, einerseits von jeglicher Kreatur unterschieden, die sich diesem Grund verdankt – Stichwort „Schöpfungsdifferenz“ –, andererseits aber ist dieser Grund als Grund der Kreatur ganz in diese eingelassen – Stichwort „Gottesgeburt im Seelengrund“; im Grund ist das Geschöpf eins mit seinem göttlichen Grund, „ein und dasselbe Sein“ (Eckhart), da es neben dem Absoluten nicht noch ein anderes Sein geben kann. Das Verhältnis zwischen Gott und Kreatur ist als Verhältnis einer Einheit in Unterschiedenheit bestimmt, und dementsprechend ist das Göttliche kein „deus absconditus“, sondern derjenige, der der Seele einwohnt. Kein Gott also, vor dem die Kreatur zittert und zagt, sondern der sie zur „Gottesminne“ verlockt, der sie zur Einung in den Grund hinein zieht. Die Mystik beschreibt somit nicht Scheu, Erschaudern, Erstarren, sondern Intimität, Nähe, Eros,Verlangen, also das genaue Gegenteil von „Majestas-Mystik“. Und auch wenn Gott in seinem Grund stets auch Abgrund ist, so bleibt doch die für die Mystik so charakteristische Spannung von Nähe und Distanz, Präsenz und Absenz, Grund und Abgrund, die gerade nicht einseitig aufgelöst wird entweder in eine Metaphysik der Präsenz oder in eine extreme Form negativer Theologie. Ein weiteres kommt noch hinzu: Wäre das Absolute tatsächlich so wie von Otto dargestellt ein „Objekt außer mir“, drohte eine Verdinglichung Gottes, eine Verwechslung mit einem Seienden. Doch Gott ist „weder Dies noch Das“ (Eckhart), kein einzelnes Seiendes neben anderem Seienden, keine „res“ und somit auch kein externes Objekt, sondern Prinzip, Grund all dessen, was mir zum Objekt werden kann, Grund auch meiner selbst. Genau diesem Missverständnis einer Objektivierung Gottes hat die „Verinwendigung“ Gottes Einhalt geboten; ihr entspricht im Übrigen ein Offenbarungsverständnis, das Offenbarung nicht mehr instruktionstheoretisch als Informationsvermittlung zu glaubender Wahrheiten über Gott bzw. über „Tatsachen“ versteht, sondern als kommunikativen Akt göttlicher Selbstmitteilung. Ebenso unzutreffend sind Ottos Bemerkungen über die notwendige Abwertung des Selbst, die sich im Kreaturgefühl vollziehe. Es ist ja vielmehr umgekehrt, auch in mystischen Traditionen: Die Einung mit Gott vollzieht sich im Seelen-
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grund, neuzeitlich gesprochen: im Grund des Bewusstseins. Dieser Grund ist einerseits Grund des Bewusstseins, folglich Grund und Möglichkeitsbedingung des Selbstbewusstseins, andererseits aber zugleich Gottes Grund – mir zu eigen und mir entzogen. Gott ist somit nicht „über“ dem Selbst oder ihm entgegen, sondern ist die tiefste Tiefe des Selbst, dessen Mitte, dessen Innerstes, und gerade darin auch „über mir“. Damit führt der Weg hin zur Einung mit Gott nur über das Selbstbewusstsein. Die Selbsterkenntnis ist Möglichkeitsbedingung der Gotteserkenntnis; letztere beginnt mit ersterer und bricht in ihr durch. Der Bezug auf mich ist Möglichkeitsbedingung des Bezugs auf ein mir begegnendes Anderes, nicht umgekehrt. Auch wenn Gott das Selbst konstituiert insofern, als er es gesetzt hat im Setzen des Grundes, und auch wenn Gott in dieser Hinsicht dem Selbst „voraus“ ist, beginnt doch der Erkenntnisweg beim Selbst und im Selbst. Auch im ekstatischen „raptus“, in der mystischen Einung, löst sich keineswegs das Selbst vollständig auf, sondern es wird in diese Einung mit Gott hinein transformiert, ohne die Differenz zwischen Gott und Kreatur gänzlich aufzuheben. Die beinahe sprichwörtliche mystische „vernichtigkeit sein selbs“ bezieht sich allein auf die Preisgabe des „selbstischen Ich“, eines nur um sich selbst kreisenden Selbst, unfähig zur Öffnung für das ihm begegnende Andere; bezieht sich auf Bilder, die das Selbst von sich selbst macht und sich darin verschließt. In der Einung findet das Selbst nicht allein zu Gott, sondern zu sich selbst. Das mystische Erkennen als unmittelbares Erkennen ist hier Erkenntnis des Ganzen in einem Augenblick: Selbsterkenntnis, Welterkenntnis und Gotteserkenntnis in einem einzigen „Nu“: dem Sinken in den Grund der Seele.¹¹ Das zweite Problem, der Gewissheitsanspruch, eint Otto sowohl mit Schleiermacher als auch mit der Mystik, und dies zum einen aufgrund der soeben skizzierten Erkenntnisform: intuitiv, unmittelbar, vorreflexiv, und zum anderen aufgrund der Verwobenheit mit der Selbsterkenntnis. Letztlich weiß das Selbst um Gott so gewiss, wie es um sich selbst weiß. Die Existenz eines Absoluten leuchtet dem unmittelbar ein, der sich dieser Einsicht ganz zu überlassen vermag. Doch wird hier nicht epistemisch zu viel beansprucht? Es lässt sich fragen, ob es überhaupt eine unmittelbare Gotteserkenntnis geben kann, wobei es hier nicht um die Bestreitung der Möglichkeit unmittelbarer, intuitiv sich vollziehender Erkenntnis überhaupt gehen soll, sondern spezifisch um die Möglichkeit unmittelbarer Gotteserkenntnis. Hier lauert Kantisch gesprochen die transzendentale Illusion des ontologischen Argumentes sowie die Gefahr, dass man die Erkenntnis des Absoluten quasi für „irrtumsimmun“ erklärt. Denn unmittelbare Gewissheit
Vgl. hierzu ausführlich Saskia Wendel, Affektiv und inkarniert. Ansätze Deutscher Mystik als subjekttheoretische Herausforderung, Regensburg 2002.
Das Kreaturgefühl bei Rudolf Otto – Gewissheit oder Glaube?
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impliziert ja Irrtumsimmunität, sie schließt die Möglichkeit des Zweifels aus. Wer aber dann an Gott zweifelte, weigerte sich letztlich, das reflexiv nachzuvollziehen und anzuerkennen, was ihm eigentlich immer schon gewiss ist, verweigerte sich also willentlich einer notwendigen Erkenntnis der Vernunft. Das aber schränkte die Freiheit des Menschen ein, an Gott zu glauben oder nicht, zudem würde in letzter Konsequenz Glauben in Wissen transformiert, denn wer schon um Gott weiß, braucht eigentlich nicht mehr zu glauben. Glauben meint hier dann eigentlich Wissen, wenn auch nicht in Form reflexiven Wissens, sondern vorreflexiver Gewissheit. Die Bedeutung von Glauben als festes Überzeugtsein, als Vertrauen und Hoffen hingegen verschwindet hier zugunsten einer Transformation von Glauben in Wissen. Wer dann aber erklärte, nicht an die Existenz eines Absoluten oder an Gott zu glauben, hätte sich dann letztlich einer notwendig sich einstellenden Erkenntnis verschlossen, entweder aus Unfähigkeit oder aus willentlicher Entscheidung heraus. Der Anspruch unmittelbarer Gewissheit geht so auf Kosten der Glaubensfreiheit, der Religionsfreiheit. Die einzige unmittelbare, irrtumsimmune Gewissheit, die wir besitzen, ist die Selbstgewissheit, das „Wissen um mich“. In ihm kann ein Kontigenzerleben aufkommen, ein Abhängigkeits- bzw. Kreaturgefühl, ein Verdanktheitsgefühl hinsichtlich des Grundes seines eigenen Aufkommens, doch darin stellt sich nicht schon unmittelbar der Bezug auf ein Absolutes ein.Vielmehr beginnt hier das Feld der unendlichen Möglichkeiten der Selbst- und Weltdeutungen, ob religiös oder nicht. Denn im Selbstbewusstsein zeigt sich zwar durchaus auch die grundlegende Begrenztheit des Daseins noch vor jeder konkreten Kontingenzerfahrung, und dies sowohl in der Entzogenheit und Unfassbarkeit des Grundes des Aufkommens von Selbstbewusstsein als auch darin, dass Selbstbewusstsein nicht durch das einzelne, seiner selbst bewusste Dasein herstellbar ist. Mit dem unmittelbaren „Wissen um mich“ ist also zugleich eine Grenze dieses Wissens mitgesetzt, die jedoch erst im reflexiven Nachvollzug dieses Wissens überhaupt als Grenze markiert und bestimmt werden kann. Die doppelte Struktur der im Selbstbewusstsein gegebenen Selbstgewissheit – einerseits unzweifelhaftes Wissen um sich im Modus unmittelbarer Selbstvertrautheit, andererseits Unverfüglichkeit des Aufkommens und des Grundes dieses Wissens um sich – führt zu einer im Selbstbewusstsein sich vollziehenden Selbsttranszendierung des Daseins auf einen ihm unverfüglichen Grund hin, aufgrund dessen ihm überhaupt Selbstbewusstsein gegeben ist. Dieser Grund kann aber vielfältig gedeutet werden, in religiöser Hinsicht durch Bezug auf die Idee des Unbedingten, über die unsere Vernunft verfügt, und dementsprechend als unbedingter Grund, dem sich alles Bedingte verdankt. Es ist aber auch möglich, diesen Grund nichtreligiös zu deuten etwa als unendlicher Lebensstrom, als Sich-Ereignen bestimmter neuronaler Prozesse, als Materie. Religiöse Deutungen beziehen sich sehr wohl auf ein Ab-
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Saskia Wendel
hängigkeitsgefühl im Sinne eines im Bewusstseinsvollzug sich einstellenden Kontingenzerlebens, doch erst im deutenden Bezug auf die unserer Vernunft eingeschriebene Idee des Unbedingten wird dieses Gefühl als Abhängigkeit von einem schlechthin Unbedingten und so als Kreaturgefühl bestimmt. Diese Deutungen vollziehen sich im Feld des Diskursiven; sie bedürfen, da sie mit Letztgültigkeitsansprüchen versehen sind, rationaler Rechtfertigung, guter Gründe für ihren Geltungsanspruch. Im Zusammenspiel von Selbstbewusstsein, Kontingenzerleben und Deutungspraxen kommen verschiedene, miteinander konkurrierende Selbst- und Weltdeutungen mit entsprechenden konkreten Erfahrungen, Überzeugungen und Lebenspraxen auf, und das Selbst kann zwischen ihnen frei wählen, um seinem Leben Sinn und Richtung zu verleihen. In dieser Hinsicht gibt es kein religiöses „Apriori“ im Sinne eines unmittelbar sich einstellenden religiösen Gewissheitserlebens, sondern lediglich Möglichkeitsbedingungen für das Aufkommen von Religiosität und Religion: erstens das Selbstbewusstsein als Möglichkeitsbedingung der Lebensdeutung und damit der Sinngenerierung überhaupt, zweitens das in ihm sich vollziehende Kontingenzerleben, auf das sich diese Deutungen beziehen, welches aber nicht notwendigerweise schon mit einem vorgängigen Kreaturgefühl zusammenfallen muss, drittens die der Vernunft zugehörige Idee des Unbedingten, zu der man sich in seiner Lebensdeutung affirmierend wie bestreitend verhalten kann, und viertens die mit dem Selbstbewusstsein verknüpfte Freiheit im Sinne eines Vermögens der Kreativität, d. h. auch der Kreativität hinsichtlich der Lebensdeutung, und im Sinne eines Spielraums des Sich-Verhalten-Könnens, aber auch Verändern-Könnens, hier hinsichtlich konkurrierender Sinndeutungsmuster. Dann bleibt auch Raum für das, was „Glaube“ heißt – nicht ein Glaube an bestimmte Sachverhalte (ich glaube, dass), sondern ein Glaube im Sinne einer festen Grundhaltung (ich glaube): ein festes Überzeugtsein, welches nicht Gewissheit beschert, sondern zu einer Haltung des Vertrauens und der Hoffnung führt.
Jörg Lauster
Der unbekannte Otto – Ottos Glaubenslehre Es liegt auf der Hand, dass die Überschrift eine Absurdität in sich birgt. Bei einem Bäcker würde man schwerlich sagen: Der unbekannte Bäcker – seine Brötchen. Otto hatte in Marburg seit 1917 als Nachfolger von Wilhelm Herrmann einen Lehrstuhl für Systematische Theologie inne. Eine Glaubenslehre gehört zu diesem Amt so selbstverständlich dazu, wie das Brötchen zum Bäcker. Bei Otto liegen die Dinge etwas komplizierter, er war ein systematisch-theologischer Bäcker der besonderen Art.
Otto als Systematischer Theologe Einem breiteren Publikum ist Otto bekannt mit Schriften, die ihn als Religionsgeschichtlicher, Religionsphänomenologen oder Religionswissenschaftler ausweisen. Auf diesen Feldern hat er jedenfalls seine größte Wirkung erzielt. Der engere Kreis der Ottokenner wiederum weiß sehr wohl von Ottos systematischtheologischen Arbeiten.¹ Sowohl in Das Heilige selbst als auch in den späteren Ergänzungsbänden bearbeitet Otto dogmatische Themen. Die Bearbeitungsformen sind zwar von unterschiedlicher Intensität, aber festhalten kann man doch: es ist alles da, was zur Materialdogmatik gehört.² Man könnte – verallgemeinernd
Es ist hinreichend bekannt, dass Otto eine Reihe klassisch systematisch-theologischer Themen schon in Das Heilige anschneidet und dann in den 20er Jahren in verschiedenen Aufsätzen weiter ausführt. Die stetige Fortschreibung dieser Aufsätze geschieht vom ersten Band Aufsätze das Numinose betreffend dann über mehrere Ausgaben und mündet Anfang der 30er Jahre in die abschließenden Bände Sünde und Urschuld und Das Gefühl des Überweltlichen ein. Otto selbst erläutert später, dass er die einzelnen Aufsätze zunächst als Anhänge den bald erforderlichen Neuauflagen zu Das Heilige beigegeben hat. 1923 veröffentlicht er die Anhänge erstmalig gesammelt in dem Buch Aufsätze das Numinose betreffend. Aber auch diese Ausgabe schwillt weiter an zu schließlich zwei Bänden, 1929 erscheinen Das ganz Andere und Sünde und Urschuld. Das erste Buch über Das ganz Andere erscheint schließlich 1932 noch einmal erweitert als Das Gefühl des Überweltlichen; vgl. zum Folgenden GÜ, VII. Dazu gehören die Weiterführung der religionsphilosophischen Grundsatzfragen, theologiegeschichtliche Einordnungen und systematische Studien über das ‚Ganz-Andere‘, über das Numinose und eine auffallende Ausweitung auf Anwendungsfälle prominenter Art wie etwa die Mystik bei Meister Eckhardt und Luther, aber auch durchaus entlegene Beispiele. Schon in der ersten eigenständigen Ausgabe der Zusätze von 1923 finden sich auch materialdogmatische Themen. Einen Schwerpunkt bildet die theologische Anthropologie und dort besonders die Sündenlehre. Otto arbeitet an einer Transformation der Erbsündenlehre zu einer Theorie der Urschuld und
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Jörg Lauster
gesprochen und Ottos begriffliche Vorbehalte nicht mitgerechnet – von einem dogmatischen Jahrzehnt im Schaffen Rudolf Ottos sprechen.³ Solche Einteilungen sind mit Vorsicht zu genießen, denn natürlich fallen in die 20er Jahre auch große Reisen mit religionsphänomenologischen Veröffentlichungen, und auch die Beschäftigung mit den indischen Religionen nimmt stark zu. Aber als Tendenz wird man doch unbezweifelbar festhalten können, dass im Sinne der klassischen theologischen Fächeraufteilung Otto in den 20er Jahren eher Dogmatik treibt, während dann in den 30er Jahren ein starkes ethisches Interesse vorherrscht. Das ist bereits ein wichtiges Fazit. Die allgemeine Wirkungsgeschichte übergeht diesen Aspekt in Ottos Schaffen großzügig, als Systematischer Theologe wird er selten wahrgenommen. Auch im engeren Kreis der Otto-Kenner, wo all das hinlänglich bekannt ist, hat dies keine Früchte gezeigt. Es gibt definitiv zu wenige Gesamtinterpretationen der systematisch-theologischen Arbeiten Ottos.⁴ Aus den 20er Jahren liegen eine Reihe unveröffentlichter Schriften von Otto vor. Sie werfen ein interessantes Licht auf das Verhältnis von geschriebener und ungeschriebener Lehre. Bei den bekannten gedruckten Texte aus den 20er Jahren ist aus heutiger Sicht bemerkenswert, wo Otto Erklärungsbedarf sah und noch interessanter, wo er das nicht sah. Es fällt auf, dass die religionsphilosophischen Debatten um die vermeintlich realistische Schleiermacher-Kritik oder die Frage
versucht den Sündenbegriff allgemein in die christliche Idee der Verlorenheit zu übersetzen. Hinzukommen je ein Aufsatz über die prophetische Gotteserfahrung und das Auferstehungserlebnis als pneumatische Erfahrung. In Sünde und Urschuld – der Titel indiziert ja bereits deutlich die anthropologische Ausrichtung – baut Otto diese Ansätze aus. Die Idee der Verlorenheit wird mit Luthers Rechtfertigungstheologie in Verbindung gebracht, hinzukommen zwei längere Aufsätze über die Sakramentenlehre. Ein Aufsatz nimmt noch einmal das frühe Werk Ottos zur Auseinandersetzung mit dem Darwinismus auf, Naturalistische und religiöse Weltansicht, erstmals 1904 erschienen, und bewegt sich damit auf dem Terrain der klassischen Schöpfungslehre. Mit Ausnahme der Christologie, die aber wie bereits erwähnt in Ottos Schaffen immer präsent war, kann man doch ein bemerkenswertes Ergebnis festhalten: In Ottos ‚dogmatischer‘ Phase bearbeitet er mit Ausnahme der Eschatologie, die aber dann später ansatzweise in Reich Gottes und Menschensohn erörtert wird, alle klassischen Themen der Materialdogmatik. Die Vorbereitungen reichen in die Göttinger Zeit zurück. Gregory D. Alles hat in einer sehr verdienstvollen Zusammenstellung von Ottos Lehrveranstaltungen aufgelistet, dass Otto ab dem WS 1913/14 erstmals die Glaubenslehre bzw. Dogmatik in Göttingen liest, ebenso dann auch ab 1915 in Breslau. Für eine „Werkgeschichte“ der Glaubenslehre wären diese frühen Vorlesungen natürlich außerordentlich aufschlussreich; vgl. zu Alles‘ Aufstellung: http://www.religiousworlds.com/otto/ index.html, zuletzt eingesehen am 25. 2.2013, für den Hinweis danke ich Peter Schüz. Noch zu Otto Lebzeiten hatte Theodor Siegfried immerhin einen Blick auf diese Seite in Ottos Werk gelenkt, allerdings ohne große Wirkung; vgl. Theodor Siegfried, Grundfragen der Theologie Rudolf Ottos, Gotha 1931, 37– 62. Die Forschungslage ist dominiert von Ottos Konzept des Heiligen, die Materialdogmatik tritt nach wie vor ganz dahinter zurück.
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nach seiner Verwendung der Kategorie des Apriori dort Diskussionsbedarf anmelden, wo es Otto selbst am wenigstens tat, während er selbst größeres Interesse an der materialen Fortschreibung zeigt. Dieser Befund ändert sich allerdings radikal, wenn man die ungedruckten Arbeiten Ottos mit heranzieht. Otto hat an diesen Grundlegungsfragen geradezu fieberhaft weitergearbeitet, und nicht nur das, er hat sie auf die Fragen der Materialdogmatik ausgeweitet.
Ottos Glaubenslehre Wer sich mit dem ungedruckten Nachlass Rudolf Ottos beschäftigt, wird rasch feststellen, dass die Rede von dem dogmatischen Jahrzehnt keine Übertreibung ist. Mindestens drei Fassungen einer Glaubenslehre sind zwischen 1921 und 1927 erhalten, keine davon ist veröffentlicht. Otto hielt die Vorlesung 1921, 1924/25 und 1927. Dreimal die gleiche Vorlesung in sechs Jahren – Bildungspolitiker unserer Tage kämen leicht auf den Gedanken eines nicht eben fleißigen Professors. Die Sache liegt anders, es ist eben nicht die gleiche Vorlesung. Otto hat im Aufbau und der Durchführung dreimal grundstürzende Veränderungen vorgenommen, die Manuskripte liefern ein eindrückliches Zeugnis davon, wie er dramatisch mit der Glaubenslehre ringt. Von den Vorlesungen 1924/25⁵ und 1927⁶ besitzen wir Vorlesungsmanuskripte aus Ottos eigener Hand. Über Ottos Vorlesungsmanuskripten schwebt ein moralisches Schwert. Denn er selbst hat die Verbrennung dieser Vorlesungsmanuskripte verfügt. Daraus ist ein bis auf den heutigen Tag ungelöstes Dilemma entstanden. Die Manuskripte wurden nicht verbrannt, sie wurden bislang aber auch nicht veröffentlicht.⁷ Es gibt eine Reihe von Gelehrten, die diese Texte kennen. Boozer beispielsweise hat in seiner Sammlung der Ethikaufsätze Einsicht genommen. Auch in die Glaubenslehre wurde mehrfach Einsicht genommen. 1967 legte Reinhard Schinzer eine Marburger Dissertation dazu vor.⁸ Ein Übergewicht stellen wie erwähnt die Grundlegungsfragen dar, die sich um den Religionsbegriff OA 2291– 2294 (Typoskript mit handschriftlichen Ergänzungen, Otto-Archiv in der Religionskundlichen Sammlung). OA 2295. Von Otto überschrieben behandeln sie Ethik I, Das Christliche Ethos, Beziehungen des numen-profanen Ethos zum sakral-christlichen, Zivilisation und Kultur, Sittengesetz und Gotteswille (OA 2282– 2290), sowie eben die Glaubenslehre. Zur testamentarischen Verfügung Ottos vgl. den Beitrag von Martin Kraatz; zu den grundsätzlichen Schwierigkeiten Ottos mit der Glaubenslehre vgl. die Schlussbemerkung des Beitrags von Ulrich Barth in diesem Band. Leicht zugänglich ist Schinzers Zusammenfassung der Gotteslehre Ottos: Reinhard Schinzer, Wert und Sein in Rudolf Ottos Gotteslehre, in: KuD 16 (1970), 1– 31.
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drehen. Aber die Vorlesungen beschränken sich nicht darauf, sie erhalten mit Ausnahme der Eschatologie auch Ausführungen zu allen klassischen dogmatischen Themen. Das Spannende, und genau an dieser Stelle hat Otto gerungen, ist der Zusammenhang der dogmatischen Aussagen mit der jeweiligen Fassung des Religionsbegriffs. Ein Sonderfall ist Ottos erste Vorlesung zur Glaubenslehre 1921.Von Otto selbst haben wir hierzu keine Aufzeichnungen. Aber es liegt eine studentisch Nachschrift im Nachlass vor, die allerdings bislang sehr vernachlässigt wurde. Heinrich Kahl aus Hanau fertigte 1939 die Nachschrift an und erklärte: „Da es sich um Kollegnachschriften handelt, sind Lücken vorhanden, die ich leider nicht zustopfen konnte. Doch hoffe ich, dass im allgemeinen sich ein gutes Bild von den Gedankengängen des verehrten Lehrers – und der echten, christlichen Lehre, die immer mehr das Leben als die Lehre betonen muss, ergeben wird.“⁹ Die dokumentierte 18 Jahre spätere Zusammenstellung der Mitschriften, der bisweilen ausgesprochen stenographische Charakter und die weitgehende Unkenntnis über den Verfasser werfen eine Reihe von Problemen auf. Allerdings ist inzwischen durch einen außerordentlichen Glücksfall eine zweite handschriftliche Dokumentation der frühen Glaubenslehre dazugekommen. Bei dieser handelt es sich ganz offensichtlich um eine Vorlesungsmitschrift des Münchner Theologiestudenten Hermann Bechmann, der von 1919 an in Marburg bei Otto studierte. Bechmanns Aufzeichnungen setzen später als Kahl ein und enden auch früher, sie sind dafür aber ausführlicher und gründlicher.¹⁰ Heinrich Kahl, der Verfasser der späteren und umfangreicheren Nachschrift, hat in seiner zitierten Vorbemerkung durchaus ganz richtig gesehen, was die Leistung dieser Texte ist. Sie liefern ein Bild von den Gedankengängen Ottos. Und darum sind sie so wertvoll. Otto hielt die erste Vorlesung zur Glaubenslehre in Marburg 1920/21. Das fällt in die Zeit seiner ‚dogmatischen Phase‘, in der er an einer materialdogmatischen Vertiefung der Thesen aus Das Heilige arbeitete. Die uns bekannten, gedruckten materialdogmatischen Arbeiten leiden systematisch gesehen allesamt an dem Manko, dass es Einzelveröffentlichungen sind. Wir erfahren viel über die einzelnen Topoi, nicht aber darüber, in welchem systematischen Zusammenhang Otto sie zu verhandeln beabsichtigte. Schon die frühe Vorlesung bietet hier Lösungen. Sie liefert ein außerordentlich wichtiges Puzzlestück in der Rekonstruktion der Theologie Ottos, denn sie bietet eine ent-
Ms 864 (Otto-Nachlass, UB Marburg), III. Bechmanns Mitschrift ist zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Aufsatzes noch nicht im Nachlass der UB Marburg katalogisiert. Herrn Dr. Friedrich Bechmann, München, sei an dieser Stelle sehr herzlich für die Bereitstellung der Vorlesungsmitschrift seines Vaters gedankt.
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scheidende Quelle, wie Otto systematisch die Fäden seiner Materialdogmatik zusammenführen wollte. Folgende Gliederung liegt der Vorlesung zugrunde: Glaubenslehre I Religionsphilosophie¹¹ §§ 1– 6 Einleitung zur Religionsphilosophie 1. Buch: Vom Wesen der Religion §§ 1– 3 Verstehen und Apriori §§ 1– 12 Religiöses Gefühl §§ 1– 3 Allgemeine Grundlegung: Sinn der Gefühle §§ 4– 8 Religiöse Grund- und Urgefühle §§ 9 – 12 Die Wesensbestimmung der Religion selbst 2. Buch: Von der Wahrheit der Religion Glaubenslehre II¹² § 1 Einleitung zur Glaubenslehre §§ 2– 7 Quellen und Maßstäbe: Schriftlehre §§ 8 – 13 Der Geist des Christentums: die Heilsidee 1. Abschnitt/Lehrkreis: Die Mannigfaltigkeit prophetisch-biblischen Gottesgefühls §§ 1– 3 Analyse des christlichen Gottesgefühls Kapitel 1: Jahwe (§§ 1– 2) Kapitel 2: Der Gott des Evangeliums (§§1– 4) Kapitel 3: Systematische Entfaltung des christlichen Gottesbegriffs (Eigenschaftslehre §§ 1– 16) 2. Abschnitt/Lehrkreis: Die christliche Weltanschauung/Lehre von der Kreatur § 1 Einleitung Kapitel 1: Die christliche Weltdeutung (§§ 1– 7) Kapitel 2: Der Wert der Welt (§§ 8 – 11) Mensch und Menschheit Kapitel 1: Der Mensch §§ 1– 6 Kapitel 2: Die Menschheit
Belegt nur nach Heinrich Kahl, Ms 864, I. Ab hier doppelt Heinrich Kahl, Ms 864, I-III und Friedrich Bechmann.
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3. Abschnitt/Lehrkreis: Die christliche Idee der Verlorenheit = Kehrseite der Erlösung Kapitel 1: Gottesferne (§§ 1– 5)¹³ Kapitel 2: Die Idee der Verlorenheit in der Form der Gottesfeindschaft. Die Welt, die Sünde, der Fluch (§§1– 13) [unklarer Übergang bei Kahl mit „???“ gekennzeichnet,¹⁴ muss aber vom Inhalt her zur Erlösungslehre hinüberführen] … Die Bundesidee als Divination aus dem Geist Kapitel 1: Bundstiftende, göttliche, geschichtliche Selbstoffenbarung im Wirken des Christus /=einmaliger Akt/ (§§ 1– 3) Kapitel 2: Die tieferen Glaubensideen §§ 4– 6: Christus als Messias und Mysterium Ausblick¹⁵ A Christus als eikon und Sohn Gottes, auf dieser Grundlage dann: 1 Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung 2 Versöhnung und Sühnung 3 Mystik des Leidens und Sterbens Christi dann 1. spezifisch christlicher Ideenkreis: Auferstehung und Königtum Christi B Das bundstiftende Element in dem Erlebnis des Geistes/=Christentum, sofern es mystisch geneigt ist/Geist = Mystik C Gotteslehre – Kritik der trinitarischen Spekulation D Vom Heile Heil als Erlebnis und Vollzug individuelle und kollektive Gestalt Idee der Vollendung Theologie der vita religiosa mit Ekklesiologie Versuch der Theodizee
Bechmanns Aufzeichnungen enden hier. Ms 864, III. Das Inhaltsverzeichnis am Anfang nennt nur den Ausblick (Ms 864, III), die letzte Manuskriptseite führt die Gliederungspunkte fort und beschließt damit die Mitschrift (Ms 864, 76).
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Um von hinten anzufangen, in dem Schlussteil geht es, man kann es nicht anders sagen, sehr durcheinander. Ein böser Mensch könnte meinen, dass entweder der Student oder der Dozent oder am Ende gar alle beide den Faden verloren haben. Der fragmentarische Status der Vorlesungen ist ein Manko, das sich durchzieht. Aber selbst von diesem schwierigen Ende erschließt sich die besondere Pointe der frühen Glaubenslehre. Deutlich tritt Ottos Absicht zu Tage, auch klassisch dogmatische Begriffe wie den des Bundes oder des Heiles vom Erlebnisgehalt der Religion her zu verstehen. Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang die Kombination von vita religiosa mit der Ekklesiologie. Die Lehre von der Kirche soll vom inneren Erleben ihrer Mitglieder her konzipiert werden.¹⁶ Trotz ihres fragmentarischen Rangs und trotz der immensen Quellenprobleme gibt vor allem die frühe Glaubenslehre Ottos einen Entwurf von Rang zu erkennen. Otto legt die vollständige und konsequente Transformation der Dogmatik auf der Grundlage des religiösen Erlebnisses und der religiösen Erfahrung vor. Dieser immensen Transformationsleistung scheint sich Otto bewusst gewesen zu sein. Der gesamte erste Teil, als „Glaubenslehre I“ bezeichnet, dient der religionsphilosophischen Grundlegung. Die Ausführungen machen 40 Prozent des gesamten Manuskripts aus, mit einem offensichtlichen Schwerpunkt auf dem Thema des religiösen Gefühls. 20 der insgesamt 78 Seiten handeln allein davon. Die Anordnung an sich wirkt durchaus klassisch. Otto folgt der auf Schleiermacher zurückgehenden Tradition, mit Erwägungen zum Religionsbegriff und zum religiösen Gefühl als Ausgangspunkt der Glaubenslehre einzusetzen. Offensichtlich hat auch Otto diese Frage am meisten umgetrieben. Denn hier nimmt er später die gravierendsten Veränderungen vor. Ein Ausblick auf die späteren Vorlesungen zeigt, dass er die traditionell bekannte Spannung zwischen allgemeinem Religionsbegriff und dem christlichen Glauben als einer besonderen Erscheinungsform als hochgradig problematisch empfindet. Otto gibt die klassische Einteilung, wie wir sie in der frühen Vorlesung finden, schon 1924/25 wieder auf. Jetzt setzt er eine christologische Vermittlung voraus, der Religionsbegriff wird von dem Bewusstsein des Erlösungsgefühls her entfaltet. Diesen Ansatz verwirft Otto zwei Jahre später noch einmal, oder verändert ihn zumindest entscheidend. 1927 zieht er eine Lehre vom Wort Gottes – nota bene, das ist bei Otto weit mehr als die Lehre von der Heiligen Schrift – vor, integriert diese in die Ekklesiologie, um dann den Religionsbegriff ausführlich von dem Phänomen her abzuhandeln, dass die tragende Erfahrung des Christentums als eines göttlichen Angesprochenseins sich gemeinschaftlich und durch die in dieser Gemeinschaft eingespielten Medien vermittelt. Diese Verschiebungen sind ein eindrückliches Indiz dafür, wie Ottos ei-
Vgl. Ms 864, 76.
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gener methodischer Ansatz bei der religiösen Erfahrung ihn zunehmend dazu treibt, diese Erfahrung nicht mehr allein in ihrer Allgemeinheit und Struktur zu untersuchen, sondern sie von ihrem Gehalt und ihrem tatsächlichen Vorkommen her in den Blick zu nehmen. Der Einsatzpunkt beim Religionsbegriff ist bestes Schleiermachersches Erbe, wie überhaupt Schleiermacher – wenig überraschend – der durchgängige Gesprächspartner in Ottos Glaubenslehre ist. Markant ist die erwähnte gewichtige Stellung des religiösen Gefühls. In der Erörterung über das religiöse Apriori zeigt Otto auf, dass das Christentum an kognitive und emotionale Dispositionen im Menschen selbst gebunden ist.¹⁷ Dazu rechnet er die Möglichkeit von Gewissheitserfahrungen, die sich zunächst und zuerst im Gefühl erschließen. Das Gefühl ist das „Talent intuitiven Erfassens“,¹⁸ eine „Ersterfassung“ und „Originalerfassung“¹⁹ auf der Ebene des unmittelbaren Erlebens. Dabei hat er sowohl die Abgrenzung zwischen Gefühl und Emotion im Blick als auch die im Anschluss an Schleiermacher zu klärende Frage über die Bedeutung der Selbstgefühle. Diese erkennt er als notwendigen Ausgangspunkt an, sieht aber darin die Gefahr, dass in der Schleiermacherschen Bearbeitung die Veranlassung der Gefühle außerhalb des Subjekts unterbelichtet bleibt.²⁰ Otto spielt auch hier wie schon in Das Heilige das Gefühl nicht gegen die Vernunft aus. Die Überführung des Irrationalen in das Rationale ist für ihn auch und gerade auf dem Feld ein notwendiger „Akt der Aufklärung“.²¹ Otto beabsichtigt mit seiner Gefühlstheologie, die Anklänge an Formen der negativen Theologie beinhaltet, keineswegs eine Ermäßigung der kognitiven Ansprüche der Dogmatik, ihm geht es allein um eine rechte Einordnung. Der Ort des Gefühls ist die Andacht. Darunter versteht er einen Gewissheitsmodus, eine religiöse Haltung, in der sich kontemplativ das „Gefühl für das Ueberweltliche, Uebersinnliche, Uebernatürliche“²² ausspricht und zwar als eine „das Leben packende, zwingende und formende Macht“.²³ Die phänomenale Evidenz dieses Gefühls für das Geheimnisvolle steht für ihn außer Zweifel. In einem der berüchtigten Otto-Sätze heißt es: „Marsbewohner würden Andacht bemerken auf unserer Welt“.²⁴ Das Moment der Andacht ist das Gemeinreligiöse, die inhaltlichen Ausprägungen machen den Unterschied der Religionen aus. Das
Vgl. Ms 864, 12. Ms 864, 15. Ms 864, 16. Noch deutlicher wird das in der späteren Vorlesung vgl. OA 2295, 47. Ms 864, 15 Ms 864, 18. Ms 864, 39. Ms 864, 18.
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ist nun jener Punkt, an dem Otto als Begründer einer Theologie der Religionen gelten kann. Diese Perspektive trägt er als große Innovation auch in die Glaubenslehre hinein. Die Religionsgeschichte gleicht einer Evolution, verstanden als Explikation des numinosen Gefühls.²⁵ Otto hatte damit zweifelsohne einen wichtigen Schritt getan, indem er die Unterschiede zwischen den Religionen zunächst als Differenzen der Explikationsmodi einstuft. Auf diesem Felde hat sich freilich bis heute sehr viel getan. Mit Ottos Ansatz sind die Probleme einer universalistischen Religionstheorie nicht mehr zu lösen, auch überzeugt seine Einschätzung des Christentums als höchste, weil rationalste Ausdrucksform des Numinosen nicht mehr. Das schmälert nicht seine Pionierleistung auf diesem Feld. Der zweite Teil der Glaubenslehre setzt mit der Schriftlehre ein. Otto integriert sie in eine Lehre vom Wort Gottes. Die Bibel ist religiöse Literatur, in der sich das urchristliche Gemeingefühl des Numinosen als kollektive Heilsidee ausdrückt. Dadurch partizipiert die Schrift auch an der Heilsidee. Diese herausragende Explikationsstufe der Heilsidee verleiht ihr einen sakralen Charakter. Otto öffnet damit einen Blick auf die praktisch-religiöse Bedeutung der Bibel im Christentum und zieht sie damit weg von den Verengungen als dogmatisches Lehrbuch. Die gesamte Linie seiner Argumentation ist die Verteidigung der Schriftlehre Luthers gegen die seiner Auffassung nach irrigen Entwicklungen des protestantischen Schriftverständnisses, die in ihrer Fixierung auf ein Buch Luthers Ansinnen untergraben. Seine Grundidee, die Dogmatik als notwendigen Rationalisierungsmodus religiöser Erfahrung des Numinosen zu beschreiben, durchzieht seinen gesamten Durchgang durch die Loci. Traditionell stellt er ausgehend von den biblischen Ausgangspunkten die verschiedenen Entwicklungsstufen innerhalb der Christentumsgeschichte vor mit dem durchaus protestantischen Ansinnen, biblische Korrekturen einzutragen. Das geschieht bei Otto allerdings unter ganz anderen Voraussetzungen. In der Geschichte der Gotteslehre weiß er zwar den gesteigerten Modus der Rationalisierung anzuerkennen, verweist aber auch auf mögliche Verluste durch eine rein spekulative Gotteslehre. Das intuitive Ursprungsfeuer der prophetischen und der im Evangelium zu Höchstform gelangenden Gotteserfahrung geht so verloren. Wie er sich eine am Erlebnisgehalt orientierte Gotteslehre vorstellt, legt er in seiner Interpretation der Eigenschaftslehre vor. Allmächtigkeit deutet er beispielsweise als Begegnung mit einem in der Welt wirkenden unfassbaren Willen, Gott als das summum bonum ist die Erfahrung der Urgüte.²⁶ Hier zeigt sich noch einmal deutlich das Dauergespräch mit Schleiermacher. Er teilt die radikale Entontologisierung der göttlichen Eigenschaften, er erkennt das religiöse
Vgl. Ms 864, 30. Vgl. Ms 864, 48.
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Gefühl des Subjekts als Ausgangspunkt an, fragt aber dann weiter nach dem Woher und Wie der Evozierung dieser Gefühlszustände. In der Schöpfungslehre bricht Ottos Ansatz beim religiösen Gefühl allerdings mit der Tradition. Es gibt bekanntlich in der protestantischen Theologie von Schleiermacher bis zu Karl Barth eine recht eigentümliche apologetische Allianz, die Aussagen der Schöpfungslehre vom tatsächlichen Welterleben vollständig abzublenden. Aus unterschiedlichen Motiven wird die Selbständigkeit der Religion auf dem Feld der Schöpfungslehre zu retten versucht, dabei aber die Natur ganz vergessen. Mit dem Goethe-Liebhaber Otto war das nicht zu machen. Seine Schöpfungslehre stellt eine der bemerkenswertesten und interessantesten Ausnahmen dar, die vom religiösen Gefühl her eine Theologie der Natur betreibt. Otto setzt ein mit der ewigen Schönheit, aber auch der unfassbaren Erhabenheit der Natur als Ansatzpunkte der Erfahrung des Numinosen. Die biblischen Berichte sagen nicht vor, was über die Natur zu denken ist, sondern sie erzählen diese Originalerfassung mit der Kraft des Mythos nach und handeln so vom göttlich begründeten Wert der Welt.²⁷ Otto begreift die Welt als eine Selbstmanifestation Gottes, in der wir einen Sinn der Welt ahnen, ohne ihn zu verstehen.²⁸ Darin wird auch der neukantianisch motivierte Einfluss des Wertbegriffs deutlich. Allerdings gibt ihm Otto gerade auf dem Feld der Naturerfahrung eine sehr stark erlebnistheoretische Ausrichtung. Die Ausführungen zur Anthropologie können im vorliegenden Zusammenhang hier unberücksichtigt bleiben, denn genau darüber informieren die etwa zeitgleich gedruckten und veröffentlichen Schriften, die sich schwerpunktmäßig auf eine Neuformulierung der Sündenlehre konzentrieren. Die im Anschluss an die Idee der Verlorenheit einsetzende Erlösungslehre beginnt mit der Christologie. Otto scheint hier bereits in Zeitnot gewesen zu sein. Der eingangs vorgestellte Ausblick zeugt davon, dass sich Otto die Christologie noch einmal ausführlicher vornehmen wollte. Nach dem theologiegeschichtlichen Durchgang werden die Ausführungen sehr knapp. Ottos Auffassung zufolge machen die biblischen Zeugnisse deutlich, dass die Urgemeinde Christus als die Selbstmanifestation des überweltlich Heiligen erlebt hat.²⁹ Diese Erfahrung ist heute nicht an der historischen Person Jesu möglich, sondern nur im Sinne einer der Urgemeinde kongenialen Intuition gegenüber dem Numinosen in seiner Person. Das deutete Otto schon in Das Heilige mit dem Begriff der Divination an.³⁰ Wie dies allerdings geschehen soll, darüber sagt uns die Vorlesungsmitschrift nichts mehr.
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
Ms 864, 56. ebd. Ms 864, 75. DH, 189 – 201.
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Der fragmentarische Status der Glaubenslehre als Aufgabe der Otto-Forschung Ottos erste Marburger Vorlesung zur Glaubenslehre endet, wo es am spannendsten wird. Daran wird das Dilemma greifbar, vor das uns Ottos Vorlesungen zur Glaubenslehre stellen.Wir erfahren dort viel, sie werfen ein interessantes Licht auf die in der Otto-Forschung noch viel zu unterbelichtete Seite seiner Systematischen Theologie und doch sind sie ein Fragment geblieben. Sie stellen vor drei sehr unterschiedliche Aufgaben. Erstens stellt sich die Frage, was mit den Manuskripten im Sinne einer Werkpflege Ottos geschehen soll? Im Falle seiner eigenen Manuskripte steht der Wunsch der Verbrennung im Raum, den man auch deswegen ernst nehmen muss, weil ein Mann vom Range Ottos mit dem fragmentarischen Status nicht zufrieden sein konnte. Seine dauerhaften Umarbeiten zeigen doch auch, dass Otto – ich will nicht sagen: gescheitert – aber jedenfalls nicht so durch die Glaubenslehre durchgekommen ist, wie er es selbst wollte. Gleichwohl kann man diese wichtigen Dokumente eines dogmatischen „work in progress“ eigentlich auch nicht liegen lassen. Es müsste ein Modus gefunden werden, unter Einbeziehung aller drei Vorlesungen wenigstens die Übergänge, Thesen und Denkprozesse öffentlich zu machen. Das wäre noch lange keine Edition, aber es wäre auch sehr, sehr viel mehr als das, was es bisher zur Glaubenslehre gibt. Von da ausgehend müsste in einem zweiten Schritt die systematische und werkimmanente Rekonstruktion der Glaubenslehre Ottos geleistet werden. In der Theologiegeschichte des Protestantismus ist über sehr viel schlechtere Bücher sehr viel mehr geschrieben worden.Wie auch immer man mit der Manuskriptfrage umgeht, auf diesem Rekonstruktionsgebiet gibt es noch viel zu tun. Daraus ergibt sich von selbst die dritte Aufgabe. Otto hat in seinen Glaubenslehren nicht das Lösungsbuch für alle Zeiten vorgelegt, aber es gibt bei ihm auch materialdogmatisch viel für die Lösung gegenwärtig systematisch-theologischer Fragestellungen zu holen. Die allgegenwärtige Rückkehr des Gefühls prädestiniert ihn zu einem Gesprächspartner ersten Ranges, seine – nur daran sei exemplarisch erinnert – Schriftlehre und seine Theologie der Natur gehen ausgehend von der Kategorie der religiösen Erfahrung erstaunlich neue Wege, denen zu folgen allemal lohnend scheint. Von welcher dieser drei Blickwinkel man es auch immer betrachtet, es warten noch eine Reihe interessanter Aufgaben in der theologischen Erschließung des Werkes von Rudolf Otto.
Wolf-Friedrich Schäufele
Rudolf Ottos Lutherbild 1 Luther im Werk Rudolf Ottos Am 6. März 1937 starb Rudolf Otto.¹ Seine letzte Ruhestätte fand er auf dem Marburger Hauptfriedhof am Rotenberg. Auf dem schlichten Grabstein steht der Bibelvers: „Heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth“ (Jes 6,3b). Das dreifache qadosch, das Trishagion der Saraphen aus der Berufungsvision des Jesaja, das Otto in seinen Schriften wiederholt anführt, hat auch für seine persönliche Frömmigkeit eine wichtige Rolle gespielt.² Doch noch davor und zuerst war es die Beschäftigung mit Luther, die ihn tief beeindruckt hat: „[…] an Luthers ‚De servo arbitrio‘ hat sich mir das Verständnis des Numinosen und seines Unterschiedes gegen das Rationale gebildet lange bevor ich es im Qadosch des Alten Testaments und in den Momenten der ‚religiösen Scheu‘ in der Religions-geschichte überhaupt wiedergefunden habe“.³ Noch in der Prägung der berühmt gewordenen Termini des „tremendum“ und der „majestas“ hat er sich nach eigenem Bekunden an Formulierungen Luthers angelehnt. Die Auseinandersetzung mit Luther war für Otto ein Lebensthema.⁴ Wenn es stimmt, dass man „eine kritische theologische Würdigung der meisten Repräsentanten des Neuprotestantismus nicht geben“ kann, „ohne zugleich ihr Verhältnis zur Reformation bzw. zu Luther zu untersuchen“,⁵ so gilt dies für ihn in besonderem Maße.
Zur Biographie Carl Heinz Ratschow, Art. Otto, in: TRE 25 (1995), 559 – 563; Martin Kraatz, Art. Otto, in: Neue Deutsche Biographie 19 (1999), 709 – 711. „In welcher Sprache immer sie erklingen, diese erhabensten Worte, die je von Menschenlippen gekommen sind, immer greifen sie in die tiefsten Gründe der Seele, aufregend und rührend mit mächtigem Schauer das Geheimnis des Ueberweltlichen, das da unten schläft“: Rudolf Otto, Reisebericht 1911, in: Rudolf Otto. Religion und Subjekt (Christentum und Kultur 12), hg.v. Thorsten Dietz/Harald Matern, Zürich 2012, 13– 48, hier 28. DH, 123. Ernst Benz, Rudolf Otto in seiner Bedeutung für die Erforschung der Kirchengeschichte, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 56 (1937), 375 – 398, hier 389 – 393; Walther von Loewenich, Luther und der Neuprotestantismus, Witten 1963, 274– 278; Roderich Barth, Systematische Lutherdeutung in der liberalen Theologie, in: Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte 16 (2009), 58 – 74; Thorsten Dietz, Die Luther-Rezeption Rudolf Ottos oder die Entdeckung der KontrastHarmonie der religiösen Erfahrung, in: Rudolf Otto. Religion und Subjekt, hg.v. Thorsten Dietz/ Harald Matern (Anm. 2), 77– 108. Walther von Loewenich, Luther und der Neuprotestantismus (Anm. 4), 15.
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Werkgeschichtlich verdichtet sich Ottos Beschäftigung mit Luther in drei Schwerpunkten. Den ersten bildet die Dissertation über Die Auffassung vom Heiligen Geiste bei Luther, mit der er 1898 in Göttingen zum Lizenziaten der Theologie promoviert wurde.⁶ Nur scheinbar war damit ein entlegenes Thema gewählt. Tatsächlich ging es Otto um nichts weniger als „das religiöse Grundproblem selber“: „das Zustandekommen und Bestehen der religiös-sittlichen Gemüts- und Willenszustände“.⁷ Er griff damit eine Fragestellung auf, die sich aus der damals vorherrschenden Lutherdeutung Albrecht Ritschls ergab, spitzte sie aber auf die Frage zu, wie Luthers Beschreibung der Erneuerung des Menschen als eines empirischen psychologischen Kausalzusammenhangs mit Luthers gleichzeitiger Beschreibung dieser Erneuerung als einem Werk Gottes vereinbar sei. Zwanzig Jahre später kam Otto in seinem Hauptwerk Das Heilige auf Luther zurück.⁸ Wir erwähnten bereits, dass Otto nach eigenem Bekunden an Luther seine Entdeckung des numinosen Gefühls gemacht hatte. Dazu passt, dass er in Das Heilige keine andere Gestalt der Bibel oder der Kirchengeschichte, nicht einmal Jesus, so ausführlich behandelt wie gerade Luther. Im Vordergrund des Interesses steht dabei die Bedeutung des Irrationalen für die Religion des Reformators, aber auch sein Zusammenhang mit der Mystik. Dieser letzte Punkt leitet bereits zum dritten Schwerpunkt über: Ottos Studium der Mystik, das 1926 in seinem Buch West-östliche Mystik kulminierte, einer vergleichenden Untersuchung zu Śankara und Meister Eckhart, in der Eckhart immer wieder Luther an die Seite, voran- und gegenübergestellt wird.⁹ Vertieft und ergänzt hat Otto die in Das Heilige und West-östliche Mystik vorgetragenen Gedanken zum Verständnis Luthers durch eine Reihe von Aufsätzen, von denen zwei bereits 1923 in der ersten Auflage der Aufsätze das Numinose betreffend erschienen;¹⁰ die übrigen finden sich 1932 in der stark erweiterten und überarbeiteten Teilausgabe Sünde und Urschuld. ¹¹
Vgl. Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 11– 22; Robin Minney, The Development of Otto’s Thought 1898 – 1917. From „Luther’s View of the Holy Spirit“ to „The Holy“, in: Religious Studies 26 (1990), 505 – 524, hier 507 f.; Roderich Barth, Systematische Lutherdeutung (Anm. 4), 66– 71; Thorsten Dietz, Luther-Rezeption (Anm. 4), 77– 88. AHG, 1 f. Thorsten Dietz, Luther-Rezeption (Anm. 4), 92– 102. WÖM, passim. Mystisches in Luthers Glaubensbegriff (AN1, 61– 64); Mystische und gläubige Frömmigkeit (AN1, 71– 107 = SU, 140 – 177). Geist und Fleisch (SU, 12– 24); Die christliche Idee der Verlorenheit (SU, 25– 36); Rettung aus Verlorenheit nach Luther. Justificatio per fidem (SU, 43 – 60); Luthers Rechtfertigungslehre und die Mystik (SU, 178– 184); Rationale Theologie gegen naturalistischen Irrationalismus (SU, 190 – 225).
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Otto selbst hat sich in einer Anmerkung in Das Heilige distanzierend zu seiner Luther-Dissertation geäußert: „Diese Anfänger-Schrift habe ich seinerzeit noch ganz unter den Nachwirkungen Ritschl’s geschrieben […]“.¹² Tatsächlich hat seine Theologie zwischen 1898 und 1917 eine entscheidende Fortentwicklung erfahren, und die Frage nach Kontinuität und Diskontinuität seines Denkens beschäftigt die Forschung zu Recht.¹³ Hinsichtlich des Lutherbildes überwiegt die Kontinuität. Das, was Otto später als Luther numinoses Gefühl des tremendum und der majestas bezeichnen wird, findet sich in nuce bereits in der Dissertation, auch wenn Otto die Tragweite dieser Beobachtung damals noch nicht deutlich war.¹⁴ Ein substantieller Unterschied liegt in der Einschätzung der Mystik, der Otto 1898 reserviert gegenüberstand, die er aber später hoch schätzte und gerade auch für das Verständnis Luthers heranzog. Doch fügen sich diese späteren Gedanken ohne größere Spannungen zu den früheren. Otto hat seine Lutherdeutung im Laufe der Jahre erweitert, vertieft und modifiziert, aber nicht grundsätzlich revidiert. Es erscheint bemerkenswert, dass Otto sein Verständnis der Theologie Luthers immer in Abgrenzung vom späteren Luthertum, ja teilweise sogar von Elementen der Theologie Luthers selbst entfaltet hat. Vor allem die lutherische Orthodoxie war dem ursprünglichen Anliegen Luthers weithin nicht gerecht geworden. Sie hatte die irrationalen Elemente seiner Theologie nach Ottos Urteil unsachgemäß rationalisiert und moralisiert und die ideogrammatischen Beschreibungen numinoser Erfahrung als eigentliche Rede missverstanden.¹⁵ So originell Ottos phänomenologische Beschreibung dieses Vorgangs war – letztlich folgte er einer Figur, die für die neuprotestantische Lutherdeutung überhaupt charakteristisch war: der Berufung auf einen modernefähigen, Anliegen der liberalen Theologie nahestehenden Luther bei gleichzeitiger Distanzierung von widerständigen Elementen im Denken Luthers selbst oder der auf ihn zurückgehenden Tradition.¹⁶ Wie sein jüngerer Marburger Fakultätskollege Ernst Benz (1907– 1978) berichtete, soll Otto sich mit der Absicht getragen haben, eine Gesamtdarstellung der Theologie Luthers auszuarbeiten.¹⁷ Dazu kam es bedauerlicherweise nicht mehr. Doch lassen sich auf der Grundlage der genannten Schriften drei wesentliche Züge von Ottos Lutherbild nachzeichnen.
DH, 123, Anm. 1. Robin Minney, Development (Anm. 6), 523 f. Vgl. Roderich Barth, Systematische Lutherdeutung (Anm. 4), 71; Thorsten Dietz, LutherRezeption (Anm. 4), 102 f. DH, 3.77.113 und passim. Walther von Loewenich, Luther und der Neuprotestantismus (Anm. 4), 140 – 143. Ernst Benz, Rudolf Otto (Anm. 4), 389.
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2 Das Irrationale und die Kontrastharmonie. Luther als Prophet Albrecht Ritschl (1822– 1889) kommt das Verdienst zu, die moderne theologische Lutherforschung begründet zu haben.¹⁸ In der Ausarbeitung seiner eigenen bürgerlich-liberalen, stark ethisch profilierten Theologie hat er sich explizit an Luther und dessen Rechtfertigungslehre orientiert. Zugleich galten ihm Luthers Rede vom Zorn Gottes, vom verborgenen Gott und von der Prädestination als überständige Relikte scholastischer Lehrbildung. Luthers Schrift De servo arbitrio nannte Ritschl ein „unglückseliges Machwerk“.¹⁹ Demgegenüber hat Otto gerade De servo arbitrio hochgeschätzt und die Schrift bereits in seiner Dissertation in Schutz genommen;²⁰ später ordnete er sie sogar einer durchgehenden Entwicklungslinie von der himmelstürmenden Kunst der Gotik bis hin zur Dresdener Frauenkirche und Bachs Orgeltokkaten ein.²¹ Ermöglicht wurde diese Einschätzung durch seine Rückbesinnung auf das Wesen der religiösen Erfahrung. Alle jene anstößigen, „irrationalen“ Elemente der Religion Luthers, wie sie sich gerade in De servo arbitrio finden, waren eben nicht „unvergorene Reste mittelalterlich-religiöser Stimmung“, sondern „ganz ursprüngliche Regungen des numinosen Gefühles selber“.²² Bedenklich wird es nur da, wo auch schon Luther selbst falsche Rationalisierungen vornimmt und in die unerträglichen Lehren vom Willkürgott oder von der Prädestination verfällt. Ansonsten ist aber gerade Luthers Gespür für das Irrationale ein Gütezeichen seiner Religiosität. Luther war, so wird man Ottos Darlegungen in „Das Heilige“ extrapolieren dürfen, ein „Profet“, besaß also über das allgemeine Vermögen der Erregbarkeit für Religion hinaus das seltene Vermögen prophetischer Divination, die Fähigkeit, „das Heilige in der Erscheinung zu erkennen“.²³ So nur konnte er den numinosen Sinn fälschlich moralisierter religiöser Begriffe wie Sünde, Verlorenheit und Erlösung wiederentdecken. Das schließt nicht aus, dass auch kulturelle oder familiäre Prägungen bei Luther wirksam waren. So will Otto etwa in dem „dunklen omnipotentia-gott von De servo arbitrio“ ein Erbe von „Bauernreligion“ bei dem „Bauernsohn“ Luther sehen.²⁴ Vgl. Frank Hofmann, Albrecht Ritschls Lutherrezeption (LKGG 19), Gütersloh 1998. Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Bd. 1: Die Geschichte der Lehre, Bonn ²1882, ND Hildesheim 1978, 221. AHG, 18.85. WÖM², 234 f. DH, 120. DH, 172– 205. DH, 119 f. Anm. 3.122.
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Worin besteht nun das Wesentliche von Luthers numinoser Erfahrung? Es ist vor allem die Erfahrung des mysterium tremendum, die bei ihm – wie in der religionsgeschichtlichen Entwicklung überhaupt – voransteht. In seinen lebenslangen Anfechtungserfahrungen begegnet Luther Gott als dem Unbegreiflichen, Bedrohlichen, Schrecklichen. Er kennt „Abgründe und Tiefen der Gottheit, die ihm das Herz verzagt machen“ und ihn vor Gott fliehen lassen – nicht vor dem strengen Richter, sondern vor der schauervollen Majestät seines Gottseins, dem gegenüber das eigene Selbst im gesteigerten „Kreaturgefühl“ zunichtewird.²⁵ Neben dem tremendum steht bei Luther als zweites Moment die Erfahrung des „Numen praesens“ als mirum, die sich in der von Otto so genannten „hiobischen Gedankenreihe“ Luthers äußert: jenen Stellen, an denen Luther sich, wie einst Hiob, von der schieren unverstehbaren Fremdheit des „Ganz Anderen“ überwunden zeigt.²⁶ Gegenüber diesen primären Erfahrungen der abdrängenden tremenda et mira majestas tritt die Erfahrung des Numens als anziehendes Fascinans bei Luther scheinbar zurück. Doch fehlen auch bei ihm nicht die Elemente einer numinosen Hochgestimmtheit, selbst wenn diese ganz in die rationalen Prädikate der Liebe und Vertrauenswürdigkeit Gottes „eingewoben“ sind.²⁷ So durchmisst Luther in seiner religiösen Erfahrung die ganze Spannweite numinosen Gefühls. Ja, gerade die dem Doppelcharakter des Numinosen entsprechende spannungsreiche Verbindung der einander widerstreitenden Momente des „Abdrängenden“ und des „Bestrickenden“ ist für das Verständnis von Luthers Theologie unabdingbar: Erst die „ganz originale[n] und zugleich ganz persönliche[n] geheimnisvolle[n] dunkle[n] fast unheimliche[n] Hintergründe seiner Frömmigkeit“ bilden die Folie, vor der „die klare Seligkeit und Freudigkeit seines Gnadenglaubens“ recht gewürdigt werden kann.²⁸ Es ist dies jene „Kontrast-harmonie“, die zum vollen Wesen der Erfahrung des Numinosen gehört und die auch in der Verkündigung Jesu vom heiligen Gott als einem himmlischen Vater zum Ausdruck kam.²⁹ Bei alledem ist Luthers Religion kein reiner Irrationalismus. Auch sie nimmt teil an dem in der gesamten Religionsgeschichte und insbesondere im Christentum zu beobachtenden Prozess fortschreitender Rationalisierung und Versittlichung, wodurch das Numinose erst zum „Heiligen“ im Vollsinn wird. Doch das Irrationale
DH, 121. DH, 123 – 125. DH, 128. DH, 119. DH, 103 f.
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kommt darüber nicht zum Verschwinden, sondern wird in Form „gesunder Lehre“ festgelegt und operationalisiert.³⁰ Unbeschadet dessen bleibt es dabei, dass Luther heftig gegen das Recht der Vernunft in religiösen Fragen polemisieren kann, und dass er gegenüber dem „Rationalisten“ Erasmus die Position des „Irrationalisten“ einnimmt³¹ – nach Otto die zwingende Folge aus seiner „hiobischen Gedankenreihe“. Aus seiner Erfahrung des Irrationalen und der Figur der Kontrastharmonie folgt auch Luthers Vorliebe für Paradoxien und Antinomien. Ja, die für Luthers Theologie wesentlichen antithetischen Fundamentalunterscheidungen überhaupt sind aus der Kontrastharmonie der religiösen Erfahrung abzuleiten.³²
3 Rechtfertigung und Erneuerung. Luther und die Mystik Bereits das Interesse von Ottos Dissertation hatte der Frage nach der „Begründung des neuen Lebens von Gott her“³³ gegolten. Dabei hatte er in zwei Gedankengängen Luthers Anschauung vom Glauben als der das Leben erneuernden Kraft und vom Wort als der den Glauben weckenden Verkündigung behandelt.³⁴ Für Otto war ausgemacht, dass nach Luther der Glaube den Menschen effektiv erneuert und gerecht macht. Im Glauben erhebt sich der Mensch zu Gott. In diesem „adhaerere Deo“ wird er in seinem Willensbestand verwandelt und mit dem Willen Gottes „einhellig“, er wird gut und gerecht, wird frei von den Schrecken des Gesetzes und Gewissens zur „religiösen und sittlichen Funktion“.³⁵ Zugleich ist der Glaube als Vertrauen auf Gott, als „confidere Deo“, aber als solcher selbst schon eine Quelle der neuen „geistlichen“ Gesinnung.³⁶ So oder so: Durch die Religion findet der Mensch zur Sittlichkeit. Der Einfluss Ritschls ist hier unübersehbar. Auch in seinen späteren Schriften hat Otto stets daran festgehalten, dass Luther die Rechtfertigung aus Glauben als eine effektive Gerechtmachung verstanden habe. Seit 1917 hat Otto diesen Gedanken unter Rekurs auf die deutschsprachige Mystik ausgearbeitet. Dem lag die Einsicht zugrunde, dass Luthers Glaubensbegriff mystische Elemente enthält – Elemente, in denen das numinose Moment in be
DH, 77. DH, 28. Thorsten Dietz, Luther-Rezeption (Anm. 4), 98 f. AHG, 2. AHG, 25 – 44.45 – 68. AHG, 27 f.31– 34. AHG, 35 – 37.
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sonderem Maße zur Geltung kommt. Im Vergleich mit Meister Eckhart macht Otto das Gemeinte deutlich:³⁷ Hier wie dort geht es um das Besitzen Gottes, um die völlige Zukehr des Gemüts zu Gott, um das „adhaerere Deo“. Der Erfahrung der gnädigen Zuwendung des gerechten und heiligen, zugleich aber liebenden und vergebenden Gottes entspricht der Mensch in Selbsthingabe, Liebe und Glaube. Damit gewinnt er Anteil an Gott, der wesenhaft Gerechtigkeit ist, und wird so selbst gerecht. Auf diese einfachen Grundlinien, die Otto als Äußerungen „schlichter Christenfrömmigkeit“ rubriziert, sind noch die scheinbar überspanntesten Einheitsspekulationen Eckharts zurückzuführen. Dass Eckhart dabei mit Seinsbegriffen operiert, darf uns nicht irritieren. „Man nahm sie sicher schon zu seiner Zeit oft genug einfach als einen zweiten Dialekt für die Justifikationslehre selber und übersetzte leicht und selbstverständlich das eine in das andere“.³⁸ Luthers Rechtfertigungslehre folgt demselben, „mystischen“ Muster.³⁹ Gewiss gibt es nicht zu unterschätzende Unterschiede zu Eckhart: war es dort die Liebe, die zum Haben Gottes führte – eine Liebe freilich, in der schon das Moment des Vertrauens stark hervortritt –, so ist es hier der Glaube. Aber die Struktur ist dieselbe: Der Glaube übernimmt bei Luther alle Funktionen des amor mysticus; er ist der Seelengrund und das im Menschen wirkende göttliche Pneuma. Er verwandelt den Menschen, gebiert ihn neu und macht ihn effektiv gerecht. Der Glaube führt zum adhaerere Deo, zum Ein-Kuchen-Werden mit Christus,⁴⁰ zum „fröhlichen Wechsel und Streit“,⁴¹ ebenso wie zum confidere Deo, zur vertrauenden Hingabe an Gott. Dieser Glaube aber und seine psychologischen Wirkungen werden auch von Luther als Einwohnung des Göttlichen erfahren.⁴² Ist der Luther Rudolf Ottos also ein Mystiker? Nicht im landläufigen Sinne von Mystik als einem „Dämmern in Empfindungszuständen und Seelenwonnen, in bräutlichem Gekose und in Tränenseligkeit, in Mysterienkult und andächtelnder Gefühligkeit, in Sakramenten- und Sakristei-Duft, in Selbstsuggestion und Exerzitien, in Selbststeigerung und methodischem Training, in Yoga und in Narkose“.⁴³ Wohl aber im Sinne eines „Lebens im und aus dem praesens numen im demütigen Sich-erschließen gegen seine Wirkungen […].“⁴⁴ Wie bei Eckhart sind es nicht hohe, metaphysische Spekulationen, sondern die Vollzüge der einfachen, echten
Das Folgende nach SU, 164– 175; vgl. WÖM², 176 – 178 und passim. WÖM², 273. WÖM2, 273 f.; SU, 179 f. Z.B. WA 10.III, 425.21 f. WA 7, 25.34. SU, 175. SU, 174. Ebd.
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Frömmigkeit, die die Grundlage bilden: die gesammelte Andacht und das intensive Gebetsleben. Und was bei den Mystikern als jäher Umschwung zwischen enthusiastischer Hochgestimmtheit und desperatio erscheint, ist nur die hochgespannte, für Luthers Religion kennzeichnende Kontrastharmonie des numinosen Gefühls.⁴⁵ Eine imputative Auffassung der Rechtfertigung, wonach dem Sünder die fremde und fremd bleibende Gerechtigkeit Christi gutgeschrieben wird, hat Luther nach Ottos Überzeugung nicht vertreten. Sie sei das Ergebnis einer falschen Rationalisierung durch die späteren Dogmatiker, die es unternahmen, „diese Dinge die weil schlechthin irrational notwendig einen atheoretischen unbegrifflichen und gefühlmäßigen Stempel tragen und der strengen ‚Begriffsanalyse‘ sich entziehen, in begrifflichen Theorien zu entwickeln und zu Gegenständen von Spekulation zu machen, so daß sie schließlich zu dem fast mathematischen Kalkul [sic!] der ‚Imputations-lehre‘ werden […]“.⁴⁶ So findet Otto das wahre Erbe Luthers nicht in der lutherischen Orthodoxie, sondern bei den „mystici“ wie Johann Arndt, Philipp Jakob Spener und Gottfried Arnold bewahrt.⁴⁷ Ebenso verfehlt wie die imputative Rechtfertigungsauffassung ist nach Otto eine Lehre von der göttlichen Prädestination, wie sie in De servo arbitrio anklingt. In seiner Dissertation hatte Otto das Theologumenon von der göttlichen Erwählung einfach als Beschreibung des empirischen Befundes verstanden, wonach manche Menschen das religiöse Vermögen haben, das verkündigte Wort zu verstehen und zu glauben, andere aber nicht.⁴⁸ In Das Heilige hat er den Gedanken der Prädestination dann differenzierter auf dem Boden seiner Theorie der religiösen Erfahrung analysiert: „Als geheimnisvoller Deute-name als ideogrammatischer Hinweis auf ein schlechthin irrationales Urverhältnis zwischen Schöpfer und Geschöpf […] ist er ganz unentbehrlich und hat er sein volles Recht. Dieses wird aber alsbald zur summa injuria wenn man sein nur nach Ähnlichkeiten Andeutendes verkennt und ihn statt als Ideogramm als eigentlichen Begriff und gar als der Theorie fähig nimmt. Dann wird er für eine rationale Religion wie das Christentum geradezu verderblich und unerträglich […]“.⁴⁹
SU, 181. DH, 73 f. DH, 130. AHG, 83 – 92. Vgl. Hans-Walther Schütte, Religion und Christentum (Anm. 6), 14 f. DH, 113.
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4 Gottes Werk und innerweltliche Kausalität. Luther und der Supranaturalismus Mit diesem dritten Aspekt von Ottos Lutherbild berühren wir eine eminent moderne Fragestellung, deren Beantwortung uns mehr über Otto als über Luther verrät. Es handelt sich um das Verhältnis von „naturalistischer und religiöser Weltansicht“, das Otto 1904 in seinem gleichnamigen Buch grundsätzlich sowie in konkreter Applikation auf die Evolutionstheorie Darwins, den Materialismus und die Frage der „Selbständigkeit und Freiheit des Geistes“ behandelte.⁵⁰ Doch schon sechs Jahre zuvor hatte er sich in seiner Göttinger Lizenziatenarbeit anhand von Luthers Pneumatologie mit diesem Thema beschäftigt, und in seinem Aufsatz über Rationale Theologie gegen naturalistischen Irrationalismus ⁵¹ kam er 1932, nun wieder unter ausdrücklichem Bezug auf Luther, darauf zurück. In seiner Dissertation arbeitete Otto heraus, dass Luther den Weg zur Erneuerung des Menschen von der Verkündigung des Wortes über die Entstehung des Glaubens bis hin zur Änderung des Willens als einen lückenlosen empirischen Kausalzusammenhang natürlich-psychologischer Vorgänge darstellen konnte. Zugleich konnte Luther denselben Weg aber auch ganz und gar als ein göttliches Werk des Heiligen Geistes qualifizieren. Wie war beides zu vereinbaren? Zwar war bei Luther, dem „getreue[n] Katholik[en] altertümlicher Observanz, welcher zu sein Luther in keiner Periode seines Lebens aufgehört hat“,⁵² auch ein gewisses Maß an unreflektierter Anhänglichkeit an die dogmatische Lehrtradition in Anschlag zu bringen. Doch lag dem Nebeneinander beider Betrachtungsweisen nicht bloße Inkonsequenz zugrunde. Tatsächlich gehen beide notwendig miteinander einher. „Luther zwängt nicht die göttliche Kausalität an einer Stelle oder an mehreren in den Kausalnexus hinein, sondern es ist ihm über das Ganze desselben eine doppelte Betrachtungsweise möglich. Eben das, was sich für sein begriffliches Denken in genauesten empirischen Zusammenhängen entfaltet, kann ihm für sein religiöses Bewußtsein ganz der gleichen Länge nach göttliches Wirken sein, und umgekehrt. Es ist dies keine Spezialeigentümlichkeit Luthers sondern die Eigenschaft aller starken religiösen Naturen überhaupt, die es sich nicht nehmen lassen, nicht nur im Außergewöhnlichen und Frappierenden sondern schließlich auch im Allgemeinsten und Kleinsten Gott selber zu sehen“.⁵³ Es handelt sich also beim Nebeneinander der Deutungen um eine Aspektverschie-
NRW, passim. SU, 190 – 225. AHG, 93. AHG, 102.
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denheit, um das Nebeneinander „zweier Anblicke“, wie Luther selbst 1527 in einer Predigt über Genesis 2 formuliert hat.⁵⁴ Diese dialektische „mystische Betrachtung“, wie Otto sie auch nennt, ist die einzig angemessene. Die Versuche eines naiven Supranaturalismus, die Phänomene gleichsam zu halbieren und ihnen teils natürliche Ursachen, teils göttliche Wirkungen zugrundezulegen, sind ebenso verfehlt wie ein spinozistischer Pantheismus, der das Ewige nicht als Urheber dem Geschöpf gegenüberstellt, sondern es in die Zeitreihe einführt.⁵⁵ Was sich hier in der Spezialfrage der Begründung des Glaubens bei Luther abzeichnete, musste nach Otto auch für alle anderen theologischen Bestimmungen des Verhältnisses des Natürlichen zum Übernatürlichen gelten, insbesondere auch für die Beurteilung des Darwinismus. So wird der Luther Ottos unter der Hand zum Kronzeugen gegen Supranaturalismus und Kreationismus. Letztlich sei, so Ottos gewagte Interpretation, mit Luthers gegen die Spiritualisten gewendeter Betonung, dass Gott sich an „Mittel“ binde, nichts anderes gemeint als die Anerkennung einer antisupranaturalistischen Aspektverschiedenheit der Welt- und Daseinsdeutung.⁵⁶ Vielleicht dürfen wir sogar noch einen Schritt weiter gehen, als Otto es getan hat. Denn mit der Frage nach dem Verhältnis von psychologischen Kausalitäten und dem Überweltlichen in der Religion steht ja letztlich auch das Recht seines religionspsychologischen Ansatzes als einer theologischen Methode zur Debatte. Dann aber wird Luther zuletzt noch zum Kronzeugen für Ottos Werk selbst. Vielleicht liegt auch hier ein Grund für Ottos großes Interesse an dem Reformator.
5 Zur Rezeption von Ottos Lutherbild In einem merkwürdigen Missverhältnis zu der herausgehobenen Bedeutung Luthers für Ottos Theologie steht die marginale Rolle, die Ottos Beiträge in der kirchenhistorischen wie in der systematisch-theologischen Lutherforschung gespielt haben. Die von Horst Stephan 1951 in einer Fußnote erwogene Möglichkeit, Ottos Lutherdeutung als einen vierten Haupttypus neben diejenigen Karl Holls, Karl Barths und des Neuluthertums zu stellen,⁵⁷ blieb eben dies – eine Fußnote der Forschungsgeschichte. Eine nennenswerte Wirkung hat eigentlich nur Ottos eindrückliche Beschreibung der religiösen Erfahrung Luthers mitsamt seiner Würdigung des Ir
WA 24, 61.21– 62.19 (hier 62.19). SU, 210 – 214. SU, 208 f. Horst Stephan, Luther in den Wandlungen seiner Kirche, Berlin ²1951, 93 Anm. 2.
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rationalen in der Religion des Reformators entfaltet. Die Auspizien dafür waren günstig: Das Heilige erschien 1917 im Jahr des Reformationsjubiläums – was ein Zufall gewesen sein mag –, jedenfalls aber zu einer Zeit, da sich eine krisenhafte Zeitstimmung zu regen begann, die solchen Gedanken zugänglich sein musste.⁵⁸ Doch selbst in dieser Richtung wirkte Ottos Lutherbild meist nur indirekt. Zwar wurden nun regelmäßig die Anfechtungen vor allem des „jungen Luther“, der damals in den Fokus der Forschung rückte, thematisiert, doch geschah dies so gut wie nie mit dem von Otto bereitgestellten begrifflichen Instrumentarium. Eine – allerdings prominente – Ausnahme bildete das 1925 erstmals erschienene Luther-Buch des Freiburger Historikers Gerhard Ritter (1888 – 1967). Ritter plädierte dafür, Luthers lebenslange Anfechtungserfahrungen weder psychologisch noch theologisch, sondern im strengen Sinne religiös zu erklären.⁵⁹ Ohne Otto als seinen Gewährsmann zu nennen, bestimmte er ganz in dessen Sinn und mit dessen Worten Luthers Kämpfe als die Erfahrung Gottes im „mysterium tremendum“, die das „Kreaturgefühl“ der eigenen Nichtigkeit hervorrief.⁶⁰ Und fast wörtlich klang ein Zentralgedanke Ottos an, wenn Ritter erklärte: „Wer die geschichtliche Leistung Martin Luthers, des Kämpfers, in ihrer vollen Größe verstehen will, muß sich diesen dunklen, unheimlichen Untergrund seiner Frömmigkeit recht deutlich machen; erst dann tritt die ganze Kühnheit seines Glaubensentschlusses, die ganze unerhörte Kraft dieser Seele zutage, die das kindlichen Vertrauen zu diesem alttestamentarischen Gott des Schreckens als ‚unserem lieben Vater‘ sich in schweren Seelennöten immer neu erstritt (im Kampfe mit Gott selbst!) und zum A und O ihres Lebens machte“.⁶¹ Auch in dem 1955 erschienenen Überblick von Heinrich Bornkamm (1901– 1977) über Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte war es allein Ottos Verteidigung der irrationalen Züge Luthers, die im Referat und in einem Auszug des Lutherkapitels aus Das Heilige zur Sprache kam.⁶² In der neueren Forschung kommt wohl die Lutherbiographie von Heiko A. Oberman (1930 – 2001), die durchgehend die antagonistische Perspektive des „Menschen zwischen Gott und Teufel“ einnimmt,⁶³ Ottos Intentionen am nächs-
„Man wird nicht fehlgehen, wenn man in der Phänomenologie der Religion bei R. Otto ein Stück von dem Lebensgefühl der Krise der Moderne wirksam sieht“ (Walther von Loewenich, Luther und der Neuprotestantismus [Anm. 4], 278). Gerhard Ritter, Luther. Gestalt und Tat, München 51949, 25 – 44. A.a.O. 31.36. A.a.O. 32. Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte. Mit ausgewählten Texten von Lessing bis zur Gegenwart, Heidelberg 1955, 74 f.282– 288. Heiko A. Oberman, Luther. Mensch zwischen Gott und Teufel, Berlin 1982 u. ö.
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ten. Doch ist sie ohne erkennbare Bekanntschaft mit dem Werk Ottos verfasst und bleibt hinter der Tiefe seiner Lutherdeutung zurück, indem sie über Luthers Teufelsglauben die viel bedeutsamere Erfahrung des Befremdenden und Abdrängenden an Gott selbst ausblendet. Noch weniger deutlich als bei der Würdigung des Irrationalen lässt sich der Einfluss Ottos auf die Diskussion über Luthers Verhältnis zur Mystik und das rechte Verständnis von Glaube und Rechtfertigung bei Luther dingfest machen. Die Fragestellung als solche war damals weder neu noch ist sie seither zur Entscheidung gelangt. Mittlerweile herrscht in der deutschen Forschung die Mehrheitsmeinung vor, dass Luther sich in seiner Frühzeit vorübergehend der mystischen Vorstellungsund Begriffswelt bedient habe, um damit seine augustinisch-paulinisch grundierte reformatorische Theologie zu artikulieren.⁶⁴ Am ehesten leben Ottos Deutungen in der finnischen Lutherforschung fort, die unter Hinweis auf mystische, aber auch altund ostkirchliche Traditionen die Erlösungsvorstellung Luthers im Sinne einer Vergöttlichung (Theosis) des Menschen interpretiert.⁶⁵
6 Zur Beurteilung Wie ist Ottos Lutherdeutung vom Stand der heutigen reformationsgeschichtlichen Forschung aus zu beurteilen, und wie lässt sich ihre geringe Nachwirkung erklären? Wenn wir nach der Richtigkeit von Ottos Lutherbild fragen, ist zunächst darauf hinzuweisen, dass Otto seinen Plan einer umfassenden Darstellung von Luthers Theologie nicht mehr verwirklichen konnte. Die vorliegenden Einzeluntersuchungen werfen von verschiedenen Richtungen Schlaglichter auf Person und Theologie Luthers. Dabei hat Otto vielfach Richtiges gesehen, allerdings regelmäßig die ihm wichtigen Punkte stärker hervorgehoben, als es im Gesamt der Theologie Luthers angemessen erscheint. Ottos Lutherbild ist daher – eine Karikatur. Sie überzeichnet einige wenige Eigenarten auf Kosten der anderen. Aber gerade das macht den Wert und den Charme einer Karikatur aus, dass sie die markanten und unverwechselbaren Züge deutlich heraustreten lässt, und in dieser Hinsicht kommt Ottos Lutherinterpretation ein bleibendes Verdienst zu.
Vgl. etwa Karl-Heinz zur Mühlen, Nos extra nos. Luthers Theologie zwischen Mystik und Scholastik (Beiträge zur historischen Theologie 46), Tübingen 1972; Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Mystik im Mittelalter und bei Martin Luther (Spätmittelalter und Reformation NF 36), hg.v. Berndt Hamm/Volker Leppin, Tübingen 2007. Juhani Forsberg, Die finnische Lutherforschung seit 1979, in: Lutherjahrbuch 72 (2005), 147– 182.
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Dass Ottos Nachwirkung in der Lutherforschung gering blieb, ist letztlich wenig überraschend. Seine Lutherdeutung blieb Fragment, und das, was von ihr vor allem rezipiert wurde, war die phänomenologische Beschreibung von Luthers religiöser Erfahrung. Weithin unbeantwortet blieb daneben die Frage nach der lehrmäßigen, begrifflichen Ausarbeitung dieser Erfahrung in Luthers Theologie – gerade jene Frage also, die seit Beginn des 20. Jahrhunderts ins Zentrum des Interesses der Lutherforschung trat.⁶⁶ Es konnte daher nicht ausblieben, dass schon bald der lange Schatten Karl Holls (1866 – 1926) auf Ottos Lutherdeutung fiel. Im selben Jahr 1917, in dem Otto „Das Heilige“ publizierte, hielt Holl in Berlin seine berühmte Rede „Was verstand Luther unter Religion?“, in der er seine neue Auffassung von Luthers „Gewissensreligion“ darlegte, die sich im Rechtfertigungsgeschehen in der unaufhebbaren Paradoxie zwischen der unbedingten sittlichen Forderung einerseits und der vergebenden Liebe Gottes andererseits bewege.⁶⁷ Holls Rede wurde zum Nukleus für den 1921 erstmals publizierten Band seiner „Gesammelten Aufsätze“ zu Luther, mit dem er zum Protagonisten der Luther-Renaissance wurde. In der direkten „Konkurrenz“ zur Holl-Schule aber konnte Otto sich nicht dauerhaft als Luther-Interpret etablieren. Ob Rudolf Ottos Luther-Interpretation in unserer heutigen Zeit, die nicht mehr vor dem abgründigen Gott erschauert, sondern über den erfundenen Gott spottet, ähnlich elektrisierend wirken kann wie vor hundert Jahren, steht zu bezweifeln. Gleichwohl vermag die inhaltliche und sprachliche Brillanz seiner Schriften noch heute zu faszinieren. Und es wäre zu wünschen, dass die derzeitige Otto-Renaissance hundert Jahre nach der Luther-Renaissance auch zu einer Neu- und Wiederentdeckung von Ottos Lutherbild führt. Wer Luther als einen homo religiosus zutiefst und innerlich begreifen will, der muss auch heute noch Rudolf Otto lesen – ebenso wie jeder, der Otto wirklich begreifen will, wieder oder neu Luther lesen muss.
Vgl. Heinrich Bornkamm, Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte (Anm. 62), 75. Karl Holl, Was verstand Luther unter Religion?, in: Ders., Gesammelte Aufsätze zur Kirchengeschichte. Bd. 1: Luther, Tübingen ²1923, 1– 110. Vgl. Martin Ohst, Die Lutherdeutungen Karl Holls und seiner Schüler Emanuel Hirsch und Erich Vogelsang vor dem Hintergrund der Lutherdeutung Albrecht Ritschls, in: Lutherforschung im 20. Jahrhundert. Rückblick – Bilanz – Ausblick (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Beiheft 62), hg.v. Rainer Vinke, Mainz 2004, 19 – 50, hier 22– 34.
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Ottos Auseinandersetzung mit Schleiermacher Religionstheorie als Zeitdiagnose „Wenn viel Schreiben, Lesen, Reden über Religion ein Zeichen von Frömmigkeit ist, so hat es keine frömmere Zeit gegeben als unsere; wenn man von der Tugend am wenigsten spricht, die man am meisten hat, so keine gottlosere“.¹ Rudolf Ottos Zeitdiagnose trifft in den Kern seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher und dessen Reden „Über die Religion“. Denn beide genannten Thesen sind so wahr wie falsch, wenn es um die Religion geht. Ausführliches Reden und Schreiben über sie ist gewiss auch ein Zeichen für ein intensiveres Interesse an ihr, verglichen vor allem mit der dürftigen Zeit der Mitte des 19. Jahrhunderts, in der Wirtschaft, Wissenschaft und Technik die Debatten prägten. Und zugleich vermag das Reden und das Schreiben das Religiöse auch zu verdecken und zu verbergen. Der „schweigende Dienst“ könnte in manchem angemessener sein. Für Ottos eigene Ausbildung des umfassenden Verständnisses des eigentümlichen Phänomens der Religion ist Schleiermacher eine entscheidende und bleibende Prägung. Zwar reichte diese Prägung nie an diejenige durch die Theologie Martin Luthers heran, aber sie hat doch selbst da weiter gewirkt, wo sie eher unter der Oberfläche der Texte verschwand. Die „Reden“ haben das Projekt des „Heiligen“ sehr viel nachhaltiger beeinflusst, als die am Ende doch recht trockenen Erörterungen von Fries und de Wette, so sehr Otto diese auch zeitweise in den Vordergrund schob. Um einige dieser Prägungen, um die Bewegung, die sie der Theologie Rudolf Ottos verliehen haben, und einige Probleme, die sich daran knüpfen, wird es im Folgenden gehen. Der Fokus liegt dabei auf den zeitdiagnostischen Texten und Textpassagen, die sich in besonderem Maße mit Schleiermacher in ein fruchtbares Verhältnis setzen lassen.² Rudolf Otto, [Rez.:] Moderne Religionen, in: Die Christliche Welt 18 (1904), 100 – 105 [100]; über F. Naumann, Briefe über Religion, Berlin 1903. Der beschränkte Umfang erlaubt es nicht, diese Auseinandersetzung in der ihr gebührenden Breite und Tiefe darzustellen, das soll an anderem Ort erfolgen. Dort wird dann auch Gelegenheit sein, auf die interessante neuere Debatte zu Otto und Schleiermacher in der angelsächsischen Forschung einzugehen: Andrew Dole, Schleiermacher and Otto on religion, in: Religious studies 40 (2004), 389 – 413; Arthur David Smith, Schleiermacher and Otto on religion. A reappraisal, in: Religious studies 44 (2008) 295 – 313; Ders., Otto’s criticisms of Schleiermacher, in: Religious studies 45 (2009), 187– 204; Andrew Dole, On „nothing to distinguish“ Schleiermacher and Otto. Reply to Smith, in: Religious studies 46 (2010), 449 – 468. Vgl. auch
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Die Editionen der „Reden“ und ihr Umfeld – Begeisterung und Abkühlung Der klare Schwerpunkt der intensiven und extensiven Beschäftigung mit Schleiermacher liegt im Umfeld der beiden ersten Auflagen der Edition der „Reden“, zwischen 1899 und 1906. Außer den hier vorliegenden Texten, also vor allem den Vor- und Nachworten, die für die zweite Auflage noch einmal signifikant überarbeitet wurden, liegen einige kleinere Texte und Rezensionen vor. In der Untersuchung der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie aus dem Jahr 1909 ist Schleiermacher zwar neben Kant, Fries und de Wette der meistzitierte Autor, tritt aber der Sache nach zurück. Erst im Umfeld des „Heiligen“ wird er dann wieder markant in Erscheinung treten. Seiner Edition der „Reden“ hat Otto nicht nur fortlaufende Anmerkungen mitgegeben, mit denen er den Text strukturiert und elementare Verstehenshilfen gibt, sondern er hat seine Edition auch mit einem Vorwort und einem Nachwort gleichsam gerahmt, in denen er im Zusammenhang auf den Stellenwert und die Besonderheit dieser Schrift Schleiermachers eingeht.³ Er entwickelt dabei mitunter originelle Perspektiven, die auch für die gegenwärtige Schleiermacherforschung aufschlussreich sind. Dies betrifft vor allem seine Auffassung des Textes selbst, seiner Art und der ihm angemessenen hermeneutischen Haltung. „Nicht von den Termini ‚Universum‘, ‚All und Ein‘, ‚Endlich‘, ‚Unendlich‘ u.s.w. ist anzufangen, um es in seiner Besonderheit zu erfassen, sondern es insgesamt überschauend und eben in seiner Bedingtheit durch Schleiermachers persönliche Eigenart und Lebenserfahrung es greifend, muss man es zu verstehen suchen“ (RE1, 171). Diese bedenkenswerte hermeneutische Maxime bildet den Schlüssel zu Ottos Interpretation.⁴ Der Text will in all seiner Verwobenheit und auch Disparität Jacqueline Mariña, Friedrich Schleiermacher and Rudolf Otto, in: The Oxford Handbook of Religion and Emotion, hg.v. John Corrigan, Oxford 2008, 457– 473. Nach der gründlichen Überarbeitung in der zweiten Auflage von 1906 weisen die Folgeauflagen nur mehr leichte Bearbeitungen auf. Otto führt das in einer späteren Rezension noch präziser aus: „Man macht mit Aufwand von bewundernswerthen, logischen, ontologischen, psychologischen Kenntnissen sehr scharfsinnige Untersuchungen über Methode der Forschung, über psychologische und metaphysische Voraussetzungen, kommt zu ‚überraschenden‘ Entdeckungen zugrunde liegender platonischer Ontologie, Schelling’scher Identitätsphilosophie, untersucht die einzelnen Termini, und unterlässt nur eines: die im Grunde sehr einfache, bedeutsame, an sich gegen alle jene Dinge ziemlich gleichgiltige Grundanschauung deutlich und anschaulich heraustreten zu lassen, die Schleiermacher mit dem Begriffe Religion verbunden wissen wollte, den Stimmungsgehalt der Reden zunächst zu erhellen und herauszustellen, der das beste und der eigentliche Gehalt des ganzen Werkes ist und den man gefasst haben muss, wenn man die Einzelvorstellungen und Termini
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doch als ein Ganzes genommen sein. Und dieses Ganze ist keine lehrhafte Abhandlung, kein Systemprogramm und keine Proto-Dogmatik, sondern ganz schlicht ein Erbauungsbuch. Diese nur auf den ersten Blick überraschende Gattungszuordnung klärt sich, wenn man bedenkt, dass Otto auch die „Monologen“ und Fichtes „Bestimmung des Menschen“ als „Erbauungsbücher edelsten Stiles“ bezeichnen kann.⁵ Das erfordert dann aber auch eine sehr feine Betrachtung der sprachlichen Faktur des Buchs: „Man muß vielmehr genauer aufmerken auf die sehr mannigfaltigen, unter sich fein aber deutlich abgestuften Bezeichnungen und scheinbaren Synonyma, die er für die Sache hat, und zugleich auf den Stimmungsrand achten, der um sie her liegt“ (RE2, XXIf.). Man wird diese hermeneutische Anweisung (wie manche andere) ohne weiteres auch auf Ottos eigene Schriften, insonderheit das „Heilige“, anwenden dürfen. Die „Reden“ sind der „kühne und originelle Versuch, ein religionsmüdes und -fremdes Zeitalter zur Religion zurückzurufen“ (RE2, V).⁶ Die nähere Charakterisierung dieses Zeitalters allerdings fällt einigermaßen holzschnittartig aus, nicht anders als Schleiermachers eigene Darstellung der Spätaufklärung. Zwar räumt Otto ein, dass Schleiermacher „die große religionsphilosophische Gesamtarbeit der Aufklärungszeit überhaupt“ aufgreift und weiterführt (RE2, X), aber insgesamt fällt das Urteil ernüchternd aus: „Das eigentlich religiöse Gemütsleben selber, in Gefühl und Stimmung, in Andacht, Ahnung, Hingabe, im Erleben des Ewigen und in der Beziehung darauf, war verkürzt, wo nicht beseitigt“ (RE2, XIV).⁷
recht würdigen will. Und andererseits vergisst man, dass all jenes schwere Geschütz übel am Platze ist einer Schrift gegenüber, die nun einmal mehr ‚Rhapsodie‘ als Dissertation ist, in der kommende psychologische, metaphysische, erkenntnistheoretische Anschauungen sich wohl andeuten und vorbereiten aber noch nicht da sind“ (ThLZ 27 (1902), 547– 548). Deutsche Literaturzeitung 47 (1902), 2967; vgl. RE1, 179. „Es wurde eine Art Erbauungsbuch solcher, die sonst keine Erbauungsbücher lesen“ (RE1, VII). Schleiermacher „erwuchs mehr und mehr zum genialen Reformator der evangelischen Theologie, zum größten Theologen, der der evangelischen Kirche geworden ist, und, was noch mehr ist, durch sein Lebenswerk in Lehre, Predigt und persönlicher Mitteilung zum Neu-Beleber und Erwecker der Frömmigkeit für viele“ (RE1, VIf.). Das erinnert wohl nicht zufällig an Harnacks berühmte Augustindarstellung, die diesen nicht nur als „Lehrer der Kirche“ präsentierte, sondern zuvor als „Reformator der christlichen Frömmigkeit“ (Adolf von Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte, Band 3, Tübingen 41909, 59. 92). Von der Aufklärung hält Otto ebenso viel wie er davon weiß, nämlich fast nichts. In seiner Besprechung des schwedischen Originals von Nathan Söderbloms „Das Werden des Gottesglaubens“ bemerkt er zwar zum Kapitel VIII: es „wirft auf die Zeit der Aufklärung ganz neue Lichter“ (ThLZ 40 (1915), 4), schlägt aber dennoch vor, es für die deutsche Übersetzung zu streichen. – Eine der wenigen Ausnahmen in seinem Werk ist die Würdigung des 18. Jahrhunderts in KFR, 18 – 28.
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Zweifellos etablieren die „Reden“, insbesondere in der einleitenden „Apologie“, eine höchst komplexe und zugleich variable Gleichzeitigkeit von Innensichten und Außenwahrnehmungen der Religion, appellativ, werbend, überzeugend, abschreckend und analysierend.⁸ Es ist dies eine höchst moderne Art, mit der Religion umzugehen, eine Art „engagiertes Schreiben“ über die Religion, die zugleich distant und beteiligt ist.⁹ Rudolf Otto hat sich zeitlebens an dieser hochgehängten Messlatte abgearbeitet, ohne jedoch zu einer befriedigenden Lösung zu finden.¹⁰ Zu den prägenden Eindrücken der „Reden“ gehört die affektive und emotionale Dimension der Religion: „Wenn überhaupt es möglich ist für die bunte Kette und Abfolge von Erscheinungen, die man unter dem Namen ‚Religion‘ zusammenfaßt, ein Einheitliches aufzustellen, das durch alle hindurch geht, so sind es gewiß gerade die ‚überschwenglichen Gefühle‘ gewesen: das Ahnen, das Erleben einer ganz anderen, höheren Welt und ihr Eindruck auf das Gemüt je nachdem mit Schauer, mit Ehrfurcht, mit fliehendem Grauen oder schwärmender Entzückung oder demütiger Hingabe, oder kindlichem Trauen“ (RE1, VIII). Diese Passage, die bis in den Wortlaut hinein als Vorgriff auf das Programm des „Heiligen“ gelten kann, wurde in der zweiten Auflage ersatzlos gestrichen. Otto hat jedoch immer darauf insistiert, die Differenz von Anschauung und Gefühl nicht überzubewerten.¹¹ Nur zwei Aspekte seien hier noch eigens herausgegriffen: Das Problem des Theismus und das Problem der Religionsgeschichte. Zum berühmten Schluss der zweiten Rede mit ihrer Absage an die Bedeutung der Begriffe von Gott und Unsterblichkeit für die Religion merkt Otto an: „Man faßt diese Aussagen Schleiermachers zumeist nur in ihrer Tendenz gegen den dogmatischen Theismus und übersieht häufig, daß sie in der That, wie Schleiermacher behauptet, genau so scharf gegen den dogmatischen Pantheismus gehen, ja, daß sie bei aller Polemik gegen den vulgären und dogmatischen Theismus doch zugleich eine höchst positive Tendenz im Sinne eines Gottesglaubens gleichsam höherer Ordnung haben“
Vgl. Claus-Dieter Osthövener, Anonyme Theologie von Toland bis Schleiermacher, in: Anonymität und Autorschaft. Zur Literatur- und Rechtsgeschichte der Namenlosigkeit, hg.v. Stefan Pabst, Berlin/New York 2011, 217– 234 [226 – 231]. Vgl. hierzu Daniel Gold, Aesthetics and Analysis in Writing on Religion. Modern Fascinations, Berkeley/Los Angeles/London 2003. Vgl. nur „Religionskundliche und theologische Aussagen“ (GÜ, 58 – 63), sowie DH, 171, Anm. 1. Allerdings hat auch Schleiermacher dieses rhetorische Niveau der ersten Rede nicht bis zum Ende des Buches durchhalten können. „Anschauung und Gefühl sind auch in der ersten [sc. Auflage] schon ein Hendiadyion für ein unmittelbares Erleben und Fungieren der Seele, das neben ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ als ein einheitliches drittes steht“ (Rudolf Otto, Ein Vorspiel zu Schleiermachers Reden über die Religion bei J. G. Schlosser, in: Theologische Studien und Kritiken 76 [1903], 470 – 481 [479]).
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(RE1, 175; vgl. 179 ff.). Hier deutet sich ein wichtiger Leitgesichtspunkt von Ottos theologischem Werk an: „eine Brücke schlagen von dem, was man kindlichen oder naiven Theismus nennen könnte, zu einem Theismus erhöhter, spekulativ erweiterter und dadurch auch modernem Bewußtsein wieder zugänglich gemachter Stufe“. Denn dies ist „eines der bedeutsamsten Desiderate moderner Frömmigkeit und eines der zentralsten Probleme neuzeitlicher Glaubenslehre“.¹² Otto formuliert dieses Interesse an einem höheren Theismus jedoch ausdrücklich in einem durchaus ebenfalls an Schleiermacher geschulten Blick für die Ewigkeitsdimension menschlicher Existenz: „In dem uns umgebenden Endlichen, Beschränkten, Bedingten, kommt zu Tage und setzt sich durch ein ewiger Sinn, Gehalt, Plan, Ziel: ein Unendliches erscheint und leuchtet hindurch durch dies Endliche, ein Ewiges durchs Zeitliche. Eine ‚höhere Welt‘ wirkt sich aus, setzt sich durch in dieser niedren, eine jenseitige in der diesseitigen“ (RE1, 173). Die eigentümliche Stellung, die dem Numinosen später im „Heiligen“ zukommt, vor allem seine durchaus realistisch aufgefasste Wirkmächtigkeit und dynamische Präsenz, zeichnet sich hier bereits ab. Neben dem höheren Theismus ist es vor allem Schleiermachers Würdigung der Religionsgeschichte, die Otto kritisch aufgreift.¹³ Das eigentliche Verfahren wird einer massiven Kritik unterzogen: „Die wirklich vorhandenen empirischen Religionen sind nicht species eines übergeordneten Begriffes von Religion, sondern Glieder einer historischen Werde-Kette“ (RE1, 177). Otto bemängelt, dass Schleiermacher seiner eigenen Kritik an der natürlichen Religion nicht entsprochen hat, sondern genau genommen den in der zweiten Rede entfalteten Religionsbegriff unzulässig vereinfacht für die geschichtliche und konkrete Dimension der Religion in der fünften Rede eingesetzt habe. Dies ist zweifellos eine Kritik, die in vieler Hinsicht berechtigt ist. Man kann die besonders komplexen Passagen des dritten Teils des „Heiligen“ über das Heilige in der Geschichte und über die Divination als den Versuch ansehen, auf diesem richtig angelegten Pfad methodisch und sachlich weiter zu kommen, als Schleiermacher es konnte. In der Folgezeit kommt es im Zusammenhang mit der Beschäftigung mit Jakob Friedrich Fries zu einer deutlichen Distanz zu diesen enthusiastischen Anfängen. Dies schlägt sich bereits in der merklich kühleren Würdigung der zweiten Auflage von 1906 nieder und ist dann um 1909 deutlich zu greifen.¹⁴ Dennoch bleibt Schleiermachers
Rudolf Otto, Gott und das Unendliche. Von einem Theologen, in: Die Christliche Welt 17 (1903), 174– 176 [174 f.]. „Die geistvollste Entdeckung, die Schleiermacher in seinen Reden überhaupt gemacht hat, ist die von der individuellen Gestaltung der Religion in der Geschichte“ (KFR, 176). „wie eng Schleiermacher und sein ganzer Kreis zusammenhängt mit der Stimmung der Empfindsamkeit, mit dem Pietismus und dem genialischen Pietismus besonders. Dieses Ver-
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Einfluss spürbar und wirkt sich in der Konzeption des „Heiligen“ nachhaltiger aus, als es die Oberfläche des Textes vermuten lässt. Zuvor soll jedoch von der zeitdiagnostischen Arbeit Ottos die Rede sein.
Die zeitkritischen Schriften im Lichte Schleiermachers Dass es gerade Schleiermacher ist, der für solche zeitdiagnostischen Überlegungen in Frage kommt, liegt nicht zuletzt an Ottos Überzeugung, dass „in mehr als einer Hinsicht die geistige Lage von heute der von damals wieder gleicht“ (KFR, 132). Einen zeitdiagnostischen Beitrag zur Lage der Religion in der Moderne¹⁵ leistet Otto mit seinem Vortrag auf dem 6. Weltkongress für freies Christentum und religiösen Fortschritt vom 18. Juli 1913 in Paris. Er wird in der „Christlichen Welt“ veröffentlicht, aber auch in die beiden Auflagen von Vischnu-Nārāyana aufgenommen.¹⁶ Otto knüpft deutlich genug an Schleiermacher an, wenn er darauf hinweist, dass die Religion auch in der Moderne ganz selbstverständlich ihren Ort habe, „weil sie wurzelt in den Trieben und Tiefen des vernünftigen Geistes selber“ (1237). Und er schwenkt sogleich auf die von ihm hervorgehobene Einsicht der fünften Rede ein: Die Religionen unterscheiden sich „je nach ihrer historischen Bestimmtheit, nach der Eigenart ihrer Stifter und ihrer klassischen Zeiten. Ein jede von ihnen hat ihr eigentümliches höchst individuelles Gepräge, ihr eigenes inneres Lebensprinzip, ihren besondern Geist“ (1238). Daraus ergibt sich zunächst eine wissenschaftliche Aufgabe: „diesen individuellen Sondergeist der einzelnen Religionen aufzufassen ist das schwierigste und feinste Geschäft einer reifen wissenschaftlichen Religionspsychologie und Religionsgeschichte“ (1238 f.). Er äußert daher auch eine deutliche Skepsis gegen die Fragestellung selbst: „Wünschenswert ist grade in dampfen alles Dogmatischen und auch des Historischen, das Überbleiben der ‚Gefühle‘ und das sich Ergehen darin ist von daher das ganz echte Erbe“ (Deutsche Literaturzeitung 30 (1909), 2000). Gegenüber einer emphatischen Hochschätzung der Moderne war Otto stets einigermaßen zurückhaltend: „was geht uns denn ‚der moderne Mensch‘ an! Die Wahrheit der Sache geht uns an. Und wenn zwischen ihr und ‚dem‘ modernen Menschen ‚ein unüberbrückbarer Gegensatz‘ wäre, um so schlimmer! Nämlich für den modernen Menschen“ (Rudolf Otto, Der unbekannte Gott, in: Die Christliche Welt 33 (1919), 627). Rudolf Otto, Ist eine Universalreligion wünschenswert und möglich? Und wenn, wie kann man sie erreichen?, in: Die Christliche Welt 27 (1913), 1237– 1243; Vischnu-Nārāyana. Texte zur indischen Gottesmystik, Jena 1917, 151– 160 (21923, 219 – 229). In diesem späteren Druck bemerkt Otto eingangs, dass ihm diese Frage „als Thema gestellt“ wurde (a.a.O. 219). – Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf den Druck von 1913.
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unserer heutigen geistigen Situation viel weniger das ‚Universalisieren‘ als das Individualisieren und Konkretisieren“ (1239). Man merkt ihm an, dass die Vorstellung einer Universalreligion zu sehr den spätaufklärerischen Rationalismus wiederbelebt und zu wenig auf die konkrete Arbeit an den Phänomenen bezogen ist. Vielmehr stehen gerade Schleiermacher und Hegel für die „große Aufgabe läuternder Kritik, Modernisierung und Idealisierung der Religion und ihrer Reinigung und Befreiung vom historischen Schutt ihrer Entwicklung, von mythologischen und legendarischen Zutaten,von wahrheitswidriger Geschichts- und Weltauffassung“ (1241). Doch nicht dieses kritische Geschäft, so wichtig es ist, steht im Vordergrund, sondern ein neuer konstruktiver Zugriff auf das Religiöse: „den Sonder-Geist selber fein und echt auffassen, den reellen Feingehalt seiner eigenen Religion an Idee, Ideal, Gefühl, Lebensstimmung ausfindig machen, in Freiheit setzen und zeitgemäß entwickeln, ihm neue angemessene Form geben ist die Aufgabe“ (1240). Es ist bezeichnend, dass Otto mit Schleiermacher immer noch dessen Diagnose teilt, dass der technische Fortschritt der Religion am Ende nicht gefährlich wird, sondern im Gegenteil ihr die nötigen Freiräume zu verschaffen in der Lage ist.¹⁷ Schließlich entwirft Otto seine ganz eigene Vision eines „clash of cultures“: „Das wird der höchste, feierlichste Moment der Geschichte der Menschheit werden, wenn nicht mehr politische Systeme, nicht wirtschaftliche Gruppen, nicht soziale Interessen, wenn die Religionen der Menschheit gegen einander aufstehen werden, und wenn nach den Vor- und Scheingefechten um die mythologischen und dogmatischen Krusten und Hüllen, um die historischen Zufälligkeiten und gegenseitigen Unzulänglichkeiten zuletzt einmal der Kampf den hohen Stil erreichen wir, wo endlich Geist auf Geist, Ideal auf Ideal, Erlebnis auf Erlebnis trifft, wo Jeder ohne Hülle sagen muß, was er Tiefstes,was Echtes hat, und ob er was hat“ (1239). Dass es das Christentum sein wird, das diesen Kampf für sich entscheidet, ist für Otto ebenso wenig zweifelhaft,wie für Schleiermacher. Anders als für diesen aber steht die Entscheidung nicht immer schon fest. Während Schleiermacher für die Überlegenheit des Christentums grundsätzliche strukturelle Gründe angegeben hatte („die Religion der Religionen“), geht dieser Entscheidung für Otto ein „Kampf“ voraus, eine zwar friedliche, so darf man annehmen, aber in die Tiefen reichende Auseinandersetzung um das höchste religiöse Gut und seine angemessene Form. Die prinzipielle Komplementarität individueller religiöser Per-
Nachzuweisen wäre nach Otto, „daß die große Zeit der Religion nicht vorüber, sondern erst zu erwarten sei, wenn nämlich die geistige Energie des Menschengeschlechtes, vorläufig noch wesentlich auf politische, soziale, technische Aufgaben gewendet und verbraucht, hier einmal relative End- und Ruhezustände erreicht und dann, nach Innen schlagend, Leben und Kultur des Geistes zum Hauptgegenstande haben und in jetzt noch nicht zu ahnenden Entfaltungen des Gemütslebens sich auswirken wird“ (1237 f.).
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spektiven, die in Schleiermachers Universumsmetaphysik gegründet ist, gewinnt hier eine neue dynamische Wucht, zugleich auch geschichtstheologisches Potential. Auch einige, bei Otto sonst sehr seltene, Nietzsche’sche Obertöne fehlen nicht: „‚Herr‘ ist, wer über Herren siegen kann, und keine Religion darf sterben, bevor sie nicht ihr Letztes und Tiefstes sagen konnte“ (1240). Letzteres dürfte diese Geschichtstheologie als einen unendlichen, sei es auch asymptotisch verlaufenden, Prozess auffassen. Es ist dies auch mit einem modernen Missionsgedanken verbunden,¹⁸ der auf eine kulturgeschichtlich fundierte Religionshermeneutik hinausläuft, zu der Otto in den folgenden Jahren wertvolle, bis heute nicht ausgeschöpfte Beiträge geleistet hat. Schließlich versucht Otto dem Konzept einer Universalreligion doch noch etwas abzugewinnen, indem er sie als eine Religion für die Gebildeten unter den religiös Unmusikalischen fasst, indem sie „mit ihren schlichteren Inhalten echter Besitz sein kann für Unzählige, die tiefere und typische Religion nur unecht und nachgemacht haben können“ (1242). Otto überwindet damit zugleich Schleiermachers unfruchtbare Kontrastierung (in der vierten Rede) derjenigen, die die Religion „haben“ und derjenigen, die sie lediglich „suchen“. Vielmehr ist diese Form schlichterer Bildungsreligion durchaus eine legitime, wenngleich mit echter Religion nicht zu verwechselnde Haltung und Einstellung in der Moderne.¹⁹ Diese Diagnose stellte Otto nach dem Ende des Ersten Weltkriegs auf eine breitere Basis, indem er ausdrücklich die „Religionslosen“ in den Blick nahm.²⁰ Er knüpft an seine Unterscheidung vom „innerlichen Christentum“ und dem „Christentum zweiter Hand“ (276) an, eine Unterscheidung, die von Paulus bis Harnack ihre Anhänger gehabt hat, auch die „Reden“ setzen gleich auf der ersten Seite diesen Akzent. Doch entwickelt er ein differenzierteres Bild.Vor allem hält er fest, dass es nicht mehr nur um die Verachtung der Religion geht, nicht „um Feindschaft oder Gegnerschaft gegen Religion und Kirche, sondern um Konkur-
„Mission … als freie Selbstdarstellung und Anbietung, nicht der Krusten und Schalen, sondern des Lebensgeistes der eigenen Religion, … in Anerkennung und Verständnis jeder echten Aeußerung des religiösen Triebes und im Verein mit ethischer Reife, geistiger Kultur und gebildeter Weltanschauung“ (1241). Otto ist sich auch vollkommen klar darüber, dass die meisten Anhänger einer solchen echten Religion dieser nicht ohne weiteres im Tiefsten gerecht werden, sondern vielmehr eine „Religion zweiter Ordnung“ (1242) pflegen (ein Ausdruck, den er von Adolf von Harnack übernommen haben dürfte). Rudolf Otto, Die Missionspflicht der Kirche gegenüber der religionslosen Gesellschaft, in: Revolution und Kirche. Zur Neuordnung des Kirchenwesens im deutschen Volksstaat, hg.v. Friedrich Thimme und Ernst Rolffs, Berlin 1919, 273 – 300. Otto nahm diesen Beitrag in bearbeiteter Form auf in: Ders., Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes, Gießen 1925. – Die Seitenzahlen im Text beziehen sich auf die erste Ausgabe.
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renz, um das einfache Dasein neuer gewaltiger selbständiger Interessen weltlicher Art“ (274). Neben den sehr aufschlussreichen Analysen der gegenwärtigen Lage sticht vor allem wieder das Zutrauen auf die konkrete und individuelle Religion hervor: Es gilt, „zunächst im eigenen Kreise wieder eine Gesamthaltung des Lebens, einen charakterisierten Lebensinhalt, einen eigenen religiösen Lebensstil und zugleich eine religiöse Gruppenbestimmtheit und Kultur wieder zu bauen, die dann auf Außenstehende anziehend oder abstoßend wirken möge, aber jedenfalls erst einmal in sich selber ein Deutliches mit ausgeprägtem Sondergehalte und Eigenwesen wäre“ (280). Das ist für Otto in erster Linie ein Bildungsproblem.²¹ Doch kann es bei solchen Bildungsaufgaben allein nicht bleiben. „Hand in Hand mit solcher gesteigerten ‚Bildung in der Religion‘ aber muss dann eine Steigerung der religiösen Innerlichkeit selber, und mit spezifisch religiösen Methoden, gehen, eine Methodik des religiösen Erlebens und Frommseins selber“ (283). Otto ist sich bewusst, hier Irritationen hervorzurufen. Aber er hat genügend Erfahrung mit der christlichen und der außerchristlichen Religiosität gewonnen, um sicher sagen zu können: „Gefühlsleben überhaupt, und religiöses Gefühlsleben besonders bedarf methodischer Zucht, weiser und planmäßiger Übung“ (283). Die folgenden Jahre wird er versuchen, dieser planmäßigen Übung die geeigneten liturgischen Formen anzupassen. Weniger interessierte er sich für Experimente neuer Gemeinschaftsformen, die Ekklesiologie im engeren Sinne war ihm zeitlebens kein vordringliches Thema. Doch wird man auch und gerade hier die Spuren Schleiermachers entdecken können. „Man kann zur Religion nur zurückgewinnen durch Religion selber“ (284), eine offenkundige Folge des Satzes: „Religion fängt mit sich selber an“. Dazu aber bedarf es nicht der Homogenität, sondern der Pluralität und Individualität. Schleiermachers „Miteinander- und Aufeinanderwirken“ als Grundstruktur des christlichen Gesamtlebens liegt hier deutlich genug zu Tage. Die von Otto vorausgesehenen Folgen werden durchaus erheblich sein: „eine Nebeneinander verschieden gestalteter Predigt und Kultusform, die Freigabe der Gestaltung von Liturgie und Bekenntnisformel“ (288). Man könnte meinen, dass Otto damit erheblich über Schleiermachers Vorstellungen hinausgreift. Aber hier fällt nun zum ersten Mal dessen Name: „Ein solches Ideal von Kirchenbildung hat schon Schleiermacher vor mehr als hundert Jahren in seinen ‚Reden über die Religion‘ erschaut. Wir hoffen, daß heute die Zeit dafür reifer sein möge, als damals“ (288). Eine bemerkenswerte Anknüpfung. Der Schleiermacher der ersten Auflage der „Reden“ hatte sich nach und nach, mühsam genug, den institutionellen Erfor-
„Zu überwinden ist innerhalb des religiösen Kreises selber zunächst die Naivität und kindliche, bisweilen kindische Primitivität unseres religiösen Lehr- und Bildungsbetriebes. Hier ist simplicitas im Übermaße, aber keine sancta“ (280).
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dernissen gegenwärtiger Kirchlichkeit angenähert, wie ja gerade die Anmerkungen zur dritten Auflage, die den Anschluss an die „Glaubenslehre“ suchen, belegen. Und nun ist es gerade diese frühe Schau fast völlig individualisierter, nur mehr in kleinen spontanen Zusammenschlüssen greifbarer Gemeinschaft, die die Blaupause abgeben soll für die Kirche der Zukunft. Kühn, in der Tat, und heute kaum weniger kühn als damals. „Wir glauben an das freie Spiel der Kräfte“, heißt es noch zehn Jahre später.²²
Der Beitrag Schleiermachers zum „Heiligen“ Weder der Beitrag Schleiermachers zum Projekt „Das Heilige“ noch überhaupt seine Präsenz im Spätwerk Ottos können hier en détail entfaltet werden. Einige wenige Hinweise müssen genügen. „Das Heilige“²³ ist in vielfacher Hinsicht eine Auseinandersetzung mit Schleiermacher und keineswegs nur dort, wo der Name fällt. Nicht ohne Grund hatte Otto bei Gelegenheit der ersten Auflage seiner Edition der „Reden“ angemerkt: „im einzelnen mit den ‚Reden über die Religion‘ sich auseinanderzusetzen, hieße selber welche halten“ (RE1, 179). Eben dies tat er im „Heiligen“, es ist auch in seinem Aufbau den „Reden“ nachgebildet: Die „Apologie“ fällt naturgemäß sehr kurz aus (Kap. 1– 2), die Bestimmung des „Wesens der Religion“ (nämlich der Momente des Numinosen) ist ähnlich gewichtig wie in den „Reden“ (Kap. 3 – 10). Der zweite Hauptteil über die „Ausdrucksmittel des Numinosen“ (Kap. 11– 14) entspricht der dritten und vierten Rede, sofern es diese mit „Ausdruck“ und „Mitteilung“ zu tun haben und der dritte Hauptteil (Kap. 15 – 23) über Religion und Geschichte auf der Grundlage einer Religionshermeneutik („Deuten von innen her“) nimmt auf eigene Weise die Thematik der fünften Rede auf. Stets ist Schleiermacher in den exponierenden Anfangspassagen präsent, ob nun genannt oder ungenannt. Das liegt auf der Hand am Beginn der Analyse der Momente des Numinosen (DH, 9 – 24), wo das schlechthinnige Abhängigkeitsgefühl als kritische Grundlage der eigenen Exposition dient. Ebenso klar liegen die Dinge in der Erörterung des Begriffs der „Divination“ im dritten Hauptteil (DH, 175 – 179. 183 – 188), wo schließlich Goethes Gedanke des „Dämonischen“ als tiefer empfunden wird. Aber auch der Beginn des dritten Teils knüpft mit dem Begriff der
Aus Rudolf Ottos Vortrag, Die gemeinsamen Aufgaben des Protestantismus in der Gegenwart, Marburg, den 14. September, in: Die Christliche Welt 43 (1929), 885 – 887 [885]. „Das Heilige“ wird mit einfachen Seitenzahlen nach der letzten Ausgabe (München 1936) zitiert, obwohl diese Bearbeitung keineswegs den besten Text bietet, weder im Blick auf die Sache, noch im Blick auf die zahlreichen Setzfehler. Eine kritische Ausgabe des „Heiligen“ ist ein längst überfälliges Desiderat.
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„Anlage“ deutlich genug an Schleiermacher an (DH, 138 – 142). Dasselbe gilt vom Beginn des zweiten Teils, der das numinose Gefühl daraufhin untersucht, wie es sich „ausdrückt und … überträgt“ (DH, 79), wobei der hier für Schleiermachers „Mitteilung“ eingesetzte Begriff des „Übertragens“ sogleich kritisch revidiert wird: „Zwar ‚übertragen‘ im eigentlichen Sinne tut sich’s überhaupt nicht: es ist nicht ‚lehrbar‘, nur erweckbar aus ‚dem Geiste‘. Man behauptet bisweilen dasselbe von der Religion überhaupt und im ganzen. Mit Unrecht“ (ebd.). Letzteres ist nun eine klare Absetzung von Schleiermachers entsprechenden Ausführungen am Beginn der dritten Rede, die aber schon deswegen nicht überzeugt, weil Schleiermacher die von Otto ins Spiel gebrachte „Lehrbarkeit“ gar nicht leugnet, nur eben nicht für das Wesentliche an der Religion hält. Otto setzt im Schlussteil des „Heiligen“ insbesondere seine frühe Kritik an der fünften Rede konstruktiv um: „Keine Frage, daß diese Ausführungen künstliche Konstruktion sind, der sich die geschichtliche Wirklichkeit nicht fügt. Es geht nicht an, zunächst einen Allgemeinbegriff des ‚Wesens‘ der Religion aufzustellen, sodann auf ein principium individuationis sich zu besinnen, und daraus die species, die individuellen Ausprägungen jenes gemeinschaftlichen Wesens zu konstruieren. Die wirklich vorhandenen empirischen Religionen sind nicht species eines übergeordneten Begriffes von Religion, sondern Glieder einer historischen WerdeKette, einer Entwickelungsreihe“ (RE1, 177).²⁴ Eben durch solche kritischen Beobachtungen am Verhältnis der fünften zu zweiten Rede hat Otto dann seine eigene, ihrerseits keineswegs unproblematische, Verschränkung von begrifflicher und historischer Auffassung der Religion in den Kapiteln 16 – 19 des „Heiligen“ orientiert und mit dem religionshermeneutischen Grundbegriff der Divination (Kap. 20 – 23) verknüpft, der wiederum aus dem Nachwort zur zweiten Auflage der „Reden“ herausgewachsen ist.²⁵ Eine gründliche Analyse dieser vielfachen Bezüge zwischen dem „Heiligen“ und den „Reden“ wird an anderem Ort erfolgen.
Die Stellung Schleiermachers im Werk Rudolf Ottos In der eingangs zitierten Rezension aus dem Jahr 1904 gibt Rudolf Otto einem starken Wunsch deutlichen Ausdruck: „Vielleicht, daß einer die Zeichen der Zeit
„Religion ist nicht der Oberbegriff, darunter ‚die Religionen‘ zu subordinieren (wie Adler und Gans unter Vogel), sondern vielleicht ein Gemeinsames in allen, darunter sie zu subsummieren sind (wie Rose und Kirsche unter Rot) besser noch ein Name für ein Entwicklungsgebiet, in dem die einzelnen Phasen ‚die Religionen‘ wesentlich heterogene Elemente gewinnen können“ (ebd.). Vgl. auch die nochmals verfeinerte Analyse in RE2, XXXIII–XXXVIII. Vgl. RE2, XXXVIII–XLV, bes. XLII.
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deutet und uns verrät, wo sie hinaus will“.²⁶ Otto selbst hat sich wohl nicht als diesen Deuter gesehen, denn noch 1923 wiederholt er diesen Wunsch, wenn er auf die von Schleiermacher hochgeschätzte Divination hinsichtlich der Geschichte zu sprechen kommt: „Wird sich kein numine afflatus finden, der das Irrational-Numinose, das ‚Un-geheuere‘ unserer eigenen Zeitgeschichte erahndet?“²⁷ Doch sind die zeitdiagnostischen Texte Rudolf Ottos aufschlussreich genug, nicht zuletzt deswegen, weil sie auf weitreichende kulturtheoretische Annahmen und Ausblicke verzichten und sich wirklich um die Religion kümmern, nicht um irgendwelche soziologisch mehr oder minder interessanten Außenwerke. Deswegen sind sie auch bis zum heutigen Tage aktuell. Eine andere Frage ist es, inwieweit Otto den akademischen Disziplinen noch etwas bedeuten kann. Die Religionswissenschaft, die sich aus methodischen Gründen eine strikte Zurückhaltung gegenüber Geltungsfragen auferlegt hat, die zugleich misstrauisch ist gegen Intuitionen und Wertperspektiven, sie kann offenkundig mit Rudolf Otto in der Regel ebenso wenig mehr anfangen wie mit Friedrich Schleiermacher.²⁸ Ob in diese verfahrene Situation wieder ein wenig Bewegung kommt, muss abgewartet werden.²⁹ Für die Theologie jedoch ist Rudolf Ottos hermeneutisches Perspektivenbündel im „Heiligen“ mindestens so ergiebig wie dasjenige von Schleiermachers „Reden“. Vermutlich dürften diese beiden schwungvollen Bücher gerade durch eine wechselseitige Beleuchtung noch einiges an Dynamik freisetzen.
Rudolf Otto, Moderne Religionen (Anm. 1), 100. AN, 58; der Passus wurde in der Wiederaufnahme des Textes in GÜ, 278 gestrichen. Selbst der für diese Thematik sensible und aufgeschlossene Daniel Gold verortet Schleiermacher und Otto in einer im Grunde nicht mehr vermittelbaren Extremposition innerhalb des Spektrums von engagiertem und distanziertem Schreiben über die Religion (Daniel Gold, Aesthetics and Analysis in Writing on Religion [Anm. 9], 19 f.). Vgl. immerhin die Würdigung beider Denker in dem von Axel Michaels herausgegebenen Band über „Klassiker der Religionswissenschaft“ (München 32010), sowie Annette Wilke, „Stimmungen“ und „Zustände“. Indische Ästhetik und Gefühlsreligiosität, in: Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie?, hg.v. Axel Michaels u. a., Bern u. a. 2001, 103 – 126. Vgl. jetzt Christine Helmer, Theology and the study of religion: a relationship, in: The Cambridge Companion to Religious Studies, hg.v. Robert A. Orsi, Cambridge 2012, 230 – 254, sowie Robert A. Orsi, The problem of the holy (a.a.O. 84– 105).
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Religionsphilosophie und Theologie Rudolf Ottos Bezug auf Wilhelm Martin Leberecht de Wette „Wie sich … die Religionsphilosophie zur Theologie verhält,wie jene sich auf diese anwendet und diese jene voraussetzt, und damit die alten und wichtigen Vorfragen der theologischen Systematik nach dem Verhältnis von Philosophie zu Theologie, von Religionsphilosophie zu christlicher Glaubenslehre“ sind nach der Überzeugung von Rudolf Otto von Wilhelm Martin Leberecht de Wette (1780 – 1849) „lehrreich aufgenommen und seiner Zeit weit voraus gearbeitet“.¹
Otto, der sich in seiner Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie ausführlich mit de Wettes Werken befasst, findet bei de Wette jene Art der Theologie, „die nach den Tagen des Rationalismus zuerst wieder versucht, auf wissenschaftlich und philosophisch erweiterter Grundlage Wesen und Geist des Christentums neu aufzufassen“.² Die „moderne Theologie“³ kann ihren Gegenstandsbereich nur erfassen, wenn sie zuvor in einer religionsphilosophischen Grundlegung die Methoden und Kategorien erarbeitet,welche die Erfassung und Darstellung des ihr eigentümlichen Themas erlauben. Die Theologie bedarf daher einer Religionsphilosophie, die zu untersuchen hat, „wie Religion und religiöse Überzeugung und religiöses Erleben im vernünftigen Geiste selber entspringt, aus welchen Vermögen und Anlagen desselben sie hervorgeht und welchen Anspruch auf Gültigkeit sie dadurch hat“.⁴ Mit seiner religionsphilosophischen Grundlegung der Theologie hat de Wette in Ottos Augen bereits weitsichtig auf den Problemdruck reagiert, der durch die Historisierung und Empirisierung der Wissenschaft sowie insbesondere durch die religionsgeschichtliche Forschung entstanden war. Für die Theologie stellt sich in KFR, 130. Zur Person und zum Werk von Wilhelm Martin Leberecht de Wette vgl. John W. Rogerson, W. M. L. De Wette. Founder of Modern Biblical Criticism. An Intellectual Biography (JSOT.S 126), Sheffield 1992; Rudolf Smend, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Arbeit am Alten und Neuen Testament, Basel 1958; Ders., Martin Leberecht de Wette, in: Theologen des Protestantismus im 19. und 20. Jahrhundert, hg.v. Martin Greschat, Stuttgart 1978(b), 44– 58; Jan Rohls, Liberale Romantik. Wilhelm Martin Leberecht de Wette 1780 – 1849, in: Profile des neuzeitlichen Protestantismus, Bd. 1, Aufklärung Idealismus Vormärz, hg.v. Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 1990, 233 – 250. Vgl. Hans-Peter Mathys/Klaus Seybold (Hg.), Wilhelm Martin Leberecht de Wette. Ein Universaltheologe des 19. Jahrhunderts (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, N.F. 1), Basel 2001. Zu den Quellen, der zeitgenössischen Literatur sowie der Sekundärliteratur zu de Wette vgl. die dortige Bibliographie, 149 – 153. KFR, IX. KFR, 192. KFR, VI.
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diesem Kontext die Aufgabe, ihr normatives Interesse durch eine Theorie der empirischen Religionen zu begründen. Um diese Aufgabe zu erfüllen, muss die Theologie mit einer allgemein religionswissenschaftlichen Theorie konvergieren, mithin religionsphilosophisch fundiert sein. Die folgenden Ausführungen beleuchten zunächst den Bezugsrahmen für de Wettes religionsphilosophische Begründung der Theologie, bevor diejenigen Aspekte seiner Religionstheorie in den Fokus gerückt werden, die für Otto die entscheidenden Bezugspunkte im Werk de Wettes sind. Damit wird ein Teil des Wurzelbodens der Religionsphilosophie Ottos freigelegt, bevor abschließend seine Rezeption von de Wettes Verhältnisbestimmung von Theologie und Religionsphilosophie festgehalten wird.
1 Zum Bezugsrahmen und zeitgenössischen Kontext de Wettes⁵ De Wette reifte in Jena zum Bibelwissenschaftler in einer Phase der Wissenschaftsgeschichte, in der es zum Aufbruch des Frühkantianismus kam, der das Selbstbewusstsein der Vernunft neu begründete.⁶ Kants Schrift ‚Der Streit der Fakultäten‘ war 1798 erschienen, ein Jahr bevor de Wette sein Studium in Jena begann. Gegen die darin von Kant vorgenommene Unterordnung der biblischen Theologie unter die Philosophie hatte Herder protestiert und betont, dass Religion etwas Ursprüngliches sei. Sie werde nur als Religion verstanden, wenn sie von sich selbst her zum Verstehen komme, nicht wenn sie von der Philosophie her bestimmt und konstruiert werde.⁷ De Wette hatte bereits als Schüler auf dem Gymnasium in Weimar (1796 – 1799) die ästhetische Auffassung vom Wesen der
Zum zeitgenössischen Kontext der Religionstheorie de Wettes vgl. Christine Axt-Piscalar, De Wettes Religionstheorie, in: Wilhelm Martin Leberecht de Wette, hg.v. Hans-Peter Mathys/Klaus Seybold (Anm. 1), 108 – 126, bes. 109 – 118. Norbert Hinske/Erhard Lange/Horst Schröpfer (Hg.), Der Aufbruch in den Kantianismus. Der Frühkantianismus an der Universität Jena von 1785 – 1800 und seine Vorgeschichte (Forschungen und Materialien zur deutschen Aufklärung Abt. II Monografien Bd. 6), Stuttgart-Bad Cannstatt 1995. Vgl. Johann Gottfried Herder, Metakritik, in: Schriften zu Literatur und Philosophie 1792– 1800. Werke Bd. 8, hg.v. Hans Dietrich Irmscher (Bibliothek Deutscher Klassiker 154), Frankfurt a.M. 1998, 622– 640. Zum Ganzen vgl. Christoph Bultmann, Philosophie und Exegese bei W. M. L. de Wette. Der Pentateuch als Nationalepos Israels, in: Wilhelm Martin Leberecht de Wette, hg.v. Hans-Peter Mathys/Klaus Seybold (Anm. 1), 44– 61.46.
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Religion sowie Herders Verständnis von Geschichte von dem dortigen Generalsuperintendenten aufgenommen.⁸ Mit Kants rationalistischer Ethikotheologie und Herders kulturanthropologischer Geschichtstheologie bilden somit zwei markant unterschiedliche und in Teilen gegenläufige neuzeitlich-theologische Theoriestränge den anspruchsvollen Bezugsrahmen für de Wettes Religionsphilosophie. Er sieht sich vor die Aufgabe gestellt, die Geschichtlichkeit der Religion und ihre vielfältigen empirischen Erscheinungen, ihre Verortung und Funktion im Ganzen der Vernunft sowie die theologische Selbstreflexion des religiösen Bewusstseins miteinander zu vermitteln. Dahinter bleiben in seinen Augen die zeitgenössischen Religionsphilosophien zurück, da sie „nichts als Moral“ oder „pantheistische Ideen“ in die Theologie hineintrügen.⁹ De Wette hält Kants moralphilosophische Argumentationslinie für problematisch, da dieser in seiner Religionsschrift die Geltung der Inhalte der positiven Religion des Christentums an den Maßstab der praktischen Vernunft rückbinde.¹⁰ Auf diesem Weg gibt er „der Sittlichkeit im Menschen ein solches Uebergewicht, dass von ihr erst die Religion ihre Begründung und Bedeutung erhalten sollte“, womit er aber „ganz das Gebiet des religiösen Gefühls im Menschen“¹¹ verkennt. Zudem hält er Kant vor, mit der Idee Gottes als einem notwendigen Postulat der praktischen Vernunft den Gottesbegriff in eine abstrakte Überweltlichkeit zu heben. Damit kann das Individuum von diesem Gott keinen Trost erwarten und kein religiöses Verhältnis des Einzelnen zu diesem Gott gedacht werden.¹² Dieser
„Die Gedanken Herders waren das schönste, geistesmächtigste und wohl auch wirksamste Element der exegetischen Welt, in die der junge De Wette hineinwuchs.“ (Rudolf Smend, De Wettes Arbeit am Alten und Neuen Testament [Anm. 1], 14). De Wette selber äußert sich anlässlich der Hundertjahrfeier von Herders Geburtstag am 24. August 1844 über Herder als denjenigen Mann, „der auf meine allgemeine und theologische Bildung durch seine Schriften so viel Einfluß gehabt … den ich immer als den Vorläufer einer verjüngten begeisterten und begeisternden Theologie betrachtet habe“. Ernst Staehelin, Dewettiana. Forschungen und Texte zu Wilhelm Martin Leberecht de Wettes Leben und Werk (Studien zur Geschichte der Wissenschaften in Basel, Bd. 2), Basel 1956, 184. Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie. Erläuterungen zu seinem Lehrbuch der Dogmatik, Berlin 1815, 2. Aufl. Berlin 1821, 165. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft (1793), in: Werke in zehn Bänden, hg.v. Wilhelm Weischedel, Darmstadt 1983, Bd. 7. Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie (Anm. 9), 148. In seinem bereits zwei Jahre nach Beginn des Theologiestudiums 1801 veröffentlichten Aufsatz ‚Eine Idee über das Studium der Theologie‘ beleuchtet de Wette das Defizit einer moralischen Vernunftreligion kantischer Prägung und vollzieht die Abkehr vom theologischen Rationalismus hin zur ästhetischen Umformung des Religionsbegriffs. Vgl. Wilhelm Martin L. de
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„Weltgott [ist] nicht der Christen Gott, der hoch über der Welt als ihr Schöpfer und Regierer thront, zu welchem, als dem liebenden Vater, das fromme Gemüth vertrauensvoll aufblickt“.¹³ Mit der kritischen Beleuchtung des kantischen Gottesbegriffs konvergiert de Wettes Kritik an Schellings spekulativer Naturphilosophie, die er als Pantheismus bezeichnet.¹⁴ Hier werde im Kern eine Selbstexplikation des Absoluten in der Welt behauptet und der Versuch unternommen „das Endliche und die Entstehung aller Dinge rational aus dem Unendlichen abzuleiten und apriori zu konstruieren“.¹⁵ Ein pantheistisch geprägter Gottesbegriff hebt aber die Grundinteressen des religiösen Bewusstseins auf, die in der Idee der Freiheit und in der Unterscheidung zwischen Gut und Böse liegen. Zudem verkennt die pantheistische Vorstellung der Selbstexplikation des Absoluten im Weltprozess, dass Natur und Geschichte keine selbstevidente Offenbarungsquellen für eine „religiösen Anschauung der Welt“¹⁶ sind, sondern interpretationsbedürftige Medien dieser Anschauung. Hier setzt auch de Wettes Kritik an Schleiermacher an, wenn er in seiner Rezension der zweiten Auflage von Schleiermachers ‚Reden‘ zur religiösen Anschauung der Natur bemerkt: „Sollen wir da unseren Glauben an Gott suchen, so sind wir übel berathen.“¹⁷ Und der teleologisch ausgerichteten Geschichtsbetrachtung stellt er die Kontingenz der Welt gegenüber, sodass die religiöse Leistungskraft der romantischen Naturanschauung und Geschichtsdeutung begrenzt ist.¹⁸ Den Religionsbegriff will de Wette „höher und umfassender“ als Schleiermacher bestimmen, denn Religion ist nicht „eine einzelne Funktion und Anlage des Gemüts“ und hat ihren Platz nicht „neben jenen einzelnen Thätigkeiten und Anlagen“, sondern über denselben bzw. Religion ist „die Totalität“¹⁹. Zur Frage ihres Ursprungs erklärt er: „Der Glaube an Gott ist uns gegeben vor aller Weltanschauung [d.h. der Betrachtung von Natur und Geschichte in ihrem großen Zusammenhang, MI], mit unserem Ich ist schon ein Ur-Ich gesetzt; und die äußere
Wette, Eine Idee über das Studium der Theologie (Sommer 1801), dem Drucke übergeben und mit einer Vorrede begleitet von Adolf Stieren, Leipzig 1850. Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie (Anm. 9), 165. Zur Argumentation de Wettes gegen den Pantheismus vgl. Christine Axt-Piscalar, De Wettes Religionstheorie (Anm. 5), 116 – 118. Zitiert nach KFR, 137. Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie (Anm. 9), 67. Ders., Rezension von: F. D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, in: Jenaische Allgemeine Literatur-Zeitung Nr. 131 (5. Juni 1807), Sp. 433 – 440 u. Nr. 132, (6. Juni 1807), Sp. 441– 448.Sp. 437. „(D)die Welt deuten und verstehen zu wollen in göttlicher Bedeutung, ist ein vergebliches Beginnen.“ A.a.O. Sp. 441. A.a.O. Sp. 443 f.
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Welt mit der inneren in Harmonie zu setzen, Gott in der Welt zu finden, ist nur ein Geschäft, eine Folge der Religion, nicht die Religion selbst.“²⁰ In der Terminologie Fichtes will de Wette zeigen, dass Religion als die eigentliche Bestimmtheit eines Ur-Ich immer schon da ist und daher philosophisch im Sich-selbst-Verstehen des Ich aufgefunden werden kann. Im Anschluss an Jakob Friedrich Fries (1773 – 1843) kommt de Wette zu dem Urteil, dass der kritischen Philosophie Kants „der einfache klare Gedanke (fehlte), dass sie von der inneren Naturbeschreibung oder Anthropologie ausgehen müsse“²¹. Dies habe Fries mit seiner anthropologischen Wendung der Philosophie korrigiert und damit die wahre Stellung der Ideen der Religion und Ästhetik im Geistesleben des Menschen beachtet.²² De Wette macht sich Fries’ phänomenologisch angelegte Beschreibung menschlicher Formen des Wissens zu Eigen, die dieser in Wissen, Glauben und Ahnden unterscheidet.²³ De Wette sieht hier die Beschränkungen des menschlichen Wissens beachtet, gleichwohl lässt sich die anthropologisch aufzufindende religiöse Konstitution des Menschen mit dem Begriff des Glaubens als Entdeckung einer intelligiblen Welt und der Welt der Erfahrung aufschließen. Ausgangspunkt ist ein „unvertilgliches Selbstgefühl“²⁴ im Menschen, welches diesen über die dissonante und selbst für sein rationales Erkenntnisinteresse ungenügende Welt der Erfahrung erhebt. Dadurch eröffnet sich eine andere Sphäre, die intelligible Welt, die Gegenstand eines Vernunftglaubens ist. Dieser Vernunftglaube hat seinen Grund im Verstehen des Ich²⁵ und sein Gegenstand sind die religiösen Ideen: das ewige Sein, Gott als „Urquell“ des Seins, die unsterbliche Seele und die Freiheit. Neben dem Glauben als „nothwendige Überzeugung aus bloßer Vernunft“ ist die Ahndung „eine nothwendige Überzeugung aus bloßem Gefühl“²⁶. Die Ideen des Glaubens werden durch Gefühle „in den ästhetischen Ideen der Ahndung“²⁷ auf die Welt der Erfahrung bezogen. Daher besteht das Leben der Religion „im Gefühl und ihre Formen, unter denen sie sich ausspricht, … (sind) lediglich ästhetisch“²⁸.
A.a.O. Sp. 441. Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie (Anm. 9), 168. Jakob Friedrich Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, Jena 1807. Vgl. Jakob Friedrich Fries, Wissen, Glauben, Ahndung, Jena 1805, neu hg.v. Leonhard Nelson, Göttingen 21931, 64. Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie (Anm. 9), 8. „… in meinem Inneren suche ich … für die Idee des Ewigen einen festen Gegenstand, und finde ihn in meiner unsterblichen Seele.“ (A.a.O. 20.) Jakob Friedrich Fries, Wissen, Gaube und Ahndung (Anm. 23), 16. A.a.O. 74– 76. Wilhelm Martin L. de Wette, Lehrbuch der christlichen Dogmatik, in ihrer historischen Entwickelung dargestellt. Erster Theil: Biblische Dogmatik Alten und Neuen Testaments oder
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2 Intuitiver Realismus, religiös-ästhetische Gefühlstheorie und die Zuwendung zur positiven Religion – Ottos Bezugspunkte in der Religionstheorie de Wettes Mit seiner Religionstheorie unternimmt de Wette den Versuch, die Selbstständigkeit der Religion im Verbund der menschlichen Geistestätigkeiten zu begründen sowie die Religion als notwendige Anlage des menschlichen Geistes aufweisen. Zudem will er den Zusammenhang von formal apriorischen Faktoren menschlicher Erkenntnis und konkretem empirisch-geschichtlichem Material bzw. den Zusammenhang zwischen dem Wesen der Religion und ihren geschichtlichen Erscheinungsformen bestimmen. De Wette versteht die Religion als eine „eigenthümliche Ueberzeugungsweise des Menschen“²⁹, die eine bestimmte Haltung und Wahrnehmung der Wirklichkeit impliziert. Sie „ergänzt und vollendet … das Leben, indem sie über das Endliche und Unvollkommene erhebt, und das Ewige und Vollkommene, das sich der That wie der Erkenntnis entzieht, im Glauben und Gefühl erfassen lehrt.“³⁰ Sie lässt als „religiöse Anschauung der Welt“³¹ im Medium ästhetischer Gefühle das Ewige im Zeitlichen erahnen. Wie Otto in seiner Erörterung der Werke de Wettes mehrfach betont, ist dieser davon überzeugt, dass der Theologie der Rückzug auf den Supranaturalismus versagt ist und sie von der Vermittelbarkeit zwischen Offenbarung und Vernunft ausgehen muss.³² De Wette bestimmt die Vernunft als ein intuitiv-unmittelbares Wirklichkeitsbewusstsein, der zugleich eine Tätigkeit in der Ausbildung von Ideen wie ein reines untrügliches Vernehmen zugrundeliegt. In der Annahme eines unmittelbaren Wirklichkeitsbewusstseins der Vernunft sieht de Wette in der Auseinandersetzung mit Kant deren spezifische Differenz gegenüber dem Verstand. Daher kommt Otto bei der Interpretation de Wettes zu der Bestimmung, Vernunft sei das „Vermögen einer unabhängigen eigenen Urerkenntnis in deut-
kritische Darstellung der Religionslehre des Hebraismus, des Judenthums und Urchristenthums. Zum Gebrauch akademischer Vorlesungen, Berlin 1813, 17. Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie (Anm. 9), 2. A.a.O. 71 f. A.a.O. 67. Zur ästhetischen Religionstheorie de Wettes und seiner religiös-ästhetischen Weltsicht vgl. Markus Buntfuss, Die Erscheinungsformen des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und de Wette (AKG 89), Berlin/ New York 2004, 174– 201. KFR, 160.173 f.
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lichem Unterschiede zu der nur immer mittelbaren Erkenntnis des Verstandes“³³. Die Vernunft ist für de Wette in der Lage, eine unmittelbare Wirklichkeitsgewissheit zu erzeugen, da neben dem ‚Wissen‘ als exklusive Form der theoretischen Erkenntnis bei Kant, mit dem ‚Glauben‘ eine zweite Form der Vernunfterkenntnis mit Fries geltend zu machen ist. ‚Glauben‘ meint dabei nicht bloß eine subjektive Form des Wissens, sondern eine im vernünftigen Geist sicher gründende Form einer höheren Erkenntnis. Die Erkenntnisform des Wissens führt „von selbst“³⁴ zu einer höheren Erkenntnisweise, weil die Vernunft auf Einheit und Totalität ausgreift. Allerdings können wir „in der Erfahrungswelt die Einheit, Vollendung und Unbedingtheit nicht finden“³⁵, obwohl wir diese Ideen in uns vorfinden bzw. die Vernunft diese Ideen ausgebildet hat. Da die Erkenntnis von Einheit und Notwendigkeit im Wesen der Dinge das Grundwesen der Vernunft ausmacht, führt diese auf dem Weg der Reflexion notwendigerweise zur Idee eines unendlich und absolut notwendig Absoluten. Identifiziert man mit de Wette diese Idee mit dem Gottesgedanken, ist dieser ein notwendiger Gedanke der Vernunft, womit „die spekulativen Wahrheiten, auf welche sich die Religion gründet“, aus den „Grundgesetzen der menschlichen Vernunft“ heraus entwickelt werden können.³⁶ Der Gottesgedanke steht für das Ganze und die Einheit des Wirklichen, das die Vernunft unmittelbar zu wissen imstande ist. Dabei ist bei de Wette Gott als der Grund der Einheit des Wirklichen von ihm als dem Begründeten unterschieden – eine Differenz, die auch für Otto eine zentrale Rolle spielt.³⁷ Die Einheit ist nur denkbar als Wirkung einer einheitlichen, notwendigen und außerweltlichen Ursache von Allem überhaupt. Mit dem Rückgang auf die Unmittelbarkeit der Vernunft und deren „basales Intuitionsvermögen“³⁸ will de Wette den vermeintlichen Subjektivismus der theoretischen Vernunft bei Kant unterlaufen. Mit der Unableitbarkeit der Vernunft sind auch die vernünftigen Ideen von Freiheit, Gott, Seele als mit gleicher Ur-
KFR, 141. Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie (Anm. 9), 8. A.a.O. 9. „So hat die Vernunft mit der Idee Gottes den höchsten Punkt erstiegen, wo sie alle ihre Forderungen befriedigt findet, den höchsten Punkt der Einheit und Notwendigkeit im Wesen der Dinge.“ (Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie [Anm. 9], 36).Vgl. dazu Buntfuss, Die Erscheinungsformen des Christentums (Anm. 31), 190 – 192. Vgl. dazu Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler (BHTh 82), Tübingen 1992, 104– 139.111. A.a.O. 109.
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sprünglichkeit anzunehmen.³⁹ Diese Ideen treten in der Form eines unmittelbaren Realitätsbewusstseins auf, sodass de Wettes erkenntnistheoretisches Programm dieselben Züge eines „intuitiven Realismus“ aufweist, wie sie Pfleiderer für die Erkenntnistheorie Ottos ausgemacht hat.⁴⁰ Die Explikation der in der Unmittelbarkeit des Vernunftglaubens ruhenden Inhalte vollzieht sich im Medium von religiösen Ahnungen und Gefühlen.⁴¹ Der Aufweis der religiösen Ideen kann nicht durch ein demonstratives Schlussverfahren erreicht werden, sondern nur durch den Bezug auf das Gefühl bzw. durch Aussagen des eigenen Wahrheitsgefühls. Das religiöse Gefühl ist die Tätigkeit des menschlichen Geistes, wodurch das Unbedingte auf das Bedingte bezogen, das Unbedingte im Bedingten, das Bedingte im Licht des Unbedingten angeschaut wird. Wie Herder und Schleiermacher betont de Wette, „dass die Religion nur im Gefühl lebendig werden kann“, da dasjenige, was dem Verstand versagt ist, nämlich im Subjektiven das Objektive zu finden, dem Gefühl „verstattet“⁴² ist. Otto findet bei de Wette im Vergleich zu Schleiermacher einen ausdifferenzierteren Gefühlsbegriff vor. Zum einen fasst de Wette die Gefühle intentional und bestimmt sie als mit Vorstellungsgehalten gekoppelt.⁴³ Zum anderen ordnet er den jeweiligen religiösen Ideen entsprechende Grundstimmungen zu: Begeisterung, Resignation und Andacht und gelangt somit zu einer Art „Phänomenologie der religiösen Gefühle“⁴⁴. Die religiösen Gefühle, in welche die Ahnung gegliedert ist, sind die „rein religiösen Elemente“⁴⁵ in einer Religion. Auf dieser philosophischen Grundlage kann der Religionshistoriker nun dasjenige auszeichnen, was in seinem Material das religiös Wesentliche ist. Er hat so ein notwendiges Kriterium dafür, Vermischungen von Glaube und Wissen bzw. fremde Einkleidungen der rein religiösen Elemente aufzuklären. Hier zeichnet sich nun ein dritter zentraler Bezugspunkt Ottos auf de Wettes Religionstheorie ab: die Unterscheidung zwischen der Religion und deren Erscheinungen oder dem, was de Wette in seiner Rezension von Schleiermachers
Mit den religiösen Ideen geht die Gewissheit von deren objektiver Gültigkeit unmittelbar einher. Diese tragen sie „in sich selbst, und die Vernunft kann, ohne sich zu widersprechen, gar nicht an derselben zweifeln“. (Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie [Anm. 9], 38). Vgl. Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft (Anm. 37), 110. A.a.O. 115 – 119. Vgl. auch Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos (Theologische Bibliothek Töpelmann 15), Berlin/New York 1969, 22– 33. Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie (Anm. 9), 63 f. Vgl. KFR, 151. Markus Buntfuss, Die Erscheinungsformen des Christentums (Anm. 31), 194. Vgl. dazu Wilhelm Martin L. de Wette, Ueber Religion und Theologie (Anm. 9), 61– 63. Wilhelm Martin L. de Wette, Lehrbuch. Biblische Dogmatik (Anm. 28), 19.
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Reden das „Geschäft“ oder die „Folge“ der Religion nennt. Indem er vom Wesen der Religion her denkt, bezieht er eine kritische Stellung gegenüber ihren positiven Erscheinungen, die „immer unvollkommene mißlungene Versuche seyn [müssen, MI], da sie Gott in der Welt und im Besonderen suchen,wo er nie zu finden seyn wird … nur das darin offenbarte Streben ist wahr, nicht das Gefundene“.⁴⁶ Andererseits bestimmt de Wette das Verhältnis von philosophischem Religionsbegriff und geschichtlichen Erscheinungsformen des positiven Christentums so, dass in ihm das Symbolische und Ästhetische „in und mit dem Geschichtlichen gegeben, und mit dem Dogmatischen und Sittlichen innig verbunden ist.“⁴⁷ Allerdings betont de Wette in kritischer Auseinandersetzung mit Fries, der jedwede Ansprüche historischer Religionen zurückwies,⁴⁸ dass dem historischen Ursprung und den literarischen Quellen des Christentums ein bleibender Stellenwert zukomme.⁴⁹ Die Theologie muss in dialektischer Weise das philosophische und historische Element aufeinander beziehen. Dafür aber sind die literarischen Urkunden, respektive die biblischen Überlieferungen, unerlässlich. Um diese allerdings angemessen interpretieren und beurteilen zu können, bedarf es einer philosophischen Anthropologie, die dazu verhilft, „in der Bibel die religiösen Ideen“⁵⁰ aufzuzeigen und zugleich überkommene Dogmen zu kritisieren erlaubt.
Ders., Rezension F. D. E. Schleiermacher (Anm. 17), Sp. 445. Ders., Theodor oder des Zweiflers Weihe. Bildungsgeschichte eines evangelischen Geistlichen, zwei Teile, anonym, Berlin 1822, zweite, durchgesehene, wohlfeilere Ausgabe, Berlin 1828 (hier wie im Folgenden nach der 2. Aufl. von 1828 zitiert), Bd 1, 343. Vgl. dazu Markus Buntfuss, Die Erscheinungsformen des Christentums (Anm. 31), 216. Mit Lessing und Kant war Fries der Meinung, dass es keine historische Legitimierung religiöser Überzeugungen geben kann. Vgl. dazu Wolfgang Bonsiepen, Philosophie, Nichtphilosophie, Unphilosophie, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit (Studien zum achtzehnten Jahrhundert, Bd. 29), hg.v. Walter Jaeschke/Birgit Sandkaulen, Hamburg 2004, 257– 277.276. Darin unterscheidet sich de Wette auch von Schleiermacher, der bekanntlich annahm, das Wesen des Christentums sei „eine Grundstimmung des religiösen Gemüthes“, die sich von allen geschichtlichen Realisierungen unterscheide, weshalb das Urchristentum nur eine kontingente Einkleidung dieses unveränderlichen Gehalts darstelle. Vgl. dazu den Brief an Fries vom 26. September 1811, Teilabdruck in: Dewettiana, Forschungen und Texte zu Wilhelm Marin Leberecht de Wettes Leben und Werk, hg.v. Ernst Staehelin, Basel 1956, 70 f. Vollständig abgedruckt in: Jakob Friedrich Fries, Sämtliche Schriften, Abt. 6, Bd. 4: Briefe I: Konvolute A-E, Aalen 1997, 604– 616.612. A.a.O. 71.
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3 Ottos Rezeption der religionsphilosophischen Fundierung der Theologie bei de Wette Hans-Walter Schütte hat in seinem Werk ‚Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos‘ angemerkt, dass die Bezugnahme Ottos auf die Theologie de Wettes lediglich die Funktion habe, die Bedeutung der Fries’schen Philosophie für die Theologie als möglich und sinnvoll aufzuzeigen. De Wettes Religionstheorie diene Otto als Beleg dafür. Seiner Theologie komme aber in gar keiner Weise ein mit der Fries’schen Philosophie vergleichbarer vorbildlicher Charakter zu. Das sei ihre Grenze und insofern bleibe der Theologiebegriff Ottos auf seine eigene Realisierung angewiesen.⁵¹ Dass die Fries’sche Philosophie einen unvergleichbar vorbildhaften Charakter für die Religionsphilosophie Ottos hat, dürfte unbestritten sein. Gleichwohl ist die Bezugnahme Ottos auf de Wettes Theologieverständnis tiefgreifender als im Urteil Schüttes gesehen. Für Otto ist de Wette der Eröffner der modernen religionsgeschichtlichen Forschung, der bereits eine religionswissenschaftliche Neufundierung der Theologie im Blick hatte: „Theologie ist für de Wette das, was sie heute allein sein kann: Religionswissenschaft, mit dem praktischen Zwecke der Religionspflege.“⁵² Mit dem in der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie erkennbaren „Dreitakt von vernunfttheoretisch abgestützter Religionsphilosophie, empirischhistorischer Phänomenologie und Theologie“⁵³ nimmt Otto die bei de Wette gelegte Spur einer religionsphilosophischen und religionswissenschaftlichen Neufundierung der Theologie auf. Markant ist sein Versuch, das Wesen des Christentums in eine Theorie zu fassen, in der „das Phänomen der Religion an den Vollzug der Selbstwahrnehmung konkreter Subjektivität“⁵⁴ rückgebunden wird. Kann man das Wesen der Religion aus der Struktur dieses Vollzuges selbst ableiten, lässt sich verhindern, dass die Theorie des Supranaturalismus wie auch die religionsgeschichtliche Theorie einer Entwicklung durch Heterogonie das Problem der Entstehung des religiösen Bewusstseins durch die Einführung außerreligiöser Faktoren überla-
Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum (Anm. 41), 40. Ernst Friedrich Apelt, Metaphysik, neu hg.v. Rudolf Otto, Halle 1910, Vorrede zur neuen Herausgabe, S. g, Anm.*. Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft (Anm. 42), 108. Zum dezidiert theologischen Anliegen Ottos im Rahmen der religionsphilosophischen Neufundierung vgl. Gotthard Nygren, Die Religionsphilosophie R. Ottos, in: Rudolf Otto’s Bedeutung für die Religionswissenschaft und Theologie heute. Zur Hundertjahrfeier seines Geburtstags 25. September 1969, hg.v. Ernst Benz, Leiden 1971, 84– 96. Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft (Anm. 42), 21.
Religionsphilosophie und Theologie
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gert. Otto selber stellt unter Bezugnahme auf Fries und de Wette Religion und Christentum unter die Bedingungen einer Vernunft, die sich als gesetztes bzw. vernehmendes Vermögen begreift und in den Akten des Transzendierens eine Gegenstandswelt berührt, der gegenüber sie sich selber begrenzt.⁵⁵ Es geht ihm darum, die Religion als unmittelbares Bewusstsein des Absoluten zu denken, wobei das Absolute als ontologisch transzendenter Grund, zugleich als einheitsstiftender Grund der Vernunft selbst durchsichtig gemacht werden soll. Otto teilt dabei mit de Wette die Überzeugung, dass die Vernunft nur unter der Bedingung zur Selbstgewissheit gelangen kann, dass sie sich voraussetzt und sich selber „vertraut“⁵⁶. Die Fries’sche Philosophie ermöglicht im Urteil Ottos und de Wettes eine durch rationale Evidenz bestimmte Religionswissenschaft und Theologie. Religion ist eine Funktion des vernünftigen Bewusstseins und die materialen religionsphänomenologischen Daten lassen sich als Aktualisierungen dieses vernünftigen Bewusstseins ahnen. Was im Bereich des religiösen Apriori liegt, Gottesidee und Freiheit, Unsterblichkeit und Teleologie, stellt das formale Gerüst dar oder eine „Metaphysik“⁵⁷, die erst in der Anwendung auf den Reichtum religiöser Erscheinungen ihr eigentümliches Leben empfängt. Die Ahndung, die auf das Geheimnis der Religion selber hinführt, umfasst Wissen und Glauben und bringt beide miteinander in eine Konkordanz,⁵⁸ die sich im unmittelbaren Gefühl bekundet und Urteile ergibt, die ihrer Struktur nach den ästhetischen analog sind.⁵⁹ Wie für de Wette ist auch für Otto das Gefühl eine Wahrnehmungsweise, in der das individuelle Subjekt einerseits unmittelbar bei sich selbst ist. Andererseits ist das Gefühl bei Otto intentional gefasst, d. h. es geht um die gegenständliche Bestimmtheit der im Gefühl präsenten Wahrnehmung. In dieser Hinsicht ist Schleiermachers Gefühlsbegriff unterbestimmt,wie bereits de Wette feststellt.⁶⁰ Eine Reduktion des Gefühlsbegriffs als einer rein emotionalen Zuständigkeit ohne das Innehaben einer Gegenstandswelt versucht Otto dadurch zu umgehen, dass der Begriff des Gefühls – wie bei de Wette – seine Auslegung am Begriff der Urteilskraft erfährt. ⁶¹
Darin erblickt Otto „die große befreiende Lehre ‚vom transzendentalen Idealismus‘“, deren Motive in seinen Augen ausgesprochen religiöse Motive sind. Vgl. KFR, 27. KFR, 22 f. KFR, 73. KFR, 83. KFR, 192. Wilhem Martin L. de Wette, Rezension Schleiermacher (Anm. 17), Sp. 436. KFR, 159 – 162.
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In der Fries’schen Religionsphilosophie fehlt – nach dem Urteil Ottos – „das Verständnis, ja auch nur die Kenntnis der geschichtlichen Erscheinungen“.⁶² Diese hat de Wette in den Blick genommen, wenn er fordert, dass die Theologie zunächst „als eine rein historische Disziplin die christliche Glaubenslehre als geschichtlich gewordenen und gegebene darzustellen hat“.⁶³ Danach muss die philosophische Kritik ansetzen und eine Rückbindung der Glaubenslehre an die theologische Selbstreflexion des religiösen Bewusstseins erfolgen. Damit wird einerseits eine Entgegensetzung von Vernunft und Historie vermieden. Zum anderen wird der Zusammenhang von formal apriorischen Faktoren, die menschlicher Erkenntnis zugrundeliegen, und konkretem empirisch-geschichtlichem Material hergestellt.⁶⁴ Obwohl de Wette, wie Otto treffend anmerkt, sein Programm nicht einlöst,⁶⁵ kommt er doch in Bezug auf de Wettes Verhältnisbestimmung von Religionsphilosophie und Theologie zu dem Urteil: „Diese Bestimmung ist bedeutsam und, wenn von Fehlern befreit, wirklich ungefähr das Programm theologischer Arbeit und zugleich des Verhältnisses von Theologie als Religionslehre zur Religionsphilosophie.“⁶⁶
KFR, 124. KFR, 167. Vgl. dazu Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum (Anm. 41), 39. KFR, 167. KFR, 167.
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Rudolf Otto und Albrecht Ritschl Eine Verhältnisbestimmung Die theologische Herkunft Rudolf Ottos, die Suche nach seinen frühen Impulsgebern und Lehrern ist bisher nur ein Randthema in der Otto-Forschung geblieben. Seit einiger Zeit ist es u. a. Gregory D. Alles zu verdanken, dass zunehmend die akademischen Anfänge Ottos in den Blick gerückt werden. Auf die Frage nach Rudolf Ottos Ritschl-Rezeption urteilt Alles: „In many respects Otto seems to have defined himself by rejecting Ritschl“.¹ Alles nennt zudem Gesichtspunkte, die Ritschl und Otto unterscheiden: Ritschls Reserve gegen das religiöse Erleben, Ritschls einseitige Betonung der Liebe Gottes, sein geringes Interesse an fremden Religionen und seine Zurückhaltung gegenüber der Mystik. Alles’ Ergebnis lautet: „Ottos thought and Ritschls diverge sharply.“² Im Unterschied dazu urteilt Heinrich Frick (1893 – 1952), worauf auch Alles hinweist.³ Frick – seit 1929 Nachfolger auf Rudolf Ottos Lehrstuhl in Marburg – argumentiert werkgeschichtlich. Er betont zunächst „Ottos theologische Herkunft aus der Ritschlschen Schule“.⁴ Für die Zeit ab 1917 sieht er Ottos Leistung darin, dass dieser, indem er die Wesenszüge des Heiligen aufgedeckt habe, auch die Rede vom „göttlichen Zorn“ wieder neu verstehen lehrte. Darin aber erkennt Frick einen „Bruch mit der Ritschlschen Schule“.⁵ Hält man diese beiden Positionen nebeneinander, ist die Unschärfe zwischen „Albrecht Ritschl“ (Alles) und der sog. „Ritschlschen Schule“ (Frick) zu beachten. Dennoch ist die Frage nach Albrecht Ritschls Einfluss auf Rudolf Otto mehr als legitim.⁶ Ansatzpunkt für die hier intendierte Untersuchung sind Äußerungen des frühen Otto. Es wird sich herausstellen: Otto führt seine Auseinandersetzung mit Ritschl schon ganz zu Beginn seiner akademischen Laufbahn, freilich so, dass er
Gregory D. Alles, Towards a Genealogy of the Holy. Rudolf Otto and the Apologetics of Religion, in: JAAR 69 (2001), 323 – 341, hier 330. Ebd. Ebd. Anm. 4. Heinrich Frick, Rudolf Otto innerhalb der theologischen Situation, in: ZThK N.F. 19 = 46 (1938), 3 – 15, hier 3 f. Heinrich Frick, Gedächtnisrede, in: Rudolf-Otto-Gedächtnisfeier der Theologischen Fakultät Marburg. Ansprachen und Grußworte, Berlin 1938, 11– 32, hier 12. Hinweise über das Verhältnis zwischen Otto und Ritschl geben zudem Theodor Siegfried, Grundfragen der Theologie bei Rudolf Otto, Gotha 1931, 10.97 Anm. 2; Katharina Wiefel-Jenner, Rudolf Ottos Liturgik, Göttingen 1997, 35 f. Todd A. Gooch, The Numinous and Modernity. An Interpretation of Rudolf Otto’s Philosophy of Religion, Berlin/New York 2000, 29 f.
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den Namen Ritschl so gut wie nicht erwähnt. Aus dieser frühen Beschäftigung mit Ritschl speisen sich dann aber seine wenigen späteren Bezugnahmen. In einem ersten Schritt möchte ich zeigen, dass sich Otto bereits seit seiner Schulzeit gegenüber „Ritschl und seiner Schule“ reserviert verhält. So stellt er es selbst in seinem „autobiographischen Fragment“ (1891) dar. Otto nähert sich während seiner Göttinger Studienzeit dieser theologischen Option zwar emphatisch an, bewahrt sich jedoch seine Eigenständigkeit. In einem zweiten Abschnitt sollen Ritschl-Bezüge in AHG (1898) aufgewiesen werden. Dies ist umso wichtiger, weil Gregory D. Alles – soweit ich sehen kann – diese Studie mit keinem Wort erwähnt. Heinrich Frick hingegen orientiert seine Einordnung des frühen Otto als „Ritschlianer“ aber an genau dieser Schrift. Es sollen die Begriffe „Heiliger Geist“, „Mystik“ und „Zorn Gottes“ auf Einflüsse Ritschls hin befragt werden. Drittens werde ich zwei weitgehend unbekannte Texte Rudolf Ottos heranziehen. Beide werfen ein markantes Licht auf die Haltung, die Otto bereits um die Jahrhundertwende gegenüber Ritschl einnimmt.
1 Das autobiographische Fragment (1891) Ich möchte das autobiografische Fragment auf Bezüge zu „Ritschl und seiner Schule“ untersuchen.⁷ Otto hat in diesem handschriftlichen Entwurf ⁸ für die Prüfungskommission im kirchlichen Examen den „Gang seiner theologischen Entwicklung“⁹ dargestellt. Mustert man diesen Studienbericht durch, so fällt auf, dass Otto schon während seiner Schulzeit auf dem Gymnasium Andreanum in Hildesheim Vorbehalte gegen die Schule Albrecht Ritschls äußert: „Nun hörte man schon (auf) der Schule von Neuerungen u. Neuerern die in die Theologie grundstürzend eindrangen: (durch) ihre Methoden blendend u. von der alten Wahrheit abführend; wie es hieß. Ich nahm mir mutig genug vor, sie seinerzeit alle kennenlernen zu wollen.Vorerst aber wollte ich bei Männern der alten Schule mir Rudolf Otto, Vita zum 1. Examen (1891), UB Marburg Hs. 797:582, 1– 8 verso. Der abgeschriebene Text findet sich als Online-Ressource unter: http://www.religiousworlds.com/otto/ leitseit.htm (eingesehen am 14.4. 2013). Ins Englische übersetzt und kommentiert ist er veröffentlicht bei Gregory D. Alles (Hg.), Rudolf Otto. Autobiographical and social Essays, Berlin/New York 1996, 50 – 60. – Um der Übersichtlichkeit willen, werden die textkritischen Differenzierungen der Transskribenten, die teilweise auch auf Konjekturen angewiesen sind, im Folgenden nicht gesondert grafisch dargestellt, sondern übernommen. Das von Otto dann tatsächlich abgeschickte Original, vermutlich ebenfalls datiert auf den 29. Dezember 1891, ist leider mit Teilen des Archivs der heutigen Ev.-luth. Landeskirche Hannovers im 2. Weltkrieg verbrannt. Rudolf Otto, Vita (Anm. 7), 7 verso.
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die Mittel zur Abwehr gründlich zu eigen machen. Darum hauptsächlich ging ich nach Erlangen“.¹⁰ Dieser Gedanke, sich gegen die „Neuerungen und Neuerer“ zu wappnen, findet eine Parallele bei Heinrich Hackmann (1864 – 1935).¹¹ Das ist wichtig, weil Hackmann seit Sommer 1887 eine Art Privatlehrer für den Oberprimaner Rudolf Otto in Hildesheim wurde. Es ist gut vorstellbar, dass der fünf Jahre ältere Hackmann, der gerade frisch sein Studium in Leipzig und Göttingen beendet hatte, maßgeblichen Einfluss auf den Abiturienten Otto ausgeübt hat. Hackmann hatte während seiner Studienzeit noch bei Albrecht Ritschl selbst gehört. Sein Verhältnis zu Ritschl blieb zeitlebens ambivalent: „Ritschls negativer Kritik stimmte ich vollkommen zu, seine neuen Positionen aber verfingen bei mir wenig.“¹² Es ist sehr wahrscheinlich, dass Otto sich an Hackmanns Einstellung orientiert hat. Die äußere Organisation seines Studiums spricht dafür: Ähnlich wie Hackmann das Studium nicht in Göttingen, sondern in Leipzig begonnen hatte, ist auch Otto im April 1888 zunächst nicht nach Göttingen, sondern nach Erlangen gegangen. Auch wenn er dort anfangs seinen Militärdienst absolvieren musste, kommt er doch in Kontakt mit einem Intimfeind Albrecht Ritschls: Friedrich Reinhold Herrmann von Frank (1847– 1894).¹³ Otto berichtet weiter, dass ihn diese Begegnungen auch irritiert haben. Denn er inszeniert sich in seinem Bericht als jemand, der „in den Formen herkömmlicher Strenggläubigkeit erzogen worden“ ist, und fügt hinzu: „diese Weise des Glaubens erschien mir nicht nur als die beste, sondern als die einzige“.¹⁴ Und nun erlebt der strenggläubige Lutheraner Otto im Kontakt mit von Frank, dass dieser ein viel laxeres Verständnis der Heiligung des
A.a.O. 3 verso. Der aus Gaste bei Osnabrück stammende Heinrich Hackmann hat in Göttingen bei Hermann Schultz, Paul de Lagarde und Bernhard Duhm studiert. Später wurde er Licentiat im Fach Altes Testament und Auslandspastor in Schanghai und London. Ab 1913 übernahm er eine der ersten Professuren für Religionsgeschichte in Amsterdam. Rudolf Otto – darüber gibt ein 45jähriger Briefwechsel Aufschluss – hat zeitlebens eine enge Freundschaft mit Hackmann gepflegt. Vgl. zum in der Otto-Forschung bisher noch nicht hinreichend gewürdigten Verhältnis zwischen Otto und Hackmann: Fritz-Günther Strachotta, Religiöses Ahnen, Sehnen und Suchen. Von der Theologie zur Religionsgeschichte. Heinrich Friedrich Hackmann (1864– 1935), Frankfurt a. M. 1997, 64– 87. Heinrich Hackmann, Rez. Schemann, in: NThT 11 (1922), 61, zitiert nach Fritz-Günther Strachotta, Religiöses Ahnen (Anm. 11), 50. Vgl. zur Debatte zwischen von Frank und Ritschl: Notger Slenczka, Der Glaube und sein Grund. F.H.R. von Frank, seine Auseinandersetzung mit A. Ritschl und die Fortführung seines Programms durch L. Ihmels, Göttingen 1997, 124– 218. Rudolf Otto, Vita (Anm. 7), 3.
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Sonntags pflegte und auch den biblischen Kanon weniger scharf eingrenzte, als Otto es je zu denken gewagt hätte.¹⁵ Otto wechselt dennoch nur widerwillig nach Göttingen. Er traut der dortigen Theologie wenig zu, vermutet die Darstellung „blosser philosophischer Rationalismen“¹⁶ und „hoher Spekulation“.¹⁷ Weil aber ältere Freunde übersiedeln, geht auch Otto im Sommer 1889 mit. In Göttingen sorgt er sich um die theologische Entwicklung eines Erlanger Studienfreundes: „Mein Freund, der mich ein Semester vorher als überzeugter Frankianer verlassen hatte, war im Begriff ins andre Lager überzugehen“.¹⁸ Vor allem das intensive Gespräch mit ihm führt Otto in die neue Theologie ein, stets unter der Perspektive Erlanger Fragestellungen. Daneben besucht Otto zwei Veranstaltungen von Rudolf Smend (1851– 1913) und Hermann Schultz (1836 – 1903). Während Smend im Psalmen-Kolleg Otto in eine für ihn fremde Deutung des AT einführt, weckt Schultz sein Interesse. In dessen Apologetik-Kolleg findet Otto eine anspruchsvolle, aber klare und einleuchtende Disposition vor. Er erlebt die „energische überzeugende Vertretung des Evangeliums von theou Reiche“.¹⁹ In der Folge geht Otto noch einmal für drei Semester nach Erlangen zurück. Seine Darstellung arrangiert er so, dass es sich insgesamt um eine krisenhafte Phase handelte. Es wollte ihm nicht gelingen, die in Göttingen kennengelernten Vorstellungen mit denen der Erlanger zu verbinden.²⁰ Erst der endgültige Wechsel nach Göttingen im Sommer 1891 und eine weitere Vertiefung in die „Gött. histor. Richtung“²¹ bringen Befreiung. Namentlich ist es Rudolf Smend, dessen historische Kritik Otto nun nicht mehr „,zersetzend‘ u. ‚destruktiv‘“ empfindet, sondern im Gegenteil: „(er)bauend, positiv“.²² Smend überzeugt, indem er „durch die schärfste wissenschaftliche Probe den Offenbarungscharakter des biblischen Thatbestandes“²³ herausarbeitet. Daneben ist es Hermann Schultz, der es Otto ermöglicht, diesen historischen Befund auch unter den gegenwärtigen Geltungsbedingungen zu verstehen. Otto spricht genauer von einem „religiös-sittliche(n) Verständnis der
die
Vgl. a.a.O. 4 verso. A.a.O. 5. A.a.O. 7. A.a.O. 5. Ebd. „Die Frankschen Anschauungen gewannen allmählich Gestalt in mir. Aber daneben lagen Göttingischen u. wollten sich mit jenen nicht übereinbringen lassen“ (a.a.O. 6). A.a.O. 6 verso. Ebd. A.a.O. 7.
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Offenbarung, zumal der Person des Herrn“,²⁴ mit dem ihn Schultz aus seiner in Erlangen zum Ausbruch gekommenen Krise herausführen konnte. Zieht man einmal die rhetorischen Zwänge ab, die die Anfertigung eines solchen Lebenslaufes für eine kirchliche Prüfungskommission mit sich bringt und berücksichtigt, dass es sich nicht um die Reinschrift handelt, so ist doch Folgendes zu erkennen: Otto hegte seit seiner Hildesheimer Schulzeit Vorbehalte gegen Ritschl und seine Schule, die mitinspiriert waren durch Heinrich Hackmann. Deshalb beginnt Otto sein Studium in Erlangen. Deshalb auch seine ängstliche Zurückhaltung, überhaupt einen Wechsel nach Göttingen zu wagen. Jedoch einmal dorthin gegangen lässt sich ausmachen, dass sich seine Vorbehalte lockern. Erst eine als Krisenszenario beschriebene Enttäuschung über seine zweite Erlanger Studienphase schlägt um in die intensive Zuwendung zur Göttinger Theologie.
2 Die Anschauung vom heiligen Geiste bei Luther (1898) In Rudolf Ottos Licentiatenarbeit fällt der Name Ritschl genau ein einziges Mal. Ganz am Ende der Einleitung heißt es so allgemein wie nur irgend möglich: „Wie sehr und wie weit die folgenden Ausführungen von Ritschl, A. Harnack, Loofs, Eichhorn, von Herrmann, Reischle, H. Schultz, Thieme abhängig sind, zeigen sie selber“.²⁵ Auffällig ist, dass sich Otto mit fast allen genannten Autoren im Laufe seiner Studie explizit auseinandersetzt. Bis auf zwei Namen, die in der ganzen Arbeit mit keinem weiteren Wort erwähnt werden. Diese Nichterwähnung lässt sich m. E. als Beleg werten, dass sich Otto von diesen beiden Autoren besonders bestimmt sieht. Ihre Namen lauten: Albrecht Ritschl und Hermann Schultz.²⁶ Ich konzentriere mich auf die Einflüsse Albrecht Ritschls und gehe auf drei Aspekte näher ein: Erstens ist da die Themenstellung der Licentiatenarbeit: „Der Heilige Geist.“ Dieser Topos hatte in der Theologie seit Mitte der 1880er Jahren Konjunktur. Ritschl spielt in dieser Debatte eine wichtige Rolle.²⁷ Er beklagt ein
Ebd. AHG, 3. Hermann Schultz hat auch die Begutachtung der Licentiatenarbeit Rudolf Ottos übernommen. Das Gutachten findet sich abgedruckt bei: Peter Ulrich/Hermann Schultz, ‚Alttestamentliche Theologie‘ im Zusammenhang seines Lebens und Werkes, Göttingen 1988, 202– 204. Diese Debatte ist bisher nur in Einzelaspekten aufgearbeitet. Eine zeitgenössische Zusammenschau bietet: Karl Friedrich Noesgen, Geschichte von der Lehre vom heiligen Geiste, Gütersloh 1899, der erkennbar gegen Ritschl und auch Otto Position bezieht (vgl. 367 f.).
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weitgehend ungeklärtes Verständnis des Heiligen Geistes. Idealtypisch lassen sich drei Diskussionsstränge benennen: Zunächst ist da die Rolle des Heiligen Geist im individuellen Heiligungsprozess, im sog. Ordo salutis. Hier ist nach Ritschl besonders das Element der „Wiedergeburt“ zu kritisieren. Ritschl wehrt sich gegen einige Dogmatiker, die diesen Vorgang im Sinne eines zweistufigen Aktes verstehen, wonach der Heilige Geist erst einen empirisch verifizierbaren Wendepunkt im Leben des Gläubigen hervorrufe, auf den das „Rechtfertigungsurtheil“²⁸ erst nachträglich folge. Ritschl wittert in einem solchen für ihn pietistischen Verständnis die unzulässige Annäherung an den katholischen Rechtfertigungsgedanken.²⁹ Ritschl schlägt als Alternative eine Rückbesinnung auf die „Apologie der CA“ vor, weil darin der Vorgang der Wiedergeburt und der der Rechtfertigung gerade nicht auseinanderklaffen, sondern eine Einheit bilden.³⁰ Sodann ist Ritschl der Meinung, dass der Status des Heiligen Geistes im Vorgang der Wiedergeburt einer Klärung bedarf. Ritschl wirft Anhängern eines „sectirerischen Christentums“³¹ vor, dass diese den Heiligen Geist unzulässig „als eine übernatürliche Naturkraft“³² auffassen. Gegen ein derartiges Missverständnis vertritt Ritschl die Doppelthese, dass der Heilige Geist die Selbsterkenntnis Gottes sei und zudem Ursprung und Kennzeichen des religiös-sittlichen Lebens in der christlichen Gemeinde.³³ Schließlich spricht Ritschl die konkreten Auswirkungen des Heiligen Geistes im menschlichen Erleben an. Hier wendet er sich gegen Vertreter, die den Heiligen Geist als direkte Ursache für emotionale Zustandsveränderungen wie leidenschaftlichen Eifer, Ekstasen oder andere, sogar pathologische Gemütsvorgänge ansehen. Alle Deutungen dieser Art weist Ritschl in die Schranken. Aus seiner Sicht kommt die göttliche Wirkung der Rechtfertigung immer nur vermittelt zu-
Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Dritter Band: Die positive Entwickelung der Lehre, Bonn 31888, 568. „Die Annäherung an die katholische Lehre von der Jusitification, welche in der Ueberordnung der Wiedergeburt über die Rechtfertigung erscheint, ist nun bei evangelischen Theologen durch die Unklarheit bedingt, in welcher der mit der Wiedergeburt zusammengefasste Begriff des heiligen Geistes gehalten wird. Es ist ja kaum ein Glied der christlichen Gesamtanschauung von der Theologie stets so vernachlässigt worden wie dieser Begriff“ (a.a.O. 569). A.a.O. 567. A.a.O. 570. Ebd. „Der Geist Gottes oder der heilige Geist, der in Beziehung auf Gott selbst Erkenntniß ist, welche Gott von sich selbst hat, ist zugleich Attribut der christlichen Gemeinde“ (a.a.O. 571).
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stande.³⁴ Das konkrete „Wie“ des Rechtfertigungsvorganges bleibe letztlich ein Geheimnis des religiösen Lebens.³⁵ Diese drei Problemaufweise und deren Klärungsversuche durch Ritschl haben in verschiedenen theologischen Lagern zu Debatten geführt. Erwähnenswert ist in unserem Zusammenhang, dass sich auch Ottos früh verstorbener Erlanger Lehrer Johannes Gloël (1857– 1891) über diese Fragen zum Heiligen Geist in einer ganzen Monographie mit Albrecht Ritschl auseinandergesetzt hat.³⁶ Außerdem war das Thema im Göttingen der 1890er Jahre immerhin so relevant, dass sich darum neben Rudolf Otto auch Hermann Gunkel (1862– 1932)³⁷ und Heinrich Weinel (1874– 1936)³⁸ intensiv bemüht haben. Es spricht vieles dafür, dass die Frage nach dem Heiligen Geist Klammer und Kontinuitätsmoment zwischen Ottos Erlanger und Göttinger Studienzeit mindestens bis hin zur AHG darstellt.³⁹ Noch eine zweite Auseinandersetzung mit dem Ritschlschen Denken lässt sich ausmachen. Sie hat ihren Niederschlag sogar bis in die Hauptschrift DH26 gefunden und lautet: „Diese Anfänger-Schrift (sc. AHG; S.F.) habe ich seinerzeit noch ganz unter den Nachwirkungen Ritschl’s geschrieben, wie an ihrer Stellung zur Mystik leicht erkennbar ist.“⁴⁰ Auch in Sachen Mystik, so Ottos Erinnerung, habe er sich in seiner frühen Lutherdeutung erheblich an Ritschl orientiert. Deshalb ist hier zunächst wieder ein Blick auf Albrecht Ritschl zu richten: Ritschl beschreibt Religion als dreistellige Relation: „Der Kreis, in welchem eine Religion vollständig zur Anschauung kommt, ist nur durch die drei Punkte Gott,
„Es lassen sich auch für die objective Wirkung der göttlichen Gnade auf die Einzelnen um so weniger Regeln finden, als die Beziehungen zwischen Mensch und Gott immer nur in der Form des subjektiven Selbstbewußtseins zur Erfahrung kommen“ (a.a.O. 573). „Wie dieser Zustand (sc. der Rechtfertigung und Wiedergeburt des Einzelnen; S.F.) bewirkt wird, entzieht sich ebenso aller Beobachtung, wie die Entwickelung des individuellen Geisteslebens überhaupt“ (a.a.O. 573). Johannes Gloël, Der Heilige Geist in der Heilsverkündigung des Paulus. Eine biblischtheologische Untersuchung, Halle a. S. 1888. Hermann Gunkel, Die Wirkungen des heiligen Geistes nach der populären Anschauung der apostolischen Zeit und der Lehre des Apostel Paulus. Eine biblisch-theologische Studie, Göttingen 1888 (21899). Heinrich Weinel, Die Wirkungen des heiligen Geistes und der Geister im nachapostolischen Zeitalter bis auf Irenäus, Freiburg u. a. 1898. Dass Otto in AHG der Sache nach eine Beschreibung der psychologischen Struktur des religiösen Erlebens durchführt, hat überzeugend hervorgehoben: Roderich Barth, Das Psychologische in Rudolf Ottos Religionstheorie, in: Protestantismus zwischen Aufklärung und Moderne. FS für Ulrich Barth, hg. von Roderich Barth/Claus-Dieter Osthövener/Arnulf von Scheliha, Frankfurt a. M. 2005, 371– 388, v. a. 378 – 383. DH26, 123 Anm. 1.
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Mensch, Welt zu beschreiben“.⁴¹ In jedem Gottesverhältnis sei eine religiöse Qualifizierung der Welt und des Weltverhaltens inbegriffen. Von diesem normativen Standpunkt aus entwirft Ritschl seine Kritik an der Mystik. In der Mystik vermag er nur eine zweistellige Relation zu erkennen. Denn Mystik finde sich überall dort vor, „wo die Seele, welche Gott schaut, ihn so schaut, als wenn sie allein von Gott geschaut würde, und als wenn außer ihr und ihm nichts vorhanden wäre“.⁴² Das Defizitäre an der Mystik ist also aus Ritschls Sicht ihr fehlender Weltbezug. Untersucht man vor diesem Hintergrund Rudolf Ottos Mystikverständnis in AHG, so lassen sich folgende Aspekte aufweisen: Ganz in Übereinstimmung mit Ritschl hat auch Otto Interesse daran, Luther nicht als Mystiker zu identifizieren. Gleichwohl – und hier unterscheidet er sich von Ritschl – zeigt sich Otto überrascht, wie eng Luther anfangs mit der Mystik verbunden war.⁴³ Insbesondere zwei Motive seien es gewesen, die für Luther die Mystik attraktiv gemacht haben: „Was ihn hinzog zu den Mystikern, war erstens, dass sie ja in Wirklichkeit die Vertreter der Religion als solcher waren gegenüber dem officiellen System der Lehre wie der mönchischen Praxis, die die Religion in schlechten Moralismus umpressen wollten. Und es war zweitens ihr Gedanke vom Zunichtewerden und Nichtssein der Kreatur und von der alleinigen Wesenheit und Wirksamkeit Gottes“.⁴⁴ Diese beiden Anziehungspunkte zwischen Luther und der Mystik deuten zwei wesentliche Aspekte von Ottos eigener, sich hier erst im Keime entwickelnder Theologie an. Im Laufe der Jahre wird er beide ausarbeiten. Einmal lässt sich hinter seinem Interesse an der „Religion als solcher“ das für Otto in Schleiermachers „Reden“ aufgeworfene Problem der Selbständigkeit der Religion erkennen. Zum anderen deutet sich das in seiner späteren Religionstheorie prominent ausgearbeitete „Kreaturgefühl“ an. In AHG beeilt sich Otto jedoch, diese beiden Merkmale, die Luther und die Mystik verbinden, gleich wieder zu relativieren: „für Luther wandten sich diese (beiden; S.F.) ästhetisch empfundenen Gedanken sofort ins ethische“.⁴⁵ Otto illustriert diese von Ritschl inspirierte ethische Kritik an der Mystik dann mit einem Negativszenario, das ein nur einseitig ästhetisches Verständnis hinterlassen könnte: zwar sei das „Zunichtewerden und Nichtssein der Kreatur“ im Gegenüber Gottes bei Luther und anderen großen und starken Menschen, bei Dichtern oder künstlerisch Empfänglichen mit aller Macht vorhanden gewesen. Demgegenüber haben es die
Albrecht Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung III (Anm. 28), 29. Ebd. „Es kann erst befremden, dass er (sc. Luther; S.F.) selber lange die grössten Sympathieen mit der Mystik hegt, und hernach ihre genuinen Söhne als den leidigen Teufel bekämpft“ (AHG, 55). AHG, 53. Ebd.
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Mystiker leider „in die kleine Münze der enthusiastischen Gefühle des Schwärmens und Träumens umgesetzt, der methodischen Exaltation zum religiösen Rausch, in der man die Nähe Gottes oder des himmlischen Bräutigams oder das Weben des Geistes spürte und genoss.“⁴⁶ Otto stimmt hier in Ritschls Kritik ein. Mystik lade, so auch sein Vorwurf, ganze Massen zu methodischer Selbstbespiegelung und Genuss eigener Gefühligkeit ein. Mit einer damit einhergehenden Weltflucht lasse sie gerade den für das Christentum konstitutiven Gemeinschaftsaspekt außen vor.⁴⁷ Es lässt sich mit Blick auf die frühe Mystikdeutung festhalten, dass Otto Merkmale der Kritik Ritschls teilt: Auch Otto bemängelt den fehlenden Weltbezug der Mystik. Auch für Otto bleibt Luther Vertreter eines dezidiert ethischen Christentums. Gleichwohl deutet sich bereits ein Verständnis von Mystik an, das positive Elemente durchscheinen lässt: die „Selbstständigkeit der Religion“ und das „Kreaturgefühl“. Bereits ein Jahr darauf wird deutlich werden, dass sich Otto von Ritschls Kampf gegen die Mystik weiter emanzipieren wird,⁴⁸ dieses aber erst viel später offen benennt.⁴⁹ Drittens möchte ich eine letzte vielzitierte Bezugnahme Rudolf Ottos auf Albrecht Ritschl erläutern. Sie findet sich ebenfalls in DH26 und lautet: „Es ist ganz zweifellos, daß auch das Christentum ‚vom Zorne Gottes‘ zu lehren habe, trotz Schleiermacher und Ritschl“.⁵⁰ Schaut man auf die von Otto kritisierten Schleiermacher und Ritschl, so verorten beide die Lehre vom Zorn Gottes in der Erlösung- bzw.Versöhnungslehre. Für Ritschl⁵¹ muss gelten, dass dieser die Lehre vom Zorne Gottes in Wahrheit nicht verabschiedet, jedoch erheblich zurückgenommen hat.⁵² Vor dem Hintergrund
AHG, 54. Ganz in Analogie zu Ritschl behandelt auch Otto die sog. „Mystik der Schwärmer“ (AHG, 53) ablehnend. Indem diese das „äußere Wort“ verachteten, verneinen sie letztlich auch den Ort „der gesammten kirchlichen Institution“ (AHG, 55), die ja für die Übermittlung des „äußeren Wortes“ zuständig ist. Zwar setzten die Schwärmer dem das „innere Wort“ entgegen, schwelgten dann aber doch letztlich nur in „enthusiastischen Erregungen“ (AHG, 54). Bereits in seiner Neuherausgabe von Schleiermachers Reden „Über die Religion“ (1899) wird Otto unter dem Deckmantel seiner Kommentierung ein modifiziertes, profilierter ausgearbeitetes Verständnis von Mystik vorlegen. Als Vermittler einer positiven Stellung zur Mystik lassen sich seine beiden Göttinger Lehrer Theodor Häring und vor allem Hermann Schultz namhaft machen. Neben dem genannten Hinweis in DH26 polemisiert Otto 1930 explizit gegen Ritschl, indem er die Relevanz der „Weltdistanz“ hervorhebt: „Der Druck einer „zu überwindenden Welt“ und die Befreiung von ihr sind gerade die Angeln, um die sich diese und auch andere Mystik ganz und gar dreht (ein Moment, das Ritschl in seinem Kampfe gegen die „Mystik“ übersehen hat)“ (GICh, 57). DH26, 21. Vgl. zu Ritschls Lehre vom Zorne Gottes: Hans-Walter Schütte, Die Ausscheidung der Lehre vom Zorne Gottes in der Theologie Schleiermachers und Ritschls, in: NZSTh 10 (1968), 387– 397. Auch wenn Ritschl mit seiner Rede von der „Heimat- und Gestaltlosigkeit“ suggeriert, dass er die Lehre vom Zorne Gottes geradezu verabschiedet habe. Danach hat „die Vorstellung vom
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biblischer Argumente begrenzt Ritschl diese Lehre zunächst auf einen eschatologischen Begriff. Die aus dem AT übernommene Vorstellung vom Zorn Gottes konvergiere mit der im NT in einem Punkt: Der Zorn Gottes sei identisch mit dem göttlichen Gericht. Erst im Endgericht zeige sich das Handeln Gottes klar und durchschaubar. Jetzt hingegen bleibe es undeutlich und verworren.⁵³ In genau diesem eschatologischen Begriff des Zornes Gottes liegt für Ritschl zweitens die Begründung dafür, dass das durch Christus möglich gewordene Vertrauen zu Gott stets mit der „Furcht Gottes“ verbunden bleibt.⁵⁴ Auch wenn erst das Endgericht über die Annahme oder Verwerfung jedes einzelnen entscheide, so könne der Christ diesem Urteil doch nur dann entgegensehen, wenn das Gericht seine Macht auch schon gegenwärtig ausübt.⁵⁵ Bei Ritschl hat der Begriff des Zornes Gottes nun noch eine dritte Funktion: Der Zorn Gottes markiert die Grenze zwischen christlicher und nichtchristlicher Religion. Alle christliche Religion ist für Ritschl nur in Form von christlicher Gemeinschaft denkbar und umfasst alle diejenigen Menschen, die für das Evangelium geöffnet sind. Die Menschen, die hingegen dem Evangelium verschlossen bleiben, werden im Endgericht verstoßen und dem Tode überantwortet. Sie allein sind der Rest, der vom Zorne Gottes betroffen ist.⁵⁶ Wenn aber allein der nichtchristliche Rest dem göttlichen Zorn im Endgericht anheimfällt, dann kann umgekehrt gesagt werden, dass der Zorn Gottes in diesem Sinne den lutherischen Christenstand nicht mehr gefährdet und nur noch eine außerchristliche Gestalt des Gottesbewusstseins darstellt. Nachdem nun dieser dreifache Begriff des Zornes Gottes bei Ritschl aufgewiesen wurde, komme ich zurück zu Ottos eingangs erwähnter Kritik an der Zurücknahme des Zornes Gottes bei Ritschl (und Schleiermacher). Nimmt man hinzu, dass Otto auch hier wieder auf seine „erste Beschäftigung mit Luther“ verweist, so ergibt sich im Vergleich mit Ritschl folgendes Bild: Deutlich erkennbar ist, dass Otto den aufgewiesenen „eschatologischen Aspekt des Zornes Gottes“,
Zornaffect Gottes für Christen keinen religiösen Werth, sondern (ist) nur ein ebenso heimathloses wie gestaltloses Theologumenon“ (Albrecht Ritschl, Die christliche Lehre von der Rechtfertigung und Versöhnung. Zweiter Band: Der biblische Stoff der Lehre, Bonn 1874, 154). Vgl. a.a.O. 138 f. Vgl. a.a.O. 154. „Die neutestamentliche Vorstellung vom Zorne Gottes hat die Bedeutung der endgültigen Willensentscheidung Gottes gegen die Widersacher seines Heilsrathschlusses oder seiner sittlichen Weltordnung“ (a.a.O. 155). Ebenso: a.a.O. 140 ff.; vgl. 153. Durch die Lehre vom Zorne Gottes in dieser dritten Funktion will Ritschl eine universale Eschatologie ausschließen.
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den Ritschl noch in den Mittelpunkt gestellt hatte, stark zurückdrängt.⁵⁷ Demgegenüber betont Otto seine gegenwärtig erlebbare Wirksamkeit, also das zweite Moment am Ritschlschen Begriff, die sogenannte „Furcht Gottes“. Ganz in Übereinstimmung mit Ritschl versteht auch Otto den Glauben in Christo zunächst als ein herzliches Vertrauen, das sich mit weltlichen Formen des Vertrauens nicht vergleichen lässt. Denn dieses Zutrauen bleibe stets das eigentümliche Innesein eines überweltlichen Gottes, „das seine Accidenzen (Furcht: Zutrauen) geändert, aber seine Substanz bewahrt hat. Und dass man Gott, dem Erhabenen, Ewigen und Heiligen nahen kann als dem ‚der sich mit eitel Güte übergeusst‘ und der ein ‚glühender Ofen der Liebe‘ ist: das ist ihm (sc. Luther; S.F.) stets aufs neue wundervoll und staunenswert“.⁵⁸ Dieser beglückende und zugleich sinnverwirrende Charakter des Glaubens hat nach Otto seine Ursache in dem niemals zu überwindenden Abstand zwischen Gott und Mensch. „Denn Gott bleibt ihm (sc. Luther; S.F.) Gott und Mensch Mensch, und wie kann sich der Mensch unterfangen mit Gott zu reden, er der Staub und Asche ist.“⁵⁹ Dieses eigene „Staub-und-AscheSein“ des Menschen bezeichnet Otto auch als Demut. Das Gefühl der Demut ist für ihn der ständig mitklingende Oberton in aller Glaubenszuversicht.⁶⁰ Schließlich bringt Otto den Zorn Gottes noch in einem weiteren Zusammenhang ein, den Ritschl selbst gar nicht berücksichtigt. Hierfür nimmt Otto auf Luthers Schrift „De servo arbitrio“ Bezug und verbindet sie mit einer Theorie der religiösen Anlage, die erkennbar vom frühen Schleiermacher inspiriert ist. Ausgehend von der Prämisse, dass „alle Religion Empfinden und sich Verhalten zu einem geglaubten Übersinnlichen ist“⁶¹, lasse sich mit Blick auf Luther und sein Christentum dieses „Übersinnliche“ näher qualifizieren als der „ethisch-persönliche Gott“,⁶² der auf den Menschen allein durch das Wort wirke. Es ist demnach das „Wort selbst, das für sich auch das innere Verstehen schafft.“⁶³ Gleichwohl stehe dieses innere Verstehen des Wortes stets vor einer letzten Voraussetzung. Otto nennt sie die „Fähigkeit religiös bewegt zu werden“.⁶⁴ An anderer Stelle
Die Differenz zwischen christlicher und nichtchristlicher Religion, die Ritschl unter dem „Zorn Gottes“ traktiert, findet sich bei Otto in diesem Zusammenhang nicht. AHG, 87. Ebd. „Niemals hört Luthers Glaube auf Andacht und Demut vor der hohen Majestät zu sein. […] Dieses Gefühl muss man als ständigen Oberton mitklingen hören bei Luthers Worten von dem Gott, der nichts ist als die völlige Zuverlässigkeit“ (AHG, 87). – An dieser Stelle ist für Otto der systematische Ort für seine später ausgebaute Theorie der „Bedeckung“ und „Entsühnung“. AHG, 53. Ebd. AHG, 72. AHG, 72 Anm.*.
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spricht Otto auch von „einem undurchdringlichen Geheimnis der Verschiedenheit der geistigen Konstitution überhaupt, die ein jeder in diese Welt kommende mitbringt“.⁶⁵ In Analogie zum Vermögen der musikalischen Anlage etwa nimmt Otto eine genuin religiöse Empfänglichkeit an. Nur wenn Menschen mit einer solchen Veranlagung ausgestattet sind, könne sich das Wort entfalten. „Das Wort wirkt, wozu es gesandt ist, unwiderstehlich und unaufhaltsam in den Gefässen der Gnade“.⁶⁶ Freilich gibt es daneben immer auch das Phänomen, dass manche Menschen das Wort in keiner Weise innerlich zu verstehen vermögen. Otto rekurriert hier auf die Erfahrungstatsache, dass einige Menschen religiös schlicht „unmusikalisch“ bleiben. „Wo es (sc. das Wort; S.F.) nicht wirkt, da weht auch der Geist nicht. Da sind Gefässe des Zorns“.⁶⁷ Zusammengefasst lässt sich sagen: Es ist genau dieser zuletzt aufgewiesene Aspekt des Zornes Gottes, den Otto bei Ritschl (und auch Schleiermacher) vermisst und bei dem er eine Rückbesinnung auf Luther fordert. Der Sache nach handelt es sich um eine Umformung von Luthers Lehre des „deus absconditus“ mit Anleihen beim frühen Schleiermacher. Nicht nur jeder, der das Wort innerlich versteht, sich mithin im Status der Glaubensgewissheit befindet, bleibe stets im Zweifel über die Frage, ob er denn von Gott auch erwählt sei. Daneben gibt es nach Otto aber auch Menschen, die völlig unempfänglich für das Wort sind. In dieser Zornesbegegnung steht Gott gegen Gott.
3 Die frühe Kommentierung von Schleiermachers „Reden“ (1899) und ein Nachruf auf Hermann Schultz (1903) Ich möchte auf zwei frühe Texte Ottos hinweisen, in denen er sich zum ersten Mal offen gegen Ritschl wendet. Zum einen geht es um Ottos erste Kommentierung von Schleiermachers Reden „Über die Religion“ (1899).⁶⁸ Im Nachwort illustriert Otto AHG, 91. AHG, 72 Anm.*. Ebd. Der vollständige Titel lautet: „Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Zum Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt neu herausgegeben und mit Übersichten und Vor- und Nachwort versehen von Lic. Rudolf Otto, Privatdozent an der Universität Göttingen. Mit 2 Bildnissen Schleiermachers, Göttingen 1899, Vorwort, I-XII und Nachwort, 171– 182 (=RE1). – Bereits anlässlich der 2. Auflage 1906 überarbeitet Otto seine Kommentierung grundlegend. Damit aber hat er die beiden expliziten Bezugnahmen auf Ritschl getilgt, die im Folgenden erläutert werden sollen.
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die geistes- und frömmigkeitsgeschichtlichen Hintergründe Schleiermachers im Kontrast zur „Reden“-Deutung Ritschls.⁶⁹ Otto nimmt darin Ritschls These auf, dass Schleiermacher auch auf die Theologie der Gegenwart erheblichen Einfluss ausübt. Gleichwohl versieht Otto sie mit umgekehrten Vorzeichen. War es Ritschl darum gegangen, die Wirkmächtigkeit Schleiermachers in theologischen Positionen seiner Gegenwart aufzuspüren und deren Abhängigkeit von den regressiven Tendenzen der „Reden“ aufzuweisen, so kehrt Otto dieses Argument um. Er bekennt sich zum „,Schleiermacherianismus‘“⁷⁰ der „Reden“. Mit der Aufnahme dieses bei Ritschl pejorativ geprägten Begriffs will Otto seine besondere Wertschätzung Schleiermachers hervorheben und diesen für die systematische Theologie seiner Zeit fruchtbar machen.⁷¹ Beim zweiten Text handelt es sich um einen Nachruf, den Otto über Hermann Schultz geschrieben hat.⁷² Er erschien 1903 in der „Kirchlichen Gegenwart“ und trägt keinen Verfassernamen.⁷³ In diesem Artikel vergleicht Otto seinen verstorbenen Lehrer Hermann Schultz mit Albrecht Ritschl. Danach haben die beiden in Göttingen über Jahre hinweg als Kollegen gelehrt, und Schultz werde deshalb von vielen als „Ritschlianer“ gekennzeichnet. Dieser Einordnung kann Otto jedoch nichts abgewinnen. Denn Schultz sei bereits als völlig ausgereifter und eigenständiger Theologe dereinst nach Göttingen gekommen. Die zentrale Differenz erblickt Otto aber in den völlig gegensätzlichen Wesenszügen beider Männer: „Bei Ritschl kraftvoll geschlossene Art, mit bewußter und gewollter Abgeschlossenheit und Einseitigkeit. Bei Schultz eine erstaunliche Universalität, eine feinfühlende Aufgeschlossenheit nach allen Seiten. Ritschl von einer Centrallehre
Vgl. Albrecht Ritschl, Schleiermachers Reden über die Religion und ihre Nachwirkungen auf die evangelische Kirche Deutschlands, Bonn 1874. Vgl. dazu: Arnulf von Scheliha, Albrecht Ritschls Deutung von Friedrich Schleiermachers Reden ‚Über die Religion‘, in: 200 Jahre ‚Reden über die Religion‘. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft Halle 14.–17. März 1999, hg. von Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener, Berlin/New York 2000, 728– 747. RE1, 171. Ein zweites feinironisches Beispiel für Ottos Ablehnung der von Ritschl vertretenen theologiegeschichtlichen Einordnung Schleiermachers findet sich in der Kommentierung der Literaturhinweise zu den „Reden“. Otto notiert über Albrecht Ritschl: „Für Theologen höchst wertvoll zu lesen ist / A. Ritschl, „Schleiermachers Reden über die Religion“, 1874. / um die originalen und bedeutsamen Gedanken – Ritschls zu studieren (Absätze im Original; S.F.)“ (RE1, XII). Art. Hermann Schultz †, in: Kirchliche Gegenwart. Gemeindeblatt für Hannover, II. Jahrgang, Nr. 13, Juli 1903, 191– 194. Der Beleg, dass der junge Privatdozent Rudolf Otto diesen Nachruf über seinen Göttinger Lehrer geschrieben hat, findet sich bei Peter Ulrich, der auf einen Brief Rudolf Ottos an Eberhard Vischer in Basel aus dem Jahre 1903 verweist. Darin teilt Otto mit: „Den Nachruf für Schultz von mir lege ich auch bei.“ (UB Basel Vischer G 6, Korrespondenz mit R. Otto, zitiert nach Peter Ulrich, Hermann Schultz [Anm. 26], 143).
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ausgehend, zur Peripherie nur fast widerwillig vorangehend und schnell sich wieder abkehrend, Schultz in weitverbreitetem System seine Gedankenwelt ausbreitend, auf breiter Basis allgemeinen Wissens und weiten religionsgeschichtlichen Umblickes das Gebäude seiner Theologie aufführend. Ritschl der Dogmatiker, den geschichtlichen Stoff zwingend, bisweilen zwängend, zum dogmatischen Dienste. Schultz sich liebevoll versenkend in den geschichtlichen Stoff und vorsichtig aus ihm die theologische Lehre aufblühen lassend. Jener herbe, schwerfällig im Ausdruck, eine neue künstliche Schulsprache redend und schaffend. Dieser durchsichtig, eine allgemeine Sprache führend, auch dem Nichtzünftler zugänglich. Beide gleich sehr auf modernen geschichtlich-kritischen Boden sich stellend, aber Ritschl so, dass er einen früh gewonnenen Standpunkt und Grad kritischer Betrachtung bald verfestigt und gegen spätere Fortschritte sich stark ablehnend verhält. Schultz so, dass er bis hinein in seine letzten Arbeiten und sein letztes Kollegheft hinein sich eine überraschende Jugendlichkeit, Zugänglichkeit und Offenheit auch für neueste Einsichten erhält.“⁷⁴ Otto würdigt Ritschl in beiden Texten als großen Theologen, der jedoch seine Zeit gehabt hat. Im ersten Text kennzeichnet er Ritschls Einordung des frühen Schleiermachers als völlig verfehlt und kann sich einer ironischen Spitze nicht enthalten. Im zweiten Text präzisiert Otto seine Kritik an Ritschl. Er dient ihm als Negativfolie für die Charakterisierung seines Lehrers Hermann Schultz. Ritschl wird als Dogmatiker im schlechten Sinne beschrieben: Mit aller Kraft igelte er sich in seinem System ein. Er umkreiste nur eine einzige Hauptlehre, die er auch gegen widersprechende historische Befunde starrsinnig verteidigte. Sein einstmals historisch-konstruktives Verstehenwollen, das Otto ausdrücklich an Ritschl lobt, sei nicht nur allzu schnell erlahmt, sondern auch durch eine verkrustete, schwer verständliche Terminologie ersetzt worden.
4 Fazit Blickt man bei der Frage nach Rudolf Ottos Ritschl-Rezeption noch einmal auf die analysierten Texte aus den Jahren 1891 bis 1903, so dürfte Folgendes deutlich geworden sein: Einflüsse „Ritschls und seiner Schule“ auf Rudolf Otto liegen selbstverständlich vor. Otto hat seit seinen Anfängen auf dem Gymnasium Andreanum in Hildesheim einen weiten Weg zurückgelegt: Ein nach eigener Stilisierung gesetzlich-frommer Lutheraner wird auf der Suche nach Vergewisserung in Erlangen von der Göttinger Theologie geradezu „bekehrt“. Der Ertrag seiner
Art. Hermann Schultz † (Anm. 72), 192.
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Studienjahre vertieft sich für Otto im Rahmen seiner Licentiatenarbeit. Wir sehen, wie er hier zentrale Kategorien seines Denkens entwirft.⁷⁵ Mit dem Begriff des Heiligen Geistes gibt sich Otto als ein auf der Höhe der „Theologie Ritschls und seiner Schule“ stehender Theologe zu erkennen und positioniert sich in dessen erlebnispsychologischem Spektrum. Seine Interpretation der Mystik lässt Ottos spätere Initiative zur Öffnung des strengen Ethizismus Ritschlscher Provenienz erahnen. Mit der Umformung des Zornes Gottes schließlich strebt Otto eine Verbindung von Theoremen Luthers und des frühen Schleiermachers an, die in eine Theorie der religiösen Anlage münden. Durchgängig setzt sich Otto mit dem Denken Albrecht Ritschls auseinander, freilich verborgen unter dem Deckmantel einer Lutherdeutung. Insofern ist dem eingangs erwähnten Urteil Heinrich Fricks, der Ottos theologische Herkunft aus der Ritschlschen Schule ableitet, nicht zu widersprechen. Gleichwohl ist es aber doch viel zu grobmaschig. Es wären viel genauere Differenzierungen innerhalb der auf Ritschl Bezug nehmenden theologischen Richtungen vonnöten, die in diesem Rahmen freilich nicht geleistet werden können. Ab 1899 wagt sich Otto zum ersten Mal offen gegen Ritschl aus der Deckung. Von da an finden sich nur noch wenige, mitunter prominente Bezugnahmen auf Ritschl, die stets ablehnender Art sind. Hier konvergieren die Einordnungen von Gregory D. Alles und Heinrich Frick, die beide auf Ottos scharfe Abgrenzung gegen Ritschl hinweisen. Man wird jedoch nicht umhinkommen, dass dieser „Bruch mit Ritschl“ – das zeigt die hier durchgeführte Analyse – um fast 20 Jahre vorgezogen werden muss und sich nicht zuletzt einer intensiven Auseinandersetzung Ottos mit Albrecht Ritschl und seiner Schule verdankt.
Bereits Hans-Walter Schütte hat festgestellt, dass Ottos frühe Lutherstudie die „Keimzelle seines Denkens ist“ (Ders., Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 12 Anm. 4).
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Rudolf Otto und die Religionsgeschichtliche Schule 1 Wenn von der Religionsgeschichtlichen Schule und ihrem Umfeld die Rede ist, fällt in der Regel auch der Name Rudolf Otto. Zwar gehört er nicht zu jener ‚Kleinen Göttinger Fakultät‘¹ junger Privatdozenten, die zwischen 1888 bis 1893 in Göttingen zu Licentiaten der Theologie promoviert wurden, sich im gleichen Zuge habilitierten und dabei zu einer – untereinander freundschaftlich verbundenen – theologischen Arbeitsgemeinschaft zusammenfanden. Die Mitglieder dieser ‚Kleinen Fakultät‘ bilden den Kern der Religionsgeschichtlichen Schule. Dazu zählen neben Hermann Gunkel, William Wrede und Johannes Weiß, Alfred Rahlfs und Heinrich Hackmann vor allem Wilhelm Bousset und Ernst Troeltsch – Rudolf Otto also nicht. Doch wenn es um die Ausbreitung und das weitere Umfeld der Religionsgeschichtlichen Schule geht, rückt bald auch sein Name in den Blick. Er gilt zumeist als „Religionsgeschichtler der zweiten Generation“,² in pointierter Zuspitzung erscheint er gar als der andere Systematiker der Religionsgeschichtlichen Schule neben Ernst Troeltsch.³ Allerdings bleiben diese griffigen Kennzeichnungen in der Regel bloße Etiketten. Sie finden weder eine inhaltliche Erläuterung, noch werden nachvollziehbare Gründe für ihre Berechtigung genannt. Fast drängt sich der Eindruck auf, als reiche es aus, in Göttingen seine akademischen Meriten erworben zu haben und sich irgendwie mit dem Thema Religion zu befassen, um flugs für die Religionsgeschichtliche Schule vereinnahmt zu werden.
Vgl. dazu Ernst Troeltsch, Die „kleine Göttinger Fakultät“ von 1890, in: Die Christliche Welt 34 (1920), 281– 283; sowie Friedrich Wilhelm Graf, Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“. Ernst Troeltschs Promotionsthesen und ihr Göttinger Kontext, in: Untersuchungen zu Biographie und Werkgeschichte, hg.v. Horst Renz/Friedrich Wilhelm Graf, Gütersloh 1982 (Troeltsch-Studien, Bd. 1), 235 – 290. Hans-Joachim Dahms, Stationen der Theologenkarriere bei den Mitgliedern der Religionsgeschichtlichen Schule, in: Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Eine Dokumentation, hg.v. Gerd Lüdemann/Martin Schröder, Göttingen 1987, 137– 147.145. Vgl. Gerd Lüdemann, Die Religionsgeschichtliche Schule, in: Theologie in Göttingen. Eine Vorlesungsreihe, hg.v. Bernd Moeller, Göttingen 1987, 325 – 361.360; und Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992, 106.
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Nun hat Rudolf Otto in der Tat seine akademische Heimat in Göttingen – und auch auf die Gefahr hin, bei den laufenden Otto-Festspielen als südniedersächsischer Beckmesser zu erscheinen, sei hinzugefügt: Auf seine akademische Lehrtätigkeit bezogen, hat Otto sogar länger in Göttingen als in Marburg gewirkt. Doch sollten sich die Göttinger darauf nicht allzu viel einbilden. Offenbar ging Otto nur ungern und aus rein pragmatischen Gründen nach Göttingen: Für den aus dem hannoverschen Peine stammenden Studenten handelte es sich um die unvermeidliche Landesfakultät.⁴ Gleichwohl scheint er dort Kontakte zu den Mitgliedern der ‚Kleinen Göttinger Fakultät‘ geknüpft zu haben – soweit diese in den 1890er Jahren noch in Göttingen waren.⁵ Allerdings sind es vornehmlich äußere Indizien, die darauf verweisen; persönliche Zeugnisse oder Berichte gibt es kaum. So unternimmt Otto seine erste Griechenland-Reise im Jahre 1891 gemeinsam mit dem Alttestamentler und späteren Ordinarius für Allgemeine Religionsgeschichte Heinrich Hackmann. 1895 tritt er – als Nach-Nachfolger Hackmanns – die auf zwei Jahre befristete Stelle als Inspektor des Theologischen Stifts an. Diese Stelle wird in jener Zeit nahezu ausnahmslos mit Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule besetzt.⁶ Bei der Disputation seiner Promotionsthesen im Jahre 1898 wiederum dienen Alfred Rahlfs und Wilhelm Heitmüller als Opponenten. Damit wird die Tradition der ‚Kleinen Göttinger Fakultät‘ fortgesetzt, einander wechselseitig zu sekundieren. Schließlich steht Otto mit mehreren Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule in brieflichem Kontakt – vor allem und weit über die Göttinger Zeit hinaus mit Hackmann und Rahlfs, daneben aber auch mit Ernst Troeltsch, dem er offen von seinen beruflichen Nöten und gesundheitlichen Krisen berichtet.⁷ Troeltsch setzt sich seinerseits vergeblich für ihn als Nachfolger auf dem Heidelberger Lehrstuhl ein.⁸
Vgl. Reinhard Schinzer, Rudolf Otto – Entwurf einer Biographie, in: Rudolf Ottos Bedeutung für die Religionswissenschaft und die Theologie heute, hg.v. Ernst Benz, Leiden 1971, 1– 29.2 f. Hermann Gunkel geht bereits 1889 – aus noch immer ungeklärten Umständen – nach Halle. Ernst Troeltsch wird 1892 auf eine Professur nach Bonn berufen, William Wrede 1893 nach Breslau und Johannes Weiß 1895 nach Marburg. Heinrich Hackmann wiederum übernimmt 1894 die Pfarrstelle der deutschen Gemeinde in Shanghai. Von der ‚Kleinen Göttinger Fakultät‘ bleiben mithin allein Alfred Rahlfs und – bis 1915 – Wilhelm Bousset in Göttingen. Vgl. Gerd Lüdemann, Das Göttinger Theologische Stift 1878 – 1900, in: Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen, hg.v. Gerd Lüdemann/Martin Schröder, 45 – 51. Vgl. dazu die im Otto-Nachlass der Marburger Universitätsbibliothek aufbewahrten Antwortbriefe von Troeltsch an Otto. Vgl. Ernst Troeltsch, Briefe aus der Heidelberger Zeit an Wilhelm Bousset 1894– 1914, hg.v. Erika Dinkler-von Schubert, in: Heidelberger Jahrbücher 20 (1976), 19 – 52.50 (Brief vom 21.12.1914).
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2 Einen Sonderfall stellt das Verhältnis Ottos zu Wilhelm Bousset dar. Über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren lehren sie gemeinsam in Göttingen und pflegen eine persönliche Freundschaft – ohne je vom ‚Sie‘ zum ‚Du‘ überzuwechseln. Beide verorten sich im liberalen Lager und werden dort auch politisch aktiv.⁹ Zusammen mit Leonard Nelson, dem Göttinger Begründer des ‚Neufriesianismus‘, treten sie in Göttingen auf Veranstaltungen des linksliberalen Akademischen Freibundes auf. Bousset und Nelson sind darüber hinaus im Vorstand des Göttinger Vereins der entschieden Liberalen engagiert, der sich politisch auf die Sozialdemokratie zubewegt. So tritt Bousset in einer Rede vom Dezember 1909 nachdrücklich für ein sozialliberales Bündnis ein. Otto hingegen kandidiert im Jahre 1913 überraschend auf der Liste der Nationalliberalen Partei. Er wird mit deutlichem Vorsprung gewählt und zieht als Abgeordneter in den preußischen Landtag ein. Otto und Bousset stehen nun aber auch in einem erkennbaren theologischen Gesprächszusammenhang. An vorderster Stelle ist dabei der gemeinsame Einsatz für den ‚Neufriesianismus‘ zu nennen.¹⁰ Dem bereits erwähnten Leonard Nelson kommt hier eine Schlüsselstellung zu.¹¹ Er hatte schon 1904 Rudolf Otto für seine ‚neufriesische Schule‘ gewinnen können; wohl vermittelt über die gemeinsamen politischen Aktivitäten stößt dann einige Jahre später auch Bousset hinzu. Publizistisch sichtbar wird die Zusammenarbeit, als Bousset 1909, gleich im Jahre ihres Erscheinens, Ottos Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie bespricht.¹² In völliger Übereinstimmung mit Otto hebt er dabei vor allem die eminente Bedeutung der Fries’schen Religionsphilosophie für die gegenwärtige Theologie und Kirche hervor: Zwar habe schon Troeltsch damit begonnen, die lähmende Dichotomie zwischen Historismus und Supranaturalismus zu überwinden und zur kantisch-idealistischen „Erfassung der Religion als einer einheitlichen Erscheinung des menschlichen Geisteslebens“ zurückzuleiten.¹³ Doch werde dieser Rationalismus sogleich „wieder mit starken historisch- und psychologisch-empiri Vgl. dazu ausführlicher Hans-Joachim Dahms, Politischer und religiöser Liberalismus. Bemerkungen zu ihrem Verhältnis im Wilhelminischen Kaiserreich am Beispiel der „Religionsgeschichtlichen Schule“, in: Die „Religionsgeschichtliche Schule“. Facetten eines theologischen Umbruchs, hg.v. Gerd Lüdemann, Frankfurt a.M. 1996 (STRS 1), 225 – 242. Vgl. dazu auch Georg Weiß, Die neufriesische Schule in der Theologie. Rudolf Otto und Wilhelm Bousset, in: Die Christliche Welt 25 (1911), 729 – 732. Vgl. dazu näherhin Hans-Joachim Dahms, Politischer und religiöser Liberalismus (Anm. 9), 227– 231. Vgl. Wilhelm Bousset, Kantisch-Friessche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie, in: Theologische Rundschau 12 (1909), 419 – 436.471– 488. A.a.O. 436.
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schen Elementen durchsetzt“.¹⁴ Daher empfehle es sich, den Blick auf den KantSchüler Jakob Friedrich Fries zu richten. Ihm gelinge es, in produktiver Weiterführung Kants „den religiösen Ideen einen notwendigen Platz innerhalb der reinen Vernunft des Menschen zu erobern“¹⁵ und dem Glauben damit den ersehnten Zugang zur sturmfreien „Welt ewiger Gewißheit und Wirklichkeit“¹⁶ zu verschaffen. Nicht anders als Otto erblickt dabei auch Bousset den Höhepunkt der Fries’schen Religionsphilosophie in dessen Ahnungs- und Gefühlslehre: Während die erkennende Vernunft die Religion nur in Gestalt abstrakter Ideen erreiche, werde sie „gegenständlich greifbar“ und „anschaulich lebendig“¹⁷ in den vorreflexiv-ahnenden Gefühlen der Begeisterung, der Demut und der Andacht. Lediglich im Umgang mit der Schwachstelle der Fries’schen Religionsphilosophie gehen Bousset und Otto leicht auseinander. Otto gesteht deutlich ein, dass Fries ein angemessenes Verständnis für die individuell-geschichtlichen Erscheinungen der Religion noch gefehlt habe – ist aber gleichwohl davon überzeugt, die Fries’sche Gefühlslehre ohne größere Schwierigkeiten dafür fruchtbar machen zu können.¹⁸ Zugespitzt formuliert: Der Übergang von der Metaphysik zur Geschichte scheint für ihn nur eine Frage der Anwendung zu sein. Das stellt sich für Bousset anders dar. Er nimmt Fries sehr viel stärker gegen den Vorwurf in Schutz, lediglich eine bloße „Vernunftreligion“¹⁹ konstruiert zu haben: Der kantisch-friesische Rationalismus lasse „der Geschichte durchaus ihr Eigenleben und ihre Bedeutung; aber was er behauptet, das ist, den Besitz fester Normen gegenüber aller Empirie zu haben. Und deshalb darf er mit Kant sprechen: das Historische dient nur zur Illustration, nicht zur Demonstration; – aber hinzufügen: diese Illustration ist, wo Religion lebendig werden soll, ein wesentliches, unentbehrliches Element“.²⁰ Hier zeigt sich, dass Bousset das Problem der Geschichte sehr viel schärfer
Ebd. A.a.O. 472. A.a.O. 478. A.a.O. 482. Vgl. KFR, 124 f.: „Die Möglichkeit aber, die Individuation der Religion zu verstehen und das Dasein von Qualitätsunterschieden und damit auch das Dasein von Wertunterschieden und die Notwendigkeit, zwischen unvollkommenerer und vollkommenerer Religion nicht nur hinsichtlich des Helleren oder Dunkleren, sondern hinsichtlich des eigentümlichen Geistes einer jeden einzelnen zu unterscheiden, war gerade in den Grundlagen der Friesschen Religionsphilosophie, wie uns scheint, ganz unvergleichlich gut gegeben, obgleich Fries selber davon noch nicht Gebrauch macht. Nämlich durch seine Lehre vom sittlichen und religiösen Gefühl und von der in beiden ‚freien‘ Urteilskraft. Hier ist doch ohne weiteres die Möglichkeit, ja die Notwendigkeit gegeben, das Ewige individuell und qualitativ eigen zu erleben, aufzufassen und zu beziehen“. Wilhelm Bousset, Kantisch-Friessche Religionsphilosophie (Anm. 12), 479. A.a.O. 480 (Hervorhebung Martin Laube).
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empfindet als Otto. Ihm ist gerade nicht daran gelegen, den Fries’schen Rationalismus für die Geschichte aufzuschließen. Vielmehr würdigt er Fries gerade deshalb, weil dieser die Geschichte einzuhegen verspricht. Bousset belässt es nicht bei der programmatischen Rezension des Ottoschen Buches. Seinen eigenen Beitrag zum Neufriesianismus leistet er, indem er im darauffolgenden Jahr Fries’ philosophischen Roman Julius und Evagoras neu herausgibt.²¹ Zudem bleibt noch eine literarische Fehde zu erwähnen, die allerdings inhaltlich nur von geringem Ertrag ist. In der Zeitschrift für Theologie und Kirche erscheint – ebenfalls 1910 – eine ausführliche Streitschrift „Wider den Neofriesianismus in der Theologie“.²² Sie stammt aus der Feder des Marburger Privatdozenten Karl Bornhausen, der gegen Ottos Unterfangen, „den fremden Gedanken eines philosophischen Epigonen zu folgen“,²³ die „ethische Selbstbewußtseinstheologie“²⁴ seines Lehrers Wilhelm Herrmann in Stellung zu bringen sucht. Bousset reagiert – in der gleichen Zeitschrift – mit einer ausführlichen Verteidigung Ottos.²⁵ Diese Verteidigung fällt derart harsch und vehement aus, dass sich im Namen der Redaktion Wilhelm Herrmann selbst genötigt sieht, den Abdruck des Beitrages von Bornhausen nachträglich zu rechtfertigen.²⁶ Der gemeinsame Einsatz für den Neufriesianismus kann nun allerdings nicht überdecken, dass Otto und Bousset im Kern durchaus unterschiedliche, wenn nicht letztlich gar unvereinbare theologische Zielsetzungen verfolgen. Vor allem an zwei Punkten lässt sich exemplarisch zeigen, wie die anfängliche Übereinstimmung zunehmend Risse erhält. Zum einen handelt es sich um den Umgang mit der historischen Rückfrage nach Jesus.²⁷ Im Hintergrund geht es dabei zugleich um die Bedeutung des Individuellen in der Geschichte. Bereits in seinen als Manuskript erschienenen
Vgl. Jacob Friedrich Fries, Julius und Evagoras. Ein philosophischer Roman, hg.v. Wilhelm Bousset, Göttingen 1910. Vgl. Karl Bornhausen, Wider den Neofriesianismus in der Theologie, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 20 (1910), 341– 405. A.a.O. 347. Ebd. Vgl. Wilhelm Bousset, In Sachen des Neufriesianismus. I. Wider unsern Kritiker, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 21 (1911), 141– 159. – Boussets Verteidigung beschränkt sich allerdings darauf, Bornhausen handwerklich grobe Irrtümer in der Deutung von Fries und Otto nachzuweisen. Vgl. Wilhelm Herrmann/Martin Rade, In Sachen des Neufriesianismus. III. Nachwort der Redaktion, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 21 (1911), 165 f. Vgl. dazu Heinrich Kahlert, Der Held und seine Gemeinde. Untersuchungen zum Verhältnis von Stifterpersönlichkeit und Verehrergemeinschaft in der Theologie des freien Protestantismus, Frankfurt a.M. 1984, 15 – 94.
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Vorträgen über das Leben und Wirken Jesu aus dem Jahre 1901 beklagt Otto das Unvermögen der historischen Methode, die charismatische Wirksamkeit Jesu angemessen zu erfassen. Dessen Predigt von der Gotteskindschaft aller Menschen eröffne „eine völlig neue Stufe der Religion“.²⁸ Sie breche auf „aus der Tiefe und dem Geheimnis seiner religiös-genialen Individualität: eine Tiefe und ein Geheimnis, das sich allem psychologischen Sezieren verschließt und allem künstlichen historischen Ableiten sich widersetzt“.²⁹ Auch Bousset betont zunächst die schöpferische Kraft der Persönlichkeit Jesu. So zeichnet er in seinen Vorträgen über das Wesen der Religion aus dem Jahre 1903 Jesus als Befreier der Religion aus den Schranken des Spätjudentums: „[V]on nationaler Gebundenheit, von der Zeremonie, von dem Buchstaben und der herrschenden Gelehrsamkeit befreite Jesus die Religion. Rein und einfach entfaltet sich nun die Innerlichkeit des Evangeliums. Frei und stark fließt hier in ungebundener Kraft der Glaube an Gott“.³⁰ In der Folge jedoch wird ihm das Zutrauen, einen historisch gesicherten Zugang zur Person Jesu zu gewinnen, zunehmend zweifelhaft.³¹ An die Stelle der authentischen Jesusüberlieferung tritt die sekundäre Gemeindetradition – mit der formgeschichtlichen Konsequenz, dass diese Gemeinde dann auch zum entscheidenden Träger der neuen Religion wird. In seinem Hauptwerk Kyrios Christos blendet Bousset die Person Jesu schließlich programmatisch aus: Erst „[m]it der Frage nach der Stellung Jesu im Glauben der palästinischen Urgemeinde stehen wir auf einem verhältnismäßig gesicherten Boden“.³² Auch der Übergang vom erwarteten Messias zum Kyrios Christos sei nicht das Werk eines einzelnen: „Was hier vorliegt, ist aufgebrochen aus der Tiefe eines Gemeindebewusstseins, das sich im gemeinsamen Kult ausprägt und zur Darstellung kommt. Nicht die persönliche
Rudolf Otto, Leben und Wirken Jesu nach historisch-kritischer Auffassung, Göttingen 1901, 60. A.a.O. 62. Wilhelm Bousset, Das Wesen der Religion, dargestellt an ihrer Geschichte, Halle 1903, 201. – Zugleich heißt es bereits in Boussets Promotionsthesen: „Das Eigenartigste und Bedeutendste an der Persönlichkeit Jesu liegt nicht in etwaigen neuen religiös-ethischen Ideen, sondern in dem Selbstbewusstsein, mit dem er sich als Messias, als Bringer des zukünftigen Äons wusste“ (Horst Renz, Thesen zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde an der Georg-August-Universität zu Göttingen 1888 – 1893, in: Untersuchungen zu Biographie und Werkgeschichte, hg.v. Friedrich Wilhelm Graf/Horst Renz, 291– 305.297). Zum Beleg für diese zunehmende Skepsis Boussets im Blick auf die historische Jesusfrage vgl. Ders., Kantisch-Friessche Religionsphilosophie (Anm. 12), 429. Wilhelm Bousset, Kyrios Christos. Geschichte des Christusglaubens von den Anfängen des Christentums bis Irenäus, Göttingen 21921, 1.
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Tat eines einzelnen, der instinktive Wille einer Gesamtheit spricht sich in dem κύριος Ἰησοῦς aus“.³³ Während für Bousset also der Zusammenhang des christlichen Glaubens mit seinem geschichtlichen Ursprung zerreißt³⁴ – und eben deshalb ein Spielball historistischer Willkür zu werden droht –, hält Otto zeitlebens daran fest, in der charismatischen Persönlichkeit Jesu und ihrer religionsstiftenden Wirksamkeit die innere Einheit des Christentums begründet zu sehen. Die Abgründe der historischen Forschung treten dabei zugunsten einer gleichsam typologischen Geschichtsbetrachtung zurück. Sie fügt die Einzelstücke der Überlieferung zu einer „Gestalt-Einheit“³⁵ zusammen und nimmt die gelingende Verknüpfung einer „Gruppe von Zügen, die auch sonst im charismatischen Bilde des Heiligen auf typische Weise zusammengehören“,³⁶ zum Ausweis ihrer historischen Echtheit. Auf diese Weise gelingt es Otto, das plastische Bild eines „eschatologischen Wanderpredigers“³⁷ zu zeichnen, in dessen Auftreten Botschaft und Ereignis des Heils zusammenfallen. Den darin liegenden Gegensatz zu Boussets – pessimistisch grundierter – formgeschichtlicher Perspektive spricht Otto deutlich aus: Man habe das Bild Jesu als der messianischen Heilsgestalt „zu einer Konstruktion der Gemeinde und damit zum anonymen Erzeugnis einer Kollektivfantasie machen wollen, die man als ‚soziologische Funktion‘ erklärt. […] Aber nicht Kollektiva erzeugen die großen revolutionären Ideen, sondern große revolutionäre Ideen erzeugen neue Gruppenbildungen mit neuem Milieu“.³⁸ Bousset nimmt also das Problem der historischen Kritik so ernst, dass ihm die religiöse Individualität Jesu zunehmend entschwindet. An die Stelle des unableitbar Neuen tritt das religionsgeschichtlich Herleitbare; an die Stelle des Religionsstifters das Gemeindekollektiv. Otto wiederum hält unbeirrbar daran fest, dass die Entstehung der Christengemeinde ohne „die numinose Art und Kraft“³⁹ des persönlichen Auftretens Jesu nicht verständlich wäre – und schließt von da aus auf die historische Verlässlichkeit dessen zurück, was die biblischen Überlieferungen von der charismatischen Persönlichkeit Jesu berichten. Die Abgründigkeit der historischen Fragestellung ist ihm insofern fremd; er sieht hier „kein[en] Grund zur Skepsis“.⁴⁰
A.a.O. 90. Vgl. a.a.O. 75: „[D]as rein Historische vermag eigentlich niemals zu wirken, sondern nur das lebendig gegenwärtige Symbol, in dem sich die eigene religiöse Überzeugung verklärt darstellt“. RGM3, 268. RGM3, 270. RGM3, 1. RGM3, 195. DH, 188. RGM3, 125.
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Die andere Differenz zwischen Otto und Bousset betrifft die deutliche Zurückhaltung, welche Bousset gegenüber Ottos Betonung des Irrationalen als Schlüssel der Religion an den Tag legt. Hier steht zunächst ebenfalls ein gemeinsames Grundmotiv im Hintergrund. Dabei handelt es sich um das Interesse, die Selbständigkeit der Religion auch gegenüber theologisch-rationaler Einbettung und Bevormundung zur Geltung zu bringen. Dieses Interesse kennzeichnet die Religionsgeschichtliche Schule insgesamt. Ihr Anliegen wäre verkannt, wenn es einseitig nur als ein religionsgeschichtliches aufgefasst würde. Vielmehr folgt gerade aus der ursprünglichen Einsicht, „daß die Religion […] wie alles Menschliche ihre Geschichte hat“,⁴¹ die religionstheoretische Ausweitung des Blickwinkels auf die Erfassung der geschichtlichen Wirklichkeit von Religion überhaupt. Wilhelm Bousset beschreibt eindrücklich, wie gerade die intensive Beschäftigung mit der Literatur des Spätjudentums zu dieser Erweiterung des Horizonts geführt hat: „Denn jene Literatur ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, Literatur der ungebildeten Masse; das offizielle Schriftgelehrtentum steht ihr ferne, sie spiegelt die Stimmungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die naive Frömmigkeit der unteren Schichten wider. Eine ganz neue Welt erschloss sich hier […]. Man lernte verstehen, dass es bei einer lebendigen Auffassung der Religionen nicht nur und vielleicht nicht in erster Linie auf die Erfassung der abgeklärten Vorstellungs- und Begriffswelt, der biblischen Lehrbegriffe, Dogmen und Theologumenen ankomme, dass der breite Strom des religiösen Lebens der Masse in einem andern Bette fließe, als man ihn bisher gesucht, in dem Bette der Stimmungen und Phantasien, der oft schwer kontrollierbaren Erfahrungen und Erlebnisse primitivster Art, in Sitte, Brauch und Kultus“.⁴² Die religionsgeschichtliche Perspektive gewinnt so einen – vornehmlich auf die dogmatische Lehre bezogenen – theologiekritischen Richtungssinn. Es gilt, die Religion aus den Fängen der scholastischen Gelehrsamkeit zu befreien und die unableitbare Selbständigkeit des religiösen Lebens und Erlebens gegenüber dem rationalisierenden Zugriff des theologischen Begriffs sicherzustellen. Vor diesem Hintergrund erklärt sich nicht zuletzt das auf die religiöse Gegenwartslage bezogene ‚volksbildnerische‘ Engagement der Religionsgeschichtlichen Schule. Der theologiekritisch-emanzipative Grundimpuls verbindet sich hier mit einem auf die Förderung religiöser Selbständigkeit gerichteten Bildungsinteresse. Zugespitzt formuliert: Die Popularisierung theologischer Forschung steht im Dienste einer Entdogmatisierung der gelebten Religion. So heißt es exemplarisch im Klappentext zur ersten Lieferung der von Johannes Weiß herausgege Hermann Gunkel, Rez. Max Reischle, Theologie und Religionsgeschichte, in: DLZ 25 (1904), 1100 – 1110.1109. Wilhelm Bousset, Die Religionsgeschichte und das Neue Testament, in: Theologische Literaturzeitung 7 (1904), 265 – 277.311– 318.353 – 365.271.
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benen Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt, der sogenannten ‚Gegenwartsbibel‘: Die neuen Übersetzungen und Erklärungen wollen dem Leser „helfen, das Neue Testament mit eigenen Augen zu lesen, und nicht durch die Brille einer anerzogenen Gewöhnung. Die hier vorgetragene Auffassung ist nicht die herkömmliche, aber nur, weil die Bibel selber anders ist, als die dogmatischen Theorien über sie, mit denen wir aufgewachsen sind.Vieles, was dem Leser bisher selbstverständlich erschien, wird dabei allerdings zweifelhaft werden, manches, woran sein Herz hängt, wird fallen; aber dafür wird er sehr vieles gewinnen, was ihm unbekannt war; vor allem wird das Wesentliche und Ewige in diesen Schriften deutlich werden, nachdem wir das Zeitliche und Unwesentliche als solches erkannt haben“.⁴³ Rudolf Otto wiederum hatte schon in seiner Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie das Programm von Fries in die Tradition des aufgeklärten Anliegens gestellt, „im Gegensatz zum Vertheologisierten und Subtil-gelehrten“⁴⁴ das an der Religion herauszuheben, „was einfach, unmittelbar, und ‚auch dem gemeinen Mann verständlich‘ ist“.⁴⁵ Otto gibt damit dem Emanzipationsmotiv der Religionsgeschichtlichen Schule eine historisch gewendete Fassung. Im Hintergrund stehe der – bereits in der Reformation ansetzende – Durchbruch des „Laienchristentums“⁴⁶ mit seiner selbstbewussten Distanzierung gegenüber Schulgelehrtheit und Spekulation. Allerdings bleibt Otto dabei nicht stehen, sondern rückt nun auch den Übergang zur Romantik in diese Traditionslinie ein. Es sei nur deren konsequente Fortsetzung, wenn sich die Unmittelbarkeit des Religiösen schließlich gegen den Rationalismus überhaupt kehre: „Jene Selbsthilfe des ‚Laien‘ wird jetzt zum Proklamieren der Rechte des ‚Gefühls‘ gegenüber der Reflexion“.⁴⁷ Fries komme der Verdienst zu, diese Entwicklung aufgenommen und das Eigenrecht einer solchen vorreflexiven Gefühlsreligion vernünftig begründet zu haben. Freilich schreibt Otto der religionsgeschichtlichen Unterscheidung von Theologie und Religion so unversehens eine veränderte Stoßrichtung ein. Ging es bei Bousset und Weiß vorrangig darum, die Selbständigkeit der Religion gegenüber der gelehrten Schultheologie zu behaupten, richtet Otto nun den Fokus darauf, das unmittelbare religiöse Erleben in einen Gegensatz zur vernünftigen Reflexion überhaupt zu bringen.
Johannes Weiß (Hg.), Die Schriften des Neuen Testaments neu übersetzt und für die Gegenwart erklärt, Klappentext der ersten Lieferung, Göttingen 1904. KFR, 19. Ebd. Ebd. KFR, 21 f.
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Wohlgemerkt: Auch die Religionsgeschichtliche Schule arbeitet daran, der vorreflexiven Erfahrungsdimension des Religiösen zu ihrem Recht zu verhelfen. Doch wird das Verhältnis von Religion und Reflexion anders bestimmt als bei Otto. Das zeigt sich am Beispiel von Boussets Auseinandersetzung mit Ottos Religionstheorie in seinem Hauptwerk Das Heilige. Brieflich hatte Bousset zunächst seine „innerste Zustimmung“⁴⁸ zum Ausdruck gebracht, die gelungene Darlegung der Selbständigkeit des Religiösen gewürdigt – und doch zugleich schon Bedenken an der Verhältnisbestimmung von Irrationalem und Rationalem angedeutet. In einer Vorlesung aus dem Jahre 1919 führt er diese Bedenken näher aus.⁴⁹ Den Anlass bieten ihm studentische Klagen über die historische Überlast der zeitgenössischen Universitätstheologie. Bousset führt diese Klagen nicht auf konkrete Missstände zurück, sondern verweist auf das schwelende Dauerproblem des Verhältnisses von Theologie und Religion. Die Theologie, so formuliert Bousset in Abwandlung eines Satzes von Ernst Troeltsch, sei „für die Religion ebenso schwer zu ertragen, wie zu entbehren“.⁵⁰ Schwer zu ertragen sei sie, weil die Theologie mit wissenschaftlichen Mitteln eine Erscheinung zu bearbeiten versuche, die sich einem solchen Zugriff gerade entziehe: „Theologie – erkenntnisgemäße Erfassung der Religion! Ist das nicht Widerspruch in sich und Quadratur des Zirkels? Ist Religion nicht das Irrationale im Menschenleben? Das Urirrationale, tiefstes Geheimnis der menschlichen Seele, das über sie kommt, wie etwas Fremdes, ganz Ungeheures, Gewaltiges in Erschauern und Bangen, in Entzücken und Grausen, in ehrfürchtigem Staunen, im Aufruhr tiefster Gefühle. Ist nicht Religion das Gefühl für ‚das Heilige‘, so wie mein Freund Otto es in seiner Schrift so lebendig […] zur Darstellung gebracht hat! Ist da nicht alle Theologie, dies Begreifenwollen des Unbegreiflichen ein unmögliches Begehren, ein schädliches Beginnen?“.⁵¹ In ausdrücklichem Anschluss an Otto
Wilhelm Bousset, Brief an Rudolf Otto (3.12.1916), in: Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, hg.v. Hans-Walter Schütte, Berlin 1969, 127 f.127. Vgl. Wilhelm Bousset, Religion und Theologie (1919), in: Ders., Religionsgeschichtliche Studien. Aufsätze zur Religionsgeschichte des Hellenistischen Zeitalters, Leiden 1979, 29– 43; vgl. dazu auch Friedrich Wilhelm Graf, Der „Systematiker“ der „Kleinen Göttinger Fakultät“, 265– 269. Wilhelm Bousset, Religion und Theologie (Anm. 49), 30. – Bousset wandelt hier die 16. Promotionsthese von Ernst Troeltsch ab. Sie lautet: „Die Theologie ist für die Kirche eben so schwer zu ertragen als zu entbehren“ (Ernst Troeltsch, Thesen zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde [1891], in: Ders., Schriften zur Theologie und Religionsphilosophie [1888 – 1902], hg.v. Christian Albrecht, Berlin 2009 [KGA 1], 69 – 71.71). Auch Troeltsch hat diese These später in abgewandelter Form nochmals aufgenommen: Charakteristisch für den Protestantismus ist „eine innere Antinomie von Religion und Kirche, die sich nicht entbehren und nicht ertragen können“ (Ders., Protestantisches Christentum und Kirche in der Neuzeit [1906/1909/ 1922], hg.v. Volker Drehsen, Berlin 2004 [KGA 7], 350). Wilhelm Bousset, Religion und Theologie (Anm. 49), 30 f.
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arbeitet Bousset also zunächst die Unverträglichkeit beider Seiten heraus. Die Theologie störe „die Ursprünglichkeit und Kraft, die Kindlichkeit und Schlichtheit des religiösen Erlebens“.⁵² Im Gegenzug betont er jedoch zugleich die Unentbehrlichkeit der Theologie für die Religion. Sie liegt für Bousset ebenfalls in der Eigenart der Religion begründet: „Denn es steht nun doch so: die Religion ist keine schlechthin irrationale Macht und was wir im Anfang von ihr sagten, trifft doch nur die eine Seite der Sache. In aller Religion ist immer ein zweifaches enthalten: Das Göttliche, die Gottheit tritt dem Menschen entgegen als das Fremde, die fast unheimliche, ihm schlechthin überlegene Macht, vor der seine Seele bebt in Angst und Furcht, und doch wiederum als die segnende Macht, zu der er sich im innersten Grunde seines Wesens heimlich, mächtig hingezogen fühlt. – Wäre die Religion nur jenes Irrationale, so wäre sie etwas schlechthin Unheimliches,Vernichtendes, Tötendes. […] Aber sie ist anderseits auch eine milde segnende Macht geworden“.⁵³ Zunächst fällt auf, dass Bousset Ottos Unterscheidung zwischen den beiden Kontrastmomenten des „unendlich Schauervollen und unendlich Wundervollen“ ⁵⁴ mit der anderen Unterscheidung von Irrationalem und Rationalem in der Religion zusammenfallen lässt. Ebenso hatte er es schon in seinem früheren Brief an Otto angedeutet.⁵⁵ Das ‚Irrationale‘ steht bei Bousset also nicht wie bei Otto für das begrifflich Unfassbare des religiösen Erlebens überhaupt, das allen Momenten des Numinosen gemeinsam ist. Stattdessen bezeichnet er als ‚irrational‘ allein die ‚negative‘ Seite der Religion – die Erfahrung des schlechthin Überwältigenden, Bedrohlichen und Abgründigen. Kurz gefasst: Aus Ottos Modalattribut der religiösen Erfahrung wird bei Bousset eine inhaltliche Wertung. Diese Akzentverschiebung verbindet er sodann mit der These einer fortschreitenden Durchsetzung des rationalen Moments im Laufe der Religionsgeschichte. Nicht in dem Sinne, dass dieses rationale jenes irrationale Moment nun gänzlich verdrängte, doch aber so, „daß es daneben aufkam und sich in immer stärkeren Spannungen,von denen die Religion lebt, behauptete. So ist die Religion eine segnende Macht geworden und hat sich mit allen rationalen Mächten menschlichen Geisteslebens, mit Recht und Staat und Volksleben, mit Kunst, Moral und Streben nach letzter Erkenntnis innig verbunden“.⁵⁶ Bousset hält also durchaus an einer Grundspannung zwischen Irrationalem und Rationalem in der Religion fest. Gleichwohl schreibt er mit charakteristisch anderem Zungenschlag
Ebd. A.a.O. 36. DH, 56. Vgl. Wilhelm Bousset, Brief an Rudolf Otto (Anm. 48), 128. Wilhelm Bousset, Religion und Theologie (Anm. 49), 37.
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als Otto der Religion selbst einen rationalen Kern ein. Zwar erklärt auch Otto das Heilige „im vollen Sinne des Wortes“⁵⁷ zu einer aus rationalen und irrationalen Bestandteilen zusammengesetzten Kategorie. Dennoch legt er den Akzent auf das sich dem Rationalen entziehende und einer begrifflichen Erfassung völlig unzugängliche Moment des religiösen Erlebens.⁵⁸ Erst nachträglich werde das Irrational-Numinose durch rationale Begriffe ‚schematisiert‘, damit es zur „satte[n] und volle[n] Komplex-Kategorie des Heiligen“⁵⁹ komme. Religiöses Erleben und rationale Durchdringung stehen für Otto letztlich in einem Außenverhältnis zueinander: Der rationale Begriff sucht das Irrationale „einzufangen“⁶⁰ oder gleichsam zu überformen; er hebt nicht heraus oder bringt zur Klarheit, was in der Religion selbst enthalten ist.⁶¹ Hier optiert Bousset anders. Ebenso wie Otto betont er die spontane Unableitbarkeit und Selbständigkeit religiöser Erfahrung, spielt diese aber nicht gegen ihre zugleich festgehaltene rationale Seite aus. Das erlaubt es zum einen, neben der Unverträglichkeit von Theologie und Religion nun auch die Unverzichtbarkeit der Theologie für die Religion zur Geltung zu bringen: „Und weil nun eben Religion eine rationale Seite hat und diese Seite im Lauf der Geschichte immer stärker entwickelt, deshalb hat Theologie in ihr den notwendigen und unentbehrlichen Platz“.⁶² Auch wenn die Theologie niemals Religion erzeugen kann, steht sie doch im Dienst einer der Religion selbst innewohnenden ‚Rationalisierungstendenz‘. Sie ist nicht das Andere der religiösen Erfahrung, sondern verhilft dieser zu der von ihr selbst angestrebten vernünftigen Ausdrucksgestalt. Zum anderen wird jetzt deutlich, dass Bousset die gemeinsame Ausrichtung auf die irreduzible Selbständigkeit der Religion letztlich doch mit einer anders gelagerten Zielsetzung verbindet als Otto. Diesem ist vorrangig daran gelegen, die begriffliche Uneinholbarkeit des religiösen Erlebens sicherzustellen. Bousset hingegen hat darüber hinaus die soziale Dimension und kulturelle Prägekraft der Religion im Blick. Er bremst Ottos Irrationalismus gleichsam ein, um nicht nur die numinose Innenseite, sondern zugleich die geschichtliche Außenseite der Religion zur Geltung bringen zu können. Es geht ihm nicht nur um ihre Selbständigkeit, sondern auch um ihre Vermittlung: „Theologie trägt dazu bei, die gemeinsame Sprache zu
DH, 137. Vgl. DH, 5. DH, 61. DH, 77. Das gilt unbeschadet der Tatsache, dass Otto von einer „inneren Notwendigkeit“ (DH, 165) der Verbindung von Irrationalem und Rationalem „nach Prinzipien a priori“ (DH, 167) spricht. Denn die inhaltliche Aufschlüsselung dieses Zusammenhangs bleibt er schuldig. Wilhelm Bousset, Religion und Theologie (Anm. 49), 37.
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schaffen, in der man sich über die Religion verständigt. […] Gewiß, diese auf Verständlichkeit eingestellte Sprache mag oft dürftig erscheinen gegenüber letzten Geheimnissen der Religion, bei denen all unser Reden ein Lallen und Stammeln bleibt. Aber auf einer solchen allgemeingültigen Sprache beruht letzten Endes die soziale, gemeinschaftsbildende Kraft der Religion. – Und damit wären wir zum Wichtigsten gelangt: Theologie hat das Ziel, die Frömmigkeit in Beziehung zu setzen zum allgemeinen menschlichen Leben, sie hat in jedem Zeitalter und an jedem Ort die Aufgabe, die Religion mit dem volklichen Leben dieser bestimmten Generation zu verbinden“.⁶³
3 Das Verhältnis Rudolf Ottos zur Religionsgeschichtlichen Schule ist nun am Beispiel der Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu Wilhelm Bousset beleuchtet worden. Dies hatte seinen Grund in der freundschaftlichen und inhaltlichen Verbundenheit beider während ihrer Göttinger Zeit. Allerdings wäre das Thema unvollständig behandelt, wenn nicht zumindest andeutungsweise auch das Verhältnis Ottos zu Ernst Troeltsch zur Sprache käme. Persönliche Umstände spielen hier eine geringe Rolle. Zwar war Bousset mit Troeltsch seit Studientagen eng befreundet;⁶⁴ bei Otto hingegen scheint sich die Bekanntschaft auf gelegentliche Briefe beschränkt zu haben. Immerhin gelten Troeltschs Briefe an Otto – soweit sie erhalten sind – als besonders einfühlsam und verständnisvoll.⁶⁵ Freilich gilt das Interesse weniger dem persönlichen als vielmehr dem sachlichen Verhältnis von Otto und Troeltsch – nicht nur im Blick auf ihrer beider Klassifikation als ‚Systematiker‘ der Religionsgeschichtlichen Schule, sondern auch deshalb, weil sie beide auf charakteristisch voneinander unterschiedene Weise die Theologie als Religions-Wissenschaft neu zu formatieren versuchen.⁶⁶ Eine eingehendere Untersuchung wäre durchaus lohnenswert, zumal neuere Arbeiten
A.a.O. 38. Vgl. dazu vor allem Horst Renz, Ernst Troeltsch und Wilhelm Bousset als Erlanger Studenten, Erlangen 1993; sowie Ernst Troeltsch, Briefe aus der Heidelberger Zeit an Wilhelm Bousset 1894– 1914, hg.v. Erika Dinkler-von Schubert, in: Heidelberger Jahrbücher 20 (1976), 19 – 52. Vgl. Hans Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, 218 f. Anm. 257. Vgl. KFR, V-X; sowie Ernst Troeltsch, Wesen der Religion und der Religionswissenschaft, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik, Tübingen 1913, 452– 499, bes. 487– 499.
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weitgehend fehlen.⁶⁷ Das kann hier jedoch nicht mehr geleistet werden. Stattdessen sei zum Abschluss nur ein kurzer Seitenblick auf die Rezension geworfen, mit welcher Troeltsch Ottos Hauptwerk Das Heilige bespricht.⁶⁸ Troeltsch beginnt mit der Feststellung einer prinzipiellen Übereinstimmung in der religionstheoretischen Anlage und Zielsetzung. Ottos Buch biete „eine vollständige Parallele dar zu meinen vor etwa zwanzig Jahren veröffentlichten Untersuchungen über ‚die Selbständigkeit der Religion‘ […], die […] gleichfalls rein auf historisch-psychologischer Grundlage […] die Eigentümlichkeit und Unableitbarkeit der religiösen Phänomene behaupteten und deren Hauptergebnis ich auch heute noch energisch festhalte“.⁶⁹ Auch die Auffächerung der unterschiedlichen Momente des Numinosen findet Troeltschs völlige Zustimmung: „Ich halte alles das für jeden, der zu wirklicher Einfühlung im Stande ist, unwiderleglich“.⁷⁰ Allerdings beschränke sich Otto im Zuge seiner Analyse auf „die unmittelbare psychologische Qualität des Erlebnisses“ und meide – zu seinem eigenen Schaden – „die Labyrinthe der Metaphysik“.⁷¹ Damit leitet Troeltsch nun zur kritischen Betrachtung über. Denn das einseitige Übergewicht der Psychologie führe dazu, dass Otto die Hauptaufgabe seines Buches, das Verhältnis zwischen dem Rationalen und Irrationalen in der Religion zu klären, nicht recht gelingen will. Wohlgemerkt: Troeltsch lobt ausdrücklich Ottos Heraushebung des irrationalen Elements in der religiösen Erfahrung. Er moniert lediglich die unzureichende Verhältnisbestimmung mit der rationalen Seite des Religiösen und erklärt insbesondere Ottos Versuch für verfehlt, beide Seiten nach dem kantischen Modell von Kategorie und Schema miteinander zu verknüpfen: „Dann ist das Numinose die durch das Schema des Religiös-Rationalen schematisierte irrationale Kategorie! Eine solche Parallele hat nicht bloß gar nichts mit Psychologie zu tun, sondern ist vor allem in sich selber so unpassend wie möglich“.⁷² Otto bleibe hier eine befriedigende Klärung schuldig und klebe „sozusagen seinen eigenen numinosen Irrationalismus und den Friesi-
Die Ausnahme von der Regel bildet die Studie von Hans Braeunlich, Das Verhältnis von Religion und Theologie bei Ernst Troeltsch und Rudolf Otto. Untersuchungen zur Funktion der Religion als Begründung der Theologie, Diss. Bonn 1978. Die einzige ältere Studie stammt von Karl Bornhausen, Das religiöse Apriori bei Ernst Troeltsch und Rudolf Otto, in: Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik 139 (1910), 193 – 206. Georg Pfleiderer behandelt in seiner Dissertation zwar – neben anderen – auch Ernst Troeltsch und Rudolf Otto, setzt beide Ansätze aber nicht zueinander ins Verhältnis (vgl. Ders., Theologie als Wirklichkeitswissenschaft [Anm. 3]). Vgl. Ernst Troeltsch, Zur Religionsphilosophie. Aus Anlaß des Buches von Rudolf Otto über „Das Heilige“ (Breslau 1917), in: Kant-Studien 23 (1919), 65 – 76.66. A.a.O. 65 f. A.a.O. 70. A.a.O. 67. A.a.O. 72.
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schen Rationalismus einfach aufeinander“.⁷³ Sein Ausweg bestehe letztlich darin, das Problem in die Geschichte zu verlagern und den Ausgleich von irrationalem Erleben und rationaler Vernunftanlage zum inneren Entwicklungsmaßstab der Religionsgeschichte zu erklären.⁷⁴ Freilich dürfe man sich hier nicht täuschen: Für Otto gebe es „im Grunde keine wirkliche innere Bewegung und Veränderung in der Entwickelung, sondern nur die Herausstellung des von Anfang und Grund an in der religiösen Anlage wie in der Vernunft überhaupt schon Implizierten. […] Es gibt nur eine bald reichere und bald ärmere, bald widersprechendere bald harmonischere Entfaltung der beiden Elemente oder der ‚Anlage‘“.⁷⁵ Damit werde im Hintergrund der formale, wenngleich inhaltlich veränderte Aufriss der rationalistischen Religionsphilosophie sichtbar. Zugespitzt formuliert: Troeltsch weist scharfsinnig auf, dass Otto in seinem Hauptwerk zwar eine Religionskunde, aber gerade keine Religionsgeschichte bietet. Ihren tieferen Grund haben diese Defizite für Troeltsch nun darin, dass Otto seine psychologische Analyse des religiösen Erlebens auf der Grundlage eines dafür vollkommen ungeeigneten kantisch-friesischen Rationalismus entwickelt. Otto scheine davon überzeugt zu sein, mit dem Buch das Heilige die in der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie erfolgte rationale Grundlegung der Religion lediglich um die Darstellung ihrer irrationalen Momente zu ergänzen. Damit verdecke er sich jedoch den „totalen Frontwechsel“⁷⁶ zwischen beiden Werken. Er übersehe, dass seine Betonung der uneinholbaren Individualität und spontanen Intensität des religiösen Erlebens mit dem Fries’schen Schema einer allgemeinen Anlage des menschlichen Geistes nicht zusammengehe. Denn konkrete Wirklichkeit und abstrakte Allgemeinheit stünden hier letztlich unvermittelt nebeneinander – mit der drohenden Konsequenz, dass das individuelle religiöse Erleben letztlich doch nur zum bloßen Exemplar eines Vernunftallgemeinen herab gestimmt wird und das flüchtig Irrationale am ehernen Fels des Rationalen gleichsam ‚verglüht‘. Es mag hier dahingestellt bleiben, ob Troeltsch das Anliegen der Fries’schen Religionsphilosophie – und ihrer Otto’schen Weiterführung – mit dem Etikett des
A.a.O. 73. Vgl. etwa DH, 170: „Daß in einer Religion die irrationalen Momente immer wach und lebendig bleiben bewahrt sie davor Rationalismus zu werden. Daß sie sich reich mit rationalen Momenten sättige bewahrt sie davor in Fanatismus oder Mystizismus zu sinken oder darin zu beharren, befähigt sie erst zu Qualitäts- Kultur- und Menschheitsreligion. Daß beide Momente vorhanden sind und in gesunder und vollkommener Harmonie stehen ist wieder ein Maßstab woran die Überlegenheit einer Religion gemessen werden kann“. DH, 73 f. DH, 76.
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Rationalismus angemessen erfasst hat. Entscheidend ist vielmehr, dass nun verständlich wird, warum er Otto vorwirft, die erkenntnistheoretisch-metaphysische Geltungsfrage zu seinem eigenen Schaden vernachlässigt zu haben. Es geht ihm nicht darum, das Moment des Spontan-Irrationalen in der religiösen Erfahrung auf ein Rational-Allgemeines hin zu überwinden – ganz im Gegenteil: Ihm ist vielmehr daran gelegen, die Individualität der religiösen Erfahrung gegen solche entwertenden Aufhebungen zu sichern. Das aber könne nur gelingen, wenn an die Stelle einer vermeintlichen Diastase die Einsicht gesetzt werde, dass das RationalAllgemeine niemals neben, sondern nur in der konkreten Wirklichkeit des Spontan-Individuellen zugänglich ist.⁷⁷ Kurz gefasst: Troeltsch fordert, das irrationalspontane Erleben auf das in ihm selbst enthaltene rationale Geltungsmoment hin durchsichtig zu machen, um es so in seinem konkret-individuellen Charakter festhalten zu können. Nicht anders als Bousset wendet sich also auch Troeltsch gegen Ottos scharfe Entgegensetzung von Rationalem und Irrationalem in der Religion. Allerdings tut er es nicht, um die spontan-irrationale Lebendigkeit des religiösen Erlebens begrifflich zu domestizieren, sondern um sie in ihrem Eigenrecht zu sichern. Mithin steht hier nicht der ‚Rationalist‘ Troeltsch gegen den vermeintlichen ‚Irrationalisten‘ Otto. Es ist gerade umgekehrt: Troeltsch macht sich das religionspsychologische Anliegen Ottos zu eigen, während er diesen selbst noch zu sehr dem Rationalismus verhaftet sieht.⁷⁸ Damit eröffnet sich nicht nur ein ungewohnter Blick auf Rudolf Otto, sondern vielleicht auch ein neuer Zugang zu den hintergründigen Motiven und Anliegen im Umfeld der Religionsgeschichtlichen Schule.
Vgl. dazu Ernst Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft. Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für die heutige Religionswissenschaft, Tübingen 1905, 49: „Der Zusammenklang des Apriorisch-Rationalen-Allgemeinen mit dem Tatsächlich-Irrationalen-Einmaligen ist das Geheimnis der Wirklichkeit und das Grundproblem aller Erkenntnis. […] [I]mmer bleibt dies Zusammensein das große unenträtselbare Grundgeheimnis des Lebens, das immer nur betätigt und nie begriffen wird“. Eine weitergehende Kritik – so schließt Troeltsch seine Rezension – „müßte sich gegen die Friesschen Grundlagen richten, während die Ottoschen Überbauten meine volle Zustimmung haben“ (Ernst Troeltsch, Zur Religionsphilosophie [Anm. 68], 76).
Folkart Wittekind
Transzendenz und Mystik Bultmanns Rezeption von Ottos Religionsphilosophie
1 Einleitung Rudolf Bultmann hat sich, insbesondere während der 20er Jahre, in verschiedenen Kontexten und in durchweg sehr verschiedenen Graden der Kritik und Zustimmung immer wieder zu Rudolf Otto geäußert. Im Zentrum steht dabei dessen Religionsphilosophie und das neue Konzept der ‚Mystik‘. Im Folgenden geht es um den Versuch, diese Äußerungen zu systematisieren. Hintergrund der Rekonstruktion ist Bultmanns eigene Religionsphilosophie, wie sie sich in diesen Jahren entwickelt. Deshalb erfolgt die Darstellung in zwei Abschnitten. In einem ersten wird Bultmanns Lektüre von Ottos Buch Das Heilige im Zusammenhang seiner an Schleiermacher anknüpfenden Bemühungen gedeutet, über die neukantianische Religionsphilosophie hinaus zu einer neuen, bewusst ‚theologischen‘ Auffassung von Religion zu kommen. Das Heilige ist dabei sowohl Beweis der Notwendigkeit dieses Versuchs in der Gegenwart als auch ein Modell dafür, wie Bultmann selbst es nicht machen möchte. In einem zweiten Abschnitt dieser rekonstruierenden Entwicklungsgeschichte wird hauptsächlich das Mystikkapitel aus Bultmanns Vorlesung Theologische Enzyklopädie behandelt. Daran wird gezeigt, wie Bultmann sein eigenes ausgereiftes Glaubensverständnis in einem doppelten Durchgang durch Ottos Religionsphilosophie darstellt. Bultmanns Bewertung Ottos ist durchaus ambivalent. Das zeigen zwei gegensätzliche Zitate. In dem programmatischen Aufsatz von 1924, der den ersten Band von Glauben und Verstehen eröffnet und mit dem sich Bultmann bewusst der dialektischen Theologie zuordnet, findet sich eine auf den ersten Blick positive Wertung: „Vor allem ist R. Ottos Buch ‚Das Heilige‘ aus der gleichen theologischen Situation erwachsen wie der Protest von Barth, Gogarten und ihrem Kreis. Seine Bezeichnung Gottes als des Ganz-Anderen, seine Betonung des Kreaturgefühls als wesentlichen Moments der Frömmigkeit sind dafür charakteristisch.“¹ Otto hat die Differenz von Transzendenz und Immanenz zum Prinzip seiner Religionsphilosophie gemacht und damit die Überwindung der bewusstseinstheoretischen (im Sinne Bultmanns deshalb anthropologischen) Religionsphilosophie des Neu-
Rudolf Bultmann, Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung (1924), in: Ders., Glauben und Verstehen, Bd. 1, Tübingen 1933, 1– 25, hier 22.
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Folkart Wittekind
kantianismus eingeläutet. Doch gegen diese zustimmende Äußerung steht folgende: „Aber das Irrationale ist ein rein formaler Begriff und sagt nichts weiter als das Nicht-Erkennbare. […] Und wenn wir dies X für Gott ausgeben, so hat uns in Wahrheit der Teufel am Kragen. Denn die Qualitäten des Tremendum wie des Fascinosum eignen dem Teufel so gut wie Gott.“² Mit deutlicher Anspielung auf Ottos neue religionsphilosophische Deutungskategorien wird gegen Otto die theologische Bestimmbarkeit des Gottesglaubens eingefordert. Wie ist aber dieser Widerspruch systematisch zu bewerten? Ist Otto für Bultmann ein Teufelsanbeter oder ein moderner Theologe des Ganz-Anderen? Die Behauptung ist, dass diese beiden gegensätzlichen Einschätzungen systematisch zueinander gehören und nicht z. B. zwei verschiedene Entwicklungsstadien der Ottorezeption oder der eigenen Theologie darstellen. Vielmehr findet sich der Widerspruch von positiver Anknüpfung und inhaltlicher Ablehnung seit Bultmanns Bekanntschaft mit Ottos Denken, er (der Widerspruch) wird schließlich zu einem integralen Aufbaumoment von Bultmanns eigenem, im Glaubensbegriff verschlüsselten Verständnis des Christentums als Religion. Bevor dies in den erwähnten zwei werkanalytischen Abschnitten dargestellt wird, soll zunächst kurz die theologiegeschichtliche Funktion des Bezugs auf die Mystik in der Sicht Bultmanns erwähnt werden.
2 Mystik als Schlüsselbegriff einer avantgardistischen Theologie? Als im Jahr 1921 die Zeitschrift Christliche Welt gefährdet ist, formuliert Bultmann ein theologisches Programm. In vier Punkten (entlang „den in der Gegenwart so akuten Fragen wie Geschichte [Wissenschaft], Kultur, Mystik und Kultus“³) nimmt er neue Strömungen innerhalb der Theologie auf. Gegen Historismus, kulturellen Fortschrittsglaube und pädagogische Zwecksetzung im Gottesdienst setzt Bultmann eine strikt transzendente Neudefinition der Religion als Glaube an das übergeschichtliche Wirken Gottes, die jenseitige Welt des Reiches Gottes, als zweckfreie Feier und Anbetung. Bultmann nimmt damit – gegen einen durch die Rudolf Bultmann, Theologische Enzyklopädie, hg.v. Eberhart Jüngel/Klaus W. Müller, Tübingen 1984, 53. Brief von Rudolf Bultmann an Hans von Soden vom 30.10.1921, in: Martin Evang, Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit, Tübingen 1988, 88. Vgl. zum ganzen Vorgang die Darstellung bei M. Evang, 85 – 89 („Bultmanns programmatischer Entwurf [ist] ein in dieser Form einzigartiges Dokument seines theologischen Selbstverständnisses zu Anfang der 1920er Jahre“, 87), sowie Konrad Hammann, Rudolf Bultmann. Eine Biographie (2009), 22009, 148 – 150.
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Namen Troeltsch, Harnack, Kaftan und Friedrich Spitta bzw. Julius Smend zu markierenden Komplex des bildungsbürgerlich-historistischen Neuprotestantismus – Anregungen Gogartens, Barths und der jüngeren liturgischen Bewegung auf. Nur einer von Bultmanns Sätzen verzichtet auf eine solche Abgrenzung. „Neu sehen wir unser Verhältnis zur Mystik. Wir freuen uns ihrer als der Andacht, die sich in das Gott geschenkte Leben versenkt und ihm Ausdruck verleiht.“⁴ Bultmann bezieht sich auf Ottos Neubestimmung des Religionsbegriffs und versteht sie als berechtigte Korrektur des ethischen Religionsbegriffs der Ritschlschen Schule. Erst in der Gegenthese erfolgt die Abgrenzung: Die neue Beachtung der Mystik soll nicht auf einen psychologischen Religionsbegriff hinausführen. Während also Antihistorismus und Antikulturalismus Ausdruck einer neuen Theologie sind, ist für Bultmann der Antipsychologismus bereits ein Element der alten Theologie des 19. Jahrhunderts, das es zu bewahren gilt. Bultmann liest Ottos Mystik als Gegenmittel gegen die liberale Konstruktion der Religion aus dem menschlichen Bewusstsein. Aber er folgt Otto nicht bei dem Versuch, die Andersheit Gottes durch seinen Bezug auf die menschliche Seele bzw. das Gefühl zu erweisen. Es besteht die Gefahr, das neue Transzendenzverständnis gleich wieder zu verspielen. Selbst hier an einer Stelle, an der Bultmann vielleicht dem Anliegen Ottos aus religionspolitischen und publizistischen Erwägungen am weitesten entgegengekommen ist, werden also Bultmanns Vorbehalte gegen die Mystik aufgrund seines Antipsychologismus in den Vordergrund geschoben.⁵ Seine Wahrnehmung Ottos schwankt zwischen der Anerkennung des Strebens nach wahrer Transzendenz Gottes und der Ablehnung von Ottos religionspsychologischer und religionsphänomenologischer Zugangsart zum transzendenten Gott.
Martin Evang, Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit (Anm. 3), 87. Vgl. Rudolf Bultmann, Ethische und mystische Religion im Urchristentum (1920), in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 2, hg.v. Jürgen Moltmann, München 1963, 29 – 47; dazu die ausführliche, die Aporien aufzeigende Deutung von Martin Evang, Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit (Anm. 3), 290 – 332. Die Mystik wird in diesem Vortrag, so wie in den Programmsätzen für die Christliche Welt, für die Neubestimmung des Religionsbegriffs im Sinne eines von Gott geschenkten Seins in Anspruch genommen. Dagegen schwankt noch die Zuordnung der wahren (mystische Komponenten im genannten Sinn aufnehmende) Religion an bestimmte geschichtliche Trägergestalten. Auf die Orientierung der Mystikrezeption an der eigenen religionsphilosophischen Fragestellung weist auch die antipsychologische Eingrenzung der Mystik in den Programmthesen: Die eigene menschliche ‚Tätigkeit‘ steht für die bewusstseinstheoretischen Hintergrundüberlegungen (vgl. dazu unten), die sich von Ottos kulturtheoretisch-entwicklungsgeschichtlichen Thesen zur normativen Religion absetzen.
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3 Transzendenz und Religion – Bultmanns Reaktion auf Das Heilige Im April 1918 schickt Bultmann einen langen Brief an Otto, in welchem er neben einzelnen Sätzen der Zustimmung eine tiefgreifende erkenntnistheoretische Kritik an Ottos Konzept vorträgt. Dies gilt es inhaltlich zu erklären. Zum biographischen Hintergrund dieses Briefs⁶ ist hinzuzufügen, dass Bultmann Otto im September 1916 in Breslau kennengelernt hatte, als er als frischberufener Professor seinen Antrittsbesuch bei ihm machte. Bultmann berichtet in Briefen, wie ihm Otto in diesem Herbst von seinem bald erscheinenden Buch und dessen religionsphilosophischen Ideen erzählt. An diese Gespräche knüpft der Brief an, der am Ende offen Bultmanns Sehnsucht nach Marburg eingesteht, wohin Otto inzwischen (voraus)gegangen war – also vielleicht auch so etwas wie ein sehr selbstbewusster Bewerbungsbrief. Die Otto-Kritik ist das Ergebnis einer eigenständigen religionsphilosophischen Position, die Bultmann im Jahr 1917 im Beitrag zur Festschrift für Wilhelm Herrmann ausgearbeitet hat.⁷
3.1 Bultmanns Konzeption von Religion In diesem Aufsatz beschreibt Bultmann seine Sicht der Bedeutung der Eschatologie für die Entstehung des Christentums. Hintergrund ist die Frage nach dem Wesen des Christentums, eine Frage, die im Kontext der Theologie des 19. Jahrhunderts nur durch Einbeziehung der geschichtlichen Entwicklung zu beantworten ist. Bultmann geht gegen die Konstruktion Johannes Weiß’ vor, dass die apokalyptische Eschatologie den Schlüssel sowohl für die Entwicklung des Christentums als auch für sein Wesen bietet. Deshalb entwirft Bultmann ein religionsphilosophisches Modell, nach welchem die geschichtliche Gestalt der Religion unabhängig ist von ihrem inneren Wesen. Seine systematische Wesensbestimmung baut auf erkenntnistheoretischen Überlegungen auf. Für die Analyse des menschlichen Gottesbezugs sind zwei ver-
Vgl. Konrad Hammann, Rudolf Bultmann (Anm. 3), 90 f.118 f. Rudolf Bultmann, Die Bedeutung der Eschatologie für die Religion des Neuen Testaments, in: ZThK 27 (1917) (Festgabe für Wilhelm Herrmann), 76 – 87; vgl. dazu Folkart Wittekind, Eschatologie zwischen Religion und Geschichte. Zur Genese der Theologie Bultmanns, in: Die Gegenwart der Zukunft. Geschichte und Eschatologie, hg.v. Ulrich Körtner, Neukirchen-Vluyn 2008, 55 – 84, hier 68 – 72.
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schiedene Differenzierungen wichtig. Zunächst der Unterschied von subjektiven Gefühlen einerseits und der objektiven Welt andererseits. Subjektive Gefühle sind nur je individuell zugänglich und insofern nicht theorie- und begründungsfähig. Hingegen die objektive Welt ist ein Ergebnis des transzendentalen Erkenntnisapparates des (aller) Menschen. Alles Wissen, Handeln und Werten des Menschen, das auf intersubjektive Übereinkunft zielt, ist durch die geistigen Möglichkeitsbedingungen des Bewusstseins begründet. Davon grundsätzlich zu unterscheiden ist die zeitliche, empirisch-kontingente und seelisch miterlebte Zuständlichkeit, in der die einzelnen Menschen sich selbst in ihrer Welt erfahren. Es handelt sich hierbei nicht um irgendeine Form von Gegenstandskonstitution, sondern um rein subjektiv zuzuschreibende Erlebnisse an der geistig zuvor und unabhängig konstituierten Objektwelt. Es besteht für Bultmann kein Zweifel, dass die Religion dem Wesen nach nicht in diese empirisch-psychisch-kontingente Gruppe von bewussten Zustände gehört – Religion ist keine Sache individuellen Geschmacks, kein nur je individuell erlebtes seelisches Gefühl. Sondern Religion gehört auf die Seite der Notwendigkeit herstellenden geistigen Vermögen des Menschen, und ihre transzendente Gegenstandswelt ist insofern von strikt allgemeiner Geltung. Geht man daran anschließend erkenntnistheoretisch auf die verschiedenen Vermögen des Geistes ein und versucht in diesem Kreis die Besonderheit der Religion zu bestimmen, greift eine zweite, entscheidende Differenzierung. Religion ist nicht so aufgebaut wie Wissen, Handeln oder ästhetisches Urteilen. Gegenüber allen diesen Gebieten meint Bultmann die Religion absetzen zu müssen. Und zwar dadurch, dass er der Religion gerade keinen eigenen transzendentalen Erkenntnisapparat zuweist. Im Gebiet der Religion gibt es ein solches Erkenntnisorgan im menschlichen Bewusstsein gar nicht. Der Gegenstand der Religion wird also nicht durch ein entsprechendes geistiges Apriori konstituiert. Die Beziehung des Menschen zu Gott ist deshalb nur als eine unmittelbare Begegnung mit dem Heiligen aufzufassen. Gott ist reines, sich selbst zeigendes, absolutes Gegenüber. Sein Einfallstor im Menschen ist deshalb auch nicht der geltende Werte setzende Geist, da dieser immer in bestimmten unterschiedenen Formen prozediert. Sondern das Einfallstor Gottes im Menschen ist die ungefilterte ganze Existenz. Bultmann hat in diesen Jahren Schleiermachers Formel des schlechthinnigen Abhängigkeitsgefühls im unmittelbaren Selbstbewusstsein adaptiert und sie als Ausdruck für seine neukantianische und den Neukantianismus überwindende Rekonstruktion religiöser Erkenntnis benutzt. Das Verhältnis von Religion und anderen Vermögen des Bewusstseins wird noch deutlicher, wenn man Bultmanns Überlegungen berücksichtigt, wie Geschichte möglich ist. Auf der äußeren Ebene der seelischen Gefühle, kontingenten Erlebnisse und individuellen Entschlüsse ist Geschichte bloß ein zwar kontinuierliches, anknüpfendes, aber doch zielloses Auf und Ab. Daneben steht aber die
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Geschichtsmöglichkeit auf dem Gebiet des Wissens, der Ethik und der Kunst. Der Mensch erkennt immer mehr die Funktionsweise und innere Gesetzmäßigkeit derjenigen Bewusstseinsvermögen, die seine Welt gestalten. Die zivilisatorischkulturelle Entwicklung verläuft als Ausdifferenzierung und Autonomisierung der Erkenntnisbereiche des Bewusstseins. Dieses Modell funktioniert aber nicht für die Religion. Denn es gibt keinen eigenen transzendentalen Apparat für die Religion im Bewusstsein. Also kann es auch keine eigene Religionsgeschichte geben, in der die Funktionsweise und die Gegenstandsformung durch das religiöse Bewusstsein geklärt würden. Gottes Sichoffenbaren im menschlichen Bewusstsein hat keine eigentliche Geschichte, weil Gott als Objekt nicht durch Gesetzmäßigkeiten des Bewusstseins vorstrukturiert ist, sondern sich in seinen Erschließungen immer gleich bleibt. Die religionsgeschichtliche Entwicklung ist gleichsam nur die Rückseite der Ausdifferenzierung und Selbstwerdung der Bewusstseinsvermögen. Denn ursprünglich liegen die gültigen Werte und Erkenntnis alle in einer großen Erzählung von Welt, Schöpfung, menschlichem Verhalten und Ziel des Lebens zusammen. Dann scheiden sich Mythos, Logos und Ethos, sie werden autonom und zugleich kritisch gegen äußere – auch religiöse – Verunreinigungen. So ergibt sich die Reinigung des Gottesbegriffs im Wesentlichen aus dem Abzug dessen, was die anderen Erkenntnisvermögen in die Religion eingetragen haben. Am Ende kann Bultmann so zeigen, wie die neutestamentlichen Schriftsteller die Apokalyptik benutzt haben, um die innere Autonomisierungsgeschichte der ethischen Religion hin zum Christentum zu beschreiben.
3.2 Bultmanns Kritik an Otto Bultmann gewinnt also sein Religionsverständnis in einem Dreischritt. Zunächst muss Religion gegen Gefühle und psychische Erlebnisse abgegrenzt werden, um ihre transzendentale Allgemeinheit zu behaupten. Dann aber muss die Religion auch noch aus dem transzendentalen Erkenntnisapparat des menschlichen Bewusstseins herausgelöst werden. Dann ergibt sich drittens die eigene Position eines Bezugs auf Gott als das Ganz Andere. Sein Erkenntnisorgan im Menschen ist das Selbstverhältnis individuellen Bewusstseins ohne Trennung in Subjekt und Objekt. Dies ist die Position, von der aus Bultmann Ottos Buch Das Heilige wahrnimmt. Ottos Religionsphilosophie lebt von der Idee, geschichtliche und religiöse Komponenten in der Selbstverständigung der Religionen so voneinander zu trennen, dass die Entwicklung der Religion neben der Anerkennung ‚wahrer‘ Religion auf jedem Standpunkt der Entwicklung möglich wird. In der Religion sind sowohl rationale (geistbezogene) als auch irrationale (gefühlsbezogene) Elemente am Werk. Die kulturgeschichtliche Entwicklung vom Gefühl des Numinosen zu
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dem des Heiligen geht mit einer normierenden Ethisierung der Religion einher. In der unmittelbaren Bindung der normativen Religion an eine idealistische Ethik legitimiert Otto so den Stand eines neukantianisch gedeuteten Luthertums. Bultmanns eigene Idee einer ‚reinen‘ Religion neben und unabhängig von der kulturellen Entwicklung konnte sich also zwar in dem religiösen Kerngedanken, dem Ganz Anderen, aber dafür umso weniger in Ottos religionswissenschaftlichen Konstruktionen wiederfinden.⁸ Zunächst zum numinosen Gefühl. Bultmann fragt, auf welches Objekt sich dieses Gefühl beziehen soll. Oder ob es nur eine subjektive Wertung an anderswie gegebenen Objekten ist. Doch ohne Objekt wäre nicht erklärbar, was an dem Gefühl religiös sein sollte. Und wie soll eine Entwicklung des numinosen Gefühls von falschen zu richtigen Objekten möglich sein? Es verwundert nicht, dass Bultmann nach ausführlichem Durchgang durch Ottos Beschreibungen zu dem Urteil kommt: „Die Erfassung einer jenseitigen Welt in der Religion wäre demnach einfach Illusion; die Religion besteht [dann nach Otto] nur im Erfahren oder Genießen gewisser psychischer Zustände. […] Übrigens ergibt sich […], daß jede Stufe […] überboten werden muß. Also wäre eine Erfassung überweltlicher Wesenheiten vielleicht auch nur eine falsche Analogiewirkung? Wäre wahre Religion erst beim bewussten Verzicht auf jedes religiöse Objekt vorhanden? Und wie verhält sich das zum Anspruch der Religion, das Absolute erfaßt zu haben?“⁹
Hinter diesen Versuchen, aporetische Konsequenzen in Ottos Theorie aufzudecken, steht Bultmanns Meinung, mit seiner Religionsphilosophie einen direkten Objektbezug des religiösen Bewusstseins denken zu können, der gleichwohl nicht durch menschliche Gefühle und auch nicht durch geistige Aktivität vermittelt – und also das wahre Absolute – ist. Sodann nimmt Bultmann kritisch Stellung zu Ottos Beschreibung der Rationalisierung und Ethisierung der Religion. Als ihr Zentrum versteht Bultmann Ottos Transzendenzgedanke und vermögenstheoretische Religionsphilosophie werden bei Bultmann enggeführt. Vgl.: „Man darf Karl Barths Römerbrief wohl mit einem Satz charakterisieren: das Buch will die Selbständigkeit und Absolutheit der Religion erweisen. Es stellt sich damit in eine Linie mit Werken wie Schleiermachers ‚Reden über die Religion‘ und Ottos ‚Das Heilige‘. […] Wie Paulus für den Glauben gegen das Gesetz der Werke kämpft, so Schleiermacher gegen die ‚Aufklärung‘, so Otto gegen eine rationalisierende und ethisierende Religionsauffassung, wie sie in der Ritschlschen Schule weithin geherrscht hat.“ (Rudolf Bultmann, Karl Barths „Römerbrief“ in zweiter Auflage [1922], in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil 1, hg.v. Jürgen Moltmann, München 1962, 119 – 142, hier 119). Brief von Rudolf Bultmann an Rudolf Otto vom 6.4.1918, in: Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 130 – 139, hier 134.
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Zuordnung von Gefühl und Erkenntnis in der ‚Schematisierungstheorie‘. Otto wolle nun doch „dem numinosen Gefühl Erkenntnischarakter [zuerkennen]“.¹⁰ Religion wäre damit als objektsetzend, und religiöse Erfahrung wäre als geformt durch innere Gesetzmäßigkeit verstanden. Doch gerade diesen Punkt muss Bultmann aufgrund seiner eigenen Herausarbeitung der Religion aus dem neukantianischen Kategoriengefüge kritisieren: „Wäre es übrigens richtig, daß die ‚Begriffe‘ des numinosen Gefühls, wie der Begriff des Heiligen, Kategorien der reinen Vernunft wären, so würde damit gesagt sein, daß die Religion nicht ein Objekt außerhalb der sinnenfälligen Erfahrung hat, sondern daß ihr das Gesamtgebiet der innerweltlichen Erfahrung als das Gebiet einer eigenen Gesetzgebung unterläge analog der Gesetzgebung der reinen (und der praktischen und der ästhetischen) Vernunft. Ein ‚ganz anderes‘ wäre die Welt der Religion zwar in dem Sinne wie es die sittliche Welt zur Welt der Natur oder die ästhetische Welt des Schönen im Verhältnis zur sittlichen Welt wäre; – aber wie alle diese Welten ‚diesseitig‘ sind, so wäre es auch die Welt der Religion.“¹¹
Und schließlich hält Bultmann die ganze Entwicklungskonstruktion Ottos für nicht nachvollziehbar. Da er Religion sowohl vom irrationalen Gefühl als auch von den rationalen Elementen trennt, ist eine Geschichte von dem einen zum anderen nicht als Religionsgeschichte beschreibbar. Bultmann macht auch hier die doppelte Entgegensetzung des Ganz anderen zur Norm. Eine Gefühlsgeschichte könnte schließlich auch zu dem Ergebnis kommen, dass das Ziel der Religion in einem ganz objektlosen Zustand läge. Doch dann wäre Transzendenz, also das Bezogensein auf den einen wahren Gott, überhaupt nicht gesichert. Allerdings gibt Bultmann auch zu, dass Otto an manchen Stellen ein angemessenes Religionsverständnis formuliert. Doch wenn Bultmann sich positiv auf Ottos Kreaturgefühl bezieht, dann deutet er es bewusst im Sinne der eigenen Theorie des Bezugs der ganzen Existenz auf das wahre Jenseits. Und wenn er Otto zubilligt, bei ihm sei richtig die „Religion als Verhältnis zu einer jenseitigen Wirklichkeit“¹² verstanden, so ist er eigentlich der Meinung, dass Otto dies zwar als Programm formuliere, aber gar nicht verstanden habe, was das bedeutet. Denn für Bultmann heißt dies eben, eine Religionstheorie zu entwickeln, in der Religion weder als psychisches Erleben noch als kategoriale Prägung der Gegenstandswelt gedacht wird. Damit wird seine Kritik an Otto von seinem eigenen Religionsverständnis überformt. Otto ist Bultmann zufolge an der Aufgabe einer erkenntnistheoretischen Neubegründung der Religionsphilosophie gescheitert. Gelöst sieht Bultmann diese hingegen in Schleiermachers Lehre von der schlechthinnigen
A.a.O. 135. A.a.O. 136. A.a.O. 137.
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Abhängigkeit des unmittelbaren Selbstbewusstseins, die er in diesen Jahren im Sinne seiner eigenen Theorie ausdeutet.¹³ Ein Nebenschauplatz der Auseinandersetzung mit Otto ist deshalb um 1920 der Streit um die Schleiermacher-Auslegung. Bultmann hält Ottos Edition und Kommentierung der Reden im Sinne einer Theorie des religiösen Gefühls für gänzlich falsch. Zusammenfassend kommen Zustimmung zur Formulierung und inhaltliche Kritik am Ende des Briefs zum Ausdruck. „Die jenseitige Wirklichkeit muß in der Tat als Mysterium gelten, sofern sie nicht rational faßbar ist, sondern sich ‚offenbart‘, sich immer neu entschleiert und in positivem Sinn Geheimnis ist: immer neuen Reichtum an Lebensinhalt birgt. Aber die psychischen Zustände, unter denen dies Abhängigkeitsgefühl und die Verehrung des Mysterium vorhanden sind, sind unendlich verschieden und prinzipiell gleichgültig. […] Auch entwickeln sie sich nicht aus primitiven Zuständen, sondern sind stets und stets nur dem Bewusstsein zugänglich, das […] seinem individuellen Leben einen Inhalt zuströmen fühlt, der ihm die Sicherheit eines eigenen, ‚jenseitigen‘ Lebens schenkt.“¹⁴
Es zeigt sich: Ottos Gottesbegriff ist offenbarungstheologisch rezipierbar, aber der Rest seiner Theorie, sowohl die psychologischen als auch die entwicklungstheoretischen Komponenten, gerade nicht.
4 Bultmanns Kritik an der Mystik Sowohl die Abgrenzung von einer ‚mystischen Seelenleitung‘ wie auch die positive Berufung auf die Mystik als Versenkung in den von Gott geschenkten Glauben bleiben Bestandteil der Bultmannschen Argumentationskette, mit der er in den 20er Jahren sein eigenes Verständnis von Glauben herleitet. Biographisch sei noch angemerkt, dass Otto sich – trotz oder wegen Bultmanns Brief, den er im Übrigen unbeantwortet ließ – zunächst gegen Bultmanns Ruf nach Marburg ausgesprochen hatte und den jungen Kollegen nach seiner Rückkehr ziemlich ungnädig aufnahm. Bultmann schreibt bereits im Jahr 1922 von der Gegnerschaft Ottos. „Otto hat sich über mein Buch [Die Geschichte der synoptischen Tradition] wie über meine Vorlesungen so geärgert, weil sie angeblich die ‚Grundlagen seiner Dogmatik untergraben‘, daß er seine Vorlesung über Dogmatik ganz zu einer Leben-Jesu-Vorlesung
Vgl. dazu Martin Evang, Rudolf Bultmanns Berufung auf Friedrich Schleiermacher vor und um 1920, in: Rudolf Bultmanns Werk und Wirkung, hg.v. Bernd Jaspert, Darmstadt 1984, 3 – 24. A.a.O. 138 f.
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ausgestaltete und das ganze Semester hindurch gegen mich polemisierte.“¹⁵ Otto soll in seiner Polemik Bultmann nicht beim Namen genannt, sondern immer nur von ‚dem Rationalist‘ gesprochen haben. Auf diesen Streit bezieht sich Bultmanns Besprechung von Ottos Jesusbuch von 1936, in der Otto Fehler über Fehler im historischen Umgang mit dem Text des Neuen Testaments vorgeworfen werden, Bultmann aber mit keinem Wort auf die religionsphilosophischen Probleme, die sich im Anschluss an Das Heilige ergaben, eingeht.
4.1 Mystik als Religionskritik Zwischen 1922 und 1924 entwickelt Bultmann, ausgehend von der eigenen Lutherund Pauluslektüre sowie Barths Anregungen darauf beziehend, ein neues Glaubensverständnis. Aber auch die durch Otto ausgelösten Überlegungen gehen darin ein. In dem Aufsatz „Die liberale Theologie und die jüngste theologische Bewegung“, mit dem Bultmann seine Aufsatzsammlung Glauben und Verstehen eröffnet, schreibt Bultmann einleitend, Barth wie auch Otto seien notwendige Reaktionen auf das im Wesentlichen nicht christliche Religionsverständnis der liberalen und der Ritschlschen Theologie. Ottos theologische Lösung führe in die entgegengesetzte Richtung wie die der dialektischen Theologie.¹⁶ Dies zeige sich besonders gemessen an Barths Behauptung, der Glaube sei kein Zustand des Bewusstseins. Allerdings hatte Bultmann selbst genau diesen Satz zwei Jahre vorher in seiner Rezension zum zweiten Römerbriefkommentar noch für „eine Spekulation, und zwar eine absurde“¹⁷ gehalten. Jetzt hingegen schließt er sich genau diesem Satz an und macht ihn zum Zentrum der Erneuerung der Theologie. Doch darf man darin keinen Anschluss Bultmanns an Barth lesen. Sondern er benutzt diesen Satz Barths, um eine eigene Vertiefung des Religions- bzw. Glaubensverständnisses zu erläutern. Zunächst grenzt er sich wie schon bekannt gegen Erlebnisreligion und gegen Religion als besondere Region des menschlichen Geisteslebens ab. Aber dann verschärft er die kritischen Abgrenzungen, indem er gegen seine eigene frühere Religionsphilosophie einwendet, auch der Ausgang vom ganzen Mensch sei falsch. Damit wird
Brief von Rudolf Bultmann an Hans von Soden vom 8.9.1922, zitiert nach: Konrad Hammann, Rudolf Bultmann (Anm. 3), 130. Vgl. dazu auch die Darstellung bei Martin Evang, Rudolf Bultmann in seiner Frühzeit (Anm. 3), 97. „Es ist freilich nicht zu verwundern, daß solche Verkennung des wesentlich Christlichen innerhalb der liberalen Theologie selbst nicht ohne Widerspruch geblieben ist. […] Aber freilich führt die theologische Lösung, die Otto in dieser Situation zu geben versucht, in die entgegengesetzte Richtung.“ (Rudolf Bultmann, Die liberale Theologie [Anm. 1], 22) Rudolf Bultmann, Karl Barths „Römerbrief“ in zweiter Auflage (Anm. 8), 119.
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endgültig die erkenntnistheoretische Suche nach einem menschlichen Rezeptionsorgan für das Jenseits aufgegeben. Es ist dieser Grundgedanke, der die gesamte Theologie Bultmanns von da an trägt. Er war bereits in der Konstruktion der frühen Religionsphilosophie als möglich angelegt. Aber Bultmann hätte ihn damals, wie der Widerspruch zu Barth von 1922 noch zeigt, für theologisch unfruchtbar gehalten. Im Ausgang vom Neukantianismus war es für ihn selbstverständlich, dass überhaupt eine anthropologische Basis für das Wissenkönnen von Gott angegeben werden muss. Die Entdeckung des Jahres 1924, gewonnen durch die Übertragung von Wilhelm Herrmanns Lutherdeutung auf Paulus, besteht in der hermeneutischen und dogmatischen Selbstbezüglichkeit des Glaubens. Sich selbst verstehender Glaube legt seine Inhalte nicht als Ausdrucksformen eines vor und außerhalb des Ausdrucks gegebenen Gottesbewusstseins aus, sondern versteht sie ausschließlich als Beschreibung des Vollzugs des Glaubens selbst. Bultmann hat dies den eschatologischen Charakter des Glaubens genannt. Gemeint ist das Geltenlassen der Religion als eines reinen Deutungsaktes am Leben. Damit erst wird die Theologie im eigentlichen Sinn unabhängig von inhaltlichen, von gefühlsbezogenen oder transzendentalphilosophischen Begründungen.¹⁸ Glaube ist dadurch ausgezeichnet, dass er sich verstehend und deutend auf sein eigenes Ereignen bezieht – nichts weiter.¹⁹
Vgl. Rudolf Bultmann, Die evangelisch-theologische Wissenschaft in der Gegenwart (in: Abendblatt der Frankfurter Zeitung 1926), zitiert nach: Ders., Theologie als Kritik. Ausgewählte Rezensionen und Forschungsberichte, hg.v. Matthias Dreher/Klaus W. Müller, 156 – 166, hier 161: „Diese idealistische Geschichtsauffassung hat nicht das Recht, von Gott und Gottes Offenbarung zu reden. Denn Gott ist der ‚Ganz andere‘ – ja, aber nicht in jenem Sinne R. Ottos, der sich an die Mystik anlehnte, sondern im Sinne der urchristlichen Eschatologie (Enderwartung).“ Vgl. in diesem Artikel auch die nochmaligen Bezüge auf die „Neugestaltung des Kultus und der Liturgie“ (158) sowie die in ihrer Kürze und Voraussetzungshaftigkeit wohl kaum allgemeinverständliche Kritik an Ottos Das Heilige: „Fraglich ist aber doch der eigentlich theologische Charakter des Buches. Denn ist mehr gegeben als eine psychologische Analyse des religiösen Gefühls? Gewiß ist das die Absicht des Verfassers, aber ist diese erreicht? Und ist nicht nur gezeigt, was der Gedanke des Göttlichen in aller Religion bedeutet? Wäre wirklich theologisch geredet, so müsste doch wohl nicht allgemein von dem Göttlichen oder der Gottheit die Rede sein, sondern von dem Gott, von dem das Christentum als einer Wirklichkeit redet.“ (159) Das Programm dazu war in Bultmanns Barth-Rezension bereits formuliert worden, und zwar gegen die missbrauchte ‚Objektivität‘ eines theologischen Gedankens wie der Prädestination: „Die Frage: Wo ist das Objektive, dem ich mich beugen soll? Muß aber vielmehr heißen: Wo ist das Objektive, dem ich mich beugen kann? […] Sie ist nur so zu beantworten, daß man zeigt, was Glauben bedeutet. Denn indem der Sinn dessen, was Glauben heißt, klar gemacht wird, ist der Glaube vor jeder Missdeutung als psychischer Prozeß geschützt, ist jede ‚Methode‘ abgeschnitten.“ (Rudolf Bultmann, Karl Barths „Römerbrief“ in zweiter Auflage [Anm. 8], 136)
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Im Anschluss an seine Aufnahme Barths kehrt Bultmann zum einführenden Satz zurück, nämlich dass Ottos Lösung in die entgegengesetzte Richtung führe. Jetzt zeigt er umgekehrt auf, dass dieser Begriff von Glauben ihn von jeder Mystik abgrenze. Denn der mystische Begriff des Jenseits sei zwar ein gegenüber der anthropologischen Begründung der Religion weiterführender Versuch, indem hier Gottes Gottsein zu denken aufgegeben werde. Aber die Diskrepanz von Mensch und Gott werde eben doch vom Menschen aus konstruiert, und deshalb sei allein die barthianische Lösung – natürlich gemeint: in Bultmanns Deutung als rein selbstbezüglicher Glaube – die einzig mögliche. Bereits in dem werkgeschichtlich wichtigen Aufsatz von 1924 ist damit zu sehen, wie Bultmann die Mystik für den Aufbau der eigenen Position funktionalisiert. Es bleibt bei der Durchgangsposition, die die Religionsphilosophie Ottos einnimmt. Sie zeigt einerseits die notwendige Kritik an der liberalen Theologie und ihrer anthropologischen Religionsauffassung. Und andererseits verfehlt sie genau das (für Bultmann einzig mögliche) Gottesverständnis, das sie mit ihrer Kritik eigentlich anzielen will. Allerdings kommt es zu einer leichten Verschiebung, indem Bultmann ab hier die eigene partielle Abgrenzung von dem neukantianisch geprägten Frühwerk mit in die Mystik hineinliest. Während Otto bisher eher über das falsche Ausweichen in eine psychologische Religionstheorie dargestellt wurde, gewinnt nun der übergeordnete Aspekt der Unmöglichkeit einer Konstruktion des Jenseits an Bedeutung. Die Mystik will ein transzendentes Jenseits aufbauen, aber gerade weil sie in der Behauptung den menschlichen Voraussetzungen verhaftet bleibt, zeigt sie das prinzipielle Scheitern einer anthropologisch argumentierenden Religionsphilosophie im Ganzen. Und insofern dieses theoretische Scheitern parallelisiert wird mit dem Scheitern des Menschen am Gottesgedanken, steht die Mystik zugleich für das Verhaftetsein des Menschen in der Sünde. Aus dieser Parallelisierung wiederum ergibt sich die oben zitierte Einschätzung von Ottos Theorie als prinzipielle Verwechselung von Gott und Teufel.
4.2 Offenbarung und Glaube statt Mystik Aus der Grundlegung des neuen Glaubensverständnisses, das sein mögliches Objekt allein aus dem Bezug auf seinen eigenen Vollzug als seine Grundstruktur gewinnt, leitet sich Bultmanns systematische Bezugnahme auf Otto in seinem theologischen Werk ab. Entsprechend dem Ausgeführten findet sich der Durchgang durch die Mystik dort, wo Bultmann das Verhältnis von Offenbarung und Glaube erläutert. Programmatisch geschieht das in der Theologischen Enzyklopädie. Sie wurde erst 1984 ediert als ein Konvolut von Vorlesungsskripten Bultmanns aus den Jahren 1926
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bis 1936. Die Enzyklopädie ist laut Bultmann eine „Selbstbesinnung der Theologie“,²⁰ und zwar als eine „theologische Arbeit, in der die Theologie sich selbst auf ihren, sie konstituierenden Gegenstand besinnt“.²¹ Der die Theologie konstituierende Gegenstand ist aber selbst der Zirkel von Glaube und Glaubensgegenstand, von Offenbarung und Glaube. In zwei Entwicklungsbeschreibungen wird die theologische Vorstellung von Offenbarung und Glaube durch die Geschichte verfolgt und bis an die Schwelle der eigenen Glaubensauffassung geführt. Zunächst der Offenbarungsbegriff: Wichtig ist der Wechsel zur Moderne. Der gegenständliche Offenbarungsbegriff wird in der Romantik aufgegeben zugunsten eines anthropologischen Offenbarungsverständnisses. Nicht mehr etwas wird offenbart, sondern Offenbarung ist eine schöpferische Bewegung im Menschen. Um nun einerseits der Kritik an der gegenständlichen Offenbarung zu entsprechen, andererseits der anthropologischen Umdeutung der Offenbarung zu entkommen, benutzt Otto die Vorstellung des Irrationalen. Doch genau dadurch wird sein Jenseits, das Ganz Andere, zu einer Behauptung. Es bleibt den anthropologischen Konstruktionsbedingungen des Jenseits aus der bekämpften Romantik verhaftet. Bultmanns eigene Kritik an dieser Stelle will den Gedanken des Jenseits im Durchgang durch Ottos Vorschlag plausibel machen. Dafür bindet er Offenbarung an den Augenblick. Der von Otto missachtete Augenblick ist das philosophische Pendant zu der vergessenen Eschatologie bei Herrmann und in der Theologie. Bultmann führt aus: „Wird die Beziehung des Unheimlichen (für Numinoses) auf den Augenblick vergessen, wird das Unheimliche als solches angestarrt, ja zitternd genossen, so ist es zum Teufel geworden.“²² ‚Augenblick‘ ist Chiffre für die konkret mich in meiner Situation treffende Infragestellung meiner Existenz. Eine Theorie wie die Ottos, die das Numinose als Gegenüber für numinose Erlebnisse des Menschen konstruiert, verfehlt durch die beibehaltene Subjekt-Objekt-Entgegensetzung den Grundcharakter des Offenbarungsgeschehens. Anrede im konkreten Augenblick meiner Existenz ist das Ereignis selbst, nicht die Tat eines Anredenden. Bultmann leitet anschließend auch das eigene Glaubensverständnisses über den bekannten Dreischritt von liberaler Theologie, Ottos richtiger Kritik an ihr und sodann Bultmanns eigener Position her. Inhaltlich aber sind Verschiebungen zu verzeichnen. Die liberale Theologie ist nicht mehr als rationale transzendentalphilosophische Theoriebildung verstanden, sondern allgemein als Form anthropologischer Begründung der Theologie. Auch die zweite Stufe des Dreischritts
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wird neu bestimmt und über Otto hinaus zu einer eigenen religionstheoretischen und -geschichtlichen Position ausgearbeitet. Dies ist die Mystik, die als zeitübergreifende und das eigentliche religiöse Wissen und Ahnen des Menschen verkörpernde Strömung beschrieben wird. Bultmann versucht, eine eigene Theorie der Mystik aufzustellen, die sich gerade gegen ihre religionspsychologische Deutung (wie bei Otto) wendet. Dazu bezieht er sich auf das Material, das Otto in Das Heilige und in West-Östliche Mystik sammelt sowie auf andere religionswissenschaftliche Überblickswerke, bietet aber inhaltlich eine systematische und zugleich aporetische Deutung. Der Mystik wesentlich ist die religiöse Idee des ‚Ganz Anderen‘. Der Gottesbezug wird durch das Freiwerden von sich selbst gewonnen. Doch diese Negation, diese Gegensatzkonstruktion ist selbst nur eine vom Menschen ausgehende Methode.²³ Aus dem Gegensatz zur Religion wird deshalb auch in der Mystik immer wieder nur Religion (als Angelegenheit des Menschen). Bultmanns eigene Position besteht darin, dass er auf jede Gegensatzkonstruktion verzichtet. Dass Gott das Ganz Andere ist, kann nicht mit Inhalt gefüllt werden. Denn der Mensch kann sich nicht entkommen – so sein Generaleinwand. Und deshalb ist die entsprechende Forderung auch nicht als Eingang in die Religion aufzustellen. Vielmehr muss allein das tatsächliche geschichtliche Leben des Menschen die Ausgangsbasis für die wahre Gottesbegegnung sein. „In der Tat: Die Mystik sieht an der Geschichtlichkeit des Menschen vorbei. Sie sieht nicht, daß das Leben im Dies und Das, im Hier und Jetzt seine Existenz charakterisiert, und daß er überhaupt nicht da herauskommen kann.“²⁴ Es ist also richtig, dass Gott das oder der Ganz Andere gegenüber dem Menschen ist. Aber die Mystik macht daraus die Forderung an den Menschen, sich selbst und seine Existenz zu verlassen. Diese Anwendung ist falsch. Deshalb kommt Bultmann am Ende zu der Einschätzung: „Mystische Elemente in den Protestantismus zu übernehmen, ist also Unsinn. Gerade das, was die Mystik zur Mystik macht, kann man nicht übernehmen, ohne den Glauben preiszugeben. Übernimmt man aber [daneben sogar] die Anschauung der Mystik, in psychischen Zuständen Gott zu haben, so übernimmt man gar nicht Mystik, sondern pagane Elemente.“²⁵
„Die Mystik scheidet sich deshalb auch streng von jeder Religion als einem vorfindlichen zuständlichen Verhalten oder Sichbefinden des Menschen. Das heißt also: Die Erkenntnis der Mystik ist formal richtig, ihr Gottesgedanke ist der richtige. Aber sie hat den Gottesgedanken ohne Gott, sie glaubt, im Gottesgedanken Gott zu haben.“ (A.a.O. 117) A.a.O. 124. A.a.O. 129.
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Darin ist Bultmanns endgültige Einordnung Ottos beschlossen. Seine mystischen Bestrebungen sind Ausdruck einer tiefen Religiosität des Menschen, seiner Sehnsucht nach dem Ganz Anderen. Aber im Schweigen, im bloßen Rückgang hinter die rationalen Elemente der Religion liegt nicht Gott selbst, sondern nur die Bestätigung des Menschen, der sich selbst einen Gott, ein Gegenüber seiner religiösen Sehnsucht, eben einen Teufel schafft. In Ottos religionswissenschaftlicher Beschreibung der numinosen Gefühlszustände jedoch ist noch nicht einmal diese menschliche Sehnsucht der Religion, also ‚wahre‘ Mystik am Werk. Ottos Verbindung der Religionsphilosophie mit Religionspsychologie repräsentiert vielmehr bloß Restbestände einer romantisch-liberalen Theologie, deren menschliche Selbstbezogenheit modernes Heidentum repräsentiert.
Melissa Raphael
Gender, Idolatry and Numinous Experience A Feminist Theological Approach to Rudolf Otto’s The Idea of the Holy I still remember the late afternoon in the autumn of 1987 when, as a doctoral student working in the library of King’s College London, I pulled The Idea of the Holy off the shelf in a moment of idle curiosity. My tutor had no more than suggested that I might take a look at it. After a theology degree in which recommended books were too often read more in a spirit of diligence than enthusiasm, Otto’s book was not so much something to read but to experience; it made my heart race with a kind of spiritual ardour and excited recognition. The Idea of the Holy is well-known for intending to do more than merely inform the scholar of religion and, for me, it is a loved book that has shaped my spiritual aesthetic and, having set me a life-long research task, it has accompanied me on my way. Yet others might not find my gratitude to Otto self-evident. In 1994, about seven years after first encountering his work, I published an article called “Feminism, Constructivism and Numinous Experience”¹ where I argued that Otto’s work in The Idea of the Holy and later publications exemplified precisely the kind of binary thinking that Second Wave religious feminist scholars were claiming had lent a structure and a justification to religio-political discrimination against women. In his 1937 Religious Essays, for example, Otto plays on the distinction between the holiness of spirit (ruach) and the profanity of flesh (basar) from which the soul must be reborn or purified in the renunciation of the material sphere.² Yet if, as Arnold Van Gennep, one of the best-known anthropologists contemporary with Otto, put it, women are ‘congenitally impure’ in relation to the sacred and only their sexual reproductivity is sacred in so far as they are set apart to the men they are married to,³ and if women are assigned only fleshly and material obligations in a given economy of the sacred, then this kind of dualism denigrates female experience and excludes it from the category of paradigmatically religious experience. If women traditionally experience the mystery and crisis of the sacred in their flesh – in the very processes of menstruation
Melissa Raphael, Feminism, Constructivism and Numinous Experience, in: Religious Studies 30 (1994), 511– 526. Rudolf Otto, Religious Essays. A Supplement to ‘The Idea of the Holy’, trans. by Brian Lunn, London 1937, 18.34. Arnold van Gennep, The Rites of Passage, London (11909) 1977, 12.
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and childbirth that patriarchal religion judges to be the occasions of cultic impurity – then their experience of the holy will be different and secondary to that of men, if it qualifies as holiness at all. To prevent excessive generalisation I will confine most of my observations to Judaism. Jewish feminist spirituality and theology has been insisting since the 1970s that since ascetic religious vocations are not instituted for women (or men) in Judaism, and Jewish women’s religious obligations are primarily domestic, their religious experience is not ‘wholly other’ to their ordinary or profane experience, but is precisely a function of that. Jewish women’s experiences of the holy are domestic and therefore far from eerie or unheimlich, and could not be further than majestic. Traditionally, and in contemporary Orthodoxy, women encounter the holy in the immanence of the heimlich – at home: when making ready for the Sabbath, keeping a kosher kitchen, and, in their reproductive years, maintaining ‘family purity’ through practices of that involve not touching their husbands for around twelve days during her menstrual cycle. Theirs is an experience of non-numinous, mundane holiness that bears no aesthetic relation to what Otto calls the ‘grisly horror and shuddering’ of the prostrated soul.⁴ Moreover, Orthodox women are not generally so placed as to have numinous experience – to be prostrated by encounters with the divine – because its thundering voice does not address them directly. Women do not participate in what are arguably the most numinous moments of Jewish existence: they do not, for example, stand as do the priestly Kohanim (males in patrilineal descent from Aaron) before the open ark, shrouded in their great white tallitot, to make the Priestly Benediction. They are not members of the kollelim, spending long hours in the beit midrash, where, in the rapid brilliance of sacral dispute or pilpul, the immediate revelation of the word occurs. Or again, the numinous immediacy of mystical experience is institutionally unavailable to Jewish women. The Jewish mystical tradition seems to have been unique among mystical traditions in excluding women from mystical experience from the outset (their very rare involvement being limited to subsidiary, often sexual roles within the heretical kabbalistic sects of Sabbatai Tzvi and Jacob Frank).⁵ While, say, medieval Christian and Muslim women mystics could pursue a spiritual path to a spiritual perfection that might, if they unsexed themselves sufficiently, put them on a more or less equal footing to men, Jewish women have never known a plane of existence beyond sexual duality (and disparity). Even Rudolf Otto, The Idea of the Holy. An Inquiry into the non-rational facor in the idea of the divine and its relation to the rational, trans. by John W. Harvey, London/New York 1958, 12 f. See Ada Rapoport-Albert, Women and the Messianic Heresy of Sabbatai Zevi 1666 – 1816, Oxford 2011.
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were it permitted, Haredi women (for example) with large families and a limited income (in a culture where men are encouraged to study rather than earn), would not have the time to absent themselves from domestic duties to induce the kavanah (concentration or focus) preparatory to the dissolution of ontological boundaries that comes from mystical cleaving to the divine (devekut). Moreover, any married woman engaging in sexual abstinence or any other attempt to transcend their material sphere of obligation was, and continues to be in Orthodox circles, a threat to the natural and social order. In the rabbinic literature (to which asceticism is not quite as alien to the male elite as is often assumed) women ascetics are grouped under the category of ‘world-destroyers’.⁶ More generally, it is unlikely that women in traditions where the holy is mediated through husbands, priests and theologians can practically directly access the numinous ‘innermost essence’ of religious experience if they must approach the holy through these offices and institutions of men. Such women would rarely get close enough to the sacra to have the kind of direct and privileged experiences of the holy that could be characterised as being knocked backwards, as it were, by the crushing majesty or the thunder of the tremendum. I therefore stand by my most of my argument in that paper of the early 1990s. I would continue to argue that the ontological and circumstantial conditions in which a person might have a numinous experience are different for men than for women. Although more detailed and comprehensive evidence is required than the merely indicative examples that can be provided here, it is arguable that Otto’s phenomenology of the numinous as the primary and universal quality of religious experience is both androcentric and gender-blind. Experiences of neither the numinous nor the morally and rationally completed holy are immediately available to women in the same way as they might be to men. Feminist scholarship on religion would suggest that the numinous is not as ‘wholly other’ as Otto believed it to be. The analogies for numinous experience are coloured – even constituted by – the temper and values of the male-dominated social context it arises in. And scholars of Otto’s period, almost all of them men, would have known far less about women’s religious experience than we do today as women were not generally the researching, researched, or speaking subjects of their own different religious experience. Otto’s phenomenology is therefore the product of only partial scholarly knowledge and awareness of human religious experience. Phenomenologically, numinous experience, no less than any other religious experience, is constructed, conditioned and mediated from the outset by patriar-
Op. cit. 8 f. and Ada Rapoport-Albert, Female Bodies, Male Souls. Asceticism and Gender in the Jewish Tradition, Oxford 2015.
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chal conceptions of ultimate value that derogate ‘female’, mutable, nature and the flesh and that sanction discrimination in the roles and opportunities allocated women most forms of theistic religion. If women’s psychological, cultural and biological difference, and their secondary socio-religious status, entail in advance that they have different sorts of religious experience to men, then might Otto’s phenomenology only be fully applicable to men? The language and categories Otto uses to evoke the numinous manifestation are surely mediated by the traditions Otto knows, where male experience is assumed to be normative, authoritative and universal and women’s too often the exception or problem to the rule. This would make the numinous experience a product of its worldview, contingent, rather than necessary, to any account of what it means to be a human religious subject. It is not that women are in any sense incapable of having a numinous experience or that they do not have the spiritual range and register to be aesthetically moved by the mysterium tremendum (after all, as a young woman I knew perfectly well what Otto was referring to). It is rather that Otto’s phenomenology mistakes a masculine and historically conditioned account of the numinous for a universal and unconditioned one. The holy, or minus its moral and rational aspects, the numinous, would not, then, be seen by feminists as the ineffable core of religion. Contra Otto, numinous experience can certainly be accounted for in terms of other experiences: especially that of a patriarchal valorization and experience of absolute power and might, projected onto the will and presence of the Godhead. Otto’s work is rarely discussed by feminists, but those who discuss the nature of holiness would morally and politically reject any account of it as that which has been set apart from the profane as being of ‘wholly other’, non-natural value. Religious feminism rejects the radical distinction between the immanent and the transcendent as having driven an archaic, hierarchical wedge between men and women’s experiences and between the (male) eternal and the (female) finitude of the natural. It is precisely the masculinist valorization of the ‘wholly-other’ or non-natural quality of the numinous later schematized as the holy that establishes a hierarchy of values and experience producing contempt for things natural (read female) as profane. The grading or distinction of the holy and the profane has sanctioned religious and cultural discrimination against women and established a religious topography which is inimical to female social environments and the relational spirituality characteristic of these.⁷ Speaking for Jewish women, Drorah Setel,
Rebecca Chopp, The Power to Speak, New York 1989, 119; Mary Grey, Redeeming the Dream. Feminism, Redemption and the Christian Tradition, London 1989, 44. See also Melissa Raphael, Feminism, Constructivism and Numinous Experience (note 1).
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advocating a feminist Judaism focused in relational connection, intimacy and diversity within a communal unity, has identified the ‘obsolete’ separative, hierarchical dualism of the Jewish concept of holiness as a principal locus of contention between Jewish feminism and the patriarchal tradition.⁸ Although this paper will conclude that Otto’s theology of religious experience, as distinct from his phenomenology, has a prophetic dimension far from alien to that of feminist theology, my argument that there is little to suggest that the tremendum of the numinous is easy to correlate with either the content and temper of religious feminism or what it has claimed to have characterised women’s historical religious values and experiences can be supported by a more detailed illustration than those this paper has so far supplied. In recent years, I have become increasingly interested in how we behold the image of God in images of the human; how we perceive the inviolable trace of the divine in the human face, especially the female face. I would therefore like to examine whether it is possible for images of Jewish women as religious subjects and agents to convey an impression of holiness.⁹ I am not hopeful that this is possible. After all, an image of a person is always an image differentiated by gender, and under almost any religious dispensation images of women are identified with their sexuality; there is little or no surplus meaning. Even if Judaism is not notably dualistic in its ontology or practice, women are nonetheless associated with flesh (gashmiut) and men with spirit (ruhniut) and this makes it difficult to represent Jewish women as spiritual subjects whose presence can make a numinous impression in the way that the Orthodox male’s appearance can. For pictures of women are depictions of a body ontologically defined as flesh. Even in the most Orthodox circles, the Second Commandment is not so restrictively interpreted as to prevent the circulation of images of rabbinic leaders and other observant men. Yet there is a categorical clash that makes a female body defined by its flesh almost impossible to represent as having spiritual agency or as touched by the glory (kavod) of divine presence or warrant. And even where an Orthodox female body is sanctified by marriage and her personal piety, the requirement that she be modestly dressed in ordinary secular garments keeps her presence in the sphere of the sub-visible and non-numinous. Here, after she has been acquired in marriage or sanctified (kiddishin) to her husband, the numinous power of a woman’s sexuality can only be moralized or de-
T. Drorah Setel, ‘Roundtable Discussion: Feminist Reflections on Separation and Unity in Jewish Theology’, in: Journal of Feminist Studies in Religion 2 (1986), 113 – 118. For an extended version of this discussion see Chapter 3, “What Does a Jewish Woman Look Like? Gender and Images of Jews in Art”, in: Melissa Raphael, Judaism and the Visual Image. A Jewish Theology of Art, London/NewYork 2009, 65 – 96.
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fused into holiness precisely in her being self-effacing and out of sight. Psalm 45: 14 is often quoted by the Orthodox as a proof-text for modesty. The phrase ‘All the glory of the king’s daughter is within’ is used to assert that while male Jewish glory is imageable and imaginable, that of women is not. Even where female embodiment is accommodated in the sphere of the holy – say in the women’s section of a synagogue – it continues to pose the threat of sexual distraction and must be screened off from public (that is, male) view by a mehitzah. In contemporary Haredi (ultra-Orthodox) communities, no photographs of women appear in advertisements or news items. If female piety is to be holy it has to be asexual or modest – covered. Female holiness is defined as that which must not appear.¹⁰ Female tzniut is necessary because free, un-owned, female embodiment has, as in other patriarchal religions, a crudely sexual charge, rather than holiness. In Judaism, as in other theistic traditions, the female numinous cannot, by its nature, be rationally and morally completed into holiness. The female numinous is still all too often reduced to a male horrified fascination with its dangerous sexual power to bring, like an idol, death and chaos in its wake. The representation of the dangerous – indeed demonic – female numinous in the negative iconography of the long-haired, voluptuous, winged Lilith is a case in point.¹¹ If it is not that of a chaste daughter or pious wife, the sexuate female body is represented ‘as the object of fascination and scorn’ not as the site of revelation that would support biblical theism’s affirmation of the sanctity of the human body as made in the image of God.¹² To look at an attractive woman who is not consecrated to a man in marriage is to be in danger of looking at a body whose effect on the male is akin to that a female numen or idol. In his book The Power of Images, David Freedberg notes that there is parallel to be drawn between idols and ‘the dangerous and seductive effects ascribed to women’.¹³ Women are believed ‘to embody the essence of the arousal of the senses; as a result they distract from the higher functions of the mind and impede its upward strivings’.¹⁴ The sight of a Jewish woman is mediated through biblical and rabbinic idol polemics that sexualise the sight of a woman, making looking at her body dangerously akin to looking at (or what the prophets call ‘lusting
Stephanie Wellen Levine, Mystics, Mavericks, and Merrymakers. An Intimate Journey Among Hasidic Girls, New York 2003, 59. See further, Barbara Black Koltuv, The Book of Lilith, York Beach/ME 1986. See further, Margaret Miles, Carnal Knowing. Female Nakedness and Religious Meaning in the Christian West, New York 1991, 144. David Freedberg, The Power of Images. Studies in the History and Theory of Response, Chicago 1989, xxiv. Op. cit. 424.
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after’) an idol. If this kind of female body creates a numinous impression it is that of a dangerous, sub-Judaic body, whose representation would therefore be a completely impermissible reversion to paganism. By contrast, rabbinic literature acknowledges, indeed lists, the male rabbis who were not only learned but physically beautiful: whose beauty was intrinsic to their holiness, not at war with it.¹⁵ And images of pious Jewish men are, despite the Second Commandment, widely reproduced in modern Jewish culture and identity, even that of ultra-Orthodox Jewry. Images of pious Jewish men have been in circulation since modern printing techniques enabled the mass reproduction of images of rabbis and, since the nineteenth century, when Jewish artists began to paint male Jews for a western Jewish art-market that was already aesthetically nostalgic for the old pre-emancipated world of shtetl piety.¹⁶ The male Jew at prayer and the dancing male Hasidic Jew are repeatedly painted by Jewish artists, even to the point of cliché. A fascination with the numinous appearance of the religious Jew has made the male Jewish face and the male Jewish body in the (usually Hasidic) costume and posture of study and worship, both loosely and precisely speaking, iconic: legitimate representations of the priestly, Levitical vocation to holinesss. In modern Jewish art, Isidor Kaufmann’s late nineteenth and early twentieth-century images of pious male Jews (or at least Jewish artists’ models dressed as them) are a visual celebration of the Jewish insistence on ‘worshipping the Lord in the beauty of holiness’. The same is true of other Jewish artists’ paintings of observant Jewish men which are too numerous to list but which include David Bomberg (as in Hear O Israel, 1955) or Reuven Rubin (Dancers of Meron, 1923), and in a life-time of paintings by Marc Chagall. If we take Otto’s account of what evokes a numinous impression – especially the uncanny or unheimlich: namely the interplay of light and darkness and the concealed and revealed, or an object’s recession into the infinity of silence and distance –¹⁷ and apply it to selected paintings and photographs of Jewish men, we can see how the numinous impression of the (male) Jew at prayer is conveyed in images over and over again. Here, the male Jew’s avodah (service/worship) is an act of devotion to God that can be represented in terms of the positive numinous. In Bomberg’s Hear O Israel liturgical avodah turns the male body itself into an object of numinous encounter: a veritable penumbra
See further, e. g., Daniel Boyarin, Carnal Israel. Reading Sex in Talmudic Culture, Berkeley 1993, 213 – 217 and passim. Richard Cohen, Jewish Icons. Art and Society in Modern Europe, Berkeley/Los Angeles 1998, 175 – 185. Rudolf Otto, The Idea of the Holy (note 4), 60 – 71.
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of consuming, purifying, golden fire illuminates and conceals the body at prayer, transforming it into a living Torah. The numinous impression conveyed by images of dancing, praying or studying male Jews is all the more powerful in the post-Holocaust era where the figure of the male religious Jew in the priestly costume of his piety has become is a figure for the uncanny – the presence of that which should be absent. Now, the rapt, mystical joy of his piety has sacrificial overtones of a Kiddush Hashem – the sanctification of God’s name in the embrace of death. This is a figure back-shadowed by its holocaustal disappearance or presence in absence as a Jewish ghost or after-image. Granted, these Jewish images of the male holy are only unobtrusively masculine figures. Images of Orthodox Jews, especially Hasidim, may haunt post-Holocaust Europe’s visual consciousness, but, as victims, they do so by virtue of their sheer powerlessness. Yet if one were to attempt to envision the eternity of the Jewish people hypostasized in the face or body of a woman her different physiognomy would, for most viewers, be the first, and perhaps the only, thing they would see. Her body would be a distraction. Defined as gashmiut, not as ruhniut, the female Jew could not represent the transcendental suffering of the Jewish people, but only her particular historic self. It remains uncertain what it could mean for the female Orthodox Jewish face and body to disclose the sublimity of its own sacral agency in a numinous impression. Without priestly garments, there is no role or costume for the Orthodox woman’s body to be made Jewish; that is, accommodated within the Jewish visual tradition. This is also, if differently, true of the non-Orthodox Jewish woman since the ritual garments of the liberal traditions are originally derived from those of Orthodox men, or have been discarded altogether in the name of equality and modernity. It would, of course, be wrong to claim that there have never been any portraits painted of Jewish women. A number of notable portraits of Jewish women were painted in the nineteenth and twentieth centuries, and by the 1970s, Jewish feminist artists had begun to explore the meanings of their own embodiment in a number of visual media. But these are occasional portraits of particular women, not representations of the numinosity or holiness of female religious subjectivity and agency active within the assembly of Israel. However, since outlining this argument in my book Judaism and the Visual Image, I have begun to wonder whether the unrepresentability of Jewish women as Jews may be not so much an affront to women’s religious subjectivity but
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one of the conditions of its possibility.¹⁸ This is not to reiterate Haredi platitudes about keeping women out of the public eye out of reverence or respect for their persons. Rather, it is that when women choose unimaginability, as God does, they activate resistance to idolatrous ideas of women that saturate mass culture and reduce them to the closed, fixed patriarchal idea or fetishized idol of the feminine same, created by the male gaze, that prevents all women, not just Jewish women, from experiencing the open messianic possibility – the mysterium tremendum – of their own religious futurity. (Jean-Luc Marion rightly notes that while icons are translucent to the divine, idols exist to draw and satisfy the gaze, perfectly reflecting the desires and values projected onto it.)¹⁹ If Otto is right that the recession of bodies, absence, silence and caesura are the chief means of the numinous impression, then the ‘veiledness’ of women’s religious appearance may be more suggestive of female holiness than any direct representation. It should also be noted that in the eighteen years since writing my article criticising the androcentrism of Otto’s categories of analysis, feminist criticism has moved on and its criticism of religion has become more nuanced. Shifting patterns of religious opportunity in liberal religious denominations and networks offer women access to the holy in ways and forms that they did not when Otto was writing, or even when I was studying Otto’s work for my doctorate in the late 1980s. Contemporary religious feminism knows theistic religion to be both patriarchal and to countermand to its own patriarchy; to be both liberative in its prophetic criticism, and oppressive in so far as it is grounded and implicated in the structural sins of patriarchy. It has also become increasingly apparent that conservative patriarchal religion offers privileges and serves interests that benefit not only elite men but also the women who share their lives. Contemporary ‘third wave’ feminists do not essentialise or binarise gender as both Otto and early feminist criticism of religion did: gender is shifting, elective, performative and ludic. Research on women in even the most conservative religious communities demonstrates that their traditionalist norms can and do accommodate, express and serve women’s religious needs. So too, it has become clear that texts, whether sacred or, as in Otto’s case, classic, can be interpreted more creatively than merely adverting to their androcentrism and misogyny. I would like to use the final part of this paper, then, to propose that there is a distinction to be drawn between Otto’s phenomenology of religion and his own theology. While the two are inextricably related, Otto’s theological link between the nu Cf. Cynthia Eller, ‘Divine Objectification. The Representation of Goddesses and Women in Feminist Spirituality’, in: Journal of Feminist Studies in Religion 16 (2000), 23 – 44. Jean-Luc Marion, The Idol and Distance. Five Studies, trans. by Thomas Carlson, New York (11977) 2001; Id., God Without Being, trans. by Thomas Carlson, Chicago 1995.
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minous and the prophetic may be hospitable to feminist theological perspectives, even if his gender-blind description or evocation of numinous experience might, on that account, be considered of more limited value to historians of religion. It is possible, I think, to read The Idea of the Holy from a feminist theological perspective and argue that despite the conceptual and substantive androcentrism of its phenomenology of the numinous, within Otto’s account of numinous experience subsists a ‘negative’ counter-idolatrous theology that undermines, as effectively as any other negative theology might do, instituted gendered disparities of status and power before God, whether in Christian doctrine or Jewish law. In Otto’s insistence on the ‘wholly otherness’ of numinous experience and the ‘creature feeling’ it induces in male religious subjects,²⁰ can be discerned as inherently idoloclastic a theology as any feminist theologian could hope. Classic second wave Jewish and Christian feminist theology (there is no space here to discuss all variants of feminist theological discourse) is predicated on a prophetic critique of the exclusive masculinity of an omnipotent God as an idol: a projection of male power named as the divine Father, King, and Lord and set up in the high places to preside over a hierarchy of spiritual and political power that secures male ownership of all material bodies: animals, children, slaves, women, and the (female) earth itself. When Jewish and Christian scholars of religion active in the women’s liberation movement began to graduate from the academy as historians of religion and theologians they wanted to say that ‘where a religious tradition makes the masculine body the normative bearer of the divine image of a God imagined in male language and values alone, its anthropology should be considered idolatrous’.²¹ Rosemary Ruether spoke for Christian and Jewish feminists in arguing that exclusively masculine linguistic or visual-symbolic representations of God that set up ‘certain human figures as the privileged image and representation of God’ are to be rejected as idolatrous institutionalizations of sin.²² Here, reformist feminist theologians were not deploying secular, reductive critical principles against their religious traditions, but rather drawing on an existing prophetic intra-religious critical tradition that breaks idols or finite human ideas of the divine pretending to the wholly otherness of divinity but actually offering more of the political same.
Rudolf Otto, The Idea of the Holy (note 4), 51– 7. Judith Plaskow, Standing Again at Sinai, New York 1991, 147 f. Rosemary R. Ruether, Sexism and God-Talk. Towards a Feminist Theology, Boston 1983, 66 f. See also e. g., Sallie McFague, Models of God, Philadelphia 1987, ix; Mary Ann Stenger, “Male Over Female or Female Over Male: A Critique of Idolatry”, in: Soundings 4 (1986), 464– 478; Carol P. Christ/Ellen M. Umansky/Anne E. Carr, Roundtable Discussion. What Are the Sources of My Theology?, in: Journal of Feminist Studies in Religion 1 (1985), 119 – 131.
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Otto’s account of numinous consciousness as irreducible and wholly other to all other categories of experience entails that the attributes of its object are also wholly other to the power, personality, and embodiment attributed to the normative male. Numinous experience evokes the experience of an unnameable numen – the God before God, and the God after God, before whom we must fall silent.²³ Even when rationally completed as the ‘Holy One of Israel’, the awful God of numinous experience proclaimed in prophetic theology stands in judgement on literal theologies that take non-rational, figurative, contingent language for God as more than analogical.²⁴ Although numinous experience is more than merely accidently analogous to an aesthetic experience of the sublime,²⁵ the object of numinous consciousness is so wholly other that – at least in its primary non-rational moment – it cannot be an object of analogical knowledge.²⁶ In an uncharacteristically vague sentence, Otto does, in fact, advert to how gods and goddesses surpass the categories of gender: “The numen has, no doubt, in itself personal features, which somehow enable the worshipper to refer to it by a pronoun, as ‘he’ or ‘she’. But while the limits of the personal are at this stage still fluid, they cannot (any more than in the case of the more definite figure of the ‘God’) quite comprise the full import of the inapprehensible and unameable, which presses out beyond them.”²⁷ Just as promisingly, Otto regards it as a ‘defect’ of the religious imagination that its encounter with the divine is persistently imagined in terms drawn from our own social relationships.²⁸ Vehemently rejecting naturalistic accounts of religion as creating their gods in what Hobbes termed ‘in the ignorance of causes’ so as to master a fear of nature or enagage in one or other form of wishful thinking, Otto uses the language of apophatic mysticism to describe how the subject of numinous experience feels “submerged and overwhelmed” by the nothingness of his mere createdness. Confronted by the numinous object, he writes that we recoil in a chilled wonder at “something inherently ‘wholly other’, whose kind and character is incommensurable with our own”.²⁹ Such an experience prevents from the outset any authorization of idolatrous concepts of God in which the creator is created in the mind of the created. If the prophetic force of numinous ‘wholly otherness’ is taken seriously, Otto’s God cannot be created in men’s image or substituted for any other god. Otto
See Appendix V, “The Supra-Personal in the Numinous”, in: Rudolf Otto, The Idea of the Holy (note 4), 197– 203. Op. cit. 76 f. Op. cit. 41 f. Op. cit. 197. Op. cit. 198. Op. cit. 203 Op. cit. 28.
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understands numinous experience as an immediate irruption from beyond. The void, emptiness or nothingness that is the mystics’ ideogram of the ‘wholly other’³⁰ is a visual “negation that does away with every ‘this’ and ‘here’, in order that the ‘wholly other’ may become actual”.³¹ The aesthetics of the numinous ensure that the infinite qualitative distinction between God and the world is inviolate; no divine honour can be accorded to the male creature who, as creature, is as categorically corruptible as the female one. Peculiarly resistant to any idolatrous particularization of God that finitizes God and infinitizes the masculine, Otto’s numen cannot become the puppet or projection of the paternal social order that a Feuerbachian, Freudian, or indeed feminist, account of religion might suggest. For whereas idolatry infinitzes the creature by finitizing God, setting up his own image as the object of worship in place of God, the element of ‘creature feeling’ in numinous experience reminds the creature of his nothingness as ‘dust and ashes’ before the divine tremendum, which ‘all’ is wholly exterior, as well as other, to the self. Going beyond Schleiermacher’s formulation of the feeling of dependence as an inference of religious experience, Otto’s insistence that numinous experience is an experience of contingency or createdness implies a radical self-depreciation. It is in numinous experience – not rational inference and argument – that humanity’s absolute dependence on God is known. The existentially shaking experience of finitude strips a religious subject of the hubris or over-valuation of self-worth that is the idolatrous moment.³² The tremendum of numinous experience subjects the injustices of the status quo – the moral and cultic violation of God’s sanctuary that makes God an unknown stranger or exile to the world – to prophetic judgement. The tremendum of religious dread bears witness to the exposure of the sin of idolatry to the wrath of the numen. But in its positive moment, the mysterium and the fascinans of numinous experience also draw the religious subject towards the messianic dimension of the new and the unprecedented.³³ As suggested by the paradigmatically numinous selfrevelation of God to Moses in the burning bush as the One who bears the inherently counter-idolatrous name of “I am who I shall be”, numinous experience can be the vehicle of the liberative theological possibility, carrying its subjects into the conditions of transformative becoming.³⁴
Op. cit. 30.69. Op. cit. 70. Op. cit. 9 – 11.20 f. See further Melissa Raphael, Rudolf Otto and the Concept of Holiness, Oxford 1997, 175 – 202. Ruther implies this in her reference to the narrative of the burning bush in Rosemary R. Ruether, Sexism and God-Talk (note 22), 66 f.
Katharina Wiefel-Jenner
Rudolf Ottos Konzeption des Kirchenjahrs Eine Perikopenordnung für das Reich Gottes
1 Rudolf Ottos Jahr der Kirche – eine Nachfrage aus aktuellem Anlass Im Jahr 1927 veröffentlichte Rudolf Otto das Jahr der Kirche in Lesungen und Gebeten. ¹ Damit legte er ein in seiner Art vollkommen neues Perikopenbuch vor, das auch ein Beitrag zu der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts geführten Diskussion über die Gestaltung des Kirchenjahrs war. Schaut man auf diese Diskussion der letzten 150 Jahren, dann erweist bereits der oberflächliche Blick, dass jede Generation die gottesdienstlichen Lesungen verändert, unabhängig davon, mit welcher Begründung sie diese Veränderungen vornimmt und mit welchem Label sie diese versieht. Zugleich zeigt der Blick in die Geschichte der gottesdienstlichen Lesungen und in die Perikopenpraxis der Ökumene, dass im Bereich der Liturgie kaum etwas so wenig Gott gegeben ist, wie die Perikopenordnung und das Kirchenjahr. Dies gilt bereits für die Anfänge der Perikopenordnungen. Die ersten verlässlichen Listen zu den gottesdienstlichen genutzten Perikopen stammen aus dem 5. Jahrhundert. Die länger als ein Jahrtausend für die Sonntagsgottesdienste im lateinisch geprägten Christentum durchgängig genutzten sog. altkirchlichen Evangelien und Episteln verdanken sich einem zwar theologisch begründeten, aber politischen Akt Karls des Großen.Wen wundert es,wenn die Verpflichtung auf diese Perikopen nach Jahrhunderten auch kritischen Nachfragen ausgesetzt war. Wohl haben Luther und die von Wittenberg geprägten Reformationskirchen an den altkirchlichen Episteln und Evangelien festgehalten. Aber seit Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Klagen über die Perikopen lauter. Es regte sich Protest gegen die Pflicht, diese biblischen Texte in den Sonntagsgottesdiensten zu bedenken.² Private Lektionare und solche für einzelne Kirchengebiete kamen auf, erfreuten sich größerer Verbreitung und Beliebtheit.³ Seitdem werden in Gene-
Rudolf Otto, Das Jahr der Kirche in Lesungen und Gebeten. Neues Evangelienbuch, hg.v. Johannes Emanuel Linderholm, deutsch von Thomas Reissinger in zweiter Auflage, vermehrt und überarbeitet mit Wilhelm Knevels/Gustav Mensching, Gotha 1927. Martin Schian, Wider die Perikopen (=Hefte zur Christlichen Welt, Bd. 29), Leipzig 1897, 35. Herwarth von Schade/Frieder Schulz (Hgg.), Perikopen. Gestalt und Wandel des gottesdienstlichen Bibelgebrauchs, Hamburg 1978, 34– 37.
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rationenfolge die biblischen Lesungen für den Gottesdienst problematisiert. Auch die 1890 von der Eisenacher Kirchenkonferenz und anschließend von fast allen deutschen Landeskirchen eingeführten neue Epistel- und Evangelienreihe und eine später hinzukommende Reihe mit alttestamentlichen Texten hat nicht verhindert, dass einzelne engagierte Praktiker – wie eben auch Rudolf Otto – oder Interessengruppen neue Ordnungen und Listen vorlegten. Es wurden und werden nach wie vor Perikopensysteme und Listen mit gottesdienstlichen Lesungstexten entworfen und verworfen, getestet und erprobt, eingeführt und überarbeitet. Nachdem die letzte Revision einer Ordnung für die biblischen gottesdienstlichen Lesungen für die deutschsprachigen evangelischen Kirchen über eine Generation zurückliegt, plant die deutsche evangelische Kirche im Zugehen auf das 500jährige Reformationsjubiläum eine „moderate“ Überarbeitung der vorhandenen Ordnung.⁴ Hierfür wird die traditionelle und über Jahrhunderte geübte Praxis im Kernbestand verteidigt.⁵ So wie sich die Vorgängerrevisionen nur bedingt von den Privatlektionaren oder Perikopenvorschlägen einzelner Praktiker haben anregen lassen, wird auch die aktuelle Überarbeitung nur einiges von dem aufnehmen,was in den letzten Jahrzehnten diskutiert wurde. Rudolf Ottos Ideen, um dessen Kirchenjahrskonzeption es in diesen Ausführungen geht, werden nicht dazu gehören und es ist zu fragen, wieso Ottos Vorschläge nur geringe Akzeptanz und keine Rezeption erfuhren.
2 Restauration vs. Neubau Der Kontext der derzeitigen Revisionsbemühungen ist der der Sieger der Liturgiegeschichte im deutschsprachigen Raum der evangelischen Kirchen im 20. Jahrhundert. Rudolf Otto gehört zu den Verlierern, auf dessen Bemühungen man mit einer gewissen Verachtung herabsah. Nach dem Ende des 2. Weltkriegs konnten in liturgischen Fragen vor allem diejenigen größeren kirchlichen Einfluss entfalten, die im weitesten Sinne zum Umfeld der Berneuchner Bewegung gehörten. Das Erbe Ottos war dagegen weit
Christine Jahn, Zum Stand der Arbeit – häufig gestellte Fragen, in: Arbeit an der Perikopenrevision im Auftrag von EKD, UEK und VELKD. Erste Entwürfe zur Diskussion, hg.v. der Geschäftsführung Perikopenrevision/OKRin Christine Jahn, Hannover 2012, 9 – 12, hier 10. Das prinzipielle Festhalten an den altkirchlichen Episteln und Evangelien in der derzeitigen Diskussion wird mit dem Wunsch, in der diachronen Katholizität der Kirche bleiben zu wollen, begründet. Bei Lichte besehen, sind aber vom Ursprungsbestand der altkirchlichen Lesereihen nur noch zwei Drittel geblieben und die Revision wird den Bestand weiterhin reduzieren.
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abgeschlagen. Die im Berneuchner Kontext geprägte Sicht wurde für die Frage der Perikopen und des Kirchenjahrsverständnis zur Norm. Nach all den Trümmern – äußeren wie inneren – ist es rückblickend verständlich, dass nach 1945 der Rückgriff auf eine unbelastete Zeit, bevor alles in Trümmer ging, Heilung versprach. Ein restaurativer Grundgedanke prägte in weiten Teilen die liturgischen und auch hymnologischen Überzeugungen. Die Zeit der Ursprünge, die sich durch Reinheit und Glaubensstärke auszeichnete, sollte Orientierung geben. Alles, was in Verdacht der Nähe zu völkischen Ideen und NSIdealen stand, musste weichen. Damit wurde ein bedeutsamer Traditionsstrom aus dem 19. Jahrhundert ausgegrenzt. Das unbelastet erscheinende Erbe der Reformationszeit galt als Maßstab und nur die liturgischen Ideen aus dem 19. Jahrhundert, die sich der Konservierung der reformatorischen Gedanken verpflichtet sahen, wurden in die liturgische Weiterarbeit integriert. So waren auch für die Gestaltung des Kirchenjahrs und der Leseordnungen nicht neue Konzeptionen, sondern die Wiedergewinnung eines objektiv Richtigen und Ursprünglichen das Ziel. Die für die künftige kirchliche Arbeit prägenden Theologen orientierten sich bereits in den 1930er Jahren an einer Zeit, in der die liturgischen Formen scheinbar noch rein waren. So schrieb Hans Asmussen in seiner Gottesdienstlehre zu den Fragestellungen im Zusammenhang mit dem Kirchenjahr von der „Rückkehr zu den Quellen, die Wasser geben“.⁶ In ihrer Programmschrift von 1934 haben Theodor Knolle und Wilhelm Stählin das Kirchenjahr als „Trümmerfeld“ beschrieben, in dem „die unternehmungslustigen Bauleute irgendwohin sinn- und planlos Hütten oder Villen nach persönlichem Geschmack zu errichten unternommen haben“.⁷ Der Wiederaufbau des als Kathedrale verstandenen Kirchenjahrs wurde zum inneren Bild, mit dem sich die Perikopenmacher und liturgischen Väter in dem in Trümmern liegenden Nachkriegsdeutschland an die Arbeit machten und das bis heute nachwirkt, auch wenn das Bild der Kathedrale einem handlicheren Format weichen musste und nun eher vom Kirchenjahr als „Haus in der Zeit“ gesprochen wird.⁸ Hans Asmussen, Gottesdienstlehre, Bd. 2: Das Kirchenjahr, München 1936, 5. Theodor Knolle/Wilhelm Stählin, Das Kirchenjahr. Eine Denkschrift über die Kirchliche Ordnung des Jahres, Kassel 1934, 8. Karl-Heinrich Bieritz grenzt sich mit dieser Formulierung bewusst vom Bild des Doms, das für Knolle und Stählin leitend war, ab. Aber es ist doch auffällig, dass in einer Zeit, in der neue Kirchen eher wie die Häuser in der Nachbarschaft aussehen und als Gemeindezentren gebaut werden, aus der Kathedrale des Kirchenjahrs ein „Haus in der Zeit“ wird. Hilfreich an diesem Bild ist allerdings, dass so gerade die Veränderlichkeit der von Menschen gemachten Ordnung und die Beheimatung der Menschen im Glauben innerhalb der Zeit in den Blick kommt. KarlHeinrich Bieritz, Ein Haus in der Zeit. Kirchenjahr und weltliches Jahr, in: Ders., Zeichen setzen. Beiträge zu Gottesdienst und Predigt, Stuttgart/Berlin/Köln 1995, 177– 187.
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Architektonische Vergleiche für das Kirchenjahr benutzten indes nicht erst Knolle und Stählin, als sie das in Trümmern liegende Kirchenjahr beklagten. Zuvor hatte Rudolf Otto schon 1926 in den von ihm initiierten Liturgischen Blättern das gleiche Bild verwendet. In Gegensatz zu Knolle und Stählin leitet Otto aber kein restauratives Grundverständnis. Dafür hätte er mit historischem Interesse an die liturgischen Fragen herangehen müssen. So wie sich seine übrigen liturgischen Bemühungen nicht aus einem traditionalistischen Impuls speisen, so ist auch sein Konzept für eine Reform des Kirchenjahrs nicht an einer Repristination weggebrochener Kirchenjahrsideen interessiert. Insofern ist es geradezu zwangsläufig, dass die Anhänger einer restaurativen Kirchenjahrsidee Ottos Vorschläge ignorierten. Otto geht es nicht um einen Wiederaufbau, sondern um einen Neubau des Kirchenjahrs: „Unser Kirchenjahr (ist) ein Restbestand und zu guten Teilen eine Ruine […] eines Baues, der, so viel Bedeutendes er immer noch enthält, zu großem Teile auf Voraussetzungen, liturgischen Sitten und kultischen Bedürfnissen beruht, die denen von Gemeinden, die aus der Reformation hervorgegangen sind, innerlich fremd sind und gar nicht wieder belebt werden sollen. Ein Neubau tut not, der protestantischen und heutigen Verhältnissen entspricht, und der verständlich, einsichtig und nachlebbar in seiner Reihe von Festen und Sonntagen Heilstatsache und Heilbesitz der christlichen Gemeinde in seinem Zusammenhange und in seiner Mannigfaltigkeit ihr darstellt.“⁹
3 Kriterien für ein neues Kirchenjahr An eher abgelegener Stelle und nur durch eine Nachfrage veranlasst, fasste Otto im Nachwort zum vierten Heft der Liturgischen Blätter diese Kriterien zusammen, die aus seiner Sicht für einen Neubau des Kirchenjahrs ausschlaggebend sind. Zum Zeitpunkt dieser Veröffentlichung bereitete er gerade zusammen mit Wilhelm Knevels und Gustav Mensching das Jahr der Kirche in Lesungen und Gebeten vor. Es steht zu vermuten, dass Ottos Kriterien kaum wahrgenommen wurden, da er sich weder im Jahr der Kirche noch in der stärker beachteten Vorgängerpublikation, dem Neuen Evangelienbuch ¹⁰ grundsätzlich zum Kirchenjahr äußert, sondern nur die Struktur und Grundlinien des Linderholmchen bzw. dann des eigenen Lektionars erläutert.
Rudolf Otto, Auf eine Anfrage: Wie sind Kirchenjahr und Liturgie in unsern Gemeinden wieder lebendig zu machen?, in: Liturgische Blätter für Prediger und Helfer, Reihe I, Heft 4 (1926), 145. Emanuel Linderholm, Neues Evangelienbuch. Gebete und Bibellesungen für den öffentlichen Gottesdienst für Schul- und Einzelandacht, deutsch v. Thomas Reissinger mit Geleitwort v. Rudolf Otto, Gotha 1924.
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Nur auf den ersten Blick sehen die in den Liturgischen Blättern benannten Kriterien einfach und „harmlos“ aus.Wie auch bei seinen anderen Vorschlägen zur liturgischen Reform verbirgt sich hinter den schlichten Formulierungen ein komplexes Konzept, das seinem theologischen Grundverständnis entspringt und höchst anspruchsvoll ist. Auch das Kirchenjahrskonzept lässt sich nicht isoliert von den übrigen liturgischen Gedanken Ottos verstehen. Otto benennt in den Liturgischen Blättern folgende Kriterien: – Das Kirchenjahr muss protestantischen und heutigen Verhältnissen entsprechen. – Das Kirchenjahr muss verständlich und einsichtig sein. – Das Kirchenjahr muss nachlebbar sein, damit es durch seinen Ablauf die Heilstatsache des christlichen Glaubens darstellt und als Heilbesitz vermittelt.
4 Ein protestantisches Kirchenjahr Das erste Kriterium bezieht sich darauf, dass Otto seine liturgischen Vorschläge im Kontext der nach dem 1. Weltkrieg zwangsläufig notwendigen Kirchenreform sah. Bereits unmittelbar nach der Ausrufung der Republik und der Auflösung des Summepiskopats hatte er 1919 ein Kirchenbild entworfen, das sich in seinen Formen und Strukturen auf die veränderten Gesellschaftsverhältnisse einstellt.¹¹ Die seit der Jahrtausendwende inzwischen wahrgenommene Milieuverhaftung der Gemeinden war Otto bereits vor fast einhundert Jahren bewusst. Er spricht nicht von Milieus, sondern von Gesellschaftsschichten und mahnte dazu, vor allem Werben für die Religion diejenigen in den Blick zu nehmen, die inzwischen der Religion entfremdet sind und durch das Festhalten an den kirchlichen traditionellen Formen abgeschreckt werden. Dabei weist er auch darauf hin, welchen Einfluss die Lösung der sozialen Frage für das kirchliche Leben hat.¹² Auch die Akzeptanz des Gottesdienstes bei denen, die der Kirche entfremdet sind, stellt er in diesen Zusammenhang. Eine liturgische Erneuerung sollte dazu beitragen, die – heute würde man sagen – Milieuschranken zu überbrücken und die bisher nicht religiös Erreichten für den Glauben – Otto spricht allerdings von Religion – zu gewinnen.
Rudolf Otto, Die Missionspflicht der Kirche gegenüber der religionslosen Gesellschaft, in: Revolution und Kirche. Zur Neuordnung des Kirchenwesens im deutschen Volksstaat, hg.v. Friederich Thimme/Ernst Rolffs Berlin 1919, 273 – 300. Wesentliche Teile dieses Beitrags übernahm Otto später in seine liturgische „Hauptschrift“: Zur Erneuerung und Ausgestaltung des Gottesdienstes (EAG). Rudolf Otto, Die Missionspflicht der Kirche (Anm. 11), 278.
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Schaut man sich Ottos liturgische Gestaltungsvorschläge im Detail an, bleibt auf den ersten Blick der äußere Ablauf in vielem dem Vertrauten verhaftet.¹³ Es stellt sich die Frage, wie mit den alten gottesdienstlichen Formen die Religionsentfremdeten und Religionslosen gewonnen werden können. Mit der Bemerkung, dass das Kirchenjahr – wie alle liturgische Erneuerung – „protestantisch und heutigen Verhältnissen entsprechen“ muss, gibt er einen Hinweis, auf welchem Weg die religiös Entfremdeten gewonnen werden können. Den „heutigen Verhältnissen entsprechend“ setzt Otto auf das Mithandeln der Gemeinde. „Das wichtigste ist, den Gemeindecharakter des Kultus zu betonen.“¹⁴ Kein liturgisches Formular Ottos kommt ohne die sog. Helfer aus. Darüber hinaus will Otto mit seinen Gottesdienstordnungen dazu anleiten, die Liturgie innerlich mitzuvollziehen. Die Helfer sind hierfür eine wichtige Unterstützung. Sie sind Multiplikatoren, weil an den Gottesdiensten „dem Ideal nach möglichst viele aus der Gemeinde daran beteiligt und wechselnd damit beauftragt“ sein sollen und so der Neubau „mit ernstem Bemühen und eifriger Arbeit […] und langer Geduld und stillem Warten […] langsam wachsen, werden und reifen will“.¹⁵ Die Helfer leiten die Gemeinde zur äußeren und inneren Haltung im Gottesdienst an. Knien und Stehen, Sitzen, Singen, Hören – in all diesen Vollzügen sollen sie der Gemeinde helfen. Als liturgische Vorbilder und „lebendige Träger des Gemeindekultus“ ist es auch ihre Aufgabe, die Gemeinde in das Kirchenjahr hineinzuführen und es so zu erschließen. In gewisser Weise finden wir hier eine Entsprechung zur participatio actuosa, die sich zeitgleich in der katholischen liturgischen Bewegung als Grundprinzip der Liturgiereform etablierte und dann Jahrzehnte später für die Liturgiereform des Vaticanum II eine bedeutsame Kategorie wurde.
5 Ein verständliches Kirchenjahr Das zweite Kriterium für den Neubau des Kirchenjahrs ist „Verständlichkeit“. Damit trifft Otto das Bedürfnis, das zum Motor für die vielen Reformbemühungen zum Thema Kirchenjahr und Leseordnungen wurde. Anstoß für die meisten Privatleseordnungen und Perikopenreihen, die als Alternativen zur Eisenacher Ordnung und zu den altkirchlichen Perikopen entwickelt wurden, war die mangelnde Logik in der Aufeinanderfolge der Lesungen und die fehlende Konsonanz
Otto spricht selbst davon, „meiner lutherischen Tradition […] in meinem Heimatlande Hannover“ zu folgen (SU, 227 f.). Rudolf Otto, Zur Erneuerung des Gottesdienstes, in: Theologische Blätter 2 (1923), 133 – 140, hier 136. Rudolf Otto, Auf eine Anfrage (Anm. 9), 145.
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der Lesungen an einem Tag. Die Auswahl der Texte vor allem in der Adventszeit, in der Passionszeit (mit einem Schwerpunkt bei Bußtexten) und in der zweiten Hälfte des Kirchenjahrs blieb weitgehend unverständlich. Aufgrund der Entstehung der altkirchlichen Perikopenreihen gibt es für die traditionellen Texte nur gewohnheitsmäßige, aber keine objektiv verständlichen Gründe. Das wollte Otto ändern. Im Gegensatz aber zu den anderen Perikopenentwicklern ging Otto von einer Gesamtschau des Kirchenjahres aus. Die meisten Alternativ-Konzepte waren dagegen pragmatisch ausgerichtet und konzentrierten sich vor allem auf eine Neugestaltung der Trinitatiszeit. Da diese Zeit nicht wie die von Advent bis Pfingsten durch das Leben Jesu vorgeprägt war, bot sich für diesen Zeitraum vor allem die Kirche als Formprinzip an. Entsprechend wurden in den 1920er Jahren Proprienlisten für die Trintitatiszeit veröffentlicht,¹⁶ bei denen eine ekklesiologische Ausrichtung der Verkündigung im Mittelpunkt steht. In seinem Bemühen um ein verständliches Kirchenjahr griff Otto auf einen ihn überzeugenden Entwurf aus Skandinavien zurück und sorgte für die Übersetzung des Neuen Evangelienbuchs des schwedischen Kirchenhistorikers Emanuel Linderholm aus Uppsala. Exkurs zu Emanuel Linderholm (1872– 1937): Neben seinem Evangelienbuch bemühte sich Linderholm in Schweden auch um die Erneuerung der Liturgie (Svensk högmässa 1926) als Teil einer Kirchenreform. Lieder von ihm befinden sich noch heute im schwedischen lutherischen Gesangbuch. Bedeutsam war Linderholm vor allem als erster Kirchenhistoriker, der die eigenständige Entwicklung der Kirche Schwedens erforschte.¹⁷ Einfluss hatte er in Schweden vor allem als Wortführer eines germanischen, heldischen Christentums „im lutherischen Geist“. Er war Vorsitzender des Schwedischen Verbands für religiöse Reformen und ideologischer Gedankengeber für die 1934 gegründete antisemitische Manhem-Gesellschaft, die einen schwedischen Nationalsozialismus vertrat und ihre Mitglieder als nordischarische Apostel sah. Auf der schwedischen Kirchensynode 1934 machte er sich zum Anwalt der Deutschen Christen. Die völkischen Ideen zeigen sich allerdings in seinem Evangelienbuch nicht deutlich. Vermutlich traten sie für Linderholm auch erst im Zusammenhang mit dem Erstarken der nordisch-germanischen Bewegung in Schweden in den Vordergrund.¹⁸
Z.B. veröffentlichte Albrecht Saathoff (1875 – 1968, Pastor in Göttingen) in der Monatsschrift für Pastoraltheologie (21 [1925]) einen Entwurf zur Gestaltung der Trinitatiszeit und Albert Hosenthien in der Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst (Jg. 31, Heft 5/6 [1927]). Bei diesem bestimmen vor allem bedeutende Männer das Proprium der einzelnen Sonntage, von Petrus und Paulus über Bach, Pestalozzi, Wichern, Luther, Schiller und Kant. Erik Berggren, Art.: J Emanuel Linderholm, in: Svenskt biografiskt lexikon, Bd. 23, hg.v. Åsa Karlsson, Stockholm 1980 – 1981, 400. Vgl. Anders Gerdmar, Germanentum als Überideologie. Deutsch-schwedischer Theologenaustausch unter dem Hakenkreuz, in: Die völkisch-religiöse Bewegung im Nationalsozialismus. Eine Beziehungs- und Konfliktgeschichte, hg.v. Uwe Puschner/Clemens Vollhals, Göttingen 2 2012, 265 – 284.
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Linderholm gab dem Kirchenjahr eine Struktur, durch die im Laufe des gesamten Jahres die Idee des Reiches Gottes entfaltet wird.¹⁹ Otto übernahm zunächst sowohl die Perikopenliste als auch die Gliederung des Jahres, bei der am auffälligsten ist, dass in Analogie zur Osterzeit eine sechswöchige Pfingstzeit vorgesehen ist und die Trinitatiszeit um sechs Wochen später beginnt. Die an der ReichGottes-Idee orientierte Struktur hatte ihren Preis. Die Adventszeit verwendet als Zeit der Vorbereitung auf das Kommen des Reiches fast ausschließlich Lesungen aus dem Alten Testament. Da Jesu Leben von Krippe bis Tod am Kreuz in die Zeit zwischen Heilig Abend und Karfreitag passen muss, wird die Jesus-Biographie zum Bestimmenden und erlaubt kein Verweilen bei einzelnen Heilsereignissen. Die Idee des Reiches Gottes ist das Vorgegebene, dem sich die Tage unterzuordnen haben. Der Leitgedanke für das ganze Kirchenjahr, die Reich-Gottes-Idee, formt jeden einzelnen Sonn- und Festtag. Jeder Tag bekommt seine eigene Prägung, die in der Gesamtschau schließlich das Ganze des Reich-Gottes-Gedankens entfaltet. Die bisher vermisste Konsonanz der Texte war auf diese Weise sichergestellt. Innovativ war die Einbeziehung alttestamentlicher Lesungen, die in den altkirchlichen Lesereihen für die Sonntage nicht vorkamen und bei der Eisenacher Perikopenordnung erst mit einer eigenen dritten Predigttextreihe Aufnahme fanden. Bei Linderholm sind jedem Tag ein Prophetie-Text und ein Psalm zugeordnet, die jährlich wiederkehren. In einem dreijährigen Turnus werden Epistelund Evangelientexte für jeden Sonntag bereitgestellt, so dass für jeden Tag vier Texte vorgesehen sind (Prophetie/AT – Psalm – Epistel – Evangelium). Das Lektionar der VELKD von 1953, das erstmals auch alttestamentliche Texte zum jeweiligen Proprium zuordnete, hatte hier ein Vorbild, auf das man sich allerdings nicht berief. ²⁰ Verständlichkeit – dieses Kriterium erfüllte die Linderholm-Konzeption. Die Orientierung am Leben Jesu und an den sich aus ihm ergebenden Folgen war geradezu ideal, um auf verständliche Weise die Reich-Gottes-Idee nahe zu bringen. Das Individuum in seiner Subjektivität und nicht die Gemeinde oder gar die Kirche Sein Perikopenmodell hat in Schweden keine nachhaltige Wirkung entfalten können. Die Revision der Perikopenordnung in Schweden von 1942 orientierte sich weiterhin an den altkirchlichen Evangelien und arbeitete nur das Konsonanzprinzip stärker heraus, indem die Auswahl der Episteln auf die Evangelien ausgerichtet wurde. Zu diesem Zweck wurden dann die Episteln im Laufe des Jahres anderen Tagen zugewiesen. Im Zugehen auf diese Perikopenordnung weist Peter Brunner auf das Problem mit der Eisenacher alttestamentlichen Reihe im Handbuch zur Agende I hin: „Die dritte Reihe enthält nur alttestamentliche Lesestücke. […] Können wir diese übernehmen?“ (Die Schriftlesungen im Gottesdienst an Sonn- und Feiertagen, in: Der Gottesdienst an Sonn- und Feiertagen. Untersuchungen zur Kirchenagende, Bd. I,1, hg.v. Joachim Beckmann/Hans Kulp/Peter Brunner/Walter Reindell, Gütersloh 1949, 113 – 204, hier 113).
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als Ganze standen im Vordergrund. Jeder/jede Einzelne kann im Verlauf des Jahres verstehen lernen, wie sich aus der Verheißung durch die Propheten über die Geburt, das Leben, Tod und Auferstehung Jesu, die apostolische Gemeinde mit ihren Schätzen und ihrem Auftrag das Reich Gottes entwickelt und dereinst vollenden kann. Aus diesem Verstehen wächst die religiöse Haltung, die die religiös Entfremdeten an die Begegnung mit dem Heiligen heranführen könnte. Gerade diese Orientierung an der Verständlichkeit für das einzelne Subjekt machte für Otto das Linderholm-Konzept zum idealen Ausgangspunkt für den Neubau des Kirchenjahrs.
6 Das Kirchenjahr als Erlebnis Otto wollte aber nicht nur ein verständliches Kirchenjahr. Otto wollte das religiöse Erleben im und durch das Kirchenjahr – auch um von hier aus die religiös Entfremdeten zu gewinnen. Otto war überzeugt, dass sich die Menschen in ihrer Ansprechbarkeit für das Religiöse unterscheiden.²¹ Nicht nur in der berühmten Passage zu Beginn von Das Heilige,²² wonach nur weiterlesen möge, wer sich auf Momente „starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit“ besinnen kann, geht Otto davon aus, dass sich die Menschen in ihrer Fähigkeit zu religiösem Erleben unterscheiden, sondern auch in seinen Überlegungen zur Kirchenreform ist die Unterscheidung ausschlaggebend. Es gibt die religiös Begabteren und die, deren Religiosität sich aus einem „Christentum aus zweiter Hand“ speist. Auf diese ernster am Gottesdienst und dem religiösen Erleben im Gottesdienst Interessierten setzte Otto in seinen Reformbemühungen. „In den engen Kreisen solcher, ernster nach Gottesdienst und gemeinschaftlicher Andacht Verlangender erwächst lebendiges Interesse an der im Kirchenjahr sinnvoll verteilten Predigt der Kirche und an echter Liturgie, als gemeinem Gebet, am ehesten. Und die Kreise werden auch immer die wirklich interessierten und lebendigen Träger des Gemeindekultus selber ausmachen.“²³ In dieser Überzeugung wendet er seine Erkenntnisse aus der Auseinandersetzung mit dem Schleiermacher der ‚Reden über die Religion‘ und vor allem seine religionsphilosophischen und -phämomenologischen Überzeugungen ins Praktische. Die religiös Virtuoseren sind letztlich diejenigen, für die er seine liturgischen Ideen entwickelt. Dies zeigt sich auch beim dritten Kriterium, das für den Neubau des Kirchenjahrs wichtig ist: „Das Kir-
Vgl. EAG, 22. DH, 8. Rudolf Otto, Auf eine Anfrage (Anm. 9), 145.
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chenjahr muss nachlebbar sein, damit es durch seinen Ablauf die Heilstatsache des christlichen Glaubens darstellt und als Heilbesitz vermittelt.“ Hinter dem schlichten Begriff „nachlebbar“ verbirgt sich ein besonderes Konzept, das Otto ausführlich im Zusammenhang mit der Überarbeitung des ursprünglichen Linderholmchen Evangelienbuch entfaltet. Der aufmerksame OttoKenner weiß ohnehin, dass mit dem Nacherleben eine viel umfassendere Vorstellung verbunden ist und dass er das Nacherleben ähnlich wie Dilthey versteht, für den das Nacherleben dazu dient, sich die geistige Welt anzueignen. Zur Umsetzung dieses Grundgedankens veränderte Otto das Evangelienbuch von Linderholm und veröffentlichte 1927 unter dem Titel Das Jahr der Kirche in Lesungen und Gebeten ein komplett neues Perikopenbuch.²⁴ Er veränderte den Aufbau und passte ihn auch an deutsche Gewohnheiten an. Vor allem aber hat er aus der Reich-Gottes-Idee für die Gestaltung und Gliederung des Kirchenjahrs ein inneres Prinzip gemacht und versteht das Kirchenjahr in seiner Abfolge als Dromenon. Der Begriff stammt aus der Mysterientheologie. Das Dromenon war die Nachahmung des Schicksals des Kultheros. Die Nachahmung bewirkt die Teilhabe an den Kräften und Energien des Kultheros. Im Dromenon wird das Heilsgeschehen vergegenwärtigt. In der antiken Mysterientheologie gehören Dromenon und Legomenon zusammen.Verkürzt gesagt, sind die Lesungen das Legomenon zu dem sich über das ganze Jahr hin entfaltenden Dromenon, das in seiner Ganzheit das Heilsgeschehen des Reiches Gottes durch die Verkündigung vergegenwärtigt. Erst das Nacherleben des gesamten Kirchenjahrs, das als Dromenon wirkt, stellt durch seinen Ablauf die Heilstatsache des christlichen Glaubens dar und vermittelt den Heilbesitz. Die Verknüpfung mit dem schwergewichtigen Mysterienbegriff Dromenon zeigt, dass es nicht um einfaches Nachlesen von biblischen Texten geht. Es geht vielmehr darum, im Nachlesen der Texte in das Nacherleben hineingeführt zu werden, zum inneren Erleben zu kommen und am Heil selbst teilzuhaben. Über diesem Prinzip ist die Abfolge der Lesungen nicht beliebig. Sie bildet das ab, was zum Nacherleben des Glaubens und zum Heilsbesitz führt. Da das ganze Kirchenjahr als Dromenon verstanden wird, tritt die Bedeutung der Feste im Kirchenjahr zurück. Aus ritualtheoretischer Perspektive ist dies konsequent. Soll das Kirchenjahr dazu dienen, dass das Heil angeeignet wird und die Gegenwart des Reiches Gottes erlebt wird, werden Feste nicht gebraucht. Feste zeichnen sich dadurch aus, dass sie „ein aus der profanen Zeit ausgegliedertes und an besonderen, dafür vorgesehenen Orten stattfindendes Geschehen“ sind, „das
Das Jahr der Kirche stimmt nur in der Ausgangsidee mit dem Linderholmchen Evangelienbuch überein. Dennoch wurde es kaum als eigenständige Perikopenordnung, sondern meist als erneuerte Auflage der Linderholm-Übersetzung von 1924 wahrgenommen.
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in nichtalltäglichen Betätigungsformen den Bezug auf die Gottheit ehrend zum Ausdruck bringen“.²⁵ Streng genommen ist das gesamte Kirchenjahr aus der profanen Zeit herausgenommen. Jedes Eintauchen in den Gottesdienst ist selbst schon ein sich Ausgliedern aus dem Alltag und der Gottesdienst selbst ist in der von Otto verstandenen Weise mit dem sakramentalen Schweigen eine nichtalltägliche Betätigungsform, die nicht erst durch ein Fest initiiert werden muss. Wer der Perikopenordnung Ottos folgt, bewegt sich insofern bereits innerhalb des „in Christo offenbaren Mysterium ewigen Rates und göttlichen Reiches“.²⁶ Die Perikopenordung trägt dazu bei, dass das Reich Gottes „neu unter uns Akt werde“²⁷. Sie ist die Perikopenordnung für das Reich Gottes. Diese Sicht hat allerdings zur Folge, dass die, die religiös weniger ansprechbar sind, die besondere Eigenschaft des Kirchenjahrs nicht ohne weiteres entdecken können. Sie haben (noch) keinen Zugang zum Heilsgeschehen. Sie verharren im „Vorhof zum Heiligen“. Angesichts der Unterscheidung zwischen den religiös Begabteren und denen im Vorhof, ist ein Perikopenmodell, wie das von Otto konsequent.
7 Perikopen für die Kirche vs. Perikopen für das Reich Gottes Welche Voraussetzungen und welche Konsequenzen Ottos Kirchenjahrskonzeption hat, haben wohl nur wenige Schüler gesehen. Die mit Otto im Feld der Liturgik und Perikopenentwicklung Konkurrierenden haben die Implikationen des Modells nicht wahrgenommen, sondern eher instinktiv reagiert, als sie Das neue Evangelienbuch und Das Jahr der Kirche nicht rezipierten.²⁸ Als Sieger der Liturgiegeschichte haben sie allerdings nicht unbedingt Recht behalten, weil sie Sieger waren. Sie haben sich etwas in ihren Überlegungen bewahrt, dass Otto nicht im Blick hatte, vielleicht weil er es auch nicht im Blick zu haben brauchte. Sie hatten und haben die Gemeinde vor Augen, die sich im Vorhof zum Allerheiligsten aufhält und von Zeit zu Zeit Sehnsucht nach dem Heiligen hat. Sie können, wollen und dürfen sich den Luxus nicht leisten, die aus dem Blick zu verlieren, die in Christian Albrecht, Sinnvergewisserung im Distanzgewinn, Liturgische Erwägungen über das Wesen des evangelischen Gottesdienstes zwischen Feier und Fest, in: ZThK 97 (2000), 362– 384, hier 365. EAG, 55. EAG, 55. Gerhard Kunze, Die Lesungen, in: Leiturgia. Handbuch des evangelischen Gottesdienstes, Bd. 2, hg.v. Karl Ferdinand Müller/Walter Blankenburg, Kassel 1955, 87– 180, hier 154.
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einem Leben als Christen aus zweiter Hand Anspruch darauf haben, die Fülle des Heilsgeschehens zu erfahren oder zumindest seine Nähe zu suchen. Rudolf Otto war es möglich, in liturgischen Fragen nur an die zu denken, die sich „auf Momente starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit“ besinnen können. Das macht seine Faszination auch auf dem Gebiet der Liturgiewissenschaft aus.
IV Religionsphilosophie
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Rudolf Ottos Theorie religiöser Gefühle und die aktuelle Debatte zum Gefühlsbegriff An einer Gefühlstheorie bin ich aus theologischen Gründen interessiert; mich treibt eine systematische Frage um, die einleitend zu skizzieren sein wird – das ist ein erster, kurzer Teil des folgenden Beitrags (1.). Ich werde dann einen Aspekt der neueren, insbesondere im angelsächsischen Sprachraum geführten Debatte über den Gefühlsbegriff notieren – das ist der zweite Teil (2.). Dieser Aspekt ist darum für diese Fragestellung interessant, weil sich vor diesem Moment der Debatte über den Gefühlsbegriff eine Eigenart der Religionstheorie Rudolf Ottos profilieren lässt, der ich mich im dritten Teil zuwenden werde, der, dem Anlass geschuldet, am umfänglichsten sein wird (3.). Das Interesse an Otto im vorliegenden Beitrag ist somit parasitär und entspringt einem Vernutzungsinteresse im Dienste einer weiterführenden Fragestellung.
1 Religion und Gottesbegriff Damit zum Kontext meines Interesses, den ich im Ausgang vom Programm der klassischen Gottesbeweise erläutere:
1.1 Probleme mit dem ‚metaphysischen Gottesbegriff‘ Wer den semantischen Gehalten einer traditionsgeleiteten wissenschaftlich-theologischen Rede von Gott, beispielsweise in den vorreformatorischen Summen oder in den nachreformatorischen dogmatischen Systemen nachgeht, wird zunächst einmal zwei Versuchungen ausgesetzt sein: derjenigen einer Fragestellung, und der Versuchung einer Feststellung. Zunächst einmal drängt sich die Versuchung auf, sich auf die historische Frage nach der philosophiegeschichtlichen Herkunft der für diese Gotteslehren bzw. -begriffe aufgewendeten Motive zu fokussieren. Sodann wird man sich der Versuchung ausgesetzt sehen, diese Gotteslehren als unzulässige Vergegenständlichung Gottes abzuwerten; sofern sie, wie in den meisten vorneuzeitlichen Dogmatiken, in den Kontext einer materialdogmatischen religiösen Gotteslehre integriert werden, wird man dazu tendieren, sie als Eintragung einer dem religiösen Lebenszentrum christlich-frommer Aussagen fremden, objektiv
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betrachtenden Rede von Gott beiseite zu lassen.¹ Dieses Fremdeln einer religiös begründeten Gotteslehre gegenüber semantischen Gehalten des Gottesbegriffs, die den Charakter des ‚Metaphysischen‘ tragen, ist heutzutage zumeist nicht mehr motiviert durch das Erbe der Dialektischen Theologie, sondern ist deutungstheoretisch reformuliert: Theologische Aussagen haben nur dann ein Recht, wenn sie religiöse Selbstwahrnehmung und -deutung reflektieren, das heißt: sich als Selbstauslegung und in diesem Sinne als Ausdruck frommer, und zwar spezifischer: christlich-frommer Subjektivität ausweisen können.²
1.2 Der religiöse Gehalt ‚des‘ metaphysischen Gottesbegriffs Der versuchlichen Schwerkraft dieser Einwände widersetzt man sich dann erfolgreich, wenn man in der Richtung der ersten Versuchung feststellt, dass die Tradition des ‚metaphysischen Gottesbegriffs‘, wie ich das aristotelisch-neuplatonische Erbe nun einmal zusammenfasse, doch eigentlich nur dann sich zur Rezeption aufdrängt, wenn sie sich nicht einfach als Begriffscluster anbietet, sondern wenn sie eine gewisse Plausibilität entfaltet. Die Überzeugungskraft des semantischen Gehaltes dieses Gottesbegriffs wird nun nicht allein am intellektuellen Charme beispielsweise von wohlgeformten Gottesbeweisen liegen, sondern wird in einem Wiedererkennungseffekt liegen müssen, dem sich auch ein religiös (und nicht nur intellektuell) von oder zu Gott redendes Subjekt nicht entziehen kann. Genau dies – nämlich dass der metaphysische Gottesbegriff religiös plausibel ist – behaupten auch die meisten Gestalten der Gottesbeweise und der entsprechenden metaphysischen Gottesbegriffe: Im anselmischen (ontologischen) Gottesbeweis wird die Behauptung erhoben, dass jeder Mensch in sich den dem Beweis zugrundeliegenden Gottesbegriff vorfinde; und diese Behauptung wird erhoben im Anschluss an den religiösen Vollzug des Gebets im ersten Kapitel der Schrift und somit unter der These, dass der im Gebet in Anspruch genommene Gottesbegriff dem ‚quo maius cogitari nequit‘ entspricht.³
Etwa Karl Barth, Kirchliche Dogmatik, Bd. I,2, Zürich 31945, § 17 und Bd. II,1, Zürich 61982, § 27. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Die Lehre des christlichen Glaubens (2. Auflage), hg.v. Rolf Schäfer, Berlin 2008, § 50 (textidentisch mit: KGA, Bd. I,13.1). Aber Schleiermacher geht davon aus, dass die ‚metaphysische‘ Gotteslehre religiösen Ursprungs ist, vgl. a.a.O. 300 f.; dazu Aristoteles, Metaphysik XII,8 (1074 b 1– 14). Anselm von Canterbury, Proslogion, lat.-dt., hg. u. übers. v. Franciscus Salesius Schmitt, Stuttgart 21984, Kap. 1 und 2; vgl. auch Kap. 23. Dazu nur: Ingolf U. Dalferth, Fides quaerens intellectum. Theologie als Kunst der Argumentation in Anselms Proslogion, in: ZThK 81 (1984), 54– 105.
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Ähnliches gilt für die (kosmologischen) Gottesbeweise des Thomas: Er behauptet nämlich in den Endstücken der Beweise immer wieder, dass dies – nämlich das Beweisergebnis, etwa das ‚primum movens non motum‘ – alle meinen, wenn sie ‚Gott‘ sagen. Das Ergebnis des Beweises plausibilisiert sich dadurch als Beweis für die Existenz Gottes (und nicht nur eines metaphysischen Prinzips), dass es dem semantischen Gehalt einer umlaufenden Rede von Gott entspricht.⁴ Das heißt: Ein Beweis oder eine begriffliche Gotteslehre ist nicht der Ursprung der Rede von Gott, sondern sie verweisen in ihrer elaborierten Gestalt auf eine Sprachgemeinschaft, in der bereits vor jedem Beweis von Gott verständlich gesprochen oder – im Gebet – zu ihm gesprochen wird, in der also dieser Begriff ‚umläuft‘. Von Gott, und zwar unter Inanspruchnahme des semantischen Gehaltes, den der metaphysische Gottesbegriff aufweist,wird nach Anselm,Thomas und anderen bereits vor dem expliziten Beweis und vor der elaborierten Metaphysik gesprochen.
1.3 Gottesbegriff und Emotion Für die Frage, wo diese Rede von Gott umläuft, bietet es sich an, an den kirchlichen Sitz im Leben und die darin eingebauten Verständigungskontexte zu denken⁵: Das Gebet wurde bereits erwähnt; im Zusammenhang der Religiosität des Mittelalters wäre insbesondere das Bußinstitut zu nennen. Dieses wiederum steht für eine explizite Selbstreflexion, die sich in intensiven Emotionen vollzieht, die unter Bezugnahme auf den Begriff ‚Gott‘ geweckt, gedeutet, bearbeitet und bewältigt werden. Die Rede von Gott ist mit intensiven Emotionen – Furcht, Schrecken, Zweifel, wenn es gut geht: Reue verbunden;⁶ der Zuspruch der Vergebung, auf den das Bußsakrament abzielt, ist mit Erleichterung, Freude etc. verbunden. Für diesen Zusammenhang von Gottesbegriff und Emotion steht nicht zuletzt die Theologie der Reformatoren, in der diese Emotionen gleichsam nackt, ihres institutitonellen Kontextes entkleidet die Rede von Gott begründen und begleiten: Die Entinstitutionalisierung des Bußvollzugs in Luthers Bußtheologie nach 1517
Dazu Notger Slenczka, Gottesbeweis und Gotteserfahrung. Überlegungen zum Sinn des kosmologischen Arguments und zum Ursprung des Gottesbegriffs, in: Letztbegründungen und Gott, hg.v. Edmund Runggaldier/Benedikt Schick, Berlin 2010, 6 – 30 (dort Textanalyse und Literatur: 8 – 24). Dazu nochmals Notger Slenczka, Gottesbeweis und Gotteserfahrung (Anm. 4), 24– 30. Notger Slenczka, Der endgültige Schrecken. Das Jüngste Gericht und die Angst in der Religion des Mittelalters, in: Das Mittelalter 12 (2007), 105 – 121.
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bindet die Erfahrung Gottes an emotionale Erfahrungen⁷ – und die Pietismen des 17. und 18. und Erweckungstheologien des 19. Jahrhunderts sind Fernwirkungen dieser Freisetzung der individuellen Subjektivität von institutionellen Kontexten.⁸ Damit lässt sich vermuten, dass es einen Zusammenhang zwischen menschlicher emotionaler Subjektivität und dem semantischen Gehalt des Begriffes ‚Gott‘ gibt, der in der Rationalität des metaphysischen Gottesbegriffs allerdings verdeckt ist und sich erst dann zeigt, wenn man in der beschriebenen Weise darauf aufmerksam wird, dass der metaphysische Begriff von Gott seinerseits auf außerhalb von ihm gelegene Erschließungssituationen verweist. Und diesem Zusammenhang von Gottesbegriff und Emotion gilt mein Interesse, allerdings nun mit der Pointe, dass ich nicht nach den den Gottesbegriff begleitenden Emotionen frage, sondern umgekehrt danach, ob es emotionale Zustände gibt, die sich nur unter Inanspruchnahme und Verwendung des Gottesbegriffs aussprechen lassen: Gibt es Emotionen, die sich der genauen Reflexion als theophor erschließen, die also Einführungssituationen für den semantischen Gehalt des Begriffes ‚Gott‘ sind?
1.4 Rudolf Otto Damit bin ich bereits bei Rudolf Otto. Denn Otto geht es einerseits darum, zu zeigen, dass die Rede von Gott sich nicht der Theorie oder der sittlichen Praxis verdankt⁹, sondern einer vortheoretischen Erfahrung, die auf etwas referiert, was in allen rationalen Gottesbegriffen verfehlt wird; aber nicht nur darum geht es ihm, sondern auch um den Aufweis, dass diese Erfahrung der vergessene Ursprungsort auch der rationalen Gottesbegriffe ist: Die semantischen Gehalte der rationalen Rede von Gott sind die Schemata des Göttlichen,¹⁰ und das eingangs im Anschluss an Thomas skizzierte Verhältnis von Gottesbeweis und ihm vorausliegender Rede
Dazu Notger Slenczka, Zur Theologie von Luthers Kleinem Katechismus, in: Die Gegenwartsbedeutung der Katechismen Martin Luthers, hg.v. Norbert Dennerlein/Klaus Grünwaldt/ Martin Rothgangel, Gütersloh 2005, 9 – 35. Dazu Albrecht Beutel, Aufklärung und Protestantismus. Begriffs- und strukturgeschichtliche Erkundungen zur Genese des neuzeitlichen Christentums, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie 63 (2011), 207– 221; Johannes Wallmann, Die Anfänge des Pietismus, in: PietismusStudien, hg. v. ders., Tübingen 2008, 23 – 66; Hans Emil Weber, Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, 3 Bde., Nachdruck Darmstadt 1966, bes. I/1, 44– 55. Vgl. vorläufig nur: DH17, bes. 1– 4 sowie 144– 152.176 – 183. Dazu Steven Ballard, Rudolf Otto and the Synthesis of the Rational and the Non-Rational in the Idea of the Holy, Frankfurt a.M./ Berlin/Bern u. a. 2000, bes. 25 – 40. DH17, 180 – 183.
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‚aller‘ von Gott – hoc omnes dicunt Deum – hätte mutatis mutandis durchaus von Otto stammen können. Die Plausibilität und die Evidenz des rationalen Begriffs von Gott und seiner Begriffsgehalte ergibt sich, weil und soweit dieser Begriff eine vorrationale Erfahrung reformuliert.¹¹ Allerdings stellt sich dann auch die Frage, der auch Ottos Interesse gilt: Die Frage nämlich, wie genau denn eine solche vortheoretische, emotionale Erfahrung aussehen muss, damit sie begründet als Erfahrung ‚Gottes‘ apostrophiert werden kann.
2 Die Intentionalität von Emotionen in rezenten Emotionstheorien 2.1 Durch den Leib vermittelte Intentionalität der Emotionen Otto verweist auf bestimmte emotionale Verfasstheiten; von dieser Auskunft geleitet wende ich mich nun zunächst einem zweiten Zugang zum Thema zu, nämlich den Emotionstheorien, die insbesondere, aber nicht nur im angelsächsischen Raum diskutiert werden. Religiöse Erfahrungen spielen dabei eine nicht einmal untergeordnete Rolle, wenn man einmal davon absieht, dass unter anderem William James, insbesondere sein 1884 in der Zeitschrift Mind veröffentlichter Essay „What is an Emotion?“, einen der Ausgangspunkte der Debatte darstellt.¹² Ich nehme ihn auch hier als Ausgangpunkt, weil er sofort ins Thema führt. James vertritt, modern gesprochen, eine Art epiphänomenalistische Sicht der Emotion: Er geht davon aus, dass entgegen dem gängigen Bild nicht eine körperliche Reaktion Folge einer Emotion ist, sondern dass dem Phänomen einer Emotion eine körperliche Reaktion auf eine Weltsituation zugrundeliegt.¹³ Eine Emotion ist die Selbsterfassung einer körperlichen Reaktion auf bestimmte Reize. Das bedeutet zum einen: Emotionen sind prärational in dem Sinne, dass sie eine Körperreaktion begleiten. Sie sind zweitens in gewisser Weise intentional – auf anderes des Subjekts bezogen; dies sind sie allerdings nur dadurch, dass sie ‚an‘ einer Körperreaktion sind, die eine vorrational deutende Wahrnehmung einer Umgebung darstellt. Nur durch den Körper sind sie intentional;¹⁴ für sich ge Vgl. z. B. DH17, 178 – 180. William James, What is an Emotion? in: Mind 9 (1884), 188– 205. Zur grundlegenden Funktion für die Debatte vgl. Sabine A. Döring (Hg.), Philosophie der Gefühle, Frankfurt a.M. 2009. William James, What is an Emotion? (Anm. 12), 193 – 196.199 f. Peter Goldie, Emotionen und Gefühle, in: Philosophie der Gefühle, hg.v. Sabine A. Döring, Frankfurt a.M. 2009, 369 – 397, hier 375. Goldie spricht hier sehr treffend von einer ‚borrowed intentionality‘ der Gefühle.
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nommen sind sie lediglich die Selbstwahrnehmung des Körpers in seiner Reaktion, ein Epiphänomen der Reaktion des Körpers.¹⁵
2.2 Emotion und feeling Zwei Fragestellungen haben faktisch eine zentrale Bedeutung in den an David Hume, John Locke, Adam Smith und eben William James anknüpfenden Diskussionen über die Emotion im angelsächsischen Sprachraum, nämlich zum einen das Interesse an dem evaluativen und motivierenden Gehalt von Emotionen und deren Bedeutung für die Grundlegung einer Ethik.¹⁶ Obwohl diese Fragestellung mit der zweiten eng zusammenhängt¹⁷, werde ich sie hier außen vor lassen und konzentriere mich auf die zweite, nämlich die Frage nach dem Objektbezug von Emotionen oder, den schon genannten Terminus Husserls aufnehmend: nach der Intentionalität von Emotionen. Ich kürze auch hier viele eigentlich notwendige Erläuterungen ab und folge einem Zweig der voraussetzungsreichen angelsächsischen Debatte: Anders als bei James wird in der neueren angelsächsischen Diskussion emotion und ‚feeling‘ unterschieden:¹⁸ ‚Feelings‘ sind Zustände oder Selbstwahrnehmungen des Subjekts, die rein auf der Seite ihres Trägers verbleiben und nicht auf anderes verweisen; es handelt sich um Selbstwahrnehmungen; im Deutschen würde man von ‚Empfindungen‘ sprechen. Robert C. Roberts zählt etwa Wallungen, Kribbeln, das Gefühl der Beengtheit etc. auf.¹⁹ Emotions hingegen sind intentional. Sie sind nicht selbstreferentiell, sondern auf anderes bezogen. Furcht, Wut, Freude, Neid, Liebe sind nach den Vertretern dieser Unterscheidung nicht selbstreferentiell,
Ebd. William James, What is an Emotion? (Anm. 12), 197– 199. Etwa Martha Nussbaum, Upheavals of Thought. The Intelligence of our Emotions, Cambridge 2001, bes. Teil II (297– 454); vgl. Sabine A. Döring, Philosophie der Gefühle (Anm. 12), hier Teil VI (433 ff.), bes. die Einleitung: 433 – 461, sowie Dies., Allgemeine Einleitung: Philosophie der Gefühle heute, in: Philosophie der Gefühle, hg.v. Sabine A. Döring, Frankfurt a.M. 2009, 12– 65, bes. 16 f.43 ff.; Dies., Gründe und Gefühle. Zur Lösung ‚des‘ Problems der Moral, Berlin 2009; Bennett Helm, Emotional Reason. Deliberation, Motivation and the Nature of Value, Cambridge 2001. Vgl. insgesamt den Sammelband von Sabine A. Döring/Verena Mayer (Hgg.), Die Moralität der Gefühle, Berlin 2002. Vgl. zum Zusammenhang: Sabine A. Döring, Allgemeine Einleitung (wie Anm. 16). Ferner: Robert C. Roberts, Emotions. An Essay in Aid of Moral Psychology, Cambridge 2003. Zum Folgenden vgl. etwa nur: Sabine A. Döring, Allgemeine Einleitung (Anm. 16), 13 – 18; Robert C. Roberts, Was eine Emotion ist: eine Skizze, in: Philosophie der Gefühle, hg.v. Sabine A. Döring, Frankfurt a.M. 2009, 169 – 201, hier 172– 178; vgl. Ders., Emotions (Anm. 17), bes. 65 – 69, 318 – 322. Robert C. Roberts, Was eine Emotion ist (Anm. 18), 172.
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sondern intentional. Das bedeutet eben auch, dass eine Emotion definiert und gegen andere Emotionen abgegrenzt ist nicht als Selbstwahrnehmung einer bestimmte Verfasstheit des Selbst, sondern durch ihren intentionalen Gegenstand: Die Furcht ist Furcht, weil sie sich auf Furchtbares bezieht.²⁰
2.3 Emotion als Modus der Wirklichkeitserschließung Die Diskussion darüber, in welchem Sinne Emotionen intentional bzw. gegenstandsbezüglich sind, ist wieder äußerst strittig. Auf der einen Seite stehen Thesen, die die Emotionen als Epiphänomen deuten – gegenstandsbezogen durch die generelle Intentionalität des Körpers, so eben William James. Daneben stehen wieder intern sehr unterschiedliche Vertreter einer kognitivistischen Deutung der Emotionen selbst – so etwa Robert Solomon mit der These, dass Emotionen Urteile seien;²¹ Solomon wollte damit darauf abheben, dass Emotionen „von der Welt handeln“, in diesem Sinne selbst – und nicht durch das Medium einer Wahrnehmung oder eines intellektuellen Urteils oder einer darauf begründenden körperlichen Reaktion – intentional sind. Solomon hat dabei unter Aufnahme der kontinentalen Diskussion, insbesondere der französischen Heideggerrezeption, die Emotionen als Weise des Weltengagements, als eine Art präreflexive Stellungnahme zur Welt interpretiert, hat also seine vormals bezogene Position, dass Emotionen Urteile seien, so modifiziert oder geklärt, dass er die prärationalen, körperlichen Elemente bzw. besser: die Leiblichkeit dieser Urteile hervorhob.²² Im Rahmen dieser kognitivistischen Emotionstheorien wiederum werden im Wesentlichen zwei Fragestellungen diskutiert: Zum einen der Charakter des Gegenstandsbezuges, zum anderen die spezifische Rationalität emotionaler Reaktionen. Für diese zweite Fragerichtung steht etwa Ronald de Sousa;²³ ich be-
Vgl. hier nur: Sabine A. Döring (Hg.), Philosophie der Gefühle (Anm. 12), 29 – 36. Peter Goldie, The Emotions. A Philosophical Exploration, Oxford 2000; Ders., Emotionen und Gefühle, in: Philosophie der Gefühle, hg.v. Sabine A. Döring, Frankfurt a.M. 2009, 369 – 397. Zum Folgenden vgl. Robert C. Solomon, Emotionen, Gedanken und Gefühle: Emotionen als Beteiligung an der Welt, in: Philosophie der Gefühle, hg.v. Sabine A. Döring, Frankfurt a.M. 2009, 148 – 168. Mit diesem Text reagiert Solomon auf die Kritik, die seine früher bezogenene Position erfahren hat, die er etwa vorgetragen hat in: Ders., Emotions and Choice, in: Ders., Not Passion’s Slave: Emotions and Choice, Oxford 2003, 2– 24. Zu den Kritikern vgl. die Anm. im zuerst genannten Text. Robert C. Solomon, Emotionen, Gedanken und Gefühle (Anm. 21), 160 f. Ronald de Souza, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt a.M. 2009 (=The Rationality of Emotions, Cambridge/MA/London 1987); Aaron Ben-Ze’ev, Die Logik der Gefühle. Kritik der emotionalen Intelligenz, Frankfurt a.M. 2009.
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schränke mich aber auf die erste und greife knapp drei Positionen heraus, nämlich die von Robert C. Roberts, diejenige von Anthony Kenny und die Peter Goldies, die für meine Fragestellung besonders interessant sind. Insgesamt geht es ihnen darum, zu verstehen, in welchem Sinne Emotionen einen kognitiven oder propositionalen Gehalt haben.
2.3.1 Robert C. Roberts: Emotionen als Deutungen Robert C. Roberts²⁴ schlägt vor, Emotionen als ‚concern-based construals‘ zu definieren. Dem liegt die These zugrunde, dass emotions in einer bestimmten Weise gegenstandsbezogen sind, nämlich so, dass sie einen zunächst gegebenen Gegenstand ‚als etwas‘ interpretieren. Die Wut impliziert, dass ich ein Verhalten eines anderen als verletzend oder sonstwie als Untat wahrnehme. Das ist eine Art Deutungsvorgang, der das zunächst einfach feststellbare Verhalten des anderen – eine beschreibbare Geste – ‚als etwas‘ versteht, etwa als grobe Beleidigung.²⁵ Das reine Konstatieren, dass ein Verhalten Unrecht sei, gibt allerdings nicht den Gehalt einer Emotion wieder. Der das rein feststellende Urteil (‚dies ist Unrecht‘) überschreitende Gehalt einer Emotion ergibt sich vielmehr erst mit einem concern, das heißt: der in bestimmter Weise gedeutete Sachverhalt muss mich betreffen oder berühren.²⁶ Furcht ist also nicht einfach die Wahrnehmung einer Situation als bedrohlich ‚an sich‘, sondern als Gefahr für das Leben einer Person oder einer Gruppe, an der mir liegt – meine Frau, meine Kinder, vielleicht ich selbst. Den Emotionen liegt somit nicht nur dieses Urteil, sondern concern zugrunde, ein Moment des Selbstinteresses. Emotionen gibt es in diesem Sinne nur für ein Seiendes, dem es, mit Heidegger zu sprechen, „in seinem Sein um sein Sein geht“.
2.3.2 Anthony Kenny: Emotionen als Vorzeichnungen eines Objekts Damit scheint der propositionale Gehalt der Emotion – etwas wird wahrgenommen und als etwas gedeutet – der Emotion als Emotion äußerlich zu sein; der emotionale Gehalt ergibt sich erst mit dem concern. Anthony Kenny²⁷ bestimmt
Zum Folgenden: Robert C. Roberts, Was eine Emotion ist (Anm. 18); Ders., Emotions (Anm. 17). Robert C. Roberts, Emotions (Anm. 17) 174 f.178 – 184. A.a.O. 190 – 192.192– 194. Zum Folgenden Anthony Kenny, Handlung, Emotion und Wille, in: Philosophie der Gefühle, hg.v. Sabine A. Döring, Frankfurt a.M. 2009, 76 – 82.
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nun den Gegenstandsbezug der Emotion näher und greift dazu zum Begriff eines ‚formalen Objekts‘ einer Emotion, ein Begriff, den er ausdrücklich aus entsprechenden scholastischen Begriffsinventar übernimmt und vom materialen Objekt unterscheidet.²⁸ Das formale Objekt ist, mit Husserl zu sprechen,²⁹ der in der jeweiligen Emotion vermeinte intentionale Gegenstand, den die Emotion gleichsam leer vorzeichnet und der von bestimmten Entitäten, die die jeweilige Emotion wecken, wirklich oder scheinbar erfüllt werden kann. „Etwas als etwas wahrzunehmen“ bedeutet dann, beispielsweise den tobenden Elephanten als lebensbedrohlich zu fürchten, das heißt: als materiale Erfüllung des formalen Objektes – das Furchtbare –, das die Furcht vorzeichnet. Emotionen zu haben oder haben zu können setzt somit ein Subjekt voraus, das so verfasst ist, dass ihm die Wirklichkeit auf Bestimmtes hin – Furchterregendes, Liebenswertes, Ärgerliches – erschlossen ist. Die Furcht ist zunächst gleichsam als Anlage da, die Furchtbares zum formalen Objekt hat und somit Wirklichkeit auf Furchtbares hin erschließt; das Auftreten einer gefährlichen Situation ist die materielle Erfüllung eines solchen Vormeinens, das die Furcht aktualisiert. Dabei ist das Furchtbare eine sekundäre Qualität der Situation, so scheint es zuweilen, die sich aufbaut über einem feststellbaren Gefährlichsein einer Situation oder eines Sachverhaltes. Die meisten Teilnehmer an der Diskussion setzen die scheinbare Selbstverständlichkeit voraus, dass zunächst einmal Sachverhalte da sind, die sich als Erfüllung des formalen Objekts der Furcht eignen. Gefühle implizieren Deutungsleistungen an gegebenen Situationen.
2.3.3 Peter Goldie: Emotionen als Modus der Weltwahrnehmung Damit ist deutlich, dass alle diese Positionen wie der frühe Kognitivismus vor der Gefahr stehen (die sie selbst als Missverständnis betrachten würden), das doch eigentlich einheitliche Phänomen einer Emotion als etwas Zusammengesetztes zu deuten, die Emotion als Epiphänomen beispielsweise von kognitiven Urteilen oder Deutungen zu fassen. Selbst wenn man einräumen muss, dass das Gefühl für den Außenbetrachter einen propositionalen Gehalt hat, der nachträglich abgehoben werden kann: Derjenige, der eine Emotion erlebt, erlebt sie nicht als sekundäre Aufstufung auf eine zunächst neutrale Beschreibung von Wirklichkeit. Das Gefühl, so stellt daher nun Peter Goldie³⁰ klar, ist kein Zusatz zu einer zunächst Vgl. auch William Lyons, Emotion, in: Philosophie der Gefühle, hg.v. Sabine A. Döring, Frankfurt a.M. 2009, 83 – 109; Ronald de Souza, Die Rationalität des Gefühls (Anm. 23), 183 – 231. Dazu Sabine A. Döring, Allgemeine Einleitung (Anm. 16), 69 – 75, hier 70, Anm. 4. Vgl. hier nur: Peter Goldie, Emotionen und Gefühle (Anm. 14).
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emotionsfreien Feststellung oder zu einer Überzeugung, sondern eine Weise, eine Situation wahrzunehmen. Goldie bezieht sich deutlicher als seine Diskussionspartner auf die französische Phänomenologie,³¹ deren Vertreter darauf aufmerksam geworden sind, dass das Verhältnis des Subjekts zur Welt nicht phänomengerecht verstanden ist, wenn man seine Weltdeutung als wertende Aufstufung auf eine wertfreie, in Modi der expliziten Wahrnehmung zugänglichen Gegenständlichkeit beschreibt: Das hermeneutische ‚als‘ folgt nicht der Wahrnehmung von Seiendem, sondern geht ihr voraus und erschließt somit Seiendes in anderer Weise als die explizit thematische Wahrnehmung – wie Merleau-Ponty sagt: Es gibt „eine Wahrnehmung des Begehrten durch die Begierde, des Geliebten durch die Liebe, des Gehaßten durch den Haß“³². Goldie trägt in einer seiner Veröffentlichungen ein höchst instruktives Beispiel vor,³³ das auf die Änderung der Weltwahrnehmung abhebt, die eintreten kann, wenn ich einen Gorilla im Käfig betrachte. Ich kann ihn in existentiell desinteressierten Propositionen beschreiben. Ich kann ihn auch als gefährlich beschreiben und das so tun, dass ich dem Gorilla eine Eigenschaft zuweise: ‚der Gorilla ist gefährlich‘; das kann ich aber tun, ohne die Emotion der Furcht zu unterhalten. Dann entdecke ich plötzlich, dass die Tür, die den Käfig vom Zuschauerraum trennt, weit offensteht: Dann tritt mit meiner Panik nicht eine weitere Komponente zur Situation hinzu, sondern die gesamte Feststellung „Dieser Gorilla ist gefährlich“ ändert ihren Charakter: Wir sind dann, sagt Goldie, emotional mit der Welt beschäftigt. Der Gorilla wird zum Gegenstand meiner Furcht. Er ist nicht furchterregend, sondern ich fürchte ihn. Goldie klärt den Unterschied zwischen der leidenschaftslosen Feststellung über die Gefährlichkeit des Gorilla und dem emotionalen ‚Befaßtsein mit der Welt‘ nicht näher auf; ihm kommt es darauf an, dass wir zwar Emotionen reflexiv erfassen können, dass diese Reflexion aber nachträglich ist. In dem Moment, in dem wir uns fürchten, sind wir im Modus der Furcht an der Welt – an etwas Gefährlichem – interessiert. ‚Sich fürchten‘ heißt nicht: Den eigenen Zustand der Panik wahrnehmen, sondern die Wirklichkeit als mich betreffende Gefahr wahrnehmen. Die Emotion ist gleichsam eine Weise des Sehens – so wenig, wie wir beim Sehen das Sehen wahrnehmen, so wenig nehmen wir beim Fürchten vor etwas das Fürchten wahr, sondern den furchtbaren Gegenstand. Unbeschadet dessen ist dieser Gegenstand – im Anwendungsfall der Gorilla – in zwei Weisen zugänglich: zum einen als Gegenstand des Betrachtens; sodann einem Existenzmodus, der geleitet ist von einem expliziten Selbstinteresse: der A.a.O. etwa 380; Peter Goldie, The Emotions (Anm. 20), 189 – 194 u. ö. Maurice Merleau-Ponty, Phänomenologie der Wahrnehmung, aus dem Französischen übers. und eingeführt durch eine Vorrede v. Rudolf Boehm, Berlin/New York 1966, 341. Vgl. a.a.O. 384 f.
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Furcht. Beide Modi sind füreinander geöffnet: Dass ich im ersten Modus den Gorilla nicht nur als biologische Species wahrnehme, sondern ihm die Eigenschaft der Gefährlichkeit zuordne, hält die Möglichkeit offen, dass er mir aktuell zum Gegenstand der Furcht wird; diese Möglichkeit wird aktualisiert, wenn ich dessen gewahr werde, dass der Käfig nicht ordentlich geschlossen ist.
3 Rudolf Otto: Die Selbständigkeit des im religiösen Gefühl Erschlossenen Ich lasse das so stehen, und wende mich Rudolf Otto zu, konzentriere mich dabei ausschließlich auf seine Schrift über Das Heilige. ³⁴ Auf der einen Seite ist es durchaus möglich, diese Schrift als Beitrag zu dieser Diskussion um den Status des Gefühls zu lesen.
3.1 Abgrenzung gegen Schleiermacher Man kann sich das an der Abgrenzung gegen Schleiermachers Rekurs auf das Gefühl als unmittelbares Selbstbewusstsein klarmachen, die Otto vornimmt (DH17, 9 – 12). In dieser Abgrenzung geht Otto davon aus, dass Schleiermacher das Gefühl als Selbstgefühl und – nach Otto – nur in zweiter Linie und auf der Basis einer Art von Schlussverfahren als Bezugnahme auf ein anderes verstehe. Dabei ist es jetzt völlig nebensächlich, ob bzw. dass Schleiermacher hier eindeutig, insbesondere in den ersten Auflagen – verzeichnet wird³⁵; später hat Otto hier Korrekturen vorgenommen. Wichtig ist, dass Otto dagegen geltend macht, dass das religiöse Gefühl ursprünglich nicht selbstreferentiell – unmittelbare Selbstwahrnehmung – sondern intentional ist: Es bezieht sich auf einen Gegenstand. Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit oder, wie Otto zu sagen vorzieht: „Das ‚Kreaturgefühl‘ [als Modus der Selbstwahrnehmung (Anm. des Verf.)] ist […] selber erst subjektives Begleitmoment und Wirkung, ist gleichsam der Schatten eines anderen Gefühls-momentes (nämlich der ‚Scheu‘), welches zweifellos zuerst und Ich beziehe mich im Folgenden auf die in Fußnote 9 genannte Ausgabe von 1929; der Vergleich mit den vorangehenden, insbesondere mit der ersten Auflage hat ergeben, dass in den für meinen Zweck relevanten Passagen keine wesentlichen Änderungen vorgenommen wurden. David A. Smith, Schleiermacher and Otto on Religion: A Reappraisal, in: Religious Studies 44 (2008), 295 – 313; Ders., Otto’s Criticism of Schleiermacher, in: Religious Studies 45 (2009), 187– 204. Dazu: Andrew Dole, On ‚nothing to distinguish‘ Schleiermacher and Otto: Reply to Smith, in: Religious Studies 46 (2010), 449 – 468.
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unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht. Das ist aber eben das numinose Objekt.“ (DH17, 11) Das religiöse Gefühl ist ursprünglich und zuerst intentional – emotion – und erst auf dieser Basis reflexiv.
3.2 Das religiöse Gefühl als konstitutiver und exklusiver Zugang zu seinem intentionalen Korrelat Die rezenten Vertreter einer Theorie des Gefühls gehen davon aus, dass das etwa im Modus der Furcht erfahrene Furchtbare auch anderen Modi der Intentionalität zugänglich ist: Ich kann den Gorilla im von Goldie vorgetragenen Beispiel grundsätzlich auch emotional desinteressiert betrachten, sofern ich die Käfigtür geschlossen weiß. Nach Otto ist nun aber das religiöse Gefühl dadurch ausgezeichnet, dass es einen Gegenstand hat, der nur in diesem Gefühl zugänglich ist. Die Unterscheidung mehrerer Zugangsweisen wie im Falle des Gorilla-Beispiels, das den Gorilla zu betrachten und nach der Angemessenheit der Gefühlsreaktion zu fragen erlaubt, hat hier nicht statt. Das Numinose, um das es in der Religion geht, ist somit nur in einem einzigen, und zwar nicht-kognitiven und in wahrnehmungsbasierte Propositionen nicht überführbaren emotionalen Modus des Weltverhältnisses zugänglich. In diesem Sinne ist das im Gefühl erschlossene Numinose irrational (DH17, 2 f.). Ottos Analyse des religiösen Erlebnisses oder des religiösen Gefühls verfährt nun so, dass er dieser Irrationalität des Numinosen dadurch entspricht, dass er das ineffable Numen im Ausgang von der Erfahrung beschreibt, in der allein es sich zeigt, und das heißt: im Ausgang von den Reaktionen, die es im religiösen Subjekt auslöst: „Es ist so, daß es ein menschliches Gemüt mit der und der Gestimmtheit ergreift und bewegt.“ (DH17, 13) Alle Eigenschaften des Numinosen sind der Reflex seiner Auswirkung am Subjekt. Die Hauptmomente sind der Schrecken; entsprechend ist das Numinose oder Heilige ein tremendum; und die Anziehung: entsprechend ist das Numinose das fascinans. Die Beschreibung leitet aber – das ist die These des Folgenden – ein Programm: Otto will zeigen, dass das religiöse Gefühl etwas nur in ihm Gegebenes, aber ihm gegenüber Unabhängiges erschließt, und die darauf hinweisenden Momente sind das Moment des ‚Mysterium‘ und der Begriff des ‚Numinosum‘.
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3.3 Die Frage nach der ‚Selbständigkeit‘ des intentionalen Korrelats des religiösen Gefühls: Gott als das ‚Transzendente‘ Otto geht in der Explikation des religiösen Gefühls in den ersten Kapiteln von Das Heilige bekanntlich so vor, dass er zunächst das ‚Kreaturgefühl‘ als Reflex des Numinosen im Selbstverhältnis beschreibt – das ist gleichsam das feeling als subjektive Auswirkung der emotion (Kapitel 3). Dann geht er zum Moment des ‚tremendum‘ am Numinosen über (Kapitel 4), beschreibt dann den Gegenbegriff des ‚fascinans‘ (Kapitel 7) und entfaltet schließlich das (titelgebende) Moment des ‚Sanctum‘³⁶. Er weist darauf hin, dass das Verhältnis der beiden im Begriff ‚mysterium tremendum‘ genannten Momente, mysterium und tremendum, synthetisch ist und meint damit, dass sie nicht miteinander gesetzt und nicht auseinander ableitbar sind (DH17, 31). Das Verhältnis dieser Momente bestimmt Otto folgendermaßen: „Der qualitative Gehalt des Numinosen (an den das Mysteriosum die Form gibt) ist einerseits das […] Moment des tremendum […] andererseits aber ist er offenbar zugleich etwas […] Faszinierendes.“ (DH17, 43) Das heißt: das Moment des tremendum und des fascinosum und das Moment des Mysterium verhalten sich wie Gehalt und Form. Beim Furchtbaren und Anziehenden handelt es sich um einen Schrecken und eine Anziehungskraft, die durch die unter dem Begriff des ‚Mysteriums‘ gemeinte ‚Befremdlichkeit‘ näherbestimmt sind, also von etwas ausgehen, das mit nichts anderem identifizierbar ist, das ein ‚Ganz anderes‘ ist (vgl. DH17, 31– 38). Dass diese interne Differenzierung unverzichtbar ist, versteht man, wenn man in Erinnerung ruft, dass Otto in den späteren Kapiteln, in denen er die Entstehung der religiösen Erfahrung beschreibt, darauf hinweist, dass sich das Numinose immer an durchschnittlicher Wirklichkeit – Räumen, Riten oder Personen – manifestiert (DH17, 148). Der Rekurs auf das ‚Mysterium‘ im Sinne des ‚Ganz anderen‘ trägt der Tatsache Rechnung, dass nicht diese durchschnittliche Wirklichkeit Ursprung des Stupor bzw. der Faszination ist, sondern ein im Träger Erfahrenes, von ihm aber Unterschiedenes. Es wird also – wie in den Beschreibungen des intentionalen Gegenstandes in den rezenten Gefühlstheorien – durchaus etwas als etwas – ein Götterbild als Ursprung von Schrecken und Anziehung – erfahren; aber der Schrecken und die Anziehung haften nicht an der Materialität des Götterbildes, sondern manifestieren ein ganz anderes, letztlich, wie Otto feststellt, von aller Welt Unterschiedenes: ein Überweltliches (DH17, 36). Dies bringt der Begriff ‚Mysterium‘ zur Sprache.
Die drei Momente sind jenseits der Kapitelzählung als A, B, C und D einander als Explikation des Numinosen zugeordnet.
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Das Moment des Mysteriosen unterscheidet also eine Erfahrung des tremendum und des fascinans von anderem Schrecklichem und qualifiziert sie als Erfahrung von Transzendenz (DH17, 34 f.36 f.). Welchen Charakter hat nun aber das Moment der Transzendenz? Diese Frage beantwortet Otto in der Explikation des ‚Mysterium‘-Begriffes bzw. des Mysterium-Charakters des im religiösen Gefühl Begegnenden. Otto stellt fest (DH17, 31– 39), dass dieses Moment des Mysteriösen zunächst den Charakter einer rein negativen Bestimmung hat, mit der das im religiösen Gefühl Erfahrene von allem anderen unterschieden wird – das Heilige ist ‚Nichtwelt‘. Er hält aber eben auch fest, dass diese Negation nur Verweischarakter hat auf einen positiven Gehalt, der aber nun ausschließlich im Gefühl erschlossen ist (DH17, 37 f.). Das ihm vorschwebende Bild ist offenbar dies, dass mittels der negativen Begriffe andrängende Missverständnisse und Identifikationen abgewiesen werden, wobei aber diese Abgrenzungen nur dafür da sind, auf den Vollzug des religiösen Gefühls und das nur dort Gegebene zu verweisen; dieses nur dort Gegebene ist, so stellt Otto fest, auch in den Gestalten der Mystik oder im Buddhismus nicht rein negativ bestimmt, sondern hat einen positiven Gehalt, der sich aber eben nur im Vollzug des religiösen Gefühls erschließt, sich aber der begrifflichen Explikation entzieht (DH17, 37 f.). Die Negationen sind gleichsam die Mauer um diese Erschließungssituation, in der und nur in der sich etwas Positives, aber Ineffables manifestiert. Gerade im Vergleich mit den Vertretern der neueren Philosophie der Gefühle wird deutlich, dass es Otto nicht nur darauf ankommt, die religiösen Gefühle als intentional auszuweisen. Dass das Fürchten sich auf etwas Furchtbares bezieht, können auch die Vertreter einer Emotionstheorie feststellen – wobei freilich dieses Furchtbare eine Deutungsleistung des um sich oder um etwas, an dem ihm liegt, besorgten Subjektes darstellt: Es erfasst einen zunächst gegebenen Gegenstand als Erfüllung seines vorentworfenen, formalen Objekts, nimmt im Fürchten etwas als Erfüllung von Furchtbarkeit wahr. Otto freilich geht es um mehr. Er versucht zunächst, wie dargestellt, in der Analyse des religiösen Gefühls die Unterschiedenheit des im Gefühl Erfahrenen von allem anderen auszuweisen – das im religiösen Gefühl Erfahrene ist nicht einfach ‚etwas in der Welt‘. Es geht ihm also darum, zu zeigen, dass das Gefühl nicht einen anderweitig gegebenen Gegenstand deutet, sondern überhaupt erst als Gegenstand erschließt. Nicht unabhängig vom Gefühl, sondern durch es allein ist der Gegenstand. Es geht ihm aber dann weitergehend darum zu zeigen, dass das religiöse Gefühl so verfasst und strukturiert ist, dass das in ihm Erschlossene als gegen das religiöse Gefühl Selbständiges, ihm voraus und als dieses Gefühl übersteigender Grund desselben erfasst ist; das religiöse Gefühl schließt die Einsicht „Gott ist, in
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sich selbst, noch eine Sache für sich“ (DH17, 54) als Moment ein. Was Otto hier als Implikat des religiösen Gefühls reformuliert, ist das Prädikat der Transzendenz, das es erlaubt, den Gegenstand einer Erfahrung nicht einfach als schauervoll oder anziehend, sondern als von der Welt Unterschiedenes und damit als Erfüller des semantischen Gehaltes des Begriffes ‚Gott‘ zu identifizieren.
3.4 Gott als das jeder Bezugnahme Vorausliegende: Aseität Nun ist allerdings das im religiösen Gefühl Gegebene aber immer noch ausschließlich durch Bestimmungen beschrieben, die es als Korrelat des erfahrenden Subjektes beschreiben – unbeschadet dessen, dass es Otto mit seinen Ausführungen zum ‚Mysteriosen‘ gerade darauf ankommt, das Gefühl als Erschließung von ‚ganz anderem‘ auszuweisen. Das tremendum gibt es nicht ohne ein Subjekt, das das formale Objekt des Furchtbaren vorzeichnet und daraufhin in bestimmten Momenten erlebt, und auch Befremdliches gibt es nicht ohne das Befremden. Gerade der phänomenologische Ansatz Ottos umgibt das Numinose mit Bestimmungen, deren Bedingung der Möglichkeit das religiöse Gefühl ist, abgesehen von dem das Numinose bestimmungsfrei ist. In diesem Sinne ist das ins Gefühl verlegte Bewusstsein die Bedingung der Möglichkeit dessen, was sich in ihm bzw.vor ihm zeigt. Unter dem Begriff des Numinosen versucht Otto nun in der Tat die Selbständigkeit des im religiösen Gefühl Erfahrenen gegen das Gefühl selbst, und zwar als im religiösen Gefühl mitgesetztes Moment, herzuleiten: Das religiöse Gefühl gehe in erster Linie „auf ein Objekt außer mir“, so stellt er, wie schon zitiert, fest; und genau diesem Ausweis dient die These, die Selbstreferentialität des frommen Gefühls als Kreaturgefühl sei lediglich dessen sekundärer Reflex. Er fährt dann, hier unter positiver Aufnahme von William James, fort mit der Feststellung, dass das objektive Gegebensein des Numinosen die erste ‚Erfahrungstatsache‘ sei, die sich „auch dem Psychologen als erste bei der Zergliederung des religiösen Erlebnisses aufdrängen muß“ (DH17, 11).
4 Anfragen Die „Objektivität des Gegebenen“ ist für Otto somit ein Implikat des frommen Bewusstseins – und das ist natürlich so, wie Otto es zu verstehen scheint, nämlich als Ausweis der Selbständigkeit und Vorgängigkeit des Erfahrenen vor dem Erfahren, ein Ungedanke. Dass das Gefühl intentional ist, heißt nämlich noch lange nicht, dass das im Gefühl Vermeinte ontisch selbständig gegen das Gefühl ist,
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sondern es heißt, dass es das Korrelat der Intentionalität nur als ein solches Korrelat gibt.³⁷ So, wie Otto das versucht, kann er die Selbständigkeit des im religiösen Gefühl Zugänglichen (und damit die Aseität Gottes) nicht ausweisen. Freilich wird in anderer Weise ein Schuh daraus – dann nämlich, wenn man dem Hinweis der neueren Gefühlstheoretiker folgend, darauf aufmerksam wird, dass das Gefühl in der Tat im Vollzug an seinem Gegenstand (und nicht an sich selbst) interessiert ist. Die Furcht, so hatten die Gefühlstheoretiker gesagt, ist Wahrnehmung von Furchtbarem und nicht des Fürchtens. Ohne die Furcht gibt es das Furchtbare nicht, gewiss – aber der Vollzug der Furcht ist nicht das ständige Bewusstsein seiner konstitutiven Funktion für das Furchtbare als Furchtbares. Die Furcht richtet sich vielmehr auf Furchtbares ohne das beständige begleitende Bewusstsein ihrer konstitutiven Funktion und ohne ein klares Bewusstsein des Deutungscharakters der Furcht. Vielmehr ist die Reflexion auf die Furcht und gar die Reflexion auf ihren Deutungscharakter gerade ein Indiz dafür, dass die Furcht vergangen ist. Nicht nur den so verstandenen Gefühlen, sondern allen intentionalen Akten eignet ein Moment tiefer transzendentaler Naivität; es gibt menschliche Intentionalität nur im Schlummer der Reflexion.³⁸ Dem muss nun aber auch die erwachte Reflexion auf den intentionalen Akt und auf dessen konstitutive Funktion Rechnung tragen, so dass sie eben die konstitutive Funktion intentionaler Akte nur dann phänomengerecht zur Sprache bringt, wenn sie nicht nur, mit Husserl, davon spricht, dass die intentionalen Akte ‚setzen‘; vielmehr ist es sinnvoll, den Sachverhalt mit einer Wendung aus dem Anfang von Hegels Wesenslogik so auszudrücken, dass das Subjekt das Korrelat seiner Akte ‚sich voraus‘ und als Grund seiner selbst setzt. So ist auch das religiöse Gefühl naiv interessiert an dem in ihm Erschlossenen und begreift es als Grund seiner selbst; auch wenn die Reflexion erwacht und der konstitutiven Funktion des Bewusstseins für das in ihm Erschlossene ansichtig wird, wird sie, gerade wenn sie phänomengerecht beschreiben will, diesem Charakter des frommen Bewusstseins Rechnung tragen und kann es nicht einfach als ‚Setzen‘ beschreiben, sondern muss dem frommen Bewusstsein in seiner These, dass es lediglich Reflex des in ihm Gegebenen ist, dadurch gerecht werden,
Vgl. einen ganz ähnlichen Versuch der Herleitung der Aseität Gottes bei Franz Hermann Reinhold von Frank: Notger Slenczka, Der Glaube und sein Grund, Göttingen 1998, 215 f. Edmund Husserl, Cartesianische Meditationen (=Hua I), hg.v. Stephan Strasser, Den Haag 2 1963, 43 – 183, hier besonders die Beschreibung der transzendentalen Naivität und Selbstvergessenheit des vorphänomenologischen Subjekts: § 15 (72– 75).
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dass sie sagt: Das fromme Bewusstsein setzt seinen Gegenstand sich voraus.³⁹ Das schließt aber auch aus, dass das fromme Bewusstsein zum Ausgangspunkt einer Art von Nachweis der Aseität des in ihm Gegebenen wird; das einzige, was man sagen kann, ist, dass es das fromme Bewusstsein ohne das Moment, dass es sich in dem in ihm Gegebenen begründet weiß, nicht gibt.
Dazu Notger Slenczka, Fides creatrix divinitatis. Zu einer These Luthers und zugleich zum Verhältnis von Theologie und Glaube, in: Denkraum Katechismus, hg.v. Johannes von Lüpke/ Edgar Thaidigsmann, Tübingen 2009, 171– 195.
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Rudolf Ottos Aufnahme der Fries’schen Religionsphilosophie 1 Religion – Philosophie – Theologie Es gehört zu den Aufbaumomenten moderner Theologie, dass sie sich, auf welche Weise auch immer, zur Philosophie als einer eigenständigen Disziplin ins Verhältnis setzt; die Rolle der ancilla theologiae ist spätestens seit Kants Streit der Fakultäten kein ernsthaftes Modell mehr für die Theologie. Die Frage ist dann näherhin, wie sich Gemeinsamkeiten von Philosophie und Theologie so schematisieren lassen, dass der jeweilige Unterschied (und er wird vermutlich von jeder Seite aus verschieden bestimmt!) nicht nur bewahrt, sondern auch bestätigt werden kann. Wahrscheinlich stehen für diese Aufgabe nur zwei Wege zur Verfügung. Entweder die Beziehung läuft über den Gottesgedanken als gemeinsames Thema von Philosophie und Theologie, dem dann die Religion als Lebensverhältnis zugeordnet wird, das selbst wiederum von der Philosophie in der Religionsphilosophie bedacht werden kann – oder die Zuordnung erfolgt über den Begriff der Religion, die als Medium angesehen wird, wobei damit zu rechnen ist, dass dieser Bezug seitens der Vernunft anders benannt wird als im Ausgang vom religiös sich aussprechenden Gottesglauben. Jeder dieser Wege besitzt seine eigene Logik und wirft seine besonderen Probleme auf. Der Hintergrund dieser Zuordnungsaufgabe liegt in der Verantwortung für die eine Welt der Menschen in ihren verschiedenen, differenzierten Zugängen. Je stärker diese Modi der Welterfassung auseinander treten, umso anspruchsvoller wird die Herausforderung, sie dennoch beieinander zu halten. Die vermutlich härteste Anforderung einer solchen einheitlichen Weltverantwortung besteht in der Absicht, die moderne Wissenschaft in ihren Aufbauprinzipien und die Religion, wie sie in der Theologie artikuliert und reflektiert wird, als einheitlichen Zusammenhang zu erkennen. Daher kann man sagen, dass genau diejenige Zuordnung von Philosophie und Theologie als aussichtsreich erscheint, die die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Theologie darzutun vermag. Auch Rudolf Otto hat sich der hier knapp umrissenen Zuordnungsaufgabe gestellt.¹ Er hat sich dafür der Philosophie bedient, die Jakob Friedrich Fries (1773 –
Das nach wie vor beste Buch zur Gesamtkonzeption Ottos im theologiegeschichtlichen und
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1843) in der Nachfolge Immanuel Kants entworfen hat – und er hat durch diesen Rückgriff Ergebnisse erzielt, die seine gesamte Theologie ebenso wie die religionsphilosophische Kategorienlehre bestimmen. „Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie“ heißt der Titel des 1909 zuerst und in zweiter unveränderter Auflage 1921 erschienenen Buches – und der Untertitel weist auf die pragmatisch-programmatische Rolle hin, die diesem Werk zugedacht ist: „Zur Einleitung in die Glaubenslehre für Studenten der Theologie“.² Das Buch trägt ein eigentümliches Gepräge. Denn es referiert in seinen beiden ersten Teilen die Fries’sche Philosophie in einiger Breite – freilich ohne Nachweise aus dessen Werken; lediglich Bezugnahmen, vor allem Abgrenzungen zu Kant werden in den Fußnoten geboten. Der dritte Teil enthält nicht etwa eine Vorstellung der Fries’schen Religionsphilosophie, sondern eine Darstellung der Theologie Wilhelm Martin Leberecht de Wettes, des Heidelberger Freundes und Kollegen des Philosophen, in seiner Stellung zu Fries und zu Schleiermacher, dazu ein Kapitel über Friedrich August Gottreu Tholuck und „Friesisches Gut“ in seiner Theologie. Otto unterstreicht insbesondere die Unschlüssigkeiten und „Fehler“ de Wettes, gibt mithin im Medium seines urteilsreichen Referates nur indirekt zu erkennen, wie sich denn die Bezugnahme auf Fries als neue Referenz der Theologie tatsächlich gestalten soll. Diese Verfassung des Buches macht es im hier gegebenen Rahmen unmöglich, die Triftigkeit der Aneignung der Fries’schen Philosophie durch Otto im Einzelnen zu erörtern; ich werde mich stattdessen darauf beschränken, das Grundmotiv dieser Entscheidung herauszuheben. Aus diesem geht dann auch klarer hervor, worin der theologische Reiz dieser Bezugsphilosophie für Otto besteht (weshalb die Debatte mit de Wette hier auch kein eigenes Thema wird).³ Nur anzumerken ist an dieser Stelle, dass es nicht zuletzt diese Machart des Buches ist, die eine ausführlichere Debatte über die Leistungsfähigkeit der Fries’schen Philosophie für die Theologie verhindert hat; der programmatische Anspruch hat sich am ehesten in Ottos ei-
systematischen Zusammenhang ist Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos (TBT 15), Berlin 1969. KFR2 (unveränderter Abdruck der 1. Auflage von 1909). Vgl. Markus Buntfuß, Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette, Berlin/New York 2004; zu de Wette dort insgesamt S. 153 – 218, zum Verhältnis von Fries und de Wette insbesondere S. 185 – 201 und S. 214– 217; zur „Ahndung“ dort S. 189 f. Rudolf Otto bezeichnet de Wette nicht nur als „Eröffner der modernen religionsgeschichtlichen Forschung“, sondern schätzt an ihm insbesondere die methodologische Neuausrichtung der Theologie an der Religionsgeschichte: „Theologie ist für De Wette das, was sie heute allein sein kann: Religionswissenschaft mit dem Zwecke der Religionspflege.“ (Vorrede zu Ernst Friedrich Apelt, Metaphysik, hg.v. Rudolf Otto, Halle 1920, zitiert nach Buntfuß, Erscheinungsform des Christentums, 217).
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genem Werk zur Durchführung gebracht. Darin aber spielt Fries, auch wenn er später eher sporadisch genannt wird, eine bedeutende Rolle. Denn seine Philosophie vermittelt Otto nicht nur das Selbstbewusstsein, eine einheitliche Weltanschauung aufbieten zu können, die auf religiös chiffriertem Grund die Wissenschaften einschließt, sondern vermag auch eine Ontologie des Religiösen für die Theologie selbst anzubieten.
2 Fries und Kant Jakob Friedrich Fries, um nur an einige elementare Daten seiner Biographie zu erinnern, hat als (literarischer) Kant-Schüler bei Fichte in Jena studiert und promoviert, wurde 1805 ordentlicher Professor für Philosophie und Mathematik (später auch Physik) in Heidelberg, dann 1816 nach Jena zurückberufen, wo er 1819 im Zusammenhang des Kotzebue-Mordes zwangsemeritiert wurde; erst ab 1824 durfte er wieder Mathematik und Physik, dann ab 1838 auch wieder Philosophie lehren. Im zweiten Teil seiner Philosophiegeschichte von 1840 stellt er sich selbst als den einzigen sachgerecht urteilenden Kantianer dar⁴, dem gegenüber Reinhold und Jacobi, aber auch alle unsere Klassiker von Fichte über Schelling bis Hegel als „neue große Rückschritte hinter Kant“ beurteilt und entsprechend abgefertigt werden⁵ – was sich insbesondere daran erweisen soll, dass diese allesamt den Anschluss zur mathematischen Naturwissenschaft verspielt und verloren hätten. Nun mag die Absonderlichkeit dieses Urteils allein noch nichts gegen die Schlüssigkeit des Arguments besagen, auf das sich Fries, Kant seinem Anspruch zufolge fortsetzend und korrigierend, beruft. In aller Kürze kann man sich die Sachlage folgendermaßen vorstellen: Schon immer war es die Zweistämmigkeit der Vernunft im Denken Kants, die die größten Herausforderungen mit sich brachte, nicht zuletzt für den Königsberger Philosophen selbst. Darum wurde bekanntlich Kants dritte Kritik, die Kritik der Urteilskraft, weithin zum Bezugspunkt der nachkantischen Debatten. Die große Leistung der Kritik der Urteilskraft bestand, im Blick auf das Zweistämmigkeitsproblem, darin, eine zwanglose Konsonanz der empirischen Unterschiede in Natur und Kunst zu schematisieren, die die Vernunft ihres prinzipiellen Vermögens auch über ihre selbst durchzuführende Gesetzmäßigkeit hinaus ver-
Jakob Friedrich Fries, Die Geschichte der Philosophie, Band 2 (1840), in: Ders., Sämtliche Schriften Bd. 19, hg.v. Gert König, Aalen 1969, 590 – 632. Der Abschnitt kann zugleich als eine Selbstdarstellung seiner Philosophie durch Fries angesehen werden. A.a.O. 633 – 715.
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sichert. Damit konnte der Zusammenhang zwischen dem Vernunftvermögen und der Wirklichkeit überhaupt bewährt werden. Die Fries’sche Philosophie zeichnet sich nun – und zwar mit überraschender Konstanz seit ihrer ersten Äußerung im Jahre 1798⁶ – dadurch aus, dass sie diesen Schritt in der Problemstellung nicht mitging, sondern den Anspruch erhob, einen stärker elementaren Zugang zu suchen. Dieser macht sich nicht an der SynthesisFrage im Blick auf die Zweistämmigkeit der Vernunft fest, sondern bewegt sich im Verhältnis von Ding an sich und Erscheinung. Der Grundgedanke bei Fries ist der folgende⁷: An der vernunftkritischen Haltung der Philosophie gibt es keinen Zweifel – und es führt kein Weg hinter sie zurück. Das heißt, alle unsere Anschauungsformen, unsere Verstandesbegriffe, ja auch unsere Vernunftideen sind dadurch gekennzeichnet, dass es sich rein um unsere Vermögen handelt, die von dem Ding an sich als Inbegriff der Wirklichkeit, auf die sie sich beziehen, unterschieden sind. Weder können sie von daher irgendwie hergeleitet werden noch können sie das Verhältnis zur Wirklichkeit, die ihr gegenüber steht, umfassen. Dabei kommt der Unterschied zwischen erscheinungsbezogenen Verstandesoperationen und ideenproduzierenden Vernunftvollzügen durchaus zur Geltung; dem wissenschaftlich-theoretischen Verfahren des Verstandes steht die praktischethische Dimension der Vernunft gegenüber; die endlichkeitsbezogenen Konstruktionen des Verstandes unterscheiden sich von den unendlichkeitsträchtigen Entwürfen der Vernunft. Nun gibt es aber ein Moment, das in dieser Verstandes- bzw.Vernunftkritik der Philosophie nicht nur nicht ausgesprochen, sondern ihr geradezu zugrundeliegend ist, nämlich die Tatsache, dass es sich bei all diesen Vermögen und Vollzügen um Vorgänge des Menschen bzw. im Menschen handelt – und auf dieses Moment richtet Fries sein besonderes Augenmerk. Es handelt sich, seiner Auffassung nach, um ein spezifisch anthropologisches Phänomen, sozusagen eine empirische Synthesis avant la lettre, die nun den Boden dafür darstellt, den Zusammenhang der humanen Vermögen kritisch-differenzierend zu erörtern.⁸ Schlicht gesagt: Hinter die anthropologische Wirklichkeit, in der wir leben, kommen wir nicht Jakob Friedrich Fries, Über das Verhältnis der empirischen Psychologie zur Metaphysik (1798), in: Ders., Sämtliche Schriften Bd. 2, hg.v. Gert König/Lutz Geldsetzer, Aalen 1982, 251– 297. Außer der in Anm. 4 angegebenen Selbstdarstellung kommt als sehr gut nachvollziehbare Rekonstruktion in Betracht: Leonard Nelson, Fortschritte und Rückschritte der Philosophie. Von Hume und Kant bis Hegel und Fries, in: Ders., Gesammelte Schriften Bd. 7, hg.v. Julius Kraft/Paul Bernays, Hamburg 1977, 553 – 726. Der Gedankengang ist in extenso durchgeführt in Jakob Friedrich Fries, Handbuch der psychischen Anthropologie oder der Lehre von der Natur des menschlichen Geistes Bd. 1(21837) und Bd. 2 (21839), in: Ders., Sämtliche Schriften Bd. 1 und 2, hg.v. Gert König/Lutz Geldsetzer, Aalen 1982, I-XII, 1– 320 und I-XX,1– 248.
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zurück. Und die kritischen Aufstellungen, die wir vornehmen, beziehen sich auf die Geltungsmomente unseres Denkens und Erkennens, unseres Sollens und Handelns, sie sind aber nicht in der Lage, auch nur im Mindesten die Wirklichkeit heraufzuführen, von der sie ausgehen. Die quaestio facti, so kann man das auch ausdrücken, geht der quaestio iuris voraus, so wenig sich diese, also die Geltungsfrage, aus dem empirischen Bestand ableiten lässt. Was ich jetzt gerade umrissen habe, ist die viel berufene, aber genauer Aufklärung bedürftige These von der anthropologischen Grundlegung der Philosophie, die man auch, sofern man auf den innergeistigen Ort der Analyse schaut, als psychische Grundlegung auffassen kann (woran sich zeigt, dass der mir sonst sehr einleuchtende Psychologismus-Vorwurf mindestens differenzierter zu bestimmen ist).⁹ Von besonderem Interesse für unsere Fragen ist nun aber der anschließende Gedanke, der sich auf diesem Boden der anthropologisch-empirischen Synthese auftut. Offensichtlich gibt es für uns keine andere Ausgangswirklichkeit als dieses anthropologische Gegebensein unserer selbst. Das heißt aber, die anthropologische Einheit der kritisch zu untersuchenden Vernunftvermögen ist selbst der Grund jeglicher möglichen Wirklichkeitsannahme. Oder anders gesagt: Der theoretische und der praktische Weltumgang erschöpfen das Potential noch nicht, das auf diesem anthropologischen Boden präsent ist. Wenn es denn – und nichts anderes ist de facto immer vorausgesetzt in Wissenschaft und Sittlichkeit – in beiden um einen Wirklichkeitsbezug geht, zu dem es keine Alternative gibt, dann kann das Vertrauen auf diese Wirklichkeit nicht selbst das Produkt der welthaften bzw. weltbezogenen Tätigkeiten des Verstandes bzw. der Vernunft sein. An dieser Stelle kommt nun für Fries die „Ahndung“ ins Spiel, wie sie sich im Gefühl vergegenwärtigt und in Ästhetik und Religion anschaulich wird.¹⁰ Diese „Ahndung“ ist demnach gewissermaßen die Spiegelung der subjektiv-anthropologischen Synthesis ins Objektiv-Gegenständliche – allerdings mit der genauen Restriktion,
Eine ausführliche und aufschlussreiche Debatte zu diesem Vorwurf bietet die Einleitung zur Gesamtausgabe durch die beiden Herausgeber, Gert König und Lutz Geldsetzer, in: Jakob Friedrich Fries, Sämtliche Schriften, Bd. 1, hg.v. Gert König/Lutz Geldsetzer, Aalen 1982, 59*-92*. „Wir wissen um das Endliche in der Natur, wir glauben an das Ewige. Aber diese Erkenntniss des Endlichen und Ewigen muß für unsere Vernunft zuletzt doch nur eine und dieselbe seyn, die Wahrheit ist nur eine, es muß die gleiche Realität des Ewigen, auch im Endlichen wiederhohlt werden. […] Die Erkenntniss durch reines Gefühl nenne ich Ahndung des Ewigen im Endlichen. […] Eine positive Vorstellung des Ewigen haben wir unmittelbar gar nicht, aber durch die Vereinigung des Wissens und Glaubens in demselben Bewustsein entsteht die Überzeugung, dass das Endliche nur eine Erscheinung des Ewigen sey, und daraus ein Gefühl der Anerkennung des Ewigen im Endlichen, welches wir Ahndung nennen.“ Jakob Friedrich Fries, Wissen, Glauben und Ahndung (1805), in: Ders., Sämtliche Schriften Bd. 3, hg.v. Gert König/Lutz Geldsetzer, Aalen 1968, 601.604.
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dass es von dieser für die Wirklichkeit des Wirklichen einstehenden Bezugsdimension keine inhaltliche Erkenntnis geben kann. Es bleibt, so gesehen, Ding an sich; aber eines, das über seine Präsenz auf anthropologischem Boden unmittelbar da und unbezweifelbar wirklich ist. So wie die anthropologische Ausgangsbasis der kritischen Analyse nicht wegdenkbar ist, so wenig ist es auch der Horizont der umfassenden Wirklichkeit, innerhalb derer und mit Bezug auf die unsere gesamte theoretisch-praktische Tätigkeit sich abspielt. Ästhetik und Religion treten dann bei Fries in die Funktion des Systemabschlusses ein. Sie gehören gewissermaßen zur Vollständigkeit des kritischen Denkens nach seinem Verständnis, besitzen aber für die Wissenschaft und ihre Realitätsunterstellung nur abstützende Funktion. Zu diesem Zwecke konstruiert Fries in der Religionsphilosophie eine „natürliche Religion“, der eine ebenfalls stark konstruierte Religionsgeschichte zugeordnet wird.¹¹ Auf diese Konzeption gründet sich wohl Ottos Urteil, dass man aus der näheren Durchführung seiner Religionsphilosophie von Fries nichts lernen könne. Man kann freilich schon ahnen, dass an dieser Stelle das ergänzende Interesse des Theologen Otto einsetzt.
3 Otto und Fries Es muss in Ottos Göttinger Jahren gewesen sein, dass Fries in sein Blickfeld trat, und ganz offenkundig ist der Göttinger Philosoph Leonard Nelson, der sich intensiv um eine Aufnahme und Fortführung der Fries’schen Philosophie bemühte und für einen „Neofriesianismus“ sorgte, dafür ein Kristallisationskern gewesen. Nun lässt sich aber gerade im Vergleich mit Nelson die Eigentümlichkeit von Ottos Aneignung der Fries’schen Philosophie besonders deutlich dartun. Der Philosophie in der Konzeption von Fries eignet nämlich eine unvermeidliche Zweideutigkeit, die in seinem Grundgedanken selbst steckt und die sich in einer gegenläufigen Rezeption auswirkt. Auf der einen Seite kommt die Unabhängigkeit der Wirklichkeit (auf der Systemstelle des „Ding an sich“) im Verhältnis zu den Kategorien und Anschauungsformen des menschlichen Gemüts (wie Fries sich bisweilen ausdrückt) zur Geltung. Fries besteht bekanntlich – ganz ontologiekritisch – auf der bloßen Subjektivität des Verstandes gegenüber der Wirklichkeit, wie sie in der Erscheinung zeigt. Das ist die positivistische Seite in Fries, an die sich Nelson angeschlossen hat.¹² Über sein Wirken in der Mathematik Vgl. zu einer kritischen Darstellung der Religionsphilosophie aus katholischer Perspektive: Josef Hasenfuß, Die Religionsphilosophie bei Jakob Friedrich Fries (Abhandlungen zu Philosophie und Psychologie der Religion 33/34), Würzburg 1935. Vgl. Nelson, Fortschritte und Rückschritte, 687 f.
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hat Fries diesbezüglich auch Nachhall im Neopositivismus gefunden, etwa bei Hans Reichenbach und Karl Popper.¹³ Auf der anderen Seite steht doch aber die rein jenseitige, mit den Verstandeskategorien unvermittelte Wirklichkeit in einem Lebenszusammenhang, der angefüllt ist mit einer ganz vorbegrifflichen Wirklichkeitsvermutung, die man als solche auch akzentuieren kann. Die Frage ist allerdings, ob man sie akzentuieren muss – und genau in der Unbeantwortbarkeit dieser Frage steckt die notierte Ambivalenz bei Fries. Im Nachhall des idealistischen Systemdenkens wird man auf der Vollständigkeit der Verstandes- bzw. Vernunftvermögen bestehen und Ästhetik und Religion als Darstellungsweisen der „Ahndung“ auffassen. Unter strengeren und bescheideneren Rahmenbedingungen wird man auf solche Stützungen der Weltanschauung verzichten und darauf vertrauen, dass es eben doch die Wissenschaft ist, die die – an sich unerkennbare – Wirklichkeit erschließt. Ottos – vielleicht hypertrophe – Annahme lautet nun freilich, dass es eben dieser vermöge der Religion stattfindende ontologische Ausgriff in die reine, als solche unerkennbare Wirklichkeit ist, die die Religion zugleich ihres untrennbaren Zusammenhanges mit der Wissenschaft versichert. Diese Figur, die Otto benutzt, sei nun näher erläutert – mit der Absicht, auf die Sonderstellung der Religion zuzusteuern. Die „Ahndung“ stellt die Vergewisserung der Realitätsannahme dar. Von der Philosophie strukturell konstruiert, erfährt sie in der Religion ihre aktuelle Erfüllung. Sie ist, metaphorisch gesprochen, der Einschlagtrichter der tatsächlichen Wirklichkeit in die Bedingungen der begrenzten Welt der Erscheinungen, die darum mehr und anderes sind als bloßer Schein. Es handelt sich, wie Otto betont, um ein „Erleben von Wahrheit … ohne Begriff“.¹⁴ Dabei liegen drei Momente ineinander verschlungen vor, die dann auch kritisch zu sondern sind. Das erste ist der Aspekt des Erlebens, des Ereignisses. Es macht ja ein Spezifikum der Religion aus, dass sie sich nicht mit der Aufstellung von „kalten“ Begriffen begnügt, sondern „lebendige“ Wirklichkeit ist. Das zweite Moment ist freilich, dass dieses Ereignis selbst Strukturen aufweist, sofern sich ja – wie es in Anlehnung an Fries
Zu Reichenbach: Nikolay Milkov, Die Berliner Gruppe und der Wiener Kreis. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, http://kw.uni-paderborn.de/fileadmin/kw/institute-einrichtungen/humanwissenschaften/ philosophie/personal/milkov/7_Milkov__Nikolay.pdf, eingesehen am 12.09. 2012. Zu Popper vgl. den Autor selbst: Karl Raimund Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie. Aufgrund von Manuskripten aus den Jahren 1930 – 1933 hg.v. Troels Eggers Hansen, Tübingen 32010, unter besonderer Berücksichtigung von Kapitel V „Kant und Fries“, 97– 166. KFR2, 155. Ob und wie so etwas zu denken ist, wird von Otto nicht erörtert.
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heißen kann – das „Ewige im Endlichen“ darstellt¹⁵, wodurch es Anteil gewinnt an den aussagbaren Gestalten der empirischen Welt. Drittens schließlich kann es auch dazu kommen, dass diese an sich verweiskräftigen Strukturen nur noch als interne Selbstbezüge gesehen werden; damit ist dann eine Phase der Rationalisierung der Religion erreicht, die ihr das lebendige Bewegtsein nimmt. Allein eine Rückbesinnung auf das religiöse Erleben vermag in solchen Fällen eine Revitalisierung der Religion zu bewirken.¹⁶ Dieser eine Angelpunkt der Wirklichkeit, wie er sich in der Ahndung dem Bewusstsein erschließt, stellt einerseits – als „Wahrheit ohne Begriff“ – die Vergewisserung der gesamten Realität dar, eben auch derjenigen, auf die die Wissenschaft überhaupt rekurriert.¹⁷ Unter diesem Aspekt verbindet sich mit der Gewahrung dieser Wirklichkeit auch der Aufbau einer Metaphysik, die die realen Gehalte von unbedingter Geltung zusammenstellt.¹⁸ Doch das, wie gesagt, ist noch Aufgabe der Philosophie. Blickt man nun auf die Formen, in denen sich diese Ahndung erlebnismäßig ausspricht, dann kommt man zur Religion im engeren Sinne. Für die Beschreibung dieses Vorgangs als spezifisch religiös lassen sich etwa vier Aspekte unterscheiden, die dann auch mit religiöser Sprache arbeiten. Der erste besagt, dass die unbedingte Wirklichkeit, religiös gesprochen: Gott an sich selbst, unerkennbar ist.¹⁹ Darum ist dann auch zweitens im Begriff der Offenbarung zu unterscheiden zwischen der äußeren Offenbarung einerseits, die sich in Sprache, Gesten, Riten etc. zur Erscheinung bringt, und der inneren Offenbarung, die sozusagen den unbedingten Realitätskontakt mit der unbedingten Wirklichkeit herstellt²⁰ und damit die Momente der äußeren Offenbarung zur Anerkennung bringt.²¹ Die Reflexion auf die Strukturen der äußeren Offenbarung (in der Kraft der inneren) zeigt dann, drittens, bestimmte Muster auf, unter denen sich jene überbegriffliche Wirklichkeit dem Menschen vorstellig macht. Die kritische Ermittlung dieser Strukturen ist die Aufgabe der Religionsphilosophie, die insofern als Kategorienlehre historischer Religionen auftritt. Schließlich kommt, viertens, eben der Aspekt der historischen Wahrnehmung positiver Religionen selbst in Betracht, die sich nicht aus den philosophisch gewonnenen Kategorien ableiten lassen, wohl aber in ihrer ganzen
A.a.O. 199. Vgl. DH, 1– 4. Vgl. KFR2, 75. Vgl. a.a.O. 73.195. Vgl. a.a.O. 82. Vgl. a.a.O. 172 f. Diesem Thema widmete sich bereits Ottos Dissertation über den Heiligen Geist bei Luther: Rudolf Otto, Geist und Wort nach Luther, Göttingen 1898.
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historischen Kontingenz diesen müssen irgendwie zuordnen lassen. Das ist die Aufgabe der Religionswissenschaft, die insofern auf derselben methodischen Stufe steht wie die Naturwissenschaft. An dieser Stelle wiederholt sich das Verhältnis von quastio facti und quaestio iuris, das wir oben im Blick hatten, als es darum ging, den empirisch-anthropologischen Boden der Philosophie den transzendentalen Strukturen zuzuordnen, die das Begreifen der menschlichen Wirklichkeit erlauben. Als Zusatz und Anmerkung zu diesen hier unterschiedenen vier Momenten der authentischen Selbstrepräsentation der Religion muss freilich unterstrichen werden, dass die stets mitlaufende Aktualitätsdimension des Erlebens auf keiner Stufe ausgeblendet werden darf; auch die grundsätzlich konstatierende Religionswissenschaft verkommt ohne diese Erinnerung zu einer rein abständigen Historiographie. Religionswissenschaft im Sinne Ottos kommt ohne einen Sinn für Religion nicht aus. Haben wir damit gesehen, wie sich aus dem Vorgang der Ahndung die Vergegenwärtigung der Religion als Grundlage aller, auch der wissenschaftlich erfassten, Realität herausspinnt, so bildet diese Einsicht den Übergang in eine letzte Beobachtung, die die besondere Bedeutung der Fries’schen Philosophie für das weitere Werk Ottos, namentlich das „Heilige“, zu erkennen gibt. Bekanntlich (und inzwischen oft angeführt auf unserem Kongress) differenziert Otto den Begriff des Heiligen in drei Aspekte unterschiedlicher Qualität: das Numinose, das Tremendum und das Fascinosum.²² Die Erinnerung an Fries lässt nun sehr leicht einsehen, dass es sich dabei um nichts anderes handelt als eine – unter ein bestimmtes Vorzeichen gesetzte – Anwendung der Fries’schen Kategorien. Das Vorzeichen selbst ist, dass es bei der Religion nicht um ein bloßes Aufscheinen eines noch Unerkannten geht, sondern um die Dramatik des Realitätsgewinns überhaupt. Diese Dramatik wohnt der Religion potentiell immer inne, sofern es sich um die Offenbarung eines schlechthin Transzendenten handelt; dass diese Offenbarung aber auch faktisch so überaus dramatisch ausfällt, hat mit der zeitgenössischen Selbstauffassung der Epoche Ottos zu tun, der die Realität der bürgerlichen Welt abhanden zu kommen scheint. Bildet also der dramatische Aspekt des Erlebens das Vorzeichen, sozusagen den Grundakkord, dann erweist sich das Numinose der Sache nach als die Vergewisserung der Realität überhaupt im Modus des Erlebens. Nicht ohne Anhalt identifiziert Otto den Fries’schen Begriff der Ahndung mit dem, was er „Divination“ nennt.²³ Macht man sich nun klar, dass Tremendum und Fascinosum nichts anderes sind als die ins Religionsphilosophische umgesprochene ästhetische Gegensatzbildung von Unangenehmem
Vgl. vor allem DH, 5 – 7.13 ff.42 ff. A.a.O. 173 ff.
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und Angenehmem, dann wird sofort verständlich, warum das Numinose grundbegrifflich gar nicht anders erscheinen kann. Es hängt eben nicht vom Numinosen selbst ab (dessen Wesen ist ja als unerkennbar bezeichnet), sondern von der Auffassungsweise des menschlichen Geistes in seiner internen Gegensatzspannung. Man darf daher urteilen, dass der grundbegriffliche Aufbau des „Heiligen“ in der Tat eine Anwendung der Fries’schen Philosophie darstellt. Darum sei der Gesamtanlage dieser Konzeption eine abschließende Reflexion gewidmet.
4 Transzendenz oder Offenbarung Die erste Erwägung gilt dem Fries’schen Programm selbst. Seinen Anschluss an Kant kann man durchaus nachvollziehen; die Absicht, das kritizistische Anliegen nicht spekulativ zu verraten,vermag als ernsthaftes Motiv Anerkennung zu finden. Doch ist es die Frage, ob die Entfaltung wirklich stichhält. Die positivistische FriesRezeption hat sich der System-Vollständigkeit entschlagen und die anthropologische, quasi-empirische Basis von transzendentalen Kategorien affirmiert, um die Transzendenz der Wirklichkeit selbst, ohne alle Metaphysik, außer Betracht zu lassen. Das bedeutet aber, dass die Wirklichkeit selbst lediglich über die Vollzüge theoretischer Erkenntnis und praktischer Beherrschung sich vermittelt; als an sich vernunftlose ist sie dem ausgesetzt, was ihr angetan wird. Darum wird man eine Schlüssigkeit des Fries’schen Konzeptes ohne seine Theorie der Ahndung doch wohl nicht behaupten können – das Grundmerkmal einer Realitätsvergewisserung aus Momenten der Vernunft selbst kann nicht beansprucht werden. Doch auch dann, wenn man die Ahndungslehre hinzunimmt, kommt das Konzept nicht zu seinem Ziel. Denn in der Koppelung an die Erfahrungsmomente des Erlebens ist die Brücke zur Realitätsvergewisserung als Grund der Wissenschaft zu schmal und zu schwankend. Nicht ohne Grund hat Otto darauf verwiesen, dass sich Fries eher mit dem Nachweis der kategorialen Zugehörigkeit von Ästhetik und Religion begnügt hat, als sich auf die Realität von Kunst und Religion einzulassen.²⁴ So wird man seinem Konzept auch in dem Falle einer nach eigenem Verständnis systematischen Vollständigkeit eine wirkliche Überzeugungskraft kaum zusprechen können. Stattdessen droht, wenn auch auf kritizistischer Basis, ein Dogmatismus der Unerkennbarkeit der Wirklichkeit an sich, anders gesagt: des Absoluten. Demgegenüber hält die von Fries so apodiktisch als unzureichend charakterisierte andere Linie des Anschlusses an Kant die Möglichkeit jedenfalls offen, dass auch
Vgl. KFR2, 122– 125.
Rudolf Ottos Aufnahme der Fries’schen Religionsphilosophie
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das Andere der Vernunft nicht unvernünftig sein möchte, so wenig es unter die Botmäßigkeit der humanen Gesetzgebung des Geistes geraten darf. Ottos Buch über die Fries’sche Philosophie soll der „Einleitung in die Glaubenslehre für Studenten der Theologie“ dienen. Auch diesen Anspruch kann man kritisch befragen. Denn die Strukturübernahme der Fries’schen Philosophie bedingt, bis in Ottos Hauptwerk hinein, dass die Offenbarung als durch subjektive Kategorien induziert vorzustellen ist – und zwar nicht nur, was die in Propositionen und Handlungsvollzügen sich darstellende „äußere Offenbarung“ angeht, sondern auch, was die erlebnismäßige „innere Offenbarung“ betrifft. Denn eben diese Unterscheidung verdankt sich der scheinbar kritizistischen, de facto dogmatistischen Grenzziehung, die die Unerkennbarkeit der Transzendenz behauptet. Allein um die desaströsen Konsequenzen dieser These zu umgehen, findet sich die Unterscheidung von (äußerem) Inhalt und (innerem) Akt eingeführt; sie ergibt sich nicht aus der Religion selbst. Insofern muss man fragen, ob Ottos theologische, auf Fries aufbauende Kategorienlehre das religiöse Bewusstsein zufriedenstellt. Wo diese Befriedigung aber nicht erreicht wird, hilft auch die apologetische Abzweckung auf eine religiös konstruierte Einheit der Wirklichkeit nicht weiter, wie auch im Blick auf die Pluralität der Religionen eher ein religionswissenschaftlicher Imperialismus der substantiellen Gleichförmigkeit droht, vor dem die realen Differenzen der Religionen nur als subjektive Brechungen in Betracht kommen können. Diese Beurteilung lässt nun aber zum Schluss noch einmal nach einer Alternative zu Otto fragen, die dann auf einen anderen Begriff der Offenbarung zurückgreifen muss.²⁵ Dessen Grundannahme besteht darin, mit einer Rationalität der Selbstoffenbarung Gottes zu rechnen. Wenn man sich fragt, wie dieser Gedanke auszuformulieren sei, dann kommt als wichtigste negative Bestimmung in Betracht, dass die Gehalte dieser Selbstoffenbarung nicht etwa auf einer supranaturalen Mitteilung beruhen, sondern – positiv – in nichts anderem bestehen als in religiös-transzendentalen Kategorien, in deren Verwendung im religiösen Feld sich in der Tat Gott selbst vorstellt. Um diese – der neukantianischen Philosophie nahestehende – Figur nur in zwei Aspekten näher zu konkretisieren, muss man sagen: Erstens, auf eine kategorienübergreifende Reflexion auf eine transzendente Wirklichkeit wird konsequent verzichtet; die gibt es nicht: Gott lässt sich weder in die Wirklichkeit überhaupt einzeichnen noch mit ihr jenseits seiner Offenbarung verbinden. Zweitens, nur im aktualen Gebrauch dieser Kategorien kommt es zur Evidenz der Überzeugung; das heißt, dass die Individualität der gemachten Erfahrung das Kriterium ihrer Triftigkeit wird.
Zu einer ähnlichen systematischen Aufteilung gelangt, unter etwas anderen Voraussetzungen, auch Schütte, Theologie Rudolf Ottos (Anm. 1), 112– 116.
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Aus diesen zwei Charakteristiken ergeben sich nun aber zwei Konsequenzen, die ebenfalls eine Alternative zu Otto aufmachen. Einmal nämlich, dass auf die Konstruktion einer allgemeinen Wirklichkeit verzichtet werden muss, die Wissenschaft und Religion gleichermaßen umfasst. Die Differenzierung der Gott, Selbst und Welt erschließenden Kategorien ist so weit vorangeschritten, dass das Modell einer – wie immer gefassten – Einheitsweltanschauung unmöglich wird. Statt dessen muss es darum gehen, die bis in die Kategorien hinein differenten Wirklichkeitszugänge in einem kommunikativen Zusammenhang zu halten – was nur gelingen kann, wenn eine grundsätzliche Offenheit der Wirklichkeit für die Vernunft nicht ausgeschlossen werden muss. Sodann, auch für die Religionen gibt es keine gemeinsame, irgendwie ontologisch auszuzeichnende Basis, etwa unter dem Namen der Transzendenz. Sie wäre nicht nur selbst wieder partikular konstruiert, sie könnte auch dem kategorialen Selbstsein der Religionen nicht genügen. Auch hier bleibt es bei der Nötigung zu einer Verantwortung der Differenzen im Rahmen einer gemeinsamen Welt. Worauf man höchstens setzen darf, ist die Hoffnung darauf, dass es den Religionen stets um eine Zuordnung der Individuen zum Allgemeinen zu tun ist – eine Figur, die auf minimale Weise so etwas wie die Vernunft der Religion auszeichnet. Nur in diesem Wechselspiel von Vernunftzugänglichkeit der Wirklichkeit und potentieller Vernünftigkeit der Religionen lässt sich m. E. noch dartun, was Otto mit seiner Aneignung der Fries’schen Philosophie beabsichtigte.
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„Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil“: Über die Goethe-Rezeption Rudolf Ottos¹ 1 Goethe-Rezeption als Front im Weltanschauungskampf Der Titel dieses Kapitels ist dem Epigramm entnommen, das am Anfang von Das Heilige steht. Dieses Faust’sche Epigramm weist auf einen beträchtlichen Einfluss hin, den Goethe auf Otto ausübte. Anzeichen von Ottos langfristiger Beschäftigung mit Goethe reichen von einem frühen Vortrag über Goethe und Darwin, über den Titel von Ottos West-östliche Mystik, bis hin zur „Schlußbemerkung über ‚Gefühl‘“ am Ende der Aufsatzsammlung Das Gefühl des Überweltlichen,² in der Otto verdeutlicht, dass dieses Wort hier in keinem anderen als im Goethe’schen Sinne genommen werden soll. In Das Heilige wird Goethe, als „Empfänger und Träger der Eindrücke der Überweltlichen“³, eine zentrale Stelle innerhalb Ottos Darstellung des Vermögens der Divination zugeteilt. Im Lichte dieser Tatsachen, erscheint das Fehlen einer Diskussion der Goethe-Rezeption Ottos in der Literatur als ein Mangel, zu dessen Berichtigung ich hiermit einen Beitrag liefern möchte. Zu diesem Zweck werde ich zuerst versuchen, die theoretischen und polemischen Interessen, die Ottos Goethe-Rezeption geformt haben, festzustellen. Das tue ich durch Betrachtung der Weise, in der Goethe in Ottos frühen Schriften auftaucht, und zugleich durch Bestimmung des kulturellen Kontextes, in dem diese Schriften geschrieben wurden. Im Laufe des 19. Jahrhunderts fanden riesige Fortschritte der empirischen Forschung in den Naturwissenschaften, sowie auch in den Geschichtswissenschaften statt. Beschleunigende Veränderungen im Wirtschafts- und Gesellschaftsleben waren mit einigen dieser wissenschaftlichen Fortschritte eng verbunden. Zusammengenommen stellten diese veränderten Bedingungen der modernen religiösen Lage für diejenigen deutschen protestantischen Theologen, die sie tief aufgenommen haben, große Herausforderungen dar, wenn sie noch normative Aussagen über ihren christlichen Glauben machen wollten. Diese Ich möchte an dieser Stelle folgenden Personen für hilfreiche Hinweise und Verbesserungsvorschläge des Textes herzlich danken: Jörg Lauster, Christoph Terno und Theodor Langenbruch. Rudolf Otto, Schlußbemerkung über „Gefühl“, in: GÜ, 327– 333. DH, 178 f.
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Herausforderungen können kurz mit drei Stichwörtern zusammengefasst werden: Naturalismus, Historismus, Entkirchlichung. Unter den protestantischen Denkern, die um die Jahrhundertwende sich darum bemühten, eine theologische Vorgehensweise zu schaffen, die diesen Herausforderungen effektiv begegnen könnte, befand sich auch Otto. Ottos Buch Naturalistische und religiöse Weltansicht wurde 1904 in die von Mohr/Siebeck veröffentlichte Bücherreihe Lebensfragen aufgenommen. Andere Autoren, die Bücher zu dieser Reihe beitrugen, waren Otto Baumgarten, William Wrede und Wilhelm Bousset. Bücher dieser Reihe sollten nach einer Verlagsankündigung „die Ergebnisse der religions- und sittengeschichtlichen Forschung, die viel weniger als die Resultate der Naturwissenschaft bekannt geworden sind, weiteren Kreisen vermitteln und zwar in dem Sinne, daß die großen Führer, Propheten und Philosophen, Dichter und Denker, Heilige und Reformatoren, vor allem Jesus, nicht seine kirchlich übermalte Gestalt, sondern er selbst in seiner herben, bezwingenden Größe, unserem Volke lebendig werden und ihre Stelle einnehmen im Kampf um die Weltanschauung“.⁴ Die letzte Phrase gleicht dem Titel des von Richard Wimmer schon 1887 anonym veröffentlichten Buches Im Kampf um die Weltanschauung: Bekenntnisse eines Theologen. Dass Wimmer (1836 – 1905) zwanzig Jahre sein Beruf als Dorfpfarrer in Weisweil bei Freiburg ausübte, hat es nicht verhindert, dass dieses von Paul Siebeck unterstützte und erfolgreiche Buch, dessen 16. Auflage 1906 im Druck erschien, stark auf mehrere Mitglieder der späteren religionsgeschichtlichen Schule wirkte, darunter Albert Eichhorn, William Wrede, Hermann Gunkel und Ernst Troeltsch. Baumgarten hat Wimmers Buch kurz nach seiner Veröffentlichung den Lesern der von Martin Rade herausgegebenen Christlichen Welt, „alle die ihre Bildung mit dem Glauben der Väter, die ihr Denken mit ihren Gemütsbedürfnissen versöhnt sehen möchten“, sehr empfohlen.⁵ Diese Empfehlung spiegelt die Absicht der Mitglieder dieses Zirkels wieder, sich gegen die schnell zunehmende Entkirchlichung als Vertreter einer „denkenden Frömmigkeit“ einzusetzen. Da Otto während seines langen Aufenthalts in Göttingen mehreren Mitgliedern dieses Zirkels nahe stand, und selbst regelmäßig zur Christlichen Welt Beiträge geliefert hat, ist es wahrscheinlich, dass Wimmers Buch auch ihm bekannt war. Jedenfalls
Verlagsankündigung in: Religionsgeschichtliche Volksbücher, I. Reihe, 8. u. 10. Heft, Umschlagseite 3. Zitiert hier nach: Gerd Lüdemann/Martin Schröder, Die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen: eine Dokumentation, Göttingen 1987, 120. Baumgartens Rezension (in: CW 7 [1888], 58 – 60) wird hier nach: Ein Standpunkt gegenüber dem Elend der Welt. Bekenntnisse und Leben eines Theologen Richard Wimmer 1836 – 1905, hg.v. Horst Renz, Frankfurt a.M. 1998, 27, zitiert.
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soll hier Ottos Naturalismus-Buch, mithin die darin zu findenden Bemerkungen über Goethe, im Kontext dieses Weltanschauungskampfes ausgelegt werden. Einer der erstrangigen Kämpfer auf der Otto und seinen kulturprotestanstischen Kampfgenossen gegenüberstehenden Seite um die Jahrhundertwende war Ernst Haeckel. Haeckel hat vieles zur steigenden kulturellen Autorität der Naturwissenschaften in Deutschland in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts beigetragen, sowie auch zur Verbreitung der Meinung, dass der erstaunliche Fortschritt in diesem Wissensbereich den christlichen Glauben an den Schöpfergott ein für allemal überwunden hat. Haeckels Naturalistische Schöpfungsgeschichte, die zwischen 1868 und 1920 zwölf deutsche Auflagen erfuhr, hat ein breites Lesepublikum in die darwinistische Deszendenztheorie eingeführt. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Goethe von Haeckel als einer der Begründer der Morphologie betrachtet wurde. Jedes der dreißig Kapitel von Haeckels wissenschaftlichem Hauptwerk Generelle Morphologie der Organismen fängt mit einem Goethe-Zitat an. Die meisten dieser Zitate stammen aus Goethes Gedichten und naturwissenschaftlichen Studien. Am Ende des Werkes behauptet Haeckel, dass der Monismus „das unentbehrliche Fundament der Wissenschaft“ ausmacht, und dass eben dieser „zugleich der reinste Monotheismus ist“.⁶ In Haeckels einflussreichem Vortrag über „Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft“ wird Goethe als Schlussfigur in einer Reihe vermeintlicher Vertreter der monistischen Weltanschauung mit einbezogen. Dem „Grundgedanken der Kosmischen Einheit“ – so heißt es hier – wurde von „[k]einem Geringeren, als unserem grössten Dichter und Denker, Goethe, […] im ‚Faust‘ und in seinen wundervollen Dichtungen ,Gott und Welt‘ ein poetischer Ausdruck gegeben“.⁷ In den ersten zwei Jahrzehnten des zwanzigsten Jahrhunderts wurden 300.000 Exemplare von Haeckels Buch Die Welträthsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie verkauft. In den Worten des Goethe-Forschers, Robert Mendelkow, wurde Goethe von einem Kampfgenossen Haeckels, dem erfolgreichen Schriftsteller Wilhelm Bölsche, sogar „zum prometheischen Gegen-Messias“ ausgerufen.⁸ Auch zu erwähnen ist, dass 1900 das Gründungsjahr des Giordano-Bruno-Bundes war, dessen Teilnehmer sich um die Verbreitung einer pantheistischen Naturmystik bemühten.
Ernst Haeckel, Allgemeine Entwicklungsgeschichte der Organismen, Bd. 2: Generelle Morphologie der Organismen, Berlin 1866, 448. Ernst Haeckel, Der Monismus als Band zwischen Religion und Wissenschaft. Glaubensbekenntniss eines Naturforschers, vorgetragen am 9. October 1892 in Altenburg beim 75jährigen Jubiläum der Naturforschenden Gesellschaft des Osterlandes, Bonn 1892, 10. Karl Robert Mandelkow, Goethe in Deutschland. Rezeptionsgeschichte eines Klassikers, Bd. 1, München 1980, 170.
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In seinem Naturalismus-Buch versucht Otto die Herausforderung der Monisten zu erwidern. Das tut er zuerst, indem er behauptet, dass die „breite Masse“ der Mitstifter des Darwinismus eine Lehre vertreten, die mit Darwins eigentlicher Theorie nur wenig zu tun habe. Als taxonomisches Binom für ihre Lehre schlägt Otto ,Darwinismus vulgaris‘ vor. Im Unterschied zur eigentlichen Theorie Darwins, die als ernstzunehmende biologische Hypothese keinen Weltanschauungsanspruch erhebt, sei die Lehre der Monisten „theoretisch wertlos, praktisch [aber] von großer Anziehungs- und Propagandakraft“ (NRW, 73). Ottos Ziel ist, diese zu entkräften. Was ich hervorheben möchte ist, dass die Strategie, die er zu diesem Zweck verfolgt, teilweise darin besteht, seinen Kontrahenten die Decke Goethes, in die sie sich eingewickelt haben, zu entwinden. Die Vulgarität, auf welche Otto die Aufmerksamkeit seiner Leser richten will, soll in einer „vulgäre[n] Vermischung“ (NRW, 21 f.) widerspruchsvoller Prinzipien bestehen, die tatsächlich zwei ganz verschiedenen Arten des Naturalismus zugerechnet werden müssen, nämlich der mechanisch-mathematische Naturbetrachtungsweise und der pantheistischen Naturmystik. In dieser Vermischung sieht Otto das kennzeichnende Merkmal von dem, „was als Naturalismus unter unsern Gebildeten oder Halbgebildeten umzulaufen pflegt“ (NRW, 21). Ihre Halbbildung zeige sich im Rechtfertigungsmangel ihrer polemischen Inanspruchsnahme Goethes. Otto schreibt: „Man will nichts anders sein als exakt schlechthin und rechnet doch eben Goethe und Bruno unter die großen Heiligen des eigenen Glaubens und setzt ihre Verse und Aussprüche als Credo und Motto der eigenen Meinung voran. Auf diese Weise entsteht eine ‚Weltanschauung‘ so kautschukartig und so proteusmäßig, daß mit ihr sich auseinanderzusetzen ebenso schwierig wie undankbar ist.“ (NRW, 22) In diesem Zusammenhang schlägt Otto vor, dass die Ausdrücke naturmystischer Begeisterung, die in Goethes „Gott und Welt“-Gedichten vorkommen, nicht als Beleg von Goethes Monismus, sondern eher als Anzeichen seines Pan-entheismus zu nehmen sind. In diesem Fall – so schlägt er vor – soll ,Immanenz‘ als Immanenz der Welt in Gott, und nicht Immanenz Gottes in der Welt, verstanden werden. Otto versucht weiter, diese Auffassung des Goethe’schen Gott-Welt-Verhältnisses in Einklang mit derjenigen von Luther zu bringen, denn auch bei Luther sei es allein Gott, „der alle Dinge schafft, wirkt und erhält durch […] seiner göttlichen Gewalt selbsteigenes Werk“, und auch er habe anerkannt, dass „nichts Gegenwärtiges noch Innerlicheres sein kann in allen Kreaturen denn Gott selbst mit seiner Gewalt“⁹.
Rudolf Otto, Rationale Theologie gegen naturalistischen Irrationalismus (Darwinismus und rationale Theologie), in: SU, 190 – 225, hier 209 (Luther-Zitat).
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Gern gesteht Otto den Monisten zu, dass als der Grundgedanke Goethes „der Gedanke […] [vom] allesumfassenden Entwicklungszusammenhange aller Wesen der Welt“ zu betrachten ist.¹⁰ Nur sei Goethe nicht erst als Resultat sorgfältiger Einzelforschung zu diesen Gedanken gekommen. „Vielmehr eine Idee, eine genial, in den Tiefen seines naturmystischen Gemütes geborene Intuition war es, der er dann bei der Betrachtung und Verbindung, Deutung und Gruppierung der naturwissenschaftlichen Tatsachen Einlaß und Einsprache gewährt.“¹¹ Zugegebenermaßen sind die Gemütsgestimmtheiten, für die Otto sich in Das Heilige interessiert, meistens nicht als naturmystisch zu beschreiben. Wollten wir mal die dreifache Typologie übernehmen, die in Diltheys Weltanschauungslehre vorkommt, dann müssten wir Otto, zusammen mit Kant und Jacobi, eher zum Typus des „Idealismus der Persönlichkeit oder der Freiheit“ zurechnen.¹² Hier ist sowieso ein wichtiger Hinweis auf den theoretischen Hintergrund von Das Heilige anzumerken: Es geht auch um eine in der Tiefe des Gemüts geborene Intuition, die bei der Betrachtung und Verbindung, Deutung und Gruppierung der Phänomene die führende Rolle spielen wird – nur diesmal Phänomene, nicht pflanzen- oder knochen-, sondern ,religionskundlicher‘ Natur.
2 Religionskunde als Goethe’sche Wissenschaft Die erstaunlichen Leistungen der Naturwissenschaften im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts gaben im letzten Drittel dieses Jahrhunderts Anlass für verschiedene Versuche, naturwissenschaftliche Forschungsprinzipien auf die Untersuchung des Menschen und der menschlichen Gesellschaft zu erweitern. Eine Leitfigur dieses Bestrebens innerhalb Deutschlands war Wilhelm Wundt (1832– 1920), der zwei Jahrzehnte als wissenschaftlicher Assistent von Hermann Helmholtz tätig war, bevor er 1879 in Leipzig das erste Laboratorium für physiologische Psychologie begründete. Zwischen 1900 und 1920 veröffentlichte Wundt seine 10-bändige Völkerpsychologie. Die anspruchsvolle Aufgabe, die er dieser Wissenschaft zugeteilt hat, war die Bestimmung der psychologischen Entwicklungsgesetze, die die Entstehung von Sprache, Mythus und Sitte in der Vorgeschichte der Menschheit erklärbar machen. 1910 veröffentlichte Otto eine lange Rezension des zweiten
A.a.O. 192. A.a.O. 192 f. Wilhelm Dilthey, Der entwicklungsgeschichtliche Pantheismus nach seinem geschichtlichen Zusammenhang mit den älteren pantheistischen Systemen, in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. 2: Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, Stuttgart/ Göttingen 51957, 312– 390, hier 312– 315.
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Bands von Wundts Völkerpsychologie, in dem Wundt versucht hat, eine breite Menge von mythologischen Vorstellungen und die auf sie bezogenen kultischen Handlungen weitgehend durch Anwendung des Prinzips der Heterogenie der Zwecke zu erklären. Hier sah Otto den bis damals bedeutendsten Versuch, den Ursprung der Religion im Allgemeinen „aus Animismus herzuleiten“ (GÜ, 11). Eine zentrale Voraussetzung der animistischen Religionstheorien, die um die Jahrhundert-wende breite Anerkennung genossen haben, war, dass die Fülle von ethnographischen Angaben über die Stammesvölker, mit denen im Laufe des 19. Jahrhunderts die Europäer in schnell zunehmenden Kontakt gekommen sind, einen Blick auf die kulturellen Umstände der Vorgeschichte der Menschheit im Allgemeinen öffnete. Wie andere Vertreter solcher Religionstheorien versuchte Wundt auf Basis des ethnographischen Tatbestands und einiger aus der Empirie abstrahierter psychologischer Prinzipien, Ursprung und Entwicklung von Seelenvorstellungen zu erklären, insofern als diese zuerst nicht durch die Tätigkeit individueller Persönlichkeiten, sondern durch das regelmäßige Wirken von psychologischen Gesetzen auf mehrere Mitglieder vorgeschichtlicher Gemeinschaften entstanden sind. Otto und gleichgesinnte Theologen seiner Zeit haben in solchen mehr oder weniger positivistischen Religionstheorien eine Bedrohung des sogenannten Gültigkeitsanspruchs der religiösen Weltansicht empfunden, und zwar aus folgenden Gründen: Wenn die Vertreter des Animismus grundsätzlich Recht haben und man ihre empiristischen Prinzipien konsequent durchführt, dann kommt man notwendigerweise zu dem Schluss, dass auch der monotheistische Gottesglaube letztendlich als Resultat einer falschen Hypothese der primitiven Wissenschaft zu betrachten ist. Um diesen Schluss zu vermeiden, und so den Geltungsanspruch der religiösen Weltansicht zu bewahren, hat Otto es für unentbehrlich gehalten, die Unangemessenheit der Positivisten offen zu legen. Er fand die zu diesem Zweck am besten geeigneten argumentativen Hilfsmittel in der von ihm so bezeichneten Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie. In einem kurz vor seiner Wundt-Rezension veröffentlichten und als Propädeutik zur Glaubenslehre geschriebenen Buch hat Otto diese Religionsphilosophie ausgeführt. Dort argumentiert er, dass der Glaube an Gott, Freiheit, und eine zweckmäßige göttliche Weltregierung aus empirischen Prinzipien unerklärbar bleibt, da diese Objekte des moralischen Glaubens tatsächlich keine Vorstellungen, sondern Ideen sind, die die reine Vernunft aus sich selbst hervorbringt. Dieser Glaube sei auf einer legitimen Forderung unserer praktischen Vernunft begründet, ohne welche wir nicht unsere moralischen Pflichten und Bestrebungen ernst nehmen könnten, was wir aber tatsächlich tun, indem wir die Ansprüche unseres Gewissens und unsere Ideale als berechtigt anerkennen.
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Im Vorwort von Ottos Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie, in dem er seinen Leser über den Bauplan seines theologischen Programms informiert, unterscheidet Otto zwischen zwei Aufgaben der Religionsphilosophie. Die erste sei, durch „Selbstbeobachtung des religiösen Bewußtseins“ (KFR, V) und Untersuchung seiner ,Erscheinungsformen‘ in der Religionsgeschichte, das Wesen der Religion empirisch zu bestimmen. Die zweite sei, den Geltungsanspruch der Grundüberzeugungen der Religion zu sichern. Otto unternimmt in seinem Buch die zweite dieser Aufgaben, hat aber schon damals (also 1909) geplant, „zu gelegener Zeit“ ein Werk zu veröffentlichen, in dem „die geschichtliche Entwicklung [der Religion] im menschlichen Geisteslebens überhaupt“ (KFR, VI) beschrieben würde, und damit „die Basis […] für eine darauf zu errichtende christliche Glaubens- und Sittenlehre [zu schaffen]“ (KFR, VIII). Ich halte es für sehr wahrscheinlich, dass Ottos berühmtestes Werk aus diesem ursprünglichen Plan heraus zustande gekommen ist, vermute aber, dass die Ausführung dieses Planes durch zwei Faktoren teilweise geändert worden ist. Der erste davon ist die direkte Begegnung Ottos während seiner ersten Weltreise mit verschiedenen außereuropäischen Religionen. Der zweite, wenn meine These stimmt, war das beträchtliche Ausmaß zu welchem Otto, in seiner Suche nach einer realisierbaren Alternative zur Wundt’schen Religionstheorie, in den morphologischen Ideen Goethes ein wichtiges Muster gefunden hat, und somit die ,Religionskunde‘ weitgehend als Goethe’sche Wissenschaft zu konzipieren begann. 1909 ließ Otto die zwei schon separat erschienenen Vorträge „Goethe und Darwin“ und „Darwinismus und Religion“ zusammen drucken. Der Inhalt dieser beiden Aufsätze ist in überarbeiteter Form später im Aufsatz „Rationale Theologie gegen naturalistischen Irrationalismus“ wieder aufgetaucht.¹³ Hier wendet sich Otto gegen die Bezeichnung von Goethe als ,Vorgänger‘ Darwins. Diese Bezeichnung wurde im neunzehnten Jahrhundert von David Friedrich Strauß in seinem teilweise von Haeckel beeinflussten Alterswerk Der alte und der neue Glaube (1872) verwendet, worin Strauß zugleich die Werke der großen deutschen Dichter, vor allem Goethe, seinen Lesern als Ersatz-Schriften des ,neuen Glaubens‘ empfiehlt. Zu den Überlegungen, die für diese Auffassung sprechen, gehört nicht nur, dass Goethe der Entstehung der biologischen Arten durch beständige natürliche Prozesse zugestimmt hat, sondern auch, dass er durch seine Entdeckung von Spuren des Zwischenkieferknochens im Menschen einen Beweis dafür beigetragen zu haben glaubte, dass wir selbst, in der Phrase Frau Charlotte von Steins, „erst
Rudolf Otto, Goethe und Darwin. Darwin und Religion, Göttingen 1909.
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Pflanzen und Thiere waren“¹⁴. Um was es also für Goethe letztendlich in dieser Entdeckung ging, war die Möglichkeit, den Menschen in die Einheit der Natur mit einzubeziehen, sowie auch die Kontinuität der Naturgeschichte mit der Geschichte der Menschheit aufzuzeigen. Um die Unangemessenheit der Bezeichnung von Goethe als Vorgänger Darwins zu zeigen, bestreitet Otto sogar die Angemessenheit der damals häufigen Bezeichnung der Darwinistischen Theorie als einer ,Entwicklungslehre‘. Dieses Terminus findet er insofern unzutreffend, als die biologischen Prozesse, die bei dieser Theorie in Frage kommen, nicht als echte Entwicklungsprozesse, sondern als eine bloße Anhäufung von Veränderungen konzipiert sind. Das Eigentümliche der darwinistischen Erklärung der Entstehung der Arten sieht Otto in „der Lehre von der natürlichen Zuchtwahl durch den Kampf ums Dasein“¹⁵. Das, was bei dieser Zuchtwahl gewählt wird, sind diejenigen vorteilhaften Anpassungen, die die mathematische Wahrscheinlichkeit des Überlebens und der Vermehrung der Organismen steigern. Von einer Entwicklung im wahren Sinne will Otto aber nur hören „wenn das Höhere schon im Niederen angelegt [oder ,enthalten‘] war, wie der Blüte in der Knospe, [oder] wie der Baum im Keim“¹⁶. Bei echter Entwicklung, sagt er, kehrt immer nur „auf der höchsten Stufe“ wieder, „was auf der niedersten auch schon, nur in niederer Potenz, eingewickelt, keimartig, und der Anlage nach war“.¹⁷ Ein solches Verständnis der Entwicklung findet Otto in Goethes morphologischen und botanischen Studien, wobei, wie Otto als Beispiel anführt, „die Idee der ,Urpflanze‘ […] [als] Urtypus der Pflanzen überhaupt“ gedacht wird, und von dieser Idee „die Gestalten aller wirklichen Pflanzen durch verschiedenes Ausdehnen und Einziehen der Elemente des Typus sich ableiten lassen sollen“¹⁸. Ottos Haupteinwand gegen Wundt und andere Religionstheoretiker, die den Ursprung der Religion mit der Entstehung von Seelen-Vorstellungen, und die Entwicklung der Religion mit der Abwandlung solcher Vorstellungen und der mit ihnen verbundenen kultischen Handlungen identifizieren, ist, dass sie dabei an der Hauptsache vorbeigegangen sind. Diese sei nämlich das qualitativ eigentümliche, aus psychologischen Vorgeschehnissen unableitbare Gefühl des Überweltlichen, das in der Form der rohesten vorreligiösen ,dämonischen Scheu‘ irgendwann „in
Das hat sie in Beziehung auf Goethes Begeisterung für Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit in einem Brief an Knebel (1. Mai 1784) geschrieben: Brief von Charlotte von Stein an Karl Ludwig Knebel vom 1. Mai 1784, in: Zur deutschen Literatur und Geschichte: Ungedruckte Briefe aus Knebels Nachlaß, Bd. 1, hg.v. Heinrich Düntzer, Nürnberg 1858, 120. Rudolf Otto, Rationale Theologie gegen naturalistischen Irrationalismus (Anm. 9), 196. A.a.O. 197 = Rudolf Otto, Goethe und Darwin (Anm. 13), 9. Rudolf Otto, Goethe und Darwin (Anm. 13), 6. Rudolf Otto, Rationale Theologie gegen naturalistischen Irrationalismus (Anm. 9), 194.
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den Gemütern der Urmenschheit auftauchte“ (DH, 16). Vom ersten Aufbruch oder Erregung dieses Gefühls sei „alle religionsgeschichtliche Entwicklung ausgegangen“ (DH, 16), die, wie Otto bekanntlich ausführt, eine allmähliche ,Schematisierung‘ dieses irrationalen Gefühls mit ethischen Inhalten aufzeigt. Eng darauf bezogen ist der Einwand, dass empirische psychologische Prinzipien nicht in der Lage sind, uns eine „Entwicklung zu geben, sondern nur eine Addition immer neuer Momente an den einzelnen Wendepunkten des geschichtlichen Verlaufes“, und – was ich unterstreichen möchte – dass Wundt und andere „rationalisierende“ Religionsforscher in ihrem Vertrauen auf solche Prinzipien dem gleichen Irrtum wie die Darwinisten verfallen sind. Diese Forscher sollen also zwei Irrtümer begangen haben: Erstens haben sie das Urphänomen der Religion ganz übersehen, und zweitens haben sie völlig verkannt, was für eine Entwicklung in der Religionsgeschichte uns gegenübertritt. Wie ist dann, wenn diese Kritiken zutreffen, die Aufmerksamkeit der Religionsforscher auf das Urphänomen zu lenken? In seiner Farbenlehre hatte Goethe seine Leser eingeladen, durch eigene Durchführung einer Reihe von Versuchen, ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte sichtbare Qualitäten der optischen Phänomene zu lenken. Otto spricht eine vergleichbare Einladung an seine Leser aus, indem er sie anleitet, „sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen“ (DH, 8).Wer das nicht schaffen kann, schreibt er, mag versuchen „mit den Erklärungsprinzipien die er kennt soweit zu kommen wie er kann und sich etwa ,Ästhetik‘ als sinnliche Lust und ,Religion‘ als eine Funktion geselliger Triebe und sozialen Wertens oder noch primitiver [zu] deuten“ (DH, 8). Diejenigen, so fährt er fort, die „das Besondere des ästhetischen Erlebens durchmach[en]“, werden solche Erklärungsversuche dankend ablehnen; wie viel mehr diejenigen, die das Besondere des religiösen Erlebens durchmachen, und das religiöse Urphänomen selbst anschauen. Gerade deshalb, weil er das numinose Gefühl als ein Urphänomen im Goethe’schen Sinne betrachtet, besteht Otto darauf, dass dieses Gefühl aus keinen anderen psychologischen Tatsachen abgeleitet werden kann; und gerade deshalb, weil im Fall der Religionskunde das Urphänomen ein Gefühl ist (und nicht, zum Beispiel, eine Farbwahrnehmung oder die Urpflanze), besteht er darauf, dass dieses Urphänomen nur direkt im eigenen Gemüt angeschaut werden kann. Da Otto weiter davon überzeugt ist, dass sich „in das Gemüts-leben eines Pithekanthropos […] zu versenken […] ein hoffnungsloses Geschäft“ (DH, 139) ist, besteht er weiter darauf, dass wir, was im Gemütsleben der Frühmenschheit passiert ist, uns verständlich zu machen nur insofern imstande sind, als die Gemütserlebnisse, die uns zugänglich sind, aus derselben geistigen Anlage kommen, die bei ihnen schon keimartig da waren. Das kann aber nur durch eine Untersu-
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chung der Vielfalt des religiösen Erlebnisses stattfinden, der es gelingt, die dieser Vielfalt zugrunde liegende Idee ausfindig zu machen. Der volle Inhalt des Numinosen, oder des Irrationalen in der Idee des Göttlichen, entfaltet sich nur im Laufe der Religionsgeschichte, und seine einzelnen Momente tauchen nur allmählich und nacheinander auf. Diese Teilmomente sind aber nur in Beziehung auf das Ganze richtig zu verstehen. Die Idee des Göttlichen kann also nur durch Betrachtung der Religionsgeschichte im Ganzen angeschaut werden. Da diese Idee den Maßstab zur Differenzierung zwischen echten und falschen Erscheinungen des Heiligen liefern soll, ist dieser Maßstab auch nur auf diesem Weg zu erwerben. Die Vielfalt des religiösen Erlebens ist uns nur in der Geschichte der verschiedenen Ausdrücke dieses Erlebens gegeben. Die dieser Vielfalt zugrunde liegende Idee muss also in der Geschichte dieser Ausdrücke gesucht werden. Nur durch einfühlende und beschreibende Analyse der Spuren der „Gefühls- und Wertungsketten,vom ,Unheimlichen‘ bis zum Heiligen aufwärts“, und nicht hauptsächlich durch Beschäftigung mit den sie nur „begleitenden Phantasiebilder[n]“¹⁹, ist eine echte Entwicklung des religiösen Urphänomens in der Religionsgeschichte ausfindig zu machen. Die „Aufgabe der Religions-geschichte und der allgemeinen Religions-seelenkunde“, wie Otto diese in Das Heilige beschreibt, ist die Entzifferung und Verfolgung dieser „zunächst rein in dem Bereiche des Irrationalen selber schon sich vollziehenden Entwicklung“ (DH, 135). Die sprachlich verfassten Zeichen, in denen die Spuren dieser Entwicklung enthalten seien, reichen von primitiven ,Urlauten‘ – zahlreiche Beispiele davon wird Otto später in den Text-Überlieferungen der alten Arier finden – bis hin zu erhabensten dichterischen Schöpfungen, unter denen Faust natürlich den ersten Platz einnimmt. „Im Deutschen“, schreibt Otto in Das Heilige, „haben wir das ,Heilige‘ dem Sprachgebrauch der Bibel nachgebildet, aber einen eigenen selbstgewachsenen Ausdruck haben wir für die roheren und niederen Vor- und Unterstufen dieses Gefühles, nämlich unser ,Grauen‘ und ,Sich Grauen‘; und für die geadelten höheren Stufen hat sich uns das ,Erschauern‘ ziemlich bestimmt und überwiegend mit diesem Sinn-gehalte erfüllt“ (DH, 15 f.). Zu bemerken ist die Ähnlichkeit des Wortes ,Erschauern‘, in dem Otto einen selbstgewachsenen, und insofern echt deutschen, Ausdruck für die geadelte höheren Stufen des numinosen Gefühls findet, mit dem Wort ,Schaudern‘ im Faust-Zitat, von dem der Titel dieses Aufsatzes genommen ist. Wenn diese Ähnlichkeit keine zufällige ist, dann kann Folgendes mit Recht behauptet werden: Die „neue Epoche des Menschentumes“ (DH, 16), die für Otto mit dem ersten ,Durchbruch‘ des numinosen Gefühls im primitiven Erleben der ,dä-
Rudolf Otto, Mythos und Religion in Wundts Völkerpsychologie, in: Theologische Rundschau 13 (1910), 304.
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monischen Scheu‘ begonnen hat, erreicht wenigstens einen seiner Höhepunkte in Fausts Erlebnis des Ergriffenseins vom Ungeheuren – was uns erlaubt, das FaustEpigramm am Anfang des Buches in einem neuen Licht zu lesen. Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil. Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteuere, Ergriffen fühlt er tief das Ungeheure.²⁰
Das Schaudern ist für Otto der Menschheit bestes Teil gerade weil es das Teil ist, durch welches der Mensch den numinosen Sinngehalt der Zeichen des Heiligen in Natur und Geschichte aufnimmt. Diejenigen, die nicht imstande sind, sich in der Tiefe ihres Gemüts vom Sinngehalt des mysterium tremendum erschüttert zu fühlen, sind auch nicht berechtigt, Anspruch auf das Erbe Goethes zu erheben, gerade weil es ihnen an der dafür erforderlichen Gemütstiefe mangelt. So antwortet Otto endlich auf die deutschen Naturalisten und Positivisten, die seines Erachtens den größten Teil der Verantwortung für das tragen, was er als die „Verödung und Verarmung […] unseres deutschen Geisteslebens“ betrachtet.²¹
Johann Wolfgang von Goethe, Faust, Zweiter Teil, Erster Akt, Finstere Galerie, in: Ders., Werke in 14 Bänden, Bd.3, München 162000, 193 (6272– 6273). So heißt es im Vorwort zu Ottos 1910 herausgegebener Ausgabe von Ernst Friedrich Apelts Metaphysik.
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„A feeling of objective presence“ Rudolf Ottos Das Heilige und William James’ Pragmatismus zum Vergleich
0 Exposition Diese die Eigenart der Religion definierende Stelle aus James’ The Varieties of Religious Experience ¹ findet sich bei Otto gleich im dritten Kapitel (Untertitel: „Momente des Numinosen I“) und hat den Charakter einer gewichtigen Bestätigung der eigenen Positionsbestimmung von Beginn an. Otto zitiert nach Wobbermins Übersetzung, und die entscheidenden Sätze lauten dort wie folgt: „Es ist, als wenn im menschlichen Bewusstsein eine [Otto schreibt: ‚die‘] Empfindung von etwas Realem [Otto setzt kursiv], ein Gefühl von etwas wirklich Vorhandenem, eine Vorstellung von etwas objektiv Existierendem lebte, die tiefer und allgemeingültiger ist, als irgendeine der einzelnen und besonderen Empfindungen, durch welche nach der Meinung der heutigen Psychologie die Realität [Otto setzt kursiv] bezeugt [1. Aufl.: ‚geoffenbart‘] wird“.² Weil die inzwischen gängige Übersetzung von E. Herms und Chr. Stahlhut in wichtigen Formulierungen abweicht, muss zum Vergleich auf das englische Original zurückgegriffen werden: „It is as if there were in the human consciousness a sense of reality, a feeling of objective presence, a perception of what we may call ‚something there,‘ more deep and more general than any of the special and particular ‚senses‘ by which the current psychology supposes existent realities to be originally revealed.“³ [„Es ist, als gäbe es im menschlichen Bewusstsein ein Empfinden von Realität, ein Gefühl von objektiver Gegenwart, von ‚da ist etwas‘ – eine Wahrnehmung, die
William James, The Varieties of Religious Experience. A Study in Human Nature (1901/02), Glasgow 1960, 73. William James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, übers. v. Georg Wobbermin, 2. Aufl. Leipzig 1914, 46 (vgl. 1. Aufl. Leipzig 1907, 54); vgl. das herausgehobene Zitat in DH, 11 (Ottos Abänderung der Zeichensetzung wurde im oben zitierten Textstück nicht vermerkt). William James, The Varieties of Religious Experience (Anm. 1), 73.
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tiefer und allgemeiner reicht als irgendeiner der besonderen ‚Sinne‘, denen die gängige Psychologie das ursprüngliche Entdecken realer Existenz zuspricht.⁴] Das klingt deutlich anders und macht auf die folgenden Probleme aufmerksam: 1. Auffallend ist der unsichere Einsatz des Begriffs real/Realität, der deshalb 2. verbunden wird mit Objektivität, 3. Existenz und 4. Gegenwart. 5. Als Rezeptionsformen werden Empfindung, Gefühl und Wahrnehmung genannt, und das alles stellt sich dar 6. als eine zu rechtfertigende Übertragung („as if“), die im jeweiligen Kontext bei James und Otto verankert ist und zum kritischen Vergleich einlädt.
1 Realität – der ontologische Aspekt Real ist das, was auch unabhängig von unserem Erfassen wirksam und somit wirklich ist. – Otto nimmt in diesem Sinn einen natürlichen Realismus gerade auch für die Religion in Anspruch, und seine spontane Ersetzung des unbestimmten durch den bestimmten Artikel im James/Wobbermin-Zitat (‚die Empfindung von etwas Realem‘) unterstreicht noch zusätzlich, mit welcher – bewussten oder unbewussten – Emphase er auf dieser eindeutigen „Empfindung“ von Realem besteht. Schließlich wird am Ende des Zitats die Sache noch dadurch verschärft, dass der religiöse Sinn von Realität als „tiefer und allgemeingültiger“ abgehoben wird gegenüber dem Realitätsbegriff der „gängigen Psychologie“, wie es bei James heißt. Auch hier greift Otto mit einer zusätzlichen Betonung in den Text ein und setzt Realität kursiv! Hier stehen sich offenbar zwei Sichtweisen von Realität ausschließend gegenüber: Die „gängige Psychologie“, wie sie sich gerade gegen Ende des 19. Jahrhunderts etabliert hatte, d. h. eine empiriegebundene naturwissenschaftliche Ontologie einerseits wäre dann unvereinbar mit einem lebensweltlich erweiterten Realitätsbegriff, d. h. einer existentiell-religiös orientierten Ontologie andererseits. Otto ist wohl genau so zu verstehen, denn er hat sich lange vor diesem Text schon
William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, übers. v. Eilert Herms/Christian Stahlhut, Frankfurt a.M./Leipzig 1997, 89. – Herms hatte ursprünglich „sense“ (in der ersten Zeile des engl. Zitats) mit „Sinn“, und „existent realities“ (in der letzte Zeile) korrekt mit „existierenden Realitäten“ übersetzt (dazu s.u.), vgl. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung. Eine Studie über die menschliche Natur, übers. u. hg.v. Eilert Herms (1979), Zürich 1982, 68.
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ausführlich mit dem neuen evolutionistischen Weltbild seiner Zeit in apologetischer Absicht auseinandergesetzt, um das seelisch-geistige Eigenrecht genuiner Lebenserfahrung – nicht zuletzt der Religionen – sicherzustellen; und er wirft James ja direkt nach seiner Zitierung vor, aus „empiristischen und pragmatistischen“ Gründen eine entsprechende Verteidigung des „Geistes“ nicht in gleicher Weise vertreten zu haben!⁵ Gerade auf diesen Differenzpunkt ist noch zurückzukommen. Für Otto selbst aber gilt zunächst, dass er, ganz wie James, Gefühlsunmittelbarkeit, wie sie lebens- und religionsgeschichtlich gut belegt ist (und die folgenden Zitierungen von James betreffen ausschließlich solches Material⁶), nicht für illusionär, sondern für realistisch hält. Es gibt folglich einen weiteren, tieferen und umfassenderen Sinn von Realität als er naturwissenschaftlich vorgesehen ist; und wird allein letzterer weltanschaulich vertreten, so muss um die Integrität der natürlichen bzw. religiösen Realität gekämpft werden. Dass es die Naturwissenschaften sind, die die Frage nach dem Recht der religiösen Realität neu zu stellen zwingen, dieser Einsicht sind James und Otto wiederum gemeinsam verpflichtet. Im Einzelnen hat Otto zu zeigen versucht, dass in Naturalismus, Darwinismus, Mechanismus etc. ein Denkfehler vorliegt, sobald deren Methoden auf die geistigen Fähigkeiten des Menschen ausgedehnt werden; und das hat einen durchaus auf die Natur bezogenen Grund: „Auch die unter Gesetze gebrachte Welt ist Geheimnis“. Deshalb geht es mit Goethe gegen Darwin, und „wahres Wesen und Tiefe der Dinge“ werden erfasst „in Gefühl und Ahnung“.⁷ Ist dieser „höhere Realismus“, wie im Anschluss an Schleiermachers Reden auch gesagt werden kann,⁸ aber überhaupt noch ein Realismus im heutigen Wortsinn, oder handelt es sich gar
Vgl. DH, 11. Vgl. DH, 50.70. – Zur Auslegung dieser Stellen und zum psychologischen Vergleich der beiden Autoren vgl. Donald Capps, Men, Religion, and Melancholia: James, Otto, Jung, and Erikson, New Haven/London 1997, 78 ff. NRW2, 27; vgl. Rudolf Otto, Goethe und Darwin. Darwinismus und Religion, Göttingen 1909. – Eine Übersicht zu Ottos naturwissenschaftlichen Arbeiten gibt Hans-Martin Barth, Naturalismus, Darwinismus und das Heilige nach Rudolf Otto. Zugleich ein Beitrag zur Vorgeschichte von Das Heilige, in: NZSTh 51 (2009), 445 – 460. Vgl. Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 27. – Diese Formel findet sich in der II. Rede, vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York 1999, 81 (KGA I/2, 213). Es ist interessant, dass Otto im Nachwort zu seiner Edition der 1. Aufl. der Reden unter den Wissenschaften, in denen das Göttliche „begegnet“, neben Geschichtswissenschaft und Religionswissenschaft auch die Biologie nennt; vgl. Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, hg.v. Rudolf Otto, Göttingen 1899, 181.
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um einen subtilen Anti-Realismus?⁹ Denn dieser findet seine stärkste Unterstützung immer darin, dass der natürliche Realismus – einmal gefragt, worauf er denn seine Gewissheit der wahren Korrespondenz einer unabhängigen Welt mit dem Denken und Fühlen über sie begründe – leicht in Schwierigkeiten gerät. Dann bleibt nur der Rückzug auf Perspektivität und Modelle immer unterschiedlicher Zugänge zu einer jeweiligen Wirklichkeit, die von ihren Beschreibungen abhängig wird. Dem entspräche Ottos Einstufung der naturwissenschaftlichen Weltsicht als nur relativ und reduziert realistisch, der folglich die Welt des Geistes als eigentlicher Realismus gegenüber gestellt werden muss.¹⁰ Diese Gegenüberstellung trifft nun für James nicht in gleicher Weise zu. Zwar hat James den naturwissenschaftlichen Reduktionismus mit deutlichen Worten karikiert, von unhaltbarem „medizinischen Materialismus“ gesprochen und dessen Scheitern an geistigen Maßstäben der selbständigen Urteilsbildung aufgedeckt¹¹ – das aber geschieht im Konzept eines Empirizismus, d. h. eines erweiterten Sinnes von Wirklichkeit, die die Naturwissenschaften und die religiöse Erfahrung nicht auseinanderfallen lassen und beide zur Bestimmung von Realität heranziehen will. Letztlich möchte James’ „empirizistisches Kriterium“ die Begriffsbildung aufgrund empirischer Kontrolle mit der lebenspraktischen Anwendbarkeit verbinden: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen, nicht an ihren Wurzeln.“¹² Diesem erweiterten Realismus hat Otto wohl als wissenschaftlichem Realismus nicht getraut, im erweiterten Blick auf die Realität aber sieht er sich von James ganz und gar bestätigt.
2 Objektivität – der epistemische Aspekt Realismus nun gerade in Sachen Religion zu vertreten, ist besonders riskant bzw. anspruchsvoll, weil gegenständliche Verifikationen entweder als schwierig gelten
Vgl. zu dieser Begrifflichkeit und Diskussion Ralph Charles Sutherland Walker/Janet Martin Soskice, Realismus, in: TRE 28 (1997), 182– 196; Michael Kober/Hans-Peter Großhans/Gesche Linde, Realismus I-III u. V, in RGG4 7 (2004), 72– 76.79 f. Vgl. NRW, 13 ff.; dazu Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos (Anm. 8), 31. Vgl. den Gesamtzusammenhang der I. Vorlesung, in: William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 37 ff.46 ff., bes. 51: „Unmittelbares Einleuchten, philosophische Verständlichkeit und moralische Nützlichkeit sind die einzigen brauchbaren Kriterien. Die heilige Theresa kann das Nervensystem der sanftesten Kuh gehabt haben, und trotzdem würde es ihre Theologie nicht retten, wenn die weitere Prüfung sie aufgrund dieser anderen Kriterien als verdammungswürdig erweisen würde. Und umgekehrt […].“ A.a.O. 53.
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müssen oder zugunsten von inneren, geistig-seelischen Erfahrungen gar nicht erst behauptet zu werden brauchen. Beide epistemischen Vorbehalte scheinen hier außer Kraft gesetzt, denn das zu Beginn angeführte James-Zitat stammt aus der III. Vorlesung mit der Überschrift „Die Wirklichkeit des Unsichtbaren“ („The Reality of the Unseen“) und Otto spricht im Kontext der zitierten Stelle ausdrücklich von einem „objektiv gegebenen Numinosen“.¹³ Dieser Zentralbegriff des ganzen Buches also ist es, auf den zugleich Irrationalität, d. h. begriffliche Unzugänglichkeit¹⁴, und die religiöse „Erfahrungstatsache“¹⁵ der „Vorstellung von etwas objektiv Existierendem“ (in Wobbermins Übersetzung) zutreffen sollen. Dass beides zugleich nicht zu halten ist, hat R. Bultmann in seinem kritischen Brief (vom 6.4.1918¹⁶) an Otto als – jedenfalls kantianisch gesehen – erkenntnistheoretisch unlösbares Dilemma herausgearbeitet: Entweder ist das Gefühl des Numinosen ein psychologischer Zustand oder das Numinose ist der Gegenstand eines dann bestimmbaren Gefühls. Im ersteren Fall, dem in sich notwendig ganz unspezifischen Gefühlszustand, lässt sich nicht erklären, wie höhere Formen von Religion aus dem diffusen Ausgangspunkt sich überhaupt entwickeln können (was Ottos Konzept durchgängig vorsieht), und im letzteren Fall ist mit der Gegenstandserfassung entweder schon eine massive Voraussetzung gemacht: Es gibt religiöse Gegenstände!, oder das religiöse Gefühl schafft sich seine Gegenstände (durch „Deuten und Bewerten“¹⁷); und dies darf – nach Kant – nicht analog der Erfahrungserkenntnis durch Kategorien einerseits und Anschauung andererseits aufgefasst oder verteidigt werden. Denn das religiöse Gefühl stellt selbst schon eine Erfahrung dar und kann nicht zugleich als kategoriale Verstandesfunktion beansprucht werden. Man wird Bultmann zugestehen müssen, dass er den wahrhaft kritischen und in jeder Hinsicht entscheidenden Punkt getroffen hat. Otto selbst aber hat sich sicherlich genau falsch verstanden gefühlt¹⁸ und die Gründe dafür lassen sich wiederum im Vergleich mit James erhellen: In der III. Vorlesung findet sich die Beobachtung, dass für den religiösen Glauben Gegenstände die entscheidende Rolle DH, 11. Vgl. Ottos einführende Definitionsbemühungen im 1. und 2. Kapitel, DH, 5 ff. DH, 11. Vgl. den Briefabdruck im Anhang bei Hans-Walter Schütte (Anm. 8), 130 – 139. Schütte erwähnt, dass der Brief unbeantwortet geblieben sei, und hält Bultmanns „Vorbehalt des Psychologismus“ für ein „Missverständnis“ (118 f.). A.a.O. 135; vgl. im Folgenden a.a.O. 136 und Bultmanns Metakritik, a.a.O. 137 f., zu Ottos (DH, 9 ff.23) Schleiermacher-Kritik. Vgl. z. B. sein Insistieren auf der Gegenstandsbeziehung des Numinosen – nicht auf dem psychologischen Vorgang, in: AN4, VI (hier im Vorwort und im Anschluss an ein anerkennendes Zitat von H. Rickert).
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spielen (Gott, Seele, Unsterblichkeit etc.), die nach Kants Maßstäben nicht nur nicht erkennbar, sondern für die Erkenntnis „ohne jede Bedeutung sind.“¹⁹ Das nämlich folge aus Kants „seltsamer Lehre“, diesem „besonders wunderlichen Teil seiner Philosophie“, der die Begriffsbedeutung nicht handlungsorientiert verstehen will, sondern sie zu ihrem Nachteil immer an der theoretischen Erkenntnis misst. Für das Handeln aber, das fundamentale Verstehensbedeutung in Wissenschaft und Alltagswelt hat, ist durchaus der „Glaube“ vorrangig, „dass diese unerkennbaren Objekte wirklich existieren“! Der Pragmatismus vertritt dementsprechend die handlungstheoretische Korrektur der Epistemologie nach Kant.²⁰ Das bedeutet nicht, Dinge für objektiv wirklich zu halten, weil sie irgendwie praktisch wirken und für wahr gehalten werden; sondern es bedeutet, dass der immer vorausgehende Lebenszusammenhang in den Dimensionen von Glaube und Handeln realitätserschließend und umfassend anzusetzen ist. Das schließt sowohl empirische Kontrolle als auch logische Kritik mit ein und ist insofern deutlich eine Philosophie nach Kant, die gerade den weiterentwickelten Naturwissenschaften des 19./20. Jahrhunderts entspricht. Wird demnach die prinzipielle Trennung von praktischer und theoretischer Begriffsbedeutung zugunsten eines pragmatistischen Begriffs von Erfahrung aufgehoben, so sind religiöse Gegenstände wieder erkenntnisrelevant: mit „unserem Glaubensgegenstand“ verbindet sich ein „starkes Realitätsempfinden“²¹ – und das ist legitimerweise so! Ottos Suche nach jener „primären objektbezogenen Gefühlsbestimmtheit“, wie es zu Beginn des 4. Kapitels heißt,²² setzt also eigentlich eine entschiedene Kant-Kritik voraus. Diese findet sich auch, allerdings als „Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie“ vorgetragen, d. h. als Kant-Interpretation in kantianischem Geist. Ganz ähnlich wie F.H. Jacobi (1743 – 1819) will J.F. Fries (1773 – 1843) zeigen, dass Kants strikte Unterscheidung von Verstandesapriorität und Sinnlichkeit nur produktiv und für die Begriffsbildung wieder koordiniert werden kann, wenn ein vertrauender Realismus vorausgeht, der in Glaube und Gefühl seine unmittelbare Überzeugungskraft hat und so eine vorbegriffliche Brücke zwischen den Welten von Denken und Erscheinung vorgibt.²³ Otto zitiert Fries mit den Worten:
Vgl. hier und im Folgenden William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 86 f. Vgl. als Übersicht zum Pragmatismus Hermann Deuser, Kreativität und Abduktion, in: Hans Joas in der Diskussion, hg.v. Heinrich Wilhelm Schäfer, Frankfurt a.M./New York 2012, 35 – 47. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 87. DH, 13. Vgl. zu Jacobi und Fries Wilhelm Windelband, Lehrbuch der Geschichte der Philosophie, hg.v. Heinz Heimsoeth, Tübingen 151957, 494 f.; zu Jacobis Kantkritik Hermann Deuser, Religionsphilosophie, Berlin/New York 2009, 229 f. – Otto selbst vergleicht Jacobi und Fries in KFR, 6 f.
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„Die religiösen Ueberzeugungen von dem, was wir nicht schauen und dem wir doch vertrauen, können nicht sinnlichen Berührungen unseres Geistes entsprungen sein. Denn sie sind ein ursprüngliches Eigentum der Vernunft und müssen mit gleicher Wahrheit in jedem menschlichen Geiste leben.“²⁴ Damit ist aus erkenntniskritischer Transzendentalphilosophie die apriorische Begründung religiöser Erfahrung geworden, die sich zugleich nicht scheut, sozusagen transempirisch trotzdem von Erfahrungen zu sprechen. Diese werden dann religionsgeschichtlich belegt, mehr noch, Otto registriert bereits 1909 anerkennend W. James’ Varieties in Verbindung mit Fries’ „Lehre von der dunklen Erkenntnis unserer Vernunft“. Die religionspsychologische Entdeckung „des Unbewussten, des Unterbewussten“ wird problemlos mit dem – religiösen – Erfahrungsbegriff verbunden, und darin besteht die „anthropologische“ Revision des kantischen Kritizismus.²⁵ Wenn Otto dann in Das Heilige das Nicht-Begriffliche, Dunkle gleichwohl zum Erkenntnisgegenstand – nämlich im „Gefühl des mysterium tremendum“ – erheben kann,²⁶ so setzt das einerseits die Fries’sche Kant-Interpretation bzw. KantRevision und andererseits die entscheidende Wendung zum erkenntnisrelevanten Eigenrecht²⁷ des religiösen Grundgefühls voraus, trotz und wegen seiner primären Dunkelheit, Unsichtbarkeit und Unzugänglichkeit. Die Objektbeziehung soll bestehen auch dann, wenn im Falle des Numinosen dieses nicht nur vorübergehend, sondern ganz prinzipiell „im unauflöslichen Dunkel“ bleibt; das „Irrationale“, das „Ganz Andere“, das da ist, indem „es sich aller Sagbarkeit“ entzieht.²⁸ Diese Spannung, die James handlungsorientiert-pragmatistisch aufzufangen versucht, bleibt bei Otto letztlich doch im Rahmen einer transzendentalen Möglichkeitsbedingung, obwohl diese sich exklusiv anthropologisch am religionsvergleichenden Material begründen und bewähren lassen soll.
Aus Fries’ Handbuch der Religionsphilosophie, zit. bei Otto, KFR, 16. KFR, 11 mit Anm. 1 (zu James). DH, 13. Zur Frage der Kontinuität im Denken Ottos bzw. des Neuansatzes mit Das Heilige vgl. HansWalter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos (Anm. 8), 34 ff.49; Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992, 114 ff. DH, 76 (10. Kapitel: „Was heißt irrational?“).
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3 Existenz – der metaphysische Aspekt Dass Otto wie selbstverständlich Metaphysik und Religion in einem Atemzug nennt und verteidigt,²⁹ während der Naturwissenschaftler James alle Metaphysik, Scholastik, Spekulation etc. mit großer Geste verabschiedet, macht einen Unterschied. Genauer besehen aber vertreten sie beide die „existierenden Realitäten“ dessen, was „tiefer und allgemeiner“ ist als eine einfache empirische Sinneswahrnehmung.³⁰ Nach-kantisch geurteilt kann es sich hier nicht um eine Existenzbehauptung im Sinne der alten Metaphysik handeln, sondern um eine neue Metaphysik³¹ – bei Otto gewollt und anti-naturwissenschaftlich apologetisch; bei James ungewollt und im Anschluss an die exakten Wissenschaften; und diese reklamiert für sich die Allgemeinheit einer Realität, die von empirischer Existenz kategorial unterschieden werden muss. C.S. Peirce hat diesen Vorschlag in Verbindung mit seinem Gottesargument 1908 gemacht,³² und alles, was Otto über Objektivität, Realität und Existenz sagt, und ebenso alles, was James mit Respekt vor dem Heiligen das „Göttlichkeitsempfinden“³³ nennt, darf wohl so verstanden werden: Das Empirische, Messbare, dem wiederholbaren Experiment Zugängliche existiert, deckt aber nicht alles ab, was unter Wirklichkeit/Realität sich aufdrängt. Letztere muss entweder mehr und anderes als das Empirische meinen (Otto) oder das Empirische hat einen weiteren, empirizistischen Sinn, der das Nicht-Messbare mitbedeuten kann (James). Ottos Metaphysik, so ließe sich sagen, benennt als Numinoses das begrifflich unfassbare Reale, also Unbestimmte, Nichtempirische, in Gestalt einer „Gefühlsbestimmtheit“, die weder eine bloß regulative Idee noch eine bloß subjektive Emotion darstellt (diese soll der „primären“ Objektbeziehung erst folgen!).³⁴ Demgegenüber wird die begriffliche Rationalität ja keineswegs geleugnet,³⁵ sie hat ihren Ort z. B. in der vernünftigen Arbeit der Theologie. Von der gesuchten Einheit der Wirklichkeit aus gesehen wäre solche Begriffsmetaphysik aber auch für Otto sekundär gegenüber dem „schlechterdings Positiven“, das im Gefühl „erlebt“ Vgl. z. B. KFR, 73. S.o. Anm. 4. Vgl. Hermann Deuser, „ … das ganze Universum des Seienden …“ – Über alte und neue Metaphysik im Blick auf die Theologie, in: Gott denken – Metaphysik oder Metaphysikkritik?, hg.v. Ingolf Ulrich Dalferth/Andreas Hunziker, Tübingen 2013. Vgl. Hermann Deuser, Religionsphilosophie (Anm. 23), 489; Martin Schmuck, Peirces ‚Religion of Science‘ – Studien zu den Grundlagen einer naturalistischen Theologie, Diss. Frankfurt a.M. 2012, 566 f. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 374. DH, 13. DH, 1.76 u. ö.
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wird,³⁶ d. h. nicht existiert, aber real ist. Dieses Reale kann auch als das „Geistige“ bezeichnet werden, das sich selbst voraussetzen muss und nicht erklärt werden kann, folglich als ein „Erstes“ zu gelten hat.³⁷ Kurz gesagt: Diese neue Metaphysik ist – im vollen Bewusstsein, dass sie nach Kant und unter den Bedingungen der modernen Naturwissenschaften operiert – keine der Kategorie empirischer Existenz, sondern der exklusiv im Gefühl vermittelten Primärwahrnehmung des Unbestimmten, des „Ganz Anderen“.³⁸ Für James ergibt sich die gleiche Konstellation dadurch, dass er es nicht bei der Präsentation von handlungswirksamen und gefühlsintensiven Erfahrungssituationen belässt, sondern am Ende der beiden großen Vorlesungseinheiten über „den Wert der Heiligkeit“ deren empirische und oft ambivalente Beschreibung mit der Frage nach ihrer „Wahrheit“ konfrontiert³⁹ – und diese Frage weiterreicht an die abschließenden Dokumentationen des Mystischen. Dieser Übergang ist insofern plausibel, weil Heiligkeit nicht wie bei Otto als Ausdrucksform des Numinosen, sondern eher als charismatische Vorbildwirksamkeit gilt. Die mystische Erfahrung aber hat mit ihrer überwältigenden Kraft u. a. „noetische Qualität“⁴⁰ und erhebt damit einen – metaphysischen – Wahrheitsanspruch; wiederum nicht auf irgendwie gegenständliche Existenz, wohl aber auf Realitätseinsicht.⁴¹ Diese aber muss mit zusätzlichen Kriterien überprüft werden, und so bleibt James’ (empirischer) Erfahrungsbegriff im Spiel: „Was von dort kommt, muss sortiert und geprüft und […] in einer Art Spießrutenlaufen in den Kontext der Gesamterfahrung gestellt werden.“ Was daran metaphysisch genannt zu werden verdient, hat James als „offene Frage“, aber doch in einem schönen Bild zum Ausdruck gebracht. Mystische Einsichten sind wie „Fenster, durch die der Geist auf eine größere und umfassendere Welt hinausschaut.“⁴² Die Realitätserschließung und der Wahrheitsanspruch solcher ‚Fenster‘ sind also immer kontextgebunden, sei es wissenschaftlich oder alltagsweltlich, und gehören in die prozesshaft-universale
DH, 14. – Vgl. zu Ansatz und Differenzierung in Ottos Gefühlsbegriff, auch im Verweis auf die eben genannte Textstelle, Harald Matern, Rudolf Ottos religionsphilosophischer Gefühlsbegriff, in: Rudolf Otto. Subjekt und Religion, hg.v. Thorsten Dietz/Harald Matern, Zürich 2012, 109 – 153; bes. 109 ff.138 ff. DH, 139. DH, 28 ff. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 382. A.a.O. 384. Zu diesem Konzept realer Erfahrung schon beim frühen James (der Principles of Psychology) vgl. Christoph Seibert, Religion im Denken von William James. Eine Interpretation seiner Philosophie, Tübingen 2009, 46 ff. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 422. – Vgl. Hermann Deuser, Religionsphilosophie (Anm. 23), 328.
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Ausbildung von Realität. Ihr Geheimnis kann für James immer am besten handlungsorientiert gefasst werden, und in den Pragmatismus-Vorlesungen von 1906 hat er dies mit Kierkegaards treffendem Merksatz getan: „Vorwärts zu leben, aber rückwärts zu verstehen.“⁴³ – Auch Otto, der das Heilige (jedenfalls im Christentum) als sittliche Ausprägung des Numinosen definiert hat,⁴⁴ hätte wohl James’ Kierkegaard als Verbündeten betrachten müssen.
4 Gegenwart – der phänomenologische Aspekt In E. Husserls Brief an Otto (vom 5. 3.1919) findet sich die anerkennend kritische Bemerkung: „Der Metaphysiker (Theologe) in Herrn Otto hat scheint es mir den Phänomenologen Otto auf seinen Schwingen davongetragen“!⁴⁵ – Gut sichtbar werden jedenfalls diese beiden Aspekte in unserem Ausgangszitat, wo es heißt: „ein Gefühl von objektiver Gegenwart, von ‚da ist etwas‘.“⁴⁶ James hat hier die ins Metaphysische führende Objektbeziehung eng gekoppelt mit dem vagen Gefühl des Gegenwärtigseins, d. h. dem zugrundeliegenden Gegebensein von Objektgefühl in jeweiliger Gegenwart. Diese kann als solche noch nicht oder nicht mehr propositional gefasst und auf bestimmte Objekte bezogen werden, denn dies setzte Vergangenheit bzw. Prognosen auf Zukunft voraus. Gegenwart, als Phänomen selbst, hat insofern eine begrifflich gesehen dunkle Seite, und alles, was Otto im zehnten Kapitel („Was heißt irrational?“) vorträgt, fällt in diese Kategorie: „eine geheimnisvoll-dunkle Sfäre“ [sic!],⁴⁷ die zugleich als konstitutiv und unauflösbar zu gelten hat. Ottos Beispiel, die Unterscheidung zwischen konkret benennbarer „Furcht“ und unsagbarer „Scheu“ vor dem Numinosen kommt Kierkegaards Existenzphänomenologie der Angst sehr nahe, hält sich aber an die religionsgeschichtlichen Belegfelder, denen so die Begründungslast für das Irrationale zukommt: Im „Gemüt“ liegt beides, die benennbaren Objektbeziehungen von Freude oder Furcht und das prinzipiell davon zu unterscheidende „Fascinans des Nu-
Vgl. William James, Pragmatismus. Ein neuer Name für einige alte Denkweisen, hg.v. Klaus Schubert/Axel Spree, Darmstadt 2001, 144; vgl. zum Kierkegaard-Beleg Hermann Deuser, Gottesinstinkt. Semiotische Religionstheorie und Pragmatismus, Tübingen 2004, 194. DH, 134. Zit. nach dem Briefabdruck in: Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos (Anm. 8), 141. S.o. Anm. 4. – Zu James’ durchaus auch phänomenologisch zu verstehendem Denken, nämlich dem „Bewusstseinsleben“ so „nachzuspüren, wie es sich selbst gibt“, vgl. Christoph Seibert, Religion im Denken von William James (Anm. 41), 30 f. Anm. 38. DH, 76.
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minosen“ – „Seligkeit“.⁴⁸ Doch gibt die begriffliche Objektlosigkeit, die zugleich gefühlsmäßig-vage Objektnähe im religiösen Sinn sein soll, eine korrekte Phänomenbeschreibung? James hat an dieser Stelle die mystischen Erfahrungen als seine höchstrangigen Beispiele angeführt und sowohl „Unaussprechbarkeit“ als auch ihre als überwältigend empfundene „Passivität“ hervorgehoben.⁴⁹ Was beweisen aber diese Phänomene und für wen sind sie überzeugend? – Will man sich nicht auf Ottos schwungvolle Replik zurückziehen, wer „religiöse Erregtheit“ nicht kenne, sei gebeten „nicht weiter zu lesen“⁵⁰ (wie rezeptionsästhetisch geschickt ist wohl eine solche Autorenempfehlung?), so bleibt nur James’ pragmatistisches und schon genanntes „Spießrutenlaufen“: Erfahrungspraktisch ist die aufgrund mystischer Zustände gewonnene Einsicht zu prüfen; sie ist zwar subjektiv unbestreitbar, gewinnt aber erst intersubjektive Geltung, wenn und weil sie, hypothetisch ernst genommen, wahr sein könnte. Der übernatürliche oder „ÜberGlaube“, dieses „MEHR“⁵¹ gehört fundamental zu aller Erfahrung, weil es als mystisches oder numinoses Phänomen der Entzogenheit eben zugleich für das steht, wofür die „Reflexion“ notorisch „zu spät kommt.“⁵² – Kann der begrifflichen Objektlosigkeit auf diese Weise phänomenologische Gerechtigkeit widerfahren, so liegt die Anschlussfrage auf der Hand: Wie kann dann die Gegenwärtigkeit gefühlter Objektnähe, mit Otto: das Irrationale, überhaupt zum Ausdruck kommen? Ottos Hinweise dazu lauten: durch „nahekommende ideogrammatische Bezeichnung“, durch „Zeichen“ und „Begriffs-symbole“ [sic!].⁵³
5 Wahrnehmung – der Darstellungsaspekt James hat keine explizite Darstellungs- oder Zeichentheorie geliefert, eher hat seine bildkräftige Sprache darauf geantwortet, wie unsere tiefsten Gefühle, Empfindungen oder Wahrnehmungen überhaupt Form finden können. Im Ausgangszitat benutzt James den Wahrnehmungsbegriff („perception“; Wobbermin übersetzt mit „Vorstellung“)⁵⁴ und auch im Kontext der zuletzt herangezogenen
DH, 76 f. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 384 f. – Vgl. Hermann Deuser, Religionsphilosophie (Anm. 23), 324 ff. DH, 8. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 423.495.489 f. A.a.O. 449. DH, 77. S.o. Anm. 2 ff.
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Stelle, dass „die Reflexion zu spät“ komme, heißt es: „In jedem lebendigen Akt der Wahrnehmung ist etwas Glitzerndes und Funkelndes, das sich nicht einfangen lassen will“.⁵⁵ – Sind solche Bilder bereits „ideogrammatisch“ im Sinne von Ottos Vorschlag zur Darstellung des Unmittelbaren? Die von Otto genutzte Begrifflichkeit ist vielfältig. Es dominieren „DeuteZeichen“,⁵⁶ „Ideogramm“,⁵⁷ aber auch einfach „Deutung“⁵⁸ oder „Zeichen“⁵⁹ kommen vor. Für die Frage nach der spezifischen Wahrnehmung in unmittelbaren Gefühlszuständen ist vor allem entscheidend, ob und wie Wahrnehmung von Wahrnehmungsurteil differenziert werden soll. Otto scheint dies zu tun, denn das Numinose ist keine „Sinneswahrnehmung“, sondern „Deutung“ von „sinneswahrnehmlich Gegebenem“.⁶⁰ Aber steckt hierin nicht ein Widerspruch? Wie soll die Unterscheidung zwischen dem numinosen Objekt und seiner Deutung getroffen werden können, ohne jenes selbst bereits zu deuten? – Ottos Zeichenbegrifflichkeit ist – religionsgeschichtlich orientiert – offenbar in Stufungen zu verstehen: An der schon genannten Stelle⁶¹ figuriert das Ideogramm als Basis, die dem numinos Wahrgenommenen am nächsten kommt. Darauf folgen zur wachsenden begrifflichen Klärung „dauernde Zeichen“ und schließlich die Theoriefähigkeit von „Begriffs-symbolen“. Die allererste Vermittlung des Unmittelbaren also geschieht im Ideogramm, d. h. in einem Schriftzeichen, das nicht einen Laut, sondern eine ganze Vorstellung bildhaft repräsentiert. Die Qualität der Wahrnehmung, die keine Sinneswahrnehmung sein soll, liegt dann in einem Vorstellungsbild, das seinen Zeichencharakter aufs Äußerste reduziert (keine Schriftoder Sprachsymbole nutzt) und die Objektbeziehung gewissermaßen ausblendet. Eine entsprechend differenzierte Semiotik (wie die des Pragmatisten C.S. Peirce) wäre also in der Lage, ein solches Zeichenereignis zu strukturieren, ohne dass ein unlösbarer Dualismus zwischen dem eigentlich Unfassbaren und seiner hinzukommenden Deutung aufgebaut werden muss. Die charakteristische Leistung des religiösen Verstehens läge dann darin, auf jene ursprüngliche, bildhaft-gefühlte Qualität besonders zu achten. Mit Ottos Worten gesagt: Das ideogrammatische Kreaturgefühl zu pflegen und zu bearbeiten.
William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 449. – Vgl. zur Stelle Hermann Deuser, Religionsphilosophie (Anm. 23), 360. DH, 21.35.64. DH, 21.79.112 f.117. DH, 110.153. DH, 172 f. DH, 138. DH, 77.
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Dasselbe gilt für James’ Wahrnehmungsbegriff in dem „Gefühl von objektiver Gegenwart, von ‚da ist etwas‘“.⁶² Die Vagheit der Formulierung trifft genau das Richtige: Ein Zeichenereignis, dessen Bildkraft quasi alles dominiert, während Objektrelation und Interpretation implizit bleiben. Doch James hat nicht zeichentheoretisch gearbeitet, sondern sein Verständnis von Pragmatismus⁶³ will die besondere Gefühlsqualität des Religiösen im Erfahrungsprozess selbst verankern und sieht sich deshalb am Ende zu dem Zugeständnis eines „piecemeal-supernaturalism“⁶⁴ veranlasst. Das wäre nicht nötig gewesen, wenn die Struktur des Zeichenereignisses so gefasst wäre, dass Unmittelbarkeit und Vermittlung in der qualitativ besonderen Weise zugeordnet werden können – wie es Ottos Ideogramm immerhin als Problemanzeige mitgeführt hat.
6 Übertragung – der religionsphilosophische Aspekt Das Ausgangszitat beginnt mit einem „It is as if there were“,⁶⁵ einer genau markierten Übertragung also aus dem Feld der Erkenntnistheorie in das der Religiosität. Beide, Otto wie James, kämpfen so um die Selbständigkeit und Legitimität des religiösen Gefühls in einem Zeitalter der (Natur‐)Wissenschaften, und beide wollen mit psychologischen bzw. phänomenologischen Beschreibungen überzeugen, die zugleich religionsphilosophisch, d. h. kategorial verankert werden sollen. Während Otto im Bereich seiner religionsgeschichtlichen Beispiele mit ständigen, man darf wohl sagen: existentiellen Ambivalenzen operiert (tremendum et fascinosum etc.), ist es bei James die nicht weniger existentiell persuasive, anthropologische Typisierung in die Religion des gesunden Geistes und der kranken Seele. ⁶⁶ Letztere gilt für James als der interessantere, eben der tiefer angelegte Fall, dessen Konfliktgefühl nach der religiösen Bearbeitung verlangt. Die entsprechenden Phänomene der Bekehrung, Heiligkeit und Mystik bestätigen dies, und Otto hätte dem zustimmen können. In der religionsphilosophischen Begründung aber, warum die Übertragung aus der Erkenntnis- in die religiöse Sphäre nicht auf einer Illusion beruht, sondern wissenschaftlich geboten ist,
William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 89. Hermann Deuser, Kreativität und Abduktion (Anm. 20), 35 – 47. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 497. William James, The Varieties of Religious Experience (Anm. 1), 73 (S. auch Anm. 3). Vgl. zu dieser religiösen Typisierung Hermann Deuser, Religionsphilosophie (Anm. 23), 351 ff.
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gehen Otto und James andere Wege. Man könnte auch sagen, ihre Wege kreuzen sich in dem entscheidenden Punkt der gefühlten Objektrealität dessen, was der standardwissenschaftlichen Erfassung gerade nicht entspricht, doch aber aufgrund von Übertragung in seiner Erschließungskraft zur genuinen Darstellung gebracht werden kann. Ottos Weg der Begründung greift auf das „religiöse Apriori“ zurück, diesen problematischen Begriff, der schon im Blick auf E. Troeltschs Einsatz in dieser Sache zu Recht als „simul empirisch, simul rational“ charakterisiert wurde.⁶⁷ Denn von Kants Kategorienlehre her gesehen ist diese Begriffsbildung ein Widerspruch in sich, und dies zu riskieren ist 100 Jahre nach Kant nur verständlich aus dem starken Motiv, gegen die Übermacht von Psychologie, Religionswissenschaft und Religionsgeschichte doch zumindest eine partielle Normativität und rationale Unumgänglichkeit des Religiösen im menschlichen Geist verteidigen zu können: die „einheitliche Persönlichkeit“ und den „Vernunftkern“, wie Troeltsch sagt,⁶⁸ im Gegenüber zu den empirischen Wissenschaften, die dann nicht mehr gescheut werden müssen. Ottos Programm ist insofern radikaler, als er für die „Momente des Numinosen“ sogar Kants „reine“ Apriorität⁶⁹ in Anspruch nehmen möchte, obwohl er andererseits, auch darin radikaler als Troeltsch, auf der Irrationalität des religiösen Gefühls und seiner Darstellungsmöglichkeit besteht. Beides zusammen geht eigentlich nicht; und dass sich Otto auf Kants Eingangssatz der ersten Kritik beruft, Erkenntnis sei zwar erfahrungsbedingt, entspringe deshalb aber nicht „aus der Erfahrung“, ist streng genommen doch auf Gefühle nicht anwendbar. Es sei denn, sie würden im Sinne Kants als Ideen der Vernunft betrachtet, was der Begründungskraft der Phänomene, auf die Das Heilige sich beruft, widerspräche. Otto könnte in diesem Punkt anders interpretiert werden: Der „Seelengrund“, dem das „Gefühl des Numinosen“ entstammt, ist ein „Erstes“, wie Otto selbst sagt,⁷⁰ also von anderer Kategorialität als Erfahrungserkenntnis und transzendentale
Hans-Georg Drescher, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen 1991, 328; vgl. (vor allem zu Ottos Begriffsgebrauch) Ansgar Paus, Apriori, religiöses, in: HWP 1 (1971), 475 f.; und zum Folgenden Ernst Troeltsch, Zur Frage des religiösen Apriori (1909), in: ders.: Zur religiösen Lage, Religionsphilosophie und Ethik (Ges. Schriften 2, 2. Aufl. 1922), Aalen 1962, 754– 768. Ernst Troeltsch, Zur Frage des religiösen Apriori (Anm. 67), 758. Vgl. DH, 137 ff. – Zu Ottos eigenwilliger Kant-Interpretation (im Anschluss an Fries) s. Anm. 23 ff.; vgl. die dezidierte Kritik am Gebrauch des Apriori bereits bei Sören Holm, Apriori und Urphänomen bei Rudolf Otto, in: Rudolf Ottos Bedeutung für die Religionswissenschaft und Theologie heute, hg.v. Ernst Benz, Leiden 1971, 70 – 83; zur Berufung auf Kants Kritik der Urteilskraft vgl. Todd A. Gooch, The Numinous and Modernity. An Interpretation of R. Otto’s Philosophy of Religion, Berlin/New York 2000, 64– 73. A.a.O. 139 (s. Anm. 37).
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Apriorität zusammen. James’ Pragmatismus hat deshalb vom „unbewussten Leben“ und religiösen „Instinkten“⁷¹ gesprochen, Peirce philosophisch konsequenter von instinktivem (kritischen) common sense, ohne den Erfahrungserkenntnis nicht denkbar, der aber selbst zwischen den Polen von Glauben und Handeln erfahrungsmäßig platziert ist. Diese erste (phänomenologische) Kategorie der Erfahrung will Otto – in seiner Frontbildung gegen den Evolutionismus und Pragmatismus – nicht wahr haben und versteckt sie einerseits unter Irrationalität,⁷² andererseits unter Apriorität, um so die geistige Instanz vor dem Zugriff der Naturwissenschaften zu retten.⁷³ Das wäre, gemessen an James’ Kant-Kritik, nun auf Ottos Seite so gar nicht nötig gewesen, denn die Übertragung des „it is as if …“ ist legitim, wenn auch an den die religiöse Realität erschließenden Grenzen der (empirischen) Erfahrung angesiedelt; jedenfalls kein „als ob“ im Sinne von Kants Glaubenswelt im schmerzhaften Abschied von der theoretischen Vernunft.⁷⁴ Das „feeling of objective presence“ ist religionsphilosophisch ernst zu nehmen.
Vgl. William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), Vorlesungen IX u. X.; zu Peirce’ Instinktbegriff vgl. Martin Schmuck, Peirces ‚Religion of Science‘ (Anm. 32), Abschnitt 2. Vgl. aber auch „Urgefühl“ und „Instinkt“, a.a.O. 60.66. Vgl. DH, 11 (s. auch Anm. 5). William James, Die Vielfalt religiöser Erfahrung (Anm. 4), 86. – Zu Kants „subjektive[m] Prinzip der Vernunft […] als ob es ein objektives Prinzip wäre“ vgl. Kritik der Urteilskraft, B 444; zu dieser Funktion von Kants „reflektierender Urteilskraft“ in Ottos religionsphilosophischer Argumentation vgl. Adina Davidovich, Religion as a Province of Meaning. The Kantian Foundation of Modern Theology, Minneapolis 1993, 153 ff.
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Zwischen Transzendentalphilosophie und Phänomenologie Die methodischen Grundlagen der Religionstheorien bei Otto und Tillich „Durch H[eidegger] und O[xner] (ich weiß nicht mehr, wer hier den Vortritt hat) wurde ich im letzten Sommer auf Ihr Buch über das Heilige aufmerksam und es hat stark auf mich gewirkt, wie kaum ein anderes Buch seit Jahren. Gestatten Sie, daß ich meinen Eindruck so fasse: Es ist ein erster Anfang für eine Phänomenologie des Religiösen, mindestens nach all dem, was eben nicht über eine reine Description und Analyse der Phänomene selbst hinausgeht.“¹ Edmund Husserls Lektüreeindruck von Rudolf Ottos Buch Das Heilige, den er seinem ehemaligen Göttinger Kollegen am 5. März 1919 mitteilte, ist durchaus verhalten. Wer auch immer Husserl auf die Schrift Ottos aufmerksam gemacht hatte, Martin Heidegger hat, wie wir aus dessen 1995 veröffentlichter Phänomenologie des religiösen Lebens wissen, nicht nur an einer Besprechung von Das Heilige gearbeitet, sondern auch eine Phänomenologie des Religiösen ausgeführt.² Unter den Ausarbeitungen und Entwürfen für eine im Wintersemester 1918/19 geplante Vorlesung über Die philosophischen Grundlagen der mittelalterlichen Mystik finden sich Vorarbeiten zu einer Rezension von Ottos Schrift.³ Heideggers Aufzeichnungen zu Otto, seine Entwürfe zu der geplanten Vorlesung, aber vor allem auch seine eigene Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion vom Wintersemester 1920/21 lassen den Problemhorizont der Kontroversen um 1900 gut erkennen.⁴ Er darf in den Debatten über den Begriff der Religion im Spannungsfeld zwischen Neukantianismus und Phänomenologie vor
Edmund Husserl an Rudolf Otto vom 5. 3.1919 (Rudolf-Otto-Nachlaß, Universitätsbibliothek Marburg, Hs 797:794), in: Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 139 – 142, hier 141. Eine längere englische Vorversion dieses Beitrags erscheint unter dem Titel „From the Religious apriori to Intending the Absolute: Reflections on the Methodological Principles in Otto and Tillich against the Backdrop of their Historical Problematic“ 2013 in der Zeitschrift HTS Teologiese Studies/Theological Studies. Martin Heidegger, Gesamtausgabe. II. Abteilung: Vorlesungen, Bd. 60: Phänomenologie des religiösen Lebens, Frankfurt a.M. 1995. Martin Heidegger, Phänomenologie des religiösen Lebens (Anm. 2), 303 – 337, hier 332– 334. Zu Heideggers früher Religionsphilosophie vgl. Christian Danz, Religion der konkreten Existenz. Heideggers Religionsphilosophie im Kontext von Ernst Troeltsch und Paul Tillich, in: KuD 55 (2009), 325 – 341.
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dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Absolutheit des Christentums gesehen werden.⁵ Die geltungstheoretische Begründung der Religion in einem religiösen Apriori wurde zunehmend als problematisch empfunden. Eine solche Konzeption wirft nicht nur die Frage auf, wie sich die Religion in den transzendentalgesetzlichen Aufbau des Bewusstseins einordnen lässt, sondern auch die, in welchem Verhältnis es zu den anderen Funktionen des Bewusstseins steht. Zudem realisieren sich transzendentalgesetzliche Funktionen geradezu notwendig. Wenn dies jedoch der Fall ist, wie lässt sich dann die für Religion konstitutive Unableitbarkeit und Kontingenz noch verstehen? Vor dem Hintergrund der angedeuteten Probleme verwundert es nicht, dass in den zeitgenössischen Kontroversen der Versuch unternommen wurde, cum grano salis neukantianische Konzeptionen unter Aufnahme von phänomenologischen Motiven zu einer vollzugsgebundenen Theorie der Religion weiterzuführen. Heideggers frühe Phänomenologie der Religion fügt sich nahtlos in diesen Horizont ein.⁶ Die geltungstheoretische Grundlegung der Religion in einem religiösen Apriori wird von ihm aufgelöst und durch eine Bestimmung der Religion als reflexive Durchsichtigkeit des faktischen Lebens ersetzt.⁷ Wenn es im Folgenden um die methodischen Grundlagen der Religionstheorien von Rudolf Otto und Paul Tillich gehen soll, dann ist der angedeutete problemgeschichtliche Hintergrund – auch wenn er hier in der Kürze der Zeit nicht weiter ausgeführt werden kann – im Auge zu behalten. Ottos Religionstheorie wird in einem ersten Überlegungsgang in einer werkgeschichtlichen Perspektive als Beitrag zu den Debatten über eine transzendentalphilosophische Grundlegung der Religion in den Blick genommen. Wie Otto, so ist auch der junge Tillich bestrebt, eine Religionstheorie auszuarbeiten, welche transzendentalphilosophische und phänomenologische Motive miteinander verzahnt. Um dessen religionstheoretisches Programm und seine Aufbauelemente wird es im zweiten Abschnitt gehen.
Vgl. nur Karl Heim, Ottos Kategorie des Heiligen und der Absolutheitsanspruch des Christentums, in: ZThK 28 (1920), 14– 41. Zur religionsphilosophischen Debatte um 1900 vgl. Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto und Max Scheler, Tübingen 1992. Vgl. nur Martin Heidegger, Das Heilige (Vorarbeiten zur Rezension von Rudolf Otto, Das Heilige, 1917), in: Ders., Phänomenologie des religiösen Lebens (Anm. 2), 332– 334, bes. 334: „Windelband (‚Das Heilige‘) zeigt den Einblick in fast dieselbe Fülle religiöser Phänomene, wenn auch in stark rationaler Formulierung, zeigt aber vor allem, daß entscheidend ist dies Prinzip der Problemstellung überhaupt und davon abhängig die Gliederung der Problemgruppen und die methodischen Ansätze.“ Vgl. Martin Heidegger, Einleitung in die Phänomenologie der Religion (Anm. 2), 105.
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1 Zwischen Transzendentalphilosophie und Erlebnistheorie: Das Heilige als Deutungskategorie des Geistes In seiner 1918 in den Kant-Studien unter dem Titel Zur Religionsphilosophie erschienenen Besprechung von Rudolf Ottos Buch Das Heilige verknüpfte Ernst Troeltsch wohlwollende Zustimmung zu dessen Ansatz im Allgemeinen mit harscher Kritik an der Durchführung im Einzelnen, die dann Schule machte. „Wenn Otto glaubt“, so Troeltschs Resümee zur werkgeschichtlichen Einordnung der Schrift von 1917, „die rationalen Elemente in dem ersten Buche [sc. der KantischFries’schen Religionsphilosophie] beschrieben zu haben und nur diese Darstellung jetzt durch die irrationalen zu ‚ergänzen‘, so verdeckt er sich damit m. E. einen totalen Frontwechsel und eben deshalb ist ihm gerade die Hauptaufgabe des Buches, das Verhältnis des Rationalen und Irrationalen zu bestimmen, so wenig gelungen.“⁸ Wie auch immer man Troeltschs Besprechung beurteilen mag, dem Berliner Ordinarius ist jedenfalls nicht entgangen, dass die von Otto in Das Heilige ausgeführte methodische Grundlegung der Religion in einem geltungstheoretischen a priori nicht unerheblich von seinen eigenen Überlegungen zur transzendentalphilosophischen Begründung der Religion abweicht. Ottos Religionsphilosophie kann man insgesamt durchaus als eine Auseinandersetzung und als einen Gegenentwurf zu der Troeltschs vor einem gemeinsam geteilten Problemhorizont lesen. Ebenso wie Troeltsch geht es Otto nicht nur um eine Begründung der Selbständigkeit der Religion im Spannungsfeld von Naturalismus und Historismus,⁹ sondern auch um eine Verzahnung von geltungstheoretischer Begründung der Religion mit einer Religionspsychologie sowie einer Begründung der Geltung des Christentums in der Religionsgeschichte. Insofern gehören sowohl die Konzeptionen von Otto als auch die von Troeltsch in den Kontext der Selbstverständigungsdebatten innerhalb der Ritschl-Schule in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Ähnlich wie Troeltsch differenziert Otto die Aufgabe einer modernegemäßen Religionsphilosophie in eine Religionspsychologie und eine geltungstheoretische
Ernst Troeltsch, Zur Religionsphilosophie. Rudolf Otto: Das Heilige, in: Ders., Rezensionen und Kritiken (1915 – 1923) (= KGA, Bd. 13), hg. v. Friedrich Wilhelm Graf, Berlin/New York 2010, 412– 425, hier 425. Vgl. Rudolf Otto, Darwinismus von heute und Theologie, in: ThR 5 (1902), 483 – 496; Ders., Die mechanische Lebenstheorie und die Theologie, in: ZThK 13 (1903), 179 – 213; Ders., Die Überwindung der mechanistischen Lehre vom Leben in der heutigen Naturwissenschaft, in: ZThK 14 (1904), 234– 272.
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Religionsphilosophie im engeren Sinne aus. Der letzteren obliegt, wie er in seiner Schrift Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie ausführt, die doppelte Aufgabe, zu untersuchen, „wie Religion und religiöse Überzeugungen und religiöses Erleben im vernünftigen Geiste selber entspringt, aus welchen Vermögen und Anlagen desselben sie hervorgeht und welchen Anspruch auf Gültigkeit sie dadurch hat“.¹⁰ Auf der Grundlage der transzendentalphilosophischen Begründung der Religion hat die Religionsphilosophie sodann eine, wie Otto es im Anschluss an Kant nennt, „Metaphysik der Religion“ sowie die „metaphysischen Anfangsgründe[…] der Religionslehre“ auszuführen.¹¹ Wie ordnet Otto nun die Religion in den Aufbau des Geistes ein, worin besteht ihre Eigenart, und in welchem Verhältnis steht sie zu den Kulturfunktionen des Geistes? „Religion ist selber Erleben des Geheimnisses schlechthin; nicht eines Geheimnisses, das nur eins für die Nichteingeweihten wäre, für höhere Grade aber aufgelöst würde, sondern das fühlbare Geheimnis alles zeitlichen Daseins überhaupt und das Durchscheinen der ewigen Wirklichkeit durch den Schleier der Zeitlichkeit für das aufgeschlossene Gemüth.“¹² Die Eigenart der Religion resultiere, so Otto in seiner Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie, weder aus der theoretischen noch aus der praktischen Vernunft – so unumgänglich notwendig beide Vermögen für die Realisierung der Religion und ihrer Wahrheit auch sein mögen – sondern aus einer eigenen Provinz im Gemüte: dem Gefühl. Schon hier fungiert der Gefühlsbegriff für ein „vorbegriffliches Evidenzerlebnis“,¹³ welches die Einheitsdimension des Geistes für diesen auf eine begrifflich nicht aussprechbare Weise repräsentiert.¹⁴ Aus diesem Grund muss das „Verständnis von Religion und auch
KFR, VI. KFR, VII. KFR, 75. Vgl. auch Rudolf Otto, Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie, in: ThR 13 (1910), 251– 275.293 – 305, hier 298: „Um eine Anlage handelt es sich. Und damit haben wir auch die wirkliche psychologische und zureichende Erklärung für die Tatsache, die wir oben nannten, und auf die wir bei religionsgeschichtlicher Arbeit noch mehr achten müssen als bisher, nämlich, daß es sich im religiösen Werden um einen Trieb handelt und zwar um einen von einer Mächtigkeit wie wenig andere.“ Vgl. auch a.a.O. 305. Ulrich Barth, Theoriedimensionen des Religionsbegriffs. Die Binnenrelevanz der sogenannten Außenperspektive, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 29 – 87, hier 43. Vgl. auch Rudolf Otto, Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie (Anm. 12), 302: „Unter ‚Gefühl‘ aber verstehen wir hier, wie auch unsere Sprache selber, einen unausgewickelten, verworrenen und dunklen Vorstellungsinhalt mit einer ihm entsprechenden eigentümlich bestimmten Zuständlichkeit des Gemütes. Jener vermag sich niemals in klare Begriffe aufzulösen. Er heftet sich an Bilder und Vorstellungen, die ihm irgendwie analog sein müssen, ohne daß man angeben kann, worin eigentlich die Analogie besteht und wie weit sie sich erstreckt.“ Vgl. KFR, 75: „Diese Unterordnung geschieht nicht durch einen klaren Mittelbegriff, sondern rein im Gefühl, und zwar in einem begrifflich nicht aufzulösenden Gefühl (‚unausgewickelte
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von Vorreligion […] in erster Linie Gefühlsanalyse sein“.¹⁵ Im Unterschied zu Schleiermacher fasst Otto freilich im Anschluss an Jakob Friedrich Fries und Kants Kritik der Urteilskraft das Gefühl nicht als ein präreflexives selbstbezügliches Zuständlichkeitsbewusstsein.¹⁶ Dem Gefühl eignet in erster Linie eine spezifische Weise der Qualifikation des Gegenstandsbewusstseins. „Dabei sind es nicht Schlüsse und begriffliche Reflexionen, sondern das unmittelbare Urteilen des Gefühles, das hier einen Vorgang unter die ‚Idee‘ subsumiert. Und daher die unmittelbare Gewalt, mit der beim Erleben des ‚Unerklärlichen‘ der religiöse Schauer den Erlebenden ergreift.“¹⁷ Religion, so kann man Ottos Überlegungen aus der KantischFries’schen Religionsphilosophie zusammenfassen, entspringt aus einer eigenen Vernunftquelle. In ihr repräsentiert das gegenständlich bestimmte Bewusstsein auf eine vorbegriffliche Weise die Einheitsdimension des Bewusstseins,welche zugleich als eine spezifische Bestimmtheit des Gefühls auftritt. An den methodischen Grundlagen seiner Religionsphilosophie, wie sie in der Schrift Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie von 1909 sowie in der ein Jahr später veröffentlichten Rezension von Wundts Völkerpsychologie ausgeführt ist, hat Otto in seinem 1917 erschienenen Buch Das Heilige festgehalten.¹⁸ Auch Das Heilige bietet eine transzendentalphilosophische Begründung der Religion im Anschluss an den kritischen Idealismus kantischer und fries’scher Provenienz. Freilich hat Otto, wie insbesondere die methodischen Eingangskapitel seines Klassikers erkennen lassen, die Vollzugsgebundenheit der Religion, die freilich bereits in dem seine gesamte Religionstheorie tragenden Erlebnisbegriff angelegt ist, schärfer herausgestellt.¹⁹ Darin wird man das Interesse Ottos erblicken dürfen, das in dem Begriff eines religiösen Apriori angelegte Problem seiner notwendigen
Begriffe‘ nach Kant). Ein solches nicht begrifflich aussprechbares, nur im Gefühl sich vollziehendes Auffassen nennt unsere Sprache ‚Ahnen‘. Daß dieses ahnende Auffassen der Idee aber diesen mächtigen, durch alle Grade des Erlebens sich erstreckenden Eindruck auf uns machen kann, kommt eben daher, daß die ‚Idee‘ im dunklen Innern unseres Geistes immer schon sich ‚schematisiert‘ hat, sich belebt hat mit den großen ‚praktischen‘ Inhalten, von denen die Rede war.“ Rudolf Otto, Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie (Anm. 12), 264. Vgl. KFR, 117; DH8, 9 – 12. Vgl. Ulrich Barth, Theoriedimensionen des Religionsbegriffs (Anm. 13), 44. KFR, 115. Zur Frage der Kontinuität in der werkgeschichtlichen Entwicklung von Ottos Religionsphilosophie vgl. Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos (Anm. 1), 10; Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft (Anm. 5), 108 – 114. Vgl. nur DH8, 8.
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transzendentalgesetzlichen Realisierung, also den Ausschluss der für die Entstehung der Religion konstitutiven Kontingenz, abzufangen.²⁰ Das Heilige, so die bekannte Bestimmung, sei „eine Deutungs- und Bewertungs-kategorie, die so nur auf religiösem Gebiete vorkommt“.²¹ Die apriorische Kategorie des Heiligen, die ihren Ort im Selbstverhältnis des menschlichen Bewusstseins hat, konstituiert die religiöse Sphäre. Religion ist, wie Otto gegenüber Wilhelm Wundt deutlich gemacht hat, kein Epiphänomen, welches aus anderen Quellen wie dem Animismus abgeleitet werden könnte, sondern „Religion fängt mit sich selber an, und ist selber schon in ihren ‚Vorstufen‘ des Mythischen und Dämonischen wirkend“.²² Freilich ist das Heilige eine komplexe Kategorie. Es repräsentiert eine Spannungseinheit von irrationalen und rationalen Momenten. Das irrationale Moment liegt nicht wie bei Troeltsch in der „irrationale[n] Tatsächlichkeit“ der Religion.²³ Vielmehr gehört es zusammen mit den rationalen Elementen zu den kategorialen Grundlagen der Religion im Selbstverhältnis des Geistes. Otto nimmt damit die unableitbare Erlebnishaftigkeit der Religion in ihre apriorischen geistphilosophischen Grundlagen auf. Sie entsteht unableitbar im gegenständlich bestimmten Weltbewusstsein, in dem „ich dem Gegenstande ein Prädikat, nämlich ein Bedeutungs-prädikat beilege, das mir die Sinneserfahrung nicht gibt, auch garnicht geben kann, das ich vielmehr spontan aus eigenem Urteilen ihm beimesse“.²⁴ Das religiöse Bewusstsein artikuliert sich als Einbruch von Reflexivität im und am gegenständlich bestimmten Bewusstsein, so dass die inhaltlichen Bestimmungen als Repräsentationen – bzw. wie Otto es nennt, Ideogramme und Schematisierungen – der Durchsichtigkeit des Geistes hinsichtlich seiner Tiefenstruktur fungieren. Otto verbindet in Das Heilige seine geistphilosophische Bestimmung der Eigenart der Religion mit einer Deutung der Religionsgeschichte, die im Christentum gipfelt. Den Ausgangspunkt bildet die transzendentale Struktur des Geistes. „Die Anlage, die die menschliche Vernunft beim Eintritt der Gattung Mensch in die Geschichte mitbrachte, ward einst auch ihr teils durch Reize von außen teils durch eigenen Druck von innen her zum Triebe, nämlich zum religiösen, der sich in tastender Regung, in suchender Vorstellungs-bildung, in immer vorwärtstrei-
Das Problem ist Otto schon in der Studie über die Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie bewusst. Vgl. KFR, 3 f.; Ders., Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie (Anm. 12), 305. DH8, 5. DH8, 163. Ernst Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft. Eine Untersuchung über die Bedeutung der Kantischen Religionslehre für die heutige Religionswissenschaft, Tübingen 21922, 22. DH8, 165 f.
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bender Ideen-erzeugung sich über sich selber klar werden will und klar wird durch Auswicklung der dunklen Ideen-grundlage a priori selber, aus dem er auch selber entsprang.“²⁵ Auf der methodischen Grundlage seiner Geistphilosophie deutet Otto die Religionsgeschichte als den Weg des Geistes hin zu seiner Selbsterfassung.²⁶ Das Ziel des religionsgeschichtlichen Prozesses bildet die Selbstdurchsichtigkeit des Geistes in seiner Tiefenstruktur. Zwar sei das im Gefühl repräsentierte Numinose gewissermaßen die Tiefendimension der Religion, aber Kultur- und Menschheitsreligion vermag die Religion in ihrer geschichtlichen Entwicklung nur dann zu werden, wenn die beiden Momente des Irrationalen und Rationalen „in gesunder und schöner Harmonie stehen“.²⁷ Das ist in der Stiftergestalt des Christentums der Fall. Das Geschichtsbild Jesu, welches von Otto von den „zufälligen Schwankungen exegetischer Ergebnisse und der Qual historischer Legitimationen“ gelöst wird,²⁸ ist für ihn der Ausdruck der wahren Religion in der Geschichte. Christus – so wird man sagen können – ist für Otto die Darstellung der Selbsterfassung des geschichtlich eingebundenen religiösen Bewusstseins. Transzendentalphilosophie, Erfahrungsbegriff und Religionsgeschichte werden von Otto zu einer spannungsreichen Einheit verbunden. Der geltungstheoretische Begriff des religiösen Apriori richtet sich gegen Deutungen der Religion als ein Epiphänomen, und der Erlebnisbegriff soll die Unableitbarkeit der wirklichen Religion bereits auf einer kategorialen Ebene sicherstellen. Die Zuordnung des religiösen Apriori zum Gefühl wirft freilich auch Fragen auf: ist dieses den anderen transzendentalgesetzlichen Funktionen über- oder nebengeordnet?
2 Vom religiösen Apriori zum Meinen des Unbedingten, oder: Religion und Kultur bei Paul Tillich Auf einer geistphilosophischen Grundlage und im Spannungsfeld von Neukantianismus und Phänomenologie hat Paul Tillich nach dem Ersten Weltkrieg eine Religionstheorie ausgearbeitet, welche sowohl die Eigenart der Religion im Unterschied zum Kulturbewusstsein zu erfassen erlauben soll als auch deren Bedeutung für die moderne Kultur herausarbeitet. Dieses Interesse lässt bereits seine DH8, 145. Vgl. auch a.a.O. 144. Vgl. DH8, 214: „Wer Geistes-Geschichte will, muß qualifizierten Geist wollen; wer ReligionsGeschichte meint, meint Geschichte eines für Religion qualifizierten Geistes.“ DH8, 173. DH8, 211.
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1910 an der Universität Breslau eingereichte philosophische Dissertation über Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien erkennen.²⁹ Die hier von Tillich skizzierte Religionstheorie bezieht sich nicht nur auf die zeitgenössische religionsphilosophische Debatte, sie beansprucht auch, die mit den „idealistisch-religionsgeschichtliche [n] Konzeptionen“ der Gegenwart verbundenen Schwierigkeiten, namentlich der Religionsphilosophie von Ernst Troeltsch, zu überwinden.³⁰ Im dritten Abschnitt der philosophischen Dissertation von 1910 wendet sich Tillich Schellings Religionsbegriff zu. Als grundlegende methodische Einsicht der späten Philosophie Schellings wertet Tillich, dass dieser kein „selbständiges Apriori für die religiösen Erscheinungen“ aufgestellt habe.³¹ „Nicht in irgendeiner Form der Geistestätigkeit ist das Wesen der Religion zu suchen, sondern in der Geistigkeit des Menschen als solcher.“³² Schellings Beitrag für die gegenwärtigen religionsphilosophischen Debatten erblickt der junge Tillich darin, dass dieser den Religionsbegriff auf der Grundlage des Gottesbegriffs konstruiert.³³ Damit scheiden solche Begründungen der Religion, welche diese wie Troeltsch und Otto auf ein religiöses Apriori, auf eine bestimmte Bewusstseinsfunktion zurückführen, als unzulänglich aus. „Die reine Substanz des menschlichen Bewußtseins ist das natura sua Gott Setzende: das menschliche Bewußtsein steht in einem realen, substantiellen Verhältnis zu Gott und dies Verhältnis ist das religiöse.“³⁴ Tillich versteht Schellings spekulative Religionsphilosophie so, dass dieser Gottesbegriff und Bewusstseinstheorie zu einem Begriff der Religion verzahnt und Religion als ein Selbstverhältnis Gottes konstruiert. Der Begriff einer reinen
Paul Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion in Schellings positiver Philosophie, ihre Voraussetzungen und Prinzipien, in: Ders., Frühe Werke, Berlin/New York 1998, 154– 272. Zu den Hintergründen von Tillichs philosophischer Dissertation vgl. Georg Neugebauer, Tillichs frühe Christologie. Eine Untersuchung zu Offenbarung und Geschichte bei Paul Tillich vor dem Hintergrund seiner Schellingrezeption, Berlin/New York 2007, 155 – 158.392– 399. Paul Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion (Anm. 29), 158 f. A.a.O. 232. A.a.O. 233. A.a.O. 235. Ebd. Vgl. Georg Neugebauer, Die religionsphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs vor dem Hintergrund seiner Schelling- und Husserlrezeption, in: Paul Tillichs Theologie der Kultur. Aspekte – Probleme – Perspektiven, hg. v. Christian Danz/Werner Schüßler, Berlin/ Boston 2011, 38 – 63, bes. 41– 47; Ders., Tillichs frühe Christologie (Anm. 29), 169 – 175. Zu Schellings Konstruktion des Mythos vgl. Christian Danz, Das Werden Gottes im Bewusstsein der Menschheit. Der Begriff des Mythos bei Schelling, in: Ders., Gott und die menschliche Freiheit. Studien zum Gottesbegriff in der Neuzeit, Neukirchen-Vluyn 2005, 28 – 44.
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Substanz des Bewusstseins steht für die Synthesis- und Einheitsfunktion im Selbstverhältnis des Bewusstseins, welche allen Akten bereits zugrunde liegt. In der Herausarbeitung der Religion als Prinzip, wie Tillich die eben skizzierte Einheitsfunktion bezeichnet, erschöpft sich freilich dessen Rekonstruktion von Schellings Religionsphilosophie noch nicht. Er verknüpft mit dem Prinzip der Religion die über Schelling hinausgehende Frage,wie das Prinzip der Religion sich zu den Bewusstseinsfunktionen Denken, Handeln und Fühlen verhält. In dieser Erweiterung der Problemstellung zeigt sich das spezifische Interesse Tillichs: ihm geht es nicht nur um das Prinzip der Religion, sondern vor allem um die Frage, wie sich die wirkliche, aktuelle Religion in der Geschichte verwirklicht.³⁵ Das als reine Substanz des Bewusstseins bestimmte Prinzip der Religion stellt die Einheitsfunktion des menschlichen Geistes dar, aber sie kann sich nur durch und in den drei Geistesfunktionen des Bewusstseins verwirklichen.³⁶ Tillich unterscheidet also zwischen einem Prinzip der Religion und der aktuellen, wirklichen Religion. Das Prinzip der Religion stellt die als Verhältnis Gottes zu sich selbst gefasste Einheitsfunktion des Bewusstseins dar. Die wirkliche Religion hingegen ist die Realisierung dieser Einheitsfunktion in den Geistesfunktionen des Denkens, Handelns und Fühlens. Nach dem Ersten Weltkrieg hat Tillich seine frühe Religionstheorie weitergeführt. Vor dem Hintergrund seiner Rezeption der sinntheoretischen Debatten in Neukantianismus und Phänomenologie kommt es jedoch nicht nur zur Transformation der prinzipientheoretischen Grundlagen seiner Religionstheorie, sondern auch zu einer Neubestimmung seines Religionsbegriffs.³⁷ Tillich hatte bereits in seiner frühen Religionstheorie den geltungstheoretischen Begriff eines religiösen Apriori aufgegeben und in einer absolutheitstheoretischen Perspektive zwischen Religion als Prinzip und aktueller Religion unterschieden. Allein auch seine Geistphilosophie, welche das Unbedingte als allgemeine Grundlagenfunktion des Bewusstseins ansetzt, ist mit dem Einwand konfrontiert, wie sich unter dieser Voraussetzung die für Religion konstitutive Unableitbarkeit und Kontingenz noch behaupten lässt. Denn wenn das Unbedingte die Grundlage allen Bewusstseins darstellt und die Religion die Substanz des Bewusstseins sein soll, wie kann es dann ein unreligiöses Bewusstsein geben? Tillichs sinntheoretische Reformulierung seiner Religionstheorie und der für sie konstitutiven Unterscheidung
Vgl. Georg Neugebauer, Die geistphilosophischen Grundlagen der Kulturtheologie Tillichs (Anm. 34), 44. Vgl. Paul Tillich, Die religionsgeschichtliche Konstruktion (Anm. 29), 240 f. Zur sinntheoretischen Debatte um 1900 vgl. Ulrich Barth, Die sinntheoretischen Grundlagen des Religionsbegriffs. Problemgeschichtliche Hintergründe zum frühen Tillich, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 89 – 123.
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von Religion als Prinzip und aktueller Religion dürfen als Umgang mit dieser Schwierigkeit verstanden werden. Die Bestimmung der aktuellen Religion aus der Dissertation von 1910 nimmt Tillich ab den 1920er Jahren in seine Formel der Religion als Richtung auf das Unbedingte auf, während die vormalige Religion als Prinzip in die Bestimmung eines substantiell religiösen Bewusstseins bzw. eines implizit religiösen Bewusstseins überführt wird. Die zuletzt genannte Bestimmung, die erstmals in dem Vortrag Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie von 1922 begegnet,³⁸ zielt auf das Unbedingte als allgemeiner Grundlagenfunktion im Selbstverhältnis des Bewusstseins. Gemeint ist eine Beschreibung der Voraussetzung der Synthesis- und Einheitsfunktion des Bewusstseins und freilich keine wie auch immer geartete gegenstandsorientierte Substanzvorstellung. Im Unterschied zum substantiell religiösen Bewusstsein beschreibt Tillich mit der Bestimmung ‚Religion als Richtung auf das Unbedingte‘ das unableitbare Entstehen der Religion im geschichtlich eingebundenen Kulturbewusstsein. In seiner Bestimmung der Religion als Richtung oder Meinen des Unbedingten schlägt sich Tillichs Rezeption der Phänomenologie Husserls nieder. Sie erst ermöglicht es Tillich, die innere Struktur des religiösen Bewusstseins und seines Verhältnisses zum Kulturbewusstsein genauer zu beschreiben. Zunächst: Tillich löst den Religionsbegriff nicht nur von den Bewusstseinsfunktionen ab, sondern auch von dem unbestimmten Erfahrungs- und Erlebnisbegriff, der die methodische Grundlage von Ottos Religionstheorie bildet.³⁹ Der Erfahrungsbegriff als Bestandteil der Religionstheorie wird durch eine intentionalitätstheoretische Beschreibung des religiösen Bewusstseins ersetzt. Religion sei, wie Tillich unter Aufnahme des „von der phänomenologischen Schule gebrauchte[n] Begriff[s] des Meinens“ formuliert,⁴⁰ Meinen des Unbedingten. Sodann ist Religion für Tillich das Geschehen, in dem sich das geschichtlich eingebundene Kulturbewusstsein in seiner Tiefenstruktur erfasst. Das ist nur in und an den konkreten, kulturellen
Paul Tillich, Die Überwindung des Religionsbegriffs in der Religionsphilosophie, in: Ders., Ausgewählte Texte, Berlin/New York 2008, 63 – 80, hier 71 f. Vgl. Folkart Wittekind, Grund- und Heilsoffenbarung. Zur Ausformung der Christologie Tillichs in der Auseinandersetzung mit Karl Barth, in: Jesus of Nazareth and the New Being in History. International Yearbook for Tillich Research, Vol. 6, Berlin/Boston 2011, 89 – 119, bes. 95 – 98. Signifikant hierfür ist Tillichs Ersetzung der Formulierung „Religion ist Erfahrung des Unbedingten“ durch die phänomenologisch inspirierte Bestimmung „Richtung auf das Unbedingte“ in der zweiten Auflage seines Vortrags Über die Idee einer Theologie der Kultur von 1921. Vgl. Paul Tillich, Über die Idee einer Theologie der Kultur, in: Ders., Ausgewählte Texte, Berlin/ New York 2008, 25 – 41, hier 30.41. Paul Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, in: Ders., Religion, Kultur, Gesellschaft. Unveröffentlichte Texte aus der deutschen Zeit (1908– 1933), 1. Teil, Berlin/New York 1999, 127– 230, hier 225.
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Bestimmungen des Bewusstseins möglich. Tillichs Rede, dass das Unbedingte von dem religiösen Bewusstsein „durch die bedingten Vorstellungen hindurch“ gemeint wird, beschreibt intentionalitätstheoretisch das Geschehen von Selbstdurchsichtigkeit im Selbstverhältnis des Bewusstseins und dessen Darstellung. Die religiösen Gehalte beziehen sich also nicht auf eine dem Bewusstsein externe Dimension, sondern sie bezeichnen die Durchsichtigkeit des religiösen Aktes für diesen selbst. Ähnlich wie für Otto kann die Unbedingtheitsdimension im Bewusstsein in diesem nur als Negation erfasst werden, so dass die konkreten Inhalte zu Ideogrammen werden. Tillichs Symboltheorie baut genau auf diese intentionalitätstheoretische Fassung des religiösen Bewusstseins auf. Und schließlich löst Tillich die Religion als eine besondere Sphäre in der Kultur auf und versteht sie als ein Geschehen in und an den kulturellen Formen. Religion ist der Ort in der Kultur, in dem sich diese in ihrer Tiefenstruktur verständlich wird. Blickt man von diesem Resultat noch einmal auf den Gang unserer Überlegungen zurück, so zeigt sich, dass in den Debatten um einen angemessenen Begriff der Religion um 1900 der geltungstheoretische Gedanke eines religiösen Apriori, wie er von Ernst Troeltsch und Rudolf Otto vorgeschlagen wurde, zunehmend problematisiert und aufgelöst wurde. Otto selbst verzahnte den transzendentalgesetzlichen Gedanken der Religion mit dem Erlebnisbegriff, um die für den Religionsbegriff notwendige Kontingenz zu bewahren. Paul Tillich schließlich löste in seiner Konzeption den Begriff eines religiösen Apriori gänzlich auf und konstruierte die Religionstheorie als eine intentionalitätstheoretische Beschreibung des religiösen Aktes in seiner geschichtlichen Einbindung. Es mag hier offen bleiben, ob Husserls eingangs genannte Bemerkung, Ottos Schrift über Das Heilige sei lediglich ein „erster Anfang für eine Phänomenologie des Religiösen“, auf die mit dem religiösen Apriori verbundenen Probleme zielte. Sein Schüler Martin Heidegger hat jedenfalls in seiner frühen Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion dafür plädiert, den Begriff der Religion von der Konstruktion eines religiösen Apriori abzulösen und Religion als das konkrete Sich-Verstehen des Menschen in der Geschichte zu verstehen.
Werner Schüßler
Gott erfahren – Gott denken Paul Tillich im Anschluss an Rudolf Otto¹ Der evangelische Theologe und Religionsphilosoph Paul Tillich hat sich zumeist nur recht marginal über philosophische oder theologische Denker geäußert, denen er entscheidende Impulse für sein eigenes Werk verdankt, und diese Äußerungen sind dann noch oft von einer solchen Allgemeinheit, dass das für die theologie- und philosophiehistorische Arbeit nicht selten reichlich Raum lässt für die verschiedensten Interpretationen. Das Verhältnis Tillichs zu Rudolf Otto bildet hier eine gewisse Ausnahme, hat Tillich doch schon zu dessen Lebzeiten zwei kleinere Beiträge zu diesem Denker verfasst, in denen er auch explizit auf die Bedeutung aufmerksam macht, die Otto auf sein eigenes Denken ausübte. Hierbei handelt es sich um die beiden Beiträge „Die Kategorie des ‚Heiligen‘ bei Rudolf Otto“ von 1923² sowie „Der Religionsphilosoph Rudolf Otto“ von 1925,³ wobei bei letzterem schon der Titel bezeichnend ist. Vielleicht mag der Eindruck, den Ottos Denken auf Tillich machte, durch die persönlichen Kontakte, die er in seiner Marburger Zeit 1924/25 mit ihm pflegte, noch verstärkt worden sein.⁴ Schon bald nach Erscheinen von Ottos Hauptwerk Das Heilige hat Tillich dieses – noch im Felde – regelrecht verschlungen. Es sei „ein unvergeßliches Ereignis“ für ihn gewesen, als das Buch Ottos bei ihm eintraf, bekennt er noch Jahre später.⁵ Tillich fand es geradezu als eine „Befreiung“,⁶ war „Das Heilige“ für ihn doch geradezu „das Buch des Durchbruchs auf religionsphilosophischem
In einer wesentlich erweiterten Fassung erscheint dieser Beitrag auch unter dem Titel ‚My very highly esteemed friend Rudolf Otto‘. Die Bedeutung Rudolf Ottos für das religionsphilosophische Denken Paul Tillichs, in: International Yearbook for Tillich Research 8 (2013), 153– 174. GW XII, 184– 186, urspr. erschienen in: Theologische Blätter 2 (1923), 11– 12. Die Werke Paul Tillichs werden wie folgt zitiert: EW = Ergänzungs- und Nachlassbände zu den Gesammelten Werken von Paul Tillich, hg.v. Ingeborg Henel u. a., bisher 17 Bd., Stuttgart/Berlin 1971 ff.; GW = Gesammelte Werke, hg.v. Renate Albrecht, 14 Bde., Stuttgart 1959 ff.; MW = Main Works/Hauptwerke, hg.v. Carl Heinz Ratschow, 6 Bde., Berlin 1987 ff.; ST = Systematische Theologie, 3 Bde., Stuttgart 1955 ff. GW XII, 179 – 183, urspr. erschienen in: Vossische Zeitung Nr. 58 (1923), 2– 3. Vgl. dazu Peter Schüz, Rudolf Otto und Paul Tillich – biographische und theologische Überlegungen, in: Rudolf Otto: Subjekt und Religion, hg.v. Thorsten Dietz/Harald Matern, Zürich 2012, 197– 236, bes. 215 – 218. Vgl. zum Folgenden auch Werner Schüßler, Der philosophische Gottesgedanke im Frühwerk Paul Tillichs, Würzburg 1986, 176 – 194. GW XII, 179. GW XII, 182.
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Werner Schüßler
Gebiet“.⁷ Von daher wird verständlich, wenn Tillich davon spricht, dass er Otto sogleich eine „leidenschaftliche Zustimmung“ entgegengebracht hat.⁸ In einem Brief an den Freund Emanuel Hirsch vom 9. Mai 1918 wird dies noch einmal unterstrichen, wenn es hier heißt: „Mein alter Sinn fürs Irrationale, fürs Paradoxe, […] mein praktischer Irrationalismus, Antilogismus und Antimoralismus – all das kommt Ottos Gedanken mit offenen Armen entgegen.“⁹ Tillich spricht in diesem Zusammenhang auch von „Lästerungen wider den heiligen Geist Kants“, die er selbst – im Gegensatz zu den Ritschlianern – aber zu begrüßen scheint.¹⁰ Aus den wenigen Äußerungen zu Otto in seiner Systematischen Theologie wird deutlich, dass Tillich ganz besonders dessen phänomenologische Methode begrüßt, wenn er diese auch um ein kritisches, später sogar noch um ein weiteres, nämlich ein ontologisches Element ergänzt wissen will; ich werde darauf zurückkommen. Seine Kernaussage lautet in diesem Zusammenhang: „Heiligkeit ist ein Phänomen der Erfahrung, sie ist der phänomenologischen Beschreibung zugänglich. Die Idee des Heiligen ist die beste Eingangstür in das Verständnis der Religion, und sie ist die beste Grundlage für eine Philosophie der Religion. Das Heilige und das Göttliche müssen korrelativ interpretiert werden. Eine Lehre von Gott, die die Kategorie der Heiligkeit nicht enthält, ist nicht nur unheilig, sondern unwahr.“¹¹ Tillich kommt in seinem Werk immer wieder auf Otto zu sprechen, wobei es sich oft aber auch nur um wenige Andeutungen handelt.¹² Selbst in seinem letzten Vortrag über „The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian“, den er am 11. Oktober 1965, nur elf Tage vor seinem Tod, in Chicago gehalten hat, kommt Tillich noch einmal explizit auf Otto zu sprechen, wenn er hier zu Anfang von ihm als seinem „very highly esteemed friend“ spricht.¹³ Damit wird deutlich, dass Otto wie kaum ein anderer Denker in Tillichs gesamtem Werk – implizit oder explizit – immer präsent ist und dieser Einfluss über die verschiedenen Phasen der Entwicklung seines systematischen Denkens hinweg, vom subjekt- und
GW XII, 184. GW XII, 179. EW VI, 123 f. EW VI, 124. ST I, 251; vgl. 55. Wobei auch ein besonderes Augenmerk auf drei von Tillichs Vorlesungen über Religionsphilosophie zu richten ist, die uns erhalten sind: eine vom SS 1920 in Berlin (vgl. EW XII, 333 – 584), eine vom Frühjahrssemester 1934 in New York (vgl. EW XVII, 1– 55) sowie eine vom Frühjahrssemester 1962 in Harvard, die Jean Richard von der Universität Laval in Québec demnächst publizieren wird auf der Grundlage von Tonbandaufzeichnungen von Peter John. Prof. Richard hat mir dankenswerter Weise sein diesbzgl. Typoskript zur Verfügung gestellt. Vgl. Paul Tillich, Ausgewählte Texte, hg.v. Christian Danz/Werner Schüßler/Erdmann Sturm, Berlin/New York 2008, 456.
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sinntheoretischen Ansatz der Frühzeit bis hin zur anthropologisch und existentialontologisch dominierten Spätzeit, relativ konstant bleibt – von einigen Nuancen einmal abgesehen.¹⁴ Wenn man Tillichs Äußerungen zu Rudolf Otto systematisiert, so kommt man – abgesehen von der Methodenfrage, auf die ich im vierten Punkt, wo es um Tillichs Kritik an Otto und sein Hinausgehen über ihn gehen wird, ausführlich zu sprechen kommen werde – auf die folgenden drei Punkte, die für Tillichs eigene Religionsphilosophie von Bedeutung sind:¹⁵ Erstens in Bezug auf den Gottesbegriff: Hier macht Tillich auf den Begriff des „ganz Anderen“ und den des Mysteriums aufmerksam sowie die damit verbundene Kontrastharmonie von tremendum und fascinans, die er in Beziehung setzt zu seiner eigenen Unterscheidung von Grund und Abgrund. – Zweitens in Bezug auf die Gotteserkenntnis: Nach Tillich hat nämlich Otto „das Wesen der Grundoffenbarung“,¹⁶ „die eine Schicht tiefer liegt als jede geformte Offenbarung“,¹⁷ deutlich gemacht. – Drittens in Bezug auf die Gottesrede: Hat doch Otto nach Tillich „die Funktion religiöser Symbole in klassischer Weise beschrieben“.¹⁸
1 Zum Gottesbegriff Tillichs Sinn für das Irrationale – von dem er in dem schon genannten Brief an den Freund Emanuel Hirsch spricht – wird natürlich nicht nur durch Ottos Gottesbegriff bestätigt bzw. bestärkt, sondern auch schon durch Denker wie Boehme („Ungrund“ oder „Natur in Gott“), Schelling („erste Potenz“) oder Schopenhauer („Wille“), auf die er in diesem Zusammenhang auch selbst immer wieder hinweist.¹⁹ Aber Otto betont diesen Aspekt innerhalb der Gottesidee ja auf explizite Art und Weise, wenn er in diesem Zusammenhang vom Numinosen oder dem „ganz Anderen“ spricht. Diesen Aspekt des „ganz Anderen“, der sich nach Otto als
In der Vorlesung über „Religionsphilosophie“ vom SS 1920 spricht Tillich davon, dass die beiden Bestimmungen der Religion durch Rudolf Otto und Georg Simmel seiner eigenen Religionsphilosophie am nächsten ständen und „am unmittelbarsten an ihrer Konception beteiligt gewesen“ wären (EW XII, 438). Zu weiteren Verbindungslinien zwischen Otto und Tillich, nämlich in Bezug auf die Themenfelder „Politik und Gesellschaft“ sowie „Gottesdienst und religiöse Praxis“ vgl. Peter Schüz, Rudolf Otto und Paul Tillich (Anm. 4), 218 – 222. – Auf die Mystik komme ich in meinem Resümee zu sprechen. GW VIII, 96. GW X, 91. GW V, 240; vgl. GW XII, 182. ST I, 270; vgl. 211.221.284.
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Werner Schüßler
„mysterium tremendum et fascinosum“ aufweisen lässt, greift Tillich mit seinem Begriff „Abgrund“ auf.²⁰ Er betont aber gleichzeitig, dass „das ganz andere […] immer zugleich das ganz Eigene“ sei, und letzteren Aspekt bringt er mit dem Begriff „Grund“ zum Ausdruck.²¹ Dies eröffnet auch die Möglichkeit zur Begründung einer Kulturtheologie, und es impliziert die Analogie des Seins in Bezug auf die Gottesrede. Ich werde auf beide Aspekte an späterer Stelle zurückkommen. Auch wenn Otto diesen Schritt zu einer Theologie der Kultur aufgrund seiner Begrenzung auf die phänomenologische Methode, wie Tillich immer wieder betont, nicht mitgehen kann, so muss man Otto doch zugute halten, dass er Tillich attestiert, dass er mit seinen Begriffen „Grund“ und „Abgrund“ das, worum es ihm, Otto, wesentlich geht, „treffend“ zum Ausdruck gebracht habe.²² Ist der Terminus „Grund“ auf den Begriff des Rationalen in der Idee des Göttlichen zu beziehen, so der Terminus „Abgrund“ auf den Begriff des Irrationalen.²³ Da die Begriffe „tremendum“ und „fascinans“ beide auf die irrationale Seite in der Idee des Göttlichen gehören, ist es richtig, wenn Tillich den (Sinn‐)Abgrund mit dem „tremendum et fascinosum“ Ottos identifiziert.²⁴ Tillichs Begriff des Dämonischen mit Ottos Begriff des tremendum in Verbindung zu bringen, wie das z. B. Seigfried tut,²⁵ halte ich dagegen für sehr problematisch. Der schwierige und komplexe Begriff des Dämonischen bei Tillich ist,²⁶ wenn überhaupt, vielleicht mit dem „Negativ-numinosen“ Ottos, dem „Teuflischen“ zu vergleichen.²⁷ Von hier dürfte auch Tillich seine Bezeichnung „das Heilige mit negativen Vorzeichen“²⁸ entlehnt haben. Als das „Abscheuliche“ und „Verwerfliche“ wird dieses Negativ-numinose Otto zufolge von dem numinosen Gefühl „gehaßt“.²⁹ Allerdings kann Tillich mit einem gewissen Recht davon sprechen, dass alle dunklen Seiten der Religion und auch der dämonische Untergrund der religiösen Realität mit dem „mysterium tremendum“ zu tun haben,³⁰ führt doch die phänomenologische Methode – und das ist ja auch sein Haupt-
Vgl. GW IX, 35. GW VIII, 96; vgl. EW XVII, 48. Vgl. SU, 190. Vgl. GW X, 91. Vgl. GW IX, 35. Vgl. Theodor Seigfried, Das Unbedingte und der Unbedingte, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 7 (1926), 323 – 347.334. Vgl. dazu Werner Schüßler, „Was uns unbedingt angeht.“ Studien zur Theologie und Philosophie Paul Tillichs (Tillich-Studien 1), Berlin 32009, 331– 343. GÜ, 64. GW I, 338. GÜ, 64. Vgl. Paul Tillich, Vorlesung „Philosophy of Religion“, Lect. 4, Harvard 1962 (Anm. 12).
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kritikpunkt an Otto – „nicht über die reine Beschreibung hinaus zu der Frage nach der Gültigkeit der beschriebenen Phänomene“.³¹ Es sei an dieser Stelle auch nicht unerwähnt gelassen, dass Tillich den Aspekt des „fascinans“ auch des Öfteren mit seinem Begriff der „Ekstase“ in Zusammenhang bringt,³² den er fruchtbar macht für sein Offenbarungsverständnis.³³
2 Zur Gotteserkenntnis In Bezug auf die Möglichkeit einer natürlichen Gotteserkenntnis stehen beide Denker ohne Zweifel in der Tradition Kants und Schleiermachers, wonach der Begriff der „natürlichen Theologie“ – um mit Hans-Joachim Birkner zu sprechen – geradezu „eine Art Ketzername“ bedeutet.³⁴ Aber damit scheint mir das Problem der natürlichen Theologie weder entschieden noch gelöst zu sein – Tillich scheint das auch selbst zu ahnen. Nach Otto kann das Überweltliche nicht gefasst werden „von dem theoretischen Erkennen der Welt und der Weltzusammenhänge“,³⁵ sondern es ist nur in der Intuition greifbar und erlebbar. Es handelt sich hierbei um „Erkenntnisse intuitivgefühlsmäßiger, nicht reflexionsmäßiger Art“.³⁶ Das Numen offenbart sich nach Otto, indem es sich dem Gemüte und dem Gefühle kundtut.³⁷ Sich offenbaren heißt jedoch nicht „Übergehen in verstandesmäßige Begreiflichkeit“, denn „es kann etwas nach seinem tiefsten Wesen dem Gefühle bekannt ja vertraut, beseligend oder erschütternd sein, wofür doch der Verstand jeden Begriff versagt“.³⁸ Otto scheint hier den Begriff der natürlichen Theologie auf die sog. Gottesbeweise einzuengen, wenn er meint, dass es für das religiöse Gefühl unmöglich sei, „Gott im Ernste zu denken als ein ‚Ding‘ neben anderen ‚Dingen‘, das je mit diesen in eine abzählbare Reihe treten könnte (was es auch dann tun würde, wenn es das erste Glied dieser Reihe sein sollte).“³⁹ Ob Otto mit dieser Argumentation,
GW V, 240. Vgl. Paul Tillich, Vorl. „Philosophy of Religion“, Lect. 4, Harvard 1962 (Anm. 12); EW XVII, 46. Vgl. ST I, 135– 139. Hans-Joachim Birkner, Natürliche Theologie und Offenbarungstheologie. Ein theologiegeschichtlicher Durchblick (1961), in: Ders., Schleiermacher-Studien, hg.v. Hermann Fischer, Berlin 1996, 126 – 136.131. DH, 175. – Ich zitiere „Das Heilige“ nach der ungekürzten Sonderausgabe, 36.–40. Tausend, München 1971. DH (Anm. 35), 176. Vgl. DH (Anm. 35), 162. DH (Anm. 35), 163. GÜ, 221.
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die sich in ähnlicher Weise auch bei Tillich findet,⁴⁰ Recht hat oder nicht, sei einmal dahingestellt. Doch ist damit das Anliegen der natürlichen Theologie insgesamt ja nicht vom Tisch, sondern – wenn überhaupt – nur eine bestimmte Form natürlicher Theologie getroffen, nämlich die sog. Gottesbeweise, wie sie z. B. Thomas von Aquin mit seinen „quinque viae“ vorgelegt hat. Jedenfalls sind solche Denkbemühungen, wie sie z. B. beim späten Max Scheler oder Karl Jaspers, der sich übrigens auch vehement gegen die sog. „Gottesbeweise“ wendet, aber selbst meint, dass Gottes- und Freiheitsbewusstsein unverbrüchlich zusammenhängen, vorliegen, damit noch nicht ad acta gelegt. Aber zurück zu Otto und Tillich. Letzterer unterscheidet bekanntlich die Heilsoffenbarung von der sog. Grundoffenbarung, wobei er diese auch in Beziehung zu Otto setzt, wenn er mit Blick auf dessen Bestimmung des Heiligen schreibt: „Man konnte wieder von einer göttlichen Grundoffenbarung reden, die eine Schicht tiefer liegt als jede geformte Offenbarung.“⁴¹ Tillichs Begriff der Grundoffenbarung ist ein schwieriger Begriff, und er taucht auch nur an sehr wenigen Stellen auf und zuerst im Zusammenhang der Rechtfertigung des Zweiflers.⁴² Allerdings ist das nicht sein einziger Kontext, wenn auch der Begriff später nicht mehr begegnet. So heißt es in Tillichs bekannter Schrift Dynamics of Faith: „Der Glaube schließt ein Element unmittelbaren Gewahrwerdens (immediate awareness) ein, das Gewissheit gewährt, und ein Element der Ungewissheit.“⁴³ Und nur einige Zeilen weiter heißt es dann: „Gewiss ist nur die Unbedingtheit als Unbedingtheit (ultimacy as ultimacy), die unendliche Leidenschaft als unendliche Leidenschaft. Dies ist eine Realität, die dem Selbst mit seiner eigenen Natur gegeben ist. Sie ist ebenso unmittelbar und ebenso außer Zweifel,wie das Selbst dem Selbst außer Zweifel ist. Ja, sie ist das Selbst, insofern es sich selbst transzendiert. Aber über den Inhalt unseres letzten Anliegens, sei es die Nation, Erfolg [im Leben], ein Gott oder der Gott der Bibel, gibt es keine Gewissheit dieser Art. Hier geht es überall um Dinge, die nicht unmittelbar gewiss sind.“⁴⁴ In eine noch etwas andere, stärker philosophisch gewendete Richtung geht folgender Satz Tillichs: „Awareness of God precedes discursive knowledge of him.“⁴⁵ Wobei ich mir sehr wohl bewusst bin, dass Tillich an anderer Stelle in
Vgl. ST I, 238 – 245. GW X, 91; vgl. GW VIII, 96. Vgl. GW VIII, 85 – 100. MW V, 239 (Übersetzung von Werner Schüßler). Ebd. (Übersetzung von Werner Schüßler). Paul Tillich, An Afterword: Appreciation and Reply, in: Paul Tillich in Catholic Thought, hg.v. Thomas A. O’Meara/Celestin D. Weisser, Chicago 1969 (1. Aufl. New York 1964), 369 – 380.376.
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diesem Zusammenhang auch davon sprechen kann, dass jedes Wissen von Gott – wie auch jedes Gebet – „das Werk des Heiligen Geistes“ ist, „d. h. Gottes selbst, der unserem Geist gegenwärtig ist“.⁴⁶ Spricht in dem ersten Zitat – recht ungeschützt – der Philosoph Tillich, so in dem zweiten der protestantische Theologe Tillich. Um ihn adäquat zu verstehen, muss man sich darum permanent die Frage stellen „Wer spricht?“, ansonsten wird man Tillich kaum gerecht. Bei diesem „unmittelbaren Gewahrwerden“ scheint es sich also um eine vorrationale Erfassungsart zu handeln, die auch in Ottos Begriff des Gefühls gemeint ist. Gefühl meint ja bei Otto bekanntlich keine psychologische Emotion,⁴⁷ sondern einen „Akt der Vernunft selber, eine Weise des Erkennens, die sich unterscheidet von der Weise des Erkennens durch den ‚Verstand‘, d. h. vom reflektiert-dialektischen Erkennen in der Form des Begriffs, der Definition, des logischen Analysierens und Theoretisierens“.⁴⁸ Gefühl meint also eine Einsicht, die sich eines „vorbegrifflichen Erfassens“ bedient.⁴⁹ Otto bezeichnet dieses „gefühlsmäßige Erfassen“ „im Anschluß an Spinozas cognitio intuitiva“ auch „‚intuitives‘ Erfassen“.⁵⁰ In diesem Sinne bedeutet also Gefühl bei Otto „in dem älteren und echteren Sinne“ immer schon „Wirklichkeitserfassung“,⁵¹ „Objekterfassung“,⁵² wobei diese „irrationale Erkenntnis im (numinosen) Gefühl“ aufgrund anderer Ausführungen Ottos auch im Sinne einer transzendentalen „Deutungs- und Bewertungskategorie“⁵³ unseres Geistes interpretiert werden kann – womit eine gewisse Inkohärenz in Bezug auf diese Frage ins Spiel kommt. Eine eindeutig philosophische Transformation erfahren Tillichs diesbezügliche Überlegungen in seinem bekanntem Beitrag „Two Types of Philosophy of Religion“, wenn er hier das sog. „ontologische Prinzip der Religionsphilosophie“ so formuliert: „Der Mensch ist unmittelbar eines Unbedingten gewahr, das aller Trennung und Wechselwirkung von Subjekt und Objekt vorausgeht, im Theoretischen wie im Praktischen.“⁵⁴ Tillich möchte in diesem Zusammenhang zwar bewusst auf den Begriff der Intuition verzichten, weil dieser die falsche Konnotation mit sich bringen könnte, als ob das Unbedingte in diesem Gewahrwerden „als eine Gestalt“ erscheint,⁵⁵ sachlich besteht hier aber ohne Zweifel eine sehr große Nähe zu Ottos
A.a.O. 371 (Übersetzung von Werner Schüßler). Vgl. GÜ, 329; WÖM, 384. GÜ, 327. GÜ, 330. GÜ, 331. WÖM, 387. WÖM, 384. DH (Anm. 35), 7. GW V, 131. GW V, 132.
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Gefühlsbegriff. Und wenn Tillich dann in einem zweiten Schritt von dem „Wiedererkennen des Unbedingten in der Wirklichkeit“ spricht,⁵⁶ worin er die eigentliche Bedeutung des sog. „kosmologischen Weges“ zu erkennen glaubt, so sind hier die Anklänge an Ottos Begriff der „Anamnesis“,⁵⁷ der die „Wiedererkenntnis des Heiligen selbst in der Erscheinung“⁵⁸ zum Ausdruck bringen möchte, und dem damit verbundenen Begriff der „Divination“⁵⁹ augenscheinlich.
3 Zur Gottesrede Otto hat nach Tillich nicht nur das Phänomen des Heiligen, sondern auch „die Funktion religiöser Symbole in klassischer Weise beschrieben“.⁶⁰ Da sich das Irrationale aller Sagbarkeit entzieht,⁶¹ ist es nach Otto in Begriffen nicht explizibel. Das „Ganz andere“ des Numinosen widerstrebt „jeder Analogie, jeder Vergleichbarkeit und damit jeder begrifflichen Determination“.⁶² Angebbar ist dieses numinose Irrationale nach Otto darum nur „durch die besondere Gefühlsreaktion die es im erlebenden Gemüte auslöst“.⁶³ Diese „Gefühlsbestimmtheit“ versucht Otto „durch Entsprechungen und Entgegensetzungen verwandter Gefühle und durch symbolisierende Ausdrücke“ anzudeuten,⁶⁴ die er „Ideogramme“, „Deute-Zeichen“⁶⁵ oder auch „Symbol-Namen“⁶⁶ nennt. Es werden hier natürliche Prädikate als Ideogramme gebraucht für ein „ineffabile“, wobei diese aber nicht real auf das Irrationale übertragen werden dürfen, da es sich hierbei nicht um „adäquate Begriffe“⁶⁷ handelt.Werden diese als solche genommen, so ergeben sich nach Otto Anthropomorphismen.⁶⁸ Folglich können diese „Symbol-Namen“ auch nicht Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse sein.⁶⁹
GW V, 143 f. DH (Anm. 35), 172. DH (Anm. 35), 196. DH (Anm. 35), 173 f.; vgl. 183.195. GW V, 240. Vgl. DH (Anm. 35), 76. GÜ, 266. DH (Anm. 35), 13. Ebd. DH (Anm. 35), 21 DH (Anm. 35), 22. DH (Anm. 35), 28. Vgl. DH (Anm. 35), 132. DH (Anm. 35), 28.
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Tillichs Symbolbegriff ⁷⁰ hat mit Ottos Begriff des Ideogramms gemeinsam, dass es beiden nicht um eine statische Gotteserkenntnis im Sinne metaphysischer Gottesprädikation geht, sondern um ein existentielles und damit dynamisches Verständnis. Bezeichnend hierfür ist Tillichs folgende Ausführung: „Symbole entstehen aus Offenbarungserfahrungen von Individuen oder Gruppen, und sie vergehen, wenn diese Erfahrungen nicht mehr lebendig sind. Symbole sterben also, wenn sie nicht mehr Ausdruck von Offenbarungserfahrungen sind und infolgedessen ihre schöpferische Kraft verloren haben.“⁷¹ Allerdings unterscheidet sich Tillichs Symboltheorie von Ottos Theorie der Ideogramme zumindest in Bezug auf zwei Punkte: Zum einen stellt Tillich sehr wohl die Frage nach der Wahrheit religiöser Symbole,⁷² zum anderen bejaht er die Lehre von der Analogia entis,⁷³ was ihn auch in die Lage versetzt, die Gottesprädikation theologisch doch wieder an den sog. Perfektionen ausrichten zu können sowie den Symbolbegriff entschieden vom Begriff der Metapher abzugrenzen, wozu Otto aufgrund seiner rein phänomenologischen Methode nur schwer in der Lage ist. Tillich vertritt zwar religionsphilosophisch die Auffassung, dass grundsätzlich alles zum religiösen Symbol werden kann,⁷⁴ doch möchte er auch über die reine Beschreibung hinaus zu der Frage nach der Wahrheit der religiösen Symbole vorstoßen. In seinem Aufsatz „The Meaning and Justification of Religious Symbols“ von 1961 kommt Tillich im vierten und letzten Abschnitt auf diese Frage zu sprechen. In einem ersten Punkt weist er hier darauf hin, dass die Gültigkeit religiöser Symbole an der Adäquatheit in Bezug auf die religiöse Erfahrung, die sie ausdrücken, zu messen ist. Er fasst das mit dem Begriff der „Authentizität“ zusammen.⁷⁵ Das Kriterium der Authentizität ist nach Tillich zwar „stichhaltig (valid)“, aber nicht hinreichend, da hiermit noch nicht die Frage nach dem „Wert (amount)“ der Wahrheit, die ein Symbol besitzt, beantwortet ist. Mit dem Begriff „Wahrheit“ will Tillich in diesem Zusammenhang auf den „Grad (degree)“ bzw. das Maß hinweisen, mit dem sich ein Symbol dem „Bezugspunkt (referent)“, d. h. dem Unbedingten annähert. Diese Frage beantwortet Tillich hier auf zweifache
Vgl. dazu Werner Schüßler, Das Symbol als Sprache der Religion. Paul Tillichs Programm einer „Deliteralisierung“ religiöser Sprache, in: Wie läßt sich über Gott sprechen? Von der negativen Theologie Plotins bis zum religiösen Sprachspiel Wittgensteins, hg.v. Werner Schüßler, Darmstadt 2008, 169 – 186. GW XII, 317. Vgl. GW V, 221 f.242 f. Vgl. ST I, 278; GW XII, 303.351; ST I, 157; ST II, 126. Vgl. GW V, 217. Vgl. MW IV, 419.
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Weise, negativ und positiv: „Die negative Qualität, die die Wahrheit eines religiösen Symbols bestimmt, ist seine Selbst-Negation und Transparenz in Bezug auf den Referenzpunkt, den es vertritt. Die positive Qualität, die die Wahrheit eines religiösen Symbols bestimmt, betrifft den Wert (value) des benutzten symbolischen Materials.“⁷⁶ Mit dem letzten Aspekt will Tillich darauf hinweisen, dass beispielsweise ein Stein nicht so symbolkräftig ist wie ein Baum oder ein Tier und dass ein personales Lebewesen, also ein Mensch, die höchste Symbolkraft besitzt, da sich in ihm alle Dimensionen der Wirklichkeit finden.⁷⁷ Und doch darf nicht übersehen werden, dass Tillich das Hauptaugenmerk auf die transzendente Schicht religiöser Symbole legt, also auf das Wort „Gott“ sowie auf die Attribute und Handlungen Gottes,⁷⁸ und weniger auf die immanente Schicht, womit die Erscheinungen des Göttlichen in Zeit und Raum, seine „Manifestationen in Dingen und Ereignissen, in einzelnen Menschen und Gemeinschaften“⁷⁹ gemeint sind.
4 Tillichs Kritik an Otto und sein Hinausgehen über ihn Schon innerhalb der zurückliegenden Darlegungen wurde z.T. deutlich, worin sich Tillichs Ansatz von demjenigen Ottos wesentlich unterscheidet – bei aller grundsätzlichen Gemeinsamkeit –, nämlich in Bezug auf die Methodenfrage. Zwar hält Tillich die phänomenologische Methode Ottos für äußerst fruchtbar, aber gleichzeitig auch für ergänzungsbedürftig, da diese nicht in der Lage sei, die Erfahrung des Heiligen in ein Verhältnis zu setzen zu den übrigen Funktionen des menschlichen Geistes – platonisch gesprochen: zum Wahren, Guten und Schönen. Dies kann Tillich zufolge nur die kritische Methode leisten, wie sie für die Moderne durch Kant begründet wurde;⁸⁰ wobei er diese Methode aber nicht auf Kant beschränken möchte, sondern meint, dass dieses Element in der gesamten Geschichte der Philosophie zu finden sei.⁸¹ In seiner religionsphilosophischen Vorlesung von 1962 führt Tillich – im Gegensatz zu seinen frühen Schriften – aber noch eine weitere Methode ein, nämlich die sog. „ontologische“, wobei nicht nur die phänomenologische, sondern auch die ontologische Methode eines kritischen MV IV, 419 (Übersetzung von Werner Schüßler); vgl. GW V, 243. Vgl. MW IV, 420/GW V, 243 f. – Vgl. auch seine diesbezüglichen Ausführungen in der Schrift „Dynamics of Faith“ (MW V, 275/GW VIII, 176 f.). Vgl. GW V, 218 f. GW VIII, 144. Vgl. Paul Tillich, Vorlesung „Philosophy of Religion“, Lect. 4, Harvard 1962 (Anm. 12). Vgl. a.a.O. Lect. 5.
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Elementes bedarf. In diesem Sinne bewahrt das kritische Element sowohl die ontologische als auch die phänomenologische Methode davor, ihre Grenzen zu überschreiten, und es führt Tillich zufolge letztlich zu der Einsicht, dass es keinen Bereich im geistigen Leben des Menschen gibt, in der die Dimension des Unbedingten nicht gegenwärtig wäre.⁸² „Intuitiv-kritische Methode“ nennt Tillich die „methodologische Synthese“, die er für die Religionsphilosophie als maßgeblich erachtet. Nur auf diese Weise kann man nach Tillich zum wahren Wesen der Religion vordringen,⁸³ lässt sich doch nur so „die verhängnisvolle Nebenordnung von Religion und Kultur, von Irrationalem und Rationalem, von Heiligem und Profanem“ überwinden und der Weg ebnen für eine Theologie der Kultur, in der Tillich zufolge „der Durchbruch, den Ottos Analyse des Heiligen bedeutet, [erst] zu voller Auswirkung kommen“ kann.⁸⁴ Das heißt, Tillich ist der Überzeugung, dass allein seine Kulturtheologie das zum Abschluss bringt, was in Ottos Analysen zwar angelegt, aber letztlich – aufgrund einer methodologischen Engführung – nicht zur vollen Entfaltung gebracht ist. Und in diesem Zusammenhang verweist Tillich auch ausdrücklich auf seinen Begriff des Unbedingten „der diese ursprüngliche Wesensbeziehung vom Heiligen und den sonstigen Werten zum Ausdruck“ bringe – im Gegensatz zu Ottos zentralem Begriff des „ganz Anderen“.⁸⁵ Tillich führt dazu aus: „Es ist nicht richtig, wenn Otto meint, daß dieser Begriff sich bloß quantitativ von dem des Bedingten unterscheidet, vielmehr enthält er die ganze Gewalt des qualitativ ‚Anderen‘, ‚Fremden‘ in sich. Umgekehrt ist der Begriff des ‚ganz Anderen‘ nicht ausreichend zur Charakterisierung des Heiligen, da es sich ja nicht um ein beliebiges Anderes handelt, sondern um ein solches, das für mich von entscheidender Bedeutung ist, dem ich mich unter keinen Umständen entziehen kann, d. h. eben: ein Unbedingtes.“⁸⁶ Dieses begreift er eben gerade nicht als ein „Schema der Rationalisierung“ im Ottoschen Sinne, sondern als „ein Wesenselement des Heiligen selber“.⁸⁷ Mit den Begriffen Form und Gehalt sucht er dann das Verhältnis von Unbedingtem und Bedingtem weiter zu klären und fruchtbar zu machen für eine Theologie der Kultur. – Diese Andeutungen sollen hier genügen. In der Vorlesung „Philosophy of Religion“ von 1934 fasst Tillich den grundlegenden Unterschied zu Otto so zusammen: „Logisch und moralisch kann eine Religion wahr, aber auch falsch sein. Im Abgrund des Irrationalen gibt es kein
Vgl. a.a.O. Lect. 4. Vgl. ebd. GW XII, 186. GW XII, 185. Ebd. Ebd.
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Kriterium für wahr und falsch. Im Gegenteil, die Irrationalität verschlingt die rationalen Normen, das Theoretische und das Praktische.“⁸⁸ Und weiter: „Das Heilige wird, wenn es vom Rationalen verlassen wird, zur Arena ungezügelter irrationaler Mächte“.⁸⁹ Ob Tillich Otto hier wirklich gerecht wird, scheint mir fraglich, macht doch Otto auch selbst darauf aufmerksam, dass „das Erlebnis des ‚Heiligen‘ […] in der Tat das ‚religiöse Grunderlebnis‘ [sei], aber das Heilige […] eben nicht das bloße ‚Numinose‘ [sc. das Irrationale], sondern […] gerade die innige Einheit irrationaler und rationaler Momente [sei].“⁹⁰ Ganz auf dieser Linie verweist Otto auch in Das Heilige darauf, dass die irrationalen Momente die Religion zwar davor bewahren, „Rationalismus zu werden“, die rationalen Momente sie aber gerade davor bewahren, „in Fanatismus oder Mystizismus zu sinken“.⁹¹ Das wird nicht selten übersehen, und es scheint auch von Tillich übersehen worden zu sein, kommt doch dadurch bei Otto ein gewisser „Maßstab“⁹² und damit ein kritisches Element ins Spiel.
5 Resümee In den vorausgegangenen Überlegungen habe ich die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen der Konzeption von Otto und Tillich deutlich zu machen gesucht und mich dabei – neben der Methodenfrage – auf drei Aspekte konzentriert: den Gottesbegriff, die Gotteserkenntnis und die Gottesrede. Bei aller Komplexität in Bezug auf diese Gemeinsamkeiten und Differenzen gibt es vielleicht doch einen gemeinsamen Nenner, der die Konzeptionen beider Denker in gewisser Weise grundiert; und diesen sehe ich in Ottos und Tillichs Stellung zur Mystik. Haben führende protestantische Theologen des 19. und 20. Jahrhunderts, wie Albrecht Ritschl, Adolf von Harnack, Karl Barth, Paul Althaus oder Emil Brunner, die Mystik entschieden bekämpft und als etwas typisch Katholisches apostrophiert, damit aber diskreditiert, so bilden Otto und Tillich in dieser Frage eine Ausnahme. Mystik ist für Otto „religiöses Erleben selber, aber mit Übersteigerung der irrational-numinosen Momente desselben“.⁹³ Dieses Zitat macht deutlich, dass Otto eine grundsätzliche Unterscheidung zwischen mystischer und gläubiger
EW XVII, 19. EW XVII, 20. Persönliche Mitteilung Ottos an Hanfried Krüger, in: Hanfried Krüger, Verständnis und Wertung der Mystik im neueren Protestantismus, München 1938, 101. DH (Anm. 35), 170. DH (Anm. 35), 171. AN 65, vgl. 119.
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Frömmigkeit nicht anerkennt. Ähnlich ist auch für Tillich Mystik immer „mehr als ein besonderes Verhältnis zum Seinsgrund; sie ist ein Element in jedem derartigen Verhältnis“. Und er führt dazu weiter aus: „Da alles,was ist, an der Macht des Seins partizipiert, kann das Element der Identität, auf dem die Mystik beruht, in keiner religiösen Erfahrung fehlen.“⁹⁴ Dass das mystische Element in einer gewissen Weise die entscheidende Klammer seines gesamten Denkens darstellt, wird auch durch ein Wort Tillichs bestätigt, das mir durch Renate Albrecht überliefert ist, demzufolge er sich selbst in persönlichen Gesprächen immer wieder als „Seinsmystiker“ charakterisiert haben soll.⁹⁵ Der grundlegende Unterschied zwischen Otto und Tillich kommt m. E. in dem Begriff des „ganz Anderen“ zum Ausdruck. Denn damit verbunden ist sowohl die Abspaltung des Heiligen vom Profanen als auch die Ablehnung der Analogia entis, denn diese ist ihrem Wesen nach Ähnlichkeitsdenken. Ob Tillich mit seiner Interpretation und Kritik Otto aber immer gerecht wird, ist – wie schon angedeutet – eine schwierige Frage. Welche Großen werden schon ihren Vorgängern wirklich gerecht – schauen wir nur einmal auf die z.T. absurde Platon-Kritik des Aristoteles? Das sollte man aber nicht unbedingt bedauern – wie das beispielsweise Carsten Colpe⁹⁶ tut –, wissen wir doch, dass es nicht selten gerade die sog. produktiven Missverständnisse sind, die in Philosophie und Theologie zu Fortschritten führen, die freilich ganz anderer Natur sind als diejenigen in den sog. Einzelwissenschaften. Und dass Tillichs Denken die religionsphilosophische Arbeit weitergeführt hat, steht sicherlich außer Frage. Das ist natürlich nur möglich, wenn man sich nicht in philologischer und historischer Kleinarbeit verliert, eine Arbeit, die man getrost uns Philosophie- und Theologiehistorikern überlassen darf. Dass das nicht die Arbeit der Großen sein braucht – und Otto bildet in dieser Frage auch keine Ausnahme –, sollten wir ihnen nicht verübeln, haben Sie doch, um in leichter Abwandlung an ein Bonmot von Johann Friedrich Herbart anzuknüpfen, mit ihrem eigenen Denken genug zu tun.
GW XI, 120. Vgl. Werner Schüßler, „Was uns unbedingt angeht“ (Anm. 26), 329; vgl. EW VI, 312; EW XVI, 144. Vgl. Carsten Colpe, Über das Heilige. Versuch, seiner Verkennung kritisch vorzubeugen, Frankfurt a.M. 1990, 49.
Tobias Braune-Krickau
Reverenzen von unerwarteter Stelle Rudolf Otto in der späten Religionsphilosophie Ernst Tugendhats
1 Einleitung Als Stichwortgeber erster Güteklasse ist Rudolf Otto ohne Zweifel in die Annalen der Theologie und Religionswissenschaft eingegangen. Doch nicht selten wird die gegenwartsbewusste Weiterführung eines Werkes durch einen solchen etwas zweifelhaften Ehrenplatz eher erschwert als befördert. So stellt sich – nicht zuletzt angesichts des zurückliegenden Kongresses – die Frage, welche Rolle Ottos vielfältige Schriften in derzeitigen Debatten tatsächlich spielen und eventuell spielen könnten. Mit dieser weiten Fragestellung befasst sich dieser Aufsatz, allerdings mit einem sehr zugespitzten Blickwinkel: Mein Ziel ist es, der Aktualität von Ottos Denken nachzugehen, indem ich seine Spuren in einem kürzlich vorgelegten religionsphilosophischen Entwurf verfolge, nämlich jenem von Ernst Tugendhat.¹ In Tugendhat begegnet nicht nur einer der bedeutendsten Philosophen der Gegenwart, der,wie Martin Seel einmal schrieb, „die analytische Philosophie einer ganzen Studentengeneration schmackhaft gemacht“² hat, sondern zugleich ein religiös Interessierter, einer, der sogar den tief empfunden Wunsch hegt, religiös sein zu können – der aber auf Grund seiner philosophischen Überzeugung meint, sich diesen Wunsch versagen zu müssen. Obgleich Tugendhat philosophisch aus vollkommen anderen Gefilden stammt als Rudolf Otto, so nimmt er doch an zentralen Stellen immer wieder auf ihn Bezug. Mit Otto trifft er sich – trotz aller stilistischer und inhaltlicher Differenzen –
Die maßgeblichen Texte zu diesen Thema sind die Monografie: Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik. Eine anthropologische Studie, München 2003, hier zitiert nach der Neuauflage 2006 und (neben anderen Aufsätzen aus demselben Band): Ernst Tugendhat, Über Religion, in: Ders., Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, 191– 204. Aus der bisher noch recht überschaubaren Menge der Sekundärliteratur sei besonders verwiesen auf das Sammelwerk: Mystik, Religion und intellektuelle Redlichkeit. Nachdenken über Thesen Ernst Tugendhats, hg.v. Klaus Jacobi, Freiburg 2012, sowie den instruktiven Aufsatz von Heiko Schulz, Kann ein religiöser Mensch intellektuell redlich sein? Kritische Erwägungen zu einer These Ernst Tugendhats, in: Religiosität und intellektuelle Redlichkeit, hg.v. Gerald Hartung/Magnus Schlette, Tübingen 2012, 229 – 248. Martin Seel, Ein Solitär: Zum 80. Geburtstag des Philosophen Ernst Tugendhat, in: DIE ZEIT, Nr. 10 (2010).
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darin, über Religion zunächst als ein anthropologisches Phänomen sprechen zu wollen. Mein erster Gedankengang setzt hier an, indem Tugendhats Religionsverständnis im Ganzen in seinen Grundlinien nachgezeichnet wird.
2 ‚Mystik statt Religion‘ – Die Religionsphilosophie Ernst Tugendhats (1) Die Ausgangsfrage von Tugendhats Religionsphilosophie lautet, wie schon angedeutet: Was ist die anthropologische Basis von Religion und dann auch von Mystik – die er noch einmal deutlich davon unterscheiden möchte?³ Es handelt sich dabei um ein mehrstufiges Phänomen, so muss man Tugendhat hier wohl verstehen, dessen erste Stufe er mit Otto – und am Rande auch in Auseinandersetzung mit Schleiermacher – als das Gefühl des Numinosen bestimmt.⁴ Was es damit auf sich hat, erläutert Tugendhat folgendermaßen: Der Mensch finde sich innerweltlich stets in relativen Verhältnissen von klein-groß, mächtig-ohnmächtig, wissend-unwissend wieder. Zugleich aber verhalten sich Menschen auf Grund ihrer anthropologischen Struktur nicht nur zu anderen Personen oder Dingen, sondern haben immer auch „ein Bewusstsein einer Allheit. […] Diese Allheit umgibt den Menschen in unvergleichlicher Weite (Größe), Macht und Rätselhaftigkeit. Ihr gegenüber empfinden wir uns als klein, ohnmächtig und unwissend.“⁵ Dies ist für Tugendhat die Erfahrung des Numinosen und sie löse, wenn man sich ihr emotional stellt (und sie nicht verdrängt), in der Tat genau jene ‚Gefühlsgestimmtheiten‘ aus, von denen Otto in seinem berühmten Werk Das Heilige spricht: Ein Gefühl des Geheimnisvollen, des Mysteriums, das sich dem Menschen in der eigentümlichen Kontrastharmonie von auf der einen Seite Schauerlichen, Furcht und Ehrfurcht erregenden und auf der anderen Seite anziehenden, faszinierenden und hingebungswürdigen Aspekten darbietet. Diese Gestimmtheit des Kreaturgefühls, die als Reflex der Erfahrung des Numinosen entsteht, habe Otto durchaus ganz richtig beschrieben. Sie stellt für Tugendhat so etwas wie den gemeinsamen Nährboden, wie ich es einmal nennen möchte, für Religion und Mystik dar. Die Erfahrung des Numinosen stimmt den Menschen gewissermaßen ein auf Religion
So beispielsweise zu Beginn der Aufsätze: Ernst Tugendhat, Über Religion (Anm. 1), 191 und Ernst Tugendhat, Über Mystik: Vortrag anlässlich der Verleihung des Meister-Eckhart-Preises, in: Ders., Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, 176 – 190, hier 177. Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik (Anm. 1), 119. A.a.O. 118.
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und Mystik, ist eine notwendige Bedingung für deren Ausprägung, die sich dann aber erst auf einer zweiten Stufe vollzieht. (2) Diese zweite Stufe besteht nun wesentlich darin, dass mit dieser numinosen Gefühlsgestimmtheit im Rücken der Mensch beginnt, sich gewissen Lebensproblemen zu stellen und zwar solchen, die direkt aus seiner anthropologischen Grundstruktur resultieren. Diese Grundstruktur beschreibt Tugendhat mit dem Stichwort der „Egozentrizität“. Es würde zu weit führen, diese komplexe Struktur hier in Gänze darzustellen, weshalb ich mich auf jene Aspekte beschränke, die direkt das hier in Rede stehende Thema betreffen.⁶ Einfach gesagt handelt es sich beim Konzept der Egozentrizität um so etwas wie eine verhaltenswissenschaftlich und sprachtheoretisch erweiterte Fassung einer Theorie des Selbstbewusstseins: Der Mensch hat eben nicht nur Emotionen, Gedanken, Wünsche etc., sondern verhält sich immer noch einmal zu diesen und ist darin für sich unhintergehbar der Mittelpunkt seiner Welt. Für das Entstehen von Religion ist nun vor allem eine Komponente dessen, was für Tugendhat Egozentrizität ausmacht, von entscheidender Bedeutung, nämlich die relative Situationsunabhängigkeit des Menschen. Diese liegt für ihn besonders begründet in der Struktur propositionaler Sprache und dem wiederum damit verbundenen unvermeidlichen Bezug auf Güter im menschlichen Handeln. Er gibt Aristoteles recht, der bekanntlich meint, dass der Hauptunterschied zwischen Mensch und Tier darin bestehe, dass Tiere alles relativ zum Überlebenwollen tun, während es dem Menschen eben nicht nur darum gehe, zu leben, sondern gut zu leben – ‚gut‘ hier natürlich verstanden in einem sehr weiten Sinne von Moral als bewusster Lebensorientierung.⁷ Auf dem Hintergrund dieser Situationsunabhängigkeit stößt Tugendhat nun auf eine erste wichtige Folgelast der menschlichen Egozentrizität, nämlich auf die Sorge. Die Anklänge an Heidegger sind nicht zu überhören, wenn er Sorge in einer doppelten Hinsicht definiert: Erstens nämlich als das Motiv, alles in meiner Macht stehende zu tun, um mein Wohl und das Wohl derer, die mir wichtig sind, sicherzustellen – Sorge also als praktisches Verhaltensmotiv. Zweitens aber zugleich als die Sorge, ob meinem Wollen wohl Erfolg beschieden sein wird, d. h. ob die
Das Konzept der Egozentrizität entfaltet Ernst Tugendhat in den Kapiteln 1– 5 seines Buches Egozentrizität und Mystik (Anm. 1). Für den weiteren Kontext dieses Theorems in Tugendhats Werk ist besonders die Sammlung: Ernst Tugendhat, Aufsätze: 1992– 2000, Frankfurt a.M. 2001, aufschlussreich. Vgl. Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik (Anm. 1), Kap. 2 sowie die einschlägigen Kapitel in: Ernst Tugendhat, Vorlesungen über Ethik, Frankfurt a.M. 1993.
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unbeeinflussbaren Umstände um mich herum meinen Wünschen und Strebungen entgegenkommen werden.⁸ Das Thema der Sorge führt Tugendhat in seiner Analyse dann weiter auf das hin, was man allgemein – und Tugendhat schließt sich hier an – das „Kontingenzproblem“ nennt: „Was also das menschliche Wollen [kennzeichnet], ist das Bewusstsein des radikalen Ungenügens des eigenen Handelnkönnens im Erreichen nicht nur irgendwelcher Hoffnungen, sondern seiner ganz elementaren Ziele: Leben, Gesundheit, Ernährung, Verbundensein mit anderen. Die Unglücke, mit denen die Tiere der anderen Spezies erst konfrontiert werden, wenn sie hereinbrechen, werden von den Menschen als mögliche antizipiert, und so stehen sie lebenslang im Bewusstsein der Spannung zwischen einer Erfüllung und Enttäuschung, die nicht von ihnen abhängt, und folglich in der Angst vor den Frustrationen und Unglücken, zuhöchst natürlich dem Tod, dem eigenen und dem ihrer Nahen und Nächsten.“⁹ Von hier aus ist nur noch ein letzter Schritt nötig, um die anthropologischen Grundprobleme, aus denen nach Tugendhat Religion und Mystik – jeweils auf dem Boden des Numinosen – erwachsen, vor Augen zu haben. Was noch fehlt, ist die dem Menschen eigentümlich Spannung von Sammlung und Zerstreuung. Der Mensch ist als Handelnder immer an das Viele der Gegenstände und Situationen verwiesen. Zugleich ist er durch seine Situationsunabhängigkeit in der Orientierung am ‚Guten‘ mit der Frage nach dem Ganzen seines Lebens und dessen Richtung und Ziel, man könnte vielleicht sogar sagen: dessen Sinn, bezogen. Nun kann der Mensch, so zumindest Tugendhats Auffassung gegenüber Husserl, sich nicht allein auf sich hin sammeln, sondern immer nur auf ein (z. B. vorgestelltes) Anderes hin, das zugleich unverlierbar ist, ein Gut, einen Gott, das Sein etc.¹⁰ Damit sind die beiden hauptsächlichen anthropologischen Grundprobleme umrissen, auf die Religion und Mystik nach Tugendhat nun eine lebenspraktische Antwort anbieten – jeweils mit dem emotionalen Rückenwind des numinosen Gefühls: Die Sorge bzw. das Kontingenzproblem, sowie das Problem der Sammlung. (3) Worin bestehen nun für Tugendhat die Antworten von Religion und Mystik auf diese Probleme? In einer ersten Annäherung kann man sie wie folgt beschreiben: Mystik, so wie Tugendhat sie konzipiert¹¹, ist primär auf das Subjekt
Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik (Anm. 1), 37. Zur Sorge bei Heidegger und Tugendhats Kritik daran vgl. Ernst Tugendhat, Zeit und Sein in Heideggers Sein und Zeit (2000), in: Ders., Aufsätze: 1992– 2000, Frankfurt a.M. 2001, 185 – 198. Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik (Anm. 1), 121 f. A.a.O. 112 ff. Dass Tugendhat Mystik und Religion hier auf eine sehr eigenständige Weise definiert, liegt auf der Hand und wird von ihm auch offen eingestanden. In seiner Definition ist er nicht daran
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bezogen, ist, wie er sagt, eine „Transformation des Selbstverständnisses“, in der man versucht, das emotionale Gewicht der eigenen Wünsche zu reduzieren und zu dämpfen. Religion dagegen sei nicht primär auf das Subjekt gerichtet, sondern auf eine „Transformation der Welt mittels einer Wunschprojektion“.¹² Wie ist das genauer zu verstehen? In der Mystik erkennt der Mensch die Situation seiner Egozentrizität, nämlich sich als Mittelpunkt der Welt zu sehen und seine Wünsche und Ziele unbedingt wichtig zu nehmen. Er erkennt, dass aus dieser Sorge das Leiden am Kontingenzproblem erst resultiert und versucht sich eine Haltung anzueignen, in der das eigene emotionale Involviertsein in diese seine Wünsche und Strebungen gedämpft wird. Das tut er, indem er sich auf das Viele hin sammelt und relativiert. Er sieht ein, dass er nur ein Mittelpunkt in einer Welt von Milliarden Mittelpunkten ist und dass seine Sorge im Verhältnis zur Unermesslichkeit des Universums nur von sehr relativer Bedeutung ist. Insofern antwortet eine so verstandene Mystik tatsächlich auf beide Grundprobleme, die ich vorher skizziert hatte: Das Kontingenzproblem wird zwar nicht gelöst, aber man versucht, die Last, die mit ihm einhergeht, zu mildern, indem man sich selbst nicht allzu wichtig nimmt. Das geschieht, indem man sich sammelt und zwar auf das Viele hin, die Vielzahl der anderen Mittelpunkte und die Unermesslichkeit des Universums.¹³ Wichtig ist es, an dieser Stelle zu erwähnen, dass Tugendhat ‚das Viele‘ hier in einem durchaus empirischen Sinne meint. Die offensichtliche Übereinstimmung seiner Überlegungen mit vielen fernöstlichen Weisheits-, Mystik- und Religionskonzepten darf nicht dazu verleiten, als Gegenstand solcher Sammlung hier ein ominöses Tao, das Sein oder etwas in der Art zu vermuten – denn dann könnte man, so Tugendhat, auch gleich Gott an deren Stelle setzen, das wäre, wie sich noch zeigen wird, genauso wenig mit intellektueller Redlichkeit vereinbar. Die innere Sammlung von Tugendhats Mystik geht also schlicht auf das empirische Viele, demgegenüber die eigenen Bedürfnisse sich relativieren.¹⁴
interessiert, alle geschichtlichen Phänomene präzise abzubilden, sondern „aus der Perspektive der 1. Person“ zu fragen, „was es für uns bedeuten kann und wieweit es für uns Gründe oder Gegengründe gibt, diesen Weg oder einen vergleichbaren selbst zu beschreiten.“ (A.a.O. 115) Zu dieser Differenz zwischen der Perspektive der 1. und der 3. Person vgl. ausführlicher a.a.O. 163 ff. Man muss die Definition von Tugendhat sicherlich nicht teilen, sollte in der Kritik aber zumindest versuchen, sich ebenfalls auf diese Perspektive der „1. Person“ einzulassen. Andernfalls droht die Diskussion m. E. in unfruchtbare Begriffsstreitigkeiten abzugleiten. Diese Gegenüberstellung findet sich a.a.O. 122. A.a.O. 114 ff. Vgl. ferner Ernst Tugendhat, Über Mystik (Anm. 3). Der Begründung dieser These scheinen mir die Ausführungen in: Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik (Anm. 1), 124– 149, zu dienen. Eine ähnliche Gedankenführung begegnet wieder in: Ernst Tugendhat, Über Mystik (Anm. 3).
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Auch die Religion antwortet auf die beiden anthropologischen Grundprobleme: Der religiöse Mensch sammelt sich auf Gott hin und löst das Kontingenzproblem durch die Wunschprojektion, dass die Unwägbarkeiten und das Unberechenbare des eigenen Lebens keine blinden Mächte sein mögen, sondern ein zugewandter Gott: „Die Macht, die die Menschen umgibt, wird zu diskreten Wesen verdichtet, von deren Wirkung man sich vorstellen kann, dass das eigene Glück oder Unglück abhängt, und die als von uns beeinflussbar angesehen werden. […] [Dabei ist es] naheliegend, sich die machtvollen Wesen personalisiert vorzustellen, sodass man sich zu ihnen auf analoge Weise verhalten kann, wie zu mächtigen Mitmenschen: bittend, dankend, ihre Macht anerkennend und sich ihnen gegenüber verantwortlich ansehend.“¹⁵ Ich rekapituliere diesen Gedankengang Tugendhats kurz, bevor ich zur Schlusspointe seiner Religionsphilosophie komme: Der Mensch macht, sofern er es nicht verdrängt, Erfahrungen des Numinosen. Diese bereiten emotional den Boden für die Ausbildung von Religion und Mystik, die dann aber erst auf einer weiteren Stufe entstehen und noch einmal ein ganz eigenes Feld bearbeiten, nämlich die beiden hauptsächlichen Folgelasten der menschlichen Egozentrizität: die Sorge bzw. das Kontingenzproblem auf der einen, den Wunsch nach Sammlung auf der anderen Seite. Allerdings gehen Religion und Mystik dabei grundverschiedene Wege: Die Mystik zielt auf eine Selbstveränderung im Sinne von ‚sich relativieren zu Gunsten des empirisch Vielen‘, die Religion auf eine Veränderung der Welt mittels der Wunschprojektion, ein guter Gott möge meinen Wünschen hilfreich entgegenkommen. (4) In der besagten Schlusspointe zieht Tugendhat die Konsequenzen. Denn nun argumentiert er, dass uns der Weg der Religion heute nicht mehr möglich sei, sofern wir intellektuell redlich sein wollen. Das hängt natürlich eng zusammen mit seiner bereits vorgetragenen Projektionsthese, die hier aber um das folgende zusätzliche Argument erweitert wird:¹⁶ Es gehöre zur Definition Gottes, dass er ein übernatürliches Wesen ist. Vom Übernatürlichen aber kann es, wiederum per definitionem, keinerlei Evidenzen geben. Für die Existenz Gottes gibt es folglich schlichtweg keine Evidenz – außer das anthropologisch bedingte und in den vorangegangenen Absätzen erläuterte Bedürfnis nach einem Gott. In einer Situation aber, in der es für die Existenz einer Sache keine Evidenz gibt, ist das
Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik (Anm. 1), 122. Vgl. auch Tugendhat, Über Religion (Anm. 1). Es findet sich in Ernst Tugendhat, Über Religion (Anm. 1), 191– 194. Ausführlicher hat Tugendhat das Konzept der „intellektuellen Redlichkeit“ in dem Aufsatz dargestellt: Ders., Retraktionen zur intellektuellen Redlichkeit, in: Ders., Anthropologie statt Metaphysik, München 2007, 85 – 113. Dort findet sich ebenfalls das folgende Argument auf den S. 111– 113.
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Bedürfnis danach kein Grund, sondern ein Gegengrund für dessen Existenz. Die Theologen würden gerade das aber zu ihrem zentralen Argument machen: Der Mensch habe ein Bedürfnis nach Gott und darum müsse es ihn auch geben. Das Gegenteil ist nach Tugendhat aber der Fall: Das Bedürfnis selbst sollte überaus skeptisch machen, weil es in sich die Neigung trägt, etwas anzunehmen, auch wenn es sonst keine Evidenzen gibt. Wenn es aber sonst keine Evidenzen für Gott gibt, dann bleibt nur die Skepsis, die aus dem Bedürfnis resultiert, und somit ein negatives Argument, ein Argument gegen die Existenz Gottes und die Rechtfertigungsfähigkeit des religiösen Bewusstseins. Wie stichhaltig diese Überlegung ist, wird noch zu prüfen sein. Jedenfalls ist nun klar, worauf Tugendhats Religionsphilosophie im Ganzen hinausläuft: Wenn die anthropologischen Grundprobleme weiterhin Bestand haben, aber sich der Weg der Religion zu ihrer Bearbeitung ausschließt – sofern man intellektuell redlich sein möchte – dann bleibt als einzige Möglichkeit jene Tugendhat’sche Mystik der Selbstrelativierung zu Gunsten des empirischen Vielen.¹⁷ Diese Konzeption Tugendhats ist für den vorliegenden Zusammenhang besonders deswegen interessant, weil hier jemand explizit von Rudolf Ottos Religionstheorie Gebrauch macht – und zwar augenscheinlich in einem nicht nur stichwortartigen oder historischen, sondern systematisch-argumentativen Sinn. Diesen gilt es im Folgenden schärfer herauszuarbeiten, um dann beide Ansätze in ein Gespräch zu bringen, das über die explizite Bezugnahme auf das Gefühl des Numinosen noch einmal hinausgeht.
3 „Die Religion fängt mit sich selber an“ – Die Grunddifferenz zwischen Otto und Tugendhat (1) Diesem Ziel kommt man m. E. näher, wenn man das Augenmerk besonders auf die Unterschiede zwischen Tugendhat und Otto lenkt. Unter der Oberfläche der positiven Bezugnahme auf das Gefühl des Numinosen werden sie recht schnell sichtbar, und zwar am deutlichsten wohl hinsichtlich der Mehrstufigkeit des Tugendhat’schen Religionskonzeptes: Denn Otto würde wohl von vornherein die These bestreiten, dass es einen ursächlichen Zusammenhang zwischen Religion und Kontingenzproblem gibt. Ottos Religionstheorie hat ihre Pointe ja gerade darin, Religion nicht aus etwas Religionsexternem herleiten zu wollen, sondern jene These zu plausibilisieren, die Otto selbst auf die Formel bringt: „Religion fängt mit
So z. B. explizit in: Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik (Anm. 1), 124.
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sich selber an.“¹⁸ Religion ist für Otto keine Lösung für irgendwelche persönlichen oder anthropologischen Probleme, sondern symbolischer und praktischer Ausdruck jenes Gefühlsreflexes auf das Numinose, den er das „Kreaturgefühl“¹⁹ nennt. Religiöse Erlebnisse sind bereits Erlebnisse des Numinosen, die wiederum eine eigene Klasse im menschlichen Geistesleben ausmachen und nicht erst auf einer anderen Stufe entstehen.²⁰ (2) Damit hängt aufs Engste ein zweiter wichtiger Unterschied zwischen beiden Konzepten zusammen, nämlich, dass Otto insbesondere in seinem Buch Das Heilige eben darauf abhebt, dass jenes Gefühl des Numinosen nicht leer und unbestimmt ist, wie Tugendhat anzunehmen scheint, sondern im historischen und religionswissenschaftlich-phänomenologischen Vergleich bestimmte inhaltliche Bestimmungen notwendig mit sich führt. Jene Bestimmungen sind bekannt und müssen im Kontext dieses Buches nicht weiter ausgeführt werden, weshalb sie nur kurz genannt seien: Die Aspekte des mysterium (das Ganz Andere), des tremendum, der majestas, des Energischen / Wirkenden, des fascinans und des augustum.²¹ Diese Aspekte entsprechen bei Otto auffällig genau der christlichen Gottesidee und ihren rationalen Prädikaten – was angesichts von Ottos Einleitung in das Das Heilige über die Begriffe ‚rational‘ und ‚irrational‘ auch kaum verwundern dürfte.²² Doch der entscheidende Punkt ist eher jener allgemeine, dass die Erfahrung des Numinosen bereits aus sich heraus Vorstellungen vom Göttlichen mit sich führt und darum überhaupt erst religionsproduktiv im engeren Sinne sein kann. Mit anderen Worten: Jene These Ottos, dass Religion nicht noch einmal aus etwas anderem abgeleitet werden könne, weder psychologisch, noch religionsgeschichtlich, sondern mit sich selber anfange, basiert argumentativ darauf, dass seine Beschreibung der numinosen Erfahrung den Nachweis erbringt, dass in ihr bereits Gottesvorstellungen angelegt sind – die dann in der Explikation in Form
Das Zitat findet sich in DH, 160. Der Sache nach durchzieht diese These aber m. E. das gesamte Buch. Vgl. DH, Kap. 3. So besonders ausdrücklich in DH, Kap. 16. Diese Aspekte werden in der Gedankenreihe „Momente des Numinosen“ in Kap. 3 – 9 in DH abgehandelt. In dieser Einleitung (DH, Kap. 1) spannt Otto m. E. den größeren argumentativen Kontext auf, in dem seine Ausführungen zu verstehen sind. Dieser ist das Ansinnen, das Verhältnis von Rationalem und Irrationalem in der Gottesidee zu bestimmen, und zwar auf dem Weg einer phänomenologischen Aufhellung der ‚irrationalen‘ Seite des Themas. Dass diese Seite dann ihrerseits die rationalen Prädikate Gottes erhellt, nämlich als solche, die „geradezu nur von und an einem Irrationalen gelten und sind“ (DH, 2), darin liegt m. E. das genuin theologische Interesse von DH. Vgl. dazu als ein Beispiel unter vielen auch DH, 133.
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von religiösen Lehren und Praktiken diesen Erfahrungen mehr oder weniger gerecht werden können. (3) In der Gegenüberstellung von Otto und Tugendhat hätten wir es hier – trotz aller Übereinstimmung auf den ersten Blick – mit einer fundamentalen Opposition zu tun. Die Frage lautet dabei: Lebt Religion zwar aus dem emotionalen Rückenwind des numinosen Gefühls, das aber an sich völlig unbestimmt ist und entsteht Religion darum auch erst auf einer zweiten Stufe aus religionsexternen Faktoren, nämlich als Antwort auf das Kontingenz- und das Sammlungsproblem? Oder entsteht Religion aus der numinosen Erfahrung selbst heraus, die eben nicht inhaltlich unbestimmt ist, sondern, wie Ottos Analyse zeigen möchte, selbst Gottesvorstellungen aus sich heraus nahelegt? Eine fundamentale Opposition ist dies besonders deshalb, da, wenn Otto recht hätte, zumindest der zweite Teil von Tugendhats religionskritischem Argument in sich zusammenfallen würde. Dieses lautete ja: Wenn es keine Evidenz für das Göttliche gibt, dann ist das Bedürfnis nach ihm kein Grund, sondern ein Gegengrund. Wenn es aber stimmen sollte, dass das Bedürfnis nach Gott im Sinne einer Lösung des Kontingenz- und Sammlungsproblems gar kein Faktor in der Genese von Religiosität ist, würden die Karten folglich neu gemischt. (4) Was könnte für Ottos These sprechen? Zuerst natürlich Ottos Werk und seine Beispiele im Ganzen, auch wenn sie an dieser Stelle nicht ausführlich geschildert werden können. Denn bereits die Materialfülle, in der er numinose Erfahrungen schildert, ist ein beeindruckendes Indiz dafür, inwiefern Religion aus der Erfahrung des Numinosen in ihren inhaltlichen Bestimmtheiten erwächst und Nutzenerwägungen, wie Tugendhat sie ins Auge fasst, dabei praktisch keine Rolle spielen.²³ Sicherlich ist die Gotteserfahrung auch in Ottos Beispielen häufig etwas überaus Beglückendes – und alles andere zu behaupten, wäre auch merkwürdig. Aber jenes Glück ist, folgt man Ottos Analyse, eben nicht verantwortlich für die Genese der religiösen Erfahrung, sondern ist deren Reflex.²⁴ Aufschlussreich sind hierfür besonders Ottos Ausführungen zu Wundern. Sie sind für ihn nämlich nicht der Anlass eines Glaubens an höhere Wesen, sondern Ausdruck der vorgängigen Erfahrung des Numinosen, besonders in seinen Aspekten des Energischen bzw. der Majestas.²⁵ Es ist hier nicht der Ort (und dürfte ohnehin nicht ganz einfach sein), diese These empirisch valide zu untermauern. Dennoch spricht m. E. auch die alltägliche Erfahrung für Ottos Annahme. Um es einmal ungeschützt zu sagen: Werden Neben den zahlreichen Beispielen, die DH anführt, sei auch auf die ebenfalls sehr materialreichen Werke WÖM und AN verwiesen. Vgl. DH, Kap. 6. DH, 82 ff. Vgl. auch DH, 3.
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Menschen wirklich religiös, weil sie ein Problem haben? Werden sie nicht eher religiös, weil sie das Gefühl haben, dass da etwas ist, dem man nur mittels der Religion überhaupt auf die Spur kommen kann? Und selbst wenn gewisse Problemlösungen bei Einzelnen anfänglich eine Rolle gespielt haben mögen, so gewinnt doch mit der Zeit das Motiv, dem Göttlichen um seiner selbst willen nachzuspüren, wieder Überhand. Mit anderen Worten: Man kann schlichtweg nicht glauben oder religiös sein, weil man es für nützlich hält. Dafür scheint mir Ottos Werk insgesamt ein sprechender Beleg zu sein.²⁶
4 Religiöse Erfahrung und intellektuelle Redlichkeit (1) Da das fiktive Gespräch zwischen Otto und Tugendhat nun gerade begonnen hat, mag es reizvoll sein, es auch weiterzuführen: Nehmen wir einmal an, Tugendhat würde Otto zugestehen, dass Religion mit sich selbst anfängt, nämlich als Ausdrucksgestalt der numinosen Erfahrung selbst. Dann wäre damit aber für Tugendhat die Frage nach der intellektuellen Redlichkeit wohl noch keinesfalls abgetan – und m. E. würde er damit tatsächlich auf eine gewisse Problematik in Ottos Theorie aufmerksam machen. (2) Denn es mag ja sein, dass es solche Erfahrungen gibt, in denen Erlebnis und Deutung in eins fallen ²⁷, in denen sich das Göttliche dem Menschen in unmittelbarer Überzeugungskraft darstellt. Doch spätestens im Nachgang wird auch eine solche außerordentliche Erfahrung zumindest zweideutig und somit deutungsund rechtfertigungsbedürftig werden. Andernfalls könnte es so etwas wie religiösen Zweifel gar nicht geben. Muss also nicht – damit aus religiöser Erfahrung Religion werden kann – auch Ottos religiöser Mensch dann, wenn die Erfahrung des Numinosen abgeklungen ist, fragen, welcher rationale Gehalt dieser Erfah-
In Richtung auf diese Pointe scheint mir im Übrigen auch die Religionstheorie Wolfhart Pannenbergs zu deuten, auf die hier statt eines empirischen Belegs zumindest verwiesen sei: Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 1, Göttingen 1988, Kap. 3. Seine knappe Auseinandersetzung mit Otto (a.a.O. 153 ff.) nimmt ihn denn auch in dieser Hinsicht in Anspruch, übersieht dabei allerdings m. E. die oben angesprochene inhaltliche Bestimmtheit der Erfahrung des Numinosen bei Otto, sodass seine Kritik, hier werde statt des „konkreten Gegenstand[s] der religiösen Erfahrung“ nur „eine allgemeine Sphäre benannt“ (a.a.O. 154), in der die religiöse Erfahrung sich abspiele, hinfällig werden würde. Diese Formulierung ist entlehnt dem Aufsatz von Ulrich Barth, Theoriedimensionen des Religionsbegriffs: Die Binnenrelevanz der sogenannten Außenperspektiven, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 29 – 87, hier 42 ff.
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rung innewohnt? Überlegen, ob und wie er sein Erlebnis einordnen kann in das, wovon er sonst überzeugt ist? Und muss man dann nicht auch zugestehen, dass kein noch so ekstatisches Erlebnis, wenn es einmal abgeklungen ist, als Evidenz im strengen Sinne wird gelten können? Dann hätten wir aber vielleicht doch wieder die Ausgangssituation, von der Tugendhat sprach, dass die Bedürfnisse nach dem Göttlichen, zumindest nach dem Verklingen der numinosen Erfahrung, das einzige Indiz für eine Entsprechung sowohl dieser Bedürfnisse, wie auch der numinosen Erfahrung selbst darstellen. Tugendhat zitiert an einer bezeichnenden Stelle seiner Ausführungen Bertrand Russel, der einmal gefragt wurde, wie er reagieren würde, „wenn er sich gegen allen Augenschein nach seinem Tod doch vor Gottes Thron gestellt sähe.“ Russel soll geantwortet haben: „Ich würde ihm sagen: ‚you didn‘t give us the evidence.‘“²⁸ An Otto könnte man so die Frage richten: Kann angesichts dessen nun allein der Verweis auf außerordentliche Erfahrungen, in denen Deutung und Erlebnis in Eins fallen, genügen? Denn im Nachgang büßen sie ihre Eindeutigkeit doch stets wieder ein.
5 Das Evidenzproblem und die Religionsbedürftigkeit des Menschen (1) Zu guter letzt möchte ich versuchen, auch auf diesen Einwand noch einmal im (nun zugegebenermaßen immer lockererem) Anschluss an Rudolf Otto zu reagieren. Zweierlei steht mir dabei vor Augen: Im Sinne von Ottos Religionstheorie könnte man zunächst darauf hinweisen, dass Tugendhat in gewisser Weise ein recht enges Verständnis von Religion zu Grunde legt, um dieses dann für unmöglich zu erklären. Vielleicht ist es zumindest heute die Situation, dass eine Religion bzw. eine Gottesvorstellung, die man nur auf ihre rationalen Prädikate hin beschreibt, unter rationalen Gesichtspunkten im strengen Sinne immer unrational erscheinen muss. Wer sich der Religion nur auf der Ebene von Satzwahrheiten nähert oder rein evidenzialistisch an sie herantritt, verfehlt nach Otto wohl gerade das Wesen der Religion. Ihm geht es ja darum, wie er im Untertitel von Das Heilige schreibt, das ‚Rationale‘ und ‚Irrationale‘ in der Idee des Göttlichen, mithin im religiösen Bewusstsein, in ihrem Verhältnis zueinander zu verstehen. Die rationalen Prädikate für Gott haben ihren Sinn, aber eben als mehr oder weniger angemessene und mehr oder weniger wahrheitsfähige Ausdeutungen eines im letzten begrifflich nicht Einzuholenden, nämlich des Nu-
Ernst Tugendhat, Über Religion (Anm. 1), 203 f.
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minosen als Urgrund der Religion.²⁹ Ein Gott, der in Sätzen oder in empirischen Evidenzen aufginge, wäre für Otto – und wohl auch für den religiösen Menschen überhaupt – gar kein Gott. (2) Ein solches weiteres, weil die ‚irrationalen‘, nichtbegrifflichen Anteile in der Idee des Göttlichen und dem religiösen Bewusstsein mit einbeziehendes Verständnis von Religion führt damit unmittelbar auf meinen zweiten Gedanken, der m. E. den neuralgischen Punkt in Tugendhats Konzept markiert:Was heißt eigentlich „Evidenz“? ³⁰ Sicher könnte Tugendhat behaupten, dass das, was nicht begrifflich klar und durch Beobachtung zu fassen ist, entweder nicht existiert oder für uns – sofern wir intellektuell redlich bleiben wollen – belanglos ist.³¹ Aber ist das nicht ein recht enges Verständnis von Wahrheit und Erfahrung? Sicher gibt es nach evidenzialistischen Kriterien keine sicheren Gründe für religiöse Glaubensvorstellungen. Geht man aber mit einen nicht-evidenzialistischen, z. B. stärker hermeneutischen Erfahrungsbegriff ³² an die Sache heran, ist dann nicht die religiöse Erfahrung, wie Otto sie hundertfach beschreibt, lebenspraktisch eine solche Evidenz, wie Tugendhat sie sucht? Sicher eine, die immer wieder in Zweifel gezogen werden kann, die kein strikter Beleg ist, aber doch eine, die nicht einfach nichts ist. (3) Mit einem solchen weiteren Erfahrungsbegriff müsste sich auch Tugendhats Ausgangsproblem noch einmal anders darstellen. Dann gäbe es nämlich nicht keine Evidenz für das Göttliche, sondern im gelebten Leben zahlreiche und zwar gegenläufige und mehrdeutige. Insofern müsste man dann von einer Art Pattsituation sprechen. Aber das ist doch ein deutlicher Unterschied: Denn wenn es nicht keine Evidenzen für das Göttliche gibt, sondern Evidenzen für und wider das Göttliche – dessen theoretische Fassung dann natürlich noch einmal eine andere Sache wäre –, dann sind auch die Bedürfnisse nach ihm kein Gegengrund mehr. Das wären sie nur,
Vgl. dazu schon oben Anm. 22. Auf diese Probleme in Tugendhats Konzept ist Heiko Schulz in seinem lesenswerten Aufsatz – allerdings eher mit Kierkegaard als Otto im Rücken – ausführlicher eingegangen: Heiko Schulz, Kann ein religiöser Mensch intellektuell redlich sein? (Anm. 1). So schreibt Tugendhat: „Nicht nur, dass man die Existenz Gottes nicht beweisen kann, sondern dass eine Existenz von Göttern oder Gott für uns nicht einmal verständlich ist: dass Götter auf dem Olymp leben oder dass Gott über den Wolken ist, glaubt niemand mehr, es widerspräche allem, was wir wissen; sagt man hingegen, Gott existiere außerhalb von Raum und Zeit, so sind wir unfähig, mit der Vorstellung, dass etwas existiert, das nicht im Raum lokalisierbar ist, auch nur einen Sinn zu verbinden.“ (Ernst Tugendhat, Egozentrizität und Mystik [Anm. 1], 123 f.) Neben zahlreichen anderen Beschreibungen eines solchen Ansatzes scheint mir nach wie vor die von Wolfhart Pannenberg in diesem Zusammenhang vielversprechend zu sein, nicht zuletzt, weil er den gedanklichen Überstieg vom logischen Positivismus über den kritischen Rationalismus bis hin hermeneutisch-geschichtlichen Sinnenverstehen pointiert herausarbeitet: Wolfhart Panneberg, Wissenschaftstheorie und Theologie, Frankfurt a.M. 1973, Teil I.
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wenn es wirklich keinerlei Evidenzen gäbe. Gibt es aber welche, z. B. solche, die sich in der Erfahrung des Numinosen erschließen, dann könnten auch die menschlichen Bedürfnisse nach Religion noch einmal in einem neuen Licht betrachtet werden. Denn für die Frage, wie man sich zu den religiösen Erfahrungen nach ihrem Abklingen verhält, dürfte v. a. der Abgleich mit der sonstigen Welt- und Selbsterfahrung von entscheidender Bedeutung sein: Lässt sich die Vorstellung vom Göttlichen, die sich in der religiösen Erfahrung erschließt, dort irgendwie einbetten? Und ein sicher nicht irrelevanter Teil solcher Selbst- und Welterfahrung sind selbstverständlich auch die anthropologischen Bedürfnisse nach Religion – auch wenn sie für deren konkrete Genese unerheblich sind. (4) In einem Aufsatz mit dem Titel „Über Religion“ aus dem Jahr 2006, der drei Jahre nach Egozentrizität und Mystik, seinem ersten Buch zur Religionsphilosophie, noch einmal auf seine Überlegungen zurückblickt, nennt Tugendhat selbst einige weitere solcher Bedürfnisse und mit ihnen möchte ich schließen. Tugendhat fragt in diesen Passagen danach,was uns ohne Religion fehlen würde und zwar an Aspekten, die auch sein eigenes Konzept von Mystik nicht zu lösen vermag. Er nennt drei Beispiele, die ich auf Grund ihrer Prägnanz weitgehend im Originalton zitiere: (a) Das erste Beispiel ist der Verlust des Dankenkönnens. „Wenn man zum Beispiel einen Menschen liebt, hat man, so scheint mir, ein Bedürfnis, für dessen Existenz zu danken. Das Dativ-Objekt dieses Dankens kann natürlich nicht die andere Person selbst sein, man kann sich das vielleicht besonders klar verdeutlichen, wenn der andere ein Kind oder Säugling ist. Es ist wohl meist so, dass eine Mutter angesichts ihres kleinen Kindes Verwunderung oder Dank empfindet: die Verwunderung lässt sich anonym verstehen, der Dank kaum. Entfällt die Möglichkeit des Dankens, weil der Adressat entfällt, entsteht, meine ich, eine eigentümliche Situation des Zurückgeworfenseins auf das bloß Tatsächliche. Ähnliches lässt sich für viele der Verhaltensweisen sagen, die wir als tief ansehen, z. B. das Verhalten zum eigenen Leben und Tod. Eine spezifische Weise der Transzendenz scheint verloren zu gehen, an ihre Stelle tritt eine eigentümliche Verflachung.“³³ Diese Beobachtung stellt für Tugendhat selbst, wie er zugibt, die Leistungsfähigkeit – nicht die Wahrheit – seines Mystikkonzepts in Frage. Genauso (b) der Umgang mit dem Leid: „Ich empfinde es als so viel hilfreicher, anstelle der neutralen taoistischen oder stoischen Auffassung, […] mich an Gott zu wenden und zu sagen ‚Dein Wille geschehe‘, dass ich mir diese Rede explizit verbieten muss,weil ich doch weiß, dass Gott nur ein Konstrukt meines Bedürfnisses ist, und dass ich also,wenn ich mich von ihm bestimmen ließe, in eine Selbstlüge bzw. eine Halluzination geriete. Mir bleibt nichts anderes übrig, als mich auf den unper-
Ernst Tugendhat, Über Religion (Anm. 1), 197.
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sönlichen, rein mystischen Standpunkt zurückzuziehen, aber dieser Standpunkt erweist sich für mein Bedürfnis, eine positive Beziehung zu den Frustrationen zu gewinnen, als unzureichend.“³⁴ (c) Das letzte Beispiel bezieht sich auf das Thema der Verantwortung, und zwar für mein eigenes Leben. Tugendhat spielt verschiedene Möglichkeiten durch, wem gegenüber man sich für sein Leben verantwortlich wissen kann, z. B. der moralischen Gemeinschaft oder eben sich selbst. Alle erscheinen ihm aber letztlich als ungenügend, so dass nur die Möglichkeit bleibt, Gott gegenüber verantwortlich zu sein. Da diese Möglichkeit nun aber versperrt ist, was folgt daraus? Tugendhat antwortet darauf mit einer Überlegung Søren Kierkegaards: „Kierkegaard hat am Ende seines Buchs Der Begriff der Angst geantwortet: dann entfällt der Ernst des Lebens. Ich könne mich dann noch in Bezug auf alle möglichen Dinge ernsthaft verhalten, aber nicht mehr in Bezug auf mich, und um das zu unterstreichen, zitiert Kierkegaard den Ausruf von Macbeth, nachdem er den König Duncan ermordet hat: ‚Von jetzt gibt es nichts Ernstes mehr im Leben: / Alles ist Tand, gestorben Ruhm und Gnade! / Der Lebenswein ist ausgeschenkt.‘“³⁵ Tugendhats Resümee: „So wie Macbeth den König ermordet hat, so hätten wir, mit Nietzsche zu sprechen, Gott ermordet und mit ihm den Ernst des Lebens.“³⁶ Nachdem man Rudolf Otto gelesen hat: Sollte all das wirklich kein Argument sein?
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V Ethik
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Ethik und Religionspsychologie Rudolf Ottos ethisches Denken im Kontext der Werkgeschichte Angesichts der Begeisterung, mit der sich die protestantische Theologie heute den Begriff der Menschenwürde aneignet und vor allem in ethischen Kontexten als Bewertungsgrundlage und Bewertungsmaßstab in Anschlag bringt, erscheint es erstaunlich, dass dabei so gut wie kein Bezug auf Rudolf Otto genommen wird. Das verdankt sich zum einen dem Umstand, dass die gegenwärtig reichlich strapazierte Behauptung einer unverbrüchlichen Identität von biblischer Ebenbildlichkeitsvorstellung und moderner Menschenwürdeidee nur um den Preis einer Verdrängung der historischen Beziehung von Theologie und Kirche zu Menschenwürde und Menschenrechten möglich ist. Eine theologiehistorisch kundige Aufarbeitung der Menschenwürdetradition in der deutschen protestantischen Theologie kommt vielmehr zu dem Befund, dass es in ihr zwischen der kantischen Freiheitsphilosophie und der gegenwärtigen Konjunktur des Menschenwürdebegriffs eine „historische Lücke“ gibt.¹ Nur in der Tradition des liberalen Kulturprotestantismus und seiner Emphase der sittlichen Persönlichkeit lassen sich Affinitäten und noch seltener auch explizite Zustimmungen zu dem modernen Konzept der Menschenwürde finden. Zum anderen fehlt aber selbst bei denjenigen, die auf diesen Zusammenhang von liberalem Protestantismus und Idee der Menschenwürde hinweisen, der Name Rudolf Ottos.² Dabei ist in Ottos Kantisch-Fries’scher Religionsphilosophie „Würde der Person“ der zentrale und leitende Begriff seiner Ethik. Otto steht mit dieser Betonung des Würdegedankens in der Tradition von Jakob Friedrich Fries bzw. des Neufriesianismus im Kreis um den Göttinger Philosophen Leonard Nelson. Die von Nelson herausgestellte fundamentale Bedeutung der Menschenwürde für eine säkulare Rechtsordnung war verbunden mit der Einsicht, dass hier Menschenwürde nicht positiv zu bestimmen ist, sondern gerade um der Verzwecklichung
Arnulf von Scheliha, „Menschenwürde“ – Konkurrent oder Realisator der christlichen Freiheit? Theologiegeschichtliche Perspektiven, in: Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus, hg.v. Jörg Dierken/Arnulf von Scheliha, Tübingen 2005, 241– 263, hier 243. Freiheit und Menschenwürde. Studien zum Beitrag des Protestantismus, hg.v. Jörg Dierken/ Arnulf von Scheliha, Tübingen 2005; Ethik der Menschenrechte. Zum Streit um die Universalität einer Idee I, hg. v. Hans-Richard Reuter, Tübingen 1999; Wolfgang Vögele, Menschenwürde zwischen Recht und Theologie. Begründungen von Menschenrechten in der Perspektive öffentlicher Theologie, Gütersloh 2000; Hartmut Kress, Ethik der Rechtsordnung. Staat, Grundrechte und Religionen im Licht der Rechtsethik, Stuttgart 2012.
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des Menschen zu wehren, in negativer Weise in Anschlag zu bringen ist.³ Damit sind Grundgedanken formuliert, die sich in der sog. Objektformel im Selbstverständnis der modernen Verfassungsstaaten verankert haben. Das aber ist hier nicht im Einzelnen zu verfolgen. Festzuhalten ist, dass Rudolf Otto nicht nur den Begriff der Menschenwürde verwendete, sondern dies in einem Verständnis und Interpretationszusammenhang tat, der in beachtenswerter Weise einem heutigen rechtsstaatlichen Denken kompatibel ist. Der umstandslosen Beanspruchung Ottos für eine solche liberale Rechtstradition und Ethik stellen sich jedoch einige Hindernisse in den Weg. Sie beginnen damit, dass Otto schon in der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie die Idee der Menschenwürde durch eine objektive Wertethik ergänzt und mit einer ästhetisierenden Religionstheorie verbindet, die ihn zumindest prima facie vom liberalen Kulturprotestantismus dann doch wieder unterscheidet. Dem wird im ersten Abschnitt dieses Beitrags nachgegangen, dabei aber auch die These entwickelt, dass der Anschluss an Fries für Otto die Möglichkeit bereitstellte, die ethische Emphase des Kulturprotestantismus seiner Zeit mit der ihn zutiefst bewegenden Intuition einer durch das Moralische und die Ethik nicht zu erschöpfenden, selbständigen Religion zu verknüpfen. Dass Otto in der protestantischen Genealogie des Menschenwürdegedankens bislang keine Rolle spielt und ihr sogar widerspenstig scheint, hängt sicher damit zusammen, dass in seinem bekanntesten Buch von Menschenwürde nichts steht. Ja, nicht einmal die Ethik scheint in Das Heilige eine Rolle zu spielen. Denn gerade die Gewinnung des Numinosen als des Religiösen in seiner Selbständigkeit soll den Unterschied von Religion auf der einen, Moral und Ethik auf der anderen Seite betonen. Ich möchte aber die Frage an Das Heilige richten, inwiefern die religionspsychologische Erkundung der religiösen Erfahrung eine Bedeutung für die ethische Aufgabe hatte. Dominant wird die Ethik dann in Ottos Spätwerk der 1930er Jahre, das im dritten Abschnitt des Aufsatzes thematisiert wird. Gegenüber der früheren Emphase der Menschenwürde entwirft Otto nun eine ambivalente Deutung der modernen Kultur. Er sucht die Bedeutung der Religion für die Gegenwart gerade über eine solche Kulturkritik zu erläutern. Die Literatur zur Ethik Ottos ist sehr überschaubar.⁴ Mit dieser Darstellung soll die Ethik als eine Klammer in Ottos Werk erkennbar werden, was bei der in der
Armin G. Wildfeuer, Menschenwürde – Leerformel oder unverzichtbarer Gedanke, in: Person – Menschenwürde – Menschenrechte im Disput, hg.v. Manfred Nicht/Armin G. Wildfeuer, Münster/Hamburg/London 2002, 19 – 116, hier 64 f. Als Überblicksdarstellungen vgl. Georg Wünsch, Grundriß und Grundfragen der theologischen Ethik Rudolf Ottos, in: ZThK 19 (1938), 46 – 70; Jack Stewart Boozer, Einleitung, in: Rudolf Otto,
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Rezeption überwiegenden Begrenzung der Wahrnehmung von Ottos Werk auf Das Heilige gar nicht in den Blick kommen kann, aber in den Blick genommen zu werden verdient. Denn Ottos Ethik ist in ihrem Wandel ein sehr selbständiger Entwurf von Format.
1 Menschenwürde als absoluter Wert. Zur Ethik in der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie von 1909 1909 stellte Otto Fries auch in der praktischen Philosophie als „Fortsetzer“ Kants dar. Die Idee der Pflicht, des guten Willens als des schlechthin Guten, der Autonomie der Moral usw. seien die „nicht wieder preiszugebenden Entdeckungen und begrifflichen Festlegungen der allgemeinen und notwendigen, a priori erkannten Grundgesetze des menschlichen Handelns“. Über Kant hinausgehend und ihn „verbessernd“, wie Otto sagt, habe Fries vor allem dadurch gewirkt, dass er gezeigt hat, dass der kategorische Imperativ Kants „selber noch unter der Bedingung eines anderen Gesetzes, des Gesetzes des absoluten Wertes steht“ (KFR, 87 f.). Es soll also an der moralischen Autonomie festgehalten und dennoch eine Sinnrichtung des moralischen Handelns mittels einer Wertlehre ermittelt werden. Dazu bedient sich Otto mit Fries folgender Gedanken: Der praktischen Vernunft liegt ein eigenes Vermögen zu Grunde, welches vom Erkennen unterschieden ist und zugleich Tatkraft vermittelt – „aus einem kalten Erkennen könnte nie ein Handeln werden“ (KFR, 89), wie Otto formuliert. Dieses eigene Vermögen, bei Fries „Herz“ genannt, hat die Funktion des „Wertansetzens“ (KFR, 88), das zu dem von ihm erfassten Objekt die Motive zu einer Handlung vermittelt. Um nun das Objekt nicht selbst als ein Objekt der Erkenntnis zu bestimmen und damit in den Empirismus zurückzufallen, wird diese der Tatkraft zugrundeliegende Erfassung im Gefühl bestimmt. Dieses Gefühl ist nicht Empfindung, sondern „ein eigentümliches Urteilen“ oder wie Otto prägnant formuliert: „Gefühl ist Urteilskraft“ (KFR, 90). Die praktische Vernunft urteilt im Gefühl nicht nur nach den Empfindungen der Lust und Unlust, sondern beurteilt die Objekte übergeordnet nach dem Wert für das „spezifisch menschliche[ ] Dasein […] nach allen Möglichkeiten seiner
Aufsätze zur Ethik, hg.v. Jack Stewart Boozer, München 1981, 7– 52; Hartmut Kreß, Ethische Werte und der Gottesgedanke. Probleme und Perspektiven des neuzeitlichen Wertebegriffs, Stuttgart 1990, 113 – 138.
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Entfaltung“ (KFR, 92). Das Gefühl urteilt also teleologisch und ist darin „lebendiger mächtiger Faktor in der Geschichte der Menschheit. Seine immer völligere Entfaltung ist geradezu der Sinn und das vernünftige Ziel aller menschlichen Geschichte.“ (KFR, 93) Die geistigen Inhalte, die nach diesem Moment des Gefühlsurteils bewertet werden, entfalten die Ethik als Wertlehre. Besteht in diesem Moment des praktischen Urteils eine enge Beziehung und Ähnlichkeit zum Ästhetischen, übersteigt das dritte Moment dieses Ästhetische. Denn noch über diesem „Wertgesetze des Edlen, Schönen, Vortrefflichen steht das des Guten und der Pflicht“ (KFR, 95). Erfolgt die Beurteilung der auf Vervollkommnung des menschlichen Daseins zielenden Werte im Gefühlsurteil selbst, „aus Gefühl“ oder „in der Beurteilung“ (KFR, 96), wie Otto sagt, erfolgt die Bestimmung des guten Willens „nach der Beurteilung“ (KFR, 96). Sie setzt also psychologisch die Erfassung des Handlungstelos voraus, aber der gute Wille bleibt unbedingt gut, er ist „aus nichts Anderm einzusehen oder abzuleiten oder sonstwie zu gewinnen“ (KFR, 95). So soll ausgeschlossen sein, dass die Güte des Willens an der Realisierung der objektiven Werte gemessen wird. Das wäre Heteronomie. Die Autonomie des Willens soll erhalten bleiben. Aber das Problem der Willensautonomie liegt in ihrer formalen Bestimmung. Deshalb soll einerseits die strenge formale Autonomie des guten Willens beibehalten werden, sie aber andererseits unter die „Bedingung des Dasein eines absoluten Wertes“ (KFR, 96) gestellt werden, den der Wille „sich selbst nicht mitgibt“ (KFR, 96). Dieser Inhalt oder „absolute Wert“ lässt sich nun zwar, wie das Absolute selbst, nicht positiv benennen, aber in Negation formulieren. „Allem endlichen Wert setzen wir den schlechthin vollendeten Wert entgegen mit dem Wort ‚Würde‘. Sie eignet dem, was unter der Idee der Substanz schlechthin gedacht wird, dem persönlichen Geiste in seiner Unabhängigkeit und Freiheit vom Mechanismus der ganzen Natur. ‚Würde der Person‘ ist das ideale Prinzip, unter dem wir jeden Menschen, als Erscheinung ewigen persönlichen Geistes, beurteilen.“ (KFR, 97) Das Positive der Idee der Würde bleibt dem begrifflichen Erkennen ganz verborgen, es ist aber „umso lebendiger im Gefühle des persönlichen Geistes um sich selber“ (KFR, 97). Indem so die Menschenwürde als absoluter Wert gesetzt wird, werden die Werte historische Emanationen des absoluten Prinzips der Menschenwürde. Und tatsächlich stellen die Wertungen (Otto spricht nun ganz subjektiv-aktivisch von den Wertungen statt von Werten), denen das menschliche Dasein nach seiner Teleologie unterzogen wird, dem guten Willen „positive Aufgaben“, indem sie ihm „Überzeugungen von dem, wie er handeln soll“ (KFR, 98) vermitteln. Es bleibt bei dieser Theorie die Frage, in welcher Weise der rein aus Pflicht wirkende Wille einerseits und die Werte andererseits tatsächlich so zusammenwirken, dass sie teleologisch harmonieren. Die Beziehung freilich von Be-
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stimmtheit des guten Willens einerseits und den Werten oder Gütern andererseits, von Pflicht einerseits und den positiven Handlungen andererseits, diese Beziehung ergibt sich erst durch „Glaube und die gefühlsmäßige Bezogenheit auf die Idee vom absoluten Werte des vernünftigen Geistes, der in der Geschichte als sich entwickelnder erscheint“ (KFR, 99 f.). Und weiter führt Otto aus: „Es ist eine rein gefühlsmäßige, aber ganz zuversichtliche Subsumtion des eigenen Seins und Handelns unter die Idee des absoluten Wertes, die sich vollzieht durch eine unaussprechlich in der Frömmigkeit gelegene Maxime.“ (KFR, 100) Unter Bedingung einer solchen religiös gefühlten Harmonie von subjektiver und objektiver Teleologie kann dann aus dem (wenn auch nur negativ bestimmten) idealen Prinzip der Menschenwürde die sittliche Idee vom Reich der Zwecke gewonnen und in den drei Dimensionen des Rechts, der Gemeinschaft („Füreinander überhaupt“) und des Zweckes der Menschheit in der Geschichte entfaltet werden. Damit wird aber nicht nur die Ethik, sondern auch die „Religionslehre“ „im tieffsten Grund und ihrer eigentlichen Absicht nach auch ‚Zwecklehre‘“ (KFR, 104), und das in der Weise, dass sie die in der Zeit stehenden Werte mit dem objektiven Zweck der Welt verbindet. Wenn hierin philosophisch Wesentliches über die Religion gesagt ist, meint Otto auch ein Kriterium des Religionsvergleiches gewonnen zu haben. Hier trägt er in der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie auch explizit eine Differenz gegenüber Fries ein. An die Stelle der Identifizierung dieses Wesens der Religion mit dem Christentum (und damit die Auszeichnung des Christentums als die Religion gegenüber anderen unzureichenden Formen) soll das Bemühen treten, „die Individuation der Religion zu verstehen und das Dasein von Qualitätsunterschieden und damit auch das Dasein von Wertunterschieden und die Notwendigkeit, zwischen unvollkommenerer und vollkommenerer Religion […] zu unterscheiden“ (KFR, 124). Die ethischen Überlegungen in der Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie sind so in ihren Grundzügen dargelegt. Die Frage, ob Fries bzw. Kant hier von Otto richtig wiedergegeben wurde, lasse ich hier beiseite. Da Otto wie an der eben zitierten Stelle sein Abweichen gegenüber Fries deutlich markiert, ist die Übereinstimmung seiner Überzeugung mit derjenigen von Fries in den übrigen Partien vorauszusetzen. Offenkundig sind die Anlehnungen, die Otto an Albrecht Ritschls ethischer Deutung des Reiches Gottes vornimmt, ebenso wie an Wilhelm Herrmanns Theorie der sittlichen Selbstbeherrschung der religiösen Persönlichkeit, nicht zuletzt natürlich an Ernst Troeltschs Kritik Herrmanns und seine These von der Notwendigkeit einer die subjektive Ethik ergänzenden Güterlehre, sowie die offenkundige Nähe zu Troeltschs These von der praktischen „Höchstgeltung“ des
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Christentums.⁵ Diese vielfältigen, meist impliziten Bezüge auf die zeitgenössische Theologie sind hier nicht im Einzelnen zu verfolgen. Diese Andeutungen, viele andere ließen sich ergänzen, mögen genügen um zu zeigen, dass es sich bei Ottos Darstellung von Fries um weit mehr handelt als eine philosophiehistorische Studie, sondern dass es sich hier auch um eine Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Positionen handelt, zu denen sich Otto in sehr selbständiger Weise verhält. Die für den liberalen Kulturprotestantismus typische ethische Imprägnierung der Theologie ist bei Otto in der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie stark und programmatisch vorhanden. In einer für die protestantische Theologie insgesamt, aber auch den liberalen Protestantismus herausstechenden Weise wird von Otto das Prinzip der Menschenwürde und moralischer Autonomie behauptet und das sich im Reich der Zwecke entwickelnde soziale Menschheitstelos an den Gedanken des freien Miteinanders der religiös-sittlichen Persönlichkeit gebunden. Es hat dadurch durchaus eine personalistische Pointierung, wenn auch die sozialen Bezüge Betonung finden. Vorausschauend ist zu sagen, dass mit dieser Darstellung die entscheidenden Bausteine der Ethik Rudolf Ottos benannt sind, die von ihm bis ins Spätwerk beibehalten werden. Allerdings erfahren sie dort eine deutlich andere Gewichtung. Otto reflektiert später stärker auf die Probleme, die entstehen, wenn Pflichten und Werte nicht mehr unter dem Gesichtspunkt einer kulturoptimistischen Teleologie angeordnet sind. Damit geht bei dem späten Otto eine stark zeitund kulturkritische Abwendung vom Gedanken der Menschenwürde einher, wie er dann überhaupt von den individualistischen Werten auf gemeinschaftsorientierte Werte umstellt (s.u. 3.).
2 Die ethische Autorität des Heiligen. Die Ethik in Das Heilige von 1917 Die Abweisung einer ethischen Lesart der Theologie Ottos scheint in Das Heilige auf der Hand zu liegen. Ist doch gerade die Gewinnung der Selbständigkeit der Religion auch und gerade gegenüber Moral und Ethik dort ein zentrales Anliegen. Tatsächlich wehrt sich Otto vehement gegen die „rationalistische Umdeutung“ des Heiligen in das Gute und will „das Heilige minus seines sittlichen Momentes“ erschließen, wie er einleitend sagt (DH, 6). Doch schon diese Formulierung ist
Vgl. Ernst Troeltsch, Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte (1902/1912) mit den Thesen von 1909 und den handschriftlichen Zusätzen (=Kritische Gesamtausgabe, Bd. 5), hg.v. Trutz Rendtorff in Zusammenarbeit mit Stefan Pautler, Berlin/New York 1998.
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interessant genug, weil sie zugleich auf die analytische Scheidung des faktisch Verbundenen hinweist. Diese faktische Verbundenheit ist für Otto zunächst ein religionshistorischer und -vergleichender Befund. So spricht er davon, es gebe „keine höher entwickelte Frömmigkeit, in der nicht auch zugleich sittliche Verpflichtung und Forderung mit entwickelt wäre“ (DH, 67). Aber nicht nur ist die Frömmigkeit mit der Sittlichkeit verbunden, sondern auch das Heilige mit dem sittlich Guten. Das Numinose ziehe „die Ideen gesellschaftlicher und individueller Ideale des Verbindlichen, Rechtlichen und Guten an sich“ (DH, 135). In der Religionsgeschichte sei zu verfolgen, wie mit der Entwicklung des religiösen Gefühls von „primitiven“ Regungen zur komplexen Erfahrung des Numinosen „nicht ganz aber fast gleichzeitig“ die „Rationalisierung und Versittlichung am Numinosen sich vollzieht“ (DH, 135) bis hin zur „nicht mehr löslichen Verschmelzung“ (DH, 135) der Momente von heilig und gut. Dies gilt in besonderer Weise für die christliche Religion, denn „ohne die rationalen besonders ohne die klaren sittlichen Momente wäre das Heilige nicht das Heilige des Christentums“ (DH, 134). Gerade diese sittliche Qualität des Christentums verschafft ihm im Religionsvergleich eine herausgehobene Qualität. Hier bewegt sich Otto dann wieder ganz in den Bahnen der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie und den stark an Troeltsch erinnernden Versuch eine praktische Höchstgeltung des Christentums zu demonstrieren. In einer erstaunlich unhistorischen, dogmatischen Sprache kann Otto dann schreiben, gerade die „immer klarere und immer machtvollere Rationalisierung und Versittlichung des Numinosen ist selber der wesentlichste Teil dessen, was wir als ‚Heilsgeschichte‘ bezeichnen und als immer wachsende Selbstoffenbarung des Göttlichen würdigen“ (DH, 135 f.). Die Aufmerksamkeit soll nun aber nicht diesen apologetischen Aspekten gelten, sondern der,wenn auch recht knappen,Verknüpfung von psychologischer Bestimmung des Numinosen und Wertlehre, die sich in Das Heilige findet. Sie findet sich in der Erörterung des numinosen Moments des „augustum“. Dem „numen“ komme ein „eigentümlicher Wert“ zu, der in der Bezeichnung des „sanctus“ Ausdruck finde: „Dieses ‚sanctus‘ ist nicht ‚vollkommen‘, nicht ‚schön‘, nicht ‚erhaben‘, auch nicht ‚gut‘“ (DH, 67), so Otto, aber habe mit diesen Prädikaten eine „fühlbare Übereinstimmung“ und zwar sei es „eben auch ein Wert, und zwar ein objektiver Wert, zugleich ein schlechthin unüberbietbarer, ein unendlicher Wert“ (DH, 67). Dieser „numinose Wert“ sei der „irrationale Urgrund und Ursprung aller möglichen objektiven Werte überhaupt“ (DH, 67). Das augustum ist dann die Bezeichnung des „objektiven zu respektierenden Wertes in sich“, welches dem fascinans als „subjektiven, nämlich beseligenden“ Wert des numen „für mich“ (DH, 69) korrespondiert. Durch die Behauptung dieses objektiv fordernden Momentes im Numinosen ist Religion dann auch „wesentlich“, wie Otto sagt, „innerlichste obligatio, Ver-
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bindlichkeit für das Gewissen und Verbundenheit des Gewissens […] aus anerkennender Beugung gegenüber dem heiligsten Wert“ (DH, 69). Diese Überlegungen zum Augustum haben sich die Kritik der Interpreten zugezogen. Es diene, so der Vorwurf, dazu dem Numinosen die ontologische Bestimmung der Absolutheit zuzuschreiben und so die eigene Theorie auch als Aufhebung der traditionell metaphysischen Theorie des Absoluten zu empfehlen, sei aber unter Bedingungen der subjektiven Perspektive der Theorie Ottos eine „Erschleichung“⁶. Dies korrespondiert dann dem von mir vorhin kritisch angemerkten dogmatischen Absolutheitspostulat in den religionsgeschichtlichen Passagen von Das Heilige. Ich meine aber, dass diese Passage zum Augustum noch in etwas anderer Weise zu betrachten ist, stellen wir sie in den Kontext der ethischen Überlegungen Ottos. Bei aller Konzentration auf das Numinose als das Heilige „minus“ das Sittliche ist es Ottos Interesse, den praktischen Sinn der Gotteserfahrung in dieser selbst zu verankern. Das von ihm selbst erhobene religionsgeschichtliche Datum der engen Verknüpfung von Numinosem und Sittlichem in den „höheren Religionen“ sollte nicht kontingent sein, nicht geschichtlich relativ. Und die Religion soll nicht in einen ethisch impotenten Erlebnissolipsismus führen. Zugleich aber, das betont er mehrfach in Das Heilige, ist die Sittlichkeit nicht exklusiv an die Erfahrung des Numinosen gebunden⁷, sittliches Handeln setzt also keinesfalls religiöse Erfahrung voraus. Da es Otto um die Verankerung des praktischen Sinnes der Gotteserfahrung in dieser selbst geht, lässt sich dies erstens als Fortführung der in der KantischFries’schen Religionsphilosophie grundgelegten ethischen Ausrichtung lesen. Es lässt sich zweitens als Vertiefung des empirisch-religionsgeschichtlichen Befunds der ethischen Qualität der sog. „höheren Religionen“ verstehen. Es lässt sich drittens schließlich als Ausdruck eines Zentralproblems des ethischen wie des religiösen Denkens in der Moderne interpretieren, nämlich als die Frage nach dem Subjekt von Autorität. Hier zeichnet sich bei Otto die für die moderne Theologie signifikante ethische Zuspitzung der Gottesfrage ab, die dann in der Theologie des 20. Jahrhunderts als Zuspitzung auf die Frage nach der Autorität Gottes verhandelt wurde. Bei Otto bleibt dies natürlich noch programmatisch an die subjektive Erfahrung gebunden. Aber deswegen ziehen sich auch gleichsam die dunklen Wolken am theologischen Himmel der Kultur immer stärker zusammen: Die Anfragen der Religionsgeschichte, ja des geschichtlichen Denkens überhaupt, die Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992, 12; vgl. auch den Verweis auf Paul Tillichs Kritik an Otto. Vgl. DH, 67 ff.
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Weltkriegserfahrung und der sich abzeichnende politische Zusammenbruch (einschließlich des Endes des Staatskirchentums), die Erkenntnis einer tiefen Krise der Sittlichkeit, aber auch die Erkenntnis, dass die Sittlichkeit auch ohne christliche, ja sogar ohne religiöse Begründung kräftig sein kann, all das bedarf einer Deutung, die dann zugleich auch den Begründungszusammenhang von Religion und Ethik bereitstellen soll. Das ist die anspruchsvolle Aufgabe, der sich Otto in den 1930er Jahren widmet.
3 Die Frage nach dem Gesetzgeber. Ottos Ethik in den 1930er Jahren Wichtig ist zunächst zu erkennen, dass die ethischen Aufsätze aus den 1930er Jahren sich nicht alle und nicht in erster Linie als Beiträge zu einer theologischen Ethik verstehen lassen, sondern einen allgemeinen philosophischen Anspruch haben.Von Anfang an sticht ins Auge, dass in ihnen jene harmonische Teleologie von Personmoral und Wertethik, wie sie in der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie dargelegt ist, nicht mehr vorhanden ist. Freilich führt Otto in den späten ethischen Aufsätzen seine früheren Überlegungen fort, er modifiziert sie jedoch erheblich. Das lässt sich gut am Begriff der Menschenwürde bzw.Würde demonstrieren.War 1909 Würde der Person, wie gezeigt, noch das ideale Prinzip, absoluter Wert und Menschheitstelos, wird der Würdebegriff von Otto nun stark an das moralische individuelle Subjekt gebunden. Nur das strebende Subjekt besitzt Würde,⁸ heißt es nun,Würde in diesem Sinne sei ein moralisches Prädikat,⁹ um den Wert des guten Willens schlechthin auszuzeichnen als qualitativ und generell anderen, „kein ‚bloßer objektiver Wert‘ besitzt diese Würde, nicht einmal ‚die sittliche Persönlichkeit‘ sofern sie Objekt […] ist: als solche ist sie auch nur ein sittliches Gut“¹⁰. Waren für Otto 1909 noch die Werte positive Aufgaben, die der Person Überzeugungen vermitteln, wie sie unter dem Prinzip der Menschenwürde zu handeln hat, muss nun in den späten Aufsätzen der Mensch die Würde erwerben, indem er sich moralisch (sic!) gegenüber den Werten verhält – und erst dadurch werden die Werte moralische Werte, dass ihnen der Mensch mit Würde begegnet. Denn Otto ist nun darauf bedacht, die Werte nicht in Moral aufgehen zu lassen.
Vgl. Rudolf Otto, Wert, Würde und Recht (1931), in: Ders., Aufsätze zur Ethik, hg.v. Jack Stewart Boozer, München 1981, 53 – 106, hier 82. Vgl. a.a.O. 83. A.a.O. 82.
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Nun konstatiert Otto eine Unterscheidung der Moral als der Lehre von der Würde¹¹ von der Ethik als der Lehre von den Werten.¹² Zwar sei die Moral der innerste Kreis der Ethik¹³, aber doch dürfe es keine Teleologie der Ethik auf Moral hin geben. Die Werte sollen um ihrer selbst willen gewahrt werden, nicht um willen der Erlangung von Würde.¹⁴ An dieser Stelle werden die Veränderungen gegenüber 1909 besonders deutlich: Damals wollte Otto noch ausschließen, dass die Güte des Willens an der Realisierung der objektiven Werte gemessen wird. Er betonte also damals die Autonomie des Willens. Nun in den späten Aufsätzen sollen hingegen die Werte vor einer Korruption durch das Ziel der Autonomie bewahrt werden. Das ist als Kritik am Formalismus der Kantischen Ethik zu verstehen, der vorgeworfen wird, eines inhaltlichen Maßstabs zu ermangeln. In Folge dessen werde auch das Prinzip der Menschenwürde zur inhaltslosen Tautologie. Erhalten bleibt bei Otto freilich die ganze Pflichtstrenge der Kantischen Ethik. Aber auch der Pflichtgedanke wird von einer Reflexion begleitet, die seinen gefährdeten Zustand beschreibt: einerseits ist die Pflicht das, was dem wertindifferenten Menschen Halt gibt, andererseits schildert Otto sie von Wertindifferenz und moralischem Solipsismus bedroht. Es sind nur die Werte, die dieser Vereinzelung entgegenstehen, sie vermitteln objektiv Gefordertes.¹⁵ Bevor Otto aber zur Erörterung der Werte kommt, fügt er ein, dass nicht jede Forderung aus einem Wert stammt, sondern häufig aus dem Recht.¹⁶ Das gilt besonders für soziale Forderungen.¹⁷ Auch die Ordnung der Gemeinschaft nach „Gleichheit der Würde der Personen“¹⁸ ist eine solche auf Recht und nicht auf Werten basierende Gemeinschaft. Aber nun entstehe „über die Summe der einzelnen hinaus als ihre Einheit und als das Ganze ein Endzweck an sich selbst“, ein „unvergleichlich Wertvolles“¹⁹, welches nicht nur als „privatrechtliche Ableitung“ eines Reiches der Zwecke zu verstehen sei. Der innere objektive Wert des persönlichen Geistes besteht darin, als bewusster Wille zu wirken, der dazu befähigt, nach Zweckideen zu handeln.²⁰ In unendlicher Steigerung dieses Werts durch die Vielheit und Mannigfaltigkeit der Subjekte wird deren „Zusammenbestehbarkeit“ gefordert und zwar „aus der Idee des Rechtes eines
Vgl. a.a.O. 83. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. a.a.O. 84. Vgl. a.a.O. 84 ff. Vgl. a.a.O. 89. A.a.O. 90. Ebd. Vgl. a.a.O. 90 f.
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jeden an jeden“. Doch diese Zusammenbestehbarkeit pluraler Individualität „fügt sich teleologisch ein einer ‚höheren Wertidee‘. Sie erhält einen höheren Sinn, nämlich den, Grundgesetz zu sein eines geistigen Kosmos als dessen Lebensgesetz.“²¹ Hier wachsen nun also gleichsam aus der Vergesellschaftung objektive Gemeinschaftswerte, welche dem moralischen Handeln Sinn geben und aus dem moralischen Nebeneinander ein sittliches Miteinander machen.²² Wichtig aber ist, dass für Otto das Verhältnis subjektiver autonomer Moral und gemeinschaftlicher Werte notorisch prekär ist. Das Reich der Zwecke droht in Zweckrationalität zu enden, und aller guter Wille vermag dagegen aus eigenen Kräften nicht anzukommen, vielmehr verstrickt ihn sein Formalismus immer tiefer in diese ‚Tragödie der modernen Kultur‘.²³ Dieser Krisenanalyse des allgemeinen sittlichen Bewusstseins stellt Otto nun das fromme sittliche Bewusstsein zwar nicht entgegen, aber zur Seite. Das Verhältnis allgemeiner Ethik zur christlichen Ethik war ein Thema, das Otto stark beschäftigte. Wie gezeigt, suchte er der autonomen Moral gerade aufgrund ihrer Autonomie eigene Würde zu geben, und auch die Werte entstehen nach Otto nicht aus einer religiösen Offenbarung, sondern in Gemeinschaftserfahrungen. Zugleich war Otto zutiefst davon überzeugt, dass die in der religiösen Erfahrung verankerte Sittlichkeit dieser Moral und dieser Ethik nicht als das „ganz andere“ gegenübertritt, sondern ihnen vielmehr Vertiefung und Begründung gibt. Hier sind die Überlegungen aus der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie deutlich zu spüren. In einem seiner letzten Texte, dem posthum erschienenen Aufsatz „Autonomie der Werte und Theonomie“, legt Otto dies noch einmal dar. Dabei knüpft er an der in Das Heilige dargelegten Erfahrung des Heiligen als Werterlebnis an.²⁴ Dieses Werterlebnis setze aber die subjektive Moral nicht außer Kraft, sondern „verknüpft“ sie, wie Otto sagt, mit dem Gotteswillen. „Der Gotteswille ist für den Christen nicht blind, oder richtiger, der Christ ist nicht blind hinsichtlich des
A.a.O. 91. Dies erinnert sehr stark an Ferdinand Tönnies und seine Unterscheidung von der auf Kürwillen beruhenden Gesellschaft und der auf Wesenswillen gegründeten Gemeinschaft, auch wenn sich bei Otto kein Verweis auf Tönnies findet. Vgl. Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie, ND Darmstadt 1988 (11887). Zu dieser für die Kulturphilosophie und -soziologie der Zeit signifikanten Figur vgl. Georg Simmel, Begriff und Tragödie der Kultur (1911), in: Ders., Hauptprobleme der Philosophie. Philosophische Kultur (=Gesamtausgabe, Bd. 14), hg.v. Rüdiger Kramme/Otthein Rammstedt, Frankfurt a.M. 1996, 385 – 416. Vgl. Rudolf Otto, Autonomie der Werte und Theonomie (1940), in: Ders, Aufsätze zur Ethik, hg.v. Jack Stewart Boozer, München 1981, 215 – 226, hier 220.
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Gotteswillens, sondern einsichtig.“²⁵ Erst dadurch werde die Befolgung des Gotteswillens zu „herzlichem inneren Ja-sagen zur Gültigkeit des vernommenen Gebots“²⁶. Hier hält Otto also am Gedanken der Autonomie, ja sogar, wie er an anderer Stelle sagt, am „Intellektualismus in der Moral“²⁷ fest: Der „Grundakt im sittlichen Sein“, so Otto, „ist ein intelligenter: ich sehe ein, das ich soll und warum ich soll“. In diesem „Warum“ ist freilich die ganze Problematik einer Ethik unter modernen Bedingungen enthalten. Denn das Warum fragt letztlich nach der Autorität, dem Gesetzgeber. Hier bei dieser Frage offenbart sich geradezu die theologische Wirklichkeitssicht Ottos: Dass wir es bei den Geboten und Gesetzen mit mehr zu tun haben als mit diesen selbst, sondern mit dem Gesetzgeber.²⁸ Und dass deshalb die Einsicht in die Gründe des Gebotenen dort möglich ist, wo das Gesetz nicht nur befolgt, sondern der Gesetzgeber erkannt wird. Die für Otto zentrale Unterscheidung des Numinosen vom Sittlichen verbürgt die Einsicht, dass es im Gottesverhältnis um mehr geht als um Gesetzesbefolgung, nämlich um das Heil des Menschen und damit um die letzte und höchste Autorität. Die Verankerung des praktischen Sinns der Gotteserfahrung in dieser Heilserfahrung ermöglicht daher für Otto auch die Einsicht in den Sinn der Gebote. Es lässt sich auch sagen, dass es hier mithin um Freiheit geht, genauer um die christliche Freiheit. Otto spricht diesen Begriff freilich nur zögerlich, in Klammern und Anführungszeichen gesetzt, aus, wenn er die Befolgung des Gotteswillens als „,Freiheit‘ jenseits der Ideen von necessitas und contingentia“²⁹ benennt. Ottos Zögern in der Verwendung des Freiheitsbegriffs legt die Vermutung nahe, dass er in ihm genau jenen Mangel an inhaltlicher Füllung ebenso wie Affinität zu den verrechtlichten Gemeinschaftsverhältnissen vermutete, die er überwinden wollte. In dem Maße, in dem Werte in konkrete kulturelle und gesellschaftliche Formen transformiert werden, sind sie für Otto Rationalisierungen, denen die lebendige Erfahrungsfülle fehlt. Auch in diesen späten Texten hielt er an einer Ahnungslehre fest, die im gefühlsmäßigen Erfassen Gottes nicht nur Würde, sondern auch Werte erlebt. Dabei ist der Wertbegriff bei ihm limitativ, er entzieht sich einer erschöpfenden Darstellung und verweist damit auf die schlechthinnige Andersheit Gottes. Deshalb fragt Otto auch, ob der Wertebegriff in der zeitgenössischen Wertephilosophie überhaupt richtig erfasst sei, dass Werte „immer noch zu sehr als ‚Güter‘
A.a.O. 221. Ebd. Rudolf Otto, Wert, Würde und Recht (Anm. 8), 100. Vgl. zum Folgenden Trutz Rendtorff, Die christliche Freiheit als Orientierungsbegriff der gegenwärtigen christlichen Ethik, in: Handbuch der christlichen Ethik, Bd. 1, hg.v. Anselm Hertz/Wilhelm Korff/Trutz Rendtorff/Hermann Ringeling, Freiburg i.B./Gütersloh 1978, 378 – 388. Rudolf Otto, Autonomie der Werte und Theonomie (Anm. 24), 221.
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gemeint sind statt als ‚Gesetzgeber‘“³⁰. Hier sprechen sich ein tiefes Unbehagen und erhebliche Vorbehalte gegen die moderne Kultur aus, und doch wäre es falsch, Otto aufgrund seiner Analyse der modernen Antinomien einfach den Stempel des Antimodernen aufzudrücken. Das wird auch an der Vielspältigkeit von Ottos inhaltlichen Konkretionen deutlich: Es ist eine Mischung aus Gedanken, die in ihrer soziologischen Aufgeklärtheit modern, in ihrer vitalistischen Gemeinschaftsorientierung antimodern sind, einerseits weisen sie ein tiefes Misstrauen gegenüber autonomer moralischer Individualität auf, andererseits eine hohe Aufgeschlossenheit für einen akzeptierten Pluralismus, wie sie sich in dem an Schleiermacher anschließenden Gedanken von der „Zusammenbestehbarkeit“ ausspricht. Es findet sich einerseits eine in dieser Zeit geradezu unerhörte Verteidigung des Sinn des Rechts und des Rechtssinns des Menschenwürdegedankens, andererseits die entschiedene Zurückweisung des Gedankens der Menschenwürde als Prinzip ‚wahrer‘ Vergemeinschaftung. Einerseits kritisiert Otto den Formalismus der kantischen Ethik, andererseits verteidigt er den Gedanken moralischer Autonomie. Das wäre dann im Detail auch an dem Aufruf zum „Religiösen Menschheitsbund“ aus dem Jahr 1921 zu zeigen, in dem sich Gedanken eines interreligiösen „Parlamentarismus“ finden, zugleich die Ablehnung alles „Kosmopolitismus“ als „Unnatur und gottwidrig“, dem ein „entschlossener“ Nationalismus im Glauben an den „gottgewollten Charakter“ des Volkstums entgegengestellt wird.³¹
4 Ein Stern am ethischen Wertehimmel? Zur Aktualität der Ethik Ottos Die Bedeutung von Ottos Überlegungen zur Ethik heute kann natürlich nicht in den zeitgebundenen Inhalten der Wertbestimmungen Ottos liegen, sondern nur in den Reflexionsfiguren seiner ethischen Gedanken. Hans Joas hat in seinem Buch Die Entstehung der Werte entgegen einer verbreiteten Abweisung der Wertphilosophie diese als eine für die Gegenwartsorientierung relevante Thematisierung der „Erfahrungen der Selbstbildung und Selbsttranszendenz“ rekonstruiert.³² Zwei Kriterien hat Joas dabei als Anforderungsprofil genannt, welche die Werttheorien besitzen müssen, um der geistigen Lage der Gegenwart zu genügen. Zum einen das Bewusstsein von der Subjektivität der Werte: Dass es sich also um subjektives Werten handelt, welches die Bedingungen seiner allgemeinen Gültigkeit in sich
Rudolf Otto, Wert, Würde und Recht (Anm. 8), 77. Vgl. Rudolf Otto, Religiöser Menschheitsbund, in: Deutsche Poltik 6 (1921), Heft 10, 234– 238. Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1999, 16.
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selbst tragen muss. Zum anderen nennt er die „Einsicht in die historische Kontingenz der Werte selber“³³, welche auch den Wertekosmos dem Anschein des Ewigen entreißt und in den Wandel der Zeit stellt. Rudolf Otto ließe sich gut in die Reihe seiner Zeitgenossen wie William James, Georg Simmel und Max Scheler eintragen, die Joas auf diese Voraussetzungen hin überprüft.Wie diese beschäftigte auch Otto der Zusammenhang von religiöser und ethischer Wertbildung, diese Fragestellung ist zudem auch bei ihm säkularisierungs- und kulturtheoretisch eingelassen.Wie bei den von Joas ins Auge gefassten Autoren, ist dies der Rahmen, in dem dann auch Otto die Antinomie des modernen Freiheitsverständnisses ausbuchstabiert, nämlich in welcher Weise eine Freiheit, die sich als Autonomie versteht, zugleich als Voraussetzung menschlichen Handelns erkannt werden kann, welche auch die Selbstbestimmung praktisch bindet. Indem Otto den Ausgangspunkt seiner ethischen Überlegungen von dieser kritischen Position aus nimmt, entspricht er durchaus dem ersten Kriterium von Joas. Otto wäre Joas also durchaus als Kandidat zur Fortsetzung seiner Reihe von Wertphilosophen zu empfehlen – wenn da nicht auch noch das zweite Kriterium wäre. Die genauere Betrachtung liegt außerhalb des Rahmens dieses Beitrags. An einigen Stellen wurde markiert, dass von Otto die Fragen des Historismus in idealistischer und dogmatischer Absolutheitssemantik abgewiesen wurden. Hier scheint die Leistungskraft der Ethik Ottos in der Tat begrenzt. Für die Wahrnehmung dieser Aufgabe leuchten andere Sterne der protestantischen Theologie heller. Es kann jedoch kein Zweifel bestehen, dass Otto mit seinen Überlegungen zum Verhältnis moderner und religiöser Sittlichkeit, zu Recht und Menschenwürde sowie nicht zuletzt zur ethischen Grundlegung der Theologie im Freiheitsgedanken für die Gegenwart wiederzuentdecken bleibt.
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Wertgefühle und gelebte Moral Rudolf Ottos Begründung der Ethik im Anschluss an Kant
1 Einleitung¹ 1.1 Ottos Ethik Rudolf Otto beginnt erst in einer späten Schaffensphase die Auseinandersetzung mit Begründungs- und Anwendungsfragen der Ethik. Der Beginn dieser Auseinandersetzung kann, sofern sie sich in Veröffentlichungen niedergeschlagen hat, mit Ottos kommentierter Neuausgabe von Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten von 1930 angesetzt werden.² Dabei ist es zwar möglich, den genetischen Ursprung der Beschäftigung Ottos mit ethischen Fragen weitaus früher zu datieren;³ und auch Ottos Lebenspraxis, die sich etwa sowohl in seinen politischen Aktivitäten als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses (1913 – 1918)⁴ als auch in seinen Bestrebungen zur Gründung des „Religiösen Menschheitsbundes“ (seit 1920)⁵ niederschlägt, gibt Anlass zu der Vermutung, dass ethisch-praktische
Angaben zur Biographie Ottos berufen sich im Folgenden auf Rudolph Boeke, Rudolf Otto. Leben und Werk, in: Numen 14 (1967), 130 – 143. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Mit Leitfaden und Erklärungen neu herausgegeben von Rudolf Otto, Gotha 1930 (im Folgenden GMS Otto). Otto selbst weist im Vorwort zu seiner Ausgabe der GMS darauf hin, dass er „[s]eit 1906 […] in Vorlesungen und Seminarübungen zum Studium dieser Schrift anzuleiten versucht“ (GMS, 10) habe. Dieses Datum fällt mit Ottos Ernennung zum außerordentlichen Professor in Göttingen zusammen (vgl. Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos [TBT 15], Berlin 1969, 117). Mit der Verpflichtung zur Lehre auch im Bereich der Ethik muss dennoch nicht ein besonderes persönliches oder intellektuelles Interesse verbunden sein. Eine insgesamt ethische Tendenz der Theologie Ottos diagnostizierte Heinrich Frick, Rudolf Otto innerhalb der theologischen Situation, in: ZThK 46 (1938), 3 – 15, der Otto als Repräsentant der aus der Ritschlschule hervorgegangenen „Mitte“ darstellte. Vgl. zu den politischen Aktivitäten Ottos sowie zur Entwicklung seiner politischen Einstellung Gregory D. Alles, Die Neugeburt des Kulturimperialismus als „Religionswissenschaft“. Rudolf Ottos Importunternehmen [engl. 2001], in: Rudolf Otto – Subjekt und Religion [Christentum und Kultur XII], hg.v. Thorsten Dietz/Harald Matern, Zürich 2012, 49 – 76, bes.51– 60. Vgl. zum Religiösen Menschheitsbund gerade mit Blick auf die politisch-ethische Dimension dieses Unterfangens Frank Obergehtmann, Rudolf Ottos „Religiöser Menschheitsbund“. Ein Kapitel interreligiöser Begegnung zwischen den Weltkriegen, in: Zeitschrift für Religionswissenschaft 6 (1998), 1, 79 – 106.
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Fragen einen wesentlichen Bestandteil seines Denkens bildeten. Nichtsdestotrotz wurden diese bis in die 1930er Jahre hinein intellektuell ganz in den Zusammenhang religionstheoretischer Erwägungen eingezogen.⁶ Den äußeren Anlass für Ottos verstärkte Auseinandersetzung mit der Ethik stellt die Einladung zu den Gifford Lectures 1933 in Glasgow dar, die er offenbar mit dem Vortrag eines konzeptionell grundgelegten ethischen Systems zu bestreiten plante.⁷ Es ist diese konzeptionelle Grundlegung, die ich im Folgenden in den Blick nehmen möchte. Sie spiegelt sich in den von Otto in den 1930er Jahren selbst publizierten Texten zur Ethik⁸ wider und kommt zum vorläufigen Abschluss in der 1933/34 gehaltenen Marburger Vorlesung „Ethik I“.⁹ Für das Verständnis der konzeptionellen Grundlegung der Ethik bei Otto ist ein Blick auf seine Kantrezeption unerlässlich. Denn Otto entwickelt die seine Ethik prägenden grundlegenden Gedanken im Wesentlichen vor dem Hintergrund seiner affirmativ-kritischen Bezugnahme auf Kant, die seine Religionstheorie prägt – und auf der seine ethischen Schriften direkt aufbauen.
1.2 Ottos Kantrezeption Seit seiner Antrittsvorlesung von 1898 stellt die Auseinandersetzung mit der Philosophie Immanuel Kants einen roten Faden im Werk Rudolf Ottos dar. Dabei war sein Interesse zunächst im Zusammenhang der Begründung eines religionsphilosophischen Programms angesiedelt, das seinen Niederschlag sowohl in der „KantischFries’schen Religionsphilosophie“ von 1909 fand, als auch in Das Heilige von 1915. Den kritisch-konstruktiven Umgang mit dem Werk Kants spiegelt Ottos Rezeption der Schriften Schleiermachers wie auch derjenigen des Kant-Schülers Jakob Friedrich Fries. Begrifflich steht für Otto in der Phase der Entwicklung seiner Religionsphilosophie vor allem das „Gefühl“ im Vordergrund. Eine Konzeption des Gefühls, die ein Konglomerat bildet aus Elementen der kantischen Urteilskraft, des Gefühlsbegriffs des späteren Schleiermacher und J. F. Fries’ Erwägungen Vgl. Georg Wünsch, Grundriß und Grundfragen der theologischen Ethik Rudolf Ottos, in: ZThK 46 (1938), 46– 70, der diesen Zusammenhang in Ottos Ausführungen zur Hamartiologie aufsucht. Vgl. auch die Ausführungen bei Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum (Anm. 3), 85 f. Vgl. die Ausführungen bei Jack Stewart Boozer, Einleitung, in: Rudolf Otto. Aufsätze zur Ethik, hg.v. Ders., München 1981, 7– 44, hier 11 f. inkl. Anm. Diese Texte finden sich in Rudolf Otto, Aufsätze zur Ethik (Anm. 7). Eine von Karl Küssner erstellte Nachschrift dieser Vorlesung findet sich unter der Nummer III F 81 im Nachlass Rudolf Ottos in der Universitätsbibliothek Marburg. Gleichwohl las Otto bereits 1923/24 „Ethik I“, vgl. Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum (Anm. 3), 84 f., Anm. 2 (dort auch der Hinweis auf Küssner als Autor der o.g. Nachschrift).
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zu einem Vermögen der „Ahnung“. Dabei prägt Ottos religionstheoretische Verwendung des Gefühlsbegriffs eine zentrale Ambivalenz: Das Gefühl steht zugleich für die individuelle Selbstvergewisserung wie auch für die subjektive Appräsentation der materialen Bestimmungen äußerer Objekte.¹⁰ Für die Ethik tritt ein weiterer Zentralbegriff hinzu: derjenige des „Werts“. Auch dieser Begriff ist bereits aus Ottos Religionstheorie bekannt, als Prädikat des „Heiligen“ wie des Vollzugs religiöser Urteilskraft. Und er spielte eine nicht unerhebliche Rolle in der Ritschlschule, der eine Prägekraft für Ottos Denken zumindest in seiner Göttinger Zeit kaum abgesprochen werden kann. Während Albrecht Ritschl den Wertbegriff aus seiner Lektüre der Schriften Rudolf Hermann Lotzes gewann und damit Ottos Vorgänger auf dem Marburger Lehrstuhl,Wilhelm Herrmann, zu einer eigenständigen Auseinandersetzung mit Lotze anregte, steht für Otto fest, dass als der eigentliche „Beginner der ‚Wertlehre‘“¹¹ – neben Kant – J. F. Fries zu gelten habe. In dieser Hinsicht muss auch Ottos Auseinandersetzung mit der Wertphilosophie Max Schelers als Reflex vielmehr, denn als Grundlage seiner Aneignung des Wertbegriffs verstanden werden.¹² Vermittelt durch diesen Fokus liest Otto Kants praktische Philosophie in gefühls- und werttheoretischer Perspektive – und schreibt ihr damit eine konstitutive religionstheoretische Dimension ein. Dadurch allerdings wird der Anspruch auf eine autonome Begründung der Ethik unterlaufen. Im Folgenden soll genau diese religionstheoretische Dimension der konzeptuellen Grundlegung der Ethik Rudolf Ottos in den Blick genommen werden. Dabei wird sich zeigen, dass die Begriffe des Gefühls und des Werts Otto zur Materialisierung und Konkretisierung des kantischen ‚Formalismus‘ dienen, insofern sie die methodische Zentralstellung individueller Subjektivität mit dem Anspruch auf allgemeine Geltung bestimmter Inhalte wie deren absoluter Begründung verbinden. Durch diese theoretische Ausgangsstellung ergibt sich die zentrale Frage an Ottos Anläufe zur Begründung der Ethik, welcher Art die rationale Referenz ist, der diese Vermittlungsleistung unterstellt werden könnte – sondern gerade dann, wenn für Ottos Konzeption der Ethik gilt, dass die Motive zur Realisierung ihrer Inhalte „niemandem durch Definitionen oder Lehren“¹³ vermittelt werden können. Diese Frage wird sich dann noch verschärfen, wenn zusätzlich zur begrifflichen
Vgl. Harald Matern, Rudolf Ottos religionsphilosophischer Gefühlsbegriff, in: Rudolf Otto – Subjekt und Religion, hg.v. Thorsten Dietz/Harald Matern, 109 – 154. Rudolf Otto, Wert, Würde, Recht, in: Ders., Aufsätze zur Ethik, 53 – 106 (im Folgenden: WWR), 54. So Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum (Anm. 3), 93 f. m. Anm. 36. Rudolf Otto, Das Gefühl der Verantwortlichkeit, in: Ders., Aufsätze zur Ethik, 143 – 174 (im Folgenden: GV), 144.
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Rekonstruktion ein Blick auf den performativen Charakter der Texte Ottos geworfen wird.
2 ‚Religionstheoretische‘ Lektüre der Ethik Kants 2.1 „Gefühl“ und „Wert“ in Ottos Ausgabe der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten In seiner Edition der GMS von 1931 verfährt Otto ähnlich wie in seiner 1899 besorgten Neuausgabe der „Reden“ Schleiermachers: Am Fuß der Seiten wird jeweils eine Rekonstruktion des Argumentationsgangs präsentiert, die von im Anhang beigefügten Kommentierungen flankiert wird. Beide verleihen Aufschluss über Ottos Aneignung der praktischen Philosophie Kants in kritischer wie in affirmativer Hinsicht. Im Folgenden sollen einige Punkte herausgegriffen werden, die von besonderer Bedeutung für Ottos Ethik sind. Als zentral hat dabei die Anfrage Ottos zu gelten, inwiefern das Gefühl der „Achtung“ für das als sittlich gut und objektiv gültig Erkannte dazu ausreiche, jemanden dazu zu bringen, auch aus freien Stücken nicht nur das Gute, sondern überhaupt gut sein zu wollen.¹⁴ Denn wirklich wollen könne man, so Ottos Argument, nur bestimmte Inhalte, nicht aber die Form ihrer Ordnung. Daraus entsteht Otto über Kant hinaus der Anlass, bestimmte Gefühle mit spezifischem Objektbezug in den Begründungszusammenhang der Ethik einzuspeisen. Dieser Anspruch auf subjektive wie objektive Materialisierung und Spezifizierung des Pflichtbegriffs wie auch das Anliegen, die Realisierungsbedingungen von Sittlichkeit in deren theoretische Grundlegung einzubeziehen, werden sich begrifflich in Ottos Betonung der fundamentalethischen Bedeutung der „Neigung“ spiegeln.¹⁵ Die gefühlten Objekte sollen ihrerseits nicht beliebig sein; und sie sollen nicht selbst sinnliche Gegenstände sein dürfen, da sonst ihre Allgemeinheit nicht sichergestellt werden könne. Diese Gegenstände müssen also ein Doppeltes Soll erfüllen: allgemein-anthropologische Plausibilisierbarkeit und objektive Realität. Dabei verbleibt der Realitätsstatus der Objekte in der Otto eigentümlichen Schwebe zwischen Geltungsrealität und dinghafter Materialität. Zur Erkenntnis dieser Objekte bedarf es daher eines Vermögens ‚zwischen‘ Verstand und Vernunft. Als ein solches Vermögen sieht Otto die Urteilskraft an, der
Vgl. GMS Otto, IV (Achtung), 194. XII (Materialität), 199. XXV, 210 f. WWR, 72.
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er in seinen Ausführungen zur „Ahndung“ in der KFR¹⁶ eine spezifische Form gegeben hatte. Folgerichtig unterstellt Otto nun seinerseits Kant die Annahme eines „Vermögens des ‚Ahndens‘ des Übersinnlichen“¹⁷ auf die Äußerung hin, noch der „gemeinste[] Verstand[]“ sei „geneigt […], hinter den Gegenständen der Sinne noch immer etwas Unsichtbares, für sich selbst Thätiges zu erwarten“¹⁸.Was nun „geahndet“ wird, steht für Otto fest. Und seines Erachtens muss es auch für Kant festgestanden haben. Es ist dasjenige Prinzip, das als höchster und zugleich logisch primärer Zweck allem Einzelnen überhaupt „Wert“ verleihen kann – und zwar genau so, dass mindestens ein konkretes Objekt selbst mit absolutem Wert ausgestattet werden kann. Otto kommentiert mit besonderem Nachdruck einen Passus kurz vor der Einführung der „Selbstzweckformel“ des KI: „Gesetzt aber, es gäbe etwas, dessen Daseyn an sich selbst einen absoluten Werth hat, was, als Zweck an sich selbst, ein Grund bestimmter Gesetze seyn könnte, so würde in ihm, und nur in ihm allein, der Grund eines möglichen categorischen Imperativs, d.i. practischen Gesetzes, liegen.“¹⁹ Dabei bescheinigt der Kommentator sich selbst „innere[] Ergriffenheit“ bei der Lektüre „diese[s] Hereinbruch[s] einer großen ganz selbständigen Intuition“²⁰. Mit dieser „Intuition“ ist für Otto nun gerade nicht der kantische Gedanke der „Menschheit“ als Träger absoluten Werts bezeichnet. Vielmehr erhellen Ottos spätere Kommentierungen, dass er bereits in dieser „Anerkennung eines materialen […] Zweckes“²¹ einen versteckten Hinweis auf den Gottesgedanken vermutet. Damit ist Kant nach Otto „der Entdecker der wahren ‚Wertethik‘“.²² Die Annahme, vernünftige Wesen seien jederzeit auch als Zweck an sich selbst zu behandeln führt bei Kant über in den sozialethischen Entwurf eines ‚Reichs der Zwecke‘, welches intern durch gegenseitige Beschränkung strukturiert ist. Dieser Gedanke, im Zusammenhang mit demjenigen eines ‚Reichs der Natur‘, führt auf die Frage nach dem Prinzip ihrer Einheit. Die Idee eines obersten Gesetzgebers, die bei Kant an dieser Stelle rein regulativer Natur ist, führt für Otto zu einer realistisch anmutenden Wendung, die in der Aussage mündet, dass „Gott auch nach Kant das ‚Urwesen‘ [ist], aus dem als ihrer Quelle alle vernünftigen Wesen sind und das sind, was sie sind, in dem sie also auch den Grund ihres ‚objektiven‘ gesetzge-
Vgl. KFR, 90 – 96. GMS Otto, XXVII, 213. GMS Otto, 168. GMS Otto, 117. GMS Otto, XII, 199. GMS Otto, XII, 202. GMS Otto, XII, 199.
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benden Selbstwertes haben.“²³ Der Gottesgedanke wird damit von Otto nicht allein als „Urwesen“ sondern auch als „Urwert“ geführt. Ottos Kritik an Kant lässt sich wie folgt zusammenfassen: Kants Argumentation leide an einem zentralen Mangel. Dieser bestehe darin, dass zum einen keine Geltungsbegründung materialer Normen gegeben werde. Diese könne, zum zweiten, nur so geleistet werden, dass die Annahme materialer Werte in die Ethikbegründung aufgenommen werde. Nur so sei denkbar, dass inhaltlich bestimmte Gefühle zum Bewusstsein der Pflicht hinzuträten. Die genannten Werte seien ihrerseits als hierarchisch strukturiert anzunehmen, so dass die Vorstellung eines obersten „Wertes an sich“ notwendig daraus folge. Diesen wiederum identifiziert Otto mit dem Gottesgedanken. Ottos weitere Texte zur Ethik lassen sich als Explikation dieser Kritik verstehen und zugleich als Auf- und Ausbau eines an Kants praktische Philosophie angelehnten ethischen Systems, das die Kant unterstellte religionstheoretische Grundierung seinerseits explizit macht.
2.2 Ottos Kantbezug in anderen Texten zur Ethik Ottos Ansatz bei der Geltungsbegründung des Sollens zielt darauf, „kategorische Imperative“²⁴ für materiale Gehalte denkbar zu machen. Danach soll die Ethik als „Wertlehre“ verstanden werden, der gegenüber die „Moral“ als „die Lehre von der Würde“²⁵ bezeichnet wird. Die „Moral“ bezieht sich zum einen auf die „Gesinnung“ des Handlungssubjekts. Derjenige Wille ist ein „guter“ Wille, der sich auf einen bestimmten Wert bezieht. Allerdings ist er „gut“ erst dann zu nennen, wenn das Bewusstsein der Pflicht zugleich durch eine „Neigung“ begleitet wird; d. h. ein bestimmtes Gefühl, das auf einen bestimmten Wert geht.²⁶ Damit steht für Ottos Rekurs auf Kant nicht nur die geltungstheoretische Frage im Vordergrund, sondern mit der „Moral“ zugleich die konstitutive Bezugnahme auf die Realisierungsbedingungen von Sittlichkeit.²⁷ Im Folgenden soll der mit den Begriffen „Wert“ und „Gefühl“ verbundene kritisch-affirmative Kantbezug Ottos näher analysiert werden.
GMS Otto, XXVI, 212. WWR, 105. WWR, 83. WWR, 72. Vgl. Rudolf Otto, Pflicht und Neigung. Eine Untersuchung über objektiv wertvolle Motivation, in: Ders., Aufsätze zur Ethik, 175 – 214 (im Folgenden PN), hier 175.
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2.2.1 Wertbegriff Ein Wert wird von Otto bezeichnet als „Grund der Gültigkeit eines Anspruchs“²⁸. Werte werden dem menschlichen Subjekt unmittelbar ansichtig. Otto nimmt ein Vermögen an, dass er „Wertgefühl“ nennt.²⁹ Die Unmittelbarkeit der Wertintuition soll deren individuelle Geltung sicherstellen.Werte erzeugen jeweils eine Forderung, d. h. eine Pflicht, die zum einen „eingesehen“ und in reiner Legalität ‚bedient‘ werden kann; sie kann aber auch auf individuelle Anerkenntnis stoßen und dann ein „Pflichtgefühl“³⁰ verursachen; dieses gehört bereits dem Bereich der „Moral“ an. Für diesen Bereich ist die Unterscheidung von „Wert“ und „Würde“³¹ maßgeblich. Würde ergibt sich aus dem Praktischwerden der individuellen begründeten Anerkenntnis von Forderungen³² und ist damit ein Prädikat des „frei sich der erkannten und verstandenen Forderung unterwerfende[n] Wille[ns]“³³. Würde ist aber zugleich selber ein „Wert“ der Selbstbeziehung.³⁴ Im Zusammenhang seiner Überlegungen zum Begriff der Würde entwickelt Otto ein Theorem der „heilige[n] Pflicht“.³⁵ Diese steht im Zusammenhang mit der Vorstellung höchster Werte oder „Wertideen“,³⁶ kann aber nicht aus ihnen abgeleitet werden. Höhere Pflichten werden von moralisch besonders Begabten im Gefühl („fühlbar“³⁷) apperzipiert; von anderen als ‚Stimme im Gewissen‘.³⁸ Damit transformiert Otto die kantische Unterscheidung von Legalität und Moralität in der Tradition des Gedankens einer ‚höheren Sittlichkeit‘, der nicht nur auf deren religionstheoretische Fundierung verweist, sondern auch das Persönlichkeitsideal der Genieästhetik in die Moraltheorie einführt.³⁹ Das Ideal der höheren Sittlichkeit beschreibt demnach letzte Zwecke, „Zielpunkte unseres Strebens, die, wenn schon im Unendlichen gelegen, die Richtung unseres
WWR, 76. Vgl. WWR, 78.80 u. ö. Rudolf Otto, Wertgesetz und Autonomie, in: Ders., Aufsätze zur Ethik, 107– 126 (im Folgenden WA), hier 116. Vgl. WA, 82 f. Vgl. WA, 98. WA, 107. WA, 107. WWR, 94. WWR, 89. WWR, 90. Vgl. WWR, 94– 97. Vgl. exemplarisch Johann Gottlieb Fichte, Die Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre, in: J.G. Fichte’s sämtliche Werke, hg.v. I. H. Fichte, Bd. V, Berlin 1845, 399 – 580, hier bes. 492– 534 zum Standpunkt der „höheren Moralität“.
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Strebens bestimmen“.⁴⁰ Sie sind sowohl Ideale sozialer Gestaltung wie auch individueller menschlicher ‚Bildung‘, wenngleich ihre vollständige Realisierung den Charakter des „‚Geschenk‘[s]“⁴¹ trägt. Der Gedanke letzter Zwecke hängt für Otto zudem mit sinntheoretischen Fragestellungen zusammen, die er im Gewand einer Wertteleologie einführt und die ihrerseits keiner Begründung mehr zugeführt werden könne: „[D]as wird nicht aus Prämissen abgeleitet, sondern ‚das ist eben so‘“.⁴² Damit will Otto eine Art ‚Faktum der Werte‘ begründen, indem er behauptet, „daß sie nicht von uns oder unserer Vernunft gesetzt, gemacht, gegeben, erdacht werden, daß sie auch nicht erfunden werden, sondern daß sie schlechterdings gefunden, vorgefunden, entdeckt, eingesehen werden“.⁴³ Auch der Faktizitätscharakter der höheren Wertordnung, der als Transformation der kantischen Erwägungen zur Faktizität der Vernunft gelesen werden muss, spricht für eine religionstheoretische Einordnung der fundamentalethischen Ausführungen Ottos. Die höhere Wertordnung kann bei Otto auch „Wertgesetz“⁴⁴ heißen, dem unabhängig von jeglicher individueller Aneignung allein dadurch Geltung zukommen soll, dass es einsehbar ist. Diese höhere Wertordnung ist für Otto die Sphäre der bereits erwähnten „Wertideen“,⁴⁵ deren Geltung darin begründet liegt, dass sie die Form „eines Anspruches an das Sein selbst“⁴⁶ erhalten. D.h., ihre Geltung soll unabhängig von ihrer vollständigen Realisierung durch menschliches Vermögen bestehen. Die „Summe aller, Menschen erkennbaren Wertgesetze“ ergibt ihrerseits das „Sittengesetz“.⁴⁷
2.2.2 Gefühlsbegriff und Derivate Mehrfach wurde im Zusammenhang der Erörterung von Ottos Wertbegriff bereits die Frage gestreift, wie die „Werte“ einerseits erkannt, andererseits individuell angeeignet werden können. Gerade diese Frage wird von Otto in seiner Verwendung des Gefühlsbegriffs höchst ambivalent beantwortet. Otto spricht im Blick auf die Erkenntnis und individuelle Aneignung von Werten von einem „unbegriffliche[n] Verstehen, das wir ‚gefühlsmäßiges Verste-
WA, 117. WA, 117. WWR, 97. WA, 125. Vgl. WWR, 90 f. WWR, 89.91.97. WA, 116. WA, 124.
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hen‘ nennen“⁴⁸. Dem gefühlsmäßigen Verstehen eignet nach Otto die Möglichkeit, komplexe Zusammenhänge als „ein ‚Was‘ in einer Diesheit, Einheit und Ganzheit, die ich mir begrifflich nicht klären kann“⁴⁹ zu erfassen. Dies steht offenkundig in Spannung mit einer anderen Vorstellung, die Otto ebenfalls vertritt. Diese läuft darauf hinaus, dass die gefühlsmäßige Erkenntnis „nur in einer anderen Form als in Begriff, Satz, Theorie oder System“,⁵⁰ dennoch mit prinzipiell dem gleichen Gehalt existiere. Dieses „Gefühl in seinem älteren Sinne“⁵¹ sei keinesfalls ein Selbstgefühl und vermittle doch in besonderer Weise die „Gewißheit eines Seins“⁵² und bildet die Möglichkeitsbedingung eines „Existentialurteil[s]“.⁵³ Damit sind drei wesentliche Aspekte des Gefühlsbegriffs benannt: Es ist das hermeneutische Vermögen, das es erlaubt, komplexe Objekte als Einheit zu veranschaulichen; es ist ein präreflexives Vermögen, dessen Erkenntnis der inhaltlichen Bestimmtheit von Objekten gleichwohl begrifflich explikabel sein soll; es ist ein Vermögen, das es erlaubt, den ontologischen Status der apperzipierten Objekte mit Gewissheit festzustellen. Damit macht das Gefühl das passgenaue Gegenstück zu den ethisch relevanten Objekten aus; es teilt aber in den Bestimmungen, die Otto ihm zukommen lässt, auch deren Ambivalenzen. Diese betreffen zum einen den ontologischen Status der Objekte; deren unscharfe Lozierung ‚zwischen‘ Geltungsrealität und konkreter Materialität spiegelt sich in der gegenläufigen Bestimmtheit des Gefühls zwischen (hermeneutischer) Urteilskraft, (ontologischem) Seinsgefühl und unmittelbarem Erkenntnisorgan. Dieser Überfrachtung des Gefühlsbegriffs begegnet Otto durch eine Ausweitung des semantischen Feldes. Neben das Gefühl treten terminologisch die „Herzenserkentnisse“⁵⁴ sowie ein „ ‚emotionales‘ Erkennen“.⁵⁵ Dies kann wiederum an anderer Stelle ein „Erkennen […] in der vorbegrifflichen Form des ‚erlebenden Gefühls‘“⁵⁶ heißen. Der Erlebnisbegriff wird von Otto zudem synonym mit dem Begriff der „Erfahrung“⁵⁷ gebraucht.
WA, 120. WA, 120. Rudolf Otto, Das Schuldgefühl und seine Implikationen, in: Ders., Aufsätze zur Ethik, 127– 142 (im Folgenden: SI), hier 131. SI, 128, Anm. b. SI, 128, Anm. b. SI, 142. SI, 128, Anm. b. SI, 132. Rudolf Otto, Das Gefühl der Verantwortlichkeit, in: Ders., Aufsätze zur Ethik, 143 – 174 (im Folgenden: GV), hier 144. GV, 143.
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2.2.3 Verwirrung als Programm? Die angezeigten begrifflichen Unschärfen weisen darauf hin, dass Ottos Ethikbegründung dieselbe Spannung zu eigen ist, die auch seine Religionstheorie prägt. Diese Spannung weist ihrerseits auf ein sehr grundlegendes subjektivitätstheoretisches Problem hin, das mit der Überführung der zentralen Prämissen der kantischen und schleiermacherschen Religions- und Moraltheorie in einen realistischen Explikationszusammenhang zusammenhängt. Denn dieser macht es wiederum notwendig, die Vollzugsbedingungen religiöser wie ethischer Selbstvergewisserungspraxis in deren theoretische Explikation als deren materiales Substrat zu integrieren. Dadurch aber erhält, schematisch gesprochen, der Gedanke individueller materialer Lebendigkeit den konzeptuellen Vorrang vor demjenigen des begrifflichen Systems.⁵⁸ Von daher ist es nicht erstaunlich, wenn sich Ottos Texte zur Begründung der Ethik einer vollständigen systematischen Rekonstruktion zu sperren scheinen. Genau wie Ottos religionstheoretische Ausführungen als Beschreibungen der Phänomenalität „gelebter Religion“⁵⁹ treffend gedeutet werden können, dürfen auch seine Ausführungen zur Ethik als Theorie „gelebter Moral“ verstanden werden. Ist dies der Fall, dann gehört die terminologische Unschärfe zur impliziten Leitprogrammatik auch von Ottos ethischen Texten und deren systematische Struktur müsste eher im Zusammenhang ihrer performativen Logik aufgesucht werden, denn im Bereich begrifflicher Bestimmungen und Distinktionen. Im Folgenden soll versucht werden, diesen Lektürevorschlag kurz zu plausibilisieren, um daran anschließend eine kritische Würdigung vorzunehmen.
3 Performative Logik: Ottos ethische Texte als Bewegung des „Ahnens“ Wie gesehen ergibt sich eine zunehmende begriffliche Verwirrung bei Otto dort, wo es um die Erkenntnis von Werten geht, also im Zusammenhang des Gefühlsbegriffs. Diese lässt sich auch chronologisch nachvollziehen. Zuerst ist die Rede Vgl. ähnlich Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992, 106 f. Heinrich Kahlert, Der Held und seine Gemeinde. Untersuchungen zum Verhältnis von Stifterpersönlichkeit und Verehrergemeinschaft in der Theologie des freien Protestantismus, Frankfurt u. a. 1984, 127, zit. nach Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, 106 f.
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von einem nicht-begrifflichen Verstehen (in WA), dann von quasi-theoretischer Erkenntnis (SI), schließlich von Herzenserkenntnis (SI) und Erkenntnis in Form von erlebendem Gefühl, wie auch von der individuellen Erfahrung (GV). Dieses Programm wird nicht auf die Möglichkeiten seiner rationalen Explikation hin geprüft, wohl aber als ihrerseits materiale Vollzugsbedingung sittlicher Autonomie in das kantische terminologische Gerüst eingezeichnet (PN). Einleuchtend scheint mir der Gedanke zu sein, dass Otto sich der begrifflichen Klärung des Sachverhalts, wie es zur Erkenntnis und Aneignung von objektiven „Werten“ komme, zunehmend verschließt – zugunsten der Ausweitung der Beschreibung der Phänomenalität gelebter Moral in ihrer materialen Bestimmtheit (Schuld und Verantwortung). Denn diese Frage weist auf einen zentralen Widerspruch seiner Ethik hin, zumindest dann, wenn sie unter solchen Bedingungen der Systematizität geprüft wird, die an der klassischen deutschen Philosophie abgeschaut sind: Mit der Einführung der werttheoretischen Überlegungen in das kantische Gerüst der Grundlegung der Ethik schien die Sicherstellung absoluter Geltung inhaltlich bestimmter Gehalte möglich. Damit allerdings wurde das Problem der Geltungsbegründung von der Vernunft auf das Gefühl verschoben, was einen Zuwachs an Konkretheit und Individualitätsbezug einbrachte, zugleich aber um den Preis der rationalen Explizierbarkeit des Begründungszusammenhangs der Ethik erkauft wurde. Nicht umsonst konnten Anleihen Ottos bei der frühromantischen Virtuosenmoral erkannt werden und seine Texte zur Ethik lassen sich ihrerseits als „moralische Rede“ lesen. „[D]as ist eben so.“⁶⁰ So gelesen, stellen sich Ottos Texte zur Ethik als performativer Nachvollzug derjenigen Bewegung dar, die er selbst als „Ahndung“ beschrieben hat. Damit wäre in textpragmatischer wie auch argumentationslogischer Hinsicht das eingeholt, was Otto fortwährend betont: Es kann „niemandem durch Definitionen oder Lehren“⁶¹ das Praktischwerden theoretischer Ausführungen gleichsam andemonstriert werden. Die Nichtdemonstrierbarkeit und rationale Unbegründbarkeit bestimmter Werthaltungen oder -intuitionen wird durch die Struktur, nicht den Inhalt der Argumente als progressus in infinitum, als asymptotische Annäherung erwiesen, die nicht zum Ziel kommen kann. Damit ist, zumindest implizit, ein kritisch-reflexives Moment für die Ethik gewonnen, auf das ich abschließend noch einmal zurückkommen möchte.
WWR, 97. GV, 144.
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4 Kritische Würdigung Konnte in Ottos religionstheoretischen Ausführungen das Ausweichen vor zu strenger Systematizität der Terminologie und Gedankenführung noch aus dem zu erörternden Gegenstand und seiner Relation auf das Subjekt der Theoriebildung legitimiert und der appellative Duktus als allein angemessene Form der auf wechselseitige Kommunikation hin angelegten Explikationspraxis verstanden werden, so ist dies im Bereich der Ethik keinesfalls möglich, zumindest dort nicht, wo sie mit phänomenologisch-deskriptivem und normativem Anspruch zugleich auftritt. Denn sittliches Bewusstsein ist immer auch strukturell soziales Bewusstsein, das auf plausibilisierende Kommunikation angewiesen ist. Diese ist geradezu ein Teil auch „gelebter Moral“. Otto hätte zum Erweis der Plausibilität⁶² seiner Grundlegung der Ethik ein ähnliches Programm beibringen müssen wie dasjenige, das den appellativen Gestus seiner religionstheoretischen Erwägungen textimmanent stützt: den ‚empirischen‘ Beleg im Durchgang durch die Geschichte. Dieser erfolgt allerdings auch in Ottos später Ethikvorlesung nicht; vielmehr wird auch dort die Geltungsbegründung materialer Normen als durch ein „Erlebnis“⁶³ vermittelter Vorgang der „Synthesis eines psychologischen Vorkommnisses mit einem axiologischen Prädikate a priori“⁶⁴ beschrieben. Ottos Ethik bleibt damit auch in ihrer (wenngleich fragmentarischen) Spätfassung durchweg ‚religiöse Ethik‘. Die Produktivität und Gegenwartsrelevanz der Bestrebungen Ottos zur konzeptuellen Begründung der Ethik sind damit nicht in ihrem Anspruch auf systematische Geschlossenheit,⁶⁵ sondern in ihren Brüchen aufzusuchen, die sich, wo sie auf ihre performative Logik hin befragt werden, als implizit (rationalitäts‐) kritisches Programm entpuppen. Allerdings bringt genau diese Programmatik, so bestechend sie ist, ein weiteres Problem mit sich, gerade dort, wo sie „Ethik“ sein will und nicht „moralische Rede“. Die Eigenrationalität moralischer Kommunikation wird gerade durch die terminologischen Unschärfen in den Appell zum individuellen Nachvollzug, und damit tendenziell in suggestive Machtfiguren aufgelöst – und kann keinen externen rationalen Referenten für den Ausweis ihrer Plausibilisierungsleistungen beibringen. Dies ist ein Problem ‚religiöser‘ Ethik genau dort, wo unter den Bedingungen religiöser Pluralität und funktionaler Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Öffentlichkeit die Verfahrensrationalität moralischer Kommunikation selbst zum Gegenstand ethischer Reflexion wird.
Vgl. Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum (Anm. 3), 88. Rudolf Otto, Ethik I (1933), Buch II, Kap I, § 8, 5 (Inhaltsdiktat Ms. 6; vgl. etwa Ms. 89). Ethik I, Buch I, § 2 (Inhaltsdiktat Ms.2; vgl. Ms. 46 – 54). Vgl. Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum (Anm. 3), 99 – 102.
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Wert und Würde. Ottos späte Sittenlehre
1 Einleitung: Warum Ethik? In seinen letzten Lebensjahren, also in den 1930ern, hat sich Rudolf Otto erstaunlich intensiv für ethische Fragen interessiert.¹ Auf den ersten Blick, und für eine Otto-Wahrnehmung, die vor allem an den bekannten religionstheoretischen Arbeiten Ottos geschult ist, könnte es erstaunen, dass der Marburger Gelehrte die durch chronische Krankheit geschwächte und abnehmende Lebenskraft seiner letzten Jahre in so hohem Maße in ethische, vor allem fundamentalethische Arbeiten investiert hat. Diese Wahrnehmung verkennt jedoch, dass Otto Zeit seines Lebens an ethischen, auch material- nämlich sozialethischen Fragestellungen immer besonders interessiert war. Die Gründung des „Religiösen Menschheitsbundes“ (1921) ist stark sozialethisch motiviert. Auch in den religionstheoretischen Arbeiten aus den 1920er Jahren, namentlich zur Mystik und dort wiederum insbesondere beim Vergleich östlicher und westlicher Mystik spielt der Bezug zur Ethik eine wichtige Rolle.² Aber auch schon Das Heilige enthält sehr viel mehr konstruktive Überlegungen zum Verhältnis von Religion und Sittlichkeit, als es eine Rezeption in der Regel bemerken wollte, die einseitig an den Abgrenzungssignalen des ‚irratio-
Die wichtigsten Publikationen dazu, nämlich sechs Aufsätze, erschienen 1931 und 1932 in theologischen, philosophischen und religionspsychologischen Zeitschriften. Sie wurden 1981 als Rudolf Ottos Aufsätze zur Ethik in einer kommentierten Ausgabe von Jack Steward Boozer neu ediert (München 1981). Aufschlussreich für Ottos späte Ethik ist zudem seine 1930 veranstaltete Ausgabe von Kants Grundlegung der Metaphysik der Sitten, die eine von ihm stammende Einführung, Textkommentare sowie Erläuterungen enthält (Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Mit einem Leitfaden und Erklärungen neu hg.v. Rudolf Otto, Gotha 1930; von fraglicher Verlässlichkeit, weil vom Herausgeber aus der Erinnerung niedergeschriebene Gesprächsprotokolle, sind die Texte in: Verantwortliche Lebensgestaltung. Gespräche mit Rudolf Otto über Fragen der Ethik, hg.v. Karl Küßner, Stuttgart 1941). Dass diese veröffentlichten Texte aus einem größeren Fundus von ethischen Arbeiten schöpfen, erschließt sich aus Manuskripten in Ottos Nachlass. Diese sind neben kleineren Texten Nachschriften einer Vorlesung (Ethik I; SoSe 1933-WiSe 1934; UB Marburg „Otto-Schrank“) sowie die Manuskripte „Gotteswille“ (UB Marburg MS 865) und „Sittengesetz und Gotteswille“ (UB Marburg MS 866/1 und 2). Im Rahmen der hier vorgelegten kleinen Studie konnten diese unveröffentlichten Materialien nur zum Teil ausgewertet werden. Neuere Sekundärliteratur zu Ottos später Ethik gibt es abgesehen von der Einleitung J.S. Boozers in seiner Edition, wenn ich recht sehe, nicht. Vgl. WÖM3, 219 – 243; SU, 1– 42.
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nalen‘ Numinosen gegenüber dem Rational-Sittlichen, oder, ideengeschichtlich gesprochen, an Ottos Absetzbewegung von der Ritschl-Schule orientiert ist. Dass diese Absetzbewegung existiert und einen wichtigen Grundzug von Das Heilige ausmacht, ist ebenfalls nicht zu bestreiten. Otto entwirft in seiner Hauptschrift bekanntlich unter Rückgriff auf Schleiermacher und Fries eine neuartige Phänomenologie autochthon religiöser Erfahrung, die im Unterschied zu Albrecht Ritschl, aber auch Wilhelm Herrmann, auf eine ethische Grundierung und Rahmung des Religions- bzw. Glaubensbegriffs verzichtet. Gleichwohl zielt Otto in Das Heilige auf so etwas wie eine dialektische Verhältnisbestimmung von Religion und Sittlichkeit.³ Religiöse Erfahrung werde zwar zum praktischen Vollzug sittlicher Urteile nicht zwingend benötigt,vermittle diesen aber ein tieferes Bewusstsein ihrer eigenen Vollzugslogik – und wohl auch eine tiefere oder höhere Gewissheit ihrer Quellen. Die Behauptung einer solchen vermittelten Beziehung von religiöser Theonomie und sittlicher Autonomie ist auch, wie zu zeigen sein wird, die Position seiner späteren Jahre. Das damit bezeichnete verflochtene Verhältnis von Religion und Sittlichkeit näher aufzuklären, scheint ein Motiv und zugleich ein Erklärungsgrund jenes intensiven späten Interesses Ottos an ethischen Grundlagenproblemen zu sein.Wie seinem Freund Paul Tillich geht es Otto dabei nicht nur um grundlagentheoretische, sondern zugleich um kulturtheoretische Grundfragen des Verhältnisses von säkularer Kultur und – christlicher – Religion.⁴ Diese grundlagentheoretischen Verwicklungen von Religion und Sittlichkeit und ihre Auswirkungen auf die Kulturdeutung hängen ihrerseits damit zusammen, dass Otto einer zentralen systematischen Kategorie jener sich u. a. mit Albrecht Ritschl Einerseits und grundsätzlich gilt: „Wie mit dem Gefühle sittlicher Verbindlichkeit so ist es auch mit dem Gefühle des Numinosen. Es ist wie jenes ein aus keinem andern Gefühle ableitbares, aus keinem andern ‚entwickelbares‘ sondern ein qualitativ eigenartiges originales Gefühl, ein Urgefühl, nicht im zeitlichen sondern im prinzipiellen Sinne.“ (DH, 59 f.) Andererseits soll nun aber doch das religiöse Gefühl als ein ursprünglicheres, tiefer gehendes, mit dem „Seelengrund“ (DH, 139), in besonderem Maße verbundenes „Urgefühl“ verstanden werden, das darum seinerseits auch das Absolute der Sittlichkeit einschließe bzw. unterfange. Dabei zielt Otto auf den Nachweis, dass allein Religion, speziell die christliche, dem Menschen diejenige Erfahrung zu vermitteln vermöge, die er als „das Gefühl der schlechthinnigen Profanität“ (DH, 67) des Menschen bezeichnet. Religion wäre damit die Möglichkeitsbedingung eines für die Moderne konstitutiven Selbständigkeitsbewusstseins des Endlichen gegenüber dem Göttlichen, wobei genau diese Erfahrung in der (christlichen) Religion als Ausdruck der menschlichen Sünde und Verlorenheit gewertet werde und der Konterkarierung und Aufhebung durch die religiöse Erlösungserfahrung bedürfe. Ähnlich wie bei Tillich verbindet sich mit dieser Position Ottos mithin ein sehr dialektisches Verhältnis zur säkularen Moderne. Vgl. dazu: Peter Schüz, Rudolf Otto und Paul Tillich – biographische und theologische Überlegungen, in: Rudolf Otto. Religion und Subjekt (=CuK 12), hg.v. Thorsten Dietz/Harald Matern, Zürich 2012, 197– 236.
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verbindenden neukantianischen Denktradition die Gefolgschaft keineswegs aufkündigt: dem Wertbegriff. Schon in Das Heilige ist bzw. bleibt der Wertbegriff ein konstruktiver Leitbegriff. Das Heilige bzw. Numinose ist eben nicht nur ein Urgefühl, das sich auf ein gegenständlich-ungegenständliches Objekt richtet, bzw. von diesem ausgelöst wird, sondern es ist zugleich ein „Wert“ und enthält seinerseits Werte sowie ein bestimmtes Wertverhalten.⁵ Ottos Religionstheorie ist, wie etwa Ulrich Barth mit Recht gegen manche Kritiker bemerkt hat,⁶ nicht einfach eine Theorie objektivierter Gefühle, sondern eine Deutungstheorie des Religiösen.⁷ Und Ottos Interesse für Ethik in den späten Jahren hängt auch mit dem Klärungsbedarf zusammen, den diese starke Stellung des Wertbegriffs für Ottos Theoriebildung insgesamt mit sich bringt. Es ist ein grundlagentheoretisches Interesse. An der Klärung des Wertbegriffs entscheidet sich die Plausibilität und das Verständnis der Religionstheorie Ottos, wie er sie in Das Heilige skizziert hatte.
Vgl. DH, 68 f.71.73.162.200 u. ö. Vgl. Ulrich Barth, Theoriedimensionen des Religionsbegriffs. Die Binnenrelevanz der sogenannten Außenperspektiven, in: Ders., Religion in der Moderne, Tübingen 2003, 29 – 87, hier 42– 48, bes. 46. Für die erfahrene Wert-Haftigkeit des Numinosen, näherhin des „sanctum“, sei mithin konstitutiv, dass es sich dabei per se gerade nicht um einen sittlichen Wert handle, sondern um einen genuin religiösen Eigen-Wert, der als solcher „Anerkennung […]“ verlange, nämlich „Anerkennung eines unvergleichlichen Respekt Heischenden, eines als gültigster höchster objektivster und zugleich über allen rationalen Werten liegender, rein irrationaler Wert innerlichst Anzuerkennenden“ (DH, 67 f.). Das Heilige bzw. Numinose soll solchermaßen als „der irrationale Urgrund und Ursprung aller möglichen Werte überhaupt“ (DH, 67), der als solcher auch und gerade dem Sittlichen zugrunde liege, gedacht werden. Und die konstitutive Bedeutung der Wertkategorie zeigt sich auch an der Beschreibung des religiösen Aktes: Religion ist im Zentrum „Erfahrung des mit dem Dasein als Kreatur und als profanes Naturwesen selber gegebenen Unwertes“ (DH, 71 f.) und darauf bezogene Erlösungs- bzw. Aufwertungserfahrung, mithin WertErfahrung überhaupt, die dem Menschen durch das Heilige und seinen absoluten Wert zuteil bzw. vermittelt wird. Heiligung ist Werterfahrung und Vermittlung von Wert-Erfahrung. Dem religiösen Menschen wird sein Leben, das Leben, die Welt überhaupt wertvoll, sie wird ihm als wertvolle geschenkt, weil, insofern bzw. nachdem er all dies in der religiösen Erfahrung als in sich selbst elementar wert-los erfahren muss. In Ottos Verwendung ist der Wertbegriff, wie sich hier abzeichnet, in der Tat ein Äquivalent dessen, was Tillich und andere Religionstheoretiker des 20. Jahrhunderts, mit dem Sinnbegriff zu leisten suchen.
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2 Einige Grundzüge von Ottos (später) Werttheorie „Wert hat […] was geeignet ist, dass sich daran ein Interesse hafte.“⁸ Das schließt nicht aus, dass Werte auch Gegenstand von Gefühlen sein können. Der Interessenbegriff, den Otto hier verwendet, ist seinerseits bereits wertethisch imprägniert. Denn Wertungsakte sollen von Akten bloßer Geschmackspräferierung bzw. von Akten, die der Differenz Lust/Unlust folgen, verschieden sein; bzw. auch diese Aktklassen sollen ihrerseits noch einmal Gegenstand wertender Akte werden können. Und Wertinteressen sind eo ipso sittlich imprägnierte Interessen, d. h. sie setzen voraus, dass die Inhalte oder Güter, auf die sich das Wertinteresse richtet, sittlich wertvoll sind. Ottos Interessebegriff liegt mithin in der Nähe der Handlungsmotivation, die bei Kant durch den Achtungsbegriff bestimmt ist.⁹ Dass „Werten“ im Sinne Ottos eine Deutungskategorie, näherhin eine Kategorie von Sinndeutung ist, scheint mir evident zu sein. „‚Nur was auch einen Sinn hat, kann einen (objektiven) Wert haben.‘“¹⁰ Ottos Präferenz des Wertbegriffs gegenüber dem Sinnbegriff hängt damit zusammen, dass der letztere auch als „hermeneutische Bedeutung“ und ohne affirmative Bejahung seines Inhalts bzw. Seins verwendbar ist. So könne etwas „einen Sinn haben und doch, grade um seines Sinnes willen, wert sein, dass es nicht sei“.¹¹ Umgekehrt kann man sagen: Einen Wert haben, heißt nichts anderes als Wert haben, dass es sei. Wertschätzung ist für Otto die Affirmation des Daseins und der inneren Daseinsberechtigung von etwas. So sehr der Wertschätzungsakt als solcher sittlich bzw. ethisch kodiert ist, so wenig muss dies für dessen Inhalt oder Objekt, also für den Wert als solchen, gelten. Man kann auch klassische Musik wertschätzen, genauer: das Hören klassischer Musik wertschätzen, oder auch eine in sich wert- und zweckfreie wissenschaftliche Forschung. Vorzunehmen sei darum „eine Erweiterung des
Rudolf Otto, Aufsätze zur Ethik (Anm. 1), 65. Eine zusammenhängende Werttheorie im Allgemeinen hat Rudolf Otto auch in seinen späten Ethikschriften nicht entworfen. Man muss deren Grundzüge aus diversen Stellen rekonstruieren; das ist zwar recht gut möglich, stellt aber doch angesichts der weitreichenden Implikationen der Theorie, nach welcher die wertende Tätigkeit des Bewusstseins nach Otto für alle menschlichen Lebensakte konstitutiv zu sein scheint, ein gewisses Handicap dar. Von dieser unterschieden ist die Wertinteresse-Motivation im Sinne Ottos dadurch, dass sie durch eine „vis a fronte“, jene (kantische) aber als eine „vis a tergo“ bestimmt sei (vgl. Rudolf Otto, Aufsätze zur Ethik [Anm. 1], 179). Der Sinn der physikalischen Metaphern ist: Werte sollen mehr identifikationsfähiges Ich-Material als Pflichten enthalten, das gleichwohl nicht bloßer Selbstbezüglichkeit entstamme. A.a.O. 119. Ebd.
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Feldes fordernder Werte weit über das bloß ethische Gebiet hinaus“.¹² Durch den Akt der Wertschätzung werde jedoch der jeweilige Inhalt in den Horizont menschlicher Sinn- bzw. eben Werterfahrung und sinn- bzw. wertbezogener Tätigkeit insgesamt gerückt. Wenn ich recht sehe, ist Otto der Auffassung, dass solche Wertungsakte im Grunde alle unsere sonstigen Lebensakte begleiten (können). Menschliche Lebensakte ohne mitlaufende Bewertungsakte sind sozusagen leer, Bewertungen ohne ihnen zugrunde liegende lebendige Wahrnehmungen wären aber ebenfalls nicht denkbar. Wertungen sind produktive Vernunftakte. Insofern sind sie strukturell subjektiv, aber dem Anspruch nach zugleich objektiv. Otto ist bemüht, das Aktivitätsmoment des (subjektiven) Schätzens bzw. Deutens zwar nicht zum Verschwinden zu bringen, aber doch als Effekt der intrinsischen Qualität, Evidenz und Anziehung des als Wert bewerteten Objekts bzw. Verhaltens selbst zu verstehen. Er geht davon aus, dass zumindest einige Wertungen, und zwar die grundlegenden, insbesondere im Bereich der Ethik, anthropologisch universal seien, andere – die überwiegende Mehrzahl aber historisch-kontingent.¹³ Antihistoristisch argumentiert er, dass geschichtliche Begriffsbildung ihrerseits Wertorientierungen bereits voraus setze.¹⁴ Im Akt der Bewertung ordne das Bewusstsein ein bestimmtes einzelnes Erlebnis/eine Handlung/einen Gegenstand in eine ideale Schematik ein: in die Wertschematik. Im Unterschied zu Max Scheler hat Otto jedoch nicht den Versuch der Aufstellung eines möglichst vollständigen Tableaus materialer Werte unternommen. Unerachtet seiner Betonung der Objektivität und Materialität der Werte ist er stärker als Scheler an der Funktionalität und Struktur der Wertungsakte interessiert. Er ist sich auch dessen bewusst, dass der Akt der Schematisierung durch ein Werturteil mit mehrfachen Differenzen verbunden ist, nämlich grundsätzlich mit qualitativen und quantitativen, aber auch mit der Differenz von (idealem, gedachtem) Wert und (konkretem) Wertträger (dem jeweiligen Objekt bzw. Subjekt) sowie, damit einhergehend, mit der Differenz von Wert für anderes und Selbst-Wert (intrinsischem Wert).¹⁵ Außerdem ist die Differenz von Validität qua Wertungsakt bzw. Einordenbarkeit in das allgemeine Wertschema und Validität per se in Anschlag zu bringen. Diese letztere ist eine Differenz, die Otto besonders bezüglich des Gottesgedankens intensiv erörtert.
A.a.O. 219 f. Vgl. Karl Küßner (Hg.), Verantwortliche Lebensgestaltung (Anm. 1), 30. Vgl. „Wir lernen also die Werte nicht aus der Geschichte, sondern formen die Geschichte überhaupt erst nach Werten.“ (Rudolf Otto, Aufsätze zur Ethik [Anm. 1], 57) Vgl. A.a.O. 77.
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Ideengeschichtlich möchte Otto seine Wertlehre als Fortführung kantischer Grundgedanken verstehen; ja, er deutet Kant selber sogar als Entdecker der Materialität des Willens und der „wahren ‚Wertethik‘“.¹⁶ Auslöser dieser transformierenden Kantdeutung sind der grundsätzlich durch den Historismus und konkret durch Nietzsche gegebene Problemdruck.
3 Wertlehre und Ethik 3.1 Systematik Wenn ich recht sehe, sind nach Otto vier Dimensionen des Verhältnisses von Wertlehre und Ethik, bzw. der Ethik selbst, zu unterscheiden.
3.1.1 Sittliche Werte Sittliche Werte sind eine bestimmte Spezies der Werte überhaupt. Interesse an ihnen zu nehmen, bedeutet eo ipso sich sittlich zu orientieren.
3.1.2 Wertungsakte als eo ipso sittliche Akte Die Interessennahme an Werten überhaupt (also des Wahren, Guten, Schönen und Heiligen) impliziert eine Willensleistung und äußert sich in auf ihr basierenden Handlungen. Diese zielen mithin auf die Realisierung von Werten. Dieses wertrealisierende Handeln kann gefördert oder gehemmt bzw. sogar ganz verhindert werden, nämlich vom jeweiligen Subjekt bei sich selbst, aber auch bei anderen. Förderung wertrealisierenden Handelns im Allgemeinen – und also unabhängig von den materialen Wertdifferenzen – ist ethisch gut; dessen Hemmung bzw. Verhinderung schlecht bzw. böse.¹⁷ Solches – positiv oder negativ – auf die Realisierung von Werten bezogene Handeln unterliegt zugleich noch einer inneren qualitativen Differenz. Wertrealisierung kann Gegenstand eines Desiderats oder eines Postulats sein. Gerechtigkeit, gerechte soziale Verhältnisse, zu realisieren, ist ein moralisches Postulat, Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 1), 199. Vgl. „Böse ist […] eine Tat, durch die ein ‚Wertvolles‘ zerstört, gehemmt, geschädigt ist. Gut ist die Tat, wodurch ein ‚Wertvolles‘ behütet, gefördert oder hervorgebracht ist.“ (Rudolf Otto, Aufsätze zur Ethik [Anm. 1], 63)
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also eine Forderung der moralischen Vernunft; Liebe, also einen Gemeinschaftszustand ungeschuldeter, personaler, wechselseitiger Einanderzuwendung, zu realisieren, ist ein Desiderat, es kann und muss moralisch gewünscht, aber es kann nicht moralisch gefordert werden. In dieser Weise spiegelt sich in die Wertethik hinein, was zugleich ihre Begrenzung ist, nämlich die Differenz von Wert und Würde.
3.1.3 Das wertende Subjekt als Meta-Wert In einer auf den ersten Blick überraschenden Weise nimmt Otto an dieser Stelle zumindest semantisch eine entscheidende Begrenzung seiner Wertethik vor. Ethik ist mehr als Wertethik, weil die (menschliche) Person nicht einfach nur Träger von Werten, sondern – gut kantisch – Träger einer unveräußerlichen Würde ist.Würde hat die Person, weil und insofern sie das wertbezogene und in diesem Sinn wertproduktive, ja -konstitutive Wesen ist;¹⁸ sie ist „[…] der zu ‚Werten‘ sich verhaltende Wille […]“ und hat eben darum „[…] einen Wert, der sich nicht nur als absoluter von relativen, sondern als qualitativ anderer unterscheidet und mit einem ‚Wertprädikate‘ auszuzeichnen ist, das dieses deutlich hervortreten lässt. Wir wählen dafür das Wort ‚Würde‘.“¹⁹ Der Person als deren Trägerin gebühre von daher nicht ein moralisches Interesse, auch nicht einfach Achtung, sondern „Hochachtung“,²⁰ wie Otto sagt, um die Metastellung dieser moralischen Kategorie der Person und ihrer intrinsischen Würde ausdrücklich zu machen. Mit der Würde des Menschen als Wertträger verbindet sich nun aber ein deutlich höherer Grad ethischer Geltung, als ihn Otto für den Wertbegriff im Allgemeinen in Anschlag bringt. Personen hätten – und zwar gerade unabhängig von ihrem sittlichsozialen Wert und dem Maß ihrer wertrealisierenden Tätigkeiten, qua ihres Personseins ethisch (und darauf basierend rechtlich) einklagbare Rechte, „MenschenRechte“.²¹ Solche Rechte, etwa auf soziale Verteilungsgerechtigkeit oder auf Hilfe-
Vgl. „Nur das strebende Subjekt selber kann solche ‚Würde‘ besitzen. Und indem es sie besitzt, ragt es nicht nur über alle ‚objektiven Werte‘ hinaus, sondern ist überhaupt ein völlig anderes und mit allen sonstigen Werten unvergleichliches Gebilde.“ (A.a.O. 82) Vgl. die Fortsetzung des Zitats: „[…] Wir wagen es daher, ‚Würde‘ von ‚Wert‘ zu unterscheidend. […] Werte ‚schätzen‘ wir etwa, aber Würde ‚hochachten‘ wir. Und Hochachtung ist nicht durch einen Grad sondern durch ein quale von ‚bloßem Schätzen‘ verschieden.“ (A.a.O. 63) Ebd. A.a.O. 202.
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leistung in Notlagen,²² seien „sittlich[e] Axiom[e]“.²³ Auf dieser Basis kann Otto dann sagen: „Werte und Rechte sind […] Gründe der Gültigkeit für Forderungen. Solche Forderungen nennen wir nach Kant kategorische Imperative.“²⁴ Die Ethik sei von daher zweistämmig, sie sei einerseits Wertethik, andererseits Ethik der Person, ihrer eigentümlichen intrinsischen Rechte und auf deren Schutz und Realisierung bezogenen Sollenspflichten. Dieser Raum des Rechts ist ein Raum des geschichtstranszendenten menschlich-sozialen, rationalen „Naturrecht[s]“.²⁵ „Das Gefühl um Rechte erwacht im Verlaufe des Geschehens, […] aber es erwächst nicht aus der Geschichte.“²⁶ Semantisch und in gewisser Weise auch programmatisch präsentiert Otto mithin die personale Dimension des Sittlichen, die sich wiederum in die Dimension des Rechts und in diejenige der kommunikativen Liebe entfaltet, als eine, das Reich der Werte, mithin die Wertethik als solche, überschreitende Sphäre des Ethischen, die er „Moral“²⁷ nennt. Systematisch konstruiert er sie, wie angedeutet, als Raum von deren Konstitution bzw. Ermöglichungsbedingung. Es ist der Raum der Interaktion wertbezogener (und in diesem Sinne: werterzeugender) Wesen, der hier thematisch wird. Ottos ethische Rechts- und Personenlehre, genannt „Moral“-theorie, ist als solche der Begründungszusammenhang seiner Wertlehre und insofern dieser material transzendent, systematisch jedoch ein integraler Bestandteil von ihr. Denn dass Menschen Personen sind, zeigt sich daran, dass sie zu sich selbst und ihrer Welt in ein wertendes Verhältnis zu treten vermögen. Aber „[d]ie obersten aller ‚moralischen Werte‘ der sittlichen Persönlichkeit entspringen nun gerade in dieser Sphäre, in der Sphäre des ‚Geforderten‘, sofern es auf ‚Rechten‘ und zwar ‚natürlichen Rechten‘ beruht“.²⁸ Die werturteilende Tätigkeit des Menschen hat also hier ihren Möglichkeitsgrund, und Ottos Wertethik erweitert sich an dieser Stelle zu einer subjektivitäts- (bzw. intersubjektivitäts‐)theoretisch begründeten, rationalen Naturrechts- bzw. Gerechtigkeitsethik, in der sie ihren normativ-geltungstheoretischen Grund bekommt. Deren Grundgedanke stütze sich darauf, dass durch „die einfache Tatsache, daß neben meinem Willen andere Willen sind, meiner aber, einfach sofern er mein Wille ist, vor andern Willen kein ‚Vorrecht‘
Vgl. ebd. A.a.O. 85. A.a.O. 98. Vgl.: „Es liegt in der Tat ganz einfach in der Natur der Sache selbst, daß Leistung verpflichtet.“ (A.a.O. 85) Ebd. A.a.O. 83. A.a.O. 86.
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besitzt, [für mich und mir gegenüber (Anm. des Verf.)] ein erster Anspruch erwächst, daß ich meinen Willen auf eine ‚Zusammenbestehbarkeit‘ mit andern Willen einzuschränken habe“.²⁹ Otto ist der Auffassung, dass sich aus dieser prinzipiellen Reziprozitätsforderung des Ethischen eine Reihe von normativen Ableitungen vornehmen lasse, nämlich soziale Gerechtigkeitsforderungen, aber auch Forderungen von Rücksichtnahme gegenüber lebendigen Wesen jenseits des Menschen, also gegenüber Tieren und Pflanzen.³⁰ In dieser „Moral“-Theorie der Menschenwürde liegt mithin der deontologische Kern der Ottoschen Wertethik.
3.1.4 Ideale Ansprüche von Wertträgern aneinander Allerdings „fügt sich“ nun umgekehrt diese deontologische Konstruktion wiederum „[…] teleologisch ein einer ‚höheren Wertidee‘“,³¹ nämlich derjenigen, dass die „nach der ‚Gleichheit der Würde der Personen‘ geordnete Gemeinschaft von Willen untereinander […] ‚ein ‚Wertvolles in sich‘ und ein unvergleichlich Wertvolles, ein summum bonum [ist], das mehr ist als die bloße summa aller bona. […] Es hat seinen Sinn und Wert in sich. Es ist […] ein Endzweck an sich, dem sich die Einzelnen, obschon sie in sich Endzwecke sind, zugleich als Durchgangszwecke einordnen.“³² Das Kantsche Reich der Zwecke, das für diesen Gedanken erklärtermaßen Pate steht, wird von Otto also wiederum in einer wertethischen Perspektive gedeutet. In gewisser Weise noch über jenem Reich des rationalen, subjektivitätstheoretisch begründeten Naturrechts liegt mithin das Reich der idealen Kommunikationsgemeinschaft wechselseitiger Liebe und Dankbarkeit, in dem die einzelnen Akteure der materialen Pluralität ihrer personalen ethischen Zwecksetzungen wie ihrer Individualität überhaupt Rechnung tragen. Interpersonale Gefühle bzw. Handlungsweisen wie Liebe und darauf basierend, Dankbarkeit,³³ aber auch Gnade, können nach Otto als ungeschuldete Gefühle bzw. Akte nicht moralisch geboten werden; sie sind keine Postulate, wohl aber Desiderate, und zwar solche von höchstem Rang. „Es gibt Pflichten und gerade von besonderer
Ebd. In geltungstheoretischer Hinsicht ist es Otto wichtig, diese grundlegenden ethischen Normen nicht als Setzungen einer autonomen Vernunft, sondern als inhärente Qualitäten der betreffenden Entitäten (wertsetzende Wesen = Personen) bzw. der Tatsache ihres pluralen Nebeneinanders zu verstehen, vgl. a.a.O. 124 f. Vgl. a.a.O. 87. A.a.O. 91. A.a.O. 90. Vgl. a.a.O. 94.
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Schwere, die weder aus Werten noch aus Rechten entspringen. Für den ihnen zugrunde liegenden Anspruch, haben wir keinen andern Namen als den des ‚idealen Anspruchs‘ oder des ‚höheren Rechts‘.“³⁴
3.2 Der materiale Kern der materialen Wertethik und dessen theologische Implikationen Die solchermaßen gestufte Ethik fußt also ihrerseits wiederum auf einer materialen Wertidee, nämlich auf jenem Gedanken der unveräußerlichen, intrinsischen Würde der menschlichen Person als wert-schöpferischem bzw. wertrezeptiven Subjekt. Dies ist damit derjenige Gedanke, in dem die werturteilende Tätigkeit des Menschen auf ihren eigenen Möglichkeitsgrund stößt. Denn in diesem Begriff findet sie denjenigen materialen Wert, der im Unterschied zu allen anderen Werten, seinen Geltungsgrund stricte dictu in sich selbst habe. Otto verweist diesbezüglich auf Kants Einführung des Würdebegriffs in der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Er deutet sie so, dass Kant hier auf eine materiale – wertethische – Begründung seiner formalen Pflichtenethik gestoßen sei und damit zugleich auf den Möglichkeitsgrund des kategorischen Imperativs und der praktischen Realisierung von Freiheit. „Die Frage nach dem Grunde der Gültigkeit des kategorischen Imperativs ist beantwortet. Und das bekennt Kant hier ausdrücklich selbst. Hat das Dasein eines Etwas – sei es was es sei – absoluten Selbstwert, so folgt aus diesem Sachverhalte eo ipso, […] die Forderung an jeden den Wert Erkennenden […], daß dieses Etwas für ihn niemals nur Mittel sein darf sondern immer auch als Selbstwert ‚geachtet‘ sein wolle.“³⁵ Bei Kant trete hier freilich insofern ein gewisser Widerspruch auf, als diese Entdeckung in Spannung stehe zu seinen sonstigen Erklärungen, ein solcher Möglichkeitsgrund sei der Vernunft anzugeben unmöglich. Aus Ottos Sicht hat Kant hier somit eine Entdeckung gemacht, die den begründungstheoretisch vorsichtigen Duktus seiner praktischen Philosophie in Frage stellt. Die Spannung, die hier zu konstatieren sei, deutet Otto in einer produktionsästhetischen Weise. Er bezeichnet die betreffende Textpassage der Grundlegungsschrift als „‚Einbruchstelle‘“³⁶ bzw. „Einbruchstück“. Was hier (her‐)einbricht, ist nach Otto eine Wahrheitserkenntnis, der sich ihr Autor bzw. Empfänger Kant zugleich öffnet – und wieder verschließt.
Ebd. Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 1), 204. Rudolf Otto, Aufsätze zur Ethik (Anm. 1), 54.
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Diese Rede von der Einbruchstelle ist unverkennbar (offenbarungs‐)theologisch kodiert. In der Tat ist Otto der Überzeugung, dass sich von hier aus auch ein anderes Verhältnis von Gottesgedanke und autonomer Moral erschließt, als Kant selbst es in seiner Postulatenlehre angelegt hat. Diese ist aus seiner Sicht unbefriedigend, da sie den Gottesgedanken in einer zu seinem eigenen Gehalt in Spannung stehenden äußerlichen, funktionalen Perspektive einführt. Vom Gedanken der intrinsischen Werthaltigkeit der Personenwürde ergebe sich die dieser Option gegenüber gedanklich überlegene Möglichkeit, den Gottesgedanken seinerseits als Inbegriff und letzten Grund aller Wesen, denen intrinsische Wert-, Bedeutungs- und damit Sinnhaltigkeit zuzusprechen sei, also aller personalen Wesen, zu denken. „Objektiven Wert an sich selbst und damit ‚gesetzgebende Gewalt‘ hat für ihn das vernünftige Wesen selbst. Gott aber ist auch nach Kant das ‚Urwesen‘, aus dem als ihrer Quelle alle vernünftigen Wesen sind und das sind, was sie sind, indem sie also auch den Grund ihres ‚objektiven‘ gesetzgebenden Selbstwertes haben. Gott ist als geistig-vernünftiges Urwesen selber der Urwert, und alle Selbstwerte vernünftiger Wesen gründen in ihm, weil diese Wesen selber in ihm gründen. Ihre Autonomie haben sie auf Grund dessen, dass sie Vernunftwesen sind: daß sie aber dieses sind und überhaupt sind, das haben sie aus Gott. Menschlicher Selbstwert und menschliche Autonomie ist mithin selber nur ein Derivat des göttlichen Urgeistes und seiner Autonomie, d. h. der Theonomie. – Diese Deutung des Verhältnisses von Autonomie und Theonomie lag schon unmittelbar in Kants Deutung der Gottheit als geistig-vernünftigem ‚Urwesen‘.“³⁷ Dieser Begriff absoluter intrinsischer Werthaltigkeit bedeutet, dass in ihm die für alle Werturteilsakte konstitutiven Differenzen von (idealem, vernünftig-angesonnenem) Wert und (real-konkreter, seinshafter) Wertträgerschaft und darum auch diejenige von (subjektivem) Wertakt und (objektivem) Wert zur Deckung und gewissermaßen zur Ruhe kommen. Eben darum ist dieser ‚Wert‘ der Letztwert, der Möglichkeitsgrund aller Wertakte.
4 Wertlehre und Religionstheorie Folgt man dieser Überlegungslinie, die Otto im Erläuterungsteil seiner Edition von Kants Grundlegungsschrift zeichnet, dann legt es sich nahe, den systematischen Kern seiner Lehre vom Heiligen eben hier zu verorten: Das Heilige ist derjenige absolute ‚Wert‘, in welchem die genannten Differenzen von Wert und Sein, bzw. von Akt und
Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysik der Sitten (Anm. 1), 212 f.
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Sein zur Deckung kommen bzw. ihren Möglichkeitsgrund finden. Darum ist das Heilige Wert, Sein und Sinn stiftend. Heil ist Sinn, denn Heil ist das Zusammenfallen von Wert und Sein – nun auch an der Stelle dessen, was von dieser Differenz konstitutiv bestimmt ist, also für das Endliche, für das ‚Profane‘, wie Otto sagt. Aber inwiefern ist endliche Personalität differenzbestimmt? Als Person mit unvergleichlicher Würde ist sie ja bereits als Spiegel des Göttlichen – theologisch: als Gottes Ebenbild – als Selbstwert konstituiert. Hier hat der ‚Einbruch‘ des Absoluten ins Endliche mithin immer schon stattgefunden. Das ist das Schöpfungsmoment des Heiligen. Zugleich vollzieht sich solches endlich-personales Leben aber stets in einzelnen Werturteilsakten; und es sind diese Akte, in denen die intrinsische Einheit von Akt und Sein, die Personalität (auch endliche) an sich als solche auszeichnet, immer wieder verlorengeht, und zwar schuldhaft. Indem Menschen wertend ins Verhältnis zu sich selbst, zu ihren Mitmenschen und ihrer nichtmenschlichen Umwelt treten, scheinen sie jene Differenzen von Akt und Sein, von Wert und Wertträger in aller Regel bereits zu betätigen, ja in die Welt zu setzen, die sie im Akt des Wertens zugleich wiederum zu überwinden suchen. Wertakte haben – theologisch gesprochen – die Struktur des Gesetzes; sie sind auf Rechtfertigung, d. h. auf eine ihnen gerade nicht per se intrinsisch inhärente Deckung angewiesen, die ihnen nur durch Selbstmitteilung dessen gewährt werden kann, der diese Deckung an sich selbst ist. Solches Heil ist strukturell ‚überweltliches‘ Heil, denn es ist der Welt der Differenzen, die unsere Welt ist, enthoben. Dieses Moment des Heils ist sein Heiligungsmoment. Heiligung widerfährt dem Geschöpf, wenn und insofern es sich als Sünder weiß und seiner faktisch strukturellen Sündhaftigkeit, d. h. seiner Gottesferne, seiner Verlorenheit, wie der Lutheraner Otto gerne sagt, ansichtig wird – et vice versa: Seiner intrinsischen Verlorenheit wird das Geschöpf ansichtig, insofern es sich als Adressat göttlicher Heiligung erfährt.³⁸ Im Heiligungsprozess, in den uns das bzw. der Heilige nach christlichem Verständnis hineinnimmt, werde uns beides zugewendet: Jetzt schon die Möglichkeit, antizipativ, wie Otto des Öfteren sagt, ein personales Leben aus wieder aktualisierter Schöpfungspersonalität zu führen, und künftig, außer-weltlich, im Zusammenfall unserer aktual-wertenden Existenz in Differenzen mit unserem eigentlichen, gott-gemeinten Sein.
Sündenbewusstsein ist dabei für Otto wiederum zweistämmig. Es besteht aus Reue und Scham. Reue sei auf die von mir selbst aktualiter immer wieder verspielte Person- bzw. Subjektwürde bezogen; Scham wiederum sei die Reaktion auf die materialen Wertverfehlungen, auf mein Versagen, anderen – und dadurch indirekt auch mir selbst – jenen intrinsisch materialen Wert zu vermitteln, der ihnen gebührt, vgl. Rudolf Otto, Aufsätze zur Ethik (Anm. 1), 128.
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Heil ist auf Seiten Gottes das Geschenk reiner, unverdienter Gnade, also Liebe. Und darum ermöglicht es auf Seiten des Menschen jene Liebe zum Mitgeschöpf, die von der Ethik, auch und gerade der Wert-Ethik nur als Desiderat, aber wichtigstes Desiderat überhaupt, behandelt werden kann.
5 Würdigung In der hier vorgestellten Deutungsskizze wurde Rudolf Ottos späte Ethik als eine Subjektivitätstheorie zu lesen versucht, deren zentrales Instrument der Wertbegriff ist. Menschliches Sein tritt zur Welt, zum Gegebenen (Ich, andere Menschen, Umwelt) ins Verhältnis wertender Distanznahme. Nur im Medium solcher Distanznahme vermag es Sinn zu erfahren und Sinn zu vermitteln. Zugleich aber vermag es in solcher Sinnerfahrung und -stiftung den grundsätzlichen Bruch der Distanznahme ex suis naturalibus nicht zu überwinden. Dazu bedarf es eines Einbruchs, näherhin einer Ein-gabe ab extra, der bzw. die ihm nur aus einer Sphäre zukommen kann, welche dieser Distanznahme und dem sich mit ihr verbindenden Bruch entzogen ist: des Heiligen. Allererst die Selbstmitteilung des Heiligen ermöglicht einen Heiligungsprozess, den Prozess der Werterkenntnis, Wertvermittlung und Wertzuerkennung. Alle diese Akte haben jedoch, wie Otto feststellt, den Charakter der Antizipation, weil sie eine Evidenz des Wertvollen voraussetzen, die unter endlich-geschichtlichen Bedingungen niemals gegeben sein kann. Ottos Wertlehre ist also in der Tat sehr viel mehr als eine Ethik; sie ist eine theologisch-philosophische Theorie spezifisch menschlicher Lebendigkeit, eine Subjektivitätstheorie. Aber in dieser kommt der Ethik unverkennbar eine zentrale Bedeutung zu. Unbeschadet der vermeintlichen Indifferenz des Werts gegenüber den Sphären des Wahren, Guten, Schönen und (vielleicht noch) des Heiligen hat der Akt des Wertens als solcher ein ethisches Übergewicht; was dem Wahren, dem Guten, dem Schönen und dem Heiligen gemeinsam ist, ihre Werthaftigkeit und Werthaftigkeit per se, ist es eben – auch wenn darin Aspektierungen der drei anderen Qualitäten mitschwingen – wesentlich gut zu sein. Heute nimmt man am Wertbegriff in einer so dominanten Verwendungsweise in der Regel Anstoß. Er leistet nicht so ohne weiteres, was er zu leisten verspricht: nämlich Vermittlungen von Subjektivität und Objektivität, von Aktualität und angesonnener Inhaltlichkeit ethischer Urteile. Die Überwindung des Historismus, auch des Skeptizismus nietzschescher Prägung, durch Rekurs auf eine Wertphi-
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losophie erscheint uns heute in der Regel als ein Holzweg.³⁹ Der Wertbegriff reproduziere faktisch all jene Differenzen, zu deren Vermittlung bzw. Überwindung er bemüht wird. Gegen solche Einwände ist auch Ottos Wertethik nicht gefeit. Nur hat dieser Entwurf aus meiner Sicht den Vorzug, dass in ihm die genannten Schwierigkeiten transparent und zum Gegenstand der Bearbeitung werden. In gewisser Weise kann Ottos Wertethik als Versuch gelesen werden, die Aporien der Wertethik mit wertethischen Mitteln zu überwinden; darum die Differenzen von Wertlehre und Ethik, von Wert und Würde bzw. Recht, von Wert und Gnade; darum aber vor allem die theologische Perspektivierung der ganzen anthropologischen und ethischen Theorie. Es ist das Heilige bzw. die vom Heiligen ausgehende Aktivität der Heiligung, in dem die auch im Personenbegriff nicht auflösbaren Spannungen von Wert-Sein und Wert-Akt aufzulösen versucht werden. Heiligung ist Wert-Stiftung im Vollzug, im Prozess. Das erscheint mir als ein vielversprechender Entwurf, der weiterer Ausarbeitung fähig sein dürfte. Unabhängig von der Einschätzung der Chancen, die man einem solchen Unternehmen zubilligt, wäre zu fragen, welcher andere Theologe in Deutschland zwischen 1930 und 1935 derart bestimmt und überlegt von Menschenwürde, Menschenrechten und dem intrinsischen Wert einer individuellen, moralischen, sozial-kommunikativen Existenz gesprochen und geschrieben hat wie der Marburger Menschenfreund, Weltbürger und in der deutschsprachigen Theologie seiner Zeit wohl eben darum so an den Rand gedrängte Rudolf Otto.
Zu einer differenzierten Kritik dieser Sicht und meta-kritischen Wiederaufnahme des Wertbegriffs vgl. aber etwa Hans Joas, Die Entstehung der Werte, Frankfurt a.M. 1997.
VI Religionsästhetik
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Verborgene Verwandtschaft Ottos religionstheoretische Beerbung von Kants Ästhetik des Erhabenen Ottos Beeinflussung durch Kant ist bekannt. Schon der Titel seines ersten religionstheoretischen Entwurfs („Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie“) zeugt davon, und entsprechend ausgiebig wurde Ottos Kant-Rezeption in der Literatur bereits traktiert. Es gibt allerdings einen Aspekt an dem fraglichen Verhältnis, der bisher eher in der Kant- als in der Otto-Forschung Beachtung gefunden hat: die Bezüge zwischen Ottos Religionstheorie und Kants Ästhetik des Erhabenen.¹ Auch hier kann sich der Ausleger von Otto selbst auf die rezeptionsgeschichtliche Fährte führen lassen. So wird in mehreren Passagen von Das Heilige die strukturelle Nähe zwischen dem Begriff des Numinosen und der kantischen Kategorie des Erhabenen hervorgehoben. Das Erlebnis des Numinosen mit seinem in sich widerstrebenden Charakter lasse sich „von ferne andeuten durch eine Entsprechung aus einem nicht der Religion sondern der Ästhetik angehörigen Gebiete […]: nämlich durch das Erhabene“². An anderer Stelle spricht Otto – weniger zurückhaltend – davon, „daß zwischen dem Numinosen und dem Erhabenen eine verborgene Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit besteht, die mehr ist als eine bloße Zufalls-ähnlichkeit“³. Diesen Äußerungen will ich nachgehen. Schließlich legen sie die Frage nahe, ob eine solch „innige Verbindung“⁴, wie sie Otto zwischen dem religiösen Grunderlebnis des Numinosen und dem ästhetischen Erlebnis des Erhabenen
Ein Hinweis auf diese Bezüge findet sich jüngst bei Harald Matern, Ottos religionstheoretischer Gefühlsbegriff, in: Rudolf Otto. Subjekt und Religion, hg.v. Thorsten Dietz/Harald Matern, Zürich 2012, 109 – 153.143 f. In der Kant-Forschung wurde mit Rekurs auf Otto der Stellenwert eines „numinosen Elements“ innerhalb der Erfahrung des Erhabenen diskutiert; siehe Allan Lazaroff, The Kantian Sublime: Aesthetic Judgment and Religious Feeling, in: KantSt 71 (1980), 202– 220; William B. Hund, Kant and A. Lazaroff on the Sublime, in: KantSt 73 (1982), 351– 355. Vgl. ansonsten die Notizen z. B. bei Ernst Müller, Beraubung oder Erschleichung des Absoluten? Das Erhabene als Grenzkategorie ästhetischer und religiöser Erfahrung, in: Die Gegenwart der Kunst. Ästhetische und religiöse Erfahrung heute, hg. von Jörg Herrmann u. a., München 1998, 144– 164.159, und Christian Pöpperl, Auf der Schwelle. Ästhetik des Erhabenen und negative Theologie: Pseudo-Dionysius Areopagita, Immanuel Kant und Jean-Francois Lyotard, Würzburg 2007, 156 ff. DH, 56. DH, 82. DH, 61.
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konstatiert, nicht auch in begriffsgeschichtlicher Hinsicht „mehr“ sein könnte „als eine bloße Zufallsähnlichkeit“.⁵
1 Das Numinose und das Erhabene in „Das Heilige“ Otto bezieht sich mit den angeführten Voten auf einen zentralen Begriff der Ästhetik des 18. und 19. Jahrhunderts, dessen berühmteste Fassung Kant in der Kritik der Urteilskraft geliefert hat. Dort beschreibt das Erhabene eine Naturerfahrung, die sich etwa bei der Ansicht der „düstere[n] tobende[n] See“⁶ oder von „ungestalten Gebirgsmassen“⁷ einstellen kann. Deren Betrachtung ruft im Gemüt eine sonderbare „Erschütterung“⁸ hervor, die sich von der Freude an einer schönen Landschaftsaussicht signifikant unterscheidet. Sie ist nämlich nicht „positive Lust“⁹ wie das Vergnügen am Schönen, sondern eine „Rührung“¹⁰, in der sich Lust und Unlust zur „negativen Lust“¹¹ verbinden. Denn das Gefühl des Erhabenen kommt zustande, indem sich das ästhetische Subjekt angesichts übermäßiger Größe und Gewalt in der Natur schmerzlich seiner Endlichkeit bewusst wird, sich zugleich aber auf gewisse Weise über die Sphäre des Endlich-Sinnlichen selig erhoben weiß. Für Otto sind die „Analogien zwischen dem Numinosen und dem Erhabenen handgreiflich“¹², und zwar vor allem in der berühmten „Kontrastharmonie“¹³ im numinosen Erleben. Denn „auch am Erhabenen“ liegt ja eben „jenes eigentümliche Doppelmoment eines zunächst abdrängenden und gleichzeitig doch wieder ungemein anziehenden Eindruckes auf das Gemüt“¹⁴ vor. Mit seinem Moment der „Demütigung“¹⁵ angesichts des Übergroßen oder Übermächtigen erinnert das Erhabenheitserlebnis unmittelbar an das Erschaudern vor der ‚tremenda majes-
In diesem Beitrag werden Gedanken ausgeführt, die zum Teil bereits in der Einleitung und im Schlusskapitel meiner Dissertationsschrift angerissen sind: Martin Fritz, Vom Erhabenen. Der Traktat ‚Peri Hypsous‘ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert, Tübingen 2011, 17– 22.544– 547. KU, B 95. Ebd. KU, B 98. KU, B 75 f. KU, B 75. KU, B 76. DH, 56. Ebd. DH, 57. Vgl. ebd.
Verborgene Verwandtschaft
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tas‘, der „schlechthinnigen Übergewalt“¹⁶, und an das begleitende Gefühl „der eigenen Nichtigkeit“¹⁷ gegenüber dem Übermächtigen, das „Kreaturgefühl“¹⁸. Die gleichzeitig erfolgende Erhebung des Gemüts im Erhabenen wiederum spiegelt sich wider im Aspekt der Beseligung durch das Wundervolle, den Otto dem Numinosen mit dem Begriff des fascinans eingezeichnet hat.¹⁹ Tatsächlich sieht der Schlüsselbegriff von Ottos Hauptwerk dem kantischen Erhabenen strukturell zum Verwechseln ähnlich. Zu einer Verwechslung von ästhetischer und religiöser Sphäre wollte es Otto aber keinesfalls kommen lassen, darum hat er trotz aller Ähnlichkeit einen klaren Trennungsstrich zwischen den Geistesgebieten gezogen: „Religiöse Gefühle sind nicht ästhetische. Das ‚Erhabene‘ gehört aber nächst dem ‚Schönen‘ noch in die Ästhetik, so sehr verschieden es auch vom Schönen ist.“²⁰ Vor dem Hintergrund dieser axiomatischen Trennung greift Otto dann zu einer assoziationspsychologischen Erklärung für die Konvergenz von Numinosem und Erhabenem. Demnach fallen die beiden strukturanalogen, aber doch heterogenen Gefühle aufgrund einer habitualisierten „Gefühlsgesellung“²¹ regelmäßig zusammen. Infolge dieser Dauerassoziation geben erhabene Erscheinungen in Natur und Kunst vorzügliche Anregungs- und „Ausdrucksmittel“²² des Numinosen ab. In der Architektur etwa kommen dafür Bauwerke wie die Sphinx von Gizeh²³ infrage, in der Musik nennt Otto Bachs H-MollMesse und Beethovens Missa solemnis. ²⁴
2 Zur Begriffsgeschichte des Erhabenen Ottos These von der „innigen Verbindung“ zwischen dem Numinosen und dem Erhabenen lässt sich auch begriffsgeschichtlich erhärten. Dafür ist es zunächst aufschlussreich, dass das Erhabene selbst von seiner Herkunft her eine innere Affinität zum Religiösen zeigt. Seit seinen antiken Anfängen gehört es zu den Kennzeichen dieser ästhetischen Kategorie, über das Ästhetische zugleich hinauszugreifen, und zwar zum einen in den Bereich des Ethischen, zum anderen in
DH, 22. DH, 10. Ebd. Vgl. DH, 42 ff. DH, 56. DH, 57. DH, 85. Vgl. ebd. Vgl. DH, 90 f.
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das religiöse Gebiet.²⁵ Die religiöse Seite des Begriffs lässt sich an einem Zitat aus dem einschlägigen Artikel in Johann Georg Sulzers Allgemeiner Theorie der schönen Künste (Bd. 1, 1771) vorführen: „Das völlig unbegreifliche rührt uns so wenig, als wenn es gar nicht vorhanden wäre. Wenn man uns sagt: Gott habe die Welt aus Nichts erschaffen, oder Gott regiere die Welt durch bloßes Wollen, so fühlen wir gar nichts dabey, weil dieses gänzlich außer unsern Begriffen liegt. Wenn aber Moses sagt: Itzt sprach Gott, es werde Licht und das Licht ward; so gerathen wir in Bewunderung, weil wir uns wenigstens einbilden, etwas von dieser Größe zu begreifen; wir hören befehlende Worte und fühlen einigermaßen ihre Kraft […]. Wer uns von der Ewigkeit spricht und sagt, sie sey eine Dauer ohne End, der rührt uns wenig, weil wir nichts dabey denken; wenn aber Haller singt: Die schnellen Schwingen der Gedanken, Wogegen Zeit und Schall und Wind Und selbst des Lichtes Flügel langsam sind, Ermüden über dir und finden keine Schranken: so bekommen wir doch einigermaßen einen Begriff dieser unbegreiflichen Größe, indem wir sehen, daß sie das Höchste, so wir denken können, weit übersteigt.“²⁶
Erhaben sind nach dieser Bestimmung sprachliche Darstellungen der an sich unbegreiflichen Ideen von Gottes Macht und von der Ewigkeit; Darstellungen, die diese unfassbaren Ideen doch auf gewisse Weise im Gemüt repräsentieren und ihnen damit – anders als in der trockenen Begriffsform der theologischen oder philosophischen Dogmatik – affektive Resonanz verschaffen, also religiöse Rührung erwecken. In dieser Fassung gehört der Erhabenheitsbegriff offenkundig weder dem ästhetischen noch dem religiösen Gebiet alleine an. Als Inbegriff einer eindrucksvollen Versinnlichung unanschaulicher metaphysisch-religiöser Ideen verkoppelt er beide Sphären. Mit diesem Schlaglicht auf die ältere Begriffsgeschichte komme ich zu Kant. Dessen ‚Analytik des Erhabenen‘ in der Kritik der Urteilkraft ist – wie zu zeigen ist – für Ottos Religionstheorie von unmittelbarer Relevanz. Ich will aber vorab noch einen Blick auf den vorkritischen Kant werfen, und zwar auf die frühe Kosmogonie (Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, 1755). Denn sie bezeugt beim 31-jährigen Autor eine Kosmosfrömmigkeit, die in mehrfacher Hinsicht mit
Vgl. dazu Martin Fritz, Vom Erhabenen (Anm. 5). Art. ‚Erhaben‘, in: Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie der Schönen Künste, Tl.2 (E-I), 2. Aufl., Leipzig 1792, 97– 114.98. Das Zitat stammt aus Albrecht von Hallers Unvollkommene Ode über die Ewigkeit (1736, in: Versuch Schweizerischer Gedichte, Danzig 31743, 149 – 153).
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dem Erhabenen in Beziehung steht.²⁷ Das Buch entwickelt die These einer unendlichen Ausdehnung der Welt nach Raum und Zeit und verknüpft damit die Ansicht eines unendlichen sukzessiven Schöpfungsakts. Bei diesen Überlegungen schwingt sich Kants Sprache immer wieder in poetische Höhen auf: „Ich finde nichts, das den Geist des Menschen zu einem edleren Erstaunen erheben kann, indem es ihm eine Aussicht in das unendliche Feld der Allmacht eröffnet“.²⁸ „Die Schöpfung […] braucht nichts weniger, als eine Ewigkeit, um die ganze grenzenlose Weite der unendlichen Räume, mit Welten ohne Zahl und ohne Ende, zu beleben. Man kann von ihr dasjenige sagen, was der erhabenste unter den deutschen Dichtern von der Ewigkeit schreibet: Unendlichkeit! wer misset dich? Vor dir sind Welten Tag, und Menschen Augenblicke; Vielleicht die tausendste der Sonnen wälzt jetzt sich, Und tausend bleiben noch zurücke. Wie eine Uhr, beseelt durch ein Gewicht, Eilt eine Sonn’, aus Gottes Kraft bewegt: Ihr Trieb läuft ab, und eine andre schlägt, Du aber bleibst, und zählst sie nicht.“²⁹
Wenig später mündet die staunende Betrachtung der unendlichen Welt und der unendlichen Schöpfermacht Gottes in einen Hymnus auf die Unsterblichkeit der Seele: „Mit welcher Art der Ehrfurcht muß nicht die Seele so gar ihr eigen Wesen ansehen, wenn sie betrachtet, daß sie noch alle […] Veränderungen [sc. in der Welt] überleben soll[;] sie kann zu sich selber sagen, was der philosophische Dichter von der Ewigkeit saget: Wenn denn ein zweites Nichts wird diese Welt begraben; Wenn von dem Alles selbst nichts bleibet als die Stelle; Wenn mancher Himmel noch, von andern Sternen helle, Wird seinen Lauf vollendet haben: Wirst du so jung als jetzt, von deinem Tod gleich weit, Gleich ewig künftig sein, wie heut.“³⁰
Eine Analyse der „Erhabenheitsfrömmigkeit“ von Kants Kosmogonie hat Herman Schmalenbach gegeben: Kants Religion, Berlin 1929. Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels […] (1755), in: Ders., Vorkritische Schriften bis 1768, Bd. 1, hg.v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1968, 219 – 400.333. A.a.O. 335 f. A.a.O. 343 f. Hier wie im letzten Zitat stammen die Verse wieder aus Albrecht von Hallers Unvollkommene Ode über die Ewigkeit (Anm. 26).
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Der Enthusiasmus, mit dem Kant die großen metaphysischen Themen verhandelt, ist unüberhörbar. Nach den Kategorien des zitierten Sulzer-Artikels fielen diese Ausführungen unter die Gattung des ‚Erhabenen des Verstandes‘: Es wird verwirklicht,wo „die neuern Philosophen […] erhabene Begriffe von dem Weltgebäude, und von der Größe des göttlichen Verstandes [geben]“³¹ – man darf ergänzen: oder von der göttlichen Allmacht. Man könnte meinen, diese Bestimmung sei just auf die Kosmogonie gemünzt. Auch im Falle dieser Gattung des Erhabenen, das wird an Kant deutlich, werden die „erhabenen Begriffe“ durch geeignete Anschauungen (nämlich des unermesslichen Weltalls) vermittelt, nicht ohne dabei metaphysischreligiöse Gefühle zu erwecken, die sich dann in erhabener Poesie aussprechen. Dass es von hier zu einer metaphysisch unterlegten Ästhetik erhabener Naturerfahrung nur ein kleiner Schritt ist, zeigt das Ende der Kosmogonie: „In der Tat,wenn man mit solchen Betrachtungen […] sein Gemüt erfüllet hat: so gibt der Anblick eines bestirnten Himmels, bei einer heitern Nacht, eine Art des Vergnügens, welches nur edle Seelen empfinden. Bei der allgemeinen Stille der Natur und der Ruhe der Sinne redet das verborgene Erkenntnisvermögen des unsterblichen Geistes eine unnennbare Sprache, und gibt unausgewickelte Begriffe, die sich wohl empfinden, aber nicht beschreiben lassen.“³²
Es ist in dieser Schilderung im Prinzip von derselben Naturanschauung die Rede wie in der gesamten Kosmogonie (vom Anblick des „bestirnten Himmels“); es stehen allem Anschein nach dieselben metaphysischen Begriffe „des unsterblichen Geistes“ im Hintergrund, und es sind ähnliche Empfindungen im Spiel. Und doch hat sich die Konstellation verschoben. Nun entzündet sich an dem Anblick des Sternenhimmels nicht eine ausdrückliche metaphysische Reflexion, die dann entsprechende Gefühle nach sich zieht, sondern dieser Anblick wirkt gerade jenseits der Reflexion. Er lässt „das verborgene Erkenntnisvermögen des unsterblichen Geistes“ hörbar werden, das „eine unnennbare Sprache“ spricht, die nur das Gefühl zu dechiffrieren vermag, ohne sie auf Begriffe bringen zu können. Kant nimmt damit unbestimmte metaphysisch-religiöse Gefühle in den Blick, die bei einer Naturanschauung auftreten, die zwar das metaphysische Denken im Rücken hat, es aber nicht thematisch werden lässt. Ansatzweise ist damit aus der Erhabenheit metaphysischen Denkens eine Erhabenheit metaphysischen Fühlens geworden. Rudolf Otto, das sei hier schon vorgreifend erwähnt, hat jene „völlig übersehen[e]“³³ Kant-Stelle denn auch als locus classicus der philosophischen Entdeckung der religiösen Ahnung gefeiert.³⁴
Johann Georg Sulzer, Allgemeine Theorie (Anm. 26), 99. Immanuel Kant, Allgemeine Naturgeschichte (Anm. 28), 396. NRW3, 57.
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Die Konvergenzen von Kants frühen Andeutungen mit seiner späteren ‚Analytik des Erhabenen‘ springen ins Auge. Natürlich unterscheiden sich Theorieanspruch und -anlage; gleichwohl finden sich alle wesentlichen Strukturmerkmale des alten metaphysisch-religiösen Begriffs wieder. In Anknüpfung an die eigene Naturmetaphysik ist Kants ‚Analytik‘ in erster Linie eine Theorie des Erhabenen in der Natur. Damit verändert sich gegenüber der alten poetologischen Tradition die Signatur der Kategorie: Sie löst sich von der überkommenen Logik der Veranschaulichung gegebener metaphysischer Wahrheiten und Wesenheiten zum Zweck religiöser Affekterregung.³⁵ Schon im letzten Kant-Zitat aus der Kosmogonie deutete sich die Umstellung an: Hier sind die geheimnisvollen Empfindungen angesichts einer bestimmten Naturerscheinung (des Sternenhimmels) gegeben – und lassen ihren metaphysischen Gehalt nur noch in einer „unnennbaren Sprache“ fühlbar werden. Kants ‚Analytik des Erhabenen‘ lässt sich als transzendentalphilosophische Enträtselung jener geheimnisvollen Empfindungen angesichts des Übergroßen und Übermächtigen in der Natur lesen. Berücksichtigt man die Theoriegeschichte, ist es nicht verwunderlich, dass Kant dabei auch auf das metaphysische Begriffsarsenal zurückgreift. Er tut dies freilich mehr oder weniger verdeckt und unter kritischen Bedingungen. Natürlich gelten Kant Gott, Unendlichkeit und Unsterblichkeit nicht mehr als unanschauliche objektive Wesenheiten und Wahrheiten, die im Erlebnis des Erhabenen anschaulich werden; sie sind ihm vielmehr unerkennbare, überschwängliche Ideen der Vernunft, deren „objektive Realität“³⁶ nicht aufgewiesen, sondern nur geglaubt und – eben im Erlebnis des Erhabenen – gefühlt werden kann. Sie bringen sich im besagten Gefühl aber nicht als bestimmte Ideen zur Geltung – es handelt sich ja um ein präreflexives Gefühl –, sondern in Gestalt eines unbestimmten Unbedingtheitsbewusstseins, in dem sich das Subjekt über die sinnliche Welt unsagbar erhoben wähnt. Vermögenspsychologisch formuliert ist das Erlebnis des Erhabenen also im Kern die „Erweckung des Gefühls eines übersinnlichen Vermögens in uns“³⁷. Es ist das Gefühl, mit der Vernunft als Vermögen der Ideen über die Endlichkeit hinauszureichen, wenngleich die sinnlichen Vermögen gänzlich an diese Sphäre gebunden bleiben. Insgesamt wird die Erhabenheitsidee im Rahmen der kritischen Philosophie einer tiefgreifenden Subjektivierung unterzogen, wohlgemerkt unter Einbeziehung der alten metaphysischen Implikationen. Als Gefühl des eigenen übersinnlichen
Vgl. ebd. Von besagter Stelle hat Otto auch seinen Begriff vom Gefühl als Hort „unausgewickelter Begriffe“ (KFR, 75; vgl. DH, 141.177) bezogen. Siehe dazu Martin Fritz, Vom Erhabenen (Anm. 5), bes. 230 – 283.356– 394. Vgl. z. B. KU, B 254. KU, B 172.
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Vermögens bezieht sich das Gefühl des Erhabenen eigentlich nicht auf eine externe Realität – wenn es auch durch äußere Eindrücke ausgelöst wird –, sondern es ist die Erweckung unbestimmter Absolutheitsideen im Gemüt und als solches das „Geistesgefühl“³⁸ der eigenen „übersinnlichen Bestimmung“³⁹. Kant hat die reflexive Unbestimmtheit des Erhabenheitsgefühls hervorgehoben. Andererseits konnte er sich einer bestimmteren Ausdeutung schon aus systematischem Interesse doch nicht enthalten, und so hat er das Gefühl der „übersinnlichen Bestimmung“ im Sinne seiner Moralphilosophie ausgemünzt und eng mit der Idee der Freiheit verknüpft. Aber unübersehbar sind auch die alten metaphysisch-religiösen Motive noch wirksam – was nicht zuletzt in gewissen religiösen Nebentönen anklingt, etwa in der überkommenen Wendung vom „heiligen Schauer“⁴⁰ des Erhabenen. Kants ethische Akzentuierung des Erhabenen wurde von verschiedenen Kantianern übernommen, am prominentesten von Schiller. Andere haben die metaphysisch-religiöse Grundierung bei Kant gesehen und den Begriff entsprechend profiliert, z. B. Hegel. Für die Otto-Interpretation ist diesbezüglich vor allem Jakob Friedrich Fries einschlägig. Zwei Dinge scheinen mir im Hinblick auf Otto besonders wichtig zu sein. Erstens hat Fries, wie gesagt, die religiöse Dimension des Erhabenen herausgestrichen. Das Erhabene gibt für ihn, mehr noch als das Schöne, das Grundschema seiner Theorie religiösen Erlebens ab, nämlich als Inbegriff der Präsenz unbestimmter metaphysisch-religiöser Ideen im Gefühl. Im Erhabenen wird das Subjekt vom „Geheimniß des Uebersinnlichen“⁴¹ berührt, es fühlt an einer endlichen Anschauung gleichsam den Schatten des Unendlichen. Mit dieser Kant-Belehnung ist eine weitreichende religionstheoretische Weichenstellung verbunden, die unmittelbar an Schleiermacher erinnert, nämlich die Prävalenz des begrifflich unbestimmten religiösen Gefühls vor den konkreten Glaubensvorstellungen. Die „Ahndung des Ewigen im Endlichen“⁴² kann sich in bestimmten religiösen Vorstellungen aussprechen, sie muss aber nicht. Zweitens gibt es eine wichtige Korrektur im Detail: Während für Kant das Scheitern der sinnlichen Gemütsvermögen an der jeweiligen Anschauung den Zugang zum Erhabenheitsbewusstsein eröffnet, ist für Fries dabei eine gewisse „Analogie“ zwischen der Anschauung mit den Absolutheitsideen die maßgebliche
KU, Einleitung, XLVIII. KU, B 98. KU, B 117. Jakob Friedrich Fries, Neue oder anthropologische Kritik der Vernunft, Heidelberg 1828 – 31, Bd. 3 (1831), 323 f. Ders., Wissen, Glaube und Ahndung (1805), hg.v. Leonard Nelson, Göttingen 1931, 176 u. ö.
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Bedingung für das Unbedingtheitserlebnis.⁴³ Beispielsweise ist alles, was irgendetwas Wunderhaftes oder Geheimnisvolles an sich hat, geeignet, vom Gefühl als „Bild“⁴⁴ oder „Symbol“⁴⁵ für das Geheimnis des Übersinnlichen gedeutet zu werden. Dieser Analogiegedanke bringt gegenüber der sehr speziellen Fassung des Mathematisch- wie des Dynamisch-Erhabenen bei Kant eine ungemeine Flexibilisierung und Erweiterung, gerade auch im Blick auf die Erhabenheit und mithin die religiöse Valenz der Kunst.
3 Otto als Erbe der Kant-Fries’schen Erhabenheitstheorie Es ist deutlich geworden, dass der Begriff des Erhabenen bei maßgeblichen Autoren der Theorietradition selbst ins Religiöse hinüberspielt. In seiner kantischfriesischen Fassung bezeichnet er die wundersame Erfahrung, sich angesichts einer extraordinären Anschauung in Natur oder Kunst innerlich erhoben zu fühlen, weil diese Anschauung aufgrund einer gewissen Analogie für das Gemüt zum Aufschein des Unbedingten, Unendlichen, Übersinnlichen wird. Die geschilderte Erhabenheitsidee hat auf Rudolf Otto offenbar keinen geringen Eindruck gemacht. Das bezeugt die Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie (1909). Dort heißt es innerhalb des Referats der Fries’schen Ahndungslehre, die als maßgebliches Grundmodell einer Theorie religiösen Erlebens vorgestellt wird: „Noch viel eindringlicher als beim Schönen wird alles dieses bei den Erlebnissen des Erhabenen. Das Erleben des Erhabenen trägt den Charakter der Ahnung des Unaussprechlichen, der Subsumtion unter die religiösen Ideen so unwidersprechlich an sich, daß darüber auch wohl nie Streit gewesen ist.“⁴⁶
Es folgt eine Darstellung von Fries’ Erhabenheitstheorie.Wenig später weist Otto in einer Anmerkung darauf hin, dass sich Fries mit seiner Ahndungslehre zu Recht auf Kant stützen konnte:
Vgl. die entsprechende Kant-Kritik in: Ders., Neue oder anthropologische Kritik (Anm. 41), 332 f. Für Fries ist im Mathematisch-Erhabenen der Natur nicht das übermäßig, inkommensurabel Große, das wir „wegen seiner Größe nicht übersehen“, sondern das Große, sofern wir es „nur eben noch übersehen können“ (332; Hvhg. M.F.), der auslösende Gegenstand. A.a.O. 333. A.a.O. 323. KFR, 120.
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„Fries’ Lehre gründet durchaus in Kants Kritik der Urteilskraft. […] Besonders Kants Kapitel über das Erhabene kommen hier in Frage, in denen seine große Ideenlehre viel echtere Keime einer Religionslehre ansetzt, als jene Gewalt- und Kunstprodukte, die die Postulatenlehre hervorgebracht hatte.“⁴⁷
Dass auch Otto in Kants ‚Analytik des Erhabenen‘ „Keime einer Religionslehre“ erblickt hat, ist bemerkenswert. Die Äußerung nährt die Vermutung, dass er selbst jene „Keime“ für seine eigene Religionstheorie fruchtbar gemacht hat. Tatsächlich finden sich im Kant-Fries-Buch noch weitere Hinweise für diese Annahme. An einer Stelle verteidigt Otto Fries gegen den Vorwurf einer Ästhetisierung der Religion. Eher noch sei ihm eine „Religionisierung“⁴⁸ des Ästhetischen vorzuwerfen: „Denn allerdings geht darauf das Ergebnis seiner Untersuchung hinaus, daß das Tiefere im ästhetischen Eindruck, das, was sich über den ‚kalten Geschmack‘ erhebt zum lebendigen Gefühle des Schönen und Erhabenen, in der Tat religiöser Natur ist. Und wie will man dem widersprechen?“⁴⁹
Die rhetorische Frage verrät bei Otto einen Sinn für Fries’ „ästhetisch-religiöse Weltansicht“, die das religiöse Erleben in Weiterbildung von Kants Ästhetik primär als metaphysische Tiefendimension von Kunst- und Naturbetrachtung gefasst hat. Die Fortsetzung der Passage führt allerdings über Fries hinaus: „Es handelt sich hier aber für uns ganz allgemein um die Tatsache, daß von Dingen, Ereignissen, Personen, Daseiendem und Geschehendem überhaupt Eindrücke auf unser Gemüt ausgehen können, in denen das in ihnen anschaulich Aufgefaßte weit hinausgeht über ihren ‚Begriff‘, über das, was das Einzelne nach Begriffen darstellt. Solche Dinge sind mehr, als wir doch sagen können. Und dies Mehr verschwindet nicht, so vollkommen wir sie auch klassifizieren oder nach Ursachen begreifen. Was hier gesagt ist, läßt sich ohne weiteres verdeutlichen an jedem Beispiele eines Gegenstandes, den wir schön und erhaben nennen.“⁵⁰
Der Abschnitt macht deutlich, dass sich Otto die Fries’sche Ahndungslehre im Modus der Verallgemeinerung angeeignet hat. Was Fries an Kunst und ästhetischer Naturbetrachtung entwickelt hat, soll „ganz allgemein“ gelten: Dinge und Geschehnisse „überhaupt“ können in einer Weise begegnen, dass an ihnen eine metaphysische Dimension aufscheint, die den Verstandeszugriff auf die Dinge unterläuft, indem an ihnen das „Gefühl der Abgrundtiefe und des Geheimnisses
KFR, 122. Vgl. KFR, 113. Ebd. Ebd.
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von Dasein und Welt überhaupt“⁵¹ entsteht. Die ästhetische Erfahrung des Schönen, vor allem aber des Erhabenen wird von Otto als Exempel für solcherlei metaphysisch-religiöse Ahndung angeführt – aber nun eben nur noch als Exempel, nicht mehr als Inbegriff. In Anknüpfung an die Kant-Fries’sche Analyse der ästhetischen Urteile spricht Otto dem Gemüt das Vermögen zu, die Dinge im Gefühl auf jene übersinnliche Dimension der Wirklichkeit hin zu bewerten, sofern sie, so darf man ergänzen, irgendeinen Anhalt für diesen Symbolisierungsakt bieten, nämlich irgendeine Analogie zum Geheimnisvoll-Übersinnlichen, Unendlichen, Unbedingten. Dass für diese allgemeine religiöse Deutungsfunktion des Gefühls in erster Linie die Erhabenheitstheorie Modell gestanden hat und weniger die Theorie des Schönen, zeigen nicht nur die angeführten Zitate, sondern auch die wesentlich größeren strukturellen Entsprechungen, etwa in der Inanspruchnahme metaphysischer Ideen.⁵² So lautet mein Zwischenfazit: Otto hat seinen Begriff des religiösen Gefühls in der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie in wesentlichen Gesichtspunkten an der kantisch-friesischen Analyse des erhabenen Gefühls ausgebildet. Doch was bedeutet dieser Befund für das Hauptwerk und seinen Schlüsselbegriff, das Numinose? Hält sich auch hier die beschriebene Abhängigkeit durch, oder handelt es sich um eine genuine Neubildung, welche die kantischen Wurzeln hinter sich lässt? Damit ist die Frage nach dem Verhältnis von Ottos „reifer“ Religionstheorie zur transzendentalphilosophisch geprägten Frühform angesprochen. Ein Schlüssel für dieses Problem dürfte in der Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundt zu suchen sein, die sich unmittelbar nach dem Kant-Fries-Buch in zwei Rezensionen von 1910 niedergeschlagen hat.⁵³ Otto hat bei Wundt die religionsgeschichtliche Anwendung eines friesianischen Religionsbegriffs vorgefunden – und musste feststellen, dass sich dieser Religionsbegriff dafür nur schlecht eignet.Wundt nämlich gelingt es nicht, den kantisch-friesisch gefassten Wesenskern der Religion – das menschliche „Gefühl des Übersinnlichen und der in diesem wirkenden Idee des Absoluten oder Unendlichen“⁵⁴ – bereits in den frühesten Anfängen der Religion nachzuweisen. Darum muss KFR, 116. Der religionsphilosophische Anschluss an Kants Theorie des Erhabenen liegt insofern näher, als hier – anders als beim Schönen, das auf eine Subsumtion unter unbestimmte Verstandesbegriffe zurückgeführt wird – die Unbedingtheitsideen der Vernunft unmittelbar thematisch sind. Das Schöne hat erst sekundär, nämlich über das Teleologiethema, religionsphilosophisches Potential. Otto nimmt es auf, indem er das Gefühl des Schönen in seiner Tiefendimension als „Bewußtsein um einen Sinn überhaupt“ (KFR, 119) versteht. Rudolf Otto, Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie, in: ThR 13 (1910), 251– 275; Ders., Mythus und Religion nach W. Wundt, in: DLZ 31 (1910), 2373 – 2382. A.a.O. 2379.
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er diese Anfänge zur „Vor-Religion“ degradieren und die Religion im Vollsinn daraus „heterogonisch“⁵⁵ hervorgehen lassen. Einen maßgeblichen Grund für Wundts Scheitern erblickt Otto in der hochgradigen „Vergeistigung“⁵⁶ von dessen Religionskonzept, die eine Anwendung auf archaische Religionsformen verhindert.Wundt hat sich nicht darum bemüht, seinen Religionsbegriff für den religionsgeschichtlichen Einsatz von den hochstufigen idealistischen Voraussetzungen zu lösen, die ihm von Fries und Kant her anhängen. Wie bereits erwähnt definiert Wundt Religion mit Fries als „Gefühl des Übersinnlichen und der in diesem wirkenden Idee des Absoluten oder Unendlichen“⁵⁷ oder auch als „Gefühl der Zugehörigkeit des Menschen und der ihn umgebenden Welt zu einer übersinnlichen Welt, in der er sich die Ideale verwirklicht denkt, die ihm als höchste Ziele des Menschen erscheinen“⁵⁸ – Bestimmungen, mit denen sich etwa eine kultische „Menschenfresserei“⁵⁹ kaum adäquat beschreiben lässt. Daraus hat Otto Konsequenzen gezogen. Sein Verfahren in Das Heilige lässt sich vor diesem Hintergrund als Versuch begreifen, seine kantisch-friesische Auffassung vom religiösen Erleben so zu elementarisieren, dass sie sich auf die gesamte Religionsgeschichte beziehen lässt, einschließlich der „Religion der Primitiven“⁶⁰. Zu diesem Zweck verfertigt Otto nach der Vorlage der Fries’schen ‚Ahndung‘ gleichsam eine religionstheoretische Schablone, die zuerst um deren metaphysische Implikationen beschnitten und dann religionsgeschichtlich und religionspsychologisch angereichert wird – das Ergebnis ist das ‚Numinose‘. Meine werkgeschichtliche These lautet also: Wie Otto seinen frühen Begriff des religiösen Erlebens, der religiösen „Ahndung“, ehedem im Wesentlichen auf dem Wege der Verallgemeinerung des kantisch-friesischen Erhabenheitskonzepts gewonnen hat, so ist der Begriff des Numinosen seiner Grundstruktur nach auf dem Wege der Elementarisierung jener religiösen Ahndung entstanden. Folglich kommt das Numinose im Kern einem religionstheoretisch verallgemeinerten und metaphysisch „verschlankten“ Erhabenen gleich.Von einer „Zufallsähnlichkeit“ kann somit in der Tat schon aus theoriegeschichtlichen Gründen nicht die Rede sein. Vielmehr hat die kantisch-friesische Erhabenheitstheorie selbst als ein konstitutives Element in der komplexen Genese von Ottos Begriff des Numinosen zu gelten.
Vgl. a.a.O. 2380 f; Rudolf Otto, Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie (Anm. 53), 265. Rudolf Otto, Mythus und Religion nach W. Wundt (Anm. 53), 2379. A.a.O. 2380. A.a.O. 2379. Rudolf Otto, Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie (Anm. 53), 267. DH, 31.
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Genauer handelt es sich bei dem behaupteten Elementarisierungs- oder Primitivierungsvorgang erstens um eine „Abblendung“ bzw. Abspaltung der absolutheitstheoretischen Implikationen der Ahndungstheorie. Das lässt sich gut an einer der zitierten Religionsdefinitionen Wundts illustrieren: Die Friesianer Wundt und Otto sehen das Wesen der Religion in „der Idee und dem Gefühl des Übersinnlichen und der in diesem wirkenden Idee des Absoluten oder Unendlichen“⁶¹. Von diesem Wesensbegriff bleibt beim Numinosen nur noch das Gefühl des Übersinnlichen bzw. des „Uebernatürlichen“⁶² oder „Überweltlichen“⁶³ übrig, oder einfach: das „Gefühl des ‚Ganz anderen‘“⁶⁴. Es werden die absolutheitsphilosophischen Momente, die sowohl in der kantischen Erhabenheitstheorie wie in der friesischen Ahndungstheorie prominent sind, im Begriff des Numinosen unterdrückt, weil sie für die Anfänge der Religionsgeschichte, aber auch für den intendierten psychologischen Zugang zur Religion zu voraussetzungsreich erscheinen. Zweitens wird das religiöse Erleben als Objektgefühl und näher als „Realitätsgefühl“⁶⁵ akzentuiert. Die Vergeistigung, die vor allem die kantische Subjektivierung ins Erhabenheitserlebnis gebracht hatte, wird rückgängig gemacht, indem die Ahnung der eigenen „Zugehörigkeit zu einer überweltlich-geistigen Realität“⁶⁶ zur Ahnung der Gegenwart eines „ganz anderen Etwas“, eines numen, vergegenständlicht wird. Was das Verhältnis von früher und später Religionstheorie bei Otto betrifft, könnte man die Ausbildung dieses archaisierten Begriffs „irrationalen“ religiösen Erlebens als „radikalen Umschlag“⁶⁷ oder „totalen Frontwechsel“⁶⁸ gegenüber der kantisch-friesischen Ahndungslehre verstehen. Dazu dürften allerdings die Kontinuitätslinien doch zu dominant sein. Im Lichte der Wundt-Auseinandersetzung scheint eine der Ursprungsintentionen des Numinosen darin zu liegen, die friesische ‚Ahndung‘ religionsgeschichtlich anschlussfähig zu machen, indem sie als elementarer anthropologischer und menschheitsgeschichtlicher Keim der Religion ausgewiesen wird, der im Laufe der folgenden Entwicklung durchaus auf vergeistigtere Stufen der Religion zutreibt. Dazu werden zwar die absolutheitstheoretischen Voraussetzungen der ‚Ahndung‘ abgeblendet, aber die transzendentalphilosophi Rudolf Otto, Mythus und Religion nach W. Wundt (Anm. 53), 2380 (Hervorhebung M.F.). Rudolf Otto, Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie (Anm. 53), 263; vgl. DH, 34. Vgl. GÜ; vgl. DH, 34. DH, 32. DH, 11. Rudolf Otto, Mythus und Religion nach W. Wundt (Anm. 53), 2379. Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992, 113. Ernst Troeltsch, Zur Religionsphilosophie. Aus Anlaß des Buches von Rudolf Otto über „Das Heilige“ (Breslau 1917), in: KantSt 23 (1919), 65 – 76.76.
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sche Grundanlage des Begriffs bleibt erhalten. Auch die vernunfttheoretische Fundierung steht weiterhin schemenhaft im Hintergrund. Nur sind es nicht mehr die Unbedingtheitsideen der theoretischen oder praktischen Vernunft, die sich im religiösen Gefühl aktualisieren, sondern eine dunkle Idee des Übersinnlichen überhaupt, die im numinosen Erleben aus dem „Seelengrund“⁶⁹ hervorbricht. Jene bestimmten Unbedingtheitsideen der Vernunft werden dann freilich wieder vermittels der Komplexkategorie des Heiligen als der Rationalisierungsgestalt des Numinosen in den Religionsbegriff reintegriert,⁷⁰ so dass die das „Irrationale“ und das „Rationale“ ausbalancierende Vollgestalt des religiösen Erlebens der kantisch-friesischen ‚Ahndung‘ doch wieder auffallend ähnlich sieht.
4 Zur religionstheoretischen Valenz des Erhabenen Die aufgewiesenen Bezüge zwischen dem Numinosem und dem Erhabenen eröffnen – abgesehen von den werkgeschichtlichen Fragen – auch eine systematische Perspektive. Geht man von der doppelten Einsicht aus, dass dem Erhabenheitsbegriff seit jeher eine metaphysisch-religiöse Erlebnisdimension eingeschrieben ist und dass das Numinose selbst gewissermaßen eine religionstheoretische Abstraktion und religionsgeschichtliche Rückprojektion des Erhabenen darstellt, dann ist es alles andere als plausibel, das Erhabene wie Otto in Das Heilige als ästhetische Parallelerscheinung „neben“ dem Numinosen zu lokalisieren. Stattdessen steht es ebenfalls für eine begriffslose Erfahrung des Übersinnlichen, allerdings in einer gegenüber dem Numinosen „vergeistigten“ Gestalt. Typisch für das fragliche religiöse Erleben wäre gerade die dem Erhabenen von Kant eingeschriebene Subjektivierung: Hier wird nicht die reale Gegenwart eines numen erlebt, sondern eine „Erhebung der Seele“, die das Bewusstsein subjektiven Vermitteltseins in sich trägt. Im Gefühl des Erhabenen fühle ich mich angesichts eines großen, geheimnisvollen, feierlichen Eindrucks innerlich bewegt, aber ich bin mir dessen bewusst, dass diese Ergriffenheit meinem Geist entstammt. Im Bewusstsein meiner Endlichkeit fühle ich mich über sie zugleich erhoben, aber dieses Gefühl entbehrt eines jeden externen Halts; zu seiner Beglaubigung dient allein ein fragiles subjektives „Wahrheitsgefühl“ (Fries).
DH, 139. Vgl. bes. DH, 137.
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Ich folge mit diesen Andeutungen Ottos Notiz, „Kants Kapitel über das Erhabene“ trügen ernstzunehmende „Keime einer Religionslehre“ in sich.⁷¹ Meines Erachtens enthalten sie tatsächlich Keime einer Theorie religiösen Erlebens, und zwar eines religiösen Erlebens spezifisch modernen Charakters, das sich von der Archaik des Numinosen deutlich abhebt. Das Bestreben, das zeitgenössische Christentum durch die Konfrontation mit urtümlicher Religion zu neuer, entsprechend urtümlicher Erlebniskraft zu erwecken, hat zwar sicher wesentlich zum Erfolg von Ottos Das Heilige beigetragen. Es mag dennoch zweifelhaft erscheinen, ob sich gegenwärtige Religion mit solchen Archaisierungsstrategien dauerhaft befeuern lässt. Zu sehr drängt sich die Frage auf, ob sich die von Otto in normativer Absicht vorgeführte Frömmigkeit von religiösen Subjekten der Gegenwart überhaupt authentisch aneignen lässt – oder lediglich in Akten künstlicher „Anempfindung“ (Ulrich Barth). Unter aufgeklärten Bedingungen ist das religiöse Grunderlebnis wohl weniger als Erschaudern vor dem „Geheimnis erlebter Gottheit“⁷² zu fassen denn als „Gefühl der Abgrundtiefe und des Geheimnisses von Dasein und Welt überhaupt“⁷³. Muss man also zwar die religionsgeschichtliche und -psychologische Beschreibungsleistung sowie den sprachästhetischen Erlebniswert von Das Heilige höher veranschlagen, so ist doch in modernitätstheoretischer Hinsicht Ottos Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie, die sich noch ungebrochener an Kants Ästhetik des Erhabenen anlehnt, gegenüber dem Hauptwerk als das avanciertere Buch einzustufen. Wer diese Ansicht teilt, dem empfiehlt sich zur Bezeichnung jenes subjektivierten religiösen „Ahndens“ eben jenes kategoriale Urbild des Numinosen und des Heiligen, von dem auch Ottos religionstheoretisches Denken ausgegangen ist: das Erhabene.
KFR, 122 (s.o.). DH, 43. KFR, 116.
Annika Schlitte
Heilige Orte – Orte des Erhabenen? Überlegungen zu einem Berührungspunkt von Naturästhetik und Religionsphilosophie bei Kant und Otto
1 Das Erhabene als Ortserfahrung Wenn in Bezug auf die Natur vom Erhabenen die Rede ist, stellen sich in unserer Vorstellung unweigerlich Bilder bestimmter Landschaftsformationen ein: die einsamen Felswüsten des Hochgebirges, tosende Wasserfälle, der weite Ozean und dergleichen mehr. Kunst und Literatur haben zur Entstehung dieser Bilder maßgeblich beigetragen, so dass man hier von kulturell vermittelten topoi sprechen könnte. Versteht man topos einmal wörtlich, führt dies zu der Frage, um die es im Folgenden gehen soll, nämlich der Frage nach dem Ort des Erhabenen. Während Vorgänge wie die Erschließung der Alpen als Einflussfaktoren auf die philosophische Theoriebildung zum Erhabenen früh erkannt wurden,¹ ist doch innerhalb der Theorie wenig darüber reflektiert worden, welche Rolle der Ort insgesamt bei besagter Erfahrung spielt. Hier soll daher vorgeschlagen werden, die Erfahrung des Erhabenen explizit als Ortserfahrung zu verstehen, um sie auf diese Weise als eine besondere Form der Mensch-Natur-Beziehung beschreiben zu können. „Ort“ tritt als philosophische Kategorie in jüngster Zeit bei Autoren hervor,welche damit an eine Tradition innerhalb der Phänomenologie anknüpfen, die von einer Unterscheidung zwischen dem abstrakten, homogenen und isotropen Raum der modernen Naturwissenschaft und dem konkreten, leiblich zugänglichen, mit Bedeutung erfüllten, „erlebten Raum“ unserer Lebenswelt ausgeht, der hier mit dem Terminus „Ort“ belegt wird. Orte sind in diesem insbesondere am amerikanischen Philosophen Edward Casey orientierten Verständnis nicht bloße Punkte im Raum, sondern unsere Erfahrung wesentlich strukturierende Sinneinheiten.² Die Verbindung des Naturerhabenen mit der Ortsthematik bietet sich zum einen deshalb an, da sich zeigen lässt, dass diese Denkfigur in ihren verschiedenen Ausprägungen vielfach mit der Erfahrung eines bestimmten Ortes ver-
Vgl. Marjorie Hope Nicolson, Mountain Gloom and Mountain Glory. The Development of the Aesthetics of the Infinite (1959), Seattle/London 1997. Vgl. Edward S. Casey, Getting Back into Place. Towards a Renewed Understanding of the Place World, Bloomington 22009; Ders., The Fate of Place. A Philosophical History, Berkeley/Los Angeles/London 1997; Jeffrey E. Malpas, Place and Experience. A Philosophical Topography, New York 1999.
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bunden ist.³ Zum anderen begegnet ein Ansatz, welcher die Bedeutung des Ortes als Vermittlungsmoment betont, einer dem Naturerhabenen stets innewohnenden Schwierigkeit: Wenn das Erhabene eine bestimmte Erfahrung darstellen soll, die für unsere Naturbeziehung relevant ist, so darf es weder als objektive Eigenschaft der Natur noch als bloß subjektives Phänomen betrachtet werden, für das die Natur selbst völlig unerheblich ist.⁴ Das Erhabene müsste sich vielmehr in der Beziehung zwischen Mensch und Natur abspielen, und zwar so, dass die Natur in dieser Beziehung als etwas Anderes erfahrbar wird. Spätestens hier wird die religiöse Interpretation des Erhabenen interessant,⁵ welche dieses in die Nähe der Erfahrung des Numinosen rücken lässt, wie Rudolf Otto sie beschreibt. Im Folgenden sollen daher einige wesentliche Vergleichspunkte zwischen Kants Analytik des Erhabenen in der Kritik der Urteilskraft und Rudolf Ottos Analyse des Numinosen in seiner Schrift über Das Heilige herausgearbeitet werden, um abschließend Verbindungen zwischen der Theorie des Heiligen und einer Theorie des Ortes zu betrachten, wie sie in der an Otto anschließenden Religionsphänomenologie sichtbar werden.
2 Kants Analytik des Erhabenen und das Heilige bei Rudolf Otto Auch wenn das Kantische Erhabene hauptsächlich als Beitrag zur Ästhetik rezipiert worden ist, sind die Bezüge zu dessen ethischer und religiöser Dimension in der
Ursprünglich war das griechische hypsos (ὕψος) „einfach nur etwas, das sich abhebt, also eine Anhöhe etwa, dann auch die Höhe selbst“, Craig Kallendorf/Christine Pries/Carsten Zelle, Das Erhabene, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, hg. von Gert Ueding, Bd. 2, Tübingen 1994, 1357– 1389; hier 1357. Zur Begriffsgeschichte vgl. außerdem Werner Strube: ,Schönes und Erhabenes. Zur Vorgeschichte und Etablierung der wichtigsten Einteilung ästhetischer Qualitäten, in: Archiv für Begriffsgeschichte 47 (2005), 25 – 59. Vgl. zu diesem Problem: Edward S. Casey, Ortsbeschreibungen. Landschaftsmalerei und Kartographie, München 2006; zur Frage nach dem Ort des Erhabenen vgl. Ders., The Place of the Sublime, in: Passion for Place, hg.v. Anna-Teresa Tymieniecka, Bd. 2, Dordrecht u. a. 1997, 71– 85. Martin Fritz hat, u. a. gegen einige Tendenzen der postmodernen Diskussion über das Erhabene, in jüngster Zeit zu Recht wieder auf diese lange Traditionslinie aufmerksam gemacht; vgl. Martin Fritz, Vom Erhabenen. Der Traktat ‚Peri Hypsous‘ und seine ästhetisch-religiöse Renaissance im 18. Jahrhundert, Tübingen 2011; dagegen weist Christine Pries in ihrem wichtigen Beitrag die metaphysischen Implikationen des Begriffs explizit zurück; vgl. Christine Pries, Übergänge ohne Brücken. Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik, Berlin 1995.
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Kritik der Urteilskraft keineswegs getilgt.⁶ Dies zeigt sich einerseits an der Wortwahl, wenn Kant beispielsweise von einem „heiligen Schauer“ spricht, der sich allerdings beim Anblick „himmelansteigender Gebirgsmassen“⁷ einstellt, und andererseits an den Beispielen aus der religiösen Praxis, die noch genauer zu untersuchen wären.⁸ Hinzu kommt, dass hinter Kants Beschäftigung mit dem Schönen und Erhabenen ein praktisches Interesse steht, nämlich das an einer möglichen Verbindung von Natur und Freiheit. Analytisch sind Ästhetik und Moralphilosophie zwar strikt zu trennen, sachlich hängen sie aber doch zusammen.⁹ Eine direkte Parallele zwischen der Analytik des Erhabenen in der KU und seiner Analyse des Gefühls des Numinosen wird von Rudolf Otto selbst gezogen und ist auch schon mehrfach behandelt worden.¹⁰ Gleichwohl bemüht er sich zunächst, die Ähnlichkeiten abzuschwächen, indem er schreibt, das Erhabene sei „nur ein blasser Widerschein unserer Sache und obendrein selber etwas schwer Auflösbares“.¹¹ Es dient ihm auch erst nur als Beispiel für eine Erfahrung, von der aus ein Übergang zum Heiligen erfolgen kann, später bezeichnet er es jedoch als „Schema des Heiligen“¹² und stellt keine bloß zufällige Übereinstimmung, sondern „eine verborgene Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit“¹³ fest. Geht man der Frage nach, worin diese Verwandtschaft im Hinblick auf Kant und Otto inhaltlich besteht, sind fünf Punkte hervorzuheben, die nun erläutert werden sollen.
2.1 Das Erhabene als Gefühl Nachdem Kant in den ersten beiden Kritiken das Erkenntnisvermögen und das Begehrungsvermögen einer kritischen Prüfung hinsichtlich ihrer apriorischen Grundlagen unterzogen hat, dreht sich die dritte Kritik um das Gefühl, das hier allerdings auf Lust und Unlust reduziert wird. Im Prinzip der Zweckmäßigkeit als subjektiver Regel der Urteilskraft findet Kant hier das lange gesuchte Bindeglied
Zu den Bezügen zum Erhabenen in Kants Frühwerk vgl. den Beitrag von Martin Fritz in diesem Band. Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft (=KU), 269; Seitenzahlen von Kants Werken beziehen sich auf die Akademieausgabe, Bd. V. So führt er zum Beispiel das Bilderverbot als Beispiel erhabener Rede an; vgl. KU, 274. Vgl. Birgit Recki, Ästhetik der Sitten. Die Affinität von ästhetischem Gefühl und praktischer Vernunft bei Kant, Frankfurt a. M. 2001. Vgl. DH, 56. Zum Erhabenen vgl. z. B. William B. Hund, Kant and A. Lazaroff on the Sublime, in: Kant-Studien 73, Nr. 3 (1982), 351– 355. DH, 56. DH, 62. DH, 82.
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zwischen Natur und Freiheit. Das Vermögen, die formale Zweckmäßigkeit der Natur durch das Lust/Unlust-Gefühl zu beurteilen, wird in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft behandelt. Dabei ist die ästhetische Erfahrung ein besonderes Gefühl, das sich von anderen Formen des Wohlgefallens – dem am Angenehmen und dem am Guten – insofern unterscheidet, als es weder rein privat noch streng allgemeingültig ist, sondern einen Anspruch auf „subjektive Allgemeinheit“ mit sich führt und somit zwischen beiden steht. Dass das Urteil über das Schöne nicht ganz in der Privatheit verbleibt, liegt daran, dass es mit einem Reflexionsprozess verbunden ist, der jedem offensteht – nämlich dem vielzitierten „freien Spiel“ der Erkenntniskräfte Einbildungskraft und Verstand. Obwohl diese Reflexion keinen Abschluss in Form einer Gegenstandserkenntnis findet, ist die Betrachtung des Schönen mit einer Lust verbunden, die daraus resultiert, dass das Subjekt ein Interesse an dem Zusammenspiel dieser seiner Erkenntniskräfte hat, auch weil es ihn von ihrer Tauglichkeit zur Erkenntnis insgesamt überzeugt. Somit ist das ästhetische Urteil zwar mit einem Lustgefühl verbunden, die Stoßrichtung dieses Gefühls bei Kant ist jedoch alles andere als „irrational“ im später gebräuchlichen Sinne.¹⁴ Dies gilt, wenngleich in anderer Weise, für das Erhabene, die zweite Form des ästhetischen Urteils, denn hier geht es um eine bloß „negative Lust“ und, wie wir noch sehen werden, eher eine Disharmonie der beteiligten Vermögen.Während die Lust am Schönen aus der Zweckmäßigkeit eines Gegenstands für die Vorstellung erwächst, ist das Erhabene gerade zweckwidrig, weil es die Einbildungskraft übersteigt, und führt so in einem ersten Schritt zu einem Unlustgefühl. Das Erhabene ist mit den Mitteln der Einbildungskraft nicht fassbar und kränkt so das Vermögen der Einbildungskraft. Allerdings führt diese Kränkung zur Intervention der Vernunft, die das Subjekt an das Vermögen der Ideen erinnert, welches über die Beschränkungen der Sinnlichkeit hinauszustreben vermag. Erhaben ist dabei letztlich nicht der Gegenstand in der Natur, sondern das vernünftige Subjekt, das sich seiner Bestimmung bewusst wird. Auf diese Weise wäre auch das Erhabene nichts „Irrationales“, sondern Ausdruck der Überlegenheit der Vernunft. Rudolf Ottos erklärte Absicht ist es dagegen, mit der Analyse des Heiligen das irrationale Moment der Religion zu erfassen und in seinem Verhältnis zum Rationalen zu klären, da das rationale Moment des Göttlichen nicht im Stande sei, dieses erschöpfend zu fassen. Irrational soll aber auch hier nicht das „Dumpfe Dumme“,¹⁵ Vor-Rationale genannt werden, sondern dasjenige, das den Bereich des begrifflich Fassbaren übersteigt. Otto spricht nun vom „Heiligen“ als religiöser Grundkategorie, Vgl. Silvie Rücker, Irrational, das Irrationale, Irrationalismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg.v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Bd. 4, Basel/Stuttgart 1976, 583 – 588. DH, 75.
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doch was er im Hinblick auf die Religion sucht und als das Numinose bezeichnet, ist „das Heilige minus seines sittlichen Momentes“ bzw. „minus seines rationalen Momentes überhaupt“.¹⁶ Da das Numinose selbst irrational ist, kann es nicht begrifflich expliziert, sondern nur beschrieben werden durch die besondere Wirkung, die es auf das Gemüt ausübt. Es sei nun also nicht schlechthin unerkennbar, sondern gefühlsmäßig erfahrbar.¹⁷ Indem er jedoch anders als Kant von der Möglichkeit einer gefühlsvermittelten Erkenntnis ausgeht, lehnt sich Otto eng an Fries’ Erweiterung der Kantischen Erkenntnisformen um das Vermögen der religiös gefärbten Ahndung¹⁸ an, auf welches er sich schon in der KFR bezogen hatte. Dem Objektgefühl, das sich angesichts des Ganz Anderen einstellt, entspricht auf der Seite des Subjekts eine spezifische Selbsterfahrung, die Otto „Kreaturgefühl“ nennt und von Schleiermachers Gefühl „schlechthinniger Abhängigkeit“ abgrenzt. Schleiermacher verkenne, dass die Begegnung mit dem Numinosen zuallererst die Erfahrung eines übermächtigen Objekts sei und erst daraufhin zum Gefühl der eigenen (jedoch nicht sittlichen) Unzulänglichkeit führe. Otto beschreibt das Kreaturgefühl als „das Gefühl der Kreatur die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem was über aller Kreatur ist“.¹⁹ Im Gegensatz zu Schleiermacher sucht er im Numinosen ein objektbezogenes Gefühl, dem „das Kreaturgefühl als sein Schatten im Selbst-gefühle erst sekundär folgt“.²⁰ Wenn sich schon hier eine Zweiteilung in eine objektive und eine subjektive Seite zeigt, so ist des Weiteren festzustellen, dass auch die objektive Seite, das Numinose selbst, bei Otto als zweigeteilt dargestellt wird, indem es zwei gegensätzliche Momente vereinigt, womit sich die nächste Parallele zum Erhabenen ergibt.
2.2 Gemischte Gefühle: Kontrast-Harmonie (Otto) und negative Lust (Kant) Das Erhabene wird nämlich schon in der englischen Tradition als „gemischtes Gefühl“ beschrieben, so als „eine Art von frohem Schrecken“²¹ bei Burke. Es wurde
DH, 6. Vgl. DH, 164: „Es ist ‚unbegreiflich‘ ‚unfaßlich‘ ‚unerfaßlich‘ für den Verstand. Aber es ist erfahrbar dem ‚Gefühl‘.“ Vgl. Jakob F. Fries, Wissen, Glauben, Ahndung, Jena 1805, 176: „Die Erkenntnis durch reines Gefühl nenne ich Ahndung des Ewigen im Endlichen.“ DH, 10. DH, 13. Edmund Burke, Philosophische Untersuchung über den Ursprung unserer Ideen vom Erhabenen und Schönen, hg. von Werner Strube, Hamburg 1989, 176; der Ausdruck „delightful
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bereits darauf verwiesen, dass das Erhabene auch bei Kant eine deutliche negative Komponente hat. So erzeugt es zwar eine Lust, aber eine solche, „welche nur indirecte entspringt“,²² weil es die Lebenskräfte zunächst einmal hemmt. Im Gegensatz zur kontemplativen Erfahrung des Schönen ist das Erhabene dynamischer, das Subjekt wird von einer Bewegung ergriffen, vergleichbar „mit einer Erschütterung […], d.i. mit einem schnellwechselnden Abstoßen und Anziehen ebendesselben Objects“.²³ Während das Schöne also mit dem Leben verbunden ist, die Lebenskräfte fördert, steht das Erhabene dem Leben entgegen. Man kann die Erfahrung des Erhabenen daher auch als „negative Lust“ kennzeichnen, „indem das Gemüt von dem Gegenstande nicht bloß angezogen, sondern wechselweise auch immer wieder abgestoßen wird“.²⁴ Die Lust gibt es dabei nur zum Preis der Unlust.²⁵ Diese Ambivalenz des Erhabenen hängt bei Kant aber mit seinem Verständnis des Menschen als Doppelwesen zusammen, aus welchem dieser „Widerstreit“²⁶ letztlich entspringt: Während das Naturwesen der Macht der äußeren Natur erliegt, bleibt das Vernunftwesen unerniedrigt und wird sich seiner eigentlichen, höheren Bestimmung bewusst. Wie weitreichend die negative Komponente ist, zeigt sich an Formulierungen wie der, das Erhabene erinnere uns daran, dass in der Sittlichkeit „die Vernunft der Sinnlichkeit Gewalt anthun muß“.²⁷ Das Numinose wird von Otto ebenfalls als zweigeteilt dargestellt, indem es sowohl ein anziehendes, als auch ein abstoßendes Moment enthält, eben ein Mysterium tremendum et fascinosum ist. Als tiefste Schicht dieses Gefühls macht Otto das „Gefühl des mysterium tremendum, des schauervollen Geheimnisses“²⁸ aus, welches „etwas eigentümlich Anziehendes, Bestrickendes, Faszinierendes“ an sich hat, „das nun mit dem abdrängenden Momente des tremendum in eine seltsame Kontrast-harmonie tritt.“²⁹ Otto spricht von einer „Kontrast-Harmonie“ bzw. einem „Doppel-charakter“ und bemerkt selbst, „daß auch am Erhabenen jenes eigentümliche Doppelmoment eines zunächst abdrängenden und gleichzeitig doch wieder ungemein anziehenden Eindruckes auf das Gemüt“³⁰ zu er-
horrour“ findet sich zuvor bei John Dennis, The critical works of John Dennis, hg.v. Edward Niles Hooker, 2 Bde, Baltimore 1939/1943, Bd. 2, 380. KU, 245. KU, 258. KU, 245. D.h., „der Gegenstand wird als erhaben mit einer Lust aufgenommen, die nur vermittelst einer Unlust möglich ist“ (KU, 260). KU, 258. KU, 269. DH, 13. DH, 42. DH, 57.
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kennen ist. Das Erhabene wird für ihn dadurch zu einer Erfahrung, die geeignet ist, zum Gefühl für das Numinose anzuregen. Zu solchen Erfahrungen zählen aber noch weitere, die auch Kant im Kontext des Erhabenen erwähnt und die sich eng an den Bereich der Furcht anschließen.
2.3 Furcht und Sicherheit Kant unterscheidet das Mathematisch-Erhabene vom Dynamisch-Erhabenen, bei dem die übermächtige Natur den Menschen als Naturwesen bedroht. Um als dynamisch-erhaben beurteilt werden zu können, muss die Natur „als Furcht erregend vorgestellt werden“,³¹ gleichwohl darf der Betrachter sich nicht fürchten, weil er sonst eher davonlaufen würde als ein ästhetisches Lustgefühl zu entwickeln.³² Deshalb stellt sich die Lust am Erhabenen auch nur ein, wenn der Betrachter sich in Sicherheit weiß. Man kann aber etwas als furchtbar empfinden, ohne sich zu fürchten, und so sind die „Verwunderung“ und das „Grausen“ angesichts der wilden Natur „nicht wirkliche Furcht“,³³ sondern nur ein Versuch, sich auf diesen negativen Anreiz einzulassen, um sozusagen die Vernunft in uns hervorzulocken und ihren Triumph spürbar werden zu lassen. Das „tremendum“ verweist auch bei Otto auf die Furcht, ohne dass die Erfahrung bei ihr stehen bleibt; vielmehr ist das Gefühl des Numinosen nur analog zum Sich-Fürchten zu verstehen. Als Vor- und Unterstufen des Gefühls des Numinosen führt Otto das „Grauen“, dann das „Erschauern“ an; der „Schauer“ ist schließlich schon eng mit dem religiösen Bereich verbunden. Selbst wenn das numinose Gefühl voll entwickelt ist, sollen diese Vorstufen erhalten bleiben. Dem durch „mystisches Erschauern“³⁴ erzeugten Kreaturgefühl hätte Kant im Kontext der Ästhetik eher wenig Sympathie entgegengebracht, denn er beschreibt, wie das in der Religion angemessene Verhalten gegenüber der Gottheit, nämlich das „niederwerfen, Anbetung mit niederhängendem Haupte“ jegliches ästhetisches Gefühl verhindert.³⁵ Daran zeigt sich auch: Die Verbindung von Ästhetik und Religion ist sowohl bei Otto als auch bei Kant präsent, beide Bereiche werden in den expliziten Äußerungen aber eher getrennt.
KU, 260. KU, 261. KU, 269. DH, 19. Vgl. KU, 263.
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2.4 Macht und Größe Die beiden Momente, die bei Kant für die Unterscheidung in das Mathematischund das Dynamisch-Erhabene wesentlich sind, tauchen auch im Numinosen wieder auf, nämlich im Moment der Übermacht und in der Inkommensurabilität, die für die Gottesidee wesentlich ist. (Mathematisch‐)„Erhaben ist das, mit welchem in Vergleichung alles andere klein ist“³⁶ – das kann niemals etwas sein, das Gegenstand der Sinne sein könnte, sondern etwas, das nur in unseren Ideen angetroffen werden kann. Was die Einbildungskraft nicht vermag, nämlich das Gegebene in eine Anschauung zusammenzufassen, strebt die Vernunft an: Der Zug zum Unbedingten, der in unserer Vernunft liegt, lässt uns das Unendliche wenigstens denken, wenn schon keine Anschauung von ihm möglich ist. Im Gegensatz zum Naturschönen, das von Kant im § 59 der KU zumindest als symbolische Darstellung der Ideen gekennzeichnet wird, bleibt der Darstellungsversuch hier negativ. Man kann daher, wenn man eine Parallele zur Gottesidee herstellen will, an die Negative Theologie denken.³⁷ Während im Mathematisch-Erhabenen der Größenbegriff die entscheidende Rolle spielt, ist es beim Dynamisch-Erhabenen der Begriff der Macht.³⁸ Es ist zweifellos erkennbar, dass in Ottos Beschreibung des Numinosen beide Momente ebenfalls eine Rolle spielen, nämlich im Moment des mirum und der majestas. Mit dem Moment der „schlechthinnigen Übergewalt“, der majestas, ³⁹ will Otto die „Geschöpflichkeit“ als „Ohnmacht gegenüber der Übermacht“⁴⁰ betonen und damit eine ontologische Überlegenheit Gottes, die sich im Gefühl für das Numinose widerspiegelt. Das quantitative Moment, das bei Kants Mathematisch-Erhabenem stark hervorgehoben wird, greift für Otto in Bezug auf das mirum jedoch zu kurz. Nicht die Begrenztheit des Verstandes im Hinblick auf das Erkennen des mysteriösen Gegenstandes ist das Entscheidende, sondern dass „ich hier auf ein überhaupt ‚Ganz anderes‘ stoße das durch Art und Weise meinem Wesen inkommensurabel ist und vor dem ich deshalb in erstarrendem Staunen zurückpralle“.⁴¹ Das Problem der Versinnlichung von Begriffen, das bei Kant im Schematismuskapitel der Kritik der reinen Vernunft behandelt und in der KU um das Symbolproblem erweitert wird, stellt sich bei Otto von der anderen Seite. Er bezeichnet
KU, 250. Vgl. Christian Pöpperl, Auf der Schwelle. Ästhetik des Erhabenen und negative Theologie. Pseudo-Dionysius Areopagita, Immanuel Kant und Jean-Francois Lyotard, Würzburg 2007. Vgl. KU, 260. DH, 22. DH, 23. DH, 32 f.
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die begrifflichen Annäherungen an das Heilige als Schematisierungen desselben, womit er die Richtung gegenüber Kants Begriffsprägung genau umkehrt.⁴² Ein solches rationales Schema des Heiligen soll nun auch das Erhabene sein, doch auf der anderen Seite tritt es bei Otto auch unter den Ausdrucksmitteln des Numinosen in Erscheinung, wie in der Kunst, welche es als Ausdruck für das Numinose verwende.⁴³ Für Kant wäre aber auch schon die Darstellung der Erfahrung des Erhabenen in der Kunst eine Veränderung gegenüber der ursprünglichen Naturerfahrung, die gerade nur an der rohen, zweckfreien Natur möglich ist und nicht an einem Kunstgegenstand gemacht werden kann.
2.5 Naturanlage und Realisierung Die Ausdrucksmittel des Numinosen führen bereits zu der Frage hin, inwiefern das von Otto beschriebene Gefühl allen zugänglich ist. Da es sich bei den rationalen und den irrationalen Momenten des Göttlichen um Kategorien a priori handeln soll, müsste diese Erfahrung prinzipiell jedem Menschen offenstehen. Von Kant aus betrachtet, ist der Sinn der Rede von einem Apriori hier natürlich ebenso dunkel wie die Verwendung des Schematismus-Begriffs.⁴⁴ Otto spricht nun vom Vermögen der Divination, das zur Erkenntnis des Heiligen in der Erscheinung verhilft, und setzt dieses in eine Parallele zur ästhetischen Urteilskraft.⁴⁵ Das Gefühl für das Numinose sei nur anregbar, nicht erlernbar. Es entspringe nicht aus Erfahrungen und sinnlichen Gegebenheiten, „sondern nur durch sie“⁴⁶ und könne zurückgeführt werden auf eine „verborgene Anlage des menschlichen Geistes, die, durch Reize geweckt, wach wird.“⁴⁷ Dass diese sich aber offenbar nicht bei jedem realisiert, zeigt sich darin, dass Otto schon
Vgl. DH, 61. Wie G. Alles schreibt, „stellt Otto im Grunde den Kantianismus auf den Kopf“, vgl. Gregory D. Alles, Rudolf Otto (1869 – 1937), in: Klassiker der Religionswissenschaft, hg.v. Axel Michaels, München 1997, 198 – 210; hier 206. Vgl. DH, 85. Ansätze zu einer Anthropologisierung des Apriori werden aber auch in der zeitgenössischen Philosophie häufig (so z. B. bei Georg Simmel). Hinsichtlich des Gefühls-Apriori wäre in diesem Zusammenhang auch an Scheler und seine Idee des Wertfühlens zu denken, in dessen Ethik ja auch das Heilige einen zentralen Platz einnimmt, allerdings als höchster sittlicher Wert; vgl. Wolfgang Gantke, Der umstrittene Begriff des Heiligen. Eine problemorientierte religionswissenschaftliche Untersuchung, Marburg 1998, 255. vgl. DH, 177. DH, 138. DH, 140.
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zu Beginn seiner Untersuchung die ‚religiös Unmusikalischen‘ davor warnt, überhaupt weiter zu lesen.⁴⁸ Auch für das Erhabene muss man laut Kant, mehr als für das Schöne, einen bestimmten Sinn haben. Hier lässt sich weniger Übereinstimmung erzielen als beim Urteil über das Schöne, was daran liegt, dass der Bezug des Erhabenen zur Moral einen gewissen Grad von „Cultur“⁴⁹ voraussetzt. Damit ist die Herausbildung sittlicher Ideen gemeint, ohne die das Erhabene „bloß abschreckend“⁵⁰ erscheine. Kant besteht jedoch darauf, dass das Erhabene eine allgemeinmenschliche Erfahrung ist und nicht bloß etwas historisch-kulturell Bedingtes. Es hat „seine Grundlage in der menschlichen Natur“, und zwar in der „Anlage zum Gefühl für (praktische) Ideen, d.i. zu dem moralischen.“⁵¹ Dieses moralische Gefühl darf man prinzipiell von jedermann erwarten, daher liegt auch im Urteil des Erhabenen eine gewisse Notwendigkeit, die es erst für die transzendentalphilosophische Beschäftigung qualifiziert.Wie das Gefühl des Numinosen für Otto nicht durch Sinneswahrnehmung erzeugt wird, so entsteht das Erhabene auch bei Kant nicht durch eine bestimmte sinnliche Erfahrung. Während das Numinose aber einem Objekt zukommt, nämlich dem numen, handelt es sich beim Erhabenen um eine Selbsterfahrung, für die der Gegenstand nur der Anlass ist. Das Erhabene ist daher nicht im Gegenstand, sondern im Urteil. Damit sind wir aber bei einem der wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden Denkern angelangt, um die es nun kurz gehen soll.
3 Differenzen: Transzendenz und Sittlichkeit Zunächst ist klar, dass das Erhabene bei Kant nicht in der Natur liegen kann. Unendliche Größe und grenzenlose Macht sind Formen des Unbedingten, die in der Natur nicht angetroffen werden können. Ihren Platz haben sie aber in der Vernunft als dem Vermögen der Ideen. So kann das, was in der Natur beobachtet wird, immer nur der Anlass sein, sich auf die Vernunft zu besinnen, nie aber selbst Gegenstand der Bewunderung.Wenn wir das Gefühl der Erhabenheit auf die Natur beziehen, handelt es sich dabei nur um eine Verwechslung, eine „Subreption“, die die Bewunderung, welche die Vernunft verdient, der Natur fälschlicherweise zuschreibt. Die Vernunft erscheint nun hier wesentlich als das Vermögen der praktischen Gesetzgebung, womit das Gefühl des Erhabenen in große Nähe zur
Vgl. DH, 8. KU 264. KU, 265. Ebd.
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Achtung für das moralische Gesetz rückt. Birgit Recki z. B. spricht von einem „ästhetisch-moralischen Doppelcharakter des Erhabenen“,⁵² was nahe liegt, wenn Kant feststellt: „Also ist das Gefühl des Erhabenen in der Natur Achtung für unsere eigene Bestimmung, die wir einem Objecte der Natur durch eine gewisse Subreption (Verwechslung einer Achtung für das Object, statt der für die Idee der Menschheit in unserem Subjecte) beweisen, welches uns die Überlegenheit der Vernunftbestimmung unserer Erkenntnißvermögen über das größte Vermögen der Sinnlichkeit gleichsam anschaulich macht.“⁵³ Auf diese Weise ist die Erfahrung des Erhabenen aber gar nicht mehr eine Naturerfahrung im eigentlichen Sinne, sondern eine Selbsterfahrung des Subjekts, und folgerichtig „ist die Erhabenheit in keinem Dinge der Natur, sondern nur in unserem Gemüthe enthalten“.⁵⁴ Wenn im Erhabenen durch die Aufstiegsbewegung und die Richtung auf das Unendliche eine metaphysische Dimension angelegt ist, so muss sie bei Kant im Inneren des Subjekts verbleiben. Wenn von einer Transzendenz gesprochen werden kann, dann eher von einer Transzendenz in der Immanenz. Zwar erfolgt auch hier eine Bewegung des Überschreitens der sinnlich wahrnehmbaren Welt, aber diese führt letztlich nicht über das Subjekt hinaus. Erhaben, das sind letztlich wir selbst. Beim Numinosen sieht dies freilich anders aus. Otto betont die objektive Seite dieses Gefühls und öffnet so den Transzendenzbezug. Das Erhabene, wie es Otto sieht, fungiert daher nur als Übergang zur eigentlichen Erfahrung, die sich auf das numen als Objekt bezieht. Steht bei Kant die Vernunft am Ende an der Stelle des Bewunderungswürdigen, so hebt Otto am Numinosen bewusst das Irrationale hervor. Nicht der Mensch wird sich seiner Erhabenheit bewusst, sondern er wird erniedrigt angesichts der Erhabenheit Gottes, die er stumm bewundern muss. Auch klammert Otto den sittlichen Gehalt dieser Erfahrung gerade aus der Analyse aus, den Kant beim Erhabenen ins Zentrum stellt.Während Otto das Kreaturgefühl eben nicht als das Gefühl sittlicher Unzulänglichkeit verstanden wissen will und sich bemüht, die sittlichen Momente aus seiner Analyse zu tilgen, beruht das Gefühl des Erhabenen bei Kant gerade auf dem moralischen Gefühl. Selbst dort, wo er Beispiele aus dem Bereich der Religion wählt, steht der sittliche Aspekt im Vordergrund.⁵⁵ Zudem kennzeichnet „Heiligkeit“ in der Kritik der praktischen Vernunft „die völlige Angemessenheit des Willens […] zum moralischen Geset-
Birgit Recki, Ästhetik der Sitten (Anm. 9), 211. KU, 257. KU, 264. So schreibt Kant im Hinblick auf die Interpretation eines Unwetters, der Mensch sei erst dann zur Bewunderung der göttlichen Größe fähig, wenn er seiner eigenen sittlichen Untadeligkeit sicher sei; vgl. KU, 263 f.
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ze.“⁵⁶ Trotz aller Parallelen dürfen die wesentlichen Unterschiede also nicht aus dem Blick geraten, auch wenn man Kant Unrecht tun würde, wenn man behauptete, dass die Gottesfrage für ihn überhaupt keine Rolle spielt.⁵⁷
4 Heilige Orte Dass das Erhabene zumindest mit einer Sehnsucht nach einer Transzendenzerfahrung zu tun hat, konstatiert auch Charles Taylor. Er schreibt dem Erhabenen eine ethische Komponente zu, weil es die Selbstbezüglichkeit des modernen Menschen aufbricht.⁵⁸ Man müsse daher das Erhabene und die Wildnis „im Kontext der empfundenen Unzulänglichkeiten des modernen Anthropozentrismus und des Bedürfnisses nach Wiederherstellung des Kontakts zu einer größeren Kraft“ betrachten.⁵⁹ Wie wir gesehen haben, gelingt die Wiederherstellung dieses Kontakts bei Kant insofern nicht ganz, als das Erhabene zwar den Einzelmenschen als natürliches Wesen übersteigt, ihn aber aus dem Anthropozentrismus nicht hinaus führt. Daher bleibt auch der Umgang mit dem Naturaspekt des Erhabenen unbefriedigend. Weder das Erhabene bei Kant noch das Numinose bei Otto können für sich genommen einen positiven Beitrag zu einem veränderten Naturverhältnis leisten. Bei Otto kommt die Natur gar nicht vor, und bei Kant ist sie nur der Anlass zu einer Selbsterfahrung des Subjekts. Verfolgt man aber die Frage nach dem Ort des Erhabenen im Kontext der Religionsphänomenologie weiter, so stößt man in der Theorie heiliger Orte auf einen Anknüpfungspunkt. In bewusstem Rekurs auf Otto analysiert Mircea Eliade die Manifestation des Heiligen in der Welt, die er mit dem Begriff der Hierophanie belegt. Es geht um eine Erscheinung des „Ganz Anderen“ in Gegenständen, die Teil unserer profanen Wirklichkeit sind. Dadurch entstehen Orte, die gegenüber anderen durch eine spezifische Bedeutung, wie die einer Durchlässigkeit zur Transzendenz, ausgezeichnet sind. Der homo religiosus ist bei Eliade insgesamt durch ein besonderes Verhältnis zum Raum charakterisiert, für ihn „ist der Raum nicht homogen; er weist Brüche und Risse auf: er enthält Teile, die von den übrigen qualitativ verschieden
Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, 122. Wenn Gott auch nicht Gegenstand des Wissens ist, wie die Kritik der reinen Vernunft zeigt, so bleibt doch die Postulatenlehre Ausdruck einer religiösen Hoffnung; zu diesem Fragenkomplex vgl. den neueren Band: Die Gottesfrage in der Philosophie Immanuel Kants, hg.v. Norbert Fischer und Maximilian Forschner, Freiburg 2010. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt a.M. 2012, 570. A.a.O. 574.
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sind.“⁶⁰ Für den profanen Menschen ist der Raum dagegen homogen und neutral. Nach Eliade ist die religiöse Raumerfahrung jedoch auch aus einer säkularisierten Welt nie ganz verschwunden; immer noch gibt es das Bedürfnis, einzelne Orte aus dem homogenen Raum herauszugreifen und mit einer qualitativen Differenz zu belegen wie eine bestimmte Landschaft, die Heimat, der Geburtsort usw.⁶¹ Die Bedeutung, die einzelnen Orten zugeschrieben wird, kann sich auf der beschriebenen privaten Ebene bewegen, aber auch kollektiv geteilte Formen ausbilden – ein Beispiel hierfür könnte das Erhabene sein. Es zeichnet sich somit eine Parallele zwischen der religiösen Raumerfahrung und der Erfahrung des Erhabenen in der Natur ab, denn in beiden Fällen werden bestimmte Orte als Ausgangspunkte spezifischer Erfahrungen ausgezeichnet.Van der Leeuw spricht von Heiligung als demjenigen Prozess, in dem ein Ort als „Stätte“ aus dem Raum herausgenommen werde.⁶² Über diese Parallele hinaus könnte man annehmen, dass es z.T. ähnliche Orte sind (wie z. B. Berge), an denen diese Erfahrungen möglich werden. Herauszuarbeiten, wie sich die Erfahrung von heiligen Orten und die Naturerfahrung, die im Erhabenen modelliert wird, zueinander verhalten, bleibt daher eine lohnende Frage für die weitere Forschung.
Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Frankfurt a.M. 1990, 27. Vgl. a.a.O. 25. Vgl. Gerardus van der Leeuw, Phänomenologie der Religion, Tübingen 31970, 445.
Markus Buntfuß
Rudolf Ottos (neu)romantische Religionstheologie im Kontext der ästhetischen Moderne Hermann Timm zum 75. Geburtstag Im Herbst 2012 zeigte das Städel-Museum in Frankfurt eine große Sonderausstellung zum Thema Schwarze Romantik. Von Goya bis Max Ernst. Auf der Homepage des Museums hieß es unter anderem: Die Ausstellung widmet sich „der dunklen Seite der Romantik“ und spürt „der Faszination für das Abgründige, Geheimnisvolle und Böse nach.“ Die ausgestellten Arbeiten „erzählen eindringlich von Einsamkeit und Melancholie, von Leidenschaft und Tod, von der Faszination des Grauens und dem Irrationalen der Träume. […] Viele der präsentierten künstlerischen Entwicklungen und Positionen resultieren aus einem erschütterten Vertrauen in ein aufgeklärtes, fortschrittliches Denken, das sich rasch nach der – als neues Zeitalter gefeierten – Französischen Revolution zum Ende des 18. Jahrhunderts ausgebreitet hat. Blutiger Terror und Kriege brachten Leid und den Zerfall gesellschaftlicher Ordnungen in weiten Teilen Europas. […] Nun widmeten sich junge Literaten und Künstler verstärkt der Kehrseite der Vernunft. Das Schreckliche, das Wundersame und Groteske machten dem Schönen und Makellosen die Vorherrschaft streitig. Der Reiz der Beschäftigung mit Sagen und Märchen und die Faszination für das Mittelalter traten dem Ideal der Antike gegenüber. […] Dem hellen Licht des Tages begegneten der Nebel und die dunkle, geheimnisvolle Nacht.“ Das Ausstellungsprojekt „präsentiert das Romantische als Geisteshaltung, die ganz Europa erfasste und sich weit über das 19. Jahrhundert hinaus fortsetzte.“¹ Soviel zur Einstimmung in mein Thema, denn auch ich werde mich im Folgenden mit einem Ausschnitt aus der langen Geschichte der romantischen Geisteshaltung und der religionstheologischen Auseinandersetzung mit dem Romantischen befassen. Im Zusammenhang mit dem Namen Rudolf Otto fällt nämlich regelmäßig das Stichwort ‚romantisch‘. Sei es, dass damit auf seine Theorie des religiösen Gefühls oder auf seine Beschäftigung mit der Religionstheorie Schleiermachers abgehoben wird, sei es, dass auf seine sprachlichen Anleihen bei Schauerromantik und gothic novel zur Charakterisierung des Numinosen, oder auf seine religionsphilosophische Entlehnung der Ahndungslehre http://www.staedelmuseum.de/sm/index.php?StoryID=1463, eingesehen am 02.10. 2012, 14:37.
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von Jakob Friedrich Fries abgezielt wird, sei es schließlich, dass auf seine Vorlieben für das Geheimnis und die Mystik oder sein theologisches Verständnis von organischer Entwicklung in der Religionsgeschichte angespielt wird. Bezüge zu einem romantischen Verständnis von Religion und Theologie bieten sich jedenfalls zur Genüge an. Natürlich darf man fragen, ob eine derartige Zuordnung historisch und sachlich berechtigt ist. Das führt im besten Fall zu einer Bestätigung oder Korrektur der theologiegeschichtlichen Urteilsbildung und darf nicht unterschätzt werden.Wichtiger aber scheint mir die Frage, warum und in welchem zeitgeschichtlichen Kontext Ottos Religionstheologie als romantisch, oder – vielleicht besser – als neuromantisch bezeichnet werden konnte und welche systematischen Fragen sich damit verbinden.
1 Die Debatte um die (neu)romantische Theologie Ein Jahrhundert nach dem kometenhaften Aufstieg der Romantik spielt der Begriff des Romantischen zu Beginn der klassischen Moderne erneut eine prominente Rolle in den kulturellen Selbstverständigungsdebatten. Sowohl die Zuschreibung als auch die Zurückweisung einer geistigen Nähe zur Romantik dienen um 1900 der intellektuellen Standortbestimmung. Im Hintergrund steht dabei die von Ernst Troeltsch diagnostizierte geistige und wissenschaftliche Revolution seit den 1890er Jahren² mit ihrer Suche nach einer neuen Weltanschauung jenseits des von Max Weber propagierten okzidentalen Rationalismus. Exemplarisch bricht sich diese „antipositivistische Revolte“³ Bahn in einer zeitgenössischen Neuromantik,⁴ einer kongenial-nationalen Romantikforschung sowie einer die Grenzen der Fachtheologie sprengenden Schleiermacher-Renaissance.⁵ Im direkten Zusam-
Ernst Troeltsch, Die Revolution in der Wissenschaft (1921), in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, Bd. 13, Berlin/New York 2010; vgl. dazu Friedrich Wilhelm Graf, „Kierkegaards junge Herren“. Troeltschs Kritik der „geistigen Revolution“ im frühen zwanzigsten Jahrhundert, in: Ders., Der heilige Zeitgeist, Tübingen 2011, 139 – 160. A.a.O. 140. Ludwig Coellen, Neuromantik, Jena 1906. In Bezug auf die Theologie notiert Heinrich Scholz in seiner Ausgabe der Kurzen Darstellung des theologischen Studiums im Jahr 1910: „Die Wendung zu Schleiermacher ist zweifellos eine der wichtigsten Bewegungen auf dem Felde der systematischen Theologie seit dem Tode Albrecht Ritschls“ (Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher, Kurze Darstellung des theologischen Studiums zum Behuf einleitender Vorlesungen, hg.v. Heinrich Scholz, Leipzig 1910, IX).
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menhang damit stehen außerdem die vielfältigen neuidealistischen,⁶ neureligiösen und mystisch-monistischen Bewegungen um 1900. Die terminologische Verbindung von Romantik und Religion kann deshalb ein Jahrhundert nach ihrer programmatischen Einsetzung durch Schleiermacher, Schlegel und Novalis⁷ erneut als Nukleus der verbreiteten Sehnsucht nach einer neuen und freien, lebendigen und holistischen Weltanschauung gelten. Als publizistische Plattform für die geistige Erneuerung ragte dabei vor allem der seit 1904 in Jena ansässige Eugen Diederichs Verlag heraus.⁸ Ein beredtes Zeugnis für die genannten Tendenzen ist die zwar nicht bei Diederichs publizierte, aber mit vielen Texten aus diesem Verlag bestückte Anthologie Die heilige Erde aus dem Jahr 1911, die sich im Untertitel als Ein Handbuch für freie Menschen vorstellt und ältere wie neue Gedichte versammelt, die der „Andacht für freie Menschen“⁹ dienen sollen. Der Herausgeber Louis Satow, der als Gemeindeleiter der freireligiösen Gemeinde in Hamburg tätig war, bringt in seinem Vorwort die Hoffnung zum Ausdruck, dass das Buch allen Lesern, „denen es unfreiwillig ihr schon wankendes Glaubenshäuschen vollends einstürzen lässt, auch dazu helfe, ein neues, schöneres und festeres Weltanschauungsgebäude aufzurichten.“¹⁰ In der Kombination einer Kritik an der institutionalisierten Kirchenreligion mit der Neugestaltung einer ästhetisch-religiösen Weltanschauung gleichen sich die kulturellen Konstellationen der historischen Romantik um 1800 und der Neuromantik um 1900 in erstaunlicher Weise, was hellsichtige Zeitgenossen bereits damals bemerkten. Der Hamburger Germanist Heinrich Meyer-Benfey etwa notiert 1902 in seinem bei Diederichs erschienenen Buch Moderne Religion: „Auch jetzt steht die Wiedergeburt der Religion in engstem Zusammenhang mit einer aufblühenden Neuro-
Zum Neuidealismus um 1900 vgl. Kultur und Kulturwissenschaften um 1900, Bd. 11: Idealismus und Positivismus, hg.v. Gangolf Hübinger/Rüdiger vom Bruch/Friedrich Wilhelm Graf, Stuttgart 1997. Hermann Timm, Die heilige Revolution. Das religiöse Totalitätskonzept der Frühromantik, Schleiermacher – Novalis – Friedrich Schlegel, Frankfurt a.M. 1978. Vgl. Klaus Lichtblau, Der Eugen Diederichs Verlag und die neuromantische Bewegung der Jahrhundertwende, in: Romantik, Revolution und Reform. Der Eugen Diederichs Verlag im Epochenkontext 1900 – 1949, hg.v. Justus Ulbricht/Meike Werner, Göttingen 1999. Von Rudolf Otto ist im Eugen Diederichs Verlag erschienen: Siddhānta des Rāmānuja. Texte zur indischen Gottesmystik, 1917. Die heilige Erde. Ein Hausbuch für freie Menschen, hg.v. Louis Satow, Berlin 1922, 6. A.a.O. 8. Zum ganzen Komplex vgl. Horst Stephan: Religion und Gott im modernen Geistesleben, Tübingen 1914 und Claus-Dieter Osthövener, Erscheinungsformen der Frömmigkeit in der klassischen Moderne, in: Protestantismus – Aufklärung – Frömmigkeit. Historische, systematische und praktisch-theologische Zugänge, hg.v. Andreas Kubik, Göttingen 2001, 133 – 152.
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mantik und bekämpft als ihren Erbfeind den Materialismus […]. Selten hat sich die Geschichte so gutwillig der Theorie von der ‚ewigen Wiederkehr‘ gefügt.“¹¹ Eben diese Koalition zwischen neuromantischen Bewegungen und neureligiösen Bestrebungen stieß jedoch seitens der sich nach dem Ersten Weltkrieg neu formierenden Generation junger Theologen auf entschiedenen Widerspruch. Insbesondere „Kierkegaards junge Herren“¹² beurteilten die Verbindung von Christentum und Romantik als eine fatale Mesalliance. Die Wortverbindungen ‚romantische Theologie‘ und ‚romantische Religion‘ mutierten im Kontext der existentiellen Krisentheologie zum Inbegriff des unheiligen Zeitgeistes.¹³ Dieser negativen Verhältnisbestimmung von christlicher Religion und literarischer Romantik waren freilich schon prominente Positionierungen vorausgegangen. Ich nenne nur Heinrich Heines Abrechnung mit der Romantischen Schule (1836) als einer Passionsblume, die dem Blute Christi entsprossen sei und das Manifest der beiden Junghegelianer Theodor Echtermeyer und Arnold Ruge über den Protestantismus und die Romantik (1839), die sich darum bemühten, den Geist des Protestantismus und den Ungeist der Romantik so gegensätzlich wie möglich erscheinen zu lassen. Einflussreiche Stimmen wie diese, sowie aufsehenerregende Konversionen von berühmten Protestanten aus dem romantischen Umfeld zum Katholizismus hatten das protestantische Romantikbild im Verlauf des 19. Jahrhunderts geprägt und ‚Romantik‘ zu einem religionspolitischen Kampfbegriff werden lassen.¹⁴ Das Romantische galt demnach als eine unsittliche Entartung der dichterischen Phantasie, die sich einer sentimentalen Verherrlichung des katholischen Mittelalters bediente, um der gesellschaftlichen Realität zu entfliehen. Gerne wurden dabei auch die Epitheta des Weichlichen und Weiblichen bemüht, um den romantischen Charakter zu karikieren. In der ersten Auflage der RGG aus dem Jahr 1913 versammelt Karl Aner, der verdienstvolle Theologiehistoriker der Lessingzeit,
Heinrich Meyer-Benfey, Moderne Religion. Schleiermacher – Maeterlinck, Leipzig 1902, 8. Friedrich Wilhelm Graf, „Kierkegaards junge Herren“ (Anm. 2). Vgl. Friedrich Gogarten, Wider die romantische Theologie. Ein Kapitel vom Glauben (1922), in: Anfänge der dialektischen Theologie, Teil II, hg.v. Jürgen Moltmann, München 1963, 140 – 153; Emil Brunner, Reformation und Romantik (1925), in: Ders., Ein offenes Wort. Vorträge und Aufsätze 1917– 1934, eingef. u. ausgew. von Rudolf Wehrli, Bd. I, Zürich 1981, 123 – 144. Im weiteren Kontext außerdem Leo Baeck, Romantische Religion (1922), in: Ders., Werke Bd. 4, hg. von Albert Hoschander Friedlander u. a., Gütersloh 2000, 59 – 129; Alfred von Martin, Das Wesen der romantischen Religiosität, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 2 (1924), 367– 417. Die Hintergründe dieses komplexen Prozesses werden prägnant dargestellt von Kurt Nowak, Romantik. Zum Ort einer kulturellen und religiösen Erscheinung, in: 200 Jahre „Reden über die Religion“. Akten des 1. Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft, Halle 14.–17. März 1999, hg.v. Ulrich Barth/Claus-Dieter Osthövener, Berlin/New York 2000, 39 – 57.
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sämtliche antiromantischen Stereotype und attestiert den Romantikern u. a. „geschlechtlichen Libertinismus“ und die „frivole Mißachtung der Ehe“ sowie „Verlogenheit“ ohne allen „Ernst und Wahrheitssinn“.¹⁵ Darüber hinaus habe die „Romantisierung des Daseins als Katholisierung“¹⁶ auch „die schmähliche Verbindung von Religion und Reaktion“¹⁷ verschuldet. Im Ergebnis beurteilt Aner die Romantik als Extremform des modernen Individualismus, der sich gleichsam selbst überschlage und schließlich seiner selbst überdrüssig geworden in Priesterknechtschaft und Byzantinismus abebbt. Mit der romantischen Bewegung, ihren unterschiedlichen Vertretern und Verlaufsphasen hatte dieses Zerrbild einer nur schlecht kaschierten Geisteskrankheit nichts zu tun. Aber die Karikatur wollte im Vorkriegsjahr 1913 auch weniger als wissenschaftliche Würdigung einer geschichtlichen Epoche, sondern als Beitrag zur geistespolitischen Standortbestimmung, das heißt als Kritik an den bereits allgegenwärtigen nationalistischromantischen „Ideen von 1914“¹⁸ gelesen werden. Im Vergleich zu Aners geistespolitisch motivierter Pauschalverurteilung bereichert Ferdinand Kattenbusch die damalige Sicht auf die Romantik um einen zwar ebenfalls generalisierenden aber sachlich gewichtigeren Beitrag, der für die weitere Verwendung des Begriffs in der Fachtheologie wegweisend wurde. In seiner vielgelesenen Skizze Von Schleiermacher zu Ritschl, die 1903 in dritter Auflage erschienen war, vertritt Kattenbusch die These, dass alle drei Richtungen in der protestantischen Theologie nach Schleiermacher, die liberale, die konfessionelle und die vermittelnde letztlich unter einem einheitlichen Gesichtspunkt zusammengefasst werden könnten, nämlich in der auf Schleiermacher zurückgehenden Vorstellung, „daß ein empirisch aufgenommenes Gefühl oder unmittelbares Selbstbewußtsein der Ausgangspunkt der Theologie sei.“¹⁹ Die genannten Richtungen würden sich an Maßstäben orientieren, „die sich nur auf Stimmungen reduzieren lassen“ und „im letzten Grunde auf subjektiven und meist ästhetischen Eindrücken“²⁰ beruhen. Für diesen Theologietyp schlägt Kattenbusch die Bezeichnung ‚romantische Theologie‘²¹ vor. Zwar hat er – vermutlich unter dem Karl Aner, [Art.] Romantik, in: RGG1, Bd. 5, Tübingen 1913, 17. A.a.O. 19. A.a.O. 20. Ernst Troeltsch, Die Ideen von 1914, in: Die neue Rundschau 1 (1916), 605 – 624. Vgl. Helmuth Kiesel, Aufklärung und neuer Irrationalismus in der Weimarer Republik, in: Aufklärung und Gegenaufklärung in der europäischen Literatur, Philosophie und Politik von der Antike bis zur Gegenwart, hg.v. Jochen Schmidt, Darmstadt 1989, 497– 521. Ferdinand Kattenbusch, Von Schleiermacher zu Ritschl. Zur Orientierung über den gegenwärtigen Stand der Dogmatik, Berlin 31903, 14. A.a.O. 16. A.a.O. 14.
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Eindruck einer kritischen Rezension von Ernst Troeltsch²² – diesen generalisierenden Gebrauch des Labels ‚Romantische Theologie‘ nicht in die erweiterte Fassung seines späteren Lehrbuches über Die deutsche evangelische Theologie seit Schleiermacher (1926) übernommen. Dafür hat sich aber Karl Barth von Kattenbuschs frühem Sprachgebrauch inspirieren lassen und in seinen eigenen Vorlesungen zur Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts die weite Verwendung des Begriffs ‚romantische Theologie‘ übernommen. Denn für die Theologie des 19. Jahrhunderts gilt Barth insgesamt: „Sie hat die Romantik hinter sich gelassen, aber sie ist sie nicht losgeworden. Sie ist irgendwie zutiefst auch romantische Theologie. […] Und nicht umsonst endigt das ganze Zeitalter dort, wo es angefangen hatte: mit einer Schleiermacher-Renaissance.“²³ Dieses Junktim von Schleiermacherrenaissance und Neuromantik also hatten Barth, Gogarten und Brunner vor Augen als sie unisono wider die romantische Theologie zu Felde zogen. Nun hatte aber Rudolf Otto mit seiner Neuherausgabe der Reden Ueber die Religion in ihrem Jubiläumsjahr 1899 nicht wenig zu dieser Renaissance von Schleiermachers Denken in seiner romantischen Phase beigetragen und konnte von daher auch mit der romantischen Theologie und ihren Epigonen in Sippenhaft genommen werden. Außerdem traf Ottos Buch über Das Heilige den neuromantisch-neureligiösen Nerv der Zeit aufs Genaueste. Selten, so Harnack in seiner Rezension, sei „ein theologisches Werk der Stimmung der Zeit so entgegengekommen und so restlos eingesogen worden wie das vorliegende“.²⁴ Das wirft die Frage nach Rudolf Ottos Nähe zur Romantik bzw. zu einem romantisch/neuromantischen Typ von Religion und Theologie auf. Denn auch, wenn er von den theologischen Existentialisten der Zeit nicht namentlich als Romantiker kritisiert worden ist, spielt das Attribut des Romantischen bei der theologischen Beschäftigung mit dem prophetischen Seher numinoser Gefühle eine maßgebliche Rolle.
2 Rudolf Ottos Kritik der Romantik Mustert man daraufhin zunächst Ottos eigene Äußerungen, so fällt auf, dass besonders die frühe Schrift Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie (1909) alles
Ernst Troeltsch, Kritische Gesamtausgabe, Bd. 4, hg.v. Friedrich Wilhelm Graf in Zusammenarb. mit Gabriele von Bassermann-Jordan, Berlin/New York 2004, 288 – 291. Karl Barth, Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert (1947), Zürich 51985, 304. Adolf von Harnack, [Rez.] Rudolf Otto, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, 8. Aufl., Breslau 1922, in: DLZ N.F. 1 (1924), 993; zit. nach Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft. Studien zum Religionsbegriff bei Georg Wobbermin, Rudolf Otto, Heinrich Scholz und Max Scheler, Tübingen 1992, 104.
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andere als Sympathie für die Romantik und eine ihr verpflichtete Auffassung von Religion und Theologie erkennen lassen. Ganz im Geiste seiner Gewährsmänner aus der kantischen Schule, nämlich Fries und de Wette, mit ihrer Polemik gegen den neuen ‚Mystizismus‘ Fichtes und Schellings richtet sich auch Ottos Kritik an der Romantik gegen die Übersteigerung des Ichs zum Prinzip von Selbst,Welt und Gott und gegen den entschränkten Gebrauch der ästhetisch-spekulativen Phantasie in Religionssachen. Umgekehrt schätzt Otto an Fries, „daß er, ohne sich von der ‚genialischen‘ Wendung der Philosophie durch Fichte, die Romantik und die aus der Romantik geborenen Systeme fortreißen zu lassen“,²⁵ der kritischen Methode verpflichtet blieb. Die Religionsphilosophie als Wissenschaft müsse deshalb die „methodische Aufsuchung der rationalen Grundlagen der Religion im menschlichen Geiste“²⁶ zum Ziel haben und sei „eine sehr nüchterne Aufgabe, die wenig zu tun hat mit den hochfliegenden und phantasievollen Konstruktionen, Dichterschwüngen und halben oder ganzen mythologischen Träumen, die sich sonst an dieses Wort gehängt haben.“²⁷ Das war unmissverständlich gegen jede Form von romantischer Mythologie und neuromantischer Religionspoesie gemünzt. In diesem Zusammenhang ist es auch aufschlussreich, wie stark Otto um den Nachweis eines antifichteschen Charakters von Schleiermachers Religionstheorie bemüht ist und zu diesem Zweck den Gedanken der Abhängigkeit des religiösen Subjekts vom unendlichen Universum hervorhebt. Der Lutherforscher Otto entdeckt dabei wohl auch das soteriologisch motivierte Theologumenon von der Alleinwirksamkeit Gottes in Schleiermachers Religionstheologie und betont deshalb die Gefühle der Beschränktheit und Kreatürlichkeit, sowie der Demut, nicht zuletzt, um den genuin frühromantischen Motiven in Schleiermachers Religionstheorie entgegenzusteuern. Entscheidend ist nämlich für Otto, dass Religion kein Produkt der subjektiven Phantasie, sondern eine geheimnisvolle Tiefendimension der Wirklichkeit ist, die im Gefühl als objektive Wahrheit erlebt werden kann. Daran wird aber auch deutlich, dass Ottos Kritik ebenfalls einem verkürzten Bild der Romantik geschuldet ist, wie es insbesondere in der protestantischen Romantikkritik kultiviert worden war. Denn Otto benennt in seiner Kritik am romantischen Mystizismus und Subjektivismus nicht nur Gedanken, die bereits innerhalb der romantischen Bewegung laut geworden sind, sondern macht sich auch genuin romantische Intentionen zueigen, ohne sich dessen bewusst zu sein, geschweige denn darüber Rechenschaft abzulegen. Dabei schöpft er freilich nicht so sehr aus dem ge-
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danklichen Arsenal der frei schwebenden, revolutionär-artistischen Frühromantik, die eine neue Bibel schreiben und eine neue Mythologie als freies Produkt des autonomen Künstlers im Medium der progressiven Universalpoesie stiften möchte, sondern einer romantischen Weltsicht, die die Wirklichkeit nicht auf ihre nützlichzweckmäßige und naturwissenschaftlich-technische bzw. industriell-ökonomische Oberfläche reduziert sehen will, sondern offen und sensibel ist für die sich gleichzeitig offenbarende wie geheimnisvoll verbergende Wirklichkeit eines Inkommensurablen und ganz Anderen. Ich will deshalb einige romantische Motive und ihre systematische Funktion in Ottos Religionstheologie untersuchen.
3 (Neu)romantische Motive in Rudolf Ottos Religionstheologie Die romantischste Kategorie in Ottos Religionstheologie ist neben dem Gefühl das Geheimnis und in unmittelbarer Nachbarschaft damit das Unheimliche, denn in der Romantik ist die Rede vom Geheimnisvollen und Rätselhaften schlechtweg zentral. Dem lexikographischen Befund zufolge gehören neben Gemüt, Stimmung und Gefühl, sowie Wunder, Zauber und Traum vor allem „Wörter wie Ahnung, ahndungsvoll, Geheimnis, geheimnisvoll, Rätsel, rätselhaft, seltsam, absonderlich und sinnähnliche Lexeme“ in das sprachliche Umfeld der Romantik.²⁸ Im Gegensatz zum Bekannten, Alltäglichen und Gesunden sowie zum Klaren, Verständlichen und Nützlichen, das vom Diskurs der Aufklärung favorisiert worden war, fungieren das Geheimnis- und Wundervolle, das Rätselhafte und Unheimliche bis hin zum Dunklen, Kranken und Verrückten als romantische Chiffren für eine ambivalent und widerspruchsvoll erfahrenen Wirklichkeit. Um diesen unheimlichen Geheimnischarakter einer vielschichtigen Wirklichkeit zum Ausdruck zu bringen, entwickeln die Romantiker diverse Verfremdungsstrategien. Am bekanntesten ist das Diktum von Novalis: „Die Welt muß romantisiert werden. […] Indem ich dem Gemeinen einen hohen Sinn, dem Gewöhnlichen ein geheimnißvolles Ansehn, dem Bekannten die Würde des Unbekannten, dem Endlichen einen unendlichen Schein gebe so romantisire ich es.“²⁹ In dieser Tradition und mit vergleichbarer Intention geht auch Rudolf Otto in seinem 1904 erschienen Buch Naturalistische und religiöse Weltansicht von dem romantischen Grundsatz aus: „Auch die unter Gesetze gebrachte Welt ist Ge-
Werner Besch/Anne Betten/Oskar Reichmann/Stefan Sonderegger, Sprachgeschichte, 4. Teilband, Berlin/New York 2004, 3061. Novalis, Werke, Bd. 2, hg.v. Hans-Joachim Mähl, München/Wien 1978, 334.
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heimnis“.³⁰ Entsprechend kennzeichnet er auch das Wesen der Frömmigkeit als Sinn für das Geheimnis- und Wundervolle: „Frömmigkeit sucht Tiefe in den Dingen, sie streckt sich nach einem im letzten Grunde Verborgenen und Unverstandenen und Geheimnisvollen“.³¹ Und auch die später prominent werdende Latinisierung findet sich bereits hier: „Andacht ist Erleben des Mysteriums“.³² Umgekehrt werden der philosophische Materialismus und wissenschaftliche Naturalismus als „profane Zudringlichkeit gegen das Geheimnis“ charakterisiert.³³ Dem Geist einer positivistischen Verstandeskultur begegnet Otto also mit der genuin romantischen Strategie der Verrätselung der Wirklichkeit. Denn mit dem Titel und dem Programm seines Buches über Naturalistische und religiöse Weltansicht empfahl sich Otto den Vertretern der neuromantischen Suche nach einer geistigen Erneuerung, die von einem ihrer ersten Wortführer, dem Kunst- und Literaturkritiker Hermann Bahr, genau unter das Motto „Überwindung des Naturalismus“ gestellt worden war.³⁴ Sieben Jahre später beschreibt Otto dann in seinem Reisebericht die Wirkung, die das dreimalige Heilig, heilig, heilig auf ihn hat mit den viel zitierten Worten: „immer greifen sie in die tiefsten Gründe der Seele, aufregend und rührend mit mächtigem Schauer das Geheimnis des Ueberweltlichen, das dort unten schläft.“³⁵ Mit einer förmlichen Aneinanderreihung von romantischen Topoi gibt Otto hier persönliche Rechenschaft über seine religiöse Grunderfahrung und charakterisiert sich damit – bewusst oder unbewusst – als romantischen Frömmigkeitstyp. In seinem Hauptwerk über Das Heilige (1917) schließlich kommt dem Geheimnis als mysterium tremendum sogar die Funktion eines Definiens für den Religionsbegriff zu. Ohne die Verwendung der Kategorie des Geheimnisses und des Unheimlichen in seinem Hauptwerk hier eingehender untersuchen zu können, wird man also kaum übertreiben, wenn man konstatiert, dass sich Otto an zentralen Stellen seiner Religionstheologie romantischer Terminologie und Denkweise bedient. Dabei verwendet Otto die Kategorie des Geheimnisses in der Tradition der älteren Romantik und der zeitgenössischen Neuromantik sowohl dazu, um das Religiöse interessant zu machen, als auch, um eines seiner theologischen Grundanliegen, nämlich die „der Religion selber innewohnende Dia-
NRW, 27. NRW, 30. Ebd. Ebd. Herrmann Bahr, Die Überwindung des Naturalismus. Als zweite Reihe von „Zur Kritik der Moderne“, Dresden/Leipzig 1891. Rudolf Otto, Reisebericht 1911, in: Rudolf Otto. Religion und Subjekt, hg.v. Thorsten Dietz/ Harald Matern, Zürich 2012, 28.
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lektik von Rationalität und Irrationalität“³⁶ zu konturieren. Dieser Befund ließe sich unschwer ausziehen auf die ebenfalls in der Romantik vorgenommene Ausweitung des neuzeitlichen Gottesbegriffs um seine rätselhaften und unheimlichen Momente³⁷ sowie auf die positive Qualifizierung der Mystik. Ich muss mich jedoch auf einige wenige Schlaglichter beschränken und wähle zur Erläuterung meiner These von Ottos (neu)romantischer Religionstheologie als zweites Beispiel seine Strategie der Archaisierung und Exotisierung von Religion, die ihm bekanntlich viel Kritik eingebracht hat. Schon Adolf von Harnack äußert sich in seiner Rezension von Das Heilige kritisch über die „Aufdeckung des Primitiven in der Religion“³⁸ unter Vernachlässigung ihrer sittlichen Kulturpotenz. Seither hat vor allem die theologische Beschäftigung mit Otto immer wieder moniert, dass er sich bei der Entfaltung seines Religionsverständnisses fast ausnehmend archaisch bzw. primitiv anmutender Erscheinungsformen des Religiösen bediene, die wenig Anschlussfähigkeit an die neuzeitliche und aufgeklärte Frömmigkeit bereithalten würden. In auffallendem Gegensatz dazu stehen freilich diejenigen Aussagen, die auf die frappante Zeitgemäßheit von Ottos Schrift verweisen. Wie also hängen Archaik und Aktualität in Ottos Religionstheologie zusammen? Erhellend dürfte auch in diesem Zusammenhang der Vergleich mit der angeblich naiven Mittelalterverherrlichung sein, die den Romantikern vorgeworfen wurde. So erhebt etwa Heinrich Heine gegen Ludwig Tieck den Vorwurf, dieser habe „durch seinen Roman Sternbalds Wanderungen und durch die von ihm herausgegebenen und von einem gewissen Wackenroder geschriebenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders auch den bildenden Künstlern die naiven, rohen Anfänge der Kunst als Muster dargestellt.“³⁹ Dieser Tadel beruht jedoch auf einem hartnäckig gepflegten Missverständnis moderner Romantikkritik, die den zeit- und kulturkritischen Charakter dieser subversiven Strategie verkennt. Denn bei der romantischen Orientierung an der Kultur des Mittelalters und der Kunst der Renaissance handelt es sich keineswegs um regressive Reminiszenzen an eine nostalgisch verklärte Vergangenheit, sondern um kreative Umgangsstrategien mit einer defizitär empfundenen Gegenwart. Archaisierung und Exotisierung, ebenso wie Naivisierung und Idiotisierung sind
Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969, 45. Kurt Nowak, Romantik (Anm. 14), 46. Adolf von Harnack, [Rez.] Rudolf Otto Otto (Anm. 24), 8. Heinrich Heine, Werke und Briefe in zehn Bänden, hg.v. Hans Kaufmann, Berlin/Weimar 2 1972, Bd. 5, 31.
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in der ästhetischen Moderne Verstöße gegen normative Kulturideale und dienen der Artikulation eines spezifisch modernen Krisenbewusstseins. Eine Analogie zur archaisierend-utopisierenden Auszeichnung des Mittelalters um 1800 stellt um die Wende zum 20. Jahrhundert die Entdeckung der Kunst und Kultur der sogenannten ‚Primitiven‘ dar. Im Gegensatz zur europäischen Zivilisation, die einem verbreiteten Empfinden zufolge im Untergang begriffen und gescheitert war, sahen die Avantgarden im Primitiven das Originale, Ursprüngliche und Erneuernde.⁴⁰ Eckart von Sydow, der kunstgeschichtliche Berater und Freund Paul Tillichs hatte deshalb der Kunst und Religion der Naturvölker (1926) nicht nur ein historisches Denkmal gesetzt, sondern auch die Anregungen auf die Künstler der Gegenwart hervorgehoben. In Entsprechung zu dieser romantisch/neuromantischen Strategie der archaisierenden Verfremdung konnte auch die Aktualität von Rudolf Ottos religionstheologischem Primitivismus in dem Bestreben gesehen werden, auf das moderne Krisenbewusstsein und eine verflachte Religionskultur mit einer starken Umbesetzung zu reagieren. Ottos Entdeckung der archaischen Dimension der Religion konnte als subversive Modernisierungsstrategie gelesen werden, deren Gegenpole eine zivilreligiöse Überhöhung des Kulturfortschritts und eine kommode Privatreligion für Bildungsbürger bildeten. Ungeachtet der Frage, ob damit auch Ottos eigene Intentionen getroffen waren, hat die zeitgenössische Rezeption in seiner Archaisierung des Religiösen sicher auch eine Verfremdung der Religion im Kontext der kulturellen Avantgarden gesehen. Unterstützt wird diese Deutung durch die Tatsache, dass sich Paul Tillich bei seiner Konzeption des Dämonischen auf Anregung durch Eckart von Sydow⁴¹ explizit auf die Kunst der Primitiven bezieht.⁴² Ich halte fest: Mit dem Motiv vom Geheimnischarakter der Wirklichkeit sowie der Verfremdung durch Archaisierung des Religiösen steht Otto in der Tradition romantisch/neuromantischer Regelverstöße gegen kulturelle Leitvorstellungen und positioniert sich mit seinem Thema zwar am Rand des theologischen Diskurses, aber im Zentrum der künstlerischen und religiösen Avantgarden. Zumindest ist diese – die Grenzen der theologischen Fachwissenschaft sprengende –
Carlos Rincón, [Art.] Naiv/Naivität, in: Ästhetische Grundbegriffe, hg.v. Karlheinz Barck u. a., Bd. 4, Stuttgart 2002/2010, 370. Eckart von Sydow, Primitive Kunst und Psychoanalyse. Eine Studie über die sexuelle Grundlage der Bildenden Künste der Naturvölker, Leipzig/Wien/Zürich 1927. Vgl. dazu Markus Buntfuß, Spiritueller Radikalismus. Protestantisches Christentum und ästhetische Moderne bei Paul Tillich, in: Aufgeklärte Religion und ihre Probleme. Schleiermacher – Troeltsch – Tillich, hg.v. Ulrich Barth/Christian Danz/Friedrich Wilhelm Graf/Wilhelm Gräb, Berlin/New York (im Erscheinen).
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Lesart nicht nur naheliegend, sondern war für den enormen Erfolg seines Buches Das Heilige sicher mitentscheidend. Ein drittes Motiv in Ottos neuromantischer Religionstheologie steht im Zusammenhang mit dem in der Forschung vielverhandelten Komplex seiner eigenwilligen Fachsprache. Denn seine Neologismen und Idiotismen, sowie seine unübliche Orthographie und die rhetorische Syntax sind nur zu verstehen vor dem Hintergrund einer seit der Romantik als fundamental empfundenen Sprachkrise und dem Problem der Darstellbarkeit des undarstellbaren Absoluten. Sowohl die ältere Romantik als auch die zeitgenössische Neuromantik ging von einer zutiefst empfundenen Sprachnot und Sprachskepsis aus, wonach das Eigentliche und Wesentliche inkommensurabel ist und nicht in Worte gefasst werden kann.⁴³ Im Zentrum romantischer Sprachkritik steht deshalb der Unsagbarkeitstopos. Als rhetorischer Topos seit der Antike bekannt, mutiert er bei den Romantikern in Verbindung mit dem ästhetischen Motiv des je ne sais quoi zu einer negativen Sprachphilosophie. Die experimentellen Schreibprogramme der Romantik haben vor allem das Ziel, diese sprachliche Undarstellbarkeit literarisch zu gestalten. Nichts anderes aber hat auch Rudolf Otto im Sinn, wenn er betont, dass sich das Numinose nicht nur der begrifflichen Definition, sondern auch dem sprachlichen Zugriff entzieht und nur im Gefühl geahndet werden kann. Und so wie die Romantiker ihre Zuflucht in der Poesie gesucht haben, um den Sinn für die Religion zu erneuern, wählt auch Otto ein Darstellungsverfahren, das sich eher der Literatur annähert als dem methodisch kontrollierten und begrifflich argumentierenden Verfahren der Wissenschaft zu entsprechen.
4 Rudolf Ottos Heilige Poesie Unterzieht man Ottos Hauptwerk einer literaturgeschichtlichen Analyse, springt dessen frappierende Nähe zu dem auf Friedrich Gottlieb Klopstock zurückgehenden und von den Romantikern weiter entwickelten Programm der heiligen Poesie ins Auge. In seinem Essay Über das Heilige weist deshalb auch Carsten Colpe auf die Nähe von Ottos Darstellung zur Sprache Klopstocks und der Literatur der Dichtertheologen des 18. Jahrhunderts hin. Colpe bezieht sich dabei unter
Symptomatisch ist der sog. Chandos-Brief oder Brief des Lord Chandos an Francis Bacon. Es handelt sich um einen Text von Hugo von Hofmannsthal, der im Sommer 1902 verfasst und am 18. Oktober 1902 in der Berliner Literaturzeitschrift Der Tag publiziert wurde (in: Hugo von Hofmannsthal, Gesammelte Werke in Einzelausgaben. Prosa II, hg.v. Herbert Steiner, Frankfurt a.M. 1976, 7– 20).
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anderem auf eine germanistische Studie,⁴⁴ die im Zusammenhang einer Untersuchung zur Verwendung des Wortes ‚heilig‘ in der deutschen Dichtersprache notiert: „Es wäre eine lohnende Aufgabe, einmal Klopstocks Dichtungen nach den Kategorien von R. Otto’s Religionsphilosophie zu untersuchen; die Ausbeute für die Einzelmomente des Numinosen: das fascinans, das tremendum, das mirabile wäre reich“.⁴⁵ In der Tat illustriert besonders die Rede vom ‚Heiligen Schauer’ in Bezug auf das Numinose die religionsästhetische Familienähnlichkeit zur empfindsamen Dichtertheologie und zur religiösen Poesie der Romantiker. Ich denke deshalb, dass man Ottos Phänomenologie des Heiligen auch als eine performative Poetologie des Heiligen lesen kann, zumal sich Otto fast ausschließlich auf literarische Belege aus der heiligen Poesie der Religionen und der profanen Literatur bezieht und auch in seinen eigenen Reflexionen ausgesprochen poetisch zu Werke geht. So, wenn er etwa das Moment des Fascinans am Numinosen beschreibt: „Das Mysterium ist nicht bloß das Wunderbare, es ist auch das Wundervolle. Und neben das Sinn-verwirrende tritt das Sinn-berückende, Hinreißende, seltsam Entzückende, das oft genug zum Taumel und Rausch sich Steigernde, das Dionysische der Wirkungen des numen.“⁴⁶ Abgesehen von dieser geradezu mustergültigen Zusammenstellung romantischer Lieblingsvokabeln bedient sich Otto der religiös-poetischen Schreibart hier nicht aus Gründen der didaktischen Verdeutlichung theoretischer Einsichten, sondern erschafft seinen Gegenstand überhaupt erst im Vollzug der sprachlichen Darstellung. Dabei berührt sich Ottos Metaphorik in vielfältiger Weise mit der neuromantischen Poesie seiner Zeit und erschließt sich erst vor dem Hintergrund der religiös-ästhetischen Bewusstseinslage um 1900 und ihrer neuromantischen Erscheinungsformen in Kunst und Literatur in ihrer ganzen Bedeutung. Ich folge dabei auch den Überlegungen des Germanisten Wolfgang Braungart, der in seinen Studien zur religiösen und ästhetischen Erfahrung um 1900 notiert: „Im Kontext der ästhetischen Religiosität um 1900, im Kontext Georges und Rilkes wird die Bedeutung von Ottos Phänomenologie des Heiligen erst eigentlich begreifbar.“⁴⁷ Braungart zeigt denn auch, dass und wie beispielsweise Rilke zum hohen Ton und erhabenen Stil greift, um die nachmetaphysische Sinnleere der Moderne durch eine spezifisch ästhe-
Isabella Papmehl-Rüttenauer, Das Wort HEILIG in der deutschen Dichtersprache von Pyra bis zum jungen Herder, Weimar 1937. A.a.O. 50. DH, 42. Wolfgang Braungart, Ästhetische Religiosität oder religiöse Ästhetik? Einführende Überlegungen zu Hofmannsthal, Rilke und George und zu Rudolf Ottos Ästhetik des Heiligen, in: Ästhetische und religiöse Erfahrungen der Jahrhundertwenden, II: um 1900, hg.v. Wolfgang Braungart u. a., Paderborn 1998, 15 – 29, hier 25.
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tische Schreibart zu füllen und dabei ein emphatisch aufgeladenes Verständnis von heiliger Kunst und Poesie vertritt. Der dabei angeschlagene Ton, die Stimmung des Weihevollen und der Kult des Geheimnisses, das ästhetische Faible für das Irrationale und Mystische, die Berufung auf dunkle Empfindungen, sowie das Verständnis des Dichters als Seher und Priester, all das kennzeichnet nicht nur die vagierende Neureligiosität der Neuromantik um die Jahrhundertwende, sondern ist auch für Ottos poetologische Performanz des Heiligen charakteristisch.⁴⁸ Nur vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Dichtertheologie der Neuromantik ist es deshalb auch möglich, Ottos Insistieren auf der Präsenz eines objektiv gegebenen Numinosen angemessen zu interpretieren. Denn, was sonst als erkenntnistheoretischer salto mortale aus der Sphäre des subjektiven Gefühls in einen objektiv gegebenen Gegenstandsbereich der wissenschaftlichen Kritik verfallen muss, darf in poetologischer Hinsicht durchaus als zusammenbestehbar gelten. Zu Recht wird nämlich in Klopstocks Dichtung und in der religiösen Poesie der älteren und neueren Romantiker der Anspruch erhoben, nicht über das Heilige zu reden, sondern dieses selbst darzustellen und ihm in der Dichtung einen Ort einzuräumen, für den in der nachmetaphysischen Moderne sonst kein Platz mehr ist. Ottos Kategorie des Numinosen empfahl sich deshalb den sinnsuchenden Zeitgenossen als ein Zauberwort, das eine Antwort auf die religiöse Krise der radikal entzauberten Moderne bereithielt. In diesem Sinne lese ich Ottos Plädoyer für eine unverkürzte Wahrnehmung des Heiligen sowie die Art seiner sprachlichen Darstellung als religionstheologisches Modernisierungsprogramm, das sich der literarischen Strategien der ästhetischen Moderne bedient und darin bis heute – sieht man einmal von Fragen des Stils ab – nicht veraltet ist.
Vgl. auch Dirk Johannsen, ‚Religion‘ als diegetischer Raum. Eine narratologische Analyse von Rudolf Ottos ‚Das Heilige‘ (Anm. 35), 237– 256.
Jan Rohls
Das Heilige und die Kunst Rudolf Otto und die theologische Ästhetik der zwanziger Jahre Rudolf Ottos Ausführungen zum Verhältnis von Religion und Kunst umfassen zwar nur wenige Seiten, aber bereits aus ihnen geht hervor, dass er die Kunst als wesentliches Ausdrucksmedium der Religion verstand. Zudem ist der Einfluss, den seine Konzeption des Heiligen und Numinosen auf die Bestimmung dieses Verhältnisses bei jüngeren Theologen und Religionswissenschaftlern in den zwanziger Jahren hatte, nicht zu verkennen. Das lässt sich vor allem an zwei Autoren verdeutlichen: an Gerardus van der Leeuw und an Paul Tillich. Beide haben sich für das Verhältnis von Religion und Kunst interessiert, und beide treten nicht nur als Religionsdeuter, sondern auch als Kulturkritiker auf, die das Verhältnis von Kunst und Religion aus kulturkritischer Perspektive in den Blick nehmen, wobei sie Ottos Kategorie des Heiligen eine zentrale Funktion einräumen. Schließlich greift Otto selbst ja mit der Benennung dieser Kategorie auf einen Begriff – „heilig“ – zurück, dessen Karriere mit der deutschen Dichtung seit Klopstock beginnt und daher aufs engste mit der Kunst verbunden ist.
1 Rudolf Otto und das Numinose in der Kunst Dass Religion und Ästhetik in einer engen Beziehung zueinander stehen, muss sich für einen Theologen wie Otto schon deshalb nahe legen, weil er seinen religionsphilosophischen Ausgang bei Fries nimmt. In seinem Werk „Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie“ aus dem Jahre 1909 wendet er sich gegen den verbreiteten Vorwurf, dass, während Hegel die Religion logisiere, Fries sie ästhetisiere und im künstlerischen Genießen untergehen lasse. Denn schließlich könne man „ihm viel eher vorwerfen, daß er die Aesthetik in Religion aufgehen, als daß er die Religion in Aesthetik untergehen lasse, daß er nicht sowohl die Religion ästhetisiere, als vielmehr die Aesthetik religionisiere.“¹ Denn das Tiefere im ästhetischen Eindruck, das über den Geschmack hinausgehende Gefühl des Schönen und Erhabenen, ist für Fries religiöser Natur. Otto stimmt dem vorbehaltlos zu und verdeutlicht es an einem Beispiel. Man denke sich einen künstlerisch veranlagten Menschen, aufgewachsen in niedrigen Verhältnissen, hineingezwängt in ein banales Dasein, bar jeder Gelegenheit, sein Inneres zu entwickeln. Trotzdem wird KFR, 113.
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sich sein Inneres äußern, und zwar „in Stimmungen und Gefühlen, in dunklen Vorstellungen von etwas ‚ganz Anderem‘, das er nur ‚negativ‘ erkennt. Nämlich als das ‚Andere‘, aber von dem er doch im dunkeln Gefühle positive Erkenntnis besitzt.“² So muss man sich der Fries’schen Philosophie gemäß den Menschen als vernünftigen Geist denken, der zwar seinem Wesen nach ewig und frei sowie Glied einer Welt des höchsten Gutes unter der Herrschaft der allmächtigen Güte ist, aber zugleich in der ihn umgebenden Naturwelt lebt. Er weiß dunkel um die ewige Wahrheit. „Und in Gefühlen bricht als Ahnung dieses gründliche Wissen heraus.“³ Das ist aber überall da der Fall, wo ein Ding oder Ereignis religiöse Gefühle weckt, wie das beim Erhabenen oder Wunderbaren der Fall ist. „Das Allgemeinste ist hier jenes ganz verworrene, auch allem symbolischen Ausdruck widerstrebende Gefühl der Abgrundtiefe und des Geheimnisses von Dasein und Welt überhaupt, das auch gegenüber weitestgehendem Erklären und Verstehen der Natur aus Ursachen und nach Gesetzen sich ganz unverändert gleich behauptet. Es kann mit geradezu Sinne verwirrender Gewalt aus dem Innersten aufbrechen und alle Fibern zum Erzittern bringen.“⁴ Anmerkungsweise verweist Otto darauf, dass ihm selbst dieses Gefühl besonders lebhaft geworden sei „im abendlichen Schweigen des Wüstensandes gegenüber dem ungeheuren Sphinx von Gizeh und seinen ins Unendliche blickenden Augen“.⁵ Latent sei es wohl in jeder Seele vorhanden und entzünde sich vielleicht am besten im Mittagsschweigen auf weiter Heide. Und hier nennt Otto auch ein repräsentatives Bild der zeitgenössischen Neuromantik, der ja auch seine eigene Religionstheorie zuzuordnen ist: Böcklins „Schweigen im Walde“ aus dem Jahre 1885, ein damals berühmtes und verbreitetes Gemälde. Es zeigt eine weiße weibliche Gestalt mit großen Augen, die auf einem Einhorn aus dem Wald reitet. Doch zurück zu Ottos Friesdeutung: Wenn der menschliche Geist wirklich ein Bürger der ewigen wahren Welt Gottes ist, in der alles dem höchsten Zweck gemäß ist, so steigen in ihm, wenn er in der Natur etwas von dieser unbegreiflichen Zweckmäßigkeit erfährt, Gefühle eines eigentümlichen Wohlgefallens auf. „Das deutliche Gebiet solchen Ahnens durch eigenartiges Wohlgefallen ist das des Schönen und Erhabenen.“⁶ Was das Schöne ist, vermögen wir nicht zu sagen, da es undefinierbar ist. Nur formal lässt sich sagen, dass Schönes nur dort vorhanden ist, wo ein anschauliches Mannigfaltiges von uns als eine Einheit gefühlt wird. Eine solche Form der Einheit nennt Kant eine ästhetische Idee. „Indem ich in ästhetischen Ideen in der Welt der Erscheinung die Einheit und Verbindung der wahren Wirklichkeit, so wie sie an sich besteht, dunkel auffasse,
KFR, 113. KFR, 114. KFR, 116. KFR, 116. KFR, 117 f.
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fasse ich ihre Teleologie zugleich ahnend mit auf.“⁷ Noch deutlicher als beim Schönen wird die Verbindung von Ästhetik und Religion beim Erhabenen, beim mathematisch Erhabenen wie einem hohen Dom, einer steil aufragenden Felswand und dem unermesslichen Meer oder beim dynamisch Erhabenen wie dem DrohendFurchtbaren in der Natur oder der Seelengröße und Heldenhaftigkeit eines Menschen. Wie stark gerade das ästhetische Erlebnis des Erhabenen mit dem religiösen Gefühl verbunden ist, wird an dem Zitat aus Goethes „Faust“ deutlich, das Otto seinem 1917 erschienenen Klassiker „Das Heilige“ als Motto vorangestellt: „Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil;/ Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure,/ Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.“ Der Vers findet sich in der Szene „Finstere Galerie“ im ersten Akt des zweiten Teils der Tragödie. Mephisto führt Faust hinab zu den Müttern, weiblichen Gottheiten, denen er den Dreifuß entwenden soll. Und der Vers enthält nicht nur die Stichworte, die für Ottos Bestimmung der Religion charakteristisch sind – „Schaudern“, „Gefühl“, „ergriffen“, „das Ungeheure“ –, sondern auch die entsprechende Wertung. Schaudern, ergriffen sein, tief das Ungeheure fühlen, kurzum das religiöse Gefühl des Numinosen, das ist der Menschheit bestes Teil. Otto bezeichnet das Erhabene als das wirksamste Darstellungsmittel des Numinosen in den Künsten.⁸ Das gelte insbesondere und zeitlich am frühesten für die Architektur. Schon im Großsteinzeitalter beim Aufstellen riesiger unbehauener Felsblöcke, dann aber vor allem in Ägypten beim Bau von Masteben, Obelisken und Pyramiden. Besonders an den frühchinesischen Buddhagestalten nimmt er eine Verbindung des Numinos-Magischen mit dem Erhabenen wahr, während dem westlichen Menschen die Gotik um ihrer Erhabenheit willen als die numinoseste Kunst erscheint. Allerdings sind das Erhabene und das Magische bloß indirekte Darstellungsmittel des Numinosen in der Kunst, während es im Westen nur zwei direkte künstlerische Darstellungsmittel gibt, die beide negativ sind, nämlich das Dunkel und das Schweigen. Die östliche Kunst kennt noch ein drittes direktes Darstellungsmittel des Numinosen: die Leere.⁹ Ein positives Darstellungsmittel kennt aber selbst die Musik nicht, die ansonsten allen Gefühlen Ausdruck zu verleihen vermag.¹⁰ Ernst Troeltsch hat 1918 in seiner Rezension des „Heiligen“ das Eigentümliche an Ottos Religionsauffassung gegenüber derjenigen von Fries in der „Heraushebung der ‚irrationalen‘ Elemente im Religiösen“ erblickt. Folgt man Troeltsch, so klebt Otto „seinen eigenen numinosen Irrationalismus und den Friesischen Rationalis KFR, 120. DH, 86 f. DH, 88 f. DH, 207 ff.
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mus einfach aufeinander“¹¹. Tatsächlich ist es die neuromantisch-symbolistische Hervorhebung des Irrationalen an der Religion, mit der Otto nach dem ersten Weltkrieg Schule gemacht hat. Erst wo man zum Irrationalen vorgestoßen ist, wo man das Numinose als das Ganz Andere, als Mysterium tremendum et fascinans erfahren hat, meint man zur Tiefendimension der Religion vorgestoßen zu sein. Das bedeutet aber auch, dass das eigentlich Wahre nicht das rational Begreifbare, sondern dasjenige ist, das sich dem rationalen Begreifen entzieht. Dass derartige Vorstellungen in der Nachkriegszeit auf fruchtbaren Boden fielen, ist nicht verwunderlich, stimmen sie doch völlig überein mit der allgemeinen Kritik am Rationalisierungsprozess der westlichen Welt. Die verbreitete Rationalitätskritik griff die These, dass das eigentliche Wesen der Religion im Irrationalen liege, begeistert auf und nützte sie als Waffe im Kampf gegen eine ausdifferenzierte Kultur, die den Säkularisierungsprozess durchgemacht hatte. An deren Stelle wünschte man sich eine Einheitskultur zurück, in der die Religion den irrationalen Grund aller Bereiche des Lebens abgab. Dass diese kulturkritische Sicht der westlichen Moderne nicht ohne Folgen für die Ästhetik ist, zeigt zunächst das Beispiel des niederländischen Religionsphänomenologen Gerardus van der Leeuw.
2 Van der Leeuw und die Einheitskultur Es vor allem van der Leeuw gewesen, der im Rückgriff auf Ottos Kategorie des Heiligen das Verhältnis von Kunst und Religion erörtert hat. Sein Werk „Wegen en Grenzen. Over de verhouding van religie en kunst“ erschien in erster Auflage 1932 in Amsterdam. 1957 erschien die deutsche Übersetzung der postum vom Herausgeber umgearbeiteten dritten Auflage unter dem Titel „Vom Heiligen in der Kunst“. Bereits in der Einleitung begegnet der Bezug auf Otto. „Wenn wir verbindende Wege und trennende Grenzen zwischen dem Heiligen und dem Schönen erforschen wollen, müssen wir uns erst darüber klar werden, was das Heilige ist. … Gelingt es uns, Wege vom Heiligen zum Schönen zu finden, so wird das Schöne auch irgendwie dieses Bewusstsein in uns wachrufen und uns zum ganz anderen führen müssen.“¹² Mit dem Schönen ist dabei die Kunst gemeint, und van der Leeuw behandelt in seinem Buch nacheinander die verschiedenen Künste: Tanz, Drama,Wortkunst, bildende Kunst, Baukunst, Musik. Bei jeder Kunst geht er nach demselben Schema vor. Zunächst behandelt er die primitiven Kunstäußerungen,
Ernst Troeltsch, Zur Religionsphilosophie. Aus Anlaß des Buches von Rudolf Otto über „Das Heilige“, in: Kant-Studien 43 (1918), 65 – 76, hier 73. Gerardus van der Leeuw, Vom Heiligen in der Kunst, Gütersloh 1957, 17.
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die alle identisch sind mit religiösen Handlungen. Dann zeigt er zweitens die Entwicklung der jeweiligen Kunst auf, wie sie sich von der Religion emanzipiert. Das führt drittens zu einem Konflikt zwischen Religion und Kunst.Viertens werden einige Momente genannt, „die sich für die Wiederbelebung der ursprünglichen Einheit, also für religiöse Kunst, als notwendig erweisen“.¹³ Eine theologische Ästhetik sucht fünftens nach einem Zusammenhang zwischen dem Wesenskern der jeweiligen Kunst und der Offenbarung Gottes. Der vierte Punkt macht deutlich, worum es van der Leeuw geht: um die Wiederbelebung der ursprünglichen Einheit von Kunst und Religion, die im neuzeitlichen Säkularisierungsprozess der Kunst verloren gegangen ist. Dass van der Leeuw seine Untersuchung mit dem Tanz beginnen lässt, hat seinen Grund darin, dass er den Tanz als die universellste aller Künste betrachtet. Alle Gefühle fanden ursprünglich ihren Ausdruck im Tanz, wobei der religiöse Charakter des Tanzes sich am deutlichsten in der Tanzpantomime zeigt. Aus dem Tanz ist das Drama entstanden. Seine Hauptperson war ursprünglich ein Gott, dessen Leiden und Tod das tragische und dessen Wiederauferstehung das heitere Element darstellten. Das Drama war also ursprünglich heiliges Spiel. Aber: „Die Geschichte des Dramas ist eine Geschichte der Säkularisierung.“¹⁴ Wie jedoch die Kirche viel vom Theater hat, so hat umgekehrt das Theater immer noch manche Überbleibsel von der Kirche. Und van der Leeuw benennt zudem zwei Momente, die die Berührung von Religion und dramatischer Kunst verdeutlichen. Durch das Spiel wird zum einen eine Lebenserweiterung und Lebensvertiefung bewirkt, „und durch sie wird es gelegentlich fähig, dem Heiligen Ausdruck zu verleihen“.¹⁵ Denn „Erweiterung und Vertiefung, schlagartiges Erleben des Lebens als Ganzheit bringt die Vermutung der Heiligkeit mit sich“.¹⁶ Zum andern wird gerade im modernen Drama bei Ibsen das menschliche Leben „als Symbol Träger einer umfassenderen, überpersönlichen Wirklichkeit“.¹⁷ Ibsens Menschen sind Symbole ewiger Werte, und „es ist uns als könnten wir mit Hilfe der Dramen Ibsens einen Blick werfen in das Drama Gottes“.¹⁸ Das Menschliche wird bei ihm zum Ausdruck des Heiligen. Natürlich gilt auch für den Dichter, dass er ursprünglich „Träger heiliger Macht“ ist.¹⁹ Er ist Mythologe, Wortschöpfer. Es ist aber für van der Leeuws eigene Position
A.a.O. 20. A.a.O. 99. A.a.O. 113. Ebd. A.a.O. 117. A.a.O. 118. A.a.O. 131.
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wichtig, dass es in seinen Augen keinen Grund gibt, „um – wie es die Theologie vielleicht möchte – dem Wort eine exklusive oder auch nur besondere Stellung einzuräumen im Verhältnis des Menschen zu dem anderen, wie es die Religion kennt“.²⁰ Auch ist das Wort nicht die ursprüngliche Weise des menschlichen Ausdrucks, sondern das erste Wort war die Gebärde. Das Wort ist sekundär. Allerdings steht für van der Leeuw fest, „daß es zwischen der Wortkunst und der Religion einen inneren Zusammenhang gibt, der niemals ganz abreißen kann“.²¹ Naturalistische und psychologische Romane, gerade auch Proust, sind für ihn kaum mehr Kunst. Auch die Verselbständigung der Wortkunst im Ästhetizismus wird der Kunst nicht gerecht. Doch gerade die Bibel beweist, „daß die Wortkunst Ausdruck des Heiligen sein kann“.²² Momente der Harmonie zwischen Wortkunst und Religion erblickt van der Leeuw unter anderem im Moment des Erhabenen sowie im Schweigen und Beinah-Schweigen. „Eine Harmonie zwischen Schönheit und Heiligkeit finden wir am häufigsten in Worten, die zu Gott und vor seinem Angesicht gesprochen werden, in den Hymnen.“²³ Als Beispiele werden Klopstock und Hölderlin genannt, und unter den Gegenwartsdichtern ist für ihn „Stefan George der erste, der das Wort wieder ganz heilig hielt, und in dessen Sprache, die im vollsten Sinne sakral ist, jedes Wort das Gewicht einer Götterbeschwörung hat“.²⁴ Diejenige Kunst, die die größte Affinität zur Religion aufweist, ist für van der Leeuw die bildende Kunst. Das Bild ist ursprünglich Kultbild, also Bild einer heiligen Handlung. Allerdings gehen in der Entwicklung der Christusdarstellungen in der westlichen Kunst das Moment der göttlichen Kraft, das sie ursprünglich zum Ausdruck brachten, und der Abstand immer mehr verloren. Es ist gerade der Verlust das Abstands, der die Vereinigung von Kunst und Religion im Bild so schwierig werden lässt und der dann auch immer wieder zu religiösem Bilderverbot und Bildersturm geführt hat. Bei der Beantwortung der Frage nach der Darstellbarkeit des Heiligen im Bild orientiert sich van der Leeuw an den von Otto genannten Momenten des Numinosen. „Das Faszinans, den Reiz, den das Heilige ausübt, kann man ausdrücken durch das Farbige, das Sonnige im Gegensatz zum Dunkeln“.²⁵ Das Tremendum und Furchterregende im Heiligen bringt die drohende Majestät der byzantinischen Kunst ebenso zum Ausdruck wie Dürers „Christus mit der Dornenkrone“ oder Michelangelos Verdammter vom „Jüngsten Gericht“. Das Gespenstige und Grauenhafte wird im Auferstandenen von Grünewalds „Isenheimer
A.a.O. 133. A.a.O. 140. A.a.O. 146. A.a.O. 150. Ebd. A.a.O. 195.
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Altar“ deutlich. Rembrandts Bilder erzielen durch den Hell-Dunkel-Kontrast eine numinose Wirkung, und zumal die jeweils anders gearteten Christusdarstellungen von Rembrandt, Leonardo und Michelangelo offenbaren die Verbindung von Heiligkeit und Schönheit im Menschlichen. Das Christusbild auf Dürers „Schweißtuch der Veronica“ schließlich vereinigt für van der Leeuw am herrlichsten „Härte und Liebe, Majestät und Erbarmen, Tremendum und Faszinanz“.²⁶ Was die Architektur betrifft, so ist natürlich auch das Bauen zunächst eine mit Riten und Opfern verbundene heilige Handlung. Allerdings handelt es sich bei der Baukunst um die jüngste Kunst, da der primitive Mensch sein Heiligtum in der Natur vorfand. Doch auch auf dem Gebiet des Bauens kommt es schon früh zu einer Entfremdung, und zumal die Reformation bedeutet hier einen bedeutenden Einschnitt. Denn einen eigenen protestantischen Kirchenbau gibt es van der Leeuw zufolge gar nicht. Angesichts der als Greuel eingestuften historistischen Kirchenbauten des neunzehnten Jahrhunderts hofft van der Leeuw jedoch auf eine Rückkehr „zu der Form, die Ausdruck des Heiligen sein will“.²⁷ „Wir haben seit der Renaissance verlernt, Gotteshäuser zu bauen. Die Renaissance hatte vergessen, dass Gott im Dunkel wohnt, ‚sie strebt hinaus aus den düstern Hallen der gotischen Dome in das helle Licht der Menschenwelt“.²⁸ Es gibt aber auch in der Architektur Momente der Harmonie zwischen Kunst und Religion. Das erste Moment ist das Massal-Lapidare, das numinose Kraft besitzt. Indem sie Masse entweder möglichst überwindet oder selbst sprechen lässt, „besitzt sie ein Mittel, das Heilige nach einer bestimmten Seite seines Wesens hin auszudrücken“.²⁹ Nicht anders ist es bei der Klanghäufung in der Musik, „um das Erlebnis des ganz anderen zu interpretieren“.³⁰ Andere numinose Momente der Architektur sind das monotone Viele vor allem in der indischen Kunst oder – worauf Otto hingewiesen hat – das Leere im Islam. Die letzte Kunstgattung, die van der Leeuw behandelt, ist die Musik. Auch hier ist es so, dass sich die Musik aus ihrer ursprünglichen religiösen Funktion befreit hat, wobei es Übergänge gibt, für die insbesondere die Passion beispielhaft ist. Für die Liturgie bedeuten die großartigen Passionen des Barock, schon die Kantaten, insofern einen Nachteil, als die klassische Form des Gottesdienstes sie nicht mehr fassen kann. Bereits die Polyphonie bedeutet einen Schlag für die für liturgische Musik geforderte Objektivität. Zwar scheint die Musik von allen Künsten der Religion am nächsten zu stehen. Aber wie beim Bild gab es natürlich auch in Bezug
A.a.O. 198. A.a.O. 205. A.a.O. 206. A.a.O. 210. A.a.O. 211.
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auf die Musik und ihre religiöse Funktion Konflikte. Das Hauptproblem besteht für van der Leeuw darin, dass die meisten religiösen Kompositionen keinen inneren Zusammenhang zwischen Heiligkeit und Schönheit aufweisen, sondern beide nur äußerlich verbunden sind. Er erklärt, „daß in manchem scheinbar ganz unreligiösen Kunstwerk – etwa in Mozarts Champagnerlied – mehr Tiefe, auch mehr Bewußtsein des Heiligen liegt als in manchem Oratorium oder geistlichem Lied“.³¹ Das bedeutet, dass nicht spezifisch religiöse Musik religiös bewegen kann aufgrund bestimmter Momente wie etwa der Erhabenheit. Zu jenen Momenten gehören auch der Durchbruch göttlichen Lichts in Tönen wie in Brucknersymphonien, die überirdische Heiterkeit in Mozartopern, das Himmlische bei Wagner und anderes mehr. Man könnte von daher glauben, dass van der Leeuw geneigt wäre, Schopenhauers Wertung zuzustimmen und der Musik eine Ausnahmestellung unter den Künsten zuzusprechen. Doch das ist nicht der Fall. Den „Weg von der Kunst zur Theologie, von Gottes Schöpfung zur menschlichen Schöpfung finden wir im Anblick des Bildes Gottes als der ganz anderen Wirklichkeit, nicht in erster Linie im schönen Klang, sondern dort, wo die Kunst darstellt, im Bild“.³² Damit ist der Übergang zur theologischen Ästhetik vollzogen, mit der van der Leeuw sein Werk beschließt. „Schönheit ist Heiligkeit. Aber Heiligkeit ist nicht unbedingt, nicht ausschließlich Schönheit, sie ist mehr.“³³ Große Kunst ist auch religiöse Kunst, echter Ausdruck des Schönen auch Ausdruck des Heiligen. Aber es ist nicht der religiöse Inhalt, der die Kunst religiös macht. „‚Geistliche‘ Musik im eigentlichen, tiefen Sinn ist nicht nur die Musik von Bach und Palestrina, sondern auch eine Symphonie von Beethoven, eine Oper von Mozart, ein Walzer von Strauß. Alle Musik, die absolute Musik ist, ohne Zusätze, ohne alles Unechte, ist Dienerin Gottes, wie es auch die reine Malerei ist, gleichgültig, ob sie geistliche Gegenstände behandelt oder nicht“.³⁴ Alle wahre Kunst ist Ausdruck oder zumindest Vorbedingung des Ausdrucks des Ganz Anderen. Es gibt in diesem Sinne keine christliche Kunst, sondern „nur Kunst, die vor dem Heiligen gestanden hat“.³⁵ Van der Leeuw ist zwar der Überzeugung, dass keine Kunst wertvoller ist als eine andere. Aber eine Theologie, die die Menschwerdung Gottes ins Zentrum rückt, wird den Mittelpunkt im Bild suchen. Begründet wird dies einerseits mit der Gottebenbildlichkeit des Menschen und andererseits mit Christus als Bild Gottes. Damit sind wir aber bei der Ikone, in der die Lehre vom Bild Gottes fortlebt, und damit zugleich bei van der Leeuws Widerspruch gegen die Worttheologie Barths.
A.a.O. A.a.O. A.a.O. A.a.O. A.a.O.
234. 256. 270. 274. 284.
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So ist der Boden bereitet für eine Theologie der Künste, in der das Bild im Zentrum steht, weil für van der Leeuw die christliche Theologie nicht mit Gott und der Schöpfung, sondern mit Christus und der Erlösung beginnt. Im Mittelpunkt steht die Gestalt des Gekreuzigten, in der Gott sich selbst darstellte. Mit dem Bild Gottes gehören das Wort als Lob Gottes und das Bauen als Haus Gottes zur Erlösung und zum Sohn, Tanz als Bewegung Gottes und Drama als Spiel Gottes zur Schöpfung und zum Vater, die Musik schließlich als Geist Gottes zur Eschatologie und zum Heiligen Geist. Kunst und Religion sind zwar Parallellinien, die sich nur im Unendlichen, das heißt in Gott schneiden. Aber es gibt schon in unserer Welt Momente, in denen Heiligkeit und Schönheit sich finden, dort nämlich, „wo sich die Kunst zum Absoluten wendet, wo das ganz andere ist“.³⁶ „An diesem Schnittpunkt suchen wir mit den Worten Rudolf Ottos jene Schönheit, die Faszinanz und Tremendum ist, der wir uns mit froher Hoffnung, aber auch mit erschauernder Scheu nähern.“³⁷ Da für van der Leeuw Religion und Kunst ursprünglich eine Einheit bildeten, dient seine Suche nach Momenten von Schnittstellen zwischen Religion und Kunst auch nach dem Zerfall dieser Einheit dem Ziel, die Hoffnung auf eine schließliche Wiedervereinigung zu beflügeln.
3 Tillich und das Unbedingte in der Kunst Für van der Leeuw bedeutet die Wiedergewinnung der Einheit von Kunst und Religion nicht die Rückkehr zu alten Formen der Kunst. „Ließe sich der religiöse Charakter der Kunst vollständig aus ihrer altmodischen Form erklären, so wäre schwerlich einzusehen, wieso die Musik eines Gustav Mahler oder, moderner, ein expressionistisches Bild das Erlebnis des Heiligen deutlich hervorruft, während sogenannte religiöse Musik in den geeichten alten Formen oder kirchliche Malerei nach den bekannten Vorwürfen uns religiös völlig kaltlassen kann“.³⁸ Der Hinweis auf die expressionistische Malerei gehört zu den wenigen Verweisen auf die zeitgenössische moderne bildende Kunst, die sich bei van der Leeuw finden. Das ist bei Tillich insofern anders, als seine erste Veröffentlichung zum Verhältnis von Religion und Kunst, der 1921 publizierte Aufsatz „Religiöser Stil und religiöser Stoff in der bildenden Kunst“, angeregt ist durch die Lektüre zweier Werke, die sich mit dem Verhältnis von Expressionismus und Religion befassen. Das eine aus dem Jahre 1920 stammt von Eckart von Sydow und trägt den Titel „Die deutsche ex-
A.a.O. 338. Ebd. A.a.O. 69.
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pressionistische Kultur und Malerei“, das andere von 1919 ist das von Gustav Friedrich Hartlaub verfasste Buch „Kunst und Religion. Ein Versuch über die Möglichkeit neuer religiöser Kunst“. Tillich distanziert sich sowohl von Hartlaub als auch von von Sydow. Für von Sydow ist der religiöse Stil als solcher religiöse Kunst, so dass es eigentlich keiner spezifisch religiösen Stoffe bedarf. Für Hartlaub ist hingegen kein Stil eo ipso religiös, wohl aber gibt es präreligiöse Stile, während religiöse Kunst nur dort vorliegt, wo vom Künstler in religiöser Gesinnung ein präreligiöser Stil mit einem religiösen Stoff verbunden wird. Hartlaub ist aber in Tillichs Augen nicht in der Lage, zu erklären, inwiefern ein bestimmter Stil präreligiös ist, also eine bestimmte Affinität zur Religion hat. Von Sydow wiederum kann nicht erklären, wieso die Expressionisten, wenn bereits ihr Stil religiös ist, sich spezifisch religiösen Stoffen zuwenden. Was Tillich mit Hartlaub und von Sydow teilt, ist allerdings die Auffassung, dass es sich beim Expressionismus um eine Kunstform handelt, die mehr als andere in der Lage ist, das Heilige zum Ausdruck zu bringen. Er geht dabei aus von einer Unterscheidung von Stil überhaupt, spezifisch religiösem Stil und religiösem Stoff. Stil lässt sich für ihn nicht als eine aus rein formalen Gründen begreifbare Weiterentwicklung der Form, sondern nur als die unmittelbare Einwirkung des Gehalts auf die Form verstehen. Mit Gehalt meint Tillich „eine bestimmte Grundstellung zur Wirklichkeit überhaupt“, „die letzte Sinndeutung, die tiefste Realitätserfassung“.³⁹ Diese Funktion der Unbedingtheit ist in seinen Augen religiös, so dass „alle Kultur, insofern sie Gehalt zum Ausdruck bringt, religiös“ ist.⁴⁰ Bezogen auf die Kunst als einen Teilbereich der Kultur heißt das: „weil alle Kunst einen Gehalt, eine Stellung zum Unbedingten zum Ausdruck bringt, darum ist sie religiös“.⁴¹ Das bedeutet aber, dass bereits der Stil als solcher die religiöse Qualität der Kunst ausmacht, so dass alle Kunst religiös ist. Allerdings „gibt es Stile, in denen die Herrschaft des Gehaltes über die Form ebenso scharf hervorsticht wie in anderen die Eigenbewegung der Form“.⁴² Formbeherrschte Stile sind Impressionismus und Realismus, gehaltsbeherrschte Romantik und Expressionismus, ausgeglichene Idealismus und Klassizismus. Die Doppelung in den einzelnen Typen verdankt sich dem Unterschied von Subjektivität und Objektivität. Im gehaltsbeherrschten romantischen und expressionistischen Stil offenbart sich der Gehalt auf formdurchbrechende Weise, und das ist der Grund dafür, dass er im engeren Sinne als religiös, der realistische und impressionistische Stil hingegen im engeren Sinne als un-
Paul Tillich, Religiöser Stil und religiöser Stoff in der bildenden Kunst, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 9, hg.v. Renate Albrecht, Stuttgart 1967, 318. Ebd. Ebd. A.a.O. 319.
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religiös bezeichnet werden kann.Während die unreligiösen Stile jeden Stoff relativ profanisieren,verleihen die religiösen Stile jedem Stoff religiöse Qualität. „Es ist in der Tat möglich, in einem Cézanneschen Stilleben, einem Marcschen Tierbild, einer Schmidt-Rottluffschen Landschaft, einem Noldeschen Erotikbild die unmittelbare Offenbarung einer absoluten Wirklichkeit in den relativen Dingen anzuschauen; der Weltgehalt, erlebt in des Künstlers religiöser Ekstase, scheint hindurch durch die Dinge; es sind ‚heilige‘ Gegenstände geworden.“⁴³ Kunstwerke, die sich durch einen religiösen Stil im engeren Sinne auszeichnen, üben Tillich zufolge eine religiöse Wirkung allerdings nur dann aus, wenn der Künstler sie in religiöser Stilgesinnung geschaffen hat. Wenn aber durch den religiösen Stil alle Dinge zu heiligen Gegenständen werden können, dann fragt es sich, warum es noch eines besonderen religiösen Stoffs bedarf. Das ist deshalb so, weil der religiöse Stil, wenn er auf profane Gegenstände angewandt wird, immer den nichtreligiösen Eigengehalt des Stoffs zu überwinden hat. Das religiöse Bewusstsein will sich aber auch in solchen Stoffen erfassen, die gar keine profane Eigenbedeutung haben, sondern rein religiöse Symbole sind. Allerdings liegt genau hier das Problem. Denn Tillich ist sich durchaus dessen bewusst, dass die traditionellen religiösen Symbole des Christentums ihre Überzeugungskraft verloren haben und eine neue Symbolik sich nur ergeben kann „aus der neuen Offenbarung des Unbedingten, die mit Schicksalgewalt uns packt – und mit den Formen, die, aus unserem Weltbewußtsein geboren, möglich und notwendig für uns sind“.⁴⁴ Wie für van der Leeuw gilt auch für Tillich, dass er sich in seiner eigenen Bestimmung des Verhältnisses von Religion und Kunst wesentlich auf Otto stützt. Tillich hat Rudolf Otto frühzeitig zur Kenntnis genommen und positiv gewürdigt. Seitdem spielt der Begriff des Heiligen bei ihm eine zentrale Rolle, und zwar gerade auch dort, wo es um das Verhältnis von Kunst und Religion geht. Allerdings hat er Otto nicht ohne Korrektur übernommen. In seinem Aufsatz „Die Kategorie des ‚Heiligen‘ bei Rudolf Otto“ von 1923 bemängelt er ebenso wie Troeltsch an Otto, dass das Verhältnis des Irrationalen zum Rationalen trotz des Untertitels im Hauptwerk „Das Heilige“ bei ihm nicht geklärt werde. Tillich will daher zeigen, in welchem Wesensverhältnis das Ganz Andere oder Heilige zu den sonstigen Bewusstseinsformen steht. Der Begriff, der diese ursprüngliche Wesensbeziehung des Heiligen zu ihnen zum Ausdruck bringt, ist Tillich zufolge der des Unbedingten. Dieser Begriff impliziert einerseits das, was mit dem Anderen, Fremden gemeint ist und er bringt andererseits besser als der Begriff des Ganz Anderen zum Ausdruck, dass es sich bei dem Anderen um etwas handelt, das gerade für mich
A.a.O. 320. A.a.O. 323.
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von entscheidender Bedeutung ist. Das Heilige ist somit das Unbedingte, das auch zu der Sphäre der rationalen Werte in einer Wesensbeziehung steht. Aus dieser Neubestimmung des Heiligen als des Unbedingten ergibt sich auch eine neue Auffassung des Verhältnisses von Religion und Kultur. „Es wird bestritten, dass irgend eine Kulturerscheinung schlechthin außerhalb der heiligen Sphäre steht, denn sobald es eine Kulturerscheinung, d. h. geistig geformt ist, trägt sie in sich die Anerkennung des Heiligen als unbedingt Geltendem.“⁴⁵ Das Unbedingte ist das ekstatische Element, von dem auch die Ratio lebt, und es existiert nur in den Kulturformen. Doch „nicht die Form als solche ist das Heilige, sondern das Unbedingte, das sich in die Form ergießt und zugleich jede Form sprengt, die es sich gegeben hat.“⁴⁶ Was ist mit dieser Bestimmung des Heiligen als des Unbedingten gewonnen? In Tillichs Augen ist damit die verhängnisvolle Nebenordnung von Religion und Kultur,von Irrationalem und Rationalem,von Heiligem und Profanen aufgehoben, insofern das Heilige als das Unbedingte nunmehr als der tragende Grund und als das verzehrende Feuer aller Kultur gefasst wird. „Erst in einer solchen zukunftsgerichteten Divination würde der Durchbruch, den Ottos Analyse des Heiligen bedeutet, zu voller Auswirkung kommen.“⁴⁷ Das Unbedingte ist für Tillich also das Heilige, und insofern die bildende Kunst aufgrund ihres Stils immer auf das Heilige bezieht, ist für ihn erstens bildende Kunst an sich religiös. Das ist die Implikation seiner Theologie der Kultur. Aber Tillich will natürlich auch werten, und da ist zweitens eine Kunst, in der der Gehalt, das Unbedingte oder Heilige über die Form herrscht, religiöser und das heißt zugleich tiefer als eine, in der das nicht der Fall ist. Das führt zu einer Bevorzugung der romantischen, vor allem aber der expressionistischen Kunst. Dagegen bleibt drittens die religiöse Kunst im engeren Sinn, die sich religiöser Stoffe und Symbole bedient, problematisch, weil die traditionellen christlichen Symbole ihre innere Überzeugungskraft verloren haben. In seiner Abhandlung „Die religiöse Lage der Gegenwart“ von 1926 kann Tillich daher dem Expressionismus an sich, völlig abgesehen von der Stoffwahl, religiösen Charakter attestieren. Ein Stilleben von Cézanne oder ein Baum von van Gogh hat für ihn mehr „Heiligkeitsqualität“ als ein Jesusbild von Uhde. „Sobald nun aber der Expressionismus selbst zum religiösen Stoff greift, zeigt sich seine charakteristische Grenze. Seine Mystik steht außerhalb der religiösen Tradition. Sie kann sich an den alten Symbolen nicht entzünden, und sie kann den alten Symbolen keinen neuen Ge-
Paul Tillich, Die Kategorie des „Heiligen“ bei Rudolf Otto, in: Ders., Gesammelte Werke, Bd. 12, hg.v. Renate Albrecht, Stuttgart 1971, 186. Ebd. Ebd.
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halt abgewinnen.“⁴⁸ Das spezifisch Religiöse des Expressionismus, aber auch des Futurismus, Kubismus und Konstruktivismus ist denn auch nicht sein Stoff, sondern sein Durchbruch durch die in sich ruhende Form des Daseins zum Unbedingten, die Rückgewinnung der metaphysischen Tiefe, das innere Hinausgehen der Dinge über sich selbst ins Jenseitige. Nicht zuletzt wegen ihres Rückgriffs auf ältere, primitive und exotische Formen wird die moderne Malerei als Protest gegen den Geist der bürgerlichen Gesellschaft verstanden. Tillich entdeckt in der modernen Kunst eine erneute Hinwendung zur Transzendenz, zum Unbedingten und Heiligen, während der bürgerliche Geist ganz der Immanenz, dem Bedingten und Profanen zugeordnet wird. Selbst in der zeitgenössischen Architektur sieht er diesen Zug zur Transzendenz, auch hier allerdings nicht im Kirchenbau, sondern in profanen Gebäuden wie dem Hamburger Chilehaus. Es sind also nicht spezifisch religiöse, kultische, sondern wirtschaftliche Gebäude, die durch den Willen gekennzeichnet sind, den Geist der in sich ruhenden Endlichkeit zu durchbrechen.
4 Schluss Es ist ein relativ gerader Weg, der von Ottos Religionsphilosophie, die das irrationale Moment in der Idee des Göttlichen betont, in der theologischen Ästhetik zu einer Hochschätzung gerade des Expressionismus führt, der ja Ausdruck des Irrationalismus der Zeit kurz vor dem ersten Weltkrieg ist. Gewiss bedeutet diese Hochschätzung eine Revolution, wenn man den anfänglichen Widerstand nicht nur der katholischen, sondern auch der protestantischen Kirchen gegenüber der expressionistischen Malerei sich vor Augen führt. Eine Kirche, die mehr oder weniger auf das Nazarenertum verpflichtet war und bereits mit der religiös-sozialen Malerei eines Uhde Probleme hatte, musste den Expressionismus erst recht ablehnen. Doch wie der Expressionismus aufgrund der Tatsache, dass er von der nationalsozialistischen Kulturpolitik ab 1938 für entartet erklärt worden war, seine bundesrepublikanische Rehabilitierung erfuhr, so avancierte er in den Kirchen der Bundesrepublik zur beherrschenden religiösen Kunst. Überspitzt formuliert könnte man sagen: der Expressionismus wurde für die Kirchen zum Nazarenertum der Nachkriegszeit. Und man kommt nicht umhin zu sagen: das war eine Spätwirkung Ottos auf die religiöse Kunst und theologische Ästhetik.
Paul Tillich, Die religiöse Lage der Gegenwart, in: Ders., Sämtliche Werke, Bd. 10, hg.v. Renate Albrecht, Stuttgart 1968, 35.
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Affektübertragung Kunst und Architektur als Ausdrucksformen des Heiligen bei Rudolf Otto Meine These lautet: Affektübertragung ist ein operativ zentraler, thematisch aber unauffälliger Grundbegriff in Ottos Religionsphilosophie, der für sein Verständnis von Kunst und Architektur als Ausdrucksformen des Heiligen maßgeblich ist. Ich möchte mit drei kulturdiagnostischen Bemerkungen beginnen, die zeigen sollen, wo ich die gegenwärtige Bedeutung von Ottos Religionstheorie sehe. Eine betrifft den gesellschaftlichen Wandel der Religion, die zweite die gewachsene Bedeutung materieller Zeichen für die Religion und die dritte die Rehabilitation der Rhetorik in der Moderne. Mein zweiter Teil wird in Ottos Buch „Das Heilige“ im Ausdruckskapitel die Affektübertragung als operativen Grundbegriff rekonstruieren und so den Ort der Kunst in Ottos Theorie des Heiligen zu bestimmen versuchen. Ich schließe mit einem kurzen Fazit, welchen Beitrag Otto für die gegenwärtigen Fragen von Religion und Ästhetik leistet.
1 Zum Gegenwartsbezug von Ottos Religions- und Kunsttheorie 1.1 Religion in der individuellen Expressionskultur Charles Taylor beschreibt in seinem Buch „Die Formen des Religiösen in der Gegenwart“ die Transformation der Religion in den westlichen Demokratien in Richtung auf eine individuelle Expressionskultur. Seine Analyse verbindet er mit einem leisen Bedauern. Denn seiner Meinung nach führt die expressive Individualisierung zu einer „Art anspruchsloser Spiritualität“¹. Wie schon im Pietismus „verlagert sich die Gewichtung immer mehr auf die Stärke und Echtheit der Gefühle“². Zugleich macht Taylor klar, dass es keine Alternative dazu gibt, dass die Subjekte in der Moderne völlig frei ihre religiösen Orientierungen wählen. Und folglich gibt es auch keine Alternative dazu, dass religiöse Inhalte und Geltungsansprüche in das Religionsgefühl als ein unselbstständiges Moment inte-
Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a.M. 2002, 99. A.a.O. 88.
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griert werden. Wichtiger, so Charles Taylor, als „die richtige Formel zu finden, ist es, diesem Gefühl Herrschaft und Stimme in einem selbst einzuräumen“³. Auch die erstaunliche religiöse Kompetenz, die Armin Nassehi im Religionsmonitor der bundesrepublikanischen Bevölkerung attestiert, hat mit dem Gefühl der Authentizität als normativem Zentrum der individuellen Religionspraxis zu tun. In deren Zentrum steht nicht mehr die kirchliche Institution, sondern die „authentische Präsentierbarkeit des eigenen Lebens“⁴. Und alles, was als authentischer Ausdruck des eigenen religiösen Erlebens dient, wird unter der Regie des Authentizitätsideals kompetent angeeignet. Kein Wunder, dass sich diese individuelle Religionspraxis „den Konsistenzzumutungen konfessioneller Praxis unmerklich, aber deutlich entzieht“⁵, und zwar deshalb, wie Nassehi konstatiert, weil „die Authentizität der religiösen Rede es in der Tat nicht erlaubt, dem Präsentierten zu widersprechen – selbst wenn die Inhalte theologisch oder religionssystematisch abstrus sind“⁶. Dieses Ideal einer religiösen Erfahrung, die strikt an das Erleben der 1. Person Singular gebunden ist, wird bei Rudolf Otto entwickelt. Er gehört somit zu den Vorbereitern einer postmodernen Religionskultur, zu denen auch Schleiermacher oder William James zu rechnen sind.
1.2 Konjunktur materieller Träger des Religiösen In der neuen expressivitätsbezogenen Selbstwahrnehmung in der Moderne spielen materielle Zeichen für die Ausbildung einer individuellen Identität in einem systematisch ungleich gewichtigeren Sinn eine Rolle als in Formen der organisierten Religion. Das legt schon der Leitbegriff des Expressiven nahe. Charles Taylor verweist in diesem Zusammenhang auf die Ausdrucksleitung, die die Mode erbringt. Mode wird von ihm als Raum „der gegenseitigen Selbstdarstellung“⁷ bezeichnet. Soziale wie religiöse Identität entstehen in solchen Räumen des Selbstausdrucks in wechselseitiger Zeugenschaft. Das gilt auch für die Religion, sofern sie transformiert wird in eine expressionsbezogene Form des Selbstgefühls. Die wachsende Attraktivität der Kirchenräume bezieht sich dann nicht auf ihre Bedeutung als Versammlungsräume einer Gemeinde domus ecclesiae, sondern auf ihre Funktion als Ort des individuellen Selbstgefühls domus hominis religiosi im
A.a.O. 89. Armin Nassehi, Erstaunliche religiöse Kompetenz. Qualitative Ergebnisse des Religionsmonitor, in: Religionsmonitor 2008, hg.v. Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 2007, 113 – 132, hier 120. ebd. A.a.O. 122. Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart (Anm. 1), 76.
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Blick auf die Zeugenschaft eines ganz anderen – oder in Ottos Terminologie: der Kirchenraum wird zum Ort eines Kreaturgefühls, das Reflex des numinosen Objektgefühls ist. Für diese moderne Verschiebung der medialen Gewichte in Richtung auf materielle Träger des Religiösen, der „numinosen Objekte“ als wirksame Ausdrucksmittel des Religiösen macht Otto nicht nur frühzeitig aufmerksam, sondern bietet auch ein diskussionswürdiges Theorieangebot.
1.3 Rehabilitierung der Rhetorik Und noch ein letzte kulturdiagnostische Anmerkung: In der Moderne lässt sich eine Rehabilitierung rhetorischer Grundbegriffe⁸ beobachten. Gemeint ist nicht die Rückkehr zur Tradition der antiken Redetechnik. Es geht auch nicht um eine vollständige Ablösung von Wahrheit durch Wirkung, von Sachbezug durch Resonanz, sondern es geht um eine Verschiebung der Gewichte vom Logos zum Pathos, vom Begriff zur Metapher, vom Prädikativen zum Vorprädikativen. Die moderne Rehabilitierung des Rhetorischen bleibt gebunden an die Reichweite der Vernunft. Der Bedeutungsgewinn des Rhetorischen hat zu tun mit „den Deckungslücken, die der philosophische Diskurs der Moderne aufgerissen, nicht aber beglichen hat“⁹, etwa dem Kontextuellen und Situativen, dem Gefühlten und Geheimnisvollen – Momente, die in den Konzeptualisierungen der Vernunft nicht fugenlos aufgehen: „Umfang und Intensität der sinnlichen Erfahrungen lassen sich nicht ohne Rest durch begriffliches Denken einfangen“¹⁰. Hier würde ich Ottos Beharren auf das Geheimnis, das Irrationale an der Idee des Göttlichen einordnen. Es gehört in den Rahmen einer symbolischen Kommunikation, deren Gegenstand nicht in einer logisch determinierten Ordnung aufgeht, die aber auf diese bezogen bleibt.
2 Affektübertragung in der Rhetorik Das Gefühl als philosophische und religiöse Kategorie ist keine Entdeckung der Romantik. Die Lehre von den Affekten, die Kenntnis der unterschiedlichen Gefühle wie auch der Mittel, sie in anderen zu erregen, sind ein zentrales Thema der
Vgl. Josef Kopperschmidt, Das Ende der Verleumdung, in: Rhetorik, hg.v. Ders., Darmstadt 19912, 1– 33. Gerhard Gamm, Flucht aus der Kategorie. Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang aus der Moderne, Frankfurt a.M. 1994, 337. A.a.O. 341.
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antiken Rhetorik und Poetik. In der mit der Rhetorik eng verwandten Poetik des Aristoteles ist die Erregung von „pathos“, von „Elementaraffekten“ wie Schauder/ Schrecken phobos und Jammer/Rührung eleos eine wesentliche Leistung der Tragödie. Auch in der Tragödie ist Schrecken mit Lust verbunden; allerdings anders als bei Otto, ist dieses fascinans eine Lust an der Erleichterung, wenn der Schrecken wieder vergeht. Katharsis, die Reinigung vom Gefühl, nicht die Vertiefung ins Gefühl, wo mir das Heilige begegnet, ist Ziel der antiken Tragödie. Affektübertragung ist in der Antike Bestandteil einer rhetorischen Gesamtausgabe officia oratoris ¹¹, einer Überzeugungsarbeit, die auf ein Zusammenspiel von Einsicht und Affekt, von Erkenntnis docere, Vergnügen delectare und Leidenschaft movere zielt. Die Rhetorik hat zwar „nie die sokratische Überzeugung geteilt, dass das Richtige und Gute erkennen auch schon zum entsprechenden Handeln […]“¹² führt. Trotzdem ist die Lehre von den Gefühlen, wie die antike Rhetorik überhaupt, nicht eigenständig, sondern funktional der Erkenntnis des Wahren und Guten zugeordnet. Pathos ist dem Logos untertan. Jedenfalls ist das die Pointe der Kritik Platons an den Sophisten. „Rhetorik hat es zu tun mit den Folgen aus dem Besitz von Wahrheit oder den Verlegenheiten, die sich aus der Unmöglichkeit ergeben, Wahrheit zu erreichen“¹³, so charakterisiert Hans Blumenberg die Alternative, die sich im Blick auf Rhetorik auftut. Vor allem Cicero prägt die Linie der Rhetorik, die mit ihrer Kenntnis der Affektübertragung für eine sachgemäße Disposition im Zuhörer sorgt und die nur die Überzeugungskraft des Logos verstärkt, die diesem als Qualität der Wahrheit selbst innewohnt. An dieser grundsätzlichen Einbindung des Pathos in den Logos ändert auch die christliche Rezeption der antiken Rhetorik nichts. Im platonischen Erbe wurzelt bei Augustin „das instrumentelle Verständnis der Rhetorik“¹⁴, etwa im Bild der Rhetorik als einer dienstbaren Magd der christlichen Wahrheit. Affektübertragung gehört zu den rhetorischen Waffen arma rhetorum, die eingesetzt werden, um der christlichen Wahrheit durch Rührung und Schrecken zum Durchbruch zu verhelfen.
Vgl. Gert Ueding/Bernd Steinbrink, Grundriss der Rhetorik. Geschichte, Technik, Methode, Stuttgart 19943, 277– 282. A.a.O. 278. Vgl. Hans Blumenberg, Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: Ders., Wirklichkeiten in denen wir leben, Stuttgart 1986, 104– 136, hier 104. Gert Otto, Die Kunst verantwortlich zu reden, Rhetorik, Ästhetik, Ethik, Gütersloh 1994, 80.
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Eine erste Absetzbewegung von dieser Position zeigt sich in der Renaissance. Leon Battista Alberti, so legt Frank Zöllner einleuchtend dar¹⁵, begründet in seiner Schrift „De pictura“ von 1435 den Kunstgenuss als eine eigenständige Form der Kunstbetrachtung unabhängig von moralischer oder intellektuellen Nutzen. Er argumentiert zwar im Schema der antiken Rhetorik, löst aber die Rezeption der Bilder aus ihrem Bezug auf Wahrheit heraus, indem er auf die argumentativen Redeformen im Blick auf Bilder verzichtet und die Bedeutung der Bilder ausschließlich auf der Affektübertragung gründet, dem Vergnügen delectare und der Rührung movere, die sie im Betrachter hervorrufen. Diese feinen Bruchlinien werden in der Romantik zum Graben. Sie ist einer Ausdrucks- und Gefühlsästhetik verpflichtet, die im Gegensatz zur bisherigen rhetorischen Tradition nicht den Vorrang des Logos über die Affekte behauptet, sondern umgekehrt den Vorrang des Vorprädikativen über das Prädikative. Der primäre Sachbezug artikuliert sich nicht mehr im Begriff, sondern im Gefühl. Die Gefühle dienen nun auch nicht mehr der emotionalen Plausibilisierung einer in Begriffen vollständig erfassten Wahrheit, sondern umgekehrt vollzieht das begriffliche Denken eine sekundäre Übertragung eines ungleich reichhaltigeren emotionalen Primärsinns. Mit den Worten Rudolf Ottos: „Wie unabhängig der positive Gehalt ist von begrifflicher Ausdrücklichkeit, wie stark er erfaßt wie gründlich er ‚verstanden‘ wie tief er gewürdigt werden kann rein mit in und aus dem Gefühl selbst“¹⁶. Auf dieser Linie einer Verschiebung der Gewichte von Logos und Pathos ist Rudolf Otto nicht nur ein später Erbe der Romantik, sondern auch der antiken Rhetorik. Der Rat, den Otto dem Leser gibt, sein Buch „Das Heilige“ wieder wegzulegen und nicht weiterzulesen, wenn er in sich nicht eine religiöse Erregtheit spürt¹⁷, ist reinste Rhetorik. Da das numinose Gefühl keine formale Struktur darstellt, die einer logischen Begründung zugänglich wäre und alle kategorialen Anstrengungen, die Otto durchaus unternimmt, um die interne Struktur des Erlebens zu erläutern, nur vernünftig sind für den, der dieses Gefühl hat, ist auch „über Wert und Gültigkeit […] solcher religiöser Intuitionen“ nicht logisch und begrifflich zu argumentieren, jedenfalls nicht mit „Leuten, die auf das religiöse Gefühl selber sich nicht einlassen“¹⁸. Die „Deckungslücken der Vernunft“¹⁹, die
Vgl. Frank Zöllner, Die kunsttheoretische und literarische Legitimierung von Affektübertragung und Kunstgenuß, in: Leon Battista Albertis De pictura, 4, http://www.uni-leipzig.de/~kuge/ zoellner/e-publikationen/1997_3_d.pdf , eingesehen am 10.09. 2012. DH10, 46. DH10, 8. DH10, 200. Vgl. Gerhard Gamm, Flucht aus der Kategorie (Anm. 9), 337.
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Otto offensichtlich für sachgerecht und religionsphilosophisch unvermeidlich hält, führen in der Moderne nicht nur an dieser Stelle zu einem Bedeutungsgewinn der Rhetorik. Rhetorisch ist das numinose Objekt, das wirkt und das an die Stelle des Arguments tritt. Und so lässt sich auch die Bedeutung von Kunst und Architektur für Ottos Religionsphilosophie pointiert umreißen. Sie gehören als wirkungsvolle Mittel der Affektübertragung in eine Rhetorik des Numinosen.
3 Affektübertragung bei Otto Trotz dieser zentralen Stellung des Gefühls ist die Affektübertragung, also die Frage, wie das Numinose dargestellt und übertragen werden kann, auf den ersten Blick kein zentraler Bestandteil von Ottos Ansatz. Im Zentrum seines Interesses steht vielmehr die „Aufhellung des Wesens des numinosen Gefühls“²⁰. Und nur insofern die Besinnung auf Darstellung wie Mitteilung dazu beiträgt, das Wesen dieses Gefühls zu erhellen, ist der Analyse der Ausdrucksmittel ein eigenes Kapitel gewidmet. Der Grund für die stiefmütterliche Behandlung der Affektübertragung scheint letztlich darin zu liegen, dass das Wesen des Numinosen im eigentlichen Sinne überhaupt nicht übertragen werden kann.²¹ Das unsagbare, unaussprechliche, geheimnisvolle Numen ist kein Gegenstand der Mitteilung.²² Affektübertragung scheint daher in Ottos Religionstheorie auch kein zentrales Thema werden zu können. Meine These dagegen lautet, dass es sich bei der Affektübertragung um einen operativ zentralen, im Blick auf die Phänomene allerdings thematisch unauffälligen Grundbegriff von Rudolf Ottos Religionstheorie handelt. Einerseits geht es um Gefühlsübertragung A im Sinn einer Mitteilung: Ein numinoses Objekt überträgt einen äußeren Reiz und teilt sich einer inneren Anlage mit, dem inneren sensus numinis. Andererseits geht es um eine Gefühlsübertragung B im Sinn einer Darstellung: Die innere Anlage, das reine Gefühl, ein „nur durch sich selbst bestimmbares Datum im Seelischen“²³, überträgt sich, objektiviert sich, drückt sich in einer äußeren Form des Objektgefühls aus. Beide Übertragungen, die des inneren Gefühls auf die äußere Erscheinung (B), wie die eines in Objekten symbolisch geformten Gefühls auf einen inneren sensus (A), sind für Ottos Religionstheorie operativ zentral und für sein Verständnis der Kunst maßgeblich. Denn in den wechselseitigen Übertragungen von reinem und
DH10, 79. Vgl. DH10, 79. Vgl. DH10, 83. DH10, 9.
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objektiviertem Gefühl findet Rudolf Otto sowohl „die Grundlage der Kunstproduktion“ wie auch das „Fundament […] hermeneutischen Kunstverstehens“²⁴.
3.1 Doppelte Übertragung Reiz: Gefühlsübertragung A in der intersubjektiven Mitteilung Geht man wie Otto davon aus, dass das Wesen der Religion, das Numinose, das „in allen Religionen lebt als ihr Innerstes und ohne es wären sie gar nicht Religion“²⁵, eine unübertragbare Anlage der Seele ist, dann kann es im Grunde über das Wesen der Religion keine Verständigung geben. Das Numinose ist kein Gegenstand einer Mitteilung. Es ist strikt an ein Erleben in der Perspektive der 1. Person Singular gebunden, ein „X, [das] im strengen Sinne […] nur anregbar, erweckbar“²⁶ ist. Ottos Formel für eine Gefühlsübertragung in der intersubjektiven Kommunikation lautet daher: Da das numinose Gefühl, das das Wesen der Religion ausmacht, nicht übertragen werden kann, werden nur äußere Reize übertragen, die das numinose Gefühl in der je eigenen Innerlichkeit erwecken. Ein Beispiel für ein solche indirekte Kommunikation gibt Otto im dritten Kapitel seines Buches „Das Heilige“: „Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregung zu besinnen.“²⁷ Und Otto fährt fort: „Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten, nicht weiterzulesen.“²⁸ Die klassische Regel der Rhetorik lautet: Wer Gefühle erregen will, muss sie selber haben ut moveamur ipsi ²⁹. Ottos Version dagegen lautet: Wer Gefühle erregen will, muss dem anderen „zu Gefühl bringen, was und wie man selber fühlt“³⁰. Die Formel wurzelt im Problem der Unübertragbarkeit des Erlebens (niemand kann wissen, wie ich leide, wenn ich Schmerz erlebe). Mit der Unterscheidung von äußerem Reiz und innerer Anlage versucht Otto beides, das Numinose als Geheimnis zu wahren und es zugleich der Kommunikation zugänglich zu machen. Die Lösung liegt in einer Indirektheit der Übertragung von Gefühlen. Die Strategie einer indirekten Mitteilung im Blick auf unübertragbare Existenzvollzüge hat Sören Kierkegaard bekannt gemacht. Und in der Tat folgt Otto in der Sache
Joseph Imorde, Affektübertragung, Berlin 2004, 59. DH10, 6. DH10, 7. DH10, 8. DH10, 8. Vgl. Gert Ueding/Bernd Steinbrink, Grundriß der Rhetorik (Anm. 11), 277. DH10, 178.
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Kierkegaards Spur, ohne ihn allerdings zu erwähnen. Was er mit ihm teilt, ist das Problem der Aneignung: Wie kann etwas zu meinem Gefühl werden, das ein anderer fühlt – oder in Kierkegaard‘scher Terminologie: Wie kann etwas in der Innerlichkeit zur Mitteilung werden, beispielsweise die Glaubensgewissheit des Apostels zu meiner Glaubensgewissheit, wenn das Innerliche in dem Moment seinen Charakter der Innerlichkeit verliert, wenn es in der Mitteilung in äußere Zeichen übersetzt wird. Allerdings sind für Otto, anders als für Kierkegaard, für den erst eine objektive Uneindeutigkeit des äußeren Reizes – „they attract and they repel“³¹ – die freie Selbsttätigkeit der subjektiven Aneignung ermöglicht, die weltlichen und sinnlichen Gegebenheiten, die als symbolisierte Gefühle auf den sensus numinis wirken, ihrer äußeren Form nach eindeutig. Der Turm des Ulmer Münster ist „schlechterdings … numinos“. Der Reiz, der von diesem Turm auf den sensus numinis ausgeht ist es ebenfalls. Indirekt sind nur die subjektiven Folgen. Sie ergeben sich nicht einfach aus dem Gegenstandsbezug, sondern müssen in einer selbsttätigen Aneignung im sensus numinis erst gewonnen werden. Aber die subjektive Aneignung des Objektgefühls im sensus numinis folgt dessen Eindrucksmacht. Es ist zwar ein eigenständiger Nachvollzug, aber im Ergebnis ist er festgelegt. Alles andere als das intuitive Erfassen des numinosen Objektgefühls wäre im Blick auf den Turm des Ulmer Münster ein Missverständnis. Der sensus numinis kann im Grunde nicht anders als die Erscheinungen des Heiligen intuitiv zu ratifizieren – oder eben nicht. Eindringlich betont Otto diese enge Bindung des subjektiven Vollzugs an die Erscheinungen des Heiligen im Blick auf die für das Christentum zentrale Erscheinung.Wer sich kontemplativ in Christus, das „Heilige in Erscheinung“³², so Ottos christologische Formel, versenkt, in die „Überschau des Gesamtzusammenhangs“³³ und dem „Totale der Gesamt-Lebensführung und – Leistung Christi“³⁴, „der muss urteilen: das ist gottgemäß“³⁵ und zwar nicht logisch, sondern intuitiv, aus dem sensus numinis, einem inneren „unauflöslichen Wahrheitsgefühl“ heraus – was auch immer damit gemeint sein soll. Doch wie verträgt sich die unübertragbare Autonomie des inneren Empfindens mit der starken Bindung des „Selbstgefühls“ an das numinose Objektgefühl? Otto bezeichnet ja, im ausdrücklichen Dissens zu Schleiermacher, das Selbstge-
Roger Poole, Kierkegaard. The Indirect Communication, Charlottesville, VA 1993, 244. Man kann sich fragen, ob die Kontrastharmonie des numinosen Gefühls eine ähnliche Funktion für die Mitteilung hat wie die Oszillation des Zeichens bei Kierkegaard. A.a.O. 183. A.a.O. 196. Ebd. A.a.O. 197.
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fühl als Resonanz einer „primär […] objektbezogene[n] Gefühlsbestimmtheit“³⁶. Einerseits sollen die äußeren Reize nicht konstitutiv sein für den sensus numinis, sondern katalytisch. Die Formel lautet: Das Gefühl des Numinosen „entspringt nicht aus ihnen [numinosen Objekten], sondern nur durch sie“³⁷. Andererseits geht das innere Kreaturgefühl „zweifellos zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir“³⁸, und die subjektiven Folgen entstehen als „Reflex“³⁹ eines numinosen Objektgefühls im Gemüt. Die Lösung dieses Widerspruches scheint mir darin zu liegen, dass Affektübertragung, die operativ zentral ist, im religiösen Erleben thematisch unauffällig bleibt. Die Anwendung „einer numinosen Deutungs- und Bewegungskategorie“, die konstitutiv ist für die Genese religiöser „Gemütsgestimmtheit“, ist für das religiöse Gefühl selber diskret. Das religiöse Erleben erfährt das Numinose im Objekt objektiv, nicht als Resultat seiner Deutung, sondern umgekehrt, sein Erleben als Resultat eines numinosen Objekts. Genese und Erleben, Struktur und Vollzug des Numinosen fallen auseinander, ohne dass diese Differenz von Otto ausdrücklich benannt wird. Die Differenz wird bei Otto nur in unterschiedlichen Beschreibungsmodi deutlich. Einerseits beschreibt er begrifflich die operative Infrastruktur des Heiligen. In dieser Perspektive sind die numinosen Objekte das Resultat „einer Anwendung der Kategorie des Numinosen auf ein wirkliches oder vermeintes Objekt“⁴⁰. Sie sind numinos nur „als numinos vermeinte“⁴¹. Im Modus des Vollzugs dagegen resultiert das Erleben des Numinosen aus dem numinosen Objekt selber. Das „mysterium tremendum […] wittert und webt […] um religiöse Denkmäler, Bauten, Tempel und Kirchen“⁴², und in bestimmten Werken der großen Kunst „tritt uns vielmehr das Numinose selber in seiner irrationalen Gewalt … entgegen“⁴³. Kategorial ist das numinose Objekt keine objektive transzendente Realität, sondern die Erscheinung eines Objektes als transzendente Realität (Objektgefühl), die sich der Anwendung der numinosen „Deutungs- und Bewertungskategorie“ auf das Objekt verdankt. In dieser Übertragung wird dem Objekt keine weitere Eigenschaft hinzugefügt, sondern das Objekt wird in einem numinosen usus von Übertragung und Gegenübertragung auratisiert. Emotional ist diese heilige At-
A.a.O. 13. A.a.O. 138. A.a.O. 11. Ebd. Ebd. A.a.O. 7. A.a.O. 13. A.a.O. 86.
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mosphäre, etwa in den Kirchen, dagegen real. Kirchen und Tempel sind im rezeptiven Empfinden tatsächlich numinos und nicht nur „numinos vermeint“⁴⁴.
3.2 Anlage: Affektübertragung B des reinen Gefühls Betrachten wir die komplementäre Bewegung, die Affektübertragung B, eine Übertragung der inneren Anlage, des sensus numinis, auf äußere Manifestationen – oder in Ottos eigenen Worten das Heilige „als eine Kategorie des vernünftigen Geistes a priori“⁴⁵ und das Heilige „in der Erscheinung“⁴⁶. Das Heilige als Kategorie des vernünftigen Geistes ist die produktive Seite des sensus numinis. Sie ist relevant auch für die Kunstproduktion. Produktiv beteiligt ist das numinose Grundgefühl an den numinosen Objektgefühlen, da es ein Aktus ist, der sich nur aus sich selbst heraus in Ausdrucksformen einschreiben kann (Ideogramme): „Ein qualifiziertes Etwas mit eigener Potenz, das werden kann“.⁴⁷ Dieser Aktus wirkt innovativschöpferisch nur in ausgezeichneten religiösen Stiftern. Solche Stifterfiguren antizipieren das Numinose in geschichtlichen Phänomenen, denen objektiv diese Qualität nicht anzumerken ist. Es sind nur die Stifter, die geschichtliche Phänomene „ahnend erkannt werden als Erscheinungen des Heiligen“⁴⁸. Diese antizipierende Übertragung des apriorischen Grundgefühls scheint die geschichtlichen Phänomene überhaupt erst zu Erscheinungen des Heiligen zu machen. Das Heilige ist insofern keine reale Eigenschaft, die zu dem Objekt hintritt, sondern ein Schein, der als Objektgefühl von diesem ausgeht.⁴⁹ Man könnte auch sagen: Die Übertragung des Heiligen a priori auf ein Objekt ist seine Verklärung⁵⁰ zu einer heiligen Erscheinung. In solchen Antizipationen entwickelt sich das religiöse Grundgefühl zu einer immer größeren Klarheit seines numinosen Charakters. Die Klarheit, die das Numinose etwa in Christus als Erscheinung des Heiligen erreicht, ist dann die Voraussetzung, dass auch in Werken der Kunst Numinoses so erscheinen kann wie im Turm des Ulmer Münster, nämlich schlechterdings numinos. DH10, 7. DH10, 202. Ebd. DH10, 203. Ebd. Vgl. Rüdiger Bubner, Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a.M. 1989, 39 ff., der mit dem ästhetischen Schein als Kategorie ontologisch fasst, was Kant (vgl. Kritik der Urteilskraft § 9) im reinen ästhetischen Urteil als Spiel der Verstandeskräfte bezeichnet. Vgl. Markus Kleinert, Verklärung, in: Der religiöse Charme der Kunst, hg.v. Thomas Erne/ Peter Schüz, Paderborn 2012, 201– 218.
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Beide Übertragungen, die des Numen von innen nach außen (B) wie die des numinosen Objektgefühls von außen nach innen (A), sind zwei Momente an demselben sensus numinis. Der sensus numinis ist produktiv, drängt aus sich heraus in die Übertragung, in den Ausdruck. Und er ist rezeptiv, will sich selbst in den numinosen Erscheinungen wiedererkennen, an deren Produktion er selber beteiligt war – wenn auch nicht in ein und demselben Vorgang. Otto redet angesichts dieses Zirkels von einer „echten Anamnesis“⁵¹ des numinosen Gefühls a priori in seinen Erscheinungen. Man würde das, ginge es nicht um Gefühle, mit Hegel ein Wiedererkennen des subjektiven im objektiven Geist nennen. In diesem Wechselspiel von Anlage und Reiz, Produktion und Anamnesis entfaltet sich das Heilige in seinen Erscheinungen in einem geschichtlichen Prozess: „Religion wird in der Geschichte erstens, indem […] im Wechselspiel von Reiz und Anlage letzte selber Aktus wird […] zweitens indem kraft der Anlage selber bestimmte Teile der Geschichte ahnend erkannt werden als Erscheinungen des Heiligen, deren Erkenntnis auf Grad und Art des ersten Momentes einfließt“⁵². Antrieb dieser Entfaltung ist das Numen selber, das in einer „vorwärtstreibender Ideenerzeugung sich über sich selber klar werden will und klar wird durch Auswickelung [seiner] dunklen Ideengrundlage“⁵³. Die „Auswickelung“ der dunklen Ideengrundlage ist die Religionsgeschichte. Sie umfasst innerhalb der Kulturgeschichte⁵⁴ Ausdrucksformen sui generis für eine bestimmte „Klasse seelischer […] Zustände“⁵⁵, aber auch numinosanaloge Formen, „artverwandte Erscheinungen“ in der Kunst.
4 Ausdrucksmittel des Heiligen: Kult, Kunst und Architektur Am Ort der Religionsgeschichte als einer geschichtlichen Entfaltung des numinosen Grundgefühls in seinen Erscheinungen wird die Kunst als eine bestimmte Form der Objektivation des reinen Religionsgefühls thematisch. Otto begreift die Kunst als indirekte analogische Ausdrucksform des Numinosen mit einigen für das Verständnis des Numinosen signifikanten Ausnahmen. Die Verwandtschaft des Numinosen zur DH10, 172. DH10, 203. DH10, 141. Vgl. Matthias Jung, Erfahrung und Religion, Freiburg 1999, 34: ,,Dilthey versteht den Terminus des objektiven Geistes als Inbegriff dessen, was als objektive (symbolisch geformte) Erfahrung den Strukturzusammenhang des inneren Erlebens aufschließt.“ Bei Otto ist es umgekehrt, das innere Erleben erschließt die objektiven Formen. DH10, 19.
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Kunst, die enger zu sein scheint als die zur Moral, hat mit der Nähe der Kunst zum Gefühl zu tun. Kunst als Medium ist nicht-diskursiv und hat daher die „Mittel […], ohne Reflexion einen ganz art-besonderen Eindruck hervorzurufen, nämlich eben den des Magischen“⁵⁶. An Stelle der Reflexion auf Kunstwerke tritt der Reflex. Sowohl bei den Produzenten, etwa bei den Erbauern der ägyptischen Obelisken, Tempel und Sphinxen zuckte das Numinose fast wie ein mechanischer Reflex aus der Seele auf ⁵⁷ als auch bei den Rezipienten, denn in großer Kunst „das Numinose selber in seiner irrationalen Gewalt […] entgegen“⁵⁸ tritt. Werk und Erleben sind bei Otto so intim verlinkt, dass weder die Reflexion auf einen Sinn der Kunst noch die Kenntnis der Kunstformen oder Stile der Kunst nötig sind, um in ihr das Irrationale in seiner Gewalt zu fühlen. Der Eindruck selber des Magischen ist durchaus unabhängig von der Kenntnis solcher geschichtlicher Zusammenhänge.⁵⁹ Mit diesem Shortcut, einer Art von Kurzschluss in der Anamnesis, einer unmittelbaren Berührung des Heiligen mit sich selbst, die zu einer nahezu vollständigen Präsenz diesseits aller Vermittlung führt – Otto nennt diesen Zustand „Stille“ hesychia oder „Entzückung“⁶⁰ – , entledigt sich Otto wie mit einem Handstreich der gesamten Form- und Stilfragen in der Kunst – und Architekturgeschichte. Seine Kunstanalysen sind in dieser Hinsicht in der Tat eher äußerlich, assoziativ oder illustrierend. Das numinose Gefühl bricht ja im Werk hervor, diesseits aller Form- und Stilfragen. Eine überzeugende Deutung der Kunstgeschichte und ihrer Werke im Horizont des Christlichen ist so nicht möglich. Sie wäre jedoch ein dringendes Desiderat, auch in Ottos eigener Theorieanlage. Er beansprucht ja das rein Numinose geschichtlich zu denken, und die Kunstgeschichte soll ein, wenn auch indirekter Weg des Numinosen zu sich selbst sein. Die Frage ist, ob sich der unvermittelte Kurzschluss zwischen Werk und Wirkung zwingend aus Ottos Begriff des Numinosen als einem letztlich Unvermittelten, Unsagbaren, Unübertragbaren ergibt. Oder lässt sich diese Kategorie anders konzipieren⁶¹, sodass man mit Otto Kulturgeschichte als Geschichte der differenzierten Stil- und Ausdrucksformen des religiösen Gefühls fassen kann, die diesem nicht äußerlich ist? Das ist dann eine zentrale Frage, wenn man, was sich angesichts der postmodernen Konjunktur des Gefühls nahelegt, eine christliche Kulturhermeneutik an Rudolf Otto anschließen wollte.
DH10, 86. Vgl. DH10, 85. DH10, 86. Vgl. ebd. DH10, 48. Vgl. Matthias Jung, Erfahrung und Religion (Anm. 54), 397.
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Erwin Panofsky⁶² stellt bei seinem ikonologischen Ansatz in der Analyse der Kunstformen den Logos des Ikons ins Zentrum, den Sinn eines Kunstwerkes. Mit Rudolf Otto als einer Art von inversem Panofsky müsste man stattdessen von einer Ikonopathologie reden und die Pathoslogik des Ikons⁶³, das Gefühl, das im Bild übertragen wird, ins Zentrum rücken. Auch hier zeigt sich wieder die eingangs erwähnte Rehabilitierung rhetorischer Grundbegriffe aufgrund von Deckungslücken der Vernunft. Panofskys Ikonologie, lange unumstrittenes Paradigma der Bildinterpretation, wird in der Kunstwissenschaft kritisiert, weil der Ansatz das Bild rationalisiert, das Ikon einem ihm fremden Logos unterwirft. Dagegen geht es im iconic turn, den Gottfried Boehm⁶⁴ in der Bildwissenschaft anstieß, um ein Zeigen des Bildes als Bild. Horst Bredekamp⁶⁵ redet von einer eigenen „Energeia“ des Bildes und bringt diese Wirksamkeit des Bildes nicht zufällig mit der Rhetorik des Aristoteles in Zusammenhang. Auf dieser Linie einer numinosen Energeia⁶⁶ in der Kunst ließe sich Rudolf Otto in den iconic turn der Gegenwart einbeziehen. Kunstgeschichte in christlichem Horizont wäre dann mit Otto nicht als Sinndeutung zu entwerfen, sondern als Gefühlsübertragung, eine Geschichte der Formen des Ausdrucks wie Anreizes zum numinosen Gefühl.
4.1 Das Direkte Es sicher kein Zufall, dass Ottos Analyse der sinnlich-konkreten Ausdrucksmittel des Numinosen nicht mit den mittelbaren, analogischen Formen der Kunst beginnt, sondern mit den zum Unmittelbaren tendierenden, direkten Ausdrucksformen des Numinosen. Es gibt offenbar eine Aufstufung des numinosen Gefühls vom unmittelbaren zum komplexen Ausdruck. Einen nahezu unmittelbaren Ausdruck des gestaltlosen Grundgefühls, eine somatische Einschreibung (Ideogramm) des Numinosen findet Otto im Kultus. Und da auch nicht in den Lesungen, Responsorien, Gebeten, sondern in der Körpersprache, der „religiösen Mimik“. In der „feierliche[n] Haltung, Gebärde, Ton der Stimme und Miene, im Ausdruck der
Vgl. Erwin Panofsky, Iconography and Iconology: An Introduction to the Study of Renaissance Art, in: Ders. The Meaning in the Visual Art, New York 1955. Für die katholische Bildtheologie skizziert diese Affektübertragung von passio und compassio im Bild, Reinhard Hoeps, Bildtheologie jenseits der Inhaltsdeutung, in: Der religiöse Charme der Kunst, hg.v. Thomas Erne/Peter Schüz, Paderborn 2012, 88 – 105. Gottfried Boehm, Wie Bilder Sinn erzeugen, Berlin 22008, 19 – 33. Horst Bredekamp, Theorie des Bildakts, Berlin 2010, 22. Vgl. DH10, 22 f.
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seltsamen Wichtigkeit der Sache, in der feierlichen Sammlung und Andacht der betenden Gemeinde lebt mehr davon [Numinosen] als in all den Worten“⁶⁷. Der Vorzug der Mimik ist, dass sie direkt, ohne Umweg über analoge Gefühle, an das Numen anschließt und unwillkürlich –Schleiermacher redet vom „Schein des Unwillkürlichen“⁶⁸ in der religiösen Mimik – , das Numinose in die feierliche Haltung des Liturgen überträgt. Dieser direkten Ausdrucksbildung entspricht zwar keine Direktheit in der Mitteilung des Numinosen – der Grundsatz der Unübertragbarkeit bleibt gewahrt – führt aber doch zu einer umstandsloseren Anreizung des sensus numinis: „Das Aufwachen […] tritt hier ganz ohne Weiteres ein und bedarf kaum der Nachhilfen.“⁶⁹
4.2 Das Indirekte Indirekt, und so kommt Otto zur Kunst, sind dagegen Formen, die das Numinose über einen Umweg darstellen, über die Symbolisierung von verwandten, ähnlichen Gefühlen. Analoge Formen sind „Gelegenheitsursachen für das religiöse Gefühl“, die im Grunde auf einer Verwechslung der Religion mit einem ihm „nur äußerlichen Entsprechenden“ beruhen. Es kommt, anders als bei Christus als „das Heilige in seiner Erscheinung selber“, bei den analogischen Formen der Kunst zu keiner „echten Anamnesis, keinem echten Wiedererkennen des Heiligen selber in seiner Erscheinung“⁷⁰, sondern nur zu einer analogen Anamnesis in Erscheinungen, die dem Heiligen ähnlich sind. In diesen Bereich des Indirekten und Analogischen gehören neben allen „ähnlichen Gefühlen des natürlichen Gebietes“, etwa das Schreckliche und Scheußliche, die Kunst, die in erster Linie über Erhabenes wirkt, das „wirksamstes Darstellungs-mittel des Numinosen“⁷¹ in den Künsten. Der hohe Wirkungsgrad ändert jedoch nichts an der Indirektheit: „Das Erhabene und auch das Magische sind, so stark sie auch wirken mögen, immer nur indirekte Darstellungsmittel für das Numinose in der Kunst.“⁷²
DH10, 54, hier wird auch das fascinans lebendig. Vgl. Friedrich Schleiermacher, Ästhetik (1819/1825), Hamburg 1984, 55f. Der die Mimik als begleitende Kunstform begreift, sofern in ihr die Stimmung durch „frei producirte Bewegung des Leibes“ dargestellt wird. Religiöse Mimik dagegen nähert sich dem Kunstlosen an, als dort nur „die Andeutung übrig geblieben ist“ und die Gebärdenkunst den „Schein des Unwillkürlichen“ bedarf. DH10, 80. DH10, 172. DH10, 85. DH10, 88.
Affektübertragung
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4.3 Negativ: Leere, Weite, Schweigen Drei Ausnahmen, drei Formen eines nicht analogischen, eines direkten, man könnte auch sagen, eines explizit religiösen Ausdrucks des Numinosen in Kunst nennt Otto. Alle drei sind in einer für das Numinose „bezeichnenden Weise selber negativ“⁷³: das Dunkle, das Schweigen und die Leere. Man hat es bei diesen Stilformen hier mit einem Stück negativer Ästhetik zu tun. Das Numinose tritt als positiver Gehalt nur dann in der Kunst in Erscheinung, wenn sich die ästhetischen Ausdrucksformen vollständig negieren. Das Dunkle, das Schweigen und die Leere sind Darstellungsformen, in denen die Kritik der Form selber zum Formprinzip erhoben wird. Das ist eine aus der Ästhetik der Avantgarde geläufige Figur einer Negation der Form als Formprinzip. Adorno entwickelt diese These, dass noch die radikalste Kritik des Bildes ins Bild gesetzt werden muss, am Bild des Gekreuzigten, dem Bild der Bildkritik⁷⁴ – und hebt so die Christologie auf in negative Ästhetik. Versöhnung gibt für Adorno vor diesem Hintergrund nur als „das ganz Unmögliche“⁷⁵. Das Interesse am „ganz Unmöglichen“ – Otto würde sagen am „Ganz Anderen“ – verbindet das Nicht-Identische bei Adorno mit dem Numinosen bei Otto. Allerdings siedelt Adorno das NichtIdentische nicht im Gefühl an, sondern als Grenze des Denkens des Ganzen im Begriff, an ein bestimmtes Niveau der Durcharbeitung im Kunstwerk. Auch die Konsequenz, die Adorno aus dem Nicht-Identischen für formale Fragen zieht, teilt Otto nicht. Für Otto bringt die „gemalte Leere in der chinesischen Malerei“ auch Leere hervor. Sie macht sie uns auch fühlbar. Adornos an der Christologie geschulter Einwand, gemalte Leere sei keine, Leere müsse deshalb das Problem verdoppeln und auch das Wie, nicht nur das Was der Darstellung mit einbeziehen, führt bei Otto selber ins Leere. Für ihn ist im Was, der gemalten Leere, auch das Wie, das Leerwerden, enthalten. Die gemalte Leere schafft alles Dieses und Hier weg, damit das Ganz Andere Akt werde.⁷⁶ Wenn genuin numinose Stilformen in der Kunst negativer Natur sind, wird auch klar, warum Otto ausgerechnet der Musik, romantische Gefühlskunst par excellence, kein positives numinoses Ausdruckspotenzial zubilligt. Sie versucht schlicht zu viel Lärm. Ihr größtes numinoses Potenzial hat die Musik deshalb da, wo sie nicht erklingt, in den Pausen. Man denke an die Generalpause in der Matthäuspassion beim Tod Jesu am Kreuz. Numinos wird die Musik auch in ihrer
Ebd. Vgl. Theodor Adorno, Kierkegaard, Frankfurt a.M. 19742, 238. Ders., Minima Moralia, Berlin 1951, 334. DH10, 90.
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Thomas Erne
Selbstzurücknahme, in ihrer „Dämpfung, Verhaltung […] Verschüchterung“⁷⁷, im Übergang ins Pianissimo, im Übergang der Musik in das Schweigen, aus dem sie entstammt.
5 Fazit Rudolf Otto hätte vermutlich mit Zustimmung der Uraufführung von dem Stück 4,33 John Cages, einem musikalischen Schweigen in drei Sätzen, beigewohnt und es schlechterdings numinos genannt. Und ebenfalls zustimmend hätte er auf die Werke des abstrakten Expressionismus reagieren müssen, folgt man seinen eigenen Stilkriterien für das Numinose in der Kunst, etwa Barnett Newmann und Mark Rothko oder Ben Wilikens leer geräumtes Abendmahl nach einer Vorlage von Leonardo da Vinci. Was ist das Potential von Ottos Bestimmung genuin religiöser Kunstformen für eine christliche Kulturtheorie der Gegenwart? Vier Thesen zum Abschluss: 1. Affektübertragung: Die Atmosphäre und Gefühlsintensität von Kunst unter der Kategorie der Erscheinung (bzw. Objektgefühl) zum Schlüssel der Analyse von Kunst in religiöser Hinsicht zu machen, ist Rudolf Ottos innovativer Beitrag für eine christliche Kulturtheorie in der Moderne. 2. Otto bietet mit seiner These der Familienähnlichkeiten zwischen Kunst und Religion ein Modell artverwandter Stilformen, das der Ausdifferenzierung autonomer Sinndimensionen gerecht wird. 3. Allerdings sind die Stilmerkmale genuin religiöser Darstellungsformen – Leere, Schweigen, Stille – zu eng gefasst. Ottos negative Ästhetik wird der Religionsdarstellung in der Avantgarde, aber nicht in der populären Kunst gerecht. 4. Wenn der Eindruck eines Shortcuts zutrifft und bei Otto letztlich das Numinose diesseits aller Form- und Stilfragen im Erleben hervorbricht, dann steht dieser unvermittelte Positivierung des Heiligen im Gefühl einer religiösen Analyse der Kunst – und Kulturgeschichte entgegen.
DH10, 91.
Christian Pöpperl
Das Heilige, das Erhabene und die Negative Theologie¹ Am 26. April 1336 bestieg Francesco Petraca den Mont Ventoux. „Den höchsten Berg unserer Gegend, […], habe ich gestern bestiegen, lediglich aus Verlangen, die namhafte Höhe des Ortes kennen zu lernen.“² Neben diesem rein weltlichen Zweck tritt auf dem Gipfel eine religiöse Dimension hinzu. Petraca hat die Confessiones des Augustinus bei sich, er schlägt das zehnte Kapitel auf und liest: „Da gehen die Menschen, die Höhe der Berge bewundern und die Fluten des Meeres, die Strömungen der Flüsse, des Ozeans Umkreis und Gestirne Bahnen, und verlieren dabei sich selber. Ich gestehe, dass ich sehr betroffen war, […] ich zürnte mir selber, daß ich noch irdische Dinge bewundert hatte, die ich längst schon selbst […] lernen gekonnt, daß nichts wunderbarer als der Geist, und daß wenn dieser groß, nichts mehr groß.“³ Die Transzendenzerfahrung führt Petraca über das Weltliche hinaus auf den Geist. Beim Aufstieg ist seine Motivation eine weltliche, beim Abstieg eine religiöse. Der Berg wird hier zum Ort einer Erfahrung des Erhabenen, die sowohl weltlich als auch religiös gewendet werden kann. Diesem Ineinander von Erhabenem und Religiösem ist im Folgenden nachzugehen. Meine These ist dabei, dass die Ästhetik des Erhabenen und die negative Theologie konvergieren, das heißt sich im Rahmen eines spezifischen Denkmusters bewegen. In einem ersten Schritt soll so die Konvergenz der beiden Konzepte an Schlüsselstellen der Geistesgeschichte nachgegangen werden. Vor diesem Hintergrund soll in einem zweiten Schritt Rudolf Ottos Konzeption des Heiligen in Blick genommen werden.
Der folgende Text ist die gekürzte und überarbeitete Fassung eines Vortrags auf dem Internationalen Rudolf-Otto-Kongress 2012. Für das Folgende beziehe ich mich im Wesentlichen auf Ergebnisse meiner Studie: Christian Pöpperl, Auf der Schwelle. Negative Theologie und Ästhetik des Erhabenen. Pseudo-Dionysius Areopagita, Immanuel Kant und Jean-François Lyotard, Würzburg 2007. Des Francesco Petrarca Sendschreiben an den Kardinal Giovanni Colonna, Die Besteigung des Mont Ventoux Betreffend, in: Frühe Zeugnisse. Die Alpenbegeisterung, hg.v. dem Deutschen Alpenverein, bearbeitet v. Helmuth Zebhauser, München 1986, 23 – 43, hier 34. A.a.O. 42.
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Christian Pöpperl
1 Das Erhabene als Übersteig im Rahmen neuplatonischer Transzendenz – Dionysius Die negative Theologie ist besonders mit einem schmalen Corpus an Schriften verbunden, das wohl um das Jahr 500 entstanden und unter dem Pseudonym von Dionysius Areopagita überliefert wurde. Dieser Schriftcorpus beeinflusste maßgeblich die mittelalterliche Theologie. Dionysius geht es um eine Verbindung von Neuplatonismus und Christentum. In diesem Rahmen beschreibt er den Aufstieg zum Einen als dem Göttlichen. Der Ausgriff auf das Eine als dem Unsagbaren, Unerkennbaren, schlechthin Jenseitigem reicht bis auf Platon zurück: Das Gute sei nicht das Sein, sondern rage „an Würde und Kraft noch über das Sein“ hinaus.⁴ Dionysius’ Überlegungen zur Gotteserkenntnis sind am dichtesten in der Abhandlung Über die mystische Theologie zusammengefasst. Hier entfaltet er eine Konzeption der negativen Theologie, nicht ohne zugleich ästhetische Bezüge aufzuzeigen. Ein kurzer Durchgang durch das Traktat zeigt, wie Dionysius sein Konzept der negativen Theologie mit dem Bezug zur Ästhetik entwirft.
1.1 Eine existentielle Erfahrung An Timotheos gerichtet formuliert Dionysius Voraussetzungen für seine Argumentation: „Achte indes darauf, daß kein Uneingeweihter davon zu hören bekomme.“ ⁵ Dabei denkt er an zwei Gruppen, jene, die „der Dingwelt verhaftet sind und in deren Vorstellungskraft über das Seiende hinaus nichts existiert“⁶ und jene, die „den jenseitigen Urgrund des Alls mit Kennzeichnungen versehen, welche dem Niedersten innerhalb (der Rangordnungen) des Seienden entlehnt sind, und behaupten, er sei in nichts den gottlosen, vielgestaltigen Idolen überlegen“.⁷ Er weist also erstens die Vorstellung zurück, dass man nichts über das Jenseitige aussagen könne und verurteilt zweitens die Identifikation von Seiendem mit dem göttlichen Urgrund. Dies bedeutet aber auch, Dionysius bezieht sich auf eine vorgelagerte Erfahrung, eine Weise der Begegnung mit dem Phänomen, die
Platon, Politeia 509b; zit. nach Platon, Sämtliche Dialoge, Bd. 5, hg.v. Otto Apelt, Hamburg 1998. Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die mystische Theologie und Briefe (=Bibliothek der griechischen Literatur, Bd. 40), eingeleitet, übers. und mit Anm. vers. v. Adolf Martin Ritter, Stuttgart 1994, 74 (Kap. I, Abschnitt 2; 1000,1 A). A.a.O. 74 (Kap. I, Abschnitt 2; 1000,1 A). A.a.O. 75 (Kap. I, Abschnitt 2; 1000,10 B).
Das Heilige, das Erhabene und die Negative Theologie
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„nicht-erkenntnismäßig“ ist.⁸ Wer also dem Weg folgen will, muss schon in eine Beziehung mit dem Ziel des Wegs getreten sein.
1.2 Das Motiv des Berges Der Weg folgt nach dem Muster des Aufstiegs von Mose auf den Berg Sinai. Nach „Reinigung“ und „Scheidung“ von der Menge wird Mose auf den Berg geführt, begleitet von den Priestern.⁹ Hier tritt Mose in das „überlichte Dunkel“ ein,¹⁰ den paradoxen Zielpunkt des Wegs. Natürlich ist der Berg ein schillernder Topos der Gottesbegegnung, aber eben auch Metapher für das Erhabene.
1.3 Die Rhetorik der hymnischen Sprache Dieser paradoxe Zustand wird mit rhetorischen Mitteln beschrieben. Neben den Hyper-Bildungen, die sich wiederholen, weiter steigen und bekräftigen, sind es steigernde Adjektive, Appositionen und Reihungen, die den Text prägen. Zu dieser hymnischen Sprache gehört auch die Form des Gebets. Die einleitenden Ausführungen kulminieren in dem Ausruf: „Dies sei mein Gebet!“¹¹ – feiernd, beschwörend wirkt die Sprache. Die Sprache verbindet Form und Inhalt. Die Form sprengt die Grenzen der üblichen Sprache, der Inhalt übersteigt das normale Begreifen. „‚Dreieinigkeit, erhaben über alles Sein, alles Göttliche und alles Gute, die Du über die Gottesweisheit der Christen wachst, geleite uns zum Gipfel der geheimnisvollen WORTE empor, hoch über alles Nichtwissen wie über alles Lichte hinaus.‘“¹² Es bleibt eine Offenheit, die sich auch in der Anrede „Du“ ausdrückt, die nicht identifizierend ist. Dionysius wählt dabei die Metaphorik des Schönen: Lichter, Klänge und Worte begleiten den Aufstieg zum Einen, den man als negativen Prozess verstehen muss, gleich der Arbeitsweise des Bildhausers.¹³
Vgl. a.a.O. 76 (Kap. I, Abschnitt 1; 1001,1 A). Vgl. dazu Christian Pöpperl, Auf der Schwelle (Anm. 1), 51. Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die mystische Theologie (Anm. 5), 76 (Kap. II; 1025,1 A). A.a.O. 74 (Kap. I, Abschnitt 1; 997,10 B). A.a.O. 74 (Kap. I, Abschnitt 1; 997,1 A). Vgl. a.a.O. 76 f. (Kap. II; 1025,1 A-1025,10 B).
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1.4 Kataphatische und apophatische, mystische Theologie Dionysius erläutert knapp die kataphatische und die apophatische Theologie: Positive Aussagen über Gott lassen sich aus der Heiligen Schrift gewinnen, wie z. B. „Leben“, „Kraft“, „Weisheit“.¹⁴ Diese positiven Bestimmungen der Gottheit werden jedoch überstiegen durch die apophatische Theologie, durch die Negation dieser Bestimmungen. Exemplarisch durchschreitet Dionysius die Negationen im sinnlichen Bereich (IV. Kapitel) und anschließend im intelligiblen (V. Kapitel). Die Verneinungen gipfeln in einer Zurücknahme der Verneinung selbst: „Man muß ihm [dem Urgrund (Anm. des Verf.)] (im Gegenteil) sowohl alle Eigenschaften der Dinge zuschreiben und (positiv) von ihm aussagen – ist er doch ihrer aller Ursache –, als auch und noch viel mehr ihm diese zusätzlich absprechen – ist er doch allem Sein gegenüber jenseitig.“¹⁵ Und am Ende des Traktats heißt es: „Denn sie, die allvollendende, einzige Ursache aller Dinge, ist ebenso jeder Bejahung überlegen, wie keine Verneinung an sie heranreicht, sie, die jeder Begrenzung schlechthin enthoben ist und alles übersteigt.“¹⁶ Das Göttliche übertrifft also noch Bejahung und Verneinung, geht über alles Zusprechen und Absprechen hinaus. Am Ende bleibt das Schweigen, das Undarstellbare, die Zurückweisung allen Urteilens. Dionysius geht dabei streng logisch vor und bedenkt die grundsätzlichen Urteilsmöglichkeiten. Am Beispiel der Aussage die „Allursache sei weder Seiendes noch Nichtseiendes“¹⁷ kann man zeigen, inwiefern sich die Negationen dem Schema der Urteilsmöglichkeiten folgen.¹⁸ Dionysius geht von der kataphatischen Theologe aus und betont, dass der Gottheit bestimmte Eigenschaften zugesprochen werden können. Es entstehen affirmative Aussagen in der Form „Gott ist X“, z. B. „Gott ist seiend“. Die negativen Urteile der apophatischen Theologie übersteigen diese Position. Ausgehend von der Transzendenz Gottes formulieren sie Sätze der Negation in der Form: „Gott ist nicht-X“, z. B. „Gott ist nichtseiend“. Die Negation übersteigt aber noch die einfache Negation, wird zur Negation der Negation. Diese lässt sich auf zwei Arten deuten. Erstens als Affirmation von Negation und Affirmation: Gott ist sowohl seiend als auch nichtseiend.
Vgl. Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die Namen Gottes (=Bibliothek der griechischen Literatur, Bd. 26), eingeleitet, übers. und mit Anm. vers. v. Beate Regina Suchla, Stuttgart 1988, 27 (Kap. I, Abschnitt 7; 597,1 A). Pseudo-Dionysius Areopagita, Über die mystische Theologie (Anm. 5), 75 (Kap. I, Abschnitt 2; 1000,10 B). A.a.O. 80 (Kap. V; 1048, 20 B). Ebd. (Kap. V, 1048,10 A). Vgl. Hans Peter Sturm, Weder Sein noch Nichtsein, Würzburg 1996. Sowie zum Folgenden Christian Pöpperl, Auf der Schwelle (Anm. 1), 64.
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Besonders ausgeprägt sind die Beispiele in der Abhandlung Über die göttlichen Namen. Jedoch ist noch weitreichender eine Negation von Affirmation und Negation. Gott ist weder Seiendes noch Nichtseiendes. Im Rahmen dieser vier Urteilsmöglichkeiten bewegt sich die negative Theologie. Durch die Zurückweisung der Urteilsmöglichkeiten wird diese selbst zur mystischen Theologie. Der Weg der mystischen Theologie führt das Denken also über die Urteilsmöglichkeiten hinaus und auf den Endpunkt aller Negation. Dabei ist das Denken stets schon auf die Ästhetik verwiesen. Der Aufstieg zum Einen erfolgt zwar anagogisch im Sinne einer Ästhetik des Schönen, jedoch greift die hymnische Sprache Momente des Rhetorisch-Erhabenen auf. Das Ästhetische verweist auf das Anästhetische, das Darstellbare auf das Undarstellbare. Der negative Weg der mystischen Theologie und das Erhabene laufen zusammen.
2 Das Erhabene als Brücke im Rahmen subjektphilosophischen Systemdenkens – Kant „Vielleicht gibt es keine erhabenere Stelle im Gesetz der Juden, als das Gebot: Du sollst dir kein Bildnis machen, weder dessen was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist usw. Dieses Gebot allein kann den Enthusiasmus erklären, den das Jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte […].“¹⁹ Gleich Dionysius verbindet Kant das Undarstellbare mit dem Erhabenen, freilich in völlig gewandeltem Kontext. Nicht mehr das Eine, sondern die Einheit der Vernunft wird zu seinem Thema.
2.1 Kritik der reinen Vernunft – Negation Dies ist ein roter Faden, der sich durch das gesamte kritische Werk zieht. Leitmotivisch steht am Beginn der Kritik der reinen Vernunft (KrV) folgende Bemerkung: „Nur soviel scheint zur Einleitung und Vorerinnerung nötig zu sein, daß es zwei Stämme der menschlichen Erkenntnis gebe, die vielleicht aus einer gemeinsamen Wurzel entspringen, nämlich Sinnlichkeit und Verstand, durch deren ersteren die Gegenstände gegeben, durch den zweiten aber gedacht werden.“²⁰
Immanuel Kant, Kritik der Urteilskraft, hg.v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1997, B 124; im Folgenden mit der Abkürzung KdU zitiert. Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg.v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1997, A 15/B 29; im Folgenden mit der Abkürzung KrV zitiert.
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Kant geht es um eine Vermittlung dieser beiden Vermögen. Denn nur wenn beide Erkenntnisstämme zusammenarbeiten, ist Erkenntnis möglich. Sie brauchen also ein gemeinsames Fundament. Für dieses prägt er den Begriff des „Gemüts“.²¹ Kant sucht diese Basis, in dem er die Möglichkeiten und Grenzen der reinen Vernunft betrachtet und Schritt für Schritt Vermittlungsinstanzen in den Blick nimmt. Dabei leuchtet er den Raum des Verstandes und der Vernunft aus. In der KrV werden eine Reihe von Verbindungsgliedern erörtert: die Einbildungskraft, das Urteil, die Urteilskraft und der Schematismus. Dies setzt sich fort im Raum der Vernunft, die Einheitshorizonte voraussetzt. Sie geht über die Urteile des Verstandes hinaus, in dem sie die Fähigkeit bereitstellt, Urteile durch Schlüsse zu verbinden. Dabei verwickelt sie sich schließlich – in der transzendentalen Dialektik – in Fehlschlüsse. Der „Widerstreit“ steht als Reflexionsbegriff am Übergang von transzendentaler Analytik und transzendentaler Dialektik. Reflexionsbegriffe ermöglichen zwei gegensätzliche Wirklichkeiten nebeneinander zu stellen, so dass beide zugleich in ihrem Recht belassen werden (sowohl als auch) und sich so schließlich aufheben, „auch ein Vergnügen, was dem Schmerz die Waage hält“.²² Zugleich stellt der Widerstreit – in seinem realen Gebrauch – aber auch einen wechselseitigen Abbruch dar, „da ein Realgrund die Wirkung des anderen aufhebt, und dazu wir nur in der Sinnlichkeit die Bedingungen antreffen, uns einen solchen vorzustellen“.²³ Beide Parteien erfahren so eine Zurückweisung, einen Abbruch. Dieser ist nur unter den Bedingungen der Sinnlichkeit möglich, geht aber über sie hinaus, führt zu „nichts“.²⁴ Also könnte man auch von einem weder noch der Parteien sprechen. Vergleichbares zeigt sich bei den Antinomien.²⁵ Die mathematischen Antinomien (1 und 2) stellen fest, dass die Welt weder mit endlicher noch mit unendlicher Größe existiert, da die Welt an sich nicht gegeben ist. Die dynamischen Antinomien (3 und 4) ermöglichen, dass beide Parteien nebeneinander Bestand haben, denn die Freiheit als absolute Ursache bzw. Grund des Daseins ist unbestritten stets übersinnlich. Es kann sowohl eine Freiheit aus Naturgesetzen wie aus Kausalität gedacht werden.²⁶ Die Vernunft reduziert mittels von Schlüssen die Mannigfaltigkeit des Verstandes auf die kleinste Zahl an Bedingungen. Diese wiederum benötigen aber selbst einen Einheitshorizont. Indem die Vernunft nach den Bedingungen der Bedingung forscht, stößt sie unweiger-
KrV, A 59 f./B 74 f. KrV, A 265/B 321. KrV, A 274/B 330. KrV, A 292/B 348 f. Vgl. dazu KrV, A 426-A 567/B 454-B 595. Vgl. Christine Pries, Übergänge ohne Brücken. Kants Erhabenes zwischen Kritik und Metaphysik, Berlin 1995, 151.
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lich – als Abschluss der Reihe aller Bedingungen – auf das Unbedingte als äußersten Horizont. Eine Aussage über die Wirklichkeit des Unbedingten kann aber nicht getroffen werden, da die Vernunft hier nicht auf die Erfahrung zurückgreifen kann. Die Leistungsfähigkeit der theoretischen Vernunft in Bezug auf das Absolute muss also negiert werden.
2.2 Kritik der praktischen Vernunft – Position Zentraler Angelpunkt für die Kritik der praktischen Vernunft (KpV) ist der Begriff der Freiheit. Die KrV trifft über die Freiheit keine Aussage, sie hält nur fest, dass sich Freiheit und Natur in eine Antinomie verstricken, die auf einem bloßen Schein beruhe.²⁷ Während Die Kritik der reinen Vernunft die Freiheit nur negativ bestimmt, setzt Die Kritik der praktischen Vernunft Freiheit voraus, denn mit dem Vermögen der praktischen Vernunft stehe die transzendentale Freiheit fest, „und zwar in derjenigen absoluten Bedeutung genommen, worin die spekulative Vernunft beim Gebrauch des Begriffs der Kausalität sie bedurfte, um sich wider die Antinomien zu retten“.²⁸ Die Freiheit genießt für Kant einen ganz besonderen Rang, sie ist der „Schlussstein“ des gesamten Systems, allen anderen Ideen schlössen sich dem Begriff der Freiheit an und bekommen durch ihn Realität.²⁹ Die Freiheit offenbare sich durch das moralische Gesetz.³⁰ Von ihr wissen wir apriorisch, „ohne sie doch einzusehen, weil sie die Bedingung des moralischen Gesetzes ist“.³¹ Die Verbindung der beiden Erkenntnisquellen bleibt aber nach wie vor offen, die Verbindung von Sinnlichkeit und Übersinnlichen, Bedingtem und Unbedingten ungelöst.
2.3 Kritik der Urteilskraft – Das Erhabene Einen neuerlichen Anlauf unternimmt Kant mit der Kritik der Urteilskraft (KdU). Sie soll aufgrund ihrer vermittelnden Fähigkeit die Einheit gewährleisten und die Sinnlichkeit/Naturbegriff mit dem Übersinnlichen/Freiheitsbegriff in Verbindung setzen. Die Urteilskraft sucht also einen Begriff, der weder der Gesetzgebung des Verstandes noch demjenigen der Vernunft angehört, jedoch in der Lage ist, beide zu
KrV, A 558/B 586. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, hg.v. Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M. 1997, A 4; im Folgenden mit der Abkürzung KpV zitiert. Vgl. KpV, A 4 f. Ebd. KpV, A5.
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verbinden. Beim ästhetischen Urteil über das Schöne stehen sich Verstand und Einbildungskraft gegenüber und sind in einem harmonischen Zusammenspiel aufeinander bezogen. Die ästhetisch reflektierende Urteilskraft führt also zu einer Affirmation von Einbildungskraft und Verstand. Die Einbildungskraft ist frei und doch von selbst gesetzmäßig.³² Deshalb können im Geschmacksurteil über das Schöne sowohl die Ideen der praktischen Vernunft (Freiheit) als auch der theoretischen Vernunft (Einheit) versöhnt gesehen werden. Anders verhält es sich beim Erhabenen. In der Analytik des Erhabenen betrachtet Kant das Verhältnis von Einbildungskraft und Vernunft. Beim mathematisch Erhabenen ist die Sinnlichkeit mit einem Gegenstand konfrontiert, der so groß ist, dass die Einbildungskraft bei ihrer Darstellungsfähigkeit überfordert ist. Die Einbildungskraft sieht sich einem Phänomen gegenüber, das „über allen Maßstab der Sinne groß ist“.³³ Die Vernunft hingegen muss als Vermögen der Einheit und Totalität auf eine Darstellung drängen. Sie fordert von der Einbildungskraft Unmögliches: Die Darstellung von etwas Undarstellbarem. Dieser Widerstreit der Vermögen wird begleitet vom Gefühl des Erhabenen, ein „Gefühl der Unlust, aus der Unangemessenheit der Einbildungskraft in der ästhetischen Größenschätzung, zu der Schätzung durch die Vernunft; und eine dabei zugleich erweckte Lust, aus der Übereinstimmung eben dieser Unangemessenheit des größten sinnlichen Vermögens mit Vernunftideen, sofern die Bestrebung zu denselben doch für uns Gesetz ist“.³⁴ Das Erhabene vollzieht so eine Wendung bei der die Unangemessenheit als Angemessenheit angesichts der Totalitätsforderung der Vernunft interpretiert wird.³⁵ Vergleichbares sieht Kant beim dynamisch Erhabenen am Werk. Hier ist die Einbildungskraft mit einem Übermächtigen konfrontiert, das physisch völlig überlegen ist. Hier geht der Ebenenwechsel von der sinnlichen Ohnmacht zur intelligiblen Macht. Diese liegt hier darin, dass die Vernunft den Menschen zu sittlichem Handeln auffordert und ihn auf die Freiheit des Menschen verweist. In beiden Fällen nötigt die Vernunft die Einbildungskraft sich über ihre Möglichkeiten zu erweitern und darzustellen,was sie nicht darstellen kann. Somit verlassen aber auch beide Vermögen ihre Grenzen: Die Vernunft weitet sich auf die Einbildungskraft aus, die Einbildungskraft überdehnt sich Richtung Vernunft. Während die theoretische Vernunft hinsichtlich dem Unbedingten scheitert (Negation), setzt die praktische Vernunft das Unbedingte voraus (Affirmation), die Urteilskraft versucht als Gemütsvermögen beide Seiten zusammen zu denken. Dies gelingt bei der Analytik des Schönen sowohl der Einbildungskraft als auch der Vernunft, das Bedingte wie das Unbedingte werden affir
KdU, B 69. KdU, B 94. KdU, B 97. Vgl. KdU, B 100.
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miert. Das Erhabene zeigt das Scheitern der Einbildungskraft und affirmiert die Vernunft. Damit ist eigentlich eine Verbindung der beiden Vermögensbereiche gescheitert und die erstrebte Einheit müsste negiert werden, weder das eine noch das andere Vermögen kann seine Grenzen einhalten. Die Einheit der Vernunft wäre gescheitert: Negation von Negation und Affirmation. Erst durch die Annahme, dass das Scheitern der Einbildungskraft wiederum als zweckmäßig vorgestellt wird, gelingt der Brückenschlag über die Vermögen. Eine fragile Konstruktion. Aufgehoben bleibt diese in der „negativen Lust“ des Erhabenen, einem doppelten Gefühl.³⁶ Es bleibt ein Undarstellbares, auf das ein zweifaches Gefühl reagiert. Dieses zweifache Gefühl ist schon in der KrV mit dem „Widerstreit“ und den „Antinomien“ assoziiert.
3 Das Absolute im Zeitalter der Postmoderne Die „Frage des Undarstellbaren […] (ist) die einzige, die […] Einsatz von Leben und Denken lohnt“³⁷– so Jean-François Lyotard. Im 20. Jahrhundert richtet sich der Blick nicht mehr auf die Einheit, sondern auf die Vielheit, die Heterogenität. Lyotard gilt als der Denker der französischen Postmoderne, der am entschiedensten versucht hat, die Vielheit zu denken.³⁸ Für dieses Konzept der Heterogenität steht das Konzept des „Widerstreits“. Jean-François Lyotards Konzept beruht auf der Erfahrung, dass zwei Konfliktparteien keine gemeinsame Sprache besitzen, um ihre jeweiligen Erfahrungen auszutauschen,³⁹ zwischen den Diskussionsteilnehmern bestehe ein Widerstreit. Lyotards Hauptwerk ist die Schrift Der Widerstreit aus dem Jahr 1983. Dieses Buch versammelt in systematisierter Form seine Überlegungen zu diesem Themenbereich. Lyotard führt hier eine Vielzahl an Einflüssen und Theorien zusammen. Besonders bedeutend sind dabei Wittgensteins Sprachspieltheorie und Kants Kritik. Was ist der Widerstreit? Ausgangspunkt ist für Lyotard der Satz bzw. das Satzereignis. Sätze geschehen und müssen mit anderen Sätzen verkettet werden. Dies geschieht normalerweise unter bestimmten Regeln, den Satzregelsystem bzw. den Diskursarten als übergeord-
Vgl. KdU, B 76/A 75. Jean-François Lyotard, Vorstellung, Darstellung, Undarstellbarkeit, in: Ders., Das Inhumane. Plaudereien über die Zeit, hg.v. Peter Engelmann, aus d. Franz. v. Christine Pries, Wien 1989, 207– 222, hier 221. Vgl. dazu Wolfgang Welsch, Vernunft. Die zeitgenössische Vernunftkritik und das Konzept der transversalen Vernunft, Frankfurt a.M. 1995, 304. Jean-François Lyotard, Nachwort, in: Ders., Streifzüge, hg.v. Peter Engelmann, Wien 1989, 89 – 135, hier 95 f.
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neten Regelgebieten. Diese Regeln geben die Verkettung der Sätze vor. Probleme entstehen, wenn Sätze aus unterschiedlichen Diskursarten miteinander verknüpft werden, da die Diskursarten irreduzibel getrennt sind und nicht ineinander übersetzt werden können. So kann ein präskriptiver Satz nicht einfach mit einem kognitiven Satz verkettet werden. Auf einen präskriptiven Satz können verschiedene kognitive folgen, z. B. auf einen Befehl eine Bewertung. „Der Offizier schreit Avanti! und stürzt aus dem Schützengraben, die Soldaten schreien ergriffen Bravo!, ohne sich zu rühren.“⁴⁰ Da die Sätze das gleiche Recht auf Verkettung, d. h. Verwirklichung besitzen, entsteht notwendigerweise Unrecht. Dies ist die Situation des Widerstreits. Lyotard betont also den Aspekt, dass beide Parteien ein Recht auf Darstellung besitzen, ein sowohl als auch. Mit dem Begriff des „Widerstreits“ setzt Lyotard bei Kants Vernunftarchitektur an und zwar am Ort, ihrer inneren Widersprüchlichkeit. Die Vernunft zerfällt so in Inseln der Diskursarten, in ein Archipel verschiedener „Rechtsorte“. Hier treten nun die Strukturmomente gewandelt auf: Affirmation im Satzanschluss, Negation beim Nichtanschluss. Anschluss oder nicht Anschluss und sowohl der eine Anschluss als auch der andere Anschluss und weder der eine Anschluss noch der andere Anschluss sind gerechtfertigt. Die Strukturmomente sind verdichtet auf das Satzereignis und die Logik des Anschlusses und somit auch verbunden mit einer ethischen Relevanz.
3.1 Das Erhabene als begleitendes Gefühl – Der Enthusiasmus Ein Satz produziert unweigerlich Unrecht, da er andere Sätze von der Durchsetzung ausschließt. Wie kann man dieses Unrecht vermeiden? Die Situation des „Übergangs“ von einem Satz zum anderen ist deswegen genauer zu betrachten. „Der Widerstreit ist der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muss, noch darauf wartet.“⁴¹ Im Moment des Anschlusses kündigt sich etwas Unbestimmtes an. Der Zustand eines Schweigens als einem negativen Satz appelliert auch an prinzipiell mögliche Sätze. „Was diesen Zustand anzeigt, nennt man normalerweise Gefühl. ‚Man findet keine Worte‘ usw.“⁴² Ein doppeltes Moment wird deutlich: Schweigen und Appell, Satz und Nicht-Satz zugleich. „Im Widerstreit ‚verlangt‘ etwas nach ‚Setzung‘ und leidet unter dem Unrecht, nicht sofort ‚gesetzt‘ werden zu können. Die Individuen […] lernen durch diesen Schmerz, der das Schweigen begleitet (und Jean-François Lyotard, Der Widerstreit (=Supplemente, Bd. 6), übers. v. Joseph Vogl, München 1989, 61 (Nr. 43). A.a.O. 22 f.. A.a.O. 22.33.
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durch die Lust, die die Erfindung eines neuen Idioms begleitet), daß sie von der Sprache in die Pflicht genommen werden […].“⁴³ Angesichts des Undarstellbaren begleitet den Widerstreit also ein Gefühl, das Schmerz und Lust zugleich beinhaltet. Dies entspricht der Situation des Erhabenen.
4 Zusammenfassung: Berg – Insel – Archipel Die negative Theologie und die Ästhetik des Erhabenen verbindet eine Strukturanalogie. Im Rahmen der ausgeführten Strukturmomente wird die negative Theologie transformiert und mit dem Erhabenen als ästhetischem Korrelat verknüpft. Es geht je darum, das Undarstellbare als solches darzustellen. Dionysius verwendet die Metapher des „Berges“, drückt sie doch den Aufstieg zum Gipfel der Erleuchtung aus: die negative Theologie und die erhabene Sprache im Rahmen des neuplatonischen Denkens – ein Überstieg. Für Kant steht die Vernunft als Insel im weiten Meer.⁴⁴ Die Strukturmomente sind hineingenommen in die Architektur seiner Vernunftkonzeption. Als Einheitsplatzhalter fungiert das Erhabene. Das Erhabene bildet eine Brücke über die Stämme der Erkenntnis. Lyotard knüpft mit seinem Konzept des Widerstreits bei Kant an: Die Strukturmomente verdichten sich am Widerstreit, das Erhabene bildet einen fragilen Übergang, gleich der „Einheit“ eines Archipels, das als Bild der heterogenen Vernunft, doch eine Inselgruppe bildet.⁴⁵ Die Strukturmomente bleiben unter der Schwelle. Der Widerstreit wird mit jedem Satzereignis auf sich zurückgeführt.
5 Rudolf Otto: Das Heilige, das Erhabene und die negative Theologie Vor diesem Hintergrund richten sich einige Fragen an Rudolf Ottos Das Heilige. Rudolf Otto ist aus mehreren Gründen für den skizzierten Zusammenhang interessant. Drei Aspekte verdienen besondere Aufmerksamkeit.
A.a.O. 23.33 f. Vgl. KrV, B 294 f./A235 f. Vgl. Jean-François Lyotard, Der Widerstreit (Anm. 40), Exkurs Kant III.
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5.1 Die negative Theologie und das Erhabene Schon in der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie äußert sich Rudolf Otto eindeutig über die negative Theologie: „Erkannt wird durch den Glauben, und zwar in ‚doppelter Verneinung‘ […]. Positives über das Ansich der ewigen Dinge auszusagen ist uns verschlossen.“ (KFR2, 82) Der negative Weg hat für Otto den Vorrang und bildet auch für Das Heilige einen stets mitgedachten Rahmen. So geht es ihm um die „Sonderung“ des negativen Gehalts im Mysterium. Dies äußert sich im Begriff des „Mirum“, in ihm kommt der Gehalt der negativen Methode zum Ausdruck und in diesem irrationalen Moment mag man auch das Epekeina der Mystik sehen (vgl. DH, 29.34). Die Mystik setzt das numinose Objekt dem Sein entgegen. „Sie meint mit dem Nichts nicht nur das was durch nichts besagbar ist sondern das schlechthin und wesentlich Andere und Gegensätzliche zu allem was ist und gedacht werden kann.“ (DH, 34 f.) Bei einer so gedachten Mystik handelt es sich um eine Negation, die bis zum Äußersten gesteigert ist. Dies ist verbunden mit einem paradoxen, „antinomischen“ Gehalt. Die Mystik scheine „Wider die Vernunft“ zu gehen, setze sich in den Gegensatz zu den „Kategorien“, scheine „sie aufzuheben und zu verwirren“, „schärfste Form“ hiervon sei „das Antinomische“ (DH, 36). Dies sei noch mehr als das Paradoxe, denn hier scheinen sich die Aussagen selbst zu entzweien (vgl. DH, 36). Ohne die durchaus wenig konzeptionelle Verwendung der Begriffe durch Otto genau zu differenzieren, wird deutlich, dass er Mystik im Rahmen der geschilderten Denker versteht. „Nicht nur unseren Kategorien unfasslich, nicht nur wegen einer dissimilitas unfaßlich, auch nicht nur die Vernunft verwirrend blendend ängstigend in Not setzend, sondern in sich selber entgegengesetzt bestimmt, in Gegensatz und Widerspruch. Diese Momente müssen nach unserer Theorie sich besonders in der ‚Mystischen Theologie‘ finden […].“ (DH, 36) Otto reflektiert nicht explizit die genannten Strukturmomente. Mit der von ihm verwandten Begrifflichkeit („Antinomie“) stellt er sich aber in eine Tradition, die Mystik mit der skeptischen Tradition verbindet, die mystische Theologie radikal auffasst und sie zugleich interkulturell (Buddhismus etc.) anlegt.⁴⁶ Es ist bezeichnend, dass er immer wieder auf Meister Eckhart verweist,⁴⁷ demjenigen mittelalterlichen Theologen, der vielleicht am entschiedensten den Ansatz der negativen Theologie – auch im Sinne von Dionysius – aufgreift. Zugleich betont Otto, dass die Verneinung, jenes Ganz Andere „zugleich höchst lebendig im Gefühl“ sei, im „Gefühlsüberschwang“ (DH, 35). Dieses „Gefühlskorrelat“ ist das Erhabene. Otto sieht im Begriff des Erhabenen die ästhetische Vgl. zu diesem Zusammenhang Hans Peter Sturm, Weder Sein noch Nichtsein (Anm. 18). Sowie Hans Peter Sturm, Urteilsenthaltung oder Weisheitsliebe zwischen Welterklärung und Lebenskunst, Freiburg (Br.)/München 2002, 76 – 124. Vgl. DH, 36 sowie WÖM3.
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Entsprechung zum Doppelgefühl des mysterium tremendum et fascinans. Gerade der negative Gefühlsinhalt, das Überweltliche werde „gern“ mit dem Erhabenen beschrieben (DH, 56 f.).Wobei Otto betont, dass religiöse Gefühle nicht mit ästhetischen zu verwechseln seien (DH, 56). Zugleich sieht er auch eine Ähnlichkeit, ja eine „Analogie“ zwischen dem Erhabenen und dem Numinosen (DH, 56). Das Erhabene kündige dabei einen Übergang zum Religiösen an, es sei geeignet, es „anzuregen“ und in es „überzugehen“ (vgl. DH, 57). Otto geht also von einem inneren Zusammenhang von negativer Theologie und Ästhetik des Erhabenen aus. Das Erhabene evoziert das negative Moment. „Einer solcher Reize für das Erwachen des numinosen Gefühls ist gewiss oft auch das Gefühl des Erhabenen gewesen und kann es noch sein […].“ (DH, 60) Die Verbindung kann sowohl kurzfristig als auch dauerhaft sein. So überträgt er den Begriff der Schematisierung (Kant) auf das Verhältnis vom Rationalen zum Irrationalen im Heiligen (DH, 61). „Die innige Dauerverbindung der beiden in allen höheren Religionen weist daraufhin daß auch das Erhabene ein echtes ‚Schema‘ des Heiligen selber ist.“ (DH, 61) Diese Übertragung ist problematisch, da Kant das Schema nicht direkt auf die Sinnlichkeit bezieht. Otto geht es aber offensichtlich darum, einen inneren Zusammenhang zu betonen. Die Verbindung des Heiligen mit dem Erhabenen reicht bis in die höchsten Formen des religiösen Gefühls hinein: „[E]in Hinweis darauf daß zwischen dem Numinosen und dem Erhabenen eine verborgene Verwandtschaft und Zusammengehörigkeit besteht die mehr ist als eine bloße Zufalls-ähnlichkeit. Noch Kants ‚Kritik der Urteilskraft‘ gibt davon ein entferntes Zeugnis.“ (DH, 82) Einerseits ist es Otto aus verständlichen Gründen wichtig, die Grenze zwischen Ästhetik und Religion nicht zu verwischen, andererseits hat er mit dem Erhabenen einen Übergang zwischen dem Irrationalen und dem Rationalen angelegt.
5.2 Das Gefühl und die Lebendigkeit Geht man von einer Verbindung zwischen negativer Theologie und Erhabenem aus, dann stellt sich auch die Frage nach der Rolle des Gefühls. Wir haben bei den Ausführungen zu Dionysius, Kant und Lyotard gesehen, dass dem „Gefühl“ in der je eigenen Ausprägung eine besondere Rolle zukommt. Hinsichtlich des Numinosen scheint das Gefühl eine Erkenntnisfunktion zu besitzen. Bereits in der Kantisch-Fries’schen Religionsphilosophie spricht Otto dies an: „Was aber das Begreifen nicht vermag, das vermögen wir im Gefühl. Das Gefühl gibt uns zu Wissen und Glauben eine dritte Art von Erkenntnis, eine beide verbindende und zur Einheit bringende: das ‚Ahnen‘.“ (KFR2, 83) Gegen Kant ist hier ein dritter Erkenntnisstamm eingeführt. „Aber es gibt auch Gemütsbewegungen besonderer Art, bei denen das Gefühl schlechthin unauflöslich ist und in gar keinen Begriff
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übergeführt werden kann. Sie brechen aus den verborgensten Tiefen des Gemüts auf und sind das größte Rätsel für die Kritik der Vernunft. Sie schließen an konkrete Einzelgegenstände, Tatsachen, Geschehnisse an. Diese sind selber das, was so eigentümlich ergreift und bewegt. Aber so klar begreiflich diese Gegenstände und Tatsachen auch für sich selber sein mögen, so unaussprechlich ist das, was an ihnen eigentlich so ergreift. Wir erkennen in ihnen eine Bedeutung […]. Aber dieses Urteil ist kein logisches […]. Sondern es ist ein ästhetisches Urteil. Und die Urteilskraft, die hier in Frage kommt, ist die des Gefühls.“ (KFR2,112) Die Hochschätzung des Gefühls, des individuellen Erlebens mag aus einer zeittypischen Affinität zur „Lebendigkeit“ bestehen, man denke nur an die Einflüsse der Lebensphilosophie oder der Jugendbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Während bei Kant und Lyotard das „Gefühl“ jeweils eine Systemschwäche markiert, eine Einheit, die aus den eigenen Voraussetzungen nicht zu ermitteln ist, rekurriert Otto auf das Gefühl als eigenständiger Basis. Hier liegt Dionysius näher, bei dem eine vor- bzw. nach-rationale Erfahrung zum Ausgangspunkt des mystischen Wegs wird. Eine „Lebenspraxis“, die stets in Zusammenhang mit der Mystik zu denken ist. Wenn Otto die Besinnung auf einen Moment „starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit“ fordert und dies zur Bedingung für die fruchtbare Lektüre seines Buches macht (DH, 8), dann ist dies keine „Systemschwäche“, sondern Voraussetzung für einen je eigenen, sachgemäßen Zugang.
5.3 Ein vertikales und ein horizontales Erhabenes Wie gezeigt wurde, sind die Strukturmomente der negativen Theologie mit und nach Kant in die „Horizontale“ transformiert. Dass diese Wendung nicht mit einem Verlust an religiöser Potenz einhergeht, zeigt Rudolf Otto. Er betrachtet das Erhabene als indirektes Ausdrucksmittel des Numinosen in Kunst, wie auch Baukunst (vgl. DH, 85.87 f.). Direkte Ausdrucksmittel seien hingegen das Dunkel und das Schweigen (vgl. DH, 88). Otto kennt noch eine weitere Form: „Das weite Leere ist gleichsam das Erhabene in der Wagrechten.“ (DH, 89) Augenfällig wird dies an der Kirche St. Josef und Fronleichnam in Aachen. Die Kirche wurde in den Jahren 1928 – 1930 von Rudolf Schwarz gebaut. Dominierende Farben sind schwarz und weiß. Durch die oberhalb liegenden Fenster entsteht ein diffuses Licht, das die Weite des Raumes betont, der Blick wird in Horizontale gelenkt und ist nach vorne auf den Altar und den Tabernakel gerichtet: den heiligen Ort! Hier öffnet sich eine unsichtbare Weite, eine Leere, ein Nichts, das hinter dem leicht erhoben
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stehenden Altar nicht zu sehen ist. Der Kirchenbau wendet so das „überlichte Dunkel“ in die Waagrechte.⁴⁸ Hier wird die Transformation der Strukturmomente der negativen Theologie augenfällig. Der religiöse Überstieg verlagert sich über die Brücke der subjektiven Erkenntnisvermögen zu einem Übergang im Archipel der Vernunft. Das Heilige wird zum Erhabenen in der Vertikalen. Rudolf Otto hat einen festen Platz in diesem Transformationsprozess.
Die Zusammenhänge können hier nicht entfaltet werden. Zur theoretischen Grundlegung vgl. Rudolf Schwarz, Vom Bau der Kirche, Heidelberg 1947.
VII Religionsgeschichte und Kontextualisierungen
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Rudolf Otto und die Religionswissenschaft Betrachtet man die Beurteilung, die Rudolf Ottos Werk innerhalb der religionsforschenden Disziplinen erfahren hat und gegenwärtig erfährt, ergibt sich ein durchaus ambivalentes Bild. In der Theologie war eine unbefangene Rezeption lange Zeit mindestens erschwert, in erster Linie durch den deutlichen Einspruch, den die Dialektische Theologie aufgrund des diagnostizierten reinen BeobachterStandpunkts sowie der unzureichenden Herausstellung des Spezifikums des biblisch bezeugten Offenbarungsgeschehens gegen Otto erhob. Im Bereich der Religionswissenschaft liegen die Dinge anders. Einerseits bleibend als Klassiker dieses Fachs gewürdigt,¹ wird der maßgeblich mit seinem Namen verbundene Versuch, unter dem Signum einer Phänomenologie des ‚Heiligen‘ dem Religiösen eine basale Verstehenskategorie zu eröffnen, aufgrund dessen substantialistischer Anmutung sowie der ihm unterstellten abendländisch-theistischen Verwurzelung seines Denkens vielfach als methodisch fragwürdig und insofern als überholt empfunden. Auch andere Vorwürfe wie mangelnde Wissenschaftlichkeit, ahistorisches Herangehen oder der der Fragmentizität begegnen.² Eine genauere Untersuchung von Ottos Äußerungen zum fraglichen Problem lässt dagegen schnell erahnen, dass solche einfachen Zuweisungen wie ‚zu theologisch imprägniert‘ oder ‚zu substantialistisch‘ nicht hinreichen, die Leistungskraft seiner Religionshermeneutik zu erschließen. Die hier vorgetragenen Überlegungen können dabei natürlich das Verhältnis Ottos zur Religionswissenschaft nicht in toto beschreiben. Vielmehr sollen im Folgenden zentrale Elemente von Ottos Religionstheorie herangeführt und hinsichtlich ihrer Aussagekraft für eine methodischkritische und konstruktive Verhältnisbestimmung der am Thema der Religion arbeitenden Disziplinen analysiert werden. Über ein solches Verfahren lassen sich wesentliche Anhaltpunkte für Ottos Bestimmung der gemeinsamen Aufgabe einer fachübergreifenden ‚Religionskunde‘ – so der von ihm bevorzugte Ausdruck – gewinnen. Die folgenden Ausführungen nehmen dabei vier Punkte in den Blick: 1) die kategoriale Fassung des Numinosen, 2) das Verständnis des so bestimmten Grundgefühls als religiöses Apriori, 3) die geistphilosophische Grundlegung dieser Form der Apriorität und 4) schließlich die Folgerung für eine von Otto strikt psy-
Vgl. besonders Gregory D. Alles, Rudolf Otto (1869 – 1937), in: Klassiker der Religionswissenschaft, hg.v. Axel Michaels, München 22004, 198 – 210. Vgl. etwa Friedrich K. Feigel, ‚Das Heilige‘. Kritische Abhandlung über Rudolf Ottos gleichnamiges Buch, Tübingen 1948, 3.5 f. Einen Überblick über die kritische Rezeption innerhalb der Religionswissenschaft liefert: Carsten Colpe (Hg.), Die Diskussion um das ‚Heilige‘, Darmstadt 1977.
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chologisch gefasste Religionshermeneutik. Den textlichen Bezug unserer Betrachtungen soll Ottos religionstheoretisches Hauptwerk Das Heilige von 1917 bilden, andere literarische Zusammenhänge werden eher ergänzend eingespielt.
1 Wenden wir uns also zunächst dem erstgenannten Problemzusammenhang zu. Otto formuliert gleich im Übergang vom ersten zum zweiten Kapitel von Das Heilige die Selbstaufklärung des Religiösen als sein methodisches Programm, insofern er „das Verhältnis ihrer Momente so ins Reine zu bringen“ versuchen will, „daß sie [die Religion (Anm. des Verf.)] sich selber deutlich werde“ (DH, 4). Dieses Ziel besteht im Aufweis des ‚Heiligen‘ als des Konstruktionsprinzips aller Religion, als „ihr eigentlich Innerstes“ (DH, 6). Der Zugang zu diesem avisierten Kernbegriff erfolgt aber nicht direkt, sondern zunächst auf dem Wege einer negativen Bestimmung. Dieser erste Zugriff kritisiert den in Philosophie wie Theologie üblichen Sprachgebrauch, der klar ethisch konnotiert ist. ‚Heilig‘ steht dort im Rückgriff auf Kant als Prädikat eines reinen, durch keinerlei Affektionen seitens der Sinnlichkeit getrübten Willens. Diese Kritik dient Otto der Herausstellung gerade einer transmoralischen Komponente, die er als „deutlichen Überschuß“ (DH, 5) gegenüber jener ethischen Engführung kennzeichnet. Gleichzeitig kann er auf diesem Wege, da Kant die Ethik auf die praktische Vernunft zurückbindet, dazu parallel die für ihn ebenso zentrale transrationale Komponente des Heiligen aufzeigen. Diese erste Näherbestimmung ist jedoch wohl bemerkt der Abwehr möglicher Missverständnisse verpflichtet, erst der zweite Argumentationsweg hat dann tatsächlich für die eigene Theorie konstitutiven Charakter. Otto bildet jetzt für die eben herausgestellte transrationale sowie transmoralische Dimension des Heiligen den Kunstausdruck „das Numinöse“ (DH, 6) bzw. das Numinose, der sich als der eigentliche Zentralbegriff seiner Religionstheorie erweisen wird. Das Verständnis dieses Begriffs erschließt sich jedoch nicht ohne weiteres. Man könnte vermuten – und dies ist auch vielfach geschehen –, dass Otto mit dieser Bezeichnung eine qualitative resp. substantielle Größe vor Augen habe. Eine solche Fährte wird auch durch vielfältige Äußerungen von Otto selbst gelegt. Bei genauerer Betrachtung des Argumentationsganges zeigt sich jedoch, dass das Numinose bereits im Moment seiner Ersterwähnung seinem formalen Status nach als „Kategorie“ (DH, 7) gekennzeichnet wird. Daneben wird vom Numinosen auch als „Gefühls-gestimmtheit“ (DH, 7) gesprochen. Durch beide Näherbestimmungen erweisen sich alle Versuche, Otto einfach als substantialistischen Religionstheoretiker zu etikettisieren, als mindestens vorschnell. Eine systematische OttoInterpretation wird sich vielmehr der Aufgabe stellen müssen, beide Eigenschaften
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des Numinosen, die einer Kategorie und die der Gefühlsgestimmtheit, näherzubestimmen und in ein produktives Verhältnis zu bringen. Der mögliche Ertrag eines solchen Vorgehens kann hier lediglich skizziert werden. Wendet man sich dem Kategorie-Begriff zu, ist zunächst zu konstatieren, dass er die gesamte Darstellung durchzieht, wobei sich durchaus Anreicherungsmomente aufweisen lassen. Es fällt auf, dass der Begriff in den Grundzusammenhang einer apophantischen Struktur eingestellt ist. Otto spricht davon, ein numinoses Objekt als ein solches zu vermeinen, zu erkennen, anzuerkennen, die diese Operation beschreibenden Ausdrücke variieren. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass über die ‚als-Struktur‘ eine Bewertung im Sinne eines Deutungsvorgangs in kognitiv-psychologischem Sinn stattfindet. Von vornherein kann also festgehalten werden: Religion ist für Otto ein Deutungsphänomen (vgl. DH, 7.10.14.66). Nicht das numinose Objekt als solches, sondern nur das als numinos gedeutete Objekt ist es, das das religiöse Gefühl betrifft. Das ‚Wie‘ des gemeinten Objekts ergibt sich also erst aus der Anwendung einer Kategorie, genauer der Kategorie des Numinosen auf ein Objekt. Das Erleben eines Numinosen ist dann bereits das Resultat jener Anwendung. Eine solche Bewertung kann nun auf verschiedenen Ebenen statthaben. Sofern sie sich im Erleben bzw. Fühlen selbst vollzieht, handelt es sich um eine Beurteilungsoperation, die im Bereich des Vorprädikativen verfährt. Als solche kann das Numinose dann auch als „Gefühls-gestimmtheit“, oder an anderer Stelle als „objektbezogene Gefühlsbestimmtheit“ (DH, 13), bezeichnet werden. Die kategoriale Fassung des Begriffs des Numinosen verbietet – so kann jetzt schon gesagt werden – ein jedes streng substantialistisches Missverständnis dieses Konstitutionsprinzips des Religiösen, da erst mittels der Operation einer Deutung das vermeinte Objekt sich als solches erweisen kann. Für Ottos Denken ist es zentral, dass der kategoriale Status des Numinosen nicht mit dem anderweitiger Kategorien aus dem natürlichen Lebensumgang des Menschen verwechselt wird. Die Kategorie des Numinosen betrifft den mentalen Umgang mit dem Überweltlichen und verweist so auf eine spezifische Anlage innerhalb der conditio humana. In diesem Zusammenhang ist noch daran zu erinnern, dass das Numinose und nicht das für die Darstellung als Titel gewählte ‚Heilige‘ diese zentrale Bedeutung gewinnt. Letzteres erfährt, von Otto als „Komplex-Kategorie“ (DH, 61) oder „Komplex-Gefühl“ (DH, 63) gekennzeichnet, durchaus eine gewisse Abstufung. Es umgreift einerseits als solches stets bestimmte emotionale Kontrasterfahrungen und findet sich zudem ausschließlich in Zusammenhängen bestimmter Schematisierungen, changiert insofern stets zwischen rationalen und irrationalen Momenten. Um das Zugleich unterschiedlicher bzw. sogar konträrer Gefühle verständlich zu machen, bedient sich Otto des Stichwortes der Resonanzerzeugung, von ihm als „Gesetz der Gefühls-gesellung“ (DH, 57) überschrieben. Dieses Gesetz kann nur verstanden werden, wenn man von einer klaren Ähnlichkeits-
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beziehung ausgeht. Die Ähnlichkeit besteht dabei allerdings nicht in bloßen Gradabstufungen eines qualitativ Identischen. Vielmehr ist wohl an das Vorhandensein eines gemeinsamen Moments, eben einer „Angesellung eines art-besonderen“ (DH, 32), oberhalb der artspezifischen Differenz, zu denken. Derartige Resonanzphänomene können – und dies trifft eben auch auf das „Komplex-Gefühl“ des Heiligen zu – durchaus zu Gefühlsverwechselungen führen. Der eingeräumte Sachverhalt der Gefühlsentsprechung und Gefühlsverwechslung betrifft aber eben nicht das Grundgefühl des Numinosen selbst, sondern nur dessen vielfältige Manifestationsweisen. Darum zeichnet Otto ersteres als ein „Urgefühl“ aus (DH, 60), vergleichbar mit dem Verbindlichkeitsgefühl im Bereich des Ethischen. In diesem Sinne fungiert das Gefühl des Numinosen – und gerade nicht das Gefühl des Heiligen – als Konstitutionsprinzip des religiösen Erlebens und der religiösen Sphäre insgesamt. Es ist ein „qualitativ eigenartiges, originales Gefühl“ (DH, 60), ein „aus keinem anderen Gefühle ableitbares“ (DH, 59).
2 An diesem Punkt schließt der nächste hier auszuführende Aspekt von Ottos Religionstheorie nahtlos an, der Gedanke des religiösen Apriori. Dieses Thema wird von Otto breit verhandelt, für unseren Zusammenhang sind vor allem die zwei gleichlautend mit „Das Heilige als Kategorie a priori“ überschriebenen Kapitel in seinem religionstheoretischen Hauptwerk einschlägig, die Kapitel 16 und 19 (vgl. DH, 137– 142.165 – 171). In diesen Abschnitten finden wir eine sukzessive Näherbestimmung der Aspekte der Apriorität des Religiösen. Wie für Kant bedeutet a priori für Otto demnach in erster Hinsicht Allgemeinheit und Notwendigkeit (vgl. DH, 169). Kennzeichen für eine apriorische Erkenntnis ist zweitens das Moment von Gewissheit, das sich nicht anders als einer eigenen Einsicht verdanken kann (vgl. DH, 165 f.). Dieses Gewisswerden ist dabei nicht zwangsläufig an Begründungen gebunden, sondern kann auch in Gestalt unmittelbarer Evidenz auftreten (vgl. DH, 169). Allerdings ist auch für jene Evidenz die eigene Urteilsbildung unverzichtbar, d. h. die Gewissheit bleibt vernunftgebunden. Diese Verankerung in der Vernunft ist ihrerseits die Bedingung dafür, dass es sich um Urteile a priori handelt, denn dies fordert ja bereits die zuerst genannte Charakteristik der Allgemeinheit. In der Sphäre der Religion besteht für Otto apriorische Gewissheit in der Gestalt des religiösen Gewissens (vgl. DH, 166.169), das geradezu als deren Ort und Statthalter fungiert. Es wird an „Urteil[e] a priori, nämlich an das religiöse Gewissen selber“ appelliert. „Und dieses zeugt tatsächlich.“ (DH, 166) Das Heilige als eine rational-irrational „zusammengesetzte Kategorie“ (DH, 137) soll nun eine solche Kategorie a priori darstellen und zwar – und dies macht
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die eigentliche Schwierigkeit aus – sowohl nach seiner rationalen wie nach seiner irrationalen Seite. Die rationale Seite verankert Otto dabei am Ideenbegriff. Hier denkt er aber keineswegs ausschließlich an vergleichsweise hochstufige Ideen wie die Idee der Absolutheit, der Vollendung oder an die Gottesidee selbst, mit deren Besprechung die ganze Darstellung ja eingesetzt hatte (vgl. DH, 1.3), sondern zunächst an Werte ganz allgemeiner Art. Hinsichtlich der Religion werden diese als normative „Bedeutungs-prädikate“ (DH, 162) bezeichnet. Ihnen allen ist gemeinsam, dass es sich um Beurteilungshinsichten von „objektiver verbindlicher Gültigkeit“ (DH, 137) handelt, wodurch dem auf diese Weise Beurteilten ein „Wertsinn“ (DH, 162) zugesprochen wird. Demnach haben auch bereits sämtliche Momente des Numinosen den Charakter „reine[r] Ideen“ (DH, 137). Eine solche Ausweitung des Ideellen scheint auf den ersten Blick dessen rationalen Charakter zu widersprechen, doch Otto ist der Meinung, dass normative Wertvorstellungen nicht an die Ebene des begrifflich Klaren und Deduzierbaren gebunden sind (vgl. DH, 173), sondern bereits unterhalb dieser Stufe existieren und wirken. Für jenen Fall spricht Otto von einer „dunkle[n] Idee“ (DH, 162). Zu den dem Ideenbegriff gewidmeten Ausführungen gesellt sich bei Otto ein anthropologischer Gedankengang, der zu ersterem in genauer Entsprechung steht. Thema ist nun der Begriff der ‚Anlage zur Religion‘ (vgl. DH, 138 – 141). Diese Anlage zur Religion – als „Vermögen für das Übersinnliche“, so bereits in der Dissertation über den Heiligen Geist bei Luther (vgl. AHG, 48) – beruht auf einer ganzen Sequenz mentaler Strukturen und Operationen: Das erste Element wird als „ein a priori der Richtung von Erleben Erfahren Verhalten“ oder etwas genauer als ein „a priori Eingestelltsein auf etwas“ (DH, 140) bezeichnet. Beide Beschreibungsvarianten zielen auf den intentionalen Charakter der dem numinosen Gefühl zu Grunde liegenden Geiststruktur. Das Eingestelltsein kann dann in den spontanen Akt des Ahnens übergehen. Otto betont die Spontaneität dieses Übergangs, um die zweite mentale Struktur abzuheben von der Passivität der Außenreize, die lediglich den Anlass ihres Aufkommens bildeten. Jenes Ahnen hat zunächst den Charakter einer Suchbewegung, die sich auf dem Weg der „Vorstellungs-bildung“ „über sich selbst klar werden will“ (DH, 141) und nicht eher ruht, als bis sie ihr Ziel „gefunden hat“ (DH, 140). Aus diesem Grunde macht das numinose Gefühl „in sich selber“ einen „Entwicklungsverlauf“ durch (DH, 134). Die formale Besonderheit jenes Prozesses besteht darin, dass sie zwar noch „in dem Bereiche des Irrationalen“ (DH, 135) verläuft, gleichwohl aber strukturell apriorischen Charakters ist. Damit hat Otto seine Ausgangsthese eingelöst, dass das Apriorische der Religion sowohl deren rationalen wie deren irrationalen Bestandteil betrifft. Die für unsere Fragestellung relevante Pointe dieses auf zweifache Weise, nämlich über den Ideenbegriff und über den anthropologischen Begriff der An-
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lage, entwickelten Gedankens liegt nun darin, dass von Otto wie die gesamte kulturelle Entwicklung auch die Geschichte der Religion als „Auswicklung der dunklen Ideengrundlage […] in immer vorwärtstreibender Ideenerzeugung“ (DH, 141) verstanden wird. In dieser These verbinden sich das ideentheoretische und das anthropologische Argument. Besagte Dynamik, von Otto auch als „religiöser Trieb“ bezeichnet, ist Indiz der teleologischen Grundstruktur der Geschichte. Auch die Gottesidee kann folglich aufgrund der ihr innewohnenden hochgradigen Abstraktheit nicht am Anfang stehen, sondern ergibt sich erst im Verlaufe jener Entwicklung im Sinne einer Komplexitätsanreicherung. Ottos Fassung des religiösen Apriori meint also keinesfalls eine als gegeben angeborene Fähigkeit und schon gar nicht die Annahme des Verfalls einer ursprünglichen Einsicht im Verlaufe der Geschichte, sondern das strukturelle Vermögen des Menschen, einen Transzendenzbezug herzustellen. Es handelt sich hierbei um eine reine Struktur, jegliche inhaltliche Näherbestimmungen von Apriorität werden von Otto vermieden. Da sich dieses Vermögen zeitlich-kulturell bedingt in verschiedenen Objektvorstellungen und Ausdrucksgestalten artikuliert und nie anders als in jenen erscheinen kann, tritt das Apriori als solches religionsgeschichtlich nicht auf und lässt sich auch nicht vorschnell identifizieren. Von hier aus begründet sich einerseits Ottos Insistieren auf ein vergleichendes Verfahren für den Bereich sämtlicher religionsforschenden Disziplinen, andererseits seine spezifische Fassung von Religionstypologie, auf die noch zurückzukommen sein wird.
3 Zunächst aber wollen wir uns einem weiteren Aspekt zuwenden, der mit Ottos Verständnis des religiösen Apriori eng verbunden ist, nämlich dessen geistphilosophischem Prinzip. Mit dem bereits dargestellten Gedanken von mit „Wertsinn“ versehenen „Bedeutungs-prädikaten“ (DH, 162) im Bereich des Religiösen verbindet Otto die Grundüberzeugung, dass normative Gültigkeit niemals aus Sinneswahrnehmungen resultieren kann, einfach deshalb, weil Geltung stets den Charakter des Kontrafaktischen besitzt, das aller sinnlichen Gegebenheit gegenüber als das kategorial Andere ihrer selbst auftritt. Darum können Ideen nur aus dem Vermögen des Geistes selbst erklärt werden (vgl. DH, 11.59.137.139), und zwar als dessen ursprünglichstes Moment. „Im Geistigen aber ist solch Erstes aus dem man erklärt der Geist selber mit seinen Anlagen Kräften und Gesetzen, den man voraussetzen muß, den man selber aber nicht erklären kann.“ (DH, 139) Die Entstehung des Geistes denkt sich Otto dabei identisch mit der Entstehung des Menschen. Geist begegnet uns mit dem „ersten Aufleuchten bewußten Lebens“ (DH, 139). Insofern stellt es für Otto auch keine unzulässige Eintragung in die
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Frühgeschichte der Menschheit dar, wenn das erste Aufkommen von Religion aus dem spezifisch menschlichen Vermögen des Geistes erklärt wird. Damit ist nicht geleugnet, dass die Geschichte des Geistes analog zur Geschichte der Menschheit eine lange und komplexe Entwicklung durchlaufen hat (vgl. DH, 134 ff.139.143 ff.). Otto hält es jedoch einfach für ein positivistisches Vorurteil, wenn man die Entstehung und Verfasstheit von Religion aus allen möglichen anderen Vorstellungsmechanismen ableiten will, den Begriff des Geistes als der Quelle von Ideen dabei aber bewusst ausspart. Mit diesem Vorwurf ist bereits auf Ottos Kritik an einer jeden Form naturalistischen Evolutionismus’ verwiesen, die gleichzeitig das zentrale Motiv seiner deutlichen Anfragen an die Methodik der zeitgenössischen Religionswissenschaft darstellt. Besonders gut ließe sich diese Kontroverse an der Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundt in der großen Rezension von dessen Völkerpsychologie aus dem Jahre 1910 samt ihren publizistischen Vor- und Nachwirkungen illustrieren. Da sich jener Konflikt allerdings auch im Haupttext der Abhandlung von Das Heilige niedergeschlagen hat, soll auch weiterhin diese, uns bisher leitende Abhandlung im Zentrum der Darstellung stehen.Wundt unterschied streng zwischen Hochreligionen, die auf entwickelten ideellen Grundlagen beruhen, und den ihnen vorausliegenden mythisch-kultischen Erscheinungen archaischer Zeit. Letztere fasst er unter den Sammelbegriff „Vorreligion“ (DH, 150). Diese grundlegende Differenz wird auch durch die von ihm zugestandene Feststellung, dass jene Vorformen von Religion in deren entwickelter Gestalt tiefe Spuren hinterlassen haben, nicht abgeschwächt. Otto hingegen hält es dieser Konzeption gegenüber für einen Vorzug seines eigenen religionstheoretischen Ansatzes, dass er jene Unterscheidung zu unterlaufen erlaubt. Für Otto ist leitende Prämisse, dass auch in den fremden Erscheinungen archaischer Zeit Religion begegnet. Seine diesbezügliche Spitzenthese lautet: „Religion fängt mit sich selber an und ist selber schon in ihren ‚Vorformen‘ des Mythischen und Dämonischen wirkend.“ (DH, 160) Dass Religion zu dem wird, was sie ist, verdankt sich durchaus einem geschichtlichen Werdeprozess, der allerdings nicht im Sinne eines Erwachsens aus nichtreligiösen Vorstufen verstanden werden kann. Wie aber ist dieser Prozess dann näher zu beschreiben? Otto lehnt wie Wundt die Auffassung ab, dass Religion dem Menschen im Sinne einer conditio humana als fertige Gestalt angeboren wäre, dies wurde schon deutlich. Einen ersten Hinweis kann die bereits im Eingang der Darstellung von Das Heilige getroffene Feststellung geben, nach der von einem basalen Gefühl des Unheimlichen „alle religionsgeschichtliche Entwicklung ausgegangen“ ist (DH, 16).Wenn dem aber so ist, dann stellt sich die Frage der Antezedensbedingung jenes epochalen Durchbruchs, durch den ja die Religionsgeschichte ebenfalls in ein Davor und ein Danach gegliedert wird. Anders gefragt: Wie verhält sich Ottos Terminus des „Vorhofs“ bzw. der „Vorstufe“ (DH,
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143) zu der Wundtschen Fassung jenes Gedankens? Für Otto begegnet Religion, wo immer sich die „ersten Regungen des Gefühls des Numinosen“ (DH, 151) zeigen. Die Klammer, die die Religionsgeschichte insgesamt zusammenhält, verdankt sich also der Kontinuität der emotionellen Seite der Religion. Das Gefühl des Numinosen tritt – „wie alle anderen seelischen Urelemente“ (DH, 151) – unabgeleitet, selbständig und insofern gleichsam instantan auf. Das dieser Setzung gegenüber entwicklungsgebundene Element besteht dann darin, dass die Frühphase von Religion durch die Struktur des „nur allmählich und nacheinander sich vollziehenden Auftauchen[s] und Wachwerden[s] der einzelnen Momente des Numinosen“ (DH, 160) gekennzeichnet ist. Nach Ottos Verständnis ist Entwicklung im Gebiet der Religion also ein Ausdifferenzierungs- und Sublimierungsprozess des numinosen Gefühls oder – wie Otto auch bereits in Das Heilige sagt – des sensus numinis. Die Ebene der Ausdifferenzierung liegt dabei in der ideogrammatischselbstexplikativen Anreicherung des religiösen Erlebens. Die Ebene der Sublimation besteht im Sich-durchsichtig-werden des numinosen Gefühls, das die inadäquat gewordenen Gestalten seiner Selbstobjektivationen über einen allmählichen Vergeistigungs- bzw. Transzendierungsprozess nach und nach abstößt. Ottos entschlossene Option für die Methode der Gefühlsanalyse hat darin ihren Grund, dass er das Gefühl des Überweltlichen anders als Vorstellungen, Schematisierungen sowie Vollzüge und Praktiken, also alle Formen von Objektivation, nicht für zeitgebunden, sondern gleichsam für zeitinvariant hält. Für ihn ist deutlich, dass heutige Religionsforschung jene Ausdrucksgestalten als fremd und unverständlich apostrophieren muss, die ihnen zu Grunde liegenden bzw. in ihnen ausgedrückten Gefühle dagegen lebendiger Religiosität bleibend nachvollziehbar sind. Ob diese Einschätzung wirklich zutrifft, bliebe kritisch zu bedenken. Hier sei nur als ein erster Aspekt angeführt, dass nicht nur religiöse Vorstellungsgebilde, sondern auch religiöse Gefühle durchaus einen Zeitindex tragen. Für unsere Fragestellung bleibt hinsichtlich der skizzierten geistphilosophisch-psychologischen Dimension von Ottos Religionstheorie festzuhalten, dass ihm die Religionsgeschichte als Geschichte des Zu-sich-selbst-Kommens des religiösen Apriori gilt. Otto spricht in diesem Zusammenhang auch von „Selbstauswicklung“ oder „Selbstverdeutlichung“ des numinosen Gefühls (DH, 153). Erst aus der Perspektive einer solchen Entwicklungstheorie von Religion gewinnt seine Fassung des religiösen Apriori ihre spezifische Kontur. Otto verknüpft die entwicklungsmäßige Unableitbarkeit des numinosen Gefühls mit dessen psychologischer Unableitbarkeit aus sinnlich-profanen – er sagt, natürlichen – Erregungszuständen. Das religiöse Gefühl muss vielmehr in beiderlei Hinsicht als ein in sich „potenzen-reiches Geistiges“ (DH, 151) begriffen werden, und zwar als ein solches, das trotz aller möglichen Unentwickeltheit die für Religion erforderliche geistige Disposition besitzt, nämlich die Fähigkeit zur Transzendierung
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der sinnlichen Wirklichkeit. Der Begriff des religiösen Apriori besagt dann nichts anderes, als dass Religion in allen ihren geschichtlichen Phasen, also von archaischer Zeit an bis hin zu den sog. Hochreligionen, auf „einer gefühlsmäßigen Ideengrundlage“ (DH, 156 f.) aufruht. Dass Otto in diesem Zusammenhang nicht von einer uranfänglich vorhandenen, fertigen Geiststruktur spricht, sondern eben von einem in sich „potenzen-reiche[n] Geistige[n]“ (DH, 151), verdankt sich gerade der Intention, Kontinuität und Entwicklung zusammendenken zu können. Otto konzipiert den Begriff des religiösen Apriori also letztlich zu dem Zweck, die u. a. von Wundt vorgenommene strikte Differenzierung von archaischer Mythenwelt und ideeller Hochreligion zu vermeiden. Geist und Religion kongruieren darin, dass sie nur durch einen Entwicklungsprozess zu dem werden können, was potentiell in ihnen angelegt ist. Diese Kongruenz verstärkt sich noch durch den Sachverhalt, dass beide Größen, Geist und Religion, erst durch ihr Zusammentreten einander zu innerer Vollendung verhelfen: „Wer Geistes-Geschichte will muß qualifizierten Geist wollen; wer Religions-Geschichte meint meint Geschichte eines für Religion qualifizierten Geistes.“ (DH, 203)
4 Will man den Ertrag der vorgetragenen systematischen Weichenstellungen für die Aufgabe einer Religionshermeneutik bestimmen, lassen sich neben den bereits angedeuteten Aspekten noch weitere Momente namhaft machen. Einschlägig wäre für diese Frage in erster Linie die mit der von Otto zum 100. Jahrestag ihres Erscheinens initiierten Ausgabe der Erstfassung der Reden verbundene Schleiermacher-Auseinandersetzung. Die über die thesenreiche Einleitung sowie zahlreiche Anmerkungen und Kommentare im Text geleistete kritische Stellungnahme zu Schleiermachers frühem Entwurf würde allerdings einen eigenen Kontext eröffnen und kann hier nicht auf angemessene Weise geleistet werden. Daher sollen wenige Andeutungen genügen, um auf deren Basis wiederum zu Das Heilige zurückzukehren. Bei der Beschäftigung mit der Religionsgeschichte haben wir es – so Otto in seiner Einleitung zu den Reden – mit einer „bunten Kette und Abfolge von Erscheinungen“ zu tun³, für die sich nicht ohne weiteres ein zusammenfassender Begriff finden lässt, geschweige denn, dass jene Mannigfaltigkeit durch die Darstellung der jeweiligen Lehrfassung wiederzugeben wäre. Wenn es dennoch
Friedrich Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern, zum Hundertjahr-Gedächtnis ihres ersten Erscheinens in ihrer ursprünglichen Gestalt hg. u. mit Übersichten und Vor- und Nachwort versehen v. Rudolf Otto, Göttingen 1899, VIII.
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notwendig ist, „ein Einheitliches aufzustellen“⁴, das durch alle Formungen hindurchgeht, um den Gesamtbereich unter einem Begriff zusammenfassen zu können, dann gelingt dies nur auf psychologischer bzw. religionspsychologischer Ebene. Er nennt als solches einheitliches Band an dieser Stelle die „überschwenglichen Gefühle“, die die Sphäre des Religiösen prägen. Insofern dient Otto die bereits in der Luther-Dissertation zu beobachtende Hinwendung zur Psychologie auch einem geschichtshermeneutischen Interesse. Bereits hier zeichnet sich die Grundintention von Ottos gesamtem Werk ab, Religionsgeschichte und Religionspsychologie miteinander zu verbinden. Schleiermachers Beitrag zum „Verständnis der Geschichte der Religion“⁵ wird von Otto durchaus ambivalent gesehen. Einerseits schätzt er dessen Gespür für „den Wert des Individuellen, Charaktervollen“⁶ allen geistigen Lebens, andererseits kritisiert er vehement das Verfahren, mittels dessen Schleiermacher in der 5. Rede das Verhältnis der monotheistischen Religionen ableitet. Otto ist der Meinung, dass ein definitorisches Vorgehen, das über einen allgemeinen Wesensbegriff qua principium individuationis die konkreten Religionen als deren species ableitet, noch nicht einmal geeignet ist, die synchronen und diachronen Spannungen innerhalb einer einzigen Religion zu erfassen, geschweige denn die Welt der Religionen insgesamt. Religionsgeschichte – ob im Einzelfall oder im Ganzen – verläuft eben nicht in einlinigen Entwicklungsreihen oder lediglich in graduellen Abstufungen, ihre Werdekette ist vielmehr „nicht frei von heterogene [n] Elemente[n]“⁷ und kontingenten Faktoren. Von hier aus begründet sich nochmals sein methodisches Verfahren einer religionsvergleichend arbeitenden typologischen Charakteristik. Fragt man sich dagegen, aus welchen Motiven Otto die von Schleiermacher in der 2. Rede geleistete konkrete Beschreibungen der religiösen Gefühle (RE, VIII) als theologisch wegweisend betrachtet, dann geht es ihm nicht nur – im Sinne des bereits Dargestellten – um eine emotionspsychologische Erschließung der Religionsgeschichte im Allgemeinen, sondern mindestens ebenso sehr darum, ein „neues“, vertieftes „Verständnis des Christentums“⁸, gerade für seine Gegenwart anzubahnen.⁹ Dies bedeutet für die weitere Entwicklung von Ottos Denken, dass sämtliche von ihm geleisteten religionskundlichen Bemühungen immer zugleich eine christentumshermeneutische Funktion aufweisen; anders gesagt: Religionstheorie und Christentumstheorie
Ebd. A.a.O. 174. A.a.O. 177. Ebd. A.a.O. 182. Vgl. a.a.O. 174.177.
Rudolf Otto und die Religionswissenschaft
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gehören für Otto eng zusammen.¹⁰ Ein grundsätzliches Gegeneinander-Ausspielen von Theologie und Religionswissenschaft hätte Otto daher von vornherein gänzlich fern gelegen. Für die Erschließung der Religionsgeschichte folgt aus Ottos strikt psychologisch angelegter Religionshermeneutik im Gegenüber zu den seiner Zeit üblichen Zugangsmethoden gleichsam eine grundsätzliche Änderung des Richtungssinns. Es lässt sich – etwas schematisch gesagt – auf zweierlei Weise verfahren: Die ethnologische Religionswissenschaft, die Wundtsche Völkerpsychologie sowie die beiden folgende Religionssoziologie entwickeln ihr begriffliches Instrumentarium an Hand der archaischen Gestalten von Religion bzw. deren Vorstufen in Mythos und Kult und suchen von hier aus auch die höheren Erscheinungsformen von Religion zu begreifen. Otto hingegen geht den umgekehrten Weg: Er ist der Meinung, jene archaischen Ausdrucksformen lassen sich aufgrund ihrer Abständigkeit und Fremdheit überhaupt nur rückblickend aus entwickelteren Ausformungen erschließen. Jede andere als eine solche Form der rückschließenen Inverhältnissetzung läuft Gefahr, jene Sachverhalte gar nicht mehr in ihrem historisch-individuellen Wert erfassen zu können. Zudem sieht Otto in der Methodik zeitgenössischer Religionswissenschaft einen nichtproblematisierten einseitigen Rationalismus am Werk. Sie nehmen zwar nicht wie der theologische Rationalismus von rationalen Gottesvorstellungen ihren Ausgang; die rationale Ausrichtung dokumentiert sich hier für ihn vielmehr in der Einlinigkeit der jeweiligen Entwicklungskonstruktionen bzw. in impliziten Kriterien der Bewertung archaischer Religion. Die von Otto vorgeschlagene Richtungsänderung der hermeneutischen Herangehensweise ist aber keineswegs, wie viele Kritiker unterstellen, vordergründig theologisch motiviert, sondern eben, wie er wiederholt betont, geistphilosophisch. Die Anfänge des menschlichen Geistes und damit die von Geschichte, Kultur und Religion lassen sich nur „deuten“ durch „Rückgehen vom entwickelten Geiste selber aus“ (DH, 139). Nur so können wir tatsächlich per analogiam verstehen, wenn auch nur, wie Otto einräumt, „nach matter Ähnlichkeit“ (DH, 139). Damit ist angedeutet, dass der Erschließung jener archaischen Phänomene gleichzeitig Grenzen gesetzt sind. Vieles bleibt „unklärbares einfaches Datum“ (DH, 139). Aufgrund dieser notwendig bleibenden Opakheit sind alle Versuche, im Bereich der Religion vorschnell auf eine funktionalisierende Betrachtung zu fokussieren, zu problematisieren. Otto hält eine
So auch die Grundthese der Habilitationsschrift von Hans-Walter Schütte, die immer noch eine der tiefgreifendsten Untersuchungen von Ottos Religionstheorie darstellt. Hans-Walter Schütte, Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, Berlin 1969.
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solche Fragerichtung keineswegs generell für unzulässig, allerdings sieht er hier die Gefahr einer Verkennung des qualitativ Eigenen der Religion gegeben. Als kurzes Fazit des Durchgangs durch zentrale Theorieelemente des Ottoschen Denkens und ihrer Folgen für eine Aufgabenbestimmung der religionskundlichen Arbeit bleibt hinsichtlich unseres Ausgangsthemas „Rudolf Otto und die Religionswissenschaft“ festzuhalten: Wenn Otto scharfe Einwände gegen prominente Vertreter der Religionswissenschaft hatte, ging es ihm dabei stets um konkrete methodische Anfragen, keineswegs um einen generellen Verdacht gegenüber jener Disziplin. Einem naturalistischen Evolutionismus und – damit verbunden – einer vorschnellen Funktionalisierung stellt er seine geistphilosophisch motivierte und konsequent religionspsychologisch verfahrende Religionshermeneutik entgegen, die die fremd gewordenen kultischen, vorstellungsmäßigen und begrifflichen Ausdrucksgestalten mittels der Kontinuität der emotionalen Seite der Religion deutend zu erschließen sucht.
Stefan S. Jäger
Das Buddhismusbild bei Rudolf Otto Mit der Frage nach dem Buddhismusbild wird die Spannweite von Rudolf Ottos Denken angezeigt. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts suchte Otto die Begegnung mit dem „ganz Anderen“ auch in kulturell-religiöser Hinsicht. Motiviert war diese Überschreitung eines „westlichen Provinzialismus“ (Tillich) durch Ottos religionsphilosophisches Axiom eines religiösen Apriori. Dazu kamen jedoch auch geistesgeschichtliche, historische und gesellschaftlich-politische Rahmenbedingungen, die gerade die Rezeption zweier Formen des japanischen Buddhismus durch Otto erst ermöglichten und begünstigten. Zu erwähnen sind hier insbesondere die engen Beziehungen zwischen Preußen bzw. der Weimarer Republik und dem Japan in der Zeit nach der Meji-Restauration (1868) bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges sowie das World’s Parliament of Religions in Chicago von 1893, das zum Katalysator der Rezeption eines sich der Moderne adaptierenden japanischen Buddhismus im Westen wurde.¹ In einem ersten Schritt gebe ich einen kurzen Überblick über die Beschäftigung Ottos mit dem Buddhismus und die ihm zur Verfügung stehenden Quellen. Dann werde ich in diachroner und systematischer Perspektive zunächst die beiden religionsvergleichenden Vorträge aus den Jahren 1912 und 1913 vorstellen, die in der Forschung bisher so gut wie unberücksichtigt blieben. Anschließend skizziere ich Ottos religionsphilosophische Deutung des Zen in den 20er Jahren, gefolgt von einer kritischen Würdigung von Ottos Buddhismusbild.
1 Überblick über Ottos Beschäftigung mit dem Buddhismus Rudolf Otto hat sich in zwei Phasen mit dem Buddhismus befasst. Der erste Anlauf, der sich in zwei Vorträgen niederschlug, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit seiner Asienreise 1911/12, die ihn auch nach Japan führte. Beide
Vertreter des (Rinzai‐) Zen bei der Delegation japanischer Buddhisten in Chicago war Shaku Sōen (1859 – 1919), der Lehrer D.T. Suzukis. Shaku Sōen war es, der Suzuki eine Stelle bei Paul Carus (1852– 1919) in den USA vermittelte, bei dem Suzuki von 1897– 1908 in La Salle/Illinois blieb. Zur Rolle Shaku Sōens bei der Funktionalisierung des „neuen“ Zen im Dienst japanischer Eroberungskriege vgl. Jürgen Offermanns, Der lange Weg des Zen-Buddhimus nach Deutschland. Vom 16. Jahrhundert bis Rudolf Otto (Lund Studies in History of Religions 16), Lund 2002, 225.
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Stefan S. Jäger
Vorträge sind vom methodischen Ansatz psychologisch und religionsvergleichend wie Otto betont. Es handelt sich zunächst um den am 11. April 1912 vor der Asiatic Society of Japan gehaltenen Vortrag „Parallelisms in the Development of Religion East and West“, dessen Mitschrift mit Zustimmung Ottos, jedoch ohne seiner Durchsicht, 1912 veröffentlicht wurde.² Den zweiten Vortrag „Parallelen und Wertunterschiede im Christentum und Buddatum“ [sic!], hielt Otto am 14. Januar 1913 in der IV. städtischen Pflichtfortbildungsschule zu Berlin.³ Thematisch geht es auch hier um parallele Entwicklungen in Christentum und Buddhismus, jedoch erweitert um eine vergleichende Wertung beider Religionen. Diese beiden Vorträge stammen aus seiner Göttinger Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Im zweiten Anlauf befasste sich Rudolf Otto speziell mit dem Zen. 1922 erschien in dem Zweiten Mitteilungsblatt des Religiösen Menschheitsbundes der Aufsatz: „Ueber eine besondere Form des Japanischen Buddhismus“⁴, dessen englische Übersetzung unter dem Titel „Professor Rudolph Otto on Zen Buddhism“ in „The Eastern Buddhist“ 1924 abgedruckt wurde.⁵ Zwischenzeitlich hatte Otto diesen Aufsatz unter dem Titel „Über Zazen als Extrem des numinosen Irrationalen“ 1923 zusammen mit dem kleinen Text „Das Numinose in buddhistischem Bildwerk“ in den Band „Aufsätze das Numinose betreffend“ aufgenommen.⁶ 1932 fand dieser Text unter dem Titel „Das Numinos-Irrationale im Buddhismus“⁷ seine endgültige Gestalt. Schließlich sei noch das Geleitwort erwähnt, das Otto dem Buch von Ōhasama Schūej: „Zen – Der lebendige Buddhismus in Japan“ beifügte, das ausgewählte Übersetzungen aus dem Hekiganroku und dem Mumonkan enthält, die von dem Philosophen August Faust kommentiert und von Eugen Herrigel sprachlich Rudolf Otto, Parallelisms in the Development of Religion East and West, in: Transactions of the Asiatic Society of Japan, Vol. XL (1912), 153 – 158 (Vortrag gehalten am 11. April 1912 in Japan). Rudolf Otto, Parallelen und Wertunterschiede im Christentum und Buddatum [sic!]. Vortrag, gehalten von Professor Dr. Otto – Göttingen in der IV. städtischen Pflichtfortbildungsschule zu Berlin am 14. Januar 1913, unveröff. mass Ms. Rudolf-Otto Archiv, Bibliothek Religionswissenschaft der Philipps-Universität Marburg, OA 351. Dieser Vortrag wurde von Philip C. Almond in gekürzter Fassung ins Englische übersetzt und 1984 veröffentlicht: Rudolf Otto, Buddhism and Christianity. Compared and Contrasted, Editor and Translator Philipp C. Almond, in: BuddhistChristian Studies Vol. 4 (1984), 87– 101. Angesichts der Bedeutung dieses Textes wäre eine vollständige Edition des deutschsprachigen Originals ein Desiderat. Rudolf Otto, Ueber eine besondere Form des Japanischen Buddhismus, in: Zweites Mitteilungsblatt des Religiösen Menschheitsbundes (1922), 6 – 11. Rudolf Otto, Professor Rudolph Otto on Zen Buddhism, in: The Eastern Buddhist Vol. III (1924) Number 2, 117– 125. Rudolf Otto, Das Numinose in buddhistischem Bildwerk, in: AN, 114– 118; ders., Über Zazen als Extrem des numinosen Irrationalen, in: AN, 119 – 132. Rudolf Otto, Das Numinos-Irrationale im Buddhismus, in: GÜ5.6, Teil I, Nr. IX, 241– 257.
Das Buddhismusbild bei Rudolf Otto
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überarbeitet wurden.⁸ Es handelt sich dabei um das erste deutschsprachige Buch, das über Zen erschienen ist. Daneben finden sich bei Otto verstreute Bemerkungen zum Buddhismus in seinen weiteren Werken, z. B. in Das Heilige, West-östliche Mystik und Die Gnadenreligionen Indiens. Fragt man nach den Quellen für Ottos Kenntnisse des Buddhismus, die als Grundlage für die Assimilation in sein eigenes System dienten, ergibt sich ein vielschichtiges Bild. Otto zitiert bekanntlich seine Quellen kaum und wenn, dann nicht immer sehr zuverlässig. Er betont, dass er wesentliche Kenntnisse aus persönlichen Begegnungen mit Buddhisten und eigenen Betrachtungen der buddhistischen Ikonographie, besonders während seiner Asienreise, gewonnen hat. Das entspricht seinem phänomenologischen Ansatz, in dem es ihm weniger auf Deskription als auf eine intuitive Wesensschau ankommt. Das kann man z. B. sehr schön an seiner Beschreibung eines Bildnisses Bodhidharmas, des ersten Patriarchen des Zen, ablesen, wo er in einer rhetorischen Kaskade sich geradezu überschlagender Steigerungen und hoher Intensität im Leser eine Spannung und Erwartung evoziert, die endlich in Ottos Interpretation mündet und sich hier löst: „[…] die großen Augen fast aus dem Kopfe getrieben von dem inneren Überdrucke, sich einbohrend in das Gesuchte: Augen eines Beschwörers, der einen Dämon, einen Gott zur Stelle bannen will, damit er sich und sein Geheimnis offenbare und hergebe. Worauf er blickt, was er bannen will, wer weiß es zu sagen. Aber dass es etwas ganz Ungeheures ist, daß es das Ungeheure selber ist, das zeigen diese Züge. […] Daß dieser Sitzende etwas sucht, auf das schlechthin alles ankommt, gegen das schlechthin alles gleichgültig ist, ein Etwas mit einem Worte, wie es nur das Numinose selber hat, springt unmittelbar entgegen.“⁹ Otto beantwortet seine Frage: „Worauf er blickt, was er zwingen will, wer weiß es zu sagen“ gleich selbst: Es ist das Numinose. Dieser kurze Vorgriff illustriert Ottos phänomenologische Annäherung über die Ikonographie sowie die darin mitgesetzte religionsphilosophische Deutung. Daneben zeigt ein Blick in den Nachlass Ottos, dass er damals verfügbare Literatur zum Buddhismus intensiv wahrnahm. Ob Ottos Interesse am Buddhismus bereits in die Zeit vor seiner Asienreise 1911/12 zurückreicht ist noch eine
Ōhasama Schūej, Zen. Der lebendige Buddhismus in Japan. Ausgewählte Stücke des ZenTextes, übersetzt und eingeleitet von Ōhasama Schūej, hg.v. August Faust mit einem Geleitwort von Rudolf Otto, Gotha/Stuttgart 1925, iii-ix [Mit einem Geleitwort zur erneuten Herausgabe 1967 von Tetsuō Kiichi Nagaya]. GÜ5.6, 244.
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offene Frage.¹⁰ Allerdings wird Otto die Publikationen seines engen Freundes Heinrich Hackmann zum Buddhismus zur Kenntnis genommen haben.¹¹ Diese persönliche und lebenslange Freundschaft mit Hackmann (1864 – 1935), der sich durch eine pionierhafte zweijährige Asienreise (1901– 1903) und durch umfangreiche Veröffentlichungen zum Buddhismus, den er aus eigener Anschauung kannte,¹² verdient gemacht hat, wurde bisher kaum beachtet. Ebenso zu erwähnen sind Briefwechsel mit Ottos Freund Richard Wilhelm (1873 – 1930) in China und Wilhelm Gundert (1880 – 1971) in Japan, die im Rudolf-Otto-Archiv der PhilippsUniversität Marburg zu finden sind. Für seine Kenntnis des Reinen-Land-Buddhismus (insbesondere der Jōdo Shinshū in Japan) stand ihm der 1910 in Göttingen veröffentlichte Band von Hans Haas „Amida Buddha unsere Zuflucht“ zur Verfügung. 1913 veröffentlichte Kaiten Nukariya eine der ersten Darstellungen des Zen in einer westlichen Sprache: „The Religion of the Samurai. A study of Zen-Philosophy and discipline in China and Japan“¹³ Otto kommt im Geleitwort zu Ohasama-Faust 1925 zu einigen sehr kritischen Bemerkungen über Nukarias Buch, da dieser den Zen zu stark in westlichen Kategorien zu deuten versucht.¹⁴ In seinem Zen-Aufsatz beruft sich Otto lediglich auf zwei Beiträge von Suzuki Daisetz Teitarō (鈴木大拙低太郎, 1870 – 1966) im Eastern Buddhist. Die Handexemplare mit Randbemerkungen finden sich in der religionswissenschaftlichen Bibliothek der Philipps-Universität Marburg. Dass sich Otto auch bei der Beschäftigung mit dem Mahāyāna nochmals ausschließlich auf Jōdo Shinshū 浄土真宗 und Zen 禅 beschränkt, dürfte bereits auf D.T. Suzuki
Almond hält dafür, dass „As far as I am able to determine, Otto knew little, indeed was not interessted in Buddhism, or Indian religions in general, until 1911.“ Philip C. Almond, Rudolf Otto and Buddhism, in: Aspects of religion. Essays in honour of Ninian Smart (Toronto Studies in Religion 18), ed. by Peter Masefield and Donald Wiebe, New York 1994, 59 – 71.60. Hier liegt in den beiden Rudolf Otto Teilarchiven der Philipps-Universität Marburg ein umfangreicher Briefwechsel vor. Zu Hackmann vgl. Fritz-Günter Strachotta, Religiöses Ahnen, Sehnen und Suchen. Von der Theologie zur Religionsgeschichte. Heinrich Friedrich Hackmann 1864– 1935 (Studien und Texte zur Religionsgeschichtlichen Schule 2), Frankfurt a.M. 1997. Heinrich Hackmann, Von Omi bis Bhamo. Wanderungen an der Grenze von China, Tibet und Birma, Halle a.d.S. 1904; Ders., Der Buddhismus, Bd. 1– 3, Tübingen 1905/1906; Ders., Buddhism as a Religion. Its historical development and its present conditions, London 1910; Ders., Welt des Ostens, Berlin 1912; Ders., Chinesische Philosophie, München 1927. Nukaria Kaiten (1867– 1934), Professor, Priester des Soto-Zen und Freund von D.T. Suzuki zeichnet sich nach E. Porcu durch eine nationalistische Haltung aus und sah im Zen die ideale Haltung für das militaristische Japan. Vgl. Elisabetta Porcu, Pure Land Buddhism in Modern Japanese Culture (Studies in the History of Religions 121), Leiden und Boston 2008, 54– 76.62. Vgl. auch ausführlich (auch zur Kritik am „Suzuki-Zen“) Robert H. Sharf, The Zen of Japanese Nationalism, in: History of Religions Vol. 33, No. 1 (1993), 1– 43. Ōhasama Schūej, Zen. Der lebendige Buddhismus in Japan (Anm. 8), VIII.
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zurückzuführen sein, der in diesen beiden Schulen in Japan, nicht ganz frei von nationalistischen Motiven, den End- und Zielpunkt und damit die höchste Blüte der Entwicklung buddhistischer Religionsgeschichte sah. Diese Quellen bilden den Hintergrund für eine kritische Würdigung von Ottos Buddhismus-Verständnis, das zum einen auf diesen Quellen fußt, sich aber auch in spezifischer Weise davon abhebt.
2 Ottos Interesse an religionsgeschichtlichen Parallelen und Konvergenzen – die beiden religionsvergleichenden Aufsätze von 1912 und 1913 In diesen beiden Vorträgen entwickelt R. Otto eine Theorie religionsgeschichtlicher Parallelen und Konvergenzen.¹⁵ Wurden bislang Ähnlichkeiten verschiedener Religionen auf Abhängigkeitsverhältnisse zurückgeführt, die man versuchte historisch zu rekonstruieren, so stellt Otto die These auf, dass sich diese Parallelen unabhängig voneinander entwickelten und ihren Ursprung religiös gesprochen in Offenbarung und aus anthropologischer Perspektive im gemeinsamen religiösen Gefühl bzw. allgemeinen Bewusstsein haben. Darin sieht er den größten Gewinn der, wie es bei Otto heißt, „psychological and comparative study of religion“.¹⁶ “The fact is, that the religions of the East and West are almost entirely independent. They are truly parallel, their similarities being now recognized as due to the working of an underlying power called in religious language, revelation, and in scientific language, common religious feeling. If there is a general consciousness throughout the human race then similar phenomena are to be expected. This principle is one of the most significant deductions of modern critical study.”¹⁷
In den Parallelen zwischen jüdisch-christlicher Religion und dem Buddhismus sieht Otto diese These besonders bestätigt.¹⁸ Als ein Beispiel erwähnt R. Otto die
Den Hintergrund dazu bildet die Religionsgeschichtliche Schule in Göttingen. Rudolf Otto, Parallelisms (Anm. 2), 153. A.a.O. 154. So auch in ders., Parallelen und Wertunterschiede (Anm. 3), 2: „Dinge, die in ihrer geschichtlichen Entwicklung so ähnlich verlaufen, müssen nach eigentümlichen und parallelen Gesetzen gestaltet sein, müssen mehr oder minder auf Triebe menschlich vernünftigen Geistwesens zurückgehen, die verwandt sind und in eine Kategorie gehören.“ Ders., Parallelisms (Anm. 2), 154.
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„Reformation“ Hōnens und Shinrans in Japan und die Reformation Luthers. Er führt hierzu aus: “In Buddhism as in Christianity there was a Protestant Reformation, notably in Japan. Honen and Shinran, 700 years ago, protestet against the abuses of the established religion just as Luther and Calvin did in Europe. In both cases the central principle was salvation by faith, not by works or ceremonies. To day in Japan Shinshu embodies the extreme doctrine of salvation by faith in Amida, the Goddess [sic!] of Boundless Light. It is paralleled in the doctrine of absolute reliance on God as stated in the Augsburg Confession. The Buddhist says that faith in Amida arouses a new motive and a feeling of gratitude which transforms life. […] it seems to me that Luther […] is the true Christian Parallel to Shinran […].¹⁹
Dass Rudolf Otto, der selbst kein Chinesisch oder Japanisch konnte, hier sowohl einer tendenziösen bis falschen Übersetzung zentraler shin-buddhistischer Termini (insbesondere die Wiedergabe von shinjin 信心 mit faith) als auch einem konstruierten Geschichtsbild zum Opfer fiel, dem spezifische sektengeschichtliche Interessen zugrunde liegen (Stichwort „Reformation“ im Blick auf die Kamakura-Schulen), kann ihm zu seiner Zeit nicht angelastet werden.²⁰ Wesentlich ist hier der Punkt, dass Otto mittels des Religionsvergleichs die These eines religiösen Apriori bestätigt sieht, wobei sowohl die ihm zur Verfügung stehenden tendenziösen Daten in diese Richtung weisen als auch die Daten bereits unter dem Vorzeichen eines religiösen Apriori gedeutet (und übersetzt) werden. In der zeitgenössischen Literatur über den Amida-Buddhismus seien hier nur die Namen Karl Ludwig Reichelt, Hans Haas und Arthur Lloyd sowie von japanischer Seite Tada Kanae erwähnt. Ottos Ansatz führt ihn auf der einen Seite zu einer grundsätzlich positiven Bewertung des Buddhismus als Religion (so auch der Titel eines Buches von Heinrich Hackmann von 1910). So betont er gegen den Trend seiner Zeit, dass der Buddhismus nicht bloße Philosophie, sondern echte Religion ist, der es um „Heil“ gehe.²¹ Dass der Buddhismus nicht kulturfeindlich und pessimistisch ist und nirvāna einen positiven Wert darstelle: „Nirvana“ ist „der Wert aller Werte.“²² Und schließlich, dass der Mahāyāna-Buddhismus keine Degenerationserscheinung,
A.a.O. 157– 158. Da sie auf “den korrespondierenden Punkten paralleler Entwicklung ihrer Umwelt stehen” sieht Otto Hōnen und Shinran als “Geistesverwandte” und “Zeitgenossen” Luthers, wie er später in der West-östlichen Mystik schreibt (WÖM4, 4, Anm. 1). Vgl. dazu ausführlich Stefan Jäger, Glaube und Religiöse Rede bei Tillich und im ShinBuddhismus. Eine religionshermeneutische Studie (TillRes Vol. 2), Boston und Berlin 2011, 439 – 490. Rudolf Otto, Parallelen und Wertunterschiede (Anm. 3), 3. Allerdings fehlt bei Otto eine kritische Auseinandersetzung mit dem Heilsbegriffs in religionsvergleichender Perspektive. Ebd.
Das Buddhismusbild bei Rudolf Otto
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sondern eine folgerichtige Entfaltung im Keim angelegten Potenzials sei.²³ Das entspricht seiner (evolutionistischen) Anschauung, der sich im Lauf der Religionsgeschichte auswickelnden Momente des Numinosen. Zugleich übernimmt Otto damit bereits eine mahāyānische Perspektive, die in seiner Rezeption des „SuzukiZen“ kumuliert, den man in Anlehnung an Edward Said als „auto-orientalistisch“ bezeichnen könnte.²⁴ Auf der anderen Seite führt diese neue Sicht Ottos auf den Buddhismus zu einer apologetischen Theologie der Religionen lediglich auf einer anderen Ebene, wenn letztlich die Religionskomparatistik bei R. Otto zu einer klaren Feststellung der Superiorität des Christentums gegenüber den östlichen Religionen führt. Das Kriterium dafür gewinnt er aus dem in der jüdisch-christlichen Tradition zentralen Begriff des Heiligen, den er bereits im Buddhismus-Vortrag von 1913(!) ausführt. Dass ich diese Stelle ausführlich zitiere ist dadurch gerechtfertigt, dass es sich hier um einen Schlüsseltext für die Entwicklung von Ottos Heiligkeitsbegriff zwischen dem Heiligkeits-Erlebnis in der Synagoge von Mogador 1911 und der Veröffentlichung von Das Heilige 1917 handelt.²⁵ „Dann sehe ich ein bedeutsames Element in den Stiftern der Religionen, durch das das Christentum und die gesamte biblische Religion schlechthin und von vornherein dem Buddhatum in fast allen seinen Formen überlegen ist. Das tritt zunächst rein entgegen im Alten Testament. Sie kennen Jesaja 6, wo die Seraphim den Herrn umstehen und singen: heilig, heilig, heilig ist der Herr Zebaoth. Was meinen sie damit, und was meinen wir damit, wenn wir diesen Engelsgesang wiederholen? Meinen wir dass Jahve das Prinzip der höheren sittlichen Vollendung ist? So wird es häufig gedeutet: heilig. Aber das heisst ‚heilig‘ nicht. ‚Heilig‘ bezeichnet einen eigentümlichen Sprachwert, der nicht definierbar ist, der nicht durch anderes erklärbar ist, sondern der erlebt werden muss,wir können vielleicht umschreibend sagen: jenes geheimnisvoll Ueberweltliche überhaupt, das im religiösen Gefühl der Andacht und Demut lebt. Damit sagen wir nicht viel aus, denn wer aus seinem eigenen Gemüte und aus seiner Erkenntnis a priori nicht fähig ist, zu empfinden, was heilig ist, dem bringt mans nicht bei. Durch dieses Moment des
A.a.O. 12– 13. Vgl. dazu Christoph Kleine, Der ‚protestantische Blick‘ auf Amida. Japanische Religionsgeschichte zwischen Orientalismus und Auto-Orientalismus, in: Religion im Spiegelkabinett. Asiatische Religionsgeschichte im Spannungsfeld zwischen Orientalismus und Okzidentalismus (Historia Religionum 22), hg.v. Peter Schalk u. a., Uppsala 2003, 145 – 193.167. Bei Kleine findet sich auch eine Kritik von D.T. Suzukis „Zen“. Vgl. zur Kritik an Suzuki auch Elisabetta Porcu, Pure Land Buddhism (Anm. 13), 54– 76 und Jürgen Offermanns, Der lange Weg des Zen-Buddhimus (Anm. 1), 242– 254. Vgl. Anm. 3.
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eigentümlich heiligen Charakters, dieses Moment des stillen Schauerns, religiöser Scheu, für die es kein Bild und kein Gleichnis gibt, die ein qualitatives Gefühlsmoment ist, ist die semitische Religion überhaupt, auch der Islam, ausgezeichnet und dem Osten überlegen. Er ist ein wesentliches Moment im Christentum. Auch das wird häufig übersehen.“²⁶ In diesem Abschnitt findet sich R. Ottos Religionsphilosophie, wie er sie gut vier Jahre später in Das Heilige veröffentlicht in nuce. Bereits hier wird das Heilige zur zentralen religiösen Kategorie a priori erhoben – zeitgleich zu Nathan Söderbloms Artikel „Holiness“ in der Encyclopaedia of Religion and Ethics, worauf Philipp C. Almond bereits 1994 aufmerksam gemacht hat.²⁷ Zusammenfassend sieht Otto in dem Vortrag von 1913 die zentralen Unterschiede zwischen Buddhismus und Christentum, und darin auch Überlegenheit des Christentums, im Schöpfungsglauben und damit verbunden in dem Bewusstsein der Schuld und der Bedeutung der Person. „…in der Lehre der Schöpfung der Welt durch Gott liegt religiös der entschiedene Ueberwert des Christentums gegenüber den Religionen des Ostens.“²⁸ „Was gibt dem Christentum seine Tiefe? Dass es weiß, was der Uebel höchstes ist: die Schuld, und was der Güter höchstes ist: die Persönlichkeit. Beides weiß der Buddhismus tatsächlich nicht.“²⁹
Das tiefe Bewusstsein der Schuld ist für Otto der „negative numinose Wert“, wie er ihn in „Sünde und Urschuld“ ausführt.³⁰ Der Buddhismus lässt für Otto das dadurch bedingte Bewusstsein einer „Kontrast-Harmonie“ vermissen.³¹
Rudolf Otto, Parallelen und Wertunterschiede (Anm. 3), 23 – 24. Nathan Söderblom, Holiness. General and Primitive, in: ERE 6, Edinburgh 1913, 731– 741. Söderblom erklärt hier den Begriff des Heiligen zur zentralen religiösen Kategorie, die noch wesentlicher sei als die Gottesidee. Bereits 1909 war Söderbloms Artikel über „Helig, helighet“ im Nordisk familijebok erschienen (Ders., Helig, helighet, in: Nordisk familijebok 11, Stockholm 1909/19112, 310 – 314). Das Otto-Zitat aus dem Vortrag von 1913 lässt die These von Eric Sharpe und jüngst Dietz Lange (der ich mich angeschlossen hatte), dass Nathan Söderblom die Priorität in der Verwendung des Heiligkeitsbegriffes als zentraler religiöser Kategorie zukommt, als widerlegt gelten, vgl. dazu Dietz Lange, Die Vermittlung des Heiligen bei Nathan Söderblom, in: ZThK 107 (2010), 167– 190, bes. 175; Ders., Nathan Söderblom und seine Zeit, Göttingen 2011, 251.259; vgl. auch Stefan Jäger, Das Heilige und die Religionsgeschichte–Rudolf Otto und Nathan Söderblom, in: Rudolf Otto. Subjekt und Religion (CuK 12), hg.v. Thorsten Dietz/Harald Matern, Zürich 2012, 177– 195 sowie Philip C. Almond, Rudolf Otto and Buddhism (Anm. 10), 64. Rudolf Otto, Parallelen und Wertunterschiede (Anm. 3), 32. A.a.O. 31. SU.
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Aus dem als Defizit angeführten fehlenden Personbegriff folgt für Otto zudem der qualitative Unterschied zwischen der Liebe im Christentum und maitrī, das er 1913 sehr derogativ für eine „pathologisch sentimentale Hingabe“ hält.³² Es würde sich lohnen, diese beiden frühen Aufsätze ausführlicher zu analysieren, als es in dieser sehr knappen Skizze geschehen kann. Für unseren Zusammenhang ist an dieser Stelle wichtig, den bekannten methodischen Zirkel zu rekonstruieren, in dem sich Otto befindet. Hier wird, wie an kaum einer anderen Stelle, deutlich, dass Otto (1.) die Kategorie des Heiligen explizit aus der jüdischchristlichen Tradition gewinnt, sie (2.) mittels des Religionsvergleichs zu Allgemeingültigkeit erhebt, indem aus religionsgeschichtlichen Parallelen und Konvergenzen auf ein religiöses Apriori geschlossen wird, um anschließend (3.) jede Religion an diesem Maßstab zu messen und (4.) dadurch die Superiorität des Christentums zu erweisen. Jeder einzelne dieser Schritte ist in sich mit zahlreichen Schwierigkeiten behaftet. Die positive Wertung des Buddhismus als genuiner Religion wird unter diesen Prämissen zu einer Funktion apologetischer Komparatistik. Dies bildet auch den Hintergrund für Ottos Darstellung des Zen, der ich mich im Folgenden zuwende.
3 Ottos religionsphilosophische Deutung des Zen als das Numinos-Irrationale im Extrem³³ Wir befinden uns damit in der zweiten Phase der Beschäftigung Ottos mit dem Buddhismus nach dem Ersten Weltkrieg. Der historische und sozio-kulturelle Bezugsrahmen seiner Darstellung hat sich grundlegend gewandelt. Im Unterschied zu Kollegen wie Karl Barth oder Paul Tillich stürzt die Katastrophe des Ersten Weltkrieges Otto in keine abgründige theologische Krise, wie sie v. a. bei Tillich z.T. stilisiert wird. Das hat vielleicht auch darin seinen Grund, dass Otto schon immer mit der Abgründigkeit vertrauter war; und der Erfolg von DH lässt vermuten, dass er damit den Nerv des Lebensgefühls der Nachkriegszeit getroffen hat. Aber es mag bezeichnend sein, dass der Zen-Aufsatz Ottos zuerst im Zweiten Mitteilungsblatt des Religiösen Menschheitsbundes 1922 erschien und Otto im
DH, 123.169. Nach eigenen Aussagen hat Otto die so genannte „Kontrast-harmonie“ in der numinosen Erfahrung bei Luther gelernt, lange vor seinem Heiligkeitserlebnis in der Marokkanischen Synagoge. Rudolf Otto, Parallelen und Wertunterschiede (Anm. 3), 33. Rudolf Otto, Das Numinos-Irrationale im Buddhismus, in: GÜ5.6, 241– 257.
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Wesentlichen auf den Religionsvergleich verzichtet und sich völlig jener harschen Überlegenheitsattitüde wie noch 1913 enthält. Um das Spezifische der Zen-Darstellung Ottos würdigen und in Perspektive rücken zu können, seien zunächst zwei fast zeitgleich veröffentlichte Texte von Karl Heim und Friedrich Heiler erwähnt. 1923 veröffentlichte Karl Heim, Ordinarius für Systematische Theologie in Tübingen, in der Neuen Folge der Zeitschrift für Theologie und Kirche, deren Mitherausgeber er war, seinen Aufsatz „Der ZenBuddhismus in Japan“. Wie Otto bezieht sich Heim in seiner Darstellung auf persönliche Begegnungen mit Buddhisten und auf Beobachtungen während seiner Japanreise ein Jahr zuvor. Es war Heims persönlicher Freund Wilhelm Gundert, der spätere Übersetzer des Bi-Yän-Lu, der ihn begleitete, mit Buddhisten in Kontakt brachte und für ihn übersetzte.³⁴ Wie Otto bereits 10 Jahre vorher in seinem Berliner Vortrag korrigiert Heim das Bild eines pessimistischen und weltverneinenden Buddhismus und spricht über die „Inneren Kräften […] die im Buddhismus schlummern, und über die Kulturmacht, die dieser einzige ganz große Konkurrent des Christentums darstellt.“³⁵ Auch Heim erkennt die Parallelen zur Geschichte des Christentums. Er sieht im Gefolge von Hans Haas im AmidaBuddhismus mit seinem „Grundbegriff der Gnade“ eine „gewisse Parallele zum Luthertum“ und kann mit Otto’scher Terminologie fragen, woran sich das „numinose Gefühl“ für den Zen-Buddhismus entzünde.³⁶ Den entscheidenden Unterschied zum Christentum sieht Heim, genau wie Otto 1913, in der „entgegengesetzten Wertung der Einzelpersönlichkeit.“³⁷ Dagegen kam Friedrich Heiler in seiner Münchner Habiliationsschrift „Die Buddhistische Versenkung: Eine religionsgeschichtliche Untersuchung“ von 1918 zu dem Schluss: „Im japanischen Zen-Buddhismus, der sich merkwürdigerweise nach dem Worte dhyâna bezeichnet, wird die Meditation zum ‚Nichtdenken‘, die Versenkung zur nackten, gedankenund gefühllosen Konzentration; in dieser glaubt der Zen-Jünger die volle innere Ruhe zu erlangen, die ihn zu neuem tatkräftigem Wirken befähigt; die zeitweilige Gedanken- und Gefühllosigkeit gilt ihm als nervenstärkendes, psychotherapeutisches Mittel. […] Der buddhistischen Versenkung war also das selbe tragische Schicksal beschieden wie dem Gebet. […] Ähnlich sank die buddhistische Versenkung aus einer höchsten geistigen und religiösen
Karl Heim, Ich gedenke der vorigen Zeiten. Erinnerungen aus acht Jahrzehnten, Hamburg 1957, 19603, 187– 217. Vgl. auch Rolf Hille, Das Ringen um den säkularen Menschen. Karl Heims Auseinandersetzung mit der idealistischen Philosophie und den pantheistischen Religionen, Gießen 1990, 232– 241. Karl Heim, Der Zen-Buddhismus in Japan, in: ZThK NF 4 (1923), 245, vgl. a.a.O. 257. A.a.O. 246.252. A.a.O. 257, vgl. auch 259.
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Tätigkeit zu einem geistlosen, stumpfen Vorsichhinstarren herab. Die Profanierung des ‚Heiligen‘ durch die entseelende Mechanisierung wird auch an diesem Beispiel ganz deutlich.“³⁸
Heiler hatte Otto die zweite Auflage von 1922 mit einer persönlichen Widmung überreicht.³⁹ Otto kommt jedoch zu einer völlig entgegengesetzten Einschätzung des Zen als Heiler. In seinem Aufsatz von 1922 stützt sich Otto, wie gesagt,wesentlich auf die beiden Aufsätze von D.T. Suzuki, die dieser in Heft 1 und 2 des Eastern Buddhist veröffentlichte. Es handelt sich um die beiden Texte „Some Aspects of Zen Buddhism“ und „The Meditation Hall and Ideals of the Monkish Discipline“.⁴⁰ Damit nimmt Otto Informationen über Zen in Japan in einer westlichen Sprache zu einem sehr frühen Stadium auf, allerdings durch den spezifischen Filter der Zen-Interpretation Suzukis⁴¹, die er aber wiederum seinem eigenen System assimiliert.⁴² So heißt es in der Einleitung des Herausgebers zur englischen Fassung von Ottos Aufsatz, die 1924 im Eastern Buddhist erschien, lapidar: “The article is more or less a recapitulation of Professor Suzukis paper on Zen in one of the previous numbers of the Eastern Buddhist, but as it comes filtered through the brains of such a scholarly author, it is reproduced here in an English translation for the perusal of the readers of the present magazine.”⁴³
Worin besteht nun dieser „Filter“? Otto sieht im Zen keine Profanierung des Heiligen wie Heiler, sondern die „Erfahrung des Numinos-Irrationalen im Extrem“ – so die zentrale These seines Aufsatzes. Nach Otto ist der Zen-Buddhismus „…seinem Wesen nach […] aus dem tiefsten Ernste des Irrationalen des Numinosen
Friedrich Heiler, Die Buddhistische Versenkung, München 19222, 51. „Herrn Prof. Rudolf Otto in Dankbarkeit überreicht vom Verfasser“, Friedrich Heiler, Die Buddhistische Versenkung (Anm. 38), auf der inneren Titelseite. Das Exemplar, das aus dem Nachlass von Rudolf Otto stammt, befindet sich in der religionswissenschaftlichen Bibliothek der Philipps-Universität Marburg mit der Signatur 650 13. Otto zitiert die beiden Aufsätze nicht mit ihrem Titel; ebenso fehlt bei dem zweiten Aufsatz das Erscheinungsjahr (1922). The Eastern Buddhist wurde 1921 von Suzuki Daisetz Teitarō und Sasaki Gesshō an der Shin-Buddhistischen Ōtani-Universität in Kyoto begründet. Zur Problematik des „Suzuki-Zen“ vgl. Christoph Kleine, Der ‚protestantische Blick‘ auf Amida (Anm. 24); Elisabetta Porcu, Pure Land Buddhism (Anm. 13) und Robert H. Sharf, The Zen of Japanese Nationalism (Anm. 13). Dass bei aller Beeinflussung durch D.T. Suzuki Otto durchaus auch eigene Wege in der ZenDeutung geht, betont auch Katja Triplett, Research Notes, From the Archives of the Museum of Religion at Marburg University: R. Otto and Zen, in: CSJR Newsletter, January 2008, Issue 16 – 17.12– 14.12. The Eastern Buddhist Vol III (1924) No. 2, 117.
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selber geboren“.⁴⁴ Das Moment des Irrationalen sei hier extrem gesteigert, „… fast losgerissen von allen rationalen Schematen überhaupt.“⁴⁵ Da nach Otto das Irrationale des Numinosen Moment in aller Religion ist,⁴⁶ wie der Eingangssatz des Aufsatzes betont, folgt daraus, dass im Zen „ganz ungemein starke und tiefe Religion vorliegt“.⁴⁷ Diese Erläuterungen mögen in der Tat auf einen Buddhisten in Japan zunächst befremdlich gewirkt haben. Dennoch wird Otto auch eine hohe Einfühlung in Zen bescheinigt, was m. E. weniger mit seinem religionsphilosophischen Konstrukt als mit der Anschlussfähigkeit seines Erfahrungsbegriffs und seiner persönlichen Empathiefähigkeit zusammenhängt.⁴⁸ Zen ist für Otto im Anschluss an D.T. Suzukis Beschreibung von Satori vor allem eine Erfahrung, die sich spontan und völlig unverfügbar einstellt.⁴⁹ Daher betont Otto ebenfalls entgegen dem Mainstream seiner Zeit, dass es sich im Zen um „…das schlechthin weitest entgegengesetzte zu ‚Selbsterlösung‘“ handelt.⁵⁰ Die mit Satori im Zen bezeichnete „Grund-Erfahrung“ entzieht sich letztlich jeder Beschreibbarkeit. Otto betont mehrfach den apophatischen Charakter des Zen, den er als Mystik im Gegensatz zu der vermeintlich personalen Gnadenre-
GÜ5.6, 242. Ebd. Zum Begriff der „Schematisierung“ bei Otto vgl. DH, 60 – 65. GÜ5.6, 241 GÜ5.6, 242. In dem Vorwort zur Neuherausgabe von Ōhasama Schūej, Zen. Der lebendige Buddhismus in Japan (Anm. 8) schreibt der Japaner und Zenmeister Tetsuo Kiichi Nagaya (1895 – 1985) von seiner Begegnung mit Rudolf Otto während seiner Studienzeit in Marburg von 1923 – 1925. Otto hatte den japanischen Studenten zum Abendessen eingeladen und mit ihm über Zen gesprochen. Auf die Frage Ottos, was Nagaya nach seiner Rückkehr nach Japan vorhabe, antwortete er, dass er sich in Zen ausbilden lassen wolle. Otto erwiderte nach dem Bericht von Nagaya: „Wenn ich noch jung und gesund wäre, so möchte auch ich mich darin üben. Ich hoffe, dass Sie sich auch für mich doppelt bemühen werden.“ (A.a.O. 1). Nagaya selbst wurde später Hochschullehrer und ein bedeutender Zen-Meister, der ab 1967 bis zu seinem Tod jedes Jahr nach Deutschland kam, um hier seine wachsenden Anhängerschaft in der Zen-Praxis zu unterweisen (http://www.Buddhismus-in-Stuttgart.de/geschichte/tetsuo-kiichi-nagaya.html [16.08. 2012]). Die zweite große Richtung der Zen-Tradition, die in Japan auf Dōgen (1200 – 1253) zurückgehende Sōtō-Schule, nimmt Otto bedingt durch den „Suzuki-Filter“ nicht zur Kenntnis. GÜ5.6, 244. An dieser Stelle sei mir die Erwähnung eines Übersetzungsdetails gestattet. In der von einem Japaner besorgten englischen Übersetzung dieses Aufsatzes, die im Eastern Buddhist erschien, findet sich statt „Selbsterlösung“ „self-emancipation“. In seinem Handexemplar merkte Otto diese Stelle an und schrieb an den Rand die Notiz „Selbsterlösung“. Dass sich Otto der Schwierigkeit der Applikation des Konzeptes „Erlösung“ auf den Buddhismus bewusst war, wird durch die Anführungszeichen deutlich, in die er den Begriff „Erlösung“ bzw. „Selbsterlösung“ setzt. Trotzdem hat er den Begriff der „Emanzipation“ als Übersetztungsäquivalent für skr. moksha bzw. jap. gedatsu 解脱 nicht aufgegriffen.
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ligion des Amida-Buddhismus einordnet.⁵¹ Zen-Mönche seien jedoch „praktische Mystiker“, die dem ora et labora-Grundsatz folgen. Den Weltbezug bringt Otto mit der Wendung zum Ausdruck, dass der Zen „nicht weltaufhebend, sondern weltverklärend“⁵² sei – eine Frucht der Identität von Samsara und Nirvana, die ganz an das Hier und Jetzt verweist.⁵³ Wie aber lässt sich überhaupt etwas über Zen sagen? Indem man die Auswirkungen der spezifischen Zen-Erfahrung beschreibt, wie sie sich z. B. in der paradoxalen Redeweise eines Koan zeigen oder in der vom Zen inspirierten Kunst zu finden ist, insbesondere in der Darstellung Bodhidharmas, die bereits zitiert wurde, aber auch in den Übertragungsphänomenen von der Persönlichkeit des Meisters auf seine Schüler und nicht zuletzt an dem Gefühl unsagbarer Freude,von dem das Satori-Erlebnis begleitet ist.⁵⁴ Zu den Auswirkungen des Zen zählt für Otto nicht zuletzt auch seine prägende Kraft für Bushidō 武士道, den Weg der japanischen Samurai. Otto sieht „die Bilder dieser eisenfesten, willensgestählten Männer, die in der Zen-übung des Satori gereift, den Kriegeradel Japans schufen…“ in direktem Zusammenhang mit dem „Ritterideale“ der Bhagavat-Gita, das er breit ausführt.⁵⁵ Gerade diese Verbindung von zenistischer Geistesschulung und dem Ideal des Kriegers führte zu einer unheilvollen Rezeptionsgeschichte. Wie viel Otto davon wahrnahm, ist fraglich.
4 Kritische Würdigung Verglichen mit seinen Studien zu den nicht-buddhistischen Religionen Indiens nehmen sich die Äußerungen Ottos zum Buddhismus vom Umfang her sehr bescheiden aus. Nichtsdestoweniger haben sie für die Rezeption des Buddhismus in Deutschland, insbesondere des japanischen Zen als Exponenten des Mahāyāna große Bedeutung erlangt. Jürgen Offermanns schließt seine Geschichte des Zen in Deutschland mit einem sehr lesenswerten und kritischen Kapitel über Rudolf Otto, da er mit Ottos Zen-Interpretation das Fundament für die weitere Zen-Rezeption
„Im Unterschiede von der großen Hauptschule des japanischen Buddhatumes, der Schinschu, die wesentlich personal bestimmt ist und das Heil sucht im persönlichen Vertrauen zu der rettenden Gnade des persönlichen Buddha Amida, sind die Zen-Mönche ‚Mystiker‘.“ GÜ5.6, 243. So auch im Vorwort zu Ōhasama Schūej, Zen. Der lebendige Buddhismus in Japan (Anm. 8), VI – IX. A.a.O. 247. A.a.O. 243. A.a.O. 248. Vorwort zu Ōhasama Schūej, Zen. Der lebendige Buddhismus in Japan (Anm. 8), IV-V.
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gelegt sieht.⁵⁶ Otto war einer der Ersten, der Zen in Deutschland bekannt gemacht und ihn zudem (wie den Buddhismus insgesamt) als genuine Religion verstanden hat. Das war bemerkenswert in einer Zeit, in der der Buddhismus entweder als Philosophie stilisiert oder/und als „atheistische Religion“ diskreditiert wurde. In einer Zeit, in der sich die westliche Forschung fast ausschließlich mit Texten des vermeintlich ursprünglichen Buddhismus beschäftigte, wandte sich Otto gerade dem Mahāyāna zu – und hier speziell den japanischen Ausprägungen der „Wahren Schule des Reinen Landes“ Jōdo Shinshū und vor allem des Zen. Otto korrigierte das vorherrschende Bild des Buddhismus als pessimistisch-weltverneinender Religion und des Mahāyāna als Degenerationserscheinung des ursprünglichen Buddhismus und zeigt auf, dass nirvāna resp. śūnyatā ein Heilsziel bildet, das einen positiven Wert darstelle. Ottos primäres Interesse galt,wie bereits die Titel seiner Arbeiten zu Ramanuja und Shankara deutlich machen, der Mystik. Obwohl er Jōdo Shinshū sogar als „Hauptschule des japanischen Buddhatumes“ bezeichnet und trotz dem vermeintlichen Personalismus mit den protestantischen Schlüsselwörtern „Vertrauen“ und „Gnade“, konnte Jōdo Shinshū das Interesse Ottos nicht in der Weise wecken, wie es bei vielen seiner theologischen und religionswissenschaftlichen Kollegen der Fall war (wie insbesondere bei Hans Haas und etwas später unter völlig anderen theologischen Vorzeichen bei Karl Barth). Otto differenziert durchaus zwischen verschiedenen Ausprägungen der Mystik und verwahrt sich gegen eine Deutung des Zen durch voreilig von außen herangetragene Kategorien. Ob es sich daher beim Zen um das Numinos-Irrationale im Extrem als einem Moment des Heiligen handelt, dürfte ebenso fraglich sein.⁵⁷ Womöglich wäre es aber eine buddhistische Antwort ganz im Sinne der (Otto noch unbekannten) grundlegenden mahāyānischen Hermeneutik von skr. upāya, (方便 chin. fang pien, jap. hōben) den „skilful means“ oder „geschickten Mitteln“, wenn man sagt, dass es auch das sei, falls es einem westlichen Gelehrten hilft, sich dem Buddhismus anzunähern. Die Bemühungen D.T. Suzukis und anderer Vertreter eines „neuen Buddhismus“ (shin-bukkyō 新仏教) um einen westlich-anschlussfähigen Zen legen dies nahe. Zumindest wurde Otto durch seine sehr einfühlende und wohlwollende Zen-Darstellung zum Wegbereiter der (nicht nur unproblematischen) Zen-Rezeption in Deutschland. Für Otto selbst bleibt festzuhalten, dass er den ZenBuddhismus im Wesentlichen als Illustration für den Aspekt des numinos Irrationalen im Rahmen seiner Religionsphänomenologie und -philosophie gebraucht. Und auf religionstheologischer Ebene bietet der Buddhismus eine Bestätigung für
Jürgen Offermanns, Der lange Weg des Zen-Buddhimus (Anm. 1), 19. Vgl. A.a.O. 276.
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die Superiorität des Christentums, wie es Otto versteht. Denn es bleibt für ihn bestehen, dass die höchste Stufe der Religion dort erreicht ist, wo die irrationalen und rationalen Elemente in ausgewogener Form zueinander finden.⁵⁸ Das Buddhismusbild Ottos, das sich zum großen Teil der westlich adaptierten Interpretation des Zen durch D.T. Suzuki verdankt, illustriert auf anschauliche Weise, wie wechselseitige Interpretationsversuche zu neuen Selbstinterpretationen – auch im Dienst religiöser Kommunikation in neuen Kontexten – führen. Otto ist durch seine Bemühungen um ein Annäherungsverstehen des religiös Anderen ein früher Vertreter einer engagierten dialogischen Religionshermeneutik, wenn auch mit der Einschränkung, dass er bei der Deutung fremdreligiöser Phänomene letztlich doch dem eigenen Systemzwang unterliegt.
DH, 171.
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Rudolf Otto’s View of Indian Religious Thought Introduction In the early modern period since the seventeenth century, after contact between East and West became vigorous, Indian religious thought was introduced to the West and attracted the attention of Western intellectuals. One of these intellectuals was Rudolf Otto (1869 – 1937). In Japan, Otto’s famous book Das Heilige (1917) has four Japanese translations, published in 1927, 1968, 2005, and 2010. This fact suggests how Japanese scholars of religious studies may be familiar with his name and theory of religion. But they do not always know his perspectives of Indian religious thought. Among his many works on religious studies, it is noteworthy that Otto focused on Indian religious thought, especially Vedānta philosophy, represented by Śaṅkara and Rāmānuja, and Vaiṣṇava faith in Hindu religious tradition. During his trips to the East, he visited India twice and became interested in Indian religious thought. For example, in his work entitled West-östliche Mystik (1926), Otto compared the most famous Hindu Vedānta philosopher Śaṅkara with the medieval Christian mystic Meister Eckhart and regarded Vedānta philosophy as “Vedānta mysticism”, constructing a parallel with Western mysticism. In his book entitled Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum (1930), he argued that there were parallels between the characteristics of bhakti in Vaiṣṇava tradition and Christian faith. This article attempts to clarify the characteristics of Otto’s view of Indian religious thought from a hermeneutical perspective of religions and reexamine to what extent his view may be adequate for the understanding of Hindu religious tradition.
1 The “Parallelism” of Religions in the East and the West There is no doubt that prior to his trip to Asian countries in 1911, Otto himself already knew certain things in advance about Asian religious culture. The Bhagavadgītā which Otto translated into German later had been already translated into English by Charles Wilkins in 1785. In such a context, Otto was a Lutheran theologian whose academic interests were not only in Christianity but also in
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Asian religions as well. Otto developed his academic work on Christian theology as well as on the philosophy of religion and the history of religions while being a Christian theologian throughout his entire life. It was his trip to Asian countries which evoked his academic interest in Asian religions, especially in Hinduism, from a comparative perspective of religions. In his youth, Otto was influenced by the Religionsgeschichtliche Schule, i. e., a group of German Protestant theologians who applied the historical method of religions to the understanding of Christianity. But although his perspective of the historical development of religions was still obscure, he had his own experiences of seeing Eastern religions with his eyes by traveling to the East from 1911 to 1912. Thus, this journey became a very important opportunity for him to reflect upon Christian faith and thought from a “comparative” perspective with Eastern religions. When he went to such Asian countries as India, Burma, China, and Japan, he really encountered Asian religious traditions. As Philip Almond points out, this journey to the East brought the width and depth of his later works. After this period, his works did not only give an impression that he was a Lutheran theologian or an idealist philosopher, but that he was a historian of religions (Religionswissenschaftler) as well. After his return from the East, Otto began doing his research on Hinduism and Buddhism on the basis of his academic interests in these religious thoughts. From this period until 1915, there are records that show he borrowed many books on Hinduism and Buddhism from the university library. This fact implies how he became interested in the Eastern religious traditions through his journey to the East.¹ His trip to Asian countries convinced him of the existence of a parallel development of religions between East and West. It was only later that his Christian theological perspectives came to comprehend the comparative study of religions. His encounter with Eastern religions and thoughts during his visit to India and Japan became a turning point for his understanding of religion. In this regard, Otto says: “Here for the first time in actuality I saw opening out before me the curious parallels between the feeling and experience of the Eastern and Western worlds. But I also recognized their intimate peculiarities and dissimilarities.”²
Philip C. Almond, Rudolf Otto and Buddhism, in: Aspects of Religion. Essays in Honour of Ninian Smart, ed. by Peter Masefield/Donald Wiebe, New York 1994, 60 – 61. As the Japanese historian of religions Tsuyoshi Maeda points out, Otto’s letters and notes written on his trip to Asia are very useful for understanding his views of Asian religious thoughts as well as his perspective of religious experiences. Cf. Tsuyoshi Maeda, The Primordial Place of the Holy (Japanese: sei no genkyō), in: Journal of Religious Studies (Japanese: Shūkyō Kenkyū), vol. 314 (1997), 2. WÖM3, viii; Rudolf Otto, Mysticism East and West, translated by Bertha L. Bracey and Richenda C. Payne, New York, 1932, 6.
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Through his trip to Asia, his theory of the “parallelism” of religions between East and West became concretely clear in his heart. Thus, his trip to the East became very significant in constructing his theory of religion. During his stay in Japan, on April 11 in 1912, he delivered a lecture on the comparative study of religions in the East and West at the Asiatic Society of Japan [Japanese: nihon azia kyōkai]. The theme of his lecture was “Parallelisms in the Development of Religion East and West”. In his lecture, he emphasized the “parallelism” between the Eastern religions, especially Buddhist tradition, and the Western religions, i. e., Judeo-Christian tradition; he paid attention to the important aspects of religions that although both religious traditions are almost independent, there is a parallel development between both of them. On the basis of his conviction that humankind has a common religious feeling, Otto emphasized a “parallel” in religious development between the East and the West.³ For him, this viewpoint consists of the foundation of his religious perspective in general. In his study of the similarities between religions, Otto did not intend to understand other religions on the basis of a particular religion as a criterion of religious studies; he attempted to regard the similarities between religions as parallel phenomena, regarding them not as the transmission of a religion into another one or as the borrowings of one from another. In his works such as Vischnu-Nārāyana and Siddhānta des Rāmānuja, both of which were published in 1917, he constructed his unique theoretical framework. In his article entitled “Parallels and Convergences in the History of Religion” (“Parallelen und Konvergenzen in der Religionsgeschichte”), he demonstrates the “law of parallel lines of development” in Eastern and Western religions.⁴ In this regard, Otto says: “Beyond all doubt the religions of the East and of the West approached one another almost to the point of contact in the teachings of Īśvara, of Bhakti and Prapatti; but despite all their similarity these most similar manifestations are subtly but decisively distinguished in the spirit which informs them. The spirit of India is not, even in these instances, the spirit of Palestine. There are fundamental spiritual values which separate these two worlds of the spirit, in spite of astonishing similarities and convergences of type.”⁵ On the basis of his perspective on the parallel development of religions, Otto published his books West-östliche Mystik and Die Gnadenreligion Indiens und das
Rudolf Otto, Parallelisms in the Development of Religion East and West, in: Nihon Azia Kyōkai Kiyō, vol. 39 – 40 (1912, reprint; 1964), 154. Rudolf Otto, Parallels and Convergences in the History of Religion, in: Religious Essays. A Supplement to ‘The Idea of The Holy’, ed. by Rudolf Otto, London 1931; Id., Parallelen und Konvergenzen in der Religionsgeschichte, in: GÜ. Rudolf Otto, Parallels and Convergences in the History of Religion (note 4), 108 – 109.
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Christentum. In regard to the development of religions, he argues that it developed from “pre-religion” (Vorreligion) through faith in spiritual beings and from polytheism to monotheism. It is noteworthy that his scheme of religious development still implies an evolutional theory of religion.⁶ From his historical viewpoint of religions, there are similarities between Eastern and Western religions in such “forms of theological apparatus and machinery” as the relationship between scripture and tradition, scriptural interpretation and the construction of doctrine, or revelation and reason. Moreover, by comparing the development of religions to a biological “organic evolution”, he demonstrated the similarities of religious phenomena in the different areas of the world, which contain their own “spiritual values” respectively. On the basis of this “fact” in regard to the development of religions, Otto elaborated his perspectives in his Christian theological studies or historical studies of religions. But one may say, his overemphasis on the “parallelism” of religious development in the East and West led him to fail to grasp the characteristics of a specific religion in the East, especially Hindu religious tradition, for his conceptual framework of religions in his study of religion derived from his Christian theological perspectives. Thus, his theory of religion resulted in losing the dynamic realities of Indian religious tradition.
2 Otto’s View of the Vedānta Philosophy as “Mysticism” In his West-östliche Mystik, Otto chose the thoughts of Śaṅkara and Eckhart as two main classical types of “mysticism” in the East and the West respectively. For him, mysticism represents “the nature of curious spiritual phenomenon” (das Wesen der seltsamen geistigen Erscheinung). Here, however, as we suggested above, we may notice an important issue in religious studies, that is, whether a Western concept of “mysticism” can be applied to Śaṅkara’s philosophical context. As the historian of religion John Carman points out, the applicability of the Western concept of “mysticism” to Indian religious phenomena is not yet selfevident.⁷ In fact, scholars of religious studies often regard India as the place where “mysticism” flowered in the past and does so in the present. They have
L.c. 95. John B. Carman, Conceiving Hindu ‘Bhakti’ as Theistic Mysticism, in: Mysticism and Religious Traditions, ed. by Steven T. Katz, Oxford 1983, 194. Cf. John B. Carman, Majesty and Meekness. A Comparative Study of Contrast and Harmony in the Concept of God, Michigan 1994, 347– 349.
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used this concept to describe an intuitive or ecstatic union with the ultimate reality through contemplation, communion, and other mental experiences. In order to explore this issue, it may be significant for us to recognize briefly the nature and structure of “mysticism” in Otto’s theory of religion. Mysticism is generally considered to be based on one’s union with the transcendent, as suggested by the term unio mystica. In his West-östliche Mystik, Otto mentions mysticism as “an experience of the immanence of the divine and of unification or unity in essence with it” (Erfahrung der Immanenz des Göttlichen, Wesenseinigung oder Wesenseinheit mit dem Göttlichen). From his perspectives of mysticism, a mystic experience, characterized by “the experience of the divine as transcendent” (Erfahrung des Göttlichen als des Transzendenten), is a contrast to general religious experience; instead of emphasizing the infinite gap between the transcendent and the human, one is united with the divine in mysticism.⁸ Thus, the relationship between the human and the transcendent obviously differs between mysticism and general religious experience. In his theory of mysticism, it is noteworthy that Otto pays attention to the implication of the term “the divine” (das Göttliche); in mysticism, this term means “Godhead as an immanent principle” (“Gottheit” als immanentes Prinzip), while in general religious experience, the same term implies “the transcendent God” (der transzendente Gott). Such implications of the term “the divine” suggest that the structure of the human and the divine is different in both cases. Moreover, for Otto, “mysticism is not first of all an act of union, but predominantly the life lived in the wonder of this ‘wholly other’ God.” Thus, he says, “man is a mystic as soon as he has this conception of God, even when the element of union recedes or remains unemphasized, which can easily happen in mysticism.” Moreover, it is the “wholly non-rational” characteristic of the conception of God, which is different from the “intimate, personal, modified God” in theism, which makes the mystic.⁹ Accordingly, in his theory of mysticism, Otto emphasizes “the life lived in the wonder of this ‘wholly other’ God” as the fundamental characteristic of mysticism, rather than “an act of union” (unio mystica). His understanding of mysticism, however, might lead to an ambiguity in regard to the boundary between mysticism and general religious experience. In any case, Otto considers mysticism as constituting the core of religion.
WÖM, 162. Cf. Rudolf Otto, Mysticism East and West (note 2), 158. In this paper, the English translation is partly modified. Moreover, in regard to Otto’s perspectives of Śaṅkara’s advaita Vedānta philosophy, see Yoshitsugu Sawai, Reflections on Bhakti as a Type of Indian Mysticism, in: The Historical Development of the Bhakti Movement in India. Theory and Practice, ed. by Iwao Shima/Teiji Sakata/Katsuyuki Ida, New Delhi 2011, 19 – 33. WÖM, 163. Cf. Rudolf Otto, Mysticism East and West (note 2), 158 – 159.
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Yoshitsugu Sawai
In his perspective of Śaṅkara’s advaita Vedānta philosophy as a type of mysticism, Otto was based on a theistic framework since he was a Lutheran theologian. According to his classification of mysticism, it has two main forms, that is, “soul-mysticism” (Seelenmystik) and “God-mysticism” (Gottesmystik). “Soulmysticism” arises when the hidden characteristic of the soul becomes vital and active, while “God-mysticism” does when the Deus sine modis, God in complete non-rationality, is predominant.¹⁰ In the Indian philosophical context, Otto says, soul-mysticism can be referred to as ātman-mysticism, whose specific examples are Yoga and Buddhist teachings; Śaṅkara’s philosophy of non-duality is viewed as combining soul-mysticism with God-mysticism. It may suggest that Otto properly understood the essential structure of Śaṅkara’s philosophy, that is the identity of brahman with ātman. For in his West-östliche Mystik, he clearly argues the fundamental characteristic of Śaṅkara’s philosophical framework which is different from that of the Western religious traditions: “For Śankara likewise ‘Brahman’ appears to be the same as the Ātman which has come to itself, in the glory which belongs to its own essential nature, which has only been obscured by Avidyā (ignorance). Brahman and Ātman appear to be simply interchangeable terms. Where Ātman has been found there Brahman is reached. Thus, it is not right to see what may be added to the Ātman by that it also takes the name of Brahman now.”¹¹ As this quoted passage suggests, Otto may rightly recognize the ontological structure of Śaṅkara’s philosophy. Otto’s discourse of Śaṅkara’s philosophy, however, results in interpreting it through a filter of the monotheistic framework of Christian religious tradition. It is noteworthy that his theory of Śaṅkara’s philosophy is an interpretation from his own theistic or Christian viewpoint, for his theory of religion no doubt owes much to a theistic model. Otto’s works show more “sympathy” with “the devotional movements related to a personal Lord than with the monistic philosophy of Śaṅkara.”¹² In his understanding of Śaṅkara’s philosophy, which he regards as a parallel to Christian thought, Otto argues that “salvation” is given by the “grace” of God in human faith.
WÖM, 164– 167. Cf. Rudolf Otto, Mysticism East and West (note 2), 159 – 161. WÖM, 169. Cf. Rudolf Otto, Mysticism East and West (note 2), 163. Cf. John B. Carman, Conceiving Hindu ‘Bhakti’ as Theistic Mysticism (note 7), 195.
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3 Anyad Eva as “The Wholly Other” in Indian Philosophy In Otto’s theory of religion, like the term “the numinous”, the term “the wholly other” is also a key-term which constitutes the core of his religious perspective. In Das Heilige, Otto says, the mysterious is the “wholly other” which is quite beyond the sphere of the usual, the intelligible, and the familiar; it falls quite outside the limits of the canny, “contrasted with it, filling the mind with wonder and astonishment.”¹³ Moreover, in his Religious Essays (1931), he argues that the moment of “the wholly other” is the most difficult to elucidate among all moments of the numinous. He continues: “I did not invent this term; in India it is over 2,500 years old, is found in the old holy writings of the Upanishads, and it called in Sanskrit the ‘Anyad eva’. In the West it is over 1,600 years old, is found in Augustine and is called here ‘Aliud valde’ or the ‘Dissimile’. The qualitative Other of the supernatural in comparison with the creature is especially emphasized in it. To understand its originality is important not only for the sake of the thing itself but especially in order to understand that religion is something entirely different from anthropomorphism or from ‘emotional morals’.”¹⁴ As this passage shows, the moment of “the wholly other” which organically constitutes the experience of the numinous or the a priori and non-rational nature of the holy, is necessary to recognize an understanding of Otto’s theory of religion. This suggests the essential characteristic of his perspective of religion, “entirely different from anthropomorphism or from ‘emotional morals.’” The foundation of his theory of religion consists of the correlation between the personal God, i. e., “the wholly other” (das ganz Andere) and humans. In Augustine, for example, the term aliud valde as “the wholly other” implies the Christian correlation between the transcendent God and human. In the Upaniṣads, however, the term anyad eva as “the wholly other” implies the supreme reality brahman. In this regard, Otto says that it is the “unspeakable marvel” (āścaryam); the word “marvel” suggests the nature of brahman in the Upaniṣads. It is also expressed with a negative formula that “it is not thus, not thus” (neti neti). Moreover, he argues that it is implicit in the words of the Chāndogya Upaniṣad, that is, “one only, without duality” (ekam eva advitīyam). According to Otto, the moment of
DH, 31; Rudolf Otto, The Idea of the Holy, translated by John W. Harvery, London 1923 (1977), 26. Rudolf Otto, The ‘Wholly Other’ in Religious History and Theology, in: Religious Essays. A Supplement to ‘The Idea of the Holy’, ed. by Rudolf Otto, London 1931, 78.
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Yoshitsugu Sawai
anyad eva throws light on a certain speculation in Christian theological teaching of the “simplicity of God” (simplicitas Dei). In regard to the Upaniṣadic term called “anyad eva” which Otto regards as corresponding to his key-term “the wholly other”, he explains its meaning, quoting a passage of the Kena Upaniṣad i.3: Anyad eva tad viditāt, Atho aviditād adhi
In regard to this Sanskrit passage, he translates it into English as follows: “It is other than (all) that is knowable And also beyond (all) that is not knowable.”¹⁵
According to Otto, this statement may be “even more emphatic in its negations” than another famous Upaniṣadic phrase: “it is not thus, not thus” (neti neti); it says “not merely not such as everything that one knows, but also not such as everything of which no one knows.” Thus, he argues, it is “no nullity” but “wholly other” (anyad eva) as well as being “far transcending” (adhi). In the Upaniṣad texts to which he refers, however, there is not an ontological relationship between the transcendent God and human, which Christian theology or Augustine’s thought premises, for as emphasized in Śaṅkara’s thought, the ontological structure of the Upaniṣads consists of the identity of brahman with ātman. The term anyad eva in the Kena Upaniṣad to which Otto refers merely emphasizes that brahman, i. e., ātman is the reality which one cannot discourse with words. This fact is an example of Otto’s interpretation of Indian religious thought from his Christian theological viewpoint. In his interpretation of Upaniṣadic words, one may observe, Otto attempts to incorporate Indian religious thought, which is ontologically different from a Christian one, into his semantic framework of “the holy” derived from his Christian theological perspectives. Likewise, while developing his interpretation of Indian religious thought, it is noteworthy that Otto’s view of Śaṅkara’s advaita Vedānta philosophy is his own interpretation from his theistic viewpoint. In his letter to Otto in 1919, although Edmund Husserl, the founder of the phenomenological movement, highly estimated Otto’s Das Heilige as “a first beginning for a phenomenology of religion”, he criticized Otto’s standpoint as a “metaphysician
L.c. 82.
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(theologian)”.¹⁶ For in Otto’s theory of religion, Husserl who attempted to construct phenomenology, observed his Christian theological framework of interpreting religions from its theistic perspectives.
4 Indian Philosophy as a “Way” to Salvation Whether it is a Christian doctrine or an Indian religious thought, Otto attempts to understand it as the a priori intimate combination of rational and non-rational elements in a religious tradition. In order to explain the combination of these elements in religion, Otto introduces the term “schematization” (Schematizierung), which means that there is an essential correspondence between the rational and non-rational elements in the religious a priori; the rational elements of the holy schematize the non-rational numinous experience, which is the core of religion.¹⁷ Thus, from his viewpoint of religion, a religious doctrine is regarded as the result of schematization. For him, like Christian doctrine, Śaṅkara’s Vedānta philosophy is not merely a metaphysical system, based on philosophical reflection, but also provides the “way” (Weg) to salvation. In his research of Indian philosophy, Otto’s interest was not only in Śaṅkara’s advaita Vedānta philosophy, but also in Rāmānuja’s viśiṣṭādvaita Vedānta philosophy and Vaiṣṇava faith. It is noteworthy that he academically worked on Rāmānuja’s philosophy in Germany for the first time; in 1930, he wrote his article “Rāmānuja” in RGG (Die Religion in Geschichte und Gegenwart, the second edition), which is still useful for the scholars of religious studies. According to Otto’s perspective, Rāmānuja emphasizes bhakti (devotion) to the transcendent God, i. e., Viṣṇu, so that one can be saved by God; the Hindu tradition as the “bhakti religion” corresponds to the Christian one in the West. As we discussed above, Otto, a Lutheran theologian and a historian of religions, felt much more sympathy with “bhakti religion” because of its similarity to Christian doctrine. From 18 October 1927 to 14 May 1928, he went to India again with his friend, Birger Forell. During this trip, he visited Ceylon, India, Palestine, Asia Minor, and the Balkans; in this journey, he visited south India which he could not do during his first visit to India. In his second letter written on this trip, Otto wrote that the stone visage of Śiva Trimurti at Elephanta Island in Bombay (Mumbai) was the
Edmund Husserl an Rudolf Otto vom 5.3. 1919, in: Religion und Christentum in der Theologie Rudolf Ottos, hg.v. Hans-Walter Schütte, Berlin 1969, 139 – 142. DH, 60 – 61; Rudolf Otto, The Idea of the Holy (note 13), 45.
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grandest and most complete expression of the mystery of the transcendent; he says, “to see this place would truly be worth a trip to India in itself.”¹⁸ In any case, in this journey, Otto visited a Hindu temple in Melkote near Mysore that claims to have been founded or reformed by Rāmānuja. Otto wrote a message in the guest book of this temple. More than thirty years later, when John B. Carman visited this temple in Melkote, he read Otto’s message with his signature: “When I return to Germany, I shall write a book about Ramanuja.”¹⁹ Then, the book which Otto wrote is Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum, published in 1930.²⁰ This book was written for Christians who did not know about “bhakti religion” in India. In the “Vorwort” (Introduction) of this book, Otto mentions that while he stayed in Mysore, it was a very significant chance for him to see the representatives of “bhakti religion” This book had a number of Hindu readers from the devotional movements. But as John Carman points out, “they were disappointed by what seemed to them very negative conclusions”, viewed from Christian perspectives, for from his own Christian theological viewpoint, Otto maintains that Hindu thought lacks values, derived from God, such as the value of the created world.²¹ In Indian philosophical studies, Rāmānuja is also regarded as a Vedānta philosopher. In this regard, however, Otto was not concerned with “philosophy” (Philosophie) but with the “apologetics” (Apologetik) of religious experience. From Otto’s viewpoint, Rāmānuja’s philosophy is not merely a rational ontology or a philosophical reflection but a discourse on non-rational values of religious experience or on values of the numinous. Moreover, in regard to Śaṅkara’s thought, too, Otto regards him as a “theologian” (Theologe) or a “teacher of salvation” (Heilslehrer), not as a philosopher. In his book Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum, Otto compares the bhakti of Vaiṣṇava tradition with the faith of the Christian tradition. In regard to the “religion of grace” (Gnadenreligion) in India, Otto understands the concepts of “god”, “grace” and “salvation” as corresponding to those concepts in the Christian tradition. For him, Indian religion of grace means Vaiṣṇava tradi Rudolf Otto, Briefe Rudolf Ottos von seiner Fahrt nach Indien und Ägypten, in: Die Christliche Welt 52, no. 24 (1958), cols. 986 – 987. Cf. Rudolf Otto, Autobiographical and Social Essays, translated and ed. by Gregory D. Alles, Berlin 1996, 94– 96. According to Friedrich Heiler, like his experience in the synagogue in Mogador, Otto’s experience at Elephanta Island was one of his two most important religious experiences in Asia. Cf. Friedrich Heiler, Die Bedeutung Rudolf Ottos für die vergleichende Religionsgeschichte, in: Religionswissenschaft in neuer Sicht, hg.v. Birger Forell/Heinrich Frick/Friedrich Heiler, Marburg 1951, 15 – 16. John B. Carman, Majesty and Meekness (note 7), 34. GICh, 18. John B. Carman, Majesty and Meekness (note 7), 35.
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tion; he identifies Vaiṣṇava thought with Rāmānuja’s one. From an Indological viewpoint, however, his discussion of the “religion of grace” or “bhakti religion” (Bhaktireligion) is not sufficient, for in the Vaiṣṇava tradition, for example, there are such main thoughts as Madhva and Vallabha other than Rāmānuja. Thus, regarding Vaiṣṇava faith as a parallel to the Christian one, Otto argues that Vaiṣṇava tradition is “a rival of Christianity” (ein Konkurrent des Christentums) in the Indian religious context; he pays attention to the fact that the doctrines of “grace” (gratia) and “grace alone” (gratia sola) in Christianity also constitute central thoughts in the Indian “religion of bhakti” which emphasizes human salvation by bhakti to Viṣṇu.²² In his comparative study of the Indian “religion of grace” with the Christian tradition, Otto interprets that both of them have a common structure and that both the concept of “God” in Christianity and that of Viṣṇu in Vaiṣṇavism are parallel as the “wholly other”. It may be “monotheistic” aspects of the Hindu religious tradition that correspond to a Christian framework of faith. Thus, Otto’s understanding of Hinduism may be based on his prior assumption that “religion of bhakti” is most important in Indian religious tradition which is very similar to Christianity. This suggests that with his concept of the “wholly other” (das ganz Andere), Otto may have clarified a “monotheistic” aspect of Hinduism. In this regard, we may recall Max Müller’s concept of “henotheism”; the concept of “henotheism” was coined by himself in order to describe the Hindu faith in gods, one of which is regarded as the supreme. This implies that Otto’s perspective of religions could shed light on the “monotheistic” aspects in the Hindu tradition. In a sense, this fact may show us that his religious concept may be to some extent valid in understanding Hinduism. At the same time, however, it is also a fact that with the concept of the “wholly other”, one may result in failing to see the “polytheistic” aspects of Hinduism; it seems to me that Otto could not clarify the reality of Hinduism as a whole.
Conclusion In Otto’s theory of religion, the historical or comparative study of religions is an important method for understanding Christian faith. It consists of a methodological core based on his Christian theological studies. From his comparative viewpoint of religions, Otto paid attention to the “very curious coincidence” between Eastern religions and Western ones, understanding that religions provided “parallel lines of development” in the East and West. Otto’s theistic framework of re-
GICh, 6.
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ligion provides us with the validity of his hermeneutical perspectives for understanding Indian religious thought. But as discussed above, it suggests a conceptual limitation of understanding Indian religious thought in the sense that it is based upon a Christian perspective of religion. In his life, Otto was conscious that he himself was a Christian theologian. Since he was a professor of Christian systematic theology at Marburg University, his perspective of Indian religious thought may naturally be limited to a semantic framework of Christian theology. From his Christian theological viewpoint, he accepts Hinduism as a religion of “salvation”. At the same time, however, he argues that Hindu tradition lacks the values of the created world, derived from God. As the result of our careful reexamination of Otto’s religious theory, we may conclude that Otto’s perspective of Indian religious thought reflects a certain “narrative” of Hindu tradition, one which has been reconstructed from his own Christian theological perspectives. In short, Hindu tradition from his Christian theological perspective was not a “living religion”, lived by the Hindus, but rather a “reconstructed religion”. Thus, we may argue that Otto’s theory of religion did not succeed in projecting Indian religious thought fully as it is in reality. Despite these above-mentioned problems from the viewpoints of religious studies, however, there is no doubt that his study of Indian religious thought contributed to the development of the contemporary study of religion.
Arnulf von Scheliha
Rudolf Ottos Deutung des Islam Das Ergebnis sei vorangestellt: Rudolf Otto hatte kein substanzielles Interesse am Islam und daher hat er zu dieser Religion keine eigenen Forschungen vorgelegt. Nur an wenigen Stellen nimmt er auf den Islam Bezug, meist zur Illustration einzelner Aspekte seiner Religionstheorie. Als Religionspolitiker benennt er zwar die wachsende Bedeutung des Islam, ohne dass aber Konsequenzen daraus erwachsen wären. Der Befund in den gedruckten Quellen ist mager. Es gibt überhaupt nur einen sehr kurzen Beitrag, der direkt dem Islam gewidmet ist: „Die Leere in der Baukunst des Islam“. In „Das Heilige“ geht Otto eine Handvoll Mal auf den Islam ein. Im übrigen Werk bezieht sich Otto vor allem auf die islamische Mystik. Schließlich sind in zwei Reiseberichten Begegnungen mit dem Islam überliefert, auf die zuerst einzugehen sein wird. Eine religionswissenschaftliche Gesamtdeutung des Islam hat Otto also nicht vorgelegt. Sein Verständnis des Islam muss aus kleinen Puzzle-Teilen zusammengesetzt werden. Im Folgenden werden daher die aussagekräftigsten Stellen nacheinander vorgestellt und ausgewertet. Auf den Versuch einer systematisierenden Zusammenfassung folgt eine Erwägung zu den Gründen, warum der Islam, der gegenwärtig große theologische, religionswissenschaftliche und religionspolitische Aufmerksamkeit auf sich zieht, für Otto eine zu vernachlässigende Größe war.
1 Der Islam in den Reiseberichten Von einer ersten Begegnung mit dem Islam berichtet Otto aus dem Frühjahr 1895, wo er sich mit Gefährten in Kairo befindet. Otto schreibt: „Wir waren bei den ‚heulenden Derwischen‘ gewesen. Diese Greuele verrichten alle Donnerstag-abend auf einer Art Bühne, um welche herum Bänke stehen, für die Bakschisch zahlenden Zuschauer, ihre Andacht, genannt ‚Zikr‘. So nämlich: sie stellen sich im Kreise um ihren Scheik, und nachdem ein einzelner lange Abschnitte aus dem Koran durch die Nase gesungen hat, fangen sie an, langsam das muhammedanische Glaubensbekenntnis zu sagen: ‚La illah, illalah el akbar!‘ Dabei schwenken sie im Tacte zu einer näselnden Flöte die Köpfe von einer Seite auf die andere. Allmählich wird die Flöte schneller, einige ergreifen Pauken und Tamburine, immer wilder wird der Tact, immer schneller fliegen die Köpfe und die Worte werden zu einem langgezogenen dumpfen Heulen. Dann stehen sie auf und nun beginnt dasselbe von vorne, nur daß sie jetzt den ganzen Oberkörper schwenken in entsetzlichen Verbeugungen, bei denen die langen schwarzen Haare sausen. So rasend schnell fliegen die Leiber zuletzt auf und nieder, daß man kaum noch das einzelne unterscheidet, dazu die wilde Musik und das dumpfe Hu, Hu (= er, er; nämlich Gott!). Es ist ein unsagbares
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Schauspiel, angesichts dessen man vor aller Methodik des religiösen Gefühles bange werden kann.“¹
In diesem Bericht überwiegt die Faszination des Fremden, die von Otto sehr genau beobachtet wird. Er durchschaut die Inszenierung des Ritus; die Grenzen der religiösen Korruption scheinen erreicht. In Ottos schlussfolgender Formulierung von der „Methodik des religiösen Gefühles“ hat sein Biograph Reinhard Schinzer einen ersten Theoriebaustein erkannt: Otto habe „bereits den Vorsatz gefaßt, Theologie als Gefühlsanalyse zu betreiben.“² Ob dem so war, sei dahingestellt. Aber so viel dürfte sicher sein: Otto hat schon hier ein Gespür dafür, dass Religion wesentlich eine Angelegenheit des Gefühls ist, welches planmäßig bis zur Selbstvergessenheit gesteigert werden kann. Darin liegt durchaus eine Ambivalenz; denn im Wort „bange“ drückt sich die Möglichkeit zur Fremdbestimmung, ja zur Manipulation aus. Derwische trifft Otto auch auf seiner Marokko-Reise im Jahr 1911. Bei einer Begebenheit in Tanger steigert sich die Inszenierung des religiösen Gefühls zu Wunderhandlungen. Es heißt im Reisebericht: „In einem Kreise von Männern und Weibern hocken drei Derwische. Zwei schlagen in gewissem Rhythmus eine grosse und eine kleine Pauke. Der dritte springt auf und zieht aus einem braunen Sacke eine gestreifte, geschwollene, sich langsam windende Natter, mit der geteilten Zunge züngelnd. Er fasste sie mit den Zähnen, windet sie um den Arm, den Hals, schwingt sie im Kreise. Dazu singen alle drei eine Art Litanei, Anrufungen Allahs und einen katalog der Khalifen und der Heiligen. Immer wieder kehrt ein offenbar besonders verehrter Name: Sidi Mohammed ben Aïssa. Der mit den Schlangen ist in halber Ekstase. Er gestikuliert, springt hin und her, die Augen rollen und glänzen. Kranke sind herzugeführt. Ein Knabe mit einem Kopfleiden tritt in den Kreis, küsst dem Derwisch Rock und Hand und entblösst den Nacken. Die Schlange wird ihm umgelegt. Dann zieht der Derwisch den Kopf des Knaben in die Falten seines Burnus und nun, in befehlendem Tone, stösst er einzeln und abgesetzt nach einander bestimmte heilige Namen aus […]. Das Wunder ist vollbracht. Die Schlange wird abgenommen, in den Sack gesteckt, der Knabe mit einer Handauflegung entlassen. Ein älterer Mann tritt in den Kreis. Sein Fuss ist krank. Er entblösst ihn. Der Wundertäter rührt ihn mit dem seinigen an, läßt die Schlange ihn bezüngeln. Ein Dritter tritt ein. Er ist gesund. Aber er begehrt mehr als die Andern: die Baraka (die mystische Segens- und Wunderkraft) des Heiligen selber. Der Derwisch fasst ihn bei den Handgelenken und – ein Ausdruck besonderer Feierlichkeit geht über die Gesichter – speit ihm in die geöffneten Hände. Der Gesegnete neigt sich tief zur Erde und verlässt den Kreis. Ein
Zitiert nach: Reinhard Schinzer, Rudolf Otto – Entwurf einer Biographie, in: Rudolf Otto’s Bedeutung für die Religionswissenschaft und die Theologie heute, hg.v. Ernst Benz, Leiden 1971, 1– 29, hier 8 f. Reinhard Schinzer, Rudolf Otto – Entwurf einer Biographie (Anm. 1), 9.
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Weib begehrt die Baraka auf andere Weise mit fortzunehmen. Sie reicht dem Derwisch eine Kupfermünze zu. Er beleckt sie mit ausgestreckter Zunge, steckt sie in den Mund und gibt sie dann zurück, von Baraka triefend.“³
Otto bilanziert diese zweifellos bizarre Szene: „— Pfui! Schwindler sind sie, sagt mein Jude, sagt jeder Europäer hier, den man nach der Sache fragt, und die Sache ist abgemacht. In Wahrheit sind sie „Aïssaua“, die „Söhne von Sidi Mohammed ben Aïssa“. Dass im Namen Sidi Mohammeds unendlich geschwindelt wird, ist kein Zweifel. Aber die Sache selber ist etwas Anderes als Schwindel. Diese Leute, die ihre Religion hegen in der Form einer Raserei und wilder Verzückungen, tanzen, rasen und Allah heulen, in ihren Sikr Glasscherben, Skorpionen und Kröten fressen, im Taumel der AllahBesessenheit Schwerter sich in Magen und Arme stechen ohne Blutvergiessen, Hammel lebendig zerreissen und – ein Barbarensakrament – das Blut schlürfen, dabei die Baraka des Heiligen wie Zauberkraft in Haut und Haar und Speichel mit sich führen, wundertuend durchs Land streifen – sie sind uns grauenhaft und fremdartig. Und doch gehören sie hinein in jenen seltsamen dunklen Untergrund der Religion, aus dem erst langsam sie selber sich in ihren reinen Formen ausgerungen hat.“⁴
Diese Szene deutet Otto also als Beispiel für die magische Seite einer Volksreligion, die noch nicht rationalisiert und schematisiert ist. Auch wenn in dieser Szene wieder das Gefühl der Fremdheit überwiegt: Für Otto ist klar, dass man die religiöse Magie theoretisch nicht aussondern darf, sondern als Stadium der religiösen Entwicklung begreifen muss, auch deshalb übrigens, weil sie sich in der eigenen Tradition identifizieren lässt. „Auch Israels „Prophetenkinder“ vor Amos sind einst diesen Leuten hier auf dem Markte von Saffi so unähnlich nicht gewesen, und Abrahams, Isaaks, Jakobs „Segen“ war eine Baraka. Und will man anschauen, was überhaupt Religion als urwüchsiger Instinkt und Trieb, als Gemeinatmosphäre des Wunderglaubens, der rohen Mystik, mystisch-eschatologischen Träumens und Erwartens ist, so muss man heute zum Islam gehen, nicht zu dem der Schulen und Kommentare, sondern zu eben dem der Baraka, der Wundertäter und ihre Gräber, der Sikr und der Verzückungen, der „Bruderschaften“ und der Mahdigläubigen.“⁵
In dieser, soeben beschriebenen Form verkörpert der Islam ein Stück der eigenen Religionsgeschichte.⁶ − Übrigens ist es in Tanger auch zu einer Begegnung mit
Rudolf Otto, Reisebericht 1911, in: Rudolf Otto. Religion und Subjekt, hg.v. Thorsten Dietz /Harald Matern, Zürich 2012, 13 – 48, hier 31 f. Rudolf Otto, Reisebericht 1911, 32. Rudolf Otto, Reisebericht 1911, 32. Dieser Befund wird von ihm auch in „Das Heilige“ vermerkt: „In entlegenen Winkeln der islamischen und auch der indischen Welt wäre dies wohl noch heute zu studieren. Auf den
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dem Islam der Schulen und Kommentare gekommen. Ein bekannter Religionsgelehrter vermittelt Otto die Grundbegriffe des Islam. Interessant ist, dass dieser Mann ihn auf die Vielfalt des Islam aufmerksam macht. Otto gibt den Dialog mit dem islamischen Gelehrten wieder: „— Wie wird man Freund Allahs? — Deine Frage ist schwer. Die Ausleger des Koran lehren verschieden. Die Einen sagen: Tue das Gebotene und erwirb den Garten und die Gnade Allahs. Aber die Anderen sagen: Allah erwählt nach seiner Gnade allein welchen er will, den Einen zum Guten und den Anderen zum Bösen. — — Wir waren beide eine Weile stumm.Von der Wand über dem Bücherborte blickte das strenge Bild Calvins auf uns hernieder. — Wie versteht Ihr den Koran, nach dem Buchstaben oder figürlich? — Die Ausleger haben darüber gestritten. Einiges sollte figürlich, Anderes wörtlich verstanden werden. — Zum Beispiel der Lohn im Garten Eden, die Bäume und ihre Früchte und die Sinnesfreuden, von denen der Koran redet? — Die Ausleger sagen: Du wirst finden, je nachdem du erwartest: der Sinnliche Sinnliches, der Geistliche Geistliches, jeder die Freude.“⁷
Auf seinen Reisen hat Rudolf Otto ein breites Spektrum des Islam kennengelernt. Besonders fasziniert hat ihn die inszenierte, mystische Seite des Islam. Diese Erfahrungen wird er später wieder aufgreifen. Dagegen wird die sittliche Seite des Islam, Koran, Sunna und Scharia, also all das, was gegenwärtig diskutiert wird, von Otto nicht aufgegriffen.
Plätzen und Straßen von Mogador und Marrakesch kann man vielleicht heute noch Szenen finden, die seltsame Ähnlichkeiten haben mit denen die die Synopse berichtet.“ (DH, 185). Dies veranlasst ihn zu einer kleinen Invektive gegen die rein philologisch arbeitende neutestamentliche Forschung: „Es ist verwunderlich, daß man das Hauptproblem der Evangelienkritik der Entstehung der Logia-Sammlung, nicht in diesem heute noch lebendigen Milieu studiert. Und noch verwunderlicher daß man nicht längst die Logia-Ketten aus dem ganz entsprechenden Milieu der apofthégmata tôn patéron aus den Hadith des Muhammed, oder aus der franziskanischen Legende herangezogen hat. Oder auch die Sammlung der Logia des Rama-Krischna“ (DH, 185 A1). Otto plädiert hier für eine in Augenscheinnahme mentalitätsgeschichtlicher Analogien, um die Genese der urchristlichen Jesus-Überlieferung zu erschließen. Rudolf Otto, Reisebericht 1911, 35.
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2 Der Islam in „Das Heilige“ Ottos Betonung des Mystischen zeigen die Bezugnahmen auf den Islam in „Das Heilige“. Sie haben vorwiegend illustrativen Charakter. Im Zusammenhang der Erörterung der von Otto sog. „‚Majestas-mystik‘“ zitiert er „Worte des islamischen Mystikers Bajesid Bostami“. Sie sind ein Beispiel für die innere Komplexität des Kreaturgefühls, das sich „sehr bestimmt“ „von der Mystik der ‚Einheitsschau‘“ unterscheidet. Die auch im Islam verkörperte Majestas-mystik ist Ausdruck der „Höchstspannung und Überspannung des irrationalen Momentes im sensus numinis“.⁸ Diese am Islam exemplifizierte Irrationalität begegnet auch an zwei anderen Stellen in „Das Heilige“. In seiner religionstheoretischen Ableitung des Erwählungs- und Prädestinationsglaubens, die Otto streng voneinander unterscheidet, schreibt er: „Keine Religion ist so prädestinatianisch geneigt wie der Islam. Das Eigentümliche des Islam ist aber gerade daß hier die rationale, speziell die ethische Seite der Gottesidee von Anfang an nicht die feste und deutliche Ausprägung gewinnen konnte wie z. B. im Judentum oder Christentum. Das Numinose in Allah wiegt schlechterdings über. Man wirft dem Islam vor daß in ihm die sittliche Forderung den Charakter des ‚Zufälligen‘ trage und Geltung nur habe durch den ‚Zufallswillen‘ der Gottheit. Der Vorwurf meint richtiges, nur hat die Sache mit ‚Zufall‘ nichts zu tun. Sie erklärt sich vielmehr daraus daß das Numinos-Irrationale in Allah dem Rationalen in ihm noch zu sehr überwiegt, daß es durch das Rationale, in diesem Fall durch das Sittliche, noch nicht wie im Christentum hinreichend schematisiert und temperiert ist. Und eben daher erklärt sich auch, was man den ‚fanatischen‘ Zug dieser Religion zu nennen pflegt. Stark erregte, ‚eiferndes‘ Gefühl des numen, ohne die Temperatur durch die rationalen Momente: das eben ist das Wesen des echten ‚Fanatismus‘, sofern man dies Wort nicht in seinem heutigen säkularisierten ‚abgesunkenen‘ Sinne sondern in seinem Ursinne gebraucht, der nicht Leidenschaft und leidenschaftliches Behaupten überhaupt sondern die Leisenschaftlichkeit [sic!] numinosen ‚Eiferns‘ meint.“⁹
Der Religionsvergleich ist erhellend. Der Islam gilt wie Christentum und Judentum als sittliche – und insoweit als rationale – Religion. Diese Sittlichkeit ist nach Otto aber dadurch getrübt, dass die nicht-rationalisierbaren Aspekte der numinosen Erfahrung überbetont werden. Dadurch wird das Irrationale zum religiösen Prinzip und das schlägt sich in der Bestimmung des Gottesgedankens ebenso nieder wie in der ‚eifernden‘ praxis pietatis. Dass man im Islam damit gar nicht so weit von dem entfernt ist, was auch in der christlichen Theologiegeschichte beheimatet ist, erörtert Otto in dem Kapitel
Vgl. DH, 24 f. Alle Zitate in diesem Umfeld sind dieser Textpassage entnommen. DH, 112.
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„Das Numinose bei Luther“. Hier kommt er auf die – für menschliches Verstehen – unbegreiflichen Züge in Gott zu sprechen, die Luther in der Lehre vom deus absconditus festgehalten hat. Otto bemerkt dazu: „ […] man soll auch einsehen daß ein solches zum Göttlichen wesensnotwendig gehöre und geradezu sein Erkennungszeichen im Unterschiede von allem Menschlichen sei“¹⁰. Dieser Befund wird von Otto sodann auf den Islam bezogen: „Der theologische Notbehelf die Momente des Irrationalen in der Gottesidee zu bezeichnen und festzuhalten ist oft die widerwärtige Lehre vom absoluten Zufallswillen in Gott gewesen, der in der Tat aus ihm einen ‚launischen Despoten‘ machen würde. Solche Lehren treten in besonderer Stärke auf in der islamischen Theologie. Das ist sofort verständlich, wenn unsere Behauptung daß sie Verlegenheits-ausdrücke sind für das IrrationalNuminose in der Gottheit, und unsere andere Behauptung daß dieses eben im Islam im Überwiegen ist, richtig sind. Wir finden sie aber in diesem Zusammenhange dann auch sogleich bei Luther wieder. Zugleich aber liegt in dem Umstande daß trotz des verkehrten und gefährlichen Ausdruckes doch eben eine richtige Sache gemeint war die Entschuldigung für solche an sich in der Tat blasfemischen Horrenda“¹¹. Der Islam erscheint hier als ein Religionstyp, der in dominanter Weise der unvermeidlich irrationalen Seite der Gottesidee Ausdruck gibt und damit ebenso Richtiges sieht wie er dies einseitig überzieht. Aber diese Überspannung ist durchaus eine theologische (und insoweit eine rationale), sozusagen die gedankliche Kultivierung des Irrationalen. Denn das Phänomen von Theologie ist als solches schon Ausdruck der Rationalisierung des Religiösen; dafür nennt Otto den Islam ausdrücklich als Beispiel.¹² Dieser rationale Zug aller großen Religionen ist keineswegs zufällig. Denn schon die Religionsstifter „Christus Mohammed Buddha“ hätten „übereinstimmend“ abgelehnt, „‚Wundertäter‘ zu sein“ und damit jeweils in ihrem religiösen Umkreis wesentliche Beiträge dazu geleistet, das Fürchterliche, Wunderbare, Irrationale auszuscheiden.¹³ Schließlich ist noch eine letzte Stelle aus „Das Heilige“ zu erwähnen, an der Otto den Islam als „Erlösungsreligion“ charakterisiert. Er setzt dabei mit einer allgemeinen religionswissenschaftlichen These ein. „Von ‚Erlösungsreligion‘ zu reden ist eigentlich ein Pleonasmus, wenigstens wenn man die höheren entwickelten Formen von Religion im Auge hat. Denn alle höhere entwickelte Religion
DH, 124. DH, 125 f. Vgl. Rudolf Otto, Parallelen und Konvergenzen in der Religionsgeschichte, in: Das Gefühl des Überweltlichen, 295 f. In dem Text „Ist eine Universalreligion wünschenswert und möglich?“ erwähnt Otto bei seiner Aufzählung der Theologien in den Hochreligionen die islamische Theologie nicht (vgl. a.a.O. Sp. 1241). Vgl. DH, 83 f.
Rudolf Ottos Deutung des Islam
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[…] entwickelt in sich eigentümliche überschwängliche Seligkeits-ideale die man mit dem Allgemeinausdrucke ‚Heil‘ bezeichnen kann.“¹⁴ Otto belegt dies umfassend, kommt dabei auf den Islam zu sprechen und vertritt hier eine eigentümlich präsentische Eschatologie, zu der seine Erfahrungen in Marokko möglicherweise Anlass gegeben haben: „‚Heils‘-Verlangen und -Erlebnis ist auch der Islam und dieses nicht nur ‚in Hoffnung‘, nämlich auf die Lust des Paradieses: vielmehr das Wichtigste im Islam ist eben der Islam selber, die Ergebenheit an Allah die nicht nur Willenshingabe ist sondern zugleich die gewünschte und erstrebte Allah-Erfülltheit ist und als solche ein ‚Heil‘, das wie eine Art Trunkenheit besessen und genossen werden und in ihrer Steigerung geradezu zum mystischen SeligkeitsRausch werden kann.“¹⁵ An diesem Zitat zeigt sich abermals, dass Otto vor allem am mystischen Zug dieser Religion interessiert ist, während die auf den Willen und die Sittlichkeit bezogenen Aspekte von ihm zurückgestellt werden.
3 Der Islam in weiteren Schriften Ottos Die eben erwähnte Hochschätzung des mystischen Islam wird besonders deutlich in der Studie „Mystische und gläubige Frömmigkeit“. Hier kommt Otto in vergleichender Absicht auf den Islam zu sprechen. Er stellt zunächst fest: „Die Religion des Koran ist indertat so unmystisch wie möglich. Und doch entspringt auch im Islam alsbald eine ‚mystische‘ Richtung, etwa von Rabi’a an, die dann im Sufitum sich mächtig entfaltet.“¹⁶ Otto zeigt nun, dass diese mystische Richtung im Islam kein in die Religion eingewandertes Phänomen ist, sondern im Islam selbst eine genuine Wurzel hat. „Aber der Islam ist das, was sein Name sagt, ‚Ergebenheit‘, und dieses als eine ungemein starke affektive Bezogenheit auf Allah. […] Und vor allen Erzählungen von ‚Mystikern‘ werden uns aus den frühesten Zeiten des Islam die Männer der Gebets-versenkung gepriesen, Ali vornehmlich, und so viele andere. […] Dhikr […] ist später der technische Ausdruck für die sufische und für jede gesteigerte Andachtsübung im Islam.“¹⁷ Diese Gebetsversenkung ist der genuine „Ansatzpunkt[]“¹⁸ für die islamische Mystik, die mit der sittlichen Seite des Islam gleichursprünglich ist.
DH, 192 f. DH, 193. Rudolf Otto, Mystische und gläubige Frömmigkeit, Tokyio 1934, 158. A.a.O. 158 f. A.a.O. 159.
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Der einzige eigenständige Beitrag Ottos zum Islam ist die fünfeinhalbseitige Betrachtung „Das Leere in der Baukunst des Islam“. Sie steht in der Fluchtlinie seines Interesses am mystischen Islam. Denn die fehlende Möblierung der Moscheen ist nicht Ausdruck eines sittlichen Rationalismus, sondern es handelt sich um die ästhetische Vergegenwärtigung der Komplexität des Heiligkeitserlebnisses. Die Leere des Mihrab, der „Mekka-Nische“ zieht „fast magisch […] immer wieder das Auge an. […] Sie ist ein sanctum. […] Und durch dasselbe wird numinose Bezogenheit des Ganzen, ja numinose Gegenwart, oder eigene Gegenwart vor dem Numen für das feinere Gefühl stärker lebendig als durch die derbe, allzu ausgesprochene Verdinglichung und Verörtlichung desselben etwa in Reliquien oder Tabernakel.“¹⁹ In gleicher Weise darf die kalligraphische Ausmalung der Moscheen nicht als „dürftige[r] Ersatz der Bildkunst der Kirchen“²⁰ missverstanden werden. Sie wird von Otto vielmehr als genuin islamische „Ausdruckskunst“ aufgefasst, die „ihre völlige Eigen-gesetzlichkeit besitzt und merkbare Verwandschaft [sic!] mit Musik hat. Sie ist eine Art linearer Musik, mit weniger Möglichkeiten als Musik in Tönen, aber durchaus auch der genialen Schöpfung Möglichkeiten gebend.“²¹ Hier, in diesem ästhetischen Bereich also, siedelt Otto die religiöse Kreativität des Islam vor allem an. Übrigens ist für Otto die ursprünglich vom Islam gegen das byzantinische Christentum gerichtete Kritik an der „Verdinglichung“ des Heiligen „in Bildwerk, Gestalt oder Hostien-anbetung“²² auch in der Gegenwart zu beachten. Im Rahmen seiner Aktivitäten zur Gründung des religiösen Menschheitsbundes kommt Otto schließlich auf die künftig wachsende Bedeutung des Islam zu sprechen. Diese Initiative gehört zu den merkwürdigsten Seiten von Ottos Wirken. Sie setzt die Zustimmung zu der – in Deutschland damals sehr umstrittenen – Gründung des (politischen) Völkerbundes im Januar 1920 voraus. Nach Ottos Einsicht ist diese von ihm gutgeheißene globale Bühne allerdings von macht- und nationalpolitischen Interessen bestimmt und daher fragil. Der Völkerbund benötigt daher so etwas wie eine welt-zivilgesellschaftliche Ergänzung, die Otto „eine Art moralische Prüfungsstelle“ oder „moralischen Appellhof[]“²³ nennt. Das könnten die Welt-Religionen leisten, denn – so fragt Otto rhetorisch –: „Wer ist aber mehr berufen, diese Weckung des Gewissens, Interesses und Wollens in den Völkern und in ihrer Oeffentlichkeit zu betreiben, als die Gemeinschaften und Organisationen, denen vornehmlich die Gewissensbildung und die Willens-
AN4, 108 f. AN4, 110. Ebd. AN4, 112. Rudolf Otto, Religiöser Menschheitsbund neben politischem Völkerbund und Vom Religiösen Menschheits-Bunde, in: Die Christliche Welt 1920, Sp. 133 – 135 und 477– 478, hier 477.
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bildung in großen sittlichen Fragen obliegt oder obliegen sollte, nämlich die Kirchen, religiösen Gruppen und Gemeinschaften und ihre Vertreter und Leiter!“²⁴ In diesem Menschheitsbund sollen nach Otto Islam, Judentum, Inder in ihrer religiösen Pluralität, buddhistische Kirchen und Shintos, sowie die chinesische Religion vertreten sein.²⁵ Der Islam wird hier ausdrücklich an erster Stelle genannt: „Wir denken zuerst an die gewaltigen und immer wichtiger werdenden Massen der Welt des Islam.Wie wichtig ist sie schon jetzt und wie noch wichtiger wird sie bald werden für ein Gemeinschaftswirken der Menschheit im Ganzen.“²⁶ In diesem Kontext hat Otto also eine realistische Einschätzung von der politischen, sittlichen und kulturellen Prägekraft der Religion des Islam vorgenommen, obwohl sie ihn aber substanziell nicht wirklich interessiert hat. Bei der Gründungsversammlung scheint übrigens kein Muslim anwesend gewesen zu sein. Vielleicht gebrach es Otto auch an Kontakten zum offiziellen Islam. Nota bene: Die Hauptaufgabe des religiösen Menschheits-Bundes sollte darin bestehen, durch wechselseitige Verständigungsprozesse zwischen den Religionen einen Beitrag zum Weltfrieden zu leisten. Bei der Formulierung der Zielvision bezieht Otto in normativer Absicht die Begriffe „Frieden“ und „Gerechtigkeit“ aufeinander. Der Gegenbegriff ist der „faule Friede“. Otto ist mit seinen Visionen des Religiösen Menschheits-Bundes semantisch ganz dicht am Begriff „Gerechter Friede“, der gegenwärtig die religiösen Friedensethiken beherrscht. Den Islam wollte Otto dabei auf dieser Seite sehen.
4 Zusammenfassung, Würdigung und Ausblick „Ein Riesenringen bereitet sich vor. Seine große Zeit wird es vielleicht erst haben, wenn einmal im Politischen und Sozialen die Menschheit zu Ruhezuständen gekommen ist. […] Das wird der höchste, feierlichste Moment der Geschichte der Menschheit werden, wenn nicht mehr politische Systeme, nicht wirtschaftliche Gruppen, nicht soziale Interessen, wenn die Religionen der Menschheit gegen
A.a.O. 134. Schon 1913 hatte Otto die Auffassung vertreten, dass die alle Religionen gemeinsame Interessen haben, die neben dem „Kampf gegen Irreligion und Superstition“ vor allem auf dem „großen Gebiete sozialer und internationaler Ethik“ liegen (Rudolf Otto, Ist eine Universalreligion wünschenswert und möglich? Und wenn, wie kann man sie erreichen? In: Die Christliche Welt 1913, 1237– 1243, hier 1240). Rudolf Otto, Religiöser Menschheitsbund neben politischem Völkerbund und Vom Religiösen Menschheits-Bunde, 134. Diese religionspolitische Hochschätzung des Islam wird durch den Verweis auf die vielen „Muhammedaner“ in Indien unterstrichen (vgl. ebd.).
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einander aufstehen werden, und wenn nach den Vor- und Scheingefechten um die mythologischen und dogmatischen Krusten und Hüllen, um die historischen Zufälligkeiten und gegenseitigen Unzulänglichkeiten zuletzt einmal der Kampf den hohen Stil erreichen wird, wo endlich Geist auf Geist, Ideal auf Ideal, Erlebnis auf Erlebnis trifft, wo Jeder ohne Hülle sagen muss, was er Tiefstes was Echtes hat, und ob er was hat.“²⁷ So schreibt Otto in dem Text „Ist eine Universalreligion wünschenswert und möglich?“. Seine Prognose hat sich teilweise erfüllt. Tatsächlich befinden wir uns im Zeitalter des geisthaft geführten Dialogs der Religionen, bei dem nicht auf eine – schon von Otto verneinte – „Esperanto-Religion“²⁸ hingewirkt wird, sondern vom idealen Kern der Religionen ausgegangen und das gemeinsame Anliegen differenzhermeneutisch zur Sprache gebracht wird. Otto vertritt dabei übrigens die interessante und meines Erachtens auch wesentlich zutreffende These, nach der es unterhalb des jeweiligen „Sondergeistes“ der Religionen eine „interreligiöse[] Gemeinschaftsreligion niederer Ordnung“²⁹ gibt, auf der die meisten religiösen Menschen stehen, während es vor allem religiöse Spezialisten sind, „die wirklich von dem Sondergeiste ihrer eigenen Religion entschiedener bestimmt sind.“³⁰ Dass der Islam bei dem oben genannten „Riesenringen“ eine wichtige Rolle spielen würde, ahnte Otto. Er konnte nicht wissen, dass muslimische geprägte Staaten in der postkolonialen Ära als wichtige weltpolitische Player auftreten und dass der Islam durch Migrationsströme in Mittel- und Westeuropa heimisch werden würde. Jenseits dieser Einschätzungen aber spielt der Islam in Ottos religionswissenschaftlichem Werke eine untergeordnete Rolle. Durch die Hervorhebung der mystischen Züge im Islam bleibt das Bild der sittlichen Religion, das das gegenwärtige Verständnis des Islam prägt, bei Otto im Hintergrund. Im Vergleich zu den sittlichen Schematismen von Christentum und Judentum ist der Islam in den Augen Ottos inferior. Diese Einschätzung teilt Otto im Wesentlichen mit seinen theologischen Zeitgenossen. Er ist darin überhaupt nicht originell, sondern geprägt durch den damaligen Zeitgeist.Wenn man diese Tatsache aber in Rechnung stellt, dann wiederum ist es durchaus anerkennenswert, dass Otto den Islam in seiner Originalität und Vielgestaltigkeit wahrgenommen hat. Selbst dort, wo Otto den Islam kritisiert, kann er die religiöse Abkunft dieser Überspanntheiten nachweisen. Und im Blick auf die von Otto in den Mittelpunkt gerückte islamische
Rudolf Otto, Ist eine Universalreligion wünschenswert und möglich, 1239. Vgl. Rudolf Otto, Religiöser Menschheitsbund neben politischem Völkerbund und Vom Religiösen Menschheits-Bunde, 477 und Otto, Ist eine Universalreligion wünschenswert und möglich, 1240. Rudolf Otto, Ist eine Universalreligion wünschenswert und möglich, 1242. Ebd.
Rudolf Ottos Deutung des Islam
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Mystik ist anzumerken, dass diese Deutung insoweit aktuell ist, als sie gegenwärtig wiederentdeckt wird – nicht nur von der Forschung, sondern auch von Muslimen selbst. Denn die Mystik bietet damals wie heute einen innerislamischen Ausweg aus den religiösen Aporien, die die als religiöses Recht geformte Sittlichkeit aufwirft, auch wenn sie schulmäßig ausgelegt wird. Die islamische Mystik ist gerade heute der vielfach gewiesene Weg, jenseits von Scharia, Fatwas und sozialer Kontrolle zum Kern dieser Religion vorzudringen. In dieser Perspektive wird man die wenigen Einsichten Ottos zum Islam am Ende doch als in die Gegenwart weisend und als lehrreich wahrnehmen können.
Markus Walther
Rudolf Ottos Konzept des Heiligen als gemeinsame Perspektive für Christentum und Islam? Eine Skizze anhand der Autoren Meister Eckhart und al-Ġazālī
1 Einleitung Ziel der nachstehenden Ausführungen ist es, zu zeigen inwiefern Rudolf Ottos Konzept zur Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten von Christentum und Islam angewendet werden kann. Das erfordert neben der Kenntnis von Ottos Entwurf verschiedene disponierende Arbeitsschritte, vor allem eine eingehende Sichtung von Quellen. Das kann an dieser Stelle nicht im Detail geschehen. Dennoch soll ein ausreichend fundiertes Resümee erfolgen. Die konkrete Auswahl der Autoren lässt sich wie folgt begründen: Meister Eckhart wurde von Otto selbst vergleichend behandelt¹, so dass auf Vorarbeiten von ihm aufgebaut werden kann und er hat auch einmal die Gegenüberstellung mit al-Ġazālī nahelegt.² Der Vergleich unter Bezugnahme auf Otto ist also plausibel. In Hinblick auf das Konzept des Heiligen sei wegen dessen Popularität auf eine nähere Erläuterung verzichtet. Zu betonen ist aber, dass innerhalb der Ausführungen nicht der Begriff des Heiligen, sondern die darunter subsumierten Zusammenhänge im Mittelpunkt stehen, wie sie bei Otto vor allem durch die Bezeichnungen des „Übermächtigen“, des „ganz Anderen“³ und die Betonung der religiös-spirituellen Erfahrung markiert werden. Neben seinem zentralen Konzept hat Otto in seinem Werk auch – mehr implizit als explizit – untergeordnete Kriterien genutzt, mit denen er Vertreter unterschiedlicher Religionen untersucht.⁴ Auswahlweise werden daraus im Folgenden drei Punkte herangezogen: a) Das Verhältnis von Religiosität und Rationalität, welches offen in Äußerung über die Rolle der Vernunft oder verdeckt, wie in Kausalvorstellungen, zu Tage treten kann. b) Die Beweggründe und Absichten der Autoren. D.h. werden sie von theoretisch-wissenschaftlichem Interesse geleitet oder versuchen sie eher spirituell-lebenspraktisch zu orientieren, wie Otto
Vgl. WÖM. AN5/6, 94. Vgl. DH15, 23 ff.33ff und AN5/6, 16 ff. Neben DH15 und AN5/6 ist hier insbesondere WÖM zu nennen.
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zwischen „Heilslehre oder Metaphysik“⁵ unterscheidet? c) Die Haltung der Autoren anderen Strömungen bzw. Traditionen der eigenen Religion gegenüber.⁶ Zu der je anderen Religion haben Eckhart und al-Ġazālī in ihren Schriften leider kaum oder keine Stellung bezogen.⁷ Ottos Werk hat großes Echo erfahren. Gegenüber eindeutig negativen oder affirmativen Reaktionen ist wohl einer ausgewogenen, kritischen Würdigung der Vorzug zu geben.⁸ Demgemäß steht neben den Kritikpunkten sein Beitrag zur Untersuchung religiös-individueller Erfahrung. Da im Übrigen Glaubensleben und -erfahrung auch bei den Referenzautoren eine zentrale Rolle spielen, ist es auch in dieser Hinsicht gerechtfertigt, Otto heranzuziehen.
2 Einzelanalyse zu Meister Eckhart Die Forschung zu Eckhart hat im 20. Jahrhundert große Fortschritte gemacht und seine Vielseitigkeit gezeigt. Er war zugleich Gelehrter und Seelsorger, Theologe, Philosoph und Mystiker. Obwohl Otto selbst noch am Anfang der aufblühenden Eckhartforschung wirkte, so sind seine Einsichten doch anzuerkennen. Er nannte in West-östliche Mystik Punkte, die auch die Forschung nach ihm bekräftigt hat: Eckhart entwerfe anhand der Heiligen Schrift unter Anwendung der philosophischen Methode eine Metaphysik, genauer eine Ontologie, die ausdrücklich für das Verstehen seines Anliegens von grundlegender Bedeutung ist.⁹ Nichtsdestoweniger sei seine Lehre vornehmlich hin auf praktisch-spirituelle Belange orientiert, auch wenn das beim gelehrten Duktus und der größeren Exaktheit der lateinischen Werke weniger auffällig sei.¹⁰ Und schließlich betont Otto das Moment der Erkenntnis bei Eckhart und grenzt ihn gegen diverse Formen der Mystik ab, weswegen er durchaus schon zur Rettung Eckharts aus einem „mystischen Strom“¹¹ beigetragen hat. Das alles zeigt, dass seine Perspektive auf Eckhart
WÖM, 19. Vgl. WÖM, 34 f.82 ff. Eine möglicherweise relevante, al-Ġazālī zugeschriebene „Schrift wider die Gottheit Jesu“, Arradd al-ğamīl ist von zweifelhafter Herkunft. Vgl. Martin Bouyges, Essai de chronologie des ouevres de al-Ghazali, Beyrouth 1959, 125 f. und Georg Hourani, A Revised Chronology of Ghazālīs Writings, in: Journal of the American Oriental Society, 104, Nr. 2 (1984), 289 – 302, hier 296. U.a. bei Carsten Colpe, Die Diskussion um das Heilige, Darmstadt 1977, 24. Vgl. WÖM, 5 ff., Eckharts eigene Äußerung vgl. bspw. Die lateinischen Werke, Bd. 1, hg. u. übers. v. Konrad Weiss, Stuttgart 1987, 484. WÖM, 19 ff. Dieser Punkt ist in der neueren Forschung teilweise umstritten. Kurt Flasch, Meister Eckhart – Versuch ihn aus dem mystischen Strom zu retten, in: Gnosis und Mystik in der Geschichte der Philosophie, hg.v. Peter Koslowski 1988, 94– 110.
Rudolf Ottos Konzept des Heiligen
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ernsthafter Forschung entspringt und auf wichtige Aspekte abzielt. So ist sie als Deutungsmuster, zusammen mit der Kategorie des Heiligen, auch weiterhin anwendbar. Sondern wir im Folgenden also aus Eckharts Werk Elemente mit Hilfe der einleitend vorgestellten drei Kriterien. a) Religion – Rationalität: Die expliziten Aussagen hinsichtlich der Vernunft wirken bei Eckhart zunächst widersprüchlich. Zum einen „vereinigen Erkenntnis und Vernunft die Seele mit Gott“¹², zum anderen „übersteigt Gott als ein überschwengliches Sein alle Erkenntnis“¹³, so dass noch ein „viel höheres Lichte“¹⁴ vorhanden ist. Dieser Gedanke kehrt auch im lateinischen Exoduskommentar wieder: „Oportet enim captivare intellectum sive rationem naturalem, faciem scilicet propriam, volentem videre secretiora et profundoria die in lumine gratiae […].“¹⁵ Ohne ein letztes Urteil fällen zu wollen, so laufen doch Eckharts Aussagen, neben der Wertschätzung der Vernunft, zumeist direkt im Anschluss darauf hinaus, dass es eine Sphäre darüber gibt. Etwas ähnliches hat auch Otto schon konstatiert: „Eckhart unterscheidet ein eigenes Vermögen für das Intelligibele, den intellectus, der gerade nicht das ist, was wir Intellekt zu nennen pflegen, der vielmehr sich oberhalb aller ratio, oberhalb des Vermögens des diskursiven, Begriffe bildenden, schließenden und beweisenden ‚Verstandes‘ steht […].“¹⁶ Diese Einschätzung wird durch einen Blick auf die Kausalvorstellungen Eckharts bestätigt. Die natürliche Vernunft nimmt ja vor allem kausale Zusammenhänge wahr, worunter zu Eckharts Zeit bspw. die vier Ursachen nach Aristoteles oder auch die hierarchische Ordnung des Kosmos fallen. Eckhart bejaht dergleichen: „Die Natur überspringt nichts; sie hebt stets beim Niedersten zu wirken an und wirkt so hinauf bis zum Höchsten.“¹⁷ Oder er äußert im Prologus propositionum, dass Sekundärursachen als hinlängliche Bedingung für das Sound-so-sein einer Sache von Bedeutung sind.¹⁸ Mit dem Blick darauf erkenne man aber keineswegs den Kern der Dinge und kann noch viel weniger ihre Existenz verstehen. Vielmehr insistiert Eckhart darauf, dass alle Einzelursachen auf einen Gesamteffekt hinauslaufen¹⁹, eine Einheit bilden und die einzige wirkliche Ur-
Meister Eckhart, Werke, Bd. 1: Predigten, hg. u. kommentiert v. Niklaus Largier, Frankfurt a.M. 1993, 39. Ähnlich: 87.217. A.a.O. 43. Ähnlich: 641. A.a.O. 111. Ähnlich: 215.455.463. Ders., Die lateinischen Werke, Bd. 2, hg. u. übers. v. Heribert Fischer/Josef Koch/Konrad Weiss, Stuttgart 1992, 18. WÖM, 37. Meister Eckhart, Predigten, Bd. 1 (Anm. 12), 207. Vgl. Ders., Die lateinischen Werke, Bd. 1 (Anm. 9), 171 f. A.a.O. 180.
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sache Gott selbst ist, ohne dessen collatio esse keinerlei Ding Bestand hat.²⁰ So betont er auch die Einheit des Universums und lehnt vermittelnde Instanzen ab: „Unum ab uno, primo et immediate.“²¹ Das System kausal aufeinander bezogener Teile ist, so deutet es sich mitunter an, nur die Betrachtungsweise, die dem natürlichen Verstand des Menschen eignet und auf halber Strecke halt macht: „[…] Quae deus simul facit, non possunt simul a nobis dici.“²² Oder: „Das Wichtigste ist, daß der Mensch durch alle Dinge hindurch und über alle Dinge und aller Dinge Ursache hinausgehen muß […].“²³ b) Beweggründe: Dass Eckhart vornehmlich praktisch-spirituell orientiert war, verrät neben der Biografie schon die Gestalt seiner Texte. Für die deutschen Predigten und Traktate ist das offensichtlich. Derselbe Impetus ist aber auch mitunter bei den lateinischen Werken festzustellen. Darauf weist bedingt der angemerkte Entstehungsgrund des lateinischen Schriftcorpus im Prologus generalis hin: „Auctoris intentio in hoc opere tripartito est satisfacere pro posse studiosorum fratrum qourundam desideriis […].“²⁴ Eckharts vornehmlicher Beweggrund für das Schreiben ist also die Bitte seiner Mitbrüder, seine Gedankengänge noch einmal darzulegen, also ein eher pragmatischer Anlass. Man beachte auch, dass es Texte, die diversen Abhandlungen eines Albertus Magnus oder Dietrichs von Freiberg entsprechen, d. h. mit (natur)wissenschaftlich-theoretischer Ausrichtung, bei Eckhart nicht gegeben hat. Vielmehr stellt der Großteil seiner lateinischen Texte Schriftauslegungen dar. Es wäre falsch, dabei die Dominanz der theoretisch-metaphysischen Erörterungen zur Ontologie zu leugnen, allerdings widersprechen diese keineswegs Eckharts praktischer Lehre, komplementieren sie eher noch. Und die anderen theoretischen Elemente, auch die Naturwissenschaftlichen, sind der Ontologie untergeordnet.²⁵ Man kann hier also mit Otto von „Erkenntnis aus Heilsbegehren“²⁶ sprechen. Aspekte der Ethik, Lebenspraxis bzw. Religiosität werden zudem in deutschen wie auch lateinischen Schriften direkt aufgegriffen.²⁷ Dies allerdings in einer speziellen Form, wobei sich der Handelnde nicht mehr als Subjekt in Bezug auf Objekte Vgl. Ders., Die lateinischen Werke, Bd. 2 (Anm. 15), 340. Auch Ders., Predigten, Bd. 1 (Anm. 12), 53. Ders., Die lateinischen Werke, Bd. 2 (Anm. 15), 356. Ders., Die lateinischen Werke, Bd. 1 (Anm. 9), 191. Ders., Predigten, Bd. 1 (Anm. 12), 123. Ders., Die lateinischen Werke, Bd. 1 (Anm. 9), 148. Hier sind bspw. Kosmologie und Zahlenlehre zu nennen, wie sie insbesondere im Genesisund Sapientiakommentar herangezogen werden. Vgl. A.a.O. 205 f.218 ff.256ff und Ders., Die lateinischen Werke, Bd. 2 (Anm. 15), 578 ff.380 ff.446 ff. WÖM, 19. Für letzteres siehe Meister Eckhart, Die lateinischen Werke, Bd. 2 (Anm. 15), 9 ff.91 ff.346 ff.
Rudolf Ottos Konzept des Heiligen
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sieht, nicht mehr Mittel und Zweck herrschen, sondern man gleichsam in einen flow, aristotelisch gesprochen von der poieisis zur praxis gelangt und derart eine Bewegung auf Gott zu stattfindet. Alles andere ist koufmannschaft und dient nur dem Eigennutz des Menschen, wie Eckhart anhand der Tempelreinigung Jesu aufzeigt.²⁸ c) Haltung zu anderen Strömungen: Obschon Eckhart ein führender dominikanischer Geistlicher und Prediger war, so kann er keinesfalls als „Seelenfänger“ gelten. Er tritt ja für den weiselosen Weg²⁹ ein und toleriert sogar offenbar fehlgehende Ansätze.³⁰ Er hat aber auch klare Worte gefunden und seine Religiosität von anderen geschieden. Wir beginnen mit zwei Aspekten, die auch Otto herausgestellt hat. Eckhart setzte sich gegen eine „illuminative Mystik“³¹ ab. Soll heißen bei ihm spielen private Visionen oder extraordinäre Wunder keine Rolle. Er äußert sich selbst in einer beiläufigen Bemerkung im Sapientiakommentar gegen derlei Dinge: „[…] optime reprobantur communiter ponentes theophanias […].“³² Auch der emotionalen Mystik steht er skeptisch gegenüber. Entsprechende Einschübe findet man öfters in seinen Texten: „Aber nun klagen manche Leute darüber, dass sie nicht Innerlichkeit noch Andacht noch Süßigkeit noch besondern Trost von Gott haben. Solche Leute sind wahrlich noch ganz unrecht daran.“³³ Weiterhin äußert sich Eckhart gegen eine sozusagen quietistische Haltung. „Ist es aber so, dass es den Menschen zu keinem Werk zieht und er nichts unternehmen mag, so soll man sich gewaltsam zwingen zu einem Werk, sei’s ein inneres oder ein äußeres […], damit […] der Mensch dann mit seinem Gott mitzuwirken lerne.“³⁴ Im Gegenzug lehnt er aber auch das andere Extrem ab, die Werkheiligkeit, bestehe sie nun in enthaltsamen oder in positiven Handlungen. „Es dünkt viele Leute, sie müßten große Werke in äußeren Dingen tun, wie Fasten, Barfußgehen und dergleichen mehr.“³⁵ Oder: „Gäbe ein Mensch tausend Mark Goldes, auf daß man dafür Kirchen und Klöster baute, das wäre eine große Sache. Dennoch hätte der viel mehr gegeben, der tausend Mark für nichts erachten könnte […].“³⁶ Der Grundgedanke: Solche Akte sind nichts als Schachern mit Gott
Vgl. Ders., Predigten, Bd. 1 (Anm. 12), 11 ff. Vgl. auch Ders., Die lateinischen Werke, Bd. 2 (Anm. 15), 347 f. und Bd. 1 (Anm. 9), S. 320 f. Ders., Werke, Bd. 2: Predigten u. a., hg. u. kommentiert v. Niklaus Largier, Frankfurt a.M. 1993, 387 f. Vgl. hierzu bspw. Ders., Predigten, Bd. 1 (Anm. 12), 193. WÖM, 82. Meister Eckhart, Die lateinischen Werke, Bd. 2 (Anm. 15), 617. Vgl. Anm. 29. Meister Eckhart, Predigten, Bd. 2 (Anm. 29), 419. A.a.O. 381. Ders., Predigten, Bd. 1 (Anm. 12), 53.
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und rühren von Kaufmannsgesinnung her, die Eckhart schlichtweg ablehnt. Gott ist kein Händler und auch nichts Handelbares. Eckhart verwirft überdies die objekthafte Auffassung von Gott allgemein: „Wem aber Gott nicht so wahrhaft innewohnt, sondern wer Gott beständig von draußen her nehmen muß in diesem und jenem, […] der hat Gott nicht.“³⁷ Oder: „Manche einfältigen Leute wähnen, sie sollten Gott sehen, als stünde er dort und sie hier. Dem ist nicht so. Gott und ich, wir sind eins.“³⁸ Es ist nur konsequent, wenn Eckhart entsprechend die Vermittlung Gottes, sei es im Sinne einer „mittelbaren Schau“³⁹ oder bezüglich der collatio esse, negiert. Eben „Unum ab uno, primo et immediate“⁴⁰. Schließlich sei noch bemerkt, dass Eckhart auch religiösen Hochmut bloß stellt: „Man muß klagen über gewisse Leute, die sich gar hoch und gar eins mit Gott dünken und sind dabei doch noch ganz und gar ungelassen und halten sich noch an geringfügige Dinge in Lieb und in Leid.“⁴¹ Andernorts erklärt Eckhart, dass mit einer solchen Überheblichkeit auch die Verachtung anderer „guter Weise und guter Gesinnung“⁴² einhergeht, woran der Irrtum des Betreffenden nur umso deutlicher wird.
3 Einzelanalyse zu al-Ġazālī Analog zu Eckhart hat die jüngere Forschung auch al-Ġazālīs Vielgestaltigkeit bzw. differenziertes Denken herausgestellt. Bei Otto findet man allerdings keine Ausführungen zu ihm⁴³, wie auch sonst die Darstellung des Islam bei ihm recht schmal ist. Mitunter werden bekannte Figuren der Sufik angeführt, bspw. al-Hallāğ, die Erläuterungen zur islamischen Mystik oder Architektur stehen letztlich aber vereinzelt da.⁴⁴ Ottos Bild des Islam ist entsprechend ergänzungsbedürftig. Der Islam ist ihm – ausdrücklich gegen das Christentum abgesetzt – charakterisiert durch einen „fanatischen Zug“, d. h. „stark erregtes, eiferndes Gefühl des numen, ohne die Temperatur durch die rationalen Momente“.⁴⁵ Derart könnte man aber ebenso
Ders., Predigten, Bd. 2 (Anm. 29), 347 f. Ders., Predigten, Bd. 1 (Anm. 12), 87. Vgl. Ders., Die lateinischen Werke, Bd. 2 (Anm. 15), 617. A.a.O. 356. Vgl. auch Ders., Die lateinischen Werke, Bd. 1 (Anm. 9), 174.202. Ders., Predigten, Bd. 1 (Anm. 12), 139. Ders., Predigten, Bd. 2 (Anm. 29), 387. Einzelfall vgl. Anm. 2. Vgl. hierzu bspw. Ottos Ausführungen in AN5/6, 90 ff.108 ff. DH15, 121.
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vom Christentum urteilen⁴⁶ und umgekehrt den Islam als ebenso rational wie das Christentum bewerten. Für letzteres spricht die bald nach der Konsolidierung des Islam einsetzende Institutionalisierung: Die endgültige Fassung des Koran, die ḥadīṯ-Sammlung, das Aufkommen des fiqh und die zahlreich eingeführten termini technici sind Aspekte, die neben dem religiösen Eifer die ordnende ratio als Wurzel haben, nicht zu vergessen die schon früh eingedrungenen philosophischen Elemente. Ottos Bewertung des Islam ist also unzureichend.⁴⁷ a) Religion – Rationalität: Bei al-Ġazālī erscheint die Haltung zur Vernunft uneindeutig, d. h. man findet sowohl explizites Lob der Vernunft und rationalwissenschaftliches Vorgehen, als auch den Verweis auf die Unzulänglichkeit des Verstandes und die Grenzen vernünftigen Verstehens. Er anerkennt vernünftiges Schließen in Logik, Mathematik und Naturwissenschaft, steht ihm aber im Falle der Metaphysik sehr skeptisch gegenüber, redet sogar vom Trugschluss der Philosophen.⁴⁸ Er erachtet die Vernunft auch innerhalb der Religion als wichtig⁴⁹, räumt aber ein, dass der sich täuscht, der meint „die nackten Argumente und die systematischen Einteilungen seien der Weg zum Glauben“⁵⁰. Erhellung kann man u. a. in einer Passage der Kīmiyā-i sa‘ādat finden. Hier heißt es: „Ebenso wie nun die Anlage zu dieser [mathematischen (Anm. des Verf.)] Erkenntnis jedem Menschen eingeboren ist, so ist auch die Erkenntnis der Gottheit jedem Menschen eingeboren […].“⁵¹ Al-Ġazālī unterscheidet also natürliche und übernatürliche Erkenntnis und versucht beiden ihre Sphäre zuzuweisen.⁵² Entsprechend sind affirmative und negative Aussagen zu verstehen und verlieren ihren paradoxen Charakter. Ihr volles Recht hat die natürliche Vernunft innerhalb der Welt, auch in Fragen der Religion als weltlicher Machtinstanz bzw. Gesetz. Was aber göttliche Sphären anbelangt, so sind diese nicht mit der Vernunft zu bemessen und man muss jene zurechtweisen, die hier mit ihr operieren wollen. Man stößt also auf den Aspekt des „ganz Anderen“⁵³, welches vom Menschen nicht kontrollierbar ist,
Gemeint sind bspw. Kreuzzüge, Inquisition, Hexenprozesse. Ich verweise zu diesem Thema im Allgemeinen auf den Beitrag von Arnulf von Scheliha in diesem Band. Al-Ġazālī, Der Erretter aus dem Irrtum, aus dem Arabischen übers., mit einer Einleitung, mit Anmerkungen u. Indices hg.v. ‘Abd-Elṣamad ‘Abd-Elḥamīd Elschazlī, Hamburg 1988, 19. Ders., Das Kriterium des Handelns, aus dem Arabischen übers., mit einer Einleitung, mit Anmerkungen u. Indices hg.v. ‘Abd-Elṣamad ‘Abd-Elḥamīd Elschazlī, Darmstadt 2006, 185. Ders., Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz, eingeleitet, übers. u. mit Erläuterungen versehen v. Frank Griffel, Zürich 1998, 82. Ders., Das Elixier der Glückseligkeit, aus den persischen und arabischen Quellen in Auswahl übertragen v. Hellmut Ritter, Düsseldorf 1959, 55 f. Ähnlich auch Ders., Der Erretter aus dem Irrtum (Anm. 48), 69. DH15, 34.
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praktisch als Fatum über ihn hereinbricht – al-Ġazālī erlebte selbst eine schwere Krise – und spirituell als ein höheres Licht geschenkt wird. Eben das „Fenster […], das im Innern des Herzens nach der übersinnlichen Welt des Himmels geöffnet ist“⁵⁴ ist für al-Ġazālī letztlich das entscheidende, nicht nur im Sinne mystischen Erkennens, sondern auch Handelns, da so die gewöhnliche Vernunft gewissermaßen ihr Ziel und der Mensch seinen Sinn erhält. Diese Einordnung von natürlicher und übernatürlicher Vernunft spiegelt sich in den häufig diskutierten Gedanken al-Ġazālīs zur Kausalität wieder.⁵⁵ Knapp formuliert gesteht er den Wirkzusammenhängen zwar eine gewisse Plausibilität zu, stuft sie aber nicht als letztgültig und entscheidend ein. Zwei wesentliche Stellen, in denen das deutlich wird, sind das 17. Kapitel in Tahāfut al-falāsifa und Abschnitte im 35. Buch der Iḥyā’ ‘ulūm ad-dīn. Im zuerst genannten Werk will alĠazālī darauf hinaus, dass der beobachtete Lauf der Dinge zwar für uns die Form von Ursache-Folge zu besitzen scheint, die Verknüpfungen letztlich aber doch nicht leichthin erkennbar und vor allem nicht als zwingend einzustufen sind. AlĠazālī nennt das Beispiel von der Wirkung des Feuers an Baumwolle und urteilt: „Die Wahrnehmung [al-mušāhada] zeigt das beieinander Auftreten [al-ḥaṣūl ʽindahu], nicht das miteinander [notwendig verknüpfte (Anm. des Verf.)] Auftreten [al-ḥaṣūl bihi]“⁵⁶ von Feuer und sich entzündender Baumwolle. Vielmehr rühren Existenz, Zustand und Verknüpfung aller Dinge von Gott her⁵⁷, so dass jenseits des horizontalen, rational erfassbaren Geschehens der eigentliche Entstehungsgrund eine quasi vertikale Dimension darstellt. Al-Ġazālī lehnt damit das Postulat der kausalen Notwendigkeit ab und schafft Platz für den Entscheid Gottes. Er kombiniert das mit einem Hinweis auf die Struktur unseres Verstandes, der Mögliches und Unmögliches unterscheidet und durch Erfahrung bzw. Gewohnheit, letztlich also Empirie, auf Wahrscheinliches und Unwahrscheinliches schließt⁵⁸, was eben die natürliche, auf die Horizontale gerichtete Vernunft ausmacht – im Gegensatz zum auf das Licht Gottes gerichteten Vermögen. Ähnlich werden diese ganzen Zusammenhänge auch in Iḥyāʼ im Buch über die Einung und das Gottvertrauen geschildert, ausgehend vom Gleichnis des Schreibrohrs (al-qalam). Hier will al-
Al-Ġazālī, Das Elixier der Glückseligkeit (Anm. 51), 51. Ganz ähnlich nennt al-Ġazālī in: Die Nische der Lichter (aus dem Arabischen übers., mit einer Einleitung, mit Anmerkungen u. Indices hg.v. ‘Abd-Elṣamad ‘Abd-Elḥamīd Elschazlī, Hamburg 1987, 15) den passiven bzw. möglichen Intellekt. Zu diesem Problem siehe u. a. Frank Griffel, Al-Ghazālī’s philosophical theology, Oxford 2009, 147 ff. Al-Ġazālī, Tahāfut al-falāsifa, Frankfurt a.M. 1999, 279. Vgl. a.a.O. 278. Vgl. a.a.O. 285.
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Ġazālī aber noch vielmehr auf den Punkt der jenseitigen, alles Diesseitige bestimmenden Macht Gottes und dem Vertrauen darauf hinaus. Unverständig ist hier der, der nur die offensichtlichen Werkzeuge als Ursache gelten lässt, während „für die, denen ein Herz und mystisches Schauen eignet, […] alle Atome im Himmel und auf Erden“⁵⁹ die Allmacht Gottes verkünden. Um dies zu betonen: Trotz okkasionalistischer Tendenzen, leugnet al-Ġazālī den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang nicht schlechthin. Allerdings ist dessen Konstatierung nur die Erkenntnis augenscheinlicher Tatsachen, nicht die des eigentlichen Grundes. Dazu gelangt man erst durch die Eröffnung der Bedeutungsebene, die die Erkenntnis einleitet, dass Gott der einzige Wirkende ist, der Existenz jeder Sache voraufgeht und sie aus dem Nichts hervorruft.⁶⁰ b) Beweggründe: Der letzte Aspekt verweist schon auf die praktisch-spirituelle Ausrichtung von al-Ġazālī.Wie es Simon van den Bergh geäußert hat, ist al-Ġazālī nicht auf der Suche nach abstrakter Wahrheit.⁶¹ Für ihn stehen vielmehr die Aufgehobenheit in Gott, die innere Erfülltheit und der belebte Glauben im Mittelpunkt. Das eröffnete sich ihm intellektuell, aber auch lebenspraktisch und schlug sich in seinen Texten nieder – sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch der Chronologie: Ohne zu stark schematisieren zu wollen, so stehen am Anfang vor allem Werke zum Recht, worauf die der intellektuell gefärbten Suche und die Polemiken folgen und schließlich praktisch-spirituelle Schriften dominieren.⁶² Dieser Entwicklung entspricht auch dem, was al-Ġazālī über sich selbst, vielleicht geschönt, aber doch glaubwürdig schildert: „Nachdem ich die Beschäftigung mit diesen Wissenschaften beendet hatte, wandte ich mich mit großem Eifer dem Weg der Mystiker zu. Ich erkannte, daß ihr Weg nur durch die Verbindung von Theorie und Praxis nachvollziehbar ist. […]. Es schien mir klar, daß man zu ihren spezifischen Eigenschaften nicht durch Studium, sondern nur durch Schmecken, Erleben und Verwandlung der Eigenschaften gelangen kann.“⁶³ Die Glaubenspraxis spielte nun für al-Ġazālī die entscheidende Rolle, trotzdem verfasste er weiterhin zahlreiche Schriften. Diese waren ihrerseits vermehrt auf den praktizierten und innigen Glauben gerichtet, was insbesondere an seinem Großwerk Iḥyā’ ‘ulūm addīn erkennbar ist. Es beginnt mit Grundsätzen, legt übliche Lehren zur Ausübung
Ders., Lehre von den Stufen zur Gottesliebe, eingeleitet, übers. u. kommentiert v. Richard Gramlich, Wiesbaden 1984, 31.526 (242 f.). Ders., Die Dogmatik al-Ghazālīs, hg.v. Hans Bauer, Halle 1912, 13. Vgl. Ibn Rušd, Tahāfut at-Tahāfut, University Press Oxford 1954, XXXVI. Vgl. hierzu Martin Bouyges, Essai de chronologie des ouevres de al-Ghazali (Anm. 7) und Georg Hourani, A Revised Chronology of Ghazālīs Writings (Anm. 7). Al-Ġazālī, Der Erretter aus dem Irrtum (Anm. 48), 40 f.
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des Islam dar und gelangt schließlich bei als mystisch zu bezeichnenden Praktiken und Zuständen an. Wesentliche Schritte auf diesem Weg sind Enthaltsamkeit und Erwerb der Tugenden, die sich „auf ihrem Höhepunkt [befinden], wenn sie aus dem Menschen immer ohne Überlegung, Zögern und Mühe herausströmen [bi-ġayri fikrin wa rawīyatin wa taʽabin], wodurch er ohne große Anstrengung die Wahrheit erkennt, so daß er sogar ohne Nachdenken ihr gemäß handelt […]“.⁶⁴ Das nun ist auch ein Kennzeichen der praxis im aristotelischen Sinne und kann schließlich soweit reichen, dass die Seele ähnlich der theoria bereit ist zur „Betrachtung der göttlichen Wahrheiten [an-naẓaru fi l-ḥaqā’iqi l-ilahyati]“.⁶⁵ Es ist also ein Handeln eingefordert, in welchem Aktivität und Passivität verwoben sind und schließlich ein reines Empfangen dominiert. Ein Gleichnis al-Ġazālīs: „Wenn wir uns einen oxidierten Spiegel vorstellen, dessen Reinheit von Rost getrübt wird […], so wäre der Spiegel vollkommen, würde er für die Aufnahme der Bilder vorbereitet. […] Zu dieser Vervollkommnung gehören […] erstens: die Reinigung und das Polieren des Spiegels […]. Zweitens: Man sollte ihn so hinstellen, dass er das Bild wiedergibt. So verhält es sich auch mit der Seele des Menschen.“⁶⁶ c) Haltung zu anderen Strömungen: Al-Ġazālī hat sich ausführlicher als Eckhart gegen andere Vorstellungen abgegrenzt. Eine Art geraffte Darstellung bietet Al-Munqīḏ. Darin verweist er auf die beschränkte Brauchbarkeit des kalām, der diskursiv-dialektischen Theologie, ausführlich auf Gefahren der Philosophie avicennischer Prägung und die Unzulänglichkeit schiitisch-bāṭinitischer Lehren.⁶⁷ Zentraler Kritikpunkt ist, dass diese Gruppen den taqlīd, hier das blinde Nachahmen, ausnutzen oder fördern und so dem Menschen vor der Wahrheit grundsätzlich fernhalten, weil Selbstreflexion, eigene Erfahrung und geistige Schau unterbunden werden. Darüber hinaus hat sich al-Ġazālī auch kritisch zu libertinären Strömungen, der Kleingeistigkeit bzw. Streitsucht innerhalb der Sunna und nicht zuletzt der Scheinheiligkeit geäußert. Ersteres wird besonders in einer Polemik gegen die sog. ibāḥīya abgehandelt, wobei unter dieser Bezeichnung ganz verschiedene atheistisch-materialistische, freidenkerische oder sufische Kreise subsumiert werden. Die Kritik zielt vor allem auf die Ignoranz religiöser Gebote und die Selbstüberschätzung, wie sie im defekten Denken und vernachlässigten Sitten gleicherma-
Ders., Mizān al-‘amal, Kairo 1963, 256. Übersetzung: Ders., Das Kriterium des Handelns (Anm. 49), 137. Ders., Mizān al-‘amal, Kairo 1963, 219. Übersetzung: Ders., Das Kriterium des Handelns (Anm. 49), 109. Vgl. hier auch Ders., Die Nische der Lichter (Anm. 54), 15. Ders., Das Kriterium des Handelns (Anm. 49), 108. Ders., Der Erretter aus dem Irrtum (Anm. 48), 12 ff.
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ßen ablesbar seien. „Niemand in der Welt hat gesagt, daß das Heil in Hurerei, Sauferei und in der Nichtverrichtung des Gebetes liege […].“⁶⁸ In derselben Schrift wird auch die Überbewertung von Ekstasen bzw.Visionen hinterfragt, wo doch der religiösen und sittlichen Praxis ein ebenso großer Wert zukommt.⁶⁹ Zur Streitsucht hat al-Ġazālī besonders in Fayṣal at-tafriqa bayna al-Islām wa az-zandaqa, d. h. „Zur Unterscheidung von Islam und Ketzerei“, geschrieben. Er findet die Diskussionen um die Erlaubtheit verschiedener Wissenschaftszweige oder Schulen, insbesondere innerhalb der Religion für müßig, da in allen die Möglichkeit der Wahrheitsfindung gegeben ist.⁷⁰ Entsprechend lehnt er kleinliche theologische Streitereien, die gar in der Bezichtigung des Unglaubens münden, ab und Autoritätsgläubige stellen für ihn innerhalb von ernsten Debatten eine Anmaßung dar.⁷¹ Treffend hat al-Ġazālī in Iḥyā’, Buch 2 formuliert: „Wenn schließlich der kalām deswegen unerlaubt sein soll, weil er zu Gezänke und Schulfanatismus, Haß und Feindschaft führt, so sind diese Dinge allerdings verboten und man muß sich davor in acht nehmen. So ist es aber auch mit der Überhebung, der Unwahrhaftigkeit und dem Strebertum, wozu die Wissenschaft der Tradition, der Schrifterklärung und des Rechts führt. Auch diese sind Sünde, und man muß sich davor hüten; aber deswegen ist nicht gleich die Wissenschaft verboten […].“⁷² Im letzten Zitat findet sich auch schon die Schein- bzw. Werkheiligkeit und Eitelkeit angesprochen, die al-Ġazālī wiederholt als Augendienerei bzw. eitle Plage anprangert⁷³ – allerdings nicht ohne dabei zu berücksichtigen, dass dies in der Natur des Menschen liegt und in Beimengungen fast immer vorhanden ist.⁷⁴ Doch letztlich macht es einen Unterschied, ob einer sich Wissenschaft und Religion widmet und seine Bedürfnisse mäßigt oder ob er bewusst den Begierden folgt und Religion und Wissenschaft hierfür nur Mittel darstellen. Letzteres ist für al-Ġazālī verabscheuenswert und ein großes Problem seiner Zeit.⁷⁵
Ders., Die Streitschrift gegen die Ibahija, hg. u. übers. v. Otto Pretzl, München 1933, 28. A.a.O. 33. Vgl. Ders., Über Rechtgläubigkeit und religiöse Toleranz (Anm. 50), 57. Vgl. a.a.O. 57.58. Ders., Die Dogmatik al-Ghazālīs (Anm. 60), 22. Ders., Über Intention, reine Absicht und Wahrhaftigkeit (=Islamische Ethik, nach den Originalquellen übers. und erläutert v. Hans Bauer), Hildesheim/New York 1979, 1 f. A.a.O. 73. Vgl. a.a.O. 24 f. und Ders., Das Kriterium des Handelns (Anm. 49), 93.
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4 Vergleich und Zusammenfassung Die erste Gemeinsamkeit von Eckhart und al-Ġazālī lässt sich aus den zuletzt bearbeiteten Punkt der Haltung zu anderen Strömungen ableiten. Beide haben Vorbehalte gegen illuminativ-emotionale Mystik, aber auch gegen rational verengte Religion. Beide lehnen Tatenlosigkeit, aber auch Werkheiligkeit ab. Und beide prangern die religiöse Eitelkeit an. Trotz aller Kritik zeigen sie aber gegenüber anderen Ideen ein auffälliges Maß an Toleranz. Sowohl bei Eckhart als auch bei al-Ġazālī zeichnet sich also, wie Otto es nennt, die „Temperatur durch die rationalen Momente“⁷⁶ ab. Diese Mäßigung ist ebenso innerhalb der Diskussion um die Rolle der Vernunft spürbar, allerdings zusammen mit einer Übersteigerung: Dem gewöhnlichen Verstand wird bei beiden begrenzte Brauchbarkeit zugestanden, aber die Erkenntnis metaphysischer bzw. göttlicher Aspekte, nicht als willentlich-rational fassbar, sondern als Gnadengabe dargestellt. Diese Gabe wird in die Vernunft hineingegeben und damit die ursprünglich eindimensional auf Rationalität beruhende Struktur erweitert. Statt eines bloß horizontalen Denkens kommt die vertikale Schau dazu, was auch in den erwähnten Kausalvorstellungen bei beiden deutlich wird: Eckharts Betonung des Über-die-Ursachen-Hinausgehens und des allzeitigen, unmittelbaren Wirkens Gottes entspricht al-Ġazālīs Einwand gegen kausale Notwendigkeit und den Verweis auf den Entscheid Gottes. So schlägt sich als zweite Gemeinsamkeit schließlich bei beiden das „ganz Andere“ und das „Übermächtige“ gerade innerhalb der Diskussion um die Vernunft nieder. Die dritte wichtige Übereinstimmung knüpft an. Bei Eckhart und al-Ġazālī ist Gott nicht Verstandeskategorie, sondern übersteigende Realität. Es geht beiden darum, sich dieser zu öffnen, weswegen der Akzent bei ihnen auf „Heilslehre statt Metaphysik“ liegt. Sie sind also keine Theoretiker und Konstrukteure abstrakter Systeme. Sie sind aber auch keine Praktiker im Sinne von Projektmachern. Vielmehr kann man bei ihnen von einem Kontinuum sprechen, und zwar von dem, was gemeinhin als Praxis und Theorie unterschieden wird. Momente, die abstrakt oder abgehoben erscheinen sind für die zwei Autoren ständig vorhandene, andere, umfassendere Facetten der Realität. Und die wie auch immer geartete Praxis bedeutet in beiden Fällen kein willkürliches, poieitisches Handeln, sondern spontanes Wirken, bewusste Leitung bzw. bewusstes Erleiden. Besonders letzteres impliziert wesentlich die Erfahrung des „Übermächtigen“, „ganz Anderen“, auf die sich der Mensch allerhöchstens vorbereiten kann. In diesen Kontext reihen sich die als ethisch zu bezeichnenden Punkte, wie die Abwendung von der Welt,
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die rechte innere Haltung beim Werk, al-Ġazālīs spontanes, unangestrengtes Tugendwirken oder Eckharts würken sunder warumbe ⁷⁷. Zwei markante Unterschiede beider Autoren seien angedeutet: Während alĠazālī, trotz Integration von Philosophie und Mystik, das Gesetz, Ritual und die Tradition des sunnitischen Islams betont – aber im Sinne eines authentisch-innerlichen Erlebnisses –, tendiert Eckhart zu einer Loslösung der Spiritualität von solchen Bindungen, ohne Sakramente oder sittliches Handeln aber wirklich zu boykottieren. Hier scheint, wenn man so will, die Differenz von Gottesknechtschaft im Islam und Gottessohnschaft im Christentum durch. Ein deutlicher Unterschied besteht zwischen beiden zudem im Umgang mit ihren Einsichten. Eckhart drängt dazu, sie allen zu predigen, al-Ġazālī scheut davor zurück und will sie nur den seelisch und geistig Geeigneten mitteilen.⁷⁸ Solche Besonderheiten sind keineswegs vernachlässigbar. Meister Eckhart wie al-Ġazālī drücken aber doch etwas fundamental Gemeinsames aus. Und dies kann man sehr gut mit Ottos „Heiligen“ fassen, insbesondere den Aspekten des „ganz Anderen“ und „Übermächtigen“ im Sinne religiöser Grunderfahrung: Demut vor der Allmacht und die Einsicht, dass nichts von dieser Welt Gott ist noch Gott gleich ist, sind sowohl dem Islam als auch dem Christentum eigen. Zudem haben sich die vorgestellten Subkriterien, mit denen Otto gearbeitet hat, als brauchbar erwiesen. Ottos Konzept hat also – eingeschränkt, man denke an die Ausführungen zum Islam – bleibende Bedeutung, besonders in Anwendung auf die Monotheismen und deren Spiritualität. Hierbei ist die Nachvollziehbarkeit für das fachlich wenig beschlagene, nichtsdestoweniger aber religiös erfahrene Individuum zu betonen. Das ist sein spezieller, schließlich über die Wissenschaft hinausgehender und nicht zu unterschätzender Wert.
Meister Eckhart, Predigten, Bd. 1 (Anm. 12), 70. Vgl. Ders., Predigten, Bd. 2 (Anm. 29), 313 und Al-Ġazālī, Das Kriterium des Handelns (Anm. 49), 208 f.
Bärbel Beinhauer-Köhler
Rekurs auf Rudolf Otto? Dimensionen des Gefühls bei der Erschließung von Reiseberichten als religionshistorischer Quelle
1 Ottos Reisen, Reiseberichte und die Religionswissenschaft Rudolf Otto schildert in einer Reisebeschreibung einen Synagogenbesuch in Marokko: Beim Erklingen des jüdischen Hymnus qadosh qadosh qadosh, zurückgehend auf Jesaja 6:3, erinnert er sich christlicher Liturgien und des zuvor in verschiedenen Erdteilen gehörten Wortlauts auf Latein, Russisch und Griechisch und fühlt dabei eine alle Gläubigen verbindende Dimension: „In welcher Sprache auch immer sie erklingen, diese erhabensten Worte, die je von Menschenlippen gekommen sind, immer greifen sie in die tiefsten Gründe der Seele, aufregend und rührend mit mächtigem Schauer das Geheimnis des Überweltlichen, das dort unten schläft.“¹ Otto ist nicht nur bekannt für sein theoretisches Konzept des Heiligen, das er als universale Kategorie allen Religionen zuspricht. Otto unternahm auch mehrere große Reisen, die ihn bis nach Asien führten. Es ist anzunehmen, dass die dortigen Eindrücke unterschiedlichster Religionen auch auf seine religionsphilosophischen Überlegungen wirkten. Hans-Jürgen Greschat hat bereits 1991 zu Rudolf Otto als Reisendem geforscht, die Reise als Mittel des Erkenntnisgewinns europäischer Oberschichten hat eine lange Tradition.² Doch im Folgenden wird es weniger um Otto als Reisenden gehen. Seine oben zitierte Aussage regt vielmehr dazu an, die literarische Gattung Reisebericht näher in den Blick zu nehmen und dabei besonders Beschreibungen von als „religiös“ zu bezeichnenden Erfahrungen zu beleuchten. Dies könnte in unterschiedlichster
Rudolf Otto, Vom Wege, in: Die Christliche Welt 25 (1911), Sp. 705 – 710, hier Sp. 709. Siehe auch Gregory D. Alles, Rudolf Otto (1869 – 1937), in: Klassiker der Religionswissenschaft. Von Friedrich Schleiermacher bis Mircea Eliade, hg.v. Axel Michaels, München 1997, 198 – 210.385 – 389, hier 204 bzw. 386, Anm. 20, mit weiteren Erwähnungen des Erlebnisses Ottos in der Literatur. Hans-Jürgen Greschat, On Rudolf Otto the Traveller, in: Religious Studies in Dialogue. Essays in Honour of Albert C. Moore, hg.v. Maurice Andrew u. a., Dunedin 1991, 1– 8. Siehe auch Uwe Steglein-Hektor, Religion im Bürgerleben. Eine frömmigkeitsgeschichtliche Studie liberaler Theologie um 1900 am Beispiel Wilhelm Hermanns, Münster 1997, der bezogen auf die „Entdeckung des Eigenen im Fremdreligiösen“ (219) Bezüge zwischen Otto und Hermann herstellt.
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Hinsicht religionswissenschaftlich interessant sein:³ Traditionell ist die Pilgeroder Wallfahrt ein elementarer Ritualbestandteil vieler Religionen, aber auch Reisende, die zu anderen Zwecken unterwegs sind, machen existenzielle, zu Religion affine Erfahrungen. Und – auch Religionswissenschaftler und Religionswissenschaftlerinnen reisen, sei es zu Forschungszwecken oder privat, was zur Methodenreflexion Anlass bieten sollte. Mannigfach liegen entsprechende schriftliche Zeugnisse vor, die sich als eigene literarische Gattung als Reiseliteratur fassen lassen, wenn diese auch historisch und kulturspezifisch durchaus variantenreich ist. Mal überwiegt der Ratgebercharakter mit praktischen Hinweisen, mal demonstriert ein Werk die Weltgewandtheit des Autors, mal dominiert ein literarisch-ästhetischer, mal ein dokumentarischer Schwerpunkt. In fast jedem Fall bieten solche Berichte jedoch, zwar konstruierte, aber doch ihre Leser einnehmende und u.U. vereinnahmende Einblicke in die Weltgegenden und Epochen, die Reisende besuchten. Aus deren Perspektive werden Lebensverhältnisse, Gewohnheiten unterschiedlicher Kulturen und nicht selten Facetten von Religionen plastisch. So scheint es zumindest. Immer wieder sind historische Reiseberichte wertvolle Quellen für die Religionsgeschichte, um überhaupt Kenntnis einer Religion in einer Epoche zu erhalten, etwa die Beschreibung buddhistischer Stätten Indiens durch den Chinesen Fa Xian um 400 oder al-Bῑrūnῑs Indienwerk aus islamischer Perspektive um 1000 n.Chr.⁴ Es reizt diese Zeugnisse näher zu untersuchen, und dies besonders angesichts des heutigen Standes der Otto-Rezeption. I.d.R. wird sein Konzept des universellen Heiligen aus guten Gründen kritisch betrachtet: Die Beschreibungen seiner mit dem Heiligen verbundenen Assoziationen sind schwer intersubjektiv nachvollzieh- oder empirisch verifizierbar, wie etwa Gregory Alles in seiner Darstellung der Otto-Rezeption bemerkt. Der hermeneutische Zugang über die Kant-Fries’sche Religionsphilosophie und die Kategorie der „Ahn(d)ung“ wurde kaum rezipiert, vermutlich weil sich bald darauf der Ansatz der Religionsphänomenologie durchsetzte, bis auch dieser hinterfragt wurde.⁵ Die Übertragbarkeit der Kategorie des Heiligen wurde später aus etymologischer Sicht stark angezweifelt, besonders
Bärbel Köhler, Die Reise als Thema der Religionsgeschichte, in: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 49 (1997), 1– 10 in Kooperation mit Christian Meyer, Die religiöse Reise, in: a.a.O. 11– 33. Bärbel Beinhauer-Köhler, Al-Bῑrūnῑ (973 – 1048) als Vorläufer der Religionswissenschaft, in: Religionswissenschaft im Kontext der Asienwissenschaften. 99 Jahre religionswissenschaftliche Lehre und Forschung in Bonn, hg.v. Manfred Hutter, Berlin 2009, 29 – 41. Vgl. Gregory D. Alles, Rudolf Otto (Anm. 1), 209.
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elaboriert durch Carsten Colpe, der nach Bedeutungen analoger Begriffe in diversen Sprachen suchte und kaum Überschneidungen fand.⁶ Überhaupt hat sich die Religionswissenschaft stark dem rein empirisch Greifbaren zugewandt, was bestimmte, für Otto noch gängige, methodische Zugänge und Materialausschnitte ausschließt. Exemplarisch, und schon auf das Kommende hindeutend, mag hierfür Jürgen Mohn herangezogen werden, der im Gebiet der Religionsästhetik über die Möglichkeiten der Erforschung europäischer Gartenanlagen aus Renaissance und Barock reflektiert. Aufbau der Parks und dahinter liegende Symboliken sind ein semiotisch äußerst gehaltvoller Zugang zu damaligen Weltanschauungen; ein methodisches Problem liege nach Mohn jedoch in der ganzkörperlichen Affiziertheit der Sinne auch der Forschenden, die als Parkbesucher einerseits nur durch Faszination zu ihrem Gegenstand kämen, dann aber womöglich nicht mehr ihrer sachorientierten Rolle gerecht würden. So kommt Mohn zu dem Schluss: „Vielleicht sollte der wissenschaftliche Interpret genau deswegen nicht den Garten selbst besuchen, begehen und erfahren wollen. Denn auch bei ihm könnte die implizierte Verwirrung unhintergehbare Interpretationsdefekte hervorrufen […]“.⁷ Diese Passage erscheint wie eine Replik auf Rudolf Ottos Diktum in dessen Werk Das Heilige (1917): Wer keine religiösen Gefühle kenne, mit dem ließe sich keine Religionsforschung betreiben.⁸ Wie ehemals Ottos Ansicht, Religionswissenschaftler müssten in jedem Fall religiöse Menschen sein, scheint auch die Forderung Mohns überzogen, sie müssten tunlichst jedwede Affektion durch den Gegenstand vermeiden. Obwohl auch der vorliegende Beitrag einem zeitgenössischen Forschungsansatz folgt und primär sachorientiert als „religiös“ zu umreißende Materialbestände beschreiben möchte, wäre ein erster Impuls die Falsifikation der Aussage Mohns. Denn die Verfasserin sucht als passionierte Reisende, Garten- und Parkbesucherin die Orte, vor denen Mohn warnt, regelmäßig auf und zieht zudem sowohl sachlichen als auch emotionalen Gewinn aus Texten der Gattung Reiseliteratur. Die geschilderten „Gefahren“ scheinen beherrschbar. Man möchte entgegenhalten, genau darin liegt der Reiz: Im SichAussetzen unbekannter Welten und ihrer Zeichenhaftigkeit, die Besucher wie Leser umfängt und u.U. affiziert; wobei gleichzeitig immer die Frage im Raum steht, ob hier rein subjektive Assoziationen entstehen oder ob „fremde“ Zeichen
Vgl. Carsten Colpe, „heilig (sprachlich)“, in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, hg.v. Hubert Cancic u. a., Bd. 3, Stuttgart 1993, 74– 80. Jürgen Mohn, Die Konstruktion religiöser Wahrnehmungsräume und der wissenschaftliche Blick, in: Religiöser Blicke – Blicke auf das Religiöse, hg.v. Bärbel Beinhauer-Köhler/Daria Pezzoli-Olgiati/Joachim Valentin, Zürich 2010, 59 – 82, hier 81. DH, 8.
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auch von einem Mitglied einer anderen Kultur und Zeit verstanden werden können, sei es beim Besuch der bestens erhaltenen altägyptischen Tempelruinen von Edfu, dem Hören einer buddhistische Sutrenrezitation oder der Lektüre einer tausend Jahre alten Reisebeschreibung. Dieser Spannung zwischen Verstehen des Fremden und Missverstehen und Fehldeuten soll nun systematisch nachgegangen werden. Um in der Reisemetapher zu bleiben: Leserinnen und Leser mögen sich mit auf ein unbekanntes Terrain begeben, zwischen einer Relektüre Ottos sowie mehreren Zitaten aus für unsere Frage interessanten Reiseberichten.
2 Ottos Rezeption des Begriffs der Ahnung Einschlägige Quelle zum Erfahrungskomplex von Gefühl und Ästhetik, der für Beschreibungen in Reiseberichten besonders aussagekräftig erscheint, ist Ottos Kant-Fries’sche Religionsphilosophie von 1909. Hier entfaltet er im Kapitel B.X die „Ahnungslehre“. Diese stellt, auf Fries zurückgehend, im Rahmen eines erkenntnistheoretischen Komplexes die mittlere Möglichkeit zwischen „Glauben“ an etwas rational völlig Unzugängliches und „Schauen“ i.S. von rationalem Wissenserwerb dar. Diese Möglichkeit der Ahnung manifestiere sich als ästhetisches Gefühl, das „[…] im Schönen und Erhabenen der Natur außer uns, sowie im Inneren des eigenen Lebens die ewige Güte ahndet“.⁹ Diese mittlere Erkenntnismöglichkeit hat Verbindungen zu beiden anderen Seiten: Beispielsweise der positive Gehalt rational zugänglicher Ideen tue sich erst im Öffnen der Schranken hin zum Gefühl auf, wobei manche Gefühle, nämlich solche mit Affinität zur Ratio, deutlich unterscheidbar seien. Oder: Mit Blick auf den Glauben könne man in der Andacht eine Größe wie Gott zwar nicht begreifen, aber doch erspüren.¹⁰ Die Dimension des Gefühls scheint der Schlüssel für den Erkenntnisgewinn durch Ahnung, das Gefühl ist in Ottos Lesart von Fries jedoch durchaus vielschichtig. Während manche Gefühle, s.o., deutlich in Begriffen darstellbar seien, entzögen sich andere der logischen Klassifizierung. Damit seien sie aber nicht vollkommen unzugänglich, sondern durchaus in ästhetischen Beschreibungen abbildbar.¹¹ Otto verweist beim Verdeutlichen von Fries’ Ahnungslehre auf Platos Konzept der Anamnesis: Der Zugang habe Ähnlichkeit mit dem Erinnern verborgener Ideen. Otto illustriert dies mit dem Fühlen von Erhabenheit oder des Wun-
Ungekennzeichnetes, vermutlich auf Fries zurückgehendes Zitat bei Rudolf Otto: KFR, 110. Vgl. KFR, 111 f. Vgl. KFR, 112.
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derbaren, was er explizit mit der Erfahrungswelt von Religionen abgleicht, die er in Affekte von „Begeisterung“, „Ergebung“ und „Andacht“ ausdifferenziert sieht.¹² Für unseren Kontext besonders aufschlussreich ist die Reflexion darüber, ob diese Gefühlswelten allgemein menschlich oder nur kulturspezifisch hervorzurufen seien. Otto entscheidet sich für eine Erahnbarkeit und Erweckbarkeit bestimmter Gefühlslagen als grundsätzliche menschliche Disposition, völlig unabhängig vom Lebensumfeld: „Wir blicken noch einmal auf unsern verkappten Künstler zurück: etwa einen Mozart, der unter Lappen oder Eskimos groß werden müßte. Würde einem solchen zum ersten Male Musik vorkommen, so würde, während sie seinen Mitlappen nur seltsame Geräusche sein würde, ihm dafür ein ihm selber unbegreifliches Verstehen dämmern, ein Ahnen dessen, was hier vorgeht, ein ‚Wiedererinnern‘ und Erkennen durch eigentümliche Gefühle des Wohlgefallens.“¹³
Im Folgenden reflektiert Otto über zwei ästhetische Eindrücke, den der Schönheit und den der Erhabenheit, die er als in sich vielfältig beschreibt, die Schönheit beispielsweise immer als ein Prinzip der Harmonie und Vollkommenheit im Zusammenspiel komplexer Einzelaspekte, die Erhabenheit als entweder räumlich-statisch überwältigend oder bewegt-dynamisch beeindruckend. In letzter Konsequenz fügt sich diese Auseinandersetzung mit Affekten dabei in ein theologisch und teleologisch ausgerichtetes Gesamtkonzept von Sein und Zeit: „Sie kommt überein in jenen drei Grundstimmungen des religiösen Gefühls: der Begeisterung, der Ergebung und der Andacht, und das Bewusstsein um ewige Bestimmung des Menschen, um Gut und Böse, Schuld und Verantwortung, endlich um den ewigen Sinn der Dinge selbst durch die weltwaltende Vorsehung macht ihre Tiefe aus.“¹⁴
Zusammengefasst: Das religiöse Gefühl und die Ahnung stehen zwischen Glauben und Wissen. Mittels seiner elementaren Muster und deren Versprachlichung liegt hier gewissermaßen ein „Medium“ vor, eine dem Menschen selbst sprachlich nicht mehr fassbare Dimension zumindest anzuzielen. Diese Beobachtung des Transfers ästhetischer und religiöser Gefühle in Sprache und deren Vermittlungsfunktion scheint immer noch bemerkenswert, ohne an dieser Stelle länger der Frage nachgehen zu können, ob ästhetische mit religiöser Erfahrung gleichsetzbar ist. Kurz gesagt ist für Otto in seiner Friesrezeption – die nebenbei auch eine intensive Auseinandersetzung mit Kant und Schleiermacher
Vgl. KFR, 114– 117. KFR, 117. KFR, 121.
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impliziert¹⁵ – das ästhetische Erfahren nicht nur eines, das nach anderen Gesetzmäßigkeiten als Logik und Ratio funktioniert, sondern es ist eines, das kulturübergreifend auch auf einen göttlich bestimmten Daseinssinn verweist. Nach heutigem religionswissenschaftlichem Diskussionsstand meint hingegen speziell Religionsästhetik die Erfahrung der Sinne, verbunden mit erlernten Zeichenkomplexen über die sich eine spezifische Religion verständigt. Es geht um Zeichen, die eine auch rational – über Mythen, Legenden, Rituale, Lebensvollzüge, Mental Maps – zu entschlüsselnde Kodierung erfahren. Hier liegen also sicherlich Unterschiede bezogen auf die erklärte Gültigkeit ästhetischer Zuschreibungen und den Willen, Aussagen über eine nichtmenschliche Sphäre zu machen. Reizvoll an Ottos Modell bleibt dabei seine Aufmerksamkeit für die Begrifflichkeit, für die Manifestation von Gefühlen in Sprache, was auch als Interpretament für Reiseberichte tauglich sein könnte. Denn gerade die von ihm so deutlich im Vordergrund stehenden Attribute der „Schönheit“ oder „Erhabenheit“, die Gefühlslagen der „Begeisterung“ oder der „Andacht“ sind solche, die sehr häufig im Vokabular von Reisenden auftauchen, und umso mehr, wenn diese als Fremde religiös konnotierte Stätten besuchen. Erneut stellt sich die Frage, wie weit sich hier – so die These Ottos – allgemein Menschliches ausdrückt oder diese Berichte samt ihrer Terminologie doch eher kulturspezifisch aufgelöst werden müssen. Versuchen wir dies anhand zweier Reiseberichten zu verfolgen.
3 Mit Ibn Ğubair in der Ḥusain-Moschee in Kairo Das erste Beispiel entstammt einem für die islamisch-arabische Literaturgeschichte wichtigen Reisebericht, dem des Ibn Ğubair (1145 – 1217), der, aus Andalusien stammend, in den 80er Jahren des 12. Jahrhunderts auf Pilgerfahrt nach Mekka ging. Den damaligen Reisemöglichkeiten und Gewohnheiten entsprechend wurde seine Pilgerfahrt zu einem Unterfangen von mehreren Jahren, das ihn nicht nur die heiligen Stätten, sondern auch kulturelle Zentren im Vorderen Orient bereisen ließ. Sein Bericht darüber, die sogenannte riḥla, „Reise“,wird als paradigmatisch für eine ganze Literaturgattung angesehen.¹⁶ So ist vieles, was er eindrucksvoll beschreibt, nicht nur als unmittelbarer Eindruck zu lesen, sondern kritisch auch nach seinem topologischen Stellenwert hin zu befragten. Ausgewählt wurde hier eine Passage, in
Siehe vorliegend etwa KFR, Anm. 1, 121 f. So u. a. Regina Günther im Vorwort der hier herangezogenen Übersetzung, Regina Günther (Übers.), Ibn Dschubair. Tagebuch eines Mekkapilgers, Stuttgart 1985, 10 f.; siehe auch Ian Richard Netton, Basic Structures of Alienation in the Rihla of Ibn Jubayr, in: Golden Roads: Migration, Pilgrimage and Travel in Medieval and Modern Islam, hg.v. Ders., Richmond 1993, 46 – 61.
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der der andalusische Reisende in der damaligen Weltstadt Kairo eine auch heute noch berühmte Moschee besuchte, die Saiyidnā-Ḥusain, die seit der fatimidischen Herrschaft die Reliquie des Hauptes des Prophetenenkels Ḥusain enthalten soll.¹⁷ In diesem Textfragment finden wir ästhetische Beschreibungen des Baus, ebenso wie eine Beobachtung eines schiitischen Rituals, das für den Sunniten Ibn Ğubair fremd war. Der Text wird in der Übertragung von Regina Günther zitiert, nebst kleinen eingeschobenen Verweisen. Bereits die verschiedenen Übersetzungsmöglichkeiten und Assoziationen beim sprachlichen Transfer machen den Vorgang der individuellen Imagination ästhetischer Eindrücke, hier beim Lesen und Übersetzen von Reiseberichten, deutlich: „Über ihm [d.h. dem Reliquienschrein] wurde ein kolossales [wörtlich „reichhaltiges“, ḥafῑl] Gebäude errichtet, so schön [ergänzt durch Regina Günther], dass man es kaum zu fassen vermag. Es ist ausgekleidet mit verschiedenen Arten von Seidenbrokat, umsäumt von Kerzen aus weißem Wachs, die wie große Säulen wirken. […] Silberne Leuchter hängen von oben herab, und der gesamte obere Bereich ist mit einer Art Äpfel in einer hervorragenden Ausführung ausgeschmückt. Dadurch entsteht der Eindruck eines Gartens [rauḍa], dessen Anblick uns durch seine Schönheit [ḥusn] und Anmut [ğamāl] fesselte. Innen wurden verschiedene Sorten von [ausgelassen: „marmoriertem, erstaunlichem“ [al-muğazzac al-ġarῑb] Marmor verwendet, der völlig unterschiedlich bearbeitet und zu verschiedenfarbigen Mosaiken zusammengesetzt wurde. […] Das Ganze ist so herrlich ausgelegt, daß das Vorstellungsvermögen versagt. Wer es zu beschreiben versucht, dem verschließen sich die Fähigkeiten einer auch nur schwachen Wiedergabe […]. Wir beobachteten Menschen, die das gesegnete Grab küßten, einen Ring darum bildeten, sich darüber beugten und mit den Händen die darüber liegende Hülle glatt strichen. Sie gingen rundherum, drängten sich, beteten und weinten, flehten Gott an, dass er den heiligen Staub segnen möge. Ihr Gebet war so demütig, daß es das Herz erweichte und dem Körper Schmerzen verursachte. Indessen – all dies gibt nur einen Bruchteil, einen Schimmer dessen wieder, was wir sahen; selbst ein Weiser vermag sich mit der Beschreibung nicht in angemessener Form zu beschäftigen. Auch er würde nur seiner Unfähigkeit und seiner Grenze gewahr werden […] ich kann mir kein erstaunlicheres [auch: „wundersameres“, acğab], kein schöneres Bauwerk vorstellen […].“¹⁸
Schauen wir auf die Formulierungen ästhetischer Eindrücke: Es fällt auf, dass Ibn Ğubair das kostbar ausgestattete Gebäude mit bestimmten Termini umschreibt: Es
Historisch ist dies ungewiss. Das Grab des 680 n.Chr. umgekommenen Prophetenenkels liegt eigentlich im irakischen Kerbela. In den Wirren der Kreuzzüge wurde Mitte des 12. Jahrhunderts eine Reliquie des Hauptes Ḥusains von Askelon nach Kairo verbracht, so die Ortslegende der Kairiner Ḥusain-Moschee. Siehe auch Heinz Halm, Die Schia, Darmstadt 1988, 20. Regina Günther, Ibn Dschubair (Anm. 16), 28 f. Arabische Edition: Ibn Ğubair, Riḥla, hg.v. Michael J. de Goeje, Leiden 21907, 45 f.
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ist „kolossal“, wie Günther übersetzt, wörtlich eigentlich „reich an“, ḥafῑl. Es ist, wie Günther einschiebt, so „schön“ (ğamῑl), dass man es kaum zu fassen vermag. Es ist kostbar ausgestattet mit edlem Seidenbrokat und Silber. Der Eindruck des Gartens wird durch „Schönheit“ (ḥusn) und „Anmut“ (ğamāl) gekennzeichnet. Für mit der Kultur vertraute Leser klingt mit der folgenden Metapher des Gartens (ar-rauḍa) im Kontext der Moschee auch die Vorstellung eines Paradiesgartens an. Mit dem deutschen Wort „Garten“ lassen sich diverse arabische und persische Begriffe übersetzen, der hier verwendete hat eine Konnotation von „Paradiesgarten“ und erinnert an eine bekannte Überlieferung, in der der Prophet Muḥammad den „Garten“ neben seinem Grab als zu bevorzugenden Gebetsplatz für diejenigen bezeichnet, die wünschen in die Paradiesgärten (pl. riyāḍ) zu gelangen.¹⁹ Die verwendeten Begriffe rund um Ästhetik, Schönheit und Unbeschreibbarkeit der Eindrücke folgt kulturellen Prägungen und ästhetischen Reflexionen im weiteren Feld islamischer Theologie. So existiert ein Set von Begrifflichkeiten, die gängiger Weise positiv konnotierte visuelle Erfahrungen zum Ausdruck bringen. Zu diesem Set zählen wie hier Termini wie ğamāl oder synonym ḥusn, die „Schönheit“, ebenso wie Begriffe, die die Größe, Kostbarkeit, Harmonie und Geometrie von Gebäuden umreißen. Dabei schwingen Glaubensvorstellungen mit, die von mathematisch berechneter Architektur als Abbild des von Allah harmonisch gestalteten Kosmos ausgehen. Insbesondere der Theologe und Mystiker alĠazālῑ (gest. 1111) verband das Konzept der göttlichen Schöpfung und das Vermögen von Künstlern, ästhetisch an göttliche Urbilder zu erinnern.²⁰ Dem ist trotz des Anachronismus Ottos Konzept von versprachlichtem Gefühl als Ausdruck des Unendlichen nicht unähnlich, denn in beiden Fällen sind der Ausdruck sowie die Erfahrung von „Schönheit“ an eine göttliche Quelle rückgebunden. Dabei fallen drei Passagen im Zitat auf, in denen Ibn Ğubair seine Beschreibung als unvollkommen benennt, weil die ästhetischen Eindrücke auf eine Dimension verweisen, die sich nicht mehr begreifen lasse „[…] so schön, daß man es kaum zu fassen vermag“, heißt es eingangs vom Gebäude. Die Ausstattung sei so herrlich „[…] daß das Vorstellungsvermögen versagt“. Die Passage kulminiert im Verweis auf den Weisen, dem keine angemessene Beschreibung des Baus gelänge. – Vor allem diese letzte Passage ist allerdings ein Indiz dafür, dass hier nicht mehr der Autor seine unmittelbaren Eindrücke zum Besten gibt, sondern literarische Topoi zum Tragen kommen, die natürlich nicht beliebig, sondern an sinnvoller Stelle eingebaut sind: Nur der Weise, d. h. der, der über rationales Die reichhaltigen Assoziationsmöglichkeiten dieses in Literatur, Architektur und Miniaturmalerei ausgiebig variierten Motivs werden besonders deutlich in: Der islamische Garten. Architektur – Natur – Landschaft, hg.v. Attilio Petruccioli, Stuttgart 1995. Bärbel Beinhauer-Köhler, Gelenkte Blicke. Visuelle Kulturen des Islam, Zürich 2012, 133 – 138.
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Wissen hinaus weitere Dimensionen versteht, vermöchte dieses und jenes zu beurteilen oder beschreiben, ist eine Formel, die auch Lesern von 1001 Nacht vertraut ist. Die Gattung Märchen zeichnet sich dadurch aus, dass das Alltagsgeschehen durch wundersame Geschehnisse durchbrochen wird. Im Hintergrund des Topos des nur wenigen Menschen zugänglichen weisheitlichen Wissens steht die Vorstellung von „Allah, dem absolut Wissenden“, allāhu aclam. Auch das Wunderbare, das wie später bei Otto an religiös konnotierte „Wunder“ erinnert, findet sich im arabischen Vokabular, vor allem in zwei Begriffen, die Staunenswertes und Wundersames kennzeichnen, wobei der erste, hier auf den besonderen verwendeten Marmor bezogene Terminus ġarῑb eher Staunen im Sinne von Befremdung markiert, wohingegen die zweite gegen Ende der Textpassage hervorgehobene Formulierung, es gäbe kein „erstaunlicheres“ (acğab) Gebäude, „wundersam“ im Sinne eines positiv konnotierten Staunens meint. Man könnte all dies im Kontext religiös konnotierter Begrifflichkeiten wahrnehmen, die sicherlich die Sprache und Vorstellungswelt des arabischen Reisenden beeinflusst haben. Allerdings: Liest man arabische Reisebeschreibungen anderer Großstädte der damaligen arabischen Welt, über Palermo, Bagdad oder Damaskus, so finden sich sehr ähnliche Formulierungen mit Termini von Schönheit und Erhabenheit, die – pragmatisch heruntergebrochen – generell auf die hohe Dichte prägnanter Architektur in diesen damals reichen Städten hinweisen und so vermutlich nicht immer unmittelbarer Ausdruck religiös konnotierter Gefühle sind. Auch muss betont werden, dass wir bei Ibn Ğubair nur implizite Gottesverweise in Form von Anspielungen finden, die nicht notwendig als solche zu lesen sind. Bemerkenswert ist darüber hinaus die Beobachtung der Besucher des Reliquienschreins. Hier könnte Ibn Ğubairs Beschreibung emotionaler Ergriffenheit bei gleichzeitiger Markierung einer Außenperspektive ein Indiz dafür sein, dass er, sowohl als Sunnit als auch als Mitglied der Oberschicht, nicht an diesem volksreligiös geprägten Ritual teilnahm. Aber er bekennt offen, dass er für die Gläubigen, die hingebungsvoll den Schrein berühren und küssen, große Empathie spürt. Dies könnte auch ganz anders sein. Immer wieder distanzieren sich Sunniten oder Gebildete von populären Berührungskulten, so etwa Usāma ibn Munqiḏ (gest. 1188) von einem Kult in einer Höhle in Jordanien oder auch al-Bῑrūnῑ (gest. 1048) bei seiner Beschreibung indischer Ritualpraxis in Parallele zu islamischer Volksfrömmigkeit.²¹ Die Aussage, dass seine Beobachtung der Schiiten in
Gernot Rotter (Übers.), Usâma Ibn Munqidh. Ein Leben im Kampf gegen Kreuzritterheere, Lenningen 2004, 33; Gotthard Strohmaier (Übers./Hg.), Al-Bῑrūnῑ. In den Gärten der Wissenschaft, Leipzig 1991, 167. Siehe auch Bärbel Beinhauer-Köhler, Al-Bῑrūnῑ (Anm. 4).
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Kairo Ibn Ğubair geradezu Schmerzen verursachte, könnte als Ausdruck einer Erfahrung emotionaler Teilhabe gewertet werden. In heutiger Terminologie könnten wir so etwas beispielsweise als ein Präsenzerlebnis fassen. In späterer Otto’scher Terminologie ließe sich an ein mysterium tremendum denken. Auch seine oben aufgeführten Kategorien von „Begeisterung“ und „Andacht“ ließen sich in etwa auf das Beschriebene anwenden, zwar sind sie wenig ausdifferenziert, aber sie lenken den Blick überhaupt auf Gefühlslagen religiöser Praxis ebenso wie mögliche Emotionalität bei deren Beobachtung.
4 Sophia Poole zu Besuch in der Ḥusain-Moschee Es gibt eine Fülle von Editionen von Reisebeichten über Kairo, und dem mittelalterlichen arabisch-islamischen Reisenden soll ein sehr viel jüngerer Bericht zur Seite gestellt werden, in dem eine Dame den gleichen Ort besuchte. Sophia Poole (1804 – 1891) war die Schwester des berühmten britischen Orientalisten Edward William Lane, der in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts in Kairo lebte und der eine ethnographische Beschreibung des dortigen Lebens hinterließ.²² Weniger bekannt ist, dass seine Schwester ihm den Haushalt führte und Briefe ihrer Erlebnisse nach England sandte, die bereits in den 1840er Jahren publiziert wurden. Diese liegen nun in einer Neuedition vor. Sophia Pooles Beschreibung der ḤusainMoschee ist in diesem Fall interessant, weil sie mit der Haltung einer wohlwollenden Besucherin kam und sehr ähnliche Eindrücke schildert wie Ibn Ğubair. Der Bruder Lane hingegen beschrieb die Moschee im Kontext religiöser Festes und war vor allem von überraschenden und in seiner Wahrnehmung erotischen Begegnungen mit Ägypterinnen im Gedränge um den Reliquienschrein beeindruckt, der Bau wird von ihm weniger erwähnt.²³ Seine Schwester jedoch schreibt: “Passing through this hall, I found myself in that holy place under which the head of the martyr El-Hosein is said to be buried deep below the pavement. It is a lofty square saloon, surmounted by a dome. Over the spot where the sacred relic is buried, is an oblong monument, covered with green silk […] the whole scene was most imposing. The pavements are exquisite; some of virgin-marble, pure and bright with cleanliness, some delicately inlaid: and the whole appearance is so striking, that I am persuaded if a stranger were to visit the shrine of El-Hoseyn alone, he would never believe that El-Islam is on the wane.”²⁴
Edward William Lane, An Account of the Manners and Customs of the Modern Egyptians, London 51860. Vgl. a.a.O. 431. Sophia Poole, The Englishwoman in Egypt, hg.v. Azza Kararah, Kairo/New York 2003, 77.
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Auch sie ist von der Gestalt und Kostbarkeit des Baus hochgradig beeindruckt, die Szenerie sei „most imposing“, die Böden „exquisite“, „pure“, „bright“, „delicately inlaid“, der gesamte Bau sei „striking“. Im Detail hebt sie ähnliche Elemente wie Marmorintarsien und Textilien hervor wie schon Ibn Ğubair. Bemerkenswert ist, dass sie im Gegensatz zu Ibn Ğubair im europäischen Sprachduktus ihrer Zeit mehrfach explizit von Sakralität spricht, vom „holy place“ und der „sacred relic“. Hier ließen sich terminologische Parallelen z. B. zu den Texten Friedrich Max Müllers ziehen, der in Oxford wenige Jahrzehnte später unter Verweis auf religionsübergreifend anzutreffende „Sakralität“ die neue Disziplin der vergleichenden Religionswissenschaft (science of religion) begründete.²⁵ Auch Rudolf Otto repräsentiert einen vergleichbaren Zugang. Für Sophia Poole ist allein das Bauwerk ein Indiz für die lebendige Kraft der ganzen Religion, von der sie sich offenbar über den Bau affiziert fühlt, wenn sie gegen Ende schreibt, man würde bei Betrachten des Bauwerks nicht glauben, dass der Islam insgesamt auf dem Rückzug sei, „El-Islam is on the wane“, was offenbar der damaligen kolonialen Zuschreibung entsprach. Auch sie zeigt sich, wie schon zuvor Ibn Ğubair, in ihren Folgeausführungen von der frommen Hingabe der Schreinbesucher ergriffen. Beide Ortsbeschreibungen folgen in dieser Hinsicht genau dem gleichen Schema zunächst der Raumund dann der Ritualschilderung: “[…] and one woman kissed the screen with a fervour of devotion which interested while it grieved me. For myself, however, I can never think of the shrine of El-Hoseyn without being deeply affected by reflecting upon the pathetic history of that amiable man, in whom were combined, in an eminent degree, so many of the highest Christian virtues.”
In ihrer Beschreibung wird sehr plastisch die Ambivalenz ihrer Rolle greifbar: Sie beobachtet den Berührungskult einerseits sachlich interessiert und ist gleichzeitig auch emotional bewegt. Ebenso wie bei Ibn Ğubair ist dies ein Affekt des Schmerzes, was sich eventuell aus der in der Schia kultivierten Trauer um Ḥusain erklärt. Bemerkenswert ist der Abgleich mit ihrer eigenen Religion, an die sie die Ḥusain-Legende in starkem Maße erinnert. Sie sieht sich „deeply affected“, da Ḥusain, „that amiable man“, nach schiitischer Auffassung einen Opfertod starb, der für das gesamte Kollektiv heilsstiftend ist, in gewisser Analogie zum Kreuzesgeschehen²⁶ oder zumindest in Analogie zu christlichen Märtyrerlegenden. So
Friedrich M. Müller, Chips from a German Workshop, Volume I, London 21868, XIX-XXXV. Über die Verdichtung der soteriologischen Vorstellungen um Ḥusains Tod, die auch Parallelen zum Konzept des Kreuzestodes Christi aufweisen, reflektiert u. a. Heinz Halm, Die Schia, München 1994, 31. Er sieht allerdings alte orientalische Bußrituale für einflussreicher an.
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schreibt sie Ḥusain „highest Christian virtues“ zu. Man kann dies als eine ungefragte Inklusivierung lesen, als eine interpretatio christiana, aber auch als eine Öffnung hin zum hier schiitischen Islam, dem sie zugesteht vergleichbare Werte und Ideale zu transportieren, wie ihr selbst wichtig sind.
5 Die Weiterentwicklung eines Forschungskomplexes um religiöse Gefühle und Sprache Die Auswahl zweier Reiseberichte aus unterschiedlichen Epochen, von Reisenden anderen religiösen Hintergrunds und differierenden Geschlechts birgt Optionen, aber auch Probleme. Ungünstig ist der Eindruck, der sich im Sinne einer älteren Verstehenden Religionswissenschaft in einer Linie von Otto bis hin zu Mircea Eliade aufdrängen könnte: Es sei eben „das Heilige“, welches sich über die Jahrhunderte hinweg am Ort manifestiere und als solches immer ähnliche Eindrücke und Beschreibungen evoziere. Die Parallele könnte viel eher eine ganz pragmatische Erklärung haben: Beide britischen Geschwister waren des Arabischen mächtig. Es wäre nicht überraschend, wenn auch Sophia Poole in Hülle und Fülle existente klassische Reiseliteratur zu Kairo, von Ibn Ğubair ebenso wie dessen Nachahmern, gekannt hätte. Bewusst oder unbewusst könnte sie ihren eigenen Besuch in der Moschee nach solchen Mustern dargestellt haben. Vermutlich lenkt sogar die Kenntnis älterer Beschreibungen die Aufmerksamkeit einer Besucherin bereits im Vorfeld des Betretens einer Stätte. Bei dieser Gelegenheit wird nicht nur das Spannungsfeld von Gefühl und dessen Versprachlichung, von dem Otto schreibt, deutlich, sondern noch dazu der mediale Transfer von einem ersten möglichen Gefühlseindruck hin zu dessen Ausdruck, und dies in Form eines literarischen Textes. Interessant ist bei beiden, einem Muslim und einer Christin, die Affinität der beschriebenen Gefühle zur Sinnprovinz „Religion“, obwohl beide nicht kamen, um selbst religiös zu partizipieren, sondern in einer Rolle als „touristische“ Besucher. Für Ibn Ğubair stehen bei der Baubeschreibung Paradiesassoziationen im Raum, für Sophia Poole ist dieser Ort ohne Frage ein heiliger Ort. Bemerkenswert und wohl zunächst überraschend ist aber, dass Ibn Ğubairs entsprechende Formulierungen eher implizit religiöse Begründungen assoziieren lassen, während Poole stärker explizit von „Heiligkeit“ spricht. Geläufige Vorannahmen würden hingegen bei einem Muslim, und besonders einem des „Mittelalters“, eine Herangehensweise erwarten lassen, bei der er sich als Teil eines holistisch vom Islam umfangenen Kollektivs zeigen sollte. Wir sehen an diesem Beispiel jedoch, dass
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„der Islam“ so vermutlich nie funktioniert hat, auch hier gab es eine bis ins Individuelle reichende Vielfalt von emischen und etischen Perspektiven; ein Muslim geht nicht nur in eine Moschee, um zu beten, sondern eventuell auch, weil er kultur- und kunsthistorisch interessiert ist. Gleichfalls interessant ist in diesem Zusammenhang die religionsübergreifende Parallele der Reaktion von Besucher und Besucherin: Beide können sich bei der Beobachtung des Gebets am Schrein nicht empathischer Regungen entziehen, und dies obwohl sie beide als Fremde kommen. Im Zusammenspiel der Eindrücke und Emotionen innerhalb eines größeren, von verschiedenen sozialen Gruppen – unmittelbaren Nutzern und sonstigen Besuchern – besuchten Sakralbaus, weichen in Fällen wie dem vorliegenden die gängigen Religionszugehörigkeiten teilweise auf. Dies erinnert durchaus auch an Ottos eingangs zitiertes Erlebnis in der Synagoge in Marokko. Um abschließend den Wert von Ottos Ausführungen zur „Ahnung“ für Reiseberichte zu ermessen: Es bleibt ein Wagnis, Ottos Konzept überhaupt heranzuziehen, angesichts der grundlegend verschiedenen Prämissen von fast hundert Jahren Diskursgeschichte. Otto geht nicht von kulturell variierenden Zeichensystemen und damit zusammenhängenden Gefühlssets aus, sondern von einem göttlichen Ursprung und Ziel des Daseins, was auf die individuelle Wahrnehmung kulturübergreifend und heilsgeschichtlich wirkt. Dennoch: Anregend ist sein Konzept von dem Moment an, wo unmittelbare Auslöser für Affekte und deren Versprachlichung ins Spiel kommen. Seine Überlegungen zur „Ahnung“ geben den nicht einfach abzusteckenden Grenzbereichen des intersubjektiv Greifbaren Ausdruck. Die Welt der religiösen Gefühle jedoch als Konsequenz dieser Schwierigkeiten auszusparen, würde der Forschung keinen Dienst erweisen. Otto verweist uns zurück zum Stellenwert der Gefühle sowie Konventionen ihrer Äußerung. Der derzeitige Aufschwung von Arbeiten zur Religionsästhetik, zu sinnlichen Erfahrungsmöglichkeiten und ihren Kodierungen, ist Teil einer auch ohne Rekurs auf Otto aktuellen breiteren Interessenlage. Die Analyse von Reiseberichten als religionshistorische Quellen fordert darüber hinaus geradezu ein methodologisches und begriffliches Instrumentarium, das uns besser in die Lage versetzen könnte, die verschiedenen Ebenen der Emotionalität von Reisenden zu unterscheiden: typische Auslöser von Affekten wie hier beispielsweise Architektur und Ritual, ebenso wie individuelle Situationen der mehr oder weniger gegebenen Teilhabe, kulturelle Muster der Versprachlichung sowie literatur- oder kulturgeschichtliche Kontexte deren Medialisierung. Dabei ist nicht zuletzt nach der
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Rolle der Forschenden und ihren Gefühlswelten selbst zu fragen, sowie der gängigen Repräsentation dessen in religionswissenschaftlichen Texten.²⁷ Hierbei scheint, auf Jürgen Mohn zurückkommend, ernsthafte Forschung durchaus in der Lage, diese kulturellen Besonderheiten zu rekonstruieren, allein aus dem Wissen heraus, dass auch die eigenen Erfahrungen von Forschenden kontextuelle Momentaufnahmen darstellen und als solche dekonstruiert werden können. Ich selbst war wie Edward Lane als Teil einer großen Besucherschar in der Moschee und erinnere mich wie er weniger an deren Architektur als an das tumultöse Gedränge. Dies war Anfang der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, bevor eine aktuell bestehende Geschlechtertrennung eingeführt und der Umlaufkult beendet wurde. Bei solcher Gelegenheit wird, spätestens beim Vergleich mit anderen Reiseeindrücken, deutlich, dass auch die zufällige und persönliche Besuchssituation für eine spezifische Wahrnehmung verantwortlich zeichnet. Sich dem auszusetzen, bringt auch einen Erkenntnisgewinn mit sich.
An dieser Stelle kann generell auf die Methodenreflexion der Ethnologie verwiesen werden, die im Kontext von Feldforschungen Vergleichbares leistet.
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Rudolf Ottos globales Netzwerk und der Religiöse Menschheitsbund 1 Einleitung 1.1 Ausgangspunkt und Thema Thema dieses Beitrags ist Rudolf Otto und sein globales Netzwerk. Zunächst möchte ich kurz erklären, wie ich zu diesem Thema kam. Für meine Dissertation, die sich mit der Fachgeschichte der Religionswissenschaft in der Zwischenkriegszeit befasst,¹ wählte ich Rudolf Otto als zentrale Figur. Während meiner Archivarbeit an seinem Nachlass in der Religionskundlichen Sammlung in Marburg erkannte ich, dass Rudolf Otto sich in den zwanziger Jahren sehr aktiv für eine interreligiöse Organisation einsetzte, welche er den Religiösen Menschheitsbund nannte. Ausgangspunkt dieses Beitrages soll zunächst die Betrachtung einiger Zukunftsbilder aus der Zeit vor ungefähr 100 Jahren sein. Welche Vorstellungen und Träume über unsere gegenwärtige Zeit entwickelten die Menschen in Europa um das Jahr 1910? Ein Buch mit dem Titel Die Welt in 100 Jahren, ² auf welches ich kürzlich stieß, vermittelt hiervon einen Eindruck. Experten aus den verschiedensten Fachbereichen sinnierten darüber, welchen Weg die Welt im Jahr 2010 mit einiger Wahrscheinlichkeit gegangen sein könnte, wobei aus heutiger Sicht mit einigen Vermutungen recht behalten wurde, mit anderen jedoch überhaupt nicht. Auffallendes Merkmal dieses Buches ist der fortschrittsgläubige Optimismus in Bezug auf die zu erwartenden wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen, der darin den Ton bestimmt. Gerade das Kapitel „Welt und die Religion“ zeigt, dass bereits damals der Wunsch nach Religionsfrieden und Völkerfrieden durchaus präsent war, auch wenn er nicht von allen geteilt wurde. In diesem Zusammenhang können wir nun auf Rudolf Ottos Vision für die Welt aufmerksam machen. Am Beispiel Rudolf Ottos und vier weiterer Persönlichkeiten seiner Zeit in Asien möchte ich aufzeigen, auf welche Weise Ottos Ideen und seine Vision Deutschlands und der Welt zu Beginn der zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts zwischen ihnen ausgetauscht und weiterentwickelt wurden. Im Die Dissertation wird im Jahr 2013 unter dem Titel Religion als „Weltgewissen“. Rudolf Ottos Religiöser Menschheitsbund und das Zusammenspiel von Religionsforschung und Religionsbegegnung nach dem Ersten Weltkrieg im LIT-Verlag veröffentlicht. Die Welt in 100 Jahren, hg.v. Arthur Brehmer, Hildesheim 2010 (Erstausgabe 1910).
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Zentrum meiner Untersuchung steht der Religiöse Menschheitsbund, der unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg von Rudolf Otto ins Leben gerufen wurde. Ich wählte diese interreligiöse und interkulturelle Organisation als Hauptuntersuchungsgegenstand dieses Beitrags, da sich in dieser seine politischen, religiösen und wissenschaftlichen Visionen miteinander verbanden. Otto wollte durch den Religiösen Menschheitsbund seine wissenschaftliche Tätigkeit, sein religiöses Interesse und seine realpolitische Erfahrung aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg miteinander in Einklang bringen.
1.2 Quellen und Methoden: Die Korrespondenz und die Analyse von Rudolf Ottos Netzwerk Rudolf Otto veröffentlichte in den zwanziger Jahren einige Artikel über den RMB in einer Reihe von Zeitschriften. Dadurch ist das Wissen um Konzept und Ziel seines Bundes bereits seit einiger Zeit bei den Rudolf-Otto-Forschern vorhanden. Ich habe die Korrespondenz im Nachlass Rudolf Ottos für die Zeit der zwanziger und dreißiger Jahre näher erforscht. Dadurch habe ich einige wichtige Korrespondenzpartner Rudolf Ottos und weitere Namen, die in den Briefen über den RMB erwähnt wurden, ausfindig gemacht. Daraufhin untersuchte ich die Schriften und Biographien dieser Menschen, um ihre Gedanken und Aktivitäten im Zusammenhang mit Rudolf Otto und dem RMB zu rekonstruieren. Der vorliegende Beitrag basiert auf den Erkenntnissen aus diesen Quellen wie Briefkorrespondenz, Biographien, Schriften und Broschüren vor allem aus den zwanziger Jahren.
1.3 Gliederung Ich erläutere zunächst Ottos Plan für den Religiösen Menschheitsbund anhand der von ihm verfassten Zeitschriftenartikel. Dann vergleiche ich sein Konzept mit denen jener vier weiteren Personen, die in Ottos Briefen Erwähnung finden und ihrerseits ähnliche Pläne entwickelt hatten. Abschließen werde ich mit meinen Schlussfolgerungen, die ich aus meinen Beispielen gewonnen habe.
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2 Rudolf Ottos globales Netzwerk anhand des Religiösen Menschheitsbundes 2.1 Rudolf Otto und der RMB Zunächst gehe ich auf Rudolf Ottos Konzept des RMB ein. Otto verließ nach dem Ersten Weltkrieg die realpolitische Bühne und plante die Entwicklung einer interreligiösen Organisation auf internationaler Ebene. Der Religiöse Menschheitsbund wurde bald, im Jahre 1921, nach einem Entwurf Ottos gegründet. Diese Aktivität wurde genährt aus dem Krisengefühl nach dem Ersten Weltkrieg,welches die nach dem Weltkrieg zersplitterte Welt erfasst hatte. Rudolf Otto versuchte als Alternative zu und Ausweg aus dieser Situation, in den Begegnungen der Träger und Angehörigen der verschiedenen religiösen Traditionen neue Zukunftsperspektiven entstehen zu lassen. Der Name ‚Religiöser Menschheitsbund‘ entstand analog zur Bezeichnung ‚Völkerbund‘. Der RMB sollte nach Ottos Meinung „neben“ dem Völkerbund an der Lösung der gemeinsamen Probleme der Welt nach dem Ersten Weltkrieg arbeiten. Während der Völkerbund aus Ottos Sicht eine politische Organisation darstellte, die vor allem den Interessen der herrschenden Staatsmänner diente, sollte der RMB allein dem Wohl der Völker verpflichtet sein. „Die gemeinsame Not der Völker von heute wird sie, so hoffen wir, endlich lehren, was Religion und Ethik sie längst hätten lehren sollen: dass die Menschheit aller Länder und Völker sich besinnen muss auf Zusammengehen, auf gemeinschaftlich zu leitende große Gemeinschafsaufgaben, auf friedlichbrüderliches Zusammenwirken und -streben. Politischer Zusammenschluss allein kann das nicht leisten. Auch nicht der politische „Völkerbund“, der sich jetzt vorbereitet. […] Man frage sich,was es bedeuten würde,wenn etwa alle drei Jahre die Vertreter der einzelnen Völker-Gewissen, wenn führende und einflussreiche Vertreter und Abgesandte der Kirchen aller Welt im Angesichte der Welt zusammentreten, die großen Menschheitsanliegen gemeinsam verhandelten, das verbundene Menschheits-Gefühl persönlich darstellten und den Willen zur Menschheits-Gemeinschaft immer aufs Neue vermehrt in ihre Heim-Kreise zurücktrügen. Hier würde sich mit der Zeit ein Forum selber gestalten können, das unabhängig von diplomatischen Kämpfen und Bindungen die Fragen öffentlicher und zwischenstaatlicher Moral, die sozialen und die kulturellen Gemeinschaftsfragen der Völker, die unvermeidlichen Gegensätze der Völker untereinander und die Mittel und Wege, sie auszugleichen, die Arbeiter-, Frauen-, Rassenfragen, die zahllosen Dinge, die erst ins Völker-Gewissen geschoben werden müssen, ehe sie Völkerrecht werden können, verhandelte.
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Und es würde ein natürlicher Appellhof werden für gedrückte Minderheiten, Schichten, Volkschaften, die hier ihren Schrei nach Recht ins Weltgewissen rufen könnten, wenn ein Völkerbund sich weigern würde, ihn anzuhören.“ ³ Nach Ottos Entwurf sollten die Vertreter der großen und auch der kleinen religiösen Gemeinschaften der Welt einander begegnen, über die gemeinsamen Probleme der Menschheit diskutieren und auf dieser Grundlage anschließend auf die Weltpolitik einwirken. Als Ziele des Menschheitsbundes formulierte er die „Verwirklichung gemeinmenschlicher sittlicher Ziele unter der leitenden Idee der Gerechtigkeit und des guten Willens.“⁴ Ziel Ottos war es schließlich, das Bewusstsein der moralischen Verantwortung der Religionen zu wecken und sich um die Erneuerung der jeweiligen Gesellschaft anhand von Religion und Moral zu bemühen. Auf diesem Wege sollte ein „Weltgewissen“ bzw. „Menschheitsgewissen“ entstehen. Dieses wiederum sollte eine Grundlage dafür bieten, gemeinsame sittliche Ziele zu verwirklichen. Getragen wurde der Religiöse Menschheitsbund maßgeblich von einer Reihe pazifistisch gesinnter Wissenschaftler und Religionsangehöriger Europas. Otto plante, den Bund über die Ränder Europas hinaus zu heben und zu einer Organisation mit weltweiter Bedeutung und Verankerung zu entwickeln, daher suchte er nach zahlreichen Kontakten zu Gelehrten und religiösen Autoritäten bzw. Führungspersönlichkeiten in Gebieten außerhalb Europas, z. B. in Indien und Japan. Dies war wesentlicher Bestandteil seines idealistischen Ansatzes zur Bewältigung und Lösung der sozialen Probleme, mit denen sich die gesamte Menschheit nach dem Ende des Großen Krieges konfrontiert sah, und er teilte diesen Ansatz mit weiteren Schlüsselfiguren der Religionsforschung sowohl innerhalb Deutschlands als auch darüber hinaus in Europa, welche an dieser Gemeinschaft der Religionen teilnahmen. Die Erfahrungen mit dem Krieg machten Otto die Notwendigkeit der Zusammenarbeit der Nationen deutlich, aber die stabilste Grundlage für diese Kooperation sah er gerade in der internationalen Arbeit der religiösen Organisationen. Seine religionsgeschichtlichen Erkenntnisse und sein Religionsverständnis dienten ihm als praktisches Hilfsmittel, Menschen dazu zu ermutigen, in den Religionen ein vielfältiges Mobilisierungspotential auf gesellschaftlichem und sittlich-moralischem Gebiet zu suchen und zu finden. Denn als Optimist und
Rudolf Otto, Religiöser Menschheitsbund neben politischem Völkerbund, in: Die Christliche Welt 34, Heft 9 (1920), 133 – 135, hier 133. Mehr über Ottos Entwurf für den RBM siehe: Vom Religiösen Menschheitsbunde, in: Die Christliche Welt 34, Heft 30 (1920), 477– 478; Ders., Religiöser Menschheitsbund, in: Deutsche Politik. Wochenschrift für Welt- und Kultur-Politik 6, Heft 10 (1921), 234– 238; Ders., Ein Bund der guten Willen in der Welt, in: Die Hilfe 13 (1921), 205 – 208. Rudolf Otto, [Art.] Menschheitsbund, Religiöser, in: RGG2, Bd. 3, Tübingen 1929, 2122.
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Idealist glaubte er an die Wirkung moralischer Überlegenheit für eine Verbesserung der dominierenden weltpolitischen Meinungen in seinem Sinne. Die internationalen Aktivitäten Ottos, sein Auftreten als Vermittler zwischen Europa und anderen Teilen der Welt, stehen in meinem Beitrag in einem neuen Blickfeld. An ihnen werden zugleich das Potential wie auch die Grenzen der globalen Perspektive der damaligen Wissenschaftler Europas erkennbar. Während seiner Weltreise von Nordafrika über die arabische Welt nach Süd- und Ostasien machte er mit vielen Wissenschaftlern, Sozialreformern und Religionsführern vor Ort Bekanntschaft. Diese Begegnungen mit nicht-europäischen Wissenschaftlern und deren jeweiliger religiöser Kultur, die sich bei seinen Reisen ereigneten, ermöglichten es ihm, Religion aufgrund eigener Erfahrungen aus nicht-europäischchristlichen Perspektiven zu verstehen. Daraus folgt, dass seine vergleichende Religionsforschung, etwa die Gegenüberstellung des Christentums und der indischen Religionen beziehungsweise des Buddhismus, ohne seine direkten Berührungen mit außereuropäischen Kulturen in dieser Form nicht möglich gewesen wäre. Die weltweite Vernetzung mit Wissenschaftlern und religiösen Persönlichkeiten eröffneten ihm Wege, den Religiösen Menschheitsbund zur internationalen Organisation erweitern. Unter den Persönlichkeiten aus akademischen und religiösen Bereichen, die zu Ottos Bekanntschaftskreis gehörten, gab es einige, die zu Beginn der zwanziger Jahre ähnliche Projekte verfolgten. Exemplarisch möchte ich die folgenden vier Personen anführen.
2.2.Richard Wilhelm (1873 – 1930) und das Pekinger Orient-Institut Richard Wilhelm war ein überaus bekannter Sinologe, der chinesische Klassiker aus dem Bereich des Konfuzianismus und Daoismus ins Deutsche übersetzte. Er plante, in China ein „Pekinger Orient-Institut für die internationale wissenschaftliche, kulturelle und religiöse Verständigung (Dongfang Xueshi)“ ins Leben zu rufen. 1921 schrieb Wilhelm in einer Programmbroschüre: „Was können wir tun, um die Verwicklungen zu vermeiden, denen die Menschheit aus gegenseitigem Missverstehen und aus dadurch veranlasstem Misswollen ihrer wichtigsten Kulturkreise aufs neue entgegenzutreiben droht? […] Wenn diese Forderungen jeden einzelnen, der mit Angehörigen anderer Menschheitskreise zu verkehren hat, ganz allgemein vor die Aufgabe stellen, diesen Verkehr taktvoll und wertvoll zu gestalten, so ist außerdem noch ein entschiedenes Bedürfnis vorhanden nach Unternehmungen, die sich die Vermittlung der wirtschaftlichen, kulturellen und
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religiösen Beziehungen zwischen den einzelnen Kulturnationen zur besonderen Aufgabe machen. […] Es wäre von besonderer Wichtigkeit, wenn in Peking, dem alten Sitz chinesisch-orientalischer Kultur, ein Institut ins Leben gerufen werden könnte, dessen Zweck es ist, die Menschen aus den brandenden Wogen des Kulturchaos in Höhen des Lebens zu führen, wo gegenseitige Verständigung und guter Wille sich bestätigen können. Dieses Institut müsste auf einer Organisation beruhen, die ihre Fäden über alle Kulturnationen erstreckt, denen ein solches Ziel als wünschenswert erscheint. Denn nicht um Reklame zur Förderung nationaler Sonderinteressen kann es sich dabei handeln, sondern um die Anbahnung freundschaftlicher Beziehungen unter allen Beteiligten, die ganz von selbst dann wiederum der Förderung des berechtigten Vorteils jedes einzelnen dienen.“ ⁵ Hier formulierte Wilhelm die Zielstellung seines Instituts als Aufbau einer Organisation, in der die gegenseitige Verständigung und die Entwicklung guten Willens vorangetrieben und „die wissenschaftlichen, kulturellen und religiösen Beziehungen zwischen den einzelnen Kulturnationen“ gepflegt werden sollten. Otto und Wilhelm schrieben einander sehr viele Briefe und tauschten, vor Peking und Deutschland als jeweiligem Hintergrund, ihre Ideen über ihre jeweilige Organisation aus.Wilhelms Plan bezüglich einer Organisation für die gegenseitige Verständigung und die Kultivierung des guten Willens geht mit hoher Wahrscheinlichkeit auf Ottos Einflüsse zurück. Umgekehrt kam Ottos Zielsetzung, dass der RMB auch als Brücke zwischen dem Osten und dem Westen im allgemeineren Sinne nutzbar gemacht werden sollte, stark durch den Austausch mit Richard Wilhelm zustande.
2.3 Daisetz Teitaro Suzuki (1870 – 1966) und The Eastern Buddhist Einige japanische Buddhisten hatten,wie aus den Briefen Ottos aus der Zeit vor der Entstehung des RMB hervorgeht, vor dem Ersten Weltkrieg den Religionsgelehrten der westlichen Welt angeboten, mit ihnen über sittliche Menschheitsfragen zu debattieren. Einer ihrer bekanntesten Vertreter war Daisetz Teitaro Suzuki. Die beiden Religionsforscher Suzuki und Otto verfolgten nach dem ersten Weltkrieg ein fast identisches Vorhaben, zunächst ohne einander direkt gekannt zu haben. Suzuki veröffentlichte seine Idee in dem Artikel „Warum nicht ein Bund der Religionen?“
Richard Wilhelm, Pekinger Orient-Institut, Görlitz 1921, 3 – 4.
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in der Novemberausgabe von The Eastern Buddhist im Jahre 1921. Darin schlug er eine Weltfriedenskonferenz der Religionen vor, damit die zerrissene Welt jener Tage der Kraft religiöser Ideale neu gewahr werden könnte. Ein Teil seines ursprünglich auf Englisch verfassten und von Ottos Kreis übersetzten Artikels soll hier wiedergegeben werden: „Und wir glauben, dass jetzt die Zeit gekommen ist, da alle Religionen zum Wohle der Menschheit zusammenarbeiten müssen. Nationen sind verbunden, um den Frieden zu sichern, und Staatsmänner und Diplomaten beraten über die Beschränkung der Rüstungen und über die Beseitigung der Mordmaschinen: aber sie können allein kein Wunder vollbringen, denn sie haben keine Macht über die geistigen Hintergründe, – und das ist durchaus notwendig, um die Ursache der Übel, die tief in unseren Lebensideen drin steckt, beseitigen zu können. Warum also nicht ein Bund der Religionen oder eine Konferenz der Religionen zur Unterstützung der Praktiker und Politiker in ihren Bemühungen um Frieden und Abrüstung? Sie wissen vielleicht Bescheid in der Entwirrung wirtschaftlicher und internationaler Probleme, aber sie sind hilflos, wenn die Ursache der Verwicklungen, die tief in unseren verdunkelten Seelen drin liegt, beseitigt werden soll. Hier müssen sich die Religionen anbieten, denn hier handelt es sich um ihre ganz besondere Aufgabe. […] Religionen wünschen alle Weltfrieden, brüderliche Liebe und geistigen Fortschritt der ganzen Menschheit ohne Rücksicht auf Rasse oder Nationalität. Solche Bewegungen wie der Völkerbund oder die Abrüstungskonferenz hätten von den religiösen Führern aller Völker ausgehen müssen und nicht von den Männern der Praxis und den Politikern. […] Lasst jede Religion zuerst sie selbst sein mit all ihren individuellen Merkmalen, und dann vereinigt euch mit den anderen zur Verkündigung der einen ewigen Wahrheit. Wir müssen so etwas haben wie einen Weltfriedenskongress der Religionen (es kann auch ein anderer Name dafür gewählt werden), um der Welt einen Eindruck von den religiösen Idealen zu geben.“⁶ Suzukis Idee, einen interreligiösen Bund einzurichten, ist der Gründungsidee des Religiösen Menschheitsbundes Ottos sehr ähnlich. Wie dieser sah der japanische Zen-Buddhist und Religionsforscher in der Nachkriegszeit die Entstehung einer interreligiösen Organisation als für den Weltfrieden unabdingbar an und beide waren der Meinung, dass die fundamentalen Probleme erst durch das Aufeinanderzugehen und die Zusammenarbeit der Religionen gelöst werden können. Eine
Daisetz Teitaro Suzuki, Warum nicht ein Bund der Religionen?, in: The Eastern Buddhist (1921), zitiert nach dem zweiten Mitteilungsblatt des Religiösen Menschheitsbund (OA 1283), 7– 8.
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weitere bemerkenswerte Ähnlichkeit besteht darin, dass beide eine Zusammenkunft der Religionen wünschten, in der die Besonderheiten und Unterschiede der jeweiligen Religionen berücksichtigt und zum Ausdruck gebracht würden. An dieser Stelle vergleiche ich die beiden Gelehrten Rudolf Otto und Suzuki Daisetz Teitaro etwas ausführlicher, denn durch den Vergleich können die Merkmale der Ideen Ottos aufschlussreich kontextualisiert werden, da sowohl Otto als auch Suzuki Religionsphilosophen waren, die zur gleichen Zeit lebten und wirkten. Suzuki war es, der den japanischen Zen in der westlichen Welt bekannt machte, während Rudolf Ottos Religionstheorie, welche er im 1917 veröffentlichen Buch Das Heilige darstellte,weltweit große Bekanntheit erlangte. Im Denken Suzukis ist nichts so geeignet zum Verständnis des Wesens des Zen wie die direkte persönliche Erfahrung. Im Gegensatz zur objektiven Wissenschaft sei Zen eine persönliche, individuelle Erfahrung, die nicht mit Worten analysiert werden kann.⁷ Das Zen-Erlebnis wird von ihm als eine Sache des Gefühls und der Mentalität zu erklären versucht, deren angemessener Ausdruck eher im Bereich der Poesie als in jenem der rational argumentierenden Philosophie möglich ist. Vergleichbares lässt sich auch in Ottos Das Heilige finden,wo er als den wesentlichsten Aspekt religiöser Erfahrung das persönliche Gefühlserlebnis beschrieb. Dies bezeichnete er als das Gefühl des Numinosen, faszinierend und erschauernd zugleich. Beide Persönlichkeiten können zu denjenigen gerechnet werden, welche die Geistes- und Religionstheorien ihrer Zeit am meisten prägten. Insbesondere interessieren mich dabei die Analogien ihrer Verknüpfung der Gedanken von ‚Religion‘ und ‚Volk‘. Diese Verknüpfung steht an der Basis ihres jeweiligen Religionsverständnisses und ihrer Weltanschauung, auf deren Grundlage sich wiederum ihr Politikverständnis entwickelte. Die beiden Gelehrten fanden in der Religion – hier Christentum, dort Buddhismus – die Essenz eines Volkes. Rudolf Otto war vor der Zeit des Ersten Weltkrieges Abgeordnetenkandidat im Preußischen Landtag; in dieser Funktion hielt er 1913 eine Rede, in welcher er seine Gedanken über die Rolle der Religionen im Deutschen Kaiserreich darstellte. „‚Religion ist Privatsache‘ anerkenne ich nicht. Religion ist durchaus und zu allen Seiten ganz vornehmlich Volkssache. Darum muss es auch reiche und innige Beziehungen geben zwischen der Religion des Volkes und dem Staate. Es ist eine jammervolle Auffassung, dass der Staat den höchsten Kulturinteressen des Volkslebens neutral gegenüberstehen müsse.“⁸
Daisetz Teitaro Suzuki, Zen Buddhism and its Influence on Japanese Culture (The Ataka Buddhist Library IX), Kyoto 1938, 9. Bericht über die Versammlung der Nationalliberalen Partei im Stadtpark zu Göttingen am 18. Mai 1913, in: Göttinger Zeitung 51 (10. Mai 1913), Nr. 16369, Sonderdruck.
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Als er diese Rede hielt, trat Otto als ein für die Gesellschaft engagierter liberaler Theologe für Reformen in der deutschen Politik ein. Besonders nach dem Ersten Weltkrieg kam er zu der Auffassung, dass die Erneuerung der religiösen Kultur des Volkes eine wichtige Vorbedingung dafür sein müsse, das deutsche Volk aus seiner Krise herauszuführen. Da Religion Volkssache sei, war diese Auffassung in Ottos Gedankenwelt eine logische und konsequente Schlussfolgerung. In einigen seiner Schriften aus jener Zeit äußerte er seinen Unmut darüber, dass die Realpolitiker zum Wiederaufbau der deutschen Nation einen völlig falschen Weg einschlugen, indem sie die Bedeutung der Religion für dieses Vorhaben außer Acht ließen, was letztlich wiederum ein Anlass zur Gründung des RMB war. Ottos Haltung gegenüber den Tendenzen der Säkularisierung schien ambivalent gewesen zu sein. Als reformorientierter Politiker und liberaler Theologe distanzierte er sich zwar von der traditionellen Rolle der Kirche in Deutschland als Monopolverwalterin. Aber er war ein Gegner der Trennung von Staat und Kirche in dem Sinne, dass er dafür eintrat, dass Religion im öffentlichen Raum eine bedeutende Rolle spielen sollte. Für ihn war das Volk der Träger der Religion. Ein demokratischer Staat, der zu werden sich Deutschland nach dem Ende des Ersten Weltkrieges bemühte, sollte sich deshalb ganz selbstverständlich in die Richtung hin entwickeln, dass er dem Volk diene. Und die Religion sollte natürlich als dessen Repräsentant eine wichtige Rolle spielen. Suzuki erklärte in Zen Buddhism and its Influence on Japanese Culture religiöse Entwicklung stark durch den Effekt nationaler oder rassenpsychologischer Vorbedingungen.⁹ Auch in seinen anderen Schriften wird in analoger Form argumentiert, dass die Entwicklung des Zen in Ostasien in genau der Weise geschah, wie es die ethnischen Voraussetzungen seiner Völker notwendig bedingten. Zen ist nichts anderes als die Sammlung, Systematisierung und höchste Entwicklungsstufe der Philosophie, der Religion und des Lebens der Ostasiaten im Allgemeinen, darunter besonders bei den Japanern.¹⁰ Was das Wirken beider Gelehrter in meinen Augen problematisch macht, ist ihr offenkundiger Idealismus, der ihnen nicht genügend Platz ließ für eine realistische Betrachtung der sie umgebenden politischen Situation. Rückblickend offenbarte sich ihre Naivität darin, dass sie die Erneuerung der Religion als nationalgesellschaftliches Heilmittel mit oberster Priorität betrachteten, während sie die zeitgenössischen politischen Machtverschiebungen und die Bedeutung der gesellschaftlichen Umwälzungen ihrer Zeit nicht in ihrer Tiefe zur Kenntnis nahmen. Auf jeden Fall begegneten die Visionen der beiden einander zufällig zu
Vgl. Daisetz Teitaro Suzuki, Zen Buddhism and its Influence on Japanese Culture (Anm. 7). Vgl. Ders., An Introduction to Zen Buddhism, New York 1964.
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Beginn der 1920er Jahre durch die Vermittlung einiger japanischer Buddhisten, die in Deutschland geforscht hatten. Otto ist seinerseits von Suzukis Auffassungen über die Religion und die Welt sehr inspiriert worden. Ihre Ideale konnten sich jedoch nicht zuletzt aufgrund der immensen Hindernisse der kommenden Militarisierung und Kriegszeit in den späten dreißiger Jahren in Deutschland und in Japan nicht mehr realisieren lassen. Jene äußeren Umwälzungen setzten dem religiösen Idealismus dieser zwei Theoretiker schließlich ein Ende.
2.4 Raja Mahendra Pratap (1886 – 1979) und die Happiness Party Raja Mahendra Pratap war ein indischer Unabhängigkeitskämpfer und Sozialreformer, den Rudolf Otto in einigen seiner Briefe erwähnte und als Mitstreiter für den RMB gewinnen wollte. Es steht zu vermuten, dass es zu keinem direkten Kontakt zwischen Otto und Pratap kam, da zumindest in Ottos Nachlass keine Korrespondenz zwischen beiden vorhanden ist. Deshalb bleibt ungeklärt, ob Pratap jemals vom RMB hörte. Interessanterweise formulierte dieser Inder während der Gründungszeit des Menschheitsbundes in einer Schrift das Programm einer transnationalen und überreligiösen Partei mit dem Namen ‚The Happiness Party‘, die im Interesse der gesamten Menschheit zu gründen wäre und das ‚Glück‘ der Menschheit zum Ziel hatte. Pratap richtete seine Botschaft vor allem an die Angehörigen der Religionen und „Menschen guten Willens“ für die Zusammenarbeit mit seiner Partei. Wo bei Pratap von ‚Glück‘ die Rede ist, ist beim Menschheitsbund dann ‚Gerechtigkeit‘ das Ziel. Soweit ersichtlich ist nicht mehr feststellbar, wann Pratap diese Idee zu entwickeln begann, aber die Umsetzung dieser Idee und die Gründung der Partei des Glücks nahm er anscheinend während seines Aufenthalts in Deutschland in Angriff.¹¹ Sein Manifest wurde um 1920 fertiggestellt und in Berlin gedruckt. Eine Klärung der Frage, ob und inwieweit Prataps Idee auf den Einfluss des Menschheitsbundes zurückzuführen sein könnte, lässt die Quellenlage nicht zweifelsfrei zu. Es ist jedoch bemerkenswert, dass die Initiativen von Rudolf Otto und Mahendra Pratap aus einer ähnlichen Grundhaltung resultierten und zur gleichen Zeit im gleichen geographischen Raum entstanden sind.
Im Programm der Partei des Glücks, Programme of The Happiness Party (Berlin: Paß und Garleb, um 1920), sind die Adressen der Sekretariate in Deutschland angegeben. Die an einer Parteimitgliedschaft Interessierten wurden darin nach Berlin (Potsdamer Straße 26 A III) und Leipzig (Rudolf-Straße 4 III) verwiesen.
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2.5 Rabindranath Tagore (1861 – 1941) und die Visva-Bharati-Universität Auch Rabindranath Tagore verfolgte in jenen Jahren einen ähnlichen Plan. Otto und Tagore kannten sich persönlich und Otto beschäftigte sich nachweislich mit Tagores Idee. Otto versuchte mehrfach Tagore beim Menschheitsbund zu begrüßen. Tagore folgte einer Einladung Ottos an die Marburger Universität und hielt hier einen Vortrag, der von Otto übersetzt wurde.¹² Im Jahr 1921, also im Jahr der Entstehung des RMB, gründete Tagore die VisvaBharati-Universität (Universität des Weltwissens), eine internationale Hochschule in Westbengalen. Ein wesentliches Ziel dieser Universität ist die bessere Verständigung zwischen dem ‚Osten‘ und dem ‚Westen‘ gewesen, und dieses ist vielleicht das einzige wirklich erfolgreiche Projekt dieser Art, da die Visva-BharatiUniversität bis heute existiert.
3 Der RMB als gescheiterter Versuch? Der Religiöse Menschheitsbund erlangte trotz aller Wiederbelebungsversuche, die sich bis in die fünfziger Jahre erstreckten, letztlich keine bleibende praktische Bedeutung. Ein möglicherweise entscheidender Grund für diesen mangelnden Erfolg des Projekts des Menschheitsbundes war gerade das ihm zugrunde liegende utopische Weltbild der Gelehrten jener Zeit. In gewissem Sinne versinnbildlicht der RMB beispielhaft das gescheiterte Experiment, das die Weimarer Republik insgesamt darstellte. Es war in der Zeit der Weimarer Republik, dass zum ersten Mal in Deutschland die Trennung der christlichen Kirchen von staatlicher Autorität verfassungsrechtlich festgeschrieben wurde und dadurch eine Vielzahl zuvor rechtlich ausgegrenzter religiöser Gemeinschaften einen Anspruch auf neue Freiheiten geltend machen konnten. Auch Intellektuelle und Künstler nutzten angesichts der neu entstandenen Republik die Möglichkeiten der neuen Zeit, auf ihren Gebieten zum Teil auch radikale Neuerungen zu wagen und sich in soziale Reformbewegungen einzubringen. Hierin liegen die geschichtlichen Rahmenbedingungen für Ottos Projekt und vor diesem Hintergrund bündelten sich Rudolf Ottos politisches Engagement und seine interreligiösen Aktivitäten. Auch er teilte den neuen Geist der Offenheit, des Optimismus und der Experimentierfreude, der jene Teile der Weimarer Republik erfasst hatte, die sich von vielen alten Beschränkungen und Ressentiments be-
Rudolf Otto, Rabindranath Tagore’s Bekenntnis, Tübingen 1931.
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freien wollten. Darin wurzelten einerseits die utopischen Visionen des Religionsforschers, andererseits aber zugleich auch die Grenzen ihrer Realisierbarkeit. Besonders im Hinblick auf die Religionsforschung Rudolf Ottos lässt sich während der Weimarer Republik die Entwicklung eines weltweiten Netzwerks zwischen Religionsforschern und religiösen Persönlichkeiten feststellen. Der Religionsforscher Otto hatte das Ziel vor Augen, dieses Netzwerk auch praktisch für die gesellschaftliche Erneuerung und Fortentwicklung Deutschlands zu nutzen. Seinen Bemühungen wurde jedoch mit dem Beginn der folgenden NS-Herrschaft schließlich durch politische Zwänge ein Riegel vorgeschoben. Damit konnte eine internationale, interreligiöse Organisation mit einer großen, grenzüberschreitenden Vision wie jener des RMB in Deutschland nicht länger bestehen.
4 Schlussfolgerung: Die Ideen zur interreligiösen Kooperation im weltweiten Austausch Zum Schluss möchte ich die Gemeinsamkeiten der genannten Fälle herausstellen. Auch wenn die meisten Ideen praktisch nicht über ihre Planungs- oder Initialisierungsphase hinausgingen und somit keine große Wirkung entfalteten, kann man an ihnen den Prozess der Wirkungen der Ideen Rudolf Ottos und deren Rückwirkungen auf ihre Auslöser beobachten. 1. Das moralische Potenzial der Religionen: Alle Bewegungen planten interreligiöse und interkulturelle Treffen auf internationaler Ebene. Große Probleme, die sowohl nationale als auch nationenübergreifende Relevanz hatten, wie etwa Frauen-, Arbeiter- und ‚Rassen‘-Angelegenheiten sollten dort miteinander besprochen und gemeinschaftlich ihrer Lösung nähergebracht werden. Eine Schlüsselfunktion hatten dabei stets die religiösen Traditionen inne, wobei insbesondere deren moralisches Potential betont wurde. Die Gemeinsamkeit der unterschiedlichen religiösen Gemeinschaften sollte darin liegen, dass jede auf ihre Weise darauf aus ist, zu Gerechtigkeit und Frieden auf der Welt beizutragen. 2. Die gemeinsame sittliche Grundlage: Auf dieser Grundlage hoffte man, eine allen gemeinsame sittliche Basis schaffen zu können, die über die Grenzen von Kulturkreisen und Nationalitäten hinaus gültig wäre. Dafür fand man verschiedene Namen, wie beispielsweise „Weltgewissen“, „verbundenes Menschheitsgefühl“ oder „Menschheitsgewissen“. 3. Die Religion als Repräsentant eines Volkes bzw. einer Kultur: Bei Rudolf Ottos Gründung des RMB stand der Gedanke Pate, dass die Religion eines Volkes dieses Volk am besten repräsentiert. In der Weise, wie Politiker im Völkerbund
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ihre Länder repräsentierten, sollten es die religiösen Führer im Menschheitsbund tun. Ein Bund der Religionen sollte gewährleisten, dass die Breite und Unterschiedlichkeit des Glaubenslebens aus den unterschiedlichen Kulturkreisen gebührende Berücksichtigung findet. Wie schon im Vergleich Suzukis und Ottos sichtbar wurde, stellte in Ottos Fall das protestantische Christentum, im Fall Suzukis der Zen-Buddhismus den religiösen Nährboden dieser Vorhaben dar, welcher von ihnen als hochbedeutsamer Faktor in der jeweiligen nationalen Entwicklung bewertet wurde. Die Religion einer Nation war in ihren Augen nichts weniger als der Kern ihres Volksgeistes. Optimistisches und idealistisches Weltbild: Jeder der Genannten äußerte seinen Unmut über die Realpolitik der Zwischenkriegszeit und ging zu ihr auf Distanz. Ein Grund für dieses Misstrauen war, dass die Stimmen der Minderheiten der Welt in der Politik offenkundig nicht berücksichtigt wurden. Soziale und kulturelle Fragen sollten darum eigenständig und unabhängig von politischen Interessen diskutiert werden. Man hielt im Allgemeinen die Vereinigung der Staaten und Kulturen für möglich und auch nötig, wobei das Aufeinanderzugehen und die Zusammenarbeit in diesen Bereichen gerade in einem Treffen der Religionen verwirklichbar schienen.
Man kann also resümieren, dass die genannten Aktivisten einschließlich Ottos in ganz ähnlicher Weise oder im Grunde noch stärker als in den eingangs gezeigten Zukunftsvisionen und -hoffnungen vieler Menschen am Vorabend des Ersten Weltkrieges und des kurzen 20. Jahrhunderts einen großen Optimismus hinsichtlich der Möglichkeit des Völkerfriedens und des Religionsfriedens besaßen, welche freilich nach den Erfahrungen des Weltkrieges eine ganz neue Dringlichkeit erhielt.
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Rudolf Ottos Rezeption in Japan Einleitung: Zur japanischen Übersetzung von „Das Heilige“ Bevor ich mit meinem Vortrag anfange, möchte ich an dieser Stelle sagen, dass ich mich sehr geehrt fühle und dankbar bin, als Vortragender an diesem großen Kongress teilnehmen zu dürfen, denn mein eigentliches Fachgebiet ist die Mystik der Ostkirche. In meinen Forschungsarbeiten bin ich eher beiläufig auf Otto gestoßen. Ich bin also kein Rudolf-Otto-Experte. Meine Begegnung mit Otto ergab sich erst vor 10 Jahren im Zuge meiner Hauptforschung, für die ich damals die einzige vorhandene japanische Übersetzung von „Das Heilige“ als Referenz benutzt habe, dessen Übersetzer, Seigo Yamaya (1889 – 1982) ein bedeutender Exeget war.¹ Das Buch „Seinarumono“, die von Yamaya übersetzte monumentale Studie Ottos, erschien im Jahr 1927 beim Verlag Idea Shoin. Der Originaltext, der der Übersetzung zugrunde lag, war die im Jahr 1926 publizierte 14. Auflage. Aber da die Originalausgabe Ottos danach beständig revidiert wurde und so auch das Gültigkeitsdatum der Übersetzung Yamayas ablief, gab er im Jahr 1968 eine neue Übersetzung heraus. Diese neuerlich übersetzte „Seinarumono“ wurde als Taschenbuch eines angesehenen japanischen Verlages publiziert: Iwanami-Shoten. Diese Übersetzung ist diejenige, die bis heute dazu beigetragen hat, dass Ottos Meisterwerk auf die theologische und religionswissenschaftliche Welt Japans Einfluss ausüben konnte. Problematisch ist jedoch, dass diese Übersetzung äußerst schwer lesbar ist.² Inzwischen wurde aber eine neue japanische Version von „Das Heilige“ im Jahr 2005 von einem nicht-christlichen Religionswissenschaftler veröffentlicht. Der Übersetzer heißt Toshimaro Hanazono und ist emeritierter Professor der staatlichen Er forschte hauptsächlich zur paulinischen Theologie und publizierte neben etwa 20 exegetischen Werken etliche Übersetzungen von Fachbüchern protestantischer Theologie, etwa „Das Wesen des Christentums“ von Harnack. Sowohl Theologen als auch Religionswissenschaftler wiesen darauf hin, dass die japanische Version Yamayas wegen ihrer extremen Wörtlichkeit äußerst schwer lesbar sei. Dennoch finden sich sehr viele Fehlübersetzungen darin. Yamayas Version ist zwar nützlich, um den Inhalt des Originaltextes skizzenhaft darzustellen, verwenden jedoch nicht wenige Wissenschaftler, wenn sie eine bestimmte Textstelle zitieren, nicht Yamayas Text, sondern einen von ihnen selbst übersetzten. Dieses Problem wird zwar von japanischen Gesellschaften zu christlichen bzw. religiösen Studien erkannt, es hat aber bisher keine christlichen Wissenschaftler dazu bewogen, neue Übersetzungen herauszugeben.
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Tohoku-Universität.³ Als dem führenden Ottoforscher Japans waren ihm die Mängel der Übersetzung Yamayas schon lange bekannt. Das hat ihn letztlich dazu bewogen, eine bessere Übersetzung anzufertigen und zu publizieren. Diese neu bearbeitete Version ist eine vorsichtigere und leichter lesbare Übersetzung, die mit ausführlichen Notizen versehen wurde. Diese Neuübersetzung ist viel verständlicher als die frühere und auch jenen verständlich, die mit der deutschen Gedankenwelt der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht vertraut sind. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der Version Hanazonos war ich selbst gerade dabei, mich (für meine eigenen Studien) an einer Übersetzung von „Das Heilige“ zu versuchen. Damals hatte ich schon 80 % des gesamten Textes übersetzt. Dies tat ich allerdings nicht allein aus privatem Interesse heraus, sondern auch, weil ich einen Publikationsvertrag mit Iwanami-Shoten abgeschlossen hatte, jenem Verlag, der einst die Yamayas-Übersetzung veröffentlicht hatte. Ungeachtet der Popularität der Übersetzung Hanazonos, eines führenden Otto-Forschers, hat der Verlag das Abenteuer gewagt, meine Übersetzung im Februar 2010 herauszugeben. „Das Heilige“ ist, soweit ich weiß, in etwa zwanzig Sprachen übersetzt worden und meine Übersetzung ist wohl die neueste. Abgesehen davon ist die Version Yamayas schon seit langem vergriffen. Sie ist jedoch weiter in Bibliotheken zu finden. Demnach gibt es in Japan drei verschiedene Übersetzungen: von Yamaya, einem protestantischen Wissenschaftler, von Hanazono, einem nicht-christlichen Religioswissenschaftler, und vom mir, einem katholischen Wissenschaftler. Ob es daneben noch drei verschiedene Übersetzungen von „Das Heilige“ in derselben Sprache gibt, ist fraglich. Ich möchte dies vorerst als einen bemerkenswerten Punkt der japanischen Otto-Studien hervorheben.
1 Die Beziehung Ottos zu Japan Wie wohl bekannt ist, reiste Otto seit 1889 öfter ins Ausland. Von Anfang Oktober 1911 bis Ende Juli des nächsten Jahres führte ihn eine große Asienreise nach Indien, Birma, Japan sowie China. Nach Japan kam er am 3. März 1912 und blieb dort etwa für zwei Monate bis zum 6. Mai. Schriftliche Berichte über Ottos Aufenthalt in Japan sind, außer seinen eigenen Notizen, äußerst rar. Daher sind die folgenden zwei schriftlichen Quellen sehr wertvoll: die eine ist „Rokudaishinpo“, das Bulletin vom Er wurde 1936 geboren und dozierte an der oben angeführten Universität Religionswissenschaft sowie Religionsgeschichte, wobei er sich als führender Otto-Wissenschaftler viele Jahre lang hauptsächlich der Erläuterung von dessen religionsphänomenologischer Bedeutung gewidmet hat.
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Shingon Buddhism, Band 452, das am 26. Mai 1912 erschien und über Ottos Besuch am Koya-san, dem heiligen Berg der Shingon Sekte, wie folgt berichtet: „Rede von Dr. Otto: Dr. Otto, Professor der Universität Göttingen in Deutschland, der sich im Auftrag der deutschen Regierung auf einer Forschungsreise zu den Religionen der Welt befindet, ist am 27. April auf den Berg (Koya-san) gegangen, um diese Universität zu besuchen, und hat am nächsten Tag im ersten Hörsaal viele Stunden lang einen Vortrag mit dem Titel ‚Meine Glaubensanschauung Japans‘ gehalten.“
Diesem Bericht zufolge waren unter den Zuhörern vermutlich auch Universitätsdozenten sowie Studenten. Otto hielt den Vortrag bereits einen Tag nach seiner Ankunft und auch danach wurde der Vortrag noch lange Zeit weiter gehalten. Das legt die Vermutung nahe, dass dieser Vortrag schon im Voraus in Auftrag gegeben worden war. Leider kennen wir den Inhalt nicht. Der zweite uns bekannte offizielle Vortrag Ottos wurde am 11. April 1912 im Rahmen der „Asiatic Society of Japan“ (seit 1872) gehalten und trug den Titel „Parallelisms in the Development of Religion East and West“. Die Zusammenfassung des Vortrags wurde vom Bulletin derselben Gesellschaft übernommen. Sie wurde allerdings von japanischer Seite verfasst und von Otto selbst nicht überprüft. Es steht daher nicht fest, wie genau diese nicht autorisierte Zusammenfassung den wirklichen Vortragsinhalt Ottos wiedergibt. Man kann aber durch diese Aufzeichnung zumindest erahnen, wie das damalige japanische Publikum die Rede Ottos verstanden hat.⁴
2 Der Empfang Ottos durch die Japaner 2.1 Numinose und japanische Gottesanschauung Es ist bekannt, dass das 1917 veröffentlichte monumentale Hauptwerk Ottos recht früh Aufmerksamkeit in Japan erregte. So erwähnte etwa Kiyoshi Miki, ein bedeutender Philosoph der Kyoto-Schule (1897– 1945), der seit Herbst 1923 für ein Jahr in Marburg studiert hatte, er habe „Das Heilige“ von Professor Otto bereits gelesen. Seit 1927 stieg der Bekanntheitsgrad der im Buch dargelegten Thesen in Japan durch die Veröffentlichung der ersten japanischen Übersetzung durch Yamaya rasant an.
Der ganze Vortragsinhalt wurde in einer Abhandlung verschriftlicht und in der Frankfurter Zeitung (31. März und 1. April, 1913) unter dem Titel „Parallelismus in der Entwicklung der Religionen“ veröffentlicht.
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Zweifellos wurde man zuerst auf den Begriff des „Numinosen“ aufmerksam. Interessanterweise sind schon früh einige Belege dafür zu finden,⁵ dass man bei Erörterungen der shintoistischen Gottesanschauung diesen Begriff als Instrument für ihre Erklärung verwendete. Die Gottesidee der japanischen Volksreligion, des Shintoismus, wurde von einem Gelehrten zur Zeit des Tokugawa-Shōgunates, Motoori Norinaga (1730 – 1801), am genausten in Worte gefasst. Er gilt als bedeutendster Vertreter der sogenannten Nationalen Schule (Kokugaku). Ihr Ziel war eine Wiederherstellung der alten japanischen Kultur – frei von allen ausländischen (d. h. indischen und chinesischen) Einflüssen. Das folgende Zitat Motooris ist eine der noch heute populärsten Definitionen von „Kami“ (Gott): „[…] Allgemein bezieht sich das Wort ‚Kami‘ in erster Linie auf die verschiedenen Kami des Himmels und der Erde in den japanischen Klassikern und die Geister [mitama], die in ihren Schreinen eingeschreint sind, und unnötig zu sagen, daß es sich auch auf Menschen bezieht, sogar auf Vögel und Tiere, Gras und Bäume, Meere und Berge – und alles sonst, was überragende und außergewöhnliche Macht besitzt und Ehrfurcht auslöst […]“ Motoori Norinaga, Kojiki-den.
Von den japanischen Wissenschaftlern, die über diese Definition von Kami und deren Übereinstimmung mit dem Begriff des „Numinosen“ diskutierten, sind zwei shintoistische Religionswissenschaftler am bekanntesten: Genchi Kato (1873 – 1965)⁶ und Motohiko Anzu (1912 – 1985) .⁷ Ihrer Meinung nach ist besonders der letzte Nebensatz von Bedeutung: Gott ist, „was überragende und außergewöhnliche Macht besitzt und Ehrfurcht auslöst“. Hier entspricht das „außergewöhnliche“ dem „Ganz anderen“ bei Otto. Nach Otto steht dieser Moment des „Ganz anderen“ dem gegenüber, womit wir vertraut sind. So wird ein Gefühl der Verwunderung ausgelöst. Besonders bemerkenswert ist dabei, dass Otto die Natur, Tiere und Menschen als Beispiele dieses Moments erwähnt. Auch Norinaga ordnet in seiner Definition „Menschen, Vögel und Tiere, Gras und Bäume, Meere und Berge“, die das Gefühl der Wunderlichkeit auslösen und uns wundern, in die Kategorie Gott ein. Zu „überragende Macht“ fügt Norinaga hinzu: „‚überragend‘ bedeutet nicht nur ‚überlegen‘ in Adel und Güte. Auch Ehrfurcht erweckende Dinge von Bosheit und Seltsamkeit sind etwas, das einen hohen Grad an Ver-
Der erste Japaner, der in diesem Zusammenhang das Numinose erwähnt hat, ist, soweit ich weiß, Toshiaki Harada (1893 – 1983), ein Volkskundler und Religionswissenschaftler Japans. Er erklärte eine ursprüngliche Bedeutung des japanischen Wortes „Kashiko“ (Ehrfurcht), das die Gottheit Japans charakterisiert, mit dem Begriff des Numinosen. Vgl. Toshiaki Harada, Kamikannen no hassei ni kansuru kodai shinri, Nihon kodai shukyo, chuokoronsha, 1970. Genchi Kato, Shinto Seigi, Dainippon tosho kabushikigaisha, 1938. Motohiko Anzu, Shinto Gairon, Shukyo Gakkai, 1964.
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wunderung provoziert“. Die „Seltsamkeit“ entspricht hier sicherlich dem „Ganz anderen“ und der Ausdruck „ehrfurcht-einflößend“ wohl dem „tremendum“. Darunter versteht Otto eine eigene religiöse Scheu, gegebenenfalls mit physischen Schüttelkrämpfen, die durch ein religiöses Objekt angeregt wird, das er das „Unheimliche“ nennt. Außerdem meint der Ausdruck nicht nur diesbezügliche religiöse Scheu, sondern auch, wie Toshiaki Harada (1893 – 1983) hervorhebt, „Respekt für etwas, was unser Herz anzieht und voll von Faszination ist“.⁸ Dieses religiöse Gefühl scheint dem „fascinans“ zu entsprechen. Besonders bemerkenswert ist, dass bei Otto die zwei Momente „tremendum“ und „fascinans“ in einer „Kontrast-Harmonie“ stehen. Denn Norinaga erkennt in seinem „Kojikiden“, Band 30, dass die geistlichen Götter beide gegenstehende Kräfte besitzen, ara-mitama (Wildheit, Rohheit,Wüten, Böses zerstörend) und nigi-mitama (Milde, Ruhe, Frieden, Edel, Harmonie und Einigkeit herstellend). Im Angesicht dieser Beobachtungen erscheint Anzus Versuch berechtigt, die Gottesanschauung Norinagas mit Ottos „Das Heilige“ zu vergleichen.⁹ Abschließend kann festgehalten werden, dass das Besondere der Ottorezeption in Japan darin liegt, die Theorie des Numinosen als ein Modell zu betrachten, das der alten japanischen Gottesanschauung entspricht.
2.2 Otto und Zen Das zweite Merkmal der japanischen Rezeptionsgeschichte ist die Suche nach Zusammenhängen zwischen Otto und dem Zen-Buddhismus. Die treibende Kraft auf diesem Gebiet der Ottoforschung ist Toshihiko Kimura, dessen Fachgebiete indische Philosophie und buddhistische Studien sind. Er publizierte 2011 ein kleines Werk mit dem Titel „Rudolf Otto und Zen“.¹⁰ Seinen Forschungen nach soll Otto recht früh mit dem Zen-Budhismus in Kontakt geraten sein. Bereits vor seinem Besuch in Japan 1912 pflegte Otto in Marburg Umgang mit Daisetsu Suzuki (1870 – 1966), einem berühmten buddhistischen Wissenschaftler, der auf Englisch über Zen schrieb und die japanische Zenkultur so weltweit bekannt machte. Durch ihn hatte Otto wahrscheinlich erste Kenntnisse über Zen erlangt. Ein ausgeprägtes Wissen des Zen erwarb Otto allerdings erst durch Gespräche mit einem bekannten Rinzai Zen-Meister des Kyotoer Kennin-ji Tempels, Mokurai Takeda (1854– 1930). Otto besuchte ihn bei seinem Aufenthalt in Kyoto. Daneben erweiterte er seine
Toshihiko Harada, Kamikannen no hassei ni kansuru kodai shinri (Anm. 5), 45. Shinto Jiten, jinja shinposha, 1968, 272. Toshihiko Kimura, Rudolf Otto on Zen Buddhism, Tokyo 2011.
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Kenntnisse durch die Lektüre der englischen Zeitschrift „The Eastern Buddhist“, die Suzuki in Kyoto seit 1921 veröffentlichte. Otto scheint die Artikel über Zen, die Suzuki für die Zeitschrift verfasste, gelesen und so weitere Sachkenntnis über Zen erworben zu haben. Ottos erste Erörterung über Zen erscheint im fünfzehnten Aufsatz seiner „Aufsätze das Numinose Betreffend“ (1923) mit dem Titel „Über Zazen als Extrem des numinosen Irrationalen“. Er schrieb hier, dass in der Betonung von Irrationalem und Paradoxem ein eigentümlicher Aspekt der Mystik liege. Die unmögliche Aussage der coincidencia oppositorum sei demnach eine Eigenschaft im Zen. Daneben führte er weiter aus, dass das Wort Zen eine Übertragung aus dem Sanskrit („dhyana“) und der Name einer buddhistischen Sekte in China und Japan sei. Weiter beschreibt Otto, deren größter Heiliger sei Bodhidharma. Ferner liege das Wesentliche des Zen nicht im Denken, sondern in der Erfahrung. Überdies lehne Zen alle Begriffe und Ideen ab. Im Kensho-Erlebnis ereigne sich das Erschauen des eigenen Wesens in Unsagbarkeit, Unausdenkbarkeit, Plötzlichkeit und Unübertragbarkeit usw.¹¹ Otto wurde damit der erste westliche Religionswissenschaftler, der Zen verstand. Die zweite schriftliche Äußerung Ottos über Zen ist ein Geleitwort Zum Buch Zen: Der lebendige Buddhismus in Japan. Ausgewählte Stücke des Zen-Textes, übersetzt und eingeleitet von Ohasama Shūej. Mit einem Geleitwort von Rudolf Otto, Perthes, Gotha 1925. Ohasama (1883 – 1946) hatte als Schüler eines berühmten ZenMeisters der Rinzai-Sekte der Meiji-Periode, Sokatzu Shaku (1871– 1954), seine Zen-Erfahrung vertieft. Mit Hilfe von August Faust (1895 – 1945) und Eugen Herrigel (1884 – 1955) hatte er in Heidelberg eine Übersetzung von Zen-Texten in Angriff genommen. Dieses Werk war das erste auf Deutsch geschriebene Buch über Zen. Es blieb aber weitgehend unbekannt.¹² Otto wurde wahrscheinlich von Faust und Heriggel damit beauftragt, das Geleitwort zu verfassen. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass Ohazama direkt mit Otto verhandelt hätte. Durch seine Hilfestellung bei der Übersetzungsanfertigung packte vor allem Herrigel das Interesse an Zen. Er sollte später mit der Publikation von „Zen in der Kunst des Bogenschießens“ (1948) als erster westlicher Autor weltweit Zen in den europäischen Ländern bekannt machen. Dennoch bleibt es eine unbestreitbare Tatsache, dass der erste westliche Gelehrte, der Zen verstand, Rudolf Otto war.
Otto erwarb diese präzisen Informationen aus Suzukis Werk „The Meditation Hall and the Monkish Discipline“ (The Eastern Buddhist Vol. II, 1– 2, 1922). Ernst Eugen Herrigels Buch „Zen in der Kunst des Bogenschießens“, 1948 erschienen, hinterließ einen nachhaltigen Eindruck in der Öffentlichkeit und wurde zum meist gelesenen Buch über Buddhismus in Deutschland.
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2.3 Ottos Forschung im Zusammenhang mit Religionswissenschaft, Religionsphilosophie oder Religionsphänomenologie In den vergangenen Jahrzehnten haben etwa 20 japanische Wissenschaftler Aufsätze veröffentlicht, in denen Otto unter den Gesichtspunkten Religionswissenschaft, Religionsphilosophie oder Religionsphänomenologie betrachtet wird. Unter ihnen verfassen drei Forscher gegenwärtig die bemerkenswertesten Beiträge: Toshimaro Hanazono, Tsuyoshi Maeda und Yoshitsugu Sawai. Der emeritierte Professor der Tohoku Universität Hanazono gilt als klassischer Religionswissenschaftler, der seit langem allgemein und systematisch die Philosophie sowie Phänomenologie der Religion bei Otto zum Hauptgegenstand seiner Religionsforschung gemacht hat. Er hat bis heute viele Abhandlungen im Anschluss an „Das Heilige“ veröffentlicht – z. B. „Zum Heiligen bei Rudolf Otto“ oder „Anthropologische Interpretation von „Scheu“ bei Rudolf Otto“. Außerdem hat er nicht nur die oben erwähnte Neuübersetzung von „Das Heilige“, sondern auch eine Übersetzung von „West-östliche Mystik“ veröffentlicht. Letztere wurde mit Hilfe zweier Wissenschaftler angefertigt und erschien 1993. Hanazono hat dazu die originale Sanskrit- und lateinische Literatur überprüft, um eine genauere, möglichst originalgetreue Übersetzung zu gewährleisten. Außerdem hat er einen Anhang angefügt, in dem sich eine vollständige Bibliographie der Werke Ottos befindet. Die hohe Qualität der Übersetzung wurde unverzüglich honoriert. Noch im gleichen Jahr gewann er den 30. Japanischen Übersetzungskulturpreis. Im Übrigen wurde mit „Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum“ 1988 eine weitere Übersetzung der Werke Ottos publiziert. Der Übersetzer ist der auf den Gebieten der Indologie und Buddhistischen Studien sehr angesehene Wissenschaftler Musashi Tachikawa, der jedoch bis jetzt keine weitere Abhandlung über Otto verfasst hat. Daneben ist Yoshitzugu Sawai (der an diesem Kongress auch als Vortragender teilnimmt), Professor an der Tenri Universität, derjenige, der hauptsächlich die klassisch-hinduistische Philologie von Otto untersucht. Er erwarb seinen Ph.D. an der Harvard University mit einer Dissertation über Religionsgedanken der Shankara-Schule. Gegenwärtig nimmt er besonders in der „Japanese Association for Religious Studies“ eine herausragende Rolle als führender Religionswissenschaftler ein. Er versucht u. a. Ottos Ansichten über die Vedische Philosophie, seine Auffassung vom „Ganz anderen“ sowie seine Anschauung von Weltreligionsgeschichte und Mystik zu untersuchen. Der dritte OttoForscher, der erwähnt werden muss, ist ein emeritierter Professor der Kagoshima Universität, Tsuyoshi Maeda. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf Ottos sogenannte „Weltreise“. Er ist davon überzeugt, die Quelle von Ottos Religionswissenschaft in seinen Reiseerfahrungen zu finden. Daher analysiert er gründlich die
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Briefe und Tagebuchnotizen, die Otto während seiner Reise geschrieben hat, sowie Zeugnisse seiner Freunde. Maedas ursprüngliches Interesse lag in der Entwicklung einer Theorie zur Beziehung von Heiligem und Weltlichem. Dabei versuchte er, den Umwandlungsmechanismus von Weltlichem ins Heilige ontologisch zu erklären. Von hier aus näherte er sich Ottos Begriff des Heiligen. Das Besondere seiner Forschung liegt aber darin, dass er sein Augenmerk auf die Religionserfahrungen des reisenden Otto als Hintergrund seiner Religionsanschauung richtet. Er wollte also keinen vollendeten, sondern einen werdenden Otto kennenlernen. Maeda besuchte mehrmals die Religionskundliche Sammlung der Philipps-Universität Marburg,wo er auf die Weltreise Ottos bezogene Schriften, einschließlich Handschriften, untersuchte. Die Ergebnisse veröffentlichte er in einer Reihe von Abhandlungen. Außerdem hat er zwei Artikel geschrieben, die sich mit Ottos Erbe auseinandersetzen, die unter dem Titel „Die Historie der Marburger Religionskundlichen Sammlung I-II“ veröffentlicht wurden.
2.4 Perspektive der Ottoforschung in Japan Als Theologe spielt Otto in der christlichen Theologie Japans von Anfang an keine bedeutende Rolle. Als Otto begann, in Japan bekannt zu werden, übte die Dialektische Theologie einen derart kräftigen Einfluss auf die japanische Theologie aus, dass Otto ins Abseits der theologischen Debatten gedrängt wurde. Diese Situation hat sich auch heute noch nicht wesentlich verändert. Dies zeigt sich u. a. darin, dass in der von der „Japanischen Gesellschaft der Christlichen Studien“ herausgegebenen theologischen Zeitschrift „Nihon no Shingaku“ (Theologie in Japan) von der ersten Ausgabe im Jahre 1962 bis zur neuesten 50. Ausgabe des vorigen Jahres kein einziger Aufsatz über Otto zu finden ist. Otto wird in Japan also nicht als Theologe, sondern, wie oben erwähnt, ganz und gar als Religionswissenschaftler verstanden und als solcher außerhalb der theologischen Diskurse weitgehend akzeptiert. Allerdings ist die Bedeutung Ottos in Japan nicht bloß auf die religionswissenschaftliche Fachwelt beschränkt: Der oben erwähnte führende Ottoforscher Hanazono schrieb in einem Brief an mich über „Das Heilige“: „Ich selber hatte die Hoffnung, dieses Buch von einer allgemeineren Perspektive als der der Religionswissenschaft aus, etwa vom anthropologischem Standpunkt aus, zu interpretieren.“ Bereits Carl Gustav Jung hat außerhalb des religionswissenschaftlichen und theologischen Gebiets im Rahmen der analytischen Psychologie die Theorie des Numinosen behandelt. Er schrieb, der Gefühlskomplex des Numinosen von „tremendum“ und „fascinans“ quelle von innen heraus hervor, wenn dieses Gefühl den sich in der Herzenstiefe befindenden Archetyp berühre. Diesem eigen-
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tümlichen Gefühl hat Jung eine große Bedeutung beigemessen und es als eine Wurzel menschlicher mystischer Erfahrungen gedeutet. Für Jung besteht die Religion nicht in Glaubensartikeln, sondern in Erfahrungen. Er achtete die Selbständigkeit der Gefühle in dieser Religionserfahrung. Aber der Begriff des Numinosen spielt heute in Japan nicht nur im Bereich der Religionspsychologie, sondern auch zum Teil in der klinischen Psychologie eine gewisse Rolle. Ein Beispiel: Mariko Matsuda, außerordentliche Professorin der Kyoto Bunkyo Universität, hat im Jahr 2006 eine interessante Monographie mit dem Titel „Die Numinosen-Erfahrungen bei Schizophrenie-Patienten“ veröffentlicht. In ihr versuchte die Autorin, auf klinisch-psychologischem Wege die Frage zu klären, welche Bedeutung das begrifflich nicht zu fassende Numinose für den Menschen hat. Dazu beobachtete und verglich sie ,gesunde‘ Menschen und Schizophrenie-Patienten (und damit numinose Erfahrung einerseits und Halluzination oder Wahn andererseits). Dieses Werk gewann den 14. Förderpreis der Japanischen Gesellschaft für klinische Psychologie. Ferner hat die Autorin zusammen mit einem Religionswissenschaftler im Jahr 2010 eine Forschungsschrift veröffentlicht, deren Titel „Schizophrenie und Religion“ lautet. Hier wird darauf hingewiesen, dass sich das Wort „numinos“ in der Psychiatrie als Fachausdruck nach und nach einbürgert. In der akademischen Welt Japans ist der Einfluss der Theologie relativ gering. Diesem Umstand ist es geschuldet, dass eher anthropologische, nicht aber theologische Überlegungen Ottos die Aufmerksamkeit in Japan erregen. Hanazonos Abhandlung „Die Anthropologische Interpretation von „Scheu“ bei Rudolf Otto„¹³ beispielsweise ist eine bemerkenswerte Suche nach Möglichkeiten einer anthropologischen Begründung des Numinosen. Ein anderer Zweig der Ottoforschung in Japan, der nicht überraschen dürfte, zielt auf den Religionsvergleich. In Japan gelten die zwei traditionellen Religionen, Shintoismus und Buddhismus, auch heute noch als Hauptreligionen des Landes. Die langanhaltenden Versuche, die Theorie des Numinosen als Deutungsmodell shintoistischer Gottesanschauung anzuwenden, wurden bereits besprochen. Was aber ist nun mit dem Buddhismus? Wir haben schon oben darauf hingewiesen, dass sich Otto unter den buddhistischen Sekten fast ausschließlich für den ZenBuddhismus interessierte und die Erfahrung des Zen als die des Numinosen analysierte. Über den Zen hinausgehende buddhistische Gedanken, zumal die von verschiedenen Jodo-(„Reines Land“)Sekten, die in Japan eine überwältigende Mehrheit darstellen, erwähnt er kaum. Einerseits wissen wir kaum von Meinungen
Vgl. Die Anthropologische Interpretation von „Scheu“ bei Rudolf Otto, in: Tohoku shukyogaku 5 (2009), 1– 18.
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seitens der Zen- oder Jodo-Buddhisten, die sich gegen Ottos Bewertung des Buddhismus richten. Die oben erwähnte Professorin Toshihiko Kimura machte die Zen-Auslegung Ottos in unserem Land zwar bekannt, ohne diese jedoch systematisch zu kritisieren. Andererseits gibt es einen Artikel, der die Theorie des Numinosen mit dem Amida-Buddha-Glauben vergleicht. Er wurde auf Englisch und aus der Perspektive der Jodo-Sekte heraus verfasst: Hoyu Ishida, „Otto’s Theory of religious Experience as Encounter with the Numinous and Its Application to Buddhism“, published in Japanese religions, The NCC Center for the Study of Japanese Religions, January 1989. Da aber die These, auf die der Aufsatz hinausläuft, recht oberflächlich ist, erregte der Artikel kaum Aufmerksamkeit. Aufgrund dieser Ausgangslage sollte unsere weitere Aufgabe die sein, unsere Ottoforschung auf die Frage hin auszurichten, wie seine Sichtweise auf den Buddhismus, sei es Zen oder seien es sonstige Sekten, einzuschätzen ist.
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Die Rezeptionsgeschichte von Das Heilige in Italien 1 Einleitung Das Heilige von Rudolf Otto wurde in Italien in mehreren Etappen rezipiert. In diesem Beitrag möchte ich den Fokus nur auf zwei wichtige Phasen richten: Als erstes und im Allgemeinen auf die Rezeption in der Religionsphilosophie und zweitens auf die Rezeption in der Religionsgeschichte und Religionswissenschaft; die letztgenannte Differenzierung kann in Italien jedoch eigentlich nicht voneinander getrennt werden oder – besser gesagt – die Religionswissenschaft existiert nicht in Italien. Infolgedessen werden wir uns insbesondere auf die Beziehung Rudolf Ottos zu der Methodologie der Religionsgeschichte konzentrieren. Zu Beginn sollte Ottos Deutung des „Heiligen“ kurz erläutert werden, da das „Heilige“ für ihn den Kern religiöser Erfahrung bildet. Auf den ersten Seiten seines Werkes legt er dar, dass sich Religion nicht in rationalen Elementen erschöpft, sondern darüber hinaus ein „völlig artbesonderes Moment in sich“ hat, das „begrifflicher Erfassung völlig unzugänglich ist.“¹ Um dies besonders hervorzuheben, führt er den zentralen Begriff des „Numinosen“ ein, der seine Bedeutung erst durch weitere Erörterungen gewinnen soll. Deutlich wird dies in Ottos Anwendung der Kategorie des Numinosen auf religionsgeschichtliches Quellenmaterial, die auf verschiedenen Ebenen stattfindet. Zugleich erfolgt über das Quellenmaterial die Verhältnisbestimmung der Momente des Numinosen. Zugleich werden dabei verschiedene Typen und Ausprägungen von Religiosität genau differenziert. Ferner dient dieser Begriff auch der Bestimmung des Wesensmerkmals jeder Religion in einem ökumenisch-weiten Sinn.Wir können sagen, dass das Kreaturgefühl, das Tremendum und das Fascinans mit ihren Momenten die Bestandteile des Numinosen bilden und ‚religiöse Erfahrung‘ durch diesen Gefühlskomplex zusammengefasst werden kann. Auf Grundlage dieser Überlegungen wollen wir im Folgenden einige Linien der Rezeptionsgeschichte der Schrift Ottos nachzeichnen. Zunächst sollte in Erinnerung gerufen werden, dass Das Heilige von dem ‚Häretiker‘ Ernesto Buonaiuti übersetzt worden ist und 1926 beim Verlag Zanchelli (Bologna) erschien – also neun Jahre später als die Erstauflage in Deutschland. Das Urteil eines jungen
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Forschers zu dieser Übersetzung lautet: Der Erfolg von Rudolf Otto in Italien ist abhängig von der großen Persönlichkeit Buonaiutis.² Ich möchte hier das Gegenteil behaupten. Denn seine Übersetzung erschien in der Zeit des Anti-Modernismus, weshalb die Publikation – meiner Meinung nach – missglückte. Buonaiuti gehörte nämlich dem Modernismus an und in der geplanten Einleitung des Buches hatte er die Bedeutung des Werkes bewusst ganz für seine Zwecke umgedeutet. Die große Überraschung kam: Rudolf Otto lehnte die Einleitung ab. Er war sich bewusst, dass Buonaiuti Das Heilige durch die Brille einer „katholischen Kommunität ethisch orientiert“³ gelesen hatte und diese Sichtweise in seiner Einleitung zum Ausdruck brachte. Die römisch-katholische Kirche zeigte sich misstrauisch und kämpferisch gegenüber modernistischen, ‚häretischen‘ Strömungen, die den Widerspruch zwischen katholischem Glauben und der modernen Welt aufheben wollten. Pius X. etwa bezeichnete den Modernismus als „Sammelbecken aller Häresien“. Insbesondere die subjektivistisch verstandene ‚religiöse Erfahrung‘ wurde als große Gefahr angesehen. So war in der Liste der Häresien auch die Auffassung verurteilt, der Glaube sei keine objektive Tatsache, sondern vom von persönlichem Gefühl abhängig.⁴ Wer im Sinne dieses Aufsatztitels dachte,war also für die Kirche ein Häretiker. Im Jahre 1916 wurden daher tatsächlich die kirchlichen Mitarbeiter der Zeitschrift Rivista di Scienze religione, deren Herausgeber Buonaiuti war, mit der „Suspensio a divinis“ belegt. Entsprechend fiel auch das aus evangelischer Feder und der Übersetzung eines „Häretikers“ stammende Hauptwerk Ottos unter Verdacht. Die prominente und vielzitierte Forderung Ottos zu Beginn seines Hauptwerks gilt als Voraussetzung zur Bestimmung des Numinosen: „Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen.“⁵ Diese „Erregtheit“ erscheint noch subjektiver als sein Begriff des Gefühls. Für Otto bildet der Zusammenschluss von intimer Vertrautheit mit religiösen und persönlichen Gefühlen die notwendige Voraussetzung für re Vgl. Giovanni Rota, Su Rudolf Otto e sulla diffusione del suo pensiero in Italia, in: Rivista di storia della filosofia 2 (2012), 317– 339, hier 322 – Übertragungen von Originalzitaten stammen vom Verf. dieses Beitrags. Vgl. Mario Niccoli, Recensione di Otto 1926 e di Buonaiuti 1926a, in: Ricerche religiose II 6 (1926), 565 – 571, zitiert nach Giovanni Rota, Su Rudolf Otto (Anm. 2), 323. Vgl. dazu Ernesto Bounaiuti, Pellegrino di Roma. La generazione dell’esodo, Bari 1964, 184. Vgl. Enzyklika ‚Pascendi dominici gregis‘ (1907), in: Heinrich Denzinger: Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen. Verbessert, erweitert ins Deutsche übertragen und unter Mitarbeit von Helmut Hoping herausgegeben von Peter Hünermann. Freiburg u. a. 371991, Nr. 3481 und Nr. 3484. DH, 8.
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ligiöse Erfahrung. Genau diese Voraussetzung ist aus Sicht der katholischen Kirche skandalös. Nicht zuletzt deswegen musste sich die Religionsgeschichte als Disziplin außerhalb der Theologie konstituieren. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, warum Ottos Schrift innerhalb der katholischen Kirche nach wie vor nie bekannt und nie als wichtig erachtet wurde. Warum also ist dieses Buch auch heutzutage in Italien lediglich für gläubige Laien, nicht jedoch für Priester gedacht? So wie es in den Priesterseminaren keine Beachtung findet, wird es auch in der Religionsphilosophie oder in der so genannten Religionsphänomenologie vernachlässigt.
2 Aus religionsphilosophischer Perspektive In den ersten Jahren nach dem Erscheinen von Das Heilige, in den Dreißiger- und Vierzigerjahren, sind aus der religionsphilosophischen Perspektive einige bedeutungsvolle Rezeptionen des Buches auch in Italien zu verzeichnen. Ich möchte nur einige Autoren nennen, so etwa Adriano Tilgher, Giovanni Miegge, Lelio Basso. Und besonders möchte ich den Religionsphilosophen Piero Martinetti hervorheben. Er verfasste seine Doktorarbeit über die Philosophie des Samkhya und war damit der einzige der zuletzt Genannten, der – wie Rudolf Otto – die fernöstliche Philosophie kannte. Das war ein großer Vorteil, denn so konnte er die Voraussetzungen Ottos besser verstehen. Vornehmlich schrieb Martinetti im Jahr 1931 ein Essay über Otto mit dem Titel Das Fundament der Religion nach Rudolf Otto. In diesem Essay wird die Autonomie der Religion gegen reduktionistische Tendenzen verteidigt. Auch das Apriori des Heiligen wird von Martinetti in den Blick genommen. Dementsprechend stimmt er Ottos Kritik an Wilhelm Wundts naturalistischer Erklärung der religiösen Erfahrung zu. Auch der Begriff des Göttlichen als das „ganz Andere“ ist von Martinetti aufgenommen worden, wenn auch dabei eine kantianische Perspektive latent vorhanden ist. In diesem Zusammenhang ist für ihn die Vorliebe für das Gefühl und für das „divinatorische“ Moment willkürlich. Beide seien vielmehr der Rationalität unterzuordnen. Dies wird jedoch insgesamt von Martinetti argumentativ kaum ausgeführt. So kann man zusammenfassend festhalten, dass zwar Das Heilige und damit Ottos Religionsverständnis von ihm durchaus rezipiert wurde, vor dem Hintergrund kantianischer Prämissen jedoch nicht vollends Eingang finden konnte. Die anderen italienischen Religionsphilosophen tendierten mehr oder weniger in dieselbe Richtung. Unter den vielen sei Mario Puglisi genannt, der Herausgeber der interessanten Zeitschrift Il progresso religioso, in der viele Aufsätze zur Religionsphilosophie Ottos erschienen sind. In dieser Zeitschrift gelang es Puglisi, verschiedene italienische Persönlichkeiten zusammenzubringen, namentlich heraus-
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ragende Religionshistoriker wie Julius Evola, den großen Kenner der tibetanischen Religion, Giuseppe Tucci und selbst Raffaele Pettazzoni. Auf das Verhältnis zwischen Otto und Pettazzoni wird an anderer Stelle eigens einzugehen sein. Von den genannten Autoren sei zu Adriano Tilgher, der einen Essay mit dem Titel Rudolf Otto und das Numinose ⁶ schrieb, angemerkt, dass er ein Freund von Buonaiuti war und im Großen und Ganzen die gleichen Ideen verfolgte. In besagtem Essay wird die Autonomie des Heiligen besonders gegen die Moral verteidigt. Dies ist – anders als bei Martinetti – klar als Stellungnahme gegen die Religionsphilosophie Kants zu verstehen. Was Tilgher zudem auszeichnet, ist seine Hervorhebung der Qualität des Heiligen als etwas „Unheimliches“ sowie die „dämonische Scheu“. Zuletzt einige Bemerkungen zu Giovanni Miegge, einem jungen evangelischen Theologen, bei dem ebenfalls eine Rezeption von Ottos Hauptwerk zu verzeichnen ist. Eigentlich war Miegge ein Anhänger der Theologie Karl Barths und konnte daher Das Heilige nicht als einen gelungenen Entwurf anerkennen. Aber er schätzte Otto immerhin positiv als einen „Vorläufer“ von Karl Barth, wenn auch – aus Sicht Miegges – die subjektivistische Seite nicht zu rechtfertigen sei. Von diesem theologischen Standpunkt aus wird als gefährlich kritisiert, dass bei Otto die Inhalte des Glaubens nichts als Symbole unseres eigenen Gefühls sind.⁷
3 Aus religionsgeschichtlicher Perspektive Diese zweite Perspektive ist von besonderem Interesse. Es gilt im Folgenden in gebotener Kürze zu beleuchten, wie die italienische Schule, genauer gesagt die ‚Römische Schule‘ der Religionsgeschichte, Das Heilige von Rudolf Otto rezipiert hat. Zu diesem Zweck werden zunächst einige mit der Religionsphänomenologie verbundenen Probleme skizziert. Im Anschluss kann dann der Verlauf der Debatte an drei Autoren exemplifiziert werden, nämlich an Raffaele Pettazzoni, Ernesto De Martino und Ugo Bianchi.
Vgl. Adriano Tilgher, Rudolf Otto e il Numinoso, in: Ders., Filosofi e moralisti del Novecento, Libreria di Scienze e Lettere, Roma 1932. Vgl. Giovanni Rota, Su Rudolf Otto (Anm. 2), 334, der wiederum eine Formulierung bei Sara Saccomanni zitiert (vgl. Sara Saccomanni, Giovanni Miegge. Teologo e pastore, Claudiana, Torino 2002).
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3.1 Das Ausgangsproblem Was also zunächst das Grundproblem betrifft, so steht hier die Beziehung zwischen Religionsgeschichte und Religionsphänomenologie zur Debatte. Ohne in diesem Rahmen die große Auseinandersetzung noch einmal erneuern zu wollen, kann man sagen, dass dabei immer eine Frage im Hintergrund steht: Ist es gerechtfertigt, mit Rudolf Otto in den Religionen vom Phänomen des Heiligen bzw. des Numinosen auszugehen? Denn damit ist auch vorausgesetzt, dass Religion etwas sui generis ist: „Religion fängt mit sich selber an“.⁸ Ist das stichhaltig oder wird das Heilige den Religionen nur zugeschrieben? Wird es in der religiösen Erfahrung gefühlt bzw. durch ein Erlebnis empfangen oder ist es ein Konstrukt? Ich bin mir bewusst, mit diesen Fragen einen alten, vielleicht inzwischen überflüssigen Streit zwischen Idealisten und Empiristen, Konstruktivisten und Projektionisten, Gläubigen und Nichtgläubigen fortzuführen. Aber – wie ich mit dem Titel eines Buches von 1983 zum Ausdruck bringen wollte – dieses Problem besteht noch immer: Die Religion. Erklären oder Verstehen? Die Religionsphänomenologie von Rudolf Otto tritt für das Verstehen ein – aber nicht nur diese – immerhin sind bis in die 1960er Jahre hinein alle namhaften oder ‚klassischen‘ Religionswissenschaftler Phänomenologen gewesen, z. B. Nathan Söderblom, Gerardus van der Leeuw, Friedrich Heiler, Joachim Wach, Heinrich Frick, Claas J. Bleeker, Gustav Mensching, Mircea Eliade oder Kurt Goldammer. Heute die Frage nach der Nützlichkeit der religionsphänomenologischen Methode zu stellen, trifft die Religionswissenschaft in ihrem Selbstverständnis. Denn seit den 1970er Jahren ist das Vertrauen in die Religionsphänomenologie zurückgegangen. Theodorus P. van Baaren, damals der Nachfolger van der Leeuws in Groningen, forderte für die ‚Systematische Religionswissenschaft‘, den Ausdruck ‚Religionsphänomenologie‘ zu vergessen.
3.2 Der Verlauf der Debatte in Italien Wir beginnen mit einigen Bemerkungen über den großen italienischen Religionshistoriker Raffaele Pettazzoni. Er ist der Begründer der ‚römischen Schule‘ in der Religionsgeschichte. Erst im Jahre 1924 wurde in Italien der erste auf Dauer angelegte akademische Lehrstuhl für ‚Storia delle religioni‘ eingerichtet und mit Pettazzoni besetzt. Um Pettazzoni und seine Schule richtig einschätzen zu können, muss man sich die kulturellen Bedingungen vor Augen führen, mit denen er
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konfrontiert war. Zum einen handelte es sich – wie bereits oben erwähnt – um die Zeit des Anti-Modernismus. Zum anderen stand Italien unter dem Einfluss des Historismus eines Benedetto Croce. Was zunächst das katholische Milieu betrifft, so war Pettazzoni ein großer Kritiker der Urmonotheismusthese, wie sie in der von Pater Wilhelm Schmidt begründeten ‚Wiener Schule‘ vertreten wurde. Mit dieser Positionierung wandte sich Pettazzoni gegen die Mehrheiten der zeitgenössischen Theologie. Die These vom Urmonotheismus wurde förmlich als ein ‚sechster Gottesbeweis‘ neben den fünf thomistischen angesehen. Auf kirchlicher Seite empfanden daher nicht wenige die Kritik Pettazzonis als einen Angriff auf die Theologie. In methodologischer Hinsicht stand Pettazzoni im Grunde genommen für den Versuch, sowohl Religionsgeschichte als auch Religionsphänomenologie für das zeitgenössische Forschungsparadigma zu retten. Schon von daher lässt sich vermuten, dass Pettazzonis Methodologie ambivalent ausfallen musste: Er sprach sich einerseits für ein religiöses Apriori aus und war damit nicht weit von den Voraussetzungen Ottos entfernt. Andererseits war er der Meinung, dass die Entwicklung der Religionen ausschließlich geschichtlich zu verstehen sei.⁹ Obwohl einige Besprechungen der Werke Ottos bei ihm zu finden sind, wie etwa Gottheit und Gottheiten der Arier, und zudem von dem Biographen Gandini bekannt ist, dass Pettazzoni Otto in Rom getroffen hat, lies er sich dennoch nie von dessen Thesen überzeugen. Einen croceanischen ‚Historizismus‘ jedoch bereicherte Pettazzoni nicht nur durch den interkulturellen und interreligiösen Vergleich – die historische Methode wurde sozusagen zur ‚historisch-vergleichenden‘. Sondern Pettazzoni kämpfte gegen den Historizismus Croces auch für die Autonomie der Religion. An der prinzipiellen Distanz zum Ansatz Ottos änderten aber auch diese Berührungspunkte nichts. Inzwischen etablierte sich aber auch eine Kritik gegen den vermeintlichen Irrationalismus Rudolf Ottos und seiner Phänomenologie des numinosen Gefühls. Rudolf Otto hatte sich ja einerseits gegen verbürgerlichende Tendenzen innerhalb des deutschen Protestantismus gewandt und andererseits Traditionen der romantischen Hermeneutik (Schleiermacher, Dilthey etc.) fortgeführt. Gerardus van der Leeuw, Gustav Mensching, Joachim Wach, Mircea Eliade und andere setzten diese Tendenz fort und wurden bisweilen insgesamt des in den Bahnen Ottos verlaufenden Irrationalismus beschuldigt. In Italien wurde diese Kritik jedenfalls mehrfach wiederholt, wie auch in Deutschland von namhaften Religionshistorikern wie Walter Baetke und dann Kurt Rudolph vertreten. So urteilte etwa Rudolph, dass Religionsphänomenologie nichts anderes sei als ‚Kryptotheologie‘.
Vgl. Raffaele Pettazzoni, Il metodo comparativo, in: Numen 6 (1959).
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Pettazzoni war überdies ein Lehrer, der eine außergewöhnlich große Gruppe begabter Schüler um sich sammelte. Zu dieser Schülergeneration zählten z. B. Ugo Bianchi (1922– 1995), Angelo Brelich (1913 – 1977), Ernesto De Martino (1908 – 1965),Vittorio Lanternari (1918 – 2010) und Dario Sabbatucci (1923 – 2002). In Blick auf die Rezeptionsgeschichte von Das Heilige möchte aus diesem Kreis De Martino und Bianchi herausgreifen und einige relevante Aspekte skizzieren. De Martino ist ein gutes Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem Irrationalismus. Das Heilige von Rudolf Otto stand dabei im Zentrum seiner Kritik. In einem Artikel über Storicisimo e irrazionalismo nella storia delle religioni schreibt er: „Das historische Verständnis der Religionen bedeutet, dass wir durch übliche Gründe die Religiosität total erlösen sollen: die Motive die in der religiösen Erfahrung als numinos erschienen, müssen gelöst werden.“¹⁰ Das Numinose und das religiöse Erlebnis zum Ausgangspunkt der Religionsgeschichtsforschung zu machen, würde nach De Martino eine methodologisch fatale Verwirrung wesensverschiedener Intentionalitäten zur Folge haben. Ein tieferer Grund dafür, dass Das Heilige in der ‚Römischen Schule‘ nicht zur Geltung kommen konnte, scheint mir in dem negativen Einfluss des italienischen Philosophen und Politologen Antonio Gramsci zu liegen. Dieser schloss an marxistische Ideen an und versuchte diese zu erneuern. Unter seinen Einfluss gerieten u. a. Angelo Brelich, Dario Sabbatucci,Vittorio Lanternari, Alfonso M. Di Nola und eben auch De Martino selbst. Im Zentrum stand die Auffassung, dass geschichtlicher Identitätsverlust eine durch die Religion der classi subalterne verursachte Krise darstellt. Kommen wir abschließend zu Ugo Bianchi, dem großen Religionsgeschichtler der 60er und 70er Jahre, und der Frage nach einer möglichen Otto-Rezeption. An das Vorhergehende anschließend kann man zunächst hervorheben, dass Bianchi der Einzige war, der den Einfluss linker Ideologien auf die Religionsgeschichte ablehnte und großen Wert auf methodologische Neutralität legte, wie ein Diktum von ihm belegt: „Der Forscher als Forscher soll nicht gläubig und nicht ungläubig sein“. In den 80er Jahren habe ich viele Debatten mit Bianchi geführt, unter anderen auf einer theologischen Tagung zur „Bedeutung der Religionen für die Religionsgeschichte“ in Trient. Im Zentrum der Debatten stand immer wieder die Bedeutung des Religionsbegriffs. Ist Religion ein Begriff sui generis oder gibt es auch einen Zugang zur Religion, ohne bereits einen Begriff derselben voraus zu setzten? Bianchi plädierte für eine ‚offene‘ Auslegung der Religion. Ein religiöses Apriori lehnte er ebenso ab
Vgl. Ernesto De Martino, Storicismo e irrazionalismo nella storia delle religioni, in: SMSR XXIV-XXV (1953 – 54), 1– 25.
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Aldo Natale Terrin
wie einen „kleinsten gemeinsamen Nenner“ der Religionen. Es sei verfehlt, nach einer Essenz der Religion zu suchen. Mit all dem wandte sich Bianchi gegen den Ansatz Ottos und dessen Konzeption des Numinosen. Gleichwohl befürwortete er die historisch-vergleichende Methode, sofern diese nicht auf „Einfühlung“ oder „Erlebnis“ beruhe. Eine Gefühlshermeneutik gehört nach Bianchi zum methodischen Instrumentarium des historischen Studiums der Religionen. In diesem Zusammenhang muss aber auch an die berühmte Rede Bianchis Après Marburg. Petit discourse sur la methode¹¹ erinnert werden. Hier hat er die phänomenologischen Besonderheiten der Religion anerkannt, wie sie durch Söderblom, Otto,Van der Leeuw, Heiler und Eliade illustriert wurden.Und gerade hier geht er auch zum Historismus in eine gewisse Distanz, wenn er schreibt: „… L’histoire devra renoncer aux presuppositions de l’historicisme absolu“.¹² Bianchi selbst arbeitet mit methodischen Leitkategorien wie der „Analogie“, der „historischen Typologie“ und der „Universalgeschichte“. Mir scheint es jedoch schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, diese Konzepte in ein kohärentes Modell zu integrieren. Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass Bianchi einerseits den Irrationalismus Rudolf Ottos und die Religionsphänomenologie ablehnt, andererseits aber in der Religionsgeschichte eine vergleichende Methode vertritt, die durchaus Nähen zur Religionsphänomenologie aufweist. In meinem diesbezüglichen Aufsatz habe ich daher von Bianchis „kryptischer Religionsphänomenologie“ gesprochen.¹³ Nach Bianchi kam es zu keinerlei nennenswerten Entwicklungen der Religionsgeschichte und ihrer Methode in Italien. Die Religionsgeschichte steht noch immer unter dem Diktat der ‚Schule von Rom‘ und hat sich methodologisch nicht aus deren Schatten gelöst. Zur neuen Generation von Professoren, die an den Universitäten für Religionsgeschichte tätig sind, gehören zum Beispiel Giovanni Filoramo und Natale Spineto (Turin), Chiarassi Colombo (Trieste), Marcello Massenzio (Rom) Enrico Montanari (Rom), Paolo Xella (Pisa) Massimo Raveri (Venice), Fabio Mora (Catania), M. Vittoria Cerutti (Mailand), Dario Cosi (Brescia, Cattolica), Fabio Scialpi (Rom, Indologe), Giovanni Casadio. In der Regel wird bei diesen Autoren die religionsgeschichtliche Methodologie nicht eigens problematisiert, sondern man führt einfach das Programm der ‚Römischen Schule‘ fort.
Vgl. Ugo Bianchi, Après Marburg. Petit discourse sur la methode, in: Numen 8 (1961), 64– 78. Vgl. Ders., Après Marburg. Petit discourse sur la mehtode è riedito, in: Ders., Saggi di metodologia della storia delle religioni, Roma 1979, 229 – 246, hier 245. Vgl. Aldo N. Terrin, Fenomenologia „criptica“ della religion in Ugo Bianchi, in: Una vita per la storia delle Religioni, hg.v. Giovanni Casadio, Il Calamo/Roma 2002, 353 – 391.
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4 Ausblick Nachdem in den letzten Jahren die Urheberrechte der Werke Ottos ausgelaufen sind, erschienen weitere Übersetzungen von Ottos Schriften. Im Jahr 2010 hat Stefano Bancalari (Rom) einige religionsphilosophische Schriften übersetzt und ediert.¹⁴ Zuletzt (2010) erschien meine neue Übersetzung von Das Heilige samt einer Einführung.¹⁵ Mir geht es nicht um eine Apologie der alten Religionsphänomenologie. Womöglich war sie zu naiv. Doch ist ein Blick auf ihre Einsichten meines Erachtens noch immer hilfreich, zumal dann, wenn man sie durch neuere Ansätze und Perspektiven – man denke etwa an Jacques Waardenburg, Ryba u. a. – weiterführt. Ich möchte nicht ohne den Hinweis schließen, dass Rudolf Otto und sein Hauptwerk Das Heilige auch für die zeitgenössischen Kognitionswissenschaften fruchtbar gemacht werden können und umgekehrt. Vor allem in den Neurowissenschaften wurden neue Datenmengen erhoben, die sich mit Ottos Begriffsinstrumentarium strukturieren lassen. Dementsprechend ist zu erwarten, dass der Beschreibung des religiösen Erlebnisses im Sinne Ottos aus der interdisziplinären Vernetzung insbesondere mit den Neurowissenschaften neue Perspektiven erwachsen. Künftig können vielleicht die den religiösen Gefühlen zugrundeliegenden neurophysiologischen Prozesse mit der Magnet-Resonanz-Tomographie (PET, SPECT) erforscht werden. Das wäre ein neuer Anfang auch für die Religionsphänomenologie im Gefolge Rudolf Ottos.
Rudolf Otto, Opere (Biblioteca dell ‚Archivio di filosofia 38), a cura di Stefano Bancalari, Pisa/Rom 2010. Rudolf Otto, Il sacro. Sull’irrazionale nell’idea del divino e il suo rapporto con il razionale (= Scienze e storia delle religioni 14), hg.v. Aldo Natale Terrin, Brescia 2010.
Hanno Willenborg
Von der Billard- zur Bowling- zur Erdkugel Psychologische Ideen in der Evolutionstheorie Charles Darwins und ihre Rezeption durch Rudolf Otto Rudolf Otto und Charles Darwin – wer sich dem Lebenswerk beider Persönlichkeiten nähert, scheint zuerst auf mehr Trennendes als Verbindendes zu treffen. Rudolf Otto, lutherischer Religionstheoretiker, setzt zum Erforschen von Religion die Erfahrung (das Numinose) voraus. Mehr noch, mit Bezug auf den Zustand der Piloerektion (Gänsehaut) beim religiösen Erleben führt er meiner Sicht nach sogar einen versteckten physiologischen Gottesbeweis ein. „Religiöse“ Richtungen, z. B. Vertreter der „Deutschen Gesellschaft für Transpersonale Psychologie“, nehmen Ottos Modell häufig als Beispiel für eine Begründung religiösen Erlebens.¹ Charles Darwin, anglikanischer Theologe und Biologe, der mit den letzten Sätzen aus seiner Schrift „Über die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtauswahl oder die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampfe um′s Dasein“ sogar in Gebetsanthologien vertreten ist, löste sich im Laufe des Lebens vom Gottesglauben.² Atheistische Naturforscher wie die Vertreter der Bright Bewegung (expl. Richard Dawkins) nennen ihn als Kronzeugen für eine Entstehung der Welt ohne göttliches Sein.³ In diesem Zusammenhang erwähnenswert scheint mir der Aufsatz „Zum Verhältnis von Psychologie und Transpersonaler Orientierung – zwei grundsätzliche Möglichkeiten“ von Peter Gottwald, der sich, ohne Nennung des Namens Rudolf Otto, direkt auf die bei Otto genannten Gefühlszustände der numinosen Erfahrung (Fascinosum und Tremendum) bezieht (Peter Gottwald, Zum Verhältnis von Psychologie und Transpersonaler Orientierung – zwei grundsätzliche Möglichkeiten, in: Perspektiven transpersonaler Forschung. Jahresband 1 des DKTP, hg.v. Wilfried Belschner/Joachim Galuska/Harald Walach/Edith Zundel, Oldenburg 2001, 135– 145). Da Gottwald aber den direkten Bezug auf das Werk Ottos vermeidet, bleibt fraglich, inwieweit er Otto als eigenständige Persönlichkeit der Religionspsychologie wirklich ernst nimmt oder ob er letztlich doch nur Ottos Termini abgelöst von dessen Werk selbst nutzt. Eine solche Gebetsanthologie ist z. B. die von Christoph Einiger herausgegebene Sammlung „Die schönsten Gebete der Welt“, in welcher der letzte Abschnitt von Charles Darwins Schrift „Über die Entstehung der Arten…“ offensichtlich als Zeugnis des Gottesglaubens erachtet wird. (Charles Darwin, Die Frage ob ein Schöpfer existiert, in: Die schönsten Gebete der Welt, hg.v. Christoph Einiger, München 21996,186). Ein interessanter Aspekt sollte im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit Darwin und Otto nicht unerwähnt bleiben. Unter der Bezeichnung „The Four Horsemen“ ist im Netz ein Gespräch einsehbar, in dem die vier Naturwissenschaftler Christopher Hitchens, Daniel Danett, Richard Dawkins und Sam Harris aus ihrem Atheismus herleitend die Ansicht vertreten, dass zwar das „Übernatürliche“ (supernatural) im Sinne einer Festschreibung religiöser Dogmen abzulehnen sei,
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Als Religionswissenschaftler aus Leipzig, der in der Linie des Religionshistorikers Kurt Rudolph unterwiesen wurde, bin ich gefordert, die Frage nach dem Bestehen des Übersinnlichen für das eigene Forschen auszuklammern.⁴ Ein methodisch-atheistischer Neoprenanzug könnte auch zum Einen dazu verführen, das Gewicht religiöser Prägung für die Theorieentwicklung vermeintlich rein atheistischer Ansätze in Gänze ausblenden zu wollen. So äußert z. B. der Psychologe Alexander Kochinka, dass Darwins Ideen trotz „Gottesverlustes“ anzumerken ist, dass sie eine von Gott durchwaltete Welt voraussetzen.⁵ Zum Anderen könnte die religiös-religionswissenschaftliche Tradition in ihrer durchaus spannenden Beeinflussung durch andere wissenschaftliche Ideen ihrer Zeit gar nicht erst wahrgenommen werden, da sie als religiös vergiftet gilt. Bei einer Einordnung Rudolf Ottos in den Rahmen der Psychologiegeschichte wäre zu beachten, dass er fraglos ganzheitspsychologische Ideen seiner Zeit – explizit jene von Erich Rudolf Jaensch und implizit jene von Karl Bühler – in seine Religionstheorie einzuflechten versucht.⁶ Eine Betrachtung Rudolf Ottos und Charles Darwins aus psychologiehistorischer Sicht scheint der Religionswissenschaft über lange Zeit verstellt gewesen zu sein. Ein Grund dafür mag das traumatisierte Verhältnis vieler heutiger Religionswissenschaftler zu den eben auch theologischen Wurzeln der eigenen Disziplin sein. Die theologische Wurzel verführte oft genug zu einer zumindest versteckt christozentrischen Sicht auf „fremde“ Religionen.⁷ Ferner machte und macht es die als latent verabsolutierend wahrgenommene normative Sicht vieler theolo-
dies aber nicht für das „Numinose“ gelte – wobei die genannten vier Ottos Terminus im Sinne einer erhebenden Naturerfahrung zu definieren scheinen (s. hierzu „The Four Horsemen – transcript“, auf: http://richarddawkinsfoundation.org/fourhorsementranscript, eingesehen am 05.01. 2013). Die Sicht von Kurt Rudolph, ein Religionswissenschaftler solle sich religiös gerade nicht verorten, vertritt z. B. in Marburg auch die Leiterin der religionskundlichen Sammlung der Universität Marburg, die Religionswissenschaftlerin Edith Francke, die ihr eigenes Herangehen in einer Führung durch die Sammlung im Rahmen des Rudolf Otto-Kongresses erläuterte. Dieses Vorgehen wurde in diesem Rahmen explizit vom Soziologen Hans Joas stark kritisiert. Alexander Kochinka, Emotionstheorien. Begriffliche Arbeit am Gefühl, Bielefeld 2004, 162. Auf die eidologische Forschung von Erich Rudolf Jaensch verweist Rudolf Otto z. B. explizit in seinem Aufsatzband „Das Gefühl des Überweltlichen (Sensus Numinis)“ im Essay „Das spontane Erwachen des Sensus Numinis“ (Rudolf Otto, Das spontane Erwachen des Sensus Numinis, in: GÜ, 274). Ein indirekter Hinweis auf Bühler findet sich im gleichen Aufsatzband im Essay „Der Sensus Numinis als geschichtlicher Ursprung der Religion“ (Rudolf Otto, Der Sensus Numinis als geschichtlicher Ursprung der Religion, in: GÜ, 55). Beim Rudolf Otto-Kongress wurde diese Thematik explizit im Rahmen des Vortrags „Rudolf Ottos Deutung des Islams“ durch Arnulf von Sheliha erläutert, der zwar feststellte, dass Rudolf Otto kein spezifisch negatives Bild vom Islam vertrete, wohl aber ein Bild vom Islam als einer raueren Religion zeichne, die dem christlichen Glauben unterlegen sei.
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gischen Fakultäten, kultur- und/ oder sozialwissenschaftlich arbeitenden Religionswissenschaftlern schwer, sich dadurch nicht erdrückt zu fühlen. Was könnte ein entspannter religionswissenschaftlicher Blick auf Otto und Darwin bewirken? Was könnten hier neue Betrachtungsweisen bieten? Den für mich wichtigsten Beitrag zu diesem Thema brachte kein Religionswissenschaftler, sondern ein Theologe mit dem Schwerpunkt Wissenschaftsgeschichte. Für meine Dissertation erreichte er mich nicht mehr pünktlich, für meine Verteidigung gerade noch zur rechten Zeit. Am 3. Februar 2010 brachte das Feuilleton der F.A.Z. einen Bericht über die Forschungsergebnisse von Hans Martin Barth, der die von Rudolf Otto selbst gerne betonte Distanz zu Charles Darwin aufzuweichen begann.⁸ Barth zeigte, wie sehr Otto evolutionäre Ansichten zu höher entwickelten Religionen vertritt.⁹ Dadurch konnte ich mit meiner Antwort auf die Frage eines meiner Prüfer, warum Otto auch noch für unsere Zeit von Bedeutung sei, den eigenen Forschungsergebnissen mehr Gewicht verleihen. Was war mein eigener religionswissenschaftlicher Ansatz? Eine zentrale Frage meiner Arbeit war, ob ein Religionstheoretiker des frühen 20. Jahrhunderts wie Rudolf Otto, der so stark das menschliche Gefühlsleben ins Zentrum seines Hauptwerks „Das Heilige“ rückte, nicht auch von Emotionstheorien seiner Zeit beeinflusst sein sollte. Dies galt umso mehr, als die Gefühle im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert häufiges Forschungsthema verschiedener psychologischer Schulen waren.¹⁰ Erst durch die Dominanz behavioristisch ausgerichteter Verhaltenswissenschaft in der Seelenkunde begann sich dies zu ändern.¹¹ Seit den
Thomas Gross, Aus der Natur folgen keine Zwecke und Ziele. Rudolf Otto, Verfasser des religionswissenschaftlichen Klassikers „Das Heilige“ als Gegner der Darwinisten, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung für Deutschland, Nr. 28 (2010), N4. Hans Martin Barth, Naturalismus, Darwinismus und das Heilige nach Rudolf Otto, in: Neue Zeitschrift für systematische Theologie und Religionsphilosophie, Bd. 51, Heft 4, Berlin/New York (2009), 445 – 460. Sowohl die experimentelle Forschung der Psychologie in den USA, die im 19. Jahrhundert durch William James eingeleitet wird, als auch die experimentelle Forschung in Europa, für die das Leipziger Institut unter Wilhelm Wundt steht, stellten die Erforschung des Gefühlsleben ins Zentrum und gelten heute als heute als Klassiker der Emotionspsychologie. Es gab in den 1920er Jahren einen Streit zwischen der anglo-europäisch ausgerichteten Verhaltenswissenschaft (Etologie) und dem US-amerikanischen Behaviorismus. Die Etologie basierte im Kern auf der Zielpsychologie Franz Brentanos und ging von angeborenen Instinkten/ Trieben aus, welche unsere Gefühle bedingten. Ein zentraler Vertreter dieser Richtung war der englische Psychologe William McDougall. Sein Kontrahent war der Behaviorist John Broadus Watson, der Gefühle bis auf die drei ungelernten Reaktionsmuster (Furcht, Wut und Liebe) als umweltbedingt erachtete (s. hierzu: Wolfgang Schönpflug, Geschichte und Systematik der Psychologie. Ein Lehrbuch für das Grundstudium, Weinheim/Basel 22000, 327– 329).
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letzten Jahrzehnten wird den Emotionen in der „allgemeinen Psychologie“¹² wieder verstärkt Bedeutung beigemessen.¹³ Mir selbst war das Thema „Emotionen“ seit dem Abschluss meines Grundstudiums in Form des Teilbereiches „Emotion und Motivation“ in den Grundzügen vertraut. Ein Autor, der in diesem Zusammenhang immer wieder angeführt wurde, war Charles Darwin, dessen Schrift „Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren“ zu seiner Zeit einen weitreichenden Einfluss gehabt hat. Seit den Gefühlen in der Forschung der „allgemeinen Psychologie“ heute wieder mehr Beachtung zukommt, wird in den Schriften zur Emotionspsychologie oft auf zentrale Aspekte dieses Werks von Charles Darwin verwiesen. Hierzu gehören speziell die Universalitätsidee und die drei Prinzipien. Die drei Prinzipien sind: 1. „Das Prinzip der zweckmäßigen Gewohnheit“,¹⁴ 2. „Das Prinzip des Gegensatzes“,¹⁵ 3. „Das Prinzip der direkten Wirkung des erregten Nervensystems auf den Körper, unabhängig vom Willen und zum Teil von der Gewohnheit.“¹⁶ Das erste Prinzip besagt, dass sich Emotionsausdrücke erhalten, die sich in der Entwicklung als hilfreich erwiesen haben. Das zweite Prinzip meint, dass es „widersinnige“ Gefühlsäußerungen gebe, die sich formen, da sie in Kontrast zu bestehenden, logisch nachvollziehbaren Gefühlsausdrücken stehen. Das dritte
Die allgemeine Psychologie befasst sich mit den Seelenfunktionen, die sich bei jedem Menschen finden. Solche Funktionen sind z. B. die Wahrnehmung, die Emotion oder das Denken. Im ersten Band der „Einführung in die Emotionspsychologie“ von Meyer, Schützwohl und Reisenzein wird der Forschungszweig Emotionspsychologie unter Berufung auf den Psychologen Klaus Scherer als langjährige „Geisterstadt“ (Ghosttown) beschrieben. Bezogen auf die Entwicklung seit den 1980er Jahren heißt es hingegen dort zu Forschungen im Bereich Emotionspsychologie unter Bezug auf die US-amerikanische Sozialpsychologin Ellen Berscheid: „…schon drei Jahre nach Scherers (1981) Gegenüberstellung des ‚Goldrausches‘ im Attributions Canyon und am Cognition River mit der ‚Ghosttown‘ Emotion City machte Berscheid in einem Kongreßvortrag (der allerdings erst 1990 als Buchveröffentlichung abgedruckt wurde) nun einen neuen ‚Goldrausch‘ in der Emotionspsychologie aus (Berscheid, 1990, S. 22). In der Tat: Seit einigen Jahren sind die Zeitschriftenpublikationen zum Thema Emotion kaum noch zu überblicken; jährlich erscheinen inzwischen mehrere einschlägige Monographien; und im Jahre 1986 wurde eine eigene Zeitschrift (Cognition and Emotion) gegründet, die ausschließlich theoretische und empirische Arbeiten zum Thema Emotion veröffentlicht. (Wulf-Uwe Meyer/Achim Schützwohl/Rainer Reisenzein, Einführung in die Emotionspsychologie, Bd. I, Bern/Göttingen/ Toronto/Seattle 1993, 16). Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemuetsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren. Mit 21 Holzschnitten und 7 Tafel, Stuttgart 61910, 25 – 43. A.a.O. 44– 57. A.a.O. 58 – 72.
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Prinzip besagt, dass Gefühlsausdrücke aus einer direkten Reiz-Reaktionsfolge heraus entstehen. Von den drei Prinzipien haben sich das zweite, das Prinzip des Gegensatzes, und das dritte Prinzip in der Wissenschaft als weniger zwingend gezeigt.¹⁷ Die Annahme, dass sich Emotionen in einer eigenen Logik als Gegensatz zu bestehenden Gefühlsausdrücken formen, sieht z. B. das Autorenteam Vittorio Hössle und Christian Illies ohne Mitwirkung des Verstandes als schwierig an.¹⁸ Rudolf Otto hingegen greift Darwins Idee auf. Wer sich mit der Geschichte der Psychotherapien befasst, wird feststellen, dass Ottos Theorie stark von Vertretern jener Tiefenpsychologie aufgenommen wurde, die im Finden eigener Religiosität einen Weg zur Heilung sahen, z. B. C.G. Jung.¹⁹ Diese Nähe kommt nicht von ungefähr, lautet doch der Untertitel von Ottos Hauptwerk „Das Heilige“: „Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen.“ Dass auch Darwins zweites Prinzip als Ausdruck des Irrationalen im Gefühl gesehen werden kann, zeigt der Psychologe Christopher Badcock in seinem Werk „Psychodarwinismus“. Darin lässt er Anna Freud dieses Prinzip Darwins anwenden. Sie schildert den Fall einer Tochter, die ihre vermeintlich über alles geliebte Mutter im Winter so fest in einen Schal wickelte, dass diese daran fast erstickte – eine Reaktionsbildung aus Aggression heraus.²⁰ Rudolf Otto scheint mir in seiner Beschreibung von Darwins zweitem Prinzip sogar weitaus näher am Original. Darwin zitiert als Beleg dieses Prinzips in seinem „Ausdruck der Gemütsbewegungen“ den Chemiker M. E. Chevreul, wonach ein
Klaus R. Scherer/Harald G. Walbott, Ausdruck von Emotionen, in: Psychologie der Emotion, Bd. 3, Enzyklopädie der Psychologie, hg.v. Klaus R. Scherer, Göttingen/Toronto/Zürich 1990, 348 – 349. Vittorio Hösle/Christian Illies, Darwin, Freiburg im Breisgau/Basel/Wien 1999, 145 – 146. C.G. Jungs Bezug zu Rudolf Otto findet sich am klarsten in einem Zitat des Bandes „Psychologie und Religion“ wieder, in dem Jung äußert: „Wenn ich von Religion spreche, muß ich zuvor erklären, was ich mit diesem Begriff meine. Religion ist, wie das lateinische Wort religere meint, eine sorgfältige und gewissenhafte Beobachtung dessen, was RUDOLF OTTO treffend das ‚Numinose‘ genannt hat, nämlich eine dynamische Existenz oder Wirkung, die nicht von einem Willkürakt verursacht wird. Im Gegenteil, die Wirkung ergreift und beherrscht das menschliche Subjekt, welches immer viel eher ihr Opfer denn ihr Schöpfer ist. Das Numinose – was immer auch seine Ursache sein mag – ist eine Bedingung des Subjekts, die unabhängig ist von dessen Willen. Jedenfalls erklärt sowohl die religiöse Lehre als auch der consensus gentium immer und überall, daß diese Bedingung einer Ursache außerhalb des Individuums zuzuordnen sei. Das Numinose ist entweder die Eigenschaft eines sichtbaren Objektes oder der Einfluß einer unsichtbaren Gegenwart, welche eine besondere Veränderung des Bewusstseins verursacht. Dies ist wenigstens allgemeine Regel.“ (Carl Gustav Jung, Psychologie und Religion, München 1990, 9 – 10). Christopher Badcock, Psychodarwinismus. Die Synthese von Darwin und Freud, München 1999, 25 – 26.
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Billardspieler vor dem Stoß auffallend unlogisch erscheinende Verrenkungen vollführe.²¹ Otto nennt in „Das Heilige“ das Beispiel des Kegelspielers, das in der Vorgangsbeschreibung dem Pool-Spieler aus Darwins Schrift sehr nah erscheint.²² Er stellt dann Überlegungen zur Magie an – Ideen wie sie sich in Bezug auf den Zusammenhang von Religion und Emotion ähnlich auch in den Emotionsbeschreibungen Darwins finden lassen, so in dessen „Gemütsbewegungen“ wie im Werk „Die Abstammung des Menschen“.²³ Weniger klar ist die Nähe zu den beiden anderen Prinzipien. Dennoch scheint es mir lohnend, zumindest auch das dritte Prinzip noch einmal genauer zu betrachten. Wie erwähnt ist die Gänsehaut, die cutis anserina, für Otto zentral als physiologischer Beleg des Numinosen. Emotionen sind Ausdruck einer direkten Reiz-Reaktionsfolge. Religiös umgeformt: Emotionen sind direkter Ausdruck göttlichen Wirkens. Otto, so scheint mir, wendet sich damit verdeckt gegen eine Ansicht von William James, der in seinem Werk „Vielfalt der religiösen Erfahrung“ diese Hautreaktion gerade nicht unmittelbar mit Religion in Bezug setzt.²⁴ Die Bedeutung der Gänsehaut aber weist Otto wiederum indirekt als Darwins Erben aus. Eine von James′ naturwissenschaftlichen Quellen in seiner später als JamesLange- Theorie berühmt gewordenen physiologischen Emotionstheorie war Charles Darwins Werk. Dieses Modell besagt, dass nicht die Angst ein Zittern hervorrufe, sondern umgekehrt die Angst eine Reaktion des Zitterns sei – eine Nähe zu Rudolf Otto wurde hier bereits vom Jesuiten Hendryk Machon skizziert.²⁵ Für James und Otto ist die Furcht zentraler Aspekt ihrer Religionspsychologie. Ein Vorläufer von beiden ist auch hier wieder Charles Darwin. Keine andere Emotion
Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemuetsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (Anm. 14), 5 – 6. DH, 143 – 144. Eine Szene aus Darwins „Die Abstammung des Menschen“ ist hier recht aufschlussreich. Darwin vermeint in der Ergebenheit des Hundes vor seinem Herrn zu erkennen, dass der Mensch dem Tier gleich einem Gott erscheine und der Hund sich dem Menschen deshalb völlig unterwerfe. (Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen. Mit einer Einführung von Christian Vogel, Stuttgart 52005, 120). James selbst schreibt: „Es wäre für unsere Psychologen eine interessante Aufgabe, den organischen Sitz dieses Gefühls aufzuzeigen. Nichts liegt näher, als dieses Gefühl mit der Innervationsempfindung in Verbindung zu bringen, d. h. mit der Empfindung, daß unsere Muskeln sich zur Tätigkeit anschicken. Was auch immer unsere Tätigkeit in Bewegung setzt, oder uns Gänsehaut erregt – und unsere Sinne tun das am häufigsten – könnte dann als real und gegenwärtig erscheinen, selbst wenn es nur eine abstrakte Idee wäre. Indes wir haben es jetzt mit solch vagen Vermutungen nicht zu tun; unser Interesse gilt der Fähigkeit selbst, nicht ihrem organischen Sitz.“ (William James, Die religiöse Erfahrung in ihrer Mannigfaltigkeit. Materialien und Studien zu einer Psychologie und Pathologie des religiösen Lebens, Leipzig 41925, 50). Hendryk Machon, Religiöse Erfahrung zwischen Emotion und Kognition, München 2005, 133.
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bringt Darwin in seinen „Gemütsbewegungen“ so häufig mit dem Bereich Religion in Bezug wie die Furcht. Darwin als Begründer der modernen, nicht mehr bloß philosophisch-hermeneutischen, sondern naturwissenschaftlich untermauerten emotionspsychologischen Forschung, führt mit seinen Furchtbeschreibungen einen Topos in die psychologisch-experimentelle Forschung ein, der bei einer Vielzahl von Klassikern dieser Richtung zu finden ist.²⁶ Obgleich Darwin das Bestehen primärer religiöser Gefühle bewusst verneint, lassen seine Beschreibungen der Furcht doch auch eine andere Sicht zu, sprich: Religiöse Erfahrung und Furcht sind unmittelbar verbunden. Otto hat mit der Idee des Heiligen diesen Topos religionstheoretisch gewandet.²⁷ Ein anderer wichtiger Aspekt in Darwins Schrift über die Gemütsbewegungen ist sein Anspruch, die von ihm untersuchten und nicht kulturell überformten Emotionen, die sogenannten primären Emotionen, seien global zu finden. Bei Darwin heißt es wörtlich: „Wenn nun immer dieselben Bewegungen der Gesichtszüge oder des Körpers bei mehreren verschiedenen Rassen des Menschen dieselben Seelenbewegungen ausdrücken, so können wir mit großer Wahrscheinlichkeit folgern, daß derartige Ausdrucksarten echte sind, d. h. daß sie angeborene oder instinctive (sic!) sind.“²⁸ Otto formuliert im Essayband „Sensus Numinis“, gleichwohl ohne naturwissenschaftliche Untermauerung, ähnlich: „Das Irrationale des Numinosen … ist Moment aller Religion.“²⁹ Wird der Ausdruck „Das Irrationale“ umgeformt zum Begriff des (religiösen) Gefühls und bzw. oder des (religiösen) Gefühlsausdrucks, lassen sich beide Ansichten als verwandte Ideen über die globale Verbreitung des primären Gefühls lesen. Der Aussage Darwins kommt dabei in meinen Augen mehr Gewicht zu, als es zunächst scheinen mag. Ottos Versuch religiöses Wirken mittels seiner Idee des Numinosen naturwissenschaftlich zu untermauern, ist aus heutiger religionswissenschaftlicher Sicht klar abzulehnen. Otto mag in den Beschreibungen des Numinosen im Recht sein oder nicht. Als in meiner Rede dem Diesseits verpflichteter
Die in meiner Dissertation betrachteten Autoren nach Darwin – sprich Wundt, James und McDougall – nehmen in ihren Schriften durchgehend auf die Untersuchungen Darwins zum Emotionsausdruck Bezug. Es ist eine interessante Frage, ob die vergleichsweise starke Wirkung Rudolf Ottos in der tiefenpsychologisch und phänomenologisch/ transpersonal ausgerichteten (Religions‐)Psychologie nicht zumindest auch ihre Ursache in Ottos Auseinandersetzung mit der Experimentalpsychologie seiner Zeit hatte. Es könnte ferner sein, dass die Ideen der Experimentalpsychologie seiner Zeit in die (religions‐)psychologische Forschung heute Eingang finden, da sich diese der Ideen Ottos bedient. Es erscheint somit denkbar, dass die psychologische Forschung zu Ottos Zeit dadurch quasi durch die Hintertür wieder Einlass in die heutige Psychologie gefunden hat. Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemuetsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (Anm. 14), 13. Rudolf Otto, Das Numinos-Irrationale im Buddhismus, in: GÜ, München 1932, 241– 260.241.
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Religionsforscher kann ich keine Aussagen darüber treffen, ob die von ihm gemachten physiologischen Beobachtungen über das Numinose tatsächlich eine transzendente Ursache haben oder nicht.³⁰ Dass Ottos Schilderungen auch aus der säkularen Sicht des Religionspsychologen schwierig nachvollziehbar sind, die globale Verbreitung dieser religiösen Gefühlsmixtur fraglich ist, worauf z. B. der Jesuit und Religionspsychologe Bernhard Grom verweist, ist eine andere Sache.³¹ Die Tatsache aber, dass es wahrscheinlich wirklich angeborene Emotionen gibt, die weltweit verbreitet sind, wie Darwin hier z. B. nach Ansicht des Psychologen Paul Ekman mit Recht behauptet, belegt, dass auch Ottos globale Sicht zumindest eine teilweise Berechtigung haben könnte.³² Otto hat sich Zeit seines Lebens für die Entwicklung der Naturwissenschaft, der Biologie, Psychologie und Medizin interessiert. Er überlegte sogar zeitweise ein eigenes Medizinstudium zu absolvieren. Diese Basis war in meinen Augen auch Quelle seiner Religionstheorie, die mit auf der Emotionstheorie Charles Darwins fußt. Angesichts dieser zumindest sehr glaubwürdigen naturwissenschaftlichen Quellen ist es meines Erachtens aber fragwürdig, Otto wie auch anderen klassischen Religionsphänomenologen den Vorwurf zu machen, die Suche nach etwas global Verbindenden in allen Religionen sei generell fraglich und diese Methode sei durch die Bank falsch. Es lässt sich festhalten: In der Religionswissenschaft besteht ein Streit zwischen den Religionsforschern, die meinen, dass es eine überall zu findende (religiöse) Idee und/ oder Erscheinung gibt, die sich in allen Religionen finden lässt, und jenen Religionswissenschaftlern, die annehmen, dass jede Religion auf je verschiedenen kulturellen und/ oder gesellschaftlichen Gegebenheiten beruht, die jede Verallgemeinerung verbieten. Während die erste Ansicht sich oft bei Theoretikern klassischer Ansätze der Religionsphänomenologie findet,
Fritz Stolz führt z. B. in seinem Einführungswerk zur Religionswissenschaft aus, dass der Gebrauch einer Metasprache mit der Entfremdung von Religiosität einhergehe. Er schreibt: „Die religionswissenschaftliche Metasprache soll ein universal anwendbares Instrument zur Benennung und Klassifikation religiöser Phänomene sein; diese Umsetzung ist nur in einem Abstraktionsprozeß zu erreichen, und diese Abstraktion bedeutet Verfremdung der bearbeiteten Symbolsysteme und natürlich auch Entfremdung vom religiösen Leben selbst“ (Fritz Stolz, Grundzüge der Religionswissenschaft, Göttingen 21997, 225). Bernhard Grom, Religionspsychologie, München 32007, 183. Während der Psychologe Paul Ekman die Universalitätsthese stützt und eine eigene „Grammatik“ des Gesichtsausdrucks erstellt hat, die seine These belegen soll, und die inzwischen sogar zur Terrorismusbekämpfung eingesetzt wird (aufschlussreich ist in dieser Hinsicht ein Bericht des Spiegel aus dem Jahr 2007 [Gerald Traufetter, Das Gesicht als Fenster. Der USPsychologe Paul Ekman trainiert Sicherheitsbeamte, in den Gesichtern von Flugpassagieren böse Absichten zu erkennen. So sollen sie Terroristen an der Personenschleuse ausfindig machen, in: Der Spiegel, Nr. 2 [2007], S. 200]), melden andere Forscher hier Zweifel an (s. hierzu z. B. Niels Birbaumer/Robert F. Schmidt, Biologische Psychologie, Heidelberg 62006, 691).
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zeigt sich die zweite Sichtweise eher typisch für die sozialwissenschaftlich orientierten Vertreter der heutigen Religionswissenschaft. Angesichts global zu findender biologischer Gegebenheiten und den darauf beruhenden neuen Ideen in der kognitiven Religionswissenschaft³³ scheint es mir aber fraglich, ob der Streit zwischen den beiden Richtungen wirklich so klar zugunsten der sozialwissenschaftlichen Sicht entschieden ist, wie es oft den Anschein hat.³⁴ Dass eine globale Suche nach einem übergeordneten religiösen Phänomen jedoch allzu häufig, so auch bei Otto, den Blick auf Feinheiten und Besonderheiten in den Religionen verhinderte, ist etwas anderes. Einen Sonderbereich der Beschäftigung Rudolf Ottos mit Charles Darwins Emotionstheorie bilden in meinen Augen Darwins Forschungen zur Lautkunde. Diese Ideen sind in der Emotionspsychologie so gut wie nicht wahrgenommen worden, nur in der Musikwissenschaft gibt es eine kleine Rezeptionsgeschichte von Darwins Untersuchungen. Doch erscheint eine Rezeption der Ideen Darwins durch Otto durchaus folgerichtig. Darwin selbst fordert auf, sich „… bei allen Menschenrassen, welche nur wenig mit Europäern in gesellige Berührung gekommen sind …“³⁵ mit deren Emotionen, vorrangig mittels Photographien, zu befassen. Otto scheint dies einsichtig gewesen zu sein, zumindest untersucht er „religiöse“ Emotionslaute, die er vorrangig fernab des christlichen Abendlandes findet. Darwin wie Otto scheinen hier erneut von einer Ursprünglichkeit der Gefühle auszugehen.Wer in Ottos Essay „Urlaute und Urtermini des Sensus Numinis“ eintaucht, stellt ferner fest, dass sich viele der von ihm beschriebenen „religiösen“ Lautäußerungen sowohl in ihrer Klanglichkeit als auch in ihrer Deutung bereits in Charles Darwins „Gemütsbewegungen“ finden. Darwins Beschreibung des „O“ als lautlicher Ausdruck des Erstaunens wandelt sich bei Otto zum hinduistischen Om aus „numinoser Ergriffenheit“.³⁶ Darwins Wahrnehmung des schmerzhaften Staunens beim Laut „A“ zeigt eine Nähe zu Ottos Sicht auf das „A pscht“, das askaryra des Sanskrit, von dem er sagt, es breche im „urkräftig rohem Urlaut“
Der Religionswissenschaftler Sebastian Schüler behandelt dies Problem in seiner Dissertation. (s. hierzu: Sebastian Schüler, Religion, Kognition, Evolution. Eine religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Cognitive Science of Religion, Stuttgart 2012, 36 – 43). Jacques Waardenburg bringt die Geschichte der Religionsphänomenologie mit den beiden philosophischen Hauptströmungen der griechischen Antike zusammen, dem platonischen und aristotelischen Denken. Während er z. B. bei Friedrich Heiler Tendenzen zur Platonisierung, zur Ideenlehre erkennt, setzt er im Gegensatz dazu den neueren phänomenologischen Ansatz von Kurt Goldammer mit der Formenlehre des Aristoteles in Bezug. (Jacques Waardenburg, Religionsphänomenologie 2000, in: Noch eine Chance für die Religionsphänomenologie, hg.v. Axel Michaels/Daria Pezolli-Olgiati/Fritz Stolz, Bern u. a. 2001, 445). Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemuetsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (Anm. 14), 12– 13. Rudolf Otto, Urlaute und Urtermini des Sensus Numinis, in: GÜ, 208.
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heraus.³⁷ Darwins Beschreibung des Furchtzustands beim „U“ bringt Otto als Zustand eines „Schreckens mit leichtem Grauen“ mit dem „Hu“ des Arabischen in Bezug, dem „Ihm“ als Begriff für Gott in der dritten Person.³⁸ Dass sich Otto und Darwin in ihren Ideen hier sehr verwandt zeigen, deutet darauf hin, dass Otto sich Darwin diesbezüglich zum Vorbild nahm. Die Auseinandersetzung mit Fragen der Musikwissenschaft zeigt verdeckt noch einen wichtigen Punkt, der Darwin und Otto verbindet. Wer Ottos Werk „Das Heilige“ zur Hand nimmt, kann feststellen, wie stark Otto Querverbindungen zu den Kunstwissenschaften sucht. Überlegungen zu numinosen Erscheinungen in der bildenden Kunst finden sich dort ebenso wie jene zum „ganz Anderen“ in Dichtung und Musik. Darwin erhebt in acht Prinzipien, die er als Leitlinien in die „Gemütsbewegungen“ einbindet, die Prüfung „… von den großen Meistern der Malerei und Bildhauerkunst …“ in Hinblick auf ihre Darstellung von Emotion zur Aufgabe, sich dem Gefühlsausdruck global anzunähern.³⁹ Wer in Darwins Werk eintaucht, bemerkt dann auch bei ihm die Neigung, seine Forschungen weiter mit Beispielen aus Dichtung und Musik anzureichern. Hier ist Verwandtschaft zu spüren, die über das weltanschaulich Trennende hinaus etwas Verbindendes schafft. Auch in diesem Punkt mag Darwin Otto beeinflusst haben. Deutliche Einflüsse, aber auch klare Abgrenzung von Darwins psychologischer Forschung zeigt Ottos Werk, hier das einzige Mal offen, in einer Studie zur religiösen Kindheitsentwicklung, dem Essay „Spontanes Erwachen des Sensus Numinis“. Zu bemerken ist, dass Ottos Begegnung mit der Marburger Ganzheitspsychologie von E. R. Jaensch, auf den ersten Blick betrachtet, mit einer Verlagerung seines Interesses vom Gefühlsausdruck hin zur Wahrnehmung einhergeht. Ebenfalls lässt sich feststellen, dass Otto wie Jaensch das (religiöse) Wahrnehmen und/ oder Gefühl der frühen Adoleszenz-Zeit schildern und nicht wie Darwin jenes der frühesten Kindheit beschreiben. Jaensch wie auch andere Wahrnehmungspsychologen des frühen 20. Jahrhunderts gingen davon aus, dass es in der Adoleszenz bei einigen begabten Jugendlichen, verstärkt um das zwölfte Lebensjahr herum, zur Formung von Anschauungsbildern komme. Diese Bilder bildeten sich spontan als starke Form- und Farbwahrnehmungen. Sie seien gleichwohl keine Halluzinationen sondern seien eher dem photographischen Gedächtnis verwandt.⁴⁰ Die Forschung, welche solche Bilder erkundete und die in
A.a.O. 204. A.a.O. 203.203 – 204. Charles Darwin, Der Ausdruck der Gemuetsbewegungen bei dem Menschen und den Tieren (Anm. 14), 12. Einen anschaulichen Bericht zu diesem Thema gibt ein Artikel des Zeit-Journalisten Peter Roese aus dem Jahr 1970. Er verdeutlicht zudem die Wirkmächtigkeit des Forschungsthemas Eidetik bis in
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der experimentellen Psychologie zu Zeiten Rudolf Ottos eine wichtige Rolle spielte, wurde Eidetik genannt.⁴¹ Dieses Wissen floss in Ottos Überlegungen mit ein. Der „Proband“ in Darwins Essay „Biographical Sketch of an infant“, dessen (religiöse) Furcht er schildert ist, wird im Laufe von Darwins Studie 2¼ Jahr alt.⁴² Ottos Beispiele hingegen schildern Visionen gemäß den eidologischen Forschungen von Jaensch. Sie sind allesamt um das zwölfte Lebensjahr herum angesiedelt.⁴³ Es mag sein, dass der „Antikonstruktivist“ Rudolf Otto, als den ihn der evangelische Theologe Georg Pfleiderer sieht, den Forschungen Jaenschs folgend, bewusst oder unbewusst, von einem seelischen Konstruktionsvorgang in der Wahrnehmung ausgeht.⁴⁴ Es könnte jedoch genauso gut sein, dass die („religiösen“) Wahrnehmungen für Otto ein rein (numinoser) Reflex sind, womit er dann wohl eher in der Tradition des dritten Prinzips bei Darwin verharrt. Fest steht: Otto bleibt der darwinistischen Sicht in einigen Punkten treu. Dass es z. B. ein Problem sein könnte, zum Verständnis der gesamten Lebenspanne des Menschen nur die Kindheit in den Blick zu nehmen, wird von den Ganzheitspsychologen, die Rudolf
die 1970er Jahre hinein (Peter Roese, Mit den Augen kann sie Bäume belauben. Exakte Experimente beweisen: Eidetiker gibt es wirklich, in: Die Zeit Nr. 9 [1970], 52 auf: http://pdfarchiv.zeit.de/1970/09/ mit-den-augen-kann-sie-baeume-belauben.pdf, eingesehen am 23.02.2013). Obgleich die Eidetik in den letzten Jahrzehnten zu einem Randthema psychologischer Forschung geworden sein dürfte, besteht wohl immer noch Uneinigkeit darüber, ob besagte eidologische Nachbilder wirklich existieren oder nicht. Während noch Wilhelm Hehlmann im Jahr 1974 in seinem „Wörterbuch der Psychologie“ unter Bezug auf die Psychologen Heinrich Düker und Werner Traxel äußert, dass deren Bestehen zu hinterfragen sei, scheint dies für den japanischen Psychologen Kato Yoshimitsu nicht so klar zu sein, wenn er die Kritik an der Eidetik bei diesen Autoren zuvorderst auf eine unzureichende Definition des eidetischen Anschauungsbildes zurückführt. Dabei würden das allgemeine Vorstellungsbild (Bilder, die in jedem Menschen zugänglich seien), die Nachbilder (Bilder, die auf optische Reize hin entständen – z. B. durch das lange Starren in das Licht einer Lampe) und die eidetischen Anschauungsbilder (Bilder, die durch Vorstellung entstünden z. B. die Imagination der Farbe Orange, dabei jedoch, obgleich völlig subjektiv erzeugt, die optische Qualität von physiologisch erzeugten Nachbildern besäßen) in ihrer Definition nicht klar voneinander getrennt und daher vermengt werden. Die Kritik an der klassischen Eidetik entzünde sich daran, dass fälschlicherweise das eidetische Anschauungsbild nach der Methode und Verfahrensweise des Versuchs bestimmt werde, nicht aber sich Methode und Verfahren nach den Anschauungsbildern richteten (Wilhelm Hehlmann, Wörterbuch der Psychologie, Stuttgart 111974, 100; Kato Yoshimitsu, Zur Definition des eidetischen Anschauungsbildes, in: Journal of the faculty of letters, The University of Tokyo, aesthetics, Nr. 19 [1994]), auf: http://repository.dl.itc.u-tokyo.ac.jp/dspace/bitstream/2261/7129/1/ jt019007.pdf, eingesehen am16.01. 2013; Kato Yoshimitsu, Begriff und Verfahren der eidetischen Anschauung in Goethes Naturforschung, Kunstauffassung und Dichtung, Tokyo 1995, 59 – 62). Charles Darwin, Biographical Sketch of an Infant, in: Mind, Ausg. 2 (1877), 288. Rudolf Otto, Spontanes Erwachen des Sensus Numinis, in: GÜ, 275. Georg Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, Tübingen 1992, 119.
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Otto rezipierte, noch nicht thematisiert.⁴⁵ Vor allen Dingen aber verlegt Otto, anders als er vorgibt, das Gewicht eben nicht auf die optische Wahrnehmung z. B. der Farbeindrücke, die eher wie Beiwerk erscheinen, sondern er verbleibt in seinem klassischen Konzept jener Mischung aus Furcht und Gebanntsein, die tatsächlich recht wenig mit Jaenschs Eidologie, viel aber mit Darwins Topos (religiöser) Furcht zu tun hat, der bereits ein fester Bestandteil von dessen Kindheitsstudie ist. Die Darwin-Rezeption Rudolf Ottos zeigt, dass eine klare Trennung zwischen der religiösen Distanzierung des lutherischen Theologen Rudolf Otto vom Agnostiker Charles Darwin und der methodischen Nähe des naturkundlich bewanderten und religionspsychologisch interessierten „Religionsphänomenologen“ Rudolf Otto zum „Seelenforscher“ Charles Darwin zu ziehen ist. Darwins psychologische Forschungen scheinen zu Ottos Zeit so wirkmächtig gewesen zu sein, dass zumindest ein methodisches Ausklammern nicht möglich war und vielleicht nicht einmal gewollt wurde. Für Letzteres spräche wohl auch, dass Otto nach eigenem Bekunden bereits als Kind mit seinem Freund Heinrich Hackmann das Für und Wider der von Darwin entworfenen Ideen erläuterte.⁴⁶ Darwins Ansichten zur Erd- und Menschheitsentwicklung begleiteten Rudolf Otto bereits frühzeitig.⁴⁷ Dass auch der „Psychologe“ Darwin ihn beeinflusste, lässt Ottos Forschung auch in Hinblick auf jüngere bis jüngste Untersuchungen in der kognitiven Verhaltenswissenschaft, wie sie z. B. der Religionswissenschaftler Dirk Johannsen herausarbeitet, aktueller denn je erscheinen.⁴⁸
Die gesamte Lebensspanne wird erst ab den 1970er Jahren experimentell erforscht. Im Zusammenhang mit der Rudolf-Otto-Rezeption in der Psychologie erscheint mir gleichwohl interessant, dass einer der theoretischen Vorläufer einer „Life-span-theory“, Erik H. Erikson, in seinen Ausführungen Ottos Begriff des Numinosen verwendet, den er mit der ersten Begegnung des Säuglings mit seiner Mutter in Bezug setzt (Paul B. Baltes, Entwicklungspsychologie der Lebensspanne. Theoretische Leitsätze, 2 auf: http://commonweb.unifr.ch/artsdean/pub/gestens/ f/as/files/4655/8586_114346.pdf, eingesehen am 12.01. 2013; Hanno Willenborg, Das Heilige zwischen Gefühl und Emotion. Die klassischen Emotionstheorien von Charles Darwin, Wilhelm Wundt, William James und William McDougall im Vergleich zu Rudolf gefühlszentrierter Religionstheorie des Numinosen, 163 – 164). Fritz-Günther Strachotta, Religiöses Ahnen, Sehnen und Suchen. Von der Theologie zur Religionsgeschichte. Heinrich Friedrich Hackmann 1864– 1935, Frankfurt a.M. 1997, 63. Rudolf Otto, Vita zum ersten Examen (1891), 8, auf: http://www.religiousworlds.com/otto/ vita1.htm, eingesehen am 08.01. 2013. Johannsen beschreibt die Forschungsarbeit von Pascal Boyer und Justin Barrett, die ihre Forschung mit dem Ansatz der kognitiven Dissonanz begründen. Die kognitive Dissonanz beschreibt ein „Störgefühl“, das entsteht wenn z. B. Wahrnehmungen, Einstellungen und Gedanken nicht zusammen passen. In Johannsens Schrift heißt es über Ottos Moment des Tremendum bzgl. einer Oskorei (wilden Jagd): „Bei der Besprechung des tremendum in den Sagen der Telemark wurde auf Schilderungen kognitiver Dissonanzen eingegangen, welche die Furcht der
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Protagonisten zum Entsetzen steigerten: die Oskorei war unterwegs, man hörte sie bald hier bald da, und sah sie schließlich vielleicht noch in der Ferne verschwinden. Auch Boyer stellt fest, daß es als ‚particular weird and frightening‘ empfunden wird, etwas zum Beispiel nur zu hören, aber nicht zu sehen. Der Grund mag darin liegen, daß kognitive Dissonanzen evolutionär bedingt, eine ‚hypersensitive agency detection‘ (J. Barett) auslösen können, eine besondere Streßsituation, in der alle Sinnesinformationen unmittelbar auf mögliche Auslöser hin ausgelegt werden – je nach Umfeld Räuber oder eben die Oskorei als Verursacher wähnend. Bei derart unklaren Situationen seien (sicherheitshalber) kognitive Verarbeitungssysteme für verschiedene ontologische Kategorien parallel ‚hyperaktiv‘, entsprechend oft komme es zu widersprüchlichen Schlussfolgerungen“ (Dirk Johannsen, Das Numinose als kulturwissenschaftliche Kategorie. Nordische Sagenwelt in religionswissenschaftlicher Deutung, Stuttgart 2008, 258).
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Das Heilige im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit Am Anfang des dritten Kapitels des Buches über Das Heilige warnt uns Rudolf Otto: „Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten nicht weiter zu lesen.“¹ Auf den ersten Blick klingt diese Forderung befremdlich. Sie wird jedoch verständlicher, wenn wir bedenken, dass Rudolf Otto hier den von Schleiermacher gebahnten Weg der „Gefühlstheologie“ geht. Das Wesen der Religion ist, laut Schleiermacher, „weder Denken noch Handeln, sondern Anschauung und Gefühl“.² Weil jedes Gefühl aber ein ganz persönliches Erlebnis des Einzelnen ist, der Begriff dagegen das Allgemeine ausdrückt, so entsteht zwischen dem Gefühl und dem Begriff eine Diskrepanz. Man darf aber nicht vergessen, dass das Gefühl für Schleiermacher (sowie für Otto) keine verwirrte, diffuse Seelenregung ist, vielmehr ein „unmittelbare[s] Selbstbewusstsein“³ – eine ganz bestimmte, streng strukturierte Bewusstseinsweise, durch die allein wir imstande sind, uns gewisser Inhalte bewusst zu werden. Eben solch ein Inhalt ist das Heilige, dessen Grundstruktur Otto als mysterium tremendum et fascinans bezeichnet und folgendermaßen beschreibt: „Mysterium benennt ja begrifflich nichts weiter als das Verborgene, das heißt das nicht Offenkundige nicht Begriffene und Verstandene nicht Alltägliche nicht Vertraute, ohne dieses selber näher zu bezeichnen nach seinem Wie. Gemeint ist damit aber etwas schlechterdings Positives. Sein Positives wird erlebt rein in Gefühlen.“⁴ Und weiter: „Der qualitative Gehalt des Numinosen (an den das Mysteriosum die Form gibt), ist einerseits das […] abdrängende Moment des tremendum mit der ‚majestas‘. Anderseits aber ist er offenbar zugleich etwas eigentümlich Anziehendes, Bestrickendes, Faszinierendes, das nun mit dem abdrängenden Momente des tremendum in eine seltsame Kontrast-harmonie tritt.“⁵ Diese „seltsame Kontrast-harmonie […] (wird) rein in Ge-
DH, 8. Friedrich D. E. Schleiermacher, Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern (1799), in: Ders. Kritische Gesamtausgabe, Bd. I,2: Schriften aus der Berliner Zeit 1769 – 1799, hg.v. Günter Meckenstock, Berlin/New York, 211. Friedich D. E. Schleiermacher, Der christliche Glaube. Nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt (21830/31), in: Ders., Kritische Gesamtausgabe, Bd. I,13.1, hg.v. Rolf Schäfer, Berlin/New York 2003, 33 (§ 4). DH, 14. DH, 42.
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fühlen“ erlebt, die „wir uns erörternd auch wohl verdeutlichen [können], indem wir sie gleichzeitig zum Anklingen bringen“⁶, wobei wir eine ganz eigentümliche Begriffsbildung benötigen, um das Numinose auszudrücken.
1 Ideogramm oder reines Deute-Zeichen Um diese Eigentümlichkeit hervorzuheben, führt Rudolf Otto den Meta-Begriff „Ideogramm“ ein: „Das Ideogramm“ ist nicht ein rationaler Begriff, sondern das „Begriffs-Ähnliche“, ein „Deute-Zeichen eines eigentümlichen Gefühls-momentes im religiösen Erleben“⁷. Man kann sagen, dass ein solcher „ideogrammatische“ Ausdruck auf einem gewissen apriorischen, nichtkoventionellen Zusammenhang der Erlebnisse beruht, die zu verschiedenen Bereichen unseres Seelenlebens gehören. Der heterogene Charakter dieser Bereiche schließt aber einfache „Ähnlichkeit“ aus. Deswegen ist das „Ideogramm“ nicht ein mimetischer oder diegetischer, vielmehr aber ein deiktischer Ausdruck. Martin Heidegger bezeichnet solch eine Ausdrucksweise als „formale Anzeige“: „Der Bedeutungsgehalt dieser Begriffe meint und sagt nicht direkt das, worauf er sich bezieht, er gibt nur eine Anzeige, einen Hinweis darauf, daß der Verstehende von diesem Begriffszusammenhang aufgefordert ist, eine Verwandlung seiner selbst in das Dasein zu vollziehen.“⁸ In dem Ottoschen „Ideogramm“ aber ist die Deixis sozusagen verdoppelt. Die Begriffe wie „Furcht“, „Schauer“, „Entzücken“ u. ä. deuten entsprechende „nichtnuminotische“ Gefühle an, die ihrerseits die Deute-Zeichen der numinotischen Gefühle sind. Daraus erhellt, dass die verbalen Ausdrucksmittel immer im Nachteil gegenüber konkreten gefühlsbetonten Situationen sind. Dazu bemerkt Otto: „In feierlicher Haltung Gebärde Ton der Stimme und Miene, im Ausdruck der seltsamen Wichtigkeit der Sache, in der feierlichen Sammlung und Andacht der betenden Gemeinde lebt mehr davon als in all den Worten und negativen Benennungen die wir selber dafür gefunden haben. Diese geben ja niemals den Gegenstand positiv an. Sie helfen nur insoweit als sie einen Gegenstand überhaupt bezeichnen wollen und diesen zugleich gegensetzen gegen einen anderen, von dem er unterschieden und dem er zugleich überlegen ist.“⁹
DH, 14. DH, 21. Martin Heidegger, Die Grundbegriffe der Metaphysik. Welt – Endlichkeit – Einsamkeit (Freiburger Vorlesung, Wintersemester 1929/30) (=Gesamtausgabe, Bd. 29/30), hg.v. Friedrich-Wilhelm von Herrmann, Frankfurt a.M. 1983, 450. DH, 79.
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„Feierliche Haltung“, „Gebärde“, „Ton der Stimme“, „Miene“, „feierliche Sammlung“ oder „Andacht der betenden Gemeinde“ wirken auf uns aber nur in konkreten Situationen. Die konventionellen Begriffe, die wegen ihrer Abstraktheit immer nicht situationsbezogen sind, können diese Situationsbezogenheit nicht ausdrücken. Es ist deshalb anzunehmen, dass die Kunstwerke, die ja mehr als abstrakte Begriffe an konkrete Situation gebunden sind, eine bessere Ausdrucksform des Numinosen bieten. Genau das, so scheint es, meint Otto, wenn er bemerkt, dass sich das „inhaltliche […] Was und Wie des Mysteriums [das] wir zu beschreiben versuchen und nicht können […] von ferne […] durch eine Entsprechung aus einem nicht der Religion sondern der Ästhetik angehörigen Gebiete (andeuten lässt)“¹⁰. Welche Momente der Kunstwerke sind es, die die „natürlichen“ Gefühle wecken, die das Gefühl des Numinosen „gleichzeitig zum Anklingen bringen“ können? Rudolf Otto verweist auf das Erhabene und das Magische, bemerkt aber dazu folgendes: „Das Erhabene und auch das nur Magische sind, so stark sie auch wirken mögen, immer doch nur indirekte Darstellungsmittel für das Numinose in der Kunst. Direkter Mittel hat sie bei uns im Westen nur zwei. Und die sind bezeichnender Weise selber negativ; sie sind das Dunkel und das Schweigen.“¹¹ Dem fügt Otto noch hinzu: „[N]eben Schweigen und Dunkel kennt die Kunst des Ostens noch ein drittes Mittel stark numinosen Eindruckes: das Leere und das weite Leere.“¹² Dunkel, Schweigen, Leere oder weite Leere sind eindeutig die ungegenständlichen Momente der Kunstwerke. Man kann deswegen vermuten, dass das Hervortreten des Gegenständlichen im sakralen Kunstwerk dessen „Sakralität“ vermindert oder überhaupt vernichtet. So ist es in der Tat. Ein gutes Beispiel dafür ist die Verzückung der heiligen Theresa von Giovanni Lorenzo Bernini. Diese Skulptur, die 1645 bis 1652 entstand und sich heute in der Kirche Santa Maria della Vittoria in Rom befindet, stellt die heilige Theresa im Augenblick ihrer Vision dar, die die Heilige selbst in ihrer Autobiographie so beschrieben hat: „Ich sah einen Engel in körperlicher Gestalt zu meiner Linken. […] Er war nicht gross, sondern klein, doch sehr schön. Sein Antlitz war so strahlend, daß ich meinte, er gehörte den höheren Engelchören, den Cherubinen an, die anscheinend alle glühen. Er hatte einen langen goldenen Pfeil, an dessen Spitze ein Feuer loderte und mit dem er mir öfters das Herz bis zu den Eingeweiden durchbohrte. Es schmerzte aber nicht körperlich, sondern geistig, obwohl auch der Körper daran teilnahm. Es war eine derart feine Liebkosung der Seele durch Gott, daß ich Ihn bitte, sie den kosten zu lassen, der da meint, ich
DH, 56. DH, 88. DH, 89.
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lüge.“¹³ Eben diese erschütternde mystische Erfahrung wollte Bernini in seiner Skulptur haargenau ver-gegenständlichen. Wir sehen einen Engel, der „nicht groß, sondern klein, doch sehr schön“ ist, mit dem strahlenden Antlitz und „einem langen goldenen Pfeil, an dessen Spitze ein Feuer loderte“. Der Ausdruck des Gesichts und die Positur der Heiligen sollten keine Zweifel lassen, dass sie eine „Kontrast-harmonie“ des körperlich-geistigen Schmerzes und der „feinen Liebkosung der Seele“ erlebt. Und doch: Kann das Werk Berninins als Ideogramm des Numinosen betrachtet werden? Als Antwort auf diese Frage kann man die treffliche Bemerkung von niemand Geringeren als Jacob Burckhardt in Der Cicerone anführen: „In hysterischer Ohnmacht, mit gebrochenem Blick, auf einer Wolkenmasse liegend streckt die Heilige ihre Glieder von sich, während ein lüsterner Engel mit dem Pfeil (d. h. dem Sinnbild der göttlichen Liebe) auf sie zielt. Hier vergisst man freilich alle bloßen Stilfragen über der empörenden Degradation des Übernatürlichen.“¹⁴
2 „Kultwert“ vs. „Ausstellungswert“ Um das Wesen dieser „empörenden Degradation des Übernatürlichen“ besser zu fassen, schlage ich vor, den von Walter Benjamin geprägten Gegensatz von „Kultwert“ und „Ausstellungswert“ des Kunstwerks heranzuziehen. In der ersten Fassung seines berühmten Essays über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ schreibt Benjamin: „Es wäre möglich, die Kunstgeschichte als Auseinandersetzung zweier Polaritäten im Kunstwerk selbst darzustellen und die Geschichte ihres Verlaufes in den wechselnden Verschiebungen des Schwergewichts vom einen Pol des Kunstwerks zum anderen zu erblicken. Diese beiden Pole sind sein Kultwert und sein Ausstellungswert. Die künstlerische Produktion beginnt mit Gebilden, die im Dienst der Magie stehen. Von diesen Gebilden ist einzig wichtig, daß sie vorhanden sind, nicht aber daß sie gesehen werden.“¹⁵ Benjamin zufolge kann also die geschichtliche Entwicklung der Kunst als ein Prozess der graduellen Säkularisierung derselben betrachtet werden, d. h. als Prozess, in dem der Kultwert des Kunstwerks immer mehr von seinem Ausstellungswert verdrängt wird. So können wir in Bezug auf Berninis Verzückung der heiligen Theresa feststellen, dass der „Kultwert“ durch den „Ausstellungswert“ überwuchert wird.
Teresa von Avila, „Gott hat mich überwältigt.“ Die Autobiographie der heiligen Teresa von Avila, ausgewählt und übertragen v. P. Antonio Sagardoy OCD, Wien/Freiburg/Basel 1983, 91 f. Jacob Burckhardt, Der Cicerone. Zweiter Teil, Leipzig 1898, 191. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Erste Fassung, in: Ders., Gesamelte Schriften, Bd. I,2, hg.v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, 431– 471, hier 443 – 444.
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Da der Ausstellungswert der Kunstwerke durch ihre Reproduktionen hervorgehoben wird, so scheint es, dass die Entgegensetzung von Kultwert und Ausstellungswert noch deutlicher wird, wenn wir eine für Benjamin relevante binare Opposition von Original und Reproduktion in Betracht ziehen. Worin besteht der Unterschied zwischen dem Original des Kunstwerks und seiner Reproduktion? Benjamins Antwort lautet: „Noch bei der höchstvollendeten Reproduktion fällt eines aus: das Hier und Jetzt des Kunstwerks – sein einmaliges Dasein an dem Orte, an dem es sich befindet.“¹⁶ Diese Einmaligkeit, dieses Hier und Jetzt des Kunstwerks benennt Benjamin mit dem mysteriösen Begriff von „Aura“. Da Reproduktionen an beliebigen Orten und in beliebiger Zeit verfügbar sind, so kann man sagen, dass die Reproduzierung des Kunstwerks seine Gebundenheit an ein bestimmtes Wo und bestimmtes Wann ablöst und damit die Verkümmerung seiner Aura bewirkt. Es ist leicht zu bemerken, dass die Aura keine „gegenständliche“, vielmehr aber eine „atmosphärische“ Eigenschaft des Kunstwerks ist und in der formalontologischen Struktur des Kunstwerks analoge Charakteristika hat: jene Momente des Kunstwerks, die Rudolf Otto für das „ideogrammatische“ Andeuten des Numinoses verantwortlich hält. Wenn dem so ist, dann scheint es kein Zufall zu sein, dass Benjamin im Hier und Jetzt des Originals des Kunstwerks mehr als eine bloß abstrakte raumzeitliche Charakteristik entdeckt. Er merkt, dass das Hier und Jetzt des Kunstwerks, d. h. seine Aura, mit dem „Eingebettetsein in den Zusammenhang der Tradition“ verbunden ist: „Die ursprüngliche Art der Einbettung des Kunstwerks in den Traditionszusammenhang fand ihren Ausdruck im Kult. Die ältesten Kunstwerke sind, wie wir wissen, im Dienst eines Rituals entstanden, zuerst eines magischen, dann eines religiösen. Es ist nun von entscheidender Bedeutung, daß diese auratische Daseinsweise des Kunstwerks niemals durchaus von seiner Ritualfunktion sich löse.“¹⁷ Dieses Eingebettetsein des Kunstwerks in kultische Tradition lässt uns eine weitere wichtige Charakteristik der Aura sehen, die Benjamin durch seine Beschäftigung mit Marcel Proust entdeckt hatte. Wenn wir über eine Tradition sprechen, so haben wir es offensichtlich mit einer gewissen Form der Erinnerung zu tun. Man kann sagen, dass jede Tradition in Erinnerung fundiert ist. Wie bekannt, unterscheidet Proust zwei Modi der Erinnerung – willentliche Erinnerung (mémoire volontaire) und unwillentliche Erinnerung (mémoire involontaire). In der Mémoire volontaire rufen wir dank gewisser willentlicher Anstrengung der Aufmerksamkeit irgendwelche Inhalte in unser Gedächtnis. Es ist also ein Erinnerungs-Modus, in dem uns alles,was in unserem Gedächtnis gespeichert ist, an beliebigem Orte und in
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beliebiger Zeit im Prinzip verfügbar ist. Man kann folglich sagen, dass das willentlich Erinnerte zu uns als bloße Reproduktion von einst Erlebtem zurückkehrt. Mémoire involontaire dagegen ist ein solcher Modus der Erinnerung, in dem etwas, was wir einst erfahren haben, in unserem Bewusstsein spontan auftaucht und uns als mysteriös zurückgekehrte Gegenwart von le temps retrouvé ergreift: Nicht „ich erinnere mich an etwas“, sondern „es wird mir etwas erinnert“. Wir sind also ganz passiv, nicht „setzend“, sondern völlig abhängig. Es ist anzunehmen, dass das Schleiermachersche „Abhängigkeitsgefühl“ oder „Sichselbstnichtsogesetzthaben“¹⁸, sowie das Otto’sche tremendum et fascinans letztendlich in solcher Bewusstseinsweise fundiert sind. Benjamin seinerseits erkennt in den „Vorstellungen, die, in der mémoire involontaire beheimatet, sich um einen Gegenstand der Anschauung zu gruppieren streben“¹⁹ die Aura wieder. Die letzte Charakteristik von Aura, die ich erwähnen möchte, findet Benjamin im Austausch der Blicke. Dazu schreibt er: „Dem Blick wohnt aber die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird […], da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu. […] Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.“²⁰ Alle oben erwähnte Momente der Aura sind in gewissem Sinne in der merkwürdigen Dialektik von Nähe und Ferne zusammengefasst, die in der Benjaminischen „Kleine Geschichte der Photographie“ so beschrieben ist: „Was ist eigentlich Aura? Ein sonderbares Gespinst von Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag.“²¹ Als Illustration dazu gibt Benjamin ein merkwürdiges Beispiel: „An einem Sommermittag ruhend einem Gebirgszug am Horizont oder einem Zweig folgen, der seinen Schatten auf den Betrachter wirft, bis der Augenblick oder die Stunde Teil an ihrer Erscheinung hat – das heißt die Aura dieser Berge, dieses Zweiges atmen.“²² Es ist ein Leichtes zu merken, dass es in diesem Beispiel um eine kontemplative Einstellung des Betrachters geht: Er ist kein Naturforscher; er fragt nicht nach dem kausalen Zusammenhang des Angeschauten. Er produziert auch kein Abbild, d. h. keine Reproduktion des Angeschauten. Der Betrachter ist ein Kontemplativer, der ruhig und gelassen das Hier und Jetzt des Angeschauten auf sich wirken lässt.
Friedrich Schleiermacher, Der christliche Glaube (Anm. 3), 33. Walter Benjamin, Über einige Motive bei Baudelaire, in: Ders., Gesamelte Schriften, Bd. I,2, hg.v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, 605 – 653, hier 644. Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit (Anm. 15), 646 – 647. Ders., Kleine Geschichte der Photographie, in: Ders., Gesamelte Schriften, Bd. II,1, hg.v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, 368 – 385, hier 378. Ebd.
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Die Benjaminsche Beschreibung ist auffallend spärlich und arm an Details: „Sommermittag“, „Gebirgszug am Horizont“, „Zweig“, „Schatten des Zweiges“ – das ist alles, was in dieser Beschreibung steht. Das ist aber kein Mangel. Im Gegenteil, es geht doch um die Erfahrung von Aura, d. h. um die Erfahrung des Ungegenständlichen, das – wie auch das Numinose – nur durch Andeutung vermittelt werden kann. Jede detaillierte Beschreibung ist schon eine Vergegenständlichung, die die ungegenständlichen Momente verschleiert und damit das Auratische nicht mehr erfahrbar macht. Die Ungegenständlichkeit von Aura kann sich nur in der merkwürdigen Dialektik von Nähe und Ferne entfalten. Man kann sagen, dass die Ferne und die Nähe des Betrachteten in derselben „Kontrastharmonie“ stehen wie die des Otto’schen fascinosum und tremendum, d. h. die Erfahrung von Aura ist analog zur Erfahrung des Numinosen. Es scheint kein Zufall zu sein, dass in einer Fußnote der 3. Fassung des Kunstwerk-Aufsatzes Benjamin den numinotischen Charakter dieser Aura-Erfahrung andeutet: „Die Definition der Aura als ‚einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag‘, stellt nichts anderes dar als die Formulierung des Kultwerts des Kunstwerks in Kategorien der raum-zeitlichen Wahrnehmung. Ferne ist das Gegenteil von Nähe. Das wesentlich Ferne ist das Unnahbare. In der Tat ist Unnahbarkeit eine Hauptqualität des Kultbildes. Es bleibt seiner Natur nach ‚Ferne so nah es sein mag‘. Die Nähe, die man seiner Materie abzugewinnen vermag, tut der Ferne nicht Abbruch, die es nach seiner Erscheinung bewahrt.“²³ Man merkt, dass die Struktur der Benjaminischen Aura im Prinzip dieselbe ist wie die Struktur von dem, was bei Rudolf Otto die Formel „mysterium tremendum et fascinans“ andeutet.Tremendum, das Abstoßende, ist das,was die Ferne konstituiert. Fascinosum, das Anziehende, dagegen ist Konstitutivum der Nähe. Mysterium seinerseits konstituiert die Ungegenständlichkeit von Aura, die sich in der Dialektik von Nähe und Ferne entfaltet. Und nur dank dieser auratischen Dialektik von Nähe und Ferne kann das Kunstwerk als Ideogramm des Heiligen fungieren.
3 Technische Reproduzierbarkeit und die Aura-Krise Diese Ideogrammatik des Kunstwerks wurde brüchig als die Aura in die Krise geriet. Die Aura-Krise soll schon in der Epoche der Renaissance begonnen haben,
Ders., Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Dritte Fassung, in: Ders., Gesamelte Schriften, Bd. I,2, hg.v. Rolf Tiedemann/Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a.M. 1991, 471– 508, hier 480.
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als der Prozess der Säkularisierung des Kunstwerks begann. Im Barock intensivierte sich dieser Prozess noch. Wollen wir nochmal das schon erwähnte Beispiel von Berninis Ekstase der Hl. Theresa heranziehen.Wenn Jacob Burckhardt über die „empörende Degradation des Übernatürlichen“ spricht, so meint er doch die Tatsache, dass in Berninis Werk die Aura kaum spürbar ist, weil der Ausstellungswert den Kultwert schon fast überschüttet und damit die Dialektik von Nähe und Ferne ins Schwanken bringt. Das kann man aber noch deutlicher sehen, wenn man die Reproduzierbarkeit des Kunstwerks betrachtet. Der Ausstellungswert ist ja eben das, was am Kunstwerk einzig reproduzierbar ist. Die Reproduktionen der Kunstwerke heben ihren Ausstellungswert hervor und verdrängen damit den Kultwert. Da die Reproduktionen das Kunstwerk in die Nähe bringen, ohne die Ferne zu bewahren, unterliegt die Dialektik von Nähe und Ferne der Deformation. Das Ausmaß dieser Deformation des Auratischen des Kunstwerks hängt gewiss von der Reproduzierungsweise ab. Obwohl schon die „traditionelle“, d. h. manuale Reproduzierung des Kunstwerks seine Aura verschleiert, bleibt jedoch das Auratische gewissermaßen noch anwesend als Erinnerung an das Original. Man kann sagen, dass in einer „manual“ hergestellten Reproduktion noch einige Überreste des Auratischen bleiben. „Das Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit“ hat diese Situation von Grund auf verändert. Die fotochemische (und umso mehr – digitale) Reproduzierung der Kunstwerke vereinfacht und beschleunigt den Prozess der Herstellung der Reproduktionen, deren Qualität und Quantität beträchtlich gesteigert werden. Diese „positiven“ Momente der technischen Reproduzierung haben aber auch ihre Kehrseite. Am deutlichsten sieht man das am Beispiel des Films. Im Film gibt es überhaupt kein Original und keine Reproduktion mehr. Der Verlust dieses Unterschieds bedeutet aber zugleich den Verlust an Aura. Der Umfang von mémoire involontaire ist verkümmert, weil die „auf der Kamera und den späteren entsprechenden Apparaturen aufgebauten Verfahren den Umfang der mémoire volontaire (erweitern); sie machen es möglich, ein Geschehen nach Bild und Laut jederzeit durch die Apparatur festzuhalten“.²⁴ Zugleich verschwinden das Eingebettetsein des Kunstwerks in der Tradition, sowie die Möglichkeit des antwortenden Blickes, „da doch der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben“.²⁵
Ders., Über einige Motive bei Baudelaire (Anm. 19), 644. A.a.O. 646.
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4 „Religiöses Kino“? Wenn dem so ist, dann ist der Begriff „religiöses Kino“ äußerst problematisch. Umso mehr bemerkenswert ist, dass bloß zwei Jahre nach der ersten öffentlichen Filmaufführung der Gebrüder Lumière, Jesus zum ersten Mal auf der Leinwand erschien. Der erste Jesus-Film – La Passion du Christ entstand im Sommer 1897. Leider sind alle Filmkopien verlorengegangen und das einzige, was wir über den Film wissen, ist die Tatsache, dass Jesus eine zerknitterte weiße Baumwoll-Tunika trug.²⁶ Dieser Film wurde von Albert Kirchner im Auftrag vom römisch-katholischen Verlag La Bonne Presse produziert. Im selben Jahre wurde noch ein Passions-Film veröffentlicht – Horitz Passion Play von Dr. Walter W. Freeman. Es ist bekannt, dass die Dreharbeiten des Films in einem böhmischen Dorf Höritz (Hořice na Šumavě) stattfanden, das für seine Passionsspiel-Tradition berühmt war. Sollte das als ein Versuch, den Kultwert zu reaktivieren, verstanden werden? Kaum. Im Januar des folgenden Jahres (1898) erschien ein zweiter amerikanischer Passionsfilm – The Passion Play at Oberammergau von Henry C. Vincent. Es ist bemerkenswert, dass Vincents Team sich keine Mühe machte, sich nach Oberammergau in Oberbayern zu begeben. Der Film wurde auf dem Dach der Grand Central Palace Hotel in New York gedreht! Der Ausstellungswert des Films aber war vergleichbar mit dem des Films von Frieman. Das Publikum war in solchem Maße begeistert, dass der Film mit Riesenerfolg in mehreren Erweckungstreffen an verschiedenen Ort in den U.S.A. gezeigt wurde.²⁷ Zum ersten Mal in der Geschichte wurde ein Jesus-Film für die Evangelisation eingesetzt. Wichtiger als Evangelisation aber war für die Filmemacher, dass alle diese Filme große Kassenerfolge waren und die Jesus-Film-Industrie sich als ein gutes Geschäft erwies. Dadurch war der Ausstellungwert der Filme quantifizierbar und messbar geworden. Die Anziehungskraft des filmischen Bildes resultiert aus der Möglichkeit, auf der Leinwand ganz nah und realistisch das anzuschauen, was gewöhnlich in der Ferne oder im Verborgenen bleibt. So ermöglicht es die kinematographische Technologie, dem Zuschauer ganz realistisch die Wunder vorzuführen, die ihm bisher bloß aus der Lektüre der Heiligen Schrift bekannt waren. Z.B. der erste Film, der dem Publikum die Möglichkeit bot, den Gang Jesu auf dem Wasser des Sees Genezareth mit eigenen Augen anzusehen, war ein kurzer (es dauert ca. eine halbe Minute) bereits 1899 produzierter Film Le Christ marchant sur les eaux von Georges Méliès, dessen künstlerische Besonderheit, wie bekannt,
George Sadoul, Geschichte der Filmkunst, Frankfurt a.M. 1982, 33 f. Ronald Holloway, Beyond the Image. Approaches to the Religious Dimension in the Cinema, Genf 1977, 48.
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darin bestand, die phantastischen Ereignisse zu zeigen, die im wirklichen Leben nicht passieren könnten. Das hat aber nichts mit dem gemeinsam, was Rudolf Otto als mirum bezeichnet. Es war nur ein Trick, der den Ausstellungswert steigerte, deswegen aber kein numinotisches Gefühl „zum Anklingen bringen“ konnte. Der älteste erhalten gebliebene Langfilm aus der Stummfilm-Ära ist La vie et la passion de notre seigneur Jésus Christ (1902– 1905) von Ferdinand Zecca und Lucien Nonguet. Die Filmdauer beträgt etwa 45 Minuten. Mehrere Filmszenen sind Nachahmungen berühmter Kunstwerke wie z. B. der Bibel-Illustrationen von Gustave Doré oder Leonardo da Vincis L’Ultima Cena. Ein sehr großer kommerzieller Erfolg war der 1913 erschienene Film von Sidney Olcott From the Manger to the Cross. Bei Dreharbeitskosten von ca. 35,000 $ betrugen die Einnahmen des Films ca. 1 Million $. Noch erfolgreicher war der im Jahre 1927 produzierte Film von Cecil B. DeMilles The King of Kings, der alle Kassenrekorde der 20er Jahre brach und späterhin mehrere Jahre in den Kinos zu Ostern gezeigt wurde. Auch viele Kirchengemeinden haben mehrmals den Film für ihre Missionsarbeit genutzt.²⁸ Obwohl die Stummfilme sich noch im Stadium des Suchens der „Filmsprache“ befanden und vieles davon, was dem Zuschauer dargeboten wurde, mehr an tableaux vivants erinnerte, war es schon damals klar, dass, laut Siegfried Kracauer, die „oberste Tugend der Kamera […] genau darin (besteht), den voyeur zu spielen“²⁹. Die Eigentümlichkeit des Films besteht darin, die Wirklichkeit anschaubar machen und sie dadurch in die Nähe bringen zu können, ohne sich um die auratische Dialektik von Nähe und Ferne zu kümmern. Der Ausstellungswert des Filmes wurde noch potenziert, als die Cinema-Besucher, nachdem sie Jesu-Antlitz gesehen hatten, zum ersten Male auch die Stimme des Herrn zu hören bekommen konnten. Das geschah im Jahre 1935, als der erste Jesus-Tonfilm erschien. Es war ein Film von Julien Duvivier Golgotha, in dem der noch relativ junge Jean Gabin Pontius Pilatus spielte. Noch größere Möglichkeiten, den Ausstellungswert zu steigern, eröffnete die Entwicklung der Breitbildformat-Technologie in den 50er Jahren. Solche Monumentalfilme wie Nicholas Ray’s King of Kings (1961) oder George Stevens’ The Greatest Story Ever Told (1965) waren für Schaulustige kreiert. Im letzteren Film wurde Jesus von niemand Geringeren als Max von Sydow gespielt, die meisten Zuschauer beeindruckte aber mehr die „Schönheit“ der Landschaftsszenen im Breitbildformat.
Charles Higham, Cecil B. DeMille. A Biography of the Most Successful Film Maker of Them All, New York 1973, 167. Siegfried Kracauer, Theorie des Films (=Schriften, Bd. 3), hg.v. Karsten Witte, Frankfurt a.M. 1973, 74.
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Die Filmkritiker heben die große künstlerische Qualität der italienischen Jesus-Filme, wie Roberto Rossellinis Il messia (1976) und Gesù di Nazareth (1977) von Franco Zeffirelli hervor. Positive Bewertung auch von Seite der christlichen Kirchen erhielt der Film eines überzeugten Atheisten Pier Paolo Pasolini – Il vangelo secondo Matteo (1965). Allerdings verlieren alle diese Jesus-Filme in der Popularität-Konkurrenz gegenüber dem Film Jesus von John Krish und Peter Sykes (1979). Es ist eine Verfilmung der Gute-Nachricht-Übersetzung des Lukas-Evangeliums. Über diesen Film lesen wir in Spiegel-Online aus dem Jahre 2003 folgendes: „Fünf Milliarden Zuschauer in 24 Jahren – weder ‚Star Wars‘ noch ‚Vom Winde verweht‘ konnten ein so großes Publikum anlocken. Ein Film dagegen hat es geschafft: ‚Jesus‘. Dank missionierender Lobby-Arbeit einer christlichen Organisation ist das fromme Historien-Drama von 1979 der angeblich meistgesehene Film aller Zeiten.“³⁰ Es war also kein Kunstwerk, sondern ein für die Evangelisation und Missionsarbeit kreiertes Produkt. Das spürt man ganz deutlich, wenn am Schluss des Filmes ein unsichtbarer Sprecher ein Gebet spricht und die Zuschauer zum Mitbeten einlädt. Diese „Kino-Andacht“ sowie der Film selbst wirken kitschig. Als gewissen Kontrast (nicht aber als „Kontrast-harmonie“!) für die naive „Konditorei“ des Films von John Krish und Peter Sykes kann man The Passion of the Christ (2004) von Mel Gibson erwähnen. In seinem Film versucht Gibson die Lebenswelt Jesu möglichst „authentisch“ darzustellen. Hierzu dienen ihm nicht nur die Landschaftsaufnahmen Palästinas, Figuren, Kleidung, Requisiten usw., sondern auch die Tonspur des Filmes: Die Römer sprechen Latein, die Juden Aramäisch und Hebräisch. Das alles soll Jesu Lebenswelt dem Zuschauer so nah wie möglich bringen. Trotzdem entsteht der Eindruck, dass eben diese Nähe die „einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“ unmöglich macht, da der Moment der Ferne durch filmische Darstellung völlig ausgetilgt wird. Allerdings ist zu bemerken, dass der Moment der Ferne durch die „mystische“ Schicht des Films rehabilitiert wird. Eine wichtige Quelle von Gibsons Drehbuch waren ja die Berichte über die Betrachtungsvisionen der seligen Anna Katharina Emmerick (1774– 1824), die von Clemens Brentano verarbeitet worden sind. In ihren Visionen wanderte die münsterländische Mystikerin mehrmals durch Jerusalem der JesuZeit, erlebte die Passion Christi mit und empfing Stigmata. Man kann sagen, Gibsons Film ist ein Versuch, diese Visionen kinematographisch, d. h. technisch zu reproduzieren. Das Ergebnis aber ist schockierend, verursacht durch hypertrophierte Brutalität der Geißelung-, Kreuzigung- und Tod-Christi-Szenen, die ihrer naturalistischen Darstellung wegen kaum als Andeutung der Erfahrung des Nu-
http://www.spiegel.de/kultur/kino/bekanntester-film-der-welt-das-jesus-video-a258092.html, eingesehen am 12.08. 2012.
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minosen von Anna Katharina Emmerick betrachtet werden können. Die in der Schlussszene der Auferstehung auf dem Leinwand erschienene Nahaufnahme von Jesu Handfläche mit einem großen Loch des Nagels lässt eine gewisse Signatur des Regisseurs erkennen, insofern als man in der Kreuzigungsszene die Hand von Mel Gibson, der den Kreuzigungsnagel hält, gesehen hat³¹. Zweifellos folgt Gibson ganz getreu der Beschreibung der Visionen von Anna Katharina Emerick, wo folgendes geschrieben steht: „Seine Wunden waren sehr groß und glänzten, man konnte an den Händen wohl einen Finger hineinlegen.“³² Es fällt jedoch schwer, die filmische Reproduzierung dieser Vision anders zu qualifizieren als ein schockierender Kitsch. Man kann nur nochmals mit Jacob Burckardt wiederholen: „Hier vergisst man freilich alle bloßen Stilfragen über der empörenden Degradation des Übernatürlichen.“ Will man den Gibson-Film als ein Ideogramm betrachten, das das Numinose „zum Anklingen bringen“ soll, so muss man gestehen, dass eben der voyeuristische Naturalismus der filmischen Darstellung vom Leben Jesu, der Versuch das Dargestellte „direkt“ mitzuteilen, kontraproduktiv wirkt.
5 Schlussbemerkung Wenn dem aber so ist, dann stellt sich die Frage, ob das Medium Film imstande ist, als ein das Heilige andeutende „Ideogramm“ zu fungieren. Vermutlich sind hierzu kompliziertere Formen der Vermittlung nötigt – etwa die „indirekte Mitteilung“, die Søren Kierkegaard in seinen pseudonymen Texten (also im Medium Schrift) entwickelt hat.³³ Damit eröffnet sich der Forschung eine neue Perspektive: Man sollte überlegen, wie solche „Indirektheit“ im Fall des „religiösen Kino“ aussehen könnte.
Gordon R. Mork, Dramatizing the Passion. From Oberammergau to Gibson, in: Mel Gibson’s Passion. The Film, the Controversy, and Its Implications, ed. by Zev Garber, Indiana 2006, 117– 123, hier: 121. Das bittere Leiden unsers Herrn Jesu Christi. Nach den Betrachtungen der Gottseligen Anna Katharina Emmerich nebst dem Lebensumriß dieser Begnadigten, München 1858, 377. Vgl. dazu den Aufsatz von Thomas Erne in diesem Sammelband.
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Otto digital! Technikgeschichte, Ideenforschung und Religionsphänomenologie 1 Numinose Wendungen Ob und auf welche Weisen die gegenwärtig wieder bewusster gewordene Problematik der Entstehung, Wandlung und Wiederkehr von Normen und Werten mit den Kompetenzen in Deckung zu bringen sind, die in den vergangenen zwanzig Jahren im Umgang mit Bildern und Objekten gewonnen werden konnten, scheint eine der dringendsten Zukunftsfragen interdisziplinärer Forschung zu sein. Wohl hat die vor allem in Deutschland im Zeichen des so genannten „iconic turn“ äußerst wirkungsmächtig gewordene Bildwissenschaft die Ergründung und Begründung der Entsprechungen oder wechselseitigen Beeinflussungen von Sehen und Denken, Sinn und Sinnlichkeit, Ästhetik und Logik zu ihrem Hauptanliegen gemacht. Ob Bildforschung als Ideengeschichte angesehen werden kann, scheint aus dieser Sicht trivial und nicht der Rede wert zu sein. In zahllosen Publikationen, Tagungen und Lehrveranstaltungen war und ist die Macht der Bilder zum Gegenstand von kulturgeschichtlichen, wissenschaftsgeschichtlichen und epistemologischen Erkundungen in so gut wie jeder Disziplin geworden. Das Jahresthema ‚ArteFakte. Wissen ist Kunst – Kunst ist Wissen‘ der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften 2012 oder die im Oktober 2012 in Basel veranstaltete fächerübergreifende Jubiläumstagung ‚Das Bild und die Bilder‘ anlässlich des 70. Geburtstages von Gottfried Boehm, einem der Urheber des „iconic turn“, geben von dem Problembewusstsein der längst etablierten interdisziplinären Bildforschung einen wirksamen Eindruck. Dennoch scheint die von Gottfried Boehm 1994 mit so großem interdisziplinärem Widerhall gestellte Frage danach, was ein Bild eigentlich sei, seine paradigmatische Bedeutung verloren zu haben. Das nachlassende oder nicht mehr ungebrochene Echo auf die Frage nach dem Bild mag sich durch die wachsende Gewöhnung und Anpassung an jenes zunächst unfassbare und beängstigende Phänomen begründen, das die mit der Bildwissenschaft von Anfang an verbundene Bildkritik maßgeblich ausgelöst hatte: die so genannte „Bilderflut“ der digitalen Medien. Boehms für die 1990er Jahre getroffene Feststellung einer „Wiederkehr der Bilder“ war keineswegs überschwänglich gemeint, sondern vielmehr grundsätzlich von dem Anspruch getragen, in Anbetracht der immer leichter
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verfügbaren und immer suggestiveren Bildwelten der Neuen Medien den Kopf nicht zu verlieren.¹ Dass die Klärung dieser allgemeinen Verunsicherung durch die Macht der digitalen Bilder in die Verantwortlichkeit vor allem jener Wissenschaft fällt, deren Gegenstand immer schon die analytische Arbeit mit Bildern ist, haben neben Boehm weitere führende Kollegen ebenfalls schon zu Beginn der 1990er Jahre für die Kunstgeschichte zu reklamieren gewusst. Wenn digitale Techniken nicht zuletzt auch wegen deren politischer Bedeutung als stärkendes Kommunikationsmittel während der jüngsten Demokratisierungsbewegungen in Russland oder dem Nahen Osten immer weniger als krisenhaft erscheinen, mag die bild- und medienkritische Skepsis des „iconic turn“ in diesem Punkt ihre integrative Wirkung eingebüßt haben. Mit Blick auf die Umwertungen der Digitalisierung vom bedrohlichen Moloch zur smarten Revolution würde eine Ideengeschichte der so ganz anders gearteten Prämissen des „iconic turn“ im Umgang mit digitalen Medien daher schon jetzt ein spannendes Thema sein. Ein Kapitel dieser Zeitgeschichte und Wissenschaftsgeschichte verbindenden Recherche wäre dabei gewiss den theologischen Implikationen zu widmen, die bei den Annäherungen der Kunstgeschichte an den schrecklich-faszinierenden Malstrom der Virtualität mitgeschwungen haben. Welche Rolle Rudolf Otto und seine Schrift über Das Heilige dabei spielten, haben Jost Philipp Klenner und ich in dem 2009 erschienenen Sammelband Ideengeschichte der Bildwissenschaft anzudeuten versucht. Für Gottfried Boehm wie für zahlreiche kulturkritische Kunsthistoriker vor ihm scheint der von Otto in seinem kanonisch gewordenen Essay hergeleitete Begriff des „Numinosen“ vor allem ein heilsamer oder immunisierender Kontrast gegen die in ihrer Belanglosigkeit gefährlichen digitalen Bilderfluten gewesen zu sein.² Allerdings legt Rudolf Otto in Das Heilige durchaus auch einen anderen Bezug zu technisch erzeugten Bildern nahe. Aus dieser Sicht werden nicht nur alternative Blicke auf die nach wie vor wirksamen Bildkulturen der medialen „Erlebnisgesellschaft“ möglich.³ Der „iconic turn“ selbst würde sich bei genauerer Lektüre Ottos anders vollzogen haben. Auf dieser Grundlage vermag die Wende zum Bild mit Blick auf neue Herausforderungen der interdisziplinären Forschung und Dilemmata der globalisierten Welt aber auch eine ungewöhnliche neue Wendung zu nehmen.
Gottfried Boehm, Die Wiederkehr der Bilder, in: Was ist ein Bild?, hg.v. Gottfried Boehm, München 1994, 11– 38. Jörg Probst, Das Numinose. Hans Sedlmayr (1896 – 1984), in: Ideengeschichte der Bildwissenschaft. Siebzehn Porträts, hg.v. Jörg Probst/Jost Philipp Klenner, Frankfurt a.M. 2009, 167– 176, hier 174. Gerhard Schulze, Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1992.
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2 Rudolf Otto, Wilhelm Worringer und die Fotografie Kaum eine Zeile Rudolf Ottos über das „Numinose“ wird vor diesem Hintergrund einen Kunsthistoriker so sehr anziehen wie jene beinahe beiläufige Würdigung, die Otto in Das Heilige dem Band von Wilhelm Worringer über Formprobleme der Gotik (1911) angedeihen ließ. Die Passage findet sich im Abschnitt „Ausdrucksmittel für das Numinose in der Kunst“ des Kapitels „Ausdrucksmittel des Numinosen“, dass durch seine Erörterungen über das Verhältnis des Erhabenen und Magischen zum Numinosen Rückschlüsse auf die Kenntnisse und das Interesse Ottos an Kunstgeschichte und Kunsttheorie zulässt. In atemberaubenden Bögen, die in wenigen Sätzen die Kunst aller Zeiten und Völker miteinander in Beziehung setzen, berührt Otto hier exemplarisch die frühe buddhistische Kirchenbaukunst und Malerei in China und die Gotik in Deutschland ebenso wie die H-Moll Messe Johann Sebastian Bachs oder die Tondichtungen Beethovens und Mendelssohn Bartholdys. Auch wenn auf den neun Seiten dieser knappen Weltkunstgeschichte des Numinosen die Worte über die Gotik gegen die intensivere Auseinandersetzung mit fernöstlichen Bildern und Bauten quantitativ eher abfallen, haben sie es wissenschafts- und ideengeschichtlich qualitativ doch besonders in sich. Gemessen an dem Anspruch Ottos, in Das Heilige die phänomenologische Sicherung eines Gefühls zu leisten und für „dieses Moment in seiner Vereinzelung einen Namen zu finden“, ist die Verhandlung von Sekundärliteratur bestimmt dem beigehörig, was Otto verächtlich den „Zug zum Rationalisieren“ in der Theologie und Religionsforschung nennt.⁴ Umso interessanter ist die immerhin über zwei Seiten anhaltende Auseinandersetzung mit Wilhelm Worringer als einem der ganz wenigen zeitgenössischen Autoren, denen Otto in Das Heilige explizit Beachtung schenkte. So verdankt sich schon Ottos Aufmerksamkeit für die Gotik weniger dem Baustil selbst als vielmehr dessen besonderer Deutung durch Worringer, auch wenn sich die Bemerkungen über die Gotik als einer europäischen Kunst anders gerieren. „Uns Westlichen“ heißt es bei Otto 1917 in Das Heilige aus globaler Perspektive in einer Diktion, die den zu dieser Zeit tobenden Nationalismus des 1. Weltkrieges völlig vergessen lässt, „uns Westlichen wird als die numinoseste Kunst die Gotik erscheinen. […] Es ist ein Verdienst von Worringer,“ so Otto weiter, „dass er in seinem Werke ‚Probleme der Gotik‘ nachweist, dass der besondere Eindruck der Gotik nicht auf ihrer Erhabenheit allein beruhe, sondern auf einem Einschlag und Erbe uralter magischer Formgebung“.⁵
DH14, 7 bzw. 4. DH14, 91.
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Die darauf folgenden Überlegungen nähern sich der mittelalterlichen Architektur nicht weiter an, sondern lassen Otto vielmehr seine Sprachschöpfung des Numinosen mit dem von Worringer gewählten Begriff des Magischen gegeneinander abwägen und im Ergebnis ist diese Berührung mit einem Autor, dessen Schrift Abstraktion und Einfühlung von 1908 immerhin eine der einflussreichsten Beiträge zur Erlebnisästhetik der Moderne zu nennen ist und darin den Grundlagen der Religionsphänomenologie präfiguriert, eher bescheiden zu nennen. Nicht einmal den Buchtitel hatte Otto fehlerfrei wiedergegeben und meines Wissens nach ist die Korrektur von „Probleme der Gotik“ in Formprobleme der Gotik auch in den vielen späteren Auflagen von Das Heilige nicht gelungen. Wichtiger als die nur oberflächliche inhaltliche Auseinandersetzung Ottos mit Worringer ist jedoch die visuelle Argumentation, mit der Otto zwischen sich und Worringer bei aller begrifflichen Verschiedenheit eine grundsätzliche Gemeinsamkeit zu belegen unternimmt. „Der Turm des UImer Münsters ist schlechterdings nicht mehr ‚magisch‘, er ist numinos“, lässt Otto kritisch gegen Worringer gewendet seinen Leser wissen. Dass Worringer aber das Richtige meint, auch wenn er das Falsche sagt, würde sich in der Wahl der Illustrationen in seinem Gotik-Buch offenbaren. „Und was der Unterschied des Numinosen vom bloß magischen sei“, so Otto seine Bemerkungen über Worringer mit einem abgründigen Gedanken beschließend, „wird gerade an der schönen Abbildung fühlbar, die Worringer von diesem Wunderwerke gibt“.⁶ Wenn Walter Benjamin zu jenem bisher nicht aufgearbeiteten illustren Kreis der Intellektuellen zählt, die Rudolf Ottos Begriff des Numinosen rezipierten – diese Schule zieren immerhin Denker von europäischem Format wie Georges Bataille, Carl Gustav Jung, Andre Malraux, Roland Barthes oder Giorgio Agamben –, dann ist Benjamins Lesart von Das Heilige autosuggestiv zu nennen, wenn der 1936 erschienene Aufsatz über „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ davon inspiriert ist. Dass Otto bei Gelegenheit seiner Auseinandersetzung mit Wilhelm Worringer in der Betrachtung einer Fotografie nur noch darüber entscheidet, ob das Ulmer Münster magisch oder numinos zu nennen ist und dabei merkwürdigerweise einer recht sachlichen Fotografie das letzte Wort gibt, kann jedenfalls zu der von Benjamin vertretenen These, das Kunstwerk würde als Erlebnis durch seine Reproduktion verlieren, nicht gegensätzlicher sein. Wenn für Benjamin das Auratische durch das Technische zum
DH14, 92.
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Verschwinden gebracht wird, kann es umgekehrt für Otto eine Wiederkehr oder Reproduktion des Auratischen durch das Technische geben.⁷ Der Widerspruch ist auch deshalb so markant, weil sich Otto mit dem Foto in Worringers Buch an einer Aufnahme delektierte, die kommerzielle Agenturen wie das Bildarchiv Foto Marburg schon sehr früh in ihrem Bestand führten, die also sehr leicht zugänglich war und offenbar gerne gedruckt wurde, so z. B. in Karl Schefflers Der Geist der Gotik von 1919.⁸ Die Abbildung hat daher im düsteren Sinn der Benjaminschen Medienkritik das Image des Ulmer Münsters geprägt – Dialektiken, die Ottos Theologie allerdings unberührt lassen. Mit oder ohne direkten Einfluss bleibt Otto in seinem nebenbei geäußerten und gerade dadurch so authentischen Kommentar aber ein prägnanter Vergleich zu Benjamin, weil es sich in dem einen wie in dem anderen Fall um Positionen handelt, die strikt auf der Theorie oder sogar Metaphysik des Erlebens basieren. Dass Otto im philosophischen und theologischen Konflikt um die Technik nach zeitgenössischen Anhaltspunkten suchte, macht sein Seitenblick in die autobiographischen Erzählungen des bedeutenden Ingenieurs und Romanciers Max Eyth und ein Zitat aus dessen Memoiren in Das Heilige greifbarer. Als würde sich die von Otto behauptete „Objektivät“ des Numinosen gerade darin beweisen, dass dieses Gefühl selbst durch die moderne Technik und Rationalität nicht verunmöglicht werden kann, weist Otto mit einem entsprechenden Beleg aus Eyth’s Buch Hinter Pflug und Schraubstock genüsslich darauf hin, dass selbst der abgeklärte und risikofreudige Maschinenbauer dem Erlebnis des mächtig Unverstandenen zugänglich bleibt und auch ihm das „offenbar-unoffenbare Geheimnis“ des Numinosen aufgeht, wenn nur die Not und die Verzweiflung in Gefahrensituationen groß genug ist.⁹
3 Ideengeschichte des Numinosen Stellt man die Frage nach dem Verhältnis von Religion und Technik mit Rudolf Otto, dann fällt die Überschreitung von medienwissenschaftlich gerne für unüberwindlich erklärten Grenzen nicht schwer. Die von Otto intendierte Religionsphänomenologie erweist sich schon darin für eine interdisziplinäre Forschung der und vor allem über die Gegenwart als besonders hilfreich, dass sie das Numinose als grundsätzlich atopisch, ahistorisch und asozial begreift. Weder teleologische Mo Jörg Probst, Vorwort, in: Reproduktion. Techniken und Ideen von der Antike bis heute, hg.v. Jörg Probst, Berlin 2011, 7– 9, hier 7. Karl Scheffler, Der Geist der Gotik, Leipzig 1919, T.63. DH14, 108.
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delle der Vernunft in der Geschichte noch sozial-emanzipatorische Bewegungen und erst recht keine technische oder wissenschaftliche Revolution würden Otto zufolge den Glauben in seiner unmittelbaren und elementaren Form überwinden, sondern dieser vielmehr unter allen Umständen sich neu generieren können. Spuren und Optionen des Numinosen wären darum nicht nur in unterschiedlichen religiösen, politischen oder kulturellen, sondern auch in technisch erzeugten künstlichen Räumen wie dem Cyberspace zu vergewärtigen. Was der Kunsthistoriker und Begründer der Ikonologie Aby Warburg ein „Bildfahrzeug“ genannt hat, würde aus Sicht der Ideengeschichte daher auch für das Numinose eine zutreffende Bezeichnung sein.¹⁰ So wie die Ikonologie bestimmte Pathosformeln in ihrer Kontinuität durch Zeiten und Räume verfolgt, würde für den ideengeschichtlich arbeitenden Historiker mit dem Numinosen ein ebenso wendiges und universelles „Fahrzeug“ zu besteigen sein, dass sehr Unterschiedliches und auch Gegensätzliches miteinander verbindet und vergleichbar macht. Der besondere Reiz dieser Methode und Haltung besteht darin, jedes Denken in Gegensätzen und Oppositionsschemata zu vermeiden und auch für Abweichungen und Sonderfälle, die in idealtypische Rubrizierungen und Entgegensetzungen nicht passen, offen zu sein. Die Unterscheidung von Analog und Digital gehört zweifellos in diese Kategorie der idealtypischen Entgegensetzungen und sie erweist sich in dem Maße als störend und kontraproduktiv, als sie nicht bloß technische Parameter bezeichnet, sondern damit auch strikte kulturgeschichtliche Trennungen vollzogen werden.Vor allem in der medientheoretischen Literatur der 1990er Jahre lassen sich Quellen finden, die mit den Neuen Medien einen radikalen Neuanfang und damit auch einen Abschied von der Geschichte feierten und die digitale „Bilderflut“ als einen Daten-Fluss ohne Wiederkehr verstanden haben. Wenn Gottfried Boehm in einer neueren repräsentativen Vortragsreihe „mit dem iconic turn einen kulturellen Grundwandel“ verbindet, vollzieht sich diese Drehung inzwischen durchaus synchron zu Positionen und Konfliktbeschreibungen wie Manfred Fasslers 2000 erschienenem Essay „Ohne Spiegel leben“ – eines der anspruchsvolleren Beispiele für die seinerzeit weit verbreitete, das Ideologische streifende und bildgeschichtlich buchstäblich blinde Netzwerk-Euphorie, deren Gedächtnislosigkeit gegenüber ein Korrektiv zu sein der „iconic turn“ zunächst auch angetreten war.¹¹ Diesen Anspruch werden die kunsthistorische Bildforschung im allgemeinen und der „iconic turn“ im besonderen sich bewahren können, wenn sie, so meine
Hartmut Böhme, Aby Warburg (1866 – 1926), in: Klassiker der Religionswissenschaft, hg.v. Axel Michaelis, München 1997, 133 – 156, hier 149. Gottfried Böhm/Horst Bredekamp (Hgg.), Ikonologie der Gegenwart, München 2009, 8.
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These, Rudolf Otto und das Numinose nicht primär als Gegengift zu den ästhetischen Niederungen der populären Bildwelten begreifen, sondern diese Grundlagen der Religionsphänomenologie vielmehr als Schlüssel zu einer integrativen, fächer- und medienübergreifenden ideengeschichtlichen Forschung in allen Feldern der Politik, der Kultur und des Wissens zu nutzen verstehen. Die von Rudolf Otto in Das Heilige im Zusammenhang mit einer Weltkunstgeschichte des Numinosen gewagten Sprünge von Deutschland nach China und zurück sind aus dieser Perspektive sehr moderne Anregungen, die mit den entsprechenden Kapazitäten interdisziplinärer Kooperationen auch eingelöst werden könnten. Für solche fächerverbindenden Forschungen hat Rudolf Otto ein besonders bewegliches Bild- oder Denkfahrzeug bereitgestellt, wenn sich mit dem Numinosen immer auch eine Phänomenologie der „Exaltation und Ekstase“ verbindet.¹² Diese können in sehr gegensätzlichen Hemisphären und Situationen ihre Heimstatt haben und daher zur Erschließung einer sehr umfassenden Ideengeschichte des Euphorischen Anlass geben. Kaum eine andere Aufarbeitung der Entstehung, Wandlung und Wiederkehr von Werten und Normen wäre so anschlussfähig wie diese ideengeschichtlich intendierte, vergleichende Phänomenologie der Euphorie, in der sich Zustimmung und Einverständnis bis hin zur völligen Ausblendung jeglicher Alternative äußern, einer vorbewussten Hochstimmung, in der Werte und Normen erst zu sich selbst zu kommen scheinen. Im geraden Gegensatz zu den Distanzierungen des „iconic turn“ in der Diktion Gottfried Boehms sind es gerade die populären, technisch reproduzierten Bildwelten und hier besonders die Bildkulturen der Digitalisierung und Globalisierung in den 1990er Jahren, die für eine weitreichende kritische Erforschung des Numinosen im Rahmen einer Bild- und Ideengeschichte des Euphorischen besonders dankbare Denkräume eröffnen.
4 Christliche Ikonographie der Neuen Medien Einsichten darin haben sich Studierenden der Philipps-Universität Marburg und mir in einem 2009/10 veranstalteten Seminar zur Bildgeschichte der 1990er Jahren erstmals erschlossen. Die im Zusammenhang mit diesem Projektseminar zu erarbeitende Bilddatenbank ist von den Studentinnen und Studenten mit einem so überraschenden Bildmaterial gefüllt worden, dass es noch für einen nunmehr bei Portal Ideengeschichte eingerichteten Arbeitskreis ‚Die 1990er Jahre. Bilder und Ideen einer Umbruchszeit‘ eine sehr tragfähige Basis bot. Die Recherchen waren
DH14, 45.
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nicht von Anfang an darauf orientiert, die besondere Euphorie zu rekonstruieren, die sich nach 1989 mit der Digitalisierung verbunden hatte. Aber je differenzierter sich die Ikonographie dieses enigmatischen Jahrzehnts in der Datenbank abbildete und je feiner die wechselseitigen Bezüge und Ergänzungen einzelner Bildmuster auch untereinander zu benennen waren, um so deutlicher wurde auch das, was man zusammenfassend einen Bilderkreis der „digitalen Spiritualität“ in den 1990er Jahren nennen könnte.¹³ Die offensichtlichsten Belege für die Dimensionen, die sich in der so oft als hedonistisch und darum gottlos deklassierten Erlebnisgesellschaft nach 1989 mit den Neuen Medien verbanden, sind sicher jene Bilder, die unmittelbar an bestimmte Vorbilder anzuschließen und mit dieser Vorgeschichte auch zu kokettieren scheinen. Vor allem die Ende der 1990er Jahre von dem Internet-Anbieter Arcor geschaltete Werbekampagne zur Vermarktung von Online-Vernetzungen suchte mit der überraschenden Nähe des technologisch Brandneuen zum Kanonisch-Traditionellen die Aufmerksamkeit und das Vertrauen seiner Kunden zu wecken. So lässt die Coolness des in einem zum Clubsessel umfunktionierten Erdballs posierenden Modells auf einem Inserat für Arcor-Online mit dem Titel „Sprinternet“ Erinnerungen an die christliche Ikonographie des Weltenschöpfers zu, wie ihn als die Weltscheibe vermessender Gottvater das Titelbild einer hochmittelalterlichen Bible Moralisée vom Anfang des 13. Jahrhunderts zeigt.¹⁴ Dass das Arcor-Inserat, das so überdeutlich ein Spiel mit Globen und Weltbildern betreibt, mit der CD in der Hand des Users auf ein kosmologisches Bildmuster zielt, belegen weitere Beispiele aus der Bildwelt der 1990er Jahre, etwa das Deckblatt des Benutzerhandbuchs für das Graphik-Programm Corel Draw von 1994. Auch hier ist eine CD als Weltenscheibe dargestellt, die den ganzen Kosmos digital verfügbarer Bilder bindet. Eine andere, nicht weniger hybrid wirkende Visualisierung der Neuen Medien als eines unbegrenzten kosmischen Raumes der Selbsterfindung und der Spiritualität ist die Arcor-Anzeige für einen besonders günstigen und besonders unkompliziert abzuschließenden Internet-Vertrag. Die hier zu sehende Gespielin des dandyhaften Arcor-Schöpfergottes mit der kosmischen CD in der Hand ahmt mit ihrem Fingerzeig auf den Betrachter vordergründig die sehr verbreitete Ikono-
Vgl. Jörg Probst, Digitale Spiritualität. Das Logo der Love-Parade und die Ideengeschichte der Globalisierung, in: Image Match. Visueller Transfer, ‚Imagescapes‘ und die Intervisualität in globalen Bildkulturen, hg.v. Martina Baleva/Ingeborg Reichle/Oliver Lerone Schultz, München 2012, 235 – 254. Diese und alle im Folgenden erwähnten Bilder sind in der Bilddatenbank ‚Die Neunziger. Bilder und Ideen im Umbruch‘ am Kunstgeschichtlichen Institut der Philipps-Universität Marburg recherchierbar.
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graphie von Wahlkampf- oder Musterungsplakaten nach. Ergebnisse weiterführender Bildrecherchen zur Ikonologie des Digitalen in den 1990er Jahre, vor allem zu der spirituell aufgeladene Bedeutung der Farbe Blau als Ausdruck für die kosmische Unendlichkeit virtueller Räume, haben aber gezeigt, dass auch hier eine Parallele zur Bildgeschichte der christlichen Ikonographie und zwar des Gottesfingers nach dem Muster der äußerst populären und in zahlreichen Adaptionen vorliegenden Darstellung der Erschaffung des Menschen in den Fresken Michelangelos in der Sixtinischen Kapelle zu ziehen ist. Weniger populäre Bildmuster berührend, aber doch ebenfalls jahrhundertealte Topoi der christlichen Ikonographie aufnehmend und diese dadurch transformierend, zählt auch das Cover zu dem Cyber-Triller Vernetzt – Johnny Mnemonic mit Keanu Reaves von 1995 in den Bildkreis der digitalen Spiritualität. Wenn die Bildgeschichte der 1990er Jahre die numinose Euphorie rekonstruieren hilft, die sich in der Umbruchszeit nach 1989 mit den Neuen Medien verbunden hat, dann liegt in diesem Film ein eindrucksvolles Beispiel für die von Otto eingehend beschriebene Seite des Schauderhaften und Entsetzlichen im Gefühl des Numinosen vor. Die schrecklich-schöne Faszination des bewusstseinserweiternden Virtuellen wird in Johnny Mnemonic auch dadurch deutlich, dass hier die extremen Freiräume des anarchischen Cyberspace meist auf der Flucht vor eifersüchtigen Feinden durchmessen werden. Das Cover dieses Films zeigt denn auch einen solchen rasanten Flug als eine Art Himmelfahrt. Senkrecht wie eine Rakete schießt der Held aus den Häuserschluchten der Großstadt empor und direkt auf den Betrachter zu, der sich in diesen Szenen wie ein Satellit oder ein Gottesauge über der Welt befindet. Zusammen mit weiteren Beispielen ähnlicher Bilder digitaler Reisen, die Raum und Zeit zu durchbrechen scheinen, sind mit diesem für die 1990er Jahre besonders typischen Bilderkreis der Himmelfahrt Anlehnungen an Darstellungen der Transfiguration Christi rekonstruierbar, wie sie z. B. Raffael 1520 klassisch formulierte. Was als Vergleich auf den ersten Blick als willkürlich und grotesk erscheint, lässt nach und nach jedoch gerade die Dehnbarkeit ikonographischer Traditionen deutlich werden. So haben Medienwissenschaftler schon früh auf die Ähnlichkeiten des 1999 ebenfalls mit Keanu Reaves gedrehten Cyber-Thrillers Matrix an die Passion Christi verwiesen.¹⁵ Wenn auch der Held dieses Films nach Leid und Tod wieder aufersteht und sein zweites Leben mit einer triumphierenden Himmelsfahrt beginnt, nimmt er damit Vorläufer wie Johnny Mnemonic ebenso auf, wie er spirituelle Bildideen in dem Computerspiel „Deus Ex: Human Revolution“ von 2010 vorweg nimmt.
Vgl. Georg Sesslen, Die Religion der Matrix, in: Ders., Die Matrix entschlüsselt, Berlin 2003, 269 – 292.
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5 Numinose Digitalisierung Spektakulärer noch, in Bezug auf den Mehrwert der Religionsphänomenologie bei der Erforschung von technischen Innovationen aber auch weiterführender als die vergleichsweise einfache Lokalisierung christlicher Ikonographien sind jedoch jene Bilder der 1990er Jahre, die sich nicht ohne weiteres traditionellen Bildmustern zuordnen lassen. Als Belege für die digitalen und globalisierten Bildwelten nach 1989 als einer Wiederkehr des Spirituellen wären diese Objekte und Gestaltungen ohne die Ideen der Religionsphänomenologie kaum beschreibbar. Als Beispiel dafür scheint das Logo der Loveparade zunächst wenig zu taugen. Dem assoziationswilligen kunst- und religionsgeschichtlich Geschulten werden wie bei den vorangegangenen Beispielen der Ikonographie des Weltenschöpfers oder der Transfiguration sofort ähnlich einschlägige Parallelen vor die Augen treten. Doch auch wenn der Vergleich des Loveparade-Logos mit so genannten Monstranzen-Sternen, wie sie in der katholischen Liturgie Verwendung finden, durch zahlreiche weitere Beispiele für die christliche Ikonographie des „heiligen Lichts“ in der Populärkultur der 1990er Jahre zu belegen ist – der direkte Bezug zur Bildgeschichte einer bestimmten Religion kann in diesem Fall als Herleitung nicht befriedigen.¹⁶ Wenn sich vor allem dieses Logo einer Massenveranstaltung an ein globales und vernetztes Publikum richtete, ist der unbestreitbare spirituelle Gehalt dieses Zeichens eher aus den kulturellen und technischen Phänomenen der Globalisierung selbst herzuleiten, wenn sie im Sinne der Kunsthistorikerin Lydia Haustein „global icons“ genannt werden sollen.¹⁷ Ottos Begriff des Numinosen macht dieses bildgeschichtlich ungewöhnliche Vorgehen, Bilder nicht aus Bildern abzuleiten und dennoch ikonologisch zu argumentieren, zu einem sicheren Weg, wenn der Religionsphänomenologie zufolge eine Wiederkehr oder ein Aufleben des Glaubens und der Andacht nicht ausschließlich von Traditionen und Institutionen, sondern primär von einem elementaren Gefühl oder einem unmittelbaren Erleben abhängig zu machen ist. Ähnlich wie im Beispiel des Ulmer Münsters, dessen analoge Fotografie Otto als Reproduktion des Numinosen identifizieren konnte, haben sich spirituelle Gehalte auch digital im Umgang mit Neuen Medien und dem Erleben virtueller Welten regeneriert. Dem Love-Parade-Logo eng verwandte Szenen aus der einschlägigen Film-Triologie Matrix können dafür als Belege dienen. Jeder der drei Filme dieser Folge beginnt mit einem Lichtblitz, der aus dem Dunkel der Leinwand/des Bild-
Jörg Probst, Digitale Spiritualität (Anm.13), 251. Lydia Haustein, Global Icons. Globale Bildinszenierung und kulturelle Identität, Göttingen 2008.
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schirms auf den Betrachter zurast, ihn auf diese Weise einfängt und ihm anzeigt, nun online und eingeloggt zu sein. Diese Ästhetik des Lichtblitzes als Login ist unter anderem auch auf dem Cover einer Publikation über Internet im Religionsunterricht aus dem Jahr 2000 als Verbildlichung vernetzter Kommunikation und des Einloggens in das Internet zu finden. Im Logo der Loveparade ist diese Bildlichkeit des in den 1990er Jahren von immer mehr Usern vollzogenen Logins zu einem global kenntlichen spirituellen Symbol von Gemeinschaftlichkeit, Ganzheitlichkeit und Unendlichkeit verdichtet worden. Dieser seltsame, für die Internet-Euphorie nach 1989 so typische Bilderkreis des „Login als heiliges Licht“ schreibt im selben Maße die Bildgeschichte der christlichen Ikonographie fort, wie er das Aufleben des Spirituellen durch Begegnungen mit Neuen Medien greifbar werden lässt. Beobachtungen und Schlüsse dieser Art können sich durch die Religionsphänomenologie Rudolf Ottos legitimieren und sie sind auch nur weiter zu überprüfen, wenn Bilder, Praktiken und Ideen des Technischen nicht grundsätzlich als das „ganz Andere“ des Geistigen angesehen werden.
6 Rudolf Otto und die Ideengeschichte des 21. Jahrhunderts Ist das Numinose auch die Bedingung der Möglichkeit eines Paradigmas? Wenn ein Phänomen mit einer gewissen Angstlust oder einem numinosen Schauder besetzt sein muss, um in Politik, Kultur und Forschung als handlungs- und entscheidungsleitendes Paradigma wirksam zu werden, dann ist die sich noch in den 1990er Jahren an der mentalen und geistigen Bedrohung durch Bilder entzündende kreative Nervosität der Interdisziplinarität längst auf ein anderes Dilemma der globalisierten Welt übergesprungen. Denn der u. a. von der Zeitschrift für Ideengeschichte völlig zu Recht mit ironischem Befremden verfolgten Wiederkehr der Religion als Macht, des Auflebens von politischen Sehnsüchten nach nationaler Identität oder der erneuten Vergötzung kultureller Werte zu so genannten „Leitkulturen“ ist mit der Bildkritik allein nur noch begrenzt zu begegnen.¹⁸ Der intellektuelle und akademische Diskurs muss sich Normierungen und Verhärtungen als letztlich forschungsfeindlichen und eine Wissensgesellschaft bedrohenden Tendenzen unbedingt stellen. Schon aus diesem Grund ist die
Ulrich Raulff/Helwig Schmidt-Glintzer/Hellmut Th. Seemann, Einen Anfang machen. Warum wir eine Zeitschrift für Ideengeschichte gründen, in: Alte Hüte. Zeitschrift für Ideengeschichte 1 (2007), 4– 6.
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Ausrichtung gerade von fächerübergreifenden Forschungen immer wieder aufs Neue in ihrer Relevanz zu überprüfen. In Anbetracht der schwerwiegenden philosophischen und ideologischen Problematiken der wieder so lebendig gewordenen und in jeder Beziehung so zu nennenden „Leitbilder“ im 21. Jahrhundert kann diese Ausrichtung nur in einer Bild- und Begriffsforschung verbindenden, Text- und Bildkompetenzen gleichermaßen umfassenden, fächer- und medienübergreifenden Ideengeschichte liegen. Mit Blick auf die kritisch zu begleitende, die globale Kultur ebenso prägende wie unter Spannung setzende Renaissance der Religionen ist der integrativen interdisziplinären Forschung durch Rudolf Ottos explizit ideengeschichtliche Schrift über Das Heilige und die „Idee des Göttlichen“ eine wertvolle, Bilder, Texte, Akte, Klänge und Technologien gleichermaßen umfassende phänomenologische Grundlage gegeben.
Autorinnen und Autoren Alles, Gregory D. (geb. 1954), Ph.D., ist Professor für Religionswissenschaft am McDaniel College, Westminster, Maryland, USA. Barth, Roderich (geb. 1966), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie und Ethik an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Barth, Ulrich (geb. 1945), Dr. theol., ist Professor em. für Dogmatik und Religionsphilosophie an der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg. Beinhauer-Köhler, Bärbel (geb. 1967), Dr. phil., ist Professorin für Religionsgeschichte an der Philipps-Universität Marburg. Braune-Krickau, Tobias (geb. 1983), MTh, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachbereich Evangelische Theologie im Fachgebiet Praktische Theologie an der Philipps-Universität Marburg. Buntfuß, Markus (geb. 1964), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Choi, Jeong Hwa (geb. 1978), Dr. phil., ist Forschungsprofessorin am Institute of Mind Humanities, Wonkwang University, Iksan, Südkorea. Danz, Christian (geb. 1962), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Wien. Deuser, Hermann (geb. 1946), Prof. Dr. Dr. h.c., ist Prof. em. an der Goethe-Universität Frankfurt und Fellow am Max-Weber-Kolleg Erfurt. Dietz, Thorsten (geb. 1971), Dr. theol., ist Professor an der Evangelischen Hochschule Tabor in Marburg. Erne, Thomas (geb. 1956), Dr. theol., ist Professor für Praktische Theologie und Direktor des EKD-Instituts für Kirchenbau und Kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg. Feldmann, Stephan (geb. 1971), Dipl.-Theol., ist Pastor der Ev.-luth. TimotheusGemeinde in Osnabrück und Doktorand im Fach Systematische Theologie an der Universität Osnabrück.
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Autorinnen und Autoren
Feldmeier, Reinhard (geb. 1952), Dr. theol., ist Professor für Neues Testament an der Georg-August-Universität Göttingen. Fritz, Martin (geb. 1973), Dr. theol., ist Assistent im Fach Systematische Theologie an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau. Gooch, Todd (geb. 1967), Ph.D., ist Associate Professor am Department of Philosophy and Religion der Eastern Kentucky University, Richmond, Kentucky, USA. Hisamatsu, Eiji (geb. 1957), Dr. theol., ist Professor für Religionsvergleich an der Universität Ryukoku, Japan. Iff, Markus (geb. 1964), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Theologischen Hochschule Ewersbach. Jäger, Stefan S. (geb. 1968), Dr. theol., ist Dozent für Systematische und Praktische Theologie an der Evangelistenschule Johanneum Wuppertal. Joas, Hans (geb. 1948), Dr. Dr. h.c. mult., ist Permanent Fellow am FRIAS (Freiburg Institute for Advanced Studies), Universität Freiburg, sowie Professor für Soziologie und Social Thought an der University of Chicago, USA, außerdem ordentliches Mitglied der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Korsch, Dietrich (geb. 1949), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Philipps-Universität Marburg. Kraatz, Martin (geb. 1933), Dr. phil., war Leiter der Religionskundlichen Sammlung der Philipps-Universität, Marburg. Laube, Martin (geb. 1965), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Lauster, Jörg (geb. 1966), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie und Religionsphilosophie an der Philipps-Universität Marburg. Matern, Harald (geb. 1982), Dr. theol. des., ist Koordinator des Projekts „Religion. Zur Transformation eines Grundbegriffs europäischer Kultur in der deutschsprachigen protestantischen Theologie (ca. 1830 – 1914)“ am Lehrstuhl für Systematische Theologie/Ethik der Universität Basel, Schweiz.
Autorinnen und Autoren
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Osthövener, Claus-Dieter (geb. 1959), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Pfleiderer, Georg (geb. 1960), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie/ Ethik an der Universität Basel, Schweiz. Pöpperl, Christian (geb. 1971), Dr. theol., ist Studienrat am Gymnasium Wertingen. Probst, Jörg (geb. 1971), M.A., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Theorie Ideengeschichte und Koordinator des Portals Ideengeschichte am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften und Philosophie der Philipps-Universität Marburg. Raphael, Melissa (geb. 1960), Dr. phil., ist Professor of Jewish Theology an der University of Gloucestershire, Großbritannien. Rohls, Jan (geb. 1949), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München. Sawai, Yoshitsugu (geb. 1951), Dr. phil., ist Professor am Department of Religious Studies an der Tenri University, Japan. Schäufele, Wolf-Friedrich (geb. 1967), Dr. theol., ist Professor für Kirchengeschichte an der Philipps-Universität Marburg. Scheliha, Arnulf von (geb. 1961), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Osnabrück. Schlitte, Annika (geb. 1981), Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Philosophie der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Schröter, Marianne (geb. 1969), Dr. theol., ist Leiterin der NachwuchsforscherInnengruppe „Aufklärung und Religion in interkulturellen Bezügen“ am Landesforschungsschwerpunkt „Aufklärung – Religion – Wissen“ der Martin-LutherUniversität Halle/Wittenberg. Schüßler, Werner (geb. 1955), Dr. phil. habil. Dr. theol., ist Professor für Philosophie an der Theologischen Fakultät Trier.
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Autorinnen und Autoren
Schüz, Peter (geb. 1983), Dipl.-Theol., ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fachgebiet Systematische Theologie und Religionsphilosophie der Philipps-Universität Marburg. Slenczka, Notger (geb. 1960), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Sodeika, Tomas (geb. 1949), Dr. phil., ist Professor am Zentrum für Studium und Erforschung der Religion an der Universität Vilnius, Litauen. Terrin, Aldo Natale (geb. 1941), Dr. phil. Dr. theol., ist Professor em. an der Università Cattolica del Sacro Cuore, Mailand, Italien. Voigt, Friedemann (geb. 1967), Dr. theol., ist Professor für Sozialethik mit Schwerpunkt Bioethik an der Philipps-Universität Marburg. Walther, Markus (geb. 1981), M.A., ist Doktorand im Fach Religionsphilosophie an der Goethe-Universität in Frankfurt. Wendel, Saskia (geb. 1964), Dr. phil., ist Professorin für Systematische Theologie an der Universität zu Köln. Wiefel-Jenner, Katharina (geb. 1958), Dr. theol., Pfarrerin, arbeitet in der Aus- und Fortbildung von Ehrenamtlichen für den Verkündigungsdienst in Berlin. Willenborg, Hanno, (geb. 1969), Dr. phil, ist Religionswissenschaftler und Sozialtherapeut in Leipzig. Wittekind, Folkart (geb. 1963), Dr. theol., ist Professor für Systematische Theologie an der Universität Duisburg-Essen.
Namensregister Adorno, Theodor W. 491 Agamben, Giorgio 654 Alberti, Leon Battista 481 Albrecht, Carl 146 Albrecht, Renate 359 al-Ġazālī 563 – 564, 568 – 575, 584 al-Hallāğ 568 Alles, Gregory D. XII, 203 – 204, 217, 226, 578 Almond, Philip C. 530, 540 Althaus, Paul 358 Aner, Karl 452 – 453 Anselm von Canterbury 278 – 279 Anzu, Motohiko 608 – 609 Aristoteles 145, 359, 363, 480, 489, 565 Arndt, Johann 172 Arnold, Gottfried 172 Aron, Raymond 64 Asmussen, Hans 265 Assmann, Jan 52 Augustin 101, 131, 480, 493, 545 – 549 Bach, Johann Sebastian 168, 421, 470, 653 Badcock, Christopher 629 Baetke, Walter 620 Bahr, Hermann 457 Bancalari, Stefano 623 Barrett, Justin 24, 26, 33 – 34 Barth, Carola 10 Barth, Hans Martin 627 Barth, Karl 5, 37, 81, 162, 174, 235, 237, 244 – 246, 358, 454, 470, 531, 536, 618 Barth, Ulrich XII-XIII, 405, 433 Barthes, Roland 654 Bartholdys, Mendelssohn 653 Basso, Lelio 617 Bataille, Georges 654 Baumgarten, Otto 308 Bechmann, Hermann 156 Becker, Carl Heinrich 3 Beethoven, Ludwig van 421 Beethoven, Ludwig van 421, 470, 653 Bellah, Robert 66 Benjamin,Walter 642 – 645, 654 – 655
Benz, Ernst 6, 167 Bernini, Giovanno Lorenzo 641 – 642, 646 Bianchi, Ugo 618, 621 – 622 Birkner, Hans-Joachim 351 Bleeker, Claas Jouco 619 Blumenberg, Hans 480 Böcklins, Arnold 464 Bodhidharmas 525, 535, 610 Boehm, Gottfried 489, 651 – 652, 656 – 657 Boehme, Jakob 349 Bölsche, Wilhelm 309 Bomberg, David 257 Boozer, Jack Stewart 7, 155 Bornhausen, Karl 223 Bornkamm, Heinrich 175 Bousset, Wilhelm 15, 219, 221 – 231, 234, 308 Boyer, Pascal 26, 32 – 33 Braungart, Wolfgang 461 Bredekamp, Horst 489 Brelich, Angelo 621 Brentano, Clemens 649 Brunner, Emil 358, 454 Bruno, Giordano 149, 309 – 310 Bühler, Karl 626 Bulbulia, Joseph 35 Bultmann, Rudolf 4 – 5, 37, 106, 135, 235 – 249, 323 Buonaiuti, Ernesto 13, 615 – 616, 618 Burckhard, Jacob 642, 646 Burke, Edmund 439 Cage, John 492 Calvin, Johannes 528, 554 Carman, John Braisted 542, 548 Casadio, Giovanni 622 Casey, Edward 435 Cézanne, Paul 474 Chagall, Marc 257 Chevreul, Michel Eugène 629 Cicero 480 Cohn-Sherbok, Lavinia 6 Colombo, Chiarassi 622 Colpe, Carsten 44 – 45, 67, 359, 460, 579
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Namensregister
Cooley, Charles 74 Cosi, Dario 622 Croce, Benedetto 620 Cusanus, Nikolaus 149 da Vinci, Leonardo 469, 492, 648 Darwin, Charles 24, 173, 307, 310, 313 – 314, 321, 625 – 636 Dawkins, Richard 24, 625 de Coulanges, Fustel 62 De Martino, Ernesto 618, 621 de Wette, Wilhelm Martin Leberecht 179 – 180, 191 – 202, 296, 455 DeMille, Cecil Blount 648 Dennett, Daniel 24 Di Nola, Alfonso Maria 621 Dierks, Margarete 12 Dilthey, Wilhelm 42, 44, 61, 272, 311, 620 Dionysius Areopagita 494 – 497, 503 – 506 Doré, Gustave 648 Dürer, Albrecht 468 – 469 Durkheim, Émile 60, 62 – 65, 68 – 70, 73, 75 Duvivier, Julien 648 Echtermeyer, Theodor 452 Eichhorn, Albert 207, 308 Eliade, Mircea 37, 446 – 447, 588, 619 – 620, 622 Emmerick, Anna Katharina 649 – 650 Evans, Jonathan 31 Evola, Julius 618 Eyth, Max 655 Fa, Xian 578 Fassler, Manfred 656 Faust, August 524, 610 Fichte, Johann Gottlieb 45, 146, 181, 195, 297, 455 Filoramo, Giovanni 622 Flacius, Matthias 101 Fodor, Jerry 23 Forell, Birger 7 – 8, 11 – 12, 547 Forell, Urban 7 Frank, Friedrich Reinhold Herrmann von 205 Frank, Jacob 252 Freedberg, David 256 Freeman, Walter W. 647
Freiberg, Dietrich von 566 Frick, Heinrich 12, 203 – 204, 217, 619 Fries, Jakob Friedrich XIII, 45 – 47, 57, 61, 69, 179 – 180, 183, 195, 197, 199 – 202, 222 – 223, 227, 232 – 233, 295 – 301, 303 – 306, 324 – 325, 339, 377 – 379, 381 – 382, 392 – 393, 404, 426 – 430, 432, 439, 450, 455, 463, 465, 580 Fröbe-Kapteyn, Olga 11 Gandini 620 Gennep, Arnold van 251 Georg, Stefan 468 George, Stefan 461 Gerhardt, Johann 81 Gerutti, Vittoria M. 622 Gibson, Mel 649 – 650 Gloël, Johannes 209 Goethe, Johann Wolfgang von XIII, 39, 162, 188, 307, 309 – 311, 313 – 315, 317, 321, 465 Gogarten, Friedrich 235, 237, 454 Goldammer, Kurt 619 Goldie, Peter 284 – 286, 288 Gramsi, Antonio 621 Greschat, Hans-Jürgen 7, 577 Grom, Bernhard 632 Grünewald, Matthias 468 Ğubair, Ibn 582 – 588 Gubin, Jean 648 Günther, Regina 583 – 584 Gundert, Wilhelm 532, 526 Gunkel, Hermann 209, 219, 308 Guthrie, Stewart 26, 32 Haas, Hans 526, 528, 532, 536 Hackmann, Heinrich 8, 12, 205, 207, 219 – 220, 526, 528, 636 Haeckel, Ernst 24, 309, 313 Halbwachs, Maurice 52 Haller, Albrecht von 422 Hanazono, Toshimaro 605 – 606, 611 – 613 Harada, Toshiaki 609 Harnack, Adolf von 39 – 40, 186, 207, 237, 358, 454, 458 Hartlaub, Gustav Friedrich 472 Hartmann, Nicolai 102
Namensregister
Hauer, Jakob Wilhelm 4, 13 – 14, 131 Haustein, Lydia 660 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 45, 49, 115, 185, 292, 297, 426, 463, 487 Heidegger, Martin 4 – 5, 111, 128, 283 – 284, 335 – 336, 345, 363, 640 Heiler, Friedrich 4, 6 – 7, 37, 532 – 533, 619, 622 Heim, Karl 532 Heine, Heinrich 452, 458 Heitmüller, Wilhelm 5, 220 Helmholtz, Hermann 311 Herbart, Johann Friedrich 359 Herder, Johann Gottfried 49, 73, 192 – 193, 198 Hermelink, Heinrich 5 Herms, Eilert 319 Herrigel, Eugen 524, 610 Herrmann, Wilhelm XIII, 3 – 4, 42, 153, 207, 223, 238, 245, 247, 381, 393, 404 Hiob 99, 169 Hirsch, Emanuel 348 – 349 Hobbes, Thomas 261 Hölderlin, Friedrich 468 Holl, Karl 174, 177 Homer 89 Hōnen, Shōnin 528 Hössle, Vittorio 629 Hubert, Henri 62, 64 Hume, David 65, 282 Husserl, Edmund 111 – 113, 115, 282, 285, 292, 328, 335, 344 – 345, 364, 546 – 547 Ibsen, Henrik 467 Illies, Christian 629 Ishida, Hoyu 614 Jaensch, Erich Rudolf 626, 634 – 636 Jakob 81, 553 Jakobi, Friedrich Heinrich 297, 311, 324 James, William XIII, 50, 52, 59 – 66, 69 – 72, 74 – 76, 281 – 283, 291, 319 – 323, 325 – 329, 331 – 333, 390, 478, 630 Jaspers, Karl 352 Jesaja 91, 105, 117, 118, 122, 165 Jesus Christus 69, 82 – 85, 88 – 93, 98 – 99, 104 – 106, 140, 158, 162, 166, 169, 171 –
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172, 212, 224 – 225, 269 – 271, 341, 452, 468, 470 – 471, 484, 486, 490 – 491, 556, 567, 647 – 650, 659 Joas, Hans XII, 389 – 390 Johannsen, Dirk 636 Johnson, Mark 23, 27 Jung, Carl Gustav 612 – 613, 629, 654 Jung, Matthias 72, 74 Kaftan, Julius 237 Kahl, Heinrich 156, 158 Kahneman, Daniel 30 Kanae, Tada 528 Kant, Immanuel XIII, 23, 45 – 47, 51, 53, 60, 69, 73, 101, 115, 120, 180, 192 – 193, 195 – 197, 222, 295 – 297, 304, 311, 323 – 325, 327, 332 – 333, 338 – 339, 348, 351, 356, 379, 381, 391 – 396, 406, 408, 410 – 413, 419 – 420, 422 – 433, 436 – 446, 464, 497 – 503, 505 – 506, 512, 514, 581, 618 Karl der Große 263 Kato, Genchi 608 Kattenbusch, Ferdinand 15, 453 – 454 Kaufmann, Isidor 257 Kenny, Anthony 284 – 285 Kierkegaard, Søren 127, 134, 328, 374, 452, 483 – 484, 650 Kimura, Toshihiko 609, 614 Kippenberg, Hans Gerhard 67 Kirchner, Albert 647 Klenner, Jost Philipp 652 Klopstock, Friedrich Gottlieb 460 – 463, 468 Knevel, Wilhelm 266 Knolle, Theodor 265 – 266 Kochinka, Alexander 626 Kraatz, Martin XII, 21 Kracauer, Siegfried 648 Krish, John 649 Krüger, Hanfried 15 Lakoff, George 23, 27 Lane, Edward William 586, 590 Lang, Andrew 56 Lanternari, Vittorio 621 Lazarus, Moritz 49 – 50, 52 Leibniz, Gottfried Wilhelm 56
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Namensregister
Levinas, Emmanuel 111 Linderholm, Emanuel 269 – 272 Lloyd, Arthur 528 Locke, John 282 Loofs, Friedrich 207 Lotze, Hermann 42, 393 Löwith, Karl 4 Lumière Auguste Marie Louis Nicolas 647 Lumière, Louis Jean 647 Luther, Martin XII, 13, 39 – 41, 43, 61, 63, 81, 101, 120, 124 – 125, 161, 165 – 177, 179, 207, 210 – 214, 217, 263, 279, 310, 515, 528, 556 Lyotard, Jean-François 501 – 503, 505 – 506
Mulert, Hermann 3 Munqiḏ, Usāma ibn 572, 585
Machon, Hendryk 630 Maede, Tsuyoshi 611 – 612 Magnus, Albertus 566 Mahler, Gustav 471 Maimonides, Moses 33 Malraux, André 654 Marett, Robert Ranulph 61 – 62, 65, 70 Marion, Jean-Luc 259 Martinetti, Piero 617 – 618 Masenzio, Marcello 622 Matzuda, Mariko 613 Mauss, Marcel 62, 64 – 65, 68 McCauley, Robert 21, 25, 31 – 32 Mead, George 74 Meister Eckhart 16, 17, 144, 148 – 149, 166, 171, 504, 539, 542, 563 – 568, 572, 574 – 575 Méliès, Georges 647 Mendelkow, Robert 309 Mensching, Gustav 37, 266, 619 – 620 Merleau-Ponty, Maurice 111, 286 Meyer-Benfey, Heinrich 451 Michelangelo 468 – 469, 659 Miegge, Giovanni 617 – 618 Miki, Kiyoshi 607 Mohn, Jürgen 579, 590 Montanari, Enrico 622 Mora, Fabio 622 Mose 81, 262, 422, 495 Motoori, Norinaga 608 Mozart, Wolfgang Amadeus XIV, 470, 581 Müller, Max Friedrich 549, 587
Oberman, Heiko 175 Ochsner, Heinrich 335 Offermanns, Jürgen 535 Olcott, Sydney 648 Ottmer, Johanne 6, 12 Ottmer, Margarete 6, 11, 13
Nagel, Thomas 25, 27 Nassehi, Armin 478 Naumann, Gottfried 15 Neff, Paul 12 Nelson, Leonard 221, 300, 377 Newberg, Andrew 24 Newmann, Barnett 492 Nietzsche, Friedrich 186, 374, 408 Nonguet, Lucien 648 Novalis (Friedrich von Hardenberg) 451, 456 Nukariya, Kaiten 526
Palestrina, Giovanni Pierluigi da 470 Panofsky, Erwin 489 Parker, Theodore 130 Pasolini, Pier Paolo 649 Paulus 83, 85 – 86, 92, 186, 244 – 245 Peirce, Charles Sanders 326, 330, 333 Petraca, Francesco 493 Petrus 91, 97, 117 Pettazzoni, Raffaele 618 – 621 Pfleiderer, Georg 198, 635 Pius X 616 Platon 480, 494 Plotin 16 Pode, Sophia 586 – 588 Popper, Karl 301 Pratap, Raja Mahendra 600 Proust, Marcel 468, 643 Pünjer, Georg 42 Puglisi, Mario 617 Rade, Martin 308 Raffael 659 Rahlfs, Alfred 219 – 220 Rāmānuja 536, 539, 541, 547 – 549 Raveri, Massimo 622
Namensregister
Reaves, Keanu 659 Recki, Birgit 445 Reichelt, Karl Ludwig 528 Reichenbach, Hans 301 Reinhold, Karl Leonard 297 Reischle, Max 207 Rembrandt 469 Ricœur, Paul 111 – 112, 114 – 116, 121 – 125 Rilke, Rainer Maria 461 Ritschl, Albrecht 95, 105, 166 – 168, 170, 203 – 205, 207 – 217, 244, 358, 381, 393, 404, 453 Ritter, Gerhard 175 Roberts, Robert C. 282, 284 Rossellini, Roberto 649 Rothko, Mark 492 Royce, Josiah 72 Rubin, Reuven 257 Rudolph, Kurt 620, 626 Rübezahl 136 Ruether, Rosemary 260 Ruge, Arnold 452 Ruskin, John 130 – 131 Russel, Bertrand 371 Sabbatai Tzvi 252 Sabbatucci, Dario 621 Said, Edward 529 Saint-Exupéry, Antoine de 75 Śaṅkara 166, 536, 539, 542, 544, 546 – 548 Sartre, Jean-Paul 111, 128 Satow, Louis 451 Sawai, Yoshitsugu 611 Schaute (Ottos Hund) 12 Schefflers, Karl 655 Scheler, Max 69 – 70, 75, 352, 390, 393, 407 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 146, 194, 297, 342 – 343, 349, 455 Schiller, Friedrich 426 Schinzer, Reinhard 155, 552 Schlegel, August Wilhelm 451 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 5, 11, 42 – 44, 57 – 58, 60, 65, 73 – 75, 97 – 98, 105, 108, 113, 117, 137, 143 – 144, 148 – 149, 154, 159 – 162, 179 – 190, 194, 198, 201, 210 – 211, 213 – 217, 235, 239, 242 –
671
243, 262, 271, 287, 296, 321, 339, 351, 362, 389, 392, 394, 404, 426, 439, 449 – 451, 453 – 455, 478, 484, 490, 519 – 520, 581, 620, 639 Schmidt, Hermann 9, 13 Schmidt, Peter Wilhelm 56, 620 Schmidt, Wilhelm 56, 620 Schnack, Ingeborg 6 Schopenhauer, Arthur 349, 470 Schūej, Ōhasama 524, 610 Schütte, Hans-Walter 200 Schultz, Hermann 206 – 207, 214 – 216 Schwarz, Rudolf 506 Schweitzer, Albert 83 Seel, Martin 361 Setel, Drorah 254 Shinran 528 Siegfried, Theodor 6, 12, 350 Simmel, Georg 390 Slingerland, Edward 23, 27, 35 Smend, Julius 237 Smend, Rudolf 206 Smith, Adam 282 Smith, Robertson 62 Söderblom, Nathan 16, 43, 55, 61 – 62, 68, 70 – 71, 530, 619, 622 Sokatzu, Shaku 610 Solomon, Robert 283 Sousa, Ronald de 283 Spener, Philipp Jakob 172 Sperber, Dan 24 Spineto, Natale 622 Spinoza, Baruch de 353 Spitta, Friedrich 237 Srialpi, Fabio 622 Stafford Miller, Barbara 33 Stahlhut, Christian 319 Stählin, Wilhelm 265 – 266 Stanovich, Keith 30 Stein, Charlotte von 313 Steinthal, Heymann 49 – 50, 52 Stephan, Horst 174 Stephani, Hermann XIV Stevens, George 648 Strauß, David Friedrich 313 Strauß, Johann Baptist 470 Strauss, Leo 67
672
Namensregister
Sulzer, Johann Georg 422, 424 Suzuki, Daisetz Teitarō 526, 533 – 534, 536 – 537, 596 – 600, 603, 609 – 610 Sydow, Eckart von 459, 471 – 472 Sydow, Max von 648 Sykes, Peter 649 Tachikawa, Musashi 611 Tagore, Rabindranath XIV, 601 Takeda, Mokurai 609 Taves, Ann 27 Taylor, Charles 63, 446, 477 – 478 Tetens, Johann Nikolaus 44 Theresa von Avila 16, 641 – 642, 646 Thieme, Karl 207 Tholuck, Friedrich August Gottreu 296 Thomas von Aquin 279 – 280, 352 Thomassen, Einar 34 Tieck, Ludwig 458 Tilger, Adriano 617 – 618 Tillich, Paul XIII, 59, 136, 139, 335 – 336, 341 – 345, 347 – 359, 404, 459, 463, 471 – 475, 523, 531 Troeltsch, Ernst 56, 60 – 61, 65, 73, 114, 219 – 221, 228, 231 – 234, 237, 308, 332, 337, 340, 342, 345, 381, 383, 450, 454, 465, 473 Tucci, Giuseppe 618 Tugendhat, Ernst XIII, 361 – 374
van Gogh, Vincent Wilhelm 474 van Ryba, Jakob 623 Vincent, Henry C. 647 Vischer, Eberhard 12 Voegelin, Eric 64 Waardenburg, Jacques 623 Wach, Joachim 35 – 36, 619 – 620 Wackenroder, Wilhelm Heinrich 458 Wagner, Wilhelm Richard 470 Warburg, Aby 52, 656 Weber, Max 47, 60, 65 – 66, 450 Weinel, Heinrich 209 Weiß, Johannes 83, 219, 226, 238 Whitehouse, Harvey 32 Wilhelm, Richard 9, 13, 526, 595 – 596 Wilikens, Ben 492 Wimmer, Richard 308 Wittgenstein, Ludwig Josef Johann 501 Wobbermin, Georg 319 – 320, 323 Worringer, Wilhelm 653 – 655 Wrede, William 219, 308 Wünsch, Georg 6, 12 Wundt, Wilhelm 38, 48 – 55, 57, 59, 61, 113, 133, 311 – 315, 339 – 340, 429 – 431, 517 – 519, 521, 617 Xella, Paolo 622 Yamaya, Seigo 605 – 607
Uhde, Fritz von
474 – 475
van Baaren, Theodorus Petrus 619 van den Bergh, Simon 571 van der Leeuw, Gerardus 37, 447, 463, 466 – 471, 473, 619 – 620, 622
Zecca, Ferdinand 648 Zeffirelli, Franco 649 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von Zöllner, Frank 481
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