Mysterium tremendum: Zum Verhältnis von Angst und Religion nach Rudolf Otto. Dissertationsschrift 9783161534485, 3161534484

Schon immer gehören zum Wesen der Religion auch Momente, die an Angst erinnern. Peter Schüz verfolgt in seiner theologis

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German Pages 490 Year 2016

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Einleitung
Angst und Moderne – Angst und Religion
Angst und Religion bei Rudolf Otto
Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum« als Thema der Theologie
Siglen der Werke Rudolf Ottos
Literaturverzeichnis
Namensregister
Sachregister
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Mysterium tremendum: Zum Verhältnis von Angst und Religion nach Rudolf Otto. Dissertationsschrift
 9783161534485, 3161534484

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Beiträge zur historischen Theologie Herausgegeben von

Albrecht Beutel

178

Peter Schüz

Mysterium tremendum Zum Verhältnis von Angst und Religion nach Rudolf Otto

Mohr Siebeck

Peter Schüz, geboren 1983 in Mainz, 2002–2009 Studium der Ev. Theologie in Mainz, Münster, Rom (Gregoriana) und Marburg; 2009–2011 Wissenschaftlicher Mitarbeiter am EKD-Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart an der Philipps-Universität Marburg; 2010–2014 Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachgebiet Systematische Theologie und Religionsphilosophie am Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg; 2014 Promotion und seither Akademischer Rat für Systematische Theologie zunächst in Marburg und seit Herbst 2015 an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Gedruckt mit Unterstützung des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG WORT

ISBN 978-3-16-153448-5 ISSN 0340-6741 (Beiträge zur historischen Theologie) Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National­ biblio­graphie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2016  Mohr Siebeck Tübingen. www.mohr.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikro­­­­verfilmungen und die Einspeicherung und Ver­arbeitung in elektronischen Systemen. Das Buch wurde von Martin Fischer in Tübingen aus der Stempel Garamond, der Garamond Premier Pro und der SBL Hebrew gesetzt, von Gulde-Druck in Tübingen auf alterungsbeständiges Werkdruck­papier gedruckt und von der Buch­binderei Spinner in ­Ottersweier gebunden.

Meinen Eltern und Großeltern in Dankbarkeit gewidmet.

Vorwort

Vor den Urphänomenen, wenn sie unseren Sinnen enthüllt erscheinen, fühlen wir eine Art von Scheu, bis zur Angst. Die sinnlichen Menschen retten sich in’s Erstaunen; geschwind aber kommt der tätige Kuppler-Verstand und will auf seine Weise das Edelste mit dem Gemeinsten vermitteln.1 Johann Wolfgang von Goethe

Es handelt sich bei dem vorliegenden Buch um meine für die Drucklegung geringfügig überarbeitete Dissertation, die im Februar 2014 vom Fachbereich Evangelische Theologie der Philipps-Universität Marburg als Promotionsleistung im Fach Systematische Theologie angenommen wurde. Dass ich für einige Zeit dem Denken Rudolf Ottos und den schauervollen Geheimnissen der Religion, dem »mysterium tremendum« und seinem Verhältnis zur Angst nachspüren durfte, empfinde ich als großes Geschenk. Es geht nun für mich eine längere Spurensuche zu Ende, die hinsichtlich ihres Gegenstandes vielleicht ein wenig an Goethes Erkundung der »Urphänomene« erinnern mag: Ganz ähnlich wie im eingangs zitierten Goethewort handelt diese Studie vom Staunen in Folge einer »Art von Scheu, bis zur Angst«, deren Grund sich jeder rationalen Erfassbarkeit zu entziehen scheint. Nun findet nicht nur ein jahrelanger Weg des Staunens und wissenschaftlichen Arbeitens einen Abschluss, sondern es endet für mich ein ganzer Lebensabschnitt, der mir viel Glück gebracht hat. Ich habe Marburg in all den Jahren als einen ganz wunderbaren Ort voller Wohlwollen, Freundschaft und Inspiration erleben dürfen. Die Entstehungsgeschichte dieses Buches ist daher nicht nur eng mit dem Abfassungsort, sondern besonders auch mit all denen verbunden, die mir durch ihren freundschaftlichen Rat, ihre Hilfe und Unterstützung zur Seite standen. Mein größter Dank gilt an erster Stelle meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Jörg Lauster, dessen Rat und Vorbild auch weit über dieses Buch hinaus wegweisend für mich waren und sind. Die Bedingungen, unter denen ich in den 1 Goethe,

Maximen und Reflexionen Nr. 412 [Zählung nach Max Hecker], MA 17, 792.

VIII

Vorwort

letzten vier Jahren als sein Assistent in größter Freiheit forschen und arbeiten durfte, kann ich mir schöner und inspirierender nicht vorstellen. Tief dankbar bin ich jedoch nicht nur für seine Begeisterungsfähigkeit, seine nie ermüdende Geduld für mein Dissertationsprojekt und die beispiellose Unterstützung und Förderung, die mir durch ihn schon seit dem Studium zuteil wurde, sondern besonders auch für die freundschaftliche Verbundenheit und Ermutigung, die alles dies stets begleitete und mir viel bedeutet. Herrn Prof. Dr. Dietrich Korsch danke ich ganz herzlich für so manche akademische Ermunterung sowie für das mit wertvollen Hinweisen und Anregungen versehene Korreferat. Dankbar verbinde ich mit ihm überdies wunderbare Erinnerungen an meine Marburger Studiensemester und Doktorandenjahre, in denen mich seine faszinierende Vermittlung freien theologischen Denkens sehr geprägt hat. Ein ganz besonderer Abschnitt meiner Promotionszeit waren schließlich die fast zwei Jahre, in denen ich als Assistent am Marburger EKD‑Institut für Kirchenbau und kirchliche Kunst der Gegenwart mitarbeiten durfte. Die Inspirationskraft dieses wunderbaren Ortes geht auf den besonderen Charme des Institutsdirektors, Herrn Prof. Dr. Thomas Erne, zurück, für dessen Freundschaft und ermutigenden Rat ich bis heute sehr dankbar bin. Sein wacher Sinn für Phantasie und intellektuelle Leidenschaft hat mich auch auf dem Weg zum vorliegenden Buch begleitet. Dankbare Erinnerungen verbinde ich mit meinem Auslandssemester an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom, wo mir besonders Herr Prof. Dr. Gerhard Gäde inspirierende Einblicke in die Fundamentaltheologie eröffnete. Herr Dr. Martin Kraatz, Marburg, hat mir mit seinem unübertroffenen Sachverstand zum Leben und Nachlass Rudolf Ottos wertvolle Hinweise gegeben. Zu den überaus glücklichen Umständen, die die vorliegende Studie ermöglicht haben, gehört auch der Kreis meiner Kolleginnen und Kollegen in Marburg, auf deren Unterstützung immer Verlass war. An erster Stelle steht der Praktische Theologe Dr. Tobias Braune-Krickau, dessen Freundschaft und Verbundenheit mir ein ganz besonderer Glücksfall ist. Sein Rat ist mir unverzichtbar und sein kritisches Auge war nicht nur auf dem Weg zu diesem Buch von größter Bedeutung. Daher gebührt ihm ein ganz besonderer Dank. Frau WM Charlotte Voß hat das Entstehen der Dissertation bis zuletzt unterstützt und mit Anteilnahme verfolgt. Kaum vorstellbar sind mir angenehmere Fachkollegen als die Herren WM Andreas Bechstein und WM Gregor Bloch, die beide bei der Lektüre des Manuskripts und im kollegialen Gespräch wertvolle Hilfe und freundschaft­ lichen Beistand leisteten. In meiner Rolle als Seminarleiter für Philosophie am Marburger Studienhaus der Ev. Kirche von Kurhessen-Waldeck haben mich Herr Studienleiter Dr. Gerhard Neumann und sein Team stets tatkräftig unterstützt. Dass meine Dissertation in einer so wunderbaren Buchreihe erscheinen kann, ermöglichte der Herausgeber der Beiträge zur historischen Theologie, Herr Prof.

Vorwort

IX

Dr. Albrecht Beutel, dem ich hierfür und für wichtige theologische Anregungen in meiner Studienzeit in Münster herzlich danke. Ebenfalls zu danken habe ich Herrn Dr. Henning Ziebritzki für die Aufnahme des Buchs in das Programm des Verlags Mohr Siebeck und der VG WORT für die großzügige Druckkosten­ finanzierung. Wie eine Schicksalsfügung mutet es schließlich an, dass mein Cousin, Herr Mag. phil. Simon Schüz, beim Verlag mit der Betreuung meines Manuskripts betraut war. Für seine Geduld und kompetente Hilfe in sprichwörtlich familiärer Verbundenheit bin ich ihm überaus dankbar. Beim Korrekturlesen des Manuskripts waren mir schließlich Herr stud. theol. et phil. Mario Berkefeld und Frau stud. theol. Nele Plath eine große Hilfe, Frau Melanie Bierau und Herr stud. theol. Tobias Wenn haben mich bei der Registererstellung unterstützt – ihnen allen gilt mein herzlicher Dank. Von größter und entscheidender Bedeutung für die Abfassung meiner Dissertation war letztlich der Rückhalt jenseits des Universitätsbetriebs. Da wären meine Marburger Freunde, insbesondere der »Klöpp«, denen in all den Jahren jedes Mittel recht war, die Fertigstellung dieser Arbeit in langen »Sudhaus«Nächten zu verhindern. Für ihre treue Freundschaft und Unterstützung bin ich tief dankbar. Mit meinen Freunden Dr. Ing. Hannes Braun und StR Johannes Nothdurft verbinde ich neben klugen Bemerkungen zu meiner Arbeit so manche an das »tremendum« erinnernde Naturerfahrung auf gemeinsamen Reisen und Wanderungen. Größte Wertschätzung und Unterstützung – mehr als man in einem Vorwort ausdrücken kann – habe ich in all den Jahren durch meine Eltern erfahren, denen beiden mein ganz besonderer, tiefster Dank gilt. Ihnen und meinen Großeltern ist dieses Buch gewidmet. Schließlich danke ich meiner Frau Laura für ihre liebevolle Unterstützung und Geduld. Sie und unsere Tochter Clara, die fast gleichzeitig mit der Fertigstellung dieses Buchs das Licht der Welt erblickt hat, sind mein großes Glück. München im Advent 2015

Peter Schüz

Inhaltsverzeichnis Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1

Erster Teil

Angst und Moderne – Angst und Religion I. Angst und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Begriff Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Der Begriff Angst im interdisziplinären Kontext – eine Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Erörterungen zur Definition des Angstbegriffs . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Angst als Gefühl für das Selbst‑ und Weltverhältnis des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Das Verhältnis von Angst und Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Der Begriff der Moderne im interdisziplinären Kontext – eine Übersicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Moderne als Epoche der Entdeckung der Angst . . . . . . . . . . 2.3. Die Moderne als Epoche der Entstehung der Angst . . . . . . . . . . . 2.4. Die Moderne als »Zeitalter der Angst«? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Angst und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. »Deos fecit timor« – Das Kausalverhältnis von Angst und Religion in Antike und Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Angst als Kausalursache der Religion in der Antike . . . . . . . . . . . 1.2. Die Wiederentdeckung der antiken Auffassung von Angst und Religion im Zeitalter der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Bedeutung der Angst in der modernen Religionskritik und ihre theologische Beurteilung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1. Entwicklungslinien des Kausalverhältnisses von Angst und Religion in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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XII

Inhaltsverzeichnis

2.2. Religion als Heilung der Angst? Theologische Adaptionen der reduktionistischen Verhältnisbestimmung von Angst und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 3. Fazit: Das reduktionistische Paradigma »deos fecit timor« und seine Kritik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78 III. Rückblick und Ausblick: Angst und Religion in der Moderne als Problem der Theologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89

Zweiter Teil

Angst und Religion bei Rudolf Otto I. Zwischen traditionellem Luthertum und liberaler Kritik – Bemerkungen zu Ottos Jugend und Studium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Biographische Anmerkungen zu Ottos Herkunft und Jugendzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Subjektivität und Erfahrung – erste Studienjahre in Erlangen . . . . . . 3. Theologische Apologetik und neue Perspektiven – Abschluss des Studiums in Göttingen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Vermittlungstheologische Tendenzen als Ausgangspunkt von Ottos Frühwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . II. Studien zu Luther und Schleiermacher – Angst und religiöses Erleben in den Grundlagen der Theologie Ottos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Angst und Religion in Ottos Deutung Luthers . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. Das Verhältnis von Angst und Religion in Ottos früher Lutherrezeption . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2. Ottos Lutherrezeption in Das Heilige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Angst und die »Idee der Verlorenheit« in Ottos späteren Lutherstudien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Wirkungsgeschichtliche Aspekte von Ottos Lutherinterpretation und ihre Bedeutung für die theologische Beurteilung von Angst und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Fazit: Angst und religiöses Erleben in Ottos Studien zu Luther . 2. Angst und Religion in Ottos Deutung Schleiermachers . . . . . . . . . . . 2.1. Das Ewige im Endlichen – Ottos frühe Beschäftigung mit Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Die Entdeckung des »Kreaturgefühls« – Die Angst und Ottos Schleiermacherdeutung in Das Heilige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98 100 104 116 132

135 137 139 154 166

178 195 205 207 219

Inhaltsverzeichnis

XIII

2.3 Das Problem der Angst in Ottos theologischer Gefühlstheorie vor dem Hintergrund der Rezeption Schleiermachers . . . . . . . . . 232 2.4. Fazit: Angst und religiöses Erleben in Ottos Studien zu Schleiermacher . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239 3. »Verlorenheit« und »Kreaturgefühl« – Grundlagen einer Theologie der Angst in Ottos Luther‑ und Schleiermacherdeutung . . . . . . . . . . 241 III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige 1. Angst und religiöses Erleben in Das Heilige – ein Überblick . . . . . . . 1.1. Angst und »Scheu« in den »Momenten des Numinosen« . . . . . . 1.2. Angst und »Scheu« in den »Ausdrucksmitteln des Numinosen« 1.3. Angst und »Scheu« in der Frage nach dem »religiösen Apriori« . 1.4. Angst und »Scheu« in Ottos Idee der »Divination« . . . . . . . . . . . 1.5. Zusammenfassung: »Natürliche Angst« und »numinose Scheu« in Ottos Das Heilige . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Kategorienunterscheidung von Angst und »mysterium tremendum« als Paradigma von Ottos Theorie religiösen Erlebens IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Angst und das Fremde – Das »Ganz andere« in Ottos Reiseerlebnissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Angst und Evolution – Ottos Auseinandersetzung mit Darwin und Goethe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Angst und »Scheu« in der religionspsychologischen Deutung der Religionsgeschichte – Ottos Kritik an Wilhelm Wundt . . . . . . 4. Der individuelle Ursprung der Religion – Ottos entwicklungs­ psychologische Beobachtungen zur Unterscheidung von Angst und »Scheu« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Angst und »Scheu« in Ottos Spätwerk – Ein zusammenfassender Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1. Das Problem von Angst und »Scheu« als Unterscheidung von Natur und Geist in Ottos späten Aufsatzbänden . . . . . . . . . 5.2. »Scheu« als Urmoment der Religion in Ottos Schrift Gottheit und Gottheiten der Arier . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3. Angst und Religion in Ottos Jesusdeutung . . . . . . . . . . . . . . . . . .

244 245 246 266 270 282 287 293

298 300 308 326

333 345 345 349 355

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick – »Scheu« als religiöses Erleben bei Rudolf Otto . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363 1. Ottos Wirkung auf die Debatten um das Verhältnis von Angst und Religion im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 364 1.1. Angst und »Scheu« in der Wirkung Ottos auf die Theologie . . . . 365

XIV

Inhaltsverzeichnis

1.2. Angst und »Scheu« in der Wirkung Ottos auf die Philosophie . . 1.3. Angst und »Scheu« in der Wirkung Ottos auf die Religionspsychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4. Angst und »Scheu« in der Wirkung Ottos auf die Religionswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.5. Fazit und Plädoyer für eine Wiederanknüpfung an Ottos theologische Unterscheidung von Angst und religiöser »Scheu« 2. Ausblick: »Scheu« als Urmoment der Religion und ihr Verhältnis zur Angst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

376 382 389 393 395

Dritter Teil

Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum« als Thema der Theologie I. Rückblick: Die beiden Perspektiven auf das Verhältnis von Angst und Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 410 II. Angst und »mysterium tremendum« in ihrer Bedeutung für die Idee der Erlösungim Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 417

Siglen der Werke Rudolf Ottos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 431 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 433 Namensregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 461 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469

Einleitung

adeo religio esse non potest ubi metus nullus est.1 L. Caelius Firmianus Lactantius

Was ist der Ursprung der Religion? So grundlegend diese Frage anmutet, so faszinierend ist sie, und beschäftigt die Menschheit seit Jahrhunderten. Zugleich richtet die Frage den Blick auf die tatsächliche Wirklichkeit der Religionen in der Vielfalt ihrer Formen und Traditionen. Wie kommt es, dass die Menschen seit Jahrtausenden religiös sind und was ist der Grund und der Anlass ihrer Frömmigkeit? Was sind die ersten Impulse und die tiefsten Wirkungskräfte der Religion? Seit den frühsten Epochen, in denen sie erstmals gestellt wurden, sind diese Fragen brennender geworden. In der immer globaleren und pluraleren Weltsicht der Gegenwart scheint das Problem der Begründung religiösen Lebens gegenüber einer naturalistischen oder pathologisierenden Deutung der Religion brisanter denn je zu sein. Einen beträchtlichen Teil seines Lebenswerkes hat der Theologe und Religionsphilosoph Rudolf Otto der Frage nach dem Wesen und Urgrund der Religion gewidmet. Ottos Hauptwerk, sein Buch Das Heilige, ist bis heute ein ranghoher Klassiker der protestantischen Theologie und zugleich ein maßgeblicher Entwurf zum Problem der menschlichen Frömmigkeit und ihrem Grund. Einige Formeln aus Ottos Werk sind auch über die Theologie hinaus weitbekannt und markieren zugleich den Kerngedanken seines Denkens: Die Idee des Göttlichen als des »Ganz anderen«, das vom rationalen Gottesgedanken der Dogmatik und der Religionsphilosophie zu unterscheidende religiöse Erleben und darin besonders jene »Momente des Numinosen«, die von Otto mit der berühmten »Kontrastharmonie« des »mysterium tremendum et fascinans« beschrieben wurden. In seinen aufwändigen Studien ging es Otto also um eine Annäherung an die Religion über eine Erörterung ihrer Erscheinungsformen im religiösen Erleben selbst. Dabei zeichnete sich ein Schwerpunkt ab, dem im Folgenden besondere Beachtung geschenkt werden soll: Es war in erster Linie 1 Laktanz,

Vom Zorne Gottes/ De ira dei, 11,16.

2

Einleitung

die Formel des »mysterium tremendum«, des »schauervollen Geheimnisses« im religiösen Erleben als Moment rätselhafter numinoser »Scheu«, die in der weitreichenden Wirkungsgeschichte von Ottos Werk besondere Beachtung fand. Gerade das Abdrängende und Schauervolle hinter traditionellen Begriffen wie der »Gottesfurcht« ist es, das Otto für den Protestantismus des 20. Jahrhunderts und überhaupt für die Moderne wiederentdeckte. »Mysterium tremendum« als Kategorie religiösen Erlebens bei Rudolf Otto. An dieser Stelle nimmt die vorliegende Untersuchung ihren Ausgang. Die häufig zitierten und auch weit abseits der Theologie vielfach aufgenommenen Ausführungen Ottos zu den schauervollen Dimensionen der Religion im Erleben religiöser »Scheu« bieten den Anlass, auf jene Momente des religiösen Erlebens hin das Œuvre Ottos einer ausführlicheren Untersuchung zu unterziehen. Es soll dabei der Versuch unternommen werden, Ottos Entdeckung des »mysterium tremendum« und die mit ihm bezeichneten Momente der »Scheu« im religiösen Erleben als eine zentrale Grundidee seines Denkens auszumachen und somit sein Gesamtwerk und dessen Entwicklungsgeschichte anhand eines Schwerpunktes zu untersuchen. Neben der Tatsache, dass es  – ob zu Recht oder zu Unrecht  – eben jene Momente hinter dem Begriff des »mysterium tremendum« sind, die aus Ottos Rezeptionsgeschichte in unterschiedlichsten Fach‑ und Wissenschaftsdisziplinen besonders hervorragen, spricht noch ein weiterer Grund für die angestrebte Zuspitzung: Während Das Heilige auf der ganzen Welt gelesen und interpretiert wurde, sind andere Schriften Ottos fast in Vergessenheit geraten. Selbst in der Theologie liegen bisher nur sehr wenige werkgeschichtliche Zugänge zu Ottos Denken vor. Gerade auch unbekanntere Schriften Ottos in den Blick zu nehmen und in die theologische Erforschung seines Denkens mit einzubeziehen, erscheint demnach reizvoll und mittels der Konzentration auf den Theoriekomplex des religiösen Erlebens in seinen Momenten des »tremendum« auch als möglich und überschaubar. Weitab von dem Anspruch, eine erschöpfende Gesamtdeutung der Theologie Ottos bieten zu wollen, verfolgt die vorliegende Studie daher den Versuch einer Durchsicht von Ottos Werken anhand der Fokussierung auf das Problem des religiösen Erlebens am Beispiel seiner schauervollen Momente. Zu erwarten sind dabei nicht nur Einblicke in die Entwicklung und Wirkung von Ottos Denken, sondern auch Impulse für dessen theologische Bedeutung sowohl für die Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts, als auch für die Theologie der Gegenwart. Über die faszinierende Wirkung seines Hauptwerkes hinaus soll demnach gezeigt werden, dass Otto auch mit seinem theologischen Gesamtwerk heute von weit größerer Aktualität und Überzeugungskraft ist, als dies seine Rezeptionsgeschichte bisher erahnen ließ. Dabei führen die eigentümlichen Momente der Angst und »Scheu« im religiösen Erleben, die Otto mit dem »mysterium tremendum« beschrieb, letztlich bis zu den Grundfragen nach dem

Einleitung

3

Wesen der Religion. Spuren und Begriffe für jenes Erleben lassen sich dabei weit in der Religionsgeschichte zurückverfolgen und tauchen unter anderem in der klassischen Rede von der »Gottesfurcht« oder dem »Zorn Gottes« wieder auf. Das geschilderte Arbeitsvorhaben zur Theologie Rudolf Ottos bildet den zentralen Hauptteil und Gegenstand der vorliegenden Abhandlung. Die hierin anhand von Ottos Schriften verfolgte Leitfrage nach dem Urgrund der Religion und den Momenten des »mysterium tremendum« im religiösen Erleben führt jedoch über die Binnenperspektive von Ottos Werk hinaus. Schnell wird bei der Untersuchung des »Grauens« und der »Scheu« im religiösen Erleben deutlich, dass diesen bei Otto dezidiert theologisch verstandenen Begriffen und Kategorien jenseits der Theologie konkurrierende Deutungsangebote gegenüberstehen, die gerade nicht theologisch oder religiös argumentieren. Es ist daher der Tatsache Rechnung zu tragen, dass der genuin religiöse Gehalt von Ottos beschriebenen Kategorien religiösen Erlebens besonders seit der Moderne ausdrücklich bestritten und als profanes Phänomen natürlicher Kausalzusammenhänge beschrieben wurde. Diesem Problem gilt es nachzugehen. Es stellt sich hier die Frage nach den Differenzen und Überschneidungen zwischen den bei Otto beschriebenen Momenten der »Scheu« im religiösen Erleben einerseits und deren Spiegelungen in rein profanen, alltäglichen Gefühlen und Erfahrungen andererseits. Schnell wird deutlich, dass bei dieser Gegenüberstellung ein Begriff besonders hervortritt: Der Begriff Angst. Kaum ein anderer Begriff wurde mit Ottos »mysterium tremendum« so häufig assoziiert wie der Angstbegriff. Dies scheint zunächst naheliegend zu sein, erinnern doch die bei Otto beschriebenen Momente des »mysterium tremendum« an düstere und schauervolle Angsterlebnisse. Bei genauerem Hinsehen stellt sich jedoch heraus, das zwischen beiden eine eigentümliche Differenz besteht. Otto fordert für seine Kategorie religiösen Erlebens Alleinstellungsmerkmale ein, die ihn das Erleben der »Scheu« von gewöhnlicher Angst grundlegend unterscheiden lassen. Dabei steht Otto in einer langen Traditionslinie, die bis in die Antike zurückreicht und schon damals – beispielsweise besonders prominent bei Augustinus – gewöhnliche profane Angst von frommer Gottesfurcht zu differenzieren wusste. Otto steht mit seiner Konzeption des »mysterium tremendum« und seiner Abgrenzung vom Angstbegriff durchaus im deutlichen Kontrast zu einem der wohl prominentesten Begriffe seiner Zeit. Denn gerade in den Jahren von Ottos akademischem Wirken spielte der Begriff Angst in den Debatten zur kulturellen Lage der Gegenwart eine herausragende Rolle. Psychologie und Psychoanalyse gewährten damals ungeahnte Einblicke in die Tiefendimension menschlicher Emotionen. Von wirkmächtigen Denkern wie Oswald Spengler oder Martin Heidegger vorangetrieben und angeregt durch die damals intensiv gelesenen Schriften Søren Kierkegaards avancierte die Angst im frühen 20. Jahrhundert schließlich zu einem Grundbegriff der Weltdeutung und wurde regelrecht zu einem Etikett der Moderne und ihrer Kultur. Umso mehr liegt also die Frage

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Einleitung

nahe, wie das Verhältnis zwischen Ottos vielzitiertem religiösem »mysterium tremendum« und dem modernen Angstbegriff in Psychologie und Philosophie zu bestimmen ist. Dabei geht es um weit mehr als um ein Definitionsproblem. Vielmehr dreht sich die Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion letztlich um das Wesen und den Grund menschlicher Frömmigkeit überhaupt. Ist das bei Otto beschriebene eigentümliche Erleben der »Scheu« hinter der traditionellen Rede von der Gottesfurcht ein genuin religiöses Erleben? Oder ist die Religion letztlich nichts weiter als eine Interpretationsleistung und eine Bewältigungsstrategie im Umgang mit der das Leben begleitenden Angst? Um dieser Frage wenigstens in Ansätzen gerecht zu werden, wird im Folgenden versucht, die Kapitel zum Werk Ottos durch die grundsätzliche Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion einzurahmen. Die Auseinandersetzung mit Otto bildet gleichsam den zentralen und substantiellen Kern der vorliegenden Studie, der durch einen Ausblick auf das generelle Problem des Verhältnisses von Angst und Religion hin befragt wird. Der Begriff Angst und seine Bedeutung in der Religion. Die der vorliegenden Arbeit und besonders der Untersuchung des Werkes Ottos zu Grunde liegende Fragestellung betrifft, wie bereits angedeutet, das Verhältnis von Angst und Religion. Dies ist schon allein in geistes‑ und kulturgeschichtlicher Perspektive interessant, denn die vielleicht berühmteste und älteste Antwort auf die Frage nach dem Grund der Religion lautet, es sei eben die Angst, die sie ursprünglich und immer wieder entstehen ließ. Schon in der Antike wurde die These vertreten, es sei an erster Stelle die Angst des Menschen gewesen, die ihn dazu trieb und bis heute treibt, Religion hervorzubringen und sich ihr in seinem Leben und Sterben anzuvertrauen. Was ist von dieser ebenso alten wie grundlegenden Ursprungstheorie zu halten? Bis in die Gegenwart stehen sich die unterschiedlichsten Meinungen in dieser Frage gegenüber und greifen dabei auf eine Vielzahl wissenschaftlicher Erkenntnisse und Argumente zurück. Besonders in der Moderne stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion in besonderer Eindringlichkeit, denn niemals zuvor wurde die Angst vielseitiger und differenzierter erforscht. Bis heute stellt dies die Theologie vor Herausforderungen, denen sie sich kaum entziehen kann: Sie hat sich mit der These auseinander zu setzen, dass Angst und Religion grundlegend aufeinander bezogen sind. In dem hier unternommenen Versuch, sich der Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion aus theologischer Perspektive zu nähern, geht es nicht nur darum, zu ergründen, ob die These von der Angst als Ursprung der Religion generell plausibel und tragfähig ist, sondern es steht ihr genuin theologischer Ertrag zur Debatte. Ist das Phänomen der Angst lediglich der natürliche Anlass für die Entstehung der Religionen, oder lässt sich Angst auch aus der Religion selbst heraus zum Gegenstand theologischen Denkens erheben? Ist womöglich Angst weniger ein natürlicher Anlass der Religion, sondern als »Furcht Gottes«

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vielmehr ein grundlegender Teil ihrer ureigensten Wirklichkeit und damit ein Kernthema der Theologie? Bereits hier wird deutlich, dass sich offensichtlich zwei ganz unterschiedliche Perspektiven auf das Verhältnis von Angst und Religion gegenüberstehen. Zwei Perspektiven auf das Verhältnis von Angst und Religion. Die im Ersten Teil der vorliegenden Studie vorgestellte erste Perspektive auf das Verhältnis von Angst und Religion ist zugleich die wohl bekannteste und reicht in ihren traditionsgeschichtlichen Wurzeln bis in die Antike zurück. Sie lässt sich unter ein altes Motto stellen, das, erstmals vor zwei Jahrtausenden formuliert, bis in die Moderne immer wieder in Anspruch genommen wurde: »Primus in orbe deos fecit timor« – Als erstes auf der Welt brachte die Angst die Götter hervor. Gemeint war hiermit stets die These, Angst sei der Anlass für den Menschen, Religion hervorzubringen. Die allgegenwärtige Angst des Menschen um sich selbst, die angstvolle Bedrohtheit seines endlichen Lebens überhaupt ließ demnach die Religion als eine Kulturleistung entstehen, die der Angst heilend, kompensierend oder wenigstens interpretierend entgegentritt. Angst und Religion werden also in kausaler Bezugnahme aufeinander vorgestellt: Angst als geradezu instinkthafter, natürlicher und unabweisbarer Affekt einerseits und Religion als kulturelle Reaktion zu deren Bewältigung andererseits – eine These, die bis in die Moderne besonders von einem aufklärerischen oder religionskritischen Standpunkt her aufgenommen und weitergeführt wurde. Der Zweite Teil dieser Studie widmet sich einer zweiten Perspektive auf das Verhältnis von Angst und Religion am Beispiel des Werkes von Rudolf Otto. Diese Perspektive bestreitet den Gedanken, die Angst sei der Ursprung der Religion im Sinne einer kausalen Wechselwirkung beider und unterscheidet stattdessen die Angst des Menschen von dem eigentümlichen Erleben einer besonderen »Angst«, die genuin religiös ist. Der eigentliche Kern und Ursprung der Religion wird folglich nicht in der Angst gesucht, sondern als ein der Religion inhärentes Erleben von ganz eigener Qualität beschrieben, das lediglich gewisse Ähnlichkeiten mit dem Phänomen der Angst aufweist. Angst wird hier also als rein profaner Affekt alltäglichen Lebens aufgefasst, der für die Religion nur von untergeordneter Bedeutung zu sein scheint. Eine besondere, geradezu religiöse »Angst« ist stattdessen dieser These zufolge jenes Erleben, das die Religionsgeschichte auch in der Bibel mit Begriffen wie »Gottesfurcht« vielfältig überliefert hat. Anders als profane Angstaffekte lässt sich jenes eigentümliche Erleben als ein Gefühl eigener Art und als genuiner Teil der Religion selbst beschreiben. Doch wie ist die qualitative Differenz zu bestimmen, die die Angst als profane Ursache der Religion von einer besonderen »Angst« als einem ureigensten Moment religiösen Erlebens trennt? In welchem Verhältnis steht das Phänomen profaner Angst zu einem solchen rein religiösen »Angst«-Erleben? Und schließlich stellt sich die Frage: Wie hat die Theologie mit der Alternative der genannten

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zwei Perspektiven der Deutung von Angst und Religion umzugehen? Als Anwendungsfall und gleichsam als Ausblick soll eine Spur zur Erörterung dieses Problems gelegt werden, um deutlich zu machen, welche Erschließungsleistung dem Werk Ottos in diesem Zusammenhang zukommt und welche theologischen Lösungsansätze sich von seiner Seite auch für die gegenwärtige Theologie bieten. Ziel der Arbeit ist demnach die umfassende Darstellung von Ottos theologischer Idee einer besonderen Kategorie des »mysterium tremendum« als eines Urmoments religiösen Erlebens, die dem klassischen reduktionistischen Konzept eines Kausalverhältnisses von Angst und Religion entgegentritt. Als Ertrag der Studie ist ein Ausblick für eine theologische Deutung der Angst zu erhoffen, die weder einem reduktionistischen Modell der Religionsentstehung als Angstbewältigung noch einem dogmatischen oder historischen Rückzug in die Spekulation über die Idee der Gottesfurcht das Wort redet. Es sollen vielmehr Impulse für die Skizzierung einer dezidiert theologischen Deutung der Angst gewonnen werden, die möglicherweise einen Beitrag zur christlichen Theologie unter den Bedingungen des frühen 21. Jahrhunderts zu leisten vermag, indem sie – im Anschluss an Otto – vom religiösen Erleben selbst ihren Ausgang nimmt. Freilich kann es sich bei diesen Überlegungen im Gefolge Ottos nur um einen Ausblick handeln. Es geht um den Gedanken, dass gerade in den angstvollen Momenten religiösen Erlebens die Fundamente der christlichen Heilsbotschaft wiedererkannt und angeeignet werden können, um letztlich auch die profane und gewöhnliche Angst des Menschen zu umschließen und in ein neues Licht des christlichen Hoffnungs‑ und Erlösungsgedankens zu stellen. Aufbau der Untersuchung. Aus dem beschriebenen Vorhaben ergibt sich ein Aufbau der Untersuchung in drei Teile: Im Ersten Teil sind zunächst einige Vorüberlegungen zum Verhältnis von Angst und Religion anzustellen, die der gesamten Untersuchung zu Grunde gelegt werden können. Es wird dabei in einem knappen Überblick zuerst zu klären sein, was im Folgenden unter Angst verstanden werden soll und wie das besondere Verhältnis von Angstbegriff und Moderne zu bestimmen ist. Anschließend soll anhand einiger Beispiele die klassische These eines kausalen Verhältnisses von Angst und Religion als Paradigma vorgestellt werden. Der Zweite Teil bildet zugleich das zentrale Hauptstück der Untersuchung. In ihm wird ausführlich auf die Entwicklungsgeschichte und die zentralen Gedanken der Theorie religiösen Erlebens im Werk Rudolf Ottos eingegangen. Dabei wird zunächst chronologisch der Frage gefolgt, wie sich Ottos Theorie eines genuin religiösen Erlebens im Moment der »numinosen Scheu« innerhalb seines Werdegangs entwickelte und wie sie sich zum klassischen Begriff der Angst und seiner prominenten Rolle in der Moderne verhält. Es ergibt sich daraus eine umfangreiche Darstellung von Ottos gesamtem theologischem Werk hinsichtlich der Frage seiner Bedeutung für die Theologie der Gegenwart und

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seiner darin beschlossenen Position für eine theologische Deutung der Angst und eben jenes religiösen Erlebens, das traditionell als Gottesfurcht beschrieben wird. Im Dritten Teil werden die beiden Perspektiven auf das Verhältnis von Angst und Religion, die im Ersten Teil und im Zweiten Teil vorgestellt wurden, nochmals in ihren wichtigsten Pointen zusammengeführt. Schließlich wird in einem kurzen Ausblick der Versuch unternommen, Ottos Konzept des »mysterium tremendum« in seiner theologischen Bedeutung für den christlichen Gedanken der Erlösung zu skizzieren und mit dem Phänomen der Angst ins Verhältnis zu setzen.

Erster Teil

Angst und Moderne – Angst und Religion

Die schalen Religionen: die, hinter denen man keine Angst fühlt.1 Elias Canetti

In welchem Verhältnis stehen Angst und Religion? Diese jahrhundertealte Frage führt letztlich zu dem noch grundlegenderen Problem der Begründung der Religion überhaupt. Bevor im Zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung ausführlich Rudolf Otto zu diesem Thema zu Wort kommen soll, müssen zunächst einige Hintergrundfragen genauer erörtert werden. Dem Phänomen der Angst wird heute wie seit jeher unter den menschlichen Emotionen ein besonderer Stellenwert eingeräumt. Kaum ein Gefühl ist so intensiv erforscht worden wie die Angst, kaum eine Emotion hat in vergleichbarem Maße Eingang in die Geistes‑ und Kulturgeschichte gefunden.2 Dabei fasziniert bis heute die Ambivalenz der Angst in ihrer Bedrohlichkeit und teilweise pathologischen Erscheinungsform einerseits und ihrer dennoch reizvollen Verlockung und lebensnotwendigen Nützlichkeit andererseits. Eine besondere Rolle spielt die Angst seit jener Kulturepoche, die man heute als Moderne bezeichnet. Hervorzuheben sind dabei an erster Stelle die Jahre des frühen 20. Jahrhunderts, in denen die Angst in Kultur und Wissenschaft zunehmend als geradezu herausragendes Zeichen des modernen Lebensgefühls und des Zeitalters überhaupt angesehen wurde. Ohne Zweifel stehen seither Angst und Moderne in einem besonderen Verhältnis. Dies gilt es genauer zu untersuchen. Gleiches gilt für das Verhältnis von Angst und Religion. Wie für die Moderne, so wurde die Angst auch für die Religion oft genug als geradezu konstitutiv beschrieben. Schon in der Antike hat man in diesem Sinne die Angst des Menschen mit der Entstehung und Wirklichkeit der Religion in einen grundlegenden Zu1 Canetti,

Nachträge aus Hampstead, 7. zeigt schon die kaum überschaubare Fülle an Schriften unterschiedlichster Fachdisziplinen, die der Angst gewidmet wurden. Seit der Antike spielt die Angst in Kultur und Wissenschaft eine besondere Rolle und wurde unter den menschlichen Gefühlen seit jeher mit besonderer Aufmerksamkeit bedacht. Vgl. hierzu exemplarisch Joanna Bourkes kulturgeschichtlichen Entwurf Bourke, Fear. A Cultural History. 2 Dies

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

sammenhang gebracht. Auch dies ist anhand einiger Vorüberlegungen nachzuzeichnen. Der nun folgende Erste Teil der Untersuchung dient einigen Überlegungen zum Angstbegriff in seinem Verhältnis sowohl zur Moderne als auch zur Religion. Es wird dabei auf einige repräsentative Studien unterschiedlicher Forschungsdisziplinen zurückgegriffen, die für den hier verhandelten Sachverhalt von besonderem Interesse sind. Hieraus ergeben sich einerseits Indizien für die Relevanz des Themas in der Gegenwart und überdies Hinweise auf offene Fragen und Probleme, die sich in dem Zusammenhang auch heute noch für die christliche Theologie ergeben. In zwei Kapiteln soll sich dabei den genannten Grundfragen genähert werden: Das erste Kapitel (I.) widmet sich den Begriffen Angst und Moderne sowie ihrem Verhältnis. Sowohl der Angstbegriff als auch die Moderne bedürfen einer eingehenden Problematisierung und Definition. Der Abschnitt mündet schließlich in einer Diskussion der vielzitierten These, die Moderne sei ein »Zeitalter der Angst« und den sich hieraus ergebenden Konsequenzen im Blick auf die Religion. Das zweite Kapitel (II.) versucht eine historische Perspektive auf das Verhältnis von Angst und Religion zu eröffnen. Dabei wird die eingangs erwähnte These der kausalen Entstehung der Religion aus der Angst hinter dem Motto »deos fecit timor« als Paradigma zu Grunde gelegt und an Beispielen von der Antike bis in die Gegenwart veranschaulicht. Dies entspricht zugleich der in der Einleitung beschriebenen ersten Perspektive der Verhältnisbestimmung von Angst und Religion, vor deren Hintergrund dann im ausführlichen Zweiten Teil der vorliegenden Studie Rudolf Ottos Theorie des religiösen Erlebens als Gegenentwurf und zweite Perspektive untersucht werden soll.

I. Angst und Moderne Der Ausgangspunkt für die folgenden Abschnitte der Untersuchung des Verhältnisses von Angst und Religion ist die bereits angedeutete These, dass der Angstbegriff für die Geistesgeschichte des vergangenen Jahrhunderts von einer besonderen Relevanz war und bis heute ist.3 Der Begriff Angst ist – soviel sei vorweggenommen – häufig als eines der vielleicht wichtigsten Charakteristika der Moderne und des modernen Lebensgefühls bezeichnet worden. Begreift man die Moderne weniger als eine klar umgrenzte und definierte Zeitepoche, sondern vielmehr, wie Jürgen Habermas im Zuge der Debatten um ihre Definition und 3  Vgl. hierzu den 2011 veröffentlichten ausführlichen Forschungsbericht zur Emotionsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert von Bettina Hitzer (vgl. Hitzer, Emotionsgeschichte). Die herausragende Bedeutung des Angstbegriffs in der Emotionsforschung wird hier besonders hervorgehoben (vgl. Hitzer, a. a. O., 16 ff).

I. Angst und Moderne

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Deutung vorgeschlagen hat, als ein bis heute unabgeschlossenes und »unvollendetes Projekt«, so ragen die Fragen nach der Bedeutung des Angstbegriffs für die Moderne bis in die Gegenwart hinein.4 Bevor das Verhältnis von Angst und Religion erörtert werden kann, sind daher einige Vorüberlegungen zum Verhältnis von Angst und Moderne und ihrer jeweiligen Definition anzustellen. Eine besondere Herausforderung ist hierbei die große Menge an Quellen und Studien, die zum Thema vorliegen. Es wurden in den vergangenen hundert Jahren in den unterschiedlichsten Wissenschaftsdisziplinen derart viele Untersuchungen zur Angst unternommen, dass die Debattenlage sowohl aufgrund ihrer Materialmenge als auch wegen ihrer methodischen Vielschichtigkeit kaum zu überblicken ist.5 Doch auch in Kunst und Kultur ist die Angst seit der Moderne geradezu omnipräsent. Kaum ein Aspekt menschlicher Lebenswirklichkeit, kaum eine Emotion hat die moderne Geistesgeschichte mehr beschäftigt. Gerade diese ungeheure Menge an Deutungen der Angst, die im Detail darzustellen weder möglich noch angebracht scheint, legt wiederum eine ganz eigene Definition der Angst nahe: Der Begriff Angst umschreibt einen Komplex von Deutungszuschreibungen, der als Charakterisierung der Moderne schlechthin gelten kann. Angst und Moderne stehen – das ist die hier verfolgte These – in einem reziproken Bestimmungsverhältnis. Der Angstbegriff gilt vielerorts als heimliche Überschrift der Moderne, so wie umgekehrt die Moderne als die klassische Epoche, wenn nicht als »Zeitalter der Angst« bezeichnet wird. Als Beispiel hierfür können die Ausführungen Karl Jaspers gelten, dessen Verhältnisbestimmung von Angst und Moderne ebenso aufschlussreich wie zeittypisch ist. Wie kaum ein Anderer verstand er es, die Beschreibung und Deutung des Phänomens der Angst in seine Gegenwartsdiagnosen der Jahre zwischen den beiden Weltkriegen einzubeziehen. Jaspers’ besondere akademische Situation zwischen Psychiatrie und Philosophie ermöglichten es ihm, im frühen 20. Jahrhundert in den maßgeblichen Debatten zum Angstbegriff in besonderer Weise präsent zu sein.6 Auch ohne auf Jaspers’ frühe existenzphilosophische Implika4  Vgl. hierzu grundlegend: Habermas, Die Moderne, ein unvollendetes Projekt, 177–192, sowie Habermas, Der philosophische Diskurs, 344 ff. Zu den Hintergründen insbesondere im Kontext der sogenannten »Postmoderne-Debatte« zum Ende des 20. Jahrhunderts vgl. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, insbes. die Kapitel II und III, 45–86 und für einen Überblick: Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. 5  Für einen Überblick in interdisziplinärer Perspektive vgl. den jüngst erschienenen und als Handbuch konzipierten Band des DFG-Netzwerkes Spielformen der Angst: Koch, Angst. Ein interdisziplinäres Handbuch. Aus der Perspektive der Philosophie vgl. den Überblick zur Angst in Demmerling/ Landweer, Philosophie der Gefühle, 63–91. 6 Durch die jahrelange Verbindung zu Max Weber, aber auch durch seine Bekanntschaft mit Martin Heidegger war Jaspers mit entscheidenden geistesgeschichtlichen Linien der Moderne verbunden und konnte durch seine doppelte Verwurzelung in Medizin (vgl. die Dissertation von 1913 mit dem Titel Allgemeine Psychopathologie. Ein Leitfaden für Studierende, Ärzte und Psychologen) und Philosophie gleich zwei grundlegende Blickrichtungen auf das Phänomen der Angst und ihre Bedeutung für das moderne Lebensgefühl gewinnen.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

tionen näher einzugehen, wird in den Ausführungen seiner vielrezipierten Programmschrift Die geistige Situation der Zeit von 1931 der zentrale Stellenwert deutlich, den er hier  – die Stimmungen und geistigen Strömungen der späten Zwanzigerjahre aufnehmend – dem Begriff Angst einräumt: »Eine vielleicht so noch nie gewesene Lebensangst ist der unheimliche Begleiter des modernen Menschen. Er hat Angst um sein vitales Eigendasein, das, stets bedroht, stärker als jemals in das Zentrum der Aufmerksamkeit getreten ist«.7

Mit jener »Lebensangst« kann kein rein körperlicher oder psychologischer Befund gemeint sein.8 Vielmehr ist es eine Zeitdiagnose, die Jaspers  – angeregt durch Nietzsche, besonders aber in Anlehnung an die inzwischen klassischen Angsttheoretiker Kierkegaard und Heidegger  – unternimmt. Der Angstbegriff wird hierbei gleichsam zur Metapher einer ganzen Epoche. Die Moderne erscheint dabei als ein Zeitalter des völligen Wandels abendländischer Weltbilder, durch den der Mensch haltlos auf sich selbst zurückfällt und den Sinn seines Lebens grundsätzlich in Frage gestellt sieht: »Angst steigert sich zu dem Bewußtsein, wie ein verlorener Punkt im leeren Raum zu versinken, da alle menschlichen Beziehungen nur auf Zeit zu gelten scheinen.«9

Schließlich kann Jaspers für den modernen Menschen resümieren: »Dasein überhaupt scheint nichts als Angst zu sein.«10 Repräsentativ für seine Zeit, wird an den Ausführungen von Jaspers eines deutlich: Die Angst ist in der Moderne das vielleicht eindrucksvollste und meistdiskutierteste Gefühl überhaupt und erlangt geradezu den Stellenwert eines die Epoche prägenden Prinzips. Bevor die Grundzüge des Verhältnisses von Angst und Religion näher betrachtet werden, soll daher im Folgenden zunächst der Angstbegriff in der Moderne näher untersucht werden, denn seit dem späten 19. Jahrhundert, besonders aber im Verlauf des frühen 20. Jahrhunderts wurde der Angst offensichtlich eine besondere geistesgeschichtliche Ausdrucksleistung eingeräumt, die auch für die Gegenwart von grundlegender Bedeutung ist. Mit der »Erschütterung der metaphysischen Tradition« im 19. Jahrhundert wird die Angst, wie Jürgen Habermas einmal sagte, zu einem »philosophischen Schlüssel«.11

 7

 Jaspers, Die geistige Situation, 56 f.  Hierauf wird auch ausdrücklich hingewiesen in: Baeyer / Baeyer-Katte, Angst, 36. Laut Baeyer und Baeyer-Katte umschreibt der Angstbegriff bei Jaspers, Kierkegaard und Heidegger eine geradezu »spirituelle Note, eine Art mystischer Weihe […], die wir in den AngstAnalysen der Empiriker vergeblich suchen« (ebd.).  9 Jaspers, Die geistige Situation, 57 f. 10 Jaspers, Die geistige Situation, 58. Ausführlicher zum Begriff der »existentiellen Angst« als dem »Schaudern vor dem Nichtsein« in Jaspers späterem Hauptwerk Philosophie vgl. Jaspers, Philosophie, 488 und besonders 522 ff. 11 Vgl. hierzu das Resümee von Jürgen Habermas zum Tagungsband Aspekte der Angst von Hoimar von Ditfurth (Habermas, Résumé, 150 f). Mit dem »Zusammenbruch des  8

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Um für eine Bestimmung des Verhältnisses von Angst und Moderne in dem weiträumigen Feld von Zugängen und Methoden einen Überblick zu gewinnen, soll zunächst in möglichst knapper Form eine Problematisierung des Angstbegriffs unternommen werden, in der besonders die interdisziplinären und die formalen, sprachlichen Aspekte seiner Definition zu untersuchen sind. Hieran schließt sich der Versuch einer Verhältnisbestimmung von Angst und Moderne an, um die Hintergründe und Rahmenbedingungen einer theologischen Untersuchung von Angst und Religion im 20. Jahrhundert, wie sie im Hauptteil der vorliegenden Arbeit am Beispiel Rudolf Ottos unternommen werden soll, abzustecken. Dabei kann es kaum um eine komplette Darstellung aller modernen Angst-Debatten bis in die Gegenwart gehen. Vielmehr gelten die Ausführungen der Extraktion einer Problemanzeige, nämlich der Ausweitung des Angstbegriffs zu einem Prinzip der Lebens‑ und Weltdeutung überhaupt.

1. Der Begriff Angst Die von Karl Jaspers beschriebene Bedeutung des Angstbegriffs für das frühe 20. Jahrhundert wurde besonders nach dem Zweiten Weltkrieg umfassend aufgearbeitet. Wie Walter von Baeyer und Wanda von Baeyer-Katte in den frühen Siebzigerjahren in ihrem Standardwerk zur Angst zeigen konnten, ist dabei die Analyse und die Deutung der Angst zu dieser Zeit längst nicht mehr die Angelegenheit allein einer Disziplin oder Deutungskategorie.12 Vielmehr sind es – so Baeyer und Baeyer-Katte – neben klassischen Fakultäten wie Philosophie und Theologie besonders die »Erfahrungswissenschaften«,13 die sich nun prominent und mit einer Vielzahl von Methoden und Erkenntnisinteressen dem Problem der Angst auf ihre je eigene Art nähern. Nicht durch Zufall wurden im Laufe der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts deshalb immer häufiger Versuche einer »multidisziplinären Annäherung an das Angst-Problem« unternommen, um der Vielschichtigkeit des Phänomens der Angst gerecht zu werden.14 Dies zeigt sich seit einigen Jahrzehnten in einer kaum überschaubaren Menge an interdisziplinären Sammelbänden und Forschungsprojekten.15 Idealismus« wird – so Habermas – die Angst als »so etwas wie ein Grundzug des menschlichen Daseins begriffen.« 12 Vgl. grundlegend Baeyer / Baeyer-Katte, Angst, insbes. Vorwort und Einleitung auf den Seiten 7 ff. 13 Vgl. Baeyer/ Baeyer-Katte, Angst, 15. Gemeint sind »Psychologie, Physiologie, Erbgenetik, Verhaltensforschung, Psychopathologie, empirische Soziologie, historisch-politische Psychologie«. 14  Vgl. Baeyer/ Baeyer-Katte, Angst, 15. 15 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien einige deutschsprachige Sammelbände genannt, die in den letzten Jahrzehnten in die interdisziplinäre Debatte eingegriffen haben und teilweise auch ausdrücklich das Verhältnis von Angst und Religion bzw. von Angst und Christentum be-

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

Die Interdisziplinarität der Debatten um den Angstbegriff spiegelt ein Charakteristikum des verhandelten Gegenstandes wieder: Der Begriff Angst ist keiner Forschungs‑ oder Darstellungsmethode und erst recht keiner wissenschaftlichen Fachdisziplin eindeutig zuzuweisen. Die vielfältigen Anknüpfungspunkte und Fragen, die das Phänomen der Angst aufwirft, scheinen geradezu danach zu drängen, Fachgrenzen zu sprengen und über einseitige Problematisierungsmuster hinauszugehen, was sich auch in den Einzelstudien innerhalb einer Fachrichtung zeigt, die sich ausnahmslos mit der Uneindeutigkeit und Vielstimmigkeit des Angstproblems im Kontext der modernen Debatten auseinanderzusetzen haben. Auch und gerade für eine theologische Abhandlung zum Begriff Angst sind daher wenigstens einige wenige Prolegomena zum Angstbegriff unvermeidlich. Erstens soll in einem Überblick den interdisziplinären Debatten zur Angst im vergangenen Jahrhundert Rechnung getragen werden. In Grundzügen wird dabei auch auf die in den letzten Jahrzehnten intensiv geführten naturwissenschaftlichen und psychologischen Zugänge einzugehen sein. Ihnen gegenüber stehen die in den Geisteswissenschaften und insbesondere in der Philosophie unternommenen Deutungen der Angst, die bis heute von klassischem Rang sind. Grundsätzlich kann es dabei nicht um ein Abwägen einzelner Positionen gehen, sondern vielmehr um die knappe Darstellung grundsätzlicher methodischer Zugangsweisen im Überblick. Zweitens werden formale Vorüberlegungen zum Begriff der Angst selbst zusammengestellt. Schon im sprachlichen Umgang mit dem Phänomen der Angst werden Vorentscheidungen für sein Verständnis getroffen, die bei seiner Deutung zu berücksichtigen sind. Auch hier werden grundsätzliche Probleme der Debatten um den Angstbegriff erkennbar, die gleichsam eine wichtige Grundlage für die vorliegende Untersuchung bilden. Drittens sei der Versuch unternommen, in einem kurzen Fazit eine Definition der Angst zu geben, die dann den folgenden Kapiteln zu Grunde gelegt werden kann.

handeln (chronologisch geordnet und mit Erscheinungsjahr in Klammern): Bitter (Hg.), Angst und Schuld (1951); C. G.  Jung-Institut Zürich, Die Angst (1959); Schlechta (Hg.), Angst und Hoffnung (1965); Wiesbrock (Hg.), Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst (1967); Bohren/ Greinacher (Hg.), Angst in der Kirche (1972); Stietencron (Hg.), Angst und Gewalt (1979); Eifler /Saame / Schneider (Hg.), Angst und Hoffnung (1984); Schultz (Hg.), Angst (1987); Albertz (Hg.), Aspekte der Angst in der »Therapiegesellschaft« (1990); Stietencron (Hg.), Angst und Religion (1991); Lang / Faller (Hg.), Das Phänomen Angst (1996); Fischer/ Gäbler (Hg.), Angst und Hoffnung (1997); Möde (Hg.), Leben zwischen Angst und Hoffnung (2000); Bosbach (Hg.), Angst und Politik (2000); Körtner (Hg.), Angst (2001); Kisser/Rippl/Tiedtke (Hg.), Angst (2011) und jüngst das interdisziplinäre Handbuch Koch (Hg.), Angst (2013).

I. Angst und Moderne

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1.1. Der Begriff Angst im interdisziplinären Kontext – eine Übersicht Bei einem Überblick über die gegenwärtigen Debatten zum Thema Angst und die zugehörigen Publikationen wird schnell deutlich, dass die empirischen Wissenschaften, besonders die psychologischen Fachdisziplinen, in den letzten Jahrzehnten das Forschungsfeld zunehmend dominierten. Ungleich mehr als in den Geisteswissenschaften lassen sich sowohl im psychologischen als auch im medizinisch-therapeutischen Sektor der Angstforschung immense Fortschritte beobachten, die in einer Flut von Publikationen dokumentiert sind. In der kaum mehr überschaubaren Fachliteratur sowie in populärwissenschaftlichen Veröffentlichungen und Beiträgen sind Einführungen und Spezialstudien zu den physiologischen, psychologischen und therapeutischen Erkenntnissen zur Angst in großer Zahl entstanden.16 Ganz offensichtlich wurden damit die Forschungen zur Angst in den klassischen Fakultäten wie Philosophie oder Theologie zumindest quantitativ überholt. Es hat sich in der Einführungsliteratur zur Angst so etwas wie eine Deutungshoheit der empirischen Wissenschaften entwickelt. Dies heißt natürlich nicht, dass andere Zugangsweisen zur Angst keine Rolle mehr spielen. Gerade die große Zahl interdisziplinärer Untersuchungen zur Angst führt die bleibende Bedeutung philosophischer, theologischer oder historischer Aspekte vor Augen. Dennoch lässt sich aus dem Befund etwas lernen: Die gegenwärtige Entwicklung geht ganz offensichtlich dahin, sich den menschlichen Emotionen  – und insbesondere der Angst  – in erster Linie mit einem empirisch-diagnostischen bzw. therapeutischen Anspruch zu nähern. Aktuellen Debatten um eine Philosophie der Gefühle zum Trotz überwiegt das Interesse am praktischen Umgang mit der Angst: ihren Ursachen, ihrer Beschreibung, ihrer biologischen und sozialen Funktion, sowie schließlich ihrer Heilung.17 Ein Grund hierfür ist sicherlich die Faszination, die von der naturwissenschaftlichen Entschlüsselung eines Gefühls ausgeht, das wie kein anderes auf rätselhafte, unkontrollierbare und oftmals bedrohliche Weise das Denken und Handeln der Menschen seit jeher bestimmt. Der Gedanke, den verborgenen Quellen 16 Den umfassendsten historischen Überblick über die psychologische bzw. psychoanalytische Auseinandersetzung mit der Angst bietet: Meyer, Konzepte der Angst, Bd. I und II. Für einen systematischen Überblick vgl. besonders die Bücher von Heinz Walter Krohne, darunter zuletzt erschienen: Krohne, Psychologie der Angst. Unter den Einführungen und Lehrbüchern der letzten Jahre vgl. u. a.: Rupprecht/ Kellner, Angststörungen, und Ermann, Angst und Angststörungen. Eine allgemeinverständliche Übersicht und Einführung bietet Strian, Angst und Angstkrankheiten. Mit Hinweisen zu den inzwischen kaum noch überschaubaren Anwendungs‑ und Spezialfeldern der Angst und ihrer therapeutischen und diagnostischen Dimension vgl. Flöttmann, Angst. Über Geschichte und Gegenwart der biologischen Auseinandersetzung mit der Angst vgl. Hüther, Biologie der Angst. 17  Forschungsgeschichtliche Studien zu diesem Phänomen liegen noch nicht in größerer Zahl vor. Dafür können aber die Fachpublikationen selbst als Beleg gelten, denn sie bilden das Übergewicht zugunsten der empirischen Wissenschaften deutlich ab. Vgl. erneut für einen gegenwärtigen Überblick Hitzer, Emotionsgeschichte.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

und Mechanismen der Angst auf die Spur zu kommen und damit bis zu einem gewissen Grade zu verstehen und zu heilen, was vormals als unantastbares Rätsel der menschlichen Psyche galt, ist in höchstem Maße brisant. Die Fortschritte der Medizin, besonders aber der Psychologie brachten damit im vergangenen Jahrhundert ans Licht, was zuvor verborgen lag: die unbewussten, instinkthaften und zugleich unhintergehbaren Strukturen der menschlichen Emotionen und ihrer biologischen und sozialen Bedeutung. Dabei dringt die Wissenschaft nicht nur in die ältesten Teile des Nervensystems und in die Abläufe psychosozialer Prozesse ein, sondern darf sich auch therapeutische Erfolge versprechen. Was jahrhundertelang als gegebenes und unergründbares Leiden in Folge von Angststörungen akzeptiert wurde und in dämonischer, fast kränkender Weise die menschlichen Emotionen bestimmte, erscheint seit dem Aufkommen psychoanalytischer und psychotherapeutischer Methoden und schließlich seit dem Fortschritt der klinischen Psychiatrie zumindest ansatzweise ergründbar, beherrschbar und therapierbar. Der durchschlagende Erfolg der empirischen Angstforschung geht also nicht nur auf die Faszination des Vordringens in früher unzugängliche Regionen der menschlichen Psyche zurück, sondern auch auf ein deutlich steigendes Therapiebedürfnis.18 Anders als beispielsweise die traditionellen philosophischen Zugänge zur Angst, versprechen die empirischen Zugangswege Heilungserfolge und Bewältigungsstrategien im Umgang mit der Angst. Es stellt sich überdies die Frage, wie es zu der immer weiter steigenden Präsenz der Angst in Wissenschaft und Gesellschaft in der Moderne kommen konnte. Dabei wird durchaus diskutiert, ob nicht möglicherweise von einem statistisch erhöhten Auftreten von Angst und Angststörungen in den letzten Jahrzehnten auszugehen ist. Bejaht man diese These, bleibt jedoch offen, ob die aktuellen Lebensbedingungen der westlichen Industrienationen tatsächlich mehr oder intensivere Ängste und damit einhergehende pathologische Symptome erzeugen, oder ob die scheinbar steigende Präsenz von Angst lediglich auf eine erhöhte Sensibilität und ein verstärktes Bewusstsein für ihre Gestalt, Ursachen und Symptome zurück zu führen ist.19 In jeweils kurzen und überblicksartigen Skizzen sollen nun die wichtigsten 18 Zum Problem der Angst in der »Therapiegesellschaft« des 20. Jahrhunderts vgl. den Sammelband Albertz, Aspekte der Angst in der »Therapiegesellschaft«. Zum gesteigerten »Therapiebedürfnis« im »Zeitalter der Angst« vgl. Albertz, Vorwort des Herausgebers, 7. 19  Nebenbei bemerkt, zeichnet sich gegenwärtig auch in sozialwissenschaftlichen Gegenwartsdeutungen eine Verschiebung hin zu pathologischen und medizinischen Metaphern ab. Nicht mehr die auch als philosophischer Begriff anschlussfähige Angst, sondern in erster Linie rein pathologische Begriffe wie Depression, Stress, Erschöpfung oder Melancholie flossen in der jüngeren Vergangenheit in die gesellschaftstheoretischen Debatten ein. Vgl. beispielsweise das vielbeachtete Werk La Fatigue d’être soi – dépression et société (1998) von Alain Ehrenberg, in deutscher Übersetzung: Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. In derartigen Ansätzen überwiegen konkrete und anschauliche pathologische Beschreibungen der gegenwärtigen Gesellschaftsstrukturen. Für einen Überblick über den Angstbegriff in soziologischer Perspektive vgl. Ahrens, Soziologie der Angst, 61–70.

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Linien der Angstforschung im letzten Jahrhundert sowohl in den empirischen Wissenschaften, als auch in den Geisteswissenschaften dargestellt werden. Empirische Erklärungsmodelle der Angst. Die Bandbreite der inhaltlichen Debatten und Forschungsfelder zur Angst in den empirischen Wissenschaften ist – wie bereits beschrieben – kaum zu überschauen. Um wenigstens die Grundzüge der empirischen Angstforschung in den Blick zu bekommen, ohne dabei zu sehr in spezialwissenschaftliche Details eingehen zu müssen, sei eine Gliederung der gängigsten Zugangsmodelle in fünf Teilaspekte vorgeschlagen.20 Die älteste der empirischen Zugangsweisen zum Phänomen der Angst in der Moderne ist das biologische Modell, das weit bis in das 19. Jahrhundert zurückreicht und häufig primär mit Charles Darwin in Verbindung gebracht wird.21 In dieser stark an empirischer Naturforschung orientierten Deutung der Angst stehen in erster Linie die physiologischen und genetischen Grundlagen der Angst und ihre Funktionen in biologischen Lebens‑ und Überlebensprozessen im Vordergrund.22 Angst wird in diesem Fall also primär als vererbbarer Instinkt erforscht, der einem evolutionsbiologischen Zweck dient, wie beispielsweise der Vermeidung von Gefahr. Die hochkomplexen Erkenntnisse der Neurobiologie der letzten Jahrzehnte haben überdies die dahinterstehenden biochemischen Prozesse in faszinierender Weise erforscht.23 In der wohl berühmtesten klassischen Theorie der Angst, dem psychoanalytischen Modell im Anschluss an Sigmund Freud, stehen nicht biologische, sondern psychische Prozesse im Vordergrund. Die beiden Angsttheorien Freuds ermöglichten es, erstmals die Angst als einen isolierten Symptomkomplex im Sinne einer pathologischen Störung zu beschreiben und einer psychologischen Deutung zuzuführen: zunächst 1895 mit der Entdeckung der »Angstneurose« als

20 Es wird hierbei weitgehend dem Überblick von Eni Becker gefolgt, die eine Unterteilung in fünf klassische »monokausale Erklärungsmodelle« der Angst vorschlägt. Sie spiegeln zugleich wichtige historische Entwicklungsschritte der Angstforschung wieder und fließen bis heute in weiterentwickelten Formen in die Angstforschung ein (vgl. Becker, Angst, 36–42). Natürlich ist dabei zu berücksichtigen, dass die Übersicht bei Eni Becker in einen weiteren Darstellungszusammenhang eingebunden ist, der noch zahlreiche weitere Problemzugänge thematisiert. Dennoch sind in der gebotenen Darstellung die wesentlichen Linien der Geschichte der Angstforschung erkennbar, wie sie beispielsweise ausführlicher dargestellt sind in Krohne, Angst und Angstbewältigung, 153 ff. 21 Vgl. Becker, Angst, 36. Einen anschaulichen Überblick über die biologische Angstforschung und ihre Geschichte seit Darwin gibt Gerald Hüther in: Hüther, Biologie der Angst, insbes. 28–31. 22 Vgl. hierzu Leyhausen, Zur Naturgeschichte der Angst, bes. 94–112. 23  Einen guten Überblick über die neurobiologische Dimension der Angst bietet – obwohl schon etwas älter  – Strian, Angst. Grundlagen und Klinik, bes. 99–113, und Ders., Angst und Angstkrankheiten, hier besonders die Abschnitte zu den »körperlichen Angstelementen«, 14 ff. In einem stärker medizinischen Zuschnitt vgl. Hippius / Klein / Strian, Angstsyndrome.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

einer Folge sexueller Blockaden und Spannungen24 und später – in der zweiten Angsttheorie von 1926 – deutlich aufwändiger im Kontext der Beschreibung von Trieben und deren Unterdrückung.25 Bemerkenswert an Freuds Angsttheorie ist besonders die dahinterstehende psychoanalytische Methode, die von enormer Wirkung war und in Weiterentwicklungen bis heute von Bedeutung ist.26 Die lerntheoretische Angstforschung entstand in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts und kann als Inbegriff experimenteller Angstforschung gelten.27 Das dahinterstehende Modell geht im weitesten Sinne von einer Konditionierung der Angst durch Reizkonfrontationen mit der Umwelt aus. In Modifikationen und Spezialisierungen spielt die behavioristische Erforschung der Angst bis heute eine wichtige Rolle in der experimentellen Psychologie. Einen grundlegenden Neuansatz gegenüber den reiz-reaktionstheoretischen Modellen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts bilden die kognitiven bzw. kognitions‑ und handlungstheoretischen Modelle,28 die sich etwa seit den Siebzigerjahren entwickelten und nochmals in zahlreiche Theorien zu unterteilen sind. Es handelt sich hierbei in erster Linie um therapeutische Ansätze in Auseinandersetzung mit dem Zusammenspiel psychischer und physiologischer Prozesse im menschlichen Denken, die ihrerseits Deutungen der Angst aus sich heraussetzen und gleichsam in therapeutische Strategien integrieren. Unter das multifaktorielle Erklärungsmodell der Angst kann schließlich die Mehrheit der gegenwärtigen Angsttheorien gezählt werden. Gemeint sind damit Kombinationsmodelle, die das Phänomen der Angst aus dem Zusammenhang unterschiedlicher Einflüsse, Prädispositionen, psychischer Faktoren und Störungen zu beschreiben versuchen. Die Vielfalt der einzelnen Ansätze ist dabei kaum zu überblicken.29 Schon früh sind die Erkenntnisse der genannten Zugänge zur psychologischen Deutung der Angst mit anderen Wissenschaftsdisziplinen kombiniert worden und haben so eine breite Wirkung auch auf gesellschaftliche Diskurse und interdisziplinäre Zusammenhänge ausgeübt. Allein der Hinweis auf die psycho24 Zur Entdeckung der Angstneurose bei Freud vgl. besonders seine Schrift Über die Berechtigung, von der Neurasthenie einen bestimmten Symptomenkomplex als »Angst-Neurose« abzutrennen von 1895 (Freud, Über die Berechtigung, 315–342). Vgl. hierzu u. a. als Einführung: Krohne, Angst und Angstbewältigung, 155 ff. 25  Vgl. für die zweite Angsttheorie Freuds die Schrift Hemmung, Symptom und Angst von 1926 (Freud, Hemmung, Symptom und Angst, 111–206) und hierzu Krohne, Angst und Angstbewältigung, 157 ff. 26 Jüngste Studien zur Angst in psychoanalytischer Perspektive sind versammelt in: Springer/ Janta/ Münch (Hg.), Angst. 27 Zum Behaviorismus generell und zu seiner Kritik und Weiterführung vgl. Krohne, Angst und Angstbewältigung, 181 ff. 28 Krohne, Angst und Angstbewältigung, 229 ff. Vgl. zur sog. »cognitive revolution« z. B. Baars, The cognitive Revolution. 29 Vgl. Becker, Angst, 41 f.

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logischen Forschungen – auch und gerade zur Angst – bei so unterschiedlichen Klassikern wie Charles Darwin, Wilhelm Wundt oder William James genügen, um den weiten Wirkungskreis zu verdeutlichen, den die psychologische Forschung schon vor über 100 Jahren grundlegend beeinflusste. Die Verbreitung von Werken zur Deutung der Angst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts führt überdies die Brisanz des Angstthemas für die Gegenwart überhaupt vor Augen.30 Wichtige Erweiterungen und Anwendungsfelder haben die frühen Debatten zur Psychologie der Angst zum Ende des vergangenen Jahrhunderts besonders durch angrenzende empirische Fächer erfahren. Bemerkenswerte neurophysiologische und biochemische Forschungserkenntnisse trugen dabei ebenso zu einer erheblichen Erweiterung des Blickfeldes auf die Angst und ihre Ursachen bei, wie ihre Ausweitung auf sozial‑ und gesellschaftstheoretische Fragen,31 sowie auf Anwendungsgebiete in den Kultur-, Medien‑ und Kommunikationswissenschaften.32 Zusammenfassend wird deutlich, dass Angst in den empirischen Wissenschaften immer in einem Kausalzusammenhang vorgestellt wird. Auch wenn Gegenstand oder Ursache der Angst im Dunkeln liegen oder undeutlich sind, ist dennoch die physiologische Erscheinungsform der Angst oder ihre psychologische Gestalt für ihre Erforschung entscheidend. Geisteswissenschaftliche Zugänge zur Angst. Die gegenwärtige Dominanz psychologischer Debatten zur Angst sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Angst schon lange vor der wissenschaftlichen Psychologie auch in längst vergangenen Kulturepochen hinterfragt wurde. Aus diesem Grund fällt es gegenwärtigen philosophischen, historischen und literaturwissenschaftlichen Studien leicht, die Wurzeln ihres Zugangsweges zum Angstbegriff bis weit in die Antike hinein durch alle Epochen der Geistesgeschichte zurückzuverfolgen.33 Alle 30 International von großer Wirkung waren seit den Fünfzigerjahren im amerikanischen Raum die Schriften von Rollo May, der ausdrücklich eine ganzheitliche Deutung der Angst über die Psychologie hinaus unternahm. Vgl. hierzu den Klassiker The Meaning of Anxiety von 1950. Im deutschsprachigen Raum fand das 1961 als »tiefenpsychologische Studie« konzipierte und vielfach nachgedruckte Buch Grundformen der Angst von Fritz Riemann viel Beachtung. Riemann unterscheidet hier »Vier Grundformen der Angst«, nämlich der Angst vor der »Selbsthingabe«, vor der »Selbstwerdung«, vor der »Wandlung« und vor der »Notwendigkeit«. Vgl. einleitend und zusammenfassend Riemann, Grundformen der Angst, 16 f. Der entscheidende Impuls Riemanns ist es, die damaligen Erkenntnisse der Psychologie und Psychoanalyse im Modus der Tiefenpsychologie anhand von Beispielen einem breiten Publikum anschaulich gemacht zu haben. 31 Vgl. hierzu beispielsweise die Sammelbände von Wiesbrock (Hg.), Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst und Bosbach (Hg.), Angst und Politik. 32 Für einen Überblick, Verweise und Beispiele der jüngsten interdisziplinären Angstdebatten in den unterschiedlichsten Fächern vgl. die Zugänge im interdisziplinären Handbuch: Koch (Hg.), Angst. 33 Vgl. die Darstellung zur Geschichte des Angstbegriffs und seiner Deutung bei Coe, Angst and the Abyss, 7–44 und die Entwürfe zu einer Kulturgeschichte der Angst in den Studien von

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klassischen Philosophenschulen haben sich demnach – ebenso wie die Religionen – seit alters her mit der Angst auseinander gesetzt.34 In den Gesamtdarstellungen und interdisziplinären Sammelbänden der letzten Jahrzehnte zum Thema Angst wird dabei stets auf die wichtigsten Linien der Auseinandersetzung mit der Angst in der Geistesgeschichte  – besonders in der Philosophie  – hingewiesen. Einen geradezu klassischen Rang nimmt hierbei das Angstverständnis ein, das im 20. Jahrhundert im Kontext existenzphilosophischer Entwürfe vorgetragen wurde. Besondere Aufmerksamkeit gilt hier den Protagonisten Søren Kierkegaard und Martin Heidegger, deren Angstdeutungen bis heute als die einflussreichsten überhaupt gelten können.35 Kaum eine Studie zur Angst kommt ohne eine Auseinandersetzung mit den Genannten aus, eine Vielzahl von Arbeiten zur Angst ist dezidiert der Angstdeutung Kierkegaards und Heideggers in den unterschiedlichsten Kontexten gewidmet. Gerade für das 20. Jahrhundert und den modernen Angstdiskurs gelten überdies die von Heidegger beeinflussten Philosophen Karl Jaspers und Jean-Paul Sartre als einschlägig.36 Grundsätzlich geht es bei den genannten philosophischen Deutungen der Angst insbesondere im Umfeld der sogenannten Existenzphilosophie weniger um eine Beschreibung der Angst als Phänomen, als vielmehr um eine Deutung des in ihr aufscheinenden »Selbst und Weltverhältnisses«.37 Gerade in der Moderne wird demnach Angst in einer sehr grundlegenden und spekulativen TragHartmut Böhme (insbes. Böhme, Vom phobos zur Angst, 154–184). Eine literaturwissenschaftliche Studie unternimmt Wandruszka, Angst und Mut, 11–80, über die philosophischen Ursprünge des Angstbegriffs informieren zum Einstieg: Demmerling / Landweer, Philosophie der Gefühle, 63–91. 34 Neben den bereits genannten Überblicksdarstellungen vgl. speziell zum Angstbegriff in der Antike u. a.: Spira, Angst und Hoffnung, 203–270. Dass die Angst auch in der klassischen griechischen Tragödie eine zentrale Rolle spielte, ist ausführlich am Beispiel des Aischylos herausgearbeitet worden in Schnyder, Angst in Szene gesetzt. 35 Vgl. hierzu u. a. Coe, Angst and the Abyss, 45–128 und Düsing, Der Begriff der Angst bei Kierkegaard und Heidegger, 21–60. Die Dominanz Kierkegaards und Heideggers ergibt sich besonders aus ihrer weitreichenden Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert. Dennoch gibt es auch Vorschläge, die Ursprünge des modernen Angstbegriffs früher anzusetzen. Neben Martin ­Luther, Jakob Böhme und Blaise Pascal wird – mit guten Gründen – besonders auf das Spätwerk Friedrich W. J.  Schellings hingewiesen, so u. a. bei Schulz, Das Problem der Angst, 13–27, Baeyer / Baeyer-Katte, Angst, 21 ff und Demmerling/ Landweer, Philosophie der Gefühle, 76 ff. 36  Zur exientenzphilosophischen Einordnung und Deutung des Angstbegriffs vgl. Coe, Angst and the Abyss, 129 ff. Auf die wichtigsten Schriften von Jaspers wurde bereits hingewiesen. Zu Sartres Angstbegriff, vgl. Sartre, L’être et le néant von 1943 und darin zur Angst besonders Sartre, Das Sein und das Nichts, 98 ff. Zu Sartres Emotionstheorie im Hintergrund vgl. Sartre, Skizze einer Theorie der Emotionen, 255–321. 37 Vgl. Blankenburg, Affektivität und Personsein, 316 ff und im weiteren Zusammenhang a. a. O., 307–333. Im Gespräch mit Psychologie, Psychopathologie und Philosophie wird hier die Angst beschrieben als Perspektive auf das »Zurückgeworfenwerden auf uns selbst« (Blankenburg, a. a. O., 319). Auf den Tatbestand, dass Heideggers Angstbegriff nicht – wie oft geschehen – als Phänomenologie der Angst zu verstehen ist, sondern als fundamentalontologischer Begriff, weist mit Nachdruck Hans Georg Gadamer hin im Nachwort zu dem

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weite verstanden als ein Prinzip des Lebens und der Welt schlechthin, in dem das menschliche Bewusstsein seiner eigenen Endlichkeit und Freiheit bewusst wird. Besonders im frühen 20. Jahrhundert und unter dem Eindruck des Ersten Weltkriegs schloss man von jenem existenzphilosophischen Angstverständnis auf eine hinter allem Erleben schwelende »Weltangst« oder »Lebensangst«, die nicht als Folge von Affekten der Bedrohung, sondern als Konfrontation mit dem allem Sein gegenüberstehenden »Nichts« verstanden wurde.38 Berühmte Deutungen der Angst als »Schwindel der Freiheit« bei Kierkegaard39 oder Heideggers These, das »Wovor der Angst« sei das »In-der-Welt-sein als solches«40, tauchen demnach in fast allen Studien zur Angst auf und haben in hohem Maße auf die Geistesgeschichte der Spätmoderne gewirkt.41 Besonders in der Literatur und Kunstgeschichte lässt sich diese Spur der Angst als eines ambivalenten, faszinierenden und zugleich abgründigen Gefühls und Weltprinzips von der Romantik bis in die Zeit der klassischen Moderne und darüber hinaus nachvollziehen.42 Gerade die Romantik und ihre Wiederentdeckung im frühen 20. Jahrhundert ist dabei letztlich vielleicht als die entscheidende Epoche der Entdeckung des modernen Angstbegriffs anzusehen, in deren Literatur sich beispielsweise bei Ernst T. A.  Hoffmann – ganz anders als noch in der Aufklärung – eine eigentümliche Faszination für das Irrationale, Groteske und Schauervolle zu regen begann, das bis heute das Bild von der »Schwarzen Romantik« als der Schattenseite der Vernunft prägt.43 In den philosophischen Debatten um den Angstbegriff interdisziplinären Tagungsband zur Angst von Hermann Lang und Hermann Faller (vgl. Gadamer, Schlußwort, 267–276). 38 Der Begriff der »Weltangst« wurde besonders durch das berühmte Werk Der Untergang des Abendlandes von Oswald Spengler geprägt. Vgl. Spengler, Der Untergang, 107: »Die Weltangst ist sicherlich das schöpferischste aller Urgefühle. Ihr verdankt der Mensch die reifsten und tiefsten aller Formen und Gestalten nicht nur seines bewußsten Innenlebens, sondern auch von dessen Spiegelungen in den zahllosen Bildungen äußerer Kultur.« 39 Vgl. Kierkegaard, Der Begriff Angst, 60 f. 40 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 186. Vgl. hierzu grundlegend den § 40 in Heideggers Sein und Zeit mit den berühmten Ausführungen zur Angst als »Grundbefindlichkeit« (Heidegger, Sein und Zeit, 184–186). 41 Vgl. beispielsweise Fink-Eitel: Angst und Freiheit, 57–88. 42 Vgl. grundsätzlich den Vortrag von Walter Jens bei dem Darmstädter Gespräch von 1965 (Jens, Vortrag, in: Schlechta (Hg.), Angst und Hoffnung, 157–165.) Jens stellt die »Angstliteratur der Moderne« geradezu als »kopernikanische Wende, die die Literatur zwischen 1900 und 1910 […] durchgemacht hat«, dar. Zum literaturgeschichtlichen Überblick über die Angst, vgl. Alewyn, Die literarische Angst, 24–37, insbesondere zur Schauerliteratur in der Romantik und der frühen Moderne vgl. Conrad, Die literarische Angst; Trautwein, Erlesene Angst – Schauerliteratur im 18. und 19. Jahrhundert und schließlich Wülfing, Von »schauernder Lust«, 75–94. Für einen aktuellen Überblick über den Forschungsstand vgl. Koch, Angst in der Literatur, 236–251. 43  Vgl. hierzu den ausführlichen Ausstellungskatalog Krämer (Hg.), Schwarze Romantik, von 2012 zu der gleichnamigen Ausstellung in der Frankfurter Schirn, sowie Praz, Liebe, Tod und Teufel. Im Bezug auf Rudolf Otto und sein Verhältnis zu jenen düsteren Aspekten der Romantik vgl. Buntfuss, Rudolf Ottos (neu)romantische Religionstheologie, 449–462. Zur

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in der Moderne wurde die historische Quellenforschung meist vernachlässigt. In einer Reihe von historischen und mentalitätsgeschichtlichen Studien wurde daher in den letzten Jahrzehnten damit begonnen, die Bedeutung der Angst auch in den Gesellschaftsstrukturen und Lebenswelten vergangener Epochen zu erforschen.44 Die Bedeutung der Interdisziplinarität der Angstdebatten für die Religion. Die weite Fächerung der unterschiedlichen Zugänge zum Phänomen der Angst von rein naturwissenschaftlichen Untersuchungen der Psychopathologie bis hin zu abstrakt-ontologischen Deutungen der Philosophie stellt – wie sich schon hier andeutet – für eine Untersuchung des Verhältnisses von Angst und Religion eine besondere Herausforderung dar.45 Je nachdem, von welchem methodischen Zugangsweg aus der Angstbegriff betrachtet wird, ergibt sich ein ganz eigenes Bild für dessen Bedeutung, besonders auch hinsichtlich der Religion. Daher wird auch das Problem des Verhältnisses von Angst und Religion in ganz unterschiedlichen Fachdisziplinen erforscht: Nicht nur die Theologie, sondern besonders auch die Religionswissenschaften, sowie die Religionssoziologie, ‑psychologie und ‑philosophie haben auf je eigene Weise einen Zugang zum Phänomen der Angst gesucht.46 Die Ergebnisse sind dabei ebenso vielfältig wie die unterschiedlichen Zugangsweisen und reichen von naturalistischen Erklärungen eines neurobiologischen oder psychologischen »Primats der Angst« als Ursache der Religion47 bis hin zu existenzphilosophischen Entwürfen, deren Angstbegriff als abstrakte Grundbefindlichkeit die Religion als Epiphänomen und Chiffre dessen erscheinen lässt, was sich in der Angst über das Wesen der Welt erschließt.48 Innerhalb der Theologie ist das Phänomen der Angst besonders im Kontext der theologischen Anthropologie thematisiert worden und wurde hier in erster Linie mit dem Begriff der Sünde ins Verhältnis gesetzt.49 Auch der im Hauptteil der Romantik als der Epoche der Entdeckung eines »unbestimmten und unfaßlichen Urgefühls der Angst« vgl. Wandruszka, Angst und Mut, 56 f, sowie im Überblick erneut Trautwein, Erlesene Angst – Schauerliteratur im 18. und 19. Jahrhundert. 44 Vgl. hierzu die in den folgenden Kapiteln in unterschiedlichen Zusammenhängen diskutieren geschichtswissenschaftlichen Beiträge u. a. von Georges Duby, Jean Delumeau, Claude Lecouteux, Peter Dinzelbacher und jüngst von Andreas Bähr. 45  Vgl. Wiesbrock, Einführung, 11 ff. Wiesbrock sieht in den Angstbegriffen von Philosophie und Tiefenpsychologie die zwei grundlegenden Impulse zum Angstbegriff in der Moderne. 46 Vgl. hierzu auch die Wirkungsgeschichte von Ottos Deutung von Angst und Religion, unten im Zweiten Teil, Kap. V. 47 Zum Begriff des »neurobiologischen Primats der Angst« und einem ausführlichen Überblick zum Angstbegriff in religionswissenschaftlicher Perspektive vgl. Michaels, Religionen und der neurobiologische Primat, 91–136. 48  Der Begriff der Chiffre im Bezug auf die Religion geht auf Karl Jaspers zurück, der gewissermaßen als Repräsentant der Debatten um die Religion in der Existenzphilosophie gelten kann. Vgl. Jaspers, Chiffren der Transzendenz, und ferner Jaspers, Der philosophische Glaube. 49 Vgl. hierzu besonders die prominenten anthropologischen Entwürfe von Wolfhart

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vorliegenden Untersuchung verfolgte Ansatz Rudolf Ottos ist  – soviel sei vorweggenommen – vor diesem Hintergrund zu sehen und zu überprüfen. Es wird sich zeigen, dass Otto sich den modernen Angstdeutungen sowohl seitens der empirischen wie der geisteswissenschaftlichen Fächer auf eigentümliche Weise zu entziehen versucht, zugunsten einer dezidiert theologischen Sichtweise, die auf religionskundlichen und religionsphänomenologischen Studien aufbaut. Otto sucht die Wurzeln der Religion in einem besonderen Moment der Angst – er nennt es meist »Scheu« – den er als genuin religiöses Erleben versteht. Er unternimmt demnach keine theologische Interpretation der Angst, sondern will mit der »Scheu« ein Erleben ausmachen, das allein dem religiösen Menschen überhaupt verständlich und nachvollziehbar sein kann und nur in dezidiert theologischer Perspektive vollends darstellbar ist.50 1.2. Erörterungen zur Definition des Angstbegriffs Mit großer Konsequenz wurde spätestens seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in fast allen Studien zum Angstbegriff zunächst auf sprachliche Definitionsprobleme hingewiesen.51 Ein Grund hierfür mag sein, dass schon das Etymon des Angstbegriffs Aufschluss über seine Bedeutung gibt. Eine sprachliche Problematisierung des Angstbegriffs stellt deshalb einen Gewinn für dessen inhaltliche Bestimmung dar. Besonders erklärungsbedürftig ist in diesem Zusammenhang die unscharfe Definition des Begriffs Angst aufgrund seiner uneindeutigen Verwendung in der Alltags‑ und Fachsprache. Die Unterscheidung der Angst von synonym verwendeten Begriffen ist nicht nur im Deutschen alles andere als einfach und überdies in vielen Untersuchungen zur Angst für deren inhaltliche Differenzierung konstitutiv. In besonderem Maße gilt dies für Studien, die sich der klassischen Unterscheidung von Angst und Furcht anschließen, wie sie vor allem durch Søren Kierkegaard angestoßen wurde. Ausgehend von einigen Bemerkungen zu der Debatte um die Differenz von Angst und Furcht sollen im Folgenden sprachliche Vorüberlegungen zum Angstbegriff im Überblick diskutiert werden, um schließlich in einer Begriffsbestimmung für die vorliegende Untersuchung zu münden.

Pannenberg, besonders in der späteren Monographie von 1983 (vgl. Pannenberg, Anthropologie, bes. 77–150). 50 Vgl. hierzu grundlegend den Zweiten Teil dieser Studie. 51 Aufgrund der verwirrenden Definitionsvielfalt des Angstbegriffs und der Unklarheit seines Verhältnisses zu ihm nahestehenden Begriffen hat Henning Bergenholtz eine umfassende lexikographische Studie zum Angstbegriff und seinem »Wortfeld« vorgelegt: Vgl. Bergenholtz, Das Wortfeld Angst. In einer aufwändigen Analyse der Angstdefinitionen zahlreicher Fachdisziplinen und Kontexte wird die Vielfalt unterschiedlicher und teilweise widersprüchlicher Angstdefinitionen eindrucksvoll deutlich. Zum Etymon des Angstbegriffs vgl. u. a. ­Baeyer / ​Baeyer-Katte, Angst, 24.

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Das Problem der klassischen Unterscheidung von Angst und Furcht. Kaum eine Untersuchung zur Angst  – ganz gleich welcher Disziplin sie angehört  – kommt ohne eine Bemerkung zu der Unterscheidung der Begriffe Angst und Furcht aus. Der Grund hierfür ist, dass besonders die an Kierkegaard und Heidegger orientierten Angstdeutungen in der Differenzierung zwischen Angst und Furcht einen entscheidenden inhaltlichen Gewinn sehen.52 Insbesondere mit Kierkegaards berühmter Schrift Begrebet Angest von 1844 wird der Gedanke in Zusammenhang gebracht, die Furcht gelte etwas Bestimmtem, einer bestimmbaren Bedrohung, während die Angst auf etwas schlechthin Unbestimmtes gerichtet sei, nämlich auf etwas, das »Nichts« ist, einem unbestimmten Gewirr von Ahnungen und Möglichkeiten, dem der Mensch gerade aufgrund seiner Freiheit wie einem offenen Abgrund gegenüber steht.53 Kierkegaards Unterscheidung setzte sich besonders in den existenzphilosophischen Angstdeutungen im 20. Jahrhundert nachhaltig durch und bot in einer Unmenge von Publikationen Anlass zur Diskussion.54 Der Gewinn der Unterscheidung von Angst und Furcht liegt zweifelsohne in der damit einhergehenden Differenzierungsleistung hin zu einer komplexeren Betrachtungsweise des Angstphänomens und seiner Bedeutung für die Welt‑ und Selbstdeutung des Menschen überhaupt.55 Schon anhand der Begriffe Angst und Furcht kann so auf die dahinter stehende Problematik des Gegenstandes bzw. der Ursache der Angst aufmerksam gemacht werden. Die Frage nach dem Wovor der Angst und der ontologischen Bestimmung des Objekts, auf das sie sich richtet oder nicht richtet, ist ebenso wie die Unterscheidung natürlicher und krankhafter Angst mit der Angst-Furcht-Unterscheidung gleichsam mitgesetzt. Gegen dieses im vergangenen Jahrhundert äußerst erfolgreiche Modell sind jedoch auch Bedenken vorgetragen worden.56 Zunächst spricht 52 Zur Unterscheidung von Angst und Furcht mit Bezug auf Kierkegaard und Heidegger vgl. Demmerling/ Landweer, Philosophie der Gefühle, 63 ff, sowie Fink-Eitel, Angst und Freiheit, 57 ff. 53 Vgl. hierzu Kierkegaard, Der Begriff Angst, 60 f. Die Freiheit des Menschen wird hier beschrieben als uferlose »Möglichkeit für die Möglichkeit« (a. a. O., 48). In diesem Wirrwarr an Möglichkeiten, unter denen der Mensch nicht mehr zu wählen vermag, wird »das Nichts, das der Gegenstand der Angst ist, gleichsam mehr und mehr zu einem Etwas«, es mutiert zu einem »Knäuel (complexus) von Ahnungen«, dessen diffuses Gewirr nicht mehr zu lösen ist und letztlich »aufs Wesentliche gesehen Nichts bedeutet« (a. a. O., 61). Vgl. dazu grundlegend: Grøn, Angst, 59 und im theologischen Zusammenhang: Huxel, Das Phänomen der Angst, 41. 54  Da in fast allen Studien zum Angstbegriff auch das Angst-Furcht-Problem erörtert wird, sei hier nur auf einige exemplarische Studien hingewiesen, besonders auf die lexikographische Arbeit von Bergenholtz, Das Wortfeld Angst, 115 ff, sowie auf Baeyer / Baeyer-Katte, Angst, 23–36 und Wandruszka, Angst und Mut, 14 ff, der bereits 1950 auf eine geradezu drückende Flut von Beiträgen zur Angst-Furcht-Unterscheidung hinwies. 55 Zur Bedeutung des Angstbegriffs in der modernen Geistesgeschichte im Anschluss an Kierkegaard, Heidegger und die Exientenzphilosophie vgl. grundsätzlich Coe, Angst and the Abyss. 56 So machte Heinz Wiesbrock 1967 darauf aufmerksam, dass die Dauerdebatte um die Unterscheidung von Angst und Furcht auch »die Weiterführung der Diskussion blockieren« kann (vgl. Wiesbrock, Einführung, 11).

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gegen die Trennung von Angst und Furcht der alltägliche Sprachgebrauch: Angst und Furcht werden sowohl in der Literatur wie in der Alltagssprache nahezu synonym verwendet und können dabei einer Differenzierung hinsichtlich ihres Objektbezugs kaum gerecht werden. Wie der Literaturwissenschaftler Mario Wandruszka zeigen konnte, beruht die Hypothese vom »Wesensunterschied von Furcht und Angst« auf spekulativen, sprachlichen und inhaltlichen Vorannahmen, die letztlich »der Überprüfung am Sprachgebrauch anderer Völker und Zeiten nicht stand« halten.57 Eingehende Studien zur Sprach‑ und Literaturgeschichte bis in die Gegenwart widersprechen demnach laut Wandruszka der künstlichen Differenzierung von Angst und Furcht: »die Sprache des Volkes und die Meister der Sprache[,] widersprechen auf Schritt und Tritt solchen Trennungen.«58 Angemessener scheint laut Wandruszka dagegen eine Ausschöpfung des reichen Spektrums von Angstbegriffen in den unterschiedlichen Sprachen und Kulturen in ihrem jeweils gewachsenen und unmittelbar empfundenen Bedeutungszusammenhang zu sein. Angst wäre demnach als Überbegriff eines ganzen Universums von Ausdrücken für emotionale Gestimmtheiten, Gefühle und Zustände zu verstehen, die sowohl in ihren körperlichen als auch in ihren psychischen Charakteristika verwandt sind.59 Auch die Erkenntnisse der modernen Psychologie und Neurophysiologie stützen die Unterscheidung von Angst und Furcht, die auch von Sigmund Freud60 vertreten wurde, nur bedingt. Zwar wird die Unterscheidung zwischen Angst und Furcht in der Psychologie und Psychopathologie häufig genutzt, um zwischen unterschiedlichen Formen und Intensitätsgraden von Emotionen der Bedrohung differenzieren zu können, jedoch ist die Begriffswahl hier eher pragmatischer Art. Es geht weniger um grundlegende Kategorienunterschiede, sondern um verschiedene Dosierungen und Ausdrucksformen ein und desselben Affekts der Gefahr: Im Falle der Angst mit unklarer Quelle der Bedrohung und mit undefinierter Dauer und Intensität, im Falle der Furcht mit einem konkreten Auslöser der Gefahr in einem klaren Bezugsrahmen und Zeitraum.61 Eine einheitliche Definition und Symmetrie in der Angst-Furcht-Debatte ist jedoch  – zumal auf internationaler Ebene – nicht gegeben.

57

 Vgl. hierzu grundsätzlich und ausführlich die Untersuchung von Mario Wandruszka, Wandruszka, Angst und Mut, 14 ff, sowie Wandruszka, Was weiß die Sprache, 14 ff. In lexikographischer Perspektive vgl. auch hier Bergenholtz, Das Wortfeld Angst, 10 ff. 58 Wandruszka, Angst und Mut, 25. 59 Vgl. hierzu den einleuchtenden Vorschlag in Wandruszka, Was weiß die Sprache, 14 ff, sowie grundsätzlich in Ders., Angst und Mut, 13–80. 60 Die Unterscheidung von Angst und Furcht spielt bei Freud allerdings nur eine untergeordnete Rolle. In erster Linie geht es in seiner Angst-Furcht-Unterscheidung um den Objektbezug der Neurose (vgl. Freud, Hemmung, Symptom und Angst, 197 f). 61 Vgl. hierzu Rachman, Anxiety, 3–8, und hier besonders Tabelle 5 zur Gegenüberstellung und Unterscheidung von »anxiety« und »fear«.

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Es wird damit deutlich, dass die Unterscheidung von Angst und Furcht alles andere als selbstverständlich ist und nur innerhalb eines besonderen Deutungsrahmens einleuchtet. Die Debatte dreht sich demnach um eine geradezu »künstliche Terminologie«62, die einem speziellen Aufklärungsbedürfnis geschuldet ist. Verständlich ist die Differenzierung von Angst und Furcht also letztlich nur im Kontext derjenigen Angstdeutungen, in denen sie eigens vorgetragen wird. Der Unterscheidung von Angst und Furcht, die besonders in der psychoanalytischen oder existenzphilosophischen Tradition eine herausragende Wirkung entfaltete, ist also durchaus entgegenzuhalten, dass sie zuweilen mehr verwirrt als nützt.63 Die Zuspitzung des Phänomens der Angst auf ein philosophisch spekulatives System oder eine psychologische Methode geht womöglich an der Evidenz des Begriffs, wie er kulturell in den unterschiedlichsten Zusammenhängen gebraucht wird, gerade vorbei. Mario Wandruszka klagte aus diesem Grund schon in den frühen Fünfzigerjahren ein, die europäischen Kultursprachen in ihrer Literaturgeschichte und Sprachentwicklung als »den ersten Niederschlag menschlicher Selbsterkenntnis« zu betrachten und damit die Sprache selbst zum hermeneutischen Schlüssel für die Deutung der Angst zu machen: Die Definition der Begriffe Angst und Furcht wäre demnach aus ihrem Etymon und ihrer Verwendung in der Literatur selbst zu verstehen.64 In der vorliegenden Arbeit wird sich dem insofern angeschlossen, als der Angstbegriff zunächst keiner programmatischen Definition zugeführt wird und weitgehend als übergeordneter Kategoriebegriff

62 Der

treffende Ausdruck stammt von Baeyer / Baeyer-Katte, Angst, 23. Wandruszka, Angst und Mut, 23. Wandruszkas Eindruck, dass sich der Angstbegriff »wie ein Schwamm vollsog mit psychoanalytischer und existentialistischer Bedeutungsschwere« und den Begriff der Furcht damit regelrecht verdrängte, ist jedoch – so zutreffend er angesichts der Literatur zur Mitte des 20. Jahrhunderts sein mag – in erster Linie dem Erscheinungsdatum von Wandruszkas Buch (1950) geschuldet – eine derartige Omnipräsenz der Existenzphilosophie, wie hier geschildert, ist heute, über ein halbes Jahrhundert später, nicht mehr gegeben. Dennoch ist Wandruszkas These plausibel. Er kann zeigen, dass durch die AngstFurcht-Unterscheidung von Psychoanalyse und Existenzialismus sogar in anderen europäischen Sprachen regelrechte Verschiebungen im Gebrauch von Angstwörtern ins Werk gesetzt wurden. So hat besonders Jean-Paul Sartre zu der Differenzierung von »angoisse« und »peur« im Französischen beigetragen, während besonders in Amerika zunehmend »anxiety« dem Begriff »fear« entgegengesetzt wurde. Gerade die englischsprachigen Angstdebatten im 20. Jahrhundert sind in dieser Hinsicht bemerkenswert. Teilweise wurde hier das deutsche Wort »Angst« sogar als Fremdwort für den speziellen existenzphilosophischen Angstbegriff im Unterschied zu fear und anxiety importiert (vgl. Coe, Angst and the Abyss, 2 f). Besonders interessant sind aus diesem Grund auch die Studien zur Angst von Paul Tillich, der zwischen dem deutschen und amerikanischen Angstbegriff zu vermitteln versuchte. 64 Vgl. Wandruszka, Angst und Mut, 14: »Die Sprache hat ihr eigenes Lebensgesetz. Sie bewahrt den ersten Niederschlag menschlicher Selbsterkenntnis«. Vgl. hierzu auch Häfner, Art. Angst, Furcht, 304. Ebenfalls gegen eine kategorische Unterscheidung von Angst und Furcht votiert Fritz Riemann (vgl. Riemann, Grundformen der Angst, 21). In theologischen Studien zur Angst argumentieren gegen eine Angst-Furcht-Unterscheidung u. a. Stietencron, Von der Heilsträchtigkeit, 16 f und Dietz, Der Begriff der Furcht, 6. 63 Vgl.

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fungiert. Eine Differenzierung in weitere Begriffe kommt erst dann zum Tragen, wenn sie kontextuell angezeigt erscheint.65 Etymologische Grundlagen des Angstbegriffs. Ein hilfreicher Zugangsweg zur Definition des Angstbegriffs ist – wie bereits angedeutet – sein Etymon, das selbst schon erkennen lässt, was für ein Gefühl es umschreibt: Angst kommt sprachlich von dem Wort »Enge« und weist damit auf Emotionen hin, die als Raumgefühl erlebt werden.66 Die sprachgeschichtlich weit zurückreichenden Wurzeln des Angstbegriffs bestätigen diesen Zusammenhang und lassen sich auch in zahlreichen anderen Sprachen nachweisen.67 Die ursprünglichen Wortbedeutungen wie »eng«, »schmal« und »bedrängend« sind Begriffe räumlicher Begrenzung und Einschränkung und wurden offenbar zur Beschreibung physiologischer Empfindungen angewendet und schließlich in den Sprachgebrauch adaptiert. »Angst« scheint also etymologisch gesehen für Gefühle von physischen Bedrückungen zu stehen, die an Enge und würgende Bedrängung denken lassen. So kann Mario Wandruszka im Zuge seiner vielbeachteten literaturgeschichtlichen Untersuchung des Angstbegriffs resümieren: »Alle psychologischen Intuitionen und metaphysischen Spekulationen über das Wesen der Angst aber können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Wort Angst an sich nichts anderes enthält, als was wir als seinen Lautsinn bezeichnet haben: das Engegefühl, die Bedrängung, Beklemmung.«68

Der Vorteil dieser Angstdeutung ist seine Schwerpunktlegung auf die phänomenologischen Aspekte der Angst und ihren unmittelbaren Niederschlag in Sprache und Kultur. Gerade in dieser deskriptiven Deutung der Angst, die weitgehend ohne psychologische oder philosophische Vorannahmen auskommt, ergeben sich wichtige Berührungspunkte mit der Erfahrungswirklichkeit der Religion. 65 Hinzu kommt, dass Rudolf Otto, dem der Hauptteil der vorliegenden Arbeit gewidmet ist, sich die Unterscheidung von Angst und Furcht ebenfalls nicht zu eigen machte und seinerseits neue Begriffsschöpfungen verwendete, die wiederum eine eigene Wirkungsgeschichte entfalteten. 66  Die Brüder Grimm zitieren zum Stichwort Angst im Deutschen Wörterbuch Martin ­Luther, der in Das schöne Confitemini von 1530 die Angst ebenfalls gerade in ihrer räumlichen Dimension beschrieb: »Angst jm Ebreischen laut, als das Enge ist, wie ich acht das jm Deudschen auch ›Angst‹ daher kome, das enge sey, darin einem bange und wehe wird und gleich geklemmet, gedruckt und gepresset wird, wie denn die anfechtungen und unglück thun, nach dem sprichwort ›Es war mir die weite wellt zu enge‹.« (vgl. WA 31/1, 93,20 ff sowie in geringer orthographischer Abweichung in Grimm, Art. Angst, in: Deutsches Wörterbuch, Bd. 1, 358 f). 67 Zu den Sprachwurzeln des Wortes Angst in den europäischen Sprachen mit der Urbedeutung »Enge« vgl. Wandruszka, Angst und Mut, 15, ebenfalls mit Bezug auf L ­ uther. Die alt‑ und mittelhochdeutschen Wurzeln des Angstbegriffs lassen sich bis ins achte Jahrhundert zurück zu verfolgen, vgl. hierzu Kluge, Etymologisches Wörterbuch, 45. Das Wort Angst lässt sich vom mhd. angest bzw. dem ahd. angust ableiten (Bildungen aus dem indogerm. Ursprung anghu) und bedeutet »eng«, »bedrängend«, »würgend«. Ähnlich lautet die Übersetzung des griechischen ἄγχειν sowie der lateinischen Begriffe angor (»Würgen«, »Angst«) angustus (»eng«, »schmal«) und angustia (»Enge«). 68 Wandruszka, Angst und Mut, 25.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

1.3. Angst als Gefühl für das Selbst‑ und Weltverhältnis des Menschen Die knappen Ausführungen zum Angstbegriff haben gezeigt, dass eine aufwändigere Definition der Angst zwangsläufig an umfassende Vorannahmen und spezifische Zugangsmodi gebunden sein muss. Sowohl empirische wie geisteswissenschaftliche Zugänge zur Angst verfolgen ein ganz konkretes Erkenntnisinteresse, das die Angst mitunter als krankhafte Neurose und biochemischen Prozess untersucht oder als Grundmoment des Weltzugangs und als das Dasein und die Freiheit des Menschen bestimmendes Prinzip deutet. Der Reiz eines theologischen Ansatzes wie demjenigen Rudolf Ottos liegt hingegen gerade in der Erforschung der Binnenperspektive der Religion, die durch eine psychologische oder philosophische Zugangsweise kaum zu gewinnen ist oder zumindest unter deutlichen Vorannahmen zu operieren hätte. Für die vorliegende Untersuchung erscheint es daher sinnvoll zu sein, die sprachlichen bzw. etymologischen Grundlagen des Angstbegriffs, die auf seine unmittelbare Erlebnisdimension zurückgehen, zu Grunde zu legen.69 Angst wird demnach verstanden als ein Überbegriff für eine elementare Weise menschlichen Fühlens, die in Ausdrucksformen der Kultur, der Literatur und der Sprache in mannigfaltigen Erscheinungsformen ihren Niederschlag gefunden hat. Wie Mario Wandruszka zeigen konnte, stehen dabei weder rein psychologische und physiologische Aspekte der Angst im Vordergrund, noch abstrakte ontologische Spekulation, sondern vielmehr eine grundlegende Ebene der Verbindung von Körper und Geist angesichts rätselhafter Gefühle der Bedrohung und innerlichen Bedrückung.70 Gerade in den Ausdrucksformen in Sprache und Kultur erweist sich der Angstbegriff dabei zunächst als nichts weiter denn als übergeordneter Kategorienbegriff für eine kaum überschaubare Zahl von Zustandsbeschreibungen, in denen sich das Gewahrwerden von Bedrohtheit, Beschränktheit und Bedrückung mit den körperlichen Empfindungen von Enge und würgender Beklemmung verbindet. Hinsichtlich der methodischen Zugangsweise zur Religion bei Rudolf Otto, die im Folgenden ausführlich zur Sprache kommt, ergibt sich hier eine gewisse Parallele: Auch Otto geht – wie sich noch zeigen wird – in seiner Analyse der Religion von den facettenreichen Ausdrucksformen der seelischen und körperlichen Erlebniswirklichkeit der Religion und ihrem Niederschlag in Sprache und Kultur aus, bevor er deren Übersetzung in theologische Begriffe untersucht.71 Auf philologische und linguistische 69 Die Verwendung des Begriffs Angst als übergeordneter Terminus jenseits der Debatten um die Angst-Furcht-Unterscheidung hat sich vielerorts bewährt. So beispielsweise ausdrücklich in dem Sammelband von Wiesbrock (Hg.), Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst. Vgl. hier bes. Wiesbrock, Einführung, 15 f. 70  Vgl. Wandruszka, Angst und Mut, 13–80 und Baeyer /Baeyer-Katte, Angst, 24. 71 Vgl. hierzu besonders die Auswertung von Ottos Hauptwerk Das Heilige, in dem er eine eigene Sprache für die Beschreibung angstvoller Momente im religiösen Erleben entwickelt (siehe hierzu unten im Zweiten Teil, Kap. III, 2.).

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Feinheiten wie einer Unterscheidung von Angst und Furcht wird unterdessen im Folgenden bewusst verzichtet, um im Angstbegriff einen Grundbegriff für die unter ihm versammelten Assoziationen und Erfahrungen in ihrer Gesamtheit zu erhalten. Doch was wird unter Angst als Kategoriebegriff verstanden? Die Stärke des Angstbegriffs ist gerade seine Universalität und Interdisziplinarität. Die Bedeutung der Angst ist daher wohl am besten erfasst, wenn sie in ihrer Ambivalenz und Vielschichtigkeit belassen und in den unterschiedlichen Ausdrucksformen in Sprache und Kultur dargestellt wird. Die universale Bedeutung der Angst ergibt sich dabei aus einem spannungsvollen Zusammenspiel von körperlich fühlbaren Momenten der Bedrohung wie aus natürlichen Überlebensinstinkten, psychischen Phänomenen und schließlich aus einer kaum fassbaren Sinnbedrohung menschlichen Lebens überhaupt in der Vorstellungskraft.72 Es geht bei der Angst also letztlich um das Weltverhältnis des Menschen im Modus der Bedrohung und Ohnmacht, das sich – so abstrakt es als Gedanke auch sein mag  – in räumlichen Körperempfindungen der Enge zeigt.73 Zugleich scheint es um ein Selbstverhältnis des Menschen zu gehen, der in der Angst mit seiner Endlichkeit, Begrenztheit und mit der Frage nach dem Sinn seines Daseins konfrontiert wird. Hinsichtlich der Religion stellt sich im Folgenden grundsätzlich die Frage nach den Ähnlichkeiten und Unterschieden des in der Angst erlebten Welt‑ und Selbstverhältnisses zu den Momenten der Angst im religiösen Erleben und seinen Ausdrucksformen in der Religionsgeschichte.

2. Das Verhältnis von Angst und Moderne Die überwiegende Mehrheit der Angstdeutungen in den vergangenen hundert Jahren hat den Angstbegriff in besonderer Weise mit der Moderne in Zusammenhang gebracht. Der vorliegende Versuch einer theologischen Auseinandersetzung mit der Angst unter Berücksichtigung der Theologie‑ und Geistesgeschichte des frühen 20. Jahrhunderts – der Zeit Rudolf Ottos – hat sich demnach mit der Frage auseinander zu setzen, was genau die Verbindungslinien zwischen Angst

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 Vgl. hierzu Habermas, Résumé, 150 ff.  Der schweizerische Psychiater Gion Condrau macht deutlich, dass Angst als Gefühl überdies strenggenommen gar nicht isolierbar und kategorisierbar ist. Der Angstbegriff muss demnach zwangsläufig ein Überbegriff sein, unter dem alle diejenigen Gefühle und Empfindungen versammelt sind, die unter die Grunddefinition der Angst als »ein auf Bedrohung gestimmtes Weltverhältnis« fallen (vgl. Condrau, Zur Phänomenologie der Angst, 34). Die Differenzierungen unterschiedlicher Modi der Angst und die Auseinandersetzung mit ihren unterschiedlichen Erscheinungsformen sind demnach nicht einfach unter Begriffsunterscheidungen wie Angst und Furcht zu fassen, sondern in ausführlicher Argumentation zu begründen. Vgl. hierzu beispielsweise die Unterscheidung »vitaler« und »existentieller« Angst in Blankenburg, Vitale und existentielle Angst, 43–73. 73

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

und Moderne ausmacht und inwiefern sie heute für eine Deutung des Angstbegriffs selber vorausgesetzt werden können und müssen. Die Schwierigkeit besteht jedoch bereits darin, den Begriff der Moderne näher zu bestimmen, denn ähnlich wie der Begriff der Angst ist der Begriff der Moderne bis heute ein interdisziplinär vieldiskutiertes und umstrittenes Problem. Um in der nicht ansatzweise überschaubaren Flut von Deutungsansätzen zum Begriff der Moderne einen Überblick zu bekommen, sollen im Folgenden zunächst anhand einiger Schlagworte wenigstens die Grundzüge der Debatten aufgezeigt werden, die für das Verständnis des modernen Angstbegriffs wichtig erscheinen. In drei weiteren Schritten soll dann das Verhältnis von Angst und Moderne näher bestimmt werden, zunächst anhand der These, dass der Angstbegriff in der Moderne erst eigentlich entdeckt und in seiner Bedeutung erfasst wurde, anschließend anhand der These, dass die Moderne überhaupt eine eigentümliche Form der Angst erst entstehen ließ und schließlich in der Erörterung der Frage, inwiefern die Moderne als »Zeitalter der Angst« gelten kann. 2.1. Der Begriff der Moderne im interdisziplinären Kontext – eine Übersicht Verschiedenste Epochen, historische Ereignisse und Entwicklungen werden mitunter als Geburtsstunde der Moderne angegeben.74 Schnell wird jedoch deutlich, dass derartige Ansätze dem Begriff Moderne kaum genügen können. Die Kriterien für das genuin »Moderne« an einer Erfindung, Epoche oder Idee fallen ebenso auseinander wie die zeitlichen Datierungen der jeweiligen Epochengrenzen. Die Moderne schlicht als historische Epoche behaupten zu wollen, erntet aus diesem Grund zu Recht heftigen Widerspruch.75 Der Versuch, einen »Angstbegriff der Moderne« herauszuarbeiten, kann also – soviel wird schon hier deutlich – keinen allein historischen oder zeitlichen Epochenrahmen zum Ergebnis haben. Jürgen Osterhammel hat im Schlusskapitel seines vielbeachteten Werks zur Geschichte des 19. Jahrhunderts diesbezüglich auf die Problematik aufmerksam gemacht, der sich jede Deutung der Moderne ausgesetzt sehen muss: Sie hat zwangsläufig zwischen einer umfassenden Geschichtsdeutung von der Aufklärungszeit bis in das 20. Jahrhundert und den Modernetheorien der Soziologie und Philosophie der Gegenwart zu vermitteln und ist dabei stets der Gefahr ausgesetzt, eine allzu eingeschränkte oder subjektive Perspektive einzunehmen.76 74 Zu den hierfür angeführten Ereignissen, Entdeckungen, Erfindungen und Entwicklungen von der Renaissance über die Französische Revolution bis zu den Ereignissen des frühen 20. Jahrhunderts vgl. Bell, Zur Auflösung der Widersprüche, 22 ff. Zum Problem der Definition der Moderne und ihrer Eingrenzung vgl. Osterhammel, Die Verwandlung, 1282 ff. 75 Vgl. zur Kritik aus historischer Perspektive: Schulze, Ende der Moderne, 69 ff. 76  Vgl. grundsätzlich zum Verhältnis der Moderne zur Geschichte des 19. Jahrhunderts: Osterhammel, Die Verwandlung, 1279 ff. Osterhammel macht besonders die Kontextualität der Modernetheorien deutlich. Einzelne Aspekte der Moderne, Ereignisse und Epochengrenzen sind demnach nur verständlich, wenn sie an historische oder anderweitige Referenzpunkte

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Aufschlussreicher sind daher jene Entwürfe, die sich dem Begriff der Moderne weniger im Sinne einer historischen Epochenabgrenzung, sondern in Gestalt einer gegenstandsbezogenen Charakterisierung anzunähern versuchen. Gemeint sind damit diagnostische Deutungen der Moderne als eines womöglich sogar epochenübergreifenden Lebensgefühls, eines spezifischen Krisenbewusstseins oder eines bestimmten Wandlungsprozesses von wirtschaftlichen, sozialen und politischen Verhältnissen.77 Hinsichtlich des Angstbegriffs ist in diesem Sinne besonders eine mentalitätsgeschichtliche Perspektive auf die Moderne interessant, die die Summe der Transformationsprozesse der Moderne im Modus eines grundlegenden »Bewusstseinswandels« zu beschreiben versteht, der die abendländischen Kulturen und Gesellschaften nachhaltig prägte.78 Zur näheren Bestimmung jenes Bewusstseinswandels und Lebensgefühls steht wiederum eine Vielzahl von Deutungsangeboten zu Verfügung. Schon im Wortsinn des Begriffs »Moderne« selbst schwingt der Gedanke mit, die vielschichtigen Wandlungsprozesse in Kultur und Gesellschaft des 19. und 20. Jahrhunderts selbst schon als ihr entscheidendes Charakteristikum zu begreifen.79 Beschrieben wurde dies häufig fixiert und damit in ihrer Perspektive plausibel gemacht werden können (vgl. Osterhammel, 1282). Besonders intensiv wurde die Diskussion um die genaue Bestimmung des Begriffs der Moderne in der jüngeren Vergangenheit im Zusammenhang mit der sogenannten »Postmoderne-Diskussion« geführt. Vgl. zur Diskussion generell: Welsch (Hg.), Wege aus der Moderne. In dieser vorwiegend von Philosophen und Soziologen geführten Debatte wurde vor allem versucht, das »Wesen der Moderne« im Sinne des gesellschaftlichen Selbstverständnisses und Menschenbildes als Diagnose zu ermitteln. 77 Vgl. Figal, Art. Moderne, 1376 f. und hierzu auch Aylesworth, Art. Postmodernism (Onlineausgabe): »The later nineteenth century is the age of modernity as an achieved reality, where science and technology, including networks of mass communication and transportation, reshape human perceptions«. Eine denkbare Variante der epochenübergreifenden Modernedeutung im Kontext der Angst ist beispielsweise diejenige von Jan Philipp Reemtsma, der die Moderne an den Begriff der kulturellen Krise bindet. Moderne ist demnach »im Großen und Ganzen jene europäisch-atlantische Kultur, die aus den Krisen des 16. und 17. Jahrhunderts hervorgegangen ist« (vgl. Reemtsma, Vertrauen und Gewalt, 23). Ähnlich vertritt Dietrich Korsch, der die Bedeutung der Moderne für die Theologie des frühen 20. Jahrhunderts – insbesondere im Hinblick auf die als »Theologie der Krise« betitelte Dialektische Theologie – intensiv untersucht hat, die These, »daß sich im Erfahrungsraum der Zeit nach der russischen Oktoberrevolution von 1917 und nach dem Ersten Weltkrieg objektive Krisenlage und subjektives Krisenbewußtsein aufs intensivste miteinander verknüpft haben.« (vgl. Korsch, Dialektische Theologie, 24). 78  Vgl. hierzu Bell, Zur Auflösung, 28. Bell deutet hier den »Bewusstseinswandel« am Beispiel Hegels und Fichtes und sieht das moderne »Verlangen nach Autonomie« (a. a. O., 33) seit der Französischen Revolution in drei Bereichen ausgedrückt: Individualisierung und Autonomie fallen in den philosophisch-kulturellen Bereich, Marktwirtschaft und Kapitalismus betreffen den Bereich Wirtschaft und in der Politik drückt sich der Geist der Moderne vor allem in einer vielschichtigen Liberalisierung aus (a. a. O., 23 ff). 79  Vgl. Welsch, Unsere postmoderne Moderne, 46 ff zum Begriff der Moderne und a. a. O., 91 ff zur Moderne als »Traditionsbruch und Innovationsschritt«. Zu den modernen Umbruchs‑ und Wandlungsprozessen in Industrie, Wirtschaft, Gesellschaft, Politik, Medien etc. und ihrer Vorgeschichte vgl. erneut exemplarisch Osterhammel, Die Verwandlung, 1282 ff. Vgl. hierzu

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

als ein in allem Leben treibendes Prinzip der Selbsterhaltung und der stetigen Erneuerung,80 das schließlich zu einer Art programmatischem Imperativ der Moderne avancierte, dem Streben nach Individualität und Autonomie.81 Der Drang moderner Kultur nach unabgeschlossener Diesseitigkeit und Gegenwärtigkeit82 sowie ihr Anspruch, traditionelle Formen und Institutionen zu überwinden – das übergeordnete Stichwort ist der Begriff der Säkularisierung83  – führt den Menschen in der Moderne in ein höheres Maß der individuellen Selbstwahrnehmung, beziehungsweise in ein nicht unproblematisches reflexives Moment, das Jürgen Habermas als modernes Prinzip der Subjektivität bezeichnet hat.84 Soziologische Aspekte der Politik, Industrie, Technik, Wissenschaft und Kultur fallen in der Moderne folglich in besonderer Weise mit mentalitätsgeschichtlichen und überhaupt mit emotionalen Gegenwartsdeutungen zusammen, was besonders am Beispiel des Angstbegriffs deutlich wird. 2.2. Die Moderne als Epoche der Entdeckung der Angst Eine mögliche Erklärung dafür, dass der Angstbegriff in den Theorien der Moderne eine derart herausragende Rolle spielt und auch mit der klassischen modernen Kunst und Literatur aus dem frühen 20. Jahrhundert in Zusammenhang gebracht wird, ist die moderne Perspektive, die sich hinsichtlich des Angstphänomens ergab. Die bereits beschriebenen Zugänge zum Verständnis menschlicher Emotionen durch die neuen Erkenntnisse der Psychologie und Psychoanalyse, sowie durch die aufkommenden Gesellschaftswissenschaften ließen demnach viel eingehendere und intensivere Blicke auf die Angst zu und erforderten eine unter dem Leitbegriff der Säkularisierung mit dem Verweis auf wichtige Theoretiker der Moderne (insbesondere Wilhelm Dilthey, Ernst Troeltsch und Max Weber sowie Georg Simmel), Barth, Säkularisierung und Moderne, 144 ff. 80 Eine bezeichnende Definition zum Innovationsanspruch der Moderne im Hinblick auf die Theologie gibt Trutz Rendtorff, wenn er schreibt: »Als Moderne ist das Bewußtsein einer Epoche qualifiziert, in der gesellschaftliche Erfahrungen mit dem Anspruch verbunden sind, auf ihre Neuartigkeit hin ausgelegt zu werden« (Rendtorff, Theologie in der Moderne, 13). 81 In diesem Zusammenhang kann Ernst Troeltschs Charakterisierung der »modernen Welt« als »Befreiung des Individuums zu originaler und autonomer Schaffenskraft« als wegweisend gelten (vgl. Troeltsch, Das Wesen des modernen Geistes, 37). Als Beispiel für gegenwärtige strukturelle Theorien der Moderne vgl. u. a. die soziologische Studie zur Moderne als Prinzip der sozialen Beschleunigung von Hartmut Rosa: Rosa, Beschleunigung. 82 Vor allem in ihrem Charakter der »Relativität und Vorläufigkeit« ist das »moderne Projekt« folglich nach Meinung vieler bis heute unabgeschlossen. Vgl. hierzu Meier, Die Moderne begreifen, 7 und 16 ff. Heinrich Meier sieht in der Postmoderne demnach keinen zeitlichen »Nachfolger« der Moderne, sondern eher einen theoretischen Gegenentwurf (vgl. a. a. O., 8). 83 Vgl. hierzu aus der jüngeren Vergangenheit u. a. die Werke von Charles Taylor und – insbesondere im Hinblick auf die Religion in der Moderne – von Hans Joas. 84 Habermas sieht eben dieses Prinzip seit Hegel »als das Prinzip der neuen Zeit – die Subjektivität« an, welches schließlich mit Nietzsche – der »Drehscheibe zur Postmoderne« – in die Krise gerät, vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs, 27 (kursiv im Original).

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wissenschaftliche Differenzierung des Angstbegriffs. Dies hatte offenbar zur Folge, dass die Angst auf faszinierende Weise und in nie zuvor dagewesener Tiefe zur Darstellung kam und dementsprechend sowohl in öffentlichen Debatten, als auch in Wissenschaft und Kultur in höchstem Maße präsent war.85 Verstärkt wurde dieser Sachverhalt durch die bereits beschriebenen Wandlungsprozesse und das Lebensgefühl der Moderne selbst. Wie die Kunst und Literatur der Moderne zeigen, wurden die fundamentalen Umwälzungen von Gesellschaft und Weltbild im Zuge der großen Krisen des frühen 20. Jahrhunderts besonders in ihrer auf das Individuum gerichteten Wirkung wahrgenommen. Die Angst wurde dabei in offensichtlich besonders intensiver Weise als Symptom der Gegenwart im Sinne eines kollektiven Lebensgefühls erlebt.86 Die Säkularisierungsprozesse der Moderne und die »Entzauberung« jahrhundertealter Norm‑ und Wertvorstellungen ließen damit – so könnte man zusammenfassen – die Angst des Menschen um sich selbst förmlich als Gefühl für die Abgründigkeit und Bedrohtheit menschlichen Lebens angesichts des Problems des Wegfalls von sinn‑ und wertstiftenden Fundamenten flächendeckend in der Kultur hervortreten. Auf die neue, überaus intensive und interdisziplinäre Perspektive der Moderne auf die Angst hat mit besonderem Nachdruck Viktor Emil von Gebsattel in seinem vielbeachteten Aufsatz zur Anthropologie der Angst von 1951 hingewiesen, der zugleich als repräsentatives Beispiel für die Vielzahl von gegenwartsdiagnostischen Angsttheorien der Fünfzigerjahre im Rückblick auf die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts gelten kann: »Die Angst hat aufgehört, die private Angelegenheit des einzelnen zu sein. Die abendländische Menschheit überhaupt liegt in Angst und Furcht, ein unbestimmtes Vorgefühl von ungeheuren Bedrohungen erschüttert die Seinsgewißheit der Menschen. Die Aufdringlichkeit des Angstphänomens, seit hundert Jahren stetig zunehmend, hat einen bisher nie erfahrenen Grad erreicht.«87 85 Für einen Überblick über die großangelegten Debatten zur Angst seit den Fünfzigerjahren besonders in den USA vgl. May, The Meaning of Anxiety, XIII. 86  Hierzu einen repräsentativen Überblick zu bieten, ist im Rahmen dieser Studie kaum möglich. In der wissenschaftlichen Fachliteratur sehen Walter von Baeyer und Wanda von Baeyer-Katte in ihrem großangelegten Buch zur Angst in den frühen Siebzigerjahren die Literatur zur Angst in der Moderne als »kaum noch überblickbar« an und fassen die besondere »Zeitgemäßheit des Angstthemas« und seine »Unerschöpflichkeit« im Hinblick auf die interdisziplinäre Debattenlage seit dem Zweiten Weltkrieg zusammen (Baeyer / Baeyer-Katte, Angst, 7 f). Es sei daher auf wenige Beispiele und weiterführende Arbeiten verwiesen. Für die deutschsprachige Literatur kann als herausragendes Beispiel das Werk Franz Kafkas gelten. Zur Interpretation Kafkas als »Dichtung der Angst« vgl. Ries, Angst und Gnosis, 185 ff. Zur Angst in der Literatur der Moderne, insbesondere am Beispiel von Hugo v. Hofmannsthal und Franz Kafka vgl. Keller, Studien zum Phänomen der Angst. Zur Angst als Ausdruck des »Verlusts der Mitte« in der modernen Kunst vgl. Hans Sedlmayrs vielbeachteten Klassiker Verlust der Mitte von 1948. Zur Angst in der modernen Kunst und Kultur gibt einen Überblick: Bourke, Fear. A Cultural History. 87 Der Aufsatz Anthropologie der Angst wurde abgedruckt in Gebsattel, Prolegomena, 378– 389, zum hier angeführten Zitat vgl. a. a. O. 378. Vgl. zu diesem vielzitierten Wort Gebsattels:

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Die Angst demnach als »geheime, untergründige Daseinsverfassung der abendländischen Menschheit auszumachen«,88 hält Gebsattel für das Ergebnis einer »Ganzheitsanschauung« der Angst im Vollzug einer alle modernen Einzelwissenschaften in den Dienst nehmenden »Grundwissenschaft«, die Gebsattel »Anthropologie« nennt.89 Gemeint ist damit eine gerade in der Summe der Perspektiven moderner Wissenschaften und Weltbilder gewonnene neue Sicht auf die den Menschen in seinem tiefsten Wesen bestimmenden Grundprinzipien. Erst in dieser Sicht auf das Phänomen der Angst sind dann auch historische Untersuchungen möglich, die die Angst als Prinzip oder vorherrschendes kollektives Lebensgefühl in früheren Epochen zurückverfolgen. Der Klassiker für eine solche kulturgeschichtliche Deutung der Angst ist das Werk von Jean Delumeau.90 Weitere Studien zur Geschichte der Angst als Kulturphänomen und als Gegenstand der Mentalitätsgeschichte sind in den letzten Jahren auch im deutschsprachigen Raum unternommen worden.91 Im Rahmen eines kultur‑ und geschichtsphilosophischen Entwurfs ist schließlich die bedeutende »Morphologie der Weltgeschichte« von Oswald Spengler zu nennen. In seinem Opus Lang/ Faller, Einleitung: Angst, 8. Gerade die frühen Fünfzigerjahre bilden gewissermaßen den Höhepunkt moderner Angstdeutungen. Einen Überblick aus amerikanischer Perspektive bietet – wie schon erwähnt – Rollo May in seinem vielbeachteten Buch The Meaning of Anxiety von 1950. Unter den zahlreichen Angstdeutungen der frühen Fünfzigerjahre im deutschsprachigen Raum seien nur wenige Beispiele genannt, die als besonders repräsentativ gelten können: Wandruszka, Angst und Mut (1950), und in der Theologie besonders Haendler, Angst und Glaube (1950). 88 Gebsattel, Prolegomena, 386. 89 Vgl. Gebsattel, Prolegomena, 380. 90 Delumeaus zweibändiges Werk La Peur en Occident von 1978 ist die bis heute wichtigste geschichtswissenschaftliche Studie zum Phänomen der Angst und behandelt in erster Linie den Zeitraum vom 14. bis zum 18. Jahrhundert. Der entscheidende Gedanke, den Delumeau dabei verfolgt, ist die Annahme, dass das Phänomen der Angst in seinen unzähligen Schattierungen im Laufe der Geschichte immer wieder zu einem kollektiven Lebensgefühl verdichtet und kulturell verarbeitet wurde. Delumeaus Vorhaben der Darstellung der Angst in ihren historischen Erscheinungsformen ist zugleich auch ein Ausdruck der grundlegenden Verbindung von Angst und Moderne. Denn in Delumeaus umfassender und interdisziplinärer Sicht auf die Angst als Grundgefühl in vergangenen Epochen schwingt zugleich auch eine grundlegende Deutung des Angstbegriffs in der Moderne mit, von welcher aus dann die epochenübergreifende historiographische Untersuchung überhaupt erst möglich ist. Vgl. zu den methodischen Problemen von Delumeaus Studie und zum Problem der historischen Untersuchung der Angst das Einleitungskapitel »Der Historiker auf der Suche nach der Angst« und besonders: Delumeau, Die Angst im Abendland, Bd. 1, 25 ff. 91 Vgl. hierzu die mentalitätsgeschichtlichen Studien von Peter Dinzelbacher (insbes. zur Mentalitätsgeschichte der Angst vgl. die Studien in Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, 275–301). Eine umfassende und materialreiche historische Studie zur Angst mit ausführlichen Verweisen wurde – bezogen auf das 17. Jahrhundert – jüngst von dem Historiker Andreas Bähr vorgelegt (vgl. Bähr, Furcht und Furchtlosigkeit, und als Überblicksdarstellung: Bähr, Die Furcht der Frühen Neuzeit, 291–309). Zum Projekt einer Kulturgeschichte der Angst vgl. die in den letzten Jahren entstandenen Arbeiten von Hartmut Böhme, z. B. jüngst erschienen: Böhme, Einleitung: Zur Kulturgeschichte der Angst, 275–281, sowie Ders., Vom phobos zur Angst, 154–184.

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magnum Der Untergang des Abendlandes prägte Spengler die weltgeschichtliche Deutung einer »ewigen Angst«, einer »Weltangst« im Sinne eines alle Epochen der Menschheit durchziehenden Prinzips menschlicher Kultur.92 2.3. Die Moderne als Epoche der Entstehung der Angst Der Gedanke der Entdeckung einer das menschliche Wesen in seiner Tiefe bestimmenden Angst in der Moderne legt jedoch auch eine noch radikalere Hypothese nahe: Einige Angsttheorien stellen die These auf, die Moderne habe nicht nur eine neue Perspektive auf die Angst gewinnen lassen, sondern es sei durch sie eine ganz eigene moderne Angst überhaupt erst hervorgebracht worden. In diesem Sinne folgert Viktor Emil von Gebsattel, es wolle »uns nicht einleuchten, daß nur eine subtiler entwickelte Fähigkeit im diagnostischen Umgang mit abendländischen Angststörungen die ›Aufdringlichkeit des Angstphänomens‹ in der Gegenwart erklären soll.«93

Gebsattel spricht in diesem Zusammenhang von einem »Endemischwerden der Neurose«94 in der Moderne und sieht im »Überhandnehmen der Angst einen Vorgang von geschichtlichem Ausmaß«, ein sich im Zuge eines flächendeckenden nihilistischen Sinn‑ und Wertverlusts im modernen Lebensgefühl einstellendes Symptom der Zeit überhaupt.95 Angst wird demnach also in der Moderne nicht erst entdeckt, sondern sie entsteht dieser These zufolge überhaupt in und durch die Moderne in einer Weise, die zuweilen als »abendländische Krankheit« bezeichnet wurde.96 Sie wird zum Symptom eines Lebensgefühls und eines Weltgeschehens, das sich von allen bisherigen Epochen abhebt in Form eines völlig neuen Menschenbildes.97 Die Entstehungsbedingungen und Ursachen jener 92 Vgl. Spengler, Der Untergang, 107 u. a., sowie Spenglers späte Schrift Jahre der Entscheidung von 1933, wo er den Angstbegriff besonders auf die moderne Gegenwart als »allgemeine Angst vor der Wirklichkeit« zuspitzt (vgl. Spengler, Jahre der Entscheidung, 25). 93 Gebsattel, Prolegomena, 378. 94  Gebsattel, Prolegomena, 378. 95  Vgl. Gebsattel, Prolegomena, 381. 96 Vgl. den programmatischen Titel des Buchs von Arnold Künzli im Anschluss an Nietzsche und Kierkegaard: Die Angst als abendländische Krankheit. Künzli beschreibt die Angst in seiner Auseinandersetzung mit Kierkegaard in der Perspektive Freud’scher Psychoanalyse als »eine paradigmatische Gestalt«, in der »geistige, physische und psychische Existenz von symptomatischer Bedeutung für den modernen Angstmenschen schlechthin ist, und in deren Leben und Denken sich die Angstproblematik unserer Zeit in sozusagen vollkommener Weise kristallisiert.« (Künzli, Die Angst, 2 f). Vgl. dazu ferner die Monographie von 1947 zur »Angstexistenz als Spiegel der geistigen Krise«: Künzli, Die Angst des modernen Menschen. 97 Der katholische Theologe und Religionssoziologe Paul M. Zulehner meint sogar, das Verhältnis von Angst und Moderne in eine Gleichung bringen zu können: »Je moderner Gesellschaften werden, desto höher ist das Niveau diffuser Ängste« (vgl. Zulehner, Angstlust, 54 f). Abgesehen davon, dass eine solche Theorie kaum überprüfbar ist, stellt sich jedoch hier die Frage, wie man sich die Steigerung der Modernität einer Gesellschaft und ein kollektives Niveau von Ängsten vorzustellen hat.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

genuin modernen Angst werden dabei genau in denjenigen Säkularisations‑ und Transformationsprozessen gesucht, die von den Klassikern der Modernetheorie eindrücklich als Momente der Individualisierung und der Autonomie beschrieben wurden.98 Berühmt geworden ist beispielsweise das Diktum Max Webers: »Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt.«99 Jene Entzauberung der Welt, die in der Moderne neu gewonnene Freiheit durch die Auflösung traditioneller Ordnungen, Werte und Weltbilder hin zum Anspruch autonomer Selbst‑ und Weltdeutung führt demnach – so die vielvertretene These – in ein immer haltloseres Zurückfallen des Menschen auf sich selbst und erzeugt damit eine nie dagewesene diffuse Welt‑ und Lebensangst, die damit ein gesellschaftliches, ein kollektives Phänomen wird.100 In philosophischer Tradition hat man diesen Gedanken später bis in den Deutschen Idealismus zurückverfolgt und besonders im Spätwerk Friedrich Wilhelm Joseph Schellings erste Anzeichen jenes Umbruchs im abendländischen Denken gesehen,101 der  98  Hier einen repräsentativen Überblick zu geben, ist kaum möglich. Es sei daher auf einige Beispiele verwiesen, die als Auslöser einer kollektiven modernen Angst gelten könnten, z. B. der »Wegfall konsensfähiger Ordnungsmodelle« im Zuge »sozialer Ausdifferenzierung« und der daraus resultierende Verlust an Sicherheiten und vertrauten Strukturen der Gesellschaft (vgl. Barth, Säkularisierung und Moderne, 144 ff).  99 Weber, Wissenschaft als Beruf, 596. Zum ausführlicheren Zusammenhang von »wissenschaftlicher Rationalisierung« und »Entzauberung der Welt« in Webers berühmtem Münchner Vortrag »Wissenschaft als Beruf« von 1919 vgl. Löwith, Max Webers Stellung zur Wissenschaft, 427 f. Zur Diskussion der Weber-Vorträge Wissenschaft als Beruf und Politik als Beruf als »Schlüsseltexte […] auf zentrale Fragen der modernen Kultur« vgl. Schluchter, Handeln und Entsagen, 9 ff. 100  Zur Angst als sozialem Phänomen und der genuin »modernen« Angst als Folge der Rationalisierungsprozesse im Sinne Max Webers vgl. Schoene, Zur Frühgeschichte der Angst, 113– 134, bes. 121: »Die ›moderne‹ Angst ist integrierender Bestandteil des Prozesses der ›Durchrationalisierung‹ der Gesellschaft«. Dieter Henrich weitet dies auf den Geschichtsbegriff in der Moderne aus: Die Autonomie der Moderne werde zum Motor der Selbsterhaltung, da sich das Selbst im freien Spiel der Geschichte selbst überlassen bleibe: »in moderner Erfahrung und Begrifflichkeit wird Geschichte zu einem Geschehen, das unverfügbar es selber ist, nicht auferlegt und vorgeschrieben, – nichts als ein Spiel der Selbsterhaltung, der Vergewisserung seiner selbst« (Henrich, Selbsterhaltung und Geschichtlichkeit, 313). 101 Es sei vor allem auf Schellings Freiheitsschrift verwiesen und hier besonders auf den vielzitierten Satz: »Die Angst des Lebens selbst treibt den Menschen aus dem Zentrum, in das er geschaffen worden« (Schelling, Philosophische Untersuchungen über das Wesen, 381). Zu der philosophiegeschichtlichen Bedeutung Schellings für den Angstbegriff vgl. u. a. Schulz, Das Problem der Angst, 13–27 (zu Schelling bes. 17 ff) und Demmerling / Landweer, Philosophie der Gefühle, 76 ff. Im Frühwerk Paul Tillichs nimmt Schelling eine zentrale Stellung ein. Tillich spricht hinsichtlich der Bedeutung Schellings für die Moderne von einer regelrechten »existentialen Wendung in Schellings Spätphilosophie« (Tillich, Schelling und die Anfänge, 135). Gleichwohl sah Tillich Schellings Philosophie angesichts seiner Erfahrungen im Ersten Weltkrieg an ihre Grenzen stoßen (vgl. Tillich, Auf der Grenze, 34). Für Tillichs Angstbegriff markiert Schelling demnach eher den Ausgangspunkt, von dem aus dann besonders Kierkegaard, Nietzsche und später dann die Existenzphilosophie wichtig wurden. Zu der exis-

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dann mit Søren Kierkegaard und besonders mit Friedrich Nietzsche vollends zum Auf‑ und Durchbruch kam.102 Die Stärke der These einer dezidiert erst durch die Moderne ausgelösten und hervorgebrachten Angst ist ihre eindrucksvolle Betonung des modernen Lebensgefühls und seiner kulturellen Erscheinungsformen. Demgegenüber ist aber auch auf problematische Punkte hinzuweisen. Es ist historisch kaum beweisbar, dass die Menschen früherer Epochen nicht – jeweils in ihrer kulturellen Ausdrucksleistung – ebenfalls jenes Angsterleben kannten, das für die Moderne beansprucht wird.103 Hinzu kommt, dass die These von der »Modernen Angst« ganz offensichtlich zu einer gewissen Überbetonung neigt, die schon Paul Tillich als »Klischee« bezeichnete.104 Eine so vielschichtige Zeit wie jene Jahrzehnte des frühen 20. Jahrhunderts im Kern auf ein einziges kollektiv hervorgebrachtes Gefühl reduzieren zu wollen, erscheint übertrieben.105 2.4. Die Moderne als »Zeitalter der Angst«? Die dargestellten Modelle zur Verhältnisbestimmung von Angst und Moderne lassen sich  – ganz gleich, wie man sie im Einzelfall bewerten mag  – unter ein zusammenfassendes Motto bringen, das besonders seit den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts weit verbreitet ist: Die Bezeichnung der Moderne als »Zeitalter der Angst«. Ein derart pauschales Urteil mag für Historiker eine Zumutung und für die Moderne eine allzu enge Zuschreibung sein, dennoch war es sicherlich kein Zufall, dass sich der Ausdruck in einer derart breiten Öffentlichkeit durchsetzen konnte. Nach dem Zweiten Weltkrieg trug vor allem Wystan H. Auden durch sein 1948 erschienenes, vielrezipiertes Werk The Age of Anxiety dazu bei, dass nahezu eine ganze Generation von Künstlern und Schriftstellern den Begriff Angst zu einer Art Überschrift ihrer kulturellen Gegenwart und zum Inbegriff ihrer modernen Selbstwahrnehmung erhob.106 Die Behauptung, ein »Zeitalter der tenzphilosophischen Wende in Tillichs Denken vgl. Tillich, Die theologische Bedeutung von Psychoanalyse und Existentialismus, 304–315. 102 Vgl. Habermas, Der philosophische Diskurs, 104. 103 Vielmehr wird immer wieder ausdrücklich auf das Gegenteil hingewiesen: Zur Angst als »Elementarreaktion des Lebendigen« vgl. Böhme, Religion und Kulturtheorie, 221. 104  Vgl. Tillich, Der Mut zum Sein, 35. 105 Nicht ohne Polemik bringt dies Mario Wandruszka auf den Punkt, wenn er schreibt: »Der Vulgärexistentialismus unserer Tage hat diese ›existentielle Angst‹ auf alle Straßen und Plätze getragen. Der Mensch ist Angst, heißt es. In der Angst erkennt sich das Sein. Ich ängstige mich, also bin ich.« (Wandruszka, Angst und Mut, 35). 106 Das Werk, das 1948 mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet wurde, erschien in deutscher Sprache unter dem Titel Das Zeitalter der Angst. Auden schildert hier die Moderne als eine Zeit, in der »jeder zu einem schattenhaften Dasein der Angst gezwungen und auf den Zustand einer displaced person reduziert ist, wenn selbst die Vorsichtigsten zu Verehrern des Zufalls werden« (Auden, Das Zeitalter der Angst, 21). Zu den zahlreichen Dichtern und Künstlern, die von

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

Angst« zu sein, hängt der Moderne seither bis heute an. Schon die Häufung von Schriften zum Angstbegriff in den Fünfzigerjahren scheint die These vom »Zeitalter der Angst« zu bestätigen. In keinem anderen Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts entstand mehr Literatur zur Angst und selten wurde der Angstbegriff so sehr auf die gegenwärtige Zeitsituation bezogen wie damals.107 Auch in Literatur und Kunst wurde die Angst förmlich als eine Art hermeneutischer Schlüssel zur Deutung der Gegenwart verstanden.108 Verstärkt wurde dies im Rückblick auf die jüngste Geschichte und die abgründigen Katastrophen der Kriege und Gräuel in der ersten Jahrhunderthälfte, insbesondere auf den Ersten Weltkrieg als der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts.109 Ganz gleich, ob nun die Angst eine EntAuden inspiriert wurden, gehört auch z. B. Leonard Bernstein, der 1948/49 seine Symphony No. 2 unter dem gleichen Titel wie Audens Werk komponierte. In Der Mut zum Sein führt Paul Tillich wenige Jahre später das Hauptwerk Audens neben den Werken von Albert Camus, Franz Kafka, Arthur Miller, Jean-Paul Sartre und Tennessee Williams als literarische Diagnose der Moderne an, die ihre Gegenwart beschreibt als eine »Welt der Angst, […] in der die Kategorien, die Strukturen der Wirklichkeit, ihre Gültigkeit verloren haben« (Tillich, Der Mut zum Sein, 111 f, zu Wystan H. Auden vgl. a. a. O., 109 ff). 107  Das große Interesse an der Angst in den Fünfzigerjahren deutet sich bereits nach dem Zweiten Weltkrieg an mit Schriften wie (in chronologischer Reihenfolge mit Erscheinungsjahr in Klammern): Pfister, Das Christentum und die Angst (1944); Auden, The Age of Anxiety (1947); Bovet, Die Angst vor dem lebendigen Gott (1948); Künzli, Die Angst als abendländische Krankheit (1948). Unter der großen Zahl an Schriften zur Angst in den Fünfzigerjahren seien nur einige genannt, darunter besonders diejenigen, in denen auch das Verhältnis zu Religion und Theologie eine Rolle spielt: Haendler, Angst und Glaube (1950); Balthasar, Der Christ und die Angst (1951); Bitter (Hg.), Angst und Schuld (1951); Wandruszka, Angst und Mut (1952); Tillich, The Courage to Be (1952); Brunner, Von der Angst (1953); Richter, Schöpferischer Glaube im Zeitalter der Angst (1954); Keller, Studien zum Phänomen der Angst (1956); Bovet, Angst und Geborgenheit (1956); C. G.  Jung-Institut Zürich (Hg.), Die Angst (1959). Für den englischsprachigen Raum ist besonders die große Debatte zum Angstbegriff zu erwähnen, die in Nord-Amerika geführt wurde. Vgl. besonders den Sammelband Hoch / Zubin (Hg.), Anxiety (1950) sowie das vielbeachtete Werk: May, The Meaning of Anxiety (1950). 108 Ein früher Versuch, sich dem Phänomen der Angst als einem Symptom der Moderne literaturwissenschaftlich zu nähern, ist die 1956 geschriebene Dissertation von Fritz Keller. Angesichts der Flut von Angsttheorien im frühen 20. Jahrhundert stellt Keller fest: »Wenn auch ihre Resultate in manchen Punkten voneinander abweichen, eines steht fest, dass die Angst ein alles Leben bestimmendes Grundmotiv geworden ist.« (Keller, Studien zum Phänomen der Angst, 2). Zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren im Hinblick auf die literarische Auseinandersetzung mit der Angst zählt Keller insbesondere Hugo von Hofmannsthal, Franz Kafka, Rainer Maria Rilke, Wolfgang Borchert und Gertrud von le Fort. Dazu ergänzt er, es sei außerdem die »Angst in grossartigen Gemälden« dargestellt worden von: Werner Bergengruen, Stefan Zweig, Gerhard Hauptmann, Thomas Mann, Arthur Schnitzler, Franz Werfel und Georg Trakl (vgl. Keller, a. a. O., 3). 109 Zum Angstbegriff im Hinblick auf den Ersten Weltkrieg und den Krieg überhaupt vgl. die Studie von Hiery, Angst und Krieg, 167–224. Die gesellschaftlichen und politischen Aspekte der Angst, besonders im Hinblick auf die Moderne, werden in unterschiedlichen Themenzugängen beschrieben in Wiesbrock (Hg.), Die politische und gesellschaftliche Rolle der Angst. Zu der Gegenwartsbeschreibung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg als »Zeitalter der Lebensangst« vgl. Wiesbrock, Einführung, 8.

I. Angst und Moderne

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deckung der Moderne oder ihr Produkt sein mag, ganz offensichtlich wurde die Angst als kollektives Lebensgefühl so sehr verinnerlicht und bejaht, dass es sich als Signatur der Moderne durchsetzen konnte. Über die Zeit des Kalten Krieges hinweg wurde – besonders im Hinblick auf die Bedrohung eines Atomkrieges – noch jahrzehntelang an dem Ausdruck festgehalten, stets mit der Begründung, es stünde die Menschheit an einem Abgrund und vor einer kollektiven Bedrohung, wie sie zuvor noch nicht erlebt wurde.110 Von den Problemen einer pauschalen Psychologisierung der Moderne abgesehen, erscheint der Ausdruck des »Zeitalters der Angst« schon allein deshalb als fragwürdig, weil er eine bedenkliche Verharmlosung früherer Epochen impliziert.111 Es kann der Eindruck entstehen, erst in der Moderne sei Angst durch Weltkriege, Technisierung und Individualisierung als existentielle Erfahrung ins kollektive Bewusstsein getreten. Unterschätzt werden hierbei jedoch weit frühere Ereignisse und Katastrophen, die der Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihrer individuellen wie kollektiven Bedeutung an Schrecklichkeit und Bedrohlichkeit kaum nachstehen.112 Obwohl der Titel »Zeitalter der Angst« offensichtlich nicht unproblematisch ist, weist er aber dennoch auf ein Phänomen hin, das es zu verfolgen lohnt: Im Denken der Moderne ist der Angstbegriff in einer originellen und sehr intensiven Weise in Kunst und Kultur, aber auch in Philosophie und Theologie 110  In den vergangenen Jahrzehnten wurde demnach auch in theologischen Entwürfen zur Angst die Gegenwart als »Zeitalter der Angst« angesehen. Vgl. hierzu Möde, Apokalyptische Endzeitängste, 9–22, sowie Möde, Die Gottesfrage im Zeitalter der Angst, 207–215, wo regelrecht von einer »Wiederkehr« der Angst um die Jahrtausendwende und von einer »neuen Einsamkeit« in den »westlichen Zivilisationen« die Rede ist. Seit Ende der Achtzigerjahre verbindet Ulrich H. J.  Körtner den Angstbegriff mit der klassischen Apokalyptik und bezieht dies auf die »Apokalypseblindheit« im »Atomzeitalter« und auf die Angst vor dem drohenden »Weltende« und dem »atomaren Holocaust« (vgl. Körtner, Weltangst und Weltende, 9). In seinem späteren Sammelband zur Angst bezeichnet Körtner »die gegenwärtige Moderne als Zeitalter der Angst« (Körtner, Zur Einführung, 5) sowie als »heimliche Signatur unserer Gegenwart« (vgl. Körtner, Um Trost, 69). Er verfolgt dabei die These, hinter der »bald ausgelassen ›ravenden‹, bald ›megacool‹ sich gebenden Spaßgesellschaft« der Gegenwart rumore eine »Angst vor dem Leben und vor der Einsamkeit« (ebd.). 111 Auf dieses Problem wird auch hingewiesen in Schneider-Flume, Angst und Glaube, 480. Eine besonders schlüssige und aus der Literaturgeschichte belegte Kritik des Ausdrucks des Zeitalters der Angst bietet Alewyn, Die literarische Angst, 39 ff. 112  Zu denken wäre z. B. an den verheerenden Dreißigjährigen Krieg und die anschließenden Pestepidemien, die ganze Landstriche entvölkerten. Jean Delumeau schildert jene immer wieder sich verdichtende Furcht in der europäischen Geschichte vom 14.–18. Jahrhundert in seinem großen Standardwerk La Peur en Occident von 1978. In besonderer Eindrücklichkeit und aufwändiger historischer Analyse führt Andreas Bähr die schier überwältigende Omnipräsenz der Angst und die kaum überbietbare Grausamkeit im 17. Jahrhundert vor Augen (vgl. Bähr, Furcht und Furchtlosigkeit). Zu den besonderen Strukturen von Ängsten der Gegenwart wie Terrorismus (insbes. im Hinblick auf den 11. September 2001), Atomkraft, Finanzkrise, Klimawandel usw. vgl. die Beiträge zu »Konjunkturen kollektiver Angst« in Koch (Hg.), Angst, 283–381.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

wahrgenommen worden. In diesem Sinne ist der Angstbegriff als Titulatur eines Zeitalters nicht allein für die Moderne reserviert. Zahlreiche Studien der letzten Jahrzehnte haben auch andere Epochen der Menschheitsgeschichte als Epochen der Angst beschrieben.113 Als Fazit lässt sich zum Verhältnis von Angst und Moderne festhalten, dass – unabhängig von ihrer genauen Definition und Deutung – beide in einem reziproken Verhältnis zueinander zu stehen scheinen.114 Ganz gleich ob Angst ein genuin modernes Phänomen oder nur ein in der Moderne in besonderer Weise interpretiertes Lebensprinzip ist, steht fest, dass dem Angstbegriff in der Moderne ein herausgehobener Stellenwert eingeräumt wurde und wird. Angst ist – auch wenn sie letztlich als Phänomen so alt ist wie die Menschheit selbst – in der Moderne präsent wie nie zuvor, sie ist »ubiquitär« und kann durch wissenschaftlichen Fortschritt weder eingedämmt noch hinreichend erklärt werden.115 Stefan Zweig schilderte jene Dimension der Angst im modernen Lebensgefühl in seiner bereits um 1910 entstandenen Novelle Angst. Angst wird hier in die Strukturen der bürgerlichen Alltagswelt der Wiener Moderne eingebettet. Am Beispiel einer von Schuldgefühlen getriebenen Frau beschreibt Zweig auf drückende Weise den Vorgang der Verselbstständigung der Angst von einer bloßen Befürchtung und Bedrohung hin zu einem immer diffuseren Strudel der Angst, der kaum noch etwas mit der empirischen Wirklichkeit zu tun hat. Profane Bedrohung wird hier zu einem immer dämonischeren Angstuniversum, das kaum noch zu greifen ist. Im Medium der Kunst wird an einem individuellen Fall beschrieben, was in der Moderne letztlich zu einem »kollektiven Krisenbewußtsein« führte: Vom individuellen Problem wird Angst zu einem kollektiven und epochalen Ereignis.116 Für die Religion, die schon immer auch die Angst des Menschen zum Thema hatte, bedeutet dies eine folgenreiche Verschärfung. Die Theologie sieht sich in der Moderne vor die Aufgabe gestellt, sich zu dem allgegenwärtigen Krisenbewusstsein verhalten zu müssen. Dabei sind ganz unterschiedliche Strategien verfolgt worden: 113 Als Beispiel kann die bekannte Studie von Eric R. Dodds zur Angst in der Antike gelten, in der sich Dodds ausdrücklich auf die These vom »Zeitalter der Angst« bei seinem »Freund W. H. Auden« bezieht (vgl. Dodds, Heiden und Christen in einem Zeitalter der Angst, 19). Zur Betonung anderer Epochen als besondere Epochen der Angst vgl. die Beiträge in Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, 275–301, sowie im Hinblick auf das Problem kollektiver Ängste in Delumeau, Angst im Abendland, insbes. 25 ff. 114 Diese These wurde vom Verfasser bereits vor dem Hintergrund der Kulturtheologie Paul Tillichs vorgeschlagen in: Schüz, Der Begriff Angst, 327–345. 115  Vgl. Lang/ Faller, Einleitung: Angst, 7 ff. 116 Treffend ist es daher, wie Werner D. Fröhlich von einem »Zeitalter der unverdeckten Angst« zu sprechen (vgl. Fröhlich, Angst als psychologisches Problem, 117 und hierzu auch Luhmann, Ökologische Kommunikation, 241).

I. Angst und Moderne

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Die eher konservative theologische Deutung der Angst in der Moderne ist zugleich eine umfassende Modernekritik. Sie versteht die Moderne und ihre Säkularisierungsprozesse als eine Verfallserscheinung des Christentums und seiner Werte in Folge des Autonomiestrebens des modernen Menschen, der sich damit selbstverschuldet in die Haltlosigkeit und Angst begibt. Dies führt zu der These, die allgegenwärtige Angst der Moderne sei geradezu der Preis für die Säkularisierungstendenzen und den damit einhergehenden Glaubensverfall und Atheismus.117 Im Umkehrschluss werden der christliche Glaube und die Kirche als Gegenentwurf zur Moderne verstanden, dem die Kraft zur Heilung und zur Überwindung der Angst innewohnt. Dem gegenüber steht der Versuch, die Angst in der Moderne nicht als ein destruktives, sondern als ein produktives Moment der Religion zu verstehen. Besonders mit Paul Tillich wird ein solcher Ansatz verbunden, der in der modernen Angst eine Korrelation zu den tiefsten Gründen der Religion überhaupt erkennt und die Angst damit nicht als einen zu heilenden, sondern als einen zu bejahenden Grundaspekt menschlichen Lebens begreift.118 Dahinter steht ein kulturtheologisches Anliegen, demzufolge gerade in den kulturellen Verarbeitungsformen der Angst in der Moderne jene religiöse Tiefendimension des menschlichen Wesens existentiell in der Kultur zu Tage tritt, die auf die religiöse Frage nach Sinn und Sinnlosigkeit, nach dem Unbedingten ausgerichtet ist. In beiden theologischen Modellen, sowohl im modernekritischen wie im kulturtheologischen Ansatz, geht es also um eine Verhältnisbestimmung zwischen dem modernem Angstbegriff und der Religion. Eine hiervon nochmals deutlich zu unterscheidende Fragestellung ist jene nach der Bedeutung angstvoller Momente innerhalb der Religion, die im Zweiten Teil dieser Studie ausführlich am Beispiel Rudolf Ottos diskutiert werden soll. Hier geht es dann nicht um eine religiöse Deutung profaner Angst in der Moderne, sondern um angstvolle Momente eines besonderen religiösen Erlebens, das hinter traditionellen Begriffen wie »Gottesfurcht« oder »Zorn Gottes« steht und als geradezu transzendentale Kategorie verstanden wird.

117 Im Protestantismus des 20. Jahrhunderts hat besonders Emil Brunner in seinem Aufsatz zur Angst von 1953 in dieser Weise argumentiert (vgl. Brunner, Von der Angst, 287–301). Brunner schreibt hier, »der moderne Europäer« habe sich selbst an das »Schaltbrett und Steuer« seines Lebens gestellt und sei selber »an die Stelle des christlichen Glaubens von Gott, dem Lenker der Welt« getreten. Er glaube nunmehr »nicht an Gott, sondern an sich selbst« und bekomme es aus diesem Grund mit der Angst zu tun (vgl. Brunner, Von der Angst, 289 ff). In katholischer Perspektive argumentiert im gleichen Jahr ganz ähnlich Hans Urs von Balthasar, der die Moderne als Quelle einer Angst ansieht, die im Glauben geheilt werden kann (vgl. Balthasar, Der Christ und die Angst). 118 Zu Tillichs Angstbegriff vgl. u. a. unten im Ersten Teil, Kap. II, 2.2. Zur Verbindung von Angst und Sünde im Protestantismus in der Moderne, insbesondere in den amerikanischen Debatten zur Mitte des 20. Jahrhunderts vgl. grundlegend Finstuen, Original Sin, 13 ff.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

Zuvor soll jedoch im nächsten Kapitel erst noch ein Blick auf die klassischen Hintergründe und Traditionslinien des Verhältnisses von Angst und Religion geworfen werden. Dabei wird sich zeigen, dass es sich bei der Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion nicht um ein spezifisch modernes Problem handelt, sondern um ein die abendländische Geistesgeschichte seit der Antike beschäftigendes Hauptthema.

II. Angst und Religion In der soeben dargestellten Verhältnisbestimmung von Angst und Moderne wurde deutlich, dass die Angst nicht nur ein Affekt unter anderen ist, sondern im vergangenen Jahrhundert einen ganz besonderen Stellenwert für die Deutung der Wirklichkeit überhaupt einnahm. Ähnlich ist es auch um das Verhältnis von Angst und Religion bestellt. Angst ist kein Problemgegenstand der Religion wie jeder andere, sondern sie scheint, wie auch in der jüngeren Forschung immer wieder betont wurde, geradezu das Grundproblem der Religion überhaupt zu sein.119 Dahinter steht der Gedanke, dass die Angst letztlich die emotionale Komponente alljener Grundfragen des Lebens ist, um die die Religion an erster Stelle kreist: Es sind dies die Fragen nach Sinn, Vergänglichkeit, Sterblichkeit und Bedrohtheit des menschlichen Lebens und überhaupt nach dem Problem der Kontingenz. In der Moderne wird die Verbindungslinie zwischen Angst und Religion noch deutlicher. Besonders in der Tradition der Aufklärung und der Religionskritik wird nun das geradezu als Prinzip des Lebens und der Kultur überhaupt gedeutete Phänomen der Angst als Ursache und kausaler Anlass der Religion begriffen und knüpft dabei an einen Gedanken an, der schon in der Antike geäußert wurde. Es handelt sich hierbei um die ebenso einfache wie grundlegende These, die Angst des Menschen biete ihm zugleich den Anlass, Religion hervorzubringen, um in ihr die Angst selbst und ihre Ursachen – jene Fragen und Probleme der Sterblichkeit und Kontingenz – zu verarbeiten und zu bewältigen. Religion ist in diesem Modell eine Folge der Angst und damit ein sekundäres Epiphänomen. Es handelt sich also um eine reduktionistische Hypothese, die Religion auf ihre anthropologischen Aspekte zurückführt. 119 Unter den zahlreichen Ansätzen jüngeren Datums, die der Angst einen besonderen, wenn nicht grundlegenden Stellenwert in und für die Religion einräumen, vgl. beispielsweise die Studien von Hartmut Böhme, der sich dem Problem von Angst und Religion aus kulturgeschichtlicher Perspektive nähert und zu dem Schluss kommt: »Das Grundgefühl, um das es in der Religion geht, ist die Angst« (vgl. Böhme, Himmel und Hölle, 65). In einem forschungsgeschichtlichen Überblick folgern Walter von Baeyer und Wanda von Baeyer-Katte: »Daß der Mensch Angst hat, ist von alters her ein theologisches Problem« (Baeyer / BaeyerKatte, Angst, 14).

II. Angst und Religion

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Schon in der Antike gibt es zahlreiche Beispiele für den immer wieder unternommenen Versuch, das Phänomen menschlicher Frömmigkeit zu erklären und der Ursache der Religion auf den Grund zu gehen. Eine der vielleicht prominentesten und gängigsten Antworten auf die Frage nach dem Ursprung der Religion lautet bekanntlich, es sei die Angst der Anlass, der die Religion ursprünglich und immer wieder entstehen ließ. Die zum Leben dazugehörende und es von Grund auf bestimmende Angst des Menschen vor Bedrohung und Leid, besonders aber die Angst vor dem Ungewissen, dem Tod und dem Schicksal ließ demnach den Menschen in der Religion eine Zuflucht finden. Die Religion ist – so lautet die These – die Antwort der menschlichen Kultur auf das Urproblem der Angst. Bis in die Moderne ist dieser Gedanke immer wieder in unterschiedlichen Spielarten und Absichten aufgegriffen und vorgetragen worden. Dabei berief man sich wiederholt auf jene bereits genannte, griffige Formel, die seit der Antike gleich einem Motto für eine religionspsychologische Entstehungshypothese der Religion – dem Gedanken der Hervorbringung der Religion als Folge der Angst – überliefert wurde: »Primus in orbe deos fecit timor«. Jener Ausruf, als erstes in der Welt habe die Angst die Götter hervorgebracht, ist bis heute besonders in religionskritischen Schriften und in fast allen Studien zum Verhältnis von Angst und Religion derart oft und selbstverständlich zitiert worden, dass seine genaue Herkunft dabei häufig nur noch ungenau und widersprüchlich angegeben wird. Es handelt sich offensichtlich nicht um ein prominentes Apophthegma, sondern um eine mehr oder minder beiläufige Bemerkung, von der heute kaum mehr mit Gewissheit zu sagen ist, wann und wie sie ursprünglich entstanden sein mag. In den meisten Fällen wird die Thebais des Publius Papinius Statius als Quelle genannt.120 Ursprünglich zugeschrieben wird das Zitat jedoch Titus Petronius Arbiter, den Statius womöglich wiedergibt. Bei Petronius ist der Ausspruch in einem Gedicht der Fragmente des Satyricon überliefert.121 Ob auch wiederum er den Vers anderweitig übernommen hat, wird diskutiert, ist aber nicht eindeutig zu klären.122 Wie auch immer man den Ausspruch genau datieren und zuweisen mag, es steht letztlich fest, dass das »Primus in orbe deos fecit timor« des Petronius als ein über Jahrhunderte immer wieder als Klassiker herangezogenes Paradigma der Verhältnisbestimmung von Angst und Religion gelten kann.123 120

 Vgl. Statius, Thebais III, 661. So z. B. zitiert in: Burkert, Kulte des Altertums, 46; Benz, Die Angst in der Religion, 189 sowie Wandruszka, Angst und Mut, 71. 121 Vgl. hierzu Petronius, Fragment XXVIII, 1, nach der Chronologie und Zählung der Fragmente von Konrad Müller, in: Müller (Hrsg.), Petronii Arbitri Satyricon Reliquiae, 184 (= in der klassischen Ausgabe von Franz Bücheler: Fragm. XXVII, 1.). 122 Zur mutmaßlichen Rückführung des Petroniuswortes auf Lukrez vgl. Schröder, Ursprünge des Atheismus, 225 und Gladigow, Konkrete Angst, 64 ff. 123  Vgl. zur Einordnung und Wirkungsgeschichte: Stietencron, Von der Heilsträchtigkeit, 21 und besonders Schröder, Ursprünge des Atheismus, 153 und bes. 225. Winfried Schröder bezeichnet, indem er die weitläufige – und teilweise auch oberflächliche – Rezeptionsgeschichte umreißt, den Petronius-Vers treffend als das geradezu »leitmotivische Motto«

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

Die hinter jenem Paradigma stehende Idee wird heute in der Forschung überwiegend im Kontext antiker Aufklärungstendenzen interpretiert.124 Es geht um den Gedanken einer Reduktion religiöser Vorstellungen auf Kompensationsstrategien in Folge von psychischen bzw. emotionalen Angsterfahrungen.125 Angst und Religion stehen nach dem Programm des »deos fecit timor« in einem kausalen Verhältnis: Die Angst des Menschen, ausgelöst durch Katastrophen, Sterblichkeitsbewusstsein oder unverstandene Naturphänomene, ist somit der Anlass für die phantasievolle Herausbildung von mächtigen Götterbildern oder Jenseitsvorstellungen, die gleichsam als Kanalisierung oder Beschwichtigung der Angst fungieren. Das Kausalverhältnis zwischen Angst und Religion wird dabei in erster Linie – wie schon in dem Vers des Petronius deutlich wird – einseitig vorgestellt: Den Ursprung bildet – »Primus in orbe« – die Angst, in deren Folge erst sekundär die Götterbilder entstehen. Warum sich gerade Kritiker der Religion bis in die Gegenwart immer wieder auf diesen Gedanken berufen, wird dabei unmittelbar deutlich: Es wird der Religion in dieser aufklärerischen Interpretation zumindest weitgehend der Wahrheits‑ und Selbstständigkeitsanspruch bestritten. Religion wird in letzter Konsequenz lediglich als Bewältigungsstrategie der Angst verstanden. Entscheidend ist dabei die Perspektive, von der aus die Religion in diesem Fall betrachtet wird. Es muss sich um eine Außenperspektive handeln, die nicht aus der Religion heraus, sondern von einem Standpunkt jenseits der Religion deren Ursprung erforscht. Als den Ursprung der Religion eine Ursache vor und jenseits der Religion auszumachen, erfordert zwingend einen kritischen Standpunkt außerhalb der Religion, der es ermöglicht, zwischen der Religion und einer von ihr verschiedenen Ursache zu unterscheiden. Unter dem Motto des »deos fecit timor« wurde bereits in der Einleitung der vorliegenden Studie das hier beschriebene Kausalverhältnis von Angst und Religion aus der Außenperspektive der Religion als erste Perspektive der Verhältnisbestimmung von Angst und Religion beschrieben, dem im weiteren Verlauf im Anschluss an das Werk Rudolf Ottos ein theologischer Gegenentwurf als zweite Perspektive gegenübergestellt werden soll. Es wird nun zunächst der Versuch unternommen, die Rezeptions‑ und Deutungsgeschichte des hier als Paradigma beschriebenen Mottos »Primus in orbe deos fecit timor« wenigstens anhand einiger Schlaglichter bis in die Moderne nachzuvollziehen und darzustellen.

der Religionskritik. Schon Martin Persson Nilsson bezeichnete das »deos fecit timor« des Petronius als »geflügeltes Wort« und »Grundsatz moderner Religionsforschung« (vgl. Nilsson, Geschichte der griechischen Religion 2, 251). 124  Vgl. u. a. Stietencron, Von der Heilsträchtigkeit, 21 ff; Benz, Die Angst in der Religion, 189. 125 Winfried Schröder ordnet den Petronius-Spruch demnach im Kontext antiker Ideologiekritik ein und bezeichnet ihn als »religionspsychologischen Reduktionisimus« (vgl. Schröder, Ursprünge des Atheismus, 153 und im weiteren Zusammenhang a. a. O., 146–155).

II. Angst und Religion

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1. »Deos fecit timor« – Das Kausalverhältnis von Angst und Religion in Antike und Aufklärung Es wurde deutlich, dass in dem vielzitierten Motto »Primus in orbe deos fecit timor« geradezu ein Paradigma vorliegt, das seit der Antike ein kausales Verhältnis zwischen Angst und Religion aus einer Außenperspektive beschreibt.126 Dieser Gedanke ist nun anhand einiger Schwerpunkte zu vertiefen. Zunächst wird ein kurzer Blick auf die Antike geworfen, um deutlich zu machen, in welchen geistesgeschichtlichen Zusammenhängen der Gedanke der Angst als Kausalursache der Religion erstmals deutlich geäußert wurde. Im Zeitalter der Aufklärung ist eine gewisse Renaissance des antiken Gedankens des »deos fecit timor« zu beobachten, die zugleich eine Grundlage für die moderne Religionskritik bildet. Insgesamt geht es in den nun folgenden beiden Abschnitten also weniger um eine umfassende systematische oder historische Darstellung, sondern um eine skizzenhafte Illustration einer ideengeschichtlichen Brücke von der Antike in die Neuzeit, die bis heute die Debatten um das Verhältnis von Angst und Religion mitbestimmt. 1.1. Angst als Kausalursache der Religion in der Antike Die ersten ausgearbeiteten Zeugnisse für eine kritische Interpretation der Religion als Folge der Angst stammen aus dem antiken Griechenland und liegen zeitlich noch deutlich vor dem bei Petronius und Statius überlieferten Diktum »Primus in orbe deos fecit timor«.127 Die Wurzeln der beschriebenen Außenperspektive in der Sicht auf die Religion und ihre mythologischen Gehalte sind, wie schon Aristoteles wusste, in der ionischen Naturphilosophie im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. erstmals erörtert worden und werden meist auf Thales von Milet zurückgeführt.128 Mit Thales und der frühen milesischen Philosophie sind nach heutigem Wissensstand die ersten Impulse greifbar, die man als ionische und im weiteren Zusammenhang als altgriechische Aufklärung bezeichnet.129 Thales’ berühmte Vorhersage einer Sonnenfinsternis im Jahre 585 v. Chr. gilt bis heute als denkwürdiges Ereignis und steht für den Beginn einer neuen 126

 Während theologische Begriffe wie die »Gottesfurcht« in der Religion selbst verankert und nur innerhalb der Religion vollends verständlich sind, ist der Gedanke der Angst als einer kausalen Ursache der Religion hingegen der Versuch, die Religion von außen nach psychologischen bzw. anthropologischen Kriterien zu beurteilen. 127 Zum Hintergrund des Angstbegriffs in der Antike in Philosophie, Literatur und Tragödie vgl. die kulturgeschichtliche Übersicht in: Böhme, Vom phobos zur Angst, 154–167, sowie Spira, Angst und Hoffnung, 203–270 mit einem Überblick zum Problem der Angst von Hesiod bis in die Spätantike. 128 Vgl. dazu Mansfeld, Aristotle and Others on Thales, 109 ff. 129 Zum Gedanken der altgriechischen Aufklärung insbesondere hinsichtlich ihrer epistemolgischen und theologischen Probleme vgl. Barth, Die Geburt der Vernunft, 5 ff. Zur Ver-

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

und gegenüber dem Mythos alternativen Sichtweise auf Naturphänomene.130 Nicht mehr mythologische Ursachen wie der Zorn eines Gottes werden fortan in der frühen griechischen Philosophie als Grund von Naturgewalten und dergleichen angenommen, sondern man ist immer mehr bestrebt, ihre natürlichen Kausalursachen durch Naturforschung zu ermitteln. Dieses Aufklärungsprinzip wurde schon bald nicht mehr allein als Alternative zu religiösen Erklärungen von Naturphänomenen angesehen, sondern richtete sich bei einigen vorsokratischen Philosophen direkt gegen die anthropomorphen Elemente der Religion selbst. Einige wirkungsgeschichtlich wichtige Beispiele seien hierzu kurz erwähnt, die auch für das vorliegende Thema von Bedeutung sind. Einer der bekanntesten frühen Religionskritiker ist Xenophanes, der deutlich in der Tradition der ionischen Aufklärung steht.131 Seine Naturphilosophie führte ihn nicht nur dahin, die mythologische Deutung von Naturphänomenen zu bezweifeln,132 sondern ließ ihn eine regelrechte Projektionshypothese vortragen: Die Götter seien, wie man schon an ihrer sittlichen Lasterhaftigkeit bei Homer und Hesiod erkennen könne,133 letztlich nichts anderes als anthropomorphe Abbilder der Menschen mit all ihren Eigenschaften und Schwächen.134 Scharf unterschieden werden jene Götter bei Xenophanes von dem einzigen »größten« Gott, der allein nicht unter den Anthropomorphismusverdacht fällt.135 Noch offen bleibt in Xenophanes’ Kritik allerdings die Frage nach dem Grund und Anbindung antiker Aufklärungstendenzen in der Philosophie mit dem frühen Christentum vgl. grundsätzlich: Schröder, Athen und Jerusalem. 130 Vgl. hierzu die Überlieferung von Herodot in Diels / Kranz 11 A 5. 131 Jaap Mansfeld beschreibt Xenophanes demnach als »vom aufklärerischen Geiste der ionischen Naturphilosophie durchdrungen« (vgl. Mansfeld, Die Vorsokratiker I, 205). 132   Vgl. z. B.  Diels / Kranz 21 B 32, wo Xenophanes auf die Himmels‑ und Wolkenphänomene hinweist, die sich nach traditioneller Ansicht hinter der Göttin Iris verbergen. 133  Vgl. v. a. Diels / Kranz 21 B 11: »πάντα θεοῖσ’ ἀνέθηκαν Ὅμηρός θ’ Ἡσίοδός τε, ὅσσα παρ’ ἀνθρώποισιν ὀνείδεα καὶ ψόγος ἐστίν, κλέπτειν μοιχεύειν τε καὶ ἀλλήλους ἀπατεύειν.« (vgl. hierzu auch Diels / Kranz 21 B 12). 134  Die wohl berühmtesten Fragmente aus Xenophanes’ Projektionshypothese sind sicher jene, die von Clemens von Alexandrien überliefert wurden (vgl. Diels / Kranz, 21 B 14, 15 und 16) und denen zufolge sich die Unterschiedlichkeit menschlicher Ethnien und Kulturen an deren Götterbildern wiederspiegelt, ebenso wie sich – so Xenophanes – im übertragenen Sinne auch Tiere wohl ihre Götter nach ihrem Bilde erschaffen würden, wenn sie es könnten: »ἀλλ’ εἰ χεῖρας ἔχον βόες ἠὲ λέοντες ἢ γράψαι χείρεσσι καὶ ἔργα τελεῖν ἅπερ ἄνδρες, ἵπποι μέν θ’ ἵπποισι, βόες δέ τε βουσὶν ὁμοίας καί θεῶν ἰδέας ἔγραφον καὶ σώματ’ ἐποίουν τοιαῦθ’, οἷόν περ καὐτοὶ δέμας εἶχον .« (vgl. Diels / Kranz 21 B 15). 135 Vgl. Diels/ Kranz 21 B 23: »εἷς θεὸς ἔν τε θεοῖσι καὶ ἀνθρώποισι μέγιστος͵ οὔ τι δέμας θνητοῖσιν ὁμοίιος οὐδὲ νόημα.« Die Kritik des Xenophanes ist besonders in der modernen Religionskritik vielfach aufgenommen worden. Ob sie tatsächlich als Religionskritik zu verstehen ist, ist hingegen umstritten. Ebenso ist die von ihm entwickelte Vorstellung eines bildlosen, größten Gottes als frühes Zeugnis für Monotheismus in ihrer genauen Bedeutung undeutlich und bleibt zu diskutieren (vgl. hierzu Rapp, Vorsokratiker, 84 f und Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, 57). Ausführlich zu der philosophischen Theologie des Xenophanes vgl. Jaeger, a. a. O., 50–68.

II. Angst und Religion

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lass der Projektion des Götterhimmels – und damit die Frage nach der Ursache der Entstehung von Religionen und Götterbildern. Eine für den vorliegenden Zusammenhang besonders aufschlussreiche Hypothese hierzu findet sich bei Demokrit und wurde in der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts v. Chr. vorgetragen. Auch Demokrits Gottesbild im Kontext seiner Atom‑ und Eidola-Lehre ist nicht eindeutig im Sinne einer antiken Theologie oder Religionsphilosophie auszumachen.136 Für den vorliegenden Zusammenhang ist jedoch bedeutsam, dass Demokrit – wie Sextus Empiricus berichtet  – als Ursache für die Herausbildung von Götterbildern letztlich die Angst der Menschen vor Naturerscheinungen vermutete: »[…] βροντὰς καὶ αστραπὰς, κεραυνούς τε καὶ ἄστρων συνόδους, ἡλίου τε καὶ σελήνης ἐκλείψεις, ἐδειματοῦντο, θεοὺς οἰόμενοι τούτων αἰτίους εἶναι.«137

Schon bei Demokrit wird demnach ausdrücklich betont, dass möglicherweise die aus Bedrohungen der Natur und aus unverstandenen rätselhaften Himmelserscheinungen resultierende Angst den eigentlichen Anlass zur Herausbildung von Gottesvorstellungen nach sich zieht. Einen besonders prominenten und gleichsam hochinteressanten Beitrag zum Verhältnis von Angst und Religion leistete im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. Epikur, der sich offensichtlich nicht nur im Zusammenhang der Atomlehre auch auf Demokrit bezog.138 Das Problem der Angst nimmt in den überlieferten Lehren Epikurs generell eine zentrale Stellung ein.139 Die Ängste der Menschen sind nach Epikurs Auffassung die größte Ursache von Unlust und damit ein entscheidendes Hindernis auf dem Weg zur Glückseligkeit (εὐδαιμονία).140 Ganz ähnlich wie Demokrit sah Epikur besonders das Nachdenken über Himmels‑ und Naturerscheinungen als unerschöpfliche Quelle der Angst an.141 Auch Epikur vermutete daher in aufgeklärter Naturforschung (φυσιολογία) den entscheidenden Schlüssel, um die Religion und ihre Mythen in ihrer Rolle als Bewältigungs‑ und Verdrängungsstrategie der Angst abzulösen.142 In der Angst vor Naturerschei136

 Vgl. Eisenberger, Demokrits Vorstellung vom Sein und Wirken der Götter, 141–158. 68 A 75. 138 Zu den Verbindungslinien des atomistischen Weltbildes bei Demokrit und Epikur, vgl. Mansfeld, Die Vorsokratiker II, 242 und Hossenfelder, Epikur, 123. 139  Nicht zufällig sind daher schon zwei Textauswahl-Ausgaben Epikurs unter dem Titel der Überwindung der Angst /Furcht erschienen. Vgl. Gigon (Hg.), Epikur: Von der Überwindung der Furcht, und Krüger (Hg.), Epikur: Von der Überwindung der Angst. 140 Vgl. Hossenfelder, 78 f und Krautz, Nachwort, 143. Das Problem der Angst und besonders der Todesangst war bei früheren griechischen Philosophen deutlich weniger präsent als bei Epikur, wo sie eine zentrale Rolle spielt. Vgl. grundsätzlich zu Angst und Furcht bei Epikur: Hossenfelder, Epikur, 78–83. 141  Vgl. Epikur, ΚΔ, X: »[…] τοὺς φόβους τῆς διανοίας τούς τε περὶ μετεώρων καὶ θανάτου καὶ ἀλγηδόνων […].« 142  Vgl. z. B.  Epikur, ΚΔ, XII: »Οὐκ ἦν τὸ φοβούμενον λύειν ὑπὲρ τῶν κυριωτάτων μὴ κατειδότα τίς ἡ τοῦ σύμπαντος φύσις, ἀλλ’ ὑποπτευόμενόν τι τῶν κατὰ τοὺς μύθους. […].« 137 Diels / Kranz

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

nungen und den durch sie hervorgebrachten Göttermythen, besonders aber in der Todesangst sah Epikur die maßgebliche Erschütterung (τάραχος) und das bedrückendste Hemmnis des Menschen überhaupt,143 dem sich seine Philosophie durch den Aufruf zur Aufklärung und Erforschung ihrer Ursachen einerseits und andererseits durch eine Lebenskunst der Unerschütterlichkeit (ἀταραξία) und gelassenen Seelenruhe entgegenstellt.144 Die Angst vor Naturgewalt und Tod ist demnach nicht – wie dies laut Epikur die Mehrheit der Menschen tut – an zornerfüllte Götterbilder zu heften, die womöglich genauso furchterregend sind, wie die sie erzeugenden Schrecknisse selber,145 sondern es ist sowohl der Angst vor Natur und Tod, wie auch der Vorstellung von Göttern mit hinnehmender Gelassenheit zu begegnen, denn der Tod ist – so der berühmte Ausspruch Epikurs – »nichts, was uns betrifft«.146 Weder die Widrigkeiten des Lebens, noch die Vorstellung des Nichtlebens sind daher laut Epikur zu fürchten, sondern sie sind vielmehr in Gleichgültigkeit hinzunehmen.147 Epikur entfaltete mit seiner Lehre zur Überwindung der Angst über Jahrhunderte eine ausgesprochen große Wirkung. Erst zum 4. Jahrhundert n. Chr. hin wurde der Epikureismus besonders durch das Christentum zunehmend verdrängt und dann erst in der Neuzeit sowohl in der europäischen Aufklärung als auch in der frühen Religionskritik der Moderne wiederentdeckt.148 Einer der wichtigsten Rezipienten Epikurs in der Antike war Titus Lucretius Carus, der in der ersten Hälfte des ersten Jahrhunderts v. Chr. lebte und wirkte. In seiner großen Dichtung De rerum natura erweist sich Lukrez als einer der bedeutendsten Atomisten und Materialisten der Antike und überdies als ein herausragender Stilist lateinischer Dichtung.149 Auch er steht damit in der Tradition eines aufklärerischen Programms, das sich – deutlich an der Tradition Epikurs 143 Vgl. hierzu die Ausführungen zur Angst des Menschen im Brief an Menoikeus (insbes. in Epikur, Men. 81 und 82). 144 Vgl. hierzu Hossenfelder, Epikur, 80 f. 145 Vgl. hierzu u. a. Men 124: »οὐ γὰρ προ λήψεις εἰσὶν ἀλλ΄ ὑπολήψεις ψευδεῖς αἱ τῶν πολλῶν ὑπὲρ θεῶν ἀποφάσεις. […]«. Wohlbemerkt wird schon in Men. 123 deutlich, dass Epikur nicht an der Existenz der Götter zweifelt, sondern vielmehr verhindern will, dass ihnen falsche und willkürliche Attribute angehängt werden: »θεοὶ μὲν γὰρ εἰσίν· ἐναργὴς γὰρ αὐτῶν ἐστιν ἡ γνῶσις· οἵους δ΄ αὐτοὺς οἱ πολλοὶ νομίζουσιν͵ οὐκ εἰσίν.« (Men. 124). Die Götter sind demnach bei Epikur glückselige Wesen (vgl. z. B. ΚΔ, I), die nicht in den Lauf der Welt eingreifen und erst recht nicht durch Zorn die Ursache für menschliche Angst sind. 146  Vgl. die berühmten Worte Epikurs über den Tod in Men 24: »[…] Συνέθιζε δὲ ἐν τῷ νομίζειν

μηδὲν πρὸς ἡμᾶς εἶναι τὸν θάνατον ἐπεὶ πᾶν ἀγαθὸν καὶ κακὸν ἐν αἰσθήσει· στέρησις δέ ἐστιν αἰσθήσεως ὁ θάνατος. ὅθεν γνῶσις ὀρθὴ τοῦ μηθὲν εἶναι πρὸς ἡμᾶς τὸν θάνατον ἀπολαυστὸν ποιεῖ τὸ τῆς ζωῆς θνητόν͵ οὐκ ἄπειρον προστιθεῖσα χρόνον͵ ἀλλὰ τὸν τῆς ἀθανασίας ἀφελομένη πόθον.«. Vgl. hierzu auch Epikur, ΚΔ, II. 147 Vgl. Men. 125/126 »[…] (ὁ δὲ σοφὸς οὔτε παραιτεῖται τὸ ζῆν) οὔτε φοβεῖται τὸ μὴ ζῆν· οὔτε γὰρ αὐτῷ προσίσταται τὸ ζῆν οὔτε δοξάζει κακὸν εἶναί τι τὸ μὴ ζῆν. […]«. 148 Zur Wirkungsgeschichte Epikurs und seiner Wiederentdeckung in Aufklärung und Moderne vgl. Hossenfelder, Epikur, 140 ff, bes. 143 f. 149 Vgl. Büchner, Nachwort, in: Lukrez, De rerum natura, 573 ff.

II. Angst und Religion

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orientiert – auch dem Problem der Angst und der Religionskritik widmet. Noch energischer als Epikur sieht auch Lukrez dabei die Angst des Menschen in erster Linie als Folge einer unaufgeklärten Weltsicht an, die den Naturerscheinungen nicht auf den Grund zu gehen versteht.150 Anstatt durch Naturforschung den Rätseln der Natur und ihren Ursachen auf die Spur zu kommen, bleibt die Angst der Menschen durch die Religion erhalten oder wird sogar verstärkt, indem aus ihr mehr oder minder naive Götterbilder entstehen. Angst wird – und das ist der Grund für Lukrez’ Religionskritik – durch die Religion nicht merklich gelindert, sondern letztlich nur transformiert in die womöglich noch größere Angst vor dem Zorn der Götter.151 Die Angst vor den Naturphänomenen und besonders vor dem Tod lässt also die ungebildete und unaufgeklärte Masse sich dem Aberglauben an die Götter anvertrauen.152 Daher wirbt Lukrez für die Durchbrechung jener Ängste vor Natur und Göttern durch die Kraft des lebendigen Geistes (»vivida vis animi«) nach dem Vorbild des »Griechen« Epikur: »Humana ante oculos foede cum vita iaceret in terris oppressa gravi sub religione, quae caput a caeli regionibus ostendebat horribili super aspectu mortalibus instans, primum Graius homo mortalis tollere contra est oculos ausus primusque obsistere contra; quem neque fama deum nec fulmina nec minitanti murmure compressit caelum, sed eo magis acrem inritat animi virtutem, effringere ut arta naturae primus portarum claustra cupiret.«153

150 Vgl. Lukrez, De rerum natura, I, 147 ff: Hunc igitur terrorem animi tenebrasque necessest non radii solis neque lucida tela diei discutiant, sed naturae species ratioque. Principium cuius hinc nobis exordia sumet, nullam rem e nihilo gigni divinitus umquam. quippe ita formido mortalis continet omnis, quod multa in terris fieri caeloque tuentur, quorum operum causas nulla ratione videre possunt ac fieri divino numine rentur. quas ob res ubi viderimus nil posse creari de nihilo, tum quod sequimur iam rectius inde perspiciemus, et unde queat res quaeque creari et quo quaeque modo fiant opera sine divum. 151  Vgl. hierzu Hossenfelder, Epikur, 79. 152 Vgl. hierzu insbesondere die längere Passage in Lukrez, De rerum natura, V, 1161–1240, sowie ferner in De rerum natura III, 37 ff; V, 83 ff; VI, 35 ff u. a.. 153 Vgl. Lukrez, De rerum natura, I, 62–71.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

Aus den wenigen Beispielen wird deutlich, dass Angst und Religion auch und gerade bei Lukrez auf das Engste verknüpft sind und gleichzeitig die Grundlage seiner Religionskritik in De rerum natura bilden.154 Besonders Demokrit, Epikur und Lukrez liegen damit – soviel sollte deutlich geworden sein  – auf einer ideengeschichtlichen Traditionslinie. Diese beruht jedoch nicht nur auf der ihnen gemeinsamen Annahme eines atomistischen Weltbildes, sondern sie verfolgten auch hinsichtlich einer Theorie der Entstehung der Religion auf je eigene Weise ein gemeinsames Programm. Zwar weichen sie in ihrer Deutung und Bewertung der Götter teilweise deutlich voneinander ab, einig sind sie sich jedoch darin, die Wurzel der Gottesbilder und Religionen ihrer Zeit in der das Leben der Menschen bestimmenden Angst zu suchen. Nicht nur die Projektion anthropomorpher Gottesbilder fand dabei ihre Kritik, sondern sie hielten offenbar auch die Angst selbst in den meisten Fällen für unbegründet. Sie wird auf mangelnde Aufklärung zurückgeführt, was sich – auch hierin besteht Einigkeit – in der Angst vor unverstandenen Naturerscheinungen sowie letztlich auch in der von mythischen Vorstellungen überformten Angst vor dem Tod zeigt. Freilich ließen sich neben der hier geschilderten Linie von den Anfängen der griechischen Philosophie über Demokrit und Epikur zu Lukrez noch zahlreiche weitere Beispiele zum Thema Angst und Religion aus den Weiten der antiken Geistesgeschichte untersuchen.155 Auch in anderen Philosophenschulen spielte zweifellos die Angst des Menschen in der Auseinandersetzung mit der Religion eine zentrale Rolle.156 Für den in der vorliegenden Studie verfolgten Gedankengang ist der bisher gebotene kurze Überblick allerdings ausreichend und führt bereits deutlich vor Augen, aus welchem Problemzusammenhang heraus das eingangs zitierte berühmte Zitat des Petronius entstanden sein muss. Schon in der soeben vorgeführten kleinen Auswahl von Zeugnissen aus der antiken Philosophiegeschichte zeichnet sich ab, dass das Motto »Primus in orbe deos fecit timor« im ersten Jahrhundert n. Chr. kaum eine originelle Innovation, sondern eher eine pointierte Zusammenfassung dessen war, was bereits Jahrhunderte zuvor in den aufklärerischen Tendenzen der griechischen Philosophie nachzulesen war. Schon hier kann, wie Olof Gigon zusammenfasst, förmlich die »Philosophie als Überwinderin der Angst vor den Himmelserscheinungen«157 aufgefasst werden und ermöglicht dadurch eine in der Geschichte so noch nicht 154 Zum Verhältnis von Angst und Religion bei Lukrez vgl. grundlegend: Rozelaar, Lukrez, 121 ff. 155 Vgl. für einen Überblick: Berner / Tanaseanu-Döbler (Hg.), Religion und Kritik in der Antike. 156 Vgl. allein für einen Überblick über die vorsokratische Theologie beispielsweise Gigon, Die Theologie der Vorsokratiker, 41–68. 157 Vgl. Gigon, Die Theologie der Vorsokratiker, 46, hier besonders im Hinblick auf die frühe ionische Philosophie (insbes. Anaximander und Anaximenes) bis hin zu Demokrit und Epikur.

II. Angst und Religion

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dagewesene neue Sicht auf die Religion. Mit der Angst des Menschen scheint hier die Ursache der Religion überhaupt gefunden zu sein, die nun als mehr oder weniger angstlindernde Kulturleistung erscheint.158 Wichtig ist bei diesem Konzept, dass die religionskritische Außenperspektive nicht zwingend eine atheistische ist, wie die angeführten Beispiele zeigen. Sie ist vielmehr oft und ausdrücklich aus religiösen Standpunkten heraus eingenommen worden, um dadurch die wahre Religion bzw. den wahren Gott von falschen Göttern zu unterscheiden oder die Religion von Aberglauben zu reinigen.159 Dies gilt auch für zahlreiche Vertreter in der Epoche der Aufklärung, die gleichsam eine Renaissance des Gedankens der Entstehung von Religion aus Angst mit sich brachte. 1.2. Die Wiederentdeckung der antiken Auffassung von Angst und Religion im Zeitalter der Aufklärung Die soeben anhand einiger Beispiele in der Antike entworfene Skizze des Mottos »deos fecit timor« als Paradigma der Verhältnisbestimmung von Angst und Religion ließe sich durch die Jahrhunderte bis in die Gegenwart verfolgen. Zahlreiche Studien zur Kultur‑ und Mentalitätsgeschichte der Angst führen eindrücklich vor Augen, dass eine Geschichte der Angst stets mit der Geschichte der Religion verknüpft ist.160 Zwar ist eine umfassende Darstellung der Rezeptionsgeschichte des Gedankens eines Kausalverhältnisses von Angst und Religion von der Antike bis in die Moderne noch nicht unternommen worden, dennoch bietet sich der Geschichtsforschung heute ein deutliches Bild: Die schon in der Antike geäußerte Beobachtung des Phänomens, dass Religion seit jeher die Ängste der Menschen zu kompensieren, zu transformieren oder schließlich zu transzendieren vermochte und demnach gleichsam als volkstümliche Kulturleistung zur Bekämpfung der Angst erscheint, lässt sich durch alle Epochen der Kulturgeschichte hindurch verfolgen und bietet eine kaum überschaubare Zahl

158 Vgl. hierzu Werner Jaegers Aufsatz Die Theorien über Wesen und Ursprung der Religion in: Jaeger, Die Theologie der frühen griechischen Denker, 196–216 und besonders zum Probem der Angst als Grundproblem der Religion a.a.O, 208 und 213 f. 159  Dass dies oft genug auch im Christentum (gegenüber anderen Religionen) vorkam, zeigt besonders am Beispiel der frühchristlichen Apologeten Schröder, Ursprünge des Atheismus, 146. Für einen Überblick zur theologischen Religionskritik in der Moderne vgl. Kraus, Theologische Religionskritik, grundsätzlich zur Religionskritik in der Antike vgl. Löhr, Religionskritik in der griechischen und römischen Antike. 160 Vgl. hierzu für einen Überblick u.  a. das Kapitel »Ängste und Hoffnungen« von Christian Böhme, Peter Dinzelbacher und Karl Vocelka in: Dinzelbacher (Hg.), Europäische Mentalitätsgeschichte, 275–301. Vgl. auch Böhme, Vom phobos zur Angst, 154–167; Michaels, Religionen und der neurobiologische Primat, 91–136 und als klassisches Beispiel für eine umfassende historische Untersuchung zur Angst: Delumeau, La Peur en Occident von 1978 und Ders., Le Péché et la peur von 1983.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

von eindrücklichen Beispielen.161 Das Bestreben, jenes funktionale und kausale Verhältnis von Angst und Religion zu entlarven und zugleich aufzulösen, wurde – wie gezeigt – schon in der Antike laut und richtete sich gegen vermeintlich abergläubige Riten und Mythen, die als Kompensationsstrategie zur Linderung der Angst vor Naturphänomenen kritisiert wurden. Zum historischen Durchbruch kam dieser Gedanke jedoch erst viele Jahrhunderte später im Zeitalter der Aufklärung, das  – freilich bereichert durch neue Entdeckungen und wissenschaftliche Erkenntnisse – an die religionskritischen Traditionen der Antike anknüpfen konnte.162 Wie für die Antike, soll auch für die Aufklärung anhand weniger Beispiele ein Überblick über die Verhältnisbestimmung von Angst und Religion gewonnen werden. Auch hier dient das Motto des Petronius als roter Faden, um die vorgestellte ideengeschichtliche Linie deutlich zu machen. Es ist kein Zufall, dass Jean Delumeaus bekanntes Buch La Peur en Occident in seiner Darstellung kollektiver Ängste in der Geschichte Europas bis zur Zeit der Aufklärung reicht. Während in Delumeaus Darstellung insbesondere im Zeitraum von Renaissance und Reformationszeit bis ins 17. Jahrhundert die geradezu allgegenwärtige und alles bestimmende Angst vor dem Jüngsten Gericht, vor Krieg und Bedrohung, der Pest, sowie den Juden und den Türken dominiert, deutet sich am Ende seines Buches das anbrechende Aufklärungszeitalter als eine ganz neue Ära an, in der die kollektiven Ängste in Europa zurücktreten und – so Delumeau – durch ein neues Weltbild überwunden werden.163 Wie sehr das Verhältnis von Angst und Religion insbesondere im Kontext von Schicksalsschlägen und Naturkatastrophen in der Zeit der Aufklärung in ein neues Licht gestellt wird, ist wohl exemplarisch besonders gut an dem denkwürdigen Erdbeben von Lissabon im Jahre 1755 zu studieren. Noch lange nach dem Ereignis selbst wurde diese Naturkatastrophe angesichts von zehntausenden unschuldigen Toten in der Literatur oft als besonders drastisches 161 Einen auf das Mittelalter konzentrierten Versuch der historischen Annäherung an das Phänomen der Angst und ihr Verhältnis zur Religion bietet Dinzelbacher, Angst im Mittelalter. 162 Vgl. grundlegend: Begemann, Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung. Für einen Überblick über die Religionskritik in der Aufklärung vgl. Gründer / Rengstorf (Hg.), Religionskritik und Religiosität in der deutschen Aufklärung. 163  Vgl. hierzu insbesondere den letzten Abschnitt des Buches (Delumeau, Angst im Abendland, 591–607). Obwohl derartige historische Urteile nicht unproblematisch und schwer zu begründen sind, bergen dennoch gerade mentalitätsgeschichtliche Überblicke eine luzide Erschließungskraft zum Verständnis wichtiger Innovationen und Umbrüche in der Geistesgeschichte. Freilich ist auch nach Delumeaus Auffassung die Angst des Menschen in der Aufklärungszeit damit nicht erledigt – ganz im Gegenteil. In der frühen Moderne tritt vielmehr die Angst in ganz neuer und intensiver Weise zu Bewusstsein. Was Delaumeau jedoch zu zeigen versucht, ist, dass die kollektiven Ängste aus dem Mittelalter und der frühen Neuzeit mit ihrer stark religiös durchtränkten, zuweilen geradezu apokalyptischen Gewalt nun besonders seit der Aufklärung abnehmen. Jenes gegenüber der Aufklärung sehr optimistische Bild ist vielfach kritisiert worden. Für eine Zusammenfassung der Kritik vgl. Bähr, Die Furcht der frühen Neuzeit, 291–309.

II. Angst und Religion

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Beispiel für die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber der Natur dargestellt und auch hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Religion diskutiert.164 Die Aufklärer warnten vor einer religiösen Interpretation des Ereignisses und sparten dabei – wie besonders im Falle Voltaires – nicht mit Polemik.165 Unverkennbar liegt hier eine Parallele zu den bereits geschilderten Debatten in der Antike vor: Gegen die Deutung der Katastrophe als Strafgericht oder als Ausbruch des Zornes Gottes wirbt die Aufklärung für eine natürliche Erklärung. Nicht durch Religion und theologische Deutungen, sondern durch rationale Forschung soll Angst und Schrecken begegnet werden.166 Prominente Stimmen der Aufklärung verfolgten demnach ein Programm zur Überwindung der Angst als dem bestimmenden Faktor menschlichen Lebens und Handelns in Folge einer unaufgeklärten und abergläubigen Sicht auf Tod, Endlichkeit, Begrenztheit, sowie auf Naturphänomene und Katastrophen.167 Man beschwor den Mut, sich mittels der Vernunft und durch nüchterne Wissenschaft von den Ängsten der Volksfrömmigkeit zu befreien.168 Hinsichtlich des Verhältnisses von Angst und Religion ergab sich dabei ein eindeutiger Standpunkt: Die Kompensationsleistung menschlicher Ängste durch die Religion wird als unzureichend, wenn nicht gar als unaufrichtig und unvernünftig angesehen. Die in der Volksfrömmigkeit vorherrschende Vorstellung eines in die Naturkausalität eingreifenden und in seinem Zorn handelnden Gottes ist demnach zugunsten eines im weitesten Sinne deistischen Gottesbildes, wie es besonders in der frühen Aufklärung Englands entstand, abzulehnen.169 Es wurde die Furchtlosigkeit bzw. die Freiheit von Angst in der Aufklärung gewissermaßen zum Ideal der bürgerlichen Ordnung170 und zugleich zu einem wichtigen Ziel der Naturforschung.171 Um den Brückenschlag zur Antike zu verdeutlichen, seien nun wenige Beispiele kurz skizziert, die sich ausdrücklich dem Motto des Petronius und der dahinterstehenden ideengeschichtlichen Linie anschließen konnten.

164  Aus der umfassenden Literatur zum Thema sei verwiesen auf Löffler, Lissabons Fall, sowie auf Lauer /Unger (Hg.), Das Erdbeben von Lissabon. 165 Vgl. hierzu besonders Voltaires satirische Novelle Candide ou l’optimisme von 1759. 166 Den grundlegenden Zusammenhang von Angst und Naturkatastrophen schildert – auch mit Bezügen zum Beben von Lissabon: Böhme, Theoretische Überlegungen zur Kulturgeschichte der Angst und der Katastrophe, 27–44. 167  Vgl. hierzu Begemann, Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung, 15 ff und Bähr, Die Furcht der frühen Neuzeit, 291, sowie im weiteren Zusammenhang als Überblick Bähr, a. a. O., 291–296. 168 Zur Bedeutung der Angst in der Neuzeit, vgl. Vocelka, Neuzeit, 297. 169 Vgl. hierzu als Hintergrund den Aufsatz Barth, Religion in der europäischen Aufklärung, 91–112. 170  Zur Furchtlosigkeit als Ideal bürgerlicher Ordnung vgl. Begemann, Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung, 21 ff. 171 Zur Bedeutung der Naturforschung mit dem Ziel der Angstfreiheit in der Aufklärung vgl. Begemann, Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung, 67 ff und 97 ff.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

Als ein wichtiger Vordenker der Aufklärung und des englischen Empirismus kann Thomas Hobbes gelten. Unverkennbar bezieht sich Hobbes in seinem staatstheoretischen Hauptwerk Leviathan von 1651 insbesondere auf Epikur und knüpft dabei an die reduktionistische Außenperspektive auf das Verhältnis von Angst und Religion an, das bereits in der Antike deutlich wurde.172 Eine Verschärfung gegenüber der Antike ist dabei Hobbes Deutung der Angst als einer geradezu pausenlosen Grundbefindlichkeit menschlichen Lebens, die zugleich die Grundlage seiner Sicht auf die Religion bildet.173 Mit einem Hinweis auf »die alten Dichter« scheint Hobbes schließlich den Satz des Petronius im Auge zu haben, wenn er die Religion als Folgeerscheinung der alles Leben bestimmenden Angst beschreibt: »This perpetual fear, always accompanying mankind in the ignorance of causes, as it were in the dark, must needs have for object something. And therefore when there is nothing to be seen, there is nothing to accuse either of their good or evil fortune but some power or agent invisible: in which sense perhaps it was that some of the old poets said that the gods were at first created by human fear: which, spoken of the gods (that is to say, of the many gods of the Gentiles), is very true.«174

Bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts reformuliert Hobbes damit die antike Auffassung eines Kausalverhältnisses zwischen Angst und Religion und begründet damit einen Grundgedanken der Religionskritik der Aufklärung, der bis in die Moderne reicht: »By which means it hath come to pass that from the innumerable variety of fancy, men have created in the world innumerable sorts of gods. And this fear of things invisible is the natural seed of that which every one in himself calleth religion; and in them that worship or fear that power otherwise than they do, superstition.«175

Aufgenommen und weitergeführt wurde der Vorstoß Hobbes’ insbesondere von David Hume, dessen Werk gerade für die Religionskritik der Aufklärung in Kontinentaleuropa von größter Bedeutung war. Unter Humes Werken zur Religion und ihrer Kritik kommt sein Entwurf zur Entstehungsgeschichte der Religion in dem Buch The Natural History of Religion von 1757 dem hier als Paradigma veranschlagten Motto des Petronius am nächsten. Hume konstatiert hier: »The primary religion of mankind arises chiefly from an anxious fear of future events«.176 In einem der ersten Versuche der Darstellung einer Entstehungs‑ 172 Zur Deutung der Genese von Hobbes’ Werk insbesondere im Hinblick auf seine EpikurRezeption vgl. Ludwig, Die Wiederentdeckung des Epikureischen Naturrechts. 173 Zur grundlegenden Bedeutung der Angst bei Hobbes vgl. beispielsweise: Hobbes, Leviatan, I,12, 95: »[…] so that man, which looks too far before him in the care of future time, hath his heart all the day long gnawed on by fear of death, poverty, or other calamity; and has no repose, nor pause of his anxiety, but in sleep.« 174 Hobbes, Leviatan, I,12, 95 (Klammer im Original). 175 Hobbes, Leviatan, I,11, 93. 176 Hume, The Natural History of Religion, 352 f.

II. Angst und Religion

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und Entwicklungsgeschichte der Religion stellt Hume demnach die Religion als eine Folge der Angst vor unergründeten Rätseln und Phänomenen vor: »These unknown causes, then, become the constant object of our hope and fear; and while the passions are kept in perpetual alarm by the anxious expectation of the events the magination is equally employed in forming ideas of those powers, on which we have so entire a dependence.«177

Hume legt damit einen entscheidenden Grundstein für die empirische und psychologische Erforschung der Religion, die dann weit über das Aufklärungszeitalter in England, Frankreich und Deutschland hinaus bis in die Moderne betrieben wurde.178 Insbesondere in der französischen Aufklärung wurde das Motto des »deos fecit timor« schließlich im 18. Jahrhundert derart radikalisiert, dass es letztlich in einigen Fällen in materialistisch-atheistische Positionen mündete. Als Beispiel hierfür kann Paul Henri Thiry d’Holbach gelten, in dessen Werk La Contagion sacrée, ou Histoire naturelle de la superstition von 1768 das »deos fecit timor« des Petronius dem ersten Kapitel als Motto voransteht.179 In großer Zahl wären noch weitere Beispiele für implizite oder explizite Aufnahmen des antiken Paradigmas vom Kausalverhältnis zwischen Angst und Religion in der Aufklärungszeit zu nennen.180 Um den hier interessierenden Grundgedanken deutlich zu machen, reichen jedoch die genannten Beispiele und Andeutungen aus: Offensichtlich rangen die Religionskritiker der Aufklärung um eine Loslösung des Gottesgedankens von denjenigen Strukturen der Religion und Volksfrömmigkeit, die sie  – anknüpfend an die antike Aufklärung  – als kulturelle Bewältigungsstrategie menschlicher Ängste ansahen. Das in der Aufklärung weit verbreitete Ziel war es, den grundlegenden Ängsten der Menschen 177 Hume,

The Natural History of Religion, 316 (Hervorhebung im Original). Barth folgert, es sei »Hume zu dem bedeutendsten Anreger der psychologischen und kulturwissenschaftlichen Erforschung der Religionsgeschichte geworden.« (vgl. Barth, Gott als Projekt, 136). Bemerkenswert ist indessen bei Humes Naturgeschichte der Religion, dass er mit seiner Anknüpfung an die antike Kritik und das Motto des Petronius nicht nur die traditionelle Kirche und Orthodoxie brüskiert, sondern auch den aufklärerischen Deismus, der zwar ebenso wie Hume an einer Reinigung der Religion von ihren abergläubigen Elementen interessiert war, sich jedoch dabei die Urgestalt der natürlichen Religion als reinen Monotheismus vorstellte und nicht, wie Hume in den Kapiteln I bis V seiner Schrift, als einen anthropomorphen Polytheismus (vgl. hierzu Kreimendahl, Einleitung, XXVI–XXX, der feststellt, Hume habe mit seiner Religionskritik auch den »Lebensnerv des Deismus« getroffen). 179 Vgl. Holbach, La contagion sacrée, 1. Das Petroniuswort steht als Motto im ersten Kapitel mit dem Titel: »Origine de la Superstition; la terreur en fut toujours la base«. Vgl. zu den Wurzeln des Atheismus insbesondere in der französischen Aufklärung und ihren materialistischen Grundlagen Schröder, Ursprünge des Atheismus, 321 ff und zu Holbach und seiner Bezugnahme auf das antike »deos fecit timor« a. a. O., 225. 180  Ein Überblick über die einzelnen Strömungen und Entwicklungen ist aufgrund des Materialreichtums kaum zu gewinnen. Aufschlussreich sind hierfür insbesondere Studien zu den Entwicklungen der Religionskritik in der Aufklärung und ihren Wurzeln, z. B. in: Weger (Hg.), Religionskritik von der Aufklärung bis zur Gegenwart. 178 Ulrich

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

durch rationale Vernunft und empirische Naturforschung beizukommen und damit die Hervorbringung mythologischer Vorstellungen schlechterdings überflüssig zu machen. Vorgezogen wurde dagegen in den meisten Fällen ein deistisches Gottesbild, eine der Vernunft konforme natürliche Religion, die nicht von Angst hervorgerufen wird und erst recht selber keine Angst erzeugt, sondern vollends dem aufklärerischen Ideal der Angstfreiheit entspricht.181 Nur in wenigen Fällen werden bereits in der Zeit der Aufklärung Stimmen laut, die das Motto des Petronius nicht nur zu einer Kritik abergläubiger Volksfrömmigkeit, sondern zu einer materialistischen Negation des Göttlichen überhaupt weiterdenken, wie sie dann bei den Religionskritikern der Moderne zum Durchbruch kam.182 Gewissermaßen an einer Schaltstelle zwischen Aufklärung, Idealismus und Moderne wurde auch von Arthur Schopenhauer nochmals auf das Motto des Petronius zurückgegriffen. In ausdrücklicher Nennung Humes sieht Schopenhauer in dem klassischen Argument des Kausalverhältnisses von Angst und Religion ein Desiderat in der Religionskritik Kants, die er als zu einseitig spekulativ beurteilt: »Kant hat es, wie gesagt, bei der Kritik dieser Beweise bloß mit der spekulativen Theologie zu thun und beschränkt sich auf die Schule. Hätte er hingegen auch das Leben und die populäre Theologie im Auge gehabt, so hätte er zu den drei Beweisen noch einen vierten fügen müssen, der bei dem großen Haufen der eigentlich wirksame ist und in Kants Kunstsprache wohl am passendsten der keraunologische zu benennen wäre: es ist der, welcher sich gründet auf das Gefühl der Hülfsbedürftigkeit, Ohnmacht und Abhängigkeit des Menschen, unendlich überlegenen, unergründlichen und meistens unheildrohenden Naturmächten gegenüber; wozu sich sein natürlicher Hang Alles zu personifiziren gesellt und endlich noch die Hoffnung kommt, durch Bitten und Schmeicheln, auch wohl durch Geschenke, etwas auszurichten. Bei jeder menschlichen Unternehmung ist nämlich etwas, das nicht in unserer Macht steht und nicht in unsere Berechnung fällt: der Wunsch, dieses für sich zu gewinnen, ist der Ursprung der Götter. Primus in orbe Deos fecit timor ist ein altes Wahrwort des Petronius. Diesen Beweis hauptsächlich kritisirt Hume, der durchaus als Kants Vorläufer erscheint, in den oben erwähnten Schriften.«183

Auch Schopenhauer sieht also den maßgeblichen Grund für die Entstehung der Religion zunächst im unaufgeklärten Versuch der Bewältigung von »keraunologischen«, also aus Naturgewalten entstandenen Ängsten. Bei einem eingehenderen Blick auf Schopenhauers Werk wird jedoch deutlich, dass dies nur eine 181 Vgl. dazu nochmals grundlegend Begemann, Furcht und Angst im Prozess der Aufklärung. 182 Mit Holbach wurde bereits ein Beispiel genannt. Winfried Schröder macht allerdings deutlich, dass die Wiederentdeckung Epikurs in der Aufklärung im Zusammenhang mit dem Angstbegriff keineswegs schnurstracks in atheistische Positionen führte, sondern diese eher vorbereitete (vgl. Schröder, Ursprünge des Atheismus, insbes. 318–320). 183 Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, I, 649 (Hervorhebungen im Original).

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Seite seiner Religionsauffassung ist. So sehr die mythologischen Gottesbilder auch der Angst entwachsene Phantasiegebilde sein mögen, so sehr sind sie für Schopenhauer andererseits auch Ausdrucksformen eines tief im menschlichen Wesen veranlagten »methaphysischen Bedürfnisses«.184 Schopenhauer kann die Religion  – zumal das Christentum  – schließlich sogar als die »Wahrheit im Gewande der Lüge« bezeichnen, hinter deren mythologischer Fassade es durchaus um eine tiefere Erkenntnis geht.185 Er geht davon aus, dass dem Menschen seit seiner frühsten Entwicklungsgeschichte eine »größere Energie der intuitiven Erkenntniskräfte« eigen ist, die ihn in der »Stimmung des Geistes« zu »einer reineren, unmittelbaren Auffassung des Wesens der Natur fähig« macht.186 Zwar lehnt Schopenhauer den unmittelbaren und wörtlichen Wahrheitsanspruch religiöser Mysterien und Wundererzählungen in den Religionen »sensu proprio« ab und schließt sich, wie bereits deutlich wurde, dem religionskritischen Gedanken des »deos fecit timor« an. Im übertragenen Sinne, »sensu allegorico«, billigt Schopenhauer der Religion jedoch durchaus einen Wahrheitskern zu: »Nackt kann die Wahrheit vor dem Volke nicht erscheinen. Ein Symptom dieser allegorischen Natur der Religionen sind die vielleicht in jeder anzutreffenden Mysterien, nämlich gewisse Dogmen, die sich nicht ein Mal deutlich denken lassen, geschweige wörtlich wahr seyn können. Ja, vielleicht ließe sich behaupten, daß einige völlige Widersinnigkeiten, einige wirkliche Absurditäten, ein wesentliches Ingredienz einer vollkommenen Religion seien: denn diese sind eben der Stämpel ihrer allegorischen Natur und die allein passende Art, dem gemeinen Sinn und rohen Verstande fühlbar zu machen, was ihm unbegreiflich wäre, nämlich daß die Religion im Grunde von einer ganz andern, von einer Ordnung der Dinge an sich handelt, vor welcher die Gesetze dieser Erscheinungswelt, denen gemäß sie sprechen muß, verschwinden, und daß daher nicht bloß die widersinnigen Dogmen, sondern auch die begreiflichen, eigentlich nur Allegorien und Ackommodationen zur menschlichen Fassungskraft sind.«187

Ohne näher auf die eigentlichen Grundmotive von Schopenhauers Philosophie eingehen zu müssen, scheint hier ein Gedanke durch, der über das Paradigma »deos fecit timor« hinaus weist: Die Religion hat bei Schopenhauer offenbar nicht nur eine kompensatorische Funktion im Bezug auf unverstandene »keraunologische« Naturphänomene und die von ihnen ausgelöste Angst, sondern sie verweist auch auf ein tieferliegendes, geradezu transzendentales Erkenntnisver184  Vgl. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, II, 323. Freilich bezeichnet Schopenhauer diese Veranlagung des Menschen als »animal metaphysicum« als »philosophische Anlage«, um sich von den Religionen und ihrer Dogmatik zu distanzieren (vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, II, 185). 185 Zu der berühmten Formulierung der »Wahrheit im Gewande der Lüge« in Schopenhauers Religionsdialog vgl. Schopenhauer, Parerga und Paralipomena, II, 297 und grundlegend hierzu Schmidt, Die Wahrheit im Gewande der Lüge. 186 Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, II, 187. 187 Vgl. Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, II, 192 f (Hervorhebungen im Original).

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mögen des menschlichen Geistes, das durch die volkstümlichen religiösen Ausdrucksformen hindurch erkennbar ist. Hinter dem Treiben der Welt erahnt der Mensch schlechterdings Anderes, ihm Überlegenes und zugleich Entzogenes, das Wesen der Welt. Schopenhauer scheint hier eine hinter den geschichtlichen Religionen stehende intuitive Erkenntnis im Gefühl anzunehmen, die gerade in der Befremdlichkeit ihrer religiös-allegorischen Ausdrucksformen zum Gleichnis, zum »Stämpel« für das schlechthin Unsagbare, Irrationale wird. Gleichwohl Schopenhauer deutlich in der religionskritischen Linie steht, die in der Religion letztlich eine Kulturleistung zur Angstbewältigung erkennt, geht er hierüber hinaus und bemerkt ein gerade in den befremdlichen Momenten der Religion durchbrechendes Gefühl für das Inkommensurable, für das über die Vernunft hinausgehende Mysterium der Welt. Hier deutet sich bereits eine über die reduktionistische Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion hinausgehende Perspektive an, die hinter den angstvollen Momenten und Ausdrucksformen in der Religion eine ganz eigene Weise des Erkennens von geradezu transzendentaler Qualität vermutet. Am Beispiel Rudolf Ottos ist diesem Gedanken insbesondere der Zweite Teil der vorliegenden Untersuchung gewidmet.

2. Die Bedeutung der Angst in der modernen Religionskritik und ihre theologische Beurteilung Der an einigen Beispielen in Antike und Aufklärung veranschaulichte Gedankengang der Reduktion der Religion auf ihre kulturelle Bewältigungsfunktion hinsichtlich der Angst wurde auch in der Moderne immer wieder aufgegriffen und kann bis heute als weitverbreitete Theorie zur Entstehung der Religion gelten. Die vielleicht wirkungsvollste und bekannteste Wiederaufnahme des klassischen Paradigmas im 20. Jahrhundert ist diejenige des Philosophen, Mathematikers und Literaturnobelpreisträgers Bertrand Russell in seiner berühmten Schrift Why I am not a Christian von 1927, die besonders durch das Kapitel »Fear The Foundation Of Religion« bekannt wurde: »Religion is based, I think, primarily and mainly upon fear. It is partly the terror of the unknown and partly, as I have said, the wish to feel that you have a kind of elder brother who will stand by you in all your troubles and disputes. Fear is the basis of the whole thing – fear of the mysterious, fear of defeat, fear of death. Fear is the parent of cruelty, and therefore it is no wonder if cruelty and religion have gone hand-in-hand. It is because fear is at the basis of those two things. In this world we can now begin a little to understand things, and a little to master them by the help of science, which has forced its way step by step against the Christian religion, against the churches, and against the opposition of all the old precepts. Science can help us to get over this craven fear in which mankind has lived for so many generations. Science can teach us, and I think our own hearts can teach us, no longer to look around for imaginary supports, no longer to invent

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allies in the sky, but rather to look to our own efforts here below to make this world a fit place to live in, instead of the sort of place that the churches in all these centuries have made it.«188

Besonders ethische Gründe sprechen folglich nach Russells Auffassung gegen das Christentum und die Religion überhaupt, deren Gegenstand – Gott – seiner Meinung nach ohnehin allein aus logischen Gründen nicht evident ist. Besonders mit dem hier zitierten Abschnitt seines Buches leistete Russell einen maßgeblichen Beitrag zu den Debatten um eine reduktionistische Religionskritik in der Moderne. Um die wichtigsten Beispiele für die Wiederaufnahme des Antiken »deos fecit timor« nicht gänzlich unerwähnt zu lassen, sollen im Folgenden wenigstens einige Stichworte genannt werden, bevor dann in einem zweiten Schritt auch theologische Positionen dargestellt werden, die in der genannten Traditionslinie stehen. 2.1. Entwicklungslinien des Kausalverhältnisses von Angst und Religion in der Moderne Wie schon an früherer Stelle deutlich wurde, erlangte der Angstbegriff in der Moderne einen besonderen Stellenwert. Der Aufstieg der Angst zu einem Kulminationspunkt des modernen Lebensgefühls, der in der Rede vom »Zeitalter der Angst« deutlich wird, führt dabei – ganz egal wie man diesen Vorgang im Einzelnen beurteilen mag  – auch das Verhältnis von Angst und Religion in eine neue Runde. Doch noch ein weiterer Grund spricht dafür, dass Angst und Religion in der Moderne besonders brisant werden: Die aus materialistischen, ethischen, psychologischen bzw. grundsätzlich aus reduktionistischen Motiven heraus operierende Religionskritik, die sich in Antike und Aufklärung bereits andeutete, ist in der Moderne nun nicht länger ein Spartenphänomen oder ein Aufklärungsprojekt kritischer Philosophie, sondern sie wird zunehmend zu einer geradezu selbstverständlichen Weltsicht. Das durch die bereits dargestellten Transfomationsprozesse in den Naturwissenschaften, in Psychologie und Soziologie neu entstandene moderne Weltbild wird nun in Kunst und Kultur, in Medien und Politik zum bestimmenden Faktor der Zeit und lässt das Kausalverhältnis von Angst und Religion zu einer weitverbreiteten These werden. Dabei bleibt die moderne Religionskritik in ihren reduktionistischen Argumenten hinsichtlich des Verhältnisses von Angst und Religion deutlich mit ihren Vorläufern in Antike und Aufklärung verbunden. Anhand einiger Beispiele soll nun in aller Kürze gezeigt werden, in welchen Spielarten sich das antike Paradigma 188 Russell, Why I am not a Christian, 25 f. Russell stellt sich hier ausdrücklich in eine Traditionslinie mit Lukrez (vgl. Russell, a. a. O., 27). Das Buch wurde 1996 von der New York Public Library zu den einflussreichsten Schriften des Jahrhunderts gezählt. Vgl. hierzu Diefendorf (Hg.), The New York Public Library’s Books of the Century.

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des Petronius auch und gerade in der Moderne durchsetzen konnte, um dann in den Debatten zur Religion im 19. und 20. Jahrhundert und schließlich bis heute eine wichtige Rolle zu spielen. Unter den zahlreichen Aufnahmen und Weiterführungen der alten Idee des Kausalverhältnisses von Angst und Religion stechen seit etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts besonders materialistische Ansätze in ihren verschiedenen Varianten hervor. Schon 1866 konnte Friedrich Albert Lange in seiner Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart  – einer an Kant angelehnten umfassenden Kritik des Materialismus – ausführlich die Verbindungslinien von Antike und Aufklärung bis in die materialistischen Theorien seiner Zeit verfolgen und dabei besonders auch auf die neue und durchschlagende Bedeutung der Naturwissenschaften verweisen.189 Ausführlich wendet sich Lange in den letzten Kapiteln seines Werkes auch der Religion und ihrer Bedeutung im materialistischen Weltbild zu. Die materialistische Rückführung der Religion auf die Angst wird auch bei Lange bis in die Antike auf Epikur und Lukrez zurückgeführt.190 Unter den Vertretern des frühen naturwissenschaftlichen Materialismus kann Ludwig Büchner mit seinem berühmten Werk Kraft und Stoff von 1855 als einer der bedeutendsten Klassiker gelten.191 Hier fällt nun das einstmals gegen naiven Aberglauben gerichtete aufklärerische Paradigma der Antike deutlich radikaler aus: »Es drückt sich in solcher Verehrung nicht die Idee an ein über Natur und Menschen herrschendes allmächtiges und allweises Wesen, welches die Weltregierung leitet, aus, sondern nur eine blinde Angst vor Naturmächten, welche dem ungebildeten Menschen furchtbar oder überirdisch scheinen, weil er nicht im Stande ist, den inneren natürlichen Zusammenhang der Dinge zu erkennen. Wäre wirklich die Idee eines höchsten Wesens der menschlichen Natur durch überirdische Weisheit und in unverwischbarer Weise eingeprägt worden, so könnte es nicht möglich sein, daß dieser Begriff alsdann in so unklarer, 189 Vgl.

Lange, Geschichte des Materialismus. der vierte Abschnitt des zweiten Buchs ist dem Verhältnis von Materialismus und Religion gewidmet. Vgl. hier zum Verhältnis von Angst und Religion u. a. Lange, Geschichte des Materialismus, Band II, 537: »Die Religionen haben ursprünglich gar nicht einmal den Zweck, der Sittlichkeit zu dienen. Ausgeburten der Furcht vor gewaltigen Naturereignissen, der Phantasie und barbarischer Neigungen und Vorstellungen, sind die Religionen bei den sogenannten Naturvölkern eine Quelle von Scheußlichkeiten und Abgeschmacktheiten, welche aus dem bloßen Interessenkampf in seiner rohesten Form kaum je entstehen könnten. Wie viel solcher entstellenden Elemente selbst bei gebildeten Völkern der Religion noch an hängen, kann uns das Urteil eines Epikur und Lucrez zeigen, da wir uns durch die erhabnen Seiten der antiken Mythologie geblendet, nur schwer direkt in das Religionswesen der Alten hineindenken können.« 191 Für einen Überblick über den sogenannten naturwissenschaftlichen Materialismus und dessen Entwicklungsgeschichte vgl. Wittkau-Horgby, Materialismus. 190 Besonders

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unvollkommener, roher und unnatürlicher Weise, wie in diesen Tierreligionen, zutage träte.«192

Die naturwissenschaftlichen Materialisten radikalisieren damit das antike »deos fecit timor«. Es wird nunmehr nicht allein als aufklärerische Kritik an abergläubiger Volksfrömmigkeit verstanden, sondern wird zum Schlagwort einer radikalen Absage an jede Form der Religion und Transzendenz überhaupt. Büchner ist in diesem stark naturwissenschaftlich geprägten Flügel des Materialismus nur eine prominente Stimme unter vielen in einer sehr wirkmächtigen Bewegung, deren Einflüsse nicht nur in den vielbeachteten monistischen Naturphilosophien um die Jahrhundertwende nachweisbar sind – man denke besonders an Ernst Haeckel – sondern letztlich bis in die Gegenwart und hin zu Positionen des sogenannten »New Atheism« reichen.193 Eine andere besonders wirkmächtige Variante der materialistischen Religionskritik und ihrer Anknüpfung an das klassische Paradigma der Kausalität zwischen Angst und Religion ist jene, die insbesondere mit dem Werk Ludwig Feuerbachs verbunden wird.194 Der Zugangsweg Feuerbachs ist weniger von den Naturwissenschaften als von der Philosophie des Deutschen Idealismus geprägt. Sein berühmter und häufig als Projektionshypothese bezeichneter Grundgedanke, die Religion sei eine von der Phantasie konstruierte Ausdrucksform menschlicher Wünsche, betrifft damit weniger die Angst als Instinkt oder als Reaktion auf unverstandene Naturerscheinungen, sondern eine viel grundlegendere Angst, die Feuerbach unter dem Begriff »Abhängigkeitsgefühl« zusammenfasst.195 Die schon in Das Wesen des Christentums vertretene These, die Religionsgeschichte sei letztlich nichts anderes als »die Geschichte des Menschen« und die Theologie damit letztlich nicht die Rede von Gott, sondern im eigentlichen Sinne »Anthropologie«, also Rede vom Menschen selbst, wird nun im Bezug

192  Büchner, Kraft und Stoff, 145. In seiner Schrift Der Gottes-Begriff und dessen Bedeutung in der Gegenwart von 1874 bezieht sich Büchner schließlich ausdrücklich auf das Motto des Petronius und seine antike Tradition (vgl. Büchner, Der Gottes-Begriff, 12). 193 Wichtige Mitstreiter Büchners im frühen Materialismusstreit waren besonders Carl Vogt und Jakob Moleschott (vgl. für einen ausführlichen Überblick Wittkau-Horgby, Materialismus). Zum »Neuen Atheismus« der Gegenwart insbesondere im englischsprachigen Raum mit unterschiedlichen Ansätzen vgl. u. a. Dawkins, Der Gotteswahn, Dennett, Den Bann brechen, Hitchens, Der Herr ist kein Hirte. 194 Schon Ludwig Büchner hat sich in Religionsfragen auf Feuerbach berufen (vgl. z. B.  Büchner, Kraft und Stoff, 147). Vgl. hierzu grundlegend Feuerbachs Hauptwerk Das Wesen des Christentums von 1941, sowie besonders seine Schrift Das Wesen der Religion von 1846 und die hieran anknüpfenden Vorlesungen über das Wesen der Religion, die er 1848/49 in Heidelberg hielt. 195 Vgl. zum Begriff des Abhängigkeitsgefühls den ersten Paragraphen in: Feuerbach, Das Wesen der Religion, 3 ff, sowie hierzu besonders die vierte Vorlesung in: Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, 32–40.

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auf alle Religionen und ihre geschichtlichen Erscheinungsformen angewendet.196 Nicht eine einzelne Bedrohung, sondern die Natur und die menschliche Lebenssituation als solche sind damit Grund eines tiefen Abhängigkeitsgefühls, das Religionen entstehen lässt: »Das Abhängigkeitsgefühl des Menschen ist der Grund der Religion; der Gegenstand dieses Abhängigkeitsgefühls, Das, wovon der Mensch abhängig ist und abhängig sich fühlt, ist aber ursprünglich nichts andres, als die Natur. Die Natur ist der erste, ursprüngliche Gegenstand der Religion, wie die Geschichte aller Religionen und Völker sattsam beweist.«197

Die »populärste, augenfälligste Erscheinung des Abhängigkeitsgefühls« ist nach Feuerbachs Auffassung die Angst.198 In ihr bündelt sich die Ohnmacht des Menschen angesichts der Natur, der Zukunft, des Todes und des Schicksals und setzt die Idee eines Gottes aus sich heraus. Auch Feuerbach kann sich daher auf die »alten Atheisten« und den »Ausspruch des römischen Dichters« berufen und im Kontext seiner Religionskritik das Motto »Primus in orbe deos fecit timor« integrieren.199 Obwohl sich Feuerbach damit in die hier beschriebene ideengeschichtliche Linie einzeichnet, hält er die Reduktion der Religion auf Angst und Furcht allerdings für unzureichend. Ausdrücklich weist er darauf hin, dass in seiner Konzeption des »Abhängigkeitsgefühls« der Furcht ein »entgegengesetzter Affekt folgt«, nämlich ein Gefühl »der Erlösung von der Gefahr, von der Furcht und Angst, das Gefühl der Entzückung, der Freude, der Liebe, der Dankbarkeit«.200 Eine nochmals neue Sichtweise auf das Problem und zugleich eine Loslösung von der idealistischen Tradition geschieht durch Karl Marx, der seit seiner Dissertation von 1841 über die Differenz der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie mit der Verbindung von Angst und Religion in der antiken 196 Vgl.

Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, 24. die Eingangsworte in: Feuerbach, Das Wesen der Religion, 3 (Hervorhebung im Original gesperrt). In den Zusätzen zu seinen Vorlesungen über das Wesen der Religion macht Feuerbach nochmals ausdrücklich deutlich, dass es ihm in der Verhältnisbestimmung von Religion und Angst  – Feuerbach nennt sie konsequent »Furcht«  – nicht um banale Angst vor Naturerscheinungen und Bedrohungen geht, sondern vielmehr um »die auf keinen Gegenstand eingeschränkte, alle nur immer möglichen Unglücksfälle in der Vorstellung umfassende, allgegenwärtige, immerwährende, d. i. unendliche Furcht des menschlichen Gemütes« (Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, 321, kursiv im Original). 198 Vgl. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, 33. Grundsätzlich zum Verhältnis von Angst bzw. Furcht und Religion vgl. Feuerbachs Vorlesungen drei bis fünf (Feuerbach, a. a. O., 24–48), sowie die Ausführungen zu Furcht, Religion und »Abhängigkeitsbewußtsein« in den Zusätzen und Anmerkungen a. a. O., 321 ff. 199 Vgl. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, 33. 200  Vgl. Feuerbach, Vorlesungen über das Wesen der Religion, 37 ff. Bemerkenswert ist an dieser Stelle zumindest auf der phänomenologisch-psychologischen Ebene die deutliche Nähe zu der berühmten Konzeption der »Kontrastharmonie« von »tremendum« und »fascinans« im religiösen Erleben bei Rudolf Otto. 197 So

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Philosophie bestens vertraut war. Marx nahm anders als Feuerbach in seiner Religionskritik weniger den einzelnen Menschen und sein angstvolles Abhängigkeitsgefühl, als vielmehr die Gesellschaft als Ganze in den Blick. Hinsichtlich des Verhältnisses von Angst und Religion erscheint damit der weltberühmte Satz aus der Einleitung der Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie geradezu als eine gesellschaftskritische Ausweitung des religionskritischen »deos fecit timor«: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüth einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.«201 Anders als bei Feuerbach scheint es weniger allein die Kritik an der Religion zu sein, um die es Marx geht, sondern es ist der durch sie erst ermöglichte Vorgang der Betäubung sozialen und wirtschaftlichen Elends, den er hervorheben möchte. Die klassische These, dass die Religion als Kulturleistung zur Bewältigung der Angst hervorgebracht wurde, wird damit bei Marx gewissermaßen auf ihre gesellschaftlichen Konsequenzen hin gewendet: »Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend«.202 Nicht die Beseitigung und Verarbeitung der menschlichen Ängste wird durch die Religion ermöglicht, sondern die Angst wird durch die Religion lediglich erträglich gemacht und gleichsam legitimiert und konserviert. Das Problem an der Religion ist – so könnte man Marx für den vorliegenden Zusammenhang vielleicht vereinfacht zusammenfassen – nicht, dass die Religion aus den Ängsten der Menschen hervorgeht, sondern, dass sie in diesem Vorgang die eigentlichen Ursachen der Angst im sozialen Gefüge verdeckt, bewahrt und damit der Möglichkeit ihrer Veränderung entzieht.203 Genau an dieser Stelle knüpft auch der schon in früheren Epochen geäußerte religionskritische Einwand an, die Religion lasse sich als Herrschaftsinstrument gebrauchen, indem sie durch die Erzeugung von Ängsten vor Verdammnis und Weltgericht ein enormes Machtpotential über die unaufgeklärte Gesellschaft entfalte.204

201  Marx, Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA I,2, 171 (kursiv im Original). 202 Marx, Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA I,2, 171 (kursiv im Original). 203  So folgert Marx: »Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusion über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammerthales, dessen Heiligenschein die Religion ist.« (Marx, Zur Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEGA I,2, 171, kursiv im Original). Zu den Hintergründen von Marx’ Religionskritik vgl. u. a. Post, Kritik der Religion bei Karl Marx. 204  Vgl. hierzu Schlesier, Angst, 464. Zu frühen Zeugnissen der Kritik an der kirchenpolitischen Instrumentalisierung der Angst in und durch die Religion im Mittelalter vgl. Dinzelbacher, Mittelalter, 292 f, zum Missbrauch der Angst im Kontext der Religion in der Neuzeit vgl. Vocelka, Neuzeit, 296 f.

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Eine weitere Facette der Auseinandersetzung mit dem Kausalverhältnis von Angst und Religion wurde in der Moderne durch die sich rasant entwickelnde Psychoanalyse ermöglicht, deren herausragende Gestalt, Sigmund Freud, sich immer wieder mit dem Phänomen der Religion auseinandersetzte.205 Auch wenn Freud freilich in erster Linie die dahinter stehenden psychologischen Vorgänge interessieren, ist dem Schema nach dennoch ganz offensichtlich, dass auch er in der ideengeschichtlichen Linie des »deos fecit timor« steht: »Durch das gütige Walten der göttlichen Vorsehung wird die Angst vor den Gefahren des Lebens beschwichtigt, die Einsetzung einer sittlichen Weltordnung versichert die Erfüllung der Gerechtigkeitsforderungen, die innerhalb der menschlichen Kultur so oft unerfüllt geblieben ist, die Verlängerung der irdischen Existenz durch ein zukünftiges Leben stellt den örtlichen und zeitlichen Rahmen bei, in dem sich diese Wunscherfüllungen vollziehen sollen.«206

In seiner berühmten religionskritischen Schrift Die Zukunft einer Illusion von 1927 gibt Freud dem alten Gedanken eine psychoanalytische Wendung, indem er die »unbezwungene Natur« als schicksalhaften, »ängstlichen Erwartungszustand« beschreibt, der zugleich eine »Kränkung des natürlichen Narzißmus« bedeutet.207 Einen Ausweg sieht Freud in der Kulturleistung, die »Natur zu vermenschlichen«.208 Durch die in der Religion aus der Angst hervorgebrachten Götterbilder fühlt sich der Mensch nun »heimisch im Unheimlichen« und kann schließlich »seine sinnlose Angst psychisch bearbeiten.«209 Indem er »die Götter, vor denen er sich fürchtet« selber erschafft, und ihnen »seinen Schutz überträgt«, wird seine eigene Ohnmacht gleichsam gebannt und verarbeitet.210 Auch Freud interessiert also ganz offensichtlich am Verhältnis von Angst und Religion besonders ihr kausaler Zusammenhang, den er psychoanalytisch aufzuschlüsseln versucht. Dass es darüber hinaus ein genuin religiöses »ozeanisches Gefühl« der Angst geben könnte, das nicht neurotischen Charakters ist, hält Freud für abwegig.211 205  Die wichtigsten Eckpfeiler von Freuds Auseinandersetzung mit der Religion sind die frühen Schriften Totem und Tabu (1913), Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921), Die Zukunft einer Illusion (1927), Das Unbehagen in der Kultur (1930) und schließlich Der Mann Moses und die monotheistische Religion (1939). 206 Freud, Die Zukunft einer Illusion, 352. 207  Vgl. Freud, Die Zukunft einer Illusion, 337. 208  Vgl. Freud, Die Zukunft einer Illusion, 338. 209 Freud, Die Zukunft einer Illusion, 338. 210 Vgl. Freud, Die Zukunft einer Illusion, 346. Zu dem Projektionsvorgang im Zusammenhang von Angst und Religion bei Freud vgl. Schneider-Flume, Angst und Glaube, 482–485. 211 In seinem Buch Das Unbehagen in der Kultur von 1930 schildert Freud den Einwand seines Freundes Romain Rolland, der als Wurzel der Religion ein mystisches Erleben »von etwas Unbegrenztem, Schrankenlosem« – ein »ozeanisches Gefühl« – vermutet (vgl. Freud, Das Unbehagen an der Kultur, 422 ff). Freud verweigert sich diesem Gedanken völlig und sieht in einem solchen Gefühl ein sekundäres Phänomen, etwas, was »nachträglich in Beziehung zur Religion geraten ist« und letztlich der Funktion der »Tröstung« dient (vgl. Freud, a. a. O., 430).

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Auch Freuds reduktionistisches Religionsverständnis in Verbindung mit der Angst hat bis in die Gegenwart gewirkt. Den wohl bemerkenswertesten Versuch einer ausführlichen Verhältnisbestimmung von Angst und Christentum im Anschluss an Freud hat 1944 Oskar Pfister unternommen.212 Ihm folgten bis heute zahlreiche Versuche einer Untersuchung der psychologisch-pathologischen Aspekte der Religion und ihres Verhältnisses zur Angst.213 Als weiteres Beispiel für reduktionistische Zugänge zur Religion im Zusammenhang mit der Angst ist die große Zahl jener Ansätze zu nennen, die sich der Religion in ihren geschichtlichen und empirischen Erscheinungsformen vergleichend zu nähern versucht. In den frühen religionsgeschichtlichen, religionspsychologischen und ethnologischen Ansätzen beispielsweise von James George Frazer, Edward Burnett Tylor, Wilhelm Wundt oder Robert Ranulph Marett wurden erstmals in umfassendem Maße empirische Studien über religiöse Kulte und Bräuche in unterschiedlichsten Kulturen eingeholt und verglichen. Auch wenn die hierbei entstandenen völkerpsychologischen, animistischen oder ethnologischen Entstehungstheorien der Religion in ihren Grundthesen durchaus zu intensiv ausgefochtenen Kontroversen führten und die Debatten der frühen religionswissenschaftlichen Forschung im 20. Jahrhundert bestimmten, besteht hinsichtlich der Angst im weitesten Sinne Einigkeit: Noch heute kann aus religions‑ und kulturwissenschaftlicher Perspektive als Mehrheitsmeinung gelten, dass Momente der Angst eine entscheidende Rolle im Zusammenhang mit der Religion und ihrer Entstehung spielen.214 Eben dieser Einwand Rollands scheint jedoch gerade auf jene Gefühlsdimension der Religion hinzudeuten, um die es Rudolf Otto in seinem Konzept des »mysterium tremendum« ging. Vgl. hierzu den Zweiten Teil dieser Untersuchung. 212 Vgl. Pfister, Das Christentum und die Angst. 213 Vgl. hierzu beispielweise Frankl, Der unbewußte Gott. Von großer Wirkung ist bis heute Erich Fromms im Rahmen des Dwight H. Terry Lectureship von 1949/50 vorgetragener Ansatz zur psychoanalytischen Bedeutung der Religion in: Fromm, Psychoanalysis and Religion. Nicht weniger weit verbreitet ist die im gleichen Jahr erschienene Studie von Rollo May: May, The Meaning of Anxiety. Einer der weitverbreitetsten Klassiker zum Entwurf einer psychoanalytischen Religionskritik im deutschsprachigen Raum ist bis heute die 1976 erschienene Schrift Moser, Gottesvergiftung, 2003 neu überdacht und rekapituliert in: Moser, Von der Gottesvergiftung zu einem erträglichen Gott. Für einen Überblick über die Debatten in den Siebzigerjahren vgl. Nase / Scharfenberg (Hg.), Psychoanalyse und Religion, und aus theologischer Perspektive u. a. Hartung, Angst und Schuld in Tiefenpsychologie und Theologie. Seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sind die Beiträge zur Schnittstelle von Religion, Seelsorge und Psychoanalyse bzw. Psychotherapie so zahlreich, dass sie hier kaum repräsentativ dargestellt werden können. Vgl. deshalb für einen Überblick einige deutschsprachige Sammelbände der letzten Jahre, u. a.: Gerlach/ Schlösser / Springer (Hg.), Psychoanalyse des Glaubens; Rattner / Danzer (Hg.), Religion und Psychoanalyse, sowie Noth / Morgenthaler (Hg.) Seelsorge und Psychoanalyse. 214 Eine frühe Ausnahme stellt Émile Durkheims Klassiker Les formes élémentaires des la vie religieuse von 1912 dar, in dem Durkheim das klassische »deos fecit timor« mit religionssoziologischen Argumenten ablehnt (vgl. Durkheim, Die elementaren Formen, 331). Indem

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Der Religionswissenschaftler Axel Michaels konnte deutlich machen, dass sich aus der bewusst gewählten Außenperspektive der Religionswissenschaften im Blick auf die Religionen ein ihr vorausliegender »Primat der Angst« kaum leugnen lässt und als verbreiteter Konsens gelten kann.215 Im Zuge eines Überblicks über religionswissenschaftliche und neurobiologische Überlegungen zum Verhältnis von Angst und Religion ergibt sich für Michaels die Einsicht, dass Angst und Religion eine »nahezu symbiotische Verbindung«  – freilich unter dem Primat der Angst  – aufweisen, die sich in der Evolutionsgeschichte auf unterschiedlichsten Ebenen nachweisen lässt:216 »Die Religionsgeschichte zeigt, dass es wohl keine Religion ohne hohe Angstanteile, Angstmacherei ebenso wie Angebote zur Angstbewältigung gibt.«217 Die Religionen erscheinen in diesem Zuge als evolutionsbedingte Facetten und Varianten »umfassender kognitiver Vor- und Fürsorgesysteme« zur Angstbewältigung.218 Den Gedanken eines genuin religiösen Erlebens, das sich von dem der Religion kausal vorangehenden Primat der Angst grundlegend unterscheidet, weist Michaels dabei für sich und die Religionswissenschaft überhaupt ab: ausdrücklich weiß er sich auf der Seite eines bewusst deskriptiven Standpunktes, der die Binnenperspektive der Religion nur sehr bedingt in seine Überlegungen einbezieht.219 Am Phänomen der Angst wird dabei ein Grundproblem in der Auseinandersetzung mit der Religion deutlich, das Michaels mit dem Hinweis auf den »unendlichen Streit zwischen Substantialisten und Funktionalisten« beschreibt: Aus religionswissenschaftlicher Sicht ist  – so referiert Michaels die

Durkheim vor allem die moralischen Kräfte der Gesellschaft bzw. die Gesellschaft selbst als eigentlichen Grund für die Entstehung und Erhaltung von Religion ausmacht, sieht er die »berühmte Formel Primus in orbe deos fecit timor […] durch keine Tatsachen bestätigt. Der Primitive hat in seinen Göttern keine Fremden, keine Feinde und keine im Grunde und notwendigerweise bösartigen Wesen gesehen, deren Gunst er um jeden Preis gewinnen mußte, sondern im Gegenteil viel eher Freunde und Verwandte, natürliche Beschützer« (a. a. O., 331 f). Indem Durkheim nicht die Kompensation von Angst, sondern die positiven Kräfte der Gesellschaft als Ursprung und Grund der Religion ausmacht, verfolgt er allerdings ebenfalls ein reduktionistisches Modell, dass demjenigen in der Tradition des »deos fecit timor« formal ähnlich ist: Auch bei Durkheim wird ein psychologischer und soziologisch greifbarer Vorgang als Grund der Religion angenommen, gleichwohl Durkheim diesen Grund nicht in der Angst, sondern in positiven Dynamiken der Gesellschaft sucht. 215  Vgl. Michaels, Religionen und der neurobiologische Primat der Angst, 91–136. 216  Vgl. Michaels, a. a. O., 91 f. 217 Vgl. Michaels, a. a. O., 96. 218 Vgl. Michaels, a. a. O., 91. 219 Vgl. Michaels, a. a. O., 102 f. Wichtig ist dieser Punkt besonders im Rahmen der vorliegenden Studie zu Rudolf Otto, den Michaels an dieser Stelle ausdrücklich zitiert. Während Michaels die deskriptiven Leistungen Ottos bezüglich des religiösen Erlebens ausdrücklich als prominenten Beitrag zur Erörterung des Verhältnisses von Angst und Religion würdigen kann (vgl. Michaels, a. a. O., 97 f), weist er Ottos theologische Deutung religiösen Angsterlebens im Sinne eines artbesonderen numinosen Fühlens als eine substantialistisch-normative Aussage für die Religionswissenschaft zurück (vgl. Michaels, a. a. O., 102).

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gegenwärtige Mehrheitsmeinung seines Fachs – ein funktionaler Blickwinkel auf die Religion geboten, der – anders als ein substantialistischer Ansatz, unter den Michaels auch Rudolf Otto zählt – kaum anders kann, als sich dem Paradigma »deos fecit timor« im Zuge empirischer Religionsforschung anzuschließen.220 Im Zuge seiner Studien zur kulturwissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Bedeutung der Angst sieht indessen Hartmut Böhme die Religionen als »symbolische Vorkehrungen gegen die Angst« an und kann hierfür eine von der Gegenwart bist zur antiken Aufklärung zurückreichende reduktionistische Tradition unter dem Motto des Petronius ausmachen.221 Schon anhand der hier gebotenen Auswahl weniger prominenter Beispiele222 zeichnet sich ab, dass sich in der Moderne die Verhältnisbestimmung von Angst und Religion zwar immer weiter ausdifferenziert und auf unterschiedlichen wissenschaftlichen Ebenen abspielt, jedoch zugleich im Kern in einem deutlichen ideengeschichtlichen Fluchtpunkt steht, der bis zum Motto des Petronius und darüber hinaus in die Antike zurückreicht. Bei aller Unterschiedlichkeit in Argumentation und Erkenntnisinteresse ergeben sich in zahlreichen Fällen deutliche Anknüpfungen an die Grundidee eines Kausalverhältnisses von Angst und Religion. Der gegenüber früheren Epochen entscheidende Unterschied in den Debatten der Moderne liegt dabei in der kulturellen und wissenschaftlichen Großwetterlage. Wie bereits in früheren Kapiteln deutlich wurde, ist hier die menschliche Angst kein Affekt unter anderen, sondern wird mehrheitlich als grundlegendes Gefühl des Selbst‑ und Weltverhältnisses und als Prinzip der modernen Gegenwartskultur empfunden. Dies verschärft die Brisanz des Verhältnisses von Angst und Religion deutlich, wie in den geschilderten Beispielen erkennbar wurde. Eine weitere Verschärfung gegenüber früheren Varianten des Paradigmas vom Kausalverhältnis zwischen Angst und Religion ist die moderne Grundsituation, die Hans Joas im Anschluss an Charles Taylor als die »säkulare Option« beschrieben hat.223 Die in Antike und Aufklärung nur latent angedeutete, in der Mehrheit aber abgelehnte letzte Konsequenz der These des kausalen Verhältnisses von Angst und Religion – die völlige Negation der Exis220 Vgl. Michaels, Religionen und der neurobiologische Primat der Angst, 102, sowie grundsätzlich an anderer Stelle: Michaels, Einleitung in: Ders. (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft, 8. Zur »neurobiologischen Grundierung« der jüngeren Religionswissenschaft im Bezug auf das Verhältnis von Angst und Religion in der Tradition der aufklärerischen Religionskritik vgl. auch Bähr, Furcht und Furchtlosigkeit, 39 f. 221 Unter den zahlreichen Schriften Böhmes zur Angst vgl. mit Verweisen auf Axel Michaels: Böhme, Vom phobos zur Angst, 175 f. 222 Freilich wären noch zahlreiche Spielarten, Weiterführungen und Adaptionen des antiken »Primus in orbe deos fecit timor« in Geschichte und Gegenwart zu nennen und zu untersuchen, um die Komplexität und Vielfalt der Verhältnisbestimmungen von Angst und Religion in der Moderne noch deutlicher zu machen. 223 Vgl. u. a. Joas, Die säkulare Option, 293–300.

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tenz Gottes, also offener Atheismus oder zumindest eine agnostische Haltung gegenüber der Religion – ist nun in der Moderne eine selbstverständliche und durchaus konsequente Schlussfolgerung, die weite Verbreitung gefunden hat. Insofern könnte man in der Moderne von einer Radikalisierung der »deos fecit timor«-These sprechen. Nicht allein die Verbindung von Angstaffekten mit Formen abergläubiger Volksfrömmigkeit, sondern die grundlegende Eigenständigkeit und Ursprünglichkeit der Religion, sowie ihr Absolutheitsanspruch stehen im Verhältnis von Religion und Angst nun zur Disposition. 2.2. Religion als Heilung der Angst? Theologische Adaptionen der ­reduktionistischen Verhältnisbestimmung von Angst und Religion Die ungeheure Präsenz des Angstbegriffs in der Moderne und seine Bedeutung für die Religion stellte für die Theologie im frühen 20. Jahrhundert eine nicht unbedeutende Herausforderung dar. Wie ist der breiten Front religionskritischer und reduktionistischer Anfragen, die in der Religion lediglich eine Kulturleistung zur Angstbewältigung sehen, von Seiten der Theologie zu begegnen? Diese Frage führt letztlich zu den eingangs formulierten Grundfragen der vorliegenden Arbeit zurück. Die im 20. Jahrhundert von der Theologie unterbreiteten Antworten und Lösungsvorschläge fallen nicht weniger komplex und vielfältig aus als die skizzierten kritischen Anfragen. Bevor im Hauptteil der vorliegenden Studie mit dem Werk Rudolf Ottos einem ganz eigenen Entwurf zur theologischen Deutung von Angst und Religion nachgegangen wird, soll nun zunächst einer kurz entfalteten Auswahl von Beispielen nachgegangen werden, die den Versuch unternommen haben, sich die antike These vom Kausalverhältnis von Angst und Religion zu eigen zu machen und einer theologischen Deutung zuzuführen. Dass es sich bei den nun kurz angeführten Entwürfen zu Angst und Religion letztlich um theologische Spielarten des Mottos des Petronius handelt, ist freilich eine Hypothese, die es im Zuge der vorliegenden Arbeit zu verfolgen gilt. Schon in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die moderne Religionskritik in der Theologie nicht nur als feindlicher Angriff sondern zunehmend auch als Herausforderung, wenn nicht sogar als Anregung empfunden.224 Dies gilt besonders für die Religionskritik aus dem Umfeld der Psychoanalyse, die gerade im Kontext des Angstbegriffs als produktiver Impuls von der Pastoraltheologie und Seelsorgetheorie aufgenommen wurde.225 Einer der bekanntesten Vorstöße in diesem Zusammenhang wurde bereits erwähnt: Der Versuch einer Synthese 224 Vgl. zu dieser These am Beispiel der Pastoraltheologie und Seelsorge Wagner-Rau, Religionskritik und Glaube in der Seelsorge, 95–107. 225 Vgl. Wagner-Rau, Religionskritik und Glaube in der Seelsorge, 97 ff. Als Beispiele vgl. u. a. die Studien zu Angst und Religion in psychoanalytischer Perspektive: Neumann, Der Weg aus der Angst und Ders., Leben ohne Angst, besonders orientiert an René Adler; Pfister,

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von Theologie, Seelsorge und Psychoanalyse bei Oskar Pfister.226 Als Schüler Sigmund Freuds rang Pfister intensiv um eine Integration der Psychoanalyse in die Seelsorge und machte dabei das Verhältnis von Angst und Christentum zum Gegenstand seines vielbeachteten Hauptwerks von 1944. Petronius’ »Primus in orbe deos fecit timor« wird dabei nicht etwa relativiert, sondern ausdrücklich bejaht und zur Grundlage von Pfisters »religionshygienischem« Ansatz gemacht.227 Den Gedanken, die Religion sei im Wesentlichen die Antwort auf die allgegenwärtige Angst des Menschen, macht Pfister zum Angelpunkt seines Entwurfs, wenn er feststellt, »daß die Bekämpfung der Angst, besonders der Gewissens‑ oder Schuldangst, zu den wichtigsten Anliegen des Christentums gehört und auch für den Ausbau seiner Glaubensvorstellungen, seines Kultus, seiner gesamten Lebensgestaltung von allergrößter Bedeutung ist.«228

Die entscheidende Antwort des Christentums auf die Angst und sein maßgebliches therapeutisches Potential für die Seelsorge lokalisiert Pfister im christlichen Gedanken der Liebe. In der unüberbietbaren Liebe, die er von der Bibel bis in die Gegenwart in der Geschichte des Christentums beschrieben und in Jesus Christus in vollkommener Weise verkörpert findet, sieht Pfister das entscheidende Mittel der Angstüberwindung in der christlichen Religion:229 »Das Christentum ist, dies soll man nie übersehen, Kampf mit der Angst, der ungeheuren Lebensangst, vor der keiner wirklich gesichert ist, der nicht die vollkommene Liebe in sich trägt. Der Christ und der profane Seelenarzt haben es in gewissem Sinne mit demselben Feinde zu tun.«230

Heilung von der Angst ist damit laut Pfister der Grundsinn und Inhalt der Religion und des Gedankens der Liebe im Christentum überhaupt. Die grundsätzliche Infragestellung und Kritik der Religion, wie sie sich aus den modernen Das Christentum und die Angst, bes. orientiert an Sigmund Freud; Bovet, Die Angst vor dem lebendigen Gott, in erster Linie an Carl Gustav Jung orientiert. 226  Vgl. Pfister, Das Christentum und die Angst und grundlegend zum Ansatz Pfisters: Nase, Oskar Pfisters analytische Seelsorge. 227 Zu Pfisters Vorhaben der »Religionshygiene« vgl. Pfister, Das Christentum und die Angst, 6 f, zur Beurteilung des Petroniuswortes vgl. Pfister, a. a. O., 120. Bemerkenswert ist, dass Pfister in einem Zuge mit dem Motto des Petronius auf Ottos »Meisteranalyse« Das Heilige verweist und demnach offensichtlich Ottos Begriff des »tremendum« als religionspsychologische Formulierung für den Angstbegriff versteht. Vgl. hierzu die Kritik an Pfisters problematischer Ottolesart unten im Zweiten Teil, Kap. V, 1.3. 228 Pfister, Das Christentum und die Angst, 443. 229 So fasst Thomas Bonhoeffer in seinem Vorwort zu der Neuausgabe von 1975 den zentralen Gedanken Pfisters zusammen: »Liebe ist das Hauptthema« und »Jesus löst die Angst vornehmlich, indem er Gott als den liebenden Vater nahebringt« (vgl. Bonhoeffers Vorwort zur zweiten Aufl. in Pfister, Das Christentum und die Angst, X). Zur Heilung der Angst durch Liebe am Beispiel Jesu vgl. Pfister, Das Christentum und die Angst, 180 f. 230 Pfister, Das Christentum und die Angst, 444.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

Weiterführungen des antiken »deos fecit timor« ergibt, blendet Pfister dabei bewusst aus und verzichtet auf eine theologische Erörterung der These des Kausalverhältnisses von Angst und Religion, indem er ankündigt, »bei der psychologischen und hygienischen Untersuchung stehenbleiben« zu wollen und sich »der erkenntnistheoretischen, metaphysischen, ethischen und glaubenswissenschaftlichen Erledigung der Fragen, die sich aus der Lösung des religionspsychologischen und religionshygienischen Angstproblems ergeben«, zu enthalten.231 Die religionskritischen Töne, die den Gedanken des Kausalverhältnisses von Angst und Religion seit der Antike stets begleiteten, werden also weitgehend zurückgestellt und stattdessen die heilenden und angstüberwindenden Kräfte und Funktionen der Religion stark gemacht.232 Was man der Religion in der Tradition der Religionskritik vorwarf, nämlich lediglich ein volkstümliches Sedativum für menschliche Ängste zu sein, wird bei Pfister also als die eigentliche Tugend der Religion und insbesondere des Christentums angesehen. Besonders in der deutschsprachigen katholischen Theologie wurde dieser Gedanke seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in der einen oder anderen Weise immer wieder vertreten. In seinem Buch Der Christ und die Angst233 von 1951 vertritt Hans Urs von Balthasar die These, die Angst sei für den Christen schlechterdings »unmöglich geworden«234 und es vollziehe sich im christlichen Glauben die »vollkommene und endgültige Besiegung der menschlichen Angst durch das Kreuz«.235 Es steht also auch in Balthasars Theologie der Angst die Bedeutung des christlichen Glaubens als Heilmittel gegen die Angst deutlich im Vordergrund. Freilich mit einem inhaltlich und methodisch anderen Ansatz als Balthasar und dennoch hinsichtlich der Angst mit einem ähnlichen Grundgedanken verfährt seit den Achtzigerjahren der vielbeachtete Ansatz Eugen Drewermanns, der mittels einer tiefenpsychologischen Bibelexegese die Heilung des Menschen von der Angst um sich selbst als Proprium des Christentums und der Religion überhaupt aufzuzeigen versucht.236 Ganz ähnlich hat in den 231  Vgl. Pfister, Das Christentum und die Angst, 6. Pfister verfolgt damit an dieser Stelle dezidiert kein theologisches Interesse. 232 Vgl. zu diesem Programm auch die Auseinandersetzung zur Religion im Briefwechsel zwischen Pfister und Freud: Noth/ Morgenthaler (Hg.), Sigmund Freud-Oskar Pfister. 233 Balthasar, Der Christ und die Angst. 234  Vgl. Balthasar, Der Christ und die Angst, 45. 235  Balthasar, Der Christ und die Angst, 42. Thorsten Dietz sieht hierin förmlich einen grundsätzlichen Gegenentwurf zu der lutherische Idee des »angefochtenen Glaubens«, der gerade keinen angst-heilenden Anspruch erhebt, sondern vielmehr die Wirklichkeit der Angst in den Rechtfertigungsgedanken als aufgehobene Angst integriert (vgl. hierzu Dietz, Der Begriff der Furcht, 375 f). 236 Von den tiefenpsychologischen Werken Drewermanns vgl. besonders die drei Bände: Drewermann, Psychoanalyse und Moraltheologie von 1992, sowie das zweibändige Werk Drewermann, Tiefenpsychologie und Exegese. Zur Kritik an Drewermanns Werk als einer »Funktionalisierung der Religion im Dienste der Überwindung der Angst« vgl. SchneiderFlume, Angst und Glaube, 486 und im weiteren Zusammenhang Dies., a. a. O., 478–495.

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letzten Jahrzehnten Eugen Biser immer wieder auf die angstheilenden Kräfte des Christentums und der christlichen Botschaft aufmerksam gemacht im Verweis auf »die Initiativen Jesu, die aus der Ambivalenz der menschlichen Grundverhältnisse in die rettende Eindeutigkeit führen. […] Denn diese Botschaft überwindet das angsterregende Selbstzerwürfnis des Menschen dadurch, daß sie ihn dem Herzen Gottes in einer Weise nahebringt, die keine Angst mehr aufkommen läßt.«237

Der Jesusbotschaft wird bei Biser zugetraut, die Angst des Menschen förmlich ins Gegenteil zu verkehren und letztlich der »Königsweg der Angstüberwindung« zu sein: »Wo bisher die Angst das Menschenherz zerfraß, halten nun Hoffnung, Zuversicht und Vertrauen Einkehr.«238 Dahinter steht der Gedanke einer »therapeutischen Theologie«, die in der heilenden Funktion des Christentums  – insbesondere in der Heilung der Angst  – nicht weniger als die der Theologie »angemessene  – und angestammte  – Grundgestalt« sieht.239 In den zahlreichen Beiträgen – noch eine Reihe weiterer Beispiele ließe sich nennen – zur Idee der »Entängstigung« als Kerngeschäft des Christentums wird damit nicht nur eine theologische Antwort auf das Motto »deos fecit timor« gegeben, sondern es wird zugleich auch eine entschieden antimoderne Haltung deutlich, die sich durch den Rückzug in binnentheologische Sprach‑ und Denkfiguren den Ambivalenzen und Angstdebatten der Moderne zu entziehen oder sich ihnen als heilvolle Alternative entgegen zu werfen versucht.240 237 Biser,

Gesichter und Wurzeln der Lebensangst, 29. Biser, Gesichter und Wurzeln der Lebensangst, 30 f. Der Grund für das beschriebene fundamentale Umschlagen der Angst in Folge der Jesusbotschaft und ihrer Verkündigung bleibt bei Biser leider ebenso unbestimmt wie der empirische Nachweis für die tatsächliche Angstfreiheit und ungebrochene Zuversicht der Christengemeinde. Grundsätzlich zu Bisers Programm des Christentums als »Religion der Angstüberwindung« vgl. Biser, Das Christentum, 163–195. 239 Vgl. Biser, Aufriß einer therapeutischen Theologie, 199, und ausführlich: Biser, Theologie als Therapie. Vgl. dazu Müller, Angst der Menschen, 55 f. 240 Vgl. hierzu beispielweise die Beiträge in dem Sammelband Möde (Hg.), Leben zwischen Angst und Hoffnung, und darin insbesondere die Beiträge von Eugen Biser, Erwin Möde, sowie der besonders eigenwillige Ansatz einer die Angst besiegenden »Jesustherapie« von Baltasar Staehelin. Mit der These »je moderner Gesellschaften werden, desto höher ist das Niveau diffuser Ängste« entwirft Paul Michael Zulehner ein besonders krasses Bild der Gegenwart als einer Zeit der »Verwöhnungskultur«, der »Daseinsinkompetenz« (vgl. Zulehner, Angstlust, 53), sowie der latenten und flächendeckenden »Unersättlichkeit« nach »Gütern und Karriere« (a. a. O., 54 f). Je desolater Zulehner die Gegenwart der nach Glück jagenden »Therapiegesellschaft« zeichnet, desto grandioser malt er die demgegenüber entängstigende Kraft des Christentums aus, die in diesem Kontext schon fast nach einem Gegenmittel klingt: »Wer wirklich felsenfest auf Gott setzt, erlebt in der Tat Entängstigung an der Wurzel seiner Seele, wo eine tiefsitzende Daseinsangst krank macht […]. Religion, genauer biblischer Glaube als Entängstigung des Menschen.« (a. a. O., 57). Zulehner sieht schließlich in christlichen Gemeinden Orte des angstfreien Lebensmuts und der Entängstigung: »Kirchen, die solche Orte bilden, können zu angstarmen Oasen inmitten einer bedrängten Angstgesellschaft werden« (a. a. O., 57). Dabei bleibt Zulehner jedoch schuldig zu erklären, wie jene sozio-psychologischen Heilkräfte des Christentums genau zustande kommen und wirken. 238 Vgl.

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

Offensichtlich forderten die abgründigen Erfahrungen der beiden Weltkriege und die bereits beschriebene ubiquitäre Präsenz des Angstbegriffs in der Moderne die Theologie und die Kirchen geradezu heraus, sich als Gegengewicht und heilvolle Instanz im Zeitalter der Angst zu begreifen.241 Emil Brunner lässt die Angst in der Moderne in diesem Sinne geradezu als Gottesgericht erscheinen, das über den »modernen Europäer«, der »nicht mehr an Gott, sondern an sich selbst glaubt«, hereinbricht.242 In einem Vortrag zur Angst, den er 1953 auf einer Europakonferenz des CVJM in Kassel hielt,243 schildert Brunner den Menschen der Moderne als einen am »Schaltbrett und Steuer des Zukunftsschicksals«244 stehenden »Fortschrittsoptimisten«, der in seiner selbstgewählten Autonomie angesichts der Katastrophen der Moderne in die Krise gerät und aufgrund seiner glaubenslosen Heimatlosigkeit der Angst anheimfällt:245 »Den Gottesglauben der Christen hat er [der moderne Mensch] nicht mehr, den hat er, wie Hans im Glück seinen Goldklumpen, eingetauscht gegen das billige Leichtmetall seines Selbstvertrauens, und mit diesem Tausch hat er nun alle Gewißheiten verloren, und darum lebt er in der Angst. Denn wenn der Mensch in Ungewißheit lebt, muss er in Angst leben.«246

Brunnners Vortrag endet schließlich mit einem ermahnenden Umkehrruf: »Noch ist es Zeit: Die Angst kann durch Christus überwunden werden!«247

241 Vgl. hierzu die 1950 verfasste Studie von Paul Tillich zu der Beurteilung angstreduzierender Kräfte der Kultur: Tillich, Anxiety-Reducing Agencies in Our Culture, 239–247. Tillich macht hier eindrücklich deutlich, dass Theologie und Kirche in der Moderne dazu neigen, sich ebenso wie andere kulturelle Kräfte als angstlindernde Instanz zu begreifen. Damit laufen sie seiner Auffassung nach dem Wesen der Religion gerade entgegen, deren Mission laut Tillich nicht die Angstreduzierung ist, sondern die Konfrontation mit der Angst und die unmittelbare und mutige Bejahung derselben (vgl. besonders a. a. O., 245–247). 242 Vgl. Brunner, Von der Angst, 297. 243 Vgl. Brunner, Von der Angst, 287–301. Der Herausgeber des Aufsatzes, Rudolf ­Wehrli, bezeichnet den Aufsatz sogar als »Vermächtnis« Brunners (vgl. a. a. O., 287). 244  Vgl. Brunner, Von der Angst, 290. 245 Vgl. Brunner, Von der Angst, 294 ff. Brunner spricht in diesem Zusammenhang von der Moderne als einer Zeit, »als die Menschen anfingen, ihre Gewißheit nicht mehr auf Gott, sondern auf sich selbst zu gründen und nicht mehr von Gott, sondern von sich selbst die Erlösung zu erhoffen« (Brunner, a. a. O., 296). 246  Brunner, Von der Angst, 297. Schließlich bezeichnet Brunner die Angst geradezu als »Heimweh« des modernen Europäers »nach dem verlassenen Vaterhaus« (Brunner, a. a. O., 300). 247 Brunner, Von der Angst, 301. In der Grundaussage ganz ähnlich verfährt mit dem Verhältnis von Angst, Moderne und Christentum Helmut Thielicke in den Fünfzigerjahren. Vgl. hierzu beispielsweise das Buch Thielicke, Die Lebensangst und ihre Überwindung. Auch hier wird der christliche Gottesgedanke als Heilungsmoment der Angst verstanden: »Wer durch Christus erkennt, daß es einen väterlichen Weltgrund gibt und daß er geliebt ist, der verliert die Angst.« (Thielicke, Die Lebensangst, 19, Hervorhebung im Original gesperrt). Vgl. in diesem Sinne auch Thielicke, Theologische Dimensionen der Angst, 23–38.

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Im Zusammenhang der hier vorgestellten Auswahl theologischer Verhältnisbestimmungen von Angst und Religion mit ihrem Ziel der Heilung und Überwindung der Angst im Christentum stellt sich bei aller theologischen Beredsamkeit dennoch der Verdacht ein, dass es sich hier letztlich um moderne Varianten dessen handelt, was Arthur Schopenhauer im oben zitierten Verweis auf das Petroniusmotto als »keraunologischen Gottesbeweis« bezeichnete: Die Notwendigkeit Gottes und der Religion überhaupt wird mit dem Problem der Angst förmlich zu begründen versucht.248 Das Paradigma des Kausalverhältnisses von Angst und Religion unter Absehung von seinen religionskritischen Aspekten wird dabei regelrecht für das Christentum in Dienst genommen. Es sieht in diesem Blickwinkel einstweilen so aus, als komme ironischerweise der antiken Philosophie und ihren Erben die Aufgabe zu, die anthropologische Wirklichkeit der Sünde und Gottesferne zu beschreiben, für die das Christentum das konkurrenzlose Überwindungspotential zu haben beansprucht. Das Motto »deos fecit timor« erhält in diesem Sinne ein christlich-theologisches Vorzeichen, indem es die Fragen und Probleme markiert, für die das Christentum die Antworten und Lösungen bereitstellen soll. Grundsätzlich fraglich ist dabei jedoch zunächst der Heilungserfolg. Es bleibt offen, ob das Christentum dem Anspruch eines angstheilenden Therapeutikums und der Glaube der Rolle eines Gegenbegriffs zur Angst überhaupt standzuhalten vermögen. Gerade das 20. Jahrhundert legt – wie im Kapitel zu Angst und Moderne gezeigt wurde – eher den Verdacht nahe, dass die menschliche Angst keineswegs heilbar und überwindbar, sondern eher ein das Menschsein des Menschen von Grund auf konstituierendes, anthropologisches Prinzip ist, dem nicht nur moderne kirchenferne Atheisten, sondern auch fromme Christen in ihrem Leben und Sterben unweigerlich ausgesetzt sind. Gleichwohl in der Religion sicherlich auch therapeutische Eigenschaften wirksam sind, so ist es sicher zu optimistisch, von ihr deshalb eine grundsätzliche Heilung der Angst zu erwarten. Davon abgesehen ist auch der apologetische Anspruch in den geschilderten Modellen durchaus fragwürdig. Der Versuch, den christlichen Glauben als Mittel gegen die moderne Angst zu behaupten, lässt sich, wie Klaus Schwarzwäller treffend deutlich macht, von einem apodiktischen Mahnwort wie »Auch du brauchst Jesus« kaum unterscheiden.249 Eindringlich weist Schwarzwäller damit auf die Gefahr hin, Jesus Christus so zu einem »christlich verkleideten Götzen« zu degradieren und das Christentum und die Religion überhaupt  – ganz auf der Linie der Religionskritik – als angstlindernde »Zweckerfindung« zu miss248 Zu

der Äußerung Schopenhauers vgl. oben den Schlussteil von Kap. II, 1.2. Gunda Schneider-Flume postuliert im Kontext ihrer Kritik an Eugen Drewermanns Angstdeutung ganz in diesem Sinne, es werde anhand der Angst »die anthropologische Notwendigkeit Gottes aufgewiesen« (vgl. Schneider-Flume, Angst und Glaube, 487). 249 Vgl. Schwarzwäller, Die Angst, 10 f. Die ausführliche Kritik Schwarzwällers richtet sich insbesondere gegen die bereits erwähnte Theologie der Angst von Helmut Thielicke.

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brauchen.250 Gemeint ist damit eine radikale Selbstbeschränkung der Theologie auf die angstheilenden Faktoren der Religion mit dem Preis der Banalisierung ihrer theologisch-dogmatischen Gehalte. Prominente theologische Stimmen des Protestantismus im 20. Jahrhundert haben sich daher gegen eine derartige theologische Adaption des Paradigmas vom Kausalverhältnis von Angst und Religion verwahrt. Bevor Rudolf Ottos Einspruch gegen das Motto »deos fecit timor« im Hauptteil der vorliegenden Studie vorgestellt werden soll, sind wenigstens zwei weitere Beispiele für derartige theologische Gegenentwürfe kurz zu vergegenwärtigen. Als eine der prominentesten protestantischen Alternativen zum Modell einer therapeutischen Theologie der Angstheilung kann die Theologie der Angst von Paul Tillich gelten. In zahlreichen Schriften, besonders aber in seinem berühmten Buch The Courage To Be von 1952, macht Tillich deutlich, es könne der Religion sowohl aus empirisch-psychologischen, als auch aus theologischen Gründen grundsätzlich nicht um das Ziel der völligen Überwindung der Angst gehen, sondern es sei vielmehr die Bejahung der Angst ein fundamentaler Teil der Glaubensparadoxie selber. Besonders in seinem Spätwerk verfolgt Tillich dabei den grundlegenden Gedanken, dass Angst und Religion keinen Gegensatz, sondern eine unauflösbare Korrelation bilden. Die Angst ist laut Tillich nicht ein von der Religion zu bekämpfendes und zu überwindendes Übel, sondern konstituiert geradezu jene Konfrontation mit der eigenen Endlichkeit und Bedingtheit, ohne die der Gottesgedanke gar nicht verstehbar wäre: »Nur wer die Erschütterung der Vergänglichkeit erfahren hat, die Drohung des Nichtseins, kann verstehen, was der Gottesgedanke meint«.251 250 Vgl. Schwarzwäller, Die Angst, 13. Nicht ohne polemische Schärfe kritisiert Schwarzwäller jene theologischen Entwürfe zur Angst, die tendenziell in Glaube und Evangelium ein Mittel der Angstüberwindung sehen (vgl. Schwarzwäller, a. a. O., 45 f). Schwarzwäller richtet sich dabei insbesondere gegen Ansätze aus den Fünfzigerjahren von Otto Haendler, Hans Urs v. Balthasar, Theodor Bovet und Emil v. Gebsattel. Als Begründung für seine Kritik verweist Schwarzwäller auf die anthropologische Notwendigkeit der Angst im alltäglichen Leben: »Einfachhin die Überwindung der Angst sich zum Ziel zu setzen, ist wider das Evangelium und unmenschlich« (Schwarzwäller, a. a. O., 46.). Ob Schwarzwäller in seiner Kritik allerdings dem Entwurf Otto Haendlers gerecht wird, ist fraglich, denn Haendlers Buch zur Angst geht theologisch ungleich sensibler vor als Balthasar, Bovet und Gebsattel und liegt inhaltlich nicht weit von dem Angstverständnis Paul Tillichs entfernt, das Schwarzwäller ausdrücklich schätzt. Als positives Beispiel einer Theologie der Angst, die auf die Indienstnahme des Christentums als Institution der Angstheilung verzichtet, verweist Schwarzwäller selbst auf eben jenen Paul Tillich und dessen Werk Der Mut zum Sein. In der jüngeren Vergangenheit wurde die Idee, den Glauben als Lösung der Angst zu verstehen, ganz in diesem Sinne auch u. a. von Ulrich H. J.  Körtner als problematisches »Frage-Antwort-Schema« kritisiert und ebenfalls der Konzeption Tillichs entgegengestellt (vgl. Körtner, Um Trost war mir sehr bange, 73). 251 Vgl. Tillich, Systematische Theologie I, 76. In Tillichs Aufsatz zur Methode der Korrelation heißt es demnach: »God becomes the correlate to human anxiety and contingency, […] a symbol of a transcendet courage« (vgl. Tillich, The Problem of theological Method, 311).

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Glaube und Angst sind demnach bei Tillich keine in einem Kausalverhältnis stehenden und konkurrierenden Gegensätze, sondern bilden eine Korrelation, die dem Wesen der Religion überhaupt zugrunde liegt.252 Nicht die Abwehr, sondern die Bejahung und das Aufsichnehmen der Angst ist damit das Kerngeschäft der Religion,253 die nach Meinung Tillichs die Angst daher eher steigert und betont, anstatt sie zu lindern oder zu betäuben.254 Wie das bekannte Schlusswort von Der Mut zum Sein zeigt, ist damit das Ziel von Tillichs Theologie der Angst letztlich eine eigentümliche Paradoxie: »Der Mut zum Sein gründet in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels untergegangen ist«.255 Nicht die Überwindung der Angst kann der Glaube demnach bieten, sondern er ist Ausdrucksform eines Mutes, der sich überhaupt in der Angst und durch sie hindurch erst entfalten kann. Die Angst als tiefste Ausdrucksform menschlicher Existenz und Verlorenheit wird nach Tillichs rechtfertigungstheologischer Idee eines »absoluten Glaubens« an den »Gott über Gott« nicht betäubt oder therapiert, sondern aufgehoben, indem die Angst auf paradoxe Weise gerade in ihrer Bejahung in den Gedanken der Erlösung und der Teilhabe am Sein-Selbst integriert werden kann.256 Ganz anders als bei Tillich und dennoch mindestens ebenso grundsätzlich fällt der Einspruch gegen die Idee angstheilender und therapeutischer Kräfte des christlichen Glaubens bei Karl Barth aus. Im Kontext der ekklesiologischen Ausführungen im Rahmen seiner Erlösungslehre macht sich Barth die religionskritischen Implikationen des Petroniuswortes und seiner Wirkungsgeschichte ausdrücklich zu Eigen. Er unterstreicht den Gedanken von der grundsätzlichen Erlösungsbedürftigkeit der Angst als grundlegenden Aspekt des menschlichen Wesens und betont, es bleibe dem Menschen unter den Bedingungen seiner eigenen Möglichkeiten eigentlich gar nichts anderes übrig, als einen »bewußt und 252  Zur Bedeutung des Angstbegriffs bei Tillich im Zusammenhang mit dem Gedanken der Korrelation vgl. Schüz, Der Begriff Angst, 327–345, sowie Ott, Die Sinn-Angst, 149–165, Coe, Angst and the Abyss, 157 ff und Koch, Gott: Die Macht des Seins, 169–206. 253 Vgl. Hierzu nochmals den eingangs geschilderten Vortrag Tillichs zum Verhältnis von Angst und Kultur, in dem neben der Angst als »negative side« des »ultimate concern« auch die positive Seite des Mutes beschrieben wird: »positively is the experience of an ultimate courage which takes the anxiety upon itself and faces the thread of nonbeing.« (Tillich, AnxietyReducing Agencies, 242). 254 Vgl. hierzu Tillich, Anxiety-Reducing Agencies, 245: »Religion as a part of the whole culture produces, more than it reduces, anxiety. Only religion as the substance and the ultimate basis of culture can create the courage which is capable of meeting man’s fundamental anxiety«. In diesem Zusammenhang zieht Tillich eine kulturtheologische Parallele zur modernen Kunst. Auch in ihr sieht Tillich der Religion analoge Momente der Konfrontation mit der Angst. 255 Tillich, Der Mut zum Sein, 139 (kursiv im Orig.). 256 Der »absolute Glaube« bedeutet, wie es in der Erstausgabe heißt, »the accepting of the acceptance without somebody or something that accepts« (Tillich, The Courage to Be, 22).

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

unbewußt geübten Götter‑ und Götzendienst[.] Primus timor fecit deos« zu entwerfen und sich an ihn zu halten.257 Wie in der Vergötterung und Vergötzung der Welt in den Religionen, so sieht Barth auch in den »von jeher unternommenen Entgötterungen der Welt«  – gemeint ist hiermit die klassische Religionskritik seit der Antike – ebenso plausible wie hilflose und letztlich aussichtslose Versuche, mit der Grundsituation menschlichen Lebens fertig zu werden. In den Formen »sowohl des hitzigen und phantasievollen Aberglaubens als auch des kalten und phantasielosen Unglaubens aller Zeiten und Zonen« bringen nach Barth letztlich »Leidende und gegen ihr Leid sich aufbäumende Geschöpfe« ihren seit allen Zeiten der Menschheitsgeschichte währenden Kampf gegen die Angst zum Ausdruck.258 Sowohl die Religionen, als auch der Atheismus müssen nach Barths Auffassung letztlich gleichermaßen ihr Ziel – die Erlösung von der Angst – verfehlen. Beide sind seiner Auffassung nach zum Scheitern verurteilte »Verrenkungen und Kapriolen«, in denen der Mensch sich verzweifelt »seiner Not und Angst zu entledigen versucht«.259 An dieser Stelle setzt nun Barths offen­barungstheologische Pointe an. Sie besteht darin, dass Barth den christlichen Glauben und das von ihm zeugende Evangelium gerade nicht als Religion unter Religionen versteht, sondern vielmehr als ein ihm förmlich entgegengesetztes Zeugnis der Offenbarung Gottes. Die Angst des Menschen und seine »kümmerliche[n] Versuche, sich ihrer zu entledigen«, sind bei Barth geradezu das Symptom dessen, was seiner Auffassung nach im Evangelium ans Licht gebracht wird: Die Götter und Götzen der Religionen sind laut Barth das natürliche Selbsthilfeprogramm des »das Evangelium nicht vernehmenden Menschen«, der in seinen Hoffnungen und Ängsten auf sich selbst angewiesen ist.260 Das Evangelium von Jesus Christus steht damit bei Barth dem Kausalverhältnis von Angst und Religion fundamental entgegen. Das Evangelium lässt deutlich werden, dass der Mensch ohne das Wort Gottes gar nicht anders kann, als sich in hoffnungsloser Weise um die Linderung seiner Angst zu bemühen und dabei letztlich doch zu scheitern. Barth erkennt im Evangelium dabei keine weitere Variante im Versuch, die Angst des Menschen zu heilen oder zu überwinden, sondern vielmehr eine Relativierung und Überwindung des Heilungsbedürfnisses überhaupt. Im Evangelium erkennt der Mensch nach Meinung Barths gerade angesichts seiner Angst, dass er seiner Angst und Not »nicht nur nicht verfallen, sondern schon entrissen« ist und »die Erkenntnis seiner schon geschehenen Befreiung aus jenem 257 Vgl.

Barth, Die Kirchliche Dogmatik, IV, 3, 924. Barth, a. a. O., 924 f. 259 Vgl. Barth, a. a. O., 926 f. »Aberglaube« – also die aus Angst entstandene Religion – und »Unglaube« bringen laut Barth dem Menschen letztlich »weder Freude noch auch nur Ruhe« und verhindern nicht, dass der Mensch weiterhin »vor noch mehr kommender Not Angst hat und dieser Not und Angst wehren, ihr bald nach dieser, bald nach jener Seite entrinnen möchte und doch nicht entrinnen kann.« (vgl. Barth, a. a. O., 925). 260 Vgl. Barth, a. a. O., 924. 258 Vgl.

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fatalen Status und damit seine Betätigung als ein aus ihr schon Befreiter« erst deutlich wird. Einmal mehr bedient sich Barth an dieser Stelle der dialektischen Funktion des Begriffs der »Aufhebung«, den er nun auf die Angst anwendet: »Was dem Menschen, an den Gott sich in seinem Wort wendet, laut dessen Inhalt von Gott zugedacht und bestimmt ist, das ist mit der Beseitigung seiner Unkenntnis, mit der Erkenntnis seines Wortes, mit seiner Erweckung zum Glauben und zum Gehorsam, mit seiner Bekehrung vom potentiellen zum aktuellen Christen die Aufhebung der Not, die er sich mit seinem Selbstwiderspruch, mit seiner Verleugnung seiner in Jesus Christus schon geschaffenen neuen Wirklichkeit bereitet, und so auch die Vertreibung der Angst, die ihn in dieser Not als Furcht vor noch größerer Not zugleich aufregt und niederdrückt und zu so vielen diese größere Not erst recht herbeiziehenden Angstbewegungen veranlaßt.«261

Was Barth hier schildert, könnte man eine offenbarungstheologische Aneignung des Paradigmas »Primus in orbe deos fecit timor« nennen. Das Motto wird insofern als zutreffende Aussage bejaht, als es sich gegen jene anthropologischen Formen und Strukturen der Religionen richtet, von denen sich nach Barths Auffassung die Botschaft des Evangeliums gerade distanziert und restlos unterscheidet. Nicht die Heilung der Angst ist damit die Aufgabe des christlichen Glaubens, sondern ihre »Aufhebung«: Gerade an der Angst des Menschen zeigt sich die Ausweglosigkeit seiner Situation, an der – so die These – die Heilsbotschaft des Evangeliums überhaupt erst verstanden werden kann. Ganz abgesehen davon, wie man ihre theologischen Argumentationen im Einzelnen bewerten mag, wird schon am Beispiel Barths und Tillichs deutlich, dass eine theologische Auseinandersetzung mit dem klassischen Paradigma vom Kausalverhältnis von Angst und Religion nicht zwangsläufig in einer Adaption der These enden muss, die Religion sei ein mehr oder minder erfolgreiches Mittel zur Heilung menschlicher Angst. Beide – Tillich wie Barth – bringen auf je eigene Weise zum Ausdruck, dass die These hinter dem Motto »Primus in orbe deos fecit timor« das Proprium des christlichen Glaubens nur bedingt trifft, nämlich nur insofern, als auch das Christentum eine geschichtliche Religion ist, in der das menschliche Bedürfnis nach Linderung der Angst stets eine nicht unbedeutende soziale und psychologische Rolle spielt. Eine psychologisch-therapeutische Wirkungsleistung religiöser Lebensaspekte ist also nicht von der Hand zu weisen. Ausdrücklich ist dabei aber nur ein medizinisch-therapeutischer Teilaspekt religiöser Lebensvollzüge im Blick, der sich allein auf psychologisch-kompensatorische Mechanismen beschränkt. Der eigentliche Kern der christlichen Botschaft ist jedoch  – dies machen Tillich und Barth auf ganz unterschiedlichen Wegen deutlich  – gerade keine therapeutische Kompensationsstrategie menschlicher Ängste, sondern die viel grundlegendere Botschaft vom Heil und der Versöhnung der Welt mit Gott, die durch die Angst des Menschen hindurch überhaupt 261 Barth,

a. a. O., 928 (Hervorhebung im Original gesperrt).

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erst verstanden und wirksam werden kann. Tillich und Barth stehen damit auf je eigene Weise für die bereits angesprochene Binnenperspektive der Religion, deren heilsökonomische, eschatologische oder sündentheologische Dimension die Angst in einem völlig neuen Licht erscheinen lässt und förmlich transzendiert.

3. Fazit: Das reduktionistische Paradigma »deos fecit timor« und seine Kritik Die Darstellung ausgewählter Beispiele in der Tradition des antiken Mottos »Primus in orbe deos fecit timor« hat gezeigt, dass sich von den religionskritischen Fragmenten aus vorsokratischer Zeit bis in die Epoche der Aufklärung und darüber hinaus eine ideengeschichtliche Linie zum Verhältnis von Angst und Religion nachzeichnen lässt, die bis in die Moderne und in die Gegenwart reicht. Als Gemeinsamkeit unter den dargestellten Positionen wurde dabei die These herausgearbeitet, dass Angst und Religion in einem Kausalverhältnis stehen: Angst gilt als Ursache der Religion, Religion als Ursache von Angst. Die menschliche Phantasie und Kultur bringt demnach als ein Mittel der Projektion und der Bewältigung der Angst die Religion hervor, die wiederum in ihren Mythen und Götterbildern ihrerseits selbst Angst erzeugen kann. Der bis in die Gegenwart vielrezipierte Grundsatz jenes Verhältnisses von Angst und Religion war über Jahrhunderte eine Hypothese, die sich allein auf die Lebenserfahrung einzelner Denker und deren Forschungen stützen musste. Erst seit wenigen Jahrzehnten werden auch Untersuchungen der Geschichtsforschung unternommen, die dabei helfen, das Paradigma des Petronius anhand historischer Quellen als Gesellschafts‑ und Epochenphänomen zu überprüfen und nachzuvollziehen. In derartigen mentalitäts‑ und sozialgeschichtlichen Studien scheint sich die Hypothese eines kausalen Verhältnisses zwischen Angst und Religion zu bestätigen. Untersuchungen zur Religions‑ und Sozialgeschichte in der Antike haben gezeigt, dass auch schon in den frühen Hochkulturen, im alten Griechenland und im Römischen Reich die Ängste des Menschen ihren festen Ort in der Religion hatten.262 Es scheint daher kaum unwahrscheinlich zu sein, dass die Ängste des Menschen das religiöse Leben, ja die Ausdrucksformen und kulturellen Erscheinunsgformen der Religionen maßgeblich mit 262 Zu Angst und Religion in den frühen Großreichen der Antike vgl. beispielsweise die Hinweise zum alten Mesopotamien in Jenni, Angst und Hoffnung bei den alten Babyloniern, 9–24, sowie im alten Ägypten in Assmann, Altägyptische Ängste, 59–73. Als Klassiker zu Angst und Religion in der Antike vgl. Dodds, The Greeks and the Irrational, und Ders., Pagan and Christian in an Age of Anxiety. Vgl. außerdem zum Phänomen der Angst in der Antike: Kneppe, Metus temporum; Löhr, Religionskritik in der griechischen und römischen Antike, sowie für einen Überblick besonders Böhme, Ängste und Hoffnungen, 275–285 und Spira, Angst und Hoffnung, 203–270.

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beeinflusst haben. In zahlreichen Studien wurde von Historikern besonders an unterschiedlichen Beispielen und Quellen im Mittelalter gezeigt, dass Seuchen, Krieg, Hungersnöte und Naturkatastrophen zu allgegenwärtigen kollektiven Ängsten führten, die wie selbstverständlich zur Alltagswirklichkeit gehörten und in der Religion verarbeitet, kanalisiert, zuweilen aber auch verstärkt und instrumentalisiert wurden.263 Auch in der anbrechenden Neuzeit und im Zeitalter der Reformation zeugen die Quellen von einer Vielzahl kollektiver Ängste, die unmittelbar von der Religion gedeutet und mit eschatologischen Ängsten vor Höllenfeuer und Endgericht verbunden wurden.264 Von hier aus reichen die kulturgeschichtlichen Linien des Verhältnisses von Angst und Religion bis in die Moderne. Auch aus der historischen Perspektive scheint sich also zu bestätigen, was sich schon in den philosophischen, psychologischen, soziologischen und anthropologischen Debatten des vergangenen Jahrhunderts andeutete: Die Angst als entscheidende Ursache für die Herausbildung und Kultivierung der Religion in allen Epochen der Menschheitsgeschichte anzunehmen, scheint zumindest im Anbetracht der empirischen Befunde geradezu evident zu sein. Plausibel ist das Modell überdies deshalb, weil es – selbst im Kontext der Religionskritik – den Nutzen der Religion und ihre grundlegende Bedeutung für die Menschheit in Geschichte und Gegenwart anhand von empirischen und psychologischen Fakten besonders schlüssig darzustellen versteht. Ganz gleich zu welchem Urteil über den Wahrheitsanspruch der Religion man dabei schließlich kommen mag, wird im Paradigma des »deos fecit timor« die unbestrittene Stärke und Wirkungskraft der Religion als Kulturleistung zur Angstbewältigung überaus deutlich. Theologische Anknüpfungspunkte an das Paradigma »deos fecit timor«. Der Versuch, sich aus diesem Grund das Modell des Kausalverhältnisses von Angst und Religion auch in der Theologie zu Eigen zu machen und es pastoraltheologisch zu adaptieren, erwies sich – wie gezeigt – als problematisch.265 Die zahlreichen Ansätze, die unter Ausblendung der religionskritischen Aspekte des Gedankens den bleibenden Nutzen und Gewinn des Christentums in seiner therapeutischen und angstlindernden Funktion für die Seelsorge hervorzuhe263

 Zur Bedeutung der Angst im Mittelalter und ihrem Verhältnis zur Religion vgl. besonders Dinzelbacher, Angst im Mittelalter und Ders., Ängste und Hoffnungen, 285–294. Vgl. außerdem die Abschnitte zum Mittelalter in Duby, Unseren Ängsten auf der Spur; Lecouteux, Das Reich der Nachtdämonen; Slenczka, Der endgültige Schrecken, 105–121 und Brüggemann, Die Angst vor dem Bösen. 264 Für einen Überblick zur Angst in der Neuzeit vgl. Vocelka, Ängste und Hoffnungen, 295–301. Der Klassiker zur Angst im 14.–18. Jahrhundert ist das nun schon mehrfach erwähnte zweibändige Werk Delumeau, La Peur en Occident. Vgl. außerdem die umfassenden Studien zu Angst und Furcht in der Neuzeit von Andreas Bähr, darunter z. B. Bähr, Die Furcht der Frühen Neuzeit, 291–309 sowie Bähr, Furcht und Furchtlosigkeit. 265 Vgl. hierzu oben im Ersten Teil, Kap. II, 2.2.

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ben versuchen, können weder apologetisch, noch empirisch überzeugen. Die überaus scharfen reduktionistischen Anfragen an die Religion in der Moderne werden durch ihre seelsorgerlichen und therapeutischen Varianten geradezu unterstrichen und lassen die Frage nach dem Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens unbeantwortet. Überdies bleiben die Vertreter einer »therapeutischen Theologie« angemessene Belege für die durchschlagenden und umfassenden Angstheilungserfolge durch das Christentum in der Gegenwart schuldig. Der Weg einer therapeutischen Theologie setzt also – egal wie man ihn beschreiten und ausarbeiten mag – die Selbstständigkeit der Religion und ihren Absolutheitsanspruch unweigerlich aufs Spiel: So nützlich die Religion für die Bewältigung von Ängsten auch sein mag, so wenig ist hierdurch ihr absoluter Geltungsanspruch in der Moderne allgemein vertretbar, denn die therapeutische und heilende Funktion der Religion säkularisiert selbige gleichzeitig zu einer kulturellen Kontingenzbewältigungsstrategie und gibt sie dadurch erst recht der Religionskritik preis. Mit dem Hinweis auf die theologischen Angstdeutungen von Paul Tillich und Karl Barth zeigte sich, dass die Theologie zwischen den historischen und sozialen Aspekten des Christentums als einer kulturellen Form einerseits und andererseits der dem Christentum zu Grunde liegenden Botschaft und ihren theologischen Gehalten durchaus zu unterscheiden hat. Die von der Theologie vertretene Binnenperspektive der Religion hat mit dem Gottesbegriff demnach etwas völlig anderes zum Gegenstand als das, was im Motto des Petronius unter den von Angst hervorgebrachten »Göttern« verstanden wird. Das aufwändige Begründungsverfahren des theologischen Anspruchs des Christentums läuft damit den empirischen Erscheinungsformen der Religion und ihrem therapeutischen Nutzen zuweilen diametral entgegen. Die Rede von Sünde und Erlösung, von Offenbarung und Rechtfertigung geht, will man sie wie Tillich und Barth theologisch ernst nehmen, über die Fragen alltäglicher Ängste und ihrer Bewältigung weit hinaus und betrifft vielmehr die theologische Frage nach Heil und Unheil der Welt schlechthin. An dieser Stelle tut sich ein überaus weites theologie‑ und dogmengeschichtliches Feld auf. Bis zu den frühsten Zeugnissen christlicher Theologie lassen sich Spuren eines Angst‑ oder Furchtbegriffs zurückverfolgen, der ein exklusiv theologisches Problem artikuliert. Hinter klassischen dogmatischen Formeln wie dem Begriff des Zornes Gottes, besonders aber hinter dem Begriff der Gottesfurcht verbirgt sich die jahrhundertealte Problemgeschichte eines Angstverständnisses, das sich theologisch am Gottesgedanken abarbeitet, ja, ihm entspringt. Das Motiv der »Gottesfurcht« in theologiegeschichtlicher Perspektive. Frühe und eindrückliche Beispiele für den Begriff der »Gottesfurcht« sind bereits in der Literatur des Alten Testaments greifbar. Hier begegnet immer wieder an zentralen Stellen die Schilderung einer Angst, die nicht als Folge von Be-

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drohungen oder der Furcht vor Gottes Strafen, sondern ausdrücklich als angemessener und erstrebenswerter Modus der Gottesbegegnung des frommen Menschen beschrieben wird.266 Das Gottsein Gottes selbst ist es, das hier meist im Zusammenhang mit dem hebräischen Verb ‫ יָ ֵרא‬auf eigentümliche Weise Ehrfurcht, Angst und Zittern erzeugt.267 Dies geht soweit, dass Gott in seinem Wesen und in seinen Werken dem Menschen mitunter als ‫נֹורא‬ ָ erscheint, als das Fürchterliche, das Zufürchtende selbst.268 Gottesfurcht und Frömmigkeit sind ein und dasselbe.269 Offenbar geht es in diesem Zusammenhang weniger um die Verarbeitung alltäglicher Ängste, sondern um ein religiöses Erleben, das die Unfassbarkeit und befremdende Transzendenz Gottes in Ausdrucksformen und Analogien des Angstbegriffs gießt. In Träumen und Visionen, in Epiphanien und an heiligen Orten werden Begegnungen mit dem Göttlichen immer wieder als Momente des Erschauerns und ehrfürchtigen, angstvollen Zitterns beschrieben.270 Parallelen zu jenem Phänomen der Gottesfurcht lassen sich in den unterschiedlichsten Quellen der Religionsgeschichte nachweisen. Auch im Neuen Testament sind  – beispielsweise bei Paulus  – φόβος und τρόμος grundlegende Wesenselemente des Glaubens und Gottesverhältnisses.271 Dies gilt in besonderem Maße auch für Jesus, der in seinem Auftreten und Handeln immer wieder auch Furcht und Zittern bei seinen Mitmenschen hervorruft. Ohne in seinem Tun oder in seiner Botschaft Furchterregendes auszudrücken, umgibt den biblischen Jesus in seinen Wundern, seiner Verklärung, besonders aber in Tod und

266 Für einen Überblick vgl. grundsätzlich Loader, Angst und Furcht aus alttestamentlichem Blickwinkel, 7–31 sowie mit besonderer Berücksichtigung der Bedeutung Rudolf Ottos für die Deutung der Gottesfurcht im Alten Testament Ellis, Reconsidering the fear of God, 82–99. 267 Vgl. die insbesondere am Beispiel des hebräischen Verbs ‫ יָ ֵרא‬orientierte Studie Plath, Furcht Gottes, sowie Becker, Gottesfurcht im Alten Testament. 268 So wird Gott z. B. in Psalm 76 geradezu mit dem Furchtbaren und Schrecklichen selbst (‫נֹורא‬ ָ ) identifiziert (Ps. 76,8.13). Vgl. hierzu auch Jes 8,13. 269  So ist beispielsweise die Verehrung Gottes in Psalm 2 mit »Furcht und Zittern« verbunden: »‫הו֣ה ְּביִ ְר ָ ֑אה ְ֝ו ֗ ִגילּו ִּב ְר ָע ָ ֽדה׃‬ ָ ְ‫( « ִע ְב ֣דּו ֶאת־י‬Ps 2,11). 270 Als eines der bekanntesten Beispiele kann die sogenannte Thronsaalvision des Jesaja gelten (Jes 6) mit dem berühmten »Weh mir, ich vergehe!« in Folge der Nähe Gottes (vgl. Jes 6,5). In der Weisheitsliteratur des Alten Testaments gilt das Buch Kohelet geradezu als Hohelied der Gottesfurcht (vgl. zur Furcht als Ideal des Gottesverhältnisses des Menschen insbes. Koh 5,6; 7,18; 8,12; 12,13). In der Perikope von Jakobs Traum von der Himmelsleiter wird die Heiligkeit des Ortes Bethel gerade in seiner Schauerlichkeit erkannt (vgl. hierzu besonders Gen 28,17: »‫ֹלהים וְ ֶז֖ה ַ ֥ש ַער ַה ָש ָ ֽמיִם׃‬ ִ֔ ‫ם־ב֣ית ֱא‬ ֵ ‫ה־ֹּנורא ַה ָמ ֹ֣קום ַה ֶז֑ה ֵ ֣אין ֶ֗זה ִ ֚כי ִא‬ ָ֖ ‫אמר ַמ‬ ַ֔ ֹ ‫)«וַ יִ ָיר ֙א וַ י‬. In der revidierten Lutherbibel von 1984 wird bezeichnenderweise der wörtlich für »schauerlich, ehrfurchterregend« stehende Begriff ‫נֹורא‬ ָ sogar direkt mit »heilig« übersetzt. 271  Vgl. z. B. die wichtige Stelle im Anschluss an den Philipperhymnus in Phil 2,12 f: »[…] schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.« Im griechischen Urtext wurde dieses Pauluszitat dem Dritten Teil dieser Studie als Motto vorangestellt.

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Auferstehung eine Aura des Befremdens, die ein eigentümliches Angst‑ und Schauergefühl hervorruft.272 Das frühe Christentum hatte sich mit diesem Befund auseinander zu setzen. Ein bemerkenswerter Klassiker zur Deutung der Gottesfurcht im christlichen Glauben ist beispielsweise das Buch Vom Zorn Gottes, das der Apologet Laktanz im frühen 4. Jahrhundert verfasst hat. Laktanz versucht darin gegenüber der heidnischen Philosophie seiner Zeit zu erweisen, dass die Gottesfurcht notwendig zur Religion dazu gehört, ja geradezu ihr Wesen ausmacht: »Wo keine Furcht ist, da kann eben auch keine Religion sein«.273 Eine eingehendere Darstellung der wichtigsten Positionen zur Gottesfurcht in der Theologiegeschichte des Christentums ist freilich im vorliegenden Zusammenhang kaum zu leisten. Zu zahlreich, facettenreich und komplex sind die maßgeblichen Ansätze seit der Antike. Allein kurz erwähnt sei lediglich der wohl bedeutendste Entwurf einer Theologie der Gottesfurcht bei Augustinus. Auf ihn geht die Unterscheidung zwischen einer das Gericht und die Strafe Gottes fürchtenden sklavischen Angst – »timor servilis« – und der kindlichen, mit vertrauender Liebe verbunden, frommen und reinen Gottesfucht – »timor castus« oder »timor filialis« – zurück, die in ihrer variantenreichen Wirkungsgeschichte bis in die Neuzeit rezipiert wurde.274 Die lange Tradition der dogmatischen Absorbtion des Angstbegriffs 272 So endet beispielsweise der urspüngliche Schluss des Markusevangeliums mit dem Erschauern und Sichfürchten der Zeugen des leeren Grabes (vgl. Mk 16,8: καὶ ἐξελθοῦσαι ἔφυγον ἀπὸ τοῦ μνημείου, εἶχεν γὰρ αὐτὰς τρόμος καὶ ἔκστασις· καὶ οὐδενὶ οὐδὲν εἶπαν· ἐφοβοῦντο γάρ). Zu der Tatsache, dass Jesus in seinem Auftreten und mit seiner Botschaft – schon in den Geburtsgeschichten, z. B. in Lk 1,12.29 und Lk 2,9 – »durch das ganze Evangelium hindurch mit erstaunlicher Konstanz immer wieder Furcht, Erschrecken und Entsetzen« hervorruft, vgl. die Untersuchung zur Bedeutung Rudolf Ottos für die neutestamentliche Forschung von Reinhard Feldmeier mit zahlreichen Verweisen auf die Ehrfurcht und heilige Scheu erregenden Momente der Gestalt Jesu im Neuen Testament (Feldmeier, Der Heilige, 90–93). Vgl. außerdem zur Gottesfurcht im Neuen Testament Loader, Angst und Furcht aus alttestamentlichem Blickwinkel, 8–10. 273 Vgl. Laktanz, Vom Zorne Gottes, 11,16 nach der Übersetzung von Heinrich Kraft und Antonie Wlosok. Der zitierte Satz wurde in seinem lateinischen Wortlaut der Einleitung dieser Untersuchung als Motto vorangestellt. 274  Vgl. hierzu den klassischen Beitrag von August Wilhelm Hunzinger aus dem Jahre 1906, der das theologische Problem der Furcht von Augustinus bis zu Martin ­Luther eindrucksvoll nachzeichnet (Hunzinger, Das Furchtproblem in der katholischen Lehre von Augustin bis L ­ uther). Sicherlich ist der antikatholische Impetus von Hunzingers Studie stark übertrieben – es wird die Theologiegeschichte von der Spätantike bis in die Reformationszeit mit nur wenigen Ausnahmen als eine gradiose Verfallsgeschichte des Augustinischen Ideals der frommen Gottesfurcht hin zu einer »semipelagianischen« Höllenangst und auf Werkgerechtigkeit angelegten Furcht vor Sündenstrafen dargestellt. Insbesondere in der Scholastik sieht Hunzinger demnach mehrheitlich »vulgär-katholische« Interpretationen der Gottesfurcht hin zu einer soteriologischen Aufwertung des timor servilis, die trotz einiger Gegenbewegungen (beipielsweise bei Abaelard und bei Vertretern der Mystik) erst in der Reformationszeit durch ­Luther durchbrochen und wieder an Augustinus angeknüpft werden konnte (vgl. insbes. das Schlusswort in Hunzinger, a. a. O., 124 ff). Bei aller Polemik wird jedoch generell deutlich, wie facettenreich und aufwändig der Angstbegriff über Jahrhunderte der Theologiegeschichte kontrovers diskutiert und zu einem Kernthema der Soteriologie erhoben wurde. Zur Dis-

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wird hier besonders deutlich. Nicht um existentielle Ängste und ihre theologische Deutung geht es, sondern um das Gottesverhältnis des Menschen.275 Angst wird als theologische Kategorie verstanden, in der sich die Transzendenz Gottes und das Gottesverhältnis des Menschen zeigen.276 Schon bei dieser ganz oberflächlichen Sicht auf die Traditionsgeschichte der Angst als theologischem Begriff wird eine deutliche Betonung der religiösen Binnenperspektive deutlich: Ganz anders als im Konzept eines Kausalverhältnisses alltäglicher Ängste und ihrer Verarbeitung in der Religion zeigt sich in den klassischen Werken der Dogmengeschichte seit der Spätantike eine hochkomplexe theologische Debatte um das Verständnis der Angst als Kernaspekt des Glaubens – sowohl als zuweilen geradezu sittlich-moralisch imprägnierter Moment des Sündenbewusstseins in der Angst vor Strafe und Verdammnis, wie auch als der göttlichen Gnade und Liebe entgegenkommende ehrfürchtige Ausdrucksform des frommen Gottesverhältnisses.277 Eine besondere Herausforderung der Theologie in der Moderne ist es, jene theologisch-dogmatische Binnenperspektive mit dem modernen Angstbegriff in ein Verhältnis zu setzen. Es hat die Theologie mit dem Vorwurf umzugehen, kussion und dem bleibenden Ertrag der Überlegungen Hunzingers mit besonderem Fokus auf den Angstbegriff ­Luthers vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 9 ff und besonders 36 ff. Zur rezeptionsgeschichtlichen Einordnung von Augustinus’ Unterscheidung von timor servilis und timor castus in der Geschichte des Angstbegriffs vgl. Coe, Angst and the Abyss, 29–31. 275 Vgl. hierzu erneut die Darstellung Hunzingers, insbesondere den Schluss in Hunzinger, Das Furchtproblem, 124 ff, sowie die Ausführungen in Dietz, Der Begriff der Furcht, 36 ff. 276 Zur Verbindung des Gottesbegriffs mit Emotionen, insbesondere mit der Angst vgl. am Beispiel der mittelalterlichen Theologiegeschichte Slenczka, Der endgültige Schrecken, 105–121 sowie ferner zum Verhältnis von Gottesbegriff und Emotion Slenczka, Rudolf Ottos Theorie, 278–280. 277  Aus der religionskritischen Perspektive des Paradigmas »deos fecit timor« muss freilich auch die klassische Tradition der theologisch-dogmatischen Auseinandersetzung mit der Angst als »Gottesfurcht« von der Antike bis in die Neuzeit unter das Urteil eines reduktionistischen Kausalverhältnisses von Angst und Religion fallen. Als anschauliches Beispiel hierfür kann der Versuch von Peter Dinzelbacher gelten, die mentalitätsgeschichtlichen Aspekte der Angst im Mittelalter insbesondere hinsichtlich der Religion historisch zu untersuchen (vgl. Dinzelbacher, Angst im Mittelalter). Auch in der mittelalterlichen Theologie sieht­ Dinzelbacher demnach Verarbeitungsformen der allgegenwärtigen Ängste vor kollektiven Bedrohungen, betont aber insbesondere auch die gerade durch die Religion verstärkten oder überhaupt erst ausgelösten Ängste: »Im Mittelpunkt sollen hier die von religiösen Vorstellungen (nach unserem Verständnis: Phantasien) verursachten (oder in sie gekleideten) ›Binnenängste‹ des christlichen Abendlandes stehen. Diese kollektiven Phantasien müssen als Quellen für die Mentalitätsgeschichte ganz ernst genommen werden.« (a. a. O., 17, Klammern im Original). Von Höllen-, Dämonen‑ und Hexenvorstellungen sowie der Furcht vor Endgericht und Verdammnis versucht Dinzelbacher demnach Rückschlüsse auf die Lebenswirklichkeit und das Weltbild mittelalterlicher Gesellschaften sowie auf ihre kollektiven Ängste vor Pest, Krieg und anderen Bedrohungen zu ziehen. Ob Dinzelbacher dabei allerdings der Tiefe des theologischen Begriffs der Gottesfurcht gerecht wird, ist fraglich, denn er scheint in erster Linie lediglich eine sehr einfache Form des timor servilis vor Augen zu haben, während der Gedanke religiösen Erlebens als fromme Ehrfurcht im Gottesgedanken mittelalterlicher Theologie und Mystik unterbelichtet bleibt.

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sie entziehe sich in ihrer Rede vom traditionellen Begriff der Gottesfurcht den existentiellen Grundlagen der Religion und ihrem Lebensbezug. Die Unterscheidung einer an den Gottesbegriff gebundenen religiösen »Angst« von gewöhnlicher, Bedrohung fürchtender Angst wie bei Augustinus zieht den Verdacht der dogmatischen Selbstimmunisierung auf sich. Und in der Tat ist zu fragen, ob die Theologie mit ihren sehr voraussetzungsreichen rationalen Begriffen der Dogmatik das Wesen der Religion und ihrer Angstmomente tatsächlich überzeugend erfasst und mit dem Rückzug aus den religionspsychologischen und religionsgeschichtlichen Debatten der Moderne zufrieden sein kann.278 Die Fokussierung der theologischen Binnenperspektive auf den Angstbegriff als dogmatischer Ausdruck für das Gottesverhältnis bei gleichzeitiger Loslösung von seiner empirisch-existentiellen Dimension kann sich gerade in der Moderne kaum des Vorwurfs entziehen, ihrerseits reduktionistisch zu verfahren, die Religion auf eine abstrakte und spekulative Begriffsebene zu beschränken und damit für jede nichttheologische Anfrage immun zu machen. Es stellt sich hierbei die Frage, wie am Beispiel der Angst möglicherweise eine Vermittlung der Innen‑ und Außenperspektive der Religion, oder anders gesprochen, der theologischen und empirisch-religionsgeschichtlichen Zugangsweise zur Religion und ihrer Begründung denkbar und durchführbar ist. Ansätze zur Kritik der Idee des »deos fecit timor«. Als Kritik an der Idee des »deos fecit timor« und ihren Spielarten lässt sich vorbringen, dass sie zwar empirisch einleuchtend und schlüssig argumentiert, jedoch letztlich der Wirklichkeit der Religion sowohl ihrem Selbstverständnis nach, als auch in ihren Erscheinungsformen nicht vollends gerecht wird. Die reduktionistisch-materialistische Deutung der Religion als Angstbewältigung ist schlechterdings nicht durchführbar ohne eine grundlegende Banalisierung der religiösen Gehalte. Die Herabsetzung der Religion auf ihre therapeutischen und sozialen Funktionen steht im krassen Widerspruch zum Selbstverständnis religiöser Menschen.279 Die jahrtausendealten Zeugnisse der Religionsgeschichte sind  – der kritischreduktionistischen Perspektive zum Trotz – nur dann verstehbar und überhaupt nur deshalb entstanden, weil es den unter ihnen versammelten Menschen gerade nicht um einen sozialen Nutzen – beispielsweise um Angstbewältigung – ging, 278  Besonders Paul Tillich kann als ein prominentes Beispiel für eine religionsphilosophische Problematisierung jener Binnenperspektive der christlichen Theologie gelten. Er bemühte sich – in deutlicher Rückbesinnung auf Rudolf Otto und im Austausch mit dem Religionswissenschaftler Mircea Eliade – in seinen letzten Lebensjahren verstärkt um eine Überwindung des christlich-theologischen Provinzialismus durch eine grundlegende Einbeziehung der Religionsgeschichte in sein theologisches Denken (vgl. hierzu u. a. den letzten Vortrag Tillichs, der den programmatischen Anspruch seiner späten Arbeiten hinsichtlich der Religions­geschichte deutlich macht: Tillich, The Significance of the History of Religions for the Systematic Theologian, 455–470). 279 Vgl. hierzu Stietencron, Von der Heilsträchtigkeit der Angst, 21 ff.

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sondern um eine die Kausalität der Welt übersteigende Sinndimension. Die kausal-funktionalen Aspekte der Religion mögen dabei unbestritten eine Rolle spielen, dennoch sind sie zur Erfassung des Wesens der Religion nur ein empirischer Teilaspekt. Dass die Religionen der Welt seit Jahrtausenden überliefert werden und das Leben und Sterben der Menschen grundlegend bestimmen, erklärt sich nicht allein aus den der Religion vorgeschalteten Kausalzusammenhängen, sondern hängt an der Tatsache, dass die von der Religion entfaltete Sinndimension als unhintergehbare und letztgültige Wirklichkeit verstanden und demnach von den Gläubigen als wahr erkannt und geglaubt wurde. Gäbe es jene genuin religiöse Sinndimension nicht, hätte womöglich das aufklärerische Motto »deos fecit timor« in viel durchschlagenderer Weise erfolgreich sein und die bis heute wirksamen Strukturen der Volksfrömmigkeit verdrängen müssen. Die materialistischen Vertreter des »deos fecit timor« müssten überdies erklären können, warum die Angst des Menschen immer wieder ausgerechnet ihren Weg in religiöse Ausdrucksformen und nicht in anderweitigen Kompensationsstrategien gefunden hat. Die Religion in ihrer Bedeutung und Tiefe zu verstehen, muss demnach zugleich heißen, ihre Binnenperspektive aus dem Blickfeld des einzelnen frommen Menschen ernst zu nehmen, was in der ideengeschichtlichen Linie der klassischen Religionskritik am Beispiel der Angst jedoch gerade ausdrücklich vermieden wird. Die unbestrittene Schlüssigkeit des Mottos »deos fecit timor« hängt, wie Heinrich von Stietencron deutlich machen konnte, besonders daran, die Religion und ihre Erlebniswirklichkeit gegenüber der menschlichen Alltagsangst als sekundär zu entlarven.280 Doch noch ein weiteres, rein empirisches Argument stellt das reduktionistische Modell in Frage. Die empirische und vergleichende Religionsforschung der letzten Jahrzehnte hat zunehmend deutlich werden lassen, dass der pauschale Gedanke einer angstbewältigenden Kausalfunktion der Religion der tatsächlichen Wirklichkeit der Religionen auch empirisch nicht gerecht wird. Unter den Ritualen und Mythen, die in der Religionsgeschichte hervorgebracht wurden, lassen sich in großer Zahl Beispiele finden, die keineswegs den Anschein erwecken, angstlindernde oder kontingenzbewältigende Kulturleistungen zu

280  Vgl. Stietencron, Von der Heilsträchtigkeit der Angst, 24: »Die schon erwähnte antike Religionskritik hat richtig gesehen, daß es einen Zusammenhang von Angst und Gotteserfahrung gibt. Sie hat ihn aber als zeitliche und kausale Priorität der Angst vor der Religion gedeutet, so daß die Angst das Primäre wäre; die Gottheit selbst als Produkt der Angst wäre sekundär und in der Auseinandersetzung mit der so geschaffenen Gottheit entstünde erst an dritter Stelle die Religion«. Aus der Binnenperspektive der Religion bietet sich jedoch, wie Stietencron darlegt, ein anderes Bild: »Von dieser Aussage der Religionen her können die menschliche Angst und die von ihr angeregte Gotteserkenntnis nur die beiden letzten Glieder einer Sequenz bilden, an deren Anfang die Gottheit selbst und die von ihr ausgehende Macht stehen.« (Stietencron, a. a. O., 25).

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sein.281 Unzählige religiöse Mythen, Bilder, Rituale und Vorstellungen operieren ganz offensichtlich mit derart grotesken und irrationalen Formen und Gehalten, dass eine hinter ihnen stehende Zweckbestimmung wie diejenige zur Linderung der Angst kaum plausibel erscheint. Mögen auch »Nebeneffekte« der religiösen Praxis psychologisch oder sozial nützlich sein, in ihrer konkreten Gestalt ist die schillernde Formenvielfalt der Religionsgeschichte hieraus letztlich nicht abschließend zu erklären.282 Religion entstand und wirkte offenbar auch dort, wo keine Ängste zu kompensieren waren. Die teilweise schaurigen und geradezu fratzenhaften Götterbilder und Kultgegenstände der Religionen sind kaum allein auf die Projektion menschlich-allzumenschlicher Wünsche und Ängste rückführbar, sondern scheinen auf Wurzeln zurück zu gehen, die sich von außen zunächst nicht ohne Weiteres entschlüsseln lassen. Vieles deutet darauf hin, dass das Verhältnis von Angst und Religion also tiefer liegen muss, als auf der recht monokausalen Ebene eines Frage-Antwort-Schemas. Das zweifellos engstens mit der Religion verwobene Erleben der Angst scheint demnach weniger die sie hervorbringende Ursache, als ein der Religion im Kern verbundenes, wenn nicht sogar ihr teilhaftiges Moment zu sein.283 Angst und religiöses Erleben. Immer deutlicher zeichnet sich ab, an welcher Stelle sich die empirische und die theologische Ebene der Religion im Zusammenhang mit der Angst berühren: Der neuralgische Punkt ist das Phänomen religiösen Erlebens. Im religiösen Erleben der Menschen, das zweifellos ein empirisch-psychologisch greifbarer Vorgang und ein zentrales Wesenselement der Religionsgeschichte ist, kommt für die Gläubigen eine unabweisbare Einsicht und Erkenntnis zum Durchbruch, die sich aus der Erscheinungsform des Erlebten – beispielsweise der Angst – nicht deduzieren lässt und vielmehr über das Erlebte hinausweist. Das bisher in seiner aufklärerisch-reduktionistischen Traditionslinie untersuchte Paradigma »Primus in orbe deos fecit timor« erscheint im Kontext religiösen Erlebens demnach in einem neuen Licht: Die reduktionistische These eines Kausalverhältnisses zwischen Angst und Religion ist nun auch dahingehend interpretierbar, die »Angst« nicht als einen der Religion vorgelagerten und sie als Verarbeitungsform hervorbringenden Reiz zu verstehen, sondern als eine besondere angstvolle Erlebnisform, die selbst bereits Religion, bzw. genuin religiöses Erleben ist. Jene alternative Lesart des alten Petroniuswortes wurde zumindest andeutungsweise bereits 1914 von dem britischen Philosophen und 281 Zu der immer differenzierteren religionswissenschaftlichen Erforschung von Momenten der Angst in Ritualen und Religionen vgl. Michaels, Religionen und der neurobiologische Primat der Angst, 99 ff. Michaels weist hier deutlich darauf hin, dass sich nach gegenwärtigem Forschungsstand die These, die Religionen seien lediglich Kompensationsformen der Angst, nicht halten lässt. 282 Vgl. hierzu das Zwischenfazit zur Bedeutung des religiösen Rituals in Michaels, Religionen und der neurobiologische Primat der Angst, 101. 283 Vgl. dazu Stietencron, Von der Heilsträchtigkeit der Angst, 25 f.

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Religionswissenschaftler Robert Ranulph Marett vorgetragen, der »timor« eben nicht mit Angst und Furcht (»fear«), sondern mit der Vokabel »awe« wiedergegeben und damit auf die kategoriale Besonderheit des hiermit beschriebenen Erlebens aufmerksam gemacht hat: »Of all English words awe is, I think, the one that expresses the fundamental religious feeling most nearly. Awe is not the same thing as ›pure funk‹. ›Primus in orbe deos fecit timor‹ is only true if we admit wonder, admiration, interest, respect, even love perhaps, to be, no less than fear, essential constituents of this elemental mood.«284

Marett versucht in seinem Buch The Threshold of Religion entgegen den religionswissenschaftlichen Entwürfen insbesondere seiner Zeitgenossen Edward Burnett Tylor, James George Frazer und Wilhelm Wundt eine Kategorie religiösen Erlebens als Urmoment der Religion zu beschreiben, die – anders als in dem damals verbreiteten animistischen Modell der Religionsentstehung – jeder Seelenvorstellung und Ausdrucksform der Religion vorausliegt und damit von Marett als »pre-animistic« beschrieben wird.285 Ein weiterer Schritt einer theologischen Neudeutung des »deos fecit timor« im Sinne einer Theorie religiösen Erlebens erfolgte dann wenige Jahre später in den Werken Rudolf Ottos, nach dessen Urteil Marett »der Sache auf Haaresbreite nahe« kommt.286 Ottos lebenslanges Bemühen kann, wie sich im weiteren Verlauf der vorliegenden Studie zeigen wird, als maßgeblicher Versuch gelten, die empirische und theologische Dimension der Religion anhand des Problems religiösen Erlebens zusammen zu führen. Innen‑ und Außenperspektive sind dabei in Ottos Konzeption kein Widerspruch, sondern vielmehr zwei Seiten ein und desselben Phänomens. Den Gedanken, die Religion sei eine bloß kausale Verarbeitungsform menschlicher Ängste, lehnt Otto dabei strikt ab. Seine zentrale These ist es, zu erweisen, dass die Religion »mit sich selber anfängt«, also ein voraussetzungsloses, ursprüngliches und unverwechselbares Phänomen ist, das seinen Grund in sich selber trägt.287 Weder die Angst, noch sonst ein Anlass ist demnach die Kausalursache für die Hervorbringung der Religion, sondern es liegt laut Otto der Religion ein der Angst zwar ähnliches, aber dennoch von ihr qualitativ vollkommen verschiedenes Erleben einer eigentümlichen »Scheu« zu Grunde, das als Urmoment der Religion selbst schon Teil derselben ist. In

284 Marett,

The Threshold of Religion, 13. Marett, The Threshold of Religion, 3 ff. 286 DH23–25, 17. Vgl. hierzu auch die wohlwollende Bemerkung über Marett in Abgrenzung zu Wilhelm Wundt in GÜ, 45. 287 Vgl. zum bekannten Diktum Ottos, die Religion fange »mit sich selber an«, beispielsweise die Passage in GÜ, 53: »So fängt Religion zwar nicht als fertige Religion wohl aber mit sich selbst an, sofern sie, als sensus numinis von Anbeginn Erlebnis des Mysteriösen und Zug und Trieb zum Mysterium ist, ein Erleben, das aus den Tiefen des Gefühlslebens selber, auf Reize und Anlässe von außen hin, als das ›Gefühl des Ganz andern‹ durchbricht.« 285 Vgl.

88

Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

diesem Sinne greift auch Otto das Wort des Petronius auf – um es hinsichtlich jener »Scheu« allerdings neu zu deuten: »– ›Scheu‹ ist dieses Gefühl auf niedrigster Stufe. Aber schon als erstes elementares Grauen vor dem ›Unheimlichen‹ ist es schon ein Scheuen völlig eigener Art, typisch verschieden von ›Furcht‹ in gewöhnlichem Sinne: eher im Anfange ein ›blindes Entsetzen‹, nämlich ein solches, bei dem ganz dunkel bleibt, wovor und was man eigentlich scheut, aber nicht Furcht im gewöhnlichen Sinne. Von allem Anfang ›scheut‹ der Mensch  – und zwar in ganz unsagbarer Weise – ein Gewisses, zunächst ganz Unausgesprochenes mehr als Tod und Untergang, mehr als alles, ›was nur den Leib zu verderben vermag‹. Nicht ›timor fecit deos‹ sondern jene ›Scheu‹ wurde – auf wunderliche und uns vielfach nur mühsam verständliche Weise aufgeregt  – zum Antriebe, den sie begleitenden dunklen und nur gefühlten Vorstellungs-inhalt fantasiemäßig-analogisch zu vergegenständlichen in Vorstellungen und Symbolen, die eben deswegen auf allen Stufen schwebenden, fließenden, begrifflicher Festlegung widerstehenden und zugleich aus sich heraus vorwärts drängenden Charakters sind.«288

Otto geht es hier eindeutig nicht um alltägliche, existentielle Angst, die im reduktionistischen Sinne die Projektion eines Gottesbildes heraufbeschwört, sondern um ein Erleben, dass sich seinem Wesen nach eher als ein intuitives, vorreflexives Werten und Deuten beschreiben lässt. Durch seine umfassenden religionskundlichen Studien versucht Otto unterdessen die reduktionistisch-naturalistische Religionskritik zu unterlaufen: Zwar hält er zugute, dass die unleugbaren Anthropomorismen in den Religionen ganz offensichtlich Projektionen menschlicher Ängste und Wünsche sind, bestreitet jedoch vehement, dass hiermit das Wesen der Religion überhaupt erfasst und getroffen sei: »Die naturalistischen Religions-erklärer berufen sich dabei auf den alten Xenofanes, der gelegentlich sagt: ›Wenn die Ochsen malen könnten, so malten sie sich die Götter als Ochsen.‹ Xenofanes hat völlig recht. So verfährt man, wenn man ein Ochse ist. In der wirklichen Religionsgeschichte aber sind die Dinge ganz anders zugegangen.«289

Worauf Otto mit dieser burlesken Bemerkung zur antiken Religionskritik hinweist, betrifft geradezu die Mitte seines Werkes und Anliegens. Seiner Auffassung nach stellt sich die Religionsgeschichte in ihren Schattierungen und Ausdrucksformen gerade nicht als primär anthropomorphe oder therapeutische Kulturleistung dar, sondern als Universum überaus befremdlicher und irrationaler Zeugnisse, die sich ganz und gar nicht auf eine Kausalursache oder 288 GÜ, 52 f. Der von Otto verwendete Begriff Furcht kann im Hinblick auf andere Stellen in seinem Werk an dieser Stelle mit dem Begriff Angst gleichgesetzt werden. Obwohl Oskar Pfister die eigentliche Pointe von Ottos Kritik am Paradigma »deos fecit timor« nicht erfasst und Ottos »tremendum« nur als präzisierende Variante der Angst, bzw. des Begriffs »timor« bei Petronius sieht, weist er dennoch durchaus treffend darauf hin, dass zwischen dem Motto des Petronius und Ottos Idee des religiösen Erlebens der »Scheu« ein Widerspruch besteht (vgl. Pfister, Das Christentum und die Angst, 120). 289 GÜ, 213. Zu den betreffenden Fragmenten des Xenophanes, vgl. oben im Ersten Teil, Kap. II, 2.1.

III. Rückblick und Ausblick

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auf Abstraktionsformen des Alltagslebens zurückführen lassen. Was sich nach Ottos Eindruck durch das Studium der Religionsgeschichte stattdessen aufdrängt, ist vielmehr ein kaum lösbares Rätsel: Als letzten Grund der Religion identifiziert Otto etwas nicht Identifizierbares, eine im Erleben sich andeutende Ahnung von etwas, was Otto das »Ganz andere« nennt. Mit der eigentümlichen »Angst« um die es Otto hinter seinen Begriffen der »numinosen Scheu« und des »mysterium tremendum« geht, ist demnach weder ein Affekt als Ursache der Religion gemeint, noch ist sie deren Folgeerscheinung. Was Otto stattdessen zu beschreiben versucht, ist ein Erleben, das selbst Religion ist, im Sinne eines intuitiven Eingenommenseins und Wertens. Die Religionen und besonders das Christentum untersucht Otto demnach als Ausdrucksformen und rationale Sphären jenes genuin religiösen Erlebens in Geschichte und Gegenwart und zeichnet dabei auf seine Weise ebenfalls eine ideengeschichtliche Linie von der Antike bis in die Moderne nach, deren Vertreter  – zumindest nach Meinung Ottos – als Zeugen für den Gedanken gelten können, dass die Religion gerade nicht von ihr vorangehenden Affekten und insbesondere von der Angst hervorgerufen wurde, sondern auf ein intuitives Wertungsgeschehen gründet, das von ganz eigener Qualität ist.

III. Rückblick und Ausblick: Angst und Religion in der Moderne als Problem der Theologie Ziel des Ersten Teils der vorliegenden Studie war es, Vorüberlegungen darüber anzustellen, wie sich erstens Angst und Moderne und zweitens Angst und Religion zueinander verhalten. Hierfür wurden im Hinblick auf den Fortgang der Untersuchung besondere Schwerpunkte gewählt. Im ersten Kapitel (I.) wurden zunächst grundsätzliche Überlegungen zur Bedeutung des Angstbegriffs in der Gegenwart und der dahinter stehenden Debattenlage in der Moderne angestellt. Neben den immer deutlicher im Vordergrund stehenden naturwissenschaftlichen Zugängen zum Phänomen der Angst stellten sich dabei in den Geisteswissenschaften besonders die Angsttheorien der existenzphilosophischen Tradition als einflussreich und bis heute prägend heraus. Angst und Moderne scheinen gerade in dieser Traditionslinie in einem reziproken Verhältnis zu stehen, das sich auf unterschiedlichsten Ebenen der Geistes‑ und Kulturgeschichte zeigt. Dabei wurde der Angst nicht nur ein herausragender Stellenwert für das moderne Zeitalter eingeräumt, sondern es wurde die Angst förmlich als ein alles Leben und Sein durchwaltendes und bestimmendes Prinzip verstanden, das im Lebensgefühl der Moderne in besonderer Weise zum Durchbruch kommt. Angst steht in dieser Dimension weniger für eine Reaktion auf eine Bedrohung, als vielmehr für ein Grundmotiv des Selbst‑ und Weltverhältnisses des Menschen. Sie gilt als Gefühlsdimension für die Tatsache, dass der

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Erster Teil: Angst und Moderne – Angst und Religion

Mensch sich selbst zwangläufig unverfügbar bleiben muss und aus sich heraus keine letzte Gewissheit über den Sinn seiner Existenz und seine Bedeutung im Gesamtzusammenhang der Welt erlangen kann. Das zweite Kapitel (II.) galt einem ebenso alten wie klassischen Zugangsweg zur Verhältnisbestimmung von Angst und Religion. Am Beispiel des als Paradigma verstandenen antiken Mottos »Primus in orbe deos fecit timor« konnte gezeigt werden, dass sich in den vergangenen Jahrhunderten zahlreiche Beispiele für die These anführen lassen, die Angst des Menschen sei der entscheidende Anlass, die Religionen als Strategie der Angstbewältigung hervorzubringen. Hieraus ergab sich nicht nur ein an prominenten Beispielen orientierter Überblick über die Geschichte der Religionskritik, sondern auch ein von der Antike bis zur Gegenwart wirksamer Grundgedanke zum Wesen der Religion überhaupt, der als reduktionistische Außenperspektive bezeichnet wurde. Beide Kapitel zusammengenommen, ergibt sich für den Fortgang der vorliegenden Studie folgendes Bild: Offensichtlich spitzt sich in der Moderne aufgrund ihrer besonderen kulturellen und geschichtlichen Ausprägung die Bedeutung des Angstbegriffs derart zu, dass hierdurch der traditionelle Gedanke des Kausalverhältnisses von Angst und Religion in nochmals besonderer Weise an Gewicht gewinnt. Ob hierin nun der Schlüssel für eine neuerliche grundlegende Kritik der Religion oder der Ansatz für deren Neudeutung im Sinne einer therapeutischen Theologie der Angst entwickelt wird, ist dabei für den vorliegenden Zusammenhang letztlich zweitrangig. Der primäre Erkenntnisgewinn der bisherigen Überlegungen ist vielmehr die Einsicht, dass zunächst Angst und Religion in einem schon in der Antike beschriebenen und bis in die Moderne wirksamen grundlegenden Verhältnis stehen und dass sich dieses Verhältnis von der empirischen und religionskritischen Perspektive her in erster Linie als eine hinsichtlich der Religion reduktionistische Sichtweise darstellt. Angst und Religion in einem Kausalzusammenhang zu sehen, bedeutet offenbar fast zwangsläufig, das Wesen der Religion auf ihre kulturelle und psychologische Angstbewältigungsleistung einzustellen und darin zu begrenzen. Doch es deutete sich im Verlauf der Untersuchung an, dass hiermit das letzte Wort zum Verhältnis von Angst und Religion noch nicht gesprochen ist. Es bleibt offen, wie jene elementaren Momente in den Religionen zu interpretieren sind, die als »Gottesfurcht« oder »heiliger Schauer« überliefert werden. Jene Dimension religiösen Erlebens, die auch in der Tradition des Christentums reich überliefert ist, erinnert ganz offensichtlich an Momente der Angst, die in den Religionen nicht geheilt, sondern ausdrücklich kultiviert werden sollen. Als Kernbestand menschlicher Frömmigkeit bleibt das Problem der »Gottesfurcht« seit der Antike für die Theologie als bleibende Frage bestehen und kann durch das reduktionistische Paradigma von Angst und Religion kaum erhellt werden. Was sind dies für geheimnisvolle Momente religiösen Angsterlebens hinter dem

III. Rückblick und Ausblick

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Begriff der »Gottesfurcht« und in welchem Verhältnis stehen sie zum klassischen Begriff der Angst? Aufbauend auf klassische Konzepte der Gottesfurcht, deutete sich besonders im letzten Abschnitt am Beispiel Rudolf Ottos eine alternative Sichtweise auf das Verhältnis von Angst und Religion an, die weder aus rein empirischen, noch aus rein theologischen Motiven heraus verfolgt wird. Otto erweist sich – wie nun zu zeigen sein wird – als ein Denker, dessen erklärtes Ziel es war, eine Vermittlung der rein theologischen Binnenperspektive mit der religionsgeschichtlichen und empirischen Sichtweise auf die Religion zu erreichen, um damit der Religion unter den Bedingungen der Moderne in angemessener Weise neu zu ihrem Recht zu verhelfen. Das Problem der Angst erweist sich dabei in den vorliegenden Überlegungen als ein Brennpunkt. Ottos Denkweg, der im nun folgenden Zweiten Teil ausführlich behandelt werden soll, operiert an wesentlichen Punkten in Form einer fundamentalen Kritik des Verhältnisses von Angst und Religion, insbesondere vor dem Horizont der Moderne. Weder dem modernen Gedanken einer »Weltangst« als eines universalen Prinzips der Kultur in der Moderne, noch der klassischen Hypothese des Kausalverhältnisses von Angst und Religion kann sich Otto anschließen und entwirft stattdessen im Rahmen seiner großangelegten Theorie religiösen Erlebens eine grundlegende Neudeutung der an Angst erinnernden Momente in der menschlichen Frömmigkeit. Worauf es Otto kurzgesagt ankommt, ist es, einerseits die Religion vor ihrer Überbietung oder Auflösung durch den modernen Angstbegriff zu bewahren und sie andererseits gegen die klassische aufklärerische These ihrer natürlichen Entstehung als kulturelle und volkstümliche Angstbewältigung zu verteidigen.290 Dabei meint Otto auf eine besondere Art des Angsterlebens zu stoßen, die er weder als Voraussetzung, noch als Folgeprodukt der Religion, sondern als geheimnisvolles und vollkommen artbesonderes, genuin religiöses Erleben begreift. Dahinter steht nicht weniger als der Versuch, jene Elemente der Religionsgeschichte wieder zu Ehren zu bringen, die traditionell hinter Begriffen wie »Gottesfurcht« oder »Zorn Gottes« stehen. Jenes auch in der Bibel und im Christentum reich überlieferte Erleben weist dabei auf das theologische Problem des Gottesbildes und des Gottesverhältnisses des Menschen, wie es sich insbesondere im Gefühl erschließt. Hierum soll es in den folgenden Kapiteln in Auseinandersetzung mit Rudolf Otto gehen.

290 Vor diesem Hintergrund führt auch Ernst Cassirer das »alte Sprichwort ›Primus in orbe deos fecit timor‹« mit Ottos Begriff des »mysterium tremendum« zusammen, indem er hinter den religionsgeschichtlichen Phänomenen des »Ahnenkultes« und des »Totemismus« nach »einem wirklich universalen, elementaren und wesentlichen Moment der Religion« sucht. Auch bei Cassirer ist es gerade nicht die Angst vor Bedrohung, aus der sich die Grundmomente der Religion entwickeln (vgl. Cassirer, Versuch über den Menschen, 136. Für den Hinweis auf jene Passage bei Cassirer danke ich Mario Berkefeld).

Zweiter Teil

Angst und Religion bei Rudolf Otto

Der Herr dieses Reiches ist der ›himmlische Vater‹. Das klingt uns Heutigen linde und wird oft fast gemütlich, etwa wie der ›liebe Gott‹. Aber damit mißverstehen wir den biblischen Sinn sowohl des Substantives wie des Prädikates. Dieser ›Vater‹ ist zuerst der heilig-­ erhabene König dieses ›Reiches‹, das dunkel-dräuend mit der vollen emāt Jahveh aus den Tiefen des ›Himmels‹ herannaht. Indem er sein Herr ist, ist er nicht weniger ›heilig‹ numinos geheimnisvoll qādosch hagios sacer und sanctus als sein Reich sondern viel mehr, und alles das in absolutem Maße, und er ist nach dieser Seite die Erhöhung und Erfüllung alles dessen was der alte Bund je an ›Kreaturgefühl‹, an ›heiliger Scheu‹ und ähnlichem besessen hat. Darum folgt der Anrede ›Vater unser‹ alsbald das Wort ›geheiligt werde dein Name‹, das weniger Bitte als scheuer Huldigungs-anruf ist.1 Rudolf Otto

Im Werk Rudolf Ottos treten – wie bereits mehrfach angedeutet – die schauervollen und an Angst erinnernden Momente der Frömmigkeit in besonderer Weise hervor. Verständlich wird die historische Bedeutung und theologische Pointe von Ottos Theorie des religiösen Erlebens in ihren zahlreichen Aspekten jedoch nur im Zusammenhang einer werkgeschichtlichen Rekonstruktion. In den folgenden Kapiteln wird daher eine Darstellung der Grundlagen und Entwicklungen von Ottos Denken entlang seiner wichtigsten Lebensstationen unternommen, die anhand der Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion entwickelt und dargestellt werden soll. Nach Rudolf Ottos Tod im März 1937 fand wenige Monate später am 20. Juni in der Aula der Philipps-Universität Marburg eine akademische Gedenkfeier zu Ehren des Verstorbenen statt. Neben zahlreichen Schülern und Weggefährten, die Ottos Persönlichkeit und Werk in feierlichen Ansprachen würdigten, ergriff auch Ottos Lehrstuhlnachfolger Heinrich Frick das Wort.2 Als ausgewiesener Kenner von Ottos Lebenswerk betonte er in seiner Ansprache besonders 1 DH23–25, 2 Vgl.

103. Frick, Gedächtnisrede, 11–25.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

die im Leben jenes »Meisters« aufscheinende leidenschaftliche Persönlichkeit. Indem Frick auf den Kern von Ottos tiefer lutherischer Frömmigkeit hinwies, unterstrich er die auch für Ottos eigenes Bekenntnis entscheidende Charakterisierung des Heiligen in ihren entscheidenden »Drei Momente[n]: Geheimnis, schauer-erregend, beseligend-anziehend«.3 Als sei es für die Zuhörer selbstverständlich, hob Frick dabei jedoch eines dieser Momente in ganz besonderer Weise hervor. Aus »naheliegenden Gründen« – die Frick leider nicht näher erläutert – sei besonders das zweitgenannte Moment, das »tremendum« von Otto in herausragender Eindrücklichkeit für seine Zeitgenossen erfasst und dargestellt worden: »Ein moderner unabhängiger Denker [Otto] machte hier denjenigen Zug am Heiligen verständlich, der bisher am meisten verkürzt worden war: das Moment des Schauers, des Schreckens, ja des Zornes Gottes«.4

Otto hat also nach Meinung Fricks der modernen Theologie mit der abdrängenden und schauervollen Dimension religiösen Erlebens eine »zu voller Frömmigkeit notwendig« dazugehörende grundlegende Dimension der Religion zurückgewonnen, die in der Theologie im frühen 20. Jahrhundert als nahezu vergessen galt. Zumindest die bis heute reichende Wirkungsgeschichte von Ottos Werk gibt der Einschätzung Fricks recht. Tatsächlich sind es genau jene Momente des Schauervollen hinter dem berühmten Begriff des »mysterium tremendum«, die in Ottos Denken besonders häufig und mit Nachdruck hervorgehoben wurden. Als repräsentativ kann beispielsweise die Deutung Ottos bei Hans Blumenberg gelten, der in seinem Buch Arbeit am Mythos gerade diejenige »an Menschen und Dingen auftretende Qualität des Numinosen« hervorhebt, die »Furcht erweckt oder zumindest auch Furcht erweckt« und »in den milderen Formen von Scheu und Ehrfurcht, von Staunen und Verblüffung entschärft« wird.5 In der Verbindung von »Schauder und Furcht, Faszination und Weltangst, Unheimlichkeit und Unvertrautheit«6 sieht Blumenberg die entscheidenden Momente in Ottos Werk und erblickt in ihnen Durchbrüche durch den »Absolutismus der Wirklichkeit« in Form einer »die Erscheinungen der Welt umgebenden Aura von Übermacht und Unzulänglichkeit«.7

3 Vgl.

Frick, Gedächtnisrede, 19. Gedächtnisrede, 19. Frick fährt fort: »Hiob kam wieder zu Ehren, und der Deus absconditus ­Luthers wurde wieder respektiert, und es wurde die mystische unergründliche Tiefe der Gottheit, der Urgrund des Göttlichen, als zu voller Frömmigkeit notwendig zugehörig verstanden.« (ebd., Hervorhebung im Original). 5 Vgl. Blumenberg, Arbeit am Mythos, 72. 6 Blumenberg, a. a. O., 28. 7 Vgl. Blumenberg, a. a. O., 20. 4 Frick,

Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

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In seiner Bedeutung für die Theologie und für das Verständnis der Religion in der Moderne wird immer wieder Ottos Entdeckung jener Gattung religiöser Gefühle besonders gewürdigt, die auf den ersten Blick dem Phänomen der Angst gleicht.8 Und in der Tat ist auch in ausgewiesenen theologischen Studien zur Angst immer wieder an prominenter Stelle auf Ottos klassische Bedeutung zu diesem Thema hingewiesen worden. Fast überall dort, wo Angst und Religion oder Angst und Christentum ins Verhältnis gesetzt werden, taucht seit den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts der Name Ottos auf und nimmt nicht selten den Rang eines Klassikers ein.9 In Oskar Pfisters vielbeachtetem Hauptwerk Das Christentum und die Angst von 1944 wird Otto neben ­Luther und Kierkegaard geradezu als entscheidender Wiederentdecker des Angstthemas für die Theologie der Moderne vorgeführt: »Das Angstproblem blieb unbeachtet, bis 1917 Rudolf Otto in seinem Buch ›Das Heilige‹ die überragende Wichtigkeit des ›Mysterium tremendum‹ und damit der Angst im Leben der Religionen der staunenden Theologenwelt nachwies.«10

Schließlich fand die Wirkungsgeschichte Ottos auch ihren Weg in die nichttheologischen Deutungen des Phänomens der Angst in den unterschiedlichsten Fachdisziplinen. Als bezeichnend kann hierfür gelten, dass Walter von Baeyer und Wanda von Baeyer-Katte in ihrem Standardwerk zur Angst von 1971 mit dem Kapitel »Die Angst und das Numinose« ihren Abschnitt zum Verhältnis von Angst und Religion deutlich an Ottos klassische Überlegungen anlehnen.11 Besonders in auf Interdisziplinarität hin angelegten Studien und Sammelbänden zur Angst wird seit der Mitte des 20. Jahrhunderts in zahlreichen Fällen auf Otto verwiesen und seine Terminologie verwendet. In kulturwissenschaftlichen oder  8  So unterstreicht Theo Sundermeier Ottos entscheidenden Gedanken für den modernen Religionsbegriff mit den Worten: »Den Menschen überkommt etwas, etwas Unheimliches, etwas, das ihn erschreckt und ihm Angst einjagt, ein Schauder, der doch zugleich so etwas wie ›awe‹ in dem Menschen hervorruft.« (Sundermeier, Was ist Religion, 17).  9 Die Belege für die Nennungen Ottos als klassische Position in theologischen Abhandlungen zum Angstbegriff sind legion. Vgl. daher für einen Überblick zur Bedeutung Ottos in theologischen, religionsphilosophischen und religionswissenschaftlichen Debatten über die Angst die grundlegenden Hinweise in den Artikeln zum Begriff Angst/ Furcht von Axel Michaels und Heiko Schulz in RGG4, Bd. 1, 496–498, sowie die Ausführungen zum Angstbegriff von Renate Schlesier in: Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, 455–471 (zur Nennung Ottos vgl. a. a. O., 464). Zu den wohl ersten Inanspruchnahmen Ottos für eine theologische Deutung der Angst gehören die Werke Werner Elerts seit den frühen Zwanzigerjahren, in denen – häufig ungenannt – die Begriffe und Gedanken Ottos mit grundlegenden Überlegungen zum Angstbegriff verbunden werden. Innerhalb eines Überblicks zur theologischen Deutung der Angst hat besonders Ernst Benz Ende der Fünfzigerjahre ausdrücklich auf die Bedeutung Ottos hingewiesen, vgl. Benz, Die Angst, 189–222, insbes. zu Otto a. a. O., 191 f. 10 Pfister, Das Christentum, 2. Pfister sieht sich in seinem klassischen Buch zur Angst geradezu »in den Fußstapfen Rudolf Ottos schreitend und seinen Weg fortsetzend« (vgl. a. a. O., 4). Ob Pfister in seiner Darstellung Otto jedoch tatsächlich gerecht wird, ist fraglich und bleibt zu diskutieren (vgl. hierzu unten im Zweiten Teil Kap. V, 1.3.). 11 Vgl. Baeyer/ Baeyer-Katte, Angst, 36 ff.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

psychologischen Abhandlungen zur Angst sind demnach die einschlägigen Ausdrücke Ottos teilweise als verselbstständigte Fachtermini im Gebrauch.12 Gerade die schillernden Begriffe Ottos für die angstvollen Dimensionen religiösen Erlebens haben offenbar gegenüber den gebräuchlichen Ausdrücken Angst und Furcht eine besondere Wirkung erzeugt.13 Es wird schnell deutlich, dass Otto für die moderne Diskussion um die Bedeutung der Angst und ihres Verhältnisses zur Religion zu einer herausragenden Figur geworden ist. Doch wird Otto für den Begriff Angst in der Moderne zu Recht in Anspruch genommen? Bei genauerem Hinsehen hat Otto in seiner feinen Begriffsdifferenzierung im Kontext der Momente religiösen Erlebens vom Angstbegriff deutlich Abstand gehalten. Die häufig anzutreffende Lesart Ottos, die seinen berühmten Begriff des »tremendum« kurzerhand mit dem Angstbegriff oder einer diffusen modernen Lebensangst gleichsetzt, ist – nimmt man Ottos Ausführungen ernst – nicht unproblematisch. Es zeichnet sich ab, dass es sich in der freizügigen Rezeption von Ottos berühmten Begriffen oft genug um Missverständnisse handelt. Diesem Sachverhalt gilt es im Folgenden Rechnung zu tragen. Es wird dabei als produktive Problemkonstellation zur Kenntnis genommen, dass die vorliegende Untersuchung zum Angstbegriff mit Otto einem Autoren gewidmet ist, der sich den Angstbegriff für seine Frömmigkeitstheorie gerade nicht zu eigen machte und stattdessen vielmehr die Angst von genuin religiösen Momenten eines besonderen angstvollen Fühlens unterschied. Der entscheidende Grund, sich dennoch zum Verhältnis von Angst und Religion in der Moderne gerade mit Ottos Werk auseinanderzusetzen, ist folglich weniger dessen Wirkungsgeschichte in späteren interdisziplinären Deutungen der Angst geschuldet, sondern liegt darin, dass Otto seine aufwändige gefühlstheoretische Beschreibung der abdrängenden Momente im religiösen Erleben in Gestalt einer eigentümlichen »numinosen Scheu« als die ursprünglichste und elementarste Ebene der Religion überhaupt auszumachen versteht.14 Gerade weil er sich ausdrücklich kritisch mit dem Angstbegriff und seiner Anwendung auf die Religion auseinandersetzt, wird Otto hiermit der Komplexität einer Verhältnisbestimmung von Angst und Religion und ihrer Bedeutung für die menschliche Frömmigkeit in besonderer

12

 Prominent ist beispielsweise der ausdrückliche Bezug Carl Gustav Jungs auf Otto (vgl. z. B.  Jung, Die Autonomie, des Unbewussten, 13). Zur Aufnahme Ottos in die Angstdebatten des 20. Jahrhunderts insbesondere am Beispiel des »mysterium tremendum« vgl. Willenborg, Das Heilige, 168.274 f und 431. Zur Bedeutung Ottos für den Angstbegriff des 20. Jahrhunderts vgl. Johannsen, Das Numinose, 71 f. 13 Neben dem berühmten »tremendum« ist es besonders der Gedanke der »Kontrastharmonie«, der von besonderer Wirkung war. Vgl. beispielsweise – ohne einen Hinweis auf Otto – die Abhandlung von Hermann Lang, der von der »Doppelbödigkeit der Angst« spricht und Angst als »ein Faszinosum und zugleich ein Schrecken« bezeichnet (Lang, Die Doppelbödigkeit, 53). 14 Vgl. DH23–25, 13, wo Otto die angstvollen Momente des Numinosen als »das Unterste und Tiefste in jeder starken frommen Gefühls-regung« bezeichnet.

Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

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Weise gerecht. Darüber hinaus wird anhand des Problems der Angst der charakteristische Ansatz deutlich, den Otto in seiner Theologie unternimmt. Im Folgenden soll die Spur des Verhältnisses von Angst und Religion in Ottos Denken ausführlich verfolgt werden. Leitend ist dabei die grundlegende Frage, inwiefern bei Otto eine Form der theologischen bzw. religionsphilosophischen Deutung des Angstphänomens vorliegt, die den Fragen der Theologie unter den Bedingungen der Moderne in besonderer Weise Rechnung trägt. Oder anders: Lässt sich mit Otto ein theologischer Neuansatz entwickeln, der sich aus dem Phänomen der Angst geradezu erklären oder ableiten lässt und damit auch für theologische Fragen der Gegenwart relevant und anschlussfähig ist?15 Zu zeigen wäre hierfür, dass moderne Theologie sich der Angst nicht nur als einem psychologischen und gesellschaftlichen Problemgegenstand zu nähern vermag, sondern vielmehr in der Lage ist, Gefühle der Angst von besonderen angstvollen Momenten genuin religiösen Erlebens zu unterscheiden. Dahinter steht letztlich keine geringere Frage als diejenige nach dem Grund der Religion überhaupt und seiner Erschließung über die Momente der religiösen Erlebnisdimension. In einem Durchgang durch Ottos Gesamtwerk soll die Genese und Entwicklung seiner Theorie der Frömmigkeit nachvollzogen und dahingehend befragt werden, welche Bedeutung hierin dem Phänomen der Angst und ihrem Verhältnis zur Religion tatsächlich zukommt. Dahinter steht schließlich die Frage nach der Überzeugungskraft von Ottos Denken für eine gegenwärtige theologische Deutung des Angstbegriffs und seiner religions‑ und frömmigkeitstheoretischen Relevanz. Es führt also die Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion bei Otto in die Grundlagen seines Lebenswerks hinein, das so anhand eines Schwerpunkts erschlossen werden kann. Der bisher kaum unternommene und durchaus schwierige Versuch einer Gesamtdarstellung von Ottos Denken kann am Beispiel des Problems des religiösen Erlebens und der Angst auf eine Kernfrage hin fokussiert werden, die zugleich wichtige Linien der Wirkungsgeschichte im 20. Jahrhundert deutlich werden lässt. Auch die bisher nur wenig berücksichtigten Jugend‑ und Studienjahre Ottos, sowie die frühen Jahre seines akademischen Wirkens in Göttingen sollen hierfür zur Sprache kommen. Hier lassen sich wichtige Grundlagen für Ottos Theologie und Religionsphilosophie rekonstruieren. Überdies erschließt sich auch Grundlegendes über seine Herkunft aus dem Umfeld traditioneller lutherischer Frömmigkeit. Die zentralen akademischen Schwerpunkte in den frühen Werken sind dabei eindeutig: Martin ­Luther und Friedrich Schleiermacher. Ein eigenes Kapitel wird sodann Ottos Hauptwerk gewidmet, denn in Das Heilige 15 Unter den zum Thema relevanten Schriften sei an dieser Stelle nur beispielhaft diejenige des Otto nahestehenden Theologen Ernst Benz herausgegriffen (vgl. Benz, Die Angst in der Religion, 189–221).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

laufen alle Fäden von Ottos Denken zusammen und bündeln überdies seine theologische Interpretation der Angst im Kontext religiösen Erlebens. In seinem Hauptwerk hakt auch in erster Linie Ottos weiträumige Wirkungsgeschichte ein, die später in Begriffen wie »mysterium tremendum« oder »numinose Scheu« mitunter die Grundlagen einer Phänomenologie religiösen Angsterlebens zu finden meinte. Das Verhältnis von Angst und Religion kommt schließlich besonders deutlich in eher weniger bekannten Schriften und Einzelthemen in Ottos Werk zur Sprache. Im Kontext wichtiger Debatten seiner Zeit zu theologischen und religionsgeschichtlichen Fragestellungen, beispielsweise zum Problem von Naturalismus und Evolutionstheorie, der Religions‑ und Entwicklungspsychologie und anderen Themen, trägt Otto seine Unterscheidung profaner Erfahrung von genuin religiösem Erleben besonders pointiert insbesondere am Beispiel der Angst vor. Gerade auch eher unbekannte und bisher wenig diskutierte Werke Ottos kommen in diesem Zusammenhang zur Darstellung und tragen dabei wesentliche Aspekte und Vertiefungen zur Diskussion der Verhältnisbestimmung von Angst und Religion bei. Abschließend leistet ein Überblick über die Wirkungsgeschichte Ottos zum Problem von Angst und Religion den Anschluss an die im Ersten Teil dargestellten Positionen und verortet Ottos Denken nicht nur in den zahlreichen Debatten zur Angst im 20. Jahrhundert, sondern lässt auch seine Relevanz für die Gegenwart deutlich werden. Hieraus ergibt sich eine Kapitelgliederung in fünf Abschnitte. Zunächst werden Überlegungen zu Ottos Herkunft und Jugendzeit bis zum Ende des Studiums vorangestellt (Kap. I.). Es folgt die ausführliche Diskussion wichtiger Grundlagen von Ottos Denken in seiner L ­ uther‑ und Schleiermacherdeutung (Kap. II.). Anschließend wird Ottos Hauptwerk Das Heilige in den Blick genommen und vor dem Hintergrund der Fragestellung nach Angst und Religion diskutiert (Kap. III.). Die eigentlichen Pointen von Ottos Deutung der Angst werden sodann an konkreten Anwendungsfragen besonders deutlich, die anhand ausgewählter Einzelthemen aus Ottos Gesamtwerk im Kontext untersucht werden (Kap. IV.). In einem letzten Schritt wird versucht, die einzelnen Arbeitsschritte im Zusammenhang mit ihrer Wirkungs‑ und Rezeptionsgeschichte zu einem Ausblick im Rahmen einer theologischen Deutung der Angst in ihrer Relevanz für die Gegenwart zu führen (Kap. V.).

I. Zwischen traditionellem Luthertum und liberaler Kritik – Bemerkungen zu Ottos Jugend und Studium Die Beschreibung der dunklen, schauervollen Seite des religiösen Erlebens hat Otto besonders mit dem Begriff des »mysterium tremendum« großen Ruhm

I. Zwischen traditionellem Luthertum und liberaler Kritik

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beschert und in nicht mehr überschaubarem Maße Eingang in die Literatur gefunden. Doch wo liegen die Wurzeln dieses Gedankens? Ausgehend von frühen biographischen Anhaltspunkten und Prägungen in Jugend und Studienzeit ist das frühe Werk Ottos von besonderem Interesse. Da sich die meisten Studien zu Otto mit den späteren Werken und besonders natürlich mit dem Hauptwerk Das Heilige auseinandersetzen, ist das Frühwerk Ottos noch verhältnismäßig wenig berücksichtigt worden. Gerade auf den bisher kaum erforschten frühen Wurzeln von Ottos Denken soll daher ein im Rahmen wissenschaftlich-theologischer Studien ungewöhnlich umfangreicher Schwerpunkt liegen. Die Betonung der religiösen Biographie und Persönlichkeit der beiden zentralen Figuren von Ottos ersten theologischen Studien  – ­Luther und Schleiermacher  – lässt darauf schließen, dass für Otto der persönliche Zugangsweg zur Religion auch in seiner eigenen Biographie von Bedeutung war. Die Prägungen des lutherischen Elternhauses lassen daher möglicherweise erste Rückschlüsse auf die Entwicklung von Ottos Denken zu, bevor dann die Wahl seiner Studienorte und der Einfluss seiner theologischen Lehrer die eigentlichen Impulse für seinen weiteren Weg gaben. Zudem hat Otto in späteren Jahren entscheidende Impulse seines Denkens auf persönliche Erlebnisse und Einflüsse seines Umfeldes zurückgeführt. Gerade das Frühwerk Ottos scheint daher eng mit seiner biographischen Entwicklung verflochten zu sein. Ein Anzeichen dafür, dass Otto seine Theorie des Heiligen sehr wohl auch und gerade anhand des individuellen Erlebens herleiten und vorführen möchte und damit indirekt auch von seiner eigenen religiösen Biographie ausgeht, könnte die berühmte Eingangspassage im dritten Kapitel des späteren Hauptwerkes Das Heilige darstellen: Ottos vielzitierte Aufforderung, bei mangelnder Fähigkeit zur Besinnung auf Momente »möglichst einseitiger religiöser Erregtheit« das Buch nicht weiter zu lesen, lässt sich als Einladung an den Leser verstehen, die Ausführungen Ottos an der eigenen Biographie zu überprüfen.16 Von hier aus stellt sich die Frage nach Ottos eigener religiöser Prägung fast von selbst. Zur Frage der theologischen Bedeutung der Angst sind vor allem jene biographischen Stationen und Überlegungen von Interesse, die Otto in besonderer Weise mit der Erlebnisdimension der Religion und mit dem Problem ihrer theologischen Deutung konfrontieren.

16 Vgl.

DH23–25, 8 f. Otto ist also gewissermaßen auf die Kooperation seiner Leser angewiesen, nämlich auf ihre Bereitschaft, durch »Vergleichung und Entgegensetzung« an sich selber nachzuvollziehen, was Otto »durch anderes nicht ausdrücken kann eben weil es ein ursprüngliches und Grund-Datum, darum ein nur durch sich selbst bestimmbares Datum im Seelischen ist« (vgl. DH23–25, 9). Otto selbst soll indes Zeit seines Lebens bedauert haben, selber keine tiefen ekstatischen Erweckungserlebnisse erfahren zu haben (vgl. hierzu Ratschow, Art. Otto, 562).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

1. Biographische Anmerkungen zu Ottos Herkunft und Jugendzeit Die ausführliche Darstellung eines theologischen Gesamtwerkes mit einem vornehmlich biographischen Zugang zu eröffnen, ist im Rahmen wissenschaftlicher Arbeiten eher ungewöhnlich. Gleichwohl erscheint – wie bereits angedeutet – dieses Vorgehen im Falle Ottos sinnvoll, wenn nicht sogar geboten zu sein. Stärker als bei anderen Zeitgenossen ist Ottos theologische Entwicklung nicht in erster Linie durch eine klare Schultradition vorgegeben worden, sondern erklärt sich – wie noch zu zeigen sein wird – aus einer spannungsvollen Entwicklungs‑ und Emanzipationsbewegung heraus. Sein akademischer Werdegang führte Otto von den traditionellen Formen konservativen Luthertums über die Erfahrungstheologie Erlangens hin zu der liberalen Tradition der Göttinger Ritschlschule, ohne dass sich Otto einem dieser Lager gänzlich anschließen konnte. Vielmehr strebte er lebenslang eine spannungsvolle Synthese der Einflüsse seiner frühen Jahre an und konnte sich daher gegen Ende seines Lebens süffisant als »modernistischer pietistisch angehauchter lutheraner mit gewissen quakerneigungen« ausweisen.17 Doch noch ein weiterer Punkt begründet einen zunächst biographischen Blick auf Ottos Werk: Otto selbst hat in der Auseinandersetzung mit wichtigen Gestalten der Geistesgeschichte ebenfalls großen Wert auf deren Persönlichkeit und Wirkungsumfeld gelegt und selbige in seine theologische Deutung einfließen lassen. Das Gleiche nun auch auf Otto anzuwenden, liegt demnach auf der Hand. Es soll daher im Folgenden untersucht werden, ob sich aus den Spuren von Ottos religiöser Herkunft und Prägung womöglich Rückschlüsse auf seine theoretischen Überlegungen zum Problem der Frömmigkeit und dem Verhältnis von Angst und Religion ziehen lassen. Das dokumentierte Wissen über Ottos Jugendjahre beschränkt sich auf einige wenige Informationen, die in den einschlägigen biographischen Studien über Otto zusammengestellt wurden.18 Aus der Feder Ottos steht den Biographen da17 In Abwandlungen war diese Selbstbezeichnung Ottos bekannt und taucht in den Erinnerungen seiner Schüler immer wieder auf. Die hier zitierte Äußerung stammt von Otto selbst aus einem Brief an Jakob Wilhelm Hauer von 1933. Vgl. Brief an Jakob Wilhelm Hauer/23. 5. 1933/BA Koblenz: NL Hauer, 52, 268–270 (Kleinschreibung im Original). 18  Zu den frühen Lebensjahren Ottos vgl. insbesondere: Boeke, Rudolf Otto, 130–132 und Schinzer, Rudolf Otto, 1 ff. Stark an den biographischen Passagen der Monographie von Philip Almond ist die jüngst erschienene kurze Otto-Biographie von Daniël Mok orientiert, vgl. zu den frühen Jahren Ottos: Mok, Rudolf Otto. Een kleine Biografie. Rudolf Otto wirkte trotz seiner vielgerühmten Verbindlichkeit und seines oft beschriebenen freundlichen und humorvollen Wesens auf viele seiner Zeitgenossen zuweilen verschlossen und unnahbar. Nur selten sprach er über sich und sein Leben, sodass selbst durch seine Freunde und Schüler nur sehr wenig über seine Kindheit und Jugendzeit überliefert ist. So hebt selbst der langjährige Schüler und Freund Ottos, Karl Küssner, es ausdrücklich als besondere Gelegenheit hervor, dass er ein Jahr vor Ottos Tod während eines gemeinsamen Erholungsaufenthalts im Schwarz-

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bei neben vereinzelten kleineren Dokumenten und Briefen lediglich eine einzige autobiographische Quelle zu Verfügung: Ottos Entwurf einer Selbstbeschreibung für die Meldung zum Ersten Theologischen Examen von 1891.19 Allein schon aufgrund der kaum vorhandenen Quellen ist es daher fast unmöglich zu ergründen, ob Erfahrungen in Ottos Kindheit und Jugendzeit greifbar sind, die sich – auf welche Weise auch immer – in einen gewissen Zusammenhang mit dem Verhältnis von Angst und Religion bringen lassen. Zumindest wird aus Ottos Jugendjahren von keinerlei Erlebnissen oder Erinnerungen berichtet, die an ein religiöses Angsterlebnis oder eine schauervolle Begegnung mit der »majestas Gottes«, wie Otto sie später so eindrücklich beschrieb, denken lassen. Aufschlussreich für Ottos spätere Beurteilung von Religion und Frömmigkeit ist jedoch sein deutliches Interesse für religiöse und kirchliche Praxis, das sich bei ihm – ebenso wie der Wunsch Pfarrer zu werden – schon in den ersten Schuljahren in Peine bemerkbar machte.20 Aus seiner Gymnasialzeit blieb Otto ein frühes Bemühen um apologetische Probleme im Gedächtnis. Er erinnert sich, alle damals gelesenen Bücher sogleich streng auf ihre rechtgläubige Stellung zum Christentum überprüft und gegebenenfalls verworfen zu haben.21 In Ottos Persönlichkeit deutet sich in jenen Jahren eine eigentümliche Schwermut an, die er lebenslang nicht ablegen konnte. Otto berichtet über seine wald einige persönliche und biographische Details aus dem Leben seines Lehrers erfragen konnte (vgl. Küssner, Verantwortliche Lebensgestaltung, 2). 19  Das fertig ausgearbeitete Exemplar ist verloren. Bei der vorliegenden Quelle handelt es sich um eine stark überarbeitete Rohfassung. Vgl. aus dem Nachlass Ottos: Otto, Vita zum 1. Examen, in: Rudolf Otto Archiv, Universitätsbibliothek Marburg, Hs. 797:582 (im Folgenden mit dem Kurztitel »Vita« zitiert unter Zuhilfenahme einer Abschrift von Martin Kraatz). Reinhard Schinzer, der sich in den frühen Siebzigerjahren ausführlicher mit Ottos Biographie auseinandergesetzt hat, betont ausdrücklich die schlechte Quellenlage zu Ottos Kindheit und Jugendzeit (vgl. Schinzer, Entwurf einer Biographie, 1). Dies mag erstaunen, weil Schinzer seinerzeit in Marburg noch beste Kontakte zu Zeitgenossen und Freunden Ottos hatte – ein weiterer Hinweis auf die tatsächlich kaum vorhandene Kenntnis über Ottos frühe Jahre. Dennoch weist Schinzer auf gewisse Verbindungslinien von den überlieferten frühen Interessen und Begabungen Ottos zu seinem späteren Werk hin (a. a. O., 2). Gregory Alles hat 1996 die wichtigsten erhaltenen Dokumente und Fragmente aus Ottos Leben ins Englische übersetzt und zusammengestellt. Auch er hält die besagte Examensmeldung für die maßgebliche Quelle und ergänzte selbige durch einen Lebenslauf Ottos, den dieser 1898 zum Antritt seiner Privatdozentur in Göttingen vorlegen musste (vgl. Alles, Rudolf Otto. Autobiographical and Social Essays, 50–61). 20  Vgl. Vita, 2. In Erinnerung blieb Otto außerdem der Besuch einer katholischen Messe, der ihn offenbar stark beeindruckte. Verstärkt wurde die beschriebene Tendenz seit 1881 in der Gymnasialzeit am traditionsreichen Hildesheimer Adreanum durch Ottos starke Vorliebe für Literatur – insbesondere englischer Herkunft – und sein frühes Interesse an der Theologie. Obwohl er den Religionsunterricht als ausgesprochen »traurig« empfand, bewahrte sich Otto dennoch eine große Faszination für religiöse und theologische Themen. Vgl. hierzu: Vita, 3: »noch Kinder, stritten wir begeistert u. erbittert genug über Gottessohnschaft u. Schöpfungsbericht, über Darwinismus u. Urzeug[un]g; und ich wartete sehnlich auf die Zeit, wo ich alle d[ie]se Probleme gründlich studieren könnte«. 21 Vgl. Vita, 2.

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Schulzeit, er habe kaum Freunde gehabt und sei ein ausgemachter Einzelgänger gewesen, der von sich sagen konnte, Bücher seien seine »besten Kameraden«.22 Möglicherweise zeigt sich schon hier ein Charakterzug Ottos, den seine Freunde und Zeitzeugen zu späteren Zeiten immer wieder beobachteten: Seiner vielgerühmten humorvollen Geselligkeit zum Trotz wurde Otto besonders in seinen letzten Lebensjahren immer wieder von einer bis zur tiefen Depression reichenden Melancholie und Niedergeschlagenheit heimgesucht.23 Ob jene Schwermut schon in der Jugend angelegt war, muss aufgrund der Quellenlage letztlich offen bleiben. Einige Züge von Ottos später vielbeschriebener Sensibilität und seiner »vornehmen, zurückhaltenden und empfindsamen Natur« mögen hier vielleicht schon durchscheinen.24 Es liegt nahe, an dieser Stelle eine gewisse Wurzel für die sehr emotionale und persönliche Betrachtungsweise zu suchen, in der sich Otto später mit der Wirklichkeit der Religion auseinander setzte.25 Nicht zuletzt vielleicht auch aufgrund seiner Persönlichkeit werden es schließlich gerade die dunkleren und »schauervollen« Facetten religiösen Erlebens sein, denen Ottos Augenmerk in seinen Forschungen in besonderer Weise galt.26 Letztlich ergibt sich jedoch aus den überlieferten Hinweisen ein nur sehr spärliches Bild von

22  Insgesamt bezeichnet Otto seine Schulzeit als »nicht eine so schöne, erfreuliche wie sie sonst zu sein pflegt«, gleichwohl sie ihm kaum Mühe und Verdruss bereitete (vgl. Vita, 2). Als in sich gekehrten und geheimnisvollen Menschen, den eine Aura der »Einsamkeit« umgab, wurde Otto auch in seinen letzten Lebensjahrzehnten beschrieben, z. B. bei Wach, Rudolf Otto, 201. 23 Über die Gesundheit und das Wesen Ottos, insbesondere über seine seit Mitte der Zwanzigerjahre immer stärker werdenden Depressionen berichtet sehr sachlich und präzise Carl Heinz Ratschow, in: Ratschow, Art. Otto, Rudolf, 560 f. Ausführlicher schreibt Philip Almond über Ottos schwere Depressionen in Folge seines desaströsen Gesundheitszustands in seinen letzten Lebensjahren und deutet – wie viele andere – Ottos Sturz von einem Burgturm der Ruine Staufenberg bei Marburg als Suizidversuch (vgl. Almond, Rudolf Otto, 25). 24 Vgl. Benz, Rudolf Otto als Theologe und Persönlichkeit, 32. Ernst Benz vermutet in jener Verletzlichkeit Ottos auch den Grund für seine vorzeitige Emeritierung. Joachim Wach zeichnet in seinen Erinnerungen an Otto dessen verletzliches und unnahbares Wesen wohl am differenziertesten nach (vgl. Wach, Rudolf Otto, 201 f). 25  Schinzer spricht von jener charakteristischen »ungewohnten Sehweise« die Ottos Arbeit in besonderem Maße auszeichnet und für die Wirklichkeit religiösen Lebens sensibel macht (vgl. Schinzer, Rudolf Otto, 5). 26 Als Beispiel könnte das religiös gedeutete Angsterleben eines zwölfjährigen Jungen gelten, mit dem sich Otto später direkt identifizieren konnte. Im Kontext seiner Studien zu religiösen Kindheitserlebnissen bekennt Otto am Beispiel der Schilderung eines einschneidenden religiösen Kindheitserlebnisses, das er bei Jakob Wilhelm Hauer überliefert findet: »Was mir zunächst an diesem Erlebnis – denn daß es sich um ein wirkliches Erlebnis handelt, bestätigte mir der Verfasser – interessant war, das ist, daß in ihm fast mit der Genauigkeit eines Experimentes sich die Gefühlsmomente zeigen, die ich in meiner Analyse des ›Numinosen‹ für mich selber aufgefunden habe.« (vgl. GÜ, 275). Dies könnte auch so zu verstehen sein, dass Otto sich in Hauers Schilderung eines rel. Kindheitserlebnisses selbst wiederfand, bzw. die geschilderten Gefühle und Erlebnisse der Angst aus seiner eigenen Erfahrung heraus nachvollziehen konnte. Vgl. zu der Schilderung bei Hauer und Ottos Bezugnahme die Ausführungen unten im Zweiten Teil, Kap. VI, 4.

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Ottos frühen Lebensjahren und Prägungen.27 Der Versuch, aus einer Analyse von Ottos früher Biographie Rückschlüsse auf sein späteres Werk zu ziehen, muss daher auf fragwürdigen Spekulationen beruhen. Als warnendes Beispiel für die Unmöglichkeit eines biographisch-psychologischen Zugangs zu Ottos Frühwerk sei an dieser Stelle kurz auf die Arbeiten des amerikanischen Pastoraltheologen Donald Capps hingewiesen, der Ottos Begriffe des »mysterium tremendum« und des »Ganz Anderen« auf psychische Traumata in dessen Kindheit zurück führen möchte.28 Ottos Ausführungen zu Momenten der »Scheu« im religiösen Erlebnen sind demnach laut Capps nichts anderes als religiös überformte Reflexionen von frühkindlichen Misshandlungserfahrungen. Allerdings sind jene Traumata frei erfunden, denn aus den Quellen ist über Ottos Kindheit so gut wie nichts zu erfahren.29 Das Ergebnis einer derartigen Konstruktion psychobiographischer Zusammenhänge aus willkürlich zusammengelesenen Teilen eines theologischen Werks heraus ist daher äußerst fragwürdig und irreführend.30 Es werden hier frei erfundene psychologische 27 Allein der Hinweis auf seine Herkunft aus traditionell lutherischer »Strenggläubigkeit« (vgl. Vita, 3) mag möglicherweise ein Zug in Ottos Denken sein, der ihn längere Zeit begleitete. 28 Capps Grundannahme lautet: »In short, I content that the child’s experience of being abused at the hand of an adult is reflected in the mysterium tremendum experience.« (Capps, The Mysterium Tremendum, 10). 29 Methodisch verfolgt Capps ein psychoanalytisches Verfahren, dass auf die vieldiskutierten Studien Erik H. Eriksons aufbaut. In Anlehnung an Eriksons damals aufsehenerregende Studie zum frühen L ­ uther (1958) meint Capps von den Werken einiger Protagonisten der Religionsgeschichte auf deren psychologisch-biographischen Hintergrund schließen zu können. Das dahinter stehende Prinzip gleicht einer Projektionshypothese: Die furchterregenden Momente der Religion kanalisieren laut Capps frühkindliche Ängste und Traumata, während die positiven und heilvollen Erlösungsmomente, wie sie nach Capps z. B. in Jesus verkörpert werden, der Überwindung von Ängsten dienen und eine geruhsame Nachtruhe ermöglichen: »There are religious ideas, like that oft he mysterium tremendum, that reflect and exacerbate fears for one’s very survival, and there are religious ideas, like the image of Jesus, that are restorative, enabling us to lay ourselves down to sleep at night, secure in the thought that our souls are in his keeping.« (Capps, The mysterium tremendum, 14). Die spärliche Quellenlage zu Ottos Kindheit hält Capps daher nicht davon ab, eine hochdramatische Analyse zu Ottos frühen Lebensjahren zu konstruieren, die zentrale Grundgedanken seines Werks auf mutmaßliche Misshandlungen und seelische Verletzungen zurückführt. 30 In seinem Buch Men, Religion, and Melancholia von 1997 unterstellt Capps William James, Rudolf Otto, Carl Gustav Jung und Erik H. Erikson, die er als bedeutende Protagonisten der Religionspsychologie vorführt, ihre Werke seien maßgeblich aus ihrer eigenen psychischen Verfassung heraus entstanden. Ihre Hauptwerke handeln, wie Capps attestiert, »indirectly about themselves« und enthüllen einen »lifelong struggle with the pathology«, einen inneren Kampf mit ihrer Melancholie (Capps, Men, Religion and Melancholia, XI). Melancholie ist demnach ein pathologisches Phänomen (»persistent theme running through the classic texts in the psychology of religion«, Capps, a. a. O., XI f), welches die besagten Autoren in ihren Werken unbewusst zu therapieren versuchen. Am Beispiel der Reiseberichte Ottos, die Capps dem Buch Philip Almonds entnimmt (Almond, Rudolf Otto, besonders 3–24), führt er Ottos Denken auf »noumenous experiences« (Capps, a. a. O., 81) zurück, die als Verarbeitungen früher Kindheitserlebnisse verstanden werden. Bei Otto (und bei William James) geht Capps von einer »introspective method« (a. a. O., 80) aus, die Ottos Hauptwerk zu einer Theorieabhand-

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Faktoren vorausgesetzt, die aus den wenigen Quellen nicht belegt werden können und auf teilweise bizarren Hypothesen beruhen.31 Schließlich wird es in der vorliegenden Untersuchung also aufgrund der spärlichen Belege und Quellen zu Ottos frühen Jahren bei vagen Andeutungen bleiben müssen. Mögen auch Spuren der Melancholie und Schwermut in Ottos Charakter angelegt und mit seinen frühen Interessen an christlicher Frömmigkeit verbunden gewesen sein, so ist hieraus dennoch kaum die Grundlage seiner späteren Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Angst und religiösem Erleben abzuleiten. Die beschriebenen Aspekte in Ottos früher Entwicklung bleiben also  – so interessant sie auch sein mögen  – weitgehend im Dunkeln. Rückschlüsse, wie sie Otto beispielsweise in seiner Auseinandersetzung mit ­Luther und Schleiermacher von deren Persönlichkeit und Biographie her zog, sind in Ottos eigenem Frühwerk kaum ermittelbar.

2. Subjektivität und Erfahrung – erste Studienjahre in Erlangen Mit dem Beginn des Theologiestudiums nach dem Abitur im Jahre 1888 ging ein früh gehegter Wunsch Ottos in Erfüllung. Dem Rat einiger Freunde folgend, schrieb er sich in Erlangen ein, wo er auch seinen Wehrdienst zu absolvieren lung eigener Melancholie-Erfahrungen und frühkindlicher Misshandlungen durch die Eltern werden lässt. Ottos berühmtes Synagogenerlebnis in Mogador wird demnach kurzerhand zu einer Verarbeitung mutmaßlicher Wiegenlieder der Mutter (a. a. O., 86 f), ein Nachthimmel über Jerusalem wird zur Auseinandersetzung mit dem Elternhaus, das »the very antithesis of the noumenous« gewesen sei (a. a. O., 88). Selbst aus den äußerlichen Körpermerkmalen Ottos (es wird von Ottos grau-blauer Augenfarbe auf Charakterzüge geschlossen) und seinen Lebensgewohnheiten entrollt Capps schließlich ein detailreiches Szenario von Ottos Kindheit, in dem die Mutter nach dem Tod des Vaters für den Zwölfjährigen zum züchtigenden und furchterregenden »Ganz Anderen« wird (a. a. O., 98 f), sie wird »without warning, so ›wholly‹ other.« (a. a. O., 108). Was Otto theologisch als »Kreaturgefühl« oder »Tremendum« beschrieb, wird von Capps zu einer Verarbeitungsform von Ängsten in Folge von Kindesmisshandlung stilisiert (vgl. a. a. O., 109), allerdings ohne dass hierfür irgendwelche belastbaren Hinweise aus Ottos Kindheit vorlägen. Schließlich wird Otto – so Capps – sein eigenes Werk auch noch zum Verhängnis: seine spätere theologische Beschreibung des »mysterium tremendum« führte demnach zu einer Revitalisierung der kindheitlichen Traumata mit der Mutter und trieben Otto schließlich in Depressionen und Selbstmordversuche (a. a. O., 206). Ottos Jesusbild, dem Capps therapeutische Kräfte zur Erlangung von »self-cohesiveness« und »selfempowerment« zugesteht, konnte folglich seinem Schöpfer nicht mehr helfen (a.a.O, 208). Mag man Capps Psychologisierung von Ottos Werk auch unterhaltsam finden, für eine stichhaltige Erschließung der frühen Biographie Ottos und ihrer Bedeutung für sein Denken vermag sie überhaupt nicht zu überzeugen, bzw. führt auf problematische Weise in die Irre (vgl. hierzu grundsätzlich Willeborg, Das Heilige, 442 und mit Hinweisen zu Erikson und Otto, a. a. O., 224). Capps Umgang mit den Quellen zu Ottos Leben und Werk ist zudem äußerst spärlich. Die rezipierte Literatur von und über Otto beschränkt sich auf eine englische Übersetzung von Das Heilige und auf die Otto-Studie Philip Almonds. 31 Ebenfalls kritisch beurteilt werden die Otto-Studien von Capps bei Todd Gooch (vgl. Gooch, The Numinous, 18 f).

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beabsichtigte. Der eigentliche Grund für die Wahl des Studienortes ist jedoch inhaltlicher Art: Schon in der Schule war ihm Kunde »von schlimmen Neuerern« zu Ohren gekommen, die – wie Otto später etwas süffisant die damalige Einstellung referiert – »in die Theologie grundstürzend eindrängen«.32 Der von den »Formen herkömmlicher Strenggläubigkeit« seines lutherischen Elternhauses tief geprägte junge Student versprach sich nun von dem als konservativ geltenden Erlangen, dass er sich dort »bei Männern der alten Schule« die zur Abwehr liberaler Reformtheologie nötige »Rüstung« erwerben könne.33 Otto erhoffte sich demnach offenkundig weniger Impulse jener Tradition, die man später häufig als Erlanger Erfahrungstheologie bezeichnet hat, sondern verfolgt in erster Linie ein methodisch-apologetisches Interesse. Ihm verspricht die Erlanger Theologie zunächst jene theologischen Grundlagen zu vermitteln, die ihm sein lutherisches Bekenntnis bewahren und gegenüber jenen kritischen Anfragen verteidigen helfen, die ihn schon in der Schulzeit beschäftigten. Der Ruf der Erlanger Fakultät, im weitesten Sinne lutherisch-konservativ zu sein, scheint dabei eher das Motiv für die Wahl des Ortes gewesen zu sein als konkrete Vorstellungen von den dort Lehrenden. Im Anschluss an den damals üblichen Wehrdienst konnte Otto ab Ostern 1889 schließlich das Studium beginnen.34 Nach ersten Kontakten mit der Erlanger Theologie noch während der Zeit in der Kaserne folgte Otto allerdings vorübergehend einigen Freunden in das theologisch liberale Göttingen, wo er das Sommersemester verbrachte, um »Methode zu lernen«, und kehrte dann erst zum Wintersemester 1889/90 wieder nach Erlangen zurück.35 Über die nun 32 Vgl. Vita, 3. Auch für die Erforschung und Beurteilung von Ottos Studienjahren ist der autobiographische Lebenslauf im Rahmen seiner Examensmeldung in Göttingen von größter Bedeutung. Allerdings sollte man bei den Schilderungen Ottos nicht außer Acht lassen, dass der Examenskandidat sich hier gegenüber den Vertretern der Göttinger Fakultät präsentiert, denen er sich im Examen als Prüfling zu stellen hat. Die Beschreibungen könnten folglich etwas überzeichnet sein, insbesondere in der Beurteilung anderer Fakultäten und Lehrmeinungen. 33 Vgl. Vita, 3. Ob Otto bei seinen kritischen Andeutungen gegenüber liberalen »Neuerern« bereits in seiner Schulzeit – vermittelt durch seinen Freund Heinrich Hackmann – den Göttinger Theologen Albrecht Ritschl und seine Schule im Auge hatte, wie Stephan Feldmann mit guten Argumenten vermutet (vgl. Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 204–207), ist nicht mit Sicherheit auszumachen. 34 Vita, 3. Die Ableistung des Wehrdienstes am Studienort war zu damaliger Zeit üblich (vgl. Schinzer, Rudolf Otto, 3). Otto selbst nahm die Zeit auf dem Kasernenhof als notwendiges Übel hin und schildert den »geisttötenden quälend langweiligen« Dienst als »nicht sehr erfreulich« (vgl. Vita, 4). 35 Als Otto nach wenigen Monaten zum Wintersemester nach Erlangen zurückkehrte, blieb das Semester in Göttingen dennoch nicht ohne bleibende Eindrücke in Erinnerung. Obwohl Otto plante, sich dem »modernen« Klima Göttingens zu verschließen, sah er am Ende seines Studiums in jenem Göttinger Semester den Anbruch eines entscheidenden und neuen Lebensabschnitts (vgl. Vita, 4). Schinzer hebt besonders eine apologetische Vorlesung von Hermann Schultz hervor, die Otto nachhaltig beeindruckte und eine bleibende Faszination für die vorerst gefürchtete Liberale Theologie auslöste (vgl. Schinzer, Rudolf Otto, 3). Grundlegend zu den Jahren Ottos im Spannungsfeld zwischen Erlangen und Göttingen vgl. Alles, Toward a Genealogy, 323–341.

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folgenden drei Semester in Erlangen – die erste Hälfte von Ottos Studium – ist nur wenig bekannt. Dennoch ist ein Blick auf die Erlanger Situation jener Zeit lohnend, da sich einige wichtige Linien in Ottos Denken möglicherweise bereits hier lokalisieren lassen.36 Hinzu kommt, dass in der Erlanger Tradition wichtige Impulse für das in der vorliegenden Untersuchung interessierende Thema der theologischen Deutung der Angst auszumachen sind, die nicht zuletzt auch in einigen Punkten – insbesondere im Falle des Begriffs des »Zornes Gottes« und des religiösen »Urerlebnisses«  – in einer gewissen Verbindung zum späteren Werk Ottos stehen. Otto und die sogenannte Erlanger Erfahrungstheologie. Die theologische Fakultät Erlangens, in der Otto von 1888–189137 seine ersten theologischen Eindrücke und Einsichten gewann, bildete zu jener Zeit keine streng geschlossene akademische Schule oder einheitliche theologische Lehrmeinung. Vielmehr war das Umfeld, in das Otto geriet, geprägt von einer bis zur Zeit der Erweckungsbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichenden ideengeschichtlichen Traditionslinie, die sich bis in das 20. Jahrhundert hinein in besonderer Weise der Auseinandersetzung mit der lutherischen Bekenntnistradition angesichts der subjektiven Erfahrungswirklichkeit christlichen Glaubens und Lebens verpflichtet fühlte.38 Reinhold Seeberg, den Otto in Erlangen als jungen Pro36 Dies vermutet ebenfalls Katharina Wiefel-Jenner und sieht in der Göttinger Dissertation Ottos Einflüsse der Erlanger Erfahrungstheologie, insbesondere vermittelt durch F. H. R. v. Frank durchscheinen (vgl. Wiefel-Jenner, Rudolf Ottos Liturgik, 30). Als Gegengewicht zu Ottos Zeit in Göttingen betont Gregory Alles ausführlich die Bedeutung Erlangens für das spätere Gesamtwerk (vgl. Alles, Toward a Genealogy, 323–341). Philip Almond vermutet, dass besonders Ottos Interesse für Schleiermacher in Erlangen geweckt wurde, und sieht in Franks Theologie geradezu die Wurzeln von Ottos späteren Werken: »Frank attempted to do justice to both the subjective and objective poles of faith. According to him, the Christian’s experience of regeneration is the basis of Christian doctrine […] Otto’s own emphasis on the subjective and objective grounds of religion has its roots here« (vgl. Almond, Rudolf Otto, 11). Mit der Betonung des Subjetivismus Franks in seiner Wirkung auf Otto vgl. Mok, Rudolf Otto, 22. 37  Während des Wehrdienstes besuchte Otto auch seit 1888 schon – soweit es sich einrichten ließ – erste theologische Veranstaltungen. 38 Gegen eine Interpretation der Erlanger Tradition als »Schule« vgl. Wagner, Lutherische Erfahrungstheologie, 206. Bei aller charakteristischen Ähnlichkeit der Erlanger Protagonisten sind die einzelnen Vertreter dennoch als eigenständige Denker aufgetreten – gleichwohl sich unter Ihnen auch deutliche Lehrer-Schüler-Verhältnisse ausmachen lassen, wie z. B. in der Linie Frank-Ihmels-Elert, beschrieben bei Slenczka, Der Glaube, 28 ff. In den wichtigsten Studien zur Erlanger Tradition werden zumeist thematische Gemeinsamkeiten und Grundlinien der Erlanger Theologie herausgearbeitet, die an allen wichtigen Vertretern nachzuvollziehen sind. Martin Hein sieht die zentrale Stellung des lutherischen Bekenntnisses in seiner erfahrungstheologischen Bedeutung als zentrales Moment Erlanger Theologie an. Den Erlanger Erfahrungsbegriff differenziert er dabei insbesondere im Vergleich zu Schleiermacher: Die Erlanger arbeiten demnach auf charakteristische Weise »antisubjektivistisch«, d. h. an der Glaubenserfahrung wird ihr objektiver »Widerfahrnischarakter« herausgestellt (Hein, Lutherisches Bekenntnis, 85 f). Zugleich sind sie »anti-individualistisch«, was bedeutet, dass in der Erlanger Tradition die Erfahrung des Einzelnen und die Erfahrung der Kirche zusammen

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fessor der Kirchengeschichte erlebte, beschrieb später die »Erlanger Theologie« daher nicht als Kette von Lehrern und Schülern, sondern etwas idealisierend als Gruppe von genialen »Geistern, die von den Trübungen kirchenpolitischer Tendenzen frei waren« und die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts »mit dem freien evangelischen Geist des Luthertums den Ernst eindringender Forschung und das Feingefühl für die geistigen Strömungen des Zeitalters« verbanden und damit die »prinzipielle Überwindung der Autorität der Dogmatik des 17. Jahrhunderts« durch »lutherische Bekenntnisgemäßheit« in der Wirklichkeit religiösen Erlebens erreichen wollte.39 Wie bereits angedeutet, ist in Ottos späteren Werken keine ausdrückliche Bezugnahme auf die theologische Tradition Erlangens belegt.40 Seine Nähe zum Programm der Erlanger, namentlich sein Interesse für Phänomene religiöser Erfahrung, für die Theologie L ­ uthers und Schleiermachers, sowie für die Grundlagen einer am Subjektbegriff orientierten Theologie ist jedoch kaum von der Hand zu weisen und legt eine gewisse Wirkung der Erlanger Studienzeit auf den weiteren akademischen Weg Ottos nahe.41 Greifbar wird die Beziehung Ottos zu Erlangen im Kontext jenes Problemfeldes, das auch für die Frage nach der theologischen Deutung der Angst von Bedeutung ist: Ebenso wie zahlreiche Protagonisten der Erlanger Tradition interessierte sich Otto in seinem späteren Werk auch für die Verbindung menschlicher Lebenserfahrung mit dazu korrelierenden Begriffen im dogmatischen Gottesgedanken, also für eine Erfahrungstheologie, gedacht werden (a. a. O., 86 f). Das gemeinsame Programm Erlangens ist bei Hein daher eine Theologie der Erfahrung als »Erfüllung des kirchlichen Bekenntnisses mit Leben« (a. a. O., 286). Karlmann Beyschlag betrachtet die Erlanger Theologie auch historisch als »abgeschlossene Größe« (vgl. Beyschlag, Die Erlanger, 12) und sieht ihre erfahrungstheologische Einheit inhaltlich besonders begründet durch eine »kirchlich-antirationale Theologie« (a. a. O., 11). Notger Slenczka hat insbesondere die subjektivitätstheoretischen Grundlinien der Erlanger Tradition von Frank bis hin zu Elert umfassend dargestellt und analysiert. Slenczka hält letztlich die Frage nach der Einheit einer »Erlanger Schule« für nebensächlich und betont vielmehr die theologischen »Grundfiguren« ihrer Protagonisten und ihrer Wirkung aufeinander (a. a. O., 317). Sie bestehen laut Slenczka im Wesentlichen darin, »die als externe Lehrnorm erfahrene Bindung an das Bekenntnis mit der subjektiven Unmittelbarkeit eines im Glauben ergriffenen« zu verbinden und so Schrift und Bekenntnis als subjektiv vermittelten Tatbestand zu begreifen (vgl. ebd.). Zur fortschreitenden Auseinandersetzung mit »neuzeitlicher Subjektivität« als gemeinsamem Problemfeld der Erlanger Traditionslinie Frank-Ihmels-Elert vgl. a. a. O., 39 f. 39  Man trat, so Seeberg, der »unhistorischen und stumpf dogmatischen« Bekenntnistreue des orthodoxen Luthertums entgegen und suchte insbesondere den »subjektive[n] Ausgangspunkt der Dogmatik (›Erfahrung‹ und ›Gewißheit‹)«, also eine erfahrungstheoretische Neudeutung der Theologie ­Luthers durch systematische Forschung. Vgl. Seeberg, Die Kirche, 290 f. 40 Eine Ausnahme stellt eine Bemerkung zu Franks Auffassung zur »Auferstehung des Fleisches« dar, die Otto im Rückblick würdigt. In diesem Zusammenhang beschreibt er den »Hader« vieler »Positiver« seiner Generation, die an einer gewissen Uneindeutigkeit und Inkonsequenz in der spekulativen Dogmatik Franks, ihres »Gewährs‑ und Vertrauensmann[s]«, letztlich verunsichert wurden (vgl. SU, 88 f). 41 Eine Deutung Ottos anhand des Grundproblems religiöser Subjektivität haben Thorsten Dietz und Harald Matern vorgeschlagen (vgl. Dietz / Matern, Vorwort, 7 ff).

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die den lutherischen Gottesbegriff in der menschlichen Erfahrungswirklichkeit zu spiegeln und zu begreifen versucht. Konkret wird eine Verbindung Ottos mit Erlangen erst durch seine Rückwirkung deutlich, die er später seinerseits mit seinem Hauptwerk auf die Erben der Erlanger Theologie im 20. Jahrhundert ausübte, namentlich besonders auf Werner Elert. Im Frühwerk Elerts, bei dem nochmals wichtige Linien der Erlanger Tradition zusammenlaufen, werden entscheidende Grundanliegen derselben mit Ottos Werk verbunden und legen deutliche Berührungspunkte insbesondere im Zusammenhang der Luther­deutung offen.42 Von hier ausgehend erscheinen die Erlanger Studiensemester Ottos in einem anderen Licht: Wenn sich Elerts grundlegende Überlegungen zum Angstbegriff in der lutherischen Rede vom »Deus absconditus« als »negative, irrationale Seite des Gottesbegriffs« sowohl auf Otto jedoch aber ebenso auch auf eine jahrzehntelange »Erlanger Schultradition« bis hin zu Theodosius Harnack zurückbinden lassen, stellt sich die Frage, in wie weit nicht auch Otto selbst von jener Erlanger Tradition z. B. hinsichtlich seiner Luther­deutung beeinflusst worden ist.43 Letztlich wird sich diese Vermutung nicht definitiv entscheiden lassen und ist im Folgenden an konkreten Einzelfragen zu erörtern. Ottos Lehrer in Erlangen von 1888–1891. Bei aller Nähe Ottos zu den Impulsen zum theologischen Angstbegriff bei Erlangern wie Theodosius Harnack und Werner Elert kann allein aufgrund des Altersunterschieds von einer direkten Begegnung keine Rede sein.44 Als Otto 1888 nach Erlangen kam, war es vielmehr Franz Hermann Reinhold von Frank, der die Fakultät an erster 42  Das Verständnis Elerts als Erben der Erlanger Theologie ist hier etwa in dem Sinne gemeint, wie es Notger Slenczka in seiner umfassenden Studie zu Elert im Kontext der Erlanger Theologie vorgeführt hat (vgl. Slenczka, Selbstkonstitution, einleitend insbes. 15–10). Elert verfolgt demnach eine »Theologie in der selbstgewählten Isolation« (a. a. O., 18), also sehr pointiert und eigenständig formulierte theologische Positionen, die aber gleichwohl deutlich dem ideengeschichtlichen Kontext Erlangens bis ins Spätwerk verbunden bleiben, namentlich dem Erlanger Grundproblem der »Verhältnisbestimmung von Dogma und Erfahrung« (vgl. zusammenfassend Slenczka, Selbstkonstitution, 343 ff). Vgl. hierzu besonders Elerts Schriften nach dem ersten Weltkrieg. Slenczka sieht den Einfluss Ottos im Kontext eines »kulturkritischen Motivs« insbesondere in der späteren Theologie Elerts, v. a. in dessen Morphologie des Luthertums dokumentiert (vgl. zusammenfassend Slenczka, Selbstkonstitution, 349). 43  Vgl. zum Bezug Elerts auf Otto und Harnack: Slenczka, Selbstkonstitution, 55 f, sowie ferner Hauber, Die Lehre, 119. Freilich kann es sich hier nur um ausgewählte Motive handeln, die als mögliche Berührungspunkte zwischen Otto und Erlangen auszumachen sind. Eine auch nur annähernd erschöpfende Untersuchung des Angstbegriffs der Erlanger Tradition kann in der vorliegenden Arbeit ebenso wenig geboten werden wie eine durchgehend-systematische Gegenüberstellung der Erlanger Theologie mit Rudolf Ottos Gesamtwerk. 44  Ottos Studium in Erlangen fällt in eine Zeit, in der weder Harnack noch Elert in Erlangen waren: Harnack kehrte nach seinen Jahren in Erlangen 1866 wieder nach Dorpat zurück, von wo er 1853 gekommen war und starb dort 1889. Elert war zu Ottos Studienzeit noch ein Kind und kam erst in den Zwanzigerjahren nach Erlangen.

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Stelle prägte.45 Bereits während seines Wehrdienstes erlebte Otto erste Vorträge Franks in Studentenvereinen und fühlte sich von seiner Ausstrahlung sogleich angezogen.46 Nach dem Wehrdienst belegte er bei Frank jedes Semester Lehrveranstaltungen zu Dogmatik und Ethik.47 Ottos erhoffte Bestärkung in lutherischer Bekenntnisapologetik wurde jedoch schon bald enttäuscht. Obwohl Frank der liberalen Tradition Göttingens und insbesondere Albrecht Ritschl äußerst kritisch gegenüber stand und mit seiner Lehre der »christlichen Gewissheit« eine »positiv-positionelle« Theologie entwarf, die sich bewusst auf die Binnenperspektive des dem lutherischen Bekenntnis verpflichteten religiösen Bewusstseins zurückzog,48 erlebte Otto die subjektivitätstheoretischen Überlegungen Franks schon bald mit einer gewissen Beunruhigung. Mit Sorge empfand er einen sich beständig vergrößernden »Riß« in der »gesetzlichen Anschauung« seiner Jugend, den er unter anderem auf den »Subjectivismus« Franks zurückführte.49 Der für Otto ebenso irritierende wie eindrückliche Gedanke einer subjektivitätstheoretisch grundierten Erfahrungstheologie gewinnt seine Kraft aus einer gegenüber der lutherischen Orthodoxie fundamentalen Verschiebung des Vermittlungsortes gläubiger Gewissheit.50 Nicht mehr die rationale Ausweisung der Glaubensinhalte aus Bekenntnis und Schrift ist nun der Ort der Vermittlung, sondern die subjektive Erfahrungswirklichkeit, die dem Menschen zum Bekehrungserlebnis  – Frank nennt es »Wiedergeburt«51  – wird und ihm den kirchlichen Lehrbestand aus Bekenntnis und Schrift somit nicht nur durch intellektuelle Einsicht vermittelt, sondern als im Erlebnis bereits verinnerlicht beschreibt. Man könnte den Vorgang vereinfacht als eine Art fromme Kulturtheologie beschreiben, die bei Frank mit der Inkarnation verglichen wird: Die 45  Zur Bedeutung Franks für die Erlanger Theologie vgl. Wagner, Lutherische Erfahrungstheologie, 205 ff, sowie ausführlich Slenczka, Der Glaube, 44–219. 46 Vgl. Vita, 5. Otto betont in seiner Examensmeldung, es sei jedoch weniger der Inhalt der Vorlesungen als vielmehr die Persönlichkeit Franks gewesen, die ihn beeindruckte. Auch hier ist nicht auszuschließen, dass Otto gegenüber der Göttinger Fakultät seine Faszination für Franks Werk etwas herunterspielt. 47  Vgl. Vita, 4. Otto besuchte bei Frank im Wintersemester 1889/90 die Vorlesungen Dogmatik I und Ethik, im Sommersemester 1890 Dogmatik II, sowie im darauffolgenden Wintersemester das Dogmatische Seminar. Vgl. hierzu Ottos Zeugnis zum Abgang von der königlich Bayerischen Friedrich-Alexanders Universität Erlangen, Verzeichnis der Vorlesungen (Wintersemester 1889/90 bis Wintersemester 1891/92), in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Theol. Prom. 0136, 35–36. 48 Zur Abgeschlossenheit von Franks Gewissheitslehre in Opposition zu einer der säkularen Wirklichkeit aufgeschlossenen liberalen Theologie im Anschluss an Schleiermacher vgl. Wagner, Lutherische Erfahrungstheologie, 214 ff. 49 Vgl. Vita, 4. 50 Beyschlag spricht von einem »geistigen Umbruch« (vgl. Beyschlag, Die Erlanger, 25). Verwiesen sei grundlegend auf das zweibändige Werk Frank, System der christlichen Gewissheit, insbes. Band I. 51 Vgl. Beyschlag, Die Erlanger, 102: »›Wiedergeburt‹ wird damit zum erfahrungstheologischen Zentralbegriff«.

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christliche Wahrheit taucht nicht irgendwo in der natürlichen Erfahrungswelt auf, sondern wird auf geheimnisvolle Weise Teil von ihr, in dem Sinne, »dass diese Wahrheit selbst menschlich Natur und Wesen angenommen, sich vermenschlicht, den Bedingungen des irdisch-menschlichen Daseins gemäss verleiblicht hat.«52 In der biographischen Rückschau eines Christen zeige sich demnach, dass sich die im Glauben angenommene rational-dogmatische Ausfaltung der kirchlichen Lehre im zuvor gemachten Erlebnis bereits als Gewissheit vermittelt und zur Bekehrung geführt habe.53 Ottos zunächst in der Auseinandersetzung mit derartiger Erfahrungstheologie empfundene Irritation wird wohl darin begründet sein, dass er in Franks radikaler Aufwertung des subjektiven Erlebnisses als im Erleben angeeignete Begründung aller Glaubensinhalte eine unerhörte Schmälerung der Autorität derselben, also eine Herabsetzung von Schrift und Bekenntnis zugunsten des subjektiven Erlebens empfand.54 Dies entsprach schließlich gerade nicht Ottos Hoffnung, im Studium durch rationale Apologetik die Bewahrung des traditionellen kirchlichen Lehrbestands sicherzustellen. Die mit Franks Subjektivismus einhergehende vermeintliche Relativierung des objektiven Geltungsanspruchs klassisch-orthodoxer Lehrbestände verunsicherte den jungen Otto ebenso wie die von Frank und Seeberg zuweilen unverhohlen propagierte »Polemik g[e]g[en] die alte Inspirationstheorie«.55 Dennoch konnte Otto sich gegen Ende seiner Erlanger Zeit Franks subjektivitätstheoretische Erfahrungstheologie offenbar wenigstens ansatzweise zu Eigen machen.56 Möglicherweise prägte sich hier ein Grundanliegen Franks – und mit ihm ein Grundzug der Erlanger Theologie – ein, der den weiteren Weg Ottos nachhaltig beeinflusst hat: Die Unhintergehbarkeit des subjektiven Erlebnisses als Urgrund jeder Glaubensgewissheit und als Kern des religiösen Bewusstseins verfolgte Otto in seinen späteren Werken besonders in ihrer befremdenden und in Angst gehüllten Erscheinungsweise und wirkte damit später entscheidend auf den Erlanger Erben Werner Elert. Darüber hinaus kommt es in Franks wohl wichtigstem Werk, dem System der christlichen Gewissheit von 1870/73, zu einer Ausdifferenzierung des theologi52  Frank, System der christlichen Gewissheit, I, 134. Frank konkretisiert weiter, »dass es die Form irdischer Realitäten, menschlicher Gedanken, endlicher Bilder und Vorstellungen ist, in welcher diese Wahrheit Gestalt gewinnt und nun als ein Object der natürlichen Erfahrungswelt da ist gleich anderen Objecten« (ebd.). 53  Notger Slenczka beschreibt dies so, dass im Umkehrschluss »das kirchliche Bekenntnis und die Schrift […] als die Explikation und Entfaltung des ursprünglichen Tatbestandes einer subjektiv vermittelten Erfahrung bestimmt werden.« (vgl. Slenczka, Der Glaube, 317). Die Glaubensinhalte werden somit in der christlichen Subjektivität und Selbstgewissheit »mitgesetzt« (vgl. a. a. O., 318). 54 »Franks freiere Stell[un]g zur Schrift« nennt Otto in seinem Lebenslauf als einen der Gründe für den immer größer werdenden »Riß« in seinem eigenen theologischen Standpunkt (vgl. Vita, 4). 55 Vgl. Vita, 6. 56 Vgl. Vita, 6, wo Otto schreibt: »Die Frankschen Ansch[auun]gen gewannen allmählich Gestalt in mir«.

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schen Erfahrungsbegriffs, die ebenfalls an ein Grundproblem im späteren Werk Ottos erinnert: Die Frage nach der Unterscheidung der zur gläubigen Gewissheit führenden, im eigentlichen Sinne christlichen Erfahrung, also des »unmittelbare[n] Contact[s] seiner Persönlichkeit mit den göttlichen Factoren und Wesenheiten«, von einer hiervor sich abhebenden »natürlichen« Erfahrung.57 Jene zwei Erfahrungssphären, die »natürliche« einerseits und die »geistliche« bzw. »göttliche« andererseits, bleiben bei Frank nicht unvermittelt nebeneinander stehen, sondern werden als in der religiösen Erfahrung vermittelt vorgestellt: »Christengewissheit« – so Frank – ereignet sich allein »kraft einer geschichtlich, also durch Organe des natürlich menschlichen Lebens, in welches der Gottmensch eingetreten, vermittelten […] Wirkung.«58 Es zeigt sich an dieser Stelle ein Problembewusstsein für die Frage nach der Originalität genuin religiösen Erlebens in seiner Unterscheidung von nichtreligiöser Erfahrungswirklichkeit, das auch Otto später in hohem Maße beschäftigt hat und im Anschluss an ihn oft vereinfacht als Unterscheidung von Heiligem und Profanem beschrieben wurde. Wie Otto in seinem späteren Werk, weist auch schon Frank auf die Uneindeutigkeit jener religiösen Erfahrung hin: als natürliche und als übernatürliche Erfahrung zugleich, bzw. als Begegnung mit dem Übernatürlichen im Natürlichen.59 Otto macht später in seinem Hauptwerk jene Unterscheidung von natürlichem und übernatürlichem Erleben über Frank hinaus explizit anhand einer Phänomenologie religiösen Erlebens zum Thema. Das Phänomen der Angst kann bei Otto hierbei – soviel sei an dieser Stelle vorweggenommen – als Paradebeispiel 57 Frank, System der christlichen Gewissheit, II, 4, und im weiteren Zusammenhang zum Verhältnis von natürlicher und christlicher Gewissheit: Slenczka, Der Glaube, 86 f. 58 Frank, System der christlichen Gewissheit, II, 4 f. Das sich im Subjekt verwirklichende christliche Bewusstsein ist demnach der Ort der »Verbindung der geistlichen und natürlichen Realitäten« (a. a. O., 11). Gleiches gilt analog im größeren Zusammenhang für die christliche Gemeinschaft, die als Kirche ebenfalls zum Ort ebenjener Verbindung von Natürlichem und Geistlichem wird (a. a. O., 11 ff). An dieser Stelle ergeben sich deutliche Parallelen zu Ottos späterer Luther­deutung, insbesondere in seiner Unterscheidung des »homo naturalis« und »homo spiritualis« – also in der Unterscheidung und Einheit von Natur und Geist im Kontext religiösen Erlebens (vgl. dazu unten im Zweiten Teil, Kap. II, 1.). 59 Zu diesem bei Frank immer wieder dargestellten Gedanken vgl. beispielhaft Frank, System der christlichen Gewissheit, II, 5: »Denn so gewiss nach dem Bisherigen der gottmenschliche Sühner als Anfänger einer Menschheit Gottes seine Stelle haben muss inmitten der natürlichen Menschheit, aus ihr hervorgegangen und in sie hineingepflanzt, so gewiss müssen es auch geschichtliche Wirkungen sein, welche von diesem neuen Mittel‑ und Anfangspunkte ausgehen, näher betrachtet Wirkungen, die nun ihrem Princip entsprechend nicht bloss diesen natürlichen, sondern zugleich übernatürlichen Charakter tragen.« Vgl. grundlegend zum Thema das Kapitel »Die christliche Gewissheit in ihrer Beziehung auf die Objecte des natürlichen Lebens« in: Frank, System der christlichen Gewissheit, II, 292 ff. Frank schildert hier den »Abschluss des Systems« (a. a. O., 293), demzufolge der Grund christlicher Gewissheit von natürlicher Gewissheit ausgeht, sich jedoch in letzterer nicht erschöpft, sondern in sich selbst findet. Wie jedoch jene christliche Selbstvergewisserung genau vorzustellen ist, bleibt bei Frank undeutlich – dieses Problemfeld ist es, das später Otto in seinem Hauptwerk im Verhältnis von rational und irrational ausführlich zum Thema macht.

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gelten: Das Moment des »tremendum« geht auf eine – wie er es in Das Heilige nennt – eigentümliche »numinose ›Scheu‹« zurück, die sich trotz aller vordergründigen Ähnlichkeit schon in ihrer Gestalt und Art des Erlebens grundlegend von »natürlicher«, d. h. profaner Angst, unterscheidet. Die im numinosen Erlebnis sich einstellende rätselhafte Beunruhigung in der Begegnung mit dem »Ganz anderen«, die Otto in seiner berühmten Nomenklatur mit Begriffen wie »Grauen«, »Scheu« oder »mysterium tremendum« belegt, ist freilich bei Frank nur andeutungsweise zu finden, da die Verwirklichung christlicher Gewissheit bei ihm zu einem durchaus eindeutig-positiven Gottesbild führt, aus dessen Perspektive die Vorstellung eines sich entziehenden »Deus absconditus« zurück tritt: »von Furcht umfangen, nun aber selig in Hoffnung: das ist die Aussage des unmittelbaren christlichen Bewusstseins«.60 Momente der Angst erscheinen demnach nicht – wie später bei Otto – als unablegbare Elemente der Begegnung mit dem Numinosen, sondern als eine durchbrochene Erfahrungswirklichkeit früheren Datums, die im christlichen Bewusstsein überwunden wird. Mit den »obersten Principien der positiven christlichen Gewissheit« beschließt Frank sein System als subjektives Überwindungsbewusstsein über eine unverkennbar an Schopenhauer und Hartmann geschulte pessimistische Weltansicht, die er mit den Worten Jesajas zusammenfasst: »Noth und Finsternis, umnachtet von Angst und hinausgestossen in Dunkelheit (Jes. 8,21 f)« werden in der christlichen Gewissheit als überwunden betrachtet.61 Eine weitere für Otto einprägsame Figur an der Erlanger Fakultät war Franks Schüler Reinhold Seeberg. Dem zu Ottos Erlanger Zeit gerade erst Dreissigjährigen, der in der Fakultät damals noch eine eher untergeordnete Rolle spielte, verdankt Otto in erster Linie umfassende Einsichten zu kirchengeschichtlichen Themen.62 Für Ottos späteres Denken dürften besonders Seebergs Studien zu Schleiermacher und L ­ uther von Relevanz sein, zu denen sich Otto allerdings 60 Frank,

System der christlichen Gewissheit, I, 105. natürliche Wahrheit, auch die edelste, höhlt sich aus, und das natürliche Gut, auch das reichste zehrt sich auf, wenn nicht beide umfasst und erhalten wurden von den Potenzen des ewigen Lebens, welche in Christo der natürlichen Welt geschenkt sind« (Frank, System der christlichen Gewissheit, II, 444). 62 Friedrich Wilhelm Graf beschreibt Seebergs »marginale Position« in der Erlanger Fakultät in der damaligen Zeit (vgl. Graf, Reinhold Seeberg, 623). Im Austausch mit seinem »Mentor« Frank, dessen Nachfolger Seeberg später wurde, wuchs er demnach erst nach und nach in die Erlanger Theologie hinein. Vgl. zu Seebergs Erlanger Zeit a. a. O., 621–624. Zu ­Seebergs Beurteilung der Erlanger Theologie vgl. Seeberg, Die Kirche Deutschlands, 287 ff. Otto besuchte bei Seeberg folgende Lehrveranstaltungen: Im Wintersemester1889/90 eine Vorlesung mit dem Titel Leben Schleiermachers, im Sommersemester 1890 ein Conversatorium über die Lehre von den Gnadenmitteln (dogmengeschichtlich und biblisch-dogmatisch) und im Wintersemester 1890/91 die Vorlesungen Geschichte der alten Kirche und Erklärung der Briefe des Jacobus, Petrus, Johannes (Vgl. Ottos Zeugnis zum Abgang von der königlich Bayerischen Friedrich-Alexanders Universität Erlangen, Verzeichnis der Vorlesungen (Wintersemester 1889/90 bis Wintersemester 1891/92), in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Theol. Prom. 0136, 35–36. 61 »Die

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an keiner Stelle äußert.63 Theologische Impulse zur Deutung des Angstbegriffs lassen sich auch hier nur vermuten. Seeberg weist in seiner Darstellung der Erlanger Theologie besonders auf den theologisch-biographischen Zugang zu L ­ uther hin, den er insbesondere bei Adolf Gottlieb Christoph von Harless als kraftvolle Überwindung des Idealismus dargestellt sieht: »Die Fragen nach der Freiheit und dem Bösen, die ihn gequält hatten, fingen an, vom persönlichen Erleben her sich zu lösen.«64 Aus dem angstvollen subjektiven Erlebnis heraus kann sich demnach die christliche Heilsgewissheit erst erschließen. Über Seeberg wurde Otto vielleicht auch Harleß’ und Theodosius Harnacks Wertschätzung von ­Luthers De servo arbitrio sowie eine auf den Angstbegriff ausgerichtete biographisch gefärbte Luther­deutung vermittelt, die bei Otto später in Das Heilige zu Tage tritt.65 Seebergs Beurteilung der Erlanger Theologie betont schließlich die entschieden lutherische Gesinnung Erlangens aufgrund der Tatsache, dass dessen theologische Protagonisten »nicht auf preußischem Boden [also unter dem Eindruck unierter Theologie und Kirche] groß geworden«66 seien. Daher sei die Gesinnung eher »geistig und nicht nur juristisch«67 – eine Wertschätzung der religiös-geistlichen Wirklichkeit, die Otto lebenslang wichtig war. Ob und welche Impulse zum theologischen Angstbegriff von Seeberg in Erlangen ausgingen, ist letztlich nicht sicher rekonstruierbar. Zumindest aber die Wertschätzung von L ­ uthers Idee des »Deus absconditus« mag ein Zug in Seebergs Denken gewesen sein, der auf Otto Eindruck machte.68 Aus den spärlichen Angaben zu den übrigen Lehrveranstaltungen, die Otto in den drei Erlanger Semestern von 1889–1891 absolvierte, geht kaum mehr hervor als die Tatsache, dass er ein recht umfangreiches und vielfältiges Studienprogramm absolvierte. Neben den Veranstaltungen bei Frank und Seeberg belegte Otto unter anderem Veranstaltungen zur neutestamentlichen Exegese bei Jo-

63 Eher wird Seeberg von Otto als kritischer historischer Forscher hervorgehoben, der ihn durch den Nachweis »rabbinischer Form« bei Paulus verunsicherte (vgl. Vita 6). 64  Seeberg, Die Kirche, 288. Zu den erfahrungstheologischen Grundlagen bei Harless in Auseinandersetzung mit David Friedrich Strauss vgl. Slenczka, Der Glaube, 20. 65 Zur bedeutenden Rolle der »Angst des Gewissens« in der stark emotional-biographisch eingefärbten Luther­deutung von Harleß und insbesondere zu seiner Deutung von De servo arbitrio vgl. Winter, die Erlanger Theologie, 35. 66  Seeberg, Die Kirche, 288. 67 Vgl. Seeberg, Die Kirche, 288. 68 Von Seebergs Spätwerk aus gesehen, wird die zentrale Stellung jenes Gedankens und seine Nähe zu dem Gedanken des »Zornes Gottes« und des »tremendum« bei Otto deutlicher: In der Anthropologie seiner Dogmatik von 1925/26 hebt Seeberg immer wieder – wenn auch auf sehr holzschnittartige Weise – den lutherischen Gedanken eines »negativen Elements« der Gottesidee hervor, so auch im erfahrungstheologischen und religionsgeschichtlichen Zusammenhang mit Verweis auf Ottos Das Heilige: Es »wird nie positive Gedanken von Gott geben, die nicht das negative Moment, daß er nicht Welt und nicht von der Welt ist, in sich schließen« (Seeberg, Christliche Dogmatik, I, 300).

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hannes Gloël69 und zur Kirchen‑ und Dogmengeschichte bei dem ausgewiesenen Lutherforscher Theodor von Kolde, sowie jedes Semester Arabisch bei Friedrich Spiegel.70 Welche Eindrücke hiervon blieben, ist nicht überliefert. Fazit: Die Erlanger Prägung Ottos  – Subjektivität und religiöses Erlebnis. Den knappen Erinnerungen an die ersten Studiensemester eines Zwanzigjährigen im Rahmen einer theologischen Untersuchung eine gewisse Bedeutung zuzumessen, ist nicht unproblematisch. Im Falle Ottos erscheint es dennoch geboten, da er in Erlangen offenbar Zeuge einer theologischen Tradition wurde, die um die Jahrhundertwende und darüber hinaus zu nicht geringen Teilen die maßgeblichen theologischen Debatten des Protestantismus mitbestimmte und zu Ottos späterer akademischen Heimat Göttingen einen starken Kontrast darstellte. Den in Erlangen allgegenwärtigen erfahrungstheologischen Zugang zur Religion als wichtigen Faktor für Ottos weiteren Weg anzunehmen, ist ebenso naheliegend, wie die Betonung der persönlichen Prägungen und Eindrücke, die Otto in seinen frühen Studiensemestern gewann. Von einem »Erlanger Geist« in Ottos späterem Denken zu sprechen, wäre sicher übertrieben, wohl aber ist davon auszugehen, dass die theologische Gesinnung und das Problembewusstsein der Erlanger Protagonisten auch in Ottos wichtigen Göttinger Jahren und darüber hinaus lebendig geblieben sind. Zu nennen ist dabei in erster Linie die Einbeziehung subjektivitätstheoretischer Zugänge zum Problem der religiösen Erfahrung und die damit verbundene Begegnung mit Schleiermacher, sowie das spezifisch an ­Luthers Theologie geschulte Bewusstsein für die Unzugänglichkeit des Göttlichen in seiner abdrängenden, zuweilen furchterregenden Gestalt des Deus absconditus. Im weiteren Zusammenhang mag auch Ottos lebenslange konsequent kritische Haltung gegenüber jeder Form eines verabsolutierten Rationalismus ihre Wurzeln in seiner Erlanger Zeit haben. Das vielzitierte Diktum Emanuel Hirschs, nach dem das »Ineinssetzen von persönlicher Erfahrung, Schrift und Bekenntnis […] die Grund‑ und Hauptaussage der Erlanger Theologie« ist,71 bringt deren Nähe zu Ottos späterem Anliegen auf den Punkt: Jene über die rationalen Ebenen von Religion und Theologie hinausgehende Dimension des Irrationalen im religiösen Erleben, die in Ottos späterem Werk so prominent geworden ist. Zusammenfassend wird man bei aller Vorsicht angesichts der eingeschränkten Quellenlage zum frühen Otto mindestens folgende drei Schwerpunkte in der 69 Otto hebt wie im Falle Franks auch Gloëls eindrucksvolle Persönlichkeit hervor (vgl. Vita, 6). 70 Vgl. erneut zu den Lehrveranstaltungen Ottos Zeugnis zum Abgang von der königlich Bayerischen Friedrich-Alexanders Universität Erlangen, Verzeichnis der Vorlesungen (Wintersemester 1889/90 bis Wintersemester 1891/92), in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Theol. Prom. 0136, 35–36. 71 Hirsch, Geschichte der neuern evangelischen Theologie, V, 416.

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Erlanger Theologie herausstellen dürfen, die bei Otto später in je eigener Weise zur Entfaltung kamen und eine tatsächliche Wirkung der Erlanger auf Otto nicht unwahrscheinlich erscheinen lassen: An erster Stelle steht die besondere Wertschätzung und theologische Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit religiösen Erlebens einschließlich ihrer angstvollen Momente. Die insbesondere bei Frank ausgearbeitete Konzentration auf eine subjektivitätstheoretische Konzeption der christlichen Selbstgewissheit, die sich zu kirchlicher Lehre, Schrift und Bekenntnis positiv ins Verhältnis zu setzen vermag, erscheint wie eine Präfiguration der späteren Fragen Ottos nach der irrationalen Dimension religiösen Erlebens und ihres Verhältnisses zum Rationalen, das heißt, des Verhältnisses der in der Religion erfolgten Rationalisierungsleistung des Menschen zu den letztlich sich der ratio entziehenden irrationalen Aspekten des religiösen Erlebens. Zweitens ist die Erlanger Tradition sowohl gegenüber dem säkularen Rationalismus zeitgenössischer Philosophie wie auch gegenüber dem orthodox-lutherischen Rationalismus des Altprotestantismus ausgesprochen kritisch eingestellt.72 Gerade hier greift der subjektivitätstheoretisch-erfahrungstheologische Ansatz und bezieht die individuelle Erlebnisdimension mit ein. Jene Skepsis gegenüber einem in sich selbst ruhenden Rationalismus wird Otto später  – trotz seiner Wertschätzung sauberer rationaler Erkenntnistheorie insbesondere bei Kant  – teilen, wenn auch freilich in modifizierter Weise. Ungleich aufwändiger als die Erlanger bemüht sich Otto in seinem Hauptwerk um die Verhältnisbestimmung des Irrationalen in der Idee des Göttlichen in seiner Beziehung zum Rationalen.73 Drittens wird von den Erlangern  – besonders bei Frank  – der subjektive Erfahrungsgrund der christlichen Gewissheit mit einem Exklusivitätsanspruch vertreten, der später bei Otto wieder auftaucht: Die religiöse Erfahrung ist bei Frank genuin christliche Selbstgewissheit und damit als von jeder säkularen Erfahrungswirklichkeit unterschieden zu denken. Dies erinnert an die spätere Zurückhaltung Ottos gegenüber dem Versuch, seine Kategorie des Heiligen kulturtheologisch anschlussfähig zu machen. Religion ist bei Otto vollkommen unableitbar und fängt, wie er später gerne betont, »mit sich selber an«.74 Beson72 Auch hier kann Frank als herausragend gelten, insbesondere in seiner konfrontativen Auseinandersetzung mit Albrecht Ritschl. Vgl. zur Rationalismuskritik Franks Wagner, Lutherische Erfahrungstheologie, 209. 73 Ottos Verweigerung gegen jede Form von rationalistischem Reduktionismus zeigt sich besonders deutlich in seinen exegetischen Studien (insbes. in seinem späten Jesus-Buch RGM), die angesichts der aufkommenden historisch-kritischen Methode seiner Zeit eigenwillig und unzeitgemäß wirken. Seinen Marburger Rivalen in dieser Angelegenheit, Rudolf Bultmann, soll Otto in seinen Vorlesungen daher abfällig als »der Rationalist« bezeichnet haben (vgl. Evang, Rudolf Bultmann, 97). 74 Karlmann Beyschlag sieht u. a. bei Otto eine Aufnahme von Erlanger Impulsen in Gestalt eines energischen »Theozentrismus« im Sinne des Gedankens der »biblischen Offenbarungsobjektivität« bei Ihmels (vgl. Beyschlag, Die Erlanger, 145).

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ders am Angstbegriff wird dies deutlich werden, wenn Otto – hier Frank nicht unähnlich75 – »natürliche Angst« von »numinoser Furcht« strikt unterschieden wissen will und letztere dementsprechend mit einer eigenen Gruppe von Begriffen wie »Scheu« und »mysterium tremendum« belegt. Wie auch immer man die möglichen Einflüsse der Erlanger Tradition auf Otto bewerten mag: Für Otto selbst endete seine Erlanger Zeit seiner Selbstbeschreibung zufolge unbefriedigend. Der zum Sommersemester 1891 vollzogene Studienortswechsel nach Göttingen bildet dies geradezu symbolisch ab: Gerade Frank und die Erlanger Tradition mit ihrer »kirchlich-konfessionellen Theologie« waren damals das absolute Kontrastprogramm gegenüber dem von der Schule Albrecht Ritschls geprägten Göttingen, wohin Otto nun erneut wechselte.76 Otto begründet in seiner Examensmeldung den Wechsel nach Göttingen damit, dass er in eine theologische Krise geraten sei und sagen konnte: »Ich verlor den Boden unter den Füßen«.77 Seine vormals gehegten apologetischen Ansprüche waren in Erlangen offensichtlich enttäuscht und sein konfessionelles Wahrheitsbewusstsein tief erschüttert worden von der Einsicht, dass Theologie nicht dem Ziel des Erlernens der »besten Mittel, die eine vermeinte [Wahrheit] zu v[er]teidigen« dient, sondern, wie er nun meint, »zum Studium der Wahrh[ei]t« angelegt ist, dem er sich nun – koste es was es wolle – in Göttingen verpflichtet sieht.78 Es steht für Otto nun offenbar grundsätzlich die Gewissheit des christlichen Glaubens auf dem Spiel.

3. Theologische Apologetik und neue Perspektiven – Abschluss des Studiums in Göttingen Otto hatte – wie schon erwähnt – nach seiner Erlanger Wehrdienstausbildung bereits im Sommersemester 1889 für wenige Monate in Göttingen studiert. Gleichwohl er offenbar nur widerwillig dem Rat von Freunden dorthin folgte und den Göttinger Lehrinhalten skeptisch gegenüber stand, hinterließ die kurze Zeit einen nachhaltigen Eindruck. Besonders imponierten ihm eine ApologetikVorlesung von Hermann Schultz und ein Kolleg zu den Psalmen des Alten 75  Vgl. die Ausführungen oben zu Franks Unterscheidung von natürlicher und christlicher Erfahrung (und dazu Slenczka, Der Glaube, 86 f). 76 Vgl. zum Verhältnis Erlangens zu Göttingen in jener Zeit u. a. Hein, Lutherisches Bekenntnis, 282. 77 Vgl. Vita, 6. Auch hier ist vielleicht in Rechnung zu stellen, dass Otto sich mit seinem Lebenslauf in der Examensmeldung womöglich als Göttinger profilieren möchte und die Erlanger Semester dementsprechend etwas herunterspielt. 78 Vgl. Vita, 6. Otto resümiert daher bei seinem Wechsel nach Göttingen mutig: »ich ging mit dem ernstentsagenden Vorsatze nichts zu suchen als die Wahrh[ei]t, auch auf die Gefahr hin sie nicht in Christo zu finden.« (ebd.).

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Testaments bei Rudolf Smend.79 Der zuvor befürchtete Zusammenprall mit der modernen historisch-kritischen Theologie blieb zu Ottos eigenem Erstaunen weitgehend aus: Auf die Ausführungen »blosser philosophischer Rationalismen« wartete er vergeblich, stattdessen überzeugte ihn die stupende Gelehrsamkeit der Göttinger Professoren und insbesondere der historischen Forschung in der Exegese.80 Schon in jenem ersten Semester in Göttingen begann Otto zu ahnen, dass die Pluralität verschiedener Frömmigkeitsstile und theologischer Methoden keineswegs zwingend eine Gefahr für den Wahrheitskern des dahinter stehenden Evangeliums bedeuten muss.81 Der junge Student trat dann im Wintersemester sein Studium in Erlangen mit der zuvor nicht für möglich gehaltenen Erkenntnis an, dass man trotz kritisch-liberalen Denkens dennoch fromm und erbaulich Christ und Prediger sein kann. Dass besonders die Göttinger Universitätsgottesdienste zu dieser Überzeugung beitrugen, ist ein weiterer Beleg dafür, dass Ottos theologischer Denkweg seinen Ausgang besonders über Aspekte der gelebten Frömmigkeit und der religiösen Darstellungsformen nahm. Anders als in jenem ersten Studiensemester, in dem Otto zwar voller Skepsis, jedoch hochmotiviert nach Göttingen ging, war seine Stimmung beim neuerlichen Wechsel nach Göttingen zum Sommersemester 1891 alles andere als euphorisch. Nach den Erlanger Semestern war, wie er in der Examensmeldung schreibt, seine theologische Verfassung eher verzweifelt: Weder seine alten streng-lutherischen Prägungen, noch die in Erlangen bei Frank gewonnenen Neuansätze erschienen ihm länger tragfähig.82 Ottos Motivation, nun in Göttingen sein Glück zu versuchen, wird in erster Linie auch dadurch erleichtert worden sein, dass es sich hier um seine Landesuniversität handelte, von der aus er sein Examen zu absol-

79 Vgl.

Vita, 5. Vita, 5. Obwohl Otto Rudolf Smends Ansichten zum Alten Testament als neu‑ und fremdartig empfand, konnte er dennoch weder an dessen »Wahrhaftigkeit« noch an dessen »Frömmigkeit« zweifeln (ebd.). Bei Hermann Schultz fand Otto mit »wachsendem Interesse u. bald mit großer Freude« eine überaus »energische überzeugende Vertret[un]g des Ev[an]g[e] l[iu]ms von th[eo]u Reiche« (ebd.). Im Übrigen ist auch hier möglicherweise davon auszugehen, dass Otto – als Göttinger Examenskandidat – die Beschreibung Göttingens in ein besonders positives Licht rückt, im gleichen Maße, wie er zuvor das Studium in Erlangen eher kritisch darstellte. 81  Otto meinte zu erkennen, dass »Christ Gläubigsein nicht identisch ist mit einer bestimmten theol[ogischen] Auspräg[un]g des Gläubigseins« (Vita, 5). Entscheidend für diese Einsicht waren offenbar besonders die Predigten in der Universitätskirche, denen Otto beiwohnte. Hier zeigte sich, dass die historisch-kritischen Denker Göttingens sehr wohl auch zu ergreifender und frommer religiöser Rede fähig waren – besonders eindrucksvoll im Falle des Universitätspredigers Hermann Schultz. Eine in den Sommerferien unternommene Reise nach England verstärkte neue Ansichten über christliche Frömmigkeit: In »dem Lande, indem nahezu jeder einzelne auf seine Privatfacon selig wird« wurde Ottos erstmals Zeuge der spannungsvollen Vielseitigkeit religiöser Praxis, die ihm später zum Lebensthema wurde (ebd.). 82 Vgl. oben die Schilderungen zum Ende des Erlanger Studiums (Zweiter Teil, Kap. I, 2.), sowie Schinzer, Rudolf Otto, 4. 80 Vgl.

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vieren hatte.83 Dementsprechend pragmatisch gestaltet sich sein Arbeitspensum in den beiden letzten Göttinger Semestern. An erster Stelle stehen examensrelevante Veranstaltungen im Fach Praktische Theologie, sowie in den historischen Disziplinen.84 Besonders letztere boten nun einen Ausweg aus der theologischen Krise, in die Otto geraten war: Die strenge historisch-kritische Forschung, besonders bei Rudolf Smend, empfand Otto nun nicht mehr »als ›zersetzend‹ und ›destruktiv‹«, sondern in ihrer sauberen Wissenschaftlichkeit als »erbauend, positiv«.85 Durch sie gelang es Otto, den »Offenbarungscharakter« der biblischen Texte wieder für sich zu gewinnen.86 Im »Brief-Kränzchen«, einem in jener Zeit zirkulierenden Rundbrief unter Freunden, findet er in diesem Sinne enthusiastische Worte für Göttingen und schöpft dort offenbar auch neuen Mut im Blick auf seine persönlichen Glaubenszweifel: »Das vorige Semester war, so wenig es an Geselligkeit und den gewohnten Vereins-Freuden bot, theologisch für mich ein sehr reiches. In Göttingen weht wohl auch eine kalte klare Luft, aber nicht eine solche die, wie in Jena, frieren macht, vielmehr eine, die man, wie frische Bergluft, gerne u. freudig atmet, und in der man mächtig vorwärtswandert auf der Bahn theologischen Strebens. Die Göttinger Gelehrten stehen an Energie und Freiheit der Kritik, glaube ich, nicht hinter Jena zurück. Aber uns, ihren Schülern, wird dadurch die heilige Schrift nicht leerer, der Glanz des Evangeliums nicht trüber. Im Gegenteile! 83 Vgl. Laube, Rudolf Otto und die Religionsgeschichtliche Schule, 220. Zu den Beweggründen nach Göttingen zu gehen vgl. Schinzer, Rudolf Otto, 4, und Alles, Toward a Genealogy, 330 ff. 84 Neben dem theologischen Stundenplan befasste sich Otto weiterhin – wie bereits in Erlangen – mit Sprachstudien, diesmal mit der Grammatik semitischer Sprachen bei Paul Anton de Lagarde, außerdem beschäftigte er sich mit »Parallel‑ u. Nebendingen« wie Archäologie, »Orgelspiel u. Musiktheorie« sowie Kunstgeschichte (vgl. Vita, 8, und dazu Almond, Rudolf Otto, 12, sowie ausführlicher Schinzer, Rudolf Otto, 5). Ottos praktisch-theologische Studien sind eng mit Karl Knoke verbunden. Bei ihm besuchte er im Sommersemester 1891 Seminare in Homiletik, Liturgik und Katechetik. Im darauffolgenden Wintersemester belegte er Liturgik und Homiletik sowie eine Vorlesung zur Praktischen Theologie ebenfalls bei Knoke, dazu eine katechetische Veranstaltung bei August Wiesinger. Die entscheidenden Lehrer in den historischen Disziplinen waren Rudolf Smend (Altes Testament) und Paul Tschackert (Kirchengeschichte). Vgl. hierzu Ottos Abgangszeugnis vom Wintersemester 1891/92 in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Theol. Prom. 0136, 33 f. 85 Vgl. Vita, 6. Nach dem Sommersemester 1891 schreibt Otto demnach im damals unter seinen Freunden gepflegten »Brief-Kränzchen«: »Ätzend scharf ist Smend’s Forschung. (Ich hörte bei ihm A. T. Theologie.) Da scheint alles Negation. Und doch scheint es nur so. Zwar selten, aber dann umso erwärmender blickt bei ihm die Position hindurch, und immer erfreut der wissenschaftliche Ernst und die mutig-entschlossene Geradheit des Mannes.« (vgl. den Brief von Otto an das »Brief-Kränzchen« vom 14.–17. 10. 1891, UB Marburg, Ms 797.347, Klammer im Original). 86 Vgl. Vita, 6 f. Die frühere Reserviertheit Ottos gegenüber den relativistischen Tendenzen der historischen Kritik wich nicht nur unter dem Eindruck Smends, sondern auch aufgrund historisch-kritischer Lektüre, z. B. von Heinrich Julius Holtzmanns quellentheoretischen Studien zu den synoptischen Evangelien (vgl. Vita, 7). Laut Reinhard Schinzer gibt für Otto die historisch-kritische Exegese nun »dem Glauben erst den festen Halt in der Geschichte« (Schinzer, Rudolf Otto, 4).

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Alles bekommt Leben und Wärme. Die Gottesmänner alten und neuen Bundes, die mir bislang ziemlich nur Namen mit Heiligenscheinen waren, gewinnen Gestalt; ihre Worte, ihr Thun, das ganze große Werk der Offenbarung wird konkreter, klarer und vor allem über alles andre wert und teuer.«87

In den letzten beiden Semestern vor dem Ersten Theologischen Examen im Jahre 1892 fand Otto schließlich seine zukünftigen Förderer und prägenden Lehrer. Besonders hervorzuheben sind Hermann Schultz, den er noch aus seinem ersten Semester kannte, und Theodor Häring.88 Beide waren Protagonisten der Schule Albrecht Ritschls, unter deren Einfluss Otto in Göttingen daher indirekt stand. Auf Ottos Lehrer und sein Verhältnis zur Ritschlschule wird daher etwas näher einzugehen sein. Ottos Göttinger Lehrer und sein Verhältnis zur Schule Ritschls. Ottos Erlanger Lehrer Franz Hermann Reinhold von Frank gilt als einer der erbittertsten Gegner Albrecht Ritschls.89 In seinem 1888 als Buch erschienenen Einspruch gegen Ritschl setzte Frank letztlich jedoch nur auf seine Weise die Frontstellung fort, die zuvor auch andere Erlanger schon auf ihre Art vertreten hatten.90 Otto wusste also bei seinem zweiten Gang nach Göttingen durchaus, was ihn erwartete. Die dortige Fakultät stand in jener Zeit noch massiv unter dem Eindruck des kurz zuvor verstorbenen Ritschl und bildete damit für aus Erlangen kommende Studenten ein deutliches Kontrastprogramm. Obwohl Otto vormals schwere Bedenken gegen den liberalen Geist Göttingens hegte, wurde jener Ort letztlich dann für viele Jahre zu seiner akademischen Heimat. Dies allein ist jedoch noch kein Grund, ihn – wie hin und wieder geschehen  – damit zu einem reinerbigen Göttinger zu erklären, also der Schule Ritschls oder gar der Religionsgeschichtlichen Schule zuzuordnen.91 Zwar hat 87 Aus dem Brief Ottos an das »Brief-Kränzchen« vom 14.–17. 10. 1891, UB Marburg, Ms 797.347. 88 Ebenfalls im »Brief-Kränzchen« schreibt Otto: »Ich empfehle: Schultz, ›Gottheit Christi‹; und Bornemann’s jüngst erschienenen ›Unterricht in der christlichen Religion‹ (oder ›im Christentume‹). – Von Häring werdet Ihr wohl mal gehört haben. Man kann nicht anders als diesen immer bescheidenen, innig-frommen Menschen lieb haben. Schultz’ Dogmatik habe ich gehört; klar, streng, bibelfest. Besonders für ihn gewinnend ist die Genauigkeit und Gründlichkeit mit der er die Schrift ausschöpft sowohl in seiner Systematik als auch in seinen vortrefflichen Predigten.« (vgl. den Brief von Otto an das »Brief-Kränzchen« vom 14.–17. 10. 1891, UB Marburg, Ms 797.347, Klammer im Original). In der Examensmeldung werden dann Schultz und Häring ebenfalls besonders hervorgehoben (vgl. Vita, 7). 89 Vgl. zu Franks Frontstellung gegen den liberalen Kulturprotestantismus und insbesondere gegen Ritschl und seine »Verirrungen« Wagner, Lutherische Erfahrungstheologie, 209. Nach dem Urteil von Wolfgang Trillhaas hat »die Ablehnung Ritschls in Frank ihren Höhepunkt erreicht« (Trillhaas, Albrecht Ritschl, 150). 90  Vgl. zu der Auseinandersetzung zwischen Frank und Ritschl ausführlich Slenczka, Der Glaube, 124 ff. 91 Reinhard Schinzer resümiert, Otto habe »gegen Ende seines Studiums in der Ritschl’schen Schule« gestanden, »wenn auch mehr auf dem gemäßigten Flügel« (Schinzer, Rudolf Otto, 5).

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Otto nach der Erinnerung seines Marburger Lehrstuhlnachfolgers Heinrich Frick »nie gezögert, den Bildungszusammenhang seines theologischen Charakters mit der freieren theologischen Richtung, besonders der Schule Albrecht Ritschls dankbar zu bejahen«,92 jedoch hat er sich auf eigentümliche Weise auch stets seine Eigenständigkeit bewahrt und sich im Laufe seiner Entwicklung von der liberalen Tradition der Ritschlschule zu Gunsten eines ganz eigenen theologischen Weges emanzipiert.93 Die Gründe und Formen jener Emanzipation betreffen die unterschiedlichsten Themenaspekte, die sich durch das ganze spätere Werk Ottos ziehen, beginnend mit seiner ­Luther‑ und Schleiermacherdeutung, bis hin zu seiner Stellung zu Mystik, Ethik und Christologie.94 Nicht zufällig nennt Otto später daher beim Antritt der venia legendi für Theologie im Juli 1898 gerade jene drei Göttinger als seine maßgeblichen und prägendsten Lehrer, die zwar ­Ritschlianer waren, aber dennoch gerade auch ein eigenes – und gleichsam sich von Ritschl emanzipierendes – charakteristisches Profil aufweisen konnten: »Häring, Schultz, Smend«.95 Hermann Schultz. Einen ersten Ausweg aus der theologischen Krise und »allmählich wieder festen Grund« fand Otto nach dem Studienortswechsel an die Besonders brennend wird die Frage nach Ottos Verhältnis zu Ritschl und seiner Schule am Beispiel seiner Luther­deutung. Vgl. dazu unten im Zweiten Teil, Kap. II, 1. Zu Ottos Verhältnis zur Religionsgeschichtlichen Schule vgl. Laube, Rudolf Otto, 219–234 und zu Ottos Verhältnis zu Ritschl grundlegend Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 203–217. 92 Frick, Gedächtnisrede, 11. 93 Auch Heinrich Frick nimmt in seiner Rede zur Gedächtnisfeier nach Ottos Tod seine Bezeichnung Ottos als »letzten großen ›liberalen‹ Theologen« sogleich wieder zurück. Er warnt regelrecht davor, Otto kurzerhand allein als liberalen Theologen zu stempeln und weist auf einen regelrechten »Bruch mit der Ritschlschen Schule« hin (Frick, Gedächtnisrede, 12). Dazu stellt Frick an anderer Stelle ein ideengeschichtliches Schema vor (vgl. Frick, Rudolf Otto innerhalb der theologischen Situation, 15, mit grafischer Darstellung), das Ottos Position innerhalb der theologischen Strömungen des Protestantismus im frühen 20. Jahrhundert darstellen soll. Otto weist er dabei gemeinsam mit Adolf von Harnack einen Platz in der Mitte zwischen den sich nach links (Ritschl, Troeltsch, Schweitzer) und rechts (Holl, Kähler, Schlatter, Erlanger Schule) aufspaltenden Schulrichtungen zu. Durchaus einleuchtend arbeitet Frick heraus, dass Otto immer zwischen den großen Lagern gestanden hat und wirkungsgeschichtlich letztlich auch von ihnen zerrieben wurde. Ob Fricks schematische Zuordnung Ottos in allen Details zutrifft, ist fraglich – sicherlich ist die Lage komplizierter. Im Grundsatz jedoch ist seine Überlegung sehr aufschlussreich, deckt sie sich doch mit Ottos eigenen Äußerungen zu seiner wissenschaftlichen Herkunft als »pietistischen Lutheraner« (Frick, Rudolf Otto innerhalb der theologischen Situation, 14) der sich nie einer der beiden großen Strömungen ganz verweigern oder anheimstellen konnte. Jene Mittelstellung zwischen einer liberal-kulturprotestantischen und einer konservativ-kirchlichen Theologie trifft nach den bisherigen Überlegungen auch in gewisser Weise schon auf Ottos Studium in Erlangen und Göttingen zu. 94 Vgl. zu Ottos Rezeptions‑ und Emanzipationsgeschichte im Bezug auf Ritschl und die Ritschlschule die Beispiele aus Ottos Frühwerk in Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 203–217. 95 Die kurze Vita von 1898 wurde ediert von Hans-Walter Schütte (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 117).

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Göttinger Fakultät durch die Dogmatikvorlesung von Hermann Schultz.96 Dieser lehrte  – ganz anders als Otto dies aus Erlangen kannte  – »statt hoher Spekulation ein relig[iös]-sittliches Verständnis der Off[en]b[a]r[un]g« insbesondere aus den Grundlagen des Alten und Neuen Testaments heraus.97 Schultz’ Grundriss der Evangelischen Dogmatik von 1890, ein Kompendium, das Schultz seinen Dogmatikvorlesungen zu Grunde legte, bestätigt den Eindruck Ottos: Die Heilige Schrift ist zugleich Ausgangspunkt und Grundlage der dogmatischen Überlegungen und bietet dementsprechend einen hohen Anteil exegetischer Passagen, von denen her die dogmatischen Ausführungen ihren Ausgang nehmen.98 Schultz’ Dogmatik mündet in eine an den Reich-Gottes-Begriff gekoppelte Theologie, die durchaus an Ritschl erinnert: »Als die religiöse Grundüberzeugung, von welcher aus das evangelische Christentum dogmatisch verstanden sein will, ergiebt sich aus der gesammten heiligen Schrift die Ueberzeugung von dem in Christus verwirklichten Reiche Gottes. Dessen Glieder wir im Glauben werden, und in dessen Gemeinschaft wir der Vaterliebe Gottes gewiss sind, das Reich Gottes, als aus dem Handeln der Menschen erwachsend, ist der Ausgangspunkt der Ethik, – als offenbar gewordene Gottesthat ist es der Mittelpunkt der Dogmatik.«99

Wichtiger für Ottos weiteren Weg ist jedoch vermutlich Schultz’ 1894 erschienene Apologetik, die er bereits 1889 als Vorlesung gehört hatte.100 Hier muss sich dem aus Erlangen kommenden eine ganz neue Dimension der Theologie erschlossen haben, die, in deutlicher Anlehnung an Schleiermacher, dem »Wesen der Religion«, dem religiösen Gefühl, den mysteriösen Gründen der Frömmigkeit nachzugehen versucht.101 Der hierbei zu Grunde gelegte Gefühlsbegriff wird zwar nicht tiefer differenziert, jedoch zeichnet sich ab, dass Schultz ein nach unmittelbaren Ausdrucksformen strebendes und von gewöhnlicher Erfahrung verschiedenes Gefühl vor Augen hat: »Die Religion gehört zu der praktischen Seite des menschlichen Geisteslebens. Also muss sie im Gefühle beginnen, und im Gefühle ihre unveräusserliche Grundlage haben. Nach der Stärke, Reinheit und Gleichmässigkeit des religiösen Gefühls muss der Grad der Religion gemessen werden. Und dieses Gefühl, durch das persönliche Selbstbewusstsein bedingt, muss durch eine Wirkung hervorgerufen werden, welche der Welt nicht angehört und dem innern Wesen des Vernunftlebens verwandt ist.«102  96

 Vgl. Vita, 7. Es handelt sich um die Vorlesung »Dogmatik II« im Sommersemester 1891.  Vgl. Vita, 7. Otto schildert dies als Befreiungsschlag, er »gewann das fast Verlorene wieder, in neuer, wie ich meine, richtiger Form.« (ebd.).  98 »Die einzige entscheidende Norm für dogmatische Aussagen ist die heilige Schrift.« (Schultz, Grundriss der evangelischen Dogmatik, 3, Hervorhebung im Original gesperrt).  99 Schultz, Grundriss der evangelischen Dogmatik, 13. 100 Zu diesem Urteil kommt auch Alles, Toward a Genealogy, 323–341. 101  Vgl. insbesondere den »Ersten Haupttheil« in Schultz, Grundriss der christlichen Apologetik, 5–43. 102 Schultz, Grundriss der christlichen Apologetik, 11 (Hervorhebungen im Original gesperrt). An anderer Stelle führt er aus: »Zweifellos bezeichnet die Religion immer die Beziehung  97

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Die Ausführungen lesen sich teilweise wie eine Ankündigung der später bei Otto verfolgten Grundfragen nach der Idee des Überweltlichen, des numinosen Mysteriums und nach den transzendentalen Grundlagen des religiösen Erlebens im Gefühl: »Die Offenbarung muss als eine Wirkung Gottes übernatürlich und als Erschliessen göttlicher Gedanken und Zwecke unvernünftig sein, wenn man Natur und Vernunft im Sinne des Empirismus versteht. Und was im Herzen des Menschen als neues göttliches Leben empfunden wird, das ist das schlechthin Unerklärliche, das Mysterium. So ist ohne Wunder und Mysterium im wahren religiösen Sinne keine Offenbarung Gottes denkbar.«103

Auch in seiner Auffassung der Mystik und seiner Kritik am Rationalismus deuten sich Tendenzen an, die bei Otto später weitergeführt werden.104 Ohne Zweifel hat Otto also dem überaus engen fachlichen und persönlichen Austausch mit Hermann Schultz wichtige Impulse für sein weiteres Denken zu verdanken.105 Besonders hervorzuheben ist dabei neben Schultz’ apologetischem Programm dessen »religionsgeschichtliche Phase« seit den 1880er Jahren,106 in der er, ausgehend von umfassenden Studien zum Alten Testament, auch nicht-christliche Religionen in den Blick zu nehmen verstand. Gerade in der Vielfalt religiöser Ausdrucks‑ und Erscheinungsformen in der Religionsgeschichte soll sich demnach das Wesen der Religion erschließen lassen.107 Das religionsgeschichtliche Problembewusstsein bei Schultz ermöglichte es schließlich, in begrenztem Maße des Menschen zu einer von den erfahrungsmässig-weltlichen Dingen unterschiedenen (göttlichen) Macht, von der er sein Leben in der Welt beeinflusst denkt. Und immer erzeugt sie einen Kreis von Vorstellungen (Glaube) und treibt zu einer besonderen Weise des Handelns (Cultus). Nicht aus dem theoretischen Interesse an dem Verständnisse der Welt geht sie hervor (Metaphysik, Mythologie). Und sie deckt sich keineswegs mit dem sittlichen Streben, obwohl sie in ihrer Vollendung eng mit ihm verbunden ist.« (a. a. O., 8 f, Hervorhebungen im Original gesperrt). 103 Schultz, Grundriss der christlichen Apologetik, 22. 104 »Wo wirkliches Gefühl von dem sich der Seele offenbarenden Gotte vorhanden ist, da besitzt man die Substanz der Religion, wenn auch ihre Lebensäusserungen noch unentwickelt sind. So ist die Mystik die erträglichste Einseitigkeit der Religion. […] Die verderblichste Einseitigkeit der Religion ist der Intellectualismus (Orthodoxismus, Rationalismus), weil feste Ansichten über das religiöse Gebiet ganz ohne wirkliches Erleben des religiösen Processes möglich sind.« (Schultz, Grundriss der christlichen Apologetik, 15 f, Klammer im Original). 105 Besonders die Betreuung von Ottos Licentiatenpromotion ist hier zu nennen, sowie die Zeit des engen Austauschs und der gemeinsamen Lehre an der Göttinger Fakultät bis zu Schultz’ Tod im Jahre 1903. Vgl. zur Bedeutung von Hermann Schultz für die theologische Entwicklung Ottos Alles, Toward a Genealogy, 323–341, insbes. 330–332. 106 Vgl. hierzu Ulrich, Hermann Schultz’ »Alttestamentliche Theologie«, 44 ff. Zu Schultz’ religionsgeschichtlicher Arbeit vgl. u. a. den zweiten Hauptteil der Apolgetik (Schultz, Grundriss der christlichen Apologetik, 44–77). 107 »Weder auf dem Wege der Psychologie, noch der Alterthumsforschung, noch der Etymologie ist es möglich, das Wesen der Religion aus ihren bunten und widerspruchsvollen Erscheinungen herauszulösen. Und es wäre unberechtigt, einfach aus dem Wesen der christlichen Frömmigkeit den Begriff der Religion construiren zu wollen. Vielmehr gilt es, das den geschichtlichen Religionen Gemeinsame und für sie alle Wesentliche aufzusuchen« (Schultz, Grundriss der christlichen Apologetik, 8, Hervorhebung im Original gesperrt).

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auch andere Religionen heilsgeschichtlich würdigen können: »Das Christentum […] kann trotzdem bereitwillig auch in den andern Religionen Spuren von wahrer Religion anerkennen.«108 Verbindungslinien zu Ottos späteren Studien liegen hier offen zutage. Es würde jedoch sicher zu weit gehen, bei Schultz das spätere Werk Ottos schon vorgezeichnet zu sehen.109 Zu sehr läuft bei Schultz letztlich alles auf den Erweis der »sittlichen Würde« des Christentums und überhaupt auf den zentralen Begriff der Sittlichkeit in der Dogmatik hinaus.110 In dieser Beziehung ist Otto kein eigentlicher Schüler des bereits 1903 verstorben Schultz geblieben. In einigen Briefen Ottos wird deutlich, dass es weniger Schultz’ Gesamtwerk, sondern dessen Persönlichkeit, akademischer Stil und geistige Dynamik war, die Otto beeindruckte und zum Vorbild wurde. Er fand in Schultz nicht nur einen wissenschaftlich-theologischen Mentor, sondern auch eine geradezu familiäre Bindung und Prägung.111 Dies schwingt auch in Ottos Nachruf mit, den er Schultz nach dessen Tod widmete, und in dem es auch um die Stellung Schultz’ zur Ritschlschule geht.112 Otto betont die »erstaunliche Universalität«113 in Schultz’ Denken, sein Wirken als Prediger114 und besonders auch die Eigenständigkeit gegenüber Ritschl: »Man hat ihn oft zu der verbreiteten und so bedeutenden Gruppe der ›Ritschlianer‹ gerechnet. Das ist doch nur mit Einschränkungen richtig. So wenig er sich den großen Impulsen entzog, die von Ritschl’s eindrucksvoller Theologie ausgingen, so sehr war zwischen dem Wesen beider Männer zugleich ein eigentümlicher Kontrast vorhanden, der notwendig auch in ihren Theologien wiederkehren mußte […].«115 108 Schultz,

Grundriss der evangelischen Dogmatik, 40. ähnlich lautet auch das Ergebnis in dem Aufsatz Alles, Toward a Genealogy, 323–341, in dem Gregory Alles maßgebliche Aspekte aus Ottos späterem Hauptwerk in Erlangen und Göttingen, genauer bei Frank und Schultz angelegt sieht. 110 Vgl. Schultz, Grundriss der christlichen Apologetik, 126 und zu der zentralen Bedeutung des Begriffs der Sittlichkeit bei Schultz und Ritschl Ulrich, Hermann Schultz’ »Alttestamentliche Theologie«, 58 f. 111 Deutlich wird dies besonders aus Bemerkungen in den Briefwechseln Ottos aus der Göttinger Zeit. Hieraus geht hervor, dass Otto nicht nur zu Hermann Schultz, sondern auch zu dessen Familie ein inniges Verhältnis pflegte. Bemerkenswert ist vor allem der rührende Briefkontakt mit Schultz’ an Tuberkulose erkrankter Tochter Anna Schultz im Jahre 1899. Vgl. die handschriftlichen Briefe von Rudolf Otto an Anna Schultz (1899), in: Rudolf Otto Archiv, Universitätsbibliothek Marburg, Signatur: Ms 797.314 ff. 112  Vgl. den anonym erschienenen Nachruf Otto (anonym), Hermann Schultz, 191–194 und hierzu den Dankesbrief der Witwe von Hermann Schultz (Rudolf Otto Archiv, Universitätsbibliothek Marburg, Signatur: Ms 797.330). 113 Vgl. Otto (anonym), Hermann Schultz, 192. 114 So resümiert Otto, den die Universitätspredigten von Schultz schon im Studium tief beeindruckten: »Er war gleich sehr Prediger wie Professor: es ist nicht auszumachen welches lieber und welches mehr.« (Otto (anonym), Hermann Schultz, 194). Vgl. ferner zu Schultz als Prediger Ulrich, Hermann Schultz’ »Alttestamentliche Theologie«, 27. 115 Otto (anonym), Hermann Schultz, 192. Zu den fachlichen und persönlichen Differenzen zwischen Ritschl und Schultz vgl. Ulrich, Hermann Schultz’ »Alttestamentliche Theologie«, 22 ff. 109 Ganz

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Hier lässt sich auch einiges über Ottos Bewertung Ritschls erfahren: Bei allem Respekt vor dessen Werk und Wirkung wirft er Ritschl eine nicht mehr zeitgemäße dogmatische »Abgeschlossenheit und Einseitigkeit« vor, eine letztlich auf eine »Centrallehre« und »künstliche Schulsprache« beschränkte Engführung der Theologie.116 So charakterisiert Otto in seinem Nachruf nicht nur seinen Lehrer Schultz, sondern zugleich auch indirekt die damaligen Transformationsprozesse innerhalb der immer mehr auseinander driftenden Ritschlschule.117 In der Deutung Schleiermachers sowie im Interesse für die Religionsgeschichte weiß sich Otto mit Schultz verbunden und scheint damit eine gewisse Mittelposition zwischen dem Erbe Ritschls und der sich formierenden Religionsgeschichtlichen Schule ein zu nehmen. Theodor Häring. Neben Schultz und dem bereits erwähnten Alttestamentler und Wellhausen-Schüler Rudolf Smend, ist als wichtigster Lehrer Ottos Theodor Häring zu nennen, der 1889 Lehrstuhlnachfolger Ritschls geworden war.118 Obwohl Häring nur wenige Jahre in Göttingen blieb und Otto offensichtlich im Studium nur eine einzige Vorlesung bei ihm besuchte, entstand schon bald ein engeres Verhältnis.119 Die Vorlesung, die Otto im Sommersemester 1891 hörte, konnte für seine damalige religiöse Krisensituation kaum passender sein. Sie behandelte das Thema: »Ueber unsre persönliche Stellung zum geistlichen Beruf«.120 Keine zwei Jahre später erschien die Vorlesung – offenbar auf Wunsch der Hörer – als Buch, durch das man einen Eindruck von dem bekommt, was Otto möglicherweise bei Häring hörte.121 Im Mittelpunkt steht in Härings Überlegungen die Frage nach der Bedeutung der »Persönlichkeit«, die zugleich »das Innerste und Eigenste« des Menschen darstelle und eine zentrale Rolle in der Entscheidung für den geistlichen Beruf spiele.122 Zwei Fragen bilden demnach den Kern von Härings Vorlesung: »Was ist die rechte Stellung zum geistlichen 116 Vgl. Otto (anonym), Hermann Schultz, 192 und hierzu Ulrich, Hermann Schultz’ »Alttestamentliche Theologie«, 25–28 sowie besonders Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 215 f. 117  So kann Stephan Feldmann treffend resümieren, Ritschl diene in Ottos Nachruf geradezu als »Negativfolie für die Charakterisierung seines Lehrer Hermann Schultz.« (Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 216). 118 Theodor Häring durfte sich nach seiner Nobilitierung im Jahre 1905 Theodor von Häring nennen. Sein Name begegnet teilweise auch in der Schreibweise Theodor von Haering. 119 Zum »tiefen Einfluß«, den Häring auf Otto ausübte, vgl. Ratschow, Art. Otto, 559, sowie Schütte, Religion und Christentum, 118 und Schäfer, Johannes Gottschick und Theodor Haering, 382. Aufschlussreich sind auch die Erinnerungen des Sohnes an das Verhältnis zwischen Häring und Otto in Haering, Theodor Haering, 63 und 336. 120 Vgl. Verzeichnis der Vorlesungen auf der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen während des Sommerhalbjahrs 1891, Göttingen 1891, 2. 121 Vgl. das Vorwort in Härings Buch Unsere persönliche Stellung zum geistlichen Berufe von 1893. 122 Vgl. Häring, Unsere persönliche Stellung, 5.

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Beruf? Und wie gewinne ich sie?« – Es sind dies nicht weniger als die Fragen nach Sinn und Gegenstand der Theologie.123 Die Persönlichkeit des Menschen in der Moderne sieht Häring in eine Krise geraten, die Ottos persönliche Situation möglicherweise recht treffend beschreibt: »zu Zeiten ist jeder von uns ohne Ausnahme von jenen Zeitzweifeln, von jener Diesseitigkeitsstimmung der Gegenwart selbst innerlich angekränkelt«.124 Häring antwortet jedoch hierauf nicht mit abwehrendem Kulturpessimismus, sondern fordert zum Angriff auf, zum Befragen und Bilden der eigenen Persönlichkeit, kurzum: er ermutigt dazu, der eigenen Frömmigkeit auf den Grund zu gehen. Sehr an das spätere Werk Ottos erinnert dabei Härings Vorschlag »eine Art Phänomenologie aller der Anschauungen« zu erarbeiten, die jener »stille[n] Neigung« zum geistlichen Beruf und damit »unserer Religion selbst« zu Grunde liegen.125 Häring mahnt an: Das, »was allen Christen gilt, gilt uns auch und ganz besonders«, nämlich das über »wissenschaftliches Studium« hinausgehende Studium des »Persönlichen«, der Innerlichkeit des Menschen.126 Zahlreiche Aspekte des späteren Werks Ottos klingen hier bereits an, besonders im Falle jener leidenschaftlichen Suche nach dem religiösen Grund in der menschlichen Persönlichkeit und Innerlichkeit, die für Otto später zur religionspsychologischen Aufgabe wird. Auch im Zusammenhang der theologischen Ethik lassen sich Parallelen zu den späteren Studien Ottos ziehen.127 Zwischen Otto und Häring entwickelte sich schon bald ein sehr inniges Verhältnis von großer Wertschätzung.128 Es war jedoch nicht nur die Persönlichkeit, 123 Vgl.

Häring, Unsere persönliche Stellung, 12 f. Unsere persönliche Stellung, 12. Die Vorstellung des »schützenden Daheim echter Familienfrömmigkeit«, das im gegenwärtigen Weltgeschehen in »tiefste Sorge« verfällt, wird Otto in seinen Glaubenszweifeln während des Studiums durchaus vertraut gewesen sein. 125 Häring, Unsere persönliche Stellung, 14. Im Folgenden entfaltet Häring religionstheoretische Gedanken: Er steuert weg von einem Gottesbild als »verschwommenes Bild erregten Gefühls«, und spricht dagegen von Religion als einer »höchsten Realität« einer Verbindung von »Wahrheit und Kraft« (a. a. O., 37). 126  Häring, Unsere persönliche Stellung, 62. Häring folgert weiter: »bei uns Theologen findet mancher die Thüre zum rechten Studium nicht, weil er sich selbst nicht studieren will« (a. a. O., 62), daher sei das Ziel »persönliches Studium« (a. a. O., 80). 127 Eine gewisse Distanz gegenüber Ritschl wird hier bereits im Zusammenhang der theologischen Ethik deutlich. Häring entwirft statt einer vom Reich-Gottes-Gedanken ausgehenden Gemeindeethik im Sinne Ritschls eine eher pietistisch eingefärbte »Individualethik« (vgl. hierzu Schäfer, Johannes Gottschick und Theodor Häring, 390 f). Rolf Schäfer betont, dass sich Häring – anders als Ritschl – vom Gemeindegedanken wieder stärker zu Zentralbegriffen wie Glaube und Bekehrung des Einzelnen hinwendet (vgl. a. a. O., 391). 128 Wie man aus Briefen weiß, beruhte dies auf Gegenseitigkeit: Hans-Walter Schütte beschreibt das Verhältnis zwischen Otto und Häring als ein »Verhältnis von persönlicher Dankbarkeit […] zwischen Schüler und Lehrer« und bezieht sich dabei besonders auf deren Briefwechsel (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 118 und die zwei hier abgedruckten Postkarten Härings, a. a. O., 128 f). Nach Schinzer, Rudolf Otto, 4, waren es wohl in erster Linie »persönliche Züge«, die Otto an Häring anzogen. Härings Sohn schildert das Verhältnis seines Vaters zu Otto, der offenbar auch privat zu Besuch kam, besonders positiv: »Otto liebte Th. Hg. 124 Häring,

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sondern auch der theologische Stil Härings, der Otto früh beeindruckte und womöglich auch für sein eigenes Denken übernommen wurde: Die Fähigkeit, im Dialog zu denken, Schulgrenzen zu überschreiten und sich auch auf andersartige Positionen einzulassen.129 Häring eröffnete Otto damit einen Weg, trotz des nun in Göttingen liebgewonnenen neuen theologischen Standpunktes die alten Ansichten und Positionen – in Ottos Fall aus der Kindheit und dem Erlanger Studium – nicht sogleich »vorschnell zu v[er]urteilen u. vice versa in denselben Fehler wieder zu fallen wie vorhin nämlich die eigene Weise des theol[logischen] Verständnisses für die einzige zu halten«.130 Ottos spätere Vermittlungsversuche zwischen traditionellem Luthertum, mystischer, pietistischer Frömmigkeit und liberaler Theologie scheinen aus jener Geisteshaltung heraus ermöglicht worden zu sein.131 Häring selbst ging es im Übrigen zuvor ganz ähnlich wie Otto. Auch er kam aus einem eher traditionell-konfessionellen Hintergrund  – aus dem Württemberger Pietismus132  – den er, zusammen mit seiner vermittlungstheologischen Prägung aus Halle – insbesondere von Martin Kähler – nicht einfach zugunsten der Theologie Ritschls verwerfen konnte.133 Wie später umso mehr Otto, war Häring damit ein Ritschlschüler eigenen Schlags, der sich gerade durch seine produktiven Ausbrüche aus den kulturprotestantischen Elementen der Göttinger Ritschl-Tradition auszeichnete. Härings gebrochenes Verhältnis zu der akademischen Schultradition, der er selbst entwachsen war, wird besonders deutlich in einem Vortrag, den er knapp zwanzig Jahre nach seiner Göttinger Zeit bei einer Zusammenkunft der Schweizer Ritschlschüler hielt.134 Inzwischen hatte sich viel verändert: Die Theologie Ritschls und seiner Schule schien den Herausforderungen jener Zeit kaum mehr gewachsen zu sein und wirkte, indem sie seit und wurde von ihm hoch geschätzt: Sie waren doch beide animae existentialiter christianae« (vgl. Haering, Theodor Haering, 336). Die spätere Anerkennung und auch fachliche Wertschätzung des einstigen Schülers durch seinen Lehrer Häring wird in den Zwanzigerjahren deutlich in dessen Ausruf: »Würden die jungen Kollegen nur den Rudolf Otto eifriger studieren als Karl Barth!« (vgl. a.a.O, 447). 129  Otto schätzt demnach an Häring »Seine Vorsicht im Urteil, seine Verehr[un]g für Männer nicht s[eine]s Standpunktes seine Anerkennung alles dessen was Andre haben, ja vielleicht, wie er oft genug durchscheinen läßt, voraushaben kann auf niemanden seinen Einfluß verfehlen.« (Vita, 7). 130  Vgl. Vita, 7. 131  Otto bezeichnete sich in seinen letzten Lebensjahren gerne als »modernistischer pietistisch angehauchter lutheraner mit gewissen quakerneigungen« (vgl. Brief von Rudolf Otto an Jakob Wilhelm Hauer vom 23. 5. 1933, in: BA Koblenz, NL Hauer, Bd. 52, 268–270). 132 Vgl. Fischer, Art. Häring, 348. 133 Zu Härings Affinität gegenüber eher konfessioneller, »positiver« Theologie vgl. Lessing, Geschichte, 112 ff. 134  Häring lehre in jener Zeit schon länger wieder in Tübingen. Bei der Zusammenkunft handelt es sich um die Jahresversammlung des sogenannten »Göttinger Kränzchens« im Oktober 1909. Der Vortrag erschien in der ZThK unter dem Titel: In welchem Sinn dürfen wir uns immer noch »Göttinger« heißen? (vgl. Häring, In welchem Sinn, 165–196).

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der Jahrhundertwende mit einem vielschichtigen Krisenbewusstsein konfrontiert wurde, in ihrer optimistischen Bürgerlichkeit eigentümlich antiquiert.135 Häring weist auf die Defizite in Ritschls Werk hin, der die »Religion allzu einseitig als Selbstbehauptung, Befriedigung des Lebensdrangs gefaßt und die Wahrheit, daß sie an erster Stelle ein Beansprucht-, Gebeugt-, Gedemütigtwerden von seiten Gottes sei, verkürzt« habe und damit der »Nacht religiösen Zweifels« nicht gerecht geworden sei.136 Kritisch hinterfragt Häring demnach die Gründe für die Schwächen der Theologie Ritschls und stellt die Positionen der Kritiker dar. Insbesondere von Seiten der »religionsgeschichtlichen Richtung« sieht Häring immer stärkere, sich »dem optimistischen Liberalismus« der Ritschlgeneration und ihrer »Kulturseligkeit« widersetzende Impulse ausgehen, die »die Religion als Religion im Unterschied von der Ethik« wiederentdeckten und auch in ihrer mystischen, »weltabgewandten Seite« zur Darstellung brachten.137 Häring versteht es dabei, die Kritik an der Ritschlschule, zu der er schließlich selbst zählt, produktiv aufzunehmen und – an den Punkten, an denen sie im Recht ist – sich zu eigen zu machen. Für die spätere Entwicklung Ottos, insbesondere im Zusammenhang mit dem Problem von Angst und religiösem Erleben, erscheinen hierbei nun besonders zwei Punkte als besonders wichtig: die Stellung zur Mystik mit ihrer irrationalen und dunklen Erlebnisdimension und die theologische Bedeutung des Begriffs des »Zornes Gottes« im Kontext moderner Theologie. Häring konnte von Anfang an Ritschls Geringschätzung der Mystik und der mystischen Elemente des Pietismus nicht folgen und wirkte wohl besonders in diesem Punkt auf die theologische Entwicklung Ottos. Hans-Walter Schütte sieht in Ottos und Härings gemeinsamer Wertschätzung mystischer Traditionen des Christentums den Grund dafür, dass aus ihnen »Wahlverwandte« wurden.138 Der Begriff des Zornes Gottes kommt insbesondere im Kontext der späteren Luther­deutung Ottos zum Tragen.139 Wie später auch Otto, setzt sich Häring besonders in der wertschätzenden Beurteilung von L ­ uthers Schrift De servo arbitrio von Ritschl ab, der diese für ein theologisch unlutherisches und »unglückliches

135 Vgl.

Häring, In welchem Sinn, 178: »Ritschl gehört der Vergangenheit an«. Häring, In welchem Sinn, 177. 137  Vgl. Häring, In welchem Sinn, 176. Mit der Religionsgeschichtlichen Schule ist eine neue Generation Göttinger Gelehrter herangewachsen, die sich besonders in Fragen historischer Forschung von Ritschl abgrenzten. Die maßgeblich unter dem Einfluss Karl Holls aufkeimende Lutherrenaissance brachte ebenso neue Impulse mit sich wie die immer energischeren naturphilosophischen Anfragen an die Religion aus jener Zeit. Häring zeichnet aus diesen Zusammenhängen das zunehmende Krisenbewusstsein der Zeit um 1900 nach. 138 Vgl. Schütte, Religion und Christentum, 118: Es war Härings »Neigung gewesen, gegen die Tendenz A. Ritschls und seiner Schule im allgemeinen das mystische Element in der Religion zur Geltung zu bringen«. 139 Vgl. zum Zorn Gottes bei Ritschl im Kontext von Ottos Luther­deutung unten im Zweiten Teil, Kap. II, 1.4. 136 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Machwerk« hielt.140 Den im Gottesbild verankerten Begriff des Zornes versteht Häring – ebenso wie später Otto – nicht als Reaktion Gottes auf menschliches Fehlverhalten, sondern als Grundkonstitution des Gottesverhältnisses des Menschen.141 Letztlich klingen die Worte Härings von 1909 wie ein Hinweis auf das gerade im Entstehen begriffene Werk Ottos, wenn er fordert: »wir müssen sachlicher, wirklichkeitsmäßiger denken lernen über den psychischen Vorgang der Religion, über seine Eigenart und seine Zusammenhänge mit den anderen seelischen Erlebnissen.«142 In seiner begeisterten Rezension zur Erstauflage von Ottos Das Heilige macht Häring ausrücklich die Persönlichkeit des Autors, dessen »Gabe der religiösen Ahndung« und »starken divinatorischen Kraft« für die außergewöhliche Tiefe und Strahlkraft des Buchs verantwortlich.143 Damit hebt er in Ottos Hauptwerk eben jene Aspekte der Persönlichkeit und Innerlichkeit zur Erfassung des »innersten Wesens der Frömmigkeit« hervor, um die es ihm selbst in besonderer Weise zu tun war und die ihn mit seinem Schüler Otto vermutlich schon in Göttingen verbanden.144 Eine Postkarte, mit der Häring Otto im April 1917 für Das Heilige dankt, eröffnet mit den Worten: »Ich bin ganz untergegangen in Ihrem ›Heiligen.‹«.145 Wie eine Antwort darauf und als Zeichen der bleibenden Verbundenheit seit den gemeinsamen Semestern in Göttingen widmete Otto

140 Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1, 221: »Die Schrift ­ Luther’s de servo arbitrio ist und bleibt ein unglückliches Machwerk.« Nach Ritschls Meinung bilden die »befremdenden Elemente« dieser Schrift in L ­ uthers Gesamtwerk einen fragwürdigen Fremdkörper. Zu Härings Wertschätzung von De servo arbitrio und dem hierin aufscheinenden Sinn für das »Paradoxe« vgl. Häring, Der christliche Glaube, 278. 141 Vgl. dazu: Häring, In welchem Sinn, 177. In seiner Dogmatik spricht Häring in diesem Zusammenhang von Ritschls problematischer Ausscheidung des »Anthropopathischen« in der Religion (vgl. Häring, Der Christliche Glaube, 385). Häring beruft sich dabei auf Paulus, wenn er den Begriff des Zornes Gottes nicht als »Eigenschaft Gottes« im menschlichen Sinne, sondern – wie später auch Otto – als Begriff für das »Geheimnis des Göttlichen Lebens« interpretiert (vgl. a. a. O., 386). Vgl. zu Ritschls allein eschatologischem Verständnis des ihm immer »fremd geblieben[en]« Zornes Gottes und seiner Ablehnung eines »gegenwärtig sich äußernden Zorn[es] Gottes« Schäfer, Ritschl, 82 f und generell zur Rezeption des Zorn-Gottes-Gedankens im modernen Protestantismus Schütte, Die Ausscheidung der Lehre, 387–397. 142  Häring, In welchem Sinn, 181. Auch die Pluralität der Religionen und den Absolutheitsanspruch des Christentums stellt Häring der Theologie zur Aufgabe: »Desgleichen über die Ordnung der Religionen nach Arten und Stufen. Niemand kann auch mehr die ›Absolutheit‹ unserer Religion so schnell feststellen wollen, wie Ritschl es glaubte tun zu dürfen.« (ebd.). 143 Vgl. Häring, Rez. Otto, 305–307, hier: 305. 144 Vgl. Häring, Rez. Otto, 307 und die Postkarten Härings als Reaktion auf die Lektüre von Das Heilige, abgedruckt in Schütte, Religion und Christentum, 128 f. Zu Schüttes Interpretation vgl. a. a. O., 118. 145 Vgl. das Schreiben vom 14. 4. 1917, abgedruckt in Schütte, Religion und Christentum, 128.

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seinem Förderer und Lehrer Theodor von Häring sein Hauptwerk seit der zweiten Auflage aus dem Jahre 1918.146 Ferdinand Kattenbusch und die Religionsgeschichtliche Schule. Nicht nur im Studium, sondern auch in den darauffolgenden Jahren als Hochschullehrer in Göttingen hat Otto wichtige Anregungen empfangen. Nach dem Tod von Hermann Schultz im Jahre 1903 kam als dessen Nachfolger Ferdinand Kattenbusch  – ebenfalls ein Ritschlschüler  – nach Göttingen. In ihm fand Otto bald nicht nur einen guten Kollegen, sondern auch einen wohlwollenden Fürsprecher und »väterlichen Freund«.147 Schon Jahre zuvor  – im Jahr seiner Lizentiatenpromotion 1898  – wurde Otto Zeuge jenes besonders zwischen Kattenbusch und Ernst Troeltsch aufbrechenden Generationenkonflikts des Theologenkreises im Fahrwasser der liberalen Zeitschrift Die christliche Welt, der die junge Religionsgeschichtliche Schule von den älteren Ritschlianern zunehmend entfernte.148 Auch wenn Otto älteren Ritschlschülern wie Kattenbusch dankbar verbunden blieb, knüpfte er schon früh auch intensive Kontakte zu der jungen religionsgeschichtlichen Bewegung und stand so mitten in den Debatten der liberalen Theologie seiner Zeit.149 Besonders durch jahrelange Freundschaften war Otto seither der Religionsgeschichtlichen Schule verbunden, unter ihnen 146 Vgl. DH2, III. Die Namensänderung zu Theodor von Häring hängt mit Härings Nobilitierung im Jahre 1905 zusammen. 147 Vgl. SU, VIII. Otto widmete Kattenbusch den Aufsatzband Sünde und Urschuld mit freundlichen Worten zum 80. Gebrutstag (schon zu Kattenbuschs 70. Geburtstag hatte Otto mit einem »Beitrag zu einer amica exegesis« gratuliert, vgl. Otto, Chrysostomus über das Unbegreifliche in Gott, 239–246). Auch Kattenbusch unterstützte Otto mit wohlwollenden Rezensionen zu seiner Dissertation (Kattenbusch, Rez. R. Otto, 708–712) und zu Das Heilige (Kattenbusch, Rez. Das Heilige, 656, 665–670, 682–687, 697–700). Er setzte sich auch hochschulpolitisch für Otto ein und unterstützte ihn – wie Bemerkungen in Ottos Briefwechseln zeigen – in Berufungsverhandlungen. 148 Auf der 1896 abgehaltenen Tagung der Freunde der Christlichen Welt in Eisenach kam es zu einem Disput zwischen Troeltsch und Kattenbusch, der die ohnehin schwelenden Spannungen innerhalb des liberalen Lagers aufbrechen ließ. 1898 wurden die konfligierenden Positionen dann schriftlich und öffentlich ausgetragen und ließen die zunehmende Entfremdung zwischen Altritschlianern und jüngeren Vertretern der Religionsgeschichtlichen Schule deutlich sichbar werden (vgl. hierzu Albrecht, Einleitung, 19–24 und Drescher, Ernst Troeltsch, 147 ff). Für die älteren Ritschlschüler griff Kattenbusch zu Feder (vgl. Kattenbusch, In Sachen der Ritschlschen Theologie, 59–62; 75–81), als Sprecher der jüngeren Generation trat Troeltsch auf (vgl. Troeltsch, Zur theologischen Lage, 627–631; 650–657). 149 Schon in seiner Zeit als Stiftsinspector in Göttingen bemerkte Otto in einem Brief über »die neuste Bewegung der theologischen Richtung«, sie sei »deutlich eine Bewegung von Ritschl fort«. Er schreibt weiter: »Tröltsch vertritt sie als Dogmatiker. Es ist eine Richtung in der vielleicht die zukünftige theologische Entwicklung sich bewegen wird. Denn die Ritschlsche Schule scheint doch keine neuen Seiten mehr hervorzutreiben […]« (vgl. den Brief von Otto an Albert Brandes vom 2. 2. 1896, in: UB Marburg, Hs 797.405). Grundsätzlich zu Ottos Verhältnis zur Religionsgeschichtlichen Schule vgl. Laube, Rudolf Otto und die Religionsgeschichtliche Schule, 219–234.

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besonders der enge Freund Heinrich Hackmann,150 die Kollegen Alfred Rahlfs und Wilhelm Heitmüller,151 sowie Wilhelm Bousset152 und ferner Ernst Troeltsch.153 Otto gewann aus seinem Austausch mit den Genannten maßgebliche Impulse für seine eigenen religionsgeschichtlichen Untersuchungen der nächsten Jahre und verdankte dem Göttinger Umfeld jener Zeit auch die Grundzüge seiner religionsphilosophischen Arbeit. Die Frage nach dem Wesen der Religion hinter den Ausdrucksgestalten der Religionsgeschichte im Verhältnis zum Absolutheitsgedanken im Christentum erfuhr hier eine eindrucksvolle Zuspitzung. Was Otto jedoch von beiden Parteien, den älteren Ritschlianern und den jüngeren Kollegen der Religionsgeschichtlichen Schule gleichermaßen unterscheidet, ist die zunehmend frömmigkeitstheoretische Absicht seines Denkens, die sich aber freilich erst in seinen frühen Studien zu ­Luther und Schleiermacher deutlicher nachzeichnen lässt. Ausblick: Theorie der Frömmigkeit als bleibende Fragestellung. Insgesamt bleibt der theologische Standpunkt Ottos am Ende seines Studiums noch offen. Die zwei Göttinger Semester vor dem Examen konnten zwar entscheidende neue Impulse und Auswege aus der theologischen Krise der Erlanger Zeit auftun, eine klare inhaltliche Weichenstellung ist jedoch noch nicht greifbar. Göttingen beeindruckte letztlich durch seine Modernität und die strenge Wissenschaftlichkeit, insbesondere in den historischen Disziplinen. Ottos gründliche Studien aus Erlangen trafen daher in Göttingen weniger auf eine eindeutige inhaltliche 150 Schon in seiner Schulzeit in Hildesheim war Otto mit Hackmann befreundet. Der vertraute und sehr persönliche Briefwechsel dokumentiert die enge Freundschaft bis in ihre letzten Lebensjahre. 151  Als Fakultätskollegen gehörten Heitmüller – der Ottos Nachfolger als Stiftsinspector wurde – und Rahlfs zu den engeren Freunden vor Ort in Göttingen und blieben Otto auch in späteren Jahren verbunden. Bei seiner Disputation zur Licentiatenpromotion waren sie Ottos Opponenten (vgl. hierzu Schütte, Religion und Christentum, 119). 152 Mit Bousset teilte Otto das Schicksal, in Göttingen über viele Jahre unter finanziell prekären Verhältnissen als Privatdozent und außerplanmäßiger Professor vergeblich auf einen Ruf als ordentlicher Professor gewartet zu haben. In diesen Jahren verband sie nicht nur ein reger freundschaftlicher Austausch, sondern besonders auch das gemeinsame Interesse am Neufriesianismus (aus dem später Ottos Buch Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie von 1909 hervor ging) und an der aktiven politischen Arbeit als demokratische Abgeordnete (vgl. ausführlich zu Otto und Bousset Laube, Rudolf Otto und die Religionsgeschichtliche Schule, 221–231). 153 Troeltsch hatte Göttingen schon verlassen, als Otto dort Fuß fasste. Daher konnte sich kein engeres kollegiales Verhältnis vor Ort aufbauen. Dennoch fand Otto in Troeltsch einen wohlwollenden Verbündeten, den er durchaus bewunderte (vgl. zum sehr persönlichen Briefwechsel und den freundschaftlichen Begegnungen zwischen Otto und Troeltsch Apfelbacher, Frömmigkeit und Wissenschaft, 58–60 sowie Drescher, Ernst Troeltsch, 189.206.324 und besonders 218 f, Anm. 257). Zur Deutung des Verhältnisses von Otto und Troeltsch, insbesondere im Blick auf thematische Berührungspunkte ihrer Werke, vgl. Laube, Rudolf Otto und die Religionsgeschichtliche Schule 231–234 sowie die Studie Braeunlich, Das Verhältnis von Religion und Theologie.

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Alternative im Sinne eines strengen Systems, sondern vielmehr auf eine grundsätzlich andere wissenschaftliche Haltung. Gerade die Verbindung liberaler historisch-kritischer Exegese mit systematischen Überlegungen, die das Göttinger Klima bestimmte, prägte sich ihm ein. Der im Hintergrund wirksame Schatten Ritschls scheint dabei nur indirekt auf Otto gewirkt zu haben. Es liegt die Vermutung nahe, dass Otto die Theologie Ritschls besonders durch Schultz und Häring in einer bereits modifizierten Weise kennen lernte und schon früh als defizitär wahrnahm.154 An vorderster Stelle ist hier die bei Ritschl fehlende Sensibilität für die irrationale, mystische Tiefendimension der Religion und ihre Bedeutung für die Persönlichkeit des frommen Menschen zu nennen. Die religiöse Rede vom »Zorn Gottes« und die im anbrechenden 20. Jahrhundert zunehmend in das Bewusstsein der Gegenwartsdeutungen geratenden ambivalenten Stimmungen der Angst bleiben bei Ritschl unterbelichtet und bilden später einen Schwerpunkt in Ottos Werk. Es deutet sich hier eine Emanzipationsbewegung an, die Otto besonders in seinen späteren Werken zunehmend in eine gewisse Distanz zum kulturprotestantischen Erbe des liberalen Göttingen führt. Ottos spätere Kritik an der Liberalen Theologie kommt dann dem kulturpessimistischen und anti-bürgerlichen Zeitgeist der bald anbrechenden Weimarer Epoche in gewisser Weise entgegen.155 Schon in der an das Zweite Theologische Examen anschließenden Promotions‑ und Dozentenzeit in Göttingen werden in Folge seiner L ­ uther‑ und Schleiermacherstudien sowie im Anschluss an seine frühe Religionsphilosophie zarte Ablösungstendenzen vom liberalen Lager Göttingens hin zu einer Position deutlich, die vermittlungstheologische Züge aufweist. Ottos Verbindung religionsphilosophischer und religionsgeschichtlicher Elemente in seiner Theologie ist immer mehr auf die Ausdrucksformen religiösen Erlebens gerichtet und mündet schließlich in erste Skizzen einer Theorie der Frömmigkeit. Jenes Bemühen um die Gefühlsdimension der Religion bringt dann später auch die berühmt gewordene Konzeption des »mysterium tremendum« und der »numinosen Scheu« hervor, die zugleich die Grundlagen von Ottos theologischer Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion bildet.

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 So auch Ratschow, Art. Otto, 559. Trotz der besonders an Häring und Schulz orientierten Emazipation von Ritschl sind jedoch auch markante Anknüpfungspunkte und Parallelen zwischen Otto und Ritschl auszumachen, auf die besonders Stephan Feldmann luzide hingewiesen hat (vgl. Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 203–217). 155 Vgl. Richmond, Albrecht Ritschl, 97 f und besonders 156 f. Jene der liberalen Tradition der Ritschl-Ära gegenüber kritischen Momente bei Otto bilden demnach auch eine gewisse Parallele zu der Ritschl-Polemik der Dialektischen Theologie (insbes. bei Bultmann, Brunner, Gogarten und Barth, vgl. hierzu Bultmann, Die liberale Theologie, 22). Allerdings blieb Otto der liberalen Tranditionslinie der Ritschl-Epoche trotzdem zeitlebens verbunden und steigerte seine Kritik am Kulturprotestantismus nicht zu jener massiven Ablehnung, die im Gefolge der frühen Dialektischen Theologie in der Weimarer Zeit geäußert wurde.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

4. Vermittlungstheologische Tendenzen als Ausgangspunkt von Ottos Frühwerk Als Otto nach dem im Jahre 1892 bestandenen Examen und dem anschließenden zweijährigen Vikariat156 seine theologische Ausbildung abschloss, konnte er hinsichtlich seiner religiösen und theologischen Entwicklung auf eine bewegte Jugend‑ und Studienzeit zurückblicken. Aus einem streng-lutherischen Elternhaus kommend, wurde Otto nach seiner Schulzeit im Studium schnell mit tiefgreifenden Einsichten und Fragen konfrontiert, die ihn seine theologischen Ansichten, vielmehr jedoch auch seinen eigenen religiösen Standpunkt immer wieder hinterfragen ließen. Die offenbar mit großer Ernsthaftigkeit betriebenen Studien in Erlangen und Göttingen führten zuweilen in schwere Glaubenskrisen, die wohl auch maßgeblich zu seinem sich bald herauskristallisierenden Hauptinteresse führten: Neben zahlreichen Studien in historischen, philologischen und exegetischen Fächern kam Otto immer wieder auf die Kernfragen religiöser Persönlichkeit zurück und beurteilte seine Lehrer sehr stark nach deren Ausstrahlung und Frömmigkeit.157 Jene Frömmigkeit ist es schließlich, die er an sich selbst immer wieder hinterfragte und dahingehend prüfte, wie sie unter den Bedingungen des anbrechenden 20. Jahrhunderts zu verantworten sei. Dabei mag der subjektivitätstheoretische Zugang Franks und überhaupt die stark am Erfahrungsbegriff orientierte Bekenntnistheologie Erlangens einen gewissen Eindruck hinterlassen haben. Die Spuren der Erlanger Zeit in Ottos Denken sind, wie sich bei näherer Betrachtung gezeigt hat, kaum von der Hand zu weisen, gleichwohl sie im späteren Werk Ottos nicht explizit belegt werden können.158 Im liberalen Göttingen überwog offenbar das Interesse für die Religionsgeschichte und führte dann besonders unter dem Eindruck Schultz’ und Härings zu einem sich langsam festigenden, eigenen theologischen Standpunkt, der sich aber in jenen Jahren aufgrund der Quellenlage noch nicht klar bestimmen lässt. Das später in der Weimarer Epoche als »Typ des Bürgers der

156 Den praktischen Teil verbrachte Otto an der deutschen evangelischen Gemeinde in Cannes, die Ausbildung absolvierte er bis 1894 im Predigerseminar der Hannoverischen Landeskirche auf der Erichsburg in Dassel und schloss sie mit dem Zweiten Theologischen Examen ab. Vgl. hierzu den Lebenslauf Ottos in Schütte, Religion und Christentum, 117. 157 Vgl. hierzu erneut Ottos Brief an das »Brief-Kränzchen« vom 14.–17. 10. 1891, UB Marburg, Ms 797.347, mit Bemerkungen über die Frömmigkeit und religiöse Ernsthaftigkeit der Göttinger Professoren. 158  Die eher selten geäußerte und kaum erforschte These der Nähe Ottos zu Erlangen wurde u. a. von Eckhard Lessing vorgeschlagen, der Ottos bleibende Verbindung zu Erlangen insbesondere im Begriffszusammenhang von »Wiedergeburt und Erneuerung« sieht (vgl. Lessing, Geschichte, 392). Grundlegend zu den Einflüssen Erlangens und Göttingens auf Otto, zugespitzt auf Frank und Schultz, vgl. Alles, Toward a Genealogy, 323–341.

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Bismarckära« stark bekämpfte Erbe Ritschls159 lehnte Otto nie so vehement ab wie die tonangebenden theologischen Strömungen der Zwanzigerjahre, allerdings schloss er sich ihm auch nie bedingungslos an. Otto scheint schon seit der Studienzeit eine gewisse Unzeitgemäßheit eigen gewesen zu sein, die sich in der Wertschätzung von mystischen Elementen protestantischer Frömmigkeit und in einer auf Vermittlung angelegten Haltung in der Spannung zwischen »positiver« und »liberaler« Theologie zeigt. Auch durch erste Reisen wurde der Emanzipationsprozess von der konfessionellen Enge des Luthertums wie vom liberalen Bürgertum hin zu einer weltoffenen und vermittelnden Theologie schon im Studium vorangetrieben. Auf einer Englandreise ergaben sich Otto erste, aus eigener Anschauung erwachsene Differenzierungen unterschiedlicher Konfessionen und Frömmigkeitsstile, die ihn auf das eigentliche und für sich zu betrachtende Phänomen der Frömmigkeit erst recht aufmerksam machte.160 In den Briefen von der Griechenlandreise aus dem Jahre 1891 zeigen sich schon erste Spuren seines Interesses für fremde religiöse Strömungen und Kulturen, das er auf seinen späteren weltweiten Reisen weiterhin eindrucksvoll verfolgte und nicht zuletzt auch in sein theologisches Denken zu integrieren verstand.161 Entscheidend ist in der Rückschau auf Ottos Jugend und Studium die schon hier deutlich erkennbare Tendenz, ein Vermittler unterschiedlicher »Welten« zu sein und auf eigentümliche Weise jenseits der maßgeblichen theologischen 159 Vgl. zu jener bis zur Klischeehaftigkeit gesteigerten Kritik an der Ritschlära im frühen 20. Jahrhundert als theologische Ausformung der selbstgefälligen Bürgerlichkeit der Bismarckzeit Zelger, Modernisierte Gemeindetheologie, 183 f. 160 Die längere Reise nach England, »nach dem Lande, indem nahezu jeder einzelne auf seine Privatfaçon selig wird« (Vita, 5), unternahm Otto im Sommer 1889. Otto erlebte hier eindrucksvoll in der Begegnung mit »Wesleyanern Congregationisten, Hoch‑ Breit‑ u. Niederkirchlern, auch Salvationisten«, dass »es mancherlei Weisen des christlichen Erkennens gäbe«. Hierdurch verstärkte sich der Eindruck Ottos, dass christliche Frömmigkeit und das Christsein überhaupt auch getrennt von »einer bestimmten theol[ogischen] Auspräg[un]g des Gläubigseins« zu beurteilen sind (vgl. ebd.). 161  Otto unternahm diese erste größere Reise 1891 unmittelbar vor seinem theologischen Examen im Frühjahr 1892 zusammen mit den Freunden Heinrich Hackmann und Karl Thimme und berichtet nach der Heimkehr seinem Freundeskreis: »Seit ehegestern bin ich zu Hause nach einer langen interessanten Reise durch die Alpen, Italien, Griechenland und zurück über Smyrna, Constantinopel, Wien. Das waren bunte mannigfache Wochen, reich an Vergnügen, Genuß, hoffentlich auch an bleibendem Nutzen« (vgl. hierzu die kurze Schilderung in Ottos Brief an das »Brief-Kränzchen« vom 14.–17. 10. 1891, UB Marburg, Ms 797.347). Wenige Jahre nach Ottos Tod, 1940, wurde ein Auszug aus seinen Briefen von dieser Reise in der Zeitschrift Die Christliche Welt veröffentlicht, offenbar um Inhalte des späteren Werks Ottos auch in seinen frühsten Reisen nachträglich nachzuweisen (vgl. Otto, Reisebriefe Rudolf Ottos aus Griechenland, 197 f). Nach dem Vikariat erfolgte 1895 eine größere Reise über Ägypten, Jerusalem, Beirut und Lemnos zum Athos in Griechenland. Von allen Reisen sind Tagebuchaufzeichnungen und Briefe im Otto-Archiv Marburg erhalten. Vgl. zur Bedeutung von Ottos Reisetätigkeit für sein Denken vor dem Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion unten im Zweiten Teil, Kap. IV, 1.

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Schulen zu stehen. Ottos später in vielfachen Zusammenhängen erkennbare Eigenschaft, unterschiedliche Positionen, verschiedene Konfessionen und Religionen, sowie divergierende Methoden und Sichtweisen miteinander zu verschränken und gerade in ihrem Austausch fruchtbar zu machen, zeigt sich schon hier. Hans-Walter Schütte konnte daher Otto zu Recht »eher als Vermittlungstheologe[n] denn als liberale[n] Theologe[n]« bezeichnen.162 Entgegen der landläufigen Zuordnung Ottos zur Ritschlschule ist dabei gerade das über Ritschl hinausgehende Interesse Ottos entscheidend, welches nicht zuletzt durch Schultz und Häring maßgeblich angeregt wurde. Schon am Anfang seiner akademischen Laufbahn scheint Otto  – wie auch später immer wieder  – in der »Mitte« unterschiedlicher Strömungen zu stehen.163 Damals schon befindet sich Otto in der Spannung zwischen konservativem Luthertum und liberalem Kulturprotestantismus, zwischen subjektiver religiöser Erfahrung der »Wiedergeburt« und objektiver historisch-kritischer Exegese, zwischen konfessionellem Katechismus und liberaler Gemeindeethik, die sich auch schon an seinen Studienorten – Erlangen und Göttingen – wiederspiegelt. Zwischen dem konservativen Luthertum seiner Kindheit und dem liberalen Protestantismus seiner späteren Studienjahre scheint Otto schon früh eine Leerstelle verspürt zu haben, der er sich in den folgenden Jahren zuwandte: Die Frage nach dem Wesen christlicher Frömmigkeit. Lutherische Erfahrungstheologie und strenger Bekenntniskonfessionalismus haben ebenso die Tatsache menschlicher Ergriffenheit als »Wiedergeburt« zum Inhalt wie die liberale Tradition, die gerade durch ihre historische Kritik und liberale Ethik hindurch auf unhintergehbare strukturen religiösen Erlebens in den Ausdrucksformen der Religionsgeschichte stößt und als a priori wirksamen Wesenskern der Religion zu beschreiben versucht. Dieser religions‑ bzw. frömmigkeitstheoretischen Spur geht Otto in den folgenden Jahrzehnten konsequent nach. Mag man auch – mit guten Gründen – eine psychologisierende Deutung der melancholischen und teilweise zur Depression neigenden Tendenzen in Ottos Persönlichkeit unterlassen, so scheinen hierin dennoch einige Anhaltspunkte zur Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Angst beim frühen Otto greifbar zu 162 Vgl. besonders hinsichtlich des engen Verhältnisses Ottos zu Theodor Häring die Überlegungen bei Schütte, Religion und Christentum, 118. Der vermittlungstheologische Charakter in Ottos früher Prägung ist freilich nicht als theologiegeschichtliche Zuordnung zur Vermittlungstheologie zu verstehen, sondern eher als eine methodische Tendenz in Ottos Denken. 163 Die These von Ottos Positionierung in der »Mitte« der theologischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts wurde besonders von Heinrich Frick vertreten (vgl. Frick, Rudolf Otto innerhalb der theologischen Situation, 6). Auch Philip C. Almond hat Ottos Situation zwischen den Lagern treffend beschrieben: »From 1891 to 1898 Otto appears to have distanced himself increasingly both from any narrow confessionalism and from any intimate commitment to the dominant Ritschlian school of theology« (vgl. Almond, Rudolf Otto. An Introduction, 12).

II. Studien zu L ­ uther und Schleiermacher

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sein.164 Es ergaben sich Erkenntnisse zu »Ausstrahlungen der Persönlichkeit, die über die formelle gedankliche Arbeit hinausreichen«, und – wie Hans-Walter Schütte zeigt  – grundlegend zum »Verständnis Ottos gehören«.165 Otto hat später seine Studien zu den angstvollen Elementen religiösen Erlebens in erster Linie auch an persönlichen Anschauungsbeispielen und an der religiösen Persönlichkeit des Menschen selber untersucht und beschrieben. Ottos sensible Persönlichkeit, sowie sein frühes Interesse für christliche Frömmigkeit und religiöses Erleben sind demnach als bereiteter Boden seiner späteren Auseinandersetzung mit den konkreten Momenten religiösen Erlebens und insbesondere ihrer angstvollen Dimension zu verstehen. Die entscheidende intellektuelle Durchdringung und Grundlegung seines späteren Werkes ergab sich jedoch für Otto, wie er später selbst sagt, nicht aus direkten Schuleinflüssen Erlangens oder Göttingens, sondern aus seinen Studien zu Schleiermacher und besonders zu ­Luther, bei denen er die elementaren Strukturen christlicher Frömmigkeit grundlegend beschrieben sah. Momente von Angst, Furcht und Anfechtung spielen – wie sich noch zeigen wird – hier eine entscheidende Rolle und fallen in Motiven wie dem der »Gottesfurcht« gerade nicht unter ethische Kategorien neben der Religion und sind erst recht kein psychologisches Problemfeld mit dem sich die Religion auseinander zu setzen hat. Sie sind vielmehr innerster Bestandteil der Religion selbst.

II. Studien zu ­Luther und Schleiermacher – Angst und religiöses Erleben in den Grundlagen der Theologie Ottos Schon die ersten theologischen Arbeiten Ottos sind für sein Denken und seinen weiteren Lebensweg entscheidend. Ihnen hat daher besondere Aufmerksamkeit zu gelten. Wichtig für das Verständnis der frühen Entwicklung und Prägung Ottos sind jedoch nicht nur seine Erstlingswerke, sondern auch die soeben dargestellten persönlichen Hintergründe und Entstehungsbedingungen derselben, die für eine Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion bei Otto von nicht unwesentlicher Bedeutung sind. 164 Anhand des Briefwechsels und der persönlichen Begegnung Ottos mit Ernst Troeltsch um das Jahr 1904 konnte Karl-Ernst Apfelbacher eindringlich zeigen, wie bedrohlich Ottos zeitweilige psychische Instabilität in jenen Jahren war. Die schweren Depressionen und Krisen, die Otto Troeltsch damals anvertraute, berührten, wie in den Briefen deutlich wird, auch und gerade seine religiösen Überzeugungen und sein Selbstverständnis als Theologen (vgl. hierzu Apfelbacher, Frömmigkeit und Wissenschaft, 58–60). Auch zahlreiche andere Briefe zeugen von den lebenslang wiederkehrenden depressiven und melancholischen Zusammenbrüchen Ottos, die sich häufig auch mit Glaubens‑ und Lebenskrisen verbanden. 165 Schütte, Religion und Christentum, 118.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Ottos frühste Veröffentlichungen haben mit Martin ­Luther und Friedrich Schleiermacher zwei Theologen von weltgeschichtlichem Rang zum Thema, die nach Ottos Einschätzung auf je eigene Weise herausragende »Wiederentdecker« der Religion waren. In seiner Dissertation von 1898 zur Pneumatologie ­Luthers steht dessen eigentümliche Frömmigkeit in für die damalige Zeit besonderer Weise im Vordergrund der Untersuchung. Von L ­ uther wird Otto später sagen, dass er bei ihm die entscheidenden Impulse für seine lebenslange Arbeit zur Kategorie des Heiligen gewonnen habe. Die von Otto ein Jahr nach der Dissertation im Jahre 1899 herausgegebene kommentierte Jubiläumsausgabe der Erstauflage von Schleiermachers »Reden« Über die Religion hat ebenfalls eine weitreichende Bedeutung für Ottos weiteren theologischen Weg. Sie gilt nicht zuletzt der Darstellung Schleiermachers als »religiösen Virtuosen«, der mit der Kategorie des Gefühls einen unter neuzeitlichen Bedingungen angemessenen theoretischen Zugang zum eigentlichen Kern der christlicher Frömmigkeit entwirft. Jene beiden frühen Studien Ottos können als Programmschriften gelten. Sie bieten zwar noch keine vollständige Vorwegnahme der späteren Hauptwerke, zeichnen aber in ihrem Erkenntnisinteresse eine entscheidende Richtung für Ottos Denken vor. Es geht in beiden Fällen nicht zuletzt um die theologische Erschließung der Religion über ihre Erlebnisdimension. Besonders in seiner Auseinandersetzung mit L ­ uther versucht Otto »Anschauung[en] über das religiöse Grunderlebnis« zu gewinnen.166 Dabei spielen in besonderer Weise auch an Angst erinnernde Momente eine Rolle, zu denen Otto ein genuin religiöses Analogon entdeckt: Die über den Menschen hereinbrechende »majestas«, durch die das Göttliche schauervoll als das »Ganz Andere« erlebt wird. Da Ottos frühe Auseinandersetzung mit L ­ uther und Schleiermacher zugleich den Anfangspunkt einer lebenslangen und immer wieder intensiv ausgetragenen Rezeption beider markiert, sollen vom Frühwerk ausgehend auch die in diesem Zusammenhang relevanten Schriften und Bemerkungen in späteren Werken Ottos zur Sprache kommen. Im Folgenden wird demnach der Versuch unternommen, eine umfassende Darstellung von Ottos ­Luther‑ und Schleiermacherdeutung anhand der Zuspitzung auf die Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion vorzulegen. Dabei kommt zugleich – von den frühsten Veröffentlichungen ausgehend – das Gesamtwerk Ottos bereits hier in den Blick und lässt grundlegende Strukturen von Ottos Denken deutlich werden.

166 AHG,

1.

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1. Angst und Religion in Ottos Deutung L ­ uthers Nach den prägenden Jahren im Spannungsfeld zwischen Erlangen und Göttingen fand Otto mit der Arbeit an seiner Dissertation zu der vielleicht wichtigsten Konstante seines zukünftigen theologischen Denkens: Martin ­Luther. Vor dem Hintergrund der Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion in Ottos Werk ist dies von besonderer Bedeutung, denn in ­Luthers berühmten Angsterlebnissen und Anfechtungserfahrungen sahen spätere Generationen entscheidende Momente seines Lebenswerks und seiner Bedeutung für die Geschichte des Christentums.167 Doch nicht nur auf den berühmt gewordenen biographischen Lebens‑ und Glaubenserfahrungen beruht die epochale Bedeutung ­Luthers für den Angstbegriff, sondern auch auf seiner theologischen Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Angst.168 Für die Deutung der Angst im Zusammenhang der Religion gilt ­Luther mit seiner Theologie des vor Gott angefochtenen und sich ängstigenden Sünders, des in der Angst um sich selbst verkrümmten »homo incurvatus in se« daher auch in der Moderne als Meilenstein und Paradigma des Angstdiskurses. Doch auch schon bevor im frühen 20. Jahrhundert die Bedeutung ­Luthers gerade in jener sünden‑ und rechtfertigungstheologischen Dimension der Angst angesichts des immer stärker hervortretenden Krisenbewusstseins der Moderne entdeckt und hervorgehoben wurde, konnten sich schon die Brüder Grimm in ihrem Deutschen Wörterbuch zum Begriff Angst auf ein Wort ­Luthers berufen: »Angst jm Ebreischen laut, als das Enge ist, wie ich acht das jm Deudschen auch Angst daher kome, das enge sey, darin einem bange und wehe wird und gleich geklemmet, gedruckt und gepresset wird, wie denn die anfechtungen und unglück thun, nach dem sprichwort ›Es war mir die weite wellt zu enge‹.«169

167 Zu der jahrhundertelangen Inanspruchnahme ­ Luthers bezüglich des Angstthemas vgl. Dietz, Der Begriff, 2. Peter Müller sieht in seiner Dissertation Otto aus der Perspektive Wilhelm Lütgerts in einer »langen protestantischen Tradition« und stellt dabei eine enge Verbindung zwischen dem Angstbegriff und ­Luther her: »Die Angst gilt seit ­Luther in der evangelischen Theologie weithin als das religiöse Urerlebnis schlechthin.« (vgl. Müller, Alle Gotteserkenntnis, 197). 168 Vgl. hierzu die umfassenden Studien von Thorsten Dietz in seinem Buch Der Begriff der Furcht bei L ­ uther von 2009. 169  Zitiert wurde hier nach WA 31/1, 93,20 ff. Die Zeilen stammen aus ­Luthers Auslegung des 118. Psalms mit dem Titel Das schöne Confitemini von 1530. Das sprachlich leicht abgewandelte Zitat wird im Deutschen Wörterbuch zum Stichwort Angst zitiert in: Grimm, Art. Angst, 358 f. Der originalgetreue Wortlaut des Grimmschen Wörterbuchs wurde in dieser Arbeit bereits im Kontext sprachlicher Überlegungen zum Angstbegriff zitiert und besprochen, vgl. hierzu oben im Ersten Teil die etymologischen Aspekte in Kap. I, 1.2. Zu den hier hervorgehobenen körperlichen Wirkungen der Angst bei L ­ uther vgl. mit Hinweis auf die Römerbriefvorlesung Dietz, Der Begriff der Furcht, 358. Das Motiv der »Enge« taucht bei ­Luther im Kontext der Angst immer wieder auf, so z. B. auch in seinem Sermon von der Bereitung zum Sterben von 1519 (WA 2, 680–697). Vgl. dazu Hamm, Der frühe ­Luther, 139 f.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Seit dem Eingang dieser Definition in das Grimm’sche Wörterbuch ist L ­ uther in den meisten Publikationen zur Angst in irgendeiner Weise vertreten.170 ­Luther gilt besonders im 20. Jahrhundert nicht nur als früher Theoretiker der Angst und ihrer theologischen Deutung, sondern wird auch und gerade in seiner Biographie zum wirkmächtigen Anschauungsbeispiel einer Frömmigkeit, die gerade Angst und Furcht als elementare Momente des christlichen Glaubens und Gottesbewusstseins zu begreifen versteht.171 So kann es geradezu als Allgemeinplatz seiner Zeit gelten, wenn Oskar Pfister in der Einleitung seines berühmten Buchs zum Verhältnis von Angst und Christentum von L ­ uther sagt, dass dessen »ganze Stellung zu Gott und zur Gottesvorstellung weitgehend durch Erlebnisse der Angst und der Angstbewältigung beeinflußt war«.172 Es ist gerade die Entdeckung jener Gefühlssphäre der angstvollen Anfechtung, des »horror mysticus« diffuser Angst, die nach Ottos Auffassung den entscheidenden Charakter von ­Luthers Frömmigkeit ausmachte.173 In den folgenden Abschnitten soll nun untersucht werden, inwiefern L ­ uthers theologische Deutung der Angst mit derjenigen Ottos im Zusammenhang steht.174 Interessant ist diese Frage deshalb, weil Otto mit seinen berühmten Begriffen des »mysterium tremendum« und des »Kreaturgefühls« schließlich ebenso wie ­Luther zu einem Klassiker der theologischen Angstdeutung im 20. Jahrhundert avancierte. Zu Fragen ist also, welche Rolle Ottos Lutherrezeption für seine theologische Deutung der Angst spielt, und ihn – ebenso wie ­Luther – später zu einer entscheidenden Figur in der modernen Diskussion um das Verhältnis von Angst und Religion werden ließ. Es ist dabei der Tatsache Rechnung zu tragen, dass Otto niemals konkrete Studien zu L ­ uthers Angstbegriff unternommen hat,

170  Exemplarisch sei das wichtige Buch von Mario Wandruszka genannt (vgl. Wandruczka, Angst und Mut, 15). 171 So spielt L ­ uther nicht nur in theologischen Deutungen der Angst meist eine entscheidende Rolle, sondern auch in psychologischen oder philosophischen Entwürfen. Vgl. für einen Überblick Dietz, Der Begriff der Furcht, 1–6. In erster Linie zu nennen ist sicherlich die Erforschung der biographischen und historischen Umstände insbesondere des frühen ­Luther im Umfeld der sog. »Lutherrenaissance« im frühen 20. Jahrhundert. 172 Pfister, Das Christentum und die Angst, 2. 173  Ernst Benz versteht die Lutherstudien Ottos demnach als dezidierte Frömmigkeitsstudien bzw. als theologische Erörterungen zur Frömmigkeitstheorie (vgl. Benz, Rudolf Otto und die Erforschung, 384 ff.). 174 ­Luthers grundlegende Bedeutung für den Angstbegriff in der Moderne zu rekonstruieren oder die Bedeutung ­Luthers für das Werk Rudolf Ottos generell darzustellen, wären eigene große Unternehmungen, die im vorliegenden Zusammenhang nicht geleistet werden können. Zur Bedeutung der Angst bei ­Luther sei daher verwiesen auf die Studien: Dietz, Der Begriff der Furcht, insbes. 327 ff, sowie Dietz, Die L ­ uther-Rezeption, 77–107. Insbesondere zu Ottos Luther­deutung vgl. Schäufele, Rudolf Ottos Lutherbild, 165–178; Barth, Systematische Luther­deutung, insbes. 66–73; Schütte, Religion und Christentum, 11–22 sowie Minney, The Development, 507 f.

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sondern ­Luther viel grundsätzlicher als »Wiederentdecker der Religion« interpretierte.175 Das Problemfeld von Angst und Furcht bildet dabei – wie sich noch zeigen wird – eher eine Grundstruktur von Ottos Luther­deutung im Zusammenhang seines religionspsychologischen und frömmigkeitstheoretischen Zugangs. Es ging Otto um »­Luthers Religionserleben« selber und um die darin sich zeigende Kontrastharmonie religiösen Erlebens mit besonderem Schwerpunkt auf den angstvollen und furchtsamen Elementen derselben.176 Es ist die Entdeckung der »Tiefen und Abgründe« im Gottesbewusstsein, der negativen Dimension in der Begegnung mit der göttlichen »majestas«, die Otto an ­Luther besonders interessierte und letztlich für seine Entdeckung der »Kontrastharmonie« religiösen Erlebens das eigentliche und ursprünglichste Kernmoment markiert.177 Um die Genese von Ottos Luther­deutung hinsichtlich ihrer Wirkung auf Ottos Deutung der Angst darzustellen, wird in den folgenden Abschnitten nicht allein Ottos einzige Monographie zu ­Luther  – seine Dissertation  – zur Sprache kommen, sondern, um die Entwicklungslinien deutlich zu machen, kommen auch Ottos Studien zu ­Luther in Das Heilige sowie in späteren Werken zu Wort. Im Fokus steht dabei die Frage nach der Bedeutung der Angst in ­Luthers Theologie für Ottos grundlegende Auseinandersetzung mit dem Phänomen religiösen Erlebens. 1.1. Das Verhältnis von Angst und Religion in Ottos früher Lutherrezeption »Von Michaelis 1895 bis Michaelis 1897« war Otto »Inspector am theologischen Stifte zu Göttingen«.178 Während dieser Zeit arbeitete er an seiner Dissertation mit dem Titel Geist und Wort nach L ­ uther. Eine historisch-dogmatische Untersuchung, für die er im Juli 1898 zum Licentiaten der Theologie promoviert wurde. Die Arbeit wurde alsbald unter dem Titel Die Anschauung vom Heiligen Geiste bei ­Luther. Eine historisch-dogmatische Untersuchung veröffentlicht. Obgleich das schmale Buch aufgrund seines damals ungewöhnlichen – weil dogmatisch-historischen – Zuschnitts in der Lutherforschung keine sonderlich große Beachtung fand, wurde es zu Recht später als ein Schlüsselwerk in Ottos

175  Als hierfür bezeichnend kann die Bemerkung in SU, 124 gelten: »Eine Wiederentdeckung größten Stils war L ­ uthers Reformation«. 176 Vgl. Dietz, Die Lutherrezeption, 84. Dietz macht Ottos Luther­deutung als Ort der »Entdeckung der Kontrastharmonie« Ottos aus, die er im Rückgriff auf eine Bemerkung Wilhelm Boussets als »doppelte Grundstimmung« bezeichnet (vgl. a. a. O. 95). Die Bedeutung für den Angstbegriff liegt dabei im »negativen Pol des religiösen Erlebens« (a. a. O., 103). 177  Vgl. grundlegend die Passagen zu »Kreaturgefühl« und »tremendum« in DH23–25, 8–37. 178 Vgl. Ottos Lebenslauf von 1898 zum Antritt seiner Privatdozentur in Göttingen: Curriculum vitae, Lic. Theol. Karl Louis Rudolf Otto, Privatdozent, in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Signatur: 4 II b 96 a, 2–3.

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Entwicklung angesehen.179 Was die Arbeit für Ottos weiteren Weg so wertvoll macht, ist das bereits hier greifbare Interesse Ottos für die Erlebnisdimension der Religion und für die Frage nach ihrem Verhältnis zur theologischen Lehr‑ und Urteilsbildung in Tradition und Gegenwart. Ottos systematisch-theologischer Anspruch, den er in seiner Dissertation verfolgt, zeigt sich schon formal anhand der Tatsache, dass er keine klassische Lutherstudie im Sinne einer historischen Rekonstruktion vorlegt, sondern ein »zweifaches Interesse« verfolgt.180 Selbiges zeigt sich wiederum auf zweierlei Weise: Einerseits operiert die Zweigleisigkeit von Ottos Fragestellung methodisch, indem er seine Untersuchung als »historisch-dogmatische« Studie ausweist. Am Beispiel ­Luthers nicht nur herauszuarbeiten »was einmal war, sondern zugleich […] was es zu denken giebt und für uns bedeutet«, also historisches Lutherstudium mit systematisch-theologischen Gegenwartsfragen zu verbinden, ist Ottos erklärtes Ziel.181 Hierdurch zeigt sich die inzwischen feste Verwurzelung des jungen Licentiaten im Göttinger Neuprotestantismus, die prompt von Ottos früherem Erlanger Lehrer Reinhold Seeberg kritisch in einer Rezension hervorgehoben wurde.182 Der Einfluss Albrecht Ritschls und seiner Schule ist – wie Otto selbst zugibt – in seiner Arbeit unverkennbar: Ritschl bemühte sich, die Theologie L ­ uthers aus den traditionsreichen Schullehren der altprotestantischen Orthodoxie zu lösen und für theologische und ethische Gegenwartsfragen anschlussfähig zu machen. Im Zuge dieser »modernisierenden Luther­deutung« stand nun nicht mehr allein der Reformator als historische Autorität, sondern der Theologe L ­ uther als Gesprächspartner für aktuelle systematisch-theologische Probleme im Vordergrund.183 179 Ausdrücklich wies auf die Bedeutung der Dissertation als »Keimzelle seines Denkens« Hans-Walter Schütte im Rückgriff auf Wilhelm Haubold hin (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 12). Doch auch Otto selber maß seinen frühen Lutherstudien eine entscheidende Bedeutung für sein Denken bei (vgl. hierzu DH23–25, 123, sowie die zahlreichen Verweise und Selbstzitationen in den späteren Aufsatzbänden). 180 Vgl. AHG, 1. 181  Vgl. AHG, 3. 182  Bei aller Wertschätzung von Ottos Arbeit kritisiert Seeberg scharf, Otto sei kein vorurteilsfreier Lutherforscher und zielt dabei sicherlich auf Ottos Göttinger Prägungen. Die von Seeberg kritisch erwähnten »dogmengeschichtlichen Werke«, die Otto seiner Luther­deutung vorschaltet, beziehen sich wohl insbesondere auf Adolf von Harnack (vgl. Seeberg, Rez. Neue Kirchengeschichte, 473). Seeberg wirft Otto also vor, die Lutherstudien der Ritschlschule der sauberen und gründlichen Lektüre der Originalschriften L ­ uthers vorgezogen zu haben. Aus Seebergs Perspektive erscheint damit die Dissertation geradezu als Dokument von Ottos definitiver Loslösung vom Einfluss seiner Erlanger Studiensemester. 183 Treffend ist in diesem Sinne der Gedanke einer »Befreiung ­Luthers aus seiner Wirkungsgeschichte« durch Ritschl (vgl. hierzu Hofmann, Albrecht Ritschls Lutherrezeption, 261). Frank Hofmann sieht die Innovation Ritschls insbesondere in dessen wirkungsvollem Anstoß zum Lutherstudium selbst. Die einzelnen Deutungen ­Luthers bei Ritschl hingegen beurteilt Hofmann aus heutiger Perspektive als größtenteils »eigenwillig« – sie lassen teilweise mehr von Ritschl selbst erkennen, als von ­Luther. Dennoch bedeuten sie aber einen entscheidenden Modernisierungsimpuls der Lutherforschung. Die umfassende Wiederentdeckung und Er-

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Doch auch inhaltlich verhandelt Otto anhand von L ­ uthers Geistverständnis zwei Aspekte: Einerseits will er einen Beitrag zur Erhellung der in Adolf von Harnacks Lehrbuch der Dogmengeschichte gestellten Frage nach dem Verhältnis von L ­ uthers Geistauffassung zu den traditionellen »katholischen« Lehrbeständen der Pneumatologie leisten. Andererseits  – und dies ist der für sein weiteres Denken entscheidende Gedanke – interessiert ihn die in der Rede vom Heiligen Geist aufbrechende »Frage nach dem Verhalten und dem Einfluss einer außerweltlichen Ursächlichkeit auf das Innere des Menschen«, also das Problem religiösen Erlebens und seiner theologischen Deutung bei L ­ uther.184 Der erste Aspekt, Ottos dogmengeschichtliche Einordnung von ­Luthers Pneumatologie, ist in einem kurzen Exkurs zu erläuern: Otto begründet seinen dogmengeschichtlichen Zugriff auf L ­ uther mit dem Hinweis auf ein »mehr formales […] Interesse« (AHG, 1). Die entscheidende Stelle, auf die er sich im Rückgriff auf Harnack bezieht, befindet sich im dritten Band von dessen Lehrbuch der Dogmengeschichte im Kapitel über »Die Ausgänge des Dogmas im Protestantismus«.185 Entgegen der Auffassung Harnacks ist Otto der Meinung, es gäbe bei ­Luther eben keine gegenüber der Rezeption der traditionellen Geistlehre scharf getrennte »neue Betrachtung« bei ­Luther, sondern L ­ uther könne vielmehr, wie Ulrich Barth es jüngst ausgedrückt hat, »unbekümmert zwischen ihnen hin‑ und herwechseln«.186 Ausführlich trägt Otto zunächst die ihm am wichtigsten erscheinenden Stellen der Auseinandersetzung ­Luthers mit der traditionellen Theologie des Heiligen Geistes zusammen, namentlich ­Luthers trinitätstheologische Studien zu Augustinus und Petrus Lombardus (AHG, 4–9), sowie in weiteren Frühwerken und Predigten (AHG, 9 f) bis hin zu einzelnen Stellen in späteren Werken L ­ uthers (AHG, 11 ff). Die dogmatischen Äußerungen ­Luthers zur Pneumatologie beurteilt Otto insgesamt zunächst als wenig originell. Er sieht L ­ uther letztlich in den »Wirrsal« traditioneller Dogmatik verstrickt (AHG, 16). Innovativ wird ­Luther laut Otto jedoch dann, wenn er weniger über das »Wesen« als über das »Wirken des spiritus sanctus« schreibt (AHG, 20). Die Frage nach dem Wie der Geistwirkung und ihrer empirischen bzw. psychologischen Gestalt, sowie die Frage nach ihrer Ursache ist es, in der Otto bei L ­ uther »Neues« angelegt forschung L ­ uthers (besonders auch durch die wissenschaftliche Neuedition seiner Schriften) im Zuge der sogenannten »Lutherrenaissance« im frühen 20. Jahrhundert ist, indem sie sich wiederum von Ritschl abgrenzte, indirekt auch dessen wirkungsvoller Luther­deutung verpflichtet. Vgl. grundlegend dazu Assel, Der andere Aufbruch. Zur Bedeutung von Ritschls Luther­deutung für Ottos Ansatz vgl. Dietz, Die ­Luther-Rezeption, 78 ff. Zur Bedeutung Ritschls und seiner Schule für Ottos L ­ uther-Dissertation vgl. Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 207–214. 184  Vgl. AHG, 1. 185 Otto zitiert in Harnacks Dogmengeschichte aus Bd. 3 der dritten Auflage von 1897, 808, vgl. AHG, 1 f. 186 Vgl. dazu Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 40.

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sieht (AHG, 20). In den Abschnitten »Geist und Glaube« (AHG, 25–44) sowie »Geist und Wort« (AHG, 45–92) versucht Otto jene sich im religiösen Erleben realisierende Wirkung des göttlichen Geistes in L ­ uthers Denken systematisch an den Begriffen Geist, Wort und Glaube nachzuvollziehen und kommt letztlich zu dem Schluss, dass ­ Luthers Geistverständnis zwar theoretisch vollständig in den traditionellen Begriffen und Lehrsätzen der Kirche beschlossen liegt (AHG, 93 f), zugleich jedoch sieht er ­Luther eben jene streng bewahrte traditionelle Geistlehre durch den »Trieb des unbefangenen religiösen Empfindens« insgeheim durchbrechen, ohne dass ihm die Diskrepanz zwischen traditioneller Geist-Dogmatik und persönlichem Erleben jemals vollends aufgegangen sei (AHG, 94). Schließlich ist L ­ uthers Geistverständnis nach Otto damit ein zweigeteiltes: Theoretisch-dogmatisch ist es ein weitgehend traditionell trinitätstheologisches Geistverständnis, im konkreten Erleben jedoch scheint sich ­Luther zunächst über die genaue Wirkung des Geistes nicht letztgültig im Klaren zu sein. Es bleibt undeutlich, ob der Geist durch das Wort wirkt oder das Wort durch den Geist, ob er geheimnisvoll sich in der Seele rührt oder ob er supranatural den Glauben eingießt. So wird ­Luther nach Ottos Auffassung dahin geführt, hinter seiner vordergründigen Bewahrung der traditionellen Trinitätstheologie als »getreuer Katholik altertümlicher Observanz« (AHG, 93) im eigenen Erleben eine »ganz andere Vorstellungsweise« herauszubilden, die freilich nirgendwo von ­Luther systematisch entfaltet wird. Es ist dies eine Geistvorstellung von »der ewigen göttlichen Energie, durch die Gott alles in allem wirkt, insonderheit das ›Geistliche‹« (AHG, 95). Die klassische Auffassung vom Geist als einer der drei trinitarischen Personen wird damit zugunsten einer Begegnung mit dem einen, eben zunächst nicht trinitarisch auftretenden Gott verschoben. Dahinter steht der Gedanke eines »numen praesens« (AHG, 100), eine Art grundlegende religiöse Empfänglichkeit, ein »Characteristicum echten religiösen Empfindens« (AHG, 101). Otto plädiert also für ein »empirischpsychologisches« Verständnis religiösen Erlebens, das weder deistisch in sich selbst ruht, noch durch das göttliche Wirken supranatural durchbrochen wird. Mit ­Luther möchte er stattdessen eher von einer »doppelte[n] Betrachtungsweise« sprechen, die es dem Frommen ermöglicht, empirisches Empfinden als vollkommen göttliches Wirken und umgekehrt zu begreifen (AHG 102). Stark an Ritschl erinnert damit letztlich die Auffassung Ottos, der Geist Gottes realisiere sich und wirke »als das Ergehen von Wort, Kirche, Predigtamt und deren klaren Wirkungen.« (AHG, 105). Gottes Geist ist damit »das Innere alles Geschehens selber« (AHG, 105), das, wie Otto abschließt, nach ­Luther in zwei »Betrachtungsweisen« erscheint, die eine geheimnisvolle »innerliche Identität« zusammenhält: Geist zu verstehen als weltliche Wirklichkeit als »verbum und fides« im Natürlichen, sowie gleichzeitig als das »Wehen und Weben des göttlichen Geistes […] der allem Leben und Sein überhaupt zu Grunde liegt und alles in allem erfüllt.« (AHG 106).

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Ottos doppeltes Erkenntnisinteresse, die historisch-theologische Erforschung von ­Luthers Pneumatologie einerseits, sowie andererseits die systematisch-theologische Frage nach der Entstehung des »›neuen Lebens‹ von Gott her«, also die Frage nach dem Wesen religiösen Erlebens, sind zwar nach Ottos Auffassung nicht getrennt voneinander verhandelbar,187 letztlich ist es jedoch gerade der letztgenannte Aspekt seines Lutherbuchs, der Otto auch über seine Dissertation hinaus bis in sein Spätwerk hinein beschäftigen wird: Es ist das Verständnis ­Luthers als »Virtuosen und Heros der Religion«, in dessen Leben und Werk das eigentliche Wesen christlicher Frömmigkeit kraftvoll zum Durchbruch kommt.188 Die Frage, »wie im Innersten ­Luther das religiöse Werden denkt«, ist gleichsam der Ausgangspunkt für Ottos bleibende Bemühungen um die Erforschung der religionspsychologischen Wirklichkeit menschlicher Frömmigkeit. In der hier verfolgten Fragestellung nach den Grundlagen von Ottos theologischer Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion ist dieser Punkt in seiner Lutherinterpretation daher von besonderem Interesse, denn gerade in der Frage nach dem religiösen Erleben L ­ uthers tritt in den späteren Werken Ottos das Phänomen an Angst erinnernder Momente in besonderer Weise hervor. Welche Aspekte seiner späteren theologischen Deutung der Angst bei ­Luther schon in Ottos Dissertation wenigstens andeutungsweise greifbar sind, sei aus diesem Grund anhand der wichtigsten Punkte dargestellt. Eine entscheidende Pointe von Ottos Dissertation ist die These, dass L ­ uther in seiner Auffassung vom Heiligen Geist nur vordergründig und vermeintlich in der dogmatischen Tradition der klassischen Pneumatologie verhaftet ist. In Wirklichkeit ist nämlich, wie Otto meint, in L ­ uthers Werken eine Geistauffassung nachweisbar, die sich keinesfalls in trinitätstheologischer Spekulation erschöpft, sondern eine intensive Auseinandersetzung mit der Frage nach dem Wirken des Geistes im menschlichen Erleben verfolgt. Gerade in seinen Abweichungen von traditioneller Dogmatik, die ­Luther nach Ottos Auffassung in erster Linie aus seiner eigenen Frömmigkeit selber entwickelt, ist sein eigener Standpunkt greifbar: »Er beschneidet das Überkommene, baut es hier und dort um, baut an, bis er Platz darin hat mit seiner Frömmigkeit. Aber er ist zufrieden, sobald es wohnlich ist, und macht wenig Anspruch auf Rechtwinkligkeit. Viel weniger in dem, was er übernommen hat, als in dem, was er verändert wird er selber offenbar.«189 187 Die »beiden Fragen« zu L ­ uthers Geistverständnis sind nach Otto »nur mit einander zu beantworten« (vgl. AHG, 2). Thorsten Dietz spitzt die »zwei Ebenen« von Ottos Untersuchung noch weiter zu als eine »theologisch-pneumatologische« einerseits und eine »empirisch-psychologische« andererseits (vgl. Dietz, Die L ­ uther-Rezeption, 79). 188 Vgl. AHG, 1. Otto betont immer wieder, L ­ uther sei »kein Systematiker« gewesen (AHG, 4), sondern im Kern seiner Persönlichkeit ein zutiefst frommer religiöser Virtuose. 189 AHG, 76.

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­ uther lässt damit nach Ottos Auffassung die altkirchliche trinitätstheologische L Spekulation im Hintergrund und stößt unvermittelt auf den »einen Gotte, der, als das eine göttliche Ich und als der eigentliche Adressat der Religion, der Herr und Spender des Geistes ist.«190 Nach Otto ist bei L ­ uther die Rede von Gott als Geist zugleich die Rede von Gottes Wirkung auf den Menschen zur Schaffung des »Neuen Lebens« und damit des Glaubens.191 Intuitiv wird L ­ uther hierdurch neben seiner im klassischen Geistverständnis mittelalterlicher Theologie verwurzelten Pneumatologie die empirisch-psychologische Dimension der Religion deutlich, die nicht durch ein supranaturales Eingreifen des göttlichen Geistes in die Welt charakterisiert ist, sondern – so Otto – selbst restlos aus »echt menschliche[n] Gefühle[n]« besteht.192 Das Wirken des Geistes ist demnach kein supranaturales Ereignis, sondern eine »Zuständlichkeit, eine in des einzelnen Menschen Natur gelegene Bestimmtheit«, die Otto auch als »religiös«, als »religiöse Empfänglichkeit« bezeichnen kann.193 Jene Empfänglichkeit legt nun, wie Otto zusammenfasst, »zwei Betrachtungsweisen« nahe,194 die sich im frommen Menschen – und paradigmatisch bei L ­ uther – vereinen: Einerseits der intuitive »raptus est motus potentiae suae«, das Gefühl für das »Innere alles Geschehens selber« im Geist, sowie andererseits seine empirische Erscheinungsform, die aus einer Kette »psychologischer Kausalzusammenhänge« besteht, nämlich in den Gefühls‑ und Willenszuständen, die den Glauben ausmachen.195 In jedem Falle ist der Geist nach Ottos Auffassung bei ­Luther nur vordergründig ein Aspekt traditioneller Trinitätslehre. Die tatsächlich von ­Luther neu formulierte und intuitiv erfasste Geistauffassung ist hingegen laut Otto das, »was man mit ›religiös‹, ›religiöser Sinn‹, religiöse Empfänglichkeit‹, ja noch allgemeiner mit ›innerlich erschlossen tief‹« meint.196 Otto scheint also in ­Luthers Geistbegriff eine im natürlichen Empfinden des Menschen verankerte Wirklichkeit zu vermuten. Das »aus dem Geist sein«, L ­ uthers »spiritu spiritualis oder spiritu intus docente« bezeichnet laut Otto demnach nicht die »Vorstellung einer momentanen und spontanen illuminierenden Aktion«, sondern ein empirisches Gefühl.197 Gottes Geist ist nichts über den Menschen von außen hereinbrechendes, sondern er ist tief in seiner Natürlichkeit, in seinem Erleben veranlagt. Ohne die durchaus komplexe Untersuchung Ottos in diesem Zusammenhang weiter vertiefen zu müssen, tritt hier zweifellos seine Schwerpunktlegung auf 190

 AHG, 94. AHG, 25. 192 Vgl. AHG, 80: »Nicht die Natur des Menschen wird geändert durch Überschattung des Geistes, sondern sein Empfinden gegenüber Gott durch den Trost des Evangeliums«. 193 AHG, 90. 194 AHG, 103. In der Wiederaufnahme dieser Passage in SU, 221 ff ergänzt Otto die ursprüngliche Bezeichnung von L ­ uther: »Zwei Anblicke« (vgl. SU, 221). 195 AHG, 101. 196 AHG, 90. 197 AHG, 90. 191 Vgl.

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jenes Phänomen deutlich hervor, das Otto »religiöse Anlage« nennt.198 Demnach hat der Mensch in je individuell unterschiedlichem Maße das tief in seinem Wesen verankerte Vermögen, »den Eindrücken des Überweltlichen, der religiösen Empfindung fähig zu sein«.199 Diese Fähigkeit ist gleichsam die Grundbedingung, das Wie des Zum-Glauben-kommens. Vom Hören des Wortes, dem Lesen der Schrift, dem Genuss des Sakraments gilt: »nur den der religiösen Stimmung fähigen, den religiös veranlagten mutet es an in seiner Eigenart, in seinem spezifischen Werte: sei es mit Furcht oder Freude oder in einer gegen beide neutralen Erregung der Andacht«.200

Im Gefühl ereignet sich also eine Art intuitive Erahnung des Überweltlichen im Erlebnis, ohne dass dabei eine tatsächliche übernatürliche Einwirkung der Transzendenz auf den Fühlenden im supranaturalen Sinne vonstatten gehen muss.201 Zuweilen »verschleiert unter traditionellen Ausdrücken und Vorstellungen«, meint Otto also eine Vorstellung des Geistes bei L ­ uther zu entdecken, die dieser selbst kaum bewusst und systematisch artikulieren konnte. Es stehe vielmehr eine intuitiv in L ­ uthers eigenem Erleben gereifte Überzeugung dahinter, die Gottes Wirken als eine universale Allwirksamkeit begreift. Der Geist sei demnach bei ­Luther eine »ewige[n] göttliche[n] Energie, durch die Gott alles in allem wirkt« und damit auch gerade im empirischen Erleben durch und durch präsent ist.202 Der Geist ist die Fähigkeit des Menschen, in der empirischen Wirklichkeit, im Gefühl zu erahnen, dass in ihm das Göttliche selbst wirksam ist. Dass Gott das »movens, agens, operans in allem Sein und Geschehen«203 und damit Geist selber ist, erschließt sich also nicht durch einen supranaturalen Einbruch, durch eine Eingießung von außen, sondern als ein »Vorgang empirischer, psychologischer Kausalzusammenhänge, in denen das Entstehen des Glaubens und neuen Lebens vor sich geht.«204

Jener im Geist, also im Erleben selbst gewirkte Glaube hat jedoch – und hier kommt nun das Moment der Angst ins Spiel – eine eigentümliche Ambivalenz an sich. Insbesondere im Hinblick auf L ­ uthers Schrift De servo arbitrio hält es Otto für missverständlich, den Glauben bei L ­ uther vollkommen auf den Begriff der 198 Vgl. AHG, 85  ff. Zum Begriff der religiösen Anlage in der Dissertation Ottos vgl. Schütte, Christentum und Religion, 15 f. 199  AHG, 85. 200 AHG, 86. 201 Es scheint Otto hier ein geradezu mystischer Vorgang vorzuschweben, der im Rückblick zwar als supranaturale Einwirkung in die Welt erscheint, sich tatsächlich jedoch gerade als natürliches Ereignis innerhalb der Welt ereignet. Treffend kann Ulrich Barth in diesem Zusammenhang (mit Verweis auf Ottos Buch NRW) von einem »geläuterten Supranaturalismus« sprechen (vgl. Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 40). 202 Vgl. AHG, 95. 203 AHG, 105. 204 AHG, 101.

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fiducia, auf das schlechthinnige Vertrauen zu Gott im Sinne einer »eigentlichen Definition« zu reduzieren.205 Denn es bleibe im sich regenden Erleben des Ergriffenseins von der Botschaft der Gnade Gottes, durch das der Erlebende verbo conformis, mit dem Evangelium einhellig wird, eine eigentümliche »Demut vor der hohen Majestät« zurück.206 Obwohl der Gläubige »weiss in Christo, dass er das Gefühl Gottes hegen darf […] als herzliches Vertrauen«, bleibt ihm die zuvor erlebte »Furcht«, das »Entsetzen vor dem ›Allmächtigen‹, dem Ewigen und Jenseitigen« auf geheimnisvolle Weise präsent: »Gott bleibt ihm Gott und Mensch Mensch, und wie kann sich der Mensch unterfangen mit Gott zu reden, er der Staub und Asche ist. Dieses Gefühl muss man als ständigen Oberton mitklingen lassen hören bei L ­ uthers Worten von dem Gott, der nichts ist als die völlige Zuverlässigkeit, von dem Glauben, der nichts als Vertrauen, dem Worte, das eitel Gnadenbotschaft ist: sonst klingen sie unrichtig. Man darf nicht als theologische Definitionen auffassen, was als Paradoxie kühnen Glaubens gesprochen ist.«207

Die bei L ­ uther entdeckte Paradoxie des Glaubens wird von Otto am Gegensatz von »Furcht« und »Zutrauen« vorgeführt: Das pure, allein im Erleben aufbrechende Gottesbewusstsein, das im Geist sich ereignende Erleben der Begegung mit dem Göttlichen erzeugt zunächst allein das, was Otto in späteren Werken als »Kreaturgefühl« beschreibt. Religiöses Erleben meint zunächst ein unmittelbares Gefühl der »eigenen Ohnmacht und Nichtigkeit« gegenüber der Übermacht des Göttlichen.208 Gleichwohl demgegenüber das durch den Geist im Erleben ergriffene und tröstende Evangelium ein Umschlagen in unüberbietbares Vertrauen in die göttliche Gnade bedeutet, bleibt nach Ottos Auffassung bei ­Luther jenes ursprüngliche »Empfinden der Kreatürlichkeit in ihrer Nichtigkeit gegenüber dem Überweltlichen«209 in seinem religiösen Bewusstsein als Intuition für die Unterscheidung von Mensch und Gott auch im »neuen Leben« des Glaubens erhalten: »der Glaube an Gott ist nicht ein einfaches Vertrauen des Menschen zu seinem Helfer, etwa in grösster Steigerung, sondern es bleibt Vertrauen des Menschen zu seinem Gotte, der Kreatur zu ihrem Schöpfer. Es ist die formale Bestimmtheit eines durchaus eigenen

205 AHG,

87.  Vgl. AHG, 87. 207  AHG, 87. 208 In der klassischen Unterscheidung von »Gesetz und Evangelium« bei L ­ uther sieht Otto eine Übersetzung jenes Erlebens in eine »gedankliche[n] Vermittlung der religiösen Ideen‑ und Vorstellungswelt«: »Die Predigt des Gesetzes zeigt dem Menschen, wie er sein sollte und nicht sein kann. Das Bewusstsein hiervon regt das Schuldgefühl einerseits, die Erwartung und Furcht der Strafe andererseits auf. Er gerät in den Jammer der Erkenntnis seiner Sünde und sittlichen Ohnmacht und in die verzweifelte Angst vor dem zürnenden Richter« (AHG, 49). Das Evangelium ist demgegenüber die gnadenvolle Botschaft der Überwindung und Erlösung jenes Sündenbewusstseins. 209 AHG, 54. 206

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Grundgefühles, des nur durch sich definierbaren Grundgefühles gegen das Übernatürliche und Ewige.«210

Ottos vielzitierter Gedanke der »Kontrast-harmonie« religiösen Erlebens aus seinem späteren Hauptwerk scheint schon hier angelegt zu sein. Dabei ergibt sich in diesem Zusammenhang eine gewisse »Parallele« L ­ uthers zur Tradition der Mystik, die Otto – damals noch stark von der Ritschlschule geprägt – jedoch nur unter vorgehaltener Hand anmerkt.211 Es handelt sich um den Gedanken »vom ›Zunichtewerden‹ und Nichtssein der Kreatur und von der alleinigen Wesenheit und Wirksamkeit Gottes« einerseits, und dem gleichzeitigen Erlebnis, dass die »Erfahrung der Gnade Gottes ihn umstimmt und im Glauben frei und gerecht macht.«212 Die »Paradoxie kühnen Glaubens«, die Otto hier bei L ­ uther nachzeichnet, könnte man schließlich auch als Skizze einer Theorie religiösen Erlebens deuten, die seine späteren religionsphilosophischen Überlegungen zum Begriff des »mysterium tremendum« in Das Heilige vorzeichnet.213 Gerade in Momenten der Angst im religiösen Erleben zeigt sich demnach die religiöse Veranlagung des Menschen vor jeder Begegnung mit dem Evangelium. Es geht Otto offensichtlich in seiner Dissertation um den Gedanken, dass gerade der »homo naturalis«, der Mensch in seinem empirischen Wesen, »eminent ›religiös‹ ist«, also eine Anlage für die intuitive, im Gefühl sich zeigende Selbstunterscheidung von einem überweltlichen Göttlichen in sich trägt.214 Auch bevor der Mensch im Glauben aus dem Gottesbewusstsein »des Vertrauens und Getröstetseins« lebt, ist er laut Otto »religiös«, indem er in Momenten der Angst im Gefühl der eigenen Nichtigkeit gegen210

 AHG, 85. AHG, 53 f. In Das Heilige räumt Otto später jene Geringschätzung der Mystik in der Dissertation ausdrücklich ein und führt sie auf den indirekten Einfluss Ritschls zurück (vgl. DH23–25, 123, Anm. 1). Die Tatsache, dass er in seiner Licentiatenarbeit dennoch zumindest eine gewisse Nähe ­Luthers zur Mystik in Erwägung zieht, die ihn dann ­Luther in späteren Werken geradezu als Mystiker interpretieren lässt, wird wohl – wie bereits angedeutet – mit dem Einfluss Theodor Härings zusammenhängen. Zur Mystikkritik Ritschls im Zusammenhang mit Ottos Lutherdissertation vgl. Dietz, Die L ­ uther-Rezeption, 79 ff und Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 209 ff. 212 Vgl. AHG, 53. Zwar sei L ­ uther im angstvollen »Empfinden der Kreatürlichkeit« dem Erleben der Mystiker ähnlich, jedoch hebe er sich, da sich seine am »Wort« gemessene »Frömmigkeit fundamental am Schuldbewusstsein orientiert«, dennoch grundsätzlich von den »Wonnen enthusiastischer Gemütszustände« der mystischen Schwärmer ab (vgl. AHG 54). Ottos immer weiter fortschreitende Annährung lutherischer Theologie an die Mystik ist unter anderem auch in seinen Aufsatzbänden dokumentiert: 1923 charakterisiert Otto im Kapitel Mystisches in ­Luthers Glaubensbegriff ein Zitat Johann Arndts noch als »gesteigertes Luthertum« (vgl. AN1, 63), in SU, 181 (1932) ändert er den wiederabgedruckten Aufsatz an dieser Stelle: hier ist das zitierte nun »gewiß mystisch«! 213 Vgl. die wieder am Beispiel ­ Luthers aufbrechende Problematik des »natürlichen Menschen« in DH23–25, unten im Zweiten Teil, Kap. II, 1.2. 214 Vgl. AHG, 88. 211 Vgl.

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über dem Göttlichen zunächst »Gott über alle Dinge fürchtet, scheuet, hasst«. Religiöses Angsterleben ist also für Otto ein Beleg dafür, dass der Mensch – ob mit oder ohne Evangelium, ob mit oder ohne Glauben – »Von Haus aus« eine religiöse Anlage in sich trägt.215 Otto resümiert, der »homo naturalis« sei bei ­Luther also nicht – wie man zuweilen meinen könne – vor der Offenbarung aller »geistlichen Kräfte« ledig, nur weil er Gott hier noch nicht lieben und vertrauen könne. Der »natürliche Mensch« stehe vielmehr – und hier verweist Otto auf die für sein späteres Werk grundlegend wichtige Thronsaalvision des Jesaja216 – im abdrängenden und von Angst erfüllten religiösen Erleben genauso »unter dem Eindrucke Gottes« wie ein gläubiger Christ. Eindrücklich fasst Otto zusammen: »Nicht durch das Vorhandensein oder Fehlen, durch das Mehr oder Minder der Fähigkeit des Gottesbewusstseins unterscheidet sich für L ­ uther der Zustand des alten und neuen Menschen – Gottes ist gleich sehr bewusst, wer ihn segnet und wer ihm flucht –, sondern dadurch, dass das Gottesbewusstsein vorher mit dem Charakter der Furcht und Verzweiflung, nachher mit dem des Vertrauens und Getröstetseins vorhanden ist.«217

Freilich steht jener im Erleben der göttlichen Allmacht vor Angst Vergehende noch nicht im Glauben und unter dem Trost des Evangeliums. Das entscheidende in ­Luthers Geistverständnis ist laut Otto jedoch, dass der Mensch in jenem angstvollen Erleben dennoch »eingetreten ist in den Kreis religiösen Geschehens und Erlebens« und er fährt fort: »wer etwas erfahren hat von göttlichen Dingen, dem ist das Herz offen für das Wort.«218 Aus jener Offenheit gegenüber dem Wort resultiert dann schließlich das »Gott trauen fürchten lieben« des Glaubens: Was mit dem rohen Erleben des Gefühls eigener Nichtigkeit beginnt, leitet über in den Glauben. Vom »ignorare deo und diffidere deo« kommt der Mensch im Erleben »zur fiducia«.219 Jener Kreis religiösen Erlebens, in dem die Parolen »experientia docet« und »non nisi per spiritum« ineinanderfallen, ist – dies betont Otto immer wieder  – schließlich keine übernatürliche »Eingießung«, sondern liegt in der natürlichen religiösen Anlage des Menschen begründet. Es sind also empirisches Erleben und Geistwirken bei L ­ uther nach Ottos Auffassung ein und dasselbe. Es sind keine »übermenschlichen Kräfte«, die hier wirken, sondern es handelt sich um einen Sinn für das Übernatürliche im Natürlichen, der letzterem immer schon eigen ist.220 215

 Vgl. AHG, 88 f. Hans-Walter Schütte spricht in diesem Zusammenhang von einem religiösen »Differenzerlebnis« (Schütte, Religion und Christentum, 21). 216 Vgl. AHG, 88 mit Bezug auf Jes 6: Otto bemerkt, der Prophet Jesaja sei durch das Gefühl, vor dem Thron Gottes »vergehen zu müssen« nicht »irreligiös«, sondern eben gerade im höchsten Maße vom Göttlichen affiziert. 217 AHG, 88. 218 AHG, 81. 219  Vgl. AHG, 80. 220 Der Mensch wird also nicht zu einem »Wesen höherer Ordnung hinausgehoben« und »die Zahl seiner psychischen Vermögen« wird nicht vermehrt (vgl. AHG, 80). Otto weist dabei ausdrücklich darauf hin, dass L ­ uther in diesem Zusammenhang äußerst missverständlich

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Ist einmal im Glauben an die Gewissheit der liebenden Annahme des Menschen durch Gott das frühere Gefühl der Angst im Erleben der restlosen Unterscheidung von Geschöpf und Schöpfer überwunden, bleibt der Glaube stets – wie Otto bei ­Luther herausstreicht – dennoch für das im Menschen angelegte religiöse Grundgefühl der eigenen Nichtigkeit und Angst transparent. Auch im Glauben besteht weiter das »nur zwischen Geschöpf und Schöpfer mögliche Empfinden, das nichts anderes ist als das durch das Bewusstsein der Versöhnung verklärte allgemein-religiöse Gefühl, ›Staub und Asche‹ zu sein«.221

Jenes Gefühl sorgt dafür, dass selbst in »vollkommenster Erhebung« zu Gott im »kindlichen Vertrauen dennoch Gott immer Gott bleibt« und dem Menschen gerade in jener gläubigen Gottesnähe stets zugleich auch in jener schauervollen, an Angst erinnernden Weise begegnet, die Otto später als Gefühl für das »Ganz andere«, als »mysterium tremendum« beschreibt.222 Die religionspsychologischen Grundlagen von Ottos späterer Deutung von Momenten der Angst im religiösen Erleben zeichnen sich hier schon deutlich ab.223 Aus dem nur schemenhaft rekonstruierbaren Studienverlauf Ottos ist die Wahl und Durchführungsweise seines Promotionsthemas nicht eindeutig herzuleiten. Zwar gibt Otto in der Einleitung seiner Arbeit die fachlichen Impulsgeber seiner Lutherinterpretation namentlich an,224 jedoch erklärt sich hieraus noch nicht die generelle Wahl eines Lutherthemas und die in Ottos Fall charakteristische Zuspitzung auf die Frage nach der theologischen Bedeutung religiösen Erlebens. Wie bereits angedeutet, ist es wohl am ehesten der Einfluss von Hermann Schultz, der hier durchschlägt und die Fragestellung nach dem religiösen agiert, indem er die natürlichen und eigenständigen Fähigkeiten des Menschen an vielen Stellen stark geringschätzt und abwertet: »Er nimmt dem natürlichen Menschen alles und betont die Notwendigkeit und Ausschliesslichkeit des Waltens des Geistes mit solchem Nachdruck, dass es von hier aus am allerunmöglichsten scheint, zu vermuten, dass spiritus sanctus nicht ein eigentlicher und integrierender Bestandteil seiner religiösen Gedankenwelt sein sollte« (AHG, 79). Dennoch liegt laut Otto die Sache bei L ­ uther anders – er sieht gerade eine »Korrelation« der Begriffe »homo naturalis und spiritus sanctus« bei L ­ uther angelegt, die gerade nicht bedeutet, dass der »Mensch mit seinen ›eigenen‹ ›natürlichen‹ Kräften nichts vermöge in geistlichen Dingen.« (vgl. AHG, 78 f). 221  AHG, 88. Jene religiöse Grundstimmung aller Menschen sieht Otto bei L ­ uther besonders intensiv ausgeprägt und in allen Werken präsent. In De servo arbitrio ist sie nach Meinung Ottos jedoch besonders stark »kulminiert« (ebd). 222 Vgl. AHG, 88. 223 Vgl. hierzu grundlegend: Barth, Das Psychologische, 378 ff, sowie Ders., Systematische Luther­deutung, 71. 224  Otto benennt seine Abhängigkeit von: Ritschl, Harnack, Loofs, Eichhorn, Herrmann, Reischle, Schultz und Thieme (vgl. AHG, 3). Stephan Feldmann hat schlüssig herausgearbeitet, dass seit den 1880er Jahren insbesondere im Umfeld Ritschls eine regelrechte Debatte um die Bedeutung des Heiligen Geistes geführt wurde, der wohl auch Ottos Dissertationsprojekt entstammt (vgl. Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 207).

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Grunderlebenis in Verbindung mit dem Bestand klassischer Dogmatik angeregt hat.225 Es ist jedoch nicht unwahrscheinlich, dass auch die früheren Lebensjahre Ottos in seiner Arbeit durchschlagen. Die bleibende Prägung der streng lutherischen Herkunft und Frömmigkeit schwingt eindeutig noch mit, wenn Otto sich gerade in der Frage nach den Grundlagen von ­Luthers religiösem Erleben »zu den Kindern der lutherischen Reformation« rechnet.226 Das sich durch die ganze Arbeit ziehende Interesse für »das religiöse Grunderlebnis« und für »das Zustandekommen und Bestehen der religiös-sittlichen Gemüts‑ und Willenszustände, des ›neuen Lebens‹«, welches Otto als »das religiöse Grundproblem selber« versteht, deutet vielleicht nicht nur auf Schultz’ Apologetik,227 sondern auch auf eine Auseinandersetzung mit den Inhalten seiner Erlanger Studienjahre hin.228 Ganz gleich, ob man die grundlegende Fragestellung Ottos in seiner Untersuchung von L ­ uthers Pneumatologie bis in seine Erlanger Studienzeit zurückverfolgen oder  – und dies entspricht letztlich auch Ottos eigenen Angaben – sie im Umfeld Göttingens suchen mag,229 steht fest, dass er sich bereits in der Durchführung seiner ersten akademischen Arbeit als innovativer und eigenständiger Denker erweist, indem er aus seiner Lutherlektüre heraus die Grundzüge einer am Geistbegriff entwickelten Theorie religiösen Erlebens entwirft. Freilich ist das ein kühnes Unterfangen für einen angehenden Licentiaten, was der Korreferent Paul Tschackert in seinem sonst sehr wohlwollenden Zweitgutachten zur Dissertation Ottos mahnend zur Kenntnis nimmt.230 Mit 225 Schultz war nicht nur der wichtigste Mentor und Förderer Ottos, sondern übernahm auch das Erstgutachten der Dissertation (vgl. das Gutachten von Hermann Schultz in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Theol. Prom. 0136, 37 f). 226 AHG, 1. 227  Vgl. z. B. die Annahme des Gefühls für das »Mysterium« als Grund für ein »neues göttliches Leben« in Schultz, Grundriss der christlichen Apologetik, 22. 228 Vgl. AHG, 1. Für eine Verbindung der sogenannten Erlanger Erfahrungstheologie mit einer systematisch-theologischen Auseinandersetzung mit L ­ uther könnte auch sprechen, dass Ottos Erlanger Lehrer der Kirchengeschichte ausgewiesene Lutherexperten waren (Reinhold Seeberg, der Ottos Dissertation dann auch mit einer längeren Rezension bedachte, sowie Theodor von Kolde, der u. a. durch seine Zweibändige Lutherbiographie bekannt wurde). Mit etwas Phantasie könnte man die Themenwahl Ottos sogar mit einem Diktum Franz Hermann Reinhold von Franks in Zusammenhang bringen, das sinngemäß besagt, ­Luther sei sich über das Verhältnis von Geist und Wort nie klar geworden (vgl. Winter, Die Erlanger Theologie, 185 ff, mit Bezug auf Franks Theologie der Concordienformel, Bd. I, 128 f). 229  Vgl. zu dieser – überaus plausiblen – These erneut die Überlegungen zu Ottos Rezeptions Ritschls im Kontext seiner Dissertation bei Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 207–214. 230 Zunächst findet der besonders als Kirchenhistoriker begutachtende Tschackert in seinem Korreferat nur lobende Worte. Er hebt das »Talent« und die »Phantasie«, ja den »Mut« Ottos hervor und schreibt über dessen Untersuchung, die er »außerordentlich anziehend« findet: »Ja man kann wohl sagen, ihr Verfasser zeigt die erfreulichsten Ansätze zu originaler Gedankendiktion: er übernimmt nicht blos, er reflektiert auch nicht blos über Gegebenes, sondern kraft einer lebendig sprudelnden Aufklärungskraft schafft er Neues.« (vgl. Correferat zu Cand. Otto’s Abhandlung »Spiritus sanctus bei L ­ uther.«, in: Universitätsarchiv der Univer-

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dem Erstgutachter Hermann Schultz ist sich Tschackert jedoch insgesamt über die außergewöhnliche Innovationskraft und theologische Selbstständigkeit des Kandidaten einig.231 Zwar entspricht Ottos Vorhaben in Grundzügen dem Programm der Luther­ deutung Albrecht Ritschls und seiner Schule in dem Versuch, L ­ uther aus den traditionellen Schemata der lutherischen Schultheologie und Orthodoxie herauszulösen und in einer dogmatischen Studie kritisch und neu zu lesen. Jedoch geht Otto in seiner Hinwendung zu der psychologisch-emotionalen Dimension religiösen Erlebens einen durchaus eigenen Weg.232 Die in seinen späteren Studien zu L ­ uther deutlich hervortretende »negative« Dimension des Gottesbewusstseins – z. B. im Begriff des »Zornes Gottes« – ist bereits in Ottos Dissertation greifbar und markiert einen entscheidenden Punkt seiner Untersuchung: Die im Geistbegriff ­Luthers sich schemenhaft andeutende Erfahrung sität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Theol. Prom. 0136, 40–43, Hervorhebung im Original unterstrichen). Dabei befürchetet Tschackert allerdings, dass Otto seine »eigene Lehre von der nova vita« zu sehr in L ­ uthers Lehre hineinliest. Er rät Otto schließlich am Ende des Korreferats, dass er sich nicht »auf dogmatischen Gebiete schon prinzipiell fest legt, wo er erst lernen soll.« (ebd., Hervorhebung im Original unterstrichen). 231  Vgl. das durchweg positive Erstgutachten von Hermann Schultz (abgedruckt in Ulrich, Hermann Schultz’ »Alttestamentliche Theologie«, 202–204, in dem besonders die dogmatischen Kompetenzen Ottos gewürdigt werden (vgl. a. a. O., 204). 232  Vgl. zur Luther­deutung Ritschls und seiner Schule grundlegend Hofmann, Albrecht Ritschls Lutherrezeption, 22 und hierzu insbesondere im Hinblick auf die Lutherbilder seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Bornkamm, L ­ uther im Spiegel, 52 ff. Die markante Differenz Ottos gegenüber Ritschl liegt nicht zuletzt in der Bewertung jener angstvollen Momente religiösen Erlebens in L ­ uthers Theologie, die Otto später »Kreaturgefühl« nannte. Ritschl hatte jene »dunklere[n] Züge des späteren L ­ uther (Deus absconditus, Anfechtungstheologie, die Lehre vom Zorn Gottes) als unreformatorisch« abgetan (vgl. Hofmann, Albrecht Ritschls Lutherrezeption, 27, Klammer im Original). In der Frontstellung Franks und Ritschls, die sich massiv auch an der Deutung L ­ uthers entzündete, muss Otto die Differenz der theologischen Schulen Erlangens und Göttingens eindrucksvoll aufgegangen sein, die sich nicht zuletzt auch um die für Otto interessante Frage der »absolutheit Gottes« bei L ­ uther drehte (vgl. dazu Hofmann, a.a.O, 143). In den Rezensionen zu Ottos Lutherbuch spiegelt sich die Frontstellung zwischen Erlangen und Göttingen wieder: Der konservative Lutherforscher und Erlanger Lehrer Ottos, Reinhold Seeberg, kritisiert ausführlich in erster Linie die Unzulänglichkeiten in der historischen Ausarbeitung von Ottos Studie und bemängelt überdies grundsätzlich das neue »litterarische Genre« dem er die Arbeit zuordnet (vgl. Seeberg, Rez. Neue Kirchengeschichte, 470). Der damit gemeinte Versuch, »die dogmatischen Überzeugungen des betreffenden Autors« und seine »religiöse[n] Weltanschauung« in eine Lutherstudie einzuflechten, muss Seeberg als Vergewaltigung ­Luthers empfinden (ebd.). Der 1904 bis 1906 kurzzeitig auch in Göttingen lehrende und später mit Otto freundschaftlich verbundene Ferdinand Kattenbusch – ein Ritschlschüler – beurteilt hingegen die »sehr werthvolle Arbeit« Ottos bezeichnenderweise genau andersherum: Gerade der dogmatische Anspruch Ottos, den er an L ­ uther heranträgt, habe ihn »gefesselt von der ersten bis zur letzten Seite«, weil er der Frage nachgegangen sei, »was L ­ uther’s Gedanken für uns bedeuten, was sie ›uns zu denken geben‹« (vgl. Kattenbusch, Rez. R. Otto, 708.). Sehr verständnisvoll und wohlwollend schließt sich Kattenbusch daher dem frömmigkeitstheoretischen Interesse von Ottos Lutherstudie in weiten Teilen an (vgl. a. a. O., 708–712).

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eines angstvollen religiösen Grundgefühls der eigenen Kreatürlichkeit, hinter der die traditionellen trinitätstheologischen Spekulationen über den Geist eigentümlich zurücktreten.233 In seiner Wertschätzung dessen, was er später das Moment des »Irrationalen in der Idee des Göttlichen« nennt, unternimmt Otto jedoch keine gewaltsame Psychologisierung von L ­ uthers Geistverständnis, wie Regin Prenter kritisiert, sondern macht vielmehr auf die Komplexität und Vielschichtigkeit der religiösen Wirklichkeit aufmerksam, die in L ­ uthers Geistverständnis sichtbar wird, indem sie sowohl traditionell-theologische, wie eben auch psychologische Elemente des religiösen Erlebens umfasst.234 Ottos Interesse gilt besonders der rätselhaften und unabweisbaren Begegnung mit dem Überweltlichen, die im empirischen Erleben des Menschen subjektiv empfunden wird. Brisant ist dabei Ottos Beobachtung, dass sich – allen modernen erkenntnistheoretischen Einwänden wider eine supranaturale Auffassung des Geistwirkens zum Trotz  – im religiösen Erleben ein quasi-supranaturales Empfinden der Begegnung mit dem Göttlichen einstellt. Metaphysisch mag die Vorstellung eines Wirkens des göttlichen Geistes in der Moderne zwar erledigt sein – jedoch empirisch-psychologisch ist sie es nicht: In angstvollen Momenten religiöser Stimmungen wird die Unterscheidung von Mensch und Gott geheimnisvoll und intuitiv als wirkliche Realität im Gefühl erlebt.235 Es handelt sich dabei nicht um eine subjektive Illusion, sondern um ein der Religion überhaupt zu Grunde liegendes Urerlebnis, das den rationalen Gedanken eines supranaturalen Wirkens letztlich als eine nachträgliche Fehldeutung des tatsächlich auf mysteriöse Weise im empirischen Gefühl selber beschlossenen »numen praesens« herausstellt. Dieses numen wirkt also nicht aus einem fernen Jenseits in das 233  Hans-Walter Schütte nennt dies eine »Verschränkung von theologischen und anthropologischen Komponenten« (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 17). Zu dieser Pointe von Ottos Untersuchung vgl. Kattenbusch, Rez. R. Otto, 709. 234 Regin Prenter versteht seine Schrift Spiritus creator von 1944 als Nachweis der über fast alle Epochen der Theologiegeschichte seit ­Luther sich zeigenden Fehlinterpretation und Verwässerung von L ­ uthers Geistverständnis. In der Interpretation Ottos sieht Prenter einen »psychologischen oder moralischen Spiritualismus einer modernen Gegenwart«, der fälschlicherweise gewaltsam in L ­ uthers Werk hineingelesen werde und meint demgegenüber »richtiger und sachgemäßer« L ­ uthers Geistverständnis als »kräftigen pneumatischen Realismus«, den er überdies als den »biblischen« ansieht, herausgearbeitet zu haben (Prenter, Spiritus creator, 204). Prenter wirft Otto vor, er unternehme den Versuch, den Begriff des heiligen Geistes in Folge einer erfahrungstheologischen Operation »völlig zu eliminieren« (a. a. O., 170) oder zu bagatellisieren (a. a. O., 110) und sieht hier durchweg »antimetaphysischen […] Ritschlianismus« am Werke (a. a. O., 334 f, Anm. 23). Seine eigene Studie sieht Prenter demnach – sicher zu Recht – als Ottos Luther­deutung »diametral entgegengesetzt[es]« Unternehmen an (a. a. O., 203). Prenters heftige konservative Kritik an Otto übersieht jedoch, dass es Otto gerade in den von Prenter kritisierten Passagen seiner Arbeit um die Grundlagen eines frömmigkeitstheoretischen bzw. religionspsychologischen Zugriffs geht, der gerade kein Beitrag zu einer historischen Rekonstruktion von L ­ uthers Geistverständnis sein kann und will. 235 Ulrich Barths hier passender Begriff des »geläuterten Supranaturalismus« wurde bereits genannt (vgl. Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 40).

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natürliche Empfinden hinein, sondern es ist Alles in Allem – das Erleben und das Erlebte zugleich. Geist ist nichts über das »Fleisch«, über die Empirie von außen Hereinbrechendes, sondern Geist ist bei Otto das die gesamte Empirie auf geheimnisvolle Weise Umfassende und Durchdringende, er ist die Wirklichkeit religiösen Erlebens selbst. Ottos frühe Versuche, »Anschauungen über das religiöse Grunderlebnis« im Anschluss an ­Luther einzuholen236 und dabei den Schwerpunkt auf die empirisch-psychologische Ebene des Erlebens zu legen, setzt sich in seinen späteren Werken fort.237 Ottos Dissertation führt ihn damit zu einem Geistverständnis, das die Religion als Ort der geheimnisvollen Begegnung mit dem Göttlichen als dem in allem Sein Wirksamen beschreibt und sowohl naturalistischen Reduktionismus wie traditionellen Supranaturalismus vermeiden will.238 Das paradoxale Gottesbild, das Otto bei ­Luther herausarbeitet, hebt dabei in der intuitiven Erfassung der Unterscheidung von Mensch und Gott als Kreatur und Schöpfer im Gefühl der eigenen Nichtigkeit und Kreatürlichkeit Stimmungen hervor, die an Erfahrungen der Angst erinnern.239 Der vielleicht entscheidende Grundpfeiler der Theologie Ottos wird demnach in der Dissertation schon programmatisch als Erlösungslehre deutlich: Ottos Gottesbild umfasst im Kern die Idee der göttlichen Allwirksamkeit, die gerade in Momenten der Angst und der Fremdheit Gottes als dem »Ganz anderen« in unnahbarer »majestas« aufbricht, zugleich aber auch in ihrem erhaltenden, erlösenden und sühnenden Willen und Wirken erlebt wird, um erst dann im Evangelium wiederentdeckt, erkannt und erfüllt zu werden. Systematisch entfaltet und mit den später berühmt gewordenen Begriffen belegt, hat Otto jenen Grundgedanken in seinem fast zwanzig Jahre später er236 AHG,

1. Begriff des Heiligen Geistes scheint auf den ersten Blick in den späteren Werken Ottos etwas in den Hintergrund zu treten. Dies ist jedoch ein Trugschluss: Obwohl Otto systematisch keine eigene Pneumatologie ausarbeitet, ist der Geistbegriff das vielleicht entscheidende Fundament seines Gesamtwerks, wie allein die berühmte Schlusspassage des Hauptwerks erkennen lässt (vgl. DH23–25, 204 f). Ausführlicher zu Ottos Geistverständnis vgl. den Aufsatz Geist und Fleisch in SU, 12–24. Zur Deutung von Ottos Gesamtwerk vom Geistbegriff her vgl. Boozer, Rudolf Otto, 378. 238 Hans-Walter Schütte beschreibt diesen Sachverhalt bei Otto als »eigentümliche Dialektik«, der zufolge religiöses Erleben »in unaufhebbarer Weise auf deren Gegenstand bezogen« ist, der sich zugleich »als ihr Grund erweist«. Damit ist »Das äußere Rätsel der Religion« – so Schütte – »zum Rätsel der inneren Bedingungen der Religion geworden.« (Schütte, Religion und Christentum, 14 f). 239 In seinen späteren Werken hebt Otto bezeichnenderweise genau jene Abschnitte in seiner Dissertation rückblickend hervor, die den in DH entwickelten Gedanken des »Kreaturgefühls« als angstvolles religiöses Erleben der eigenen Nichtigkeit gegenüber der göttlichen Majestät umschreiben. Vgl. in diesem Sinne z. B. SU, 33 ff, wo Otto eine ganze Passage aus AHG erneut – mit einigen stillschweigenden Änderungen – abdruckt und das Phänomen religiösen Angsterlebens mit sündentheologischen Überlegungen verknüpft. Weitere explizite Bezugnahmen auf die Dissertation unternimmt Otto in AN1, Kap. 10 und 11, sowie SU, 34 ff, 44 ff und 219 ff. 237 Der

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scheinenden Hauptwerk Das Heilige, in dem die Luther­deutung erneut eine zentrale Rolle spielt. Es ist daher lohnend, schon hier einen eigenen Abschnitt der Luther­deutung Ottos in Das Heilige zu widmen. 1.2. Ottos Lutherrezeption in Das Heilige Nach der Erlangung der Licentiatenwürde im Juli 1898 verlieren sich die heute noch greifbaren Anhaltspunkte zu Ottos Auseinandersetzung mit ­Luther in den Jahren bis zum Erscheinen seines Hauptwerks Das Heilige gegen Ende der Breslauer Professorenzeit von 1915 bis 1917. Von einer einzigen Lehrveranstaltung abgesehen, scheint Ottos öffentliche Beschäftigung mit L ­ uther zunächst zugunsten anderer Themen zurückzutreten.240 Dennoch bekennt Otto ausdrücklich, dass sich ihm die grundlegenden Einsichten seiner späteren Werke aus seinen Lutherstudien und damit seit der fast 20 Jahre zurückliegenden Dissertation in besonderer Weise nahegelegt haben.241 Und tatsächlich ist ­Luther in Ottos Hauptwerk präsent wie keine andere Referenz.242 Besonders am Beispiel L ­ uthers hat Otto in Das Heilige das bereits in der Dissertation entdeckte »Grundgefühl« religiösen Erlebens systematisch entfalten und darstellen können. In seinen berühmt gewordenen Begriffen des »mysterium tremendum« und des »Kreaturgefühls« kommen die bei ­Luther entdeckten angstvollen Momente der Begegnung mit dem Göttlichen ausführlich zur Sprache. Es zeigt sich, dass die seit der Dissertation unternommenen Lutherstudien Ottos geradezu das Fundament für seine theologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der 240 So wird im Göttinger Vorlesungsverzeichnis angegeben, dass Otto »privatissime und unentgeltlich« im Sommersemester 1899 ein »Conversatorium über die reformatorischen Grundgedanken ­Luthers in ihrer Entwicklung an der Hand seiner Hauptschriften« angeboten hat (vgl. Verzeichnis der Vorlesungen auf der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen während des Sommerhalbjahrs 1899, Göttingen 1899, 5). Freilich ist jedoch anzunehmen, dass Otto in den Göttinger Jahren bis 1915 dennoch seine Lutherstudien durchgehend vorangetrieben hat. Die Passagen zu ­Luther in Das Heilige von 1917 sind jedoch die ersten ausführlicheren Zeilen Ottos über L ­ uther, die er seit der Dissertation veröffentlichte. 241  Vgl. DH1, 104: »Ja, an L ­ uthers de servo arbitrio hat sich mir das Verständnis des Numinosen und seines Unterschiedes gegen das rationale gebildet, lange bevor ich es im Qādoš des Alten Testamentes und in den Momenten der ›religiösen [Sch]eu‹ in der Religionsge­[sch]ichte überhaupt wiedergefunden habe.« Die an diese Bemerkung sich anschließende Fußnote mit einem Verweis auf die »Anfänger-Schrift« von 1898 ist in den ersten Auflagen noch nicht vorhanden. Von ihr sagt Otto demnach später, schon hier seien ihm »die irrational-numinosen Einschläge in L ­ uthers und jedem echten Gottes-begriffe« deutlich gewesen (vgl. DH23–25, 123, Anm. 1, und außerdem DH23–25, 129). 242 Zur bibliographischen Präsenz ­Luthers in DH »vor Schleiermacher und Kant« vgl. Dietz, Die L ­ uther-Rezeption, 77. Die lebenslange Auseinandersetzung mit ­Luther zeigt sich auch in den Überarbeitungen des Hauptwerks. In den zahlreichen Auflagen von DH ist das Lutherkapitel immer wieder modifiziert und ergänzt worden. Hinzu kam ein Abschnitt zu ­Luthers Verhältnis zur Mystik in den »Beilagen« zu Das Heilige, der dann später neben anderen Studien zu L ­ uther seine letzte Gestalt im Aufsatzband Sünde und Urschuld fand (vgl. den Aufsatz ­Luthers Rechtfertigungslehre und die Mystik, in: SU, 178–184).

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Angst im Kontext religiösen Erlebens bilden. Die für eine theologische Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion interessanten Spuren der Luther­ deutung im Hauptwerk Ottos werden daher im Folgenden anhand einiger Beispiele vorgestellt.243 Gleich die erste Bezugnahme auf L ­ uther in der Erstauflage von 1917 hat das Phänomen religiöser Angst und Furcht konkret zum Thema und scheint direkt in Fragestellungen der Dissertation zurück zu führen: »Wenn ­Luther sagt, daß der natürliche Men[sch] Gott nicht fürchten könne, so ist das nicht nur, auch psychologi[sch] angesehen, völlig richtig, sondern es ist noch hinzuzusetzen, daß der natürliche Men[sch] sich nicht einmal im eigentlichen Sinne des Wortes grauen kann.«244

Otto nimmt hier auf die schon in seiner Licentiatenarbeit behandelte Vorstellung des »natürlichen Menschen« bei L ­ uther Bezug.245 Otto interpretierte L ­ uther damals so, dass jeder Mensch auch »vor der Offenbarung Gottes« als »naturalis homo« trotz seines rein »empirisch-psychischen« natürlichen Wesens auf eigentümliche Weise dazu veranlagt sei, »Gottes zu vernehmen, durch die religiöse Vorstellung in seinem Empfinden erregt zu werden«.246 Otto greift diesen Gedanken nun in Das Heilige wieder auf, spitzt ihn jedoch religionspsychologisch zu, indem er die in der Dissertation beschriebene »Anlage« für religiöses Erleben von der Fähigkeit empirischen »natürlichen« Fühlens unterscheiden und gesondert untersuchen will: Der »natürliche Men[sch]« steht nun als Begriff für die empirisch-psychologischen Eigenschaften des Menschen in innerweltlichen Bezügen und Objekten. Die über jene »natürlichen« Gefühle hinausgehenden religiösen Gefühle will Otto – wie in Ansätzen auch schon in der Dissertation – in besonderer Weise in den Blick nehmen. Hätte der Mensch jene über sein »natürliches« Erleben hinausgehenden Gefühlsanlagen nicht, könnte er – so folgert Otto – nur »natürliche, gewöhnliche Furcht« empfinden, nicht aber jenes besondere an Furcht erinnerndes Gefühl, das Otto als »Grauen« beschreibt.247 Im klassischen Begriff der »Gottesfurcht« ist jene besondere Kategorie religiösen »Grauens« nach Ottos Auffassung besonders eindrücklich überliefert: »Ich brauche nicht darauf hinzuweisen, wie auch im Alten Testamente 243

 Hauptgrundlage der Untersuchung ist die Auflage letzter Hand von 1936 (23.–25. Aufl.). Zur Rekonstruktion gerade der frühen Konzeption von Das Heilige werden jedoch auch frühere Auflagen (bes. DH1 und DH2) verwendet. 244 Vgl. den Absatz zu ­Luther in DH1, 16. Die Zeichenfolge »[sch]« bzw. »[Sch]« wird im Folgenden an den Stellen gesetzt, an denen Otto in den ersten Auflagen von DH den sprachlichen Reformvorschlägen Eugen Diederichs folgte, indem er den Laut »sch« durch eine neue Type – ein mit senkrechtem Strich versehendes »s« – darstellte (vgl. in der Kultur‑ und Reformzeitschrift Die Tat, Jg. VIII (1916), Heft 10) . 245 Vgl. AHG, 80 f und besonders 88 f. 246 Vgl. AHG, 89 und in weiteren Zusammenhang 78–89. 247 DH1, 16.

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die ›Furcht vor Jahveh‹ noch gelegentlich die Züge eines primitiven ›Grauens‹, ja ›Grausens‹ an sich trägt.«248 Für Otto hängt demnach jede Form der Frömmigkeit von einer Erlebnisfähigkeit ab, die den Menschen über sein »natürliches« Wesen hinaus auszeichnet, »ein erstes Werten nach einer Kategorie, die nicht im übrigen, gewöhnlichen, natürlichen Bereiche liegt und nicht auf Natürliches geht«.249 Es handelt sich dabei um ein Vermögen, das »nur dem möglich [ist], in welchem eine eigentümliche, von den ›natürlichen‹ bestimmt ver[sch]iedene Anlage des Gemütes wach geworden ist, die sich zunächst nur zuckend und roh genug äußert.«250

Otto schwebt mit jenem intutiven »Werten« und »Wittern des Mysteriösen« offensichtlich ein Erkenntnisvorgang von geradezu transzendentaler Qualität vor, der sich nicht psychologisch, sondern qualitativ von jedem gewöhnlichen Fühlen und Erfahren unterscheidet. ­Luther fungiert in diesem Zusammenhang als Beispiel für einen besonders eindrücklichen Träger eines solchen zum »Grauen« – zur numinosen »Scheu«, wie Otto es später nennt  – veranlagten Gemüts und ist nach Ottos Auffassung zugleich einer der wohl bedeutendsten Theoretiker desselben. Otto nimmt in Das Heilige eine gewisse Radikalisierung von L ­ uthers Begriff des »homo naturalis« gegenüber seiner früheren Einschätzung vor, indem er ihn nun allein auf die profanen Eigenschaften des Menschen bezieht. In der Dissertation konnte Otto den »natürlichen Menschen« noch als »eminent ›religiös‹« bezeichnen und war weit davon entfernt, ihm die Fähigkeit zur Gottesfurcht abzusprechen.251 Die Vorstellung des »homo naturalis« schloss hier die Anlage zum religiösen Empfinden, zum »Eindrucke Gottes« noch ausdrücklich ein.252 In Das Heilige hingegen scheint L ­ uthers Rede vom natürlichen Menschen dies gerade auszuschließen, da Otto ihm hier die Fähigkeit zum »Grauen« und zur Gottesfurcht rigoros abspricht.253 Doch nicht nur diese Auffälligkeit in der Interpretation von ­Luthers Begriff des homo naturalis, sondern auch der hiermit geschilderte Problemzusammenhang scheint erklärungsbedürftig zu sein, was sich schon dadurch andeutet, dass die betreffende Stelle in den folgenden Auflagen von Das Heilige mehrmals überarbeitet wurde.254 Der Grund könnte in einer gewissen Missverständlichkeit liegen: Leicht kann hier der Eindruck entstehen, Otto wolle im Rück248 DH1,

16. 16. 250 DH1, 16. 251 AHG, 88 (vgl. dazu oben im Zweiten Teil, Kap. II, 1.1.). 252  AHG, 88. 253 DH1, 16. 254 Schon in der zweiten Auflage von Das Heilige nahm Otto einige kleinere Änderungen vor. Nach einigen Präzisierungen ist die geschilderte Passage zur Furcht des »natürlichen Menschen« 249 DH1,

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griff auf L ­ uther zwischen zwei psychologisch verschiedenen Menschentypen unterscheiden, nämlich einem »natürlichen«, also einem psychologisch nicht‑ oder vorreligiösen Menschen, und einem dem Numinosen geöffneten, religiösen Menschen. Versteht man jene Unterscheidung als rein psychologische Aussage, muss sie irritieren, denn sie legt die absurde Annahme nahe, im Menschen gäbe es zwei getrennt operierende psychologische Naturen, eine natürliche und eine übernatürliche. Wie sich jedoch im weiteren Zusammenhang herausstellt, zielt Otto in eine andere Richtung. Seine Auffassung ist die, dass gerade in der rein natürlichen Psyche des Menschen, in die keine übernatürlichen Prozesse supranatural eingreifen, zuweilen Ahnungen und Stimmungen entstehen, die über ihre rein natürlich-psychologische Gestalt hinausweisen. Sie werden als eine Begegnung mit einem rational nicht fassbaren, übernatürlichen Objekt erlebt und bewertet. Es handelt sich also um eine Bewertungs‑ und Deutungskategorie, die Otto schon in der Dissertation »Geist« nannte. Dieser Sachverhalt wird anhand der geschilderten Stelle in der Erstauflage von Das Heilige jedoch noch nicht vollends deutlich, sodass es nicht verwundert, dass Otto gerade an diesem Punkt sogleich kritisiert wurde. Rudolf Bultmann, der zu Otto in der gemeinsamen Breslauer Zeit noch ein gutes und kollegiales Verhältnis pflegte, bezieht sich 1918 in einem langen Brief mit Anfragen und kritischen Bemerkungen zu Ottos Buch genau auf jene genannte Passage zu ­Luthers »natürlichem Menschen« und erhebt Einspruch:255 »Ich erblicke nur die Beschreibung psychologischer Zustände, von denen ich zwar sehen kann, daß sie eine solche Tendenz [zur Erfassung der Wirklichkeit der Religion] begleiten können, aber nicht, dass sie diese Tendenz sind.«256

Bultmann fragt: »Warum gilt dies Gefühl [des Grauens] nicht als »natürlich« im Unterschied von »natürlicher Furcht«? Warum »diese »natürlich« sein soll, jenes nicht«, will Bultmann ebenso wenig einsehen wie Ottos Aussage, dass »der ›natürliche‹ Mensch sich nicht grauen« könne.257 Bultmann bestreitet also, dass man einem »numinosen Erlebnis« schon empirisch ansehen kann, dass es etwas bei ­Luther an dieser Stelle schließlich später ganz gestrichen worden (vgl. die schließliche Endgestalt der Textpassage in der Ausgabe letzter Hand von 1936 in DH23–25, 16 f). 255 Vgl. den in Schütte, Religion und Christentum, 130–139 abgedruckten Brief Bultmanns vom 6. April 1918. Bultmann bezieht sich ausdrücklich auf den hier verhandelten Abschnitt zu ­Luther und der »Furcht« des »Natürlichen Menschen« auf Seite 16 der Erstauflage (DH1). Hans-Walter Schütte sieht Bultmanns Kritik in dem »eigentümliche[n] Missverständnis« einer psychologistischen Lesart Ottos begründet (vgl. Schütte, a. a. O., 118). Zu den Hintergründen des Briefs und der damaligen religionsphilosophischen Auseinandersetzung Bultmanns mit Otto vor dem Hintergrund des Neukantianismus vgl. Wittekind, Transzendenz und Mystik, 235–249, bes. 238 ff. 256  Bultmann, Brief an Rudolf Otto vom 6. 4. 1918, zitiert nach Schütte, Religion und Christentum, 131. 257 Vgl. Bultmann, Brief an Rudolf Otto vom 6. 4. 1918, zitiert nach Schütte, Religion und Christentum, 131.

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Besonderes, etwas auf Übernatürliches zielendes ist. Durchaus treffend merkt er an: »Als nicht ›natürlich‹ kann man das Gefühl [des »Grauens«] doch nur ansehen, wenn man voraussetzt, daß die Objekte, auf die es sich bezieht, nicht ›natürliche‹ sind.«258 Die Kritik Bultmanns kommt offensichtlich durch eine psychologische Lesart zustande, wie auch Hans-Walter Schütte vermutet:259 Bultmann scheint in den Ausführungen Ottos die Gefahr einer psychologischen Zweiteilung des menschlichen Bewusstseins in eine natürliche und eine übernatürliche Hemisphäre zu sehen, die später auch Paul Tillich bei Otto kritisiert.260 Auch wenn Bultmann die Intention Ottos an dieser Stelle sicherlich nicht direkt trifft, weil er sich die Unterscheidung von »natürlich« und »übernatürlich« zu sehr empirischpsychologisch vorstellt, deutet seine Anfrage jedoch auf einen kritischen Punkt in Ottos Gefühlstheorie hin, der – besonders im Kontext der Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion  – von Otto später immer wieder neu verteidigt, präzisiert und ausgebaut werden musste. Was Otto hier im Anschluss an L ­ uther tatsächlich beschreiben will, und in den folgenden Jahren immer weiter zu verdeutlichen versucht, wird vielleicht in einer Textänderung an der betreffenden Stelle in der zweiten Auflage von 1918 schon etwas deutlicher. Es geht ihm, wie er hier ergänzt, um eine »als solche schon völlig eigene, neue Erlebens‑ und Wertungsfunktion des men[sch]lichen Geistes«.261 Otto greift demnach offensichtlich auf ­Luthers Diktum vom »natürlichen Menschen« insofern zurück, als er zu zeigen versucht, dass sich religiöses Erleben – und mit ihm die Gottesfurcht, das »Grauen« – nicht aus den rein profanen, auf »natürliche« Bezüge gerichteten Gefühlen von selbst ergibt, sondern auf die Fähigkeit zurückgeht, jene natürlichen Gefühle in besonderer Weise auszurichten, zu deuten, sie als etwas Besonderes, eben nicht-natürliches zu bewerten. Es geht Otto also um die menschliche Gabe – und genau sie ist es, die schon in der Dissertation als Geist, als spiritus sanctus verstanden wurde – das Bewusstsein über seine natürlich-weltlichen Bezüge hinaus auf etwas Übernatürliches zu richten, das gleichsam nicht im natürlichen Sinne erfahren, sondern nur erahnt werden kann, da sein Wert und seine Gestalt jede rationale Fassbarkeit übersteigt. Der Mensch ist demnach von seiner Grundkonstitution, von seiner »Anlage« her dazu fähig, sein natürliches Menschsein intuitiv von einer übernatürlichen, göttlichen Wirklichkeit zu unterscheiden, der er sich auch ohne 258 Vgl. Bultmann, Brief an Rudolf Otto vom 6. 4. 1918, zitiert nach Schütte, Religion und Christentum, 131. 259 Schütte sieht in Bultmanns Kritik das »eigentümliche[n] Missverständnis«, Ottos Überlegungen als »Psychologismus« zu beurteilen (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 118). 260 Vgl. Tillichs Kritik an Otto in Tillich, Die Kategorie, 184–186. 261  Vgl. jenen gegenüber DH1, 16 ergänzten Satz in DH2, 17. Ob die Veränderung in der zweiten Auflage auch auf den im selben Jahr erhaltenen Brief Bultmanns und die darin geäußerten Anfragen zurückgeht, ist nur zu vermuten. Von einer Antwort Ottos auf Bultmanns Brief ist jedenfalls nichts bekannt oder erhalten.

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die christliche Botschaft und ohne den Glauben allein aus einem Gefühl heraus gegenübergestellt erlebt.262 In der restlos natürlichen, empirischen Bewusstseinskonstitution des Menschen liegt demnach die Eigenschaft eines transzendentalen Fühlens im Sinne einer besonderen Deutungs- und Bewertungsfunktion, das sich von jeder anderen »natürlichen« Art des Fühlens unterscheidet, da sein Objekt kein natürliches ist.263 Das menschliche Bewusstsein ist also dazu veranlagt, innerhalb des Natürlichen vor jeder Erfahrung eine Ahnung von einem über alle Erfahrungswirklichkeit hinausgehenden Übernatürlichen zu gewinnen, die dann als wirkliche Begegnung mit dem Göttlichen erlebt wird.264 Innerhalb des natürlichen Bewusstseins – in der Dissertation sprach Otto vom »Kausalnexus«, von einem »Vorgang empirischer, psychologischer Kausalzusammenhänge«265 – ereignet sich folglich eine Gefühlsregung, die als Begegnung mit einer über die empirische Wirklichkeit hinausgehenden Wirklichkeit bewertet wird und aus einem vor jeder Erfahrung liegenden Voreingenommensein resultiert. Die in der Licentiatenarbeit bei ­Luther entdeckte Formulierung des »natürlichen Menschen« benutzt Otto auch in späteren Auflagen seines Hauptwerks – wenn auch an anderer Stelle – weiterhin dazu, die menschliche Psyche minus jener religiösen Bewertungsfunktionen zu beschreiben. Es geht also um die religionspsychologische Abscheidung dessen, was »im Geiste« gefühlt wird, von dem, was rein weltbezogener »natürlicher« Affekt ist. Sicherlich geht es Otto dabei nicht – wie man im Sinne Bultmanns zuweilen meinen könnte – um eine Unterscheidung zweier Menschentypen, eines »natürlichen« und eines Geistbegabten, wenn er von der »majestas« Gottes als einem »Schrecken« spricht, »den der ›natürliche Mensch‹ nicht zu fühlen vermag.«266 Es geht ihm vielmehr um eine Beschreibungskategorie derjenigen Momente menschlichen Erlebens, in 262 Genau jenes Plus gegenüber der rein profanen Fühlensweise des »natürlichen Menschen«, die Unterscheidungsfähigkeit von einem Übernatürlichen, ist es, das Otto in seiner Dissertation bei ­Luther hinter dem Begriff des »spiritus sanctus« zu finden meinte. Der Heilige Geist ist dort »die göttliche Allwirksamkeit« (AHG, 106), die den homo naturalis über seine natürlichen Eigenschaften hinausbewegt, jedoch nicht, indem er supranatural in die Natur einwirkt, sondern, indem er als »das Innere alles Geschehens selber« (AHG, 105) erkannt wird. 263 In der grundsätzlichen Konzeption der Kategorie des Heiligen spricht Otto daher von einer »eigentümliche[n] Bewertung die so nur auf religiösem Gebiete vorkommt« (DH23–25, 5, kursiv im Original), also von einer Deutungs‑ und »Bewertungs-kategorie« (DH23–25, 7, vgl. dazu auch DH1, 5). 264  Am Begriff des »Ahnens« bzw. der Kategorie der »Ahnung« wird deutlich, dass zeitlich zwischen AHG und DH Ottos religionsphilosophische Studien zu Jakob Friedrich Fries liegen. Mit der Kategorie des »Ahnens« (Fries sprach von »Ahndung«) fand Otto bei Fries einen Ausdruck für jene Form des besonderen Fühlens, die sich von rein »natürlichem« Fühlen sowie von rationalem Denken unterscheidet: »Was aber das Begreifen nicht vermag, das Vermögen wir im Gefühl. Das Gefühl gibt uns zu Wissen und Glauben eine dritte Art von Erkenntnis, eine beide verbindende und zu Einheit bringende: das ›Ahnen‹« (vgl. KFR1, 83). 265 AHG, 101. 266 Vgl. DH23–25, 22 und in ganz ähnlicher Weise zur Unterscheidung des ›natürlichen Menschen‹ von dem, der »im Geiste« ist, DH23–25, 67.

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denen der Erlebende selber automatisch sein »natürliches« Fühlen von solchem unterscheidet, das sich auf ein der Natur jenseitiges, schlichtweg übernatürliches Objekt richtet. Besonders für Stimmungen der Angst ist Ottos Unterscheidung des »Natürlichen« vom »Übernatürlichen«, die er in seiner Luther­deutung entwickelt hatte, von fundamentaler Bedeutung. Wie sich in der soeben beschriebenen Passage in den ersten Auflagen von Das Heilige zeigt, ging Otto gerade am Beispiel ­Luthers auf, dass ein furchtsames, angstvolles »erstes Sicherregen und Wittern des Mysteriösen« im religiösen Erlebnis »nicht auf Natürliches geht«. Ganz anders als die »natürliche, gewöhnliche Furcht« richtet sich demnach religiöse Angst – das »Grauen« – auf ein schlechthin mysteriöses, übernatürliches Objekt.267 Die Pointe von Ottos theologischer Deutung der Angst wird also in den ersten Auflagen von Das Heilige in seiner Auseinandersetzung mit L ­ uther schon greifbar: Gewöhnliche Angst ist etwas Natürliches und hat ihren Grund und ihre Bezüge in natürlichen, das heißt, in empirisch-beschreibbaren Zusammenhängen, sie gehört in die Sphäre des »natürlichen Menschen« und ist für die Religion nicht weiter von Belang. Im religiösen Erleben sind Momente der »Angst« hingegen auf etwas gerichtet, was jenseits der empirischen Natur liegt: es ist das überweltliche »Ganz andere«, die Ahnung eines Wertes, der über alle vorstellbaren Werte hinaus geht. Daher ist religiöses Angsterleben – Otto nennt es meist »numinose Scheu« – von gewöhnlicher Angst grundlegend zu unterscheiden, obwohl beide als empirische Gefühle ohne eine supranaturale Einwirkung entstehen. Sie unterscheiden sich Aufgrund des Objekts auf das sie gerichtet sind: Im Falle natürlicher Angst auf einen weltlichen Reiz oder Gegenstand, bei der numinosen »Scheu« auf ein »Unding«, wie Otto sagt, ein übernatürliches »Ganz anderes«, welches es nach natürlichen Maßstäben eigentlich gar nicht geben kann. Natürliches und religiöses Fühlen sind dabei nicht zwei unterschiedliche Gefühlsvarianten, sondern sie unterscheiden sich in ihrer »Wertungsfunktion«, wie Otto in der zweiten Auflage seines Hauptwerkes präzisierte.268 Beide sind zwar psychisch-empirisch greifbare Regungen, gehören in ihrer Erlebensweise aber unterschiedlichen »Kategorien« an: Einerseits derjenigen der sinnlichen Erfahrung im kausalen empirischen Kontext des »Natürlichen«, zu dem sich der Erfahrende zunächst selber zählt, sowie andererseits derjenigen des rätselhaften Erahnens einer »Kategorie, die nicht im übrigen, gewöhnlichen, natürlichen Bereiche liegt«, und das Erlebte allein intuitiv als etwas schlechthin Mysteriöses »ganz anderes« deuten und bewerten kann, das nicht unter Begriffe fällt.269 Es handelt sich also um einen geradezu

267 Vgl.

DH1, 16. DH2, 17. 269 Vgl. DH1, 16. 268 Vgl.

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transzendentalen Vorgang intuitiven Bewertens und Voreingenommenseins vor jeder Erfahrung – hierauf ist an späterer Stelle näher einzugehen. Gerade in Ottos frühen Lutherstudien bildeten sich, wie schon diese ersten Überlegungen zeigen, die Grundzüge seiner Frömmigkeitstheorie und mit ihnen die Grundlagen seiner theologischen Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion heraus. Bekräftigt wird diese Annahme durch Otto selbst, wenn er schreibt, die im Aufbau des Hauptwerkes entscheidenden Eingangskapitel seien geradezu infolge der »Erinnerung an termini ­Luthers« entstanden. Besonders die angstvollen Grundgefühle des religiösen Erlebens, »das tremendum und die majestas« des Numinosen sind Otto, wie er sich erinnert, von seiner »ersten Be[sch]äftigung mit ­Luther her im Ohre geblieben«.270 Daher verwundert es nicht, dass Otto schon in der ersten Auflage von Das Heilige ein eigenes Kapitel zu ­Luther einrichtete und in den zahlreichen Neuauflagen immer wieder überarbeitete und ergänzte.271 Für eine theologische Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Angst und Religion sind hier besonders drei Grundgedanken interessant, die zugleich das Lutherbild Ottos in den wesentlichen Punkten zusammenfassen: Erstens die Bedeutung der Persönlichkeit L ­ uthers, zweitens das Moment des Paradoxen in ­Luthers Gottesbild und drittens L ­ uthers Verhältnis zur Tradition der Mystik. ­ uthers Persönlichkeit als Quelle seiner Theologie. Otto ist davon überzeugt, L dass ­Luther die Kerngedanken seiner Theologie und die Wurzel seiner Frömmigkeit nicht aus seinem akademischen oder kirchlichen Umfeld entlehnt oder erlernt hat, sondern dass es »ganz ursprüngliche Regungen des numinosen Gefühles selber« waren, aus denen er primär seine Lehre schöpfte.272 Im religiösen Erleben ­Luthers treten dabei Momente der Angst und Anfechtung besonders hervor und nehmen einen grundlegenden Platz in seinem Denken ein: »ganz persönliche geheimnisvolle dunkle fast unheimliche Hintergründe seiner Frömmigkeit von denen die klare Seligkeit und Freudigkeit seines Gnadenglaubens erst richtig abgehoben und auf deren Folie sie gesehen werden müssen wenn man sie selber nach ihrer vollen Kraft und Tiefe würdigen will.«273

270  Vgl. DH1, 104. Otto bezieht sich hier auf ­Luthers Begriffe der »divina majestas« und der metuenda voluntas«. 271 Vgl. DH1, 98–115 (Kap 14). Auch in den »Beilagen« späterer Auflagen von Das Heilige kamen Lutherstudien hinzu, so auch schon in der zweiten Auflage (Beilage 3) mit dem Titel Mystisches in L ­ uthers Glaubensbegriff (DH2, 201 f). Es handelt sich um die lange Fußnote zu ­Luther aus DH1, 109 f mit einem Rückbezug auf die Dissertation, die in DH2 aus dem Haupttext herausgenommen wurde. 272 Vgl. DH23–25, 120. 273 DH23–25, 119 (kursiv im Original). Um ein weiteres Mal kommt hier die Ablösung Ottos von der Lutherforschung seiner Zeit, insbesondere von der Ritschlschule, zum Ausdruck, wenn

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

­ uthers Theologie hängt demnach »eng mit seinem innersten und eigensten reL ligiösen Leben zusammen«, es bricht aus diesem nach Meinung Ottos regelrecht hervor.274 Dabei sind es in erster Linie »Abgründe und Tiefen«, die L ­ uther erlebt, es sind Momente der Angst, die »ihm das Herz verzagen machen«. Ausführlich beschreibt Otto jene düsteren Kapitel im Leben ­Luthers, die ihn als angsterprobten und angefochtenen Frommen darstellen. Es handelt sich bei ­Luthers Erlebnissen jedoch nicht um Ängste, die sich jenseits der Religion abspielen, sondern Gottes »›Unoffenbarkeit‹ in der schauervollen Majestät seines Gottseins selbst« wird mit einem schier unerträglichen Erzittern erlebt.275 Doch nicht in seiner Funktion als apokalyptischer Weltenrichter versetzt die Vorstellung Gottes in Angst, sondern es ist »deus ipse«, Gott selbst, der allein durch sein Gottsein die »Kreatur selber in ihrer ›unbedeckten‹ Kreatürlichkeit« versinken und erschauern lässt.276 Immer wieder verweist Otto in diesem Zusammenhang auf die für seine Luther­deutung wohl wichtigste Schrift des Reformators: De servo arbitrio.277 Was Otto hier beschrieben findet, ist seiner Meinung nach zugleich »die dunkle Folie für das gesamte Glaubensleben L ­ uthers.«278 Es handelt sich um Kontrasterlebnisse, die ­Luther zu einem ambivalenten Gottesbild führen: Gottes »gratia« steht zugleich seine »omnipotentia«, seine »divina majestas« gegenüber, er sich weigert, jene »Macht im Gemüts-leben ­Luthers« als »›apokryf‹, als ›scholastischer Rest nominalistischer Spekulation‹« abzutun (vgl. ebd.). 274 Vgl. DH23–25, 120. Otto scheint ­Luther also – wie einst in der Dissertation – auch in DH wieder als »Virtuose[n] und Heros der Religion« zu verstehen (vgl. AHG, 1.). 275 Vgl. DH23–25, 121. 276 Vgl. DH23–25, 121. Auch hier schwingt wieder Kritik an Albrecht Ritschl mit. Bei Ritschl wird die klassische Vorstellung von der Furcht und dem Zorn Gottes besonders auf die apokalyptische Bedrohung durch sein Richten und Strafen angesichts menschlicher Sünde zurückgeführt. 277 Vgl. insbesondere DH23–25, 120  ff. In dem forschungsgeschichtlichen Überblick von Klaus Schwarzwäller zur Rezeption von De servo arbitrio seit Theodosius Harnack ist demnach auch Otto vertreten (vgl. Schwarzwäller, Sibboleth, 35). Schwarzwäller macht hier zunächst besonders die Frontstellung Ottos zu Ritschls Deutung von De servo arbitrio deutlich. Die historische Bedeutung von Ottos Luther­deutung am Beispiel von De servo arbitrio sieht Schwarzwäller jedoch besonders darin, ­Luther wieder »theologisch ›salonfähig‹« gemacht zu haben (ebd.). Dies ist ausgesprochen kritisch gemeint, denn Schwarzwäller ist der Meinung, Otto habe ­Luthers Schrift weder verstanden noch ernst genommen, indem er das religiöse Erleben als Kernthema darin herausarbeitete. Schwarzwäller geht hier sicher zu weit. Mag man auch an Ottos Deutung der Lutherschrift kritisieren, dass sie äußerst unorthodox und frei mit dem Textbestand umgeht und damit ein eigenes theologisches Ziel verfolgt – dass Ottos Luther­ deutung letztlich nur auf der »Basis theologischer Behauptungen« beruht und damit geradezu einen Missbrauch von De servo arbitrio darstellt, scheint übertrieben. Die von Schwarzwäller auf nur einer Seite zusammengestellte Kritik wird überdies der Vielschichtigkeit von Ottos Schriften zu L ­ uther nicht gerecht – er beschränkt sich nur auf wenige Seiten in Das Heilige. 278 DH23–25, 126. Otto verweist hier besonders auf ­Luthers Predigten, Briefe und Tischreden, in denen jene »dunkle Folie« besonders zum Vorschein komme. Unter den Grundbegriffen von Angst und Furcht bestätigt Thorsten Dietz diese Einschätzung in seiner umfassenden Studie: Dietz, Der Begriff der Furcht. Vgl. hierzu die Ausführungen unten im Zweiten Teil, Kap. II, 1.5.

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die ­Luther immer wieder in Momenten »bangen Erschauerns seiner Seele« bis an den Rand der Verzweiflung bringt.279 Gerade der »Bauernsohn« in L ­ uther ist es, der nach Ottos Auffassung entgegen aller traditionellen Schultheologie das »uralte ›Unheimliche‹« als schauervolles »tremendum« in sich aufwallen sieht.280 Wirkungsgeschichtlich scheint sich Otto an dieser Stelle in gewisser Weise als Wiederentdecker von L ­ uthers Frömmigkeit zu sehen, ist er doch der Meinung, dass jene düstere Kategorie religiösen Erlebens in der Geschichte der Lutherrezeption weitgehend verloren gegangen oder geglättet worden sei.281 Die lutherische Schultradition überlagerte demnach jene Persönlichkeit ­Luthers, die Otto hinter den Zeilen von De servo arbitrio als eine Lebenserfahrung unzähliger »Katastrofen und Melancholien« zusammenfasst: Er entdeckt bei ­Luther ein »irrationales Erleben eines tief irrationalen transzendenten Objektes, das sich fast der Bezeichenbarkeit mit ›Gott‹ entzieht«.282 Der theologische Gedanke der Paradoxie. Der Fluchtpunkt jener »irrationalen« Gefühlsgestimmtheit im Erleben ­Luthers wird bei Otto mit einem eigenen Ausdruck belegt, er nennt ihn L ­ uthers »›hiobische‹ Gedankenreihe«.283 Bezeichnet wird hiermit ein gewisser Radikalismus im Gottesbild ­Luthers, eine Polarisierung in der Redensweise von Gott, die an die drastische Spannung im Ringen des biblischen Hiob erinnert. Die Stärke ­Luthers ist es demnach, dass er angstvolle Anfechtungen in die Wirklichkeit religiösen Erlebens zu integrieren versteht, dass er »zu starken Paradoxien greift«, anstatt einfach nur erbaulich von der Größe Gottes zu reden.284 Der Paradoxiebegriff führt in diesem Zusammenhang zu Ottos berühmter »Kontrast-harmonie«: Es ist L ­ uthers »unerhörte[r] Verschärfung« der christlichen Botschaft, gerade in der numinosen Angst, in »Tiefen und Abgründe[n]« das »Ganze des Christentumes in den vertrauenden Glauben zu setzen«.285 Das im »tremendum«, in Momenten religiösen Angsterlebens gegenwärtige »abdrängende Moment des Numinosen«286 ist es, was das »Unfaß279 Vgl. DH23–25, 120 f und dazu die eindrücklichen Verweise auf die abgründigen Verzweiflungs‑ und Angsterlebnisse L ­ uthers in DH23–25, 121 ff. 280  Vgl. DH23–25, 122. 281 Ottos Kritik richtet sich insbesondere auf die Epoche der lutherischen Orthodoxie (»Schullehre«), die »das Mystische der ›orgē‹« im Begriff der »Gerechtigkeit Gottes« habe aufgehen und damit zurücktreten lassen (vgl. DH23–25, 123). Ebenso trifft Ottos Vorwurf der Verwässerung des »tremendum« bei L ­ uther jedoch auch Ottos liberale Lehrergeneration und insbesondere Ritschl, wie an anderer Stelle besonders an seiner Deutung des Begriff des »Zornes Gottes« deutlich wird (vgl. hierzu unten im Zweiten Teil, Kap. II, 1.4.). 282 DH23–25, 126. 283 Vgl. DH23–25, 37.101.119.124 und 125. Der Begriff wird auch schon in der Erstauflage verwendet (vgl. DH1, 101 u. 105). 284 Vgl. DH23–25, 124. 285  Vgl. DH23–25, 123. Das aus ­Luthers Erleben sich abzeichnende Gottesbild lässt sich daher in zahlreichen Paradoxien beschreiben: »daß der Unnahbare nahbar wird, daß der Heilige eitel Güte ist, daß die majestas sich zum Vertrauten macht« (a. a. O., 123, kursiv im Original). 286 DH23–25, 128.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

liche Paradoxale« in ­Luthers Frömmigkeit ausmacht. In seiner Wertschätzung des »Irrationalen« sieht Otto bei ­Luther eine Form des Protests aufwallen, die sich gegen jede Form rationalistischer Wirklichkeitsauffassung sträubt und ihn zugleich in eine geistesgeschichtliche Linie einbindet:287 Seit der Antike tobt demnach ein regelrechter »Kampf« um den »Gegensatz der irrationalen und der rationalen Momente im Göttlichen«,288 in dem L ­ uther in der Linie des »Platonismus«, namentlich »Augustin Plotin Proclus die arabischen Filosofen und Dionys«, als ein herausragender Verfechter des Irrationalen gegen den »deus philosophorum« hervorsticht.289 Dem entgegen, stehen nach Ottos Auffassung jene Denker im Gefolge des Aristoteles, die »eine starke Rationalisierung« des Christentums anstrebten und damit von ­Luther instinktiv als Gegenbewegung angesehen wurden.290 ­Luthers »hiobische Gedankenreihe« ist – wie Otto immer wieder betont – dem massiv entgegengesetzt, sie ist ein Sich-ausrichten auf das, »was der Vernunft wider den Strich geht«.291 Das Paradoxe in L ­ uthers Gottesbild ist zugleich eine Lehre von Gottes »incomprehensibilitas«.292 Wenn Otto resümiert, jenes Paradox solle man »nicht nur bemerken«, sondern »auch einsehen, daß ein solches zum Göttlichen wesensnotwendig gehöre und geradezu sein Erkennungszeichen im Unterschiede von allem Menschlichen sei«, erinnert dies an den Vorschlag, die Theologie L ­ uthers in ihrem Kern als religiöse »Unterscheidungslehre« zu verstehen.293 Im religiösen »Grauen« in numinosen Momenten der Angst ereignet sich damit eine im Gefühl intuitiv erfasste Unterscheidung des Menschen vom Göttlichen, die eindrücklich verinnerlicht wird und zugleich das Fundament des Glaubens als der Überwindung aller Gottesferne bildet. 287 Vgl. zu ­Luthers »Protest[e] gegen Aristoteles und die theologos modernos« DH23–25, 116. Otto sieht insbesondere in Aristoteles und der Aufnahme seiner Philosophie in die christliche Theologie »eine starke Rationalisierung« der Religion. 288 DH23–25, 118. 289 Vgl. DH23–25, 116 ff. Auch »Lactantius«, »Chrysostomus« und »Duns Scotus« zählt Otto zu jener Linie (vgl. DH23–25, 118 f). Otto sieht L ­ uthers Nähe zu Platon darin, dass er »das Religiöse mit ganz anderen Mitteln als denen des begrifflichen Denkens« erfasst, sich dem Systemdenken verweigert und gerade darin das »Unfaßliche« zu beschreiben vermag (DH23–25, 117). So könne auch auf ­Luther zutreffen, was Otto von Laktanz sagt: Er »fühlt das tremendum der majestas wenn er behauptet daß Gott ›zürne‹, und er fordert als den Grundzug der Religion die ›Scheu‹ wenn er sagt: Ita fit, ut religio et majestas et honor metū constet. Metus autem non est ubi nullus irascitur.« (DH23–25, 118 f). Der Gipfel von ­Luthers Kampf gegen die Rationalisierung der Religion ist – laut Otto – gleichsam seine Auseinandersetzung mit Erasmus, dokumentiert insbes. in der für Ottos Denken wichtigsten Lutherschrift De servo arbitrio (vgl. DH23–25, 28). 290 Vgl. DH23–25, 116 ff. 291 Vgl. DH23–25, 124. Otto betont hier die »heftigen Ausfälle ­Luthers gegen die ›Hure Vernunft‹« (ebd.). 292 DH23–25, 124 f mit Verweis v. a. auf Johannes Chrysostomus. 293 Vgl. hierzu insbes. den Unterscheidungsbegriff in der Luther­deutung Gerhard Ebelings und dazu grundlegend die Ausführungen von Albrecht Beutel in: Beutel, Theologie als Unterscheidungslehre, 450–454. Albrecht Beutel betont hier ebenfalls ­Luthers »Vorliebe für paradoxale Denk‑ und Aussageformen« (a. a. O., 450), die jedoch »nicht als logische Paradoxie, sondern als prinzipielle Strittigkeit menschlichen Lebens« (ebd.) zu verstehen seien.

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Otto beklagt ausdrücklich, die Wirkungsgeschichte sei ­Luther gerade in diesem Unterscheidungsmoment religiöser Angst, jenem numinosen »tremendum« »nicht gerecht geworden«, indem die drückenden und paradoxen Momente der Religion »durch moralistische Deutung« abgeschliffen wurden: »Das Begriffliche und das Doktrinäre, das Ideal der ›Lehre‹ überwog dem Unaussprechlichen nur im Gefühl Lebenden, dem lehrhaft nicht Tradierbaren«.294 ­ uther und die Mystik. Eine weitere Facette in Ottos Lutherforschung, mit L der er sich der allgemeinen Lehrmeinung seiner Zeit entgegenzustellen meint, ist seine Beurteilung des Verhältnisses des Protestantismus zur Tradition der Mystik, mit der Otto zugleich eine Selbstkorrektur gegenüber seiner Dissertation vornimmt.295 Gerade die soeben geschilderte Gefühlsgestimmtheit von »Paradox und Antinomie« bildet laut Otto demnach eine Parallele zur Mystik, die in dieser Hinsicht »für keinen bezeichnender ist als für L ­ uther.«296 Gegenüber der »Wohltemperiertheit der fides der lutherischen Schullehre« zeichnet ­Luther demnach aus, dass er, gleichwohl er nicht den ekstatischen Momenten der »Gottesminne« verfiel, das »mirum ac mysteriosum«, das Befremdliche und Rätselhafte im mystischen Erleben hervorhob. Ottos Interpretation ­Luthers als Mystiker zielt darauf ab, auch hier eine Kontrastharmonie zu sehen: Nicht nur das Moment der »adhaesio«, das »mit Gott ›ein Kuche‹ werden« in ­Luthers Glaubensbegriff steht demnach der mystischen Tradition der »unio«, der Annäherung und Einung mit Gott nahe.297 Auch angstvolles Erleben und der »grimme Gott« sind – wie Otto betont – der Mystik nicht fremd. Gerade indem ­Luther auch das »mysterium tremendum«, das »Irrational-Furchtbare« hervorhob, wird er zu einem Protago294 DH23–25, 133. Die Kritik richtet sich vor allem an die »Schule« L ­ uthers, gemeint ist die klassische Dogmatik der altprotestantischen Orthodoxie. Doch auch für seine Zeitgenossen und insbesondere auf Ritschl und seine Schule trifft jener Vorwurf der theologischen Angstvergessenheit durchaus zu. Hans-Walter Schütte sprach in diesem Zusammenhang von dem Phänomen der »Ausscheidung des Zornes Gottes bei Ritschl (vgl. Schütte, Die Ausscheidung der Lehre, 387–397 und unten im Zweiten Teil, Kap II, 1.4.). Ottos Sensibilität für die angstvolle Dimension in L ­ uthers religiösem Erleben, sowie die im Paradox-Begriff sich andeutende Idee der Kontrastharmonie religiösen Erlebens könnte, wie Thorsten Dietz vermutet, von Ottos Freund Wilhelm Bousset angestoßen worden sein, der schon in seiner Schrift Das Wesen der Religion von 1906 auf die »doppelte Grundstimmung« bei ­Luther durch »zitternde Angst und jubelnde Freude« hingewiesen hatte. Vgl. hierzu Dietz, Die ­Luther-Rezeption, 95, sowie den Brief Boussets an Otto von 1916, abgedruckt bei Schütte, Religion und Christentum, 127 f. 295  Otto bekennt offen, ­Luthers Nähe zur Mystik in seiner Erstlingsschrift noch zu schwach betont zu haben und begründet seine Zurückhaltung mit den »Nachwirkungen Ritschls«, unter denen er damals gestanden habe (vgl. DH23–25, 123, Anm. 1). Die geschilderte, greifbare Differenz zu Ritschl markiert auch hier die gleichzeitige Nähe zu Ottos Lehrern Theodor Häring und Hermann Schultz (vgl. hierzu die Ausführungen oben im Zweiten Teil, Kap. I, 3., sowie die Ausführungen zu Ottos früher Rezeption von Ritschls Mystikverständnis in Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 209–211). 296 Vgl. DH23–25, 37 mit nochmaligem Verweis auf ­Luthers »›hiobische‹ Gedankenreihe«. Zur »Verknüpfung« L ­ uthers mit der Mystik vgl. insbes. DH23–25, 120 und 128 ff. 297 Vgl. DH23–25, 128 f.

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nisten der »Nachblüte der abendländischen Mystik«, unter deren »Mystici« Otto besonders Jakob Böhme hervorhebt.298 1.3. Angst und die »Idee der Verlorenheit« in Ottos späteren Lutherstudien In Das Heilige arbeitete Otto am Beispiel ­Luthers heraus, was sich in seiner Dissertation schon ansatzweise andeutete: Der Mensch sei tief in seinem Wesen dazu veranlagt, sich intuitiv – im Gefühl – gegenüber einer unergründbaren göttlichen Wirklichkeit als restlos natürliches Geschöpf zu unterscheiden. Das Erleben, in dem jene sich der ratio eigentümlich versperrende Unterscheidung gefühlt wird, ist demnach, wie Otto betont, ein Fühlen eigener Art, eine eigene Kategorie des Erlebens. Bei ­Luther zeichnete Otto besonders die angstvollen Momente jener Gefühlskategorie nach, und benannte sie in Das Heilige mit Begriffen wie »Scheu«, »mysterium tremendum«, »Grauen«, »Kreaturgefühl«. In ihnen allen wird im Modus von Stimmungen der Angst die restlose Unterscheidung des Menschen von Gott intuitiv erlebt. Es ist dies eine religiöse, eine »numinose« Angst, die – so Otto – von profaner Angst und Furcht grundlegend zu unterscheiden ist. Ottos Gedanke, dass L ­ uther gerade in den Wesensmerkmalen seiner Persönlichkeit, in seinem ausgeprägten Hang zur numinosen Angst, zur »Scheu«, der Tradition der Mystik nahesteht, wurde auch über sein Hauptwerk hinaus in seinen späteren Lutherstudien immer weiter verfolgt.299 Einen dogmatischtheologischen Zugang zu dem in der numinosen Angst Erlebten fand Otto hingegen in ­Luthers Sündenbegriff. An ­Luthers Vorstellung der Sünde konnte Otto demnach das, was sich im »Kreaturgefühl« intuitiv ereignet, auch theologisch in rationalen Begriffen nachvollziehen und mit den Grundbegriffen des christlichen Glaubens dogmatisch ins Verhältnis setzen. Im Anschluss an die für den Angstbegriff entscheidenden Gedanken von Ottos Luther­deutung in Das Heilige sollen im Folgenden Ergänzungen zur Sprache kommen, die Otto in seinem Spätwerk und besonders in den Aufsatz-

298 DH23–25, 130 f, sowie zu Böhme DH23–25, 131–133. Zu den wichtigsten Vorläufern L ­ uthers zählt Otto besonders Meister Eckhart. Protestantische Erben ­Luthers sind u. a. Arndt, Spener, Arnold und besonders Böhme, der, wie Heiko Schulz deutlich macht, ebenfalls ein wichtiger Theoretiker der Angst im Protestantismus ist (vgl. Schulz, Art. Angst, 496–498). 299  In DH1 hatte sich Otto schon der »Gesamtfrage des Verhältnisses vom Luthertum zu mysti[sch]er Frömmigkeit« gestellt. Gegenüber der katholischen Mystiktradition hebt Otto bei ­Luther hier gerade das »für die Mystik typi[sch]e Moment des ›Kreaturgefühles‹ und der ›unio‹« hervor. Diese beiden mystischen Momente bei L ­ uther sieht Otto in den Varianten seines Glaubensbegriffs abgebildet, nämlich in der »fides L ­ uthers (als fiducia und adhaesio)« (vgl. DH1, 111, Klammer im Original und Hervorhebung im Original gesperrt). Die ausführliche Anmerkung zu ­Luthers Nähe zur Mystik in der Erstauflage von DH (Anm. 1 in DH1, 109–112) wurde schon in der zweiten Auflage als »Beilage« aus dem Haupttext entnommen und als eigene Studie dem Hauptwerk beigestellt. Später bildet der Aufsatz Mystisches in L ­ uthers Glaubensbegriff (DH2, 201–202) den Grundstock der Lutherstudien in den späteren Aufsatzbänden.

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bänden ausarbeitete.300 Im Fokus sollen dabei besonders zwei Problemfelder in Ottos Luther­deutung stehen: zum einen L ­ uthers Nähe zur Tradition der Mystik, zum anderen der Versuch einer dogmatisch-theologischen Verortung jener »numinosen Angst« im Kontext von L ­ uthers Sünden‑ und Rechtfertigungstheologie. »Tremendum« und Mystik. ­Luther und der »horror mysticus«. Die in seinem Hauptwerk angestellten Überlegungen zum Verhältnis ­Luthers zur Mystik hat Otto in späteren Aufsätzen präzisiert.301 Er macht darin deutlich, dass innerhalb der mystischen Tradition zwischen ganz unterschiedlichen Strömungen und Stilen zu unterscheiden sei. L ­ uther gehört demnach einem besonderen »Typus von Mystik« an, den Otto traditionsgeschichtlich verdeutlichen möchte.302 Zwei Schwerpunkte scheinen Otto an L ­ uthers Mystik besonders wichtig zu sein: einerseits seine an Meister Eckhart erinnernde Nähe zu einer Form theologischer Erbauungsmystik, die Otto besonders in L ­ uthers Predigten und in seiner Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen zu finden meint, andererseits ­Luthers persönlicher »Frömmigkeitstyp« und sein religiöses Erleben, das ihn – so Otto – selbst als Mystiker eigenen Profils ausweist. Zum erstgenannten Sachverhalt verwies Otto 1923 erneut auf seine Dissertation im Zusammenhang der Frage nach ­Luthers Glaubensbegriff.303 Otto legt darauf Wert zu betonen, dass der Glaube (fides) bei L ­ uther nicht allein in seiner Bestimmung als »fiducia« und »confidere Deo« aufgehe, sondern insbesondere auch »gefühls‑ und willensmäßiges ›adhaerere Deo‹« sei.304 Der Glaube bedeutet bei ­Luther nach Otto also zweierlei: Im Evangelium wurzelndes Vertrauen auf Gottes Gnade einerseits und mystisches zu Gott Hingezogensein andererseits. Besonders letzteres, die »adhaesio«, macht laut Otto das Mystische in L ­ uthers Glaubensverständnis aus. ­Luthers Nähe zur Mystik in seinem Verständnis des Glaubens als »innerliche Erneuerung« im religiösen Erleben ist Otto besonders am Beispiel Johann von Kastls aufgegangen, der in seiner Schrift De adhaerendo Deo ­Luther auch begrifflich nahe steht. Der Begriff der »adhaesio« beschreibt dort laut Otto eine »wiedergebärdende, rechtfertigende, heiligende Triebkraft des Glaubens«, eine sich im Gefühl einstellende Gewissheit der Gottesnähe und ‑verbundenheit.305 Es handelt sich um ein Erleben, dass den theologischen Gedanken von der Rechtfertigung des Menschen durch Gottes Gnade nicht durch rationale Einsicht, 300 In dem als Ergänzungsband zu DH konzipierten Aufsatzband AN werden die Probleme des vorliegenden Zusammenhangs weiter verfolgt. Da Otto seine Studien immer wieder überarbeitet hat, werden die Aufsätze in letzter Gestalt aus dem Buch SU zu Grunde gelegt. 301 Vgl. AN1, 61 ff sowie SU, 178 ff. 302 Vgl. SU, 178. 303  Vgl. AN1, 61 mit Verweis auf das Kapitel Geist und Glaube in AHG. 304 Vgl. AN1, 61. und SU, 178 f. 305 Vgl. SU, 179 (Hervorhebung im Original gesperrt). Vgl. dazu Benz, Rudolf Otto in seiner Bedeutung, 391.

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sondern im Gefühl zur Gewissheit werden lässt. Das in der mystischen Literatur häufig als »unio« beschriebene Gefühl des Einswerdens mit Gott findet Otto bei ­Luther neben dem Begriff der adhaesio auch in volkstümlichen Ausdrücken wieder, wie in seiner Formulierung »mit Gott ein Kuche« zu werden.306 Von hier aus stellt Otto eine über den Frankfurter und Johannes Tauler vermittelte Verbindung L ­ uthers mit Meister Eckhart her, dessen »schroffe[r] Erlösungsdualismus«, der besonders den »Kontrast des völligen Nichts der Kreatur gegenüber Gott« im Gefühl vergegenwärtige, Otto besonders hervorhebt.307 Jene kontemplative Seite mystischer Theologie, die Otto 1926 in seinem Werk Westöstliche Mystik ausführlich darstellt und interpretiert,308 erinnert besonders an seinen Begriff des »Kreaturgefühls«, der anders als das »Heer der gottverliebten Mönche und Nonnen, der doctores ecstatici und serafici« auch die angstvolle Dimension religiösen Erlebens in der mystischen Kontemplation hervorhebt.309 Für die theologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Angst ist besonders »ein anderes deutliches Verbindungsglied zwischen ­Luther und ›der Mystik‹« interessant, nämlich L ­ uthers eigene mystische Frömmigkeit, der »Ty-

306  SU, 179. Vgl. dazu SU, 174, wo Otto den Begriff des »adhaerere Deo« mit Meister Eckharts Vorstellung der »mneme theou« in Beziehung bringt. 307 Vgl. SU, 178 f. Ottos Zusammenführung L ­ uthers mit Meister Eckhart im Kontext der Mystik hat Ernst Benz stets besonders beeindruckt. In Erich Seebergs späteren Studien (und neuerschlossenen Quellen) zu Eckhart sieht Benz die ­Luther‑ und Eckhartdeutung Ottos bestätigt (vgl. Benz, Rudolf Otto in seiner Bedeutung, 391–393). Auch Ottos Bezüge von ­Luther zu Tauler und dem Frankfurter sieht Benz von Seiten der kirchengeschichtlichen Forschung der Dreißigerjahre als bestätigt an (a. a. O., 389 ff). Später bezeichnet Benz Ottos Eckhartdeutung gar als »ganzes Programm einer neuen Eckhart-Interpretation« (mit Verweis auf Ottos Werk WÖM, vgl. Benz, Rudolf Otto als Theologe, 39). Zu der kontroversen Debatte zur Wirkung insbesondere Taulers auf L ­ uther im Kontext von Angst und Anfechtungserfahrung vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 143 ff. Thorsten Dietz führt anhand der Römerbriefvorlesung L ­ uthers die Wirkung Taulers auf L ­ uther insbesondere im Zusammenhang des Problems religiöser Erfahrung vor. Zusammen mit neueren Beiträgen der Lutherforschung (insbes. von Berndt Hamm und Volker Leppin) zu L ­ uthers Verhältnis zur Mystik kann Dietz so entgegen den zahlreichen älteren Einwänden gegen eine Nähe L ­ uthers zur Mystik (vor allem durch Walther v. Loewenich) zeigen, dass Tauler gerade in der Frage der »Deutung bzw. Umdeutung der Angst« entscheidend auf L ­ uther wirkte und zugleich dessen »deutlichsten Ertrag der Beschäftigung mit der Deutschen Mystik« darstellt (vgl. Dietz, a. a. O., 160). Zu den Stimmen der jüngsten Lutherforschung, die Ottos Deutung ­Luthers im Kontext der Mystik bestätigen, vgl. Schäufele, Rudolf Ottos Lutherbild, 176. Wolf-Friedrich Schäufele sieht in der Verbindung des frühen ­Luther mit der Mystik inzwischen eine »Mehrheitsmeinung« in der Lutherforschung (ebd.) und verweist exemplarisch auf die Beiträge von zur Mühlen, Nos extra nos, sowie Hamm/ Leppin (Hg.), Gottes Nähe unmittelbar erfahren. 308 Vgl. in WÖM besonders auch die Passagen zum Vergleich Eckharts mit ­Luther (WÖM1, 98, 163 ff, 177 f, 271 ff, 343 ff), sowie im Anhang mit Hinweis auf begriffliche Parallelen (WÖM1, 382 f). 309 Vgl. SU, 180 f. Otto stellt Eckhart – und mit ihm L ­ uther – auch hier dem Typus enthusiastischer Mystiker (z. B. Theresa von Avila) entgegen.

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pus Lutherschen Erfahrens«.310 Im Rückbezug auf die bereits in Das Heilige angestellten Überlegungen streicht Otto die Ambivalenz, die »gewaltigen Schwingungen« in ­Luthers Frömmigkeit heraus, die ihn zwischen den Erfahrungen von »Gottesnähe und Gottesferne« pendeln ließen.311 Besonders letzteres, das Erlebnis der »desparatio«, der »horror mysticus«, wurde schon in den ersten Auflagen des Hauptwerks als besonders ausgeprägtes Charakteristikum in L ­ uthers Persönlichkeit herausgestellt.312 Zu jenem »horror mysticus« bei ­Luther bringt Otto nun zahlreiche Beispiele aus Briefen und Predigten L ­ uthers, die er in direkter Linie mit den berühmten, im Neuen Testament geschilderten Anfechtungserfahrungen Jesu interpretiert: In nahezu übermächtigen Momenten der Angst gerät ­Luthers Gottesbild aus den Fugen, er weiß vor lauter Grauen nicht mehr ob »Gott der Teufel ist oder der Teufel Gott.«313 Eine tiefere Deutung jener Erlebnisse L ­ uthers scheint Otto an dieser Stelle bewusst zu unterlassen. Ihm geht es in erster Linie um den Erweis der Nähe ­Luthers zu einer Linie der mystischen Tradition, die gerade auch im angstvollen Erleben, in Momenten des »mysterium tremendum« eine zugleich »geheimnis-schauervolle«, wie jedoch gerade darin tief religiöse Begegnung mit dem Göttlichen beschreibt.314 Otto zieht diese »Selbstverständlichkeit, mit der ­Luther der deus absconditus, die all‑ und alleinwirkende ›omnipotentia‹ und die ›praedestinatio‹ zusammengehören« später auch in seinen religionsgeschichtlichen Vergleichen immer wieder heran.315 Angst und Sünde. Um Ottos ausführliche dogmatische Auseinandersetzung mit ­Luthers Sündenbegriff im Bezug auf die Angst darzustellen, sind zunächst einige Vorüberlegungen voran zu stellen. Ausgehend von einem nochmaligen kurzen Rückblick auf Das Heilige muss daher wenigstens in groben Zügen nachgezeichnet werden, wie Otto ­Luthers Glaubens‑ und Rechtfertigungsbegriff versteht. In Das Heilige betraf die im Gefühl erlebte Selbstunterscheidung von Gott – das in angstvollem »tremendum« erlebte »Kreaturgefühl« – in erster Linie den 310

 Vgl. SU, 181. SU, 181. Die klassischen Begriffe hierzu nennt Otto ebenfalls: »certitudo« und »desparatio«. 312 Vgl. SU, 181 und dazu die mystischen Ausdrücke in DH23–25, 130. 313  SU, 182 f. 314  So resümiert Otto: »Wohl hatte ­Luthers Leid eine eigene Note, sofern sich ihm die Qual deutlicher als bei seinen Vorgängern zuspitzt zum Zweifel an der Vergebung der Sünden, aber daß dieses eine individuelle Form jenes allgemeineren Erlebenstypus ist, den man ›die Mystik‹ nennt, ist doch ersichtlich.« (SU, 184). Vgl. auch zum »horror mysticus« bei L ­ uther in der Interpretation Ottos: Benz, Rudolf Otto in seiner Bedeutung, 393. 315 Vgl. z. B. GICh, 88 und 92, wo Otto die »tiefen Untergründe lutherischen Gottesgefühles« mit Traditionen der indischen Religionsgeschichte vergleicht. Überhaupt scheint Ottos ­Lutherinterpretation auch in den späten religionsgeschichtlichen Studien geradezu als Folie seiner Überlegungen immer im Hintergrund präsent zu sein (vgl. insbes. die zahlreichen Belege zu ­Luther in GICh, GGA, sowie RGM). 311 Vgl.

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»natürlichen Menschen«. Wie Otto im Anschluss an L ­ uther deutlich machte, geht es dabei um die auf seine Kreatürlichkeit und restlose Weltverstricktheit reduzierte Natur des Menschen, die im »Grauen«, in der numinosen Angst entlarvt und in ihrer Unterscheidung vom Göttlichen erkannt wird. Otto stellt hiermit jedoch nur eine Seite des religiösen Erlebens dar, nämlich jene, die sich in erster Linie auf die Kreatur in ihrer empirischen Wirklichkeit und Natürlichkeit richtet. Hinsichtlich des zugleich auf paradoxe Weise im Kreaturgefühl als das »Ganz andere« vergegenwärtigen Göttlichen bleibt hingegen das Erleben eigentümlich unbestimmt. Erlebt wird zwar – das ist laut Otto deutlich spürbar – keine natürliche Angst, sondern numinose »Scheu«, die sich auf das schlechthin Überweltliche richtet, dennoch bleibt aber jenes Erleben und insbesondere das erlebte numinose Objekt ein Mysterium: Es wirft den Menschen letztlich auf seine eigene Natürlichkeit, auf seine empirische Wirklichkeit zurück. Gläubige Gewissheit, frommes Vertrauen ist aus jenem numinosen Fühlen daher nicht ohne Weiteres zu gewinnen, denn primär kommt hier allein die Gewissheit der eigenen Kreatürlichkeit zum Durchbruch. Die demgegenüber paradoxe Botschaft, dass der »Unnahbare nahbar wird«, dass hinter der schauervollen »majestas« die unüberbietbare Gnade Gottes wohnt, ist aus dem Kreaturgefühl nicht direkt ableitbar.316 Die angstvollen Momente jenes religiösen Erlebens sind demnach nur »geheimnisvolle dunkle fast unheimliche Hintergründe« von ­Luthers Frömmigkeit, von denen sich »die klare Seligkeit und Freudigkeit seines Gnadenglaubens erst« abhebt.317 Das angstvolle Gefühl der »Scheu« ist  – so Otto – lediglich die »Folie« des Glaubens, vor der die christliche Gnadenbotschaft, das Evangelium, vollends zur Entfaltung kommen kann.318 Doch wie versteht Otto das Zustandekommen und den Grund jenes Vertrauens und jener »Nähe« Gottes, die das im Erleben zunächst dominierende »Kreaturgefühl« der Fremdheit und Unfassbarkeit Gottes überwindet und in traditioneller lutherischer Terminologie »justificatio per fidem«, »Rechtfertigung durch den Glauben« genannt wurde? Auch in dieser Frage verweist Otto auf ­Luther selbst. In der letzten Ausgabe seiner theologischen Aufsätze von 1932

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 Vgl. DH23–25, 123 und dazu 126.  DH23–25, 119. 318 Vgl. DH23–25, 126. An dieser Stelle wird besonders deutlich, um was es Otto in Das Heilige in erster Linie ging: Die »Folie«, eben das Irrationale im religiösen Erleben, steht dort im Vordergrund seines Interesses. Den christlichen Glauben selbst und die in ihm verkündete Heilsbotschaft stellt Otto bewusst in den Hintergrund seiner Untersuchung und setzt sie mit den »irrationalen Gehalten« der Religion ins Verhältnis. Gleichwohl kann Otto als das »leitende Interesse« von Das Heilige angeben, er habe eine »christlich-theologische« Studie vorlegen wollen und ausdrücklich kein rein »religionsgeschichtliches« oder »religionspsychologisches« Werk verfasst (vgl. SU, 61). Es ging ihm dabei im Kern um eine Verhältnisbestimmung der »irrationalen wie rationalen Gehalte« der christlichen Religion (vgl. ebd.). 317

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kann er sogar einmal mehr auf seine nun über 30 Jahre zurückliegende Dissertation zurückgreifen.319 Der hier entfaltete Gedanke ist kurz nachzuzeichnen: In Anlehnung an die Confessio Augustana stellt Otto hier die entscheidende Frage, wie denn der Mensch »aus seinem gottlosen Wesen bekehrt und neu geboren wird«.320 Für Otto ist die Antwort klar: es ist »im eigentlichsten Sinne für ­Luther der Glaube und der Glaube selber dieses schäftige Ding, das uns wandelt und neu gebiert«.321 Doch was genau versteht ­Luther unter »Glauben«? Nach Ottos schon in der Dissertation entfalteter Auffassung ist eine klare systematische Definition des Glaubens bei ­Luther kaum zu finden. Vielmehr ist, wie Otto klarstellt, der »Glaube« für L ­ uther »nichts künstlicher Definitionen Bedürftiges sondern es ist ihm und seinen Zuhörern, was es immer gewesen ist und noch ist: substantia rerum non apparentium, Überzeugtsein der unsichtbaren oberen Welt und Innesein derselben im lebendigen Gefühl«.322

Glaube ist also nichts dem religiösen Erleben Entgegengesetztes oder Hinzugefügtes, er ist kein übernatürlicher Einbruch, der dem im »Kreaturgefühl« erahnten Deus absconditus das Bild des gnädigen Vatergottes überstülpt. Vielmehr ist der Glaube bei ­Luther laut Otto letztlich selbst auch ein Erleben, ist eine im Gefühl sich einstellende Gewissheit, die psychologisch gesehen dem Gefühl der numinosen »Angst«, der religiösen »Scheu« und dem aus ihr erzeugten »Kreaturgefühl« durchaus ähnlich ist, ja mit ihnen zusammenhängt: Das erlebte irrationale »ganz Andere« löst – trotz seiner zunächst abdrängenden und angsteinflößenden Macht  – auch eine eigentümliche Sehnsucht aus. Nach L ­ uther wird  – in der Lesart Ottos  – »der Geist des Menschen ganz in die Sfäre der himmlischen Dinge entrückt, geht im Denken, Fühlen, Wollen in ihnen auf.«323 Es geht hier also förmlich ein Unterscheidungserlebnis vor sich: Der Mensch unterscheidet intuitiv im Gefühl zwischen seiner eigenen Endlichkeit und göttlicher Unendlichkeit – jedoch richtet sich sein Fühlen nicht nur als »Kreaturgefühl« auf die Situation des »natürlichen Menschen« in seiner empirischen Verstrickung in der Welt, sondern sorgt zugleich für eine intuitive Abkehr von jener »natürlichen« Wirklichkeit bei gleichzeitiger Hinwendung zu dem mysteriösen »Ganz anderen«, dem Numinosen: Der Glaube ist eine intuitive »Zukehrung zu den ›himmlischen Dingen‹«, er »kehrt den Menschen und sein Interesse ab von den 319  Vgl. das Kapitel zur Rettung aus Verlorenheit nach ­Luther in SU, 43–60. Otto scheint das damals Gesagte in dem vorliegenden Kontext noch als vollkommen gültig zu erachten und druckt demnach in diesem Kontext eine ganze Passage seiner »Erstlings-schrift« mit einigen dezenten Änderungen erneut ab (vgl. SU, 44 ff). 320 Vgl. Ottos Bemerkungen zu CA, Art. 4., in SU, 45. 321 Vgl. SU, 47. 322  SU, 50. 323 Vgl. SU, 51 und dort Ottos zahlreiche Belege und Verweise auf L ­ uther, bes. aus dem Synodalpredigtentwurf für den Propst von Leitzkau von 1512 (Vgl. WA 1, 8 ff), in dem Otto eine besonders frühe »summa legitimae reformationis« zu sehen meint.

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irdischen, und als beharrliches Anschauen der heiligen reinen invisibilia wandelt er den Menschen nach ihnen [i. e. den ›himmlischen Dingen‹]«.324 Die Wurzel des Glaubens ist demnach eine Sehnsucht nach der göttlichen Vollkommenheit und die intuitive Annäherung an diese im Gefühl, das »adhaerere deo«, welches ­Luther – wie bereits beschrieben – nach Ottos Meinung besonders deutlich in die Nähe mystischer Traditionen stellt.325 Dieser Erlebnisvorgang ist dabei – und hier scheint bereits Ottos Gedanke des »Paradoxes« als Grundbegriff bei ­Luther angelegt zu sein – negativ und positiv zugleich:326 Indem der Mensch im religiösen Erleben intuitiv seinen »Geist auf die himmlischen Dinge wendet« ist seine Gefühlsgestimmtheit zwar zunächst eine »negative«, er erlebt die restlose Weltverfallenheit seiner selbst im »Grauen«. Zu dieser Intuition aber »kommt doch eine positive sogleich hinzu«:327 Der Wertungsvorgang, der sich in jenem religiösen Erleben ereignet, wertet im »Kreaturgefühl« nicht nur den »natürlichen Menschen« bis zur Nichtigkeit herab, sondern wertet das demgegenüber »unsichtbare, überirdische« zugleich unüberbietbar positiv als »an sich heilig, wahrhaftig, gerecht, friedsam, frei und aller Güte voll« auf.328 Jene positive Seite des Erlebnisgeschehens setzt Otto mit ­Luthers berühmter Redeweise des mit Gott »ein Kuche«-werdens gleich: Indem der so Ergriffene »im steten Aufblicke« zu jenem schlechthin Heiligen »verharrt«, kann er gar nicht anders, als dessen vollkommenen Eigenschaften ähnlich werden zu wollen, ja, sich mit ihm zu vereinigen: »Des Menschen Wille ›wird einhellig‹ mit Gottes Willen. Durch die Macht des freigewordenen, aufflammenden religiösen Gefühls und der Hingabe an Gott wird so mit eins der bisher widerspenstige Wille aus seinen Angeln gehoben, in seiner Wurzel mit dem Gottes einhellig gemacht und wird in seinem Verlauf durch den verharrenden Glauben immer genauer mit dem Gottes zusammengeschlossen, er wird gerecht.«329

324 Vgl. SU, 50. ­Luther unterscheidet an dieser Stelle nochmals zwei Weisen des Zusammenhangs von Glaube und »Rechtwerden« des Menschen bei ­Luther (Vgl. SU, 50 ff). Letztlich sind jedoch jene beiden »Weisen« nur »Nuancen derselben Grundempfindung, Seiten der einen und gleichen Erfahrung« (SU, 58), weshalb jene Differenzierung Ottos im vorliegenden Zusammenhang vernachlässigt werden kann. 325 Vgl. SU, 50 ff. Zur Bedeutung der »adhaesio Dei« bei ­Luther vgl. auch DH23–25, 129. Das Moment des adhaerens ist nach Ottos Vorstellung eine Art mystische Facette der fides, der bei ­Luther zugleich der Glaube als »confidere Deo« korrespondiert. Die genaue Differenzierung jener zwei Weisen des Rechtfertigungsgeschehens bei L ­ uther (vgl. SU, 55 f) weiter auszuführen, würde jedoch für die hiesige Fragestellung zu weit führen. 326 Vgl. SU, 51. 327 Schon in seiner Dissertation klingt mit jener Gleichzeitigkeit positiver und negativer Momente im religiösen Erlebnis der zentrale Gedanke Ottos an, den er später in Das Heilige »Kontrast-harmonie« aus »tremendum« und »fascinans« nennt. Vollkommen einleuchtend spricht daher Thorsten Dietz von Ottos »Entdeckung der Kontrastharmonie« in seinen frühen Lutherstudien (vgl. Dietz, Die ­Luther-Rezeption, 77 ff, bes. 103 f). 328 Vgl. SU, 51. Otto gibt auch hier teilweise wörtliche Formulierungen ­Luthers wieder. 329 SU, 52.

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»Glaube und Rechtfertigung« sind nach Ottos Auffassung bei L ­ uther demnach rationale theologische Begriffe für einen Vorgang, der sich auf irrationale Weise schon im Erleben ereignet: eine »tief mystische Sache, die für ­Luther im Grunde nichts anderes ist als der ›Geist‹ selber, das Innesein Gottes selber in der Seele und sein allmächtiges ›operari‹.«330 Glaube ist also letztlich ein dogmatischer Begriff für den Zustand, in dem der Mensch – seinem angstvollen »Kreaturgefühl« zum Trotz – sich als »gerecht«, als in Gemeinschaft mit Gott fühlt und erlebt. Die »Rechtfertigung durch Glauben« ist nach Ottos Meinung bei L ­ uther »nicht ›Lehre‹ sondern das tiefe selige Erleben seiner experientia, das Neue seiner Religion, als solches in Wahrheit das große retro ad fontes, zurück zum innersten tiefsten Sinne der ›Lehre‹ und Wohltat Christi selbst, damit zugleich ein retro ad fontes tiefsten Ewigkeitserlebens selber.«331

­ uthers Wirkungsgeschichte hat dies nach Ottos Auffassung weitgehend verL kannt, indem sie die Rechtfertigung als »eingetrocknet[e]« Lehre einer »imputierten Gerechtigkeit« von der Erfahrung gelöst habe. Tatsächlich ist Rechtfertigung bei ­Luther hingegen, wie Otto meint, kein theoretischer Glaubenssatz oder überschriebener »Saldo«, sondern eine Wirklichkeit »erlebbaren Besitzes des eigenen geistigen Lebens«. Hinter der Rechtfertigung stehen demnach tatsächliche »konkrete Erfahrungen großer innerer rettender Vorgänge, durch die ein Gottfremder, unter Sünde Gebeugter ›recht wird‹«.332 Otto spricht hier geradezu von einem »Realismus echten lutherischen Erlösungserlebens«.333 Im Bezug auf das »Wort«, das Evangelium in Schrift und Predigt, konnte Otto daher schon in Das Heilige auf den Begriff des »conformem esse verbo« bei L ­ uther hinweisen: Das Wort alleine, die bloße Verkündigung des Evangeliums sei wirkungslos, wenn ihm nicht der »Geist im Herzen« entgegenkomme.334 Die christliche Botschaft könne nur durch die »Kongenialität des Aufnehmenden« zu Herzen gehen, also durch seine Veranlagung zum religiösen Erleben.335 Jene »Kongenialität« ist es, die Otto letztlich mit dem Geistbegriff in Deckung bringt. Im Evangelium wird demnach offenbar, in Worten greifbar, anschaulich wiedererkannt, was im Erleben sich schon auf rätselhafte Weise vollzogen hat: Das Evangelium geht mit dem von L ­ uther beschriebenen Erlösungserleben einher und lässt den Menschen die Botschaft von Gottes Gnade in dem mystischen Gefühl wiedererkennen, vor 330

 SU, 24. 43. 332 Vgl. SU, 43. 333 SU, 43. 334 Vgl. DH23–25, 80. In seinem Aufsatz Mystische und gläubige Frömmigkeit unterstreicht Otto diesen Gedanken, wenn er ­Luthers »Glaube an das Wort Gottes« als ein »›mystisches Moment‹«, als das »geistige Auge« bezeichnet, das  – entgegen den Fähigkeiten von »Fleisch und Blut«  – in der Bibel nicht »Schrift auf Papier« sondern »das ›Ganz Andere‹« vernehme (vgl. SU, 142). 335 Vgl. DH23–25, 80. 331 SU,

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dem Göttlichen als »Kreatur vergehen zu müssen« und zugleich eins mit ihm zu werden.336 Erst mit den Überlegungen Ottos zur Bedeutung von »Glauben und »Rechtfertigung« bei ­Luther im Hintergrund kann nun die theologische Deutung der Angst im Kontext des Sündenbegriffs in den Blick genommen werden, denn der Gedanke, »daß die Menschheit in Sünde verloren sei« fungiert bei Otto als »Gegenteil« des »Lutherischen Gedankens von der Gerechtigkeit«.337 Otto unternimmt also einen Perspektivenwechel. Entgegen seiner Gewohnheit, in seinen Studien von der empirischen und irrationalen Erlebniswirklichkeit des Menschen auszugehen, beschreitet er nun einen rationalen Weg und nimmt die dogmatische Rede von »Glaube und Rechtfertigung« zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zum Begriff der Sünde.338 Ein anderer Weg ist nach Meinung Ottos auch schlichtweg nicht möglich, denn »Sünde kann nicht aus sich selbst verstanden werden, sie kann erst verstanden werden, wenn der positive Wert verstanden ist, dessen Verneinung und Gegensatz die Sünde ist.« Sünde ist demnach in Ottos Luther­deutung ein »Widerwert«339 und hat von dem ihm gegenüberstehenden Glaubensbegriff auszugehen, demzufolge »der Mensch lebe in der Gemeinschaft Gottes durch die rein religiösen Funktionen des Gott über alle Dinge Trauens, Fürchtens, Liebens, mit einem Wort, daß er des Glaubens lebe und aus dem Glauben lebe«.340

Was ist nun nach Ottos Auffassung dagegen die Sünde? Sie ist, kurz gesagt, die Umkehrung, das Gegenteil des Glaubens und Ermangelung des Geistes, sie ist »das Ermangeln des Göttlichen selber, ist Gott nicht haben, und nicht haben mögen […] das Widerstreben der Kreatur, in Gott gezogen zu werden, und in der spezifisch lutherischen Form das sich Sträuben des ›natürlichen Menschen‹ gegen die heilschaffende Gnade selbst«.341

Der Sündenbegriff ist demnach ein theologisch-rationaler Begriff für die Bewertung des Gottesverhältnisses, er ist nach Otto ein Wertungsbegriff der »religiösen Beziehung« zwischen Mensch und Gott.342 Verständlich werde der Begriff der 336 Vgl.

SU, 50. 28. 338 Vgl. die Aufsätze Was ist Sünde? und Die christliche Idee der Verlorenheit (SU, 1–11 und SU, 25 ff). Hier wechselt Otto nun zu einer genuin theologischen Perspektive, ausgehend vom Begriff des Glaubens. Anders als im Hauptwerk will er hier nun nicht primär aus der Perspektive des »natürlichen Menschen« und seinem empirischen Erleben die irrationale Dimension des Göttlichen untersuchen, sondern er versucht von der Perspektive des »neuen Menschen« – des Menschen im Glauben – aus umgekehrt die Situation des »natürlichen Menschen« theologisch in rationalen Begriffen zu bewerten. 339 Vgl. SU, 1. 340  SU, 28. 341 Vgl. SU, 21. 342 Vgl. SU, 10. Otto stellt ­ Luther in diesem Zusammenhang besonders schroff gegen die Sündenauffassung der Scholastik, namentlich gegen Thomas von Aquin, der Vertreter einer 337 SU,

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Sünde daher allein aus dem Gedanken des Rechtfertigungsglaubens heraus, da er sich nur als dessen Abwesenheit beschreiben lasse: Sünde ist nach Ottos Luther­ deutung ein Defizit, das nur anhand seines Gegenteils – nämlich des Glaubens – rational erklärbar ist. Doch von dieser rational-dogmatischen Überlegung her kann Otto nun wiederum auf die empirische Wirklichkeit, auf die Erlebnisdimension dessen, was er Sünde nennt, Rückschlüsse ziehen.343 Es handelt sich also  – wie Otto es nennt  – um ein »rückschauendes Urteil«: Aus dem Glauben an die Rechtfertigung ergibt sich erst in der Rückschau eine Vorstellung von der empirischen Wirklichkeit des Unglaubens, des Nichtvorhandenseins von Rechtfertigung und Gnade, die allein aus der empirischen Erlebnissituation des Menschen heraus nicht hätte erschlossen werden können. Erst aus der Perspektive des Glaubens heraus erscheint nun die vorherige Situation des Menschen, das Leben außerhalb des Glaubens, in einem neuen Licht: Rückblickend fällt der nunmehr Gläubige »über alles Bisherige das Urteil des ›Verloren gewesen seins‹.«344 Es zeigt sich ein Bild der »Rettungsbedürftigkeit und Verlorenheit des natürlichen Menschen und seiner ›völligen Verlorenheit‹, nämlich unter die ›Sünde‹.«345 Von hier kann nun in einem weiteren Schritt schließlich auf die empirische Dimension jener »Idee der Verlorenheit« geschlossen werden, die bei Otto hinter dem Begriff der Sünde steht. Auch in diesem Fall kann es sich jedoch nur um eine negative Bestimmung handeln: Die Idee der Verlorenheit beschreibt die Unzugänglichkeit des Göttlichen auf profanem Wege außerhalb des Geistes, sie steht für den Zustand in sich beschlossener Kausalvorgänge der Natur, die in sich ruhen und keinen Ausgriff auf eine über sie hinausgehende bzw. durch sie hindurchgehende göttliche Wirklichkeit zulassen. Otto nennt dies »die naturgegebene Profanität des Kreatürlichen überhaupt«.346 Gemeint ist mit der Idee der Verlorenheit also »die Unfähigkeit, ohne das hereinbrechende, in reinem Offenbarungsakte erlebbare Überweltliche selbst dieses zu erkennen oder zu erfinden oder gar in Besitz zu nehmen. Sie ist endlich die Tatsache, daß der Mensch als profaner sich dem Überweltlichen und seinem Überkommen sträubt und widersetzt und nur durch einen in den Grund seines Innern selber greifenden mystischen Akt der ›Wiedergeburt‹, dessen Zustandekommen nur ›aus dem Geiste‹ möglich ist, zurecht kommt«.347 »moralistischen Definition« der Sünde gewesen sei, in dem er behauptet habe »die Sünde sei nichts anderes als eine schlechte menschliche Tätigkeit« (ebd.). 343 Der umgekehrte Weg wäre – wie bereits erläutert – aus logischen Gründen nicht möglich gewesen: Von der Empirie, vom religiösen Erlebnis auf die Sünde als ein Defizit, als ein NichtVorhandensein des Glaubens zu schließen, ist ohne vorherige rationale Rede vom Glauben nicht möglich. 344 DH23–25, 33. 345  SU, 25 (kursiv im Original). 346 SU, 33. Mit Nachdruck weist Otto darauf hin, seine Ausführungen nicht im »moralistischvoluntaristischen« Sinne zu verstehen. 347 SU, 33.

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Ausgehend vom Begriff der Sünde gelangt Otto demnach an dieser Stelle wieder zu ­Luthers Vorstellung des »homo naturalis«.348 Sünde ist folglich ein Zustand, der den Menschen in der Negation seiner geistlichen Fähigkeiten, ohne seine Anlage zum religiösen Erleben, als reines Naturwesen beschreibt. Die »Erbsünde« ist für Otto daher nichts anderes als der theologische Begriff für eine »Zuständlichkeit […], die jeder in sein Dasein hinein mitbringt«, nämlich seine »Naturgegebenheit«, seine Verstrickung in der Welt, die auch im Glauben nicht abgelegt oder restlos beseitigt werden kann.349 Der Begriff der Sünde erhellt damit den Zustand des Menschen als Defizit – er besagt, dass der Mensch nach dem Maßstab allein seiner »natürlichen« Konstitution unvollständig ist: Dem »homo naturalis« fehlt die Fähigkeit religiösen Erlebens, denn gerade diese ist diejenige Eigenschaft des Menschen, die über sein natürliches Wesen, sein Natursein hinausgeht. Wie ist nun das Verhältnis von Ottos Sündenbegriff, wie er ihn im Anschluss an ­Luther entwirft, zum eingangs beschriebenen Phänomen der »Scheu«, der religiösen »Angst« zu beurteilen? In erster Linie gewinnt Otto mit dem Sündenbegriff eine dezidiert dogmatische Sichtweise auf das Problem der Angst und damit eine Bestimmung des Angstbegriffs innerhalb des Rahmens christlicher Theologie, die er in Das Heilige nur andeutungsweise vorführen konnte. Aus Ottos hamartiologischen Überlegungen im Anschluss an L ­ uther wird noch deutlicher als zuvor klar, warum ihm so ausdrücklich an der strikten Unterscheidung von »profanen« und »religiösen« Momenten der Angst gelegen sein muss. Besonders in einer an ­Luther orientierten dogmatisch-theologischen Studie wird deutlich, warum für Otto »profane« Angst nicht in die Sphäre der Religion fallen und folglich niemals eine religiöse, »numinose« Stimmung sein kann. Gerade nach theologischer Betrachtungsweise ist nämlich aus der Perspektive des Glaubens heraus die profane, sich aus der Welt auf die Welt richtende Angst ein vollkommen auf die natürliche Welt beschränktes und in ihr kreisendes Phänomen. Laut Otto sind natürliche Angst und Furcht in L ­ uthers Terminologie Angelegenheiten des »natürlichen Menschen«, sie sind – aus der Perspektive des Glaubens gesehen  – Ausdrucksformen und Gefühle der menschlichen »Verlorenheit«, da sich innerhalb des Natürlichen durch sie keine »Ahnung« des »Ganz anderen«, des Göttlichen, ergeben kann. Profane Angst und Furcht fallen damit – theologisch gesprochen – unter den Bereich der Sünde, sie sind sogar als in sich ruhende, angeborene Eigenschaften spezifische Wesensmerkmale der 348 Folgerichtig verweist

Otto auch hier wieder auf seine Licentiatenarbeit, in der ihm L ­ uthers Rede vom »natürlichen Menschen« erstmals klar wurde und für sein weiteres Denken von grundlegender Wichtigkeit war. Es folgt daher auch hier der Wiederabdruck einer längeren Passage aus seiner Dissertation von 1898 (vgl. SU, 34–36 mit dem Wiederabdruck von AHG, 79 f). 349 Vgl. SU, 37. Der traditionelle Begriff des Sündenfalls wird von Otto in einem eigenen Aufsatz behandelt unter dem Leitbegriff der »Idee der Urschuld« (vgl. SU, 37–42).

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menschlichen Natur, die nach traditioneller Dogmatik unter den Begriff der »Erbsünde« fallen. Etwas dagegen völlig anderes ist eine Form angstvollen Erlebens, die gerade einen Ausbruch aus jener auf sich beschränkten Natürlichkeit und Profanität bedeutet. Eine Angst, die sich nicht auf den empirischen Ort ihres Erlebens, auf die Natur, die Welt beschränkt, sondern sich vielmehr auf ein ihr entgegengesetztes »Ganz anderes« und Übernatürliches richtet, lässt die Sphäre des »natürlichen Menschen«, den Zustand der Verlorenheit hinter sich. Indem sie ein numinoses Objekt jenseits der Welt zum Gegenstand hat, wird jene religiöse Angst gleichsam selbst numinos und eröffnet dem Menschen eine neue Perspektive auf sein Dasein, die Otto »Kreaturgefühl« nennt: In der numinosen Angst entlarvt der Mensch intuitiv jene Eigenschaften in und an sich, die unter die Bedingungen der Natur und damit unter den Begriff der Sünde fallen, als beschränkt und in sich verkrümmt. Zugleich wächst er in diesem »Kreaturgefühl« jedoch über jene natürliche Bedingtheit hinaus. Der Mensch erahnt also, angestoßen durch das Gefühl numinoser Angst – Otto nennt es bekanntlich »Scheu«, »tremendum« – die Paradoxie seiner eigenen Existenz: Die Verlorenheit seiner selbst als »natürlichem Menschen« und zugleich die Erlösung seiner selbst als über die Natur hinaus auf das Göttliche gerichtetem Menschen »im Geiste«. Er erlebt, »ahnt« das »Innesein Gottes selber in der Seele«.350 Zusammengefasst lässt sich demnach bei Otto folgende sündentheologische Perspektive auf das Phänomen der Angst herausarbeiten: Profane, alltägliche Angst ist eine empirische Erscheinungsform der theologischen Vorstellung der »Verlorenheit« des Menschen, mit der Otto den klassischen Sündenbegriff füllt. Jedoch kann jenes profane Angsterleben die theologische Vorstellung von Verlorenheit und Sünde nicht aus sich heraus hervorbringen. Der Grund dafür ist, dass der Mensch allein aufgrund seiner natürlichen, das heißt, mit den auf die bedingte Welt gerichteten Fähigkeiten – ­Luther nennt dies den »natürlichen Menschen« – die Unterscheidung seiner selbst von einer übernatürlichen, göttlichen Wirklichkeit nicht ans Licht bringen kann. Aufgrund seiner Beschränktheit auf die Welt weiß der »natürliche Mensch« nicht um seine »Verlorenheit«, er – und mit ihm die profane Angst – ruht in der natürlichen Profanität. Profane Angst ist demnach eine kausale Funktion der Natur, die aus sich heraus in keiner Weise eine Perspektive auf eine religiöse Deutung ihrer selbst eröffnet. Numinose »Angst« – »Scheu« – hingegen ist eine empirische Erscheinungsform der theologischen Vorstellung der »Kreatürlichkeit« des Menschen, die sich auf das Numinose bezogen weiß. In der »Scheu« wächst der Mensch über den »natürlichen Menschen« in sich hinaus, indem sich sein Fühlen von der Welt auf 350 SU,

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etwas der Welt schlechthin Entgegengesetztes, auf das über sie hinausgehende Göttliche richtet. Theologisch gesprochen entlarvt jenes Gefühl der »Scheu« die Verlorenheit der rein natürlichen und auf die Welt beschränkten Wirklichkeit. Der Mensch erlebt damit zugleich seine eigene Kreatürlichkeit, seine schlechthinnige Unterscheidung vom Göttlichen, welches ihm damit zugleich als allmächtiger Kreator »begegnet«. »Scheu« ist folglich deshalb ein dezidiert religiöses Angstgefühl, weil sie eine die Welt in ihrer Tiefe erfassende Paradoxie ans Licht bringt: Intuitiv »ahnt« der Mensch im »Kreaturgefühl«, im Gefühl der eigenen Nichtigkeit gegenüber der überweltlichen, göttlichen »majestas«, dass er selber gerade in diesem Fühlen mehr ist als »natürlicher Mensch«, nämlich dass er »Geist« hat und in jenem Geist der göttlichen Wirklichkeit auf geheimnisvolle Weise teilhaftig wird. Demgegenüber müssen alle profanen, auf Bedrohungen der Welt gerichteten Ängste trotz ihrer empirischen Ähnlichkeit als in sich verkrümmte Naturphänomene erscheinen, die in ihrer Natürlichkeit ruhen und niemals auf das Göttliche weisen können. Anders als sie, ist »Scheu«, numinose Angst, eine Funktion des Geistes. Was ­Luther mit der Mystik verbindet, sein eigentümlicher Hang zu den paradoxen Schwankungen und Erschütterungen im religiösen Erleben, spiegelt sich – wie Otto zeigt – letztlich in seinen theologischen Ausführungen zum Begriff der Sünde wider und gibt seiner theologischen Deutung des Phänomens der Angst ihr besonderes Gepräge. Im »horror mysticus« im »Grauen« numinoser Angst fühlt der Mensch intuitiv das, was erst nachträglich in der christlichen Botschaft, im Evangelium wiedererkannt und in Begriffe gefasst werden kann: Die »natürliche« profane Wirklichkeit menschlichen Lebens fällt unter den Begriff der Sünde, ist ein Zustand der Verlorenheit, der Gottferne, in dem allein profane, auf natürliche Prozesse zurückführbare Ängste regieren. Die Botschaft der Erlösung, der Gemeinschaft mit Gott, kann aus jenem rein natürlichen Zustand heraus weder gefühlt, noch erahnt, noch geglaubt werden. Erlösung kann daher allein in der Überwindung jener Natürlichkeit bestehen und sich in einem Modus ereignen, der auf paradoxe Weise innerhalb der natürlichen Empirie über die Grenzen des Natürlichen hinausgeht – durch das, was in der Natur eben nicht nur Natur, sondern Geist ist: die Fähigkeit, im Natürlichen, im Gefühl numinoser Angst Übernatürliches zu »ahnen«, das heißt, innerhalb der Welt eines Wertes gewahr zu werden, der alle Werte der Welt übersteigt. 1.4. Wirkungsgeschichtliche Aspekte von Ottos Lutherinterpretation und ihre Bedeutung für die theologische Beurteilung von Angst und Religion Obwohl die Studien zu L ­ uther in Ottos Gesamtwerk einen beträchtlichen Anteil ausmachen und sich von den Anfängen bis ins Spätwerk wie ein roter Faden verfolgen lassen, ist die Rezeption seiner Luther­deutung vergleichsweise be-

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scheiden geblieben. Zwar fand die Dissertation zu L ­ uthers Pneumatologie immer wieder eine gewisse Beachtung und zuweilen Zustimmung,351 dennoch wurde sie schließlich jedoch als reine Lutherstudie, also als Beitrag zur Erforschung und Deutung von ­Luthers Werk am Beispiel seines Geistverständnisses interpretiert und damit – missverstanden.352 Seine Wirkungsgeschichte wurde Ottos Erstlingswerk aus heutiger Sicht deshalb nicht gerecht, weil seine darin im Vordergrund stehenden Impulse zu einer eigenen Theorie religiösen Erlebens übersehen oder unterschätzt wurden. Die Schlüsselstellung von Ottos Luther­deutung innerhalb seines Gesamtwerks konnte erst in den späteren Schriften deutlich werden. Otto selbst weist Jahrzehnte nach seiner Promotion auf die Bedeutung seiner frühen Lutherstudie für sein Gesamtwerk hin, indem er ganze Passagen daraus in seinen späten Aufsatzbänden erneut abdruckt.353 Schon in der Dissertation deutet sich demnach schemenhaft an, was in den späteren Werken, besonders in Das Heilige und in einigen Aufsätzen deutlich wird: Die Uridee und die Grundlagen seiner Frömmigkeitstheorie, die Otto sein Leben lang verfolgte, die »Kontrastharmonie« des religiösen Erlebens, die im Menschen angelegte mystische Fähigkeit zum Gefühl der geheimnisvollen und paradoxen Unterscheidung der eigenen Kreatürlichkeit von dem alle Vernunft übersteigenden und dennoch im Gefühl als »eigentümliche Bewertung« begegnenden Göttlichen gewann Otto ursprünglich und auch in späteren Studien immer wieder vertiefend aus seiner Auseinandersetzung mit Martin ­Luther.354 Besonders die soeben herausgearbeiteten Punkte in Ottos Lutherinterpretation, ­Luthers Persönlichkeits‑ und Frömmigkeitsprofil,355 sein Verhältnis zu Traditionen der Mystik,356 sein Verständnis der Sünde, und, in allen diesen Punkten 351 Ottos Arbeit ist als Fachstudie zu ­Luthers Geistverständnis längere Zeit relativ unangefochten und beispiellos geblieben (vgl. Barth, Systematische Luther­deutung, 67, mit Verweis auf Walther v. Loewenich und den massiven Einspruch durch Regin Prenter). 352 Thorsten Dietz resümiert, das »Gegenwartsinteresse« überlagere bei Ottos Lutherstudien die »historisch-philologische Detailforschung« und habe deshalb kaum eine größere Wirkung in der Lutherforschung erzielen können (vgl. Dietz, Die ­Luther-Rezeption, 87). 353  Beachtlich ist dieser Vorgang allein schon deshalb, weil Otto eigentlich dafür bekannt ist, seine Werke immer wieder zu bearbeiten und weiterzudenken. Ein wortwörtlicher Wiederabdruck von Teilen eines Jahrzehnte zurückliegenden Jugendwerks ist dagegen ein für Otto ungewöhnlicher Vorgang, der einer werkgeschichtlichen Selbstinterpretation gleichkommt: Otto bekennt sich zu seinem Erstlingswerk, als wolle er damit die Quellen seines späteren Denkens selbst aufdecken. Die abgedruckten Passagen im Aufsatzband Sünde und Urschuld von 1932 (vgl. SU, 34 ff, 44 ff, 219 ff) weisen demnach alle in die Richtung von derjenigen Erlebnisdimension der Religion, die Otto in seinem späteren Werk als »Kreaturgefühl« bezeichnete. 354 Roderich Barth resümiert, »die Grundkoordinaten« von Ottos Hauptwerk seien bereits in der frühen Luther­deutung »präfiguriert« (vgl. Barth, Systematische Luther­deutung, 71). 355 Ulrich Asendorf sieht in Otto den ersten Lutherinterpreten, der das »personale Denken« in seine Lutherstudien integriert habe (vgl. Asendorf, Heiliger Geist, 206). 356 Besonders die bei Otto ausführlich dargestellte Verbindungslinie zwischen ­ Luther und Meister Eckhart wurde immer wieder  – teils kritisch (z. B. durch Karl Holl u. a.), teils positiv  – aufgenommen. Ausführlich hat Erich Seeberg die Parallelen zwischen Eckhart

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die herausragende Bedeutung des »dunklen omnipotentia-gott[es] von De servo arbitrio«,357 stehen in einer gewissen Nähe zu den theologischen‑ aber auch den gesellschaftlichen Fragen des frühen 20. Jahrhunderts. Umso erstaunlicher ist es, dass Ottos Lutherstudien dennoch keine größere Wirkung in der Lutherforschung des 20. Jahrhunderts entfalten konnten und bis heute nur eine marginale Rolle spielen.358 Mehrere Gründe sind hierfür denkbar. Es mag zunächst daran liegen, dass Ottos eigenes Hauptwerk selbst schon früh den Status eines Klassikers erlangte und in seiner Originalität und Begriffswelt den dahinterstehenden Denkweg – und mit ihm Ottos Lutherstudium – in den Hintergrund treten ließ. Tatsächlich hat Otto seine Lutherrezeption immer wieder zugunsten seines religionsphilosophischen Anliegens überzeichnet und selektiert.359 Viel schwerer wiegt jedoch, dass Otto in der Lutherforschung des frühen 20. Jahrhunderts keiner Gruppe zuzuordnen war.360 Weder entsprach Ottos­ Luther­deutung der Tradition Ritschls,361 in deren Wirkungskreis sie ursprünglich ihren Ausgang genommen hatte, noch passte sie zum konfessionellen Luthertum seiner Erlanger Lehrer.362 Doch auch der sogenannten »Lutherrenaissance«, und ­Luther herausgearbeitet in: Seeberg, Meister Eckhart. Zur Aufnahme Eckharts in die Lutherdeutungen des frühen 20. Jahrhunderts vgl. Degenhardt, Studien zum Wandel, 289 ff. 357  Vgl. DH23–25, 120. 358 Zu der bis heute minimalen Bedeutung Ottos in der Lutherforschung vgl. Schäufele, Rudolf Ottos Lutherbild, 176 f. 359  Wolf-Friedrich Schäufele spricht dabei im positiven Sinne von eine »Karikatur«, die Otto von L ­ uther gezeichnet habe, in dem Sinne, dass er pointiert einzelne Punkte in ­Luthers Werk herausgriff und überzeichnend interpretierte. Es muss derweil offen bleiben, wie wohl eine großangelegte Luther­deutung des späten Otto ausgesehen hätte. Die nach der Erinnerung von Ernst Benz gehegten Pläne Ottos für eine Monographie zu ­Luther fanden leider keine Realisierung mehr (vgl. hierzu Benz, Rudolf Otto und die Erforschung, 389). 360 Vgl. Stephan, L ­ uther in den Wandlungen, 93 Anm. 2, wo Otto wie später auch von Walter von Loewenich als »vierte Linie« bzw. als eigener Weg der Lutherforschung neben Karl Holl, Karl Barth und dem Neuluthertum ausgewiesen wird. Grundlegend zur L ­ uther­ deutung Ottos im Kontext seiner Zeit vgl. Barth, Systematische Luther­deutung, 58–74, bes. 67–73. Zum »Missverhältnis« der geringen Wirkung von Ottos Luther­deutung im Vergleich zur herausragenden Bedeutung L ­ uthers in Ottos Werk vgl. Schäufele, Rudolf Ottos Lutherbild, 174 f. 361 Ganz anders als Otto nannte Albrecht Ritschl – wie bereits erwähnt – ­Luthers Schrift De servo arbitrio bekanntlich noch ein »unglückseliges Machwerk« (vgl. Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. 1, 221). Zu Ottos Skepsis gegenüber der »Oberflächlichkeit« der liberalen Theologie seiner Zeit und ihrer Luther­deutung vgl. Wach, Rudolf Otto, 204. 362 Vgl. Wach, Rudolf Otto, 204: »Dem verknöcherten Intellektualismus so vieler konfessioneller lutherischer Theologen gegenüber mußte schon der junge Otto das Apostelwort zur Geltung bringen, daß der Buchstabe tötet, der Geist aber lebendig macht.« Obwohl gewisse Parallelen zur konservativeren Luther­deutung der Erlanger Tradition bei Otto nicht zu leugnen sind, konnte Otto sich der zu sehr auf ihre konfessionellen Formeln zurückgezogenen Lutherrezeption nicht anschließen. Thorsten Dietz deutet die Spuren der Verbindung mit Erlangen an, wenn er eine »Wiederanknüpfung an Topoi der konfessionellen Theologie bzw. der Erweckungstheologie« in Ottos Luther­deutung beobachtet, ohne dass er in »deren Verweigerung gegenüber dem modernen Problemniveau […] zurückfalle« (Dietz, Die ­Luther-Rezeption, 103).

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die im Gefolge Karl Holls im frühen 20. Jahrhundert aufbrach, blieb Otto eigen­tümlich fremd,363 ganz zu schweigen von demjenigen Zweig der Lutherforschung nach dem Ersten Weltkrieg, der von der Dialektischen Theologie dominiert wurde. Der Hang zur nationalen, gesellschaftstheoretischen oder psychologischen Gegenwartsdeutung, der die Lutherbilder der Zeit Ottos stark überformte, hat Otto wenig interessiert.364 Seine Luther­deutung ist vielmehr eine Grundlage seiner durchaus epochenübergreifend veranschlagten Theorie der Frömmigkeit, die sich zeitgeschichtlichen Anfragen und Verknüpfungen damit eher zu entziehen versucht. Ganz ohne Wirkung ist Ottos Luther­deutung jedoch nicht geblieben. Im Hintergrund der sensationellen weltweiten Rezeptionsgeschichte seines Hauptwerkes hat Ottos Lutherbild innerhalb seiner Theorie des Heiligen durchaus eine  – freilich kaum konkret belegbare  – Wirkung auf die theologischen und religionsphilosophischen Debatten seiner Zeit ausgeübt. Naheliegend ist diese Vermutung besonders im Hinblick auf die Lutherdeutungen der Zwanzigerjahre, in denen eine durchaus in gewisser Nähe zu Otto stehende Ambivalenz und Düsternis in ­Luthers Persönlichkeit entdeckt und fruchtbar gemacht wurde. Gerade in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg wurde, wie Thorsten Dietz darstellt, L ­ uther als kraftvolles und heroisches »religiöses Leitbild der Krisenkompetenz« wahrgenommen.365 Ottos Luther­deutung steht dem insbesondere hinsichtlich der Frage nach der Bedeutung der Angst in der Religion nahe. Entgegen beispielsweise dem Gedanken der Gottesfurcht bei Ritschl, der jene als »kindliche Ehrfurcht« und als gnadenvolle »Furcht der Liebe«, verstand366 tritt bei Otto das angstvolle Erschauern vor dem göttlichen »Ganz anderen« kraft363  Dies muss zunächst erstaunen angesichts der Tatsache, dass gerade Holl den Erlebnisbegriff bzw. dem Gedanken der »Erlebbarkeit von Rechtfertigung« bei ­Luther zum Durchbruch verholfen hat (vgl. Assel, der Andere Aufbruch, 469 u. 36). Thorsten Dietz sieht trotz einer gewissen Nähe Ottos zur Lutherrenaissance nach dem Ersten Weltkrieg (vgl. Dietz, Die ­Luther-Rezeption, 103) in Otto keinen Vorläufer derselben (vgl. a. a. O., 87), da es Otto nicht um eine »Vertiefung in den Grund evangelischer Theologie zu tun« gewesen sei, sondern um eine »Bewährung und Fortentwicklung angesichts drängender Zeitfragen« (a. a. O., 90 f). Karl Holls Befremden gegenüber Otto wird am Beispiel seiner Kritik an Ottos liturgiewissenschaftlichen Arbeiten besonders anschaulich deutlich: Holl wirft Otto hier schlichtweg vor, »unprotestantisch« zu sein (vgl. Wiefel-Jenner, Rudolf Ottos Liturgik, 244). Ottos L ­ uther entspricht nach Meinung der national-konservativen Luther­deutung in den Kreisen Holls also zu wenig dem Gedanken eines Luthertums als »deutschem Ereignis«. Die von Holl propagierte »Gewissensreligion« L ­ uthers muss folglich den weitverzweigten, teils mystischen Auslegungen ­Luthers bei Otto kritisch gegenüberstehen. Zum »langen Schatten« Holls, der Ottos Lutherinterpretation trotz oder gerade aufgrund einiger Ähnlichkeiten schließlich überdeckte, vgl. Schäufele, Rudolf Ottos Lutherbild, 177. 364 Zur Transformation der Lutherbilder im 20. Jahrhundert und Ottos Position darin vgl. Bornkamm, ­Luther im Spiegel, 112 und 119. 365 Dietz, Die L ­ uther-Rezeption, 104. 366 Vgl. die Bemerkungen zur Darstellung des Gottesfurchtgedankens Ritschls gegenüber Otto bei Dietz, Die L ­ uther-Rezeption, 86 f.

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voll hervor. Anhand zweier Beispiele soll nun die Wirkung von Ottos Luther­ deutung insbesondere in ihrer Bedeutung für den theologischen Angstbegriff veranschaulicht werden: Zum einen hat Otto gerade im Kontext seiner Luther­deutung nicht unwesentlich zur Wiederentdeckung und Wertschätzung des traditionellen theologischen Motivs des »Zornes Gottes« beigetragen. Im Zusammenhang des Zorn-GottesBegriffs nahm besonders Werner Elert entscheidende Impulse Ottos auf und gewann aus ihnen die Grundlagen seiner Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion in der Moderne. Zum anderen fand Ottos Entdeckung und Deutung der religiösen Erlebnisdimension in ­Luthers Leben Nachahmer und Gleichgesinnte. Besonders die vielrezipierte Lutherbiographie Gerhard Ritters kann als prominentes Beispiel einer Aufnahme von Ottos Lutherstudien mit ausdrücklicher Fokussierung auf den Angstbegriff gelten. Der »Zorn Gottes« und der Begriff Angst im Anschluss an Ottos Lutherrezeption. Die bedeutenden theologischen Impulse und Bewegungen im frühen 20. Jahrhundert haben sich alle auf je eigene Weise als Theologien der Krise verstanden, wobei als Prototyp der Theologie der Krise die Dialektische Theologie im Gefolge Karl Barths gilt. Das Lutherjahr 1917  – zugleich das Jahr der Erstveröffentlichung von Das Heilige  – fiel in den dramatischsten Abschnitt des Ersten Weltkriegs und stand damit zugleich am Anfang besonders schwerer Jahre der Kulturkrise Europas und insbesondere Deutschlands. Viele Deutungen ­Luthers aus jener Zeit versuchten daher ­Luther aus der bürgerlich-liberalen Tradition des ausgehenden 19. Jahrhunderts herauszulösen. Reformatorische Theologie nach L ­ uther wurde nun als eigenständiges und der bürgerlichen Kultur des ausgehenden 19. Jahrhunderts regelrecht entgegenstehendes Prinzip verstanden. Dem kulturidealistischen Religionsbegriff der liberalen Bürgermoderne wird mit ­Luther nun die Unverfügbarkeit des »deus absconditus« entgegengehalten.367 Die Wiederentdeckung des klassischen Begriffs des »Zornes Gottes« unterstrich jene Tendenz der »dunklen Seite in ­Luthers Gottesbegriff« und kann daher als paradigmatische Debatte jener Zeit gelten.368 Auch für Otto ist es demnach in Das Heilige »ganz zweifellos daß auch das Christentum ›vom Zorne Gottes‹ zu lehren habe, trotz Schleiermacher und Ritschl.«369 Die Überwindung der in der »Anfänger-Schrift« noch spürbaren 367 Beispiele hierfür sind unzählig vorhanden. Vgl. daher den Überblick von zur Mühlen, Wirkung und Rezeption III, in: L ­ uther Handbuch, 481–485. 368 Vgl. zur Mühlen, Wirkung und Rezeption III, in: L ­ uther Handbuch, 481, sowie Hofmann, Albrecht Ritschls Lutherrezeption, 228. Vgl. außerdem zur Bedeutung der Rede vom »Zorn Gottes« in der evangelischen Theologie grundlegend Volkmann, Der Zorn, und darin insbesondere zu ­Luther 75–114. 369 Vgl. DH23–25, 21.

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»Nachwirkungen Ritschls« in Ottos Hauptwerk tritt also in seiner Interpretation des Begriffs des »Zornes Gottes« besonders deutlich hervor.370 Dahinter steht der im Falle Ottos vielleicht von Theodor Häring inspirierte Gedanke, dass sich in der liberalen protestantischen Theologie in der Tradition Schleiermachers und Ritschls eine gewisse »Ausscheidung« des Zornes-Gottes-Gedankens aus der evangelischen Theologie bei gleichzeitiger Schwerpunktlegung auf den Begriff der Liebe vollzogen habe.371 Seit Schleiermacher wurden demnach – so die These – die angstvollen, dunklen und verstörenden Momente religiösen Erlebens als grauenvolle Chimären des Volksaberglaubens und als mythologische Überformungen aus dem Mittelalter übergangen oder relativiert.372 Auch wenn dieses sehr pauschale Urteil den durchaus eklatanten Differenzen zwischen den Lutherdeutungen Schleiermachers und Ritschls nicht gerecht wird,373 so gehen beide dennoch – wenn auch auf je eigenen Wegen – in der Geringschätzung des Zorn-Gottes-Motivs für die christliche Theologie einig: beide können »vom Zorn Gottes nur so reden, daß er für sie eine das christliche Erlösungsbewußtsein oder den lutherischen Christenstand nicht mehr gefährdende und im Grunde außerchristliche Gestalt des Gottesbewußtseins ist.«374

Aus jenem Problembewusstsein in Auseinandersetzung mit Schleiermacher und Ritschl heraus erhob sich an der konkreten Frage nach der Rede vom Zorn Gottes in der Theologie L ­ uthers schon zum Ende des 19. Jahrhunderts ein regelrechter Streit um das Frömmigkeits‑ und Gottesbild in L ­ uthers Theologie in 370 Vgl. DH23–25, 123, Anm. 1 und hierzu Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 211–214. 371 Zur »Ausscheidung des Zornes Gottes« aus der evangelischen Theologie vgl. grundlegend Schütte, Die Ausscheidung, 387–397. Hans-Walter Schütte arbeitete jenen Gedanken als einen gewissen Konsens innerhalb der evangelischen Theologie heraus, demzufolge sich mit Schleiermacher und Ritschl ein besonderer »Lehrtypus« herausgebildet habe, der die »eigentümliche, antithetische Momente umfassende Realität christlicher Gotteserfahrung nicht mehr zum Ausdruck« zu bringen vermochte (vgl. Schütte, a. a. O., 387). Zur Bedeutung des Zornes Gottes bei Theodor Häring und seiner Wirkung auf Otto vgl. oben im Zweiten Teil, Kap. I, 3.). 372 Der in diesen Zusammenhang einschlägige Bezugspunkt ist Schleiermachers 9. Augustanapredigt mit dem Diktum, »Daß wir nichts vom Zorne Gottes zu lehren haben« (vgl. hierzu Schütte, Die Ausscheidung, 388; Volkmann, Der Zorn, 145 ff, sowie zur Mühlen, Wirkung und Rezeption III, in: ­Luther Handbuch, 480 f). 373  Zu den Differenzen in der Luther­deutung bzw. der Bewertung der Rede vom »Zorn Gottes« bei Schleiermacher und Ritschl vgl. Schütte, Die Ausscheidung, 388 ff. Volkmann zeigt – Schütte generell zustimmend – dass Ritschl den Begriff des Zornes nicht banal »ausscheidet« sondern sehr wohl differenziert (vgl. hierzu auch Feldmann, Rudolf Otto und Albrecht Ritschl, 209–211). Dennoch tritt das Motiv des Zornes hinter der fundamentalen Bedeutung der Liebe in Ritschls Theologie zurück (vgl. Volkmann, Der Zorn, 188). 374  Schütte, Die Ausscheidung, 395. Für Schütte erweist sich jedoch »Die von dem einen ignorierte, von dem anderen in die Eschatologie abgedrängte Lehre vom Zorn Gottes […] bei ­Luther als die bedrohende Möglichkeit einer den Glauben überfallenden gegenwärtigen Erfahrung, die in Christus selber Gestalt gewonnen hat.« (a. a. O., 396).

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seiner Bedeutung für die Religion in der Moderne. Besonders heftig wurde die Debatte zwischen den theologischen Lagern Erlangens – hier besonders im Gefolge Theodosius Harnacks375 – und Göttingens – vertreten durch Albrecht Ritschl  – ausgetragen. Im ersten Band seines Hauptwerks zu ­Luther hatte Harnack 1862 die Persönlichkeit ­Luthers und seine Frömmigkeit in für damalige Verhältnisse bahnbrechender Weise herausgearbeitet. Besonders das Motiv des Zornes Gottes wird darin im Kontext von L ­ uthers Versöhnungslehre hervorgehoben.376 Gerade in der durch Gottes Zorn ausgelösten Angst des Gewissens sieht sich nach Harnacks Verständnis der Mensch als Sünder mit der göttlichen Wirklichkeit konfrontiert und dennoch in die göttliche Gnade aufgenommen.377 Ritschls darauf geäußerte Einwände, L ­ uthers Rede vom Zorn Gottes sei insbesondere in seiner Gotteslehre ein »Mißverständnis« und beruhe auf mittelalterlich-nominalistischen Resten in ­Luthers Theologie,378 wurden im zweiten Band von Harnacks Lutherwerk wiederum scharf bekämpft.379 Das Votum des Erlanger Luthertums, bei ­Luther gerade jene dunklen Momente des Gottesverhältnisses im Begriff des Deus absconditus unter dem Motiv des Zornes Gottes hervor zu heben, nahmen bei Theodosius Harnack erst ihren Ausgang. Zum verschärften Konflikt mit Göttingen und Ritschl kam es schließlich insbesondere durch Ottos Erlanger Lehrer Franz Hermann Reinhold von Frank, der, Harnacks Luther­deutung aufnehmend, besonders scharf gegen das modernisierte und liberalisierte Lutherbild Ritschls polemisierte.380 Hier wird deutlich, dass Otto  – obwohl in seinem gesamten Werk kein einziger ausdrücklicher Bezug zu den Lutherdeutungen Harnacks oder Franks zu finden ist  – offenbar in seinen frühen Jahren im Epizentrum der Lutherdebatten zwischen Erlangen und 375  Auch wenn nur der erste Band (1862) von Harnacks Luther­deutung in Erlangen erschien, kann auch der zweite Band von 1886 (von Harnack in Dorpat vollendet) als Werk in der Erlanger Tradition gelten (vgl. hierzu Hofmann, Die Luther­deutung, 227). 376 Vgl. in Harnack, L ­ uthers Theologie I, insbes. die Kapitel V und VI. 377 Vgl. insbesondere zur Verbindung der Angst mit der Vorstellung vom Zorn Gottes: Harnack, ­Luthers Theologie I, 316 f. 378  Ritschl, Rechtfertigung und Versöhnung, Bd. III, 540: »Mit dem Zorne Gottes aber hat Christus nicht in Berührung gestanden; die darauf gerichteten Aussprüche L ­ uther’s beruhen auf Mißverständnis«. Vgl. zu diesem Zusammenhang: Hofmann, Albrecht Ritschls Lutherrezeption, 228 ff. Das zentrale Problem in der Deutung des Zornes Gottes bei Ritschl ist seinen Kritikern zufolge die Weigerung Ritschls, Momente des Zorns »als Element des Versöhnungsgeschehens« zu sehen (vgl. Volkmann, Der Zorn, 188). 379 Vgl. zur dort insbes. in der Einleitung in deutlicher Zurückweisung Ritschls geforderte Interpretation ­Luthers als »Lebenstheologie« (Harnack, L ­ uthers Theologie II, bes. Vorwort und Einleitung), und dazu Hofmann, Albrecht Ritschls Lutherrezeption, 228 ff. 380 Vgl. hierzu grundlegend die theologiegeschichtlichen Beobachtungen zu jener Zeit in: Trillhaas, Albrecht Ritschl, 148 ff. Wolfgang Trillhaas sieht – im Anschluss an Frank – in Ritschls Lutherinterpretation geradezu eine Amputation bzw. eine »tiefgreifende Vereinfachung« L ­ uthers zugunsten eigener theologischer Modernisierungsversuche. Franks Einwände nehmen damit die Kritik an Ritschls Luther­deutung im frühen 20. Jahrhundert in einigen Punkten vorweg.

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Göttingen gestanden haben muss. Ottos spätere Distanzierungen von den Einflüssen Ritschls in seiner Dissertation weisen daher vielleicht nicht von ungefähr deutliche Parallelen zu der Luther­deutung seiner Erlanger Lehrer auf. Dennoch lag Otto nichts ferner, als vom liberalen Göttinger Paulus wieder zum konservativen Erlanger Saulus zu werden – Otto wählte offensichtlich einen Mittelweg zwischen beiden Lagern.381 Doch auch ohne eine direkte Anknüpfung an die Lutherdeutungen Harnacks oder Franks entwirft Otto insbesondere in seinem Hauptwerk eine leidenschaftliche Revitalisierung des Zorn-Gottes-Begriffs insbesondere im Kontext seiner Luther­deutung, die ihn – zumindest an dieser Stelle – inhaltlich in eine gewisse Nähe auch zu den Lutherdeutungen Karl Holls und der Dialektischen Theologie bringt.382 Gerade in seiner Betonung der dunklen Facetten in L ­ uthers Frömmigkeit, dem »mysterium tremendum« in seinem religiösen Erleben, kann Ottos Luther­deutung als wegweisend gelten, nimmt sie doch zahlreiche Lutherdeutungen der Zwanziger‑ und Dreißigerjahre und deren Zuspitzungen auf die Ambivalenz und Fragwürdigkeit menschlicher Existenz im modernen Lebensgefühl vorweg.383 381 Obwohl Otto z. B. mit Theodosius Harnack auch dessen herausragende Wertschätzung von ­Luthers De servo arbitrio gemeinsam hat (vgl. Harnack, L ­ uthers Theologie I, 178 ff) – eine Schrift L ­ uthers, die Ritschl bekanntlich regelrecht missbilligte – ergaben sich ihm hieraus offensichtlich keine direkten Impulse zur Anknüpfung. Auf die mögliche Verbindungslinie zwischen Otto und Harnack hat in jüngerer Zeit allein Thorsten Dietz hingewiesen (vgl. Dietz, Die ­Luther-Rezeption, 103, Anm. 100). Dass Otto sich an keiner Stelle auf Theodosius Harnack, sondern stets nur auf dessen Sohn und Ritschlschüler Adolf von Harnack bezieht, wird wohl daran liegen, dass er sich die generelle konfessionelle lutherische Orthodoxie von Harnack senior nicht zu eigen machen konnte. Allein schon das bei Otto stets vorhandene Interesse an naturwissenschaftlichen und gesellschaftlichen Debatten seiner Zeit sowie seine liberale Auffassung in Politik und Frömmigkeit machen ihm Theodosius Harnack – trotz der gewissen Nähe in der Luther­deutung – unattraktiv. Das Gesamtwerk Harnacks wurde bei aller Innovation in der Luther­deutung in seiner volkskirchlichen und bekenntnistheologischen Zielsetzung seit 1900 zumeist als veraltet angesehen und war durchzogen von »einer eigentümlichen Blindheit gegenüber allen krisenhaft epochenprägenden Entwicklungen außerhalb der kirchlichen Mauern« (vgl. hierzu Drehsen, Konfessionalistische Kirchentheologie, 171). Gerade beim jungen Otto dürfte zudem seine Loyalität und freundschaftliche Verbundenheit mit zahlreichen Protagonisten aus dem Göttinger Lager zu einer Vermeidung jedweder offizieller Verbindung mit Erlangen geführt haben. 382 Vgl. Schäfer, Ritschl, 82, sowie Schütte, Die Ausscheidung, 387. Einen anderen wichtigen Zweig der Wiederentdeckung des Zornes Gottes sieht Schütte besonders bei Emil Brunner (vgl. ebd.). 383 Vgl. hierzu die schwarfsinnigen Überlegungen von Walter von Loewenich zur Bedeutung Ottos in der Lutherrezeption im Neuprotestantismus: Loewenich, ­Luther und der Neuprotestantismus, 274–283. Loewenich sieht »in der Phänomenologie der Religion bei R. Otto ein Stück von dem Lebensgefühl der Krise der Moderne wirksam« (a. a. O., 278) und gesteht Otto zu, ein eigenständiger und wirkmächtiger Strang der Theologiegeschichte der Moderne (insbes. neben Karl Holl) zu sein. Ähnlich argumentiert dann auch Heinrich Bornkamm, wenn er über Ottos Lutherbild schreibt: »Vielmehr bietet er in seiner prophetischen Kraft ein unvergleichliches und dem modernen Menschen innerlich trotz allem Trennenden noch sehr nahes Zeugnis für die Grundphänomene aller Religion, die Schauder erregenden und

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Einer der profiliertesten Lutherforscher nach dem Ersten Weltkrieg und zugleich einer der wichtigsten Rezipienten von Ottos Luther­deutung ist Werner Elert. Als Erbe der Erlanger Theologie steht Elert insbesondere in seiner Luther­deutung recht deutlich in einer Linie mit Harnack und Frank. Allerdings war ihm als Kriegsteilnehmer im Ersten Weltkrieg das Krisenbewusstsein der Moderne in viel eindringlicherer Weise vertraut als seiner noch im traditionellen Luthertum des vorigen Jahrhunderts verwurzelten Lehrergeneration. Wie kaum ein anderer Theologe seiner Zeit nahm Elert in seinem Frühwerk Anfang der Zwanzigerjahre das Werk Ottos grundlegend in sein Denken auf und fand besonders im traditionellen Begriff des Zornes Gottes bei Otto ein »kulturkritisches Instrument«, das er, verknüpft mit dem Kulturpessimismus Oswald Spenglers, zu einem Kernanliegen der theologischen Gegenwarts‑ und Krisendeutung in seinem Buch Der Kampf um das Christentum von 1921 machte.384 Es geht ihm hier in besonderer Weise um eine Überwindung der liberalen Theologie im Gefolge Ritschls und ihrer bürgerlichen Ethik, die er in ihrer aufgeklärten Nüchternheit als »Rationalismus« bezeichnet und in der Kulturkrise des frühen 20. Jahrhunderts an ihr Ende kommen sieht.385 Eine entscheidende »wirkliche Überwindung« jenes Rationalismus sieht Elert gerade in Ottos Kategorie des Heiligen und seiner Luther­deutung unter dem Begriff des Zornes Gottes zum Durchbruch kommen: »Aber was für eine Wandlung gegenüber Ritschl, wenn Otto nun die gefundene Kategorie auf das Christentum anwendet! Gegenüber den banalen Einwänden Ritschls gewinnt Otto wieder gleich ­Luther ein echtes Empfinden für das im Zorn Gottes liegende Mysterium

zugleich beseligenden Erfahrungen des Göttlichen. Erst vor dem dunklen Hintergrunde des im Gewissen und in den Anfechtungen erlebten Zornes Gottes, des Erschauerns vor der unnahbaren Majestät und den Abgründen der Erwählung gewinnt ­Luthers jubelnder Glaube an Gottes Liebe seine Tiefe. Rudolf Otto versuchte mit dieser Rückbesinnung auf die Elemente von ­Luthers Frömmigkeit der landläufigen Vermenschlichung des christlichen Gottesbildes Einhalt zu gebieten.« (Bornkamm, ­Luther im Spiegel der deutschen Geistesgeschichte, 112). Bornkamm stellt Otto damit neben Theodosius Harnack, Ricarda Huch und Karl Holl als einen entscheidenden Protagonisten zur Wiederentdeckung der »Erfahrung der Majestät Gottes« als einem Erleben eigener Nichtigkeit und der schauervollen Unnahbarkeit Gottes dar (vgl. Bornkamm, a. a. O., 110 ff). 384  Vgl. Volkmann, 196. Zu den übrigen – meist ungenannten – Bezugnahmen Elerts auf Otto, insbes. in der Morphologie des Luthertums, vgl. Bayer, Werner Elerts apologetisches Frühwerk, 198 f. Zur Aufnahme Ottos bei Elert im Kontext des Zorn-Gottes-Begriffs vgl. grundlegend die Ausführungen zu Elerts »Erlebnistheologie« und der damit verbundenen meist »anonymen« Ottorezeption in Bayer, a. a. O., 195 ff. 385 Diese massive Kritik am Erbe liberaler Theologie verbindet Elert freilich – grundlegenden Differenzen zum Trotz  – mit den anderen theologischen Aufbruchsbewegungen jener Zeit, insbesondere mit dem frühen Karl Barth und der Dialektischen Theologie, die ebenso wie Elert produktive Impulse aus der Luther­deutung Theodosius Harnacks schöpfen konnten (vgl. hierzu Seeberg, L ­ uthers Theologie in Grundzügen, 1 f). Zum »Bruch« mit dem »Kulturprotestantismus« im Kontext des Zorn-Gottes-Begriffs bei Elert vgl. Hauber, Die Lehre,118.

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wie für das Mysterium des Sühnebedürfnisses und der Sühnung, auf das, wie Otto sagt, niemand verzichten kann, der christliche und biblische Religiosität vertreten will.«386

In Elerts Frühwerk ereignet sich demnach – zugespitzt auf den Begriff des Zornes Gottes – der Versuch, Ottos Theologie und insbesondere seine Luther­deutung in ein Anwendungsfeld zu führen, nämlich als eine dem modernen Krisenbewusstsein angemessene Wiederbelebung der Vorstellung des Deus absconditus, als des sich der Verfügbarkeit menschlichen Ermessens auf geradezu verstörende Weise entziehenden Gottesgedankens.387 Die kulturelle Krise der Moderne bildet bei Elert demnach eine Parallele zu den irrationalen und angstvollen Momenten der Transzendenz Gottes, die er in der Erlanger Schultradition bei Theodosius Harnack und Frank einerseits, und andererseits, in besonders vitaler Weise auf die Erlebnisdimension der Religion bezogen, bei Otto beschrieben findet.388 Im Angstbegriff findet Elert schließlich eine Klammer für jene Verbindung des individuellen Erlebens und der hinter dem Begriff des Zornes Gottes stehenden Vorstellung vom »Verborgenen Gott«. Im Lebensgefühl der Krise »unseres Zeitalters« begegnet jener laut Elert in seiner grauenerregenden und dennoch zugleich anziehenden Transzendenz in eben jener berühmten »Kontrastharmonie« von »tremendum« und »fascinans«, die Otto beschrieb.389 In teilweise brachialer Wortgewalt versucht Elert die apokalyptischen Tendenzen seiner Gegenwartskultur so mit traditionellen religiösen Begriffen zu verbinden und theologisch bzw. soteriologisch zu deuten: »Aber das Seltsame ist, daß das ferne Geheimnis Gottes, das uns mit seinem Zorn in Angst hält, eine unwiderstehliche Anziehung auf uns ausübt« […]. »Lassen wir uns aber von dem transzendenten Gott packen, mit Angst vor ihm erfüllen, aber auch mit der Kraft, Angst vor ihm zu verbreiten, so wird er die Skeptiker, die wieder Angst und Grauen vor diesem Geheimnis gelernt haben, mit unwiderstehlicher Gewalt anziehen.«390

Und Elert folgert weiter besonders im Hinblick auf das moderne Zeitalter: »Wer die Angst vor dem fernen Gott in ihrer ganzen Furchtbarkeit erlebt hat, weiß, daß der Tag, an dem sich uns sein Geheimnis restlos enthüllt, der Tag unserer Vernichtung ist. Denn er wird uns in dem alles hinwegfegenden Sturme seines Zornes auslöschen wie eine Kerze.« […] »Und dies ist darum der andere Angelpunkt unserer Verkündigung im skeptischen Zeitalter. Wenn wir den Menschen die Auferstehung Christi aus apologetischer 386

 Elert, Der Kampf, 448 f. Vgl. dazu grundlegend Slenczka, Selbstkonstitution, 50 ff.  Vgl. zu Elerts Aufnahme Ottos in den Kanon der Theologien der Krise, namentlich der »Lutherrenaissance, Dialektische[n] Theologie, sowie die konfessionell-lutherische Theologie« Bayer, Werner Elerts apologetisches Frühwerk, 162 f. 388 Vgl. hierzu insbes. zu der plausiblen Annahme einer Verbindung der Erlanger Tradition mit Rudolf Otto am Beispiel Elerts Slenczka, Selbstkonstitution, 55 f. 389 In dem Aufsatz Die Forderung unseres Zeitalters an die Sprecher der Christenheit von 1922 macht Elert den Begriff Angst in besonderer Weise zum Thema seiner Überlegungen und legt damit den Grundstein für seinen auch in späteren Werken immer wieder auftauchenden theologischen Angstbegriff (vgl. Elert, Die Forderung, insbes. 420 f.434–436). 390 Elert, Die Forderung, 434 ff. 387

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Feigheit verschweigen, können sie nie glauben, nie Gott erkennen, können sie auch nie den Frieden finden, ohne den das Erlebnis der Angst die aufrichtige Seele in das innere Chaos stürzt.«391

Obwohl Elerts theologischer Angstbegriff eindeutig von Ottos numinosen Kategorien religiösen Erlebens mit den Begriffen der »Scheu«, des »Grauens«, des »Kreaturgefühls« und des »mysterium tremendum« abhängig ist, geht Elert an dieser Stelle über Otto hinaus.392 Die diffizilen Unterscheidungen religiöser Gefühlskategorien bei Otto und seine darin begründete bewusste Vermeidung des Angstbegriffs zugunsten komplexer »numionser« Gefühlsbegriffe393 stellt Elert zugunsten seiner in erster Linie auf die kulturelle Wirklichkeit der Gegenwart gerichtete Krisentheologie zurück. Mit dem Angstbegriff findet er geradezu einen theologischen Grundbegriff für die Konstitution des religiösen Selbstbewusstseins in der modernen Wirklichkeit zwischen den Weltkriegen.394 Die Gegenwartsdeutung überwiegt demnach in Elerts theologischer Bewertung der Angst gegenüber den religionstheoretischen Überlegungen, die Otto anstellte. Zugleich bleibt Elert dabei in seinen frühen Werken hinter der Komplexität von Ottos frömmigkeitstheoretischem Anliegen zurück.395 Viel einfacher und deutlich anders als in Ottos Luther­deutung steht die Angst beim frühen Elert demnach letztlich für die säkulare Erscheinungsform der Transzendenz Gottes, die sich in den traditionellen Begriffen der Theologie mit dem Zorn Gottes beschreiben lässt.396 391 Elert,

Die Forderung, 434–436. zu Elerts impliziter Bezugnahme auf Otto: Slenczka, Selbstkonstitution, 59 f. 393 Ottos Vermeidung des Begriffs Angst im Kontext seiner Theorie religiösen Erlebens ist – wie sich bereits an verschiedenen Stellen andeutete – in seiner theologischen Gefühlstheorie begründet. Vgl. hierzu grundlegend Ottos fundamentale Unterscheidung von numinoser »Scheu« und natürlicher Angst, insbes. in DH, und dazu unten im Zweiten Teil, Kap. III. 394 Dahinter steht in erster Linie der Begriff der »Lebensangst«, die bei Oswald Spengler gleichsam als hinter aller Kultur stehendes Weltprinzip verstanden wird. Vgl. zusammenfassend erneut zum Angstbegriff bei Elert im Kontext seiner Otto‑ und Luther­deutung Slenczka, Selbstkonstitution, 60: »Diese natürliche, auch den nichtchristlichen Zeitgenossen vermittelbare Erfahrung der Brüchigkeit seiner Welt und deren Bestimmtsein vom Irrationalen Wirken eines Geschicks bzw. durch die sie auslösende Angst ist der negative Anknüpfungspunkt, auf den die christliche Rede vom Zorn Gottes und der menschlichen Sünde vermittelt wird.« 395 Elerts gegenüber Otto vereinfachte Theologie der Angst führt zu einigen Uneindeutigkeiten und zu Widersprüchen (vgl. dazu besonders die Anmerkungen in Slenczka, Selbstkonstitution, 58–60). Notger Slenczka macht deutlich, dass die »Verbalradikalismen« Elerts in den frühen Zwanzigerjahren im Kontext der Begriffe Zorn und Angst zwar wirkungsvoll die Stimmung seiner Zeit aufnehmen, in der inhaltlichen theologischen Argumentation jedoch dabei zuweilen unpräzise werden. 396 In seiner ausführlichen Studie zur Entwicklung des Zorn-Gottes-Begriffs bei Elert zeigt Reinhard Hauber auch die weiteren Entwicklungen und Verschiebungen in den späteren und späten Werken Elerts, insbesondere in der Morphologie des Luthertums auf, wo Elert insbesondere an ­Luthers De servo arbitrio die Idee des »Urerlebnisses« bei ­Luther entfaltet und dabei – auch hier wieder nur anonym – eindeutig auch auf Otto zurückgreift (vgl. Hauber, Die Lehre, bes. 130 ff). 392 Vgl.

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Schließlich und zusammengefasst weist die wiedereinsetzende Problematisierung der Rede vom Zorn Gottes bei Otto und Elert auf ein markantes theologie‑ und frömmigkeitsgeschichtliches Phänomen hin: Offensichtlich haben die Bedingungen der Moderne insbesondere im Krisenbewusstsein des frühen 20. Jahrhunderts zu einer Neubewertung des traditionellen Zornesmotivs geführt, die Schleiermacher und Ritschl in ihrer damaligen Zeit aufgrund der Lebensbedingungen noch nicht möglich war. Hans-Walter Schütte erwägt ganz in diesem Sinne, ob sich in der Moderne »nicht unter den Bedingungen der Reflexion ein Ersatz für die Lehre vom Zorn Gottes gebildet hat und zwar in der Gestalt, daß die christliche Erfahrung in der heutigen Zeit das Bewußtsein der Gottesferne nicht als ein sie betreffendes Zorngericht reflektiert, sondern als ein Sichentziehen Gottes, als eine Leerheit von Gott, für die er ein an der Grenze des Nichts schwebendes, unerkennbares Rätsel ist.«397

Geradezu als eine Durchführung jenes von Schütte anberaumten Programms kann der Entwurf einer »Dialektik des Fremden« von Dietrich Korsch gelten, der maßgeblich auch im Anschluss an ­Luther vorgeführt wird.398 Es geht dabei darum, die Ferne und Fremdheit Gottes in einer Korrelation zu der »Selbstentzogenheit« des Menschen im modernen Lebensgefühl zu verstehen. Religion erscheint in diesem Zusammenhang als eine »Differenzverarbeitungskapazität«, in der die Fremdheit und Entzogenheit Gottes mit dem mit sich selbst fremd gewordenen Selbstbewusstsein des Menschen dialektisch verschränkt und damit zugleich aufgehoben wird. Die Entzogenheit ist nach Meinung Korschs demnach zwar nicht zu beseitigen, jedoch kann sie im Gedanken der Fremdheit Gottes als Verborgenheit von ihrer zerstörerischen Bedrohlichkeit befreit werden. Insbesondere zum Begriff der »Verborgenheit Gottes« resümiert Korsch in diesem Zusammenhang: »Die evangelische Theologie kann dem Eindruck von Gottes Abwesenheit in der Welt standhalten, indem sie diese Abwesenheit als Gottes Verborgensein versteht. Gottes Verborgensein ist aber die Voraussetzung und Bedingung seiner Gegenwart im Glauben.«399

Dahinter steht der Gedanke einer Theologie, die jene von Schütte beschriebene »Leerheit von Gott« im modernen Lebensgefühl produktiv zu verarbeiten und in den christlichen Erlösungsglauben als entscheidendes Moment zu integrieren versteht, anstatt sich an dem Versuch der Beseitigung oder Glättung der Fremdheit im Gottes‑ und Selbstbild abzuarbeiten, der letztlich immer Vergeblich bleiben muss. Schüttes Ansinnen entspricht in etwa Elerts Anknüpfung an Ottos Luther­ deutung. Entgegen Ottos Selbstverständnis, eine eher zeitlose Theologie und 397 Schütte,

Die Ausscheidung, 397. Korsch, Dialektische Theologie, 3 ff. 399 Vgl. Korsch, Dialektische Theologie, 303. 398 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Frömmigkeitstheorie im Anschluss an L ­ uther zu entwerfen, die Grundmomente der Religion überhaupt beschreibt, wird das Motiv des göttlichen Zorns in Elerts Lesart anschlussfähig für ein genuin modernes Anliegen: Das »mysterium tremendum« in der Begegnung mit dem Göttlichen, das als »Kreaturgefühl« auftretende Angstmoment im religiösen Erleben tritt demnach in der eingangs beschriebenen Sinnkrise der Moderne und ihrem kulturellen Lebensgefühl in besonderer Weise zu Bewusstsein, bzw. gewinnt eine über die konfessionellen Grenzen hinausgehende Brisanz. Mit der Angst hat Elert dabei einen Begriff gefunden, in dem sich das moderne Krisenbewusstsein in eigentümlicher Weise mit den bei Otto beschriebenen religiösen Momenten des »Grauens« und der Idee des Deus absconditus, des Zornes Gottes, verbindet. Mehr als Otto geht es Elert im Kontext des Angstbegriff also um eine religiöse Gegenwartsdeutung. Die Angst und die Persönlichkeit ­Luthers. Wie bereits angedeutet, hatte Ottos Lutherbild auch einen gewissen Einfluss auf die Deutung L ­ uthers hinsichtlich seiner Persönlichkeit. Seit Ende der Zwanzigerjahre merkt Otto in einer nachträglich eingefügten Fußnote innerhalb des Lutherkapitels in Das Heilige an, er finde nunmehr »zum ersten Male von einem Historiker« seine »­Luther-auffassung bestätigt.«400 Die Rede ist von der Lutherbiographie des Freiburger Historikers Gerhard Ritter, die Otto in der Ausgabe von 1925 vorlag.401 Otto sieht der besagten Anmerkung in Das Heilige zufolge die »Aufgabe geschichtlicher Lutherforschung« darin,

400 Vgl. DH23–25, 119, Anm. 3. Trotz des ausdrücklichen Hinweises Ottos in seinem Hauptwerk ist die Verbindung von Ottos Luther­deutung mit derjenigen Gerhard Ritters bisher in der Sekundärliteratur nur wenig zur Kenntnis genommen worden (vgl. die kürzeren Hinweise in Bornkamm, L ­ uther im Spiegel, 137; Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, 134, Anm. 122 und Schäufele, Rudolf Ottos Lutherbild, 175). 401 Vgl. DH23–25, 119, Anm. 3. Die von Otto verwendete Ausgabe von Gerhard Ritters Luther­buch aus dem Jahre 1925 trug damals den Titel L ­ uther. Gestalt und Symbol. Es handelt sich dabei um die als Buch ausgearbeitete und erweitere Fassung eines biographischen Essays Ritters in Hans von Arnims zweibändigem Kompendium Kämpfer. Großes Menschentum aller Zeiten von 1923. In späteren Auflagen wurde die Gestalt des Buches immer wieder modifiziert – bis hin zum Titel, der 1935 »aus einer tief veränderten Zeitlage heraus« zu L ­ uther der Deutsche geändert wurde (vgl. Ritter, L ­ uther der Deutsche, 7). Seit 1945, bis zur 7. Auflage von 1983, fand das Buch seine endgültige Gestalt, wobei die noch aus der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg stammende Bedeutung L ­ uthers als »nationaler Heros« und als Figur des »Ewigen Deutschen« stark zurückgenommen wurde. Auch dies zeigt sich im wiederum neuen Buchtitel ­Luther. Gestalt und Tat (vgl. hierzu das Vorwort zur 6. Aufl. von 1959, in Ritter, ­Luther, 7 f). Die Auflagengeschichte von Ritters Buch ist also schon per se eine hochspannende Dokumentation der Transformationsprozesse der Luther­deutung im 20. Jahrhundert seit der Zeit Ottos. Zur Entstehungsgeschichte von Ritters Lutherbuch und den Hintergründen seiner Luther­deutung vgl. mit besonderer Berücksichtigung seiner Briefe: Schwabe / Reichardt (Hg.), Gerhard Ritter, 22 ff. Zu Leben und Werk Ritters insbesondere im Kontext seiner Luther­deutung vgl. Nowak, Gerhard Ritter, 581–590.

II. Studien zu L ­ uther und Schleiermacher

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»Zusammenhängen ­Luthers nachzuspüren nicht mit der scholastischen Spekulation sondern mit elementaren Grundgefühlen gelebter Volksreligion und speziell der Bauernreligion für die sich auch sonst bei L ­ uther Spuren finden.«402

Dass Otto die Lutherdarstellung Ritters unmittelbar einleuchtete, ist  – auch noch in den späteren Auflagen derselben  – leicht nachvollziehbar. Ganz unabhängig von den unterschiedlichen Einrahmungen, durch die Ritters Buch in seinen verschiedenen Auflagen gestaltet und verändert wurde, handelt es sich im Kern der Darstellung in der Tat von Anfang an um eine ganz im Sinne O ­ ttos unternommene Untersuchung, wenn Ritter die entscheidende und leitende Frage seiner Lutherstudie voranstellt: »Was hat L ­ uther von der Wirklichkeit Gottes erfahren?« und folglich das religiöse Erleben und überhaupt die religiöse Persönlichkeit ­Luthers in den Vordergrund stellt.403 Auch die immer wieder betonte Verbindung Ritters mit der Lutherrenaissance ist an dieser Stelle nachvollziehbar und markiert zugleich die Schnittmenge von Ottos Luther­deutung und dem Anliegen der Lutherforschung im Gefolge Karl Holls.404 Ritter versucht L ­ uthers »Persönlichkeit in ihrem Zentrum, in den innersten Regionen des Seelisch-Geistigen« zu erfassen und zugleich in ihre historische Situation einzubetten.405 Insbesondere das erste Kapitel mit dem Titel »Werdejahre« liest sich demnach in manchen Teilen als geradezu direkt an Ottos Lutherinterpretation 402 Vgl. DH23–25, 119, Anm. 3. Otto fährt hier fort: »Den dunklen omnipotentia-gott von De servo arbitrio kennt gerade Bauernreligion instinktiv und unabhängig vom kirchlichen Katechismus«. 403 Vgl. Ritter, L ­ uther, 11. 404 Kurt Nowak bezeichnet ­Luther als das »Lebensthema« Ritters und nennt Karl Holl als wichtigsten Einfluss für seine Luther­deutung (vgl. Nowak, Gerhard Ritter, 583). Aus Briefen Ritters ist ersichtlich, dass er sich selbst zur sog. »Lutherrenaissance« zählte, ohne dies jedoch genauer auszuführen. Mit seinem Bezug auf Otto schließt sich diese Einschätzung nicht aus, denn Otto wurde zuweilen ebenfalls zur Lutherrenaissance gerechnet und stand selbiger zumindest inhaltlich in manchen Punkten  – insbesondere in der Konzentration auf die Bedeutung des religiösen Erlebnisses  – nahe. Vgl. zu Ritters Selbstverständnis in seiner Luther­deutung mit besonderer Rücksicht auf »Angst« und »tremendum« im Gegensatz zum »protestantischen Humanitätsglauben«, Schwabe / Reichardt (Hg.), Gerhard Ritter, 24. Wie derweil das Verhältnis Ottos zu Karl Holl zu bestimmen ist, kann an dieser Stelle nicht eingehender untersucht werden. Angesichts der Bedeutung des »Erlebnisses« in der Deutung von ­Luthers Rechtfertigungsbegriff bei Holl sind gewisse Parallelen zu Otto offensichtlich. Vgl. zur Lutherrenaissance im Anschluss an Holl grundlegend Assel, Der andere Aufbruch, 469: Die entscheidende Aufbruchsimpulse der Lutherrenaissance waren laut Assel Holls Studien zu ­Luthers Römerbriefvorlesung, in denen er das »Rechtfertigungserlebnis des jungen L ­ uther« und die »gewissenstheologische Reflexion auf die unableitbar individuelle, aber gerade so allgemeinmenschliche Erlebbarkeit von Rechtfertigung« dargestellt habe. Im Unterschied zur älteren, liberalen Tradition der Lutherforschung, namentlich in erster Linie im Umfeld Ritschls, stehe dabei eine »religionskritische Antinomie des Rechtfertigungserlebnisses« im Vordergrund, der zufolge die Gemeinschaft mit Gott »gerade in seiner Verwerfung« gestiftet werde. Assel schwebt hier eine erlebnisbezogene Luther­deutung im Gefolge Holls (um 1910) vor, die er als »Rechtfertigung ›von unten‹« bezeichnet. (a.a.O, 472). 405 Vgl. Ritter, L ­ uther, 17.

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abgearbeitete Untersuchung, die Ottos frömmigkeitstheoretische Überlegungen in die historischen Zusammenhänge der Biographie ­Luthers – insbesondere in seinem Angsterleben – einzuarbeiten versucht. Ritter verweigert sich dabei den zahlreichen medizinisch-psychologischen Versuchen, die Anfechtungserfahrungen des jungen L ­ uther und den »Stachel dieser Ängste« rein pathologisch zu deuten.406 Stattdessen möchte Ritter L ­ uthers Beschreibungen Gottes »in seinem schrecklichen Zorn« und der Erfüllung seiner Seele mit ewiger »schrecklichster Bitterkeit, mit Furcht, mit Angst, mit Schwermut«407 dezidiert als religiöse Erlebnisse interpretieren und darstellen und bedient sich dabei des Vokabulars Ottos: »Da ist Gott als das mysterium tremendum, das ›schauerliche Geheimnis‹, als das er von Anbeginn aller Religion den Menschen erschienen ist – ebenso früh oder früher noch, als da sie in ihm den Quell höchster Beseligung des Menschen erkannten.«408

Ohne an irgendeiner Stelle namentlich auf Otto zu verweisen, legt Ritter offensichtlich seiner historischen Luther­deutung die frömmigkeitstheoretische Luther­deutung Ottos zu Grunde.409 Auch Ritter sieht demnach eine Diskrepanz zwischen »rationalen und nachempfundenen Gefühlen und Vorstellungen« in der domestizierten Religiosität des Bürgertums seiner Gegenwart gegenüber dem religiösen Genie ­Luthers, dessen religiöse Erlebnisbeschreibungen den »modernen Menschen […] höchst fremdartig, wie ein Stück Urgestein aus grauer Vorzeit anstarren« und gleichwohl den »dunklen, unheimlichen Untergrund seiner Frömmigkeit« ausmachen.410 Ohne Zweifel ist Otto gemeint, wenn Ritter in ­Luthers Angst‑ und Anfechtungserlebnissen Momente »religiösen Schreckens« erkennt, »dessen nahe Verwandtschaft mit der urtümlichen Volksreligiosität, mit der irrationalen Furcht vor dem ›Unheimlichen‹, uns erst die neuere religionspsychologische Forschung recht verdeutlicht hat«.411

Die von Otto immer wieder dargestellte »hiobischen Gedankenreihe« L ­ uthers, das antinomische Paradox des menschlichen Wesens, das zugleich die Dimension 406 Vgl. Ritter, ­Luther, 23 f. Der berühmteste Entwurf dieser Art ist sicherlich das damals vieldiskutierte Buch Young Man ­Luther von Erik H. Erikson aus dem Jahre 1958. Ein Überblick über die psychologisch-pathologischen Deutungen von L ­ uthers Persönlichkeit und Angst ist zu finden in: Dietz, Der Begriff der Furcht, 30 f. 407  Vgl. Ritter, L ­ uther, 26. 408 Ritter, L ­ uther, 26 f. Die auch an anderen Stellen eklatanten Bezugnahmen auf Otto insbesondere im Kontext der Angst als Schlüsselbegriff für eine Theorie religiösen Erlebens nach ­Luther werden von Ritter an keiner Stelle offiziell belegt. Auch in der Sekundärliteratur ist die offenkundige Abhängigkeit von Otto nie eingehender berücksichtig worden (ausgenommen Schäufele, Rudolf Ottos Lutherbild, 175). 409  An keiner Stelle wird Otto bei Ritter namentlich zitiert – auch in der Sekundärliteratur und in den Briefen Ritters ist kein Verweis auf Otto zu finden. 410 Ritter, L ­ uther, 27. 411 Ritter, L ­ uther, 28.

II. Studien zu L ­ uther und Schleiermacher

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des »natürlichen Menschen« wie auch die über seine Kreatürlichkeit hinausgehende Erfülltheit mit Gottes Geist umfasst, findet sich bei Ritter in angewandter Form in seiner Darstellung der religiösen Persönlichkeit ­Luthers wieder. ­Luther erscheint hier als geradezu prophetische Figur, die in herausragender Weise mit divinatorischen Fähigkeiten begabt ist, also in besonders intensiver Weise die Dimensionen religiösen Fühlens durchlebt und in genialer Weise zur Darstellung bringt.412 Ottos theologische Interpretation der Angst wird schließlich bei Ritter in herausragend anschaulicher Weise am Beispiel von ­Luthers religiösem Erleben dargestellt – freilich ohne auf Otto direkt zu verweisen.413 Was bei Otto als sich im Gefühl ereignende »Wertung« im religiösen Erleben oder sündentheologisch als »Idee der Verlorenheit« beschrieben wurde, nennt Ritter den »ethischen Charakter« in ­Luthers Anfechtungen. Gemeint ist damit ein sich von der rationalen Vorstellung des »Absoluten« und seiner banalen »Überwindung der Weltangst« unterscheidendes intuitives Gefühl, durch das »der ungeheure Abstand zwischen Gott und Mensch in der Form des Sündenbewußtseins sichtbar« wird.414 Dahinter sieht Ritter etwas noch »ursprünglicheres: das rein religiöse Moment – hinter der Angst des Verdammten die ganz ursprüngliche Angst der Kreatur vor dem Angesicht des Ewigen und Allmächtigen«.415 Auch der entscheidende Begriff Ottos für diesen Zusammenhang – das »Kreaturgefühl« – fehlt bei Ritter nicht: »jenes ›Kreaturgefühl‹ des Getrenntseins vom Quell alles Lebens, jenes vernichtende Bewußtwerden der eigenen Unzulänglichkeit, das sich immer wieder einstellt«.416

Auch bei Ritter wird folglich jede Form sittlicher, natürlicher Angst und Furcht von einer tief irrationalen Angst unterschieden, die mit der »Begegnung mit dem schlechthin Absoluten« einhergeht.417 Ebenso wie Otto kann auch Ritter daher die Innovation in ­Luthers Werk letztlich in der Wiederentdeckung der uralten, die Religion des Menschen schlechthin bestimmenden Paradoxie des Heiligen als Grund des »urchristlichen Mysteriums« ausmachen: »Das eigentlich Neue seiner religiösen Entdeckung war zugleich das allerälteste Erbgut christlicher Überlieferung: Gottes unendliche Heiligkeit und Majestät der alles beherr412 Bei Ritter wird die prophetische Natur L ­ uthers ebenfalls mit dem Paradoxbegriff verknüpft und erscheint wie eine komprimierte Zusammenfassung der Luther­deutung Ottos mit all ihren entscheidenden Pointen, wenn er schreibt: »Das eigentliche Geheimnis seines Prophetentums aber ist die höchst paradoxe, weil religiös begründete Tatsache, daß eben jenes Erzittern des natürlichen Menschen für ihn zum nie versiegenden Quell freiströmender Kraft wurde, welche die Welt überwindet, weil nichts mehr in der Welt sie zu erschrecken vermag« (Ritter, ­Luther, 28). Der Gedanke, ­Luther im Anschluss an Otto als »Profeten« zu interpretieren, findet sich ebenfalls bei Schäufele, Rudolf Ottos Lutherbild, 168 ff. 413 Vgl. insbes. Ritter, ­Luther, 30–37. 414  Vgl. Ritter, L ­ uther, 30. 415 Vgl. Ritter, L ­ uther, 30. 416 Ritter, ­Luther, 31. 417 Vgl. Ritter, L ­ uther, 31–35.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

schende Zentralgedanke, alle natürlichen Geltungsansprüche der menschlichen Kreatur gänzlich zu Boden schlagend, unbedingt und unbegrenzt in seinen sittlichen Forderungen – und dennoch dieser selbe Gott der Vater, der sich des gefallenen Sohnes erbarmt: der sündigen Kreatur in aller ihrer Unzulänglichkeit«.418

Otto selbst fand in der geradezu kongenialen Lutherbiographie Ritters schließlich auch Anregungen, die er wiederum in seine Lutherstudien übernehmen konnte. Besonders betrifft dies Ritters Einordnung ­Luthers in die Strukturen bäuerlicher Volksfrömmigkeit, die Otto offenbar sehr beeindruckte. Fortan wies er daher in Das Heilige mit besonderem Nachdruck auf die »Urgefühle« des »Bauernsohn[s]« ­Luther hin.419 Schlussendlich kommt Ritter nicht nur das Verdienst zu, Ottos Luther­deutung in einer umfassenden historischen Darstellung verortet und in anschaulicher Weise dargestellt zu haben, sondern es gelang ihm überdies auch eine eindrucksvolle Untersuchung des Phänomens der Angst in ihrer Bedeutung für die Religion am Beispiel L ­ uthers.420 So verdankt Mario Wandruszka in seinem klassischen Buch zum Angstbegriff ausdrücklich der Lutherdarstellung Ritters einen nicht unwesentlichen Hinweis, nämlich die Tatsache, dass der Begriff Angst gerade durch ­Luther um eine entscheidende Bedeutung erweitert wurde: Angst stehe demnach – und dies ist letztlich auch eine Verbindung zu Ottos Deutung der Angst nach ­Luther – nicht allein für das nahe am Etymon des Wortes orientierte Gefühl der »Enge« angesichts einer natürlichen Bedrohung, sondern schließe bei ­Luther im religiösen Kontext ein eigentümliches Moment der Erwartung, der »ἀποκαραδοκία«, ein.421 Erneut bestätigt sich also die Durchschlagskraft von ­Ottos Entdeckung: Gerade bei ­Luther tut sich eine fundamental neue Perspektive auf das Phänomen der Angst auf, die als genuin religiöse Dimension der Angst den Kern religiösen Erlebens zutiefst bestimmt und den Menschen auf geheimnisvolle Weise im Gefühl zu der Idee des Göttlichen ins Verhältnis setzt.422 418 Ritter,

L ­ uther, 36. DH23–25, 122 und 119 f, Anm. 3 (Die Bemerkungen zum »Bauernsohn« wurden erst in späteren Auflagen zugefügt) Es liegt nahe, hinter jener Ergänzung Ottos in seinem Hauptwerk die Anregung Ritters zu vermuten, wenn dieser schreibt, in L ­ uthers Persönlichkeit gebe es einen »unversieglichen Schaft an volkstümlicher Erbweisheit und Mutterwitz in Sprache und Denken – aber gewürzt mit einer starken Dosis von Aberglauben, in dem ja freilich auch noch ein Stück urtümlich-roher Volksreligiosität fortlebt: eine dumpfe Angst vor dem Walten unsichtbarer, unheimlicher Gewalten zwischen Himmel und Erde.« (Ritter, ­Luther, 19). 420  Es war Ritters Intention, L ­ uther nicht als Theologen oder als Reformator, sondern als »religiösen Menschen« darzustellen, wie aus seinen Briefen hervorgeht (vgl. zu Ritters Luther­ deutung in seinen Briefen: Schwabe / Reichardt (Hg.), Gerhard Ritter, 22 ff). 421 Vgl. den Verweis auf Ritter bei Wandruszka, Angst und Mut, 19. Laut Wandruszka wird bei Ritter deutlich, dass L ­ uther »der Angst eine stärkere Ausdruckskraft und einen größeren Anwendungsbereich gab, als sie vor ihm in der deutschen Sprache besessen […]«. 422  Dass spätere Lutherdeutungen, die ebenfalls die Ambivalenzen und Anfechtungserlebnisse in L ­ uthers Leben ausführlich untersuchten und betonten (vgl. z. B. das umfassende Werk Gerhard Ebelings), dabei nur in seltensten Fällen Bezüge zu Ottos Luther­deutung herstellten, liegt allem Anschein nach in dem wirkungsgeschichtlichen Abbruch der Rezeption 419 Vgl.

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1.5. Fazit: Angst und religiöses Erleben in Ottos Studien zu ­Luther Wie sich in der Untersuchung von Ottos Luther­deutung herausstellte, ging es ihm in herausragender Weise um die Bedeutung der Frömmigkeit L ­ uthers, innerhalb derer die Angst als religiöser Aspekt seiner Persönlichkeit eine entscheidende Rolle spielt. Anhand ausgewählter Schriften und Lebenszeugnisse ­Luthers gewann Otto somit Impulse für eine theologische Interpretation der Angst, die weltbezogene, natürliche Angst und Furcht von der auf das Göttliche gerichteten religiösen »Scheu« grundlegend zu unterscheiden versteht. Der Gewinn von Ottos Lutherstudien besteht dabei nicht in der philologischen Detailarbeit, die alle Schichten von L ­ uthers Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Angst rekonstruiert, sondern in einer zielgenau angelegten Fragestellung: Otto interessiert die Tiefendimension des religiösen Erlebens und ihr besonderer Aufbruch bei ­Luther selbst. Es handelt sich also in erster Linie um ein religionsphilosophisches und letztlich frömmigkeitstheoretisches Problem, das von Otto an L ­ uther herangetragen und in verschiedenen Zusammenhängen diskutiert wird. Man darf vermuten, dass hierbei schon seit der Arbeit zu ­Luthers Geistverständnis die Parallelunternehmung Ottos – seine Lektüre Schleiermachers – im Hintergrund wirksam war.423 In diesem Zusammenhang erwies sich Ottos Beitrag als Skizze einer theologischen Deutung der Angst, die sich gerade im Anschluss an seine Luther­deutung rekonstruieren lässt. Ein durchaus anderes Unternehmen von ungleich größerem Aufwand ist dagegen eine Untersuchung zum Begriff der Angst in ­Luthers Werk selbst, die 2009 von Thorsten Dietz vorgelegt wurde.424 Anhand seiner Studie zu ­Luthers Angstverständnis lassen sich einige Grundzüge von Ottos Überlegungen nochmals überprüfen. Die großangelegte Arbeit von Dietz zeigt zunächst, dass von einem einheitlichen Angstbegriff L ­ uthers innerhalb seines Werkes ohne weiteres keine Rede sein kann: Vielmehr handele es sich um weitreichende Entwicklungslinien innerhalb von ­Luthers Gesamtwerk, in denen sich das Begriffsfeld von Angst, Furcht und Anfechtung in den unterschiedlichsten Problemzusammenhängen, Literaturgattungen und Lebenskontexten entwickele.425 Auch Ottos nach dem Zweiten Weltkrieg begründet. Da in jenen Jahren Ottos Werk zunehmend in Vergessenheit geriet, waren auch seine Impulse für die Interpretation ­Luthers in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht mehr präsent. 423  Schon ein Jahr nach der Promotion veröffentlichte Otto 1899 seine Edition von ­Schleiermachers »Reden«. Es ist also davon auszugehen, dass seine intensiven Studien zum frühen Schleiermacher bis in die Zeit seiner Arbeit an der ­Luther-Dissertation zurückreichen und sich inhaltlich berühren. 424 Vgl. grundlegend Dietz, Der Begriff der Furcht bei L ­ uther. Auch wenn im Titel der Arbeit von »Furcht bei ­Luther« die Rede ist, ist dennoch auch der Angstbegriff gemeint. 425  Zum komplexen und vielschichtigen Zugang zum Begriff der Angst bei L ­ uther »zwischen Theologie und Psychologie« vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 28 ff. Dietz nimmt ausführlich die traditionsgeschichtlichen Hintergründe insbes. aus der Scholastik in den Blick, die in ­Luthers Werk am Angstbegriff greifbar werden. Zudem wird die Entwicklungsgeschichte inner-

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wenn die Vielschichtigkeit einer werkgeschichtlichen Untersuchung von L ­ uthers Angstverständnis die Luther­deutung Ottos zuweilen eigentümlich selektiv und ungenau erscheinen lässt, läuft Dietz’ Untersuchung letztlich auf eine ganz ähnliche Pointe hinaus: Auch ihm geht es in der Auseinandersetzung mit der Angst bei L ­ uther letztlich um das »Spannungsfeld von biblisch-theologischer Deutung und persönlich-affektiver Erfahrung«.426 Gleichwohl sich der viel systematischere und werkgeschichtliche Zugangsweg von demjenigen Ottos deutlich unterscheidet, ist die dahinterstehende Fragestellung durchaus ähnlich.427 Auch die von Otto nur grob skizzierte Entwicklung von ­Luthers Versuchen, das »religiöse Grunderlebnis« theologisch zu beschreiben, lässt sich in einer aufwändigen Untersuchung wie derjenigen von Dietz in vielen Punkten bestätigen. Besonders in der ausführlichen Besprechung von L ­ uthers Römerbriefvorlesung schildert Dietz einen regelrechten Durchbruch in ­Luthers Auseinandersetzung mit der Angst in Gestalt der »paradoxen Gewissheit« ihrer geradezu heilsökonomischen Notwendigkeit.428 Eine Parallele zu dem bei Otto freilich stärker gefühlstheoretisch dargestellten Gedanken der »Paradoxie« religiösen Erlebens bei L ­ uther ist an dieser Stelle durchaus greifbar. Wie Dietz zeigt, hat Otto offenbar trotz seiner sehr auf das Problem religiösen Erlebens spezifizierten Zugangsweise die entscheidenden Momente in L ­ uthers Angstdeutung aufgedeckt: Die gerade in der Angst erlebte Kreatürlichkeit des Menschen, die in Erlösungsbedürftigkeit und Sündenbewusstsein sein Selbst‑ und Gottesverhältnis zur Anschauung bringt.429 Dietz entwirft schließlich hieraus die Grundlagen einer »von ­Luther inspirierten Theologie der Angst«, die er als »Dialektik der Angst im Gottesverhältnis« beschreibt.430 Entgegen der Lutherlesart Oskar Pfisters, der zufolge Angst und Furcht analog zu der Unterscheidung von »Gesetz und Evangelium« als existentielle Probleme der Liebe Gottes entgegen stehen und letztlich in die problematische Vorstellung einer Heilung der Angst durch den Glauben halb von L ­ uthers Denken berücksichtigt und aus unterschiedlichen Themenkreisen heraus ins Gespräch gebracht (vgl. zum konzeptionellen Zugang: Dietz, a. a. O., 28 f). 426  Vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 32. 427  Zudem kommt bei Dietz eine Dimension der Angst hinzu, die Otto nicht nur vermeidet, sondern strickt ausscheidet: die psychopathologische Dimension der Angst. Dietz versucht demnach die Erkenntnisse von Psychologie, Verhaltenstherapie und Psychopathologie mit ­Luthers Überlegungen zur Angst ins Gespräch zu bringen (vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 327 ff). Diese überaus interessante Vorgehensweise ist jedoch Otto aus zwei Gründen nicht möglich: Erstens ist die psychologische Forschung in der Zeit Ottos noch längst nicht so weit fortgeschritten, dass sie der heutigen vergleichbar wäre. Zweitens – und dies ist viel entscheidender – sind die Fragen der Angsttherapie, der psychologischen und pathologischen Dimension der Angst aus inhaltlichen Gründen nicht Gegenstand von Ottos Interesse, sondern ein Problem für die ärztliche Behandlung. Otto geht es gerade bei ­Luther eben um eine von der Pathologie gelöste religiöse Erlebnissphäre, die sich den psychologischen Fragestellungen (und so auch der von Dietz unternommenen Frage nach »­Luthers Angstbewältigung«, a. a. O. 353 ff) entzieht. 428 Dietz, Der Begriff der Furcht, 169 ff, insbes. 173. 429 Vgl. insbes. zum Gesetzesbegriff bei ­Luther: Dietz, Der Begriff der Furcht, 322 ff. 430 Dietz, Der Begriff der Furcht, 372.

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führen,431 setzt Dietz den Schwerpunkt von L ­ uthers Deutung der Angst in einer Weise an, die ebenfalls recht nahe bei den Überlegungen Ottos liegt: Entgegen der Vorstellung eines »angstlosen Glaubens« schlägt laut Dietz bei L ­ uther die Vorstellung durch, dass Momente der Angst aufgrund der »schlechthin überlegenen Macht« Gottes dessen Gnade nicht entgegengesetzt, sondern in das Gottesbild zu integrieren seien.432 Christus und die Liebe Gottes geradewegs als Momente der Angstüberwindung zu beschreiben, erscheint folglich auch nach Dietz’ Untersuchung als Verkürzung. Anstatt einer Beseitigung der Angst sieht Dietz in L ­ uthers Glaubensverständnis vielmehr einen Vorgang der »Brechung ihrer absoluten Macht«.433 Als sich durch das Gesamtwerk bis in die letzten Lebensjahre ­Luthers hinziehende Konstante in seiner Auseinandersetzung mit der Angst ist dabei jenes »simul« in L ­ uthers Vorstellung des gerechtfertigten Sünders zu verstehen, das Dietz im Kontext des Angstbegriffs »Gleichzeitigkeit des Gegensätzlichen« nennt.434 Wie auch Otto hebt Dietz in seiner Luther­ deutung besonders die Ebene des Erfahrungsbezugs hervor, wenn er von einer gerade im Zusammenhang des Angstbegriffs stets präsenten »Erstperson-Perspektive« ­Luthers spricht.435 Gerade im konkret erfahrenen »Schrecken realisiere der Mensch einen Wahrheitszuwachs, nämlich die Erkenntnis der Bodenlosigkeit des eigenen Selbstverhältnisses«, seine eigene »Erlösungsbedürftigkeit«, die ihn zugleich der Allmacht Gottes gegenüberstelle.436 Gerade das »Krisenbewusstsein nach dem Ersten Weltkrieg« habe daher zu einer Revitalisierung jenes ambivalenten Gottesbildes ­Luthers führen können.437 Ottos Hinweis auf die im »Kreaturgefühl« über die innerweltliche Selbstbezogenheit des Menschen hinausweisende intuitive »Ahnung« der als das »Ganz andere« begegnenden göttlichen Wirklichkeit ist  – wie Dietz’ Untersuchung zeigt  – tatsächlich auf vielfältige Weise bei ­Luther angelegt: »Mit seiner existentiellen wie theologischen Auslotung religiöser Furchterfahrungen im Gottesverhältnis erweist sich ­Luther als Voraussetzung der modernen Prinzipalisierung des Angstdiskurses.«438 431  Vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 372–374. Zum Angstbegriff bei ­Luther im Kontext des Antinomistischen Streits vgl. ausführlich a. a. O., 304. 432 Vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 374. 433 Dietz, Der Begriff der Furcht, 380. 434  Vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 381 f. Dietz spricht hier in diesem Zusammenhang von einer »Bewältigungskompetenz von Ambivalenzerfahrungen«, die in ­Luthers Glaubensverständnis angelegt sei. 435 Vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 383. 436 Vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 326. Die Parallelen zu dem bei Otto herausgearbeiteten Begriff des »Kreaturgefühls« und der »Idee der Verlorenheit« liegen hier auf der Hand. 437 Vgl. Dietz, Der Begriff der Furcht, 374 f. Dietz nennt in diesem Zusammenhang ausdrücklich auch Otto, bei dem jene Öffnung der Lutherforschung für eine dialektische Integration der Dimension der Angst in das Gottesverhältnis des Menschen besonders deutlich zum Ausdruck komme (a. a. O., 374). 438 Dietz, Der Begriff, 6. Dietz versteht L ­ uthers Angstbegriff gewissermaßen als ein Nadel-

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Genau diesen Aspekt in ­Luthers Werk schon im anbrechenden 20. Jahrhundert hervorgehoben und bis an sein Lebensende weitergedacht zu haben, ist ein wichtiger Verdienst Ottos, der zugleich den Ausgangspunkt für seine eigene theologische Deutung der Angst markiert. So bleibt abschließend noch einmal in den entscheidenden Punkten zusammenzufassen, welchen Gewinn Otto aus seinen Lutherstudien ziehen konnte und welche Schlüsse sich daraus für eine theologische Deutung der Angst in der Moderne ziehen lassen. Vier Aspekte seien hierfür aus der Genese von Ottos Lutherbild als Ergebnis herausgegriffen. 1. Angst in der Persönlichkeit ­Luthers und in Ottos lutherischer Frömmigkeit. In seinem Vortrag zur akademischen Gedächtnisfeier anlässlich des Todes von Rudolf Otto stellte sein Amtsnachfolger Heinrich Frick die Frage: »Was ist es eigentlich, das diesen souveränen Geist [Otto] dazu treibt, immer wieder solch persönliches Bekenntnis zum christlichen Glauben, ja noch bestimmter: zum Luthertum abzulegen?«439

Es klingt geradezu wie eine direkte Antwort auf diese Frage, wenn sich ein anderer Otto nahestehender Gelehrter, Joachim Wach, erinnert: »Es war das numinose Erlebnis ­Luthers, die Persönlichkeit des gewaltigen, fast prophetischen Verkünders der Schau des verborgenen und sich doch wieder gnädig offenbarenden Gottes, das Otto durch sein Leben hindurch beschäftigte und bestimmte.«440

Die Lutherstudien Ottos sind, das wurde in den Überlegungen zu Ottos Luther­ deutung klar, Studien zur Theorie christlicher Frömmigkeit.441 Sie entstanden in einem Streitklima der theologischen Zentren Erlangen und Göttingen, in dem sich Otto weder den Lutherbildern des konservativ-konfessionellen Luthertums, noch denen des liberalen Kulturprotestantismus vorbehaltlos anschließen konnte. Schon die Dissertation weist demnach Spuren einer ganz eigenen Luther­ deutung auf, die Otto schließlich zu dem »pietistischen Lutheraner« machte, für den er sich bis an sein Lebensende ausgab.442 Sein Kampf als liberaler Göttinger gegen die als »rein juristisch-formal verstandenen« Lutherdeutungstraditionen der Orthodoxie hielt Otto indes nicht davon ab, im konservativen Luthertum öhr, von dem alle Angst-Debatten in der Modere zumindest in ihren Grundzügen abhängig sind. Er führt weiter aus: »Im Gottesverhältnis gewinnt menschliche Selbsterfahrung auch im Blick auf die Angst solche Züge der Unbedingtheit und Totalität, dass die Furcht im Gottesverhältnis die kategoriale Prinzipialität des späteres Angstbegriffs vorwegnimmt.« (ebd). 439 Frick, Gedächtnisrede, 18. 440 Wach, Rudolf Otto, 204 (kursiv im Original). Wach weist überdies als einziger Biograph Ottos auch auf Ottos Wertschätzung der lutherischen Orthodoxie hin: »Hollaz, Quenstedt, Chemnitz« (ebd.). 441  Auch Ernst Benz sieht das Problem der Frömmigkeit bei Otto als zentrales Thema an. Vgl. hierzu auch generell zu Ottos Luther­deutung: Benz, Rudolf Otto und die Erforschung, 384 ff. 442 Vgl. Frick, Rudolf Otto innerhalb, 14, sowie Wach, Rudolf Otto, 203.

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tiefe Spuren einer vertrauten Frömmigkeit zu sehen, die er aus seiner frühsten Kindheit kannte.443 In allen seinen Lutherschriften scheint daher Ottos Bemühen durch, ­Luther aus den Schranken und Überzeichnungen seiner orthodoxen wie liberalen Wirkungsgeschichte zu befreien. Anhand von ­Luthers Geistverständnis findet Otto zum Verständnis ­Luthers als religiösem Virtuosen, dessen umstürzende und tiefgründige Theologie weniger aus rationalistisch-abstrakter Spekulation, sondern primär aus dem Vermögen tiefsten frommen Erlebens entsprang. Die Verbindungen ­Luthers mit Grundgedanken der Mystik führten Otto schließlich zu einer Neudeutung des lutherischen Sünden‑ und Rechtfertigungsverständnisses: Keine supranaturale Eingebung oder formale Einsicht in einen dogmatischen Sachverhalt ist die Rechtfertigung sola fide, sondern ein in Worten nicht fassbares Erleben einer mystischen »unio« im Sinne eines adhaerere Deo, eine aus reinem Fühlen gewonnene selige Erlösung der unüberbietbaren Gemeinschaft mit Gott trotz der zugleich zur Gewissheit werdenden eigenen Verlorenheit in die Verstrickungen der Welt. Das Lutherbuch Gerhard Ritters bestätigte anschaulich Ottos Diagnose, der zufolge besonders in ­Luthers Persönlichkeit Momente von Angst und Verzweiflung als Grundelemente seines religiösen Erlebens auszumachen sind. Freilich hat Otto seine Begriffe des »tremendum«, der »numinosen Scheu« und des »Kreaturgefühls« nicht direkt bei L ­ uther selbst vorgefunden, wie die Studie von Thorsten Dietz zu ­Luthers Begriff der Furcht zeigt. Vielmehr handelt es sich bei Ottos Idee einer genuin religiösen Dimension der Angst, die sich von jedem natürlichen Angsterleben kategorisch unterscheidet, um eine konkrete Fragestellung, nämlich derjenigen nach dem Kern der Religion und ihrer Erlebnisdimension, die er an ­Luther herantrug und gerade in den Spuren seiner Persönlichkeit und ihrer Bedeutung für die Theologie eindrucksvoll herausarbeitete.444 2. Geist und Natur. Religiöse Angst als Unterscheidungserlebnis in Ottos Luther­deutung und ihre Besonderheit gegenüber natürlicher Angst. Von Ottos frühesten Schriften an ist der Begriff des Geistes für sein Denken zentral.445 Der Geist ist nach seinem Verständnis schon bei L ­ uther weder etwas 443

 Vgl. Benz, Rudolf Ottos Bedeutung, 389.  Dass Otto auch hierin seiner Zeit voraus war, zeigt das gegenwärtig erneut aufbrechende Interesse an der Persönlichkeit und Biographie L ­ uthers in ihrer Bedeutung für das Verständnis seines Denkens. Vgl. hierzu Korsch/ Leppin (Hg.), Martin ­Luther – Biographie und Theologie. 445 Jack Boozer geht sogar soweit zu sagen, der »Begriff des Heiligen Geistes« sei bei Otto der »sein ganzes späteres Denken formende[r] Kernbegriff« (vgl. Boozer, Rudolf Otto, 363). Schließlich kann Boozer Ottos »ganzes theologisches Wirken als eine Entfaltung seines Geistesverständnisses« ansehen, der den »Sitz des unterscheidenden Merkmals der Religion im Heiligen, oder im sensus numinis« bestimme (vgl. a. a. O., 378). Ebenso wichtig wird Ottos Geistbegriff bei Robin Minney eingeschätzt, nach dessen Meinung »the notion of the testimo444

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Magisches noch etwas supranatural Imputiertes, sondern er ist, wie Ferdinand Kattenbusch es zusammenfasst, bei Otto der Begriff für ein Wirken »im Menschen in seiner natürlichen Gegebenheit«.446 Was der Geist tatsächlich ist, muss jedoch der menschlichen Vernunft ein Geheimnis bleiben – allein sein Wirken als Gefühl ist für Otto eine unumgängliche Tatsache. Geist ist ihm die Wirklichkeit religiösen Erlebens selbst, die auf geheimnisvolle Weise das empirische Erleben des Menschen durchwaltet und die Allgegenwart Gottes im Erleben offenbart. Für die Frage nach der Bedeutung der Angst ist bei Otto die aus seinem Geistbegriff folgende Unterscheidung von Geist und Natur von grundlegender Wichtigkeit. Bei ­Luther geht Otto der Gedanke auf, dass sich im religiösen Erleben intuitiv eine Unterscheidung zweier Kategorien des menschlichen Wesens vollzieht: Die in die Welt und ihre Naturgesetze verstrickte Situation des Menschen als »homo naturalis« wird unterschieden von dem Vermögen, über diese in sich ruhende Natur hinauszugehen und von etwas Übernatürlichem berührt zu werden – als »homo spiritualis«. Jene lutherische Paradoxie zweier Sphären innerhalb des empirischen Erlebens des Menschen bedeutet bei Otto auch für das Phänomen der Angst eine Zweiteilung: Als »homo naturalis« empfindet der Mensch in der Interaktion mit der ihn umgebenden Welt bei physischer oder psychischer Bedrohung Angst und Furcht  – natürliche Affekte also, die sich auf die natürliche Wirklichkeit der Welt und ihre Objekte richten. Jedoch auch als »homo spiritualis« erlebt der Mensch im »Innesein Gottes selber in der Seele«447 laut Otto Momente der Angst, die er bei ­Luther auf vielfältige Weise beschrieben sieht. Es handelt sich dabei um ein mysteriöses »Grauen«, das keinen natürlichen und auf die Welt bezogenen Gegenstand benennen kann, sondern allein aus der Erahnung eines schlechthin überweltlichen »Ganz anderen« resultiert. Die in diesem Erleben sich ereignende Selbstunterscheidung des Menschen von einem als das »Ganz andere« erlebten Göttlichen ist demnach eine besondere – religiöse – Angst, sie ist »numinos« und wird von Otto daher als »Scheu« oder »Grauen« von »natürlicher Angst« streng unterschieden. Der »sensus numinis« des Menschen, seine Fähigkeit zu religiösem Erleben, führt demnach in ein Unterscheidungserlebnis, das der Erlebende als eine intuitive Begegnung mit dem Göttlichen deutet – Otto nennt dies »Kreaturgefühl«. Das Erleben und das Erlebte sind dabei nicht voneinander zu trennen, denn es geht um eine geheimnisvolle Wertung des schlechthin Heiligen innerhalb des Erlebens selber. nium spiritus sancti internum informs all his work, reappearing under the disguises of feeling and intuition (Gefühl, Anschauung and Ahnung), and of course central again in the sense of the numinous.« (vgl. Minney, The Development, 506). 446 Vgl. die wohlwollende Rezension von Ottos Dissertation durch seinen späteren »väterlichen Freund« Ferdinand Kattenbusch (vgl. Kattenbusch, Rez. R. Otto, 710). 447 SU, 24.

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Religiöse »Angst«  – die numinose »Scheu«  – ist im Anschluss an Ottos Luther­deutung ein Erleben, das die Unterscheidung der menschlichen Natur vom Göttlichen intuitiv ans Licht bringt. Sie erzeugt ein Gefühl des eigenen Vergehens gegenüber der göttlichen »majestas«. Gleichwohl sich jenes Gefühl auf die Kreatürlichkeit, also auf die Weltverstrickung und Nichtigkeit des Menschen richtet, ist es dennoch ein religiöses Gefühl, ein numinoses Erleben, weil es in der intuitiven Gegenüberstellung des eigenen Unwerts gegenüber einem allumfassenden, alles übersteigenden Wert des Heiligen zu einer Durchbrechung der Wesensgrenzen des homo naturalis kommt: Trotz der furchtbaren Entlarvung der eigenen beschränkten Kreatürlichkeit wird die numinose »Angst« dennoch als geheimnisvolle Begegnung mit dem Göttlichen erlebt, dessen heilvolle Zuwendung und Nähe eine weitere Qualität religiösen Erlebens – des Geistes – ist, die ­Luther »adhaeresis« und schließlich Glauben nennt. Geist und Glaube sind eins im religiösen Erleben.448 Was Otto als natürliche Ängste bezeichnet, sind dagegen auf die Welt beschränkte Affekte, die selbst im Falle der Todesangst oder der Gespensterangst ohne die Vorstellung eines schlechthin Überweltlichen, des Göttlichen auskommen. Sie stehen jedem Gottesglauben sogar förmlich entgegen, da sie der Inbegriff von in sich selbst verkrümmter, das heißt, auf sich selbst gerichteter Welt sind. Sie sind allein Angelegenheit des »homo naturalis« und dem hiervon grundverschieden Erleben der »Scheu«, der numinosen Angst, bestenfalls ähnlich. Otto bietet letztlich besonders im Falle seiner theologischen Angstdeutung eine psychologische Erweiterung dessen, was als L ­ uthers »Unterscheidungslehre« beschrieben wurde: eine intuitive, eben als Gefühl sich ereignende Fundamentalunterscheidung der Botschaft der Rechtfertigung gegenüber der Wirklichkeit menschlichen Lebens; eine Unterscheidung der allumfassenden göttlichen Wirklichkeit gegenüber der angstvollen menschlichen Kreatürlichkeit.449 Wirken des 448 Robin Minney resümiert zu Ottos Verständnis der Identität von Geist und Glaube bei ­ uther: »Similarly unacceptable is the dogmatic terminology which describes the holy Spirit as L causa prima and Faith as causa secunda for the new life. Just as there can be no ›God of the gaps‹ so there can be no theory of first‑ and second-level causality. There can be no super-psychology working alongside normal psychology, sometimes expressed as empirical psychology. God’s activity is empirical, and this includes working in the inmost soul of mankind, and is not any kind of additional or supernatural psychological factor.« (Minney, The Development, 508). 449  Der Begriff der Unterscheidung ist  – wie bereits erwähnt  – besonders von Gerhard Ebeling für die Deutung der Theologie L ­ uthers in Anspruch genommen worden. In seiner Darstellung des Verhältnisses von »distinctio« und »unio« bei ­Luther im Kontext seines Verhältnisses zur Ontologie der Scholastik plädiert Ebeling dafür – den hiesigen Überlegungen im Anschluss an Otto nicht unähnlich – die distictio bei ­Luther nicht als »logische Konkordanzmethode« zu verstehen, sondern »die Strittigkeit der Wirklichkeit […] im Lebensvollzug selbst auszutragen« (vgl. Ebeling, L ­ uthers Wirklichkeitsverständnis in: Wort und Glaube IV, 472). In diesem Sinne scheint Ebeling letztlich in seinem Aufsatz zum Verhältnis von Lebensangst und Glaubensanfechtung im Spannungsfeld von Psychotherapie und Theologie (als Unterscheidung von »Heilung und Heil«) den bei L ­ uther gelernten Unterscheidungsbegriff geradezu als Grundierung vor Augen zu haben, wenn er die Antithetik psychologisch-empirischer Angst

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Geistes meint demnach ein sich im empirischen Gefühl ereignendes Erleben, das als angstvolle Selbstunterscheidung der Kreatur von ihrem Schöpfer gedeutet wird und damit zugleich zu einer geheimnisvollen Ahnung des unfassbaren göttlichen Mysteriums führt. Die Schlüsse, die L ­ uther aus jenem Erleben zog, nannte Otto L ­ uthers »hiobische Gedankenreihe«, die eben nicht als »logische Paradoxie« erdacht, sondern im Erleben selbst als Gewissheit der »prinzipielle[n] Strittigkeit menschlichen Lebens« gewonnen wird.450 Die numinose Angst bei L ­ uther prägte demnach sein Wirklichkeitsverständnis entscheidend: Menschliches Leben erscheint in christlicher Perspektive als prinzipielle Paradoxie.451 Die Auflösung jener Grundstruktur der religiösen Deutung menschlichen Lebens nach L ­ uther ist jedoch nicht auf dem Wege logisch-theologischen Denkens zu erwirken. Otto teilt leidenschaftlich die Skepsis ­Luthers gegenüber rationalistischer philosophischer Spekulation. L ­ uthers zentraler Gedanke der Unterscheidung ist demnach keine theologische Finte, sondern die Artikulation eines Unterscheidungsgeschehens, das sich im Erleben ereignet und im Evangelium als unüberbietbar wahr wiedererkannt wird. ­Luthers Unterscheidungslehre bekommt in Ottos Geistverständnis demnach eine Gefühlskomponente vorgeschaltet: Besonders in Gestalt einer geheimnisvollen »Scheu« zeigt sich im Menschen seine Anlage für ein intuitives Erleben der Unterscheidung seiner selbst von dem, was über die Welt schlechthin hinausgeht und dessen Teil er dennoch ist. Albrecht Beutels und religiösem Anfechtungserlebens in ihrer spannungsvollen Dialektik gegenüberstellt (vgl. hierzu grundlegend Ebeling, Lebensangst und Glaubensanfechtung, in: Wort und Glaube III, 362–387). In der Erörterung des korrelativen Zusammenhangs von »Gotteserkenntnis« und »Selbsterkenntnis« (a. a. O., 386), nimmt Ebeling letztlich sogar  – ohne sich dessen bewusst zu sein – das Zentralanliegen von Ottos Dissertation und Geistverständnis auf: »Eine Lehre vom heiligen Geist müsste sich wohl daran bewähren, daß sie die natürlichen Bedingungen des Geistlichen ernst nimmt und die theologischen Aussagen über den Menschen, über Sünde und Glauben, auch auf deren psychologische Implikationen hin bedenkt.« (a. a. O., 387). 450 Vgl. Beutel, Theologie als Unterscheidungslehre, 450. 451 Vgl. auch in diesem Zusammenhang die Überlegungen zu einer Unterscheidungslehre nach L ­ uther von Gerhard Ebeling, der immer wieder auf den paradoxen bzw. dialektischen Charakter des lutherschen Unterscheidens hinweist und zugleich als essentiellen Bestandteil seiner Dynamik ausmacht: »Diese schroffe Antithetik, die von früh an ­Luthers Denken bestimmt, wird nun aber – der christologischen Zweinaturenlehre genau entsprechend – zusammengehalten durch ein Zugleich (simul) der Gegensätze, ja durch das Wunder ihrer Vereinung (unio).« (Ebeling, Das rechte Unterscheiden, 442). Allerdings erscheint die Vorstellung der »Fundamentalunterscheidung« bei Ebeling oft als ein stark reflexiver, intellektueller Vorgang. Im Anschluss an Ottos Überlegungen wäre zu bedenken, ob der Vorgang des Unterscheidens nicht auch oder sogar primär als ein intuitiver Vorgang, als ein Erleben vorstellbar wäre. In deutlicher Nähe zu Otto befindet sich Ebeling möglicherweise, wenn er den Geist als Ort und Kraft des Unterscheidens benennt: »Ist doch der heilige Geist selber – das halten wir als ein erstes fest – die Kraft des Unterscheidens.« (Ebeling, Heiliger Geist und Zeitgeist, 110). Dies vorausgesetzt, erscheint auch mit Ebeling eine im Erleben sich vollziehende Wirksamkeit des Geistes im Sinne eines intuitiven Wertens und Unterscheidens denkbar, wenn er schreibt, es liege »im Wesen der theologischen Fundamentalunterscheidung, daß hier jeweils das ganze Beziehungsgeflecht des Seins in der Welt vor Gott präsent ist, in der Bewegtheit des Widersprechens und Versöhnens.« (a. a. O., 457).

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Vorschlag, dem reformatorischen Prinzip des »sola scriptura« ein gleichermaßen bei ­Luther zentrales Prinzip des »sola experientia« als »dessen sachgemäße hermeneutische Anwendung« zu veranschlagen, hat demnach – so könnte man sagen – bei Otto eine prominente Durchführung gefunden.452 3. Angst als Gefühl der Verlorenheit in Ottos Sündentheologie. Ottos lebenslanges Anliegen als Theologe und Christ war der Erweis des Christentums als Erlösungsreligion schlechthin in der Gewissheit, »daß Christus ein ›Versühner‹ sei«. Ottos Bemühungen galten dabei der Einsicht, dass die christliche Botschaft die Artikulation einer Wahrheit sei, die – dies hat Otto bei ­Luther gelernt – allein im Erleben für den Menschen zum Ereignis, zur Wirklichkeit werden kann. Dahinter steht die Einsicht, dass menschliches Leben allein an der Welt gemessen unter dem Urteil der Verlorenheit stehen muss und zugleich – dies eben spiegelt Ottos Kontrastharmonie religiösen Erlebens  – in der göttlichen Gnade aufgehoben ist. Weder im konservativen Luthertum seiner Erlanger Lehrer, noch in der liberalen Theologie Göttingens fand Otto jene Grundeinsicht vollends erschlossen. Sie bot sich erst auf dem Wege einer eigenen Lesart ­Luthers, die Otto den Schlussstein seiner Theologie schon in frühen Jahren vorzeichnete: Allein im Erleben, im Gefühl ist unüberbietbar mitgeteilt und wirklich, was menschliche Begriffe als Sünde und Versühnung im Gottesverhältnis des Menschen zu beschreiben versuchen. Wie ein Vermächtnis klingt in diesem Sinne, was Otto in einer unscheinbaren Fußnote seiner Schrift Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum von 1930 zur Rede von Christus als dem »Versühner« als dem »tiefste[n] Sinn seiner Erscheinung« schreibt: »Mein Buch über ›das Heilige‹ ist seinerzeit entstanden aus den Versuchen, in meiner Vorlesung für mich selbst und für meine Hörer einen Zugang zu schaffen zu dieser tiefsten aller christlichen Intuitionen, die ich in den orthodoxen Konstruktionen der ›Versöhnungslehren‹ sowohl angedeutet wie verschüttet erkannte, und die mir auch in den Versuchen Ritschls über ›Rechtfertigung und Versöhnung‹ nicht gefunden erschien. Ich kam zu dem Ergebnisse, daß ›Sühne‹ einer Theorie in Begriffen im tiefsten Grunde nicht zugänglich sei. Das ›Fallbeil‹ – wie einer meiner Kritiker es gut bezeichnet – fiel – eine für alle Rationalisten unbequeme Tatsache. Aber was ich ›begriff‹, das war, daß wir oft im tiefsten Grunde das ›verstehen‹, was wir nicht ›begreifen‹ und wofür wir keine Theorie haben, wie ­Luther sagt: ›Gott kann man nicht begreifen, und man fühlet ihn doch.‹«453

Die im Sühne-Glauben beschlossene, aufgehobene und erlöste Gewissheit der Sünde des Menschen wurde Otto in ­Luthers Werk in der Beschreibung jenen 452 Vgl. Beutel, Theologie als Erfahrungswissenschaft, 454 f. Den Ausspruch »sola experientia« entnimmt Beutel einer Tischrede ­Luthers und resümiert in diesem Zusammenhang, ­Luther habe »die individuelle Erfahrung als Quelle und Ziel aller theologischen Erkenntnis« freigelegt. Im Hinblick auf WA 19, 489, 15 stellt Beutel fest: »Der Ausdruck Glaubenserfahrung dürfte von ­Luther geprägt worden sein« (vgl. a. a. O., 454). Generell zu ­Luthers Theologie als »Erfahrungswissenschaft vgl. Beutel, Theologie als Erfahrungswissenschaft, 454–459. 453 GICh, 81 f, Anm. 1.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Erlebens klar, welches Otto später als »Idee der Verlorenheit« bezeichnete: Die intuitive Erkenntnis eigenen Unwertes, restloser Nichtigkeit und Kreatürlichkeit im Erleben einer Angst, die allein »coram deo«, allein in der Begegnung mit dem »Ganz anderen« aufbricht und sich daher von jeder auf die Welt gerichteten Angst grundlegend unterscheidet. 4. Die Bedeutung von Ottos Lutherrezeption für den Angstbegriff in der Moderne. Mit Nachdruck wies Ottos Lehrstuhlnachfolger Heinrich Frick immer wieder auf die charakteristische Positionierung Ottos als »Mitte« zwischen dem konservativen Luthertum einerseits und dem liberalen Kulturprotestantismus andererseits hin und konnte dies besonders am Begriff des Zornes Gottes belegen: »Der ›Zorn‹ Gottes ist dem Ritschlianismus ein anthropomorpher Rest aus überholter Vorstellungsart und Redeweise von Gott. Wie anders Otto!«454

Frick betont damit überdies Ottos besondere Sensibilität für die Bedrohtheit menschlichen Lebens gegenüber dem zum Durchbruch kommenden allgemeinen Krisenbewusstsein nach dem Ersten Weltkrieg. Werner Elerts Aufnahme der Luther­deutung Ottos in seine theologische Interpretation der Angst in den Zwanzigerjahren zeigt, dass Otto besonders in seinem Frühwerk seiner Zeit voraus war: Seine Loslösung von der Orthodoxie, besonders aber von dem liberalen bürgerlicheren Kulturprotestantismus der Ritschl-Ära nahm in charakteristischer Weise Impulse der theologischen Strömungen nach dem Ersten Weltkrieg vorweg. Sein Lutherbild kam dem Krisenbewusstsein der Moderne in jener Zeit besonders entgegen und hat im Hintergrund des Hauptwerks Das Heilige sicherlich auch zum großen Erfolg Ottos in den Zwanzigerjahren beigetragen. Otto verhalf dabei der lutherischen Frömmigkeit wie der Religion überhaupt zu einer Wiederentdeckung ihrer ambivalenten Erlebnisdimension, sowie ihrer unhintergehbaren eigenen Provinz, die sich konservativen wie liberalen Vereinnahmungsversuchen sowohl für die Repristination eines traditionalistischen Kirchentums wie für eine bürgerliche Gemeindeethik und Lebenskultur auf eindrückliche Art und Weise auf der Ebene irrationalen Erlebens versperrt. Die große Leistung von Ottos Geistbegriff und der von ihm ausgehenden theologischen Differenzierung des Angstbegriffs ist es, einerseits dem modernen Menschenbild und Lebensgefühl in besonderer Weise entgegen zu kommen und sich diesem andererseits dennoch zu entheben. Gerade in der Moderne sieht sich der Mensch mit der »natürlichen« Wirklichkeit, der Profanität seiner Existenz in besonderer Totalität ausgesetzt und umgeben. Es entsteht ein Lebensgefühl, das in seiner rationalen Abgeschlossenheit zu ruhen scheint und den Gottesgedanken in nie dagewesener Weise von sich weist. Anhand von ­Luthers Zeugnissen angst454 Frick,

Rudolf Otto innerhalb der theologischen Situation, 6.

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voller Anfechtungen und der hier greifbaren Unterscheidung des Natürlichen und Geistlichen fand Otto einen Zugang zur Beschreibung eines genuin religiösen Erlebens, das daher gerade unter den Bedingen der Moderne von großer Aktualität zu sein scheint: Im Lebensgefühl restloser Profanität im Zuge eines immer stärker naturwissenschaftlichen und säkularen Weltbildes bekommt das Erleben eigener Endlichkeit und Nichtigkeit eine besondere Schärfe und Eindringlichkeit. Dennoch entzieht sich Otto auch zugleich einer Anknüpfung an die Angstdebatten der Moderne. Indem er im Erleben der »Scheu« eine von Angst grundverschiedene Begegnung mit dem »Ganz anderen« im Sinne eines Deutungs‑ und Bewertungsvorgangs im Gefühl beschreibt, entwirft Otto eine bewusst zeitlose und dennoch an L ­ uther anknüpfbare Ebene der Wirklichkeit der Religion, die gerade nicht an das moderne Krisenbewusstsein und den damit verbundenen Angstbegriff gebunden ist.

2. Angst und Religion in Ottos Deutung Schleiermachers Für die Grundlagen von Ottos Unterscheidung der Angst von einem besonderen Erleben der »Scheu« als einem religiösen Gefühl ist – ebenso wie für seine Theologie überhaupt – die Auseinandersetzung mit L ­ uther von zentralster Bedeutung. Seine frühe Beschäftigung mit Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher bildet dem gegenüber ein inhaltliches und besonders methodisches Gegengewicht. In seiner Wirkungsgeschichte ist Otto nicht primär als Lutheraner und Lutherforscher, sondern in erster Linie als kongenialer Erbe Schleiermachers wahrgenommen und von seinen Interpreten gelegentlich gar als »Schleiermacher redivivus« bezeichnet worden.455 Schon Adolf von Harnack konnte Otto für das frühe 20. Jahrhundert Verdienste beimessen, die denen Schleiermachers kaum nachstehen: »Als vor 130 Jahren Schleiermacher ›die Religion‹, und als in unseren Tagen Otto ›das Heilige‹ aus umstrickenden und niederziehenden Verbindungen herausführte, ging ein Schauer der Erleuchtung und Befreiung durch deutsche evangelische Christen. Ähnlich, nur viel stärker, müssen wir uns den Eindruck denken, den Marcion in einem großen Teil der Christenheit hervorbrachte, als er mit seinem Evangelium hervortrat und die ›Neuheit des Evangeliums‹, das Wort von ›dem neuen Wein, der die alten Schläuche zerreißt‹, an die Spitze stellte.«456

Der hohe Stellenwert L ­ uthers in Ottos Gesamtwerk, von der ersten Veröffentlichung an bis in die späten Werke hinein, scheint demnach in der Wirkungsgeschichte hinter seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher zurückzuste455  Vgl. u. a. Heiler, Die Bedeutung, 25 und in diesem Sinne auch Van der Leeuw, Rudolf Otto, 76. 456 Vgl. Harnack, Die Neuheit des Evangeliums, 363.

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hen: Zwar bilden die zahllosen Bezüge auf das Leben und Werk des Reformators die wohl wichtigste Konstante in Ottos Denken, jedoch wurde Ottos Bedeutung und Wirkung auf die Debatten zum Religionsbegriff im 20. Jahrhundert dennoch in erster Linie als eine Revitalisierung eines Schleiermacher’schen Anliegens wahrgenommen. Die Schleiermacherinterpretation Ottos ist demnach in der Sekundärliteratur deutlich ausführlicher und häufiger untersucht worden als seine Luther­deutung.457 Worin besteht nun jene Bezugnahme Ottos auf Schleiermacher und welche Bedeutung hat sie für seine theologische Interpretation des Verhältnisses von Angst und Religion? In drei Schritten soll sich dieser Frage genähert werden: Erstens werden die frühen Schleiermacherstudien Ottos untersucht, die zeitlich bis in die Phase der Licentiatenpromotion in Göttingen zurückreichen und sich in erster Linie an Ottos Deutung der »Reden« Schleiermachers orientieren. In einem zweiten Schritt soll die Schleiermacherinterpretation Ottos in seinem Hauptwerk Das Heilige dahingehend befragt werden, inwiefern sie Ottos Beitrag zu einer Theologie der Angst bereichert. Schließlich sei drittens ein Blick auf die Schleiermacherstudien in Ottos Spätwerk geworfen, insbesondere in seinem Werk West-östliche Mystik sowie in seiner Auseinandersetzung mit der Schleiermacherdeutung Wilhelm Herrmanns.458 457 In den letzten Jahren sind besonders im angelsächsischen Raum Studien zum Verhältnis von Schleiermacher und Otto entstanden, wie zum Beispiel Mariña, Friedrich Schleiermacher and Rudolf Otto, 457–473. Eine ganze Debatte über das Verhältnis von Otto und ­Schleiermacher wurde jüngst ausgetragen zwischen Andrew Dole und Arthur David Smith (vgl. Dole, Schleiermacher and Otto on religion, 389–413; Smith, Schleiermacher and Otto on religion, 295–313; Smith, Otto’s criticisms of Schleiermacher, 187–204 sowie Dole, On »nothing to distinguish«, 449–468). In dieser Auseinandersetzung geht es in erster Linie um die Frage nach der Möglichkeit göttlichen Eingreifens in die Kausalität der Natur. Dabei wird von Dole die These in den Raum gestellt, entgegen Schleiermacher, der Religion vollkommen »naturalistic« verstehe, sei Otto offen für »supernatural events«, also für religiöse Erfahrungen im supranaturalistischen Sinne. Dem entgegen tritt Smith in dieser Frage für eine größere Nähe zwischen Schleiermacher und Otto ein: Beide bieten – so Smith – eine Religionstheorie, die sich letztlich dem Supranaturalismus verweigert. Auch wenn die Debatte hochinteressant ist und insbesondere die Position Smiths gewisse Berührungspunkte zu der hier vertretenen Interpretation aufweist, ist sie dennoch im vorliegenden Kontext nur sehr begrenzt erörterbar. Die Zuspitzung des Verhältnisses zwischen Schleiermacher und Otto auf das Naturalismus‑ und Supranaturalismusproblem bedeutet letztlich eine derart starke Einengung des Erkenntnisinteresses, dass sie die hier verfolgten Ebenen der Untersuchung kaum weiterbringen. Außerdem leidet die Debatte unter einer deutlichen Schwerpunktlegung auf Ottos Hauptwerk Das Heilige, während die in der vorliegenden Untersuchung stärker berücksichtigten frühen und späten Werke Ottos kaum zu Wort kommen. Den diffizilen Problemen der Schleiermacherdeutung Ottos werden daher eher die beiden deutschsprachigen Studien jüngeren Datums gerecht, die von Claus-Dieter Osthövener und Roderich Barth verfasst wurden. Beide verlegen ihren Schwerpunkt auf je eigene Weise viel mehr als die angelsächsischen Interpreten auch auf die Genese von Ottos Schleiermacherverständnis im Gesamtwerk und beziehen dabei in erster Linie frömmigkeits‑ und gefühlstheoretische Fragen ein (vgl. Osthövener, Ottos Auseinandersetzung mit Schleiermacher, 179–190 und Barth, Religion und Gefühl, 15–48). 458 Anders als in der Luther­ deutung Ottos, die für den Angstbegriff von besonders zen-

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2.1. Das Ewige im Endlichen – Ottos frühe Beschäftigung mit Schleiermacher Am Tag nach seiner Licentiatenpromotion, am 9. Juli 1898, hielt Otto eine Probevorlesung vor der versammelten Theologischen Fakultät in Göttingen und erlangte damit die theologische Lehrbefähigung. Ein Jahr später, im Sommersemester 1901, veranstaltete er dann neben einem Kolleg zur Problemgeschichte der Ethik eine Lehrveranstaltung zu »Schleiermachers Theologie«.459 Seit Ottos frühster Lehrtätigkeit bildete seine Auseinandersetzung mit Schleiermacher fortan eine Grundsäule in seiner akademischen Lehrtätigkeit.460 Die frühe Auseinandersetzung Ottos mit Schleiermacher schlug sich sodann in zwei Veröffentlichungen nieder, die im Folgenden kurz dargestellt und nach ihrer Relevanz für das Verhältnis von Angst und Religion befragt werden sollen: Ottos Edition von Schleiermachers berühmten »Reden« aus dem Jahre 1899 sowie der Aufsatz Wie Schleiermacher die Religion wiederentdeckte von 1903. Die Edition der »Reden« Schleiermachers. Die für seine Studien wohl wichtigste Textgrundlage aus dem Werk Schleiermachers besorgte Otto selber: Hundert Jahre nach ihrem ersten Erscheinen gab Otto im Jahre 1899 Schleiermachers berühmtes Frühwerk Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern in seiner Urfassung als kommentierte Ausgabe neu heraus.461 Der Grund war, dass Otto die damals kaum zugängliche Erstauflage von Schleiermachers Klassiker in besonderer Weise schätzte. Gegenüber den späteren Überarbeitungen Schleiermachers sieht Otto in der ersten Auflage einen »genialen Wurf[e]«,462 in dem der »frische, jugendliche und ursprüngliche Erguß« seines Denkens noch tralem Stellenwert ist, wird die vorliegende Untersuchung zu Ottos Schleiermacherrezeption weniger ausführlich vorgehen und sich auf die für den Angstbegriff wichtigsten Inhalte beschränken. 459 Vgl. Verzeichnis der Vorlesungen auf der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen während des Sommerhalbjahrs 1901, Göttingen 1901, 4. 460 Veranstaltungen zur »Theologie Schleiermachers« hielt Otto allein in seiner Göttinger Zeit dreimal: im Sommersemester 1901, im Wintersemester 1908/09 und im Sommersemester 1913 (vgl. jeweils im Verzeichnis der Vorlesungen auf der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen). In Breslau setzte Otto seine schon in Göttingen begonnenen Vorlesungen zur Glaubenslehre fort. Im Sommersemester 1917 sowie im Wintersemester 1917/18 bot er jeweils parallel zu seinen Glaubenslehrevorlesungen Seminare zu Schleiermachers Theologie, bzw. Schleiermachers Glaubenslehre an (vgl. Verzeichnis der Vorlesungen an der Schlesischen Friedrich Wilhelms-Universität zu Breslau). 461 Die Redenausgabe Ottos erlebte zu seinen Lebzeiten mehrere Auflagen und wurde – insbesondere in Ottos »Einführung« und dem »Rückblick« am Ende des Buchs – immer wieder überarbeitet. Da im vorliegenden Kontext besonders die Zusammenhänge des Angstbegriffs in ihrer Verbindung zu den späteren Werken Ottos von Interesse sind, wird im Folgenden der am weitesten verbreitete Nachdruck der letzten Überarbeitung (5. Aufl.) verwendet. Der Text Schleiermachers wird im Folgenden nach der Paginierung von Schleiermachers Originalausgabe von 1799 zitiert, die Kommentare Ottos nach der Seitenzählung der 8. Auflage (= ND der 5. Aufl.) seiner Edition. 462 Vgl. RE8, 223.

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in seiner »Ursprünglichkeit« vorhanden und spürbar sei.463 Schon in dieser Begründung seines Editionsunternehmens deutet sich an, was sich Otto in erster Linie von seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher versprach: Ähnlich wie im Falle L ­ uthers ist es besonders die religiöse Virtuosität und intuitive Begabung Schleiermachers, die Otto zu faszinieren scheint. Für sein schon in der Dissertation sich andeutendes Programm einer Theorie der Frömmigkeit und ihres Erlebnisgrundes meint er in Schleiermacher einen maßgeblichen Verbündeten zu finden. Es spricht überdies einiges dafür, Ottos Schleiermacherlektüre nicht als Folgeprojekt seiner Lutherarbeit, sondern als Parallelunternehmung zu vermuten, die ihn zu der Untersuchung von L ­ uthers Persönlichkeit und religiösem Erleben möglicherweise geradezu veranlasste.464 Für die Frage nach der Bedeutung von Momenten der Angst in der Religion scheint Ottos Neuausgabe der Reden zunächst von wenig Ertrag zu sein, da in Das Heilige die entscheidenden Impulse für die Beschreibung der angstvollen Dimension in der Kategorie des Heiligen zumeist mit seiner Interpretation von Schleiermachers »Glaubenslehre« in Zusammenhang gebracht werden. Und tatsächlich stellt Otto seine für eine theologische Deutung der Angst zentrale Konzeption des »Kreaturgefühls« in seinem Hauptwerk insbesondere im Anschluss an Schleiermachers Gedanken des »Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit« aus dessen Opus magnum Der christliche Glaube vor.465 Die in diesem Zusammenhang geäußerte Kritik Ottos an Schleiermacher dominiert seither die Untersuchungen zu Ottos Schleiermacherdeutung.466 Dies zum Anlass, soll daher anhand einiger Beispiele der Versuch unternommen werden, Ottos Ausgabe der von ihm bevorzugten »Urgestalt« von Schleiermachers Reden über die Religion dahingehend zu untersuchen, inwiefern sich in ihnen schon Spuren genau jener konkreten Gefühlsdimensionen dargestellt finden, die für Ottos späteres Konzept des »mysterium tremendum« als grund463 Vgl. RE8, 14 f. Ottos Redenausgabe machte den Lesern des 20. Jahrhunderts die Erstauflage überhaupt erst wieder zugänglich, die bis dato allein in der synoptischen Ausgabe Georg Christian Bernhard Pünjers erhältlich war. In Ottos Nachlass findet sich eine ebensolche Pünjerausgabe mit zahllosen eingebunden Blancoseiten voller handschriftlicher Notizen. Sie bildeten offensichtlich die Arbeitsgrundlage für die Reden-Edition. Ottos Ausgabe trug auch aus diesem Grund nicht unwesentlich zur verstärkten Schleiermacherrezeption des frühen 20. Jahrhunderts bei. Nebenbei bemerkt zeigt sich auch in der Neuausgabe der »Reden« eine weitere Facette der schon in der Luther­deutung Ottos erkennbaren Emanzipationsbewegung gegenüber der Ritschlschule. Schon Ritschl selbst war es in erster Linie um eine Weiterführung Schleiermachers und eine Würdigung des Gesamtwerks gegangen, während Otto gerade das in der Spätromantik verhaftete Erstlingswerk in seiner Urfassung schätzt. Vgl. zu Ritschls Interpretation von Schleiermachers Reden Scheliha, Albrecht Ritschls Deutung, 728–747. 464 Zur Bedeutung der Redenedition in ihrem Verhältnis zu den anderen Frühwerken Ottos vgl. Minney, The Development, 509 f. 465 Vgl. DH23–25, 9 f und dazu unten im Zweiten Teil, Kap. II, 2.2. 466 Vgl. hierzu erneut die bereits erwähnte angelsächsische Debatte zu Schleiermacher und Otto zwischen Andrew Dole und Arthur David Smith.

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legend gelten können.467 Besonders aufschlussreich sind dabei die erläuternden Kommentare Ottos, die er der Textedition beigab, sowie der umfangreiche Rückblick, den er dem Text Schleiermachers hintanstellte. An beidem, Kommentarwerk wie Rückblick, wird schnell deutlich, dass Otto durch sie mehr als nur eine Lesehilfe beigeben, sondern vielmehr eine ganz eigene Interpretation der »Reden« vorlegen wollte, die zeitweilig mehr über Otto selbst als über ­Schleiermacher zu verraten scheint.468 Bevor möglichen Anknüpfungspunkten für die Frage nach dem Angstbegriff nachgegangen werden kann, sind zunächst einige hierfür wichtige Grundgedanken in Ottos Interpretation darzustellen. Aufschlussreich ist hierfür die berühmte zweite Rede Schleiermachers, in der Otto den Mittelteil als »wichtigste[n] Teil der Rede und des ganzen Werkes« hervorhebt.469 Die von Schleiermacher hier ausgeführte Definition des Wesens der Religion als »Anschauung und Gefühl« und den prominenten Begriff des »Universums« nimmt Otto zum Ausgangspunkt einer Zuspitzung von Schleiermachers Überlegungen.470 Immer wieder weist Otto darauf hin, es gehe bei Schleiermachers Ausführungen um eine »Erscheinung des Unendlichen im Endlichen« sowie des »Ewigen im Zeitlichen«,471 wohinter ein eigentümliches »Grundgefühl gegen das Unendliche Sein«472 stehe. Das besondere Augenmerk Ottos ruht dabei auf einem »Zwischenstück«, das Schleiermachers theoretische Ausführungen zur Religion als »Anschauung und Gefühl« von – wie Otto es nennt – »konkreten Beispielen« trennt.473 Hier meint Otto offenbar den Kern von Schleiermachers Religionstheorie aufzuspüren und sieht in dem Satz »Schnell und zauberisch entwickelt sich eine Erscheinung, 467 In seiner Untersuchung des Verhältnisses von Schleiermacher und Otto vor dem Hintergrund der aktuellen Debatten einer Philosophie der Gefühle hat Roderich Barth auf die deskriptive  – wenn nicht sogar phänomenologische  – Schicht in Schleiermachers Reden hingewiesen: »Von der ersten bis zur letzten Seite begegnen Gefühle, und zwar eine Vielzahl konkreter Gefühle – von der ›heiligen Scheu‹ (196/17) bis zur ›heilige[n] Wehmuth‹ (320/299).« In diesem Zusammenhang fordert Barth eine Auswertung der »deskriptiven Fülle der Reden« ein (vgl. Barth, Religion und Gefühl, 24) und liefert hiermit für die vorliegende Fragestellung einen wichtigen Hinweis: Es scheint kein Zufall zu sein, dass Barth als Beispiele »konkreter Gefühle« bei Schleiermacher genau jene nennt, die in höchstem Maße an Ottos spätere Beschreibungen religiösen Angsterlebens erinnern (heilige »Scheu« und »Wehmut«). 468 Ulrich Barth äußerte jüngst in diesem Sinne, Ottos frühe Edition der »Reden« und deren Kommentierung sei »systematisch bedeutsamer« als die spätere Schleiermacherlesart in Das Heilige (vgl. Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 42). Ebenso konzentriert sich Claus-Dieter Osthövener in erster Linie auf die Reden-Edition (vgl. Osthövener, Ottos Auseinandersetzung mit Schleiermacher, 179–190). 469 Vgl. RE8, 48. 470 Zu den berühmten Begriffen Schleiermachers vgl. u. a. Schleiermacher, Reden, 50. Der von Otto hervorgehobene Abschnitt der zweiten Rede findet sich in Schleiermachers Original auf den Seiten 50–115 (vgl. Ottos Einteilungsübersicht in RE8, 48). 471 RE8, 49. 472 RE8, 50. 473 Vgl. Ottos Übersicht in RE8, 48 sowie die Erläuterung in RE8, 62.

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eine Begebenheit zu einem Bilde des Universums«474 gleichsam den »Schlüssel zu Schleiermachers Gedanken vom Erleben des Ewigen«.475 Was ist hiermit gemeint? Mit dem Begriff des Erlebens führt Otto eine Formulierung ein, die von Schleiermacher selbst nicht verwendet wird.476 Otto gebraucht ihn zur Näherbestimmung dessen, was er »Schleiermachers Mystik« nennt,477 nämlich die eigentümliche Unbestimmtheit und Zurückhaltung Schleiermachers bei dem Versuch, den »geheimnisvolle[n] Augenblick« zu beschreiben, »ehe noch Anschauung und Gefühl sich trennen« und »der Sinn und sein Gegenstand gleichsam ineinander geflossen und eins geworden sind, ehe noch beide an ihren ursprünglichen Platz zurückkehren«.478 Schleiermachers »Anschauungen und Gefühle« sind demnach für Otto »nur die sekundären Zerfall-Produkte eines ursprünglichen unmittelbaren Innewerdens und Erlebens des Universums«, also einer nochmals ganz eigenen, kaum bestimmbaren Art der Ergriffenheit.479 Otto versucht dies als ein Geschehen mit Anfang und Ende zu erläutern: Schleier­ machers »Anschauung« und »Gefühl« sind demnach schon relativ komplexe Verarbeitungsformen im menschlichen Bewusstsein, mit denen religiöses Erleben schließlich »endet«.480 Das demgegenüber »Anfängliche« hingegen liege jenseits begrifflicher Fasslichkeit, es sei ein Erleben im ganz eigentlichen Sinne, ein »unmittelbares Ergriffensein«, dass sich nur nachträglich und bildhaft andeuten 474 Schleiermacher,

Reden, 74.  Vgl. RE8, 64. 476 Ulrich Barth vermutet Wilhelm Dilthey oder Wilhelm Herrmann als mögliche Quellen, da Otto mit ihren Werken bestens bekannt war und auch in persönlichem Austausch mit ihnen stand (vgl. Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 42). Der Begriff des Erlebens kam auch in der Dissertation zu L ­ uther schon vor – allerdings stand er hier offensichtlich noch etwas wahllos und indifferent neben den Begriffen »Gefühl« und »Erfahrung«. In RE ist der Begriff des Erlebens demnach eine gewisse Innovation, die Otto bei Schleiermacher so nicht vorfand, sondern vielmehr an ihn herantrug, um den seiner Meinung nach zentralen Kern von Schleiermachers Anliegen zu beschreiben, den Otto in den Begriffen »Anschauung« und »Gefühl« noch nicht eindeutig erfasst sah. Der Begriff des Erlebens wird also gewissermaßen genutzt, um Schleiermacher noch pointierter darzustellen. Es geht Otto um die Darstellung einer Unmittelbarkeit, für die Schleiermachers Gefühlsbegriff seiner Meinung nach offenbar bereits eine zu komplexe kognitive Verarbeitungsform darstellt. Otto zielt vielmehr auf das, was er später immer wieder als »Urdatum« der Religion bezeichnet. Es geht also um einen geheimnisvollen, der Reflexion nicht zugänglichen Vorgang, der vor der Aufspaltung in »Anschauung und Gefühl« im schleiermacherschen Sinne liegt, bzw. selbiger zu Grunde liegt. Durchaus plausibel ist es demnach, wie Ulrich Barth die entscheidende Pointe von Ottos früher Schleiermacherinterpretation in der Grundlegung eines religiösen Vermögens zu suchen, das den bei Schleiermacher beschriebenen Komplex von Anschauung und Gefühl umfasst. Barth schreibt dazu: »An der entscheidenden Einsicht der frühen Schleiermacher-Edition aber hat sich nichts geändert, daß nämlich der religiöse Grundakt nur als Einheit von Intentionalität und Selbstreferentialität gedacht werden kann.« (Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 44). 477  Vgl. RE8, 62. 478 Vgl. Schleiermacher, Reden, 73. 479 Vgl. RE8, 62. 480 Vgl. RE8, 62. 475

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lasse. Otto beschreibt es als »Hauch des Ewigen in den Dingen«.481 Die hier deutlich werdende Unterscheidung einer besonderen Kategorie von Gefühlen im religiösen Erleben gegenüber den natürlichen Gefühlen jeder gewöhnlichen und womöglich nachträglich erst religiös interpretierten Erfahrung ist an Wichtigkeit für Ottos Gesamtwerk kaum zu überschätzen. An dieser Stelle öffnet sich eine deutliche Verbindungslinie zu Ottos Begriff des »Geistes« in seiner Lutherdissertation. In L ­ uthers Geistbegriff sah Otto damals eine geheimnisvolle »Anlage« im Menschen umschrieben, die innerhalb empirisch-psychologischer Kausalzusammenhänge Gefühlskonstellationen hervorbringt, die sich als vorbegriffliche Vergegenwärtigungen des Übernatürlichen im Natürlichen deuten lassen. Das Göttliche verstand Otto in diesem Zusammenhang nicht als eine jenseits der Natur befindliche Wirkursache, die in die Welt hineinwirkt, sondern als das in allem Wirken Wirkende, das Alles in Allem Umfassende, das in Allem Mächtige, das intuitiv im kausalen Fühlen erahnt wird.482 In ganz ähnlicher Weise meint Otto nun auch Schleiermacher verstehen zu können, der »offenbar eine genuin mystische Veranlagung der menschlichen Seele« voraussetze, die es ermögliche, »aus sich heraus das Ewige, das Göttliche, in den zeitlichen Dingen zu spüren und so ihr eigener Prophet zu sein, selber eigene ›Wunder‹, eigene ›Offenbarungen‹ (S. 120) zu erleben«.483

Ob Otto jener Gedanke der natürlichen Veranlagung des Menschen zum religiösen Erleben als einer geheimnisvollen Intuition für die Begegnung mit dem Göttlichen innerhalb des Empirischen zuerst in seinen Lutherstudien aufging und nun auch in der Schleiermacherdarstellung einfloss, oder ob umgekehrt – was nicht unwahrscheinlicher ist – der zunächst in der Dissertation bei ­Luther entfaltete Gedanke auf ein noch früher liegendes Studium Schleiermachers zurückgeht, ist kaum sicher zu klären. Fest steht, dass Otto in beiden Fällen – in der Lutherarbeit wie in der Schleiermacheredition  – in besonderem Maße auf die vollkommene Natürlichkeit, die empirische Wirklichkeit des Erlebnisvorgangs und die dabei zugleich restlose Entzogenheit und in der Kausalität nicht ausweisbare Unfassbarkeit des auf geheimnisvolle Weise Erlebten abzielt. Jenen schon bei ­Luther angemahnten »Kausalnexus« zu betonen, innerhalb dessen er das Erleben der göttlichen »majestas« als intuitive Wertung und nicht als supranaturale Fremdeinwirkung versteht, wird Otto auch bei Schleiermacher nicht müde. Besonders gut scheint sich hierfür Schleiermachers berühmte Interpretation des »Wunders« als »unmittelbare Beziehung einer Erscheinung aufs

481 Vgl.

die lange Anmerkung in RE8, 62 f. hierzu das Kapitel zur Dissertation Ottos, oben im Zweiten Teil, Kap. II, 1.1. 483 Vgl. RE8, 64 (Klammer mit Seitenangabe im Original). 482 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Unendliche, aufs Universum«484zu eignen, die Otto immer wieder anspricht und knapp auf den Punkt bringt: »Wunder ist jede Begebenheit des natürlichen Zusammenhangs, in welcher dem Gemüte ein Eindruck des Ewigen aufgeht«.485

Angstvolle Momente erscheinen in diesem Zusammenhang als Momente religiösen Erlebens. In ihnen werden natürliche Gefühle potentielle Orte um »den Geist [zu] erraten, ahnden, entdecken, in dem das Ganze geleitet wird«.486 Auch und gerade in jenen Momenten religiösen Erlebens scheint es möglich, »Sehnsucht und Ehrfurcht zum Unendlichen [zu] haben«.487 Es geht also bei Schleiermacher um folgenden Vorgang: »alle Begebenheiten in der Welt in ihrer Beziehung auf ein unendliches Ganzes erfassen, das Unsichtbare lieben, von inniger Ehrfurcht vor dem Ewigen und Unsichtbaren durchdrungen sein, der ewigen Macht und Weisheit wahre und heilige Anbeter sein«.488

Was Otto bei Schleiermacher beobachtet, scheint demnach eine besondere und rätselhafte Form eines sanften und angstvollen Schauers zu sein, weshalb ­Schleiermacher »alles das mit Vorliebe in die Religion einbeziehen möchte, was überhaupt unser Selbstgefühl einschränkt und wodurch der Mensch die Grenzen seines ›Ich‹ und seiner ›Personalität‹ drangebend, sich in ein Allgemeineres einbezieht, sich einem Höheren unterordnet.«489

Den in diesem Zusammenhang bei Schleiermacher häufig verwendeten Begriffen der »Scheu« und der »Ehrfurcht« könnte man demnach – freilich als einem besonderen, numinosen Gefühl – auch die Angst problemlos beifügen. Doch in seiner großzügigen Einbeziehung derart vieler Gefühlsgestimmtheiten in den Wirkungskreis der Religion schießt Schleiermacher an diesem Punkt nach Ottos Meinung über das Ziel hinaus. Aus seiner sehr weit geöffneten Formulierung von »Anschauung und Gefühl« sieht Otto Schleiermacher mitunter die geradezu »geschmacklose Folge« ziehen, »daß alles Gefühl überhaupt ›religiös‹ sei«.490 Otto stört dabei Folgendes: Er sieht die »eigne Provinz im Gemüte«,491 die Schleiermacher für die Religion mühsam errungen hatte, nun so sehr ausgeweitet, dass sich nahezu alle »Gemütseindrücke« unter ihr versammeln 484

 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 117. 90 und nochmals erläuternd die Anmerkung in RE8, 214. Otto betont hier, »das Ewige im Zeitlichen finden zu können« sei »dem alten Streit um ›Natürlich‹ oder ›Übernatürlich‹ völlig entzogen«. 486 Vgl. RE8, 210 (kursiv im Original). 487 Vgl. RE8, 210 (kursiv im Original). 488  RE8, 210 (kursiv im Original). 489 RE8, 212. 490 RE8, 212. 491 Schleiermacher, Reden, 37. 485 RE8,

II. Studien zu L ­ uther und Schleiermacher

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lassen – »ein offenbarer Fehler«, wie Otto meint.492 Eine Grenzziehung zwischen religiösem und ästhetischem Erleben erscheint so auf fatale Weise nicht mehr möglich  – das genuin religiöse, das Erleben des »Unendlichen im Endlichen« droht zu verwässern. Letztlich handelt es sich jedoch bei Ottos Kritik um ein Formulierungsproblem – Otto meint, sehr wohl gehe Schleiermachers Ansinnen »ganz deutlich auf eine gesonderte Klasse von Gemütseindrücken, die gewiß rein und echt religiös sind: nämlich auf das andachtsvolle und ehrfürchtige Bewegtwerden und Ergriffenwerden vom Universum, soferne in ihm eine ›ewige Welt‹ erscheint«.493

Was Otto bezüglich des Angstbegriffs in seinen späteren Werken unterstreicht, liegt demnach schon hier zutage: Angst ist allein aufgrund ihrer Gestalt als Gefühl mit verstörendem, zuweilen unbestimmtem und dennoch eindrücklichem Charakter eben noch kein religiöses Erleben. Es kann nur solche »Angst« zu »Anschauung und Gefühl«, also zu einem Moment religiösen Erlebens werden, die schon in sich etwas Besonderes ist. Es muss ein Erleben sein, das »zu einer besonderen idealen Deutung, zu einer ›religiösen Ansicht‹ […] von Welt und Geschichte [wird], in der ihr göttlicher Sinn gedeutet und verstanden wird.«494 Es liegt also auch nach Ottos Schleiermacherlesart nahe, gewöhnliche Angst von einem ganz artbesonderen religiösen Angsterleben zu unterscheiden. Dass Schleiermacher in diesem Zusammenhang nur wenige Anschauungsbeispiele bietet und etwas unbestimmt bleibt, geht nach Ottos Meinung auf ein methodisches Defizit zurück. Schleiermachers religionstheoretisch geniale Entdeckung des Wesens der Religion als Anschauung und Gefühl des Universums lässt nach Ottos Auffassung die Beschreibung der dahinter stehenden »psychlogischen Tatsächlichkeit« unterbelichtet bleiben.495 Gerade in diesem Punkt hat Otto in seinen späteren Werken bekanntlich wesentlich sorgfältiger und empirisch aufwändiger zu arbeiten versucht. Die von Otto später auch empirisch von profaner Angst unterschiedenen numinosen Angsterlebnisse der »Scheu« finden sich bei Schleiermacher so explizit noch nicht. Ottos spätere Idee des »Kreaturgefühls« scheint jedoch schon im Hintergrund anzuklingen, wenn Otto als einen zentralen Gedanken Schleiermachers jenes Erleben beschreibt, in dem »der Mensch sich seiner Beschränktheit bewußt werde und der Zufälligkeit seiner ganzen Form, des geräuschlosen Verschwindens seines ganzen Daseins im Unermeßlichen«.496

In dieser Interpretation Ottos lassen sich viele von Schleiermachers Begriffen als – wenn auch unsystematisch gesammelte – Grundlagen einer empirischen Un492 Vgl. RE8, 212. Otto führt diesen »Fehler« Schleiermachers auf dessen enge Verbindungen mit den Protagonisten der Frühromantik zurück (vgl. RE8, 215 und 229). Als Folie hierzu fügte Otto in späteren Auflagen seitenlange Zitate von Novalis bei (vgl. RE8, 229 ff). 493  RE8, 212 f. 494 Vgl. RE8, 213. 495 Vgl. RE8, 209. 496 Vgl. RE8, 209.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

tersuchung der Religion verstehen, die Otto später für seine eigene Darstellung nutzt. Geht man von Ottos späteren Kategorien genuin religiösen Angsterlebens in Das Heilige – »Scheu«, »mysterium tremendum«, »Kreaturgefühl« – aus, klingen einige Begriffe in Schleiermachers »Reden« tatsächlich wie andeutungsweise Vorwegnahmen derselben, wie zum Beispiel im Falle der »heilige[n] Wehmut«, die laut Schleiermacher besonders dort aufbricht, wo »das Heilige mit dem Profanen, das Erhabene mit dem Geringen und Nichtigen aufs innigste gemischt« ist.497 Otto kommentiert, die »Grundbestimmung im Christentume« sei demnach »eine beständige Wehmut über den beständig gefühlten Mangel.«498 Zu der »Idee der Verlorenheit« in Ottos Luther­deutung und schließlich zu seiner Annahme einer tief im menschlichen Wesen veranlagten Fähigkeit, im religiösen Erleben auf das in, hinter und durch alle empirische Wirklichkeit wirkende Göttliche zu schließen, ist es hier nicht mehr weit. Es scheinen sich schon hier die Grundlagen einer Theorie religiösen Erlebens anzudeuten, der zufolge der Mensch in einem eigentümlichen angstvollen Erleben, das sich von gewöhnlicher Angst jedoch unterscheidet, die natürlich-empirischen Grenzen seiner Welterfassung durchbricht. Er fühlt sich in zugleich abdrängender wie faszinierend anziehender Kraft der Allmacht göttlichen Wirkens in allem Wirken ausgesetzt und zugleich teilhaftig. Schleiermacher und die Romantik  – eine Wiederentdeckung der Religion. Vier Jahre nach der Veröffentlichung der Schleiermacheredition verfasste Otto einen Aufsatz, in dem er die edierten »Reden« Schleiermachers erneut interpretierte und in ihrer Relevanz für die Gegenwart darstellte.499 Deutlicher als in seiner Edition der »Reden« versucht Otto hier Schleiermacher zunächst historisch in die Geschichte der Religion einzubetten. Ottos Darstellung basiert dabei auf einer geistes‑ bzw. religionsgeschichtlichen Pointe: Wie andere »Sphären menschlichen Geisteslebens« auch, sei in besonderer Weise die Religion einem sich über die Jahrhunderte hinziehenden stetigen Wandel unterworfen.500 Besonders das Christentum sei demnach stets von Fehldeutungen, Missständen und Überformungen bedroht oder zerrüttet worden, habe aber zugleich immerfort »Wiederentdeckungen« und »Emporhebungen« erfahren, die es immer wieder 497

 Vgl. Schleiermacher, Über die Religion, 299. Vgl. in ganz ähnlicher Weise die »heilige Scheu«, a. a. O., 17. 498 RE8, 198. 499 Der Aufsatz Wie Schleiermacher die Religion wiederentdeckte erschien am 28. Mai 1903 in der Zeitschrift Die Christliche Welt. Jahrzehnte später gab Otto den Aufsatz geringfügig überarbeitet und reichhaltig ergänzt in seinen Aufsatzbänden erneut heraus (zuletzt in SU, 123–139 unter dem Titel Der Neue Aufbruch des sensus numinis bei Schleiermacher). Da die beiden Ausgaben nahezu die gesamte akademische Wirkenszeit Ottos einrahmen, wird zunächst nur auf die erste Version von 1903 eingegangen. Die Ergänzungen in SU kommen dann an anderer Stelle zur Sprache, vgl. unten im Zweiten Teil, Kap. II, 2.3. 500 Vgl. Otto, Wie Schleiermacher, 506.

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auf ein »neues höheres Niveau« hoben und produktiv an seiner Gestalt mitwirkten.501 Schleiermacher bildet in Ottos Darstellung als »Kirchenvater des modernen Protestantismus« den bis in die Gegenwart reichenden letzten Höhepunkt in einer regelrechten Genealogie von Wiederentdeckungen des Christentums, unter denen insbesondere ­Luther und die Reformation eine »Wiederentdeckung größten Stiles« markieren.502 Otto stilisiert ­Luther und Schleiermacher neben Paulus, Augustinus und Franz von Assisi förmlich zu Leuchttürmen des in der Geschichte immer wieder zu sich selbst kommenden Christentums, welches in seinen Höhepunkten immer zugleich eine »Wiederentdeckung der Religion« vollzogen habe. Schleiermachers herausragender Verdienst sei es demnach gewesen, dass er »die Religion vor dem Rationalismus rettete«,503 unter dessen Banner Otto die »Feinde[n]« der Religion zusammenfasst. Die »Schädlinge und Verderber der Religion« in Schleiermachers Epoche verfolgten demnach eine grundlegende Tendenz aus dem Zeitalter der Aufklärung: Sie waren  – so Otto – in überzogener intellektualistischer Euphorie allein um »nüchtern-praktische Bethätigung« und Rationalisierung bemüht und haben dabei »alle Rätsel der Geschichte« und hiermit »Unsagbares und Wundervolles« aufgelöst, trivialisiert oder verschüttet.504 Bei aller Wertschätzung der großen Leistungen der Aufklärung vermisst Otto in ihrer Traditionsgeschichte daher die »Tiefen des Gemütes und Gefühls, dies unmittelbaren Empfindens und Erlebens«.505 Schleiermacher als »der neue Herold der Religion« wird von Otto demnach in erster Linie als Romantiker dargestellt und so in eine Gegenbewegung der Aufklärung eingezeichnet. In den frühromantischen Kreisen der »wunderlichen Heiligen« in Berlin und Jena sieht Otto ein Biotop voller »gährende[r], genialische[r] Gemüter« – unter ihnen die Brüder Schlegel, Novalis und Tieck, sowie »notorisch geistreiche und schöne Jüdinnen« –, die das »neu aufquellende Verlangen nach tieferem vollerem Dasein, nach Leben aus dem Unmittelbaren, nach poetischem, gemütvollem, innigem Erfassen der Welt und des Lebens« suchten.506 Doch das romantische Klima war laut Otto nur das entscheidende »Reiz‑ und Förderungsmittel« für einen Vorgang, der ein »Erleben eigener Art« erforderte und nicht eine Gabe der »poetischen und litterarischen, sondern der religiösen Ingenien« ist.507 Demnach konnte Schleiermacher allein durch den »echten Ewigkeits‑ und Feingehalt seines Glaubens« aus Herrnhutischer Frömmigkeit die Impulse seines romantischen Umfeldes noch übersteigen und sein religionstheoretisches Programm in den »Reden« zum Durchbruch führen. Otto 501 Vgl.

Otto, Wie Schleiermacher, 506 f. Otto, Wie Schleiermacher, 507. 503 Otto, Wie Schleiermacher, 508. 504  Vgl. Otto, Wie Schleiermacher, 508. 505 Otto, Wie Schleiermacher, 508. 506 Vgl. Otto, Wie Schleiermacher, 509. 507 Vgl. Otto, Wie Schleiermacher, 509. 502 Vgl.

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referiert erneut ­Schleiermachers Begriff des Universums und der Frömmigkeit und kommt schließlich wieder auf den Begriff des Erlebens zu sprechen: »Es gibt zur Welt noch ein drittes Verhältnis: das ist nicht Wissen der Welt, auch nicht handeln auf die Welt, sondern Erleben dieser großen, reichen und tiefen Welt und ihres Seins und Geschehens, ihres wundervollen Wesens und ewigen Gehaltes in hingegebenem anschauendem und fühlendem Gemüte.«508

Jenes »Verhältnis« des Menschen zum Universum erläutert Otto schließlich durch ein anschauliches und sprachlich ausgezeichnet vorgetragenes »Gleichnis«, in welchem er Schleiermachers »Universum« einer Kathedrale gleichsetzt, in der ein Besucher sich zunächst »theoretisch«, dann »praktisch« umsieht und orientiert, um sich schließlich auf jene »dritte« Weise des »Erlebens« einzulassen, nämlich durch »Andacht und damit innerliches Erleben und Bewegtwerden, ahnendes Erfassen, Anschauen und Fühlen dessen, was in diesem Universum, in Natur, Geschichte und Leben sich geheimnisvoll regt, sich göttlich verkündet.«509

Otto versucht schließlich Schleiermachers Definition der Frömmigkeit auf einen Begriff zu bringen und nennt das Kernmoment der Religion schlicht »Ewigkeitssinn«.510 Ihm gegenüber lässt Otto das »Ursache an Ursache reihen« des Verstandes regelrecht banal erscheinen. Interessant ist dabei eine gewisse Schwerpunktlegung, die schon einen entscheidenden Punkt in Ottos späterem Hauptwerk anzudeuten scheint: das Gefühl des »geräuschlosen Verschwindens« im Universum. In ihm deutet Otto erneut die durchaus »demutsvolle« Rückwirkung an, die das religiöse Erleben auslöst. Er spricht von einem »Anschauen der eigenen Abhängigkeit und Beschlossenheit im großen geheimnisvollen Ganzen«, das »das Erste und gleichsam das Unterste in der Frömmigkeit« sei.511 Bezeichnend ist für Otto schon an dieser Stelle seine unbekümmerte Verbindung des frühen Schleiermachers der »Reden« mit dem späteren Verfasser der »Glaubenslehre« und dem darin zentralen Gedanken der Frömmigkeit als »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit«. Es scheint dabei kaum übertrieben zu sein, hier erneut Ottos besondere Sensibilität gerade für die abdrängenden, ängstigenden Momente des religiösen Erlebens durchbrechen zu sehen. In deutlicher Steigerung gibt Otto Jahre später jenem demutsvollen Abhängigkeitsgefühl bei Schleiermacher eine ganz eigene Note, indem er es als ein Gefühl der eigenen Nichtigkeit gegenüber dem Göttlichen, als »Kreaturgefühl«, bezeichnet. Dass Otto die Spuren der dunklen, demutsvollen Dimension der Frömmigkeit in besonderer Hervorhebung der Verbindung Schleiermachers mit der Epoche der 508

 Otto, Wie Schleiermacher, 511. Wie Schleiermacher, 511. 510 Vgl. Otto, Wie Schleiermacher, 512. 511 Vgl. Otto, Wie Schleiermacher, 512. 509 Otto,

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Romantik darstellt, erscheint dabei kaum als Zufall.512 Durch seine Neuedition von Schleiermachers »Reden« in ihrer Urfassung hatte Otto ganz offensichtlich gerade die in der Frühromantik verwurzelte Ausdruckskraft und Darstellungsweise Schleiermachers hervorheben wollen und hat damit einen wirkungsvollen Beitrag zur Schleiermacherrenaissance im frühen 20. Jahrhundert geleistet.513 Otto kommt damit der Stimmung seiner Zeit in höchstem Maße entgegen, da in ihr gerade die irrationalen, dunklen und ambivalenten Ausdrucksmittel und Bilder der Romantik in besonderer Weise zur Geltung kamen. In den Jahren um die Jahrhundertwende ist die neuromantische Tendenz in Kunst und Literatur geradezu mit Händen zu greifen. Die Sensibilität und Neugier gegenüber dem Irrationalen, dem Dunklen und Abgründigen, und schließlich in alledem gegenüber dem Sinnlichen und Intuitiven war wohl selten größer als in jener Zeit des aufbrechenden Symbolismus und Jugendstils, sowie der Zirkel um Dichter wie Stefan George, Rainer Maria Rilke oder Hugo von Hoffmannsthal. Ottos Edition und Interpretation Schleiermachers fällt demnach zeitlich mit einer fulminanten neuromantischen Bewegung zusammen und scheint zugleich deren religiöses Potential ausschöpfen zu wollen. Wie kein anderer hat Otto dabei nicht erst mit seinem Hauptwerk, sondern auch schon – dieses vorbereitend – in seinen frühen Schleiermacherstudien den »neuromantisch-neureligiösen Nerv der Zeit aufs Genaueste« getroffen, wie Markus Buntfuss einleuchtend und ausführlich dargestellt hat.514 Zu dem modernen Begriff der Angst tun sich – wie schon im Ersten Teil dieser Studie deutlich wurde – an dieser Stelle fundamentale Verbindungslinien auf. Die Entdeckung des modernen Angstbegriffs als einer von rein affektiv-objekthafter Bedrohung unterschiedenen eigenen Kategorie der Selbst‑ und Weltdeutung reicht gleichsam in die Epoche der Romantik und in ihre neuerlichen Ausfaltungen im frühen 20. Jahrhundert zurück. Man könnte fast sagen: Gerade im Angstbegriff spitzt sich die bleibende Bedeutung der Romantik und ihres Erbes für die Moderne und ihr tief in die menschliche Subjektivität reichendes Krisenbewusstsein zu. Besonders bei Ernst T. A.  Hoffmann oder Novalis greift sich die Vorstellung einer Angst Raum, die auf kein weltliches Objekt gerichtet zu sein scheint, sondern in der eigentümlichen Sphäre des Irrationalen entsteht und in höchstem Maße an Ottos numinose »Scheu« in ihrer Ver512  Zur Verbindung Schleiermachers mit der Frühromantik vgl. grundlegend Nowak, ­Schleiermacher und die Frühromantik. 513 Zu Ottos Rolle in den neuromantischen Strömungen des frühen 20. Jahrhunderts und seinem Impuls zur damaligen Wiederentdeckungen Schleiermachers vgl. Buntfuss, Rudolf Ottos (neu)romantische Religionstheologie, 449–462. 514 Vgl. Buntfuss, Ottos (neu)romantische Religionstheologie, 454. Eindrucksvoll bestätigt werden die Beobachtungen von Buntfuß am Beispiel von Ottos wohl ausführlichster Bezugnahme auf die Romantik in der besagten Studie Wie Schleiermacher die Religion wiederentdeckte von 1903, sowie in deren erweitertem Neuabdruck unter dem Titel Der Neue Aufbruch des sensus numinis bei Schleiermacher (zuletzt abgedruckt in SU 123–139).

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schiedenheit von natürlicher Furcht erinnert.515 Ganz in jene Richtung lenkt Otto seine Schleiermacherdeutung im »Rückblick« am Ende seiner Edition der »Reden«, in denen er Schleiermachers Sprache und Begriffswelt grundlegend im »Kreise der jungen Romantiker« verortet: Man »schaut [an], empfindet, fühlt, besonders man ahndet, man diviniert, […], man betrachtet, versenkt sich, gibt sich hin, lebt im Anschauen seiner Welt. Wundervoll, geheimnisvoll, mystisch, unbegreiflich, besonders unendlich, sind Universum, Natur, Welt, Schicksal, Leben, der Geist des Universums, der Sinn des Seins, die äußere und die innere Welt, sind das Ewige, das Unbedingte, das Absolute, das Himmlische, das Göttliche.«516

Schließlich zitiert Otto in diesem Abschnitt, der geradezu einem Vokabelkatalog romantischer Begriffsgeschichte gleicht, Novalis selbst mit einem Ausspruch, der zugleich als methodisches Motto für Ottos gesamte Frömmigkeitstheorie und als Definition seines Begriffs der »Divination« gelten könnte: Man »vernimmt etwas ohne Veranlassung, Berührung«517. Es folgen – wohlbemerkt im Kommentarteil einer Ausgabe von Schleiermachers »Reden« – seitenlange Zitatwiedergaben aus der Naturmystik von Novalis’ Die Lehrlinge zu Sais, die – zeitgleich mit den »Reden« entstanden und besonders von Jakob Böhme inspiriert  – ein reichhaltiges Vokabelinstrumentarium des romantischen Angstbegriffs bieten. Otto stellt die Momente der »entsetzlichen Tiefe«, des »Grauen[s]« und »süßer Angst« in ihrer geheimnisvollen und ambivalenten Verquickung mit Spuren der »Lust« eindrucksvoll zusammen.518 Dabei hebt sich Schleiermacher nach Ottos Auffassung bei aller Ähnlichkeit dennoch von Novalis’ romantischer »Naturmystik« ab. Otto scheint bei Schleiermacher einen über seine romantischen Wahlverwandten hinausgehenden religiösen Überschlag zu sehen, demzufolge es ihm eben nicht allein um »pantheistische Stimmung«, sondern um »›Ehrfurcht, heiligen Schauer, Andacht, Demut und Hingabe‹ gegenüber dem im Endlichen erscheinenden Unendlichen« gegangen sei.519 Schleiermachers Reden über die Religion, genauer deren mit der Romantik verwobene fromme Weltsicht einer im Erleben sich mitteilenden Tiefe der profanen Wirklichkeit der Welt, die auf einen ewigen und allumfassenden Grund hin transparent ist, führt Otto schließlich zu einer Grundentscheidung für sein weiteres Denken: Die empirische Wirklichkeit jenes Erlebens gilt es in den Blick 515  Insbesondere die Bedeutung Hoffmanns für den Angstbegriff in der Moderne hat Marcel Reich-Ranicki mit Nachdruck auf den Punkt gebracht: »Hoffmann gelingt es, das AbgründigDämonische darzustellen. Darin besteht das Moderne seiner Epik. Sein Werk ist nach wie vor von höchster Aktualität. Denn zu seinen zentralen Motiven gehört die Angst.« (Reich-Ranicki, Ich liebe seine Novellen, FAZ‑ Feuilleton, 14. 4. 2009). 516 Vgl. RE8, 230. 517  Vgl. RE8, 230. Otto zitiert hier nach der Meißnerausgabe der Gesammelten Werke von Novalis (1898), Band IV, 359. 518 Vgl. RE8, 230 f. 519 Vgl. RE8, 231.

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zu nehmen um damit den religiösen Wiederentdeckungsimpuls Schleiermachers voranzutreiben und weiter zu denken. Die spätere Fundamentalunterscheidung einer genuin religiösen »Angst« von den ihr nur auf den ersten Blick ähnlichen profanen Angst‑ und Furchtmomenten in Ottos Das Heilige scheint letztlich schon in seiner frühen Schleiermacherdeutung im Kontext ihres romantischen Interpretationsrahmens präfiguriert zu sein, denn sie knüpft an jene Linie des düsteren und unheimlichen Schauererlebens an, um welches der Angstbegriff seit der Romantik in besonderer Weise bereichert wurde. 2.2. Die Entdeckung des »Kreaturgefühls« – Die Angst und Ottos Schleier­macherdeutung in Das Heilige Im Vorwort seines ersten Aufsatzbandes Aufsätze das Numinose betreffend von 1923 versucht Otto – angeregt durch eine Rezension von Heinrich Rickert – auf wenigen Seiten die methodische Genese seines Hauptwerks nachzuzeichnen. Schleiermacher kommt dabei eine Schlüsselstellung zu. Otto gibt an, Schleiermacher habe ihm für sein Denken den »Weg der Selbstbesinnung« als »Besinnung auf die religiöse Erfahrung selber, so wie wir sie in uns und mehr noch in den Mustern und Typen religiösen Erfahrens vorfinden« vorgegeben.520 Jene Selbstbesinnung habe jeder »Sachbesinnung« voranzugehen.521 Nach Ottos eigenem Verständnis verdankt er Schleiermacher also in erster Linie den entscheidenden methodischen Rahmen seiner religionskundlichen‑ und religionsphilosophischen Arbeit. Schon in seiner Interpretation von Schleiermachers »Reden« bestand für Otto dessen »Wiederentdeckung der Religion« besonders in jener methodischen Innovation der Hinwendung zur phänomenologischen Erscheinungsform der Religion: »Das Wesen der Religion gilt es zu finden, indem man ihre geschichtlichen Erscheinungsformen studiert, und diese nicht in den Systemen, Dogmatiken und Institutionen, die sie hervorgebracht haben, sondern in den religiösen Persönlichkeiten und ihrem ursprünglichen Erleben, besonders im Erleben der religiösgenialen Persönlichkeiten, der Führer, ›Mittler‹, Heroen, der Propheten und Religionsstifter.«522

In diesem Zusammenhang schreibt Otto Schleiermacher die Entdeckung von zwei »methodischen Regeln« zu: »die der psychologischen Analyse und die der historischen Induktion«.523 Gemeint ist damit die Reflexion auf die Wirklichkeit religiösen Erlebens und seine geschichtlichen Erscheinungs‑ und Verarbeitungs520 Vgl.

das Vorwort in AN1, VI. Otto schreibt hier »statt hochfliegender Spekulation« sei – wie von Schleiermacher vorgegeben – »zunächst der Weg der Selbstbesinnung zu gehen«. 521  Vgl. AN1, VI. 522 RE8, 209. Dass Otto in Schleiermacher selbst, und umso mehr in L ­ uther eine ebensolche »religiösgeniale« Persönlichkeit sah, wurde in seinem Schleiermacheraufsatz von 1903 deutlich. 523 Vgl. RE8, 209.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

formen. Die Mängel, die Otto bei Schleiermacher in der Durchführung sieht, beabsichtigt er in seinem Hauptwerk zu beheben – einerseits durch seine eigene Methode der »Religionskunde«, sowie andererseits durch eine zielgenaue Kritik bzw. Modifikation von Schleiermachers Entwurf. Trotz seiner großen Wertschätzung von Schleiermachers »Reden« konzentriert sich Ottos Schleiermacher­ kritik in Das Heilige in erster Linie auf den wohl berühmtesten Begriff aus der zweiten Auflage der »Glaubenslehre« von 1830 mit der Definition des Wesens der Frömmigkeit als »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit«, die bei Schleiermacher erstmals in § 4 vorgestellt wird: »Das gemeinsame aller noch so verschiedenen Aeußerungen der Frömmigkeit, wodurch diese sich zugleich von allen andern Gefühlen unterscheiden, also das sich selbst gleiche Wesen der Frömmigkeit ist dieses, daß wir uns unsrer selbst als schlechthin abhängig, oder, was dasselbe sagen will, als in Beziehung mit Gott bewußt sind.«524

Mit den komplizierten und aufwändigen religionstheoretischen Überlegungen Schleiermachers zum Problem des »unmittelbaren Selbstbewußtseins« hält sich Otto jedoch zunächst nicht weiter auf. Ihn interessiert vor allem die empirische Dimension, die psychologische Wirklichkeit jenes Erlebens, das Schleiermacher nach Ottos Auffassung »glücklich herausgegriffen« und als »Gefühl der ›Abhängigkeit‹« bezeichnet hat.525 Schleiermachers »Glaubenslehre« kommt in Das Heilige also dort  – im besonders brisanten dritten Kapitel  – zum Tragen, wo Otto die Methode der »Selbstbesinnung« als Grundlage seiner »Religionskunde« vorstellt als die »Prüfung und Zerlegung« der »Momente und Seelen-zustände feiernder Andacht und Ergriffenheit«.526 In Schleiermachers Abhängigkeitsgefühl meint Otto nun »ein sehr bemerkenswertes Element« religiösen Erlebens abgebildet zu sehen. Allerdings kritisiert er sogleich Schleiermachers Begriff in drei Punkten, an denen zugleich fundamentale Weichenstellungen von Ottos Konzept des Heiligen entschieden und deutlich gemacht werden. Da in Ottos Schleiermacherkritik im dritten und vierten Kapitel von Das Heilige auch wichtige Einsichten für eine Bestimmung des Verhältnisses von Angst und Religion zu finden sind, werden die drei Einwände bzw. Modifikationen von Schleiermachers Entwurf nun zusammenfassend dargestellt. Erste Modifikation: Schleiermachers Abhängigkeitsgefühl ist nur »eine Analogie zur Sache selber«.527 Otto fragt zunächst nach dem »besonderen Wie« von Schleiermachers Begriff der Abhängigkeit und möchte auf die Gefahr eines Miss524 Vgl.

Schleiermacher, Der Christliche Glaube, Zweite Auflage (1830/31), in: KGA I, 13,1, 32 (Originalpaginierung 16). 525  Vgl. DH23–25, 9. 526 DH23–25, 8 (kursiv im Original). 527 Vgl. DH23–25, 9 Es handelt sich bei den jetzt hier besprochenen Passagen in DH um sehr ursprüngliche Teile des Werkes, die seit der Erstauflage kaum verändert wurden (vgl. ebenso

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verständnisses aufmerksam machen, die Schleiermacher nach Ottos Auffassung selbst nicht ausräumen konnte.528 Es handelt sich um die schon in Ottos Luther­ deutung immer wieder betonte Unterscheidung natürlichen und numinosen Erlebens, also um die Artbesonderheit der Religion gegenüber jeder anderen Art der Weltwahrnehmung. Demnach kann – wie Otto meint – ­Schleiermachers Abhängigkeitsgefühl nicht »im ›natürlichen‹ Sinne des Wortes« wie in »anderen Gebieten des Lebens und Erlebens als Gefühl eigener Unzulänglichkeit Ohnmacht und Gehemmtheit« gemeint sein.529 In diesem Falle wäre nämlich Schleiermachers schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl lediglich eine Spielart, eine höchste Steigerungsform dessen, was im alltäglichen Leben an Abhängigkeitsverhältnissen vorkommt. Indem Schleiermacher nun aber hiermit lediglich »das absolute vom relativen, das vollendete von allem gradweisen« – eben »›schlecht-hinnige‹ von bloß bezüglichen« Abhängigkeitsverhältnissen unterscheide, drohe die eigentliche Pointe von Schleiermachers Entdeckung verloren zu gehen, nämlich der Gedanke, dass es sich bei dem Erlebten um ein Gefühl handele, das nicht nur quantitativ sondern »qualitativ«530 von jedem anderen Fühlen  – von jeder anderen Abhängigkeit  – allen Ähnlichkeiten zum Trotz grundlegend zu unterscheiden sei. Verdeutlichen mag man sich den Einwand Ottos vielleicht mit der bekannten spöttischen Bemerkung Hegels über Schleiermachers »Glaubenslehre«, der zufolge das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit eigentlich bedeuten müsse, dass »der Hund der beste Christ« sei, denn er sei gegenüber seinem Herrchen durch und durch von jenem Gefühl erfüllt. Hegels Spott bringt Ottos Bedenken treffend zum Ausdruck, geht er doch davon aus, es sei von Schleiermacher eine tatsächliche gewöhnliche Abhängigkeit in vollendeter Form gemeint und zum Wesen der Religion erklärt worden. Dieses Missverständnis meint Otto entkräften zu können, indem er darauf hinweist, »daß wir eigentlich doch nur eine Analogie zur Sache selber im Auge haben, wenn wir es Abhängigkeitsgefühl nennen«.531 Worum es Schleiermacher geht, ist laut Otto also nur eine Annäherung an das eigentliche Erleben der Religion mithilfe eines ihm ähnlichen Erlebniszusammenhangs. Das religiöse Erleben kann »analogisch bezeichnet« und anschließend »erörtert« werden – jedoch darf dabei nicht übersehen werden, dass sich dennoch jede vorstellbare Abhängigkeit immer nur aus der natürlichen Lebenserfahrung speist und von der bei Schleiermacher gemeinten »Beziehung mit Gott« letztlich grundverschieden sein muss. Um diesen SachDH1, 9). Die drei Kritikpunkte an Schleiermacher sind alle schon von Anfang an ein grundlegender Bestandteil von Ottos Argumentation. 528 Otto ist jedoch der Überzeugung, dass sich Schleiermacher intuitiv über die von Otto bemängelte Unklarheit klar war, wie er in einer längeren Fußnote mit Bezug auf die »Reden« darlegt (vgl. DH23–25, 20, Anm. 1). 529 Vgl. DH23–25, 9. 530 DH23–25, 9 (kursiv im Original). 531 DH23–25, 9.

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verhalt auch begrifflich zu sichern, schlägt Otto eine neue Nomenklatur vor: Von jedem »natürlichen Abhängigkeits-gefühle« unterscheidet er »qualitativ« ein »sich selber bekennendes ›Abhängigkeits-gefühl‹«, das »Gefühl der Kreatur die in ihrem eigenen Nichts versinkt und vergeht gegenüber dem was über aller Kreatur ist« – das »Kreaturgefühl«.532 Mit drastischer Wortwahl verschärft Otto so Schleiermachers Idee der schlechthinnigen Abhängigkeit zu einem geradezu apokalyptischen Erleben der eigenen Nichtigkeit. Um jedoch der Gefahr des Missverständnisses  – wie im Falle Schleiermachers  – zu entgehen, zieht Otto dabei einen doppelten Boden ein, der in der Rezeption seines berühmten Begriffs oft überlesen wird: Mit einer gewissen nominalistischen Bescheidenheit weist Otto darauf hin, dass es auch im Falle des »Kreaturgefühls« lediglich um eine »begriffliche Aufklärung der Sache« gehe, also der Begriff auch hier nur ein Vehikel zur Bezeichnung von etwas sei, was »in rationalen Begriffen nicht faßbar« und eben »unsagbar« sei und nur angedeutet werden könne »auf einem Umwege, nämlich durch die Selbstbesinnung und den Hinweis auf den eigentümlichen Ton und Gehalt der Gefühls-reaktion, die sein Erfahren im Gemüte auslöst und die man selber in sich erleben muß.«533

Es schwebt Otto also eine Paradoxie vor: Angeregt von einem Gefühl sieht sich der Mensch dazu gedrängt, von etwas Unsagbarem reden zu müssen. Ein eigentümliches Erleben eigener Nichtigkeit gegenüber einem unbestimmbaren schlechthin Anderen bestimmt das Selbst‑ und Weltverhältnis des Menschen so sehr, dass er nicht ruhen kann, sich über das Wesen desselben Klarheit zu verschaffen und sich ihm in Begriffen zu nähern. Von da aus ergibt sich gleichsam eine Überleitung zu dem zweiten Einwand Ottos gegen Schleiermacher, wenn er schon hier betont, das Kreaturgefühl habe schließlich gar nicht primär die Nichtigkeit und das Versinken des Menschen im Auge – selbiges wäre ja noch einigermaßen gut zu beschreiben – sondern sei im Kern vielmehr auf ein »schlechthin Übermächtige[s]« gerichtet, dessen »solch« und »Wie« alle Fassbarkeit übersteige.534 An dieser Stelle bricht die in den letzten Jahren im angelsächsischen Raum intensiv diskutierte grundlegende Frage auf, ob Ottos Schleiermacherkritik als Anknüpfung oder als Widerspruch verstanden werden muss.535 Dieser Debatte, die in erster Linie im Kontext der Frage nach den supranaturalistischen Tendenzen bei Otto und Schleiermacher bzw. ihrer Unterscheidung von »natürlich« und 532 Vgl.

DH23–25, 10 (kursiv im Original). 10. 534 Vgl. DH23–25, 10. 535 Vgl. erneut die Debatte zwischen Andrew Dole und Arthur David Smith. Smith und Dole arbeiten sich in erster Linie an der Frage ab, inwiefern Otto eine supranaturalistische Lesart Schleiermachers bietet und damit von ihm abweicht. Ottos Erlebnisbegriff und seine Hervorhebung der intuitiven Dimension von Schleiermachers Religionsverständnis tritt dabei jedoch in den Hintergrund. 533 DH23–25,

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»übernatürlich« geführt wurde, entzieht Otto jedoch den Boden, denn auch seine immer wieder und in verschiedenen Punkten geäußerte Kritik an Schleiermacher hält ihn nicht davon ab, sich mit ihm auf einer Ebene einig zu wissen, die jenseits der theologisch-religionsphilosophischen Detailfragen liegt. Es ist einmal mehr der religiöse Virtuose an Schleiermacher, den Otto grundsätzlich auf seiner Seite weiß. Daher kann er resümieren, dass Schleiermacher mit seinem »Abhängigkeits-gefühl« letztlich »im Grunde meinte«, was Otto mit »Kreaturgefühl« und »Scheu« auszudrücken versucht.536 An gleicher Stelle meint Otto schließlich in der zweiten Auflage von Schleiermachers »Reden« seine eigene Auffassung der Unterscheidung von numinoser und profaner Angst bestätigt zu finden, wo Schleiermacher »den völlig verschiedenen Charakter solcher ›heiligen‹ Furcht von aller natürlichen Furcht« beschreibe.537 Da Furcht und Angst bei Otto weitgehend synonym verwendet werden, ist diese Stelle einer der wichtigsten Belege für Ottos theologische Deutung der Angst in ihrem Unterschied zu numinoser »Scheu«. Zweite Modifikation: Das Abhängigkeitsgefühl  – das Kreaturgefühl  – ist nicht der Grund religiösen Erlebens, sondern ein »Reflex«. Bei Schleiermacher ist nach Ottos Auffassung das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, das Otto als »Kreaturgefühl« spezifiziert, fälschlicherweise zum Schlussstein der Religionstheorie geworden. Otto wirft Schleiermacher demnach eine Überbetonung des Momentes der Selbstreferentialität im religiösen Erleben vor, indem er durch »das Kreatur-gefühl den eigentlichen Inhalt des religiösen Gefühles selbst bestimmen« wolle  – das religiöse Gefühl sei bei Schleiermacher also letztlich schlicht »ein Selbst-Gefühl«.538 Die Folge sei demnach ein übertriebener Anthropozentrismus bzw. Egozentrismus, der den Gottesgedanken aus »einer eigentümlichen Bestimmtheit meiner selbst« heraus als äußerliche Ursache deduziert, ihn also  – wie Otto sagt  – »hinzudenke«.539 So sehr Otto Schleiermachers Gedanken der schlechthinnigen Abhängigkeit – verstanden als Kreaturgefühl  – würdigen kann, so sehr hält er Schleiermachers Bestimmung desselben als Urmoment der Religion überhaupt für falsch. Gerade der Weg der »Selbstbesinnung«, den Otto bei Schleiermacher gelernt zu haben meint, ist es, der ihn nun grundlegende Kritik äußern lässt: Es sei nämlich Schleiermachers Konzept »völlig gegen den seelischen Tatbestand«. Otto hält es für eine völlig »klare Erfahrungstatsache«, die jeder Psychologe bestätigen kann, dass dem 536 Vgl.

DH23–25, 20, Anm. 1. DH23–25, 20, Anm. 1. 538 Vgl. DH23–25, 10. Ulrich Barth spricht in diesem Zusammenhang von dem »selbstbezüglichen Zuständlichkeitsbewußtsein« Schleiermachers gegenüber dem es Otto um ein »Moment intuitiven Stellungnehmens« im Erleben eines Objektes gegangen sei (vgl. Barth, Theoriedimensionen, 44). 539 Vgl. DH23–25, 10. 537 Vgl.

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Abhängigkeitsgefühl – und erst recht dem Kreaturgefühl – die Einwirkung und Erfassung einer Art »Ursache« vorangehen muss. Otto versteht Schleiermacher so, dass dieser fälschlicherweise von einer Folge auf die Verursachung schließt, von einem Schatten auf den Gegenstand. Otto wirft Schleiermacher also vor, er setze das Kreaturgefühl einem Erleben voraus, dessen Folge es eigentlich sein müsste. Jenes Erleben, jenes Objektgefühl, das dem Kreaturgefühl nach Ottos Meinung zwingend vorausgehen bzw. zu Grunde liegen muss, beschreibt Otto im Folgekapitel dann ausführlicher. Es handelt sich um eine eigentümliche religiöse, numinose »Angst«, die Otto »Scheu« nennt: »Das ›Kreatur-gefühl« ist vielmehr selber erst subjektives Begleitmoment und Wirkung, ist gleichsam der Schatten eines anderen Gefühlsmomentes (nämlich der ›Scheu‹), welches selber zweifellos zuerst und unmittelbar auf ein Objekt außer mir geht.«540

Nach Ottos Auffassung verhält es sich mit dem Urmoment religiösen Erlebens also genau anders herum als er es bei Schleiermacher beschrieben zu finden meint: Im Anfang jeden religiösen Erlebens muss das geheimnisvolle Gefühl der Begegnung mit einem »Etwas« stehen, es muss ein »numen als praesens erlebt« werden, um dann erst als »Reflex« gleichsam wie ein Schattenwurf auf den Erlebenden und die Bewertung seiner selbst zurückzufallen.541 Sogar bei William James meint Otto seinen Gedanken bestätigt zu finden, dass jedem religiösen Erleben das Gefühl der Realität des im Gefühl begegnenden Objektes zu Grunde liegen muss und resümiert in aller Klarheit: »Zu einem solchen ›Realitäts-gefühle‹ als erstem und unmittelbarem Datum, das heißt zu dem Gefühle eines objektiv gegebenen Numinosen ist dann das ›Abhängigkeitsgefühl‹ oder besser das Kreaturgefühl eine erst nachfolgende Wirkung, nämlich eine Abwertung des erlebenden Subjektes hinsichtlich seiner selbst. Oder anders ausgedrückt: Das Gefühl einer ›schlechthinnigen Abhängigkeit‹ meiner hat zur Voraussetzung ein Gefühl einer ›schlechthinnigen Überlegenheit (und Unnahbarkeit)‹ seiner.«542

Auch hier lässt Otto es nicht auf seiner Kritik an Schleiermacher beruhen, sondern zieht ihn mit Blick auf die »Reden« auf seine Seite. Otto meint, Schleiermacher habe mit seinem zum »Selbstgefühl« überstilisierten Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit ursprünglich eigentlich genau jene »Scheu« gemeint, die »durchaus nicht eine Art des Selbst-gefühles, sondern das Gefühl eines realen Objektes außerhalb des Selbst« und zugleich »›das erste Element‹ in der Religion« sei.543 540 DH23–25,

11 (kursiv und Klammern im Original). DH23–25, 11. Roderich Barth hat gezeigt, dass Schleiermacher jene Intentionalität im religiösen Erleben ebenfalls kennt, es jedoch in die Selbstreferentialität des Erlebenden Subjektes einbettet. Bei Otto hingegen bleibt die Fremdheit und Unverfügbarkeit des erlebten Numinosen bestehen in Form eines bleibenden Objektgefühls (vgl. hierzu Barth, Religion und Gefühl, 31 ff). 542 DH23–25, 11 f (Klammern im Original). 543 Vgl. erneut die Fußnote in DH23–25, 20 mit dem Bezug Ottos auf die zweite Auflage der Reden Schleiermachers. 541 Vgl.

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Nebenbei sei an dieser Stelle hinzugefügt, dass Otto mit jenem numinosen »Objekt« freilich kein Objekt meint, das anderen natürlichen Objekten vergleichbar wäre. Es geht um keinen sogenannten höheren Realismus. Zwar deutet das im Erleben Erahnte auf ein Objekt als Ursprung des Erlebens hin, ja, fühlt sich förmlich wie ein Objekt an. Was jenes »Objekt« aber sei, entzieht sich aller Fassbarkeit, wie Otto im zweiten Kapitel von Das Heilige deutlich machte.544 Es ist vielmehr ein der Welt und allen ihren Objekten verschiedenes »X«, das nur in seiner schlechthinnigen Andersartigkeit im Gefühl erahnt wird.545 »Real« ist also allein das im Erleben Gefühlte, während sich zugleich jede ontologische Spekulation über das Wesen seiner Ursache schon aus dem Gefühl selber heraus verbietet. Das Gefühl ist das eigentlich reale, nicht die hinter dem Gefühl vermeinte Wirkursache. Ob Otto Schleiermacher hiermit in letzter Konsequenz gerecht wird, ist allein schon deshalb zweifelhaft, weil die gesamte bewusstseinstheoretische Konzeption in Schleiermachers »Glaubenslehre« hier weitgehend außen vor bleibt. Originell und über die Maßen scharfsinnig ist Ottos Schleiermacherkritik an dieser Stelle dennoch. Otto verfolgt mit seiner phänomenologischen Erweiterung von Schleiermachers Gedanken der »schlechthinnigen Anhängigkeit« und seiner Zuspitzung auf die konkreten Inhalte und Formen religiösen Erlebens eine Spur, die in Schleiermachers »Glaubenslehre« eine eher untergeordnete Rolle spielt.546 Im Rückgriff auf die »Reden« in ihrer frühromantischen Erstausgabe liest Otto die »Glaubenslehre« deshalb in einer spezifischen Weise neu und unterstreicht damit eine gewisse Kontinuität in Schleiermachers Denken vom Frühwerk bis in die Dreißigerjahre des 19. Jahrhunderts. Demnach ist die in den »Reden« noch sehr reiche Palette konkreter Gefühle in der Beschreibung des religiösen Erlebens in der wesentlich abstrakteren und von der empirisch-psychologischen Ebene 544 Vgl.

DH23–25, 5–7. DH23–25, 7. Schon der Begriff »Objekt« ist in diesem Zusammenhang problematisch und deshalb von Otto häufig in Anführungszeichen gesetzt. 546  Roderich Barth kommt in seiner Untersuchung zum Verhältnis von Religion und Gefühl zu dem Schluss, »dass die Glaubenslehre mit Blick auf eine konkrete Phänomenologie des religiösen Gefühls erstaunlich arm ist. Denn auch in diesem Lehrstück bilden nicht eigentlich konkrete Gefühle den Ausgangspunkt der Untersuchung, sondern deren hochstufige Rationalisierung durch das System der orthodoxen Dogmatik« (vgl. hierzu Barth, Religion und Gefühl, 23). In seiner gefühlstheoretischen Analyse von Schleiermachers Glaubenslehre kommt Barth demnach zu einem ähnlichen Ergebnis wie Otto, nämlich zu dem Befund, dass Schleiermachers schlechthinniges Abhängigkeitsgefühl in höchstem Maße abstrakt bleibt und mit gewöhnlichen empirischen Gefühlen kaum zu verbinden ist: »Mit anderen Worten und zugespitzt formuliert: Phänomenal gibt es gar kein reines Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit. Suchte man es etwa auf einer Ebene mit konkreten Gefühlen wie Furcht, Angst, Freude oder Hoffnung, so würde man fehl gehen. Das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit ist kein Gefühl im gewöhnlichen Sinne des Wortes, sondern bezieht sich vielmehr auf derartige Gefühle.« (vgl. a. a. O., 24). Auch in Barths Untersuchung erweist sich Ottos Kritik an Schleiermacher demnach nicht als grundlegender Widerspruch, sondern als Erweiterung bzw. als religionskundlichphänomenologische Durchführung von Schleiermachers Programm. 545 Vgl.

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abgerückten »Glaubenslehre« implizit noch greifbar, sodass Otto die in erster Linie rational-subjektivitätstheoretische Gefühlstheorie des späten Schleiermacher auf die stärker phänomenologischen Beobachtungen im Frühwerk zurückbeziehen und damit gewissermaßen erden kann. Die primär selbstreferentiellen Aspekte der Frömmigkeit in der »Glaubenslehre« stellen sich dabei als nur eine Seite des Phänomens religiösen Erlebens dar, welches erst zusammen mit der intentionalen Komponente tatsächlicher realer Gefühle geheimnisvollen Angsterlebens – der »Scheu« – als zwei Perspektiven eines einheitlichen Geschehens adäquat beschrieben werden kann. Konkretes religiöses Angsterleben – numinose »Scheu« – ist es also, die laut Otto in den Religionen der Welt aus einem eigentümlichen Objektgefühl hervorgeht und damit ­Schleiermachers »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« gewissermaßen konstituiert. Dritte Modifikation: Das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit meint keine rationale Einsicht in die eigene »Geschaffenheit«, sondern ist »Majestasmystik«, das Gefühl eigener Nichtigkeit.547 Wie in seinen Studien zu ­Luther untersuchte Otto auch im Falle Schleiermachers dessen Verhältnis zur Mystik. In seinem dritten Kritikpunkt an Schleiermacher versucht Otto nun mystische Tendenzen in dessen Frömmigkeitsverständnis auszumachen. Entgegen den ersten beiden Modifikationen handelt es sich dabei um einen Abschnitt in Das Heilige, den Otto im Laufe der Jahre deutlich überarbeitet hat. Ottos intensive Studien zur Mystik in den Zwanzigerjahren flossen offensichtlich in die späteren Auflagen seines Hauptwerkes zurück und schlugen sich auch in seinen Bemerkungen zu Schleiermacher nieder.548 Den Kerngedanken seines dritten Kritikpunktes an Schleiermacher äußerte Otto allerdings schon seit der Erstauflage und führte damit zugleich die ersten beiden Kritikpunkte weiter.549 Um die Genese von Ottos Konzeption deutlicher zu machen, wird daher im Folgenden der Erstauflage von 1917 gefolgt. Zunächst erinnert Otto erneut an das im religiösen Erleben präsente Gefühl der Begegnung mit einem realen Objekt in einem »Moment der [sch]lechthinnigen Übermacht«, das »als sein [Sch]atten und subjektiver Reflex« das Kreaturgefühl des »eigenen Versinkens Zunichtewerdens, Erde, A[sch]e und Nichts Seins« erzeugt.550 Unter dem Begriff der »majestas« 547

 Vgl. DH23–25, 20. Der Begriff der »Majestas-mystik« kommt in den frühen Auflagen von DH noch nicht vor, gleichwohl Otto das Gemeinte, nämlich eine Verortung jenes Kreaturgefühls als »annihilatio« gegenüber der göttlichen »majestas« in der Tradition der Mystik generell schon früh klar war (vgl. z. B. DH1, 21 f). Die genauere Unterscheidung mystischer Strömungen und Typen hat Otto erst in den Zwanzigerjahren in seinem Werk West-östliche Mystik von 1926 genauer untersucht. Otto unterscheidet dort zwei Wege der Mystik: »Selbstversenkung« und »Einheitsschau«, die dann später in Form von zahlreichen Änderungen und Erweiterungen in DH eingebaut wurden (vgl. z. B. DH23–25, 25 f). 548 Vgl. insbes. die später zugefügten Passagen in ihrer Endgestalt in DH23–25, 24–26. 549 Vgl. DH1, 20 f, bzw. DH23–25, 22 ff. 550 DH1, 21.

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erweitert Otto in diesem Zusammenhang seine Interpretation des Schleiermacherschen Abhängigkeitsgefühls als Kreaturgefühl um Momente der »[sch]lechthinnige[n] Unnahbarkeit«, der »Übergewalt« und »Übermacht« in deren Folge sich das Kreaturgefühl im erlebenden Subjekt einstellt.551 Auch hier meint Otto nochmals kritisch auf Schleiermachers Konzeption des Gefühls schlechthinniger Abhängigkeit zurückkommen zu müssen. Der Vorwurf lautet, Schleiermacher komme nicht nur »durch einen [Sch]luß« auf dem verkehrten Wege einer rationalen Ableitung von dem »Schatten« des Kreaturgefühls zu dem ursprünglichen Objektgefühl, welches dem »Selbstgefühl« eigentlich hätte vorangehen müssen, sondern er stelle sich obendrein das Gottesverhältnis des Menschen als ein rationales Kausalverhältnis vor.552 Die in § 4 der »Glaubenslehre« von Schleiermacher beschriebene »Beziehung mit Gott«553 scheint demnach für Otto zu sehr aus der rationalen Korrelation zwischen einem »Sich bedingt fühlen« des Menschen mit der »Allursächlichkeit und Allesbedingtheit« Gottes abgeleitet zu sein.554 Die schlechthinnige Abhängigkeit des Menschen sei demnach ein rational ersonnenes »Korrelat« zu der Vorstellung eines allmächtigen Schöpfergottes.555 Hiergegen wendet Otto ein, jene rationale Vorstellung einer Kausalität zwischen der »Allursächlichkeit« des Schöpfers und der hiervon abgeleiteten Abhängigkeit von allem Geschaffenen liege »im unmittelbaren ›frommen Gefühle‹« eigentlich gar nicht »drin«.556 Es legt sich nach Ottos Auffassung im religiösen Erleben stattdessen zunächst eine »ganz andere Vorstellungsreihe« nahe, als jene abstrakte Vorstellung von »Schöpfung und Erhaltung« bei Schleiermacher. Entgegen einer abstrakten schöpfungstheologischen Spekulation, wie er sie bei Schleiermacher zu finden meint, versucht sich Otto auf die empirische Gestalt des Erlebten zu besinnen und macht dabei ein rohes Gefühl der eigenen »Nichtigkeit«, der »Ohnmacht gegenüber der Übermacht« als Urmoment des religiösen Erlebens aus.557 Jenes »Erd und A[sch]e sein« im Gefühl der »majestas« identifizierte Otto in der Zeit vor seinen großen Studien zur Mystik in den Zwanzigerjahren noch als »der Mystik charakteristi[sch]«558 und stellte die mystische Tendenz in Schleiermachers Abhängigkeitsgefühl unter den Begriff der »annihilatio«: »Denn in fast allen Formen der Mystik, so ver[sch]ieden sie auch inhaltlich unter einander sind, begegnen wir als einem ihrer allgemeinsten Hauptzüge, durch den vielleicht am ehesten eine Definition dieses [sch]wer definiblen Gegenstandes gelingt, der Abwertung des ›Selbst‹, die in deutlicher Ähnlichkeit die Selbst-Abwertung Abrahams wiederholt, 551 DH1,

20 f. DH1, 21. 553 Vgl. in der zweiten Auflage von Schleiermachers Glaubenslehre, Band I, 16 (Originalpaginierung). 554 Vgl. DH1, 21. 555  Vgl. DH1, 21. 556 DH1, 21. 557 DH1, 22. 558 DH1, 22 f. 552 Vgl.

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nämlich die Wertung des Selbst und des Ich als des nicht vollkommen wirklichen, wesentlichen oder als des völlig nichtigen, und diese Abwertung wird dann zu der Forderung, sie gegenüber dem falschen Wahn der Selbstheit prakti[sch] zu vollziehen und so das Selbst zu annihilare.«559

Nach Ottos mystischer Interpretation Schleiermachers sind also in dessen Entdeckung nicht die hieraus gefolgerten »ontologi[sch]e[n] Termini« entscheidend, sondern das hinter seiner Konzeption stehende Gefühl der »[sch]lechthinnigen Überlegenheit« eines »Objektes« gegenüber dem sich das Gefühl der eigenen Nichtigkeit erst als Reflex abzeichnet: »›Ich nichts, Du alles!‹ – Von einem Kausalverhältnis ist hier nicht die Rede.«560 Nach Ottos Auffassung ist also religiöses Erleben keine schlechthinnige Abhängigkeit aus dem Gedanken der »Geschaffenheit« heraus, sondern ist ein unmittelbares Gefühl von »Geschöpflichkeit, ist Ohnmacht gegenüber der Übermacht« – eben eigene Nichtigkeit gegenüber der »majestas«.561 Seine etwas pauschalen Aussagen über die Mystik nimmt Otto in späteren Auflagen von Das Heilige zurück und differenziert seine Ausführungen in umfangreichen Zusätzen.562 Insbesondere am Beispiel Meister Eckharts, dem Otto 1926 mit dem Werk West-östliche Mystik umfangreiche Studien gewidmet hatte, differenziert Otto die Überlegungen im Anschluss an das Kreaturgefühl bei Schleiermacher gegenüber anderen mystischen Strömungen.563 Entgegen einer ekstatischen »Mystik der ›Einheitsschau« definiert Otto den im Anschluss an Schleiermacher und Eckhart entworfenen Typus als »Demuts-mystik« oder »Majestas-mystik«.564 Wie schon in den Überlegungen zur Theologie Martin ­Luthers geht es Otto dabei offensichtlich auch im Falle Eckharts um ein intuitives Unterscheidungserlebnis: In dem Gefühl einer Begegnung mit der unüberbietbaren »majestas« Gottes ergibt sich zugleich das Erleben der eigenen Nichtigkeit im Kreaturgefühl, welches dann rationalisiert und ontologisch gedeutet werden kann: »Indem der Mensch arm und demütig wird wird Gott alles in Allem, wird Er das Sein und das Seiende schlechthin. Aus majestas und aus Demut erwächst ihm [Eckhart] der 559 DH1,

22 (Hervorhebung im Original gesperrt). 22. 561  Vgl. DH23–25, 23 f. 562  Otto konnte in den ersten Auflagen von DH noch das beschriebene Gefühl von der göttlichen »majestas« und dem hieraus folgenden menschlichen »tremendum« und »Kreaturgefühl« als einen Grundzug der Mystik überhaupt ausmachen. In den späteren Auflagen spricht er nur noch von »gewissen Formen der Mystik« (DH23–25, 24). Vgl. hierzu die deutlichen Differenzen zwischen DH1, 21–24 und DH23–25, 23–27. 563 Vgl. grundlegend WÖM und besonders zu Schleiermacher WÖM1, 324 ff. Auf den auch sein eigenes Frühwerk und die frühen Auflagen von DH betreffenden »Fehler«, die Mystik früher als ein »einheitliches Fänomen« betrachtet zu haben, geht Otto schließlich ausdrücklich mit Verweis auf WÖM ein (vgl. DH23–25, 27, Anm. 1). 564 Vgl. DH23–25, 25. 560 DH1,

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›mystische‹ Gottesbegriff, das heißt, nicht aus Plotinismus und Pantheismus sondern aus dem Abraham-Erlebnis.«565

In den letzten Kapiteln von Das Heilige kommt Otto nochmals ausführlicher auf Schleiermacher zurück. Anders als im Kontext von »tremendum« und »Kreaturgefühl« steht jedoch hier nicht die »Glaubenslehre« im Vordergrund, sondern die »Reden«. Erneut stellt Otto Schleiermacher hier als Wiederentdecker der Religion dar und hat nun auch einen Begriff für das von ihm wiederentdeckte Urmoment der Religion: Das Vermögen der »Divination«.566 Was Schleiermacher nach Ottos Auffassung hierin »theologischerseits entdeckt und gegen Supranaturalismus und Rationalismus zum Verständnis gebracht« hat, ist das »Vermögen der sich versenkenden Kontemplation gegenüber dem großen Gesamtleben und der Wirklichkeit in Natur und Geschichte«.567 Am Ende ist es also tatsächlich auch in Das Heilige weniger der hochgelehrte Verfasser der »Glaubenslehre«, den Otto an Schleiermacher schätzt, sondern der religiöse Virtuose, der nicht durch theoretische Erkenntnis, sondern mittels seiner Intuition eine Sprache für jenes Erleben fand, in dem »in und am Zeitlichen ein durchschauendes Ewiges[,] in und am Empirischen ein überempirischer Grund und Sinn der Dinge« geahnt wird.568 Die von Schleiermacher gewonnenen Aussagen sind zwar noch immer »mehr tastend, deutend und analogisch« und deshalb »nicht verwendbar als ›Lehraussagen‹ im strengen Sinne«,569 dennoch schlägt nach Ottos Auffassung in ihnen das »Vermögen« durch, »das Heilige in der Erscheinung echt zu erkennen und anzuerkennen«.570 Darauf, dass jene »Erkenntnisse intuitiv-gefühlsmäßiger, nicht reflektionsmäßiger Art« sind, legt Otto höchsten Wert.571 Die besondere Gabe Schleiermachers besteht nach Ottos Auffassung darin, dass dieser trotz seiner aufwändigen rationalen Ausdeutung des religiösen Erlebens seine Schilderungen »in einen Grund von ewigem Geheimnis, vom Irrationalen des Weltengrundes« einzubetten verstand.572 Auch anhand des Divinationsbegriffs meldet Otto allerdings zwei Kritikpunkte an Schleiermacher an.

565 DH23–25, 25. Otto bezieht sich mit dem Hinweis auf das »Abraham-Erlebnis« auf Gen 18,27, wo Abraham sich gegenüber Gott selbst als »Erde und Asche« erlebt. Otto führt jene Stelle in Kap. 3 von DH geradezu als Paradebeispiel für das »Kreaturgefühl« und als »ursprüngliches und Grund-Datum […] im Seelischen« an (vgl. DH23–25, 9 f). 566  Vgl. DH23–25, Kap. 20 und 21. 567 DH23–25, 175. 568 Vgl. 176. 569 DH23–25, 176. 570 DH23–25, 173 (kursiv im Original). 571 Vgl. DH23–25, 176. Besonders an dieser Stelle sieht Otto eine deutliche Parallele zwischen Schleiermacher und Jakob Friedrich Fries im von beiden verwendeten Begriff des »Ahndens«. 572 Vgl. DH23–25, 176 f. Otto vermutet in diesem Zusammenhang eine Nähe Schleiermachers zum Gedanken der ästhetischen Urteilskraft bei Immanuel Kant (vgl. DH23–25, 177).

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Zum einen ist ihm bei Schleiermacher das Vermögen zur Divination zu allgemein formuliert, so als sei jeder Mensch gleichermaßen divinatorisch veranlagt. Otto ist das zu optimistisch – erneut zieht er hier seine empirischen Eindrücke vor und geht davon aus, dass die Fähigkeit zur Divination »in actu« nur »in Form vorzüglicher Begabung und Ausstattung Einzelner Begnadeter zutage« tritt.573 Echte Divination ist also bei Otto etwas Exklusives, was nur »Bevorzugte, ›Erwählte‹« in reiner Form erleben, weil sie dazu veranlagt sind.574 Nur so scheint Otto sich die Unterschiedlichkeit religiöser Musikalität und Empfänglichkeit verschiedener Menschen erklären zu können. Der andere Kritikpunkt an Schleiermacher bezieht sich auf dessen Christologie. Otto bedauert, dass Schleiermacher zwar den Modus der Divination eindrucksvoll zu schildern weiß, jedoch dabei das »Objekt« der Divination eigentümlich unberührt lässt. Erneut geht ihm also Schleiermachers Subjektivismus zu weit.575 Schleiermachers Vorstellung des Hineingenommenseins des Menschen in das Gottesbewusstsein Jesu ist Otto offensichtlich christologisch etwas zu schwach: Schleiermachers Konzeption sei »ein wertvoller Gedanke, der aber doch an den Hauptsinn Christi nicht heranreicht«. Otto sieht dagegen einen anderen Christusglauben in der christlichen Frömmigkeit verwurzelt: Die Gewissheit, dass Jesus Christus »selber ›das Heilige in der Erscheinung‹« sei, dass Christus nicht nur »Subjekt der Divination«, sondern »ihr eigentliches Objekt« sei.576 Der berühmte Schlusssatz seines Hauptwerks ist also in seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher schon angedeutet: Anders als ein Prophet ist nach Ottos Auffassung Jesus Christus nicht nur eine vorbildliche divinatorische Natur höchsten Ranges, die »den Geist in der Fülle hat«, sondern »Er ist der Sohn«, weil er überdies »zugleich selber in Person und Leistung zum Objekte der Divination des erscheinenden Heiligen wird.«577 Zusammenfassung und Ertrag für die Bestimmung des Verhältnisses von Angst und Religion. Hinsichtlich der Frage nach der religiösen Bedeutung der Angst erweist sich Ottos Schleiermacherinterpretation in seinem Hauptwerk als 573 Vgl.

DH23–25, 178. DH23–25, 179. Otto bezweifelt an dieser Stelle, dass Schleiermacher selbst überhaupt eine »divinatorische Natur gewesen ist«. Woher diese Zweifel allerdings kommen, bleibt unklar. Da Otto am gleichen Ort Goethe gegenüber Schleiermacher als divinatorischen Begabten anführt, ist davon auszugehen, dass Otto in erster Linie virtuose Dichter oder prophetische Gestalten wie Jesaja für herausragende divinatorische Figuren hält, da bei ihnen das Erlebte immer in dunkler und vager Andeutung bleibt. Bei Schleiermacher ist dagegen der Hang zur Rationalisierung und zu nüchterner Abstraktion wesentlich stärker ausgeprägt. 575 Vgl. DH23–25, 183. Hier tut sich eine deutliche Parallele zu der zweiten Modifikation auf, die Otto im Anfangsteil von DH an Schleiermacher vornimmt. Auch hier stört ihn schon die Objektvergessenheit Schleiermachers und die zu starke Gewichtung der Selbstreferentialität im religiösen Erleben. 576 Vgl. DH23–25, 183. 577 Vgl. DH23–25, 205. 574 Vgl.

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durchaus aufschlussreich. Deutlich wird dies besonders in der Verbindung der beiden unterschiedlichen Blöcke innerhalb von Das Heilige, in denen Schleiermacher prominent zur Sprache kommt: in der Entdeckung des »Kreaturgefühls« im Anschluss an Schleiermachers Begriff der »schlechthinnigen Abhängigkeit« im dritten und vierten Kapitel, sowie in den letzten Kapiteln des Buchs in der Darstellung des Begriffs der Divination. In seiner Darstellung des Kreaturgefühls als Moment der »religiösen Demut« wird der »numinose Rohstoff«, dem sich Otto zu nähern versucht, mit einer ganzen Palette religiöser Angstmomente dargestellt: »das Gefühl eigenen Versinkens Zunichtewerdens Erde-, Asche‑ und Nichts-Seins«. Im Anschluss an Schleiermachers Begriff der »schlechthinnigen Abhängigkeit« skizzert Otto damit eine regelrechte Grundlagenkategorie religiöser Angst als eines Erlebens, welches in allen Urmomenten religiösen Fühlens mitzuschwingen scheint. Jedes Erleben, das als Begegnung mit dem Göttlichen gedeutet wird, trägt damit in seiner tief irrationalen Grundstruktur ein so nur in der Religion vorkommendes Moment der »Angst« in sich, das sich allein aus der intuitiven Unterscheidung des Menschen von der »majestas«, des als real erlebten numinosen »Objekts« ergibt. Aus den drei Modifikationen der Konzeption Schleiermachers ergeben sich für den Angstbegriff ferner folgende Grundentscheidungen: Erstens stellt Otto die Artbesonderheit religiösen Erlebens und insbesondere religiösen Angsterlebens heraus. Klassische Begriffe wie Angst und Furcht meidet er deshalb bewusst, um den »völlig verschiedenen Charakter solcher ›heiligen Furcht‹ von aller natürlichen Furcht« deutlich zu machen, wie ihn Otto schon in den »Reden« Schleiermachers beschrieben sieht.578 Zweitens arbeitet Otto anhand von Schleiermachers Begriff der schlechthinnigen Abhängigkeit heraus, dass der eigentliche Kern und Ursprung religiösen Erlebens kein rein selbstreferentielles »Selbstgefühl« sein kann, da es empirisch als ein Gefühl der Begegnung mit einem objektiven anderen »Etwas« erlebt wird. Das im Kreaturgefühl beschriebene angstvolle Gefühl »eigener Nichtigkeit« und des »Versinkens« ist demnach nur als Reflex eines vorherigen numinosen Angstmoments, nämlich des »in der ›Scheu‹ objektiv erlebten Schauervollen und Großen selber« verstehbar, das Otto mit Schleiermachers Begriff der »heiligen Ehrfurcht« als »das erste Element der Religion« beschreibt.579 Die erste Regung religiösen Erlebens interpretiert Otto damit als ein von jeder profanen Angst verschiedenes genuin religiöses Angsterleben, das sich nicht auf die natürliche Wirklichkeit, sondern auf ein über sie hinausgehendes »Ganz anderes« richtet. Freilich handelt es sich – auch hierauf wurde schon hingewiesen – bei dem im Erleben erahnten »Objekt« nicht um ein Objekt im Sinne eines Gegenstands der Welt. Schon in Ottos Luther­deutung wurde dargelegt, dass das hier be578 Vgl. 579 Vgl.

DH23–25, 20, Anm. 1. DH23–25, 20, Haupttext und Anm. 1.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

schriebene »numen praesens«, das erlebte »numinose Objekt« vielmehr eine Unmittelbarkeit des Ganzen, eine hinter aller empirischen Wirklichkeit liegende Sinndimension bzw. als ein alle Werte umfassender »Wert« gedacht wird.580 Jener »Wert«, den Otto schon in der ersten Auflage als eine mit der menschlichen »Allesbedingtheit« korrelierende »Allursächlichkeit« beschrieb,581 wird zwar als ein mysteriöses »Objekt« erlebt, jedoch nur insofern, als der Begriff »Objekt« ein Gleichnis ist für ein letztlich unfassbares und dennoch ganz konkret begegnendes Geheimnis, ein »Mysterium«, das alle Wirklichkeit umschließt.582 Die Objekthaftigkeit des Erlebten wird aus den Modulationen des Gefühls heraus förmlich nahegelegt und an empirische Erscheinungsformen geheftet. Zugleich weist jedoch eben jenes Gefühl jede Assoziation mit einem Objekt zurück und entlarvt intuitiv die Unangemessenheit aller Objekthaftigkeit. Drittens bettet Otto jenes angstvolle Moment religiösen Erlebens auch im Falle Schleiermachers in den Kontext mystischer Tradition ein. In Bezugnahme auf Meister Eckhart beschreibt Otto ein angstvolles Unterscheidungserlebnis, das intuitiv als Gefühl die göttliche »majestas« von der Nichtigkeit des Menschen unterscheidet und zugleich unabweisbar kontemplativ vergegenwärtigt. Am Ende des Hauptwerkes schließt der Divinationsbegriff Ottos Interpretation Schleiermachers ab. Das numinose Angsterleben wird hier in den Rang einer Wiedererkenntnis des »Heiligen in seiner Erscheinung« gehoben, derer nur religiös Begabte und Veranlagte in vollendeter Weise fähig sind. Numinose »Scheu«  – wie Otto die an Angst erinnernden religiösen Gefühle nennt  – ist demnach das angstvolle erste Moment eines empirischen Erlebens, das vom Erlebenden als eine wirkliche, wahre Erscheinung, ein Zeichen des Göttlichen im Gefühl erlebt wird und damit in der Tradition der Mystik steht. 2.3 Das Problem der Angst in Ottos theologischer Gefühlstheorie vor dem Hintergrund der Rezeption Schleiermachers Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Otto auch in seinen späteren Werken immer wieder auf Schleiermacher Bezug nahm und die hierbei gewonnenen Erkenntnisse auch in die früheren Arbeiten – in die späteren Auflagen der »Redenedition« sowie in Das Heilige – zurückwirken ließ. Die wichtigsten späteren Studien zu Schleiermacher sind zum einen die Überlegungen zu den mystischen Tendenzen bei Schleiermacher in dem Buch West-östliche Mystik von 1926, in denen besonders grundlegende Aspekte von Ottos Gefühlstheorie angefügt sind. Hinzu kommen die Erweiterungen seines Schleiermacheraufsatzes von 1903 in 580 Zum

numinosen »Objekt« als eines »eigentümlichen Wertes« vgl. DH23–25, 67.  Vgl. DH1, 21. Der Begriff des Wertes wurde in den späteren Auflagen von Das Heilige und überhaupt in Ottos Spätwerk immer wichtiger. 582 Zu Ottos zentralem Begriff des »Mysteriums«, der insbesondere auch für das numinose Objekt gilt, vgl. DH23–25, 14. 581

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der Auseinandersetzung mit der Schleiermacherdeutung Wilhelm Herrmanns in dem Aufsatzband Sünde und Urschuld von 1932. Schleiermacher und die »zwei Wege« der Mystik. In den späteren Auflagen von Das Heilige hat Otto im Zusammenhang seines dritten Kritikpunktes an Schleiermachers Begriff der »schlechthinnigen Abhängigkeit« auf sein 1926 erstmals erschienenes Werk West-östliche Mystik verwiesen.583 Im Kapitel »Neue Parallelen und Erläuterungen« findet sich dort ein längerer Abschnitt zu S­ chleiermacher, in dem Otto sein Schema der »zwei Wege« der Mystik auf selbigen anzuwenden versucht.584 Ohne im Folgenden auf Ottos grundlegende Interpretation der Mystik und ihres Verhältnisses zu Schleiermacher vertieft einzugehen, sei wenigstens der Kerngedanke Ottos kurz geschildert: Generell unterscheidet Otto in West-östliche Mystik in seiner Auseinandersetzung mit Meister Eckhart und Śankara585 zwei »Wege« der Mystik, die sich nach Ottos Auffassung in allen mystischen Ansätzen in jeweils charakteristischer Weise ausgeprägt und vermischt nachweisen lassen.586 Es handelt sich dabei um zwei grundlegende Tendenzen bzw. Richtungen mystischen Denkens und Erlebens, um »zwei durchaus unterscheidbare Typen der Mystik«,587 die Otto schließlich auch im Werk Schleiermachers nachzuweisen versucht. Der erste »Weg« ist derjenige der »inneren Schau« und der »Selbstversenkung«, der zweite »Weg« ist hingegen der Weg der »Einheitsschau«.588 Während der erste Typus der Mystik einen »Rückzug in die eigene Seele« und die Suche des Göttlichen in den Tiefen des innersten Selbst bei gleichzeitiger Ausblendung der übrigen Welt bedeutet,589 verfolgt der zweite Typus »gegenüber der Vielheit der Objekte« eine »Einheitsschau«: nicht das »Inwendige« und die Seele stehen im Vordergrund, sondern der Mystiker entgrenzt sich in der Schau »der Dinge in ihrer Mannigfaltigkeit«.590 In seiner Anwendung dieses Schemas auf Schleiermacher kommt Otto nun zu einem interessanten Schluss: Im Hinblick auf die Entwicklungsgeschichte von Schleiermachers Gesamtwerk meint Otto eine Kehrtwende in dessen Denken 583 Vgl.

DH23–25, 12, Anm. 1, mit dem Verweis Ottos auf »Teil C« in WÖM. WÖM1, 324–341. Dass dieser Abschnitt zu Schleiermacher in der Sekundärliteratur bisher kaum zur Kenntnis genommen wurde (eine der wenigen Ausnahmen ist der Aufsatz von Roderich Barth, vgl. Barth, Religion und Gefühl, 31 ff), mag auch daran liegen, dass Gustav Mensching in seiner überarbeiteten Neuauflage (3. Auflage) von WÖM aus unerfindlichen Gründen den gesamten Teil C des Buches gestrichen hat. Der in WÖM3, 60, Anm. 24 von Mensching angegebene Grund »aus Raummangel« erscheint gegenüber einem derart fatalen redaktionellen Eingriff jedenfalls weder plausibel noch angemessen zu sein. 585 Die Schreibweise entspricht derjenigen in WÖM. 586 Vgl. insbes. WÖM1, Kap 4. 587  Vgl. WÖM1, 70. 588 Vgl. WÖM1, 70. 589 Vgl. WÖM1, 53 f. 590 Vgl. WÖM1, 55 f. 584 Vgl.

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zu beobachten, die sich anhand der »zwei Wege« der Mystik beschreiben lässt: Während der frühe Schleiermacher – der in der Romantik verwurzelte Autor der Erstauflage der »Reden« – vorwiegend dem zweiten Typus der »Einheitsschau« zugeneigt gewesen sei, habe sich in der »Glaubenslehre« und in den späteren Überarbeitungen der »Reden« eine Wende hin zum »ersten Weg« der Innenschau vollzogen.591 Die »Anschauung des Universums« in den »Reden« transformiere sich demnach zu einer kontemplativen Ausrichtung »nach innen« im »unmittelbaren Selbstbewußtsein«.592 Otto führt Schleiermachers Umschwenken in diesem Zusammenhang auf dessen Persönlichkeit zurück: Schleiermacher sei letztlich eben kein Mystiker im Sinne des »zweiten Weges« gewesen und habe sich nicht als »Erschauer des Universums« im eigentlichen Sinne verstanden, sodass Otto von der »Glaubenslehre« her über das Gesamtwerk Schleiermachers sagen kann: »Schleiermacher fand das Göttliche nicht im Anschauen des Universums. Er fand es inwendig.«593 Otto scheint hier also eine Begründung für die Schwerpunktlegung auf die subjektive Selbstreferentialität in Schleiermachers Gefühlstheorie zu sehen. Gefühl und Emotion. Für den vorliegenden Zusammenhang sind die gefühlstheoretischen Überlegungen besonders interessant, die Otto in Gestalt einer Anmerkung zum Schleiermacherkapitel in West-östliche Mystik anstellt.594 Am Beispiel der Begriffsverschiebung im Werk Schleiermachers von dem Begriff der »Anschauung« im Frühwerk hin zu dem in den späteren Werken und Auflagen immer stärker dominierenden Begriff des Gefühls schlägt Otto vor, Gefühle von Emotionen zu unterscheiden.595 Emotionen sind demnach »objekt-bezogene« 591

 Vgl. WÖM1, 325. WÖM1, 334. 593 WÖM1, 341. 594 Vgl. hierzu die lange Anmerkung Ottos zu seinem Schleiermacherkapitel mit der Überschrift »Gefühl« in WÖM1, 383–387 sowie die »Schlußbemerkung über ›Gefühl‹« in GÜ 327– 333. Beide Passagen zusammen genommen stellen die wohl wichtigsten Darstellungen Ottos zur Gefühlstheorie dar, sind jedoch, weil sie an etwas versteckten Stellen verankert wurden, relativ wenig rezipiert worden. Vgl. hierzu die Überlegungen von Roderich Barth, der nicht nur die Unterscheidung von Emotion und Gefühl bei Otto in ihrer Entstehungsgeschichte und ihrem Verhältnis zu Schleiermacher nachzeichnet, sondern dabei auch die gegenwärtigen Debatten der Emotionstheorie im Blick hat. Otto wird dabei eine durchaus signifikante Aktualität eingeräumt: Barth bezeichnet Ottos gefühlstheoretische Überlegungen gar in einigen Punkten als »Vorwegnahme der heutigen Emotionstheorie« (vgl. Barth, Religion und Gefühl, 34). Gänzlich unausgewertet sind bisher die Fragmente aus Ottos Glaubenslehre-Vorlesung. In der erhaltenen Vorlesungsmitschrift von Heinrich Kahl (vgl. Kahl, Rudolf Otto: Vorlesung, Universitätsbibliothek Marburg, Ms 864, I.) gelten innerhalb des Abschnittes zur Religionsphilosophie zahlreiche Paragraphen der Gefühlstheorie (vgl. hierzu Lauster, Der unbekannte Otto, 157). Eine Sichtung und Auswertung der hochinteressanten Fragmente ist jedoch ein eigenes Projekt, das hier nicht geleistet werden kann. 595 Zu der damit zusammenhängenden Auseinandersetzung Ottos mit dem Gefühlsbegriff Johannes Nikolaus Tetens vgl. WÖM1, 383 und dazu Barth, Religion und Gefühl, 33 ff. 592 Vgl.

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Erfahrungen, die auf das Erkennen eines Objektes reagieren.596 Erst im Anschluss an das Erkennen eines Objektes werden Emotionen deshalb wirksam, weil sie das Erkannte emotional einordnen, beispielsweise als Schmerz oder als Freude. Wichtig ist dabei, dass die unmittelbare Wahrnehmung – die »Erfassung« des Objektes, wie Otto sagt  – der Emotion vorausgehen muss.597 Emotionen sind also Reaktionen auf die Erfassung eines Objektes. Ottos Definition von Emotionen erinnert in diesem Zusammenhang stark an die in seiner Luther­ deutung ausgeführte Beschreibung des »natürlichen Menschen«: »natürliche« Furcht war auch hier die emotionale Reaktion auf eine unmittelbar vorhergehende Bewertung eines natürlichen Objektes als Bedrohung. Angst wäre in diesem Zusammenhang insofern als Emotion zu beurteilen, als ihr die »Erfassung« eines Objektes der Bedrohung vorausgeht, vor dem man sich ängstigt. Durchaus anders verhält es sich nach Ottos Auffassung bei Gefühlen. Zunächst bemängelt Otto, dass in den Gefühlsdebatten seiner Zeit die Unterscheidung von Emotion und Gefühl überhaupt verunklärt sei: »in heutiger Psychologie« werde demnach fälschlicherweise für Emotionen ebenfalls der Begriff Gefühl verwendet.598 Den Begriff des Gefühls möchte Otto jedoch anders als in der auf Johannes Nikolaus Tetens zurück gehenden Definition aus der Aufklärungszeit von dem der Emotion unterscheiden.599 Im Unterschied zu Emotionen ist nach Ottos Auffassung ein Gefühl nämlich keine Reaktion auf eine Objekterfassung – also auf ein unmittelbares Erkennen – sondern es ist »der Anfang von Erkennen« selber.600 Gefühle sind also direkte »Objekterfassungen«,601 die viel tiefer und unmittelbarer liegen als Emotionen und damit jenseits jeder begrifflichen Fassbarkeit operieren. Schnell wird deutlich, dass Otto hier mit Gefühlen bezeichnet, was er insbesondere in seiner Ausgabe von Schleiermachers »Reden« mit dem Begriff des Erlebens meinte: eine besondere »Art von Erkenntnis«,602 die in Gestalt eines intuitiven Deutungs‑ und Wertungsvermögens im Menschen veranlagt ist. Gefühle sind bei Otto demnach schlichtweg »Erkenntnisakte«, und zwar »solche, die sich oft als angeborenes Talent, als besondere Gabe schnellen, sicheren und unreflektiert-unmittelbaren Erkennens, Urteilens und Unterscheidens geltend macht. […] In diesem Sinne ist Gefühl geradezu gleich Erkenntnis in ihrer vorbegrifflichen Form«.603 596

 Vgl. WÖM1, 383.  Vg. WÖM1, 383 f. 598 Vgl. WÖM1, 384. 599 Vgl. zu Tetens Gefühlstheorie in aller Kürze: Franke / Oesterle, Art. Gefühl, 83. 600 Vgl. WÖM1, 384. 601 Vgl. WÖM1, 384 (Hervorhebung im Original gesperrt). 602 Vgl. zum Zusammenhang von Gefühls‑ und Erlebnisbegriff bei Otto: Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 42 ff. Auch Ulrich Barth bezieht sich in erster Linie auf die Anmerkung zum »Gefühl« in WÖM. 603 WÖM1, 384 (Hervorhebung im Original gesperrt). Auch hier scheint sich eine Parallele zu Ottos Luther­deutung aufzutun, in der er unter dem Begriff des Geistes eine seinem späteren 597

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Jenen Gefühlsbegriff meint Otto nun in Schleiermachers »Glaubenslehre« vorzufinden. Die eher als Emotionen zu interpretierenden »Anschauungen« in den »Reden« seien demnach von dem späteren Gefühlsbegriff verdrängt und überlagert worden.604 Anders als in den eher emotionalen Momenten in den »Reden« versteht Otto das »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« in der »Glaubenslehre« nun als Gefühl im eigentlichen, »echteren Sinne«, als »Wirklichkeitserfassung«: »Im Gefühl – unmittelbar und vor allem Begriff in direkter Selbstgegebenheit – erfaßt das Selbst sich selbst in der objektiven Bestimmtheit schlechthinniger Abhängigkeit«.605 Die schon in Das Heilige geäußerte Kritik an Schleiermacher greift nun auch hier wieder in Ottos Vorwurf, Schleiermacher verstehe jene unmittelbare Objekterfassung im Gefühl fälschlicherweise primär als »Selbstbestimmung«, anstatt in ihm zuerst eine »Erfassung des transzendenten Objektes« zu sehen.606 Insgesamt werden aus diesen wenigen Überlegungen in Anlehnung an Schleiermacher die entscheidenden Grundfragen in Ottos Gefühlstheorie deutlich, der er sich auch in seiner mehrmals gehaltenen Vorlesung zur Glaubenslehre umfassend widmete. Auch hier beschreibt er das Gefühl in Abgrenzung zur Emotion als »Talent intuitiven Erfassens«, bzw. als »Ersterfassung« und »Originalerfassung«607 und macht damit erneut deutlich, von welch entscheidender Wichtigkeit sein Verständnis numinosen Erlebens im Gefühl im Unterschied von Erfahrungen im Sinne von Emotionen für sein Gesamtwerk ist. Welche Schlüsse lassen sich aus Ottos Gefühlsbegriff im Anschluss an ­Schleiermacher für eine theologische Deutung der Angst ziehen? Es wird hier einmal mehr Ottos Entscheidung deutlich, genuin religiöses Angsterleben  – numinose »Scheu« – von profaner, natürlicher Angst zu trennen. Nach Ottos Definition sind nämlich numinose »Scheu« und natürliche Angst nicht nur aus empirischen, sondern schon allein aus gefühlstheoretischen Gründen unterschiedlichen Kategorien zuzuordnen: Natürliche Ängste sind nach Ottos Verständnis Emotionen, denn sie setzen die Erfassung und Deutung eines Objekts oder Gedankens als Bedrohung voraus. Erst wenn ein Objekt als Bedrohung erkannt wurde, kann es gefürchtet werden Gefühlsbegriff ganz ähnliche »Anlage« zur intuitiven und vorbegrifflichen Bewertung und Erkenntnis beschreibt. 604 WÖM1, 386 f. Otto meint, Schleiermacher sei sich über diesen Wandel seiner Auffassung selbst vollends nie klar geworden und bezeichne deshalb fälschlicherweise auch Emotionen wie »Freude und Leid« als Gefühle, obwohl diese letztlich sekundäre begleitende »Wertungen« im Gefolge von echten Gefühlen (»Objekterfassungen«) seien (vgl. a. a. O., 386). 605 WÖM1, 387. 606  Vgl. WÖM1, 387 und dazu die in DH geäußerte Kritik Ottos, dargelegt oben im Zweiten Teil, Kap. II, 2.2. 607 Vgl. die Vorlesungsmitschrift Kahl, Rudolf Otto: Vorlesung, Universitätsbibliothek Marburg, Ms 864, 15 f, hier zitiert nach Lauster, Der unbekannte Otto, 160.

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und damit zur Emotion der Furcht bzw. der Angst führen. Die durch Søren Kierkegaard bekannt gewordene Unterscheidung von objektbezogener Furcht und richtungsloser, objektloser Angst, die Otto an keiner Stelle erwähnt, scheint in Ottos Überlegungen dabei nicht ins Gewicht zu fallen: selbst die objektloseste Angst im Kierkegaard’schen Sinne als »Schwindel der Freiheit« dürfte nach Ottos Verständnis eine vorhergehende Erkenntnis, ein Problem bzw. eine vorbegriffliche Erfassung der Wirklichkeit voraussetzen, die die Angst erst anschließend als Emotion entstehen lässt. Numinose »Scheu« hingegen gehört ganz offensichtlich in die Sphäre von ­Ottos Begriff des Gefühls: sie ist – das wird besonders in Das Heilige deutlich – bei Otto eine direkte, unmittelbare und intuitive Objekterfassung vor aller Begrifflichkeit, die das erfasste numinose Objekt von dem erlebenden Subjekt intuitiv unterscheidet, jedoch keine begriffliche Explikation des Erlebten aus sich heraussetzt. Schon vor jeder näheren empirischen Untersuchung wird damit Ottos Umgang mit dem Angstbegriff bereits in seiner an Schleiermacher entwickelten Gefühlstheorie vorentschieden: Für die Religion ist nicht die Bandbreite menschlicher Angstemotionen und ihrer Differenzierungen von Bedeutung, sondern der ihnen zu Grunde liegende unmittelbare Erkenntnisvorgang im Gefühl. Für Ottos religions‑ und frömmigkeitstheoretische Überlegungen ist daher primär das Erleben als »gefühlsmäßiges Erkennen« von Interesse, das sich von dem »reflektierenden« grundlegend unterscheidet. Emotionen wie Angst und Furcht meint Otto deshalb aus dem direkten Gegenstandsbereich der Religion ausscheiden zu müssen zugunsten »unausgewickelter« Gefühle, die den Angstemotionen nur äußerlich ähnlich sind und die Otto in seiner Darstellung des »mysterium tremendum« ausführlich beschreibt.608 Jene numinose »Angst« ist also eine besondere, geradezu transzendentale Weise des Erkennens im Gefühl, während gewöhnliche Angst lediglich eine Emotion infolge eines zuvor als Bedrohung erkannten Reizes oder Gedankens ist. Schleiermacher als Wiederentdecker der Idee der Erlösungsbedürftigkeit  – Ottos Bezugnahme auf die Schleiermacherdeutung Wilhelm Herrmanns. In seinem Aufsatzband Sünde und Urschuld von 1932 veröffentlichte Otto seinen Schleiermacheraufsatz von 1903 erneut, erweiterte diesen jedoch beträchtlich und widmete ihn seinem Marburger Vorgänger im Amte Wilhelm Herrmann.609 In dem gegenüber der Version von 1903 hinzugefügten Teil führt Otto erneut 608 Auch hier tut sich eine Parallele zu Ottos Luther­ deutung auf, nämlich zu dem Verständnis des Geistes als einer Anlage zur intuitiven Bewertung. Vgl. dazu oben im Zweiten Teil, Kap. II, 1. 609  Vgl. den Aufsatz Der neue Aufbruch des sensus numinis bei Schleiermacher (»Wilhelm Herrmann zum Gedächtnis«) in SU, 123–139 und insbes. den zugefügten Teil auf den Seiten 134–139. Otto war 1917 auf den systematisch-theologischen Lehrstuhl Herrmanns in Marburg berufen worden.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

die in West-östliche Mystik entdeckte Verschiebung der mystischen Tendenzen in Schleiermachers Auffassung religiösen Erlebens an in der Beschreibung des »sensus numinis als Demut, der ihn dann mehr und mehr antreibt, das ›Universum‹ zu vergessen und das Wesen der Religion zu bestimmen durch ›das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit‹«.610

Nach einigen zustimmenden Ausführungen zu der Schleiermacherdeutung Herrmanns kommt Otto schließlich zu dem seiner Meinung nach entscheidenden Punkt in Schleiermachers Religionstheorie, nämlich dem Verständnis religiösen Erlebens als »wirkliche Offenbarung« in der Bedeutung von Offenbarung als das, »was sich gibt und was sich dem Erlebenden kundtut«.611 Den Inhalt jenes Offenbarungsverständnisses versucht Otto anhand der fünften von Schleiermachers »Reden« zu veranschaulichen, denn besonders hier sieht Otto die Vorstellung einer »Religion konkreter Gestaltung im Christentume« durchbrechen entgegen jedem »gereinigte[n] Theismus« oder abstrakten Allgemeinbegriff der Religion.612 Im Kern sei das Christentum für Schleiermacher demnach »Sünden‑ und Verlorenheitserfahrung. Erlösungsbedürftigkeit und erlösende Macht von oben«.613 Auch hier führt nun Otto zunächst die schon in Das Heilige geäußerte Kritik nochmals an, Schleiermacher sei auf seinem Weg der Erkenntnis methodisch verkehrt herum vorgegangen und habe, von einem allgemeinen »Wesen der Religion« ausgehend, das in der fünften »Rede« verfolgte »principium individuationis« folgen lassen, indem er das Allgemeinprinzip auf die einzelnen empirischen Religionen angewendet habe.614 Bekanntlich ist Otto der Meinung, dass in Wirklichkeit ein Begriff von Religion nur auf dem umgekehrten Weg gewonnen werden kann, indem »ein jeder« ausgeht »von dem, was er als Religion kennt und anerkennt, um dann bei sich erweiternder Umschau Analoges zu finden, es zu vergleichen und zu unterscheiden«.615 Nach Ottos Auffassung ist Schleiermacher allerdings insgeheim – ganz anders als in seiner offiziellen Darstellung in den »Reden« – auch genau diesen »Weg gegangen oder besser geführt worden«, den Otto für den einzig gangbaren Weg der Religionskunde hält. Wie schon in seiner Reden-Edition stellt Otto nun Schleiermacher auch hier als vom »alten Motive seines frommen christlichen Sonder-Erbes« erfüllten und innerlich aufgewühlten Virtuosen Herrnhutischer Frömmigkeit dar, der seine Neuentdeckung der Religion für die Moderne aus seinem eigensten religiösen Erleben gewann: 610 SU,

136. SU, 137 (kursiv im Original). 612  Vgl. SU, 138. 613 SU, 138. 614 Vgl. SU, 139. 615 SU, 139. 611 Vgl.

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»In geheimer Führung lernte er wieder, was lebendiges Numen sei anstelle eines theistisch korrekten aber toten ›Gottesbegriffes‹, was Erfahren sei anstelle rationalistischer Beweiskünste, was Ergebung, Demut, Reue, Abhängigkeitsgefühl und Andacht seien anstelle Fichtescher Hochschwünge; was Erlösungsbedürftigkeit sei anstelle moralistischer Selbstvervollkommnung.«616

Die Ausführungen Ottos lesen sich an dieser Stelle wie ein rückblickendes letztes Wort über seine mehr als dreißig Jahre lang verfolgten Studien zu Schleiermacher. Am Ende steht wieder die schon 1899 hervorgehobene Persönlichkeit und Frömmigkeit Schleiermachers im Fokus von Ottos Darstellung des großen Theologen als »Wiederentdecker der Religion«. Und erneut stehen – vielleicht auch bestärkt durch die Auseinandersetzung mit Wilhelm Herrmann – gerade die romantisch-düsteren, angstvollen Momente des Erlebens im Vordergrund, die an dieser Stelle deutlich wie selten zuvor den innersten Kern von Ottos Offenbarungsverständnis in Gestalt eines intuitiv im Gefühl sich unmittelbar einstellenden Bewusstseins der eigenen Nichtigkeit und Verlorenheit in Folge einer rätselhaften »Scheu« in der Begegnung mit dem »Ganz anderen« zu beschreiben versuchen. 2.4. Fazit: Angst und religiöses Erleben in Ottos Studien zu Schleiermacher Für die theologische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Angst scheint die Theologie Schleiermachers nur auf den ersten Blick weniger ergiebig zu sein als diejenige ­Luthers:617 In seiner Entdeckung des »Kreaturgefühls« im Anschluss an Schleiermachers »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« ergibt sich für Otto eine fundamentale Neudeutung des Phänomens der Angst im Kontext der Religion. Angst wird in Folge von Ottos Schleiermacherdeutung weder als objektiver Problemgegenstand der Religion begriffen, den selbige zu heilen oder zu verarbeiten hat, noch wird sie religionskritisch als psychopathologische Folge religiöser Schuldgefühle betrachtet, sondern es tut sich ein hiervon völlig unterschiedener neuer Zugang zum Phänomen der Angst in zwei Stufen auf. In einem ersten Schritt zeichnet sich in der Auseinandersetzung mit ­Schleiermacher ein besonderes religiöses Angsterleben als ein artbesonderes Phänomen ab, das von jeder profanen Form von Angst, Furcht und Schrecken grundverschieden ist. Besonders beim frühen Schleiermacher und in der Epoche der Romantik findet Otto eine ganze Kategorie exklusiv religiöser Erlebnisdimensionen, die sich nicht in pathologischen Anknüpfungen säkularisieren 616 SU,

139. der Tat ist die in der Moderne gegenüber L ­ uther häufig gerühmte Sensibilität für die abgründige und geradezu überwältigende Dimension von Angst und Anfechtung in der Religion bei Schleiermacher auf den ersten Blick weniger präsent. Vgl. hierzu Hans-Walter Schüttes Aufsatz zum Begriff des Zornes Gottes bei Ritschl mit Ausblicken auf Schleiermacher und ­Luther (Schütte, Die Ausscheidung, 387–397). 617 In

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

lassen, sondern beanspruchen, eine ganz eigene Provinz im Gemüte, eine eigene Anschauungsweise, ein Gefühl eigener  – eben numinoser  – Qualität zu sein. Die Tatsache, dass die Epoche der Romantik besonders die düsteren und angstvollen Stimmungen zum Zentrum ihres Interesses erhob, macht die romantischen Wurzeln Schleiermachers für eine theologische Deutung der Angst umso wichtiger.618 Darüber hinaus wird dem in das »Kreaturgefühl« führenden, intuitiven Gefühl der »Scheu« gegenüber der göttlichen »majestas« eine eigene Qualität eingeräumt. Jene »Scheu« ist nicht ein Teilphänomen oder ein Nebenarm religiöser Erlebnisstrukturen und erst recht keine erst sekundäre ideogrammatische Ausformung religiösen Erlebens, sondern sie ist das wohl ursprünglichste Moment der Religion überhaupt, sie ist  – um es mit Otto zu sagen  – »der numinose Rohstoff«,619 das »Grund-Datum,620 das jeder weiteren Bestimmung, Ausdifferenzierung, Schematisierung und rationalen Erfassung des Erlebten vorausgeht und zu Grunde liegt. Von seiner landläufigen Position als eines Problemgegenstandes oder Themas, mit dem sich die Religion auseinanderzusetzen hat, rückt bei Otto das Phänomen der Angst – wohlbemerkt als artbesondere numinose »Scheu« – folglich in das Kerngebiet der Religion vor: In ihrem tiefsten Grund ist, beginnt und lebt Religion mit und von einem Gefühl, das dem menschlichen Urteilsvermögen allein mithilfe derjenigen Begriffe beschreibbar und deutbar ist, die aus der Nomenklatur alltäglicher Affekte wie Angst und Furcht bekannt sind. »Grund-Datum« der Religion ist jenes Erleben jedoch nicht – wie leicht missverstanden wird  – im Sinne zeitlicher Ursprünglichkeit als erste Regung, sondern im transzendentalen Sinne. Das Gefühl ist ein Unterscheidungs‑ und Wertungsvorgang, der vor aller Erfahrung liegt und diese präfiguriert. Bemerkenswert ist, dass sich demnach bei Otto eine Neubewertung der Angst im Kontext der Religion vollzieht, die seit dem Ersten Weltkrieg und besonders in den frühen Zwanzigerjahren auch außerhalb der Religion, nämlich in der Philosophie verfolgt wurde. Im prominentesten Fall – in der Philosophie Martin Heideggers – rückt die Angst ebenfalls von einem Epiphänomen banaler Furcht zu einem entscheidenden Moment auf: Der Mensch begreift »in der Angst die Weltlichkeit als Welt«.621 Eine gewisse Nähe des jungen Heidegger zu der Schleiermacherdeutung Ottos und dessen Konzeption des Kreaturgefühls ist in diesem Zusammenhang nicht von der Hand zu weisen.622 Dennoch kann Otto 618 Vgl. zu der Bedeutung der Romantik im Werk Ottos Buntfuss, Rudolf Ottos (neu)romantische Religionstheologie 477 ff, sowie ferner Wach, Rudolf Otto, 202 f, der hier die »romantischen Motive« bei Otto beschreibt. 619 DH23–25, 23. 620 DH23–25, 9. 621  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 187. 622 In seinen Forschungen zu der Bedeutung Schleiermachers im Denken Heideggers kommt Sang-Youn Han zu dem Schluss, dass Heidegger in seiner Schleiermacherrezeption maßgebliche Impulse aus seiner Auseinandersetzung mit Otto gezogen haben muss. Er

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mit dem Angstbegriff und seinen berühmten Neu‑ und Wiederentdeckungen in der modernen Literatur und Philosophie nicht viel anfangen. Unter seinem an Schleiermachers Wiederentdeckung der Religion anknüpfenden Begriff des »Kreaturgefühls« versteht Otto eine artbesondere angstvolle Dimension der Religion selbst, die gerade nicht an moderne existenzphilosophische Debatten anknüpfbar ist. Fest steht dennoch, dass – egal mit welchem Begriff man es beschreiben mag – das Ur‑ und Kernmoment des religiösen Erlebens nach Ottos Schleiermacherdeutung ein rätselhaftes Angsterleben ist, das offenbar dem Lebensgefühl der Moderne in besonderem Maße entgegen kam.623

3. »Verlorenheit« und »Kreaturgefühl« – Grundlagen einer Theologie der Angst in Ottos ­Luther‑ und Schleiermacherdeutung Ganz im Sinne von Ottos letzter Veröffentlichung zu Schleiermacher aus dem Jahre 1932 fasst Ernst Benz die Bedeutung von Ottos Schleiermacherdeutung für sein Gesamtwerk zusammen: »Diese Erfahrung des Heiligen, das persönliche Ergriffenwerden von dem Transzendenten, Übermächtigen, Unaussprechlichen steht vor jeder Theologie. Gegenüber der religiösen Urerfahrung – und hierin ist Otto ganz Schüler Schleiermachers – ist alle Theologie und alles Dogma erst nachträgliche intellektuelle Auslegung dessen, was in der Urform der religiösen Erfahrung erlebt wird.«624 führt vor, »daß Heideggers Analyse der Angst und die daraus folgende Beschreibung des Schuldigseins des Daseins eine verblüffende Ähnlichkeit mit den Ausführungen hat, mit denen Otto das religiöse Erlebnis als Kreaturgefühl beschreibt.« (vgl. Han, Schleiermachers Religionsbegriff, 125). In Ottos Kreaturgefühl liegt neben dem Einfluss Kierkegaards laut Han der »eigentliche Ursprung des Heideggerschen Versuchs, den existenzialen Ursprung der Sorge auf die ›Grundbefindlichkeit der Angst als eine ausgezeichnete Erschlossenheit des Daseins‹ zurückzuführen.‹« (vgl. a. a. O., 234.) Han vertritt daher die These, Heidegger habe seine »existenzontologische Fundierung des Nichts« und in diesem Zusammenhang seine Rede von der Angst geradezu aus seiner Auseinandersetzung mit Schleiermacher und Otto gewonnen: »Ottos Gedanke, daß das Dasein in einem religiösen Erlebnis sich seiner eigenen Nichtigkeit gewahr wird, ist für Heideggers Denken von entscheidender Bedeutung.« (a.a.O, 234). »Diese religiöse Zurückgezogenheit des Daseins wurde dann nach seiner Beschäftigung mit der Religionsphilosophie von Otto dahingehend modifiziert, daß das Gefühl der eigenen Nichtigkeit  – die Angst  – als das Wesensmerkmal des religiösen Bewußtseins anerkannt wird. Heideggers Dualismus zwischen dem eigentlichen Selbst und dem uneigentlichen, der schon in seiner frühen Freiburger Zeit sein Denken bestimmt, wurde entscheidend von der Religionsphilosophie Schleiermachers und Ottos beeinflußt.« (a. a. O., 136). Auf die These Hans zum Verhältnis Ottos zu Heidegger wird an späterer Stelle zurück zu kommen sein (vgl. zum Verhältnis Ottos und Heideggers im Kontext des Angstbegriffs unten im Zweiten Teil, Kap. V, 1.2.). 623 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Angst und Moderne, oben im Ersten Teil, Kap. I, 2. 624 Benz, Rudolf Otto als Theologe, 36. Ferner zu Otto und Schleiermacher vgl. a. a. O., 40.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Die Grundlagen jenes Programms des »Urerlebnisses« reichen bis in Ottos Spätwerk hinein und nehmen ihren Ausgang bereits in den ersten Semestern seines Studiums. Schon früh war Ottos theologischer Weg auf Vermittlung angelegt und bewegte sich zwischen dem traditionellen Luthertum seiner Herkunft und der liberalen Theologie Göttingens. Es hat sich in der bisherigen Untersuchung gezeigt, dass besonders das Interesse an der »Persönlichkeit« in der Religion früh im Vordergrund stand: Das konkrete Wesen der Frömmigkeit interessierte schon den jungen Studenten Otto – bestärkt durch den Einfluss Theodor Härings – viel mehr als abstrakte Spekulation oder traditionalistischer Konfessionalismus. Mit ­Luther und Schleiermacher widmete sich Otto von Anfang an zwei Protagonisten des Protestantismus, die im frühen 20. Jahrhundert von größter Bedeutung waren. Die Zuspitzung auf die Frage nach den Grundlagen des Angstbegriffs in Ottos Werk ließ dabei eine besondere Pointierung in der Untersuchung seiner frühen Werke zu. Bis heute gilt ­Luther als bahnbrechender Meilenstein für die Deutung der Angst in der Neuzeit. Ebenso ist die Romantik, in deren Kontext Otto Schleiermacher verortete, die vielleicht wichtigste Epoche der Wiederentdeckung abgründiger und angstvoller Sphären des menschlichen Geisteslebens. Verbunden mit Ottos Interesse für den Kern des religiösen Erlebens führte seine ­Luther‑ und Schleiermacherrezeption – so scheint es – geradezu zwangsläufig zu einer Neudeutung der Angst und ihrer Bedeutung für die Religion. Ottos Luther­deutung stellte sich überdies als wohl wichtigste Konstante in seinem Gesamtwerk heraus. In ihr legte Otto eine Frömmigkeit frei, die für das frühe 20. Jahrhundert und die moderne Lebenswelt überhaupt von größter Attraktivität war: Die grundsätzliche Bedrohtheit des Lebens, die Widersprüchlichkeit seiner Sinnzusammenhänge und schließlich das gegenüber dem Göttlichen auf sich selbst zurückfallende Endlichkeitsbewusstsein des Menschen konnte Otto im Zusammenhang seiner Luther­deutung in der »Idee der Verlorenheit« pointiert zusammenfassen und theologisch deuten. Bei Schleiermacher hingegen fand Otto eine Wiederentdeckung der Religion dokumentiert, die das Endlichkeitsbewusstsein des Menschen und seine Erlösungsbedürftigkeit zu einem entscheidenden Moment des religiösen Erlebens erhebt. In Ottos theologischer Gefühlstheorie, die er besonders im Anschluss an Schleiermacher entwarf, bildet damit ein an Angst erinnerndes Gefühl gleichsam das Rückgrat jeden religiösen Erlebens überhaupt und mündet in dem an Schleiermachers »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« angelehnten Konzept des »Kreaturgefühls« in Das Heilige. Die von Otto bei beiden – ­Luther und Schleiermacher – aufgedeckten Parallelen zur Mystik bestärkten seine Ansicht, dass beide nicht nur als Theologen, sondern als religiöse Virtuosen, als selbst ergriffene und auf ihre Weise fromme Persönlichkeiten zu verstehen sind. Momente der Angst rückten daher sowohl in der ­Luther‑ wie in der Schleiermacherdeutung Ottos an eine zentrale Stelle.

II. Studien zu L ­ uther und Schleiermacher

243

Sie werden nicht als profane Erfahrungstatsachen, sondern als tiefste und elementarste Ebene der Religion selber verstanden. Ernst Benz greift daher in seiner Deutung des Angstbegriffs für die Religion deutlich auf seinen Marburger Lehrer Rudolf Otto zurück, wenn er in seinem vielbeachteten Aufsatz Angst in der Religion von 1959 ganz ähnlich wie dieser die Dimension der Angst als genuin religiöses Erleben im Zusammenklang mit ­Luther und Schleiermacher interpretiert: »Die Angst ­Luthers war nicht die ordinäre Höllenangst. Sie entsprang der Erkenntnis der Unmöglichkeit, in irgendeiner Weise als Mensch vor Gott bestehen zu können. Hier erscheint die Angst als einer der menschlichsten Züge des Menschseins. Sie ist der Ausdruck der Intuition unserer menschlichen Kreatürlichkeit und damit unserer menschlichen Natur selbst und eine uns ständig aufs neue beunruhigende Bestätigung unserer schlechthinnigen Abhängigkeit«625

Die hier anklingende Entdeckung des »Kreaturgefühls«, das bei Otto als »Reflex« und »Schatten« in der Selbstbewertung des Menschen in Folge der mystischen Begegnung mit der göttlichen »majestas« verstanden wird, ist der entscheidende Begriff für das Erleben der »Angst«, das – ganz anders als alltägliche Angst und Furcht – als numinos, das heißt, als artbesonderes Gefühl der »Scheu« erlebt und beschrieben wird. Entscheidend ist dabei die hiermit im L ­ uther‑ und Schleiermacherstudium gewonnene transzendentale Dimension religiösen Erlebens, die Otto mal als »Geist«, mal als »Gefühl«, mal als »Erleben« beschreibt. Kein Affekt, kein psychologisch verifizierbarer Reiz ist demnach das eigentliche Grundmoment der Religion, sondern ein intuitives Vermögen, ein Erkenntnisakt im Sinne eines rational kaum einholbaren Voreingenommenseins, Wertens und Deutens. In Ottos lebenslanger Beschäftigung mit ­Luther und Schleiermacher ist daher gleichsam seine theologische Deutung der Angst in ihren wesentlichen Punkten beschrieben. Weitere Stationen und Aspekte seines Denkens und Forschens lassen sich demnach als Ergänzungen und Anreicherungen zu dem Verständnis der Angst verstehen, das Otto in seinen beiden wichtigsten Referenzen – ­Luther und Schleiermacher – schon hinreichend erfassen und beschreiben konnte: Als profane und in der natürlichen Wirklichkeit ruhende Emotion der Bedrohung einerseits sowie andererseits als numinoses, über die natürliche Wirklichkeit hinausgehendes Gefühl der heiligen »Scheu«, der intuitiven Unterscheidung der göttlichen Allwirksamkeit gegenüber der eigenen Nichtigkeit als Anlage des Geistes und Urmoment der Religion überhaupt.

625 Benz,

Die Angst, 212.

244

Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige Aus den bisherigen Überlegungen zu den Grundlagen einer theologischen Deutung der Angst in Ottos Frühwerk stellten sich seine Arbeiten zu ­Luther und Schleiermacher als entscheidend heraus. Berühmt geworden und heute in den unterschiedlichsten Wissenschaftskontexten von klassischem Rang sind jedoch diejenigen Begriffe und Kategorien für die angstvollen Momente des religiösen Erlebens, die Otto in seinem Hauptwerk Das Heilige entwickelte. Was anhand der ­Luther‑ und Schleiermacherdeutung schon über Ottos Hauptwerk deutlich wurde, soll nun nochmals systematisch hinsichtlich einer theologischen Bestimmung des Verhältnisses von Angst und Religion geprüft werden. Über sein Hauptwerk und das darin verfolgte Kernanliegen urteilte Otto in späteren Jahren mit den Worten: »Wir suchten in D. H. das Irrationale in der Idee des Göttlichen und fanden es im Numinosen, und indem wir es hier fanden, ward uns klar, daß die rationalistische Spekulation den Gott in Gott verdeckt. Ehe Gott ratio ist, die absolute Vernunft, der persönliche Geist, der sittliche Wille, ist er das ganz Irrationale, das ›Ganz Andere‹, das völlige Wunderding. Wir wurden zu den Gefühlen von Gruseln und Spuk getrieben, um durch diese Karikaturen echten ›Grauens‹ unsere allzu rationalisierten Gefühle aufzulockern und die Tiefe zum Schwingen zu bringen.«626

Jene Tiefe der Religion zu beschreiben und ihre rationalen wie irrationalen Dimensionen in der Komplexkategorie des Heiligen auszuloten, ist das eigentliche Anliegen von Das Heilige und von Ottos theologischer Arbeit überhaupt. Er bewegt sich zwischen dem »Gegensatz von Rationalismus und tieferer Religion«.627 Was Otto in der vorbegrifflichen und irrationalen Tiefe religiösen Erlebens fand, meinte er nur in Ähnlichkeiten und Analogien beschreiben zu können, da sich das Erlebte und das Erleben selbst jedem begrifflichen Zugriff entziehen. Die unterste und elementarste Ebene der Religion beschrieb Otto als geheimnisvolle »Scheu«, die er unter den Kategoriebegriff des »mysterium tremendum« stellte. Die Stimmungen und Gefühle, die er als »Schematisierungen« zur andeutenden Beschreibung des Erlebens der numinosen »Scheu« heranzog, fallen – dies war Otto völlig klar – für gewöhnlich unter das Begriffsfeld der Angst. Eine nicht unwesentliche Anstrengung in Das Heilige musste deshalb dafür aufgewendet werden, den grundlegenden Unterschied zwischen rein religiöser, numinoser »Scheu« einerseits und profanen Gefühlen der Angst und Furcht andererseits deutlich zu machen. Die theologische Beurteilung der Angst ist damit ein entscheidendes Problem in Ottos Hauptwerk. Die dahinter stehenden Grundlagen seiner Deutung des Phänomens der Angst in ihrem Verhältnis zur Religion 626 GÜ, 627 Vgl.

261 (kursiv im Original). DH23–25, 2.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

245

reichen dabei  – wie sich zeigte  – bis in Ottos frühe ­Luther‑ und Schleiermacherdeutung und damit in die frühsten Jahre seiner theologischen Entwicklung zurück. Nach Jahren als Privatdozent und außerplanmäßiger Professor in Göttingen, in denen Otto sich auch apologetischen und religionsphilosophischen Themen zugewandt hatte,628 konnte er in den beiden Jahren als Professor in Breslau (1915–1917) neben ersten größeren Arbeiten und Übersetzungen aus der indischen Religionsgeschichte629 sein Hauptwerk vollenden, dass ihn – unmittelbar nach dem Wechsel nach Marburg  – schnell berühmt machte. Damit werden schnell die zahlreichen Stränge deutlich, die in Ottos Hauptwerk zusammenlaufen. Um einen Überblick zu gewinnen, soll daher das Werk zunächst systematisch dargestellt und dabei im Hinblick auf seine Bedeutung für Ottos Verständnis des Verhältnisses von Angst und Religion zugespitzt werden. Die Frage nach diesem Verhältnis ist also der Fokus, durch den das Hauptwerk Ottos systematisch untersucht werden soll.

1. Angst und religiöses Erleben in Das Heilige – ein Überblick Vergleicht man die 1936 letztmalig vom Autor überarbeitete Ausgabe von Das Heilige, die auch der vorliegenden Untersuchung zu Grunde liegt, mit den ers628  Seit Sommer des Jahres 1898 war Otto Privatdozent in Göttingen. Da in den Folgejahren zunächst alle Versuche, eine ordentliche Professur an einer deutschen Hochschule zu erhalten, fehlschlugen, erhielt Otto, nachdem er 1904 zum außerordentlichen Professor ernannt wurde, erst im Jahre 1915 einen Ruf an die Universität Breslau. Ottos Mentor und Förderer Ferdinand Kattenbusch bezieht sich auf Ottos Jahre in Göttingen und die dort verfassten religionsphilosophischen Schriften, wenn er sich erinnert, Otto sei, zunächst als »Lutherforscher sich zeigend«, schließlich als »eindringlicher Apologet« hervorgetreten (vgl. Kattenbusch, Die deutsche evangelische Theologie, Zweiter Teil, 35). Kattenbusch bezieht sich dabei insbesondere auf Ottos Buch Naturalistische und religiöse Weltansicht. Insbesondere drei Themenfelder bildeten in Ottos Göttinger Zeit die Schwerpunkte seiner Arbeit: Zunächst seine intensive Auseinandersetzung mit Naturalismus und Evolutiontheorie, später dann die Entwicklung einer eignen Religionsphilosophie mit dem Ziel des Entwurfs einer religiösen Gefühlstheorie bzw. einer Theorie religiösen Erlebens insbesondere im Anschluss an Jakob Friedrich Fries, und schließlich die Auseinandersetzung mit Entwicklungspsychologie und Religionsgeschichte im Zusammenhang mit dem Werk Wilhelm Wundts. 629  Schon in dem Jahr vor dem Erscheinen seines Hauptwerks veröffentliche Otto einige Studien und Übersetzungen zur Religionsgeschichte Indiens. Vgl. hierzu seine Übersetzung: Dipika des Nivasa: Eine indische Heilslehre, Tübingen 1916, sowie den Aufsatz: Von indischer Frömmigkeit, in: ChW 30 (1916): 255–256, 348–350, 423–426, 528–530, 571–572, 727–729, 755. Im selben Jahr wie DH1 erschienen 1917 dann Ottos Übersetzungen zu Texten aus der indischen Religionsgeschichte im Eugen Diederichs Verlag in der Reihe Religiöse Stimmen der Völker als Die Religion des Alten Indien, Band III. Vgl. Vischnu-Nārāyana. Texte zur indischen Gottesmystik I. Aus dem Sanskrit übertragen von Rudolf Otto, Jena 1917, sowie: Siddhanta des Ramanuja: Texte zur indischen Gottesmystik II, Jena 1917. Vgl. außerdem den Zeitschriftenartikel: Bhakti-Hundertvers (Bhakti-atakam) von Rama-Candra, in: Zeitschrift für Missionskunde und Religionswissenschaft 32 (1917), 65–85.

246

Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

ten Auflagen, wird schnell deutlich, dass sich trotz erheblicher Änderungen und Erweiterungen am grundsätzlichen Aufbau und Konzept des Buches seit seinem ersten Erscheinen nur wenig geändert hat. Noch immer stehen die einzelnen Kapitel – freilich teilweise stark verändert – unter keiner übergeordneten thematischen Hierarchie, sodass eine konzeptionelle Gliederung des Werkes keine einfache Aufgabe darstellt. Je nach Erkenntnisinteresse und inhaltlichem Zugang zu Ottos Hauptwerk legen sich daher unterschiedliche thematische Blöcke und Abschnitte als inhaltliche Einheiten für eine Gliederung des Buchs nahe. Für die Frage nach der Bedeutung der Angst für Ottos Hauptwerk scheint dabei eine Aufteilung in vier Abschnitte sinnvoll zu sein: Erstens soll es um die Untersuchung von Spuren der Angst in Ottos »Momenten des Numinosen« in den ersten Kapiteln von Das Heilige gehen, zweitens um deren numinose »Ausdrucksmittel«, also um Momente der Angst, die als »Darstellungs‑ und Anregungsmittel des numinosen Gefühles«630 fungieren können, drittens um die Bedeutung von Ottos Konzept eines religiösen Apriori für die Beurteilung der Angst und schließlich viertens um das Verhältnis von Angst und »Divination«. 1.1. Angst und »Scheu« in den »Momenten des Numinosen« Die Kapitel, in denen Otto die »Momente des Numinosen« beschreibt, sind die berühmtesten seines Hauptwerks.631 In ihnen stellt Otto sechs »Momente des Numinosen« ausführlich dar, die im Laufe der immer wieder neu überarbeiteten Auflagen von Das Heilige des öfteren umbenannt oder anders angeordnet wurden.632 In ihnen allen werden Formen numinosen Erlebens mit deutenden bzw. andeutenden Ausdrücken – »Ideogrammen« – beschrieben, die in einer großen Nähe und Ähnlichkeit zu denjenigen Stimmungen und Gefühlen stehen, die man für gewöhnlich mit dem Begriff Angst verbindet. Sie bezeichnen bei Otto »die etwaigen Unterarten oder Entwicklungs-stufen« jener »eigentümlichen numinosen Deutungs‑ und Bewertungs-kategorie und ebenso von einer numinosen Gemüts-gestimmtheit«, die den Kern und Grund der Religion überhaupt umkreist und andeutet. Für sie wäre selbst der Begriff »Gott« noch zu spezifisch und belastet, daher bemüht Otto für das im Gefühl erahnte »Objekt« des 630

 Vgl. DH23–25, 81.  Da Otto die Kapitelzählung und Unterteilung seines Werkes immer wieder änderte, ist eine genaue Zuordnung schwierig. Die Kapitel wurden in den unterschiedlichen Auflagen teilweise umbenannt oder verschoben, vereinzelt wurden neue Kapitel eingefügt. Generell kann man sagen, umfassen die »Momente des Numinosen« etwa das erste Drittel des gesamten Buchs und in den ersten Auflagen die Kapitel 2–8, in den frühen Zwanzigerjahren die Kapitel 2–9, Ende der Zwanzigerjahre dann 2–10 und in der letzten Auflage von 1936 wieder 2–9. 632  Otto nummerierte die »Momente des Numinosen« unabhängig von der Kapitelzählung ursprünglich in arabischen Ziffern (die zwischenzeitlich nochmals mit Kapitalbuchstaben A–D unterteilt wurden). In der letzten Auflage wurden die Momente mit römischen Ziffern (I–VI) nummeriert. 631

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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religiösen Erlebens einen eigenen Begriff: das »Numinose«.633 Das Numinose ist nach Ottos Meinung »wie alles, was ›aus dem Geiste‹ kommt«, ein »X«, dessen tatsächliches Wesen immer verborgen bleiben muss. Es ist »nicht im strengen Sinne lehrbar sondern nur anregbar, erweckbar« durch ihm ähnliche »Gemütsbereiche[n]« und Gefühle, die ihm analog sind – es eben andeuten. Momente der Angst gehören zu den wohl wichtigsten Elementen des Gemütslebens, durch die sich jene Momente des Numinosen beschreiben und andeuten lassen. In der nun folgenden Darstellung der Momente des Numinosen und ihres Verhältnisses zur Angst wird die Gliederung der letzten von Otto korrigierten Auflage von Das Heilige zu Grunde gelegt. I. »Kreaturgefühl«. Das erste Moment des Numinosen, mit dem Otto seine Untersuchung eröffnet, wurde bereits im Kontext seiner Schleiermacherdeutung ausführlich besprochen.634 Als erstes und allgemeinstes »Element« religiösen Erlebens schildert Otto in Anlehnung an Schleiermachers Begriff der »schlechthinnigen Abhängigkeit« das »Moment des Versinkens und der eigenen Nichtigkeit gegenüber einem schlechthin Übermächtigen« als »Kreaturgefühl«.635 Das Kreaturgefühl ist, wie schon in der Auseinandersetzung mit Schleiermacher deutlich wurde, bei Otto ein Reflexgefühl. Gleich einem »Schatten« erfolgt im Kreaturgefühl eine intuitive Selbstbewertung des erlebenden Subjekts in Folge eines anderen Gefühls, das als die reale Begegnung mit einem »Objekt« unendlicher Überlegenheit und Absolutheit erlebt wird. Das Kreaturgefühl ist demnach das grundsätzliche Gefühl der eigenen schlechthinnigen Nichtigkeit und Vergänglichkeit gegenüber einem unendlich großen und in allem mächtigen Etwas, das nicht unter Begriffe fällt. Sogleich fällt auf, dass das, was Otto im »Kreaturgefühl« als eines der gängigsten und wichtigsten Momente religiösen Erlebens schildert, modernen Theorien der Angst verwandt zu sein scheint. Dies gilt besonders für Momente der »Abwertung des erlebenden Subjekts hinsichtlich seiner selbst« und des Gefühls, als nichtige Kreatur in Vergänglichkeit, Ohnmacht und Bedeutungslosigkeit zu versinken. Gerade die philosophischen Auseinandersetzungen mit dem Angstbegriff im 20. Jahrhundert waren sich in den meisten Fällen darüber einig, dass sich die Angst nicht allein mit physiologischen Reiz-Reaktions-Schemata erklären lässt, in denen eine konkrete Gefahr durch ihre Bedrohung die Reaktion des Angstgefühls auslöst. Gerade die Unfähigkeit, das Gefühl eigener Endlichkeit 633 DH23–25,

6 f. zum Kreaturgefühl bei Schleiermacher oben im Zweiten Teil, Kap. II, 2.2. In den früheren Auflagen von DH wurde das Kreaturgefühl noch nicht unter die einzelnen Momente des Numinosen gezählt, sondern den sechs Momenten gewissermaßen als »Einleitung« vorangestellt. In der letzten Auflage von 1936 wird das Kreaturgefühl unter I in die Reihe der anderen numinosen Momente eingereiht. 635 Vgl. DH23–25, 9 f. 634 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

und Nichtigkeit auf eine konkrete Bedrohung hin ableiten zu können, wurde hier als elementarer Grund der Angst benannt.636 Moderne Angsttheorien im Gefolge Søren Kierkegaards sehen gerade die Unbestimmtheit und Willkürlichkeit dessen, wodurch sich das Subjekt bedroht fühlt, als Grund dafür an, dass das Subjekt erst recht auf sich selbst zurückgeworfen wird und sich ausweglos in seiner Freiheit verloren fühlt. Otto scheint also an dieser Stelle nah an jener Verbindungslinie von Angstbegriff und Moderne zu stehen, die für seine Zeit besonders charakteristisch war.637 Dass sich Otto jedoch stets von den modernen Angsttheorien distanzierte, liegt daran, dass er dem Kreaturgefühl das besagte »Realitäts-gefühl« von einem »Etwas numinosen Charakters« voranstellte.638 Nicht die besonders seit Kierkegaard mit der Angst assoziierte Absolutheit der eigenen schwindelerregenden Freiheit, nicht die Vorstellung des »Nichts« wie bei Heidegger oder der Gedanke der eigenen Endlichkeit bilden die Wurzel des Kreaturgefühls, sondern im »Gefühle eines objektiv gegebenen Numinosen«639 liegen die an Angst erinnernden Gefühle begründet, die Otto hier für die Religion in Anspruch nimmt. Keine »moderne« vermeintlich objektlose diffuse Angst, wie wir sie seit der Romantik kennen, wird also mit dem Kreaturgefühl beschrieben, sondern eine »Angst« der Selbstabwertung in Folge der Begegnung mit dem Numinosen. Jenes Numinose in seinem Auftauchen in der Religionsgeschichte und in seiner empirischen Wirklichkeit religiösen Erlebens zu beschreiben und zu deuten ist Ottos Vorhaben. II. »Mysterium tremendum«. Der umfangreichste Abschnitt der Momente des Numinosen und zugleich der wohl berühmteste des ganzen Buchs entspricht dem vierten Kapitel mit dem Titel »mysterium tremendum«. Mit Blick auf die früheren Auflagen von Das Heilige wird schnell deutlich, dass es sich bei dem »mysterium tremendum« um ein besonderes Moment des Numinosen handelt, nämlich geradezu um eine Kategorie von Momenten, die wiederum unterschiedliche Einzelmomente unter sich versammelt.640 Anders als im Falle des Kreaturgefühls, das Otto als »Reflex« im »Selbst-gefühl« beschrieb, wendet er sich mit der Kategorie des »mysterium tremendum« nun dem »Objekt-gefühl« zu, welches das Kreaturgefühl auslöst. Dabei das eigentliche »Objekt«  – das Numinose – beschreiben zu wollen, verbietet sich Otto sogleich selbst:

636 Vgl.

hierzu die Aspekte des modernen Angstbegriffs, oben im Ersten Teil. auch hierzu oben im Ersten Teil, Kap. I, 2., sowie die Wirkungsgeschichte Ottos in der Philosophie, unten im Zweiten Teil, Kap. V, 1.2. 638  Vgl. DH23–25, 11. 639 DH23–25, 11 (kursiv im Original). 640 In früheren Auflagen waren einzelne Unterpunkte des »mysterium tremendum«, z. B. das »Ganz andere«, noch als eigene Kapitel aufgeführt. 637 Vgl.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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»Da es ja selbst irrational, das heißt in Begriffen nicht explizibel ist wird es angebbar nur sein durch die besondere Gefühls-reaktion die es im erlebenden Gemüte auslöst.«641

Otto versucht hier also über Schleiermacher hinaus zu gehen, indem er die »primäre objektbezogene Gefühlsbestimmtheit selbst« beschreibt, von der er annimmt, dass sie die unterste und entscheidende Ebene religiösen Erlebens ausmacht.642 Ohne große Umschweife führt Otto damit an den Dreh‑ und Angelpunkt seines ganzen Hauptwerks heran: Seine Rede hängt davon ab, dass der Leser in der Lage ist, an sich selbst nachzuvollziehen, dass das »Gefühl des mysterium tremendum, des schauervollen Geheimnisses« die Wurzel aller Religion ist. In schillernden Farben malt Otto die Nuancen jenes schauervollen Erlebens aus, um dann jedoch in einer vorläufigen Aporie zu enden. Auch und gerade im »mysterium tremendum« bleibt das eigentliche »Objekt«  – das Numinose selbst – im Dunkeln, ja, es deutet sogar an, dass es sich hier gar nicht um ein Objekt im eigentlichen Sinne handelt. Als »Wovor« des schauervollen Erlebens nennt Otto lediglich das, »was im unsagbaren Geheimnis über aller Kreatur ist«. »So sagen wir um doch etwas zu sagen. Es leuchtet aber gleich wieder sofort ein daß wir damit eigentlich nichts sagen, oder wenigstens daß auch hier der Versuch einer Bestimmung durch einen Begriff wieder nur rein negativ ist. Mysterium benennt ja begrifflich nichts weiter als das Verborgene […].«643

Die ausführliche Erörterung von Ottos Interpretation des Geistbegriffs bei­ Luther und der Theorie religiösen Erlebens bei Schleiermacher wird nun hier zur Schaltstelle der Überlegungen: Alle Begriffe, die das Numinose zu beschreiben versuchen, verlaufen im Sande. Das im Gefühl sich Mitteilende, das Erlebte, fällt also Ottos Meinung nach zwar nicht unter Begriffe, jedoch geht er unterhalb der begrifflichen Fassbarkeit sehr wohl von einer tatsächlichen Begegnung mit dem Numinosen aus. Ottos Gefühls‑ und Geistbegriff ermöglicht ihm für das Gefühl anzunehmen, was der Ratio immer verschlossen bleiben muss: Mögen Begriffe wie das »mysterium tremendum« auch »negativ« zu verstehen sein, »Gemeint ist damit aber etwas schlechterdings Positives. Sein Positives wird erlebt rein in Gefühlen.«644 Die nun beschriebenen Gefühle haben – deshalb stehen sie alle unter der Kategorie des »mysterium tremendum«  – etwas gemeinsam: empirisch ähneln sie alle in irgendeiner Weise dem Gefühl der Angst, sie werden als »tremor« erlebt.

641 DH23–25,

13. DH23–25, 13. 643  DH23–25, 14. 644 DH23–25, 14. Otto verweist hier auf die gefühlstheoretische Passage in GÜ (vgl. die »Schlußbemerkung über »Gefühl« in GÜ, 327–333), die sich eng mit der bereits ausführlicher besprochenen gefühlstheoretischen Passage in WÖM berührt. 642 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Gleich das erste Moment – das »tremendum« – erinnert, wie Otto selber sagt, an ein »wohlbekanntes ›natürliches Gefühl‹«: die »Furcht«.645 Doch sogleich verwirft Otto diese Assoziation und trifft damit eine Entscheidung, die alle »Momente des Numinosen« gleichermaßen betrifft. Seine meistens lateinischen Kunstbegriffe zur Beschreibung des religiösen Erlebens hat Otto nicht zufällig gewählt, sondern zu dem Zweck, damit die Besonderheit des bezeichneten Erlebens zu unterstreichen. Was im »tremendum« erlebt wird, ist nach Ottos Meinung eben keine Furcht oder Angst, sondern diesen nur ähnlich. Angst und Furcht können lediglich helfen, das Gemeinte anzudeuten: »Es [das natürliche Gefühl der Furcht] dient uns hier als nächstgelegene aber selber doch nur analogische Bezeichnung für eine ganz artbesondere Gefühls-reaktion die zwar Ähnlichkeit hat mit der Furcht und darum durch sie analogisch angedeutet werden kann, die aber selber noch ganz etwas anderes ist als Sichfürchten.«646

In den unterschiedlichsten Sprachen und Überlieferungen trägt Otto deshalb Begriffe zusammen, die genau jene »›Furcht‹, die mehr als Furcht ist, bezeichnen«.647 Unter den im Deutschen halbwegs angemessenen Begriffen wie »Grauen« oder »heiliger Schauer« zur Beschreibung der »niederen Vor‑ und Unterstufen dieses Gefühles« legt sich Otto schließlich auf ein Urmoment fest, das allen Schattierungen des »tremendum« zu Grunde liegt und den Nukleus der Religion ausmacht: die »Scheu«.648 »Von dieser ›Scheu‹ und ihrer ›Roh‹-form, von diesem irgend wann einmal in erster Regung durchgebrochenen Gefühle eines ›Unheimlichen‹, das fremd und neu in den Gemütern der Urmenschheit auftauchte, ist alle religionsgeschichtliche Entwicklung ausgegangen. Mit seinem Durchbruche begann eine neue Epoche des Menschentumes.«649

Entgegen der landläufigen Meinung, das »mysterium tremendum« sei bei Otto der entscheidende Begriff für die Wurzel der Religion, stellt sich unterhalb des »tremendum« die »Scheu« als Urgrund und als »aus anderem nicht ableitbare[r] Grundfaktor und Grundtrieb« der Religion überhaupt und aller ihrer Formen heraus. Für die theologische Beurteilung der Angst gibt sich Otto demnach ein ausgesprochen eindeutiges Profil: Religion entsteht aus sich selbst heraus und nicht aus einer Vorstufe oder aus anderen Phänomenen und Erfahrungen. Daher sind

645 DH23–25, 14 f. Da Otto den Begriff der Furcht weitgehend synonym mit dem der Angst verwendet, kann das über Furcht gesagte ohne weiteres auch für die Angst gelten. 646 Vgl. DH23–25, 14 f. 647 Vgl. DH23–25, 15 und die hier angeführten Analogiebegriffe wie das griechische »sebastós« oder das englische »awe«. 648  Vgl. DH23–25, 16. Otto gibt an, den Begriff der »Scheu« aus der Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundt gewonnen zu haben (vgl. hierzu unten im Zweiten Teil, Kap. IV, 3). 649 DH23–25, 16. Vgl. hierzu die in Kapitel 18 ausgeführten Überlegungen zu Momenten des »Rohen«.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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auch die Momente der Angst in ihr keine ursprünglich profanen »natürlichen« Ängste, sondern ein Erleben ganz eigener Art: »Nicht aus natürlichem Fürchten, auch nicht aus einer vermeintlichen allgemeinen ›Weltangst‹ ist Religion geboren. Denn Grauen ist nicht natürliche gewöhnliche Furcht sondern selber schon ein erstes Sich-Erregen und Wittern des Mysteriösen […]«.650

Die vermeintliche Angst, die Otto beschreibt, bezeichnet demnach »eine völlig eigene, neue Erlebens‑ und Wertungs-funktion des menschlichen Geistes«, die »nicht auf Natürliches geht«.651 Es geht um einen Erkenntnisvorgang im Gefühl von transzendentaler Qualität. In einer weiteren Präzisierung seiner These klingt in diesem Zusammenhang eine Überlegung an, die an Ottos frühere Kritik an Schleiermachers »schlechthinniger Abhängigkeit« erinnert. Otto kritisierte daran, dass der Begriff »schlechthinnig« den falschen Eindruck nahelege, das »Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« sei letztlich nur eine höchste Steigerungsform gewöhnlicher Abhängigkeit und verunkläre so die völlige Besonderheit des Gemeinten.652 Im Falle der »Scheu« argumentiert Otto nun genauso: Bei genauer »seelischer Zergliederung«, das heißt durch exakte empirisch-psychologische Selbstbesinnung, hält es Otto für geradezu evident, dass auch die »Scheu« sich »von natürlicher Angst und Furcht durchaus nicht nur durch Grad und Steigerung unterscheidet«. »Sie hat in sich ihre eigenen Steigerungen aber sie ist nicht selbst Steigerung eines anderen. Keine natürliche Furcht geht durch bloße Steigerung in sie über. Ich kann über die Maßen voller Furcht Angst Schrecken sein ohne daß auch nur eine Spur vom Gefühle des ›Unheimlichen‹ darin liegt.«653

Otto formuliert hier nicht weniger als die völlige Absage an jeden Versuch, Angst und Furcht mit der Religion in direkte Verbindung zu bringen. Sie und die numinose »Scheu« sind nach seiner Auffassung restlos verschieden, sind »artlich andere Zuständlichkeiten«, die »untereinander zwar Entsprachen und Ähnlichkeiten« haben, letztlich aber vollkommen unterschiedlichen Kategorien angehören.654 »Scheu« ist also das elementarste und direkteste numinose Moment überhaupt, sie ist nicht mehr als ein abdrängendes Distanzgefühl im Sinne eines intuitiven Bewertungsvorgangs, für das Otto das »Ideogramm ›schlechthinnige Unnahbarkeit‹« vorschlägt.655 650 DH23–25, 17. Der Begriff der »Weltangst« wurde in diesem Zusammenhang später eingefügt. Sicherlich geht dieser auf Einwände aus dem existenzphilosophischen Lager um Heidegger zurück, dessen Angstbegriff sich ja ebenfalls als ein Urmoment von jeder Form der Furcht zu unterscheiden beansprucht. 651 Vgl. DH23–25, 17. 652  Vgl. hierzu die ausführliche Darstellung oben im Zweiten Teil, Kap. II, 2.2. 653 DH23–25, 18. 654 Vgl. DH23–25, 19. 655 Vgl. DH23–25, 22.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Dem Begriffsfeld der Angst nicht weniger ähnlich als »tremendum« und »Scheu« ist ein weiteres Moment, das unter die Kategorie des »mysterium tremendum« fällt: Es ist das Moment, das mit den Ideogrammen »›Macht‹ ›Gewalt‹ ›Übergewalt‹, ›schlechthinnige Übergewalt‹« bezeichnet und von Otto unter den Begriff der »majestas« gestellt wird.656 Besonders jenes Moment der »majestas« ist es, auf das sich das Kreaturgefühl »als sein Schatten und subjektiver Reflex« im Selbstgefühl bezieht.657 Auch an dieser Stelle liegen Studien zu Schleiermacher zu Grunde: Unter dem Begriff der »Majestas-mystik« hatte Otto den dritten Punkt seiner Kritik an Schleiermachers »Abhängigkeitsgefühl« deutlich gemacht und dabei das mystisch-angstvolle Moment der »schlechthinnigen Überlegenheit« herausgearbeitet.658 Auch das dritte Moment in Ottos Zusammenstellung  – das »Energische«  – ist als Näherbestimmung der »Scheu« zu verstehen. Es handelt sich hier um die ekstatische Dimension des »mysterium tremendum«, die Otto in Goethes Begriff des »Dämonischen« besonders gut beschrieben findet. In ihm wird nochmals unterstrichen, dass es sich beim religiösen Erleben – insbesondere bei der »Scheu« – nicht um eine statische Wahrnehmung handelt, sondern um eine unkontrollierbar drängende Gefühlsgestimmtheit im Modus intuitiver Deutung.659 Bisher wurde von der Kategorie des »mysterium tremendum« besonders das Moment des »tremendum« in seinen vielfältigen Nuancen beschrieben. Schließlich wendet sich Otto dem Moment des »mysterium« zu. Er weist darauf hin, das der Begriff »Geheimnis« sehr »leicht von selber schon ›schauervolles Geheimnis‹« sei, also wie selbstverständlich mit dem »tremendum« als ein »synthetisches Prädikat« verbunden gedacht werde. Otto versucht daher nun das »Mysterium minus des Momentes des tremendum« zu beschreiben.660 Das Ergebnis nennt er »das Mirum oder das Mirabile«, ein »rein im Gebiete des numinosen Gefühles liegender Gemütszustand« des »Sich Wundern[s]«.661 Auf das numinose Objekt bezogen, ist das beschriebene Moment ein Erleben des »Befremdens«. Das Erlebte erscheint als das »Ganz andere«.662 Auch im Fall des »Ganz anderen« beschreibt Otto analoge »natürliche« Gegenstände, die das Gemeinte zu beschreiben helfen und womöglich sogar anregen können, wie »befremdliche und auffallende Erscheinungen Vorgänge und Dinge in der Natur, unter den Tieren, unter den Menschen«, die erstaunen, befremden oder erstarren lassen.663 656 Vgl.

DH23–25, 22. DH23–25, 23. 658 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Schleiermacher und der Mystik, oben im Zweiten Teil, Kap. II, 2.3. 659 Vgl. DH23–25, 27 f. 660  Vgl. DH23–25, 29. 661 DH23–25, 29. 662 DH23–25, 30 f. 663 Vgl. DH23–25, 32. 657 Vgl.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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Auch hier ist die Nähe zur Angst nur zu deutlich, insbesondere bei Beispielen wie »dem apokryfen Absenker und Zerrbilde des numinosen Gefühles, [an] der Gespensterfurcht.«664 Entscheidend ist bei selbiger nicht allein das ängstliche »Gruseln« sondern der Zusammenhang, durch den dieses verursacht wird. Otto spricht von einem sonderbaren »Ding« einem eigentümlichen Reiz, der aufgrund seiner Rätselhaftigkeit die Neugier und Phantasie weckt und dabei als »ein Wunderding, ein ›Unding‹ […], ein Etwas das nicht hineingehört in den Kreis unserer Wirklichkeit«, schlechterdings für ein »ganz Anderes« gehalten wird und dabei sowohl Interesse als auch Angst hervorruft.665 Während er die Angst vor Gespenstern nur als eine rudimentäre »Karikatur« darstellt, ist dagegen das »Dämonische« bei Otto tatsächlich ein »Moment numinosen Gefühles«, welches das Gefühl des »Ganz anderen« immer weiter überhöht und schließlich allem Bekannten und Vertrauten zum Gegensatz macht bis hin zur Natur und der Welt überhaupt. Es entstehen dabei nach Ottos Auffassung erneut negative Begriffe, »verneinende und ausschließende Prädikate in bezug auf Natur und Welt«: Das »Übernatürliche« und das »Überweltliche«, die gleichsam Unwörter sind. Sie bezeichnen ein Etwas einer »›ganz anderen‹ Wirklichkeit und Wieheit, von deren Eigenart wir etwas fühlen ohne ihm begrifflich klaren Ausdruck geben zu können«.666

In unmittelbarer Nähe zum modernen Angstbegriff der Existenzphilosophie liegt schließlich Ottos Versuch, das »Ganz andere« mit Traditionen der Mystik als einer »Höchst‑ und Überspannung« desselben zusammen zu bringen. Im Begriff »ἐπέκεινα« setzt nach Meinung Ottos die Mystik die »Entgegensetzung des numinosen Objektes als des ›Ganz anderen‹ fort bis zum Äußersten, indem sie sich nämlich nicht begnügt es allem Natürlichen und Weltlichen gegenzusetzen sondern schließlich dem ›Sein‹ und dem ›Seienden‹ selber.«667

Die höchste und absoluteste Stufe und zugleich das numinose Ideogramm dieses mystischen »Ganz anderen« ist »das Nichts«, das Otto als das »schlechthin und wesentlich Andere« der westlichen Mystik der äquivalenten Vorstellung der »Leere« der »buddhistischen Mystiker« gegenüberstellt.668 Für den philosophischen Angstbegriff in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – auf existenzphilosophischer Seite besonders bei Martin Heidegger und seinen Schülern, auf christlich-theologischer Seite besonders bei Paul Tillich – sind Ottos Begriffe des »Ganz anderen«, des »Nichts«, des »Paradoxe[n]« und des »Antinomischen« ebenfalls von grundlegender Bedeutung.669 An keiner Stelle kommt Otto also 664 DH23–25, 665 DH23–25, 666

33. 33.

 Vgl. DH23–25, 34 (Hervorhebung im Original gesperrt). 34. 668 Vgl. DH23–25, 35. 669 Zu den Begriffen, vgl. DH23–25, 35. 667 DH23–25,

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

dem modernen Angstbegriff näher als hier, gleichwohl er mit dem Numinosen eine ganz eigene und artbesondere Sphäre im Auge zu haben meint, die nichts mit Angst zu tun haben soll.670 Dass Momente der Angst in den Vernunftabgründen des radikal paradoxen oder gar antinomischen Erlebens des »Ganz anderen« dennoch mitschwingen, gibt Otto allerdings zu: »Hier erscheint das Mirum dem rationalen Verstehen-wollen in der allerherbsten Form des Irrationalen. Nicht nur unseren Kategorien unerfaßlich, nicht nur wegen seiner dissimilitas unerfaßlich, auch nicht nur die Vernunft verwirrend blendend ängstigend in Not setzend, sondern in sich selber entgegengesetzt bestimmt, in Gegensatz und Widerspruch.«671

Eine weitere Verbindungslinie zum Angstbegriff ist das in der Interpretation von Ottos Luther­deutung gesagte, dass sich an dieser Stelle mit Ottos Begriff des »mirum« berührt, wenn Otto abschließend feststellt, jene Momente des »Ganz anderen« als »Paradox und Antinomie« seien »für keinen bezeichnender als für ­Luther.«672 III. »Numinose Hymnen«. Die kleine Sammlung »Numinoser Hymnen«, die Otto im fünften Kapitel seines Hauptwerks einstreut, ist – aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen – in den späten Überarbeitungen des Buchs in die »Momente des Numinosen« eingereiht worden, zu denen es qua Überschrift die längste Zeit nicht dazugehörte. Die Darstellungen dienen als Beispiele und Illustrationen der bisher beschriebenen Momente numinosen Erlebens in religiöser Dichtung. Die kursiv gesetzten Hervorhebungen Ottos zeigen auch hier eine Schwerpunktlegung auf Momente der Angst in Begriffen wie »Furcht«, »Entsetzen«, »Erstarrung«, die vor der Folie von Ottos Vorstellung des »mysterium tremendum« eine genuin religiöse Konnotation erhalten.673 IV. »Fascinans«. »Vor dem mir graut – zu dem michs drängt.« Mit jenen Worten eines unbekannten Dichters umschreibt Otto den »Doppel-charakter des Numinosen«, der unter dem Begriff der »Kontrast-harmonie« aus »tremendum« und »fascinans« berühmt wurde.674 Bis hinunter auf die »Stufe der ›dämonischen Scheu‹« reicht demnach das Phänomen, dass die dunkle, abdrängende Seite nu670 Dennoch bleiben die Überschneidungen frappant, denn auch die genannten Theoretiker eines philosophischen Angstbegriffs beanspruchen als Gegenstand bzw. als Objekt der Angst etwas gegenüber der Welt schlechterdings unsagbares »Ganz anderes«. Die Abneigung Ottos gegen dieses Konzept wird jedoch kaum deutlich, auch grenzt er sich so gut wie nie offensiv ab. Als eine Absage an den existenzphilosophischen Angstbegriff wird sicherlich Ottos bereits erwähnte abschätzige Bemerkung über den Gedanken »einer vermeintlichen allgemeinen ›Weltangst‹« gemeint sein, den er erst in den Dreißigerjahren in Das Heilige eintrug (vgl. DH23–25, 17). 671 Vgl. DH23–25, 36. 672  Vgl. DH23–25, 37. Otto verweist an dieser Stelle auf den für seine Luther­deutung wichtigen Begriff der »hiobischen Gedankenreihe«. 673 Vgl. DH23–25, 38–41. 674 Vgl. DH23–25, 42.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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minosen Erlebens – und sei sie noch so »grausam-furchtbar« – dennoch zugleich »lockend-reizvoll« erscheint.675 Gleichwohl Otto es für wahrscheinlich hält, dass »das religiöse Gefühl auf der ersten Stufe seiner Entwicklung« in erster Linie aus dem Moment des »tremendum« »als dämonische Scheu Gestalt gewann«, ist hieraus nicht erklärbar, wie es zu den unleugbaren Momenten des Faszinierenden und Gnadenvollen im religiösen Erleben kommt. »Aber von solcher dämonischen Scheu allein, wenn sie eben weiter nichts war und nicht selber nur ein Moment eines Volleren das allgemach ins Bewußtsein drängt, ist kein Übergang möglich zu den Gefühlen positiver Hinkehr zum numen.«676

Jenes Positive, Anziehende, Ergreifende im religiösen Erleben muss demnach ähnlich ursprünglich und unableitbar als Gefühl sui generis veranlagt sein, wie die Momente des »mysterium tremendum«. Otto schließt daraus – wiederum mit ausführlicher Bezugnahme auf mystische Traditionen – dass das »Mysterium« ebenso wie das »tremendum« folglich »nach seinem positiven Reale und nach seinem inneren Wie erlebt wird, und zwar als ein unerhört Beseligendes: zugleich aber wieder so daß wieder nicht ausgesagt oder begrifflich gemacht sondern nur erlebt werden kann worin denn eigentlich diese Beseligung besteht.«677

Alle Heils‑ und Erlösungsbotschaften der Religion führt Otto – auch dies klang schon in seiner Luther­deutung an  – nicht auf eine vom Verstand eingesehene Zusage zurück, sondern erkennt im Gefühl des »fascinans« eben das, was die Heilslehren »durchdringt und durchglüht« und damit »mehr als was der Verstand von ihnen begreift und sagt« als Gefühl erfassen lässt.678 Im Erleben liegt demnach der »Frieden der über alle Vernunft ist«.679 Im »fascinans« entfaltet Otto also nicht weniger als die frömmigkeitstheoretischen Grundlagen einer Erlösungslehre, die auch in seinen Lutherstudien schon entscheidend waren: Hinter den Ideogrammen traditioneller Heilslehre, »der ›Gnade‹, der ›Bekehrung‹, der ›Wiedergeburt‹« sowie hinter der »Erlösung von Schuld und Knechtschaft der ›Sünde‹«, in denen Otto Formen »ruhig anerzogener Frömmigkeit« sieht, liegen »irrationale Einschläge«, die der Ratio entzogen sind und den eigentlichen Grund des Erlebten im Dunklen lassen.680 Die Entdeckung der Ambivalenz religiösen Erlebens zwischen abdrängenden und anziehenden Momenten reicht bis in die frühe Luther­deutung Ottos zurück, die – wie bereits gezeigt – auch in Das Heilige eine entscheidende Rolle 675 Vgl.

DH23–25, 42. 43. 677 DH23–25, 45. 678  Vgl. DH23–25, 45. 679 DH23–25, 45. 680 Vgl. DH23–25, 49, sowie die zahlreichen Beispiele für die Momente des »Fascinans« als Grund aller Erlösungs‑ und Bekehrungserlebnisse in DH23–25, 45–52. 676 DH23–25,

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

spielt.681 In der Wirkungsgeschichte von Ottos Hauptwerk ist der Begriff der »Kontrastharmonie« einer der bedeutendsten überhaupt und hat auch weit jenseits der Grenzen von Theologie und Religion Eingang in unterschiedlichste Fachdebatten gefunden.682 Wie schon in der Untersuchung von Ottos Luther­deutung angeklungen, ergeben sich gerade in der Kontrastharmonie des »mysterium tremendum et fascinans« eklatante Parallelen zum modernen Verständnis der Angst. Seit der Romantik haftet dem Dunklen, dem Grauen und eben den geheimnisvollen Momenten der Angst bei aller Düsternis und Negativität etwas Faszinierendes an, das auch in der Moderne in den Angstbegriff integriert wurde. Für jene eigentümliche Angst-Lust blieb Ottos »Kontrastharmonie« auch in den späteren Angst-Debatten des 20. Jahrhunderts ein maßgeblicher Terminus technicus  – auch ohne den genuin religiösen Kontext, den Otto selbst für den Begriff vorsah.683 V. »Ungeheuer«. Auch das Moment des Ungeheuren wurde erst im Zuge der letzten Überarbeitungen von Das Heilige als eigener Unterpunkt in die »Momente des Numinosen« eingereiht.684 Im Ungeheuren knüpft Otto an Begriffszusammenhänge der griechischen Antike an, die sich am treffendsten im griechischen »δεινός« fassen lassen. In jenem seiner Meinung nach kaum ins Deutsche übertragbaren Begriff scheint Otto offensichtlich eine Art Synthesebegriff des »tremendum, der majestas, des augustum und des energicum« und schließlich sogar des »fascinans« zu sehen.685 In ihm erkennt Otto »nichts anderes als das Numinose« selbst in einer diffusen und tiefen Form, die er besonders bei Goethe 681  Bezeichnenderweise eröffnet Otto das Kapitel zum »fascinans« auch sogleich mit einem Lutherzitat aus dessen Sermon von den guten Werken (vgl. DH23–25, 42). 682 Innerhalb der Theologie ist beispielsweise die Otto-Rezeption Werner Elerts zu nennen, der die Kontrastharmonie Ottos auf seine theologische Gegenwartsdeutung bezog. Außerhalb der Theologie wurde der Begriff der Kontrastharmonie besonders in psychologischen und emotionstheoretischen Debatten aufgegriffen. Vgl. hierzu grundlegend die Studien von Hanno Willenborg und Dirk Johannsen. 683 Das beste Beispiel hierfür ist wohl das Kapitel »Die Angst und das Numinose« in Baeyer/ Baeyer-Katte, Angst, 36–39. Die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in nahezu allen Disziplinen der Angstforschung präsente Kontrastharmonie Ottos in der Ambivalenz numinosen Angsterlebens zwischen Furcht und Faszination bzw. Abdrängung und Anziehung wird hier besonders deutlich. 684 Vgl. DH23–25, 53–55 (=Kap. 7). In den ersten Auflagen von DH wurde das »Ungeheure« und »Unheimliche« noch innerhalb des Kapitels zum »fascinans« (bzw. zum »Fascinosum«, wie es damals noch hieß, vgl. z. B. DH2, 44 f) aufgeführt. In späteren Auflagen wurde es dann als eigenes Kapitel isoliert und erst in der Endgestalt von Das Heilige als Punkt V. der »Momente des Numinosen« eingeordnet. Wie es zu jenen Veränderungen kam, bleibt offen. Ein möglicher Grund könnte die immer größere Bedeutung Goethes in Ottos Werk sein, was ihn schließlich auch bewog, jenes eben besonders bei Goethe gewonnene Moment des »Ungeheuren« seit den Zwanzigerjahren als Motto von Das Heilige zu verwenden (vgl. DH23–25, VI). 685 Vgl. DH23–25, 54.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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treffend beschrieben findet. In den zahlreichen Facetten des Ungeheuren als des »Unfasslichen«, des »ganz Großen«, des »Befremdend-anderen« und »Unerwarteten Rätselhaften« schwingt schließlich auch ein angstvolles Schaudern mit. Aus Goethes »Faust« entnimmt Otto schließlich jene Formel für das Numinose, die er seinem Hauptwerk als Motto voranstellte: »Endlich, geradezu und ganz ein Name für unser Numinoses und nach allen seinen Seiten ist das Wort ungeheuer in den wunderbaren Worten Fausts: Das Schaudern ist der Menschheit bestes Teil, Wie auch die Welt ihm das Gefühl verteure, Ergriffen fühlt er tief das Ungeheure.«686

VI. »Sanctum als numinoser Wert«. Das letzte Moment des Numinosen, das Otto schildert, ist zugleich eine Zusammenfassung und Weiterführung der zuvor beschriebenen Momente. Ging es bisher um ganz grundlegende, pure Momente religiösen Erlebens, so geht es nun um ein sich mit und in diesem Erleben ereignendes Wertungsgeschehen. Es liegt in gewisser Weise eine Kontrastharmonie höherer Ordnung vor – auch hier unterscheidet Otto grundlegend eine positive und eine negative Komponente des Erlebens. Zunächst knüpft Otto an das eingangs beschriebene Kreaturgefühl an, jenes Gefühl des »Versinkens, des Klein‑ und Zunichtewerdens« als »seltsame tiefe Antwort des Gemütes auf das erlebte Numinose«.687 Insbesondere an Beispielen in der Bibel beobachtet Otto hierzu nochmals eine weitere Ebene des Erlebens, nämlich das »unmittelbar Spontane, fast Instinkt-mäßige« einer »selbstabwertenden Gefühls-antwort«.688 Gemeint ist damit weder eine rationale Auswertung oder Einordnung des Erlebten, noch eine moralische Beurteilung desselben, sondern »vielmehr das Gefühl der schlechthinnigen Profanität«,689 das als unmittelbare und intuitive Selbstabwertung gegenüber dem Numinosen zu verstehen ist. Es handelt sich also um einen mit »Scheu« und »Kreaturgefühl« unmittelbar verbundenen Wertungsvorgang, der nicht im sittlichen Sinne als Bewertung von Handlungen oder Sachverhalten zu verstehen ist, sondern sich als ein Geschehen grundlegender und besonderer Art vollzieht. Die sich im Erleben ereignende Wertung richtet sich also auf den Erlebenden selbst und »auf sein Dasein selber als Kreatur gegenüber dem was über aller Kreatur ist«.690 Noch mehr als im Falle des Kreaturgefühls wird das fundamentale Unterscheidungsmoment jenes Erlebens deutlich: »im gleichen Augenblicke« mit der Bewertung des eigenen Lebens und Seins als »Unwert« und schlechthinnige »Profanität« eröffnet sich demgegenüber 686 Vgl.

DH23–25, 55 (kursiv im Original) und zur späteren gefühlstheoretische Interpretation Ottos GÜ, 333. 687  DH23–25, 66. 688 DH23–25, 66. 689 DH23–25, 67. 690 DH23–25, 67.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

»die Kategorie eines dem Unwerte des ›Profanen‹ genau sich entgegensetzenden völlig eigentümlichen Wertes, der dem numen allein und ihm schlechthin zukommt: ›Tu solus sanctus.‹«691

Was Otto in diesem Zusammenhang unter »Wert« versteht, ist von fundamentaler Bedeutung für seine Frömmigkeitstheorie überhaupt: Wie in allen anderen Kategorien und Momenten des Numinosen versteht er das Dargestellte und in Begriffe Gefasste als Analogie des eigentlich Gemeinten, das nicht explizierbar und in Begriffen angebbar ist. Der im Erleben sich intuitiv einprägende »Wert« des Numinosen ist demnach ein Wert ganz eigener und zugleich höchster Ordnung: »Dieses ›sanctus‹ ist nicht ›vollkommen‹, nicht ›schön‹, nicht ›erhaben‹, auch nicht ›gut‹. Anderseits hat es mit solchen Prädikaten eine bestimmt fühlbare Übereinstimmung: es ist eben auch ein Wert, und zwar ein objektiver Wert, zugleich ein schlechthin unüberbietbarer, ein unendlicher Wert. Es ist der numinose Wert, der irrationale Urgrund und Ursprung aller möglichen objektiven Werte überhaupt.«692

Es wird offensichtlich an dieser Stelle die komplexeste Ebene religiösen Erlebens beschrieben, der gegenüber die zuvor beschriebenen Momente des »mysterium tremendum« geradezu dunkel und roh erscheinen. Es handelt sich um die durch jene Momente hindurchgehende Unterscheidung zweier Wertdimensionen, die gleichsam die höchsten sittlichen Begriffe und Vorstellungen der Religionen aus sich heraussetzen. Otto schlägt analog zu den anderen latinisierten Begriffen der Momente des Numinosen an dieser Stelle die Begriffe »augustum oder semnón« vor, um hiermit »im absoluten Werte des Sanctum dessen irrationalen Werteinschlag« anzudeuten.693 Auch hier stellt sich wieder die Frage, wie sich das Erleben eigenen Unwertes gegenüber dem absolut Wertvollen zum Phänomen der Angst verhält. Fraglos ereignet sich auch hier nach Ottos Beschreibung ein der »Scheu« und dem »Kreaturgefühl« nahestehendes angstvolles Gefühl. Doch auch hier handelt es sich laut Otto nicht um tatsächliche Angst, sondern erneut um ein besonderes numinoses Fühlen, das lediglich Ähnlichkeiten mit gewöhnlicher Angst hat. Überdies ist die hier beschriebene intuitive Wertunterscheidung kein reiner »Furcht-ausbruch«, sondern – wie Otto schreibt – ein »scheuer Lobpreis der nicht nur die Übergewalt stammelnd zugesteht sondern zugleich ein über allen Begriffen Wertvolles anerkennen und rühmen will.«694 Es trifft nicht allein ein überwältigender numinoser Wert auf das Subjekt, um subjektiv als »tremendum« oder »fascinans« erlebt zu werden, sondern es handelt sich um die Begegnung eines »objektiven zu respektierenden Wertes«, 691 DH23–25,

67 (kursiv im Original). 67 (kursiv im Original). 693 Vgl. DH23–25, 68. 694 DH23–25, 68 (kursiv im Original). 692 DH23–25,

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der  – unabhängig von jeder Bewertung durch ein wertendes Subjekt  – seinen absoluten Wert in sich trägt. Insofern ist das »augustum« bei Otto die Kategorie der intuitiven Erfassung des Numinosen als des höchsten und heiligsten Wertes. Es beschreibt ein intuitives Wertungsgeschehen, was im Erleben schon vor jeder kognitiven Reflektionsleistung gesetzt ist. Für eine theologische Deutung der Angst ist in diesem Zusammenhang besonders der Umkehrschluss, das »Gegenteil des numinosen Wertes« und dessen empirische Wirklichkeit interessant, die Otto unter den Begriffen »Bedeckung« und »Sühne« darstellt.695 Dem Gefühl des unüberbietbaren, absoluten numinosen Wertes korrespondiert zugleich das Gefühl des eigenen »numinosen Unwertes«.696 Die klassische Sündenlehre ist nach Ottos Auffassung eine begriffliche Ausdrucksform für den religiösen Vorgang, in dem sich das numinose Gefühl von Wert und Unwert »auf die sittliche Verfehlung überträgt«, sich also in das profane Wertungsgeschehen sittlicher Fragen »hineinsetzt«.697 An dieser Stelle kommen deutlich die sündentheologischen Überlegungen in Ottos Luther­deutung zum Tragen. Wie in seiner Schilderung der »Idee der Verlorenheit« bei ­Luther, die Otto erst im »Rückblick« von der Rechtfertigungstheologie her entfalten konnte,698 kann Otto hier nun die subjektive Komponente des numinosen Wertes erst vom »augustum«, vom Erleben des absoluten und heiligen numinosen Wertes her plausibel machen.699 In der Luther­deutung wurde schon dargestellt, was Otto hier nun wiederholt: Zur Gewissheit der eigenen »Verlorenheit« und Erlösungsbedürftigkeit als Sünder ist auf rationalem, dogmatischen oder sittlichem Wege nicht zu kommen – sie sind »für Rationalisten und Moralisten nur mythologische Fossile«.700 Echtes Sündenbewusstsein und »Erlösungs-bedürfnis«, wie es Otto besonders bei ­Luther und Schleiermacher herausgearbeitet hat, »versteht der ›natürliche‹ Mensch, auch der sittliche Mensch nicht« – denn es bedarf einer besonderen Erkenntnis des »Geistes«, die sich in Gestalt jener eigentümlichen Wertung des Numinosen als »solus sanctus« und der gleichzeitigen Erkenntnis eigener Profanität und eigenen Unwertes im Gefühl vor jedem rationalen Denken ereignet. 695 Vgl.

DH23–25, 69 ff. 69 (kursiv im Original). 697 Vgl. DH23–25, 69. 698  Vgl. hierzu die Ausführungen zu Ottos Interpretation von Rechtfertigung und Verlorenheit bei L ­ uther, oben im Zweiten Teil, Kap. II, 1.3. 699 Wie die »Idee der Verlorenheit« bzw. des Verloren-gewesen-seins erst im Glauben vollends zum Durchbruch kommen kann, ist auch das »Gegenteil des numinosen Wertes« – sein »Unwert oder Widerwert« bei Otto erst im Erleben des Numinosen erfahrbar. 700 DH23–25, 70. In diesem Zusammenhang entgegnet Otto der »so sich nennenden ›dialektischen Theologie‹«, diese gehe demnach in völlig falscher Weise mit den Texten der Bibel um, indem sie jene eben gerade nicht auf das Erleben von »›Weihe‹ oder ›Bedeckung‹ oder ›Entsühnung‹« hin lese: »wer ohne Fühlung für die afflatio numinis in den biblischen Ideen sich gleichwohl mit diesen befaßt und sie zu interpretieren sucht, kann an ihre Stelle nur Attrappen setzen« (ebd.). 696 DH23–25,

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

An dieser Stelle leitet Otto von der Beschreibung angstvoller Momente des Numinosen formlich über zu den Grundlagen seines Verständnisses der christlichen Erlösungslehre überhaupt. Im Hinweis auf die »Berufung Jesajas« (Jes 6) und die Perikope vom »Hauptmann von Kapernaum« (Mt 8,5–13) entfaltet Otto einen unmittelbaren Zusammenhang religiösen Angsterlebens und christlicher Erlösungslehre, ausgehend vom eigenen Unwertgefühl: »Die bloße ›Scheu‹, das bloße Bedürfnis nach Bedeckung vor dem tremendum erhöht sich hier zu dem Gefühle daß man als Profaner nicht wert sei in der Nähe des Augustum zu stehen, ja daß der eigene völlige Unwert das Heilige selber ›verunreinigen‹ würde.«701

In Beispielen der Religionsgeschichte sieht Otto die zentralen und elementarsten Ideen von Sünde, Sühne und Erlösung demnach nicht in dogmatischer Spekulation, sondern aus einem eigentümlichen Erleben numinoser »Angst« hervorbrechen: Beginnend im Moment dämonischer »Scheu« und deren Schatten im »Kreaturgefühl« über Momente des »Grauens« und des »Ungeheuren« in der numinosen »Kontrastharmonie« bis hin zur intuitiven Wertung des »eigentümlichen Unwertes den der Profane in Gegenwart des numen fühlt«, entstehen gleichsam die »tiefsten Mysterien der Religion selbst« in der Idee der Erlösungsbedürftigkeit.702 Es tritt im Erleben »die Notwendigkeit und das Verlangen nach ›Entsühnung‹ ein, und um so stärker als die Nähe der Umgang und der dauernde Besitz des Numen als Gut und als höchstes Gut geliebt und begehrt wird, nämlich das Verlangen nach Aufhebung dieses Trennenden, mit dem Dasein als Kreatur und als profanes Naturwesen selber gegebenen Unwertes.«703

Ausgehend von Ottos Ausführungen über die dunklen »tremenda majestas« in den Momenten numinosen Erlebens klingt die in diesem Zusammenhang entworfene »Idee der Versühnung im Christentume«704 bei Otto wie eine aus dem Erleben des »mysterium tremendum« entworfene christliche Soteriologie von bekenntnishafter Eindrücklichkeit: »Der Gott des Neuen Testamentes ist nicht weniger heilig als der des Alten sondern mehr, der Abstand des Kreatur gegen ihn nicht geringer sondern absolut, der Unwert des Profanen ihm gegenüber nicht verflaut sondern gesteigert. Daß der Heilige sich dennoch selber nahbar macht ist keine Selbstverständlichkeit wie es der gerührte Optimismus der ›Lieber-Gott‹-stimmung meint, sondern unbegreifliche Gnade. Dem Christentum dafür das Gefühl rauben, heißt, es bis zu Unkenntlichkeit verflachen.«705

Zusammenfassung. Im achten Kapitel »Entsprechungen« und dem zehnten Kapitel »Was heißt irrational?« nimmt Otto theoretische Erläuterungen der 701 DH23–25,

71.  Vgl. DH23–25, 70. 703 DH23–25, 71 f. 704 Vgl. DH23–25, 72 f, Seitenüberschrift. 705 DH23–25, 73. 702

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bisherigen Darstellung vor und stellt dabei einige Probleme dar, die besonders für die Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion entscheidend sind.706 In der Darstellung der Kontrastharmonie religiösen Erlebens in den Momenten des Numinosen fiel auf, dass Otto insbesondere die Momente in der Kategorie des »mysterium tremendum« von jeder Form »natürlicher« bzw. »profaner« Angst und Furcht geschieden wissen will. Gleichwohl springt  – wie bereits gezeigt  – die offenkundige Ähnlichkeit von Ottos numinosen Momenten der »Scheu« und des »Grauens« mit jenem Erleben, das man in der Moderne ohne weiteres als diffuses Angsterlebnis bezeichnen würde, ins Auge. Wie ist demnach das Verhältnis von numinosem »tremendum« und profaner Angst zu bestimmen? Ottos Überlegungen zum Verhältnis untereinander analoger Gefühle (a) geben hierzu ebenso Aufschlüsse wie seine Darstellung des Verhältnisses von »rational« und »irrational« (b). (a) Gefühle und ihre Analogien. Otto geht – ganz offensichtlich in Anlehnung an seine Auseinandersetzung mit dem Darwinismus707  – grundsätzlich davon aus, dass Gefühle, die er hier als »dunkle Vorstellungsgehalte mit emotionalem Charakter«708 definiert, immer schon sie selbst sind und sich niemals verwandeln oder weiterentwickeln können. Auch »mit dem Gefühle des Numinosen« verhält es sich nach Ottos Auffassung so: Es ist ein »aus keinem andern Gefühle ableitbares, aus keinem andern ›entwickelbares‹ sondern ein qualitativ eigenartiges originales Gefühl, ein Urgefühl: nicht im zeitlichen sondern im prinzipiellen Sinne.«709

Da dieser Gedanke für Ottos Beurteilung der Angst wichtig ist, muss er kurz erläutert werden. Gefühle entstehen nach Meinung Ottos nicht aus anderen 706 Das Kapitel »Entsprechungen« entsprach in den früheren Auflagen von DH noch dem siebten Kapitel mit dem Titel »Analogien«. Das Kapitel »Was heißt irrational?« ist erst in den Zwanzigerjahren in das Buch eingefügt worden. 707  Die im frühen 20. Jahrhundert populäre Evolutionstheorie im Gefolge Charles Darwins hält Otto an einem entscheidenden Punkt für falsch, nämlich in dem Gedanken einer additiven Entwicklung durch zufällige Mutation. Diese setze nämlich – so Otto – eine völlig dem Zufall überlassene Veränderung des Erbgutes und dessen Durchsetzung im natürlichen Selektionsprozess voraus. Entgegen jener Vorstellung der »Addition« neuer Gestalten geht Otto von einer evolutionären Entwicklungslehre aus, die im wörtlichen Sinne eine Entwicklung bzw. Auswicklung meint: In Anlehnung an Goethe und mit deutlichen Ähnlichkeiten zu der Lehre Lamarcks ist für Otto demnach jede Entwicklungsstufe des Lebens überhaupt im Ursprung ihres Entstehens schon angelegt. Wie der aktuell ausgewachsene Baum bereits potentiell in seinem Keim angelegt und enthalten war, aus dem er hervorging, so ist nach Ottos Auffassung auch Entwicklungsgeschichtlich alles Leben in seinen Urformen potentiell angelegt. Gleiches beansprucht Otto auch für Gefühle: Keines entsteht aus einem anderen, sondern muss ganz ursprünglich – wie ein Keim – im Wesen des Menschen veranlagt sein. Umfassend zu Ottos Interpretation Darwins und Goethes vgl. unten im Zweiten Teil, Kap. IV, 2. 708 DH23–25, 57, Anm. 1 (kursiv im Original). 709 DH23–25, 59 f.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Gefühlen, so wie seiner Auffassung der Evolution zufolge auch keine vollkommen neuen Arten durch zufällige Mutation aus anderen entstehen können. Stattdessen betrachtet Otto Gefühle als prinzipielle Anlagen und geht von ihrer grundsätzlichen Unveränderlichkeit aus. Wie ewige Urprinzipien sind Gefühle demnach immer sie selbst. Entweder ist man eines Gefühls qua Anlage fähig, oder man ist es nicht – so könnte man Ottos Theorie vereinfacht auf den Punkt bringen. Jedes Gefühl und überhaupt jedes Vermögen eines Individuums muss nach Ottos Meinung in ihm »angelegt« sein und ist es dies nicht, »so brächte sie keine ›Entwicklung‹ hinein«, denn »›Verwandlungen‹ gibt es im Geistigen sowenig wie im Körperlichen.«710 Durchaus können sich demnach unterschiedliche Gefühle zwar ähneln, sich sogar anregen oder hervorrufen, jedoch können sie dies nicht im Sinne einer Veränderung oder des Übergangs eines Gefühls in ein anderes, sondern allein durch ein »gradweises Abnehmen des einen und Zunehmen des andern«.711 Das Phänomen der Veränderung und des Übergangs verschiedener Gefühle ineinander erklärt sich Otto daher aus einem »Gesetz« heraus, das er »Gefühls-gesellung« nennt.712 Je nach Situation und Gefühlsintensität können demzufolge Gefühle eine gewisse Stimulation auf andere Gefühle ausüben. Was Otto meint, könnte man sich vielleicht mit dem Klang einer Gitarre verdeutlichen: So wie sich eine angeschlagene Saite nicht in ihrer Frequenz sondern lediglich in der Amplitude – und damit in der Lautstärke und nicht im Ton – verändert, so kann sich nach Ottos Verständnis auch ein Gefühl allein in seiner Intensität, nicht aber in seiner Qualität und Art verändern. Allerdings kann nach Otto ein Gefühl sehr wohl ein anderes ihm ähnliches Gefühl in dessen Intensität steigern, es anregen oder wecken. Im Beispiel der Gitarre entspräche dies dem Vorgang, dass die Schwingung der einen Saite eine andere Saite der Gitarre ebenfalls in Vibration versetzt und – freilich in deren jeweiliger Frequenz – zum Erklingen bringt.713 Numinose »Scheu« und profane Angst entsprechen in diesem Bild zwei völlig verschiedenen Gitarrensaiten unterschiedlicher Frequenz, die niemals in einander übergehen, und sich bestenfalls gegenseitig »anregen« können. Nach Ottos Auffassung kann also profanes Angsterleben niemals zu einem religiösen Gefühl werden. Sie gehören zwei unterschiedlichen Kategorien an. Das Vermögen zu religiösem Erleben in Gestalt des Gefühls von »tremendum« und numinoser »Scheu« versteht Otto als eine »a priori« verankerte Anlage im Sinne 710 DH23–25,

59. von Otto abgelehnte Vorstellung der Veränderung eines Gefühls zu einem anderen nennt er »seelische Alchemie und Goldmacherei« (DH23–25, 58). 712 Vgl. DH23–25, 57 ff. 713 Im Experiment ist freilich das Beispiel physikalisch nur bedingt tragfähig: In erster Linie bringen sich natürlich primär nur gleiche Frequenzen gegenseitig zum schwingen und lassen Saiten anderer Frequenzen weitgehend unberührt. Das Bild der Gitarre verdankt der Verfasser einer Diskussion mit Studierenden im Rahmen einer Seminarveranstaltung zu Rudolf Otto an der Philipps-Universität Marburg. 711 Die

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eines transzendentalen Wertungsvermögens, die beim Menschen in individuell unterschiedlicher Intensität ausgeprägt und lebendig ist. Ebenso im Menschen veranlagt sind die gegenüber dem »tremendum« ähnlichen Emotionen der Angst und der Furcht, die nach Ottos Auffassung ihre ganz eigenen Steigerungen und Entwicklungen durchlaufen. Ohne Ottos grundsätzliche evolutionstheoretische Grundannahmen an dieser Stelle weiter zu diskutieren, wird hier erneut deutlich, dass Otto schon auf gefühlstheoretischer Ebene von einer völligen Artverschiedenheit natürlicher und religiöser Angst ausgeht. Numinose »Scheu« und natürliche Angst haben bei Otto eben keine gemeinsame Wurzel, aus der sie sich jeweils entwickelten, sondern haben jeweils ihre eigenen artbesonderen Urformen. Wie das »Erhabene«, das nach Ottos Auffassung mit der Kontrastharmonie des Numinosen bei aller Ähnlichkeit weder identisch ist, noch eine gemeinsame Wurzel hat und demnach ein »Schema« bildet, sind bei Otto auch Angst und Furcht gegenüber den numinosen Momenten des »tremendum« oder der »Scheu« als »Analogie« zu verstehen.714 Nach diesem Analogieprinzip Ottos müsste also das Gefühl der Angst wie jedes andere Gefühl auch »ein ihm ähnliches Gefühl mit zum Anklingen bringen« können und damit »veranlassen, daß ich das andere gleichzeitig hege«.715 Für das Verhältnis von Angst und Religion heißt dies grundsätzlich, dass natürliche Angst ebenso anregend auf die ihr analogen Momente des Numinosen wirken kann, wie letztere in der Lage sind, profane Gefühle wie Angst und Furcht anzuregen. Einzig der Übergang des Einen in das Andere ist bei Otto aufgrund ihrer qualitativen, ja kategorialen Verschiedenheit ausgeschlossen. Dass über die Analogie von Angst und numinoser »Scheu« sogar ein »Verhältnis von ›Schematisierung« besteht, also eine Verbindung »innerer wesensmäßiger Zusammengehörigkeit« und Verwandtschaft, könnte in folgendem Beispiel angedeutet sein, in dem Otto feststellt: »Wort und Satz sind auch dieselben, wenn Kinder von ihrem Vater und wenn Menschen von Gott sagen: ›Wir sollen ihn fürchten lieben vertrauen‹; aber im zweiten Falle ist ein Einschlag in den Begriffen den nur der Fromme spürt versteht und merkt: ein Einschlag durch den die Gottesfurcht zwar echteste Kindesehrfurcht auch ist und bleibt, zugleich aber eben ›noch mehr‹ ist, und zwar nicht nur quantitativ sondern auch qualitativ.«716

714  Zum Erhabenen als Analogie der numinosen Kontrastharmonie vgl. DH23–25, 57 f. Das Analogieverhältnis der Angst zu den ihr ähnlichen numinosen Momenten behandelt Otto an dieser Stelle nicht, deutet es jedoch an anderer Stelle an (z. B. in DH23–25, 15), wo er die Furcht als »analogische Bezeichnung« für die »ganz artbesondere Gefühls-reaktion« des »tremendum« bezeichnet. 715 DH23–25, 57. 716  DH23–25, 63. Die genauere theologische Deutung und Auswertung des Verhältnisses von profaner Angst und numinoser »Scheu« bleibt bei Otto etwas undeutlich. Wie ist profane Angst theologisch zu beurteilen? Überlegungen hierzu sollen im Schluss des Zweiten Teils der vorliegenden Untersuchung als Ausblick im Anschluss an Otto vorgestellt werden.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

(b) Das Irrationale und der »Objektbezug« des religiösen Erlebens. In dem erst Mitte der Zwanzigerjahre nachträglich eingefügten Kapitel »Was heißt irrational?« klingen Überlegungen an, die schon in dem im Anschluss an Schleiermacher entworfenen Gefühlsbegriff in Ottos Buch West-östliche Mystik ausgeführt wurden.717 Otto unterscheidet hier zwischen zwei Arten von Gefühlen: Einerseits Gefühle, die sich auf konkrete Objekte richten, auch wenn diese »zeitweilig dunkel« und nicht bekannt sind – Otto nannte sie in West-östliche Mystik »Emontionen«. Und andererseits Gefühle, deren Objekt immer dunkel bleiben muss, da es dem »Bereich begreifenden Verstehens« nicht zugänglich, ja, eigentlich gar kein Objekt ist.718 In letztere Gefühlskategorie fällt – das ist aus den bisherigen Ausführungen in Das Heilige deutlich geworden – auch das numinose Moment des »mysterium tremendum«. Was in ihm als »Scheu« erlebt wird, »entzieht sich aller Sagbarkeit« und ist mithilfe von Ideogrammen »nicht deutbar aber – andeutbar.«719 Ganz anders hingegen verhält es sich Otto zufolge mit Angst oder Furcht: »Bei gemeiner Furcht kann ich in Begriffen angeben, kann ich sagen, was das ist, was ich befürchte: z. B. Schädigung oder Untergang. Auch bei moralischer Ehrfurcht kann ich sagen, was sie einflößt: z. B. Heldenhaftigkeit oder Charakterstärke. Was aber das sei was ich in der ›Scheu‹ scheue oder was ich als das Augustum lobpreise, das sagt kein Wesensbegriff. Es ist ›irrational‹«.720

Einmal mehr bleibt es also bei der Dichotomie der auf ein irgendwie greifbares Objekt der Bedrohung gerichteten natürlichen Angst einerseits und andererseits der hiervon unterschiedenen numinosen Angst als »tremendum«, deren »Objekt« lediglich in einem irrationalen Objektgefühl besteht und jedem Zugriff entzogen ist. In diesem Zusammenhang bricht die bereits im Kapitel zu Ottos Schleiermacher­deutung angedeutete Frage auf, wie wohl der in den Zwanzigerjahren entstandene existenzphilosophische Angstbegriff im Gefolge der frühen Philosophie Martin Heideggers zu jenem Schema Ottos stehen müsste. Dessen als »Existential« verstandener Angstbegriff tritt schließlich mit dem Anspruch auf, überhaupt jedes Objekt der Angst zu verabschieden und das »In-der-Welt-sein als solches« zum Grund und »Wovor« der Angst zu erklären: »Das Wovor der Angst ist kein innerweltliches Seiendes«.721 Da sich Otto leider nicht ausführlicher mit Heideggers Angstbegriff auseinandersetzt, kann seine Stellungnahme hier nur gemutmaßt werden: Wahrscheinlich würde Otto wohl – dies klang bereits in seiner Unterscheidung einer »vermeintlichen allgemeinen 717 Vgl.

hierzu oben im Zweiten Teil, Kap. II, 2.3. DH23–25, 76. In WÖM machte Otto jene Unterscheidung noch deutlicher, indem er das erstgenannte Gefühl »Emotion« nannte. 719 DH23–25, 76. 720 DH23–25, 77 (kursiv im Original). 721 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 186. 718 Vgl.

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›Weltangst‹« im Gegensatz zum Moment des »tremendum« an722 – Heideggers Angstbegriff trotz gewisser Ähnlichkeit hinsichtlich der »Unbestimmtheit« des Objekts der Angst von seinem Begriff der »Scheu« unterscheiden wollen.723 Denn Heideggers Begriff des »Nichts«,724 der für seinen Angstbegriff konstitutiv ist und einwenig an Ottos Begriff des Numinosen erinnern mag, ist aus der Sicht Ottos von bloßer Spekulation nicht zu unterscheiden. Das »Nichts« fällt als bloßer Begriff nach Ottos Konzept in den Bereich des Rationalen und eben nicht in den des Numinosen, denn es ist – so sehr Heidegger das »Nichts« auch an »Stimmungen« zu binden versucht  – letztlich ein abstrakter Begriff im Kontext fundamentalontologischer Spekulation.725 Heideggers Angstbegriff und Ottos Begriff der »Scheu« bzw. des »tremendum« unterscheiden sich also hinsichtlich ihres Gegenstandes: Während bei Heidegger die »Angst das Nichts enthüllt« bzw. »offenbart«, also vor ein ontologisches Problem stellt,726 geht es in Ottos Gedanken des Erlebens der »Scheu« nicht um dessen ontologische Implikationen – solche vermeidet er gerade – sondern um die aus dem Gefühl sich nahelegenden Vorstellungen des »Ganz anderen«, die sich jeden ontologischen Zugriffs – auch dem Gedanken des Nichts – entziehen. Schlussendlich wird in den ersten zehn Kapiteln von Das Heilige deutlich, dass es Otto tatsächlich um eine in jeder Hinsicht besondere Angst geht, die sich hinter den Begriffen wie »tremendum« und »Scheu« verbirgt und die bestenfalls in einem Analogieverhältnis zu tatsächlicher Angst oder Furcht steht. Ottos Verhältnisbestimmung von Angst und Religion ist also  – das wird hier nun besonders deutlich – eine doppelte: Hinsichtlich profaner Angst tritt er für eine klare Unterscheidung im religiösen Erleben ein, hinsichtlich der numinosen Momente der »Angst«, die er als »Scheu« beschrieb, sind Erleben und Religion geradezu ein und dasselbe.

722  Vgl. DH23–25, 17. Wie schon an anderer Stelle erwähnt, liegt in dieser in späteren Auflagen von DH zugefügten Bemerkung Ottos wohl eine direkte Kritik an der existenzphilosophischen Angstdeutung Martin Heideggers und ihre Anwendung auf die Theologie durch Rudolf Bultmann vor. 723  Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 188: »In der Angst ist einem ›unheimlich‹. Darin kommt zunächst die eigentümliche Unbestimmtheit dessen, wobei sich das Dasein in der Angst befindet, zum Ausdruck: das Nichts und Nirgens.« 724 Zum Begriff der Angst und dem »Nichts« bei Heidegger vgl. insbesondere Heidegger, Was ist Metaphysik, 32 f. 725 Gleiches hat wohl auch für den Angstbegriff Kierkegaards zu gelten, der in der Moderne ausgesprochen stark rezipiert wurde. Auch bei Kierkegaard ist Angst aus Ottos Perspektive etwas rationales, nämlich eine Verstrickung im Strudel der Möglichkeiten in der menschlichen Vorstellung. 726 Heidegger, Was ist Metaphysik, 34 f. Heidegger resumiert: »Das Nichts ist die Ermöglichung der Offenbarkeit des Seienden als eines solchen für das menschliche Dasein.« (a. a. O., 35).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

1.2. Angst und »Scheu« in den »Ausdrucksmitteln des Numinosen« In Ottos Konzept von »Gefühls-gesellung« und »Schematisierung« wurden bereits Ähnlichkeiten und Unterschiede zwischen »numinosen« und »natürlichen« Momenten der Angst deutlich. Doch welche Gefühlsmomente sind es nun genau, die das numinose Erleben anregen oder zum Ausdruck bringen können? Otto beschrieb das Verhältnis numinoser und natürlicher Gefühle als »Analogie«. Um der Struktur jener Analogie auf den Grund zu gehen, unternahm er in Das Heilige ausführlich den Versuch, konkrete »Ausdrucksmittel« des Numinosen herauszufinden und in ihrem Analogieverhältnis zum numinosen Erleben zu beschreiben. Dahinter stand der bereits ausgeführte Gedanke, dass dem numinosen Gefühl analoge, natürliche Gefühle sowohl einerseits auf das numinose Erleben anregend wirken, als auch andererseits vom numinosen Gefühl selbst angeregt werden können. Otto unterscheidet in diesem Zusammenhang »direkte« und »indirekte« »Ausdrucksmittel des Numinosen«.727 Mit direkten Ausdrucksmitteln sind »Gefühls‑ und Gemüts-haltungen« gemeint, die innerhalb der Religion für die Weitergabe und Stimulation religiösen Erlebens sorgen. Durch »Nachgefühl und Eingefühl« wird demnach im religiösen Ritual, in erbaulicher Predigt, im gemeinsamen Gebet oder in »heilige[n] Situationen«, das eigentliche numinose Gefühl selbst »erweckt« oder angeregt, das allein durch intellektuelle Einsicht und begriffliche Lehre niemals hätte erzeugt werden können.728 Das numinose Gefühl religiöser Menschen stimuliert und erweckt folglich dasjenige Anderer, indem diese sich vom – wie auch immer gearteten – Vollzug jenes religiösen Erlebens anregen lassen und daran teilhaben. Man könnte also von einer Art Ansteckung religiösen Erlebens durch kultivierte Religion sprechen. Auch hier wird die religiöse Veranlagung des Menschen zur Grundvoraussetzung. Ohne den schon in Ottos Luther­deutung geschilderten »entgegenkommenden ›Geist im Herzen‹, ohne die Kongenialität des Aufnehmenden« kann weder rationale Wortverkündigung, noch tief numinoses Gefühlserleben wirksam werden.729 Direkte Anregungs‑ und Ausdrucksmittel des Numinosen erzeugen also letztlich eine Vitalisierung der im Erlebenden schon vorhandenen Anlage, die durch die Teilhabe am numinosen Gefühl Anderer in Andacht, Predigt, Überlieferung oder Ritual – kurz: in gelebter Religion – angestoßen werden kann. Ein indirektes »Darstellungs‑ und Anregungsmittel des numinosen Gefühles« ist dagegen selbst kein numinoses Gefühl, sondern ein »Ausdrucks-Mittel für ihm verwandte oder ihm ähnliche Gefühle des natürlichen Gebietes.«730 Solche dem religiösen Erleben analoge Gefühle können nach Ottos Auffassung ausdrü727

 Vgl. DH23–25, 79 ff. 79. 729 Vgl. DH23–25, 80. 730 DH23–25, 81. 728 DH23–25,

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cken und beschreiben, was sich aus den numinosen Gefühlen selber aufgrund ihrer mysteriösen Form nicht erschließt. Natürliche Gefühle werden hier zur Anregung für das Numinose. Angst und Furcht haben unter jenen indirekten Anregungsmitteln des Numinosen durchaus ihren Platz. Angstvolle Gefühle wie das »Fürchterliche, Schreckliche, ja das Scheußliche« haben nach Ottos Meinung »starke Entsprachen« zu dem genuin numinosen Moment des »tremendum«.731 Es werden »ihre Ausdrucks-mittel zu indirekten Ausdrucksmitteln der direkt nicht ausdrückbaren ›Scheu‹«. Das Gräßlich-fürchterliche der primitiven Götterbilder und Götter-schilderungen das uns heute oft genug so abstoßend erscheint hat für den Primitiven und Naiven, auch heute noch, und gelegentlich selbst noch für uns, durchaus die Wirkung echte Gefühle echter religiöser Scheu anzuregen.«732

Für Ottos Beurteilung der Angst ist dies von größter Bedeutung. Die zuvor mit aller Kraft vom eigentlichen numinosen Erleben abgeschiedenen »natürlichen« Emotionen wie Angst und Furcht rücken hier als potentielle »Anregungsmittel« des Numinosen nun wieder näher an den Kontext religiösen Erlebens heran. Das gerade in der Moderne mit dem Begriff Angst assoziierte »Unverstandene Ungewohnte Rätselhafte« kann Otto geradezu als »natürliche Entsprechung« der »religiösen Gefühle des Unsagbaren Unaussprechlichen schlechthin Andern Geheimnisvollen« deuten.733 Ohne jemals den Angstbegriff tatsächlich zu nennen, räumt Otto an dieser Stelle mit Momenten des »furchtbare[n] Unverstandenen« den grundlegenden Attributen der Angst – zumal in ihrem Verständnis in Romantik und Moderne – eine entscheidende Bedeutung ein: »Und so ist es in der Tat allerorten in der Menschheit gewesen. Was unverstanden-schreckend hineinfuhr in den Bereich seines Handelns, was in Natur-vorgängen Ereignissen Menschen Tieren oder Pflanzen Befremden Staunen oder Starren erzeugte, zumal wenn es verbunden war mit Macht oder Schrecken, das hat je und je zunächst die dämonische Furcht sodann die heilige Scheu geweckt und an sich herangezogen, das ist zum portentum prodigium miraculum geworden.«734

Auf den Angstbegriff übertragen, könnte man also zusammenfassen: Wie die religiösen Momente von numinoser »Scheu« und »mysterium tremendum« durch Anregung der Phantasie überformte und verzerrte Analogien in der Gestalt 731

 Vgl. DH23–25, 81. 81. Freilich kann umgekehrt auch jene numinose »Scheu« ihrerseits »in Fantasie und Darstellung« Ausdrucksformen des Fürchterlichen und Gruseligen erzeugen, die nicht numinos, sondern diesem wiederum nur ähnlich sind (vgl. ebd). 733 Vgl. DH23–25, 83. 734 DH23–25, 83. An dieser Stelle ergibt sich deutlich eine Verbindung zu dem in Ersten Teil vorgestellten Paradigma »deos fecit timor«. Der Gedanke, die Angst vor Naturereignissen bringe die Religion hervor, wird hier von Otto aufgenommen, jedoch nicht im Sinne eines Kausalverhältnisses, sondern im Sinne einer Anregung eines ganz eigenen religiösen Erlebens der »Scheu«. 732 DH23–25,

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

natürlicher Gefühle der Angst bilden können – Otto bezeichnete sie an anderer Stelle als »apokryfe[n] Absenker und Zerrbilde[r] des numinosen Gefühles«735 – so können auch natürliche Momente der Angst umgekehrt ihnen ähnliche und darum analoge numinose Gefühle anregen und damit zu einer »Anamnesis des Ähnlichen« werden.736 Die zunächst trennscharf unterschiedenen Sphären numinoser und natürlicher Gefühle scheinen sich im Analogiebegriff gewissermaßen zu berühren und in ein dialektisches Verhältnis zu treten. Angst ist demnach zwar nicht – wie im klassischen Paradigma »Primus in orbe deos fecit timor« behauptet – die Ursache der Hervorbringung der Religion als Kulturleistung, aber sie ist denkbar als Anregung des ihr ähnlichen, analogen Gefühls der »Scheu«, die zugleich der tiefste Urmoment der Religion selber ist. Dies wurde von Otto vielleicht nicht deutlich genug herausgestellt. Das beschriebene Konzept der Ausdrucks‑ und Anregungsmittel des Numinosen weitet Otto im weiteren Verlauf seines Hauptwerks in einer Fülle von Beispielen auf Bereiche der Kunst und der Religionsgeschichte aus. Besonders ausführlich führt er dabei Ausdrucksmittel und Ideogramme der Bibel vor und widmet ein eigenes Kapitel der Theologie Martin ­Luthers.737 In seiner Darstellung des Numinosen »im Alten Testamente« führt Otto vor, wie sich in der Hochreligion, »vornehmlich in der semitischen und zumal in der biblischen«, das numinose Gefühl eindrucksvoll von den bloßen Analogien »apokryfer Absenker der Fantasie-bildungen« emanzipiert habe.738 Übertragen auf den Angstbegriff bedeutet dies, dass beispielsweise in der von Otto besonders geschätzten Prophetie des Alten Testaments eben nicht »Gemeine dämonische Furcht« im Sinne natürlicher Angst aufgrund von bedrohlichen Phantasiebildern beschrieben wird, sondern eben echte »dämonische Scheu«.739 Der Prozess des Anregens numinoser Gefühle durch natürliche Gefühle ist hier also gleichsam religionsgeschichtlich schon überwunden. Es entfaltet sich in der Literatur des Alten Testaments laut Otto eine »Entwicklungs-kette des religiösen Gefühles«, die wiederum »in sich selber Steigerungen und Transformationsprozesse durchlaufen kann und dabei weitgehend von der »natürlichen« Sphäre profaner Gefühle losgelöst ist.740

735  DH23–25, 33. Otto denkt hier an Naturreligionen, in denen das »primitive Schema des ›Fürchterlichen‹« (vgl. DH23–25, 83) besonders eindringlich ausgestaltet wird. 736 Vgl. DH23–25, 85. 737 Vgl. die Kapitel 12, 13 und 14. Auf das Lutherkapitel wurde bereits in der Darstellung von Ottos Luther­deutung ausführlich eingegangen, weshalb es hier nicht nochmals vorgestellt werden muss. Vgl. oben im Zweiten Teil, Kap. II, 1.2. 738  DH23–25, 92 f. 739 Vgl. DH23–25, 92. 740 Zu den »Entwicklungen« innerhalb des numinosen Gefühls vgl. DH23–25, 134–136 (Kapitel 15).

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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Gleiches gilt bei Otto erstrecht für das Neue Testament, wo nach seiner Meinung das religiöse Gefühl in geradezu höchster Form zur Anschauung kommt und zugleich durch Ideogramme rationalisiert wird. Mehr noch als das Alte Testament ist nach Ottos Auffassung das Neue Testament gerade nicht als Sammlung von Analogien des numinosen Gefühls zu verstehen, sondern es wird förmlich als ein »Ausdrucksuniversum« echten religiösen Erlebens dargestellt.741 Die Analogie profaner natürlicher Angstgefühle gegenüber dem numinosen »mysterium tremendum« steht folglich nach Ottos Auffassung insbesondere im Falle Jesu eher im Hintergrund: Das religiöse Erleben Jesu spielt sich ebenso wie das Erleben seiner Jünger in der Kategorie numinoser Gefühle ab – gleichwohl die Beschreibung des Erlebten eine hohe Ähnlichkeit mit dem hat, was man für gewöhnlich Angst nennen würde. Als bestes Beispiel und Höhepunkt jenes rein numinosen Angsterlebens als »mysterium tremendum« in der Bibel im Gegensatz zu jeder Form natürlicher Angst kann Ottos Interpretation der synoptischen Gethsemaneperikope gelten, die für Otto förmlich selbst ein »direktes« Anregungsmittel des Numinosen darstellt und in dafür begabten Menschen religiöses Erleben anzuregen imstande ist: »Im Lichte und auf dem Hintergrunde dieses Numinosen mit seinem mysterium und seinem tremendum muß man endlich auch das Ringen Jesu in der Nacht Gethsemane’s sehen um zu begreifen und nachzuerleben, um was es sich hier handelte. Was wirkt dies Zittern und Zagen bis in den Seelengrund, dieses Betrübtsein bis in den Tod und diesen Schweiß der zur Erde rinnt wie Blutstropfen? Gewöhnliche Todesfurcht? Bei dem der dem Tode seit Wochen ins Auge gesehen und der eben klaren Sinnes sein Todesmahl mit seinen Jüngern gehalten hat? Nein, hier ist mehr als Todesfurcht. Hier ist Erschauern der Kreatur vor dem tremendum mysterium, vor dem Rätsel voller Grauen. Die alten Sagen von dem Jahveh der Mose seinen Diener ›überfällt‹ bei der Nacht und von Jakob der ringt mit Gott bis an den Morgen kommen uns zu Sinne als deutende Parallele und Weissagung. ›Er hat mit Gott gerungen und ist oblegen‹, mit dem Gotte des ›Zornes‹ und des ›Grimmes‹, mit dem Numen, das eben doch selber ›Mein Vater‹ ist. – Wahrlich, wer den ›Heiligen Israels‹ auch sonst nicht wiederzufinden glaubt im Gotte des Evangeliums, hier muß er ihn entdecken wenn er überhaupt zu sehen vermag.«742 741 Zu der hermeneutischen Interpretation der Bibel als »Ausdrucksuniversum religiösen Erlebens« mit Bezügen zu Rudolf Otto vgl. Lauster: Zwischen Entzauberung, 31–57. Hier wird vorgeschlagen, die Bibel weniger als eine Sammlung von Formeln und Gleichnissen religiösen Lebens, sondern vielmehr als eine vielschichtige Ausdrucksform religiösen Erlebens zu verstehen. 742 DH23–25, 105 (Hervorhebungen im Original). Jene eindrucksvolle Deutung der Gethsemaneperikope ist seit der ersten Auflage unverändert in DH enthalten. In der christlichen Überlieferungsgeschichte ist die Perikope schon früh besonders auf den Topos der Angst zugespitzt und theologisch gedeutet worden. Bezeichnenderweise wird in Jerusalem die Basilika am mutmaßlichen Ort der biblischen Gartenszene bis heute »Todesangstbasilika« genannt – die besondere Bedeutung des in den synoptischen Evangelien berichteten Angsterlebens für die christliche Tradition und Deutungsgeschichte ist hier geradezu mit Händen zu greifen. Vgl. zur Aktualität der Bedeutung der Angst für die christliche Frömmigkeit in diesem Zusammenhang: Kopp, Gibt es Religion ohne Angst? (Onlineausgabe).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Ottos anschließende Auseinandersetzung mit Paulus liegt ganz auf der Linie des Gesagten: auch hier wird in vielfältiger Weise hinter den Begriffen des »Zornes Gottes«,743 der »Sünde« oder der »Prädestination« ein Erleben beschrieben, dass sich als dezidiert religiöses Erleben trotz seiner äußeren Ähnlichkeit mit der Angst von selbiger als rein numinoses Gefühl unterscheiden lässt.744 In der christlichen Religionsgeschichte wird – ausgehend von ­Luther – dieser Gedanke eindrücklich weiterverfolgt: Gegenüber »den Rationalisierungen der Schullehre« meint Otto neben dem Reformator noch weitere Momente des Irrationalen »in der Nachblüte der abendländischen Mystik auf katholischen und protestantischen Gebiete« verfolgen zu können, bei denen sich – besonders im Falle von Johannes vom Kreuz, Jakob Böhme, Meister Eckhart und anderen  – eben gerade die angstvollen Momente numinosen Erlebens nachweisen lassen.745 Besonders indem er das »Irrational-Furchtbare ja Dämonische des Numinosen in der Mystik Jakob Böhme’s« beschreibt,746 lokalisiert Otto ein Paradebeispiel des »mysterium tremendum« anhand eines Mystikers, der gerade für seine sensible und ausführliche Auseinandersetzung mit der Angst bekannt ist. Die Verbindungslinie zwischen Ottos numinosem »tremendum« und dem Begriff Angst liegt bei Jakob Böhme an dieser Stelle besonders offen zu Tage.747 Und dennoch wird hier zugleich Ottos Weigerung deutlich, das numinose Erleben einfach an den Angstbegriff auszuliefern. Als natürliches Gefühl und indirektes »Anregungsmittel« ist die Angst des Menschen nach Ottos Auffassung bestenfalls eine analoge und impulsgebende Beihilfe oder ein nachklappender »Absenker« dessen, was das eigentlich religiöse Erleben ist und bedeutet. 1.3. Angst und »Scheu« in der Frage nach dem »religiösen Apriori« Ottos Bemühungen um die Ausarbeitung einer Theorie des religiösen Apriori reichen bis in die Entstehungszeit seines Werkes Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie und ihre Anwendung auf die Theologie von 1909 zurück. Die dahinterstehende Debatte basiert in erster Linie auf einer religionsphilosophischen Auseinandersetzung mit Immanuel Kant, die in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts maßgeblich von Ernst Troeltsch angestoßen wurde.748 Mit dem um die Jahrhundertwende vielbeachteten Gedanken eines religiösen Apriori 743

 Vgl. zur besonderen Bedeutung des Motivs des »Zornes Gottes« bei Otto: DH23–25, 20 f. DH23–25, 105–115. Vgl. dazu Feldmeier, Der Heilige, 81–93, insbes. 88. 745 Vgl. hierzu insbesondere DH23–25, 130–133. 746 Vgl. DH23–25, 131. 747 Zur besonderen Bedeutung der Angst bei Böhme auch in Verbindung mit Otto vgl. Schulz, Angst, 496–498. 748  Vgl. hierzu grundlegend Barth, Religionsphilosophisches und geschichtsmethodologisches Apriori, 359–394. Ulrich Barth bezeichnet das Konzept des »religiösen Apriori« geradezu als »Markenzeichen« von Troeltschs Religionsphilosophie überhaupt (a. a. O., 359). Zum religiösen Apriori bei Troeltsch im Bezug zu Otto vgl. Schütte, Religion und Christentum, 3. 744 Vgl.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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versuchte Troeltsch damals insbesondere in Auseinandersetzung mit dem Neukantianismus eine transzendentale Begründung der Religion zu entwerfen, die den empirischen Religionen und ihrer Geschichte eine unableitbare gemeinsame Wurzel zugesteht.749 Es ging in der Debatte um das religiöse Apriori also in erster Linie um ein apologetisches Programm zum Erweis der Selbstständigkeit der Religion gegenüber den reduktionistischen Anfragen und Gegenmodellen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert. Troeltsch hat in diesem Zusammenhang die Religion umfassend gegen positivistische und naturalistische Modelle sowie gegen idealistische Vereinnahmungen zu verteidigen versucht.750 Gegen psychologistisch-naturalistische Interpretationen der Religion als vermeintlich pathologisches Epiphänomen, sowie gleichermaßen gegen spekulativ-abstrakte religionsphilosophische Überformungen der Religion verspricht das transzendentalphilosophische Programm Kants bei Troeltsch die Annahme eines grundlegenden religiösen Prinzips im Sinne eines notwendigen Geltens der Religion. Jede empirische Form der Religion geht demnach auf einen gemeinsamen Kern zurück, der bei Troeltsch im religiösen Bewusstsein als das »in der Religion waltende und sie produzierende Vernunftgesetz« beschrieben wird.751 Der Gedanke eines religiösen Apriori wurde von Otto ebenfalls in Auseinandersetzung mit Kant entworfen – allerdings unter maßgeblicher Hinzunahme der Religionsphilosophie Jakob Friedrich Fries’, Wilhelm Martin Leberecht de Wettes sowie des Friesschülers Ernst Friedrich Apelt.752 Anders als die vergleichsweise abstrakte erkenntnistheoretische Fundierung der Religion bei Troeltsch ist Ottos Konzept des religiösen Apriori, das im Umfeld der Göttinger Neofriesianischen Schule im Gefolge Leonard Nelsons entstand, stärker an den Phänomenen religiösen Erlebens orientiert. Sowohl von Troeltsch selbst, 749 Vgl. hierzu besonders Troeltschs Schrift Die Selbstständigkeit der Religion, erschienen in ZThK 5 (1895), 361–436, ZThK 6 (1869), 71–110 und ZThK 6 (1869), 167–218 (= KGA, Band 1, 364–535). 750 Troeltschs apologetische Bemühungen gehen auf den gleichen akademischen Lehrer zurück, dem auch Otto entscheidende Impulse zur theologischen Apologetik zu verdanken hat: Hermann Schultz. Zu Troeltschs »Programm einer undogmatischen Apologetik« im Zusammenhang mit dem Konzept des religiösen Apriori vgl. ausführlich: Barth, Religionsphilosophisches und geschichtsmethodologisches Apriori, 365 ff. Eben jene apologetische Funktion wurde dem Konzept des religiösen Apriori dann auch in aller Schärfe vorgeworfen. Demnach sieht Karl Bornhausen bei Troeltsch und Otto gleichermaßen einen wissenschaftstheoretischen Etikettenschwindel vorliegen, der für die Theologie den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit auch unter den Bedingungen der Moderne aufrechterhalten soll. Bornhausen moniert, dass durch das Apriori-Programm »die erkenntnistheoretische Fundierung der Religion einen Schein der Exaktheit und Wissenschaftlichkeit bekommen hat, die sie noch nicht besitzt und wahrscheinlich nie besitzen wird« (vgl. Bornhausen, Das religiöse Apriori, 193). 751 Vgl. die für den Gedanken des religiösen Apriori wichtige Schrift von 1905: Troeltsch, Psychologie und Erkenntnistheorie in der Religionswissenschaft, 24. 752 Vgl. zu Ottos Religionsphilosophie insbesondere im Zusammenhang mit der KantischFries’schen Religionsphilosophie von 1909 die Dissertation Tribuljak, Philosophie und Theologie bei Rudolf Otto.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

als auch von kritischen Interpreten wurde daher Ottos Konzept des religiösen Apriori meist als das psychologischere und mehr an der Empirie orientierte Modell verstanden und kritisiert.753 In Ottos Konzept des religiösen Apriori geht es um die Unableitbarkeit, Eigenständigkeit und Ursprünglichkeit der Religion, die sich seiner Meinung nach im religiösen Erleben selbst zeigt und nachweisen lässt. Mehr als in den ausführlichen Abhandlungen Ottos über das religiöse Apriori in seinen früheren Schriften – besonders in seiner Religionsphilosophie von 1909 – ist im Folgenden die Darstellung in Das Heilige maßgeblich, denn hier laufen die Fäden der früheren Untersuchungen zusammen und sind gleichwohl stärker als in den früheren Werken empirisch untermauert.754 Worum geht es Otto konkret? Die Frage, die Otto zu der Annahme eines religiösen Aprioris trieb, ist diejenige nach den Bedingungen und dem Grund religiösen Erlebens. Entgegen jeder Form von Entwicklungslehre, die das Phänomen der Religion aus ihr vorangehenden und sie voraussetzenden Vorstufen und natürlichen Ursachen abzuleiten versucht,755 geht Otto in seiner Behauptung der Ursprünglichkeit und Unableitbarkeit der Religion so weit, dass er sie mit den »reinen Ideen« und »reinen Verstandesbegriffen« Kants im Sinne einer transzendentalen Kategorie vergleicht. Das religiöse Apriori bedeutet demnach – und dies klingt zunächst erstaunlich – in erster Linie die Erfahrungsunabhängigkeit der Religion: 753 Die umfangreiche Debatte um das religiöse Apriori und dessen Bedeutung in den Werken Ottos kann im vorliegenden Zusammenhang nicht erschöpfend dargestellt werden. Es sei daher auf einige wichtige Schlaglichter verwiesen: In der ausführlichen Rezension von Das Heilige zieht Ernst Troeltsch explizit Parallelen von Ottos Studien zur »Selbstständigkeit der Religion« zu seinen eigenen Werken (Troeltsch, Zur Religionsphilosophie, 413). Troeltsch betont das »Übergewicht der Psychologie« in Ottos Untersuchung gegenüber den eher vernachlässigten erkenntnistheoretische Aspekten, die Troeltsch selber in erster Linie interessierten (vgl. zu Troeltschs Kritik an Ottos psychologisch zugespitzten Aprioribegriff, a. a. O., 418 und dazu Laube, Rudolf Otto und die Religionsgeschichtliche Schule, 232 f). Zum Verhältnis des Konzeptes des religiösen Apriori bei Troeltsch und Otto vgl. Bornhausen, Das religiöse Apriori, 193–204 (Troeltsch kritisierend und Otto ablehnend). Späteren Datums ist die ausführliche Abhandlung von Ansgar Paus von 1966 (Paus, Religiöser Erkenntnisgrund) und die kritische Entgegnung auf Paus durch Reinhard Schinzer (Schinzer, Das Religiöse Apriori, 189–207, mit ausführlichen Bezugnahmen auf die unveröffentlichten Vorlesungsmanuskripte Ottos). Zusammenfassend, vgl. Pfleiderer, Theologie als Wirklichkeitswissenschaft, 135 ff. Die besonders heftige Kritik an Ottos Hauptwerk von Friedrich K. Feigel aus den Vierzigerjahren bezieht sich ebenfalls in erster Linie auf das Aprioriproblem mit dem Motiv einer Inschutznahme Kants gegen die Interpretation bzw. Aufnahme durch Otto (vgl. Feigel, Das Heilige). 754 Entgegen der seit Troeltsch immer wieder geäußerten These eines Bruchs im Denken Ottos zwischen KFR und DH wird in der vorliegenden Untersuchung demnach von der u. a. bei Hans-Walter Schütte favorisierten Chronologie in Ottos Werk ausgegangen. Demnach sind die Ausführungen in DH keine Revisionen sondern Weiterführungen bzw. Anwendungen der früheren religionsphilosophischen Überlegungen (vgl. hierzu Schütte, Religion und Christentum, 9 f und dazu SU, 61). 755 Die paradigmatische Gegenposition Ottos ist das von ihm immer wieder leidenschaftlich kritisierte völkerpsychologische Entwicklungsmodell Wilhelm Wundts. Hierauf wird an späterer Stelle einzugehen sein, vgl. unten im Zweiten Teil, Kap. IV, 3.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

273

»Wir werden hier ganz von aller Sinneserfahrung zurückgewiesen auf das was unabhängig von aller ›Wahrnehmung‹ in ›reiner Vernunft‹ im Geiste selber als sein Ursprünglichstes angelegt ist.«756

Gemeint ist hiermit kein Widerspruch gegen Ottos Theorie religiösen Erlebens. Vielmehr geht es um deren Bedingungen, also um die Voraussetzungen der Möglichkeit religiösen Erlebens, die vor jeder Erfahrung, vor jedem Sinneseindruck als Anlage a priori gegeben sein muss, um religiöses Erleben zu ermöglichen. Otto vermutet in jener transzendentalen Voraussetzung ein »höheres Erkenntnisvermögen«, das nicht durch »Sinnes-Eindrücke« hervorgebracht wird, sondern diesen erkenntnistheoretisch vorausgeht und zu Grunde liegt.757 Nicht erst im Nachgang besonderer Erfahrungen werden jene als Begegnungen mit dem Unbedingten, Transzendenten gedeutet. Sondern im Erleben selbst und seinen Gefühlskategorien ist die Deutung schon unmittelbar mitgesetzt und enthalten. Es geht im religiösen Erleben also um ein transzendental Eingestelltsein und Voreingenommensein vor und in allen Erfahrungen bzw. Sinneseindrücken. In welchem Verhältnis steht nun jenes apriorische Erkenntnisvermögen zu empirischen Reizen und Sinneseindrücken, unter die letztlich Emotionen wie Angst und Furcht fallen? Die Antwort, die Otto bietet, ist von fundamentaler Wichtigkeit für seine gesamte Theorie und bedeutet auch für die Verhältnisbestimmung von Angst und Religion einen entscheidenden Gedanken. Otto ist vollkommen klar, dass religiöses Erleben durchaus etwas Sinnliches ist, denn alle empirischen Begegnungen mit dem Heiligen werden in irgendeiner Weise als sinnliche Ereignisse beschrieben. Dennoch betont Otto in aller Deutlichkeit, dass die sinnliche Komponente des religiösen Erlebens weder dessen Voraussetzung noch seine Ursache ist. Was Otto konstatiert, ist vielmehr die Gleichzeitigkeit von numinoser »Erkenntnis« und sinnlicher Erfahrung. Es ereignet sich das a priori angelegte Vermögen numinosen Erkennens nicht »vor« oder »ohne Anregung und Reizung durch weltliche und sinnliche Gegebenheiten und Erfahrnisse sondern in diesen und zwischen diesen«.758 Numinoses Erleben entsteht also nicht in Folge einer sinnlichen Veranlassung, sondern geschieht

756 DH23–25,

137. DH23–25, 138. Unter Bezugnahme auf Ottos unveröffentlichte Manuskripte seiner Glaubenslehrevorlesung kommt Reinhard Schinzer zu einem ganz ähnlichen Schluss: »Otto denkt die Kategorie a priori als Bedingung der Möglichkeit, Gott überhaupt als Gott erkennen zu können« (vgl. Schinzer, Das Religiöse Apriori, 196). Deutlich betont Schinzer dabei die Uneindeutigkeit des a priori Erkannten, das erst in der Wiedererkenntnis an geschichtlichen Erscheinungen vollends erfasst werden und von Fehlinterpretationen gereinigt werden könne: »Für Otto sind Erkenntnisse a priori völlig unzureichend, um Religion wirklich zu begründen«, sie sind laut Schinzer »Vorbedingungen« der eigentlichen Offenbarung, die sich in der Divination ereignet (a. a. O., 197). 758 DH23–25, 138. 757 Vgl.

274

Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

»durch sie« hindurch.759 Das »Gefühl des Numinosen« tritt demnach zwar als sinnliche Erfahrung auf, ja, bleibt sogar laut Otto zuweilen »in das WeltlichSinnliche selber« verflochten und verwoben.760 Jedoch geht das, was das Erlebte zu einem numinosen Erleben macht, eben nicht in jenen sinnlichen Momenten auf, sondern ist von ihnen grundlegend unterschieden. Das Numinose setzt sich schließlich nach Ottos Auffassung sogar dem Sinnlichen »schlechthin« entgegen, indem es »dieses in allmählicher Läuterung von sich stößt«.761 Spätestens hier stellt sich nun die Frage, um was es sich nun bei jenem Numinosen handelt, das sich »der Art nach verschieden« als Moment »rein a priori« von der Sphäre sinnlicher Eindrücke derart kategorisch abhebt.762 Übertragen auf das Phänomen der Angst muss demnach die Frage lauten: Wie hat man sich die von Otto beschriebenen numinosen und a priori angelegten »Erkenntnismomente« vorzustellen, die sich von den sinnlichen Momenten profaner Angst und Furcht abheben und das rein numinose Erleben der religiösen »Scheu« über seine sinnliche Dimension hinaus ausmachen? Otto ist der Meinung, das sich die Frage nach dem religiösen Apriori »durch kritische Selbstbesinnung« geradezu beweisen lässt.763 Gemeint ist damit, dass im religiösen Erleben »seltsame Deutungen und Bewertungen« vor sich gehen, die über die im Erleben mitschwingenden Sinneswahrnehmungen hinausgehen. Otto spricht in diesem Zusammenhang von »eigentümlichen Sinngehalten die selber nicht der sinnes-wahrnehmlichen Welt entnommen sind sondern zu dieser und über diese hinzugedacht werden. Und wie sie nicht Sinnes-wahrnehmungen selber sind so auch keine ›Umwandlugen‹ von Sinnes-wahrnehmungen.«764

Die »qualitativ andere Realitäts-Klasse« des numinosen Gefühls geht also zurück auf einen »verborgenen selbstständigen Quell von Vorstellungs‑ und Gefühlsbildung der unabhängig von Sinneserfahrung im Gemüte selber liegt« – Otto nennt jenen Quell den »Seelengrund«.765 Was genau der Seelengrund ist, den Otto an dieser Stelle eng mit dem Begriff des Geistes verknüpft, ist seiner Auffassung nach »unsagbar«. Er ist eine »verborgene Anlage des menschliche Geistes, die, durch Reize geweckt, wach wird.«766 Es geht beim numinosen Gefühl folglich nicht um eine empirisch besondere Sinneserfahrung, die sich von gewöhnlichen Sinneserfahrungen psychologisch 759 Vgl. DH23–25, 138. Sinneseindrücke sind laut Otto für das numinose Erleben »Reiz und ›Veranlassung‹ daß es selber sich rege« (ebd.). 760 Vgl. DH23–25, 138. 761 Vgl. DH23–25, 138. 762 Vgl. DH23–25, 138. 763  Vgl. DH23–25, 138. 764 DH23–25, 138. 765 Vgl. DH23–25, 139. 766 DH23–25, 140.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

275

unterscheidet, sondern es handelt sich um ein »a priori Eingestelltsein auf etwas«, das – durch Sinneserfahrungen hindurch – einen Sinngehalt freisetzt, der über das empirisch Erfahrene hinausgeht. Der intuitiv erfasste Gegenstand des Erlebten rebelliert demnach förmlich gegen die sinnlichen Erscheinungs‑ und Ausdrucksformen, in denen sich das Erleben vollzieht. Numinose »Scheu« ist also bei Otto nicht in erster Linie durch empirisch-psychologische Merkmale von profaner Angst verschieden, sondern durch die sich in ihr intuitiv vollziehende Deutung und Bewertung, die über den sie womöglich anregenden sinnlichen Reiz hinausgeht. Das religiöse Apriori zeigt sich bei Otto in Gestalt einer nicht näher erklärbaren Veranlagung des Menschen, die ihn  – je nach individueller Ausprägung der Anlage – vor jeder und durch jede Form rationaler Reflexion und sinnlicher Erfahrung auf unsagbare Weise eine Erkenntnis des über die Welt schlechthin hinausgehenden Numinosen selbst gewinnen lässt – im Zuge eines geheimnisvollen Deutungs‑ und Bewertungsvorgangs, der durch das Sinnlich-Natürliche hindurchgeht.767 Die Besonderheit von Ottos Konzept des religiösen Apriori machte schon Hans-Walter Schütte beispielhaft an der Differenz von religiöser »Scheu« und profaner Angst deutlich: »Vergleicht man die Ottosche Darlegung mit dem formalen, vom Stoff weithin absehenden Begriff des religiösen Apriori E. Troeltschs, so dürfte man beinahe sagen, dass Otto die Abstraktheit der Troeltschschen Konstruktion dadurch zu überwinden versucht hat, daß er in der ursprünglichen religiösen Scheu eine konkrete, erlebnismäßige Gestalt des religiösen Apriori aufzuweisen trachtete.«768

Die »Scheu« fungiert also bei Otto geradezu als Anschauungsbeispiel des numinosen Erlebens und seiner apriorischen Wurzeln anhand seiner Unterscheidung von profaner rein sinnlicher Angst. In Momenten des Numinosen wie der »Scheu« oder dem »tremendum« versucht Otto den apriorischen Charakter der Kategorie des Heiligen zu verteidigen gegen die sich in der Geschichte immer wieder ereignende Vermischung, Überformung oder Verwechslung des reinen numinosen Erlebens mit diffusen Momenten natürlicher Angst in nichtreligiösen bzw. pseudoreligiösen Momenten der Kultur: »Durch die Entgegensetzung der »religiösen Scheu« gegen Dämonologie und Magie als Gestalten einer das Verborgene mißbrauchenden Angst bereitet sich die Deutung religiöser Erscheinungen vor, die im »Heiligen« in der Kategorie des Numinosen ihren konsequenten und durchgebildeten Ausdruck gefunden hat.«769

767 Ulrich Barth nennt dies treffend ein »vorbegriffliches Evidenzerlebnis, das keinen anderen Inhalt hat als die Unbedingtheit der in ihm erlebten Wahrheit selbst« (vgl. Barth, Theoriedimensionen, 43). 768 Schütte, Religion und Christentum, 48. 769 Schütte, Religion und Christentum, 48.

276

Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Durch »Scheu« wird ein Mehr erlebt gegenüber der Angst, in der lediglich Natur als Bedrohung erlebt wird. Sehr einleuchtend deutet Schütte hier an, dass es sich nach Otto geradezu um einen Missbrauch handelt, wenn natürliche, auf sinnlichen Reizen beruhende Angst arglos als religiöses Erlebnis vereinnahmt wird.770 Denn Religion individuell oder sogar menschheitsgeschichtlich auf profane Momente von Angst und Furcht zu gründen, kommt schnell einer naturalistischen Relativierung der Religion gleich, die auf ein jenseits sinnlicher Instinkte und Affekte veranlagtes Apriori völlig verzichtet.771 Die Unterscheidung numinoser »Scheu« von natürlicher Angst ist bei Otto also letztlich von transzendentaler Tragweite: Nicht in empirischen Differenzen liegt der Unterschied zwischen beiden, sondern in dem Durchbruch a priori angelegten numinosen Fühlens, der das eigentliche Erleben der »Scheu« und das in ihr wirksame Deutungs‑ und Wertungsgeschehen ausmacht und überhaupt erst ermöglicht. In sinnlich-profaner Angst, die allein auf natürlich-objektive und rational erfassbare Bedrohungsreize gerichtet ist, könnte es – so Otto – zu einer derartigen Deutungsleistung und Sinnerschließung auf ein numinoses Objekt niemals kommen, weil ihr das dahinter stehende a priori wirksame Vermögen fehlt. Geschichtliches Auftreten. Ausfühlich stellt Otto im weiteren Verlauf Momente der Religionsgeschichte dar, in denen das religiöse Apriori in den Formen teils primitiver religiöser Kulte und zuweilen in pseudoreligiösen oder gar magischen und märchenhaften Vorstellungen und Bräuchen greifbar und als Urgrund allen religiösen Fühlens deutlich wird.772 Auch hier spielen Momente der Angst eine herausragende Rolle. An zahlreichen Beispielen macht Otto deutlich, wie auch in scheinbar vor‑ oder nichtreligiösen Vorstellungen, Riten und Gebräuchen Durchbrüche des religiösen Apriori greifbar werden. In Totenkulten, in Märchen und Legenden schildert Otto, wie Momente eines rätselhaften Grauens, einer eigentümlichen »Scheu« aufbrechen, die aus den bedrohlichen, ekligen, erschreckenden oder erregenden Momenten ihres Entstehenszusammenhangs heraus nicht erklärbar sind. Worum es Otto geht, ist also ein Überschuss, der eine intuitive Wertung des Erlebten hervorbringt, die aus dem tatsächlich empirisch Geschehenen nicht gewonnen oder herbeiphantasiert werden kann. Gerade im Kontext der Angst scheint Otto dabei ein Moment der Selbstreinigung und 770  Vgl. Schütte, Religion und Christentum, 48. Reinhard Schinzer spricht in diesem Zusammenhang von dem in der Religionsgeschichte zu beobachtenden Vorgang, dass sich die Numinose Erkenntnis immer wieder auf »falsche Objekte« umlenken lässt und die eigentliche Erfassung des Numinosen verhindert (vgl. Schinzer, Das Religiöse Apriori, 194). Das apriorische Erkennen ist deshalb – so Schinzer – erst dann greifbar und beschreibbar, wenn es in geschichtlichen Phänomenen und sinnlichem Erleben wiedererkannt wird. Erst der Vorgang der Divination lässt demnach das a priori erkannte Numinose im Erleben zum Durchbruch kommen (a. a. O., 195 f). 771 Vgl. hierzu das Kapitel zu Angst und Religion im Ersten Teil dieser Untersuchung. 772 Vgl, DH23–25, 143–159.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

277

Selbstaufklärung der Religion im Auge zu haben: Je mehr sich das reine »mysterium tremendum« in jenen Momenten entfaltet, umso mehr unterscheidet es sich von natürlicher Angst als etwas Artbesonderes, drängt damit die emotionalen wie rationalen Formen und Vorstellungen intuitiv von sich – und erweist so die Apriorizität der Kategorie des Heiligen. Das religiöse Apriori in den Momenten des »Rohen«. Schließlich stellt sich die Frage, welche Momente des Numinosen entwicklungsgeschichtlich den Ursprung und die Entstehung der Religion überhaupt ausmachen. Ottos Konzept des religiösen Apriori geht dabei auch hier von der »Unableitbarkeit« der Religion aus. Auch in ihrer geschichtlichen Entstehung und Entwicklung muss Religion in ihren frühsten und rohsten Entwicklungsstufen schon immer im eigentlichen Sinne »Religion« gewesen sein, denn es gilt für Otto der berühmte Grundsatz: »Religion fängt mit sich selber an und ist selber schon in ihren ›Vorstufen‹ des Mythischen und Dämonischen wirkend.«773 Auch in jenen »rohen« Vorstufen und Urmomenten der Religion versucht Otto konkrete Momente des Numinosen auszumachen und kommt dabei zu einem Resultat, das besonders für die Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion aufschlussreich ist: Als »Erstlings-regung«, die »als das erste im menschlichen Gemütsleben wach wurde«, macht Otto die »numinose Scheu« als Urmoment der Religion aus.774 Nach dem bereits geschilderten Vorgang der Stimulation und Gesellung »der Kette sehr langsam nacheinander einsetzender Reize« entwickelt sich so die Religion aus dunklen und rohen Momenten dämonischer »Scheu« heraus, die für sich genommen noch gar nicht als Religion zu erkennen sind: Sie haben »von Natur aus etwas Bizarres Unverständliches ja oft Fratzenhaftes an sich« und müssen daher – wie Otto sagt – zunächst »eher als Gegenteil von Religion denn als Religion selber aussehen«.775 Religion beginnt demnach mit einem befremdlichen und rohen Erleben der »Scheu«, dem – anders als dem heiligen Schauer des »mysterium tremendum« – noch alle Merkmale feierlicher Erhabenheit und göttlichen Glanzes fehlen. Die Regungen der »dämonischen Scheu« und der mit ihr 773 DH23–25,

160 (kursiv im Original). DH23–25, 160. Unverkennbar ist an dieser Stelle der Bezug Ottos auf Robert Ranulph Marett, der in seinem von Otto geschätzten Klassiker The Threshold of Religion von 1914 die Wurzeln der Religion in rätselhaften und artbesonderen Angstmomenten zu finden meint, für die er den englischen Ausdruck »awe« heranzieht (Vgl. Marett, The Threshold, 13 f). Ganz ähnlich wie in Ottos Konzept der »Kontrastharmonie« sieht Marett im religiösen »awe« keine gewöhnliche Furcht (»fear«) sondern eine Vielzahl von »essential constituents of this elemental mood«, die auch solche Momente einschließen, die Otto mit »fascinans«, »majestas« usw. beschrieb (vgl. a. a. O., 13). Zu Ottos Hervorhebung des englischen »awe« in »seinem tieferen und eigensten Sinn« als numinoses Erleben vgl. DH23–25, 15 und die Ausführungen des Übersetzers von Das Heilige, John Harvey, zur Bedeutung numinoser Begriffe im Englischen (vgl. hierzu Harvey, The Expression of the Numinous in Englisch, 216–220 und DH23–25, 214–216). 775 DH23–25, 160. 774 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

einhergehenden »Begleitmomente[n]« beschreibt Otto wie eine Phänomenologie pathologischer Angst: er spricht von »einer fürchterlichen Autosuggestion, einer Art ›völker-psychologischen‹ Alpdrucks« die dem, was man allgemein unter Religion versteht, vollkommen fremd zu sein scheint.776 Kunstvolle Ausdrucksformen jener dämonischen »Scheu« in Form von Bildern und Figuren, die Otto in hoher Zahl aus aller Welt für die Religionskundliche Sammlung in Marburg zusammentrug, erscheinen seiner Meinung nach geradezu als »Spuk-gebilde einer kranken an einer Art Verfolgungswahn leidenden Elementar-fantasie«, also als furchterregende und groteske Hervorbringungen rohen und diffusen Angsterlebens.777 Die Gefahr, dass die Momente und Ausdrucksformen jener »dämonischen Scheu« als unterste und rohste Regung numinosen Fühlens sehr leicht mit pathologischen Angstneurosen und eben nicht-religiösen Gefühlsmomenten verwechselt werden, wittert Otto auch hier sogleich: »Das ›Rohe‹ liegt weiter in dem nur erst Stoßweisen und Gelegentlichen der ersten Regung. Und sodann in ihrem Undeutlichen das zugleich Veranlassung gibt zu falschen Verwechslungen und Vermischungen mit ›natürlichen‹ Gefühlen.«778

Pointiert zeichnet Otto in diesem Zusammenhang nach, wie die »dämonische Scheu« in Naturreligionen verarbeitet und an Gegenstände oder Naturereignisse gebunden und personifiziert wird. Erst »allmählich« vermag demnach »Rationalisierung Versittlichung und Kultivierung« das Erlebte angemessen zu überführen und in höheren Stufen der Religion adäquat zu reflektieren.779 Dennoch unterstreicht Otto, dass gerade »die erste Regung der dämonischen Scheu ein Moment rein a priori« und damit das entscheidende Urmoment der Religion ist. In ihm geschieht nämlich ein Vorgang, den Otto in Anlehnung an Kant »Apperzeption« nennt: Das Erleben der »Scheu« bedeutet, dass »ich einen Gegenstand als ›grausigen‹ apperzipiere«. Gemeint ist damit das eingangs geschilderte Wertungs‑ und Deutungsgeschehen, das Otto als den eigentlichen Kern des religiösen Erlebens ausmacht. Wird im Erleben der »dämonischen Scheu« etwas als »grausig« erkannt, dann wird – so Otto – dem Erlebten ein »Bedeutungs-prädikat« beigelegt, »das mir die Sinneserfahrung nicht gibt, auch garnicht geben kann, das ich vielmehr spontan ihm beimesse.«780 Dass der Mensch im religiösen Erleben einem sinnlich erfahrenen Gegenstand über die Erfassung von dessen äußerlicher Gestalt hinaus einen »Wertsinn« beilegt, das heißt, in ihm eine intuitive Bewertung als etwas Numinosem vornimmt, führt Otto auf eine »dunkle Idee« zurück, die schon zuvor im Geist veranlagt gewesen sein muss.781 776 Vgl.

DH23–25, 160. DH23–25, 160. Als Beispiel kann das Bild der Gottheit Durgā gelten, das Otto in früheren Auflagen von DH abdrucken ließ (vgl. DH2, 71). 778  DH23–25, 161. 779 DH23–25, 162. 780 Vgl. DH23–25, 162. 781 Vgl. DH23–25, 162. 777 Vgl.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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Ohne jene dunkle Idee würde demnach die Natur immer nur in ihrer Kausalität wahrgenommen und alles Erleben nur rationale Auswertung von Reizen sein. Auch hier wird erneut Ottos Gefühlstheorie zu Grunde gelegt: Das Erleben der dämonischen »Scheu« geht über das emotionale Geschehen hinaus, das mit »natürlichen« Gefühlen von Angst und Furcht einhergeht. Letztere sind bei Otto lediglich Emotionen, also Reaktionen auf rein kausale Reize der Umwelt, ein von sinnlicher Erfahrung Affiziertwerden, während dagegen die »numinose Scheu« eine darüber hinausgehende Erkenntnis, eine intuitive Bewertung und Deutung mit sich bringt, die sich nicht aus dem sinnlich Erlebten ableiten lässt, sondern es förmlich präfiguriert und um eine entscheidende Tiefendimension, ein transzendentales Voreingenommensein erweitert: »Nämlich wie die Freude-am-Angenehmen zugleich aber in deutlicher qualitativer Verschiedenheit und Unableitbarkeit von ihr sich abhebt, ebenso ist das Verhältnis der spezifisch numinosen Scheu zur bloß natürlichen Furcht. –«782

Zwei entscheidende Merkmale zeichnen also das unterste und elementarste Moment der Religion – die »dämonische Scheu« – aus: Zum einen bricht sie unableitbar als artbesonderes Erleben spontan als Gefühl im Sinne einer intuitiven Bewertung und eines »Wertsinns« auf und liegt damit tiefer als sinnliche Erfahrungen wie solche der Angst und Furcht. Zum anderen wird in der Religion jener »Zustand des ›Rohen«« überwunden, indem das irrational im Gefühl Erlebte mit rationalen Momenten angereichert wird und so als Unbegreifliches »in den Bereich des Begreiflichen tritt«.783 In den rohsten und untersten Stufen der Religion werden also nach Ottos Auffassung dunkle Momente der »Angst« lebendig, die im Zuge ihrer Auswicklung und Rationalisierung zugleich als artbesondere und rein numinose Momente des Irrationalen erkannt werden. Sind sie erst in höheren Stufen religiösen Erlebens als »mysterium tremendum« über die rohen Momente der »dämonischen Scheu« hinausgewachsen, stoßen sie die an jene gehefteten urtümlichen Ausdrucksformen naturreligiöser Frömmigkeit und die »Vergötterung von Naturgegenständen« förmlich ab und erheben sich zu jener mystischen Frömmigkeit, die Otto als den Kern der großen Religionen und das eigentliche Wesen der Religion ansieht.784 Sowohl die Verwechslung jener numinosen »Scheu« mit natürlicher Angst und Furcht als auch ihre kultische Anheftung und Verarbeitung in – wie man zur Zeit Ottos noch sagte – »primitiven« und »naiven« Bildern und Ritualen 782 DH23–25,

162. DH23–25, 162 f. 784 Vgl. DH23–25, 161: »Erst allmählich und unter dem Drucke des numinosen Gefühles selber werden solche Verbindungen dann mit der Zeit ›vergeistigt‹ oder schließlich gänzlich abgestoßen, und der dunkle Gehalt des Gefühles der auf überweltliche Wesenheit schlechthin geht tritt dann erst selbstständig und rein ins Licht«. Vgl. ebenso DH23–25, 162: »Der Zustand des ›Rohen‹ wird überwunden indem sich das Numen immer stärker und voller ›offenbart‹, das heißt dem Gemüte und Gefühle sich kund tut.« 783 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

werden in den höheren Stufen der Religion durch deren rationale Elemente gewissermaßen aufgeklärt und ausgeschieden: Es bleibt allein die Annäherung an die reine, im Gefühl sich ereignende intuitive Wertungsleistung der als Geist im Menschen veranlagten Fähigkeit zur Divination als einer Erkenntnis des Heiligen, des »ganz anderen« Numinosen in seiner Unterscheidung von allem Weltlichen. Es ist dies letztlich der Weg vom religiösen Urerlebnis zum hochspekulativen Dogma, den Otto hier nachzuzeichnen versucht. Schematisierung. Schließlich widmet sich Otto noch einem Folgeproblem der Konzeption des religiösen Apriori, nämlich der Frage, wie aus dem a priori veranlagten Erleben der numinosen »Scheu« schließlich rationale und sittliche Religionen und Gottesbilder werden können. Im Kontext von Gefühlen der Angst stellt sich diese Frage besonders drastisch: »Woher diese überraschendste Tatsache der Religions-geschichte, daß Wesen die wie es scheint ursprünglich aus Grauen und Schrecken geboren sind Götter werden: Wesen zu denen man betet, denen man Leid und Glück anvertraut, in denen man Ursprung und Sanktion von Sitte und Gesetz Recht und Rechtskanon erblickt, und dieses alles so daß wo solche Ideen einmal wachgeworden sind es immer zugleich als einfachste einleuchtendste Selbstverständlichkeit verstanden wird daß dem so sei.«785

Für Otto sind offensichtlich die rationalisierten Gottesbilder und kultivierten sittlichen Religionen nicht als eine sekundär zu dem irrationalen Erleben hinzukommende und gleichsam auf das »Rohe« numinose Gefühl aufgepfropfte intellektuelle Deutungsleistung zu verstehen, die aus Aufklärungsbedürfnis oder apologetischem Interesse heraus unternommen wurden. Sondern er sieht eine viel tiefere Verbindung zwischen Rationalem und Irrationalem in der Religion angezeigt, so als seien die rationalen Formen der Religionsgeschichte nicht willkürlich erwogene und kulturell bedingte Kultivierungen religiösen Erlebens, sondern aus dem Erleben heraus sich selber nahelegende, geradezu selbstverständliche Rationalisierungen, die unmittelbar einleuchten und dem Erlebten in gewisser Weise entgegen kommen. Deshalb hält Otto die rationalen Aspekte der Religion – wie das numinose Fühlen selbst – ebenfalls für apriorisch. Es sind bei Otto »sowohl die rationalen wie die irrationalen Momente der komplexen Kategorie ›Heilig‹ Momente a priori.«786 Was sich im religiösen Erleben vollzieht, spricht laut Otto daher für »die Annahme einer dunklen ›synthetischen Erkenntnis a priori‹«, die von einer »wesensnotwendigen Zusammengehörigkeit« der irrationalen und der rationalen Momente in der Komplexkategorie des Heiligen ausgehen lassen.787 Allein mit einer solchen »synthetischen Erkenntnis« in der Religion kann sich Otto erklären, dass in den unterschiedlichsten Religionen der 785 DH23–25,

165 f (Hervorhebung im Original). 165. 787 Vgl. DH23–25, 163. 786 DH23–25,

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

281

Welt und in der Religionsgeschichte überhaupt immer wieder in eindrucksvoller Ähnlichkeit die unter anderem als Angst und Grauen begegnenden »rohen« und ursprünglichsten Momente numinosen Gefühls alsbald zu hochabstrakten oder überaus plastischen, anschaulichen und sittlichen Gottesbildern »schematisiert« werden.788 Auch in vorchristlichen Zeugnissen der Religionsgeschichte – Otto zitiert ausführlich Platon – und besonders in den Schilderungen von Missionaren in Asien und Afrika meint Otto Belege für seine These der »Schematisierung« zu finden: Die uralten und klassischen »Ideen der Einheit und der Güte des Göttlichen« – wenn man so will, die grundlegendsten Schematisierungen der Religion überhaupt – müssen nach Ottos Überzeugung nicht autoritär aufgezwängt oder mühsam erlernt und durch Überzeugungsarbeit angeeignet werden. Sie »haften [sie] oft erstaunlich schnell wenn in den Hörern überhaupt religiöses Gefühl vorhanden ist«, sie leuchten also unmittelbar ein, ohne dass hierfür Argumente nötig wären.789 Für die angstvollen Momente des religiösen Erlebens, sei es in der primitiven Stufe des »Rohen« als »dämonische Scheu« oder in den Momenten des »mysterium tremendum«, kann so deren Schematisierung in der Religionsgeschichte erklärt werden, die sich letztlich auch im Christentum niederschlägt: »Das tremendum, das abdrängende Moment des Numinosen, schematisiert sich durch die rationalen Ideen von Gerechtigkeit sittlichem Willen und Ausschließung des Widersittlichen und wird, so schematisiert, der heilige ›Zorn Gottes‹ den Schrift und christliche Predigt verkündigen«.790

Was »Zorn Gottes« ist, muss also – so könnte man Otto verstehen – ein Missionar seinen Zuhörern gar nicht erklären, sondern er muss es lediglich in Deckung bringen mit dem numinosen Erleben, das die Menschen aller Völker bereits kennen und immer wieder erleben. Die »Schemata« und »Ideogramme«, wie Otto die rationalen Entsprechungen des irrationalen numinosen Gefühls in den Religionen nennt, sind also letztlich keine schlichten kulturellen Verarbeitungsformen des Erlebten, sondern mit dem irrationalen Gefühl a priori zusammentretende und damit auf nicht in Begriffen fassbare Weise verbundene Grundelemente der religiösen Anlage überhaupt. Die im frühen 20. Jahrhundert im Protestantismus intensiv diskutierte Frage nach der »Absolutheit« des Christentums bzw. seiner Überlegenheit über andere Religionen scheint in diesem Zusammenhang bei Otto einer ganz eigenen Lösung zugeführt zu werden. Der Maßstab der Beurteilungen der Religionen untereinander hat demnach weder 788 Vgl.

DH23–25, 165–169. 168. Bemerkenswert ist diese These Ottos besonders im Hinblick auf die Fragen der Mission. Das damals klassische Bild des unzivilisierten Wilden, der im blutrünstigen oder naiven Aberglauben schwelgt, wird hier von Otto deutlich aufgelockert hin zu der Annahme einer allen Menschen eigenen religiösen Uranlage, die zu den Gottesbildern der großen Religionen und deren Ethos förmlich hingezogen wird. 790 DH23–25, 169. Vgl. hierzu auch die ausführliche Schilderung der Schematisierung des »mirum« durch die Idee des Absoluten in DH23–25, 196 f. 789 DH23–25,

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

ein ethischer, noch ein kultureller zu sein, sondern Otto will die »Überlegenheit einer Religion« allein »an einem eigentlich religiösen Maßstabe« messen: Die Höhe einer »Qualitäts‑ Kultur‑ und Menscheits-religion« bemisst sich nach der Ausgewogenheit des Verhältnisses ihrer rationalen und irrationalen Momente. Weder die besonders »rohe« und auf das irrationale Erleben beschränkte Naturreligion, noch die vollkommen dogmatisch rationalisierte oder ethisierte Vernunftreligion sind demnach Religionen von besonderer Güte, sondern es ragen gerade diejenigen Religionen hervor, in denen Rationales und Irrationales »in gesunder und vollkommener Harmonie stehen«.791 Als eine solche und deshalb als »schlechthin überlegene über ihre Schwester-religionen auf der Erde« kann nach Ottos Meinung das Christentum gelten: »Auf tief-irrationalem Grunde erhebt sich der lichte Bau seiner lauteren und klaren Begriffe Gefühle und Erlebnisse. Das Irrationale ist nur sein Grund und Rand und Einschlag, wahrt ihm dadurch stets seine mystische Tiefe und gibt ihm die schweren Töne und Schlagschatten der Mystik ohne daß in ihm Religion zur Mystik selber ausschlägt und auswuchert.«792

Für das Verhältnis von Angst und Religion im Christentum ergibt sich auch hier eine lehrreiche Folgerung: Gerade weil das Christentum – wie Otto ganz offensichtlich meint – im numinosen Erleben insbesondere auch dunkle Momente der »Angst« als seinen irrationalen Grund überhaupt begreifen, bejahen und innerhalb seiner Tradition kultivieren und erhalten kann, indem es jene »dämonische Scheu« und jenes »mysterium tremendum« in ausgewogener Weise in rationale Formen zu gießen und in seine Dogmatik wie in seine religiöse Praxis zu integrieren versteht, hat es als Religion besonders hohen Grades zu gelten. Gerade in Ottos Idee einer apriorischen Verbindung irrationaler und rationaler Momente in der Komplexkategorie des Heiligen stellt sich das Christentum in besonderer Weise als Religion heraus, die Momente der Angst nicht allein der Psychopathologie oder einem diffusen Irrationalismus überlässt, sondern die genuin religiösen Angstmomente von »Scheu« und »tremendum« als elementare Bestandteile, wenn nicht als Wurzeln ihrer selbst begreifen und in rationalen Formen bewahren kann. 1.4. Angst und »Scheu« in Ottos Idee der »Divination« Die letzten Kapitel von Das Heilige dienen der Darstellung des Gedankens der »Wiedererkenntnis des Heiligen selber in seiner Erscheinung«  – Otto nennt diesen Vorgang »Divination«.793 Darunter versteht er jene »Grundüberzeugung 791 Vgl.

DH23–25, 170.  DH23–25, 171. 793 DH23–25, 172. Vgl. zur Divination die Kapitel 20–23. Obwohl Otto bezweifelt, dass Schleiermacher »selber eine eigentlich divinatorische Natur gewesen ist«, sieht Otto in ihm den eigentlichen »Entdecker« der Divination und kommt daher in den letzten Kapiteln seines 792

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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aller Religionen und der Religion selbst«, der zufolge Offenbarung nicht ein Ereignis im Innern des Menschen, im Gewissen, im Herzen, kurz: im menschlichen Bewusstsein ist, sondern dass es »eine äußere Offenbarung des Göttlichen gebe« in Form von Erscheinungen und »Tat-erweisungen« des Heiligen in Form von »Zeichen«.794 Unter Zeichen versteht Otto hier allerdings nicht jene Momente, die er zuvor als Ausdrucksformen des Numinosen beschrieb, denn diese sind – das wurde besonders am Beispiel der Angst deutlich – dem eigentlich gemeinten numinosen Moment nur ähnlich und fungieren als analoge Anregungen im Sinne eines Gleichnisses. Wie Momente des Erhabenen sind letztlich auch alle noch so diffusen Momente rätselhafter und schauervoller Angst nach Ottos Verständnis kein »Zeichen im echten Sinne sondern nur Gelegenheits-ursachen für das religiöse Gefühl sich aus sich selbst zu regen«.795 Angst ist also dem eigentlich numinosen Erleben des »mysterium tremendum« bestenfalls ähnlich, nie aber mit ihm identisch. Otto stellt daher nun nochmals klar, dass eine Identifikation angstvoller Momente des Fürchterlichen, des Schaurigen oder des Unheimlichen mit echtem religiösem Erleben nichts anderes als der Ähnlichkeit mit dem »mysterium tremendum« geschuldete »Verwechslungen« sind. Bloße Ausdrucksformen des Heiligen als tatsächliche und »echte« Erscheinungen des Heiligen zu deuten, ist demnach ein Missverständnis: »eine Verwechslung der Kategorie des Heiligen mit etwas ihr nur äußerlich Entsprechendem, war aber noch nicht echte ›Anamnesis‹, eine echte Wiedererkenntnis des Heiligen selber in seiner Erscheinung.«796

Diese Grundentscheidung Ottos, »echte« von bloß »ähnlicher« Erscheinung zu trennen, wurde bereits mehrfach verdeutlicht und hat gerade für eine theologische Beurteilung der Angst weitreichende Folgen. Momente von Angst und Furcht, die keine rein numinosen Momente sind, können niemals Divinationen sein. Und werden sie dennoch für Erscheinungen des Heiligen gehalten, liegt eine fehlerhafte Verwechslung vor: Profanes wird demnach fälschlicherweise für Heiliges gehalten – Weltliches und Göttliches werden verwechselt.797

Hauptwerks erneut ausführlich auf Schleiermachers Frühwerk zurück (vgl. DH23–25, 179 und im weiteren Kontext besonders DH23–25, 175–188). 794  DH23–25, 172. 795  Vgl. DH23–25, 172. 796 DH23–25, 172. 797 An dieser Stelle ergibt sich eine deutliche Anschlussstelle zu der Ottorezeption Paul Tillichs. Tillich hatte in seiner Aufnahme von Ottos Kategorie des Heiligen besonders stark auf das Problem der Verwechslung von Heiligem und Profanem hingewiesen und hierfür den Begriff des »Dämonischen« gebraucht. Vgl. zum Dämonischen bei Tillich im Kontext seiner an Otto angelehnten Konzeption des Heiligen besonders den Aufsatz Der Begriff des Dämonischen und seine Bedeutung für die Systematische Theologie (Tillich, Der Begriff, GW VIII, 285–291). Der Begriff des Dämonischen ist  – dies wird hier nebenbei deutlich  – bei Tillich deutlich von demjenigen in Ottos Goetherezeption zu unterscheiden.

284

Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Ausführlich führt Otto daher nochmals seine besonders im Anschluss an Schleiermacher und Fries entwickelte Divinationslehre vor, mit der er sich gegen Supranaturalismus und Rationalismus endgültig abzugrenzen versucht.798 Im geheimnisvollen und intuitiven, sich jeder begrifflichen und theoretischen Erfassbarkeit versperrenden kontemplativen Fühlen beschreibt Otto mit der Divination ein Erleben bzw. eine besondere »Erkenntnis«, deren Inhalt es ist, »daß in und am Zeitlichen ein durchschauendes Ewiges, in und am Empirischen ein überempirischer Grund und Sinn der Dinge aufgefaßt wird. Anmutungen sind sie eines Geheimnisvoll-Ahndereichen«.799

Ausführlich meint Otto besonders beim »›Heiden‹ Goethe« auf ganz roher »Vorstufe des Dämonischen« jenes Vermögen zur Divination angelegt und beschrieben zu finden. Nach Ottos Einschätzung verfügt Johann Wolfgang von Goethe in höchster Potenz über die Fähigkeit, das Heilige in seinen Erscheinungen wiederzuerkennen und hat zugleich die Gabe, das Erlebte in vollendeter Poesie zu beschreiben. Was aber »das Dämonische eigentlich sei, woran er es erfühle und woran er es als dasselbe wieder erkenne […] vermag er nicht anzuheben.«800 Goethe scheitert laut Otto also an der Beschreibung und Rationalisierung dessen, was ihn im »bloßen Gefühl, das heißt von einem dunklen Prinzip a priori geleitet« hat.801 Vom Beispiel Goethes, als einer herausragenden divinatorischen Natur, leitet Otto schließlich zum Abschluss von Das Heilige über in seine Christologie und Erlösungslehre, die er anhand des Divinationsbegriffs erläutert. Da hier für den Angstbegriff nur wenig Neues geboten wird und zahlreiche Aspekte bereits in anderen Zusammenhängen dargestellt wurden, seien allein die Grundzüge kurz wiedergegeben: Otto entfaltet seine Christologie und Soteriologie in einem Vergleich der Divination im Urchristentum gegenüber der Divination im Christentum der Gegenwart. Anders als Schleiermacher, der an Christus allein die »Kräftigkeit und Seligkeit seines ›Gottesbewußtseins‹« dargestellt habe, an dem Christen im Glauben teilhaben,802 sieht Otto den »Hauptsinn Christi« darin, nicht nur vorbildhaftes Subjekt der Divination, sondern vielmehr »eigentliches Objekt« der Divination zu sein.803 Nach Ottos Auffassung ist Jesus Christus demnach seit jeher »selber ›das Heilige in Erscheinung‹« und damit »dasjenige in dessen Sein Leben und Lebensbestimmung wir selber spontan das sich offenbarende Walten der Gottheit ›anschauen und fühlen‹.«804 798 DH23–25,

173 ff. 176. 800 DH23–25, 182. 801  DH23–25, 182. 802 Vgl. DH23–25, 183 (kursiv im Original). 803 DH23–25, 182. 804 Vgl. DH23–25, 183. 799 DH23–25,

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

285

Christus ist deshalb kein Beispiel oder Vorreiter religiösen Erlebens und kein vorbildlich divinatorisch Begabter, an dessen Gottesbewusstsein die Christen teilhaben, sondern »Person und Lebensleistung Christi« werden selber als Divination verstanden und erlebt, es wird »das Heilige an ihm selbstständig erlebbar und er somit eine wirkliche Offenbarung desselben«.805 Biographische Erkenntnisse über den historischen Jesus sowie Aussagen über sein Selbstverständnis sind nach Otto demgegenüber nur von untergeordneter Bedeutung.806 Entscheidend ist das Erleben der Anhänger Jesu, von denen laut Otto das Neue Testament berichtet, dass sie in ihm selbst das für sie entscheidende Objekt der Divination erlebten.807 Die entscheidende Aufgabe exegetischer Forschung besteht deshalb für Otto darin, das urchristliche religiöse Erleben der ersten Gemeinde »den abgeflauten Gefühlen und Gefühlsvermögen unserer heutigen entnaivisierten Kultur und Geistesart« nachvollziehbar zu machen oder anzunähern.808 Gerade die Religionskunde erscheint Otto dabei eine wichtige Hilfe zu sein, da sie seiner Meinung nach auch in fremden und sogenannt »primitiveren« Religionskulturen der Gegenwart Momente und Strukturen jener Frömmigkeit zu entdecken und zu erforschen im Stande ist, die noch immer Spuren und gewisse Ähnlichkeiten des antiken Weltbildes und Religionserlebens im Umfeld Jesu in sich tragen.809 Das Moment numinoser »Scheu« ist bezeichnenderweise auch an dieser Stelle Ottos bevorzugtes Beispiel. Dass Jesus selbst für seine Zeitgenossen gerade auch in furchtsamem Schauer und in geheimnisvoller Angst als Erscheinungsform des Heiligen und damit als Offenbarung Gottes selbst erlebt wurde und auch heute noch erlebt werden kann, ist für Otto in den Evangelien eindeutig und eindrucksvoll bezeugt: »Hierher gehört besonders die Stelle Mk. 10,32: καὶ ἦν προάγων αὐτοὺς ὁ Ἰησοῦς καὶ ἐθαμβοῦντο, Oἱ δὲ ἀκολουθοῦντες ἐφοβοῦντο. 805 Vgl.

DH23–25, 183. DH23–25, 183 f. Die hier beschriebenen Zusammenhänge sind schon in der ersten Auflage von DH enthalten. Damit stehen sie zeitlich sehr nah an den brisanten Debatten zur Leben-Jesu-Forschung im frühen 20. Jahrhundert, die Albert Schweitzer in seinem 1906 erstmals erschienenen Klassiker darstellte. Otto selbst ist sogar schon 1902 mit einer Veröffentlichung einiger Vorträge zum Leben und Wirken Jesu hervorgetreten. Bereits hier legt Otto einen deutlichen Schwerpunkt auf die Wirkung der Persönlichkeit, des »Charakters« Jesu und seiner Wirkung auf seine Anhänger (vgl. LWJ, 70–73). 807  Vgl. DH23–25, 184. 808  Vgl. DH23–25, 185. Dem Programm von Ottos berühmtem Marburger Kollegen Rudolf Bultmann, dem es gerade um die Entmythologisierung des Neuen Testaments ging, läuft Ottos Vorhaben demnach diametral entgegen. Dies zeigt sich besonders in den heftigen Kontroversen beider in der Frage der Deutung Jesu in den Dreißigerjahren. Vgl. hierzu die jüngst erschienene Dissertation: Beyer, Streitpunkt ›Jesus‹. 809 Vgl. DH23–25, 185 f. Ottos Reiseerlebnisse und religionskundliche Studien in aller Welt lassen sich in diesem Zusammenhang als eigene Initiative in dieser Richtung deuten, denn Otto stellte in seinen Reiseberichten immer wieder Parallelen zum Urchristentum her, als wolle er in gegenwärtigen Beobachtungen in der Welt der Religionen Typologien des frühen Christentums wiederfinden oder zumindest nachvollziehen. 806 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Sie gibt so schlicht wie stark den Eindruck des Numinosen wieder der von diesem Manne unmittelbar ausging, und keine Kunst der Seelenschilderung könnte es ergreifender tun als diese meisterhaft prägnanten Worte.«810

Die Verben θαμβέω und φοβέομαι drücken im Griechischen staunendes Verwundern und Entsetzen sowie furchtsames Erschaudern aus. Genau also jene Nuancen besonderen Angsterlebens, mit denen Otto die numinosen Momente von »Scheu« und »tremendum« beschrieben findet. Gerade in der Schlichtheit und Randständigkeit des Geschilderten meint Otto umso deutlicher belegt zu sehen, wie in den Jüngern Jesu der »nicht durch Lehre sondern durch Erleben gewonnene Glaube daß er ›der Messias‹ sei, das numinose Wesen schlechthin«, unmittelbar in Alltagssituationen zu Herzen ging. Gerade in seiner Darstellung der Divination macht Otto einmal mehr deutlich, dass das menschliche Gemüt keine »leere Wachstafel« ist, sondern dem Erleben auf geheimnisvolle Weise entgegen kommt als »notwendige Veranlagung für das Erlebnis des Heiligen nämlich die im Geiste angelegte Kategorie des Heiligen selber als dunkle Erkenntnis a priori«.811 Von der Beschreibung der Divination der Urgemeinde wendet sich Otto schließlich der Gegenwart zu.812 Die Vorstellung eines Vorrangs der Zeitgenossen Jesu aufgrund ihrer direkteren und unmittelbareren Begegnung mit Jesus Christus lehnt Otto dabei ab.813 Da der eigentliche Impuls der Divination nach Ottos Auffassung aus dem »Geiste«, aus der religiösen Anlage des Menschen selbst kommt, tritt die historische Situation und der konkret gegebene Gegenstand des Erlebens in seiner Bedeutung zurück. Die »aus dem Herzen des Hörers selber entgegenkommende ahnende Auffassung« gleicht laut Otto demnach die zeitliche und räumliche Ferne zum historischen Jesus und seiner direkten Wirkung und Ausstrahlung auf seine Mitmenschen mehr als aus. Als Paradigma fungiert dabei Paulus, in dem Otto seine Grundannahme bestätigt sieht: Gerade einer, der nur fragmentarisch und indirekt von Jesus erfuhr, kam durch den »Geist von innen her« zu einem Verständnis und einem unmittelbaren Erleben Christi, das alle Jünger und Anhänger Jesu übertraf.814 In diesem Sinne kann Otto sagen, »sind gerade wir Späteren nicht übler sondern besser daran es [das Heilige] in seiner Erscheinung aufzufassen«,815 denn es ist die Divination ein 810 Vgl.

DH23–25, 186 f (Hervorhebung im Original). 188. Der Gedanke der »Kongenialität« des Erlebenden bei Schleiermacher und des »verbo conformis« bei ­Luther wurde bereits beschrieben (vgl. oben u. a. im Zweiten Teil, Kap. II, 1.3.) 812 Vgl. Kap 22, DH23–25, 189 ff. 813 Vgl. DH23–25, 189. Auch hier scheint Otto sich erneut  – wenn auch ohne darauf hinzuweisen – von Schleiermacher abzusetzen, der dem Urchristentum einen besonderen Stellenwert bzw. eine besondere »Reinheit« einräumte. Vgl. zu Schleiermachers Auffassung des Urchristentums Alkier, Urchristentum, 146 ff. 814 Vgl. DH23–25, 190. 815 DH23–25, 196. 811 DH23–25,

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

287

Moment »religiöser Intuition« und kontemplativer Ergriffenheit, der gerade im Abstand zum historischen Geschehen der biblischen Überlieferungen in der »Überschau des Gesamtzusammenhangs« die Mitte der christlichen Erlösungsbotschaft besonders deutlich widerspiegelt.816 Profane Angst kann  – soviel wird hierbei deutlich  – mit Ottos Begriff der Divination nicht in Zusammenhang gebracht werden. Die Vorstellung einer religiösen Deutung profanen Angsterlebens auf einen transzendenten Grund hin, wie sie etwa in Paul Tillichs Kulturtheologie vorgeschlagen wird, ist mit Ottos Idee des religiösen Apriori kaum vereinbar. Bestenfalls als Analogie und als anregende Momente können Otto zufolge natürliche Angst und Furcht in einer gewissen Verbindung stehen zu jenem ἐθαμβοῦντο und ἐφοβοῦντο, das Jene erleben, die – wie Otto sagt – »des Geistes« sind und in rätselhafter numinoser »Scheu« die Anamnesis des Heiligen in seiner Erscheinung erleben.817 1.5. Zusammenfassung: »Natürliche Angst« und »numinose Scheu« in Ottos Das Heilige Nach der Darstellung von Das Heilige vor dem Hintergrund einer theologischen Verhältnisbestimmung von Angst und Religion lassen sich einige zentrale Gedanken nochmals hervorheben. Auch wenn sicher die Geschlossenheit des Werkes und die Bündelung seiner Themen gerade seine eigentliche Leistung sind, so ragt dennoch ein Grundgedanke besonders heraus: Numinose Gefühle sind keine sogenannten »natürlichen« Gefühle, sondern werden als Erkenntnismomente transzendentalen Charakters verstanden. Religiöses Erleben ist demnach von jeder Form der Erfahrung fundamental zu unterscheiden. Jenes genuin religiöse Erleben stellte Otto am Beispiel des Christentums als Paradoxie‑ und Unterscheidungserlebnis dar. A priori wird hierin einerseits die restlose Weltverstrickung, Geschöpflichkeit und Gottesferne des Menschen im »Kreaturgefühl« vergegenwärtigt, zugleich erhebt sich gerade in diesem Gefühl eigenen Unwertes die Erahnung des göttlichen »Ganz anderen«, des unüberbietbaren Wertes schlechthin, der ungemein anziehend als »adhaeresis«, als Gefühl der Teilhabe am Göttlichen erlebt wird. Das Unterscheidungserlebnis der eigenen Kreatürlichkeit und Nichtigkeit im Gegenüber zum göttlichen »Ganz anderen«, die in der Konstratharmonie von »tremendum« und »fascinans« erlebt wird, ist nach Ottos Auffassung letztlich ein Erlösungserlebnis: In der Sprache der christlichen Botschaft wird dem Menschen nicht weniger als »überschwängliches Heil, Befreiung und Überwindung 816

 DH23–25, 196. Erne und Markus Buntfuss sprechen in diesem Zusammenhang treffend von »Familienähnlichkeiten« (vgl. Erne, Affektübertragung, 492 und Buntfuss, Ottos (neu) romantische, 461). 817 Thomas

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

der ›Welt‹, des weltlich-gebundenen Daseins, ja der Kreatürlichkeit überhaupt« zur Gewissheit.818 Entlang der besprochenen vier Abschnitte zu Das Heilige werden nun die wichtigsten Einsichten hinsichtlich des Verhältnisses von Angst und Religion nochmals kurz zusammengestellt: Hinter Ottos Beschreibung der Momente des Numinosen steht letztlich der Gedanke, dass am Anfang der Religion nicht eine Lehre, sondern ein Erleben steht. Die Religion gründet  – dies bezeugen laut Otto die Jahrtausende der Religionsgeschichte in aller Eindrücklichkeit  – im Erleben der Menschen, ist eine Angelegenheit des Gefühls. Dieses wird jedoch nicht in einer besonderen Weise durch die Religionen interpretiert oder personifiziert, sondern es setzt seine Ausdrucksformen und Deutungen schon aus dem Moment des Erlebens selbst heraus und ergießt sich in die kulturellen Ausdrucksformen der Religionsgeschichte. Die Wurzel jenes Erlebens, die Otto in vielfältiger Weise beschrieb, erinnert in zahlreichen Facetten und Spielarten an Angst, stellt sich aber als ein besonderes und von jeder natürlichen Angst verschiedenes Erleben der »Scheu« dar. Begründet wird dies damit, dass sich jene »Scheu« nicht auf eine Bedrohung der Welt richtet, sondern auf die Erkenntnis eines Mysteriums, das der Welt als das »Ganz andere« gegenüber steht. Das Erleben selbst sträubt sich laut Otto gegen seine Deutung als gewöhnliche Angst und lässt den Menschen mit dem Gefühl zurück, dem schlechthin Überweltlichen begegnet zu sein. Dem Mittelteil in Ottos Buch sind die Kapitel zu den Ausdrucksmitteln des Numinosen gewidmet. Sie verbinden die Momente des Numinosen erst eigentlich mit der empirischen Wirklichkeit der Religionen einerseits und der Kultur andererseits. Das im numinosen Erleben begegnende »Etwas«, jenes sich als Kontrastharmonie zwischen »tremendum« und »fascinans« einstellende »Objektgefühl«, stellt sich dem kritischen Auge schnell als ein etwas dar, das dem Begriff »Objekt« eigentlich nicht gerecht wird. Gerade deshalb fällt auf, dass die Religionen außerordentlich sinnliche und in die Natur verwobene, mannigfaltige Ausdrucksformen des ursprünglich irrationalen Erlebens hervorgebracht haben, um jenes »Objektgefühl« trotz der Unfassbarkeit der sich in ihm spiegelnden Unbedingtheit zu schematisieren. Das religiöse Erleben drängt also offensichtlich mit großer Kraft das numinose Mysterium in sinnliche Ausdrucksgestalten, es heftet sich an rein weltliche Orte, Bilder und Emotionen. Das religiöse Erleben scheint selbige geradezu hervorzubringen und kann auch wiederum in ihnen wiedererkannt und wiedererlebt werden. Dennoch bleibt – und das ist die Pointe – ein Emanzipationsmoment des Numinosen bestehen. Angesichts der 818 Vgl.

DH23–25, 191.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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mannigfaltigen sinnlich-weltlichen Formen der Religion kann sich der Fromme nicht des Eindrucks erwehren, dass das Erlebte in jenen natürlichen Ausdrucksformen innerhalb und außerhalb der geschichtlichen Religionen nicht aufgeht. Intuitiv wird erahnt, dass sich das Göttliche in religiösen Orten und Bräuchen geradezu entzieht und unnahbar bleibt. Das im religiösen Erleben erlebte spottet förmlich jeder Beschreibung. Otto erläutert dies anhand von Beispielen heiliger Stätten und Tabus in der Religionsgeschichte, die jene Intuition seiner Auffassung nach zum Ausdruck bringen. Ebenso geheimnisvoll, wie es seine rationalen und natürlichen Formen hervorbringt, drängt das numinose Gefühl offenbar seine Ausdrucksgestalten zugleich von sich und wird als unfassbarer Überschuss erlebt. Es bleibt in allen Momenten der Religion die Ahnung eines »Ganz anderen« haften. Das dahinter stehende Gefühl gleicht seiner äußerlichen Erscheinung nach natürlicher Angst  – jedoch erweist es sich gerade in jenem Moment der Fremdheit und des Sich-Entziehens als etwas Artbesonderes von transzendentaler Qualität. Ebenso wie sich das Irrationale dem Begriff entzieht, entzieht sich die »numinose Scheu« ihrer profanen Verwandten, der Angst. Die Frage nach dem Grund und Wesen des religiösen Erlebens führte auf das Problem des religiösen Apriori, das vor dem Hintergrund der vorliegenden Untersuchung von zentraler Bedeutung ist. Es handelt sich bei Otto hier um die Beschreibung einer im menschlichen Wesen verankerten Anlage, die für den »sensus numinis« überhaupt erst empfänglich macht. Gemeint ist damit konkret die Fähigkeit, im Walten der Welt mehr als nur ihre kausalen Zusammenhänge und Erscheinungsformen zu sehen. Jenes seelische Vermögen, das Otto zuerst in ­Luthers Begriff des »Geistes« und in Schleiermachers »Anschauung und Gefühl« fand, kann er kaum anders als mit Worten und Begriffen beschreiben, die an die platonische Seele erinnern. Es vollzieht sich ein Vorgang der Erkenntnis bzw. der Wiedererkenntnis des Telos und Grundes der Welt. Jenes Vermögen versucht Otto in Anlehnung an Kant gleich einer transzendentalen Kategorie darzustellen als ein »seelisches Urelement«819: Ein a priori Voreingenommensein hinsichtlich der Selbst‑ und Weltdeutung des Menschen. Faktisch geht es Otto darum, dass es anders als bei profaner Angst für das Erleben numinoser »Scheu« einer besonderen Erkenntnisquelle bedarf, denn aus der rein affektiv-emotionalen Erfahrung der Welt und ihrer Kausalzusammenhänge ist kaum auf eine sie umfassende und durchwaltende göttliche Wirklichkeit zu schließen. Es braucht also eine Erkenntnisfähigkeit, die allem Sinnlichen vorausliegt und eine »fromme Weltansicht« in den Sinneseindrücken erst ermöglicht. Strenggenommen meint das religiöse Apriori bei Otto also das, was er schon in seiner Dissertation über ­Luther mit dem Begriff »Geist« zu umschreiben versuchte, nämlich die Fähigkeit zu einem Erleben, das jeder Erfahrung insofern erkenntnistheoretisch voraus819 DH23–25,

151.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

liegt, als es alle sinnlichen Erfahrungen der Welt a priori um eine Tiefe, eine Dimension des Unbedingten bereichert und präfiguriert. Ohne das religiöse Apriori gäbe es – so lautet die These – nur natürliche Angst als Erfahrung von Bedrohung, nicht aber numinose »Scheu«, die strenggenommen gar nicht die Folge eines Reizes, sondern vielmehr ein das Sinnliche durchdringendes, intuitives Erkennen eines alles umgreifenden irrationalen Ganzen ist. Hinter Ottos Gedanken der »Divination« steht letztlich die Frage, ob das Numinose für den Menschen immer ein sich lediglich in den Dingen und Begriffen der Welt als Gleichnis spiegelndes Fremdes bleiben muss, oder ob auch Momente der »Erscheinung« des Heiligen erlebbar sind, in denen es unmittelbar in der Welt wiedererkannt werden kann. Otto entscheidet sich für das Letztere, doch wie ist das möglich? Zunächst muss in einer alten Streitfrage vermittelt werden, nämlich der Frage, wie Divination, also das Erscheinen des Heiligen in der Welt, überhaupt vorstellbar ist. Eine Möglichkeit ist, das erlebte numinose »Objekt« als ein tatsächlich Wirkliches zu verstehen, also als eine von jenseits der Welt in sie hinein handelnde höhere Macht. Die Stärke dieses Modells ist seine offensichtliche Evidenz, denn die Mehrheit aller religiösen Menschen scheint sich ihr Gottesbild genau so vorzustellen: Für sie ist das supranaturale Eingreifen eines Gottes in die Naturgesetze eine Selbstverständlichkeit, die sich offenbar aus dem Erleben heraus nahelegt – eine für die aufgeklärte Religionsphilosophie unangenehme Tatsache. Eine andere Möglichkeit ist es, sich das Erscheinen des Heiligen als einen Vollzug innerhalb des religiösen Bewusstseins des Menschen vorzustellen. Erlebt wird also nicht ein Objekt, sondern es handelt sich um ein »Selbstgefühl«, das erst in einem zweiten Schritt als Objekt vorgestellt wird. Jenen weniger intentionalen, sondern stark selbstreferentiellen Modus religiösen Erlebens meint Otto besonders bei Schleiermacher beschrieben zu sehen. Beide Modelle überzeugen Otto nicht. Sein entscheidendes Argument ist dabei die empirische Wirklichkeit der Religion selbst: Sowohl die supranaturale, als auch die subjektivistische Theorie sind laut Otto dem eigentlichen religiösen Erleben und seinen Ausdrucksformen fremd. Das »religiöse Gefühl selber sträubt sich gegen jene Versteifung und Materialisierung«,820 wie Otto sie in der Annahme eines supranaturalen göttlichen Eingreifens in die Naturkausalität am Werke sieht. Den rationalistischen Versuch, das selektive Eingreifen Gottes in die Natur regelrecht beweisen zu wollen, hält Otto für ein »juridisches Verfahren«, das dem eigentlichen Gefühl und den Gehalten religiösen Erlebens letztlich zuwider läuft. Doch auch das subjektivitätstheoretische Modell geht an der Wirklichkeit der Religionen vorbei, in denen es – so Otto – empirisch gerade nicht um die Ver-

820 DH23–25,

174.

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

291

gegenwärtigung eines »selbstbezüglichen Zuständlichkeitsbewußtseins«821 im Selbstbewusstsein geht, sondern um die intuitiv erfasste Realität eines numinosen Anderen. Ein in erster Linie selbstreferentielles Zuständlichkeitsbewusstsein muss folglich über die eigentlichen Phänomene der Religion hinweggehen, die immerzu Ausdrucksgestalten eines objektiv »von außen« begegnenden Numinosen hervorzubringen meinen. Wird nun behauptet, auch dieses Objektgefühl in den Religionen sei letztlich rein selbstreferentiell, bleibt noch immer die Frage offen, wodurch jenes sekundäre Objektgefühl und überhaupt das religiöse Gefühl dann angestoßen wird. Warum bringt das menschliche Selbstbewusstsein überhaupt Religion hervor und nicht vielmehr nicht? Ottos Antwort mutet geradezu demütig, wenn nicht sogar fromm an: Sie lautet, der eigentliche Vorgang des religiösen Erlebens und die Frage nach der Divination könne nur aus dem Erleben selbst heraus erklärt oder zumindest angedeutet werden. Gemeint ist damit eine Art religionstheoretisches ex opere operato: Allein so wie es erlebt wird, ist das Heilige zu verstehen. Erneut wird hier deutlich, warum Otto sein Buch nur denjenigen Lesern ans Herz legt, die sich auf Momente »religiöser Erregtheit« besinnen können:822 Ohne das religiöse Erleben selbst kann die Reflexion über die Religion nicht nur deshalb nicht ans Ziel führen, weil der Problemgegenstand unbekannt ist, sondern weil überhaupt der Weg der Reflexion dem numinosen Gefühl schon kategorisch nicht gerecht wird. Das religiöse Gefühl ist bei Otto weder ein Reiz, dem erst dann eine religiöse Deutung folgt, noch ist es die Folge eines rationalen Deutungsvorgangs, sondern es ist vielmehr Erkenntnis a priori, also ein Voreingenommen sein vor und in jeder Erfahrung. Religiöses Erleben selbst ist also der Erkenntnisvorgang, der allein das Wesen der Religion erschließen kann. Auch hier ist das Problem der Angst ein hilfreiches Beispiel: Gewöhnliche Angst ist für Otto – soviel wurde deutlich  – eine »Emotion«.823 Das heißt, sie ist die Folge eines Erkennens  – nämlich einer Bedrohung. Numinose »Scheu« hingegen muss demgegenüber etwas gänzlich anderes sein, weil Otto in ihr nicht die Folge von Erkenntnis, sondern die Ursache derselben, bzw. den Erkenntnisvorgang selbst ausmacht. Die Bewertung des Erlebten ist also im religiösen Gefühl immer schon intuitiv mitgesetzt, bevor das Bewusstsein eine sekundäre Deutungsleistung herantragen kann. Nur so kann sich Otto offenbar die empirische Wirklichkeit der Religion erklären: Von den einfachsten Riten und Kultbildern bis hin zur abstraktesten Dogmatik erleben die Menschen die religiösen Ausdrucksmittel weder als willkürliche Erzeugnisse ihrer selbst noch als vom Himmel gefallene Imputationen, 821 Der

Ausdruck stammt aus der sehr erhellenden Darstellung von Ottos Schleiermacherkritik bei Ulrich Barth (vgl. Barth, Theoriedimensionen, 44). 822  Vgl. DH23–25, 8. 823 Der Begriff »Emotion« kommt in Das Heilige nicht vor, spielt aber in den gefühlstheoretischen Überlegungen in West-östliche Mystik eine entscheidende Rolle in der Gegenüberstellung zu Ottos Begriff des »Gefühls« (vgl. hierfür WÖM1, 383–387).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

sondern es umgibt die Religionen der Welt eine für den religiösen Menschen eigentümliche Selbstverständlichkeit, so als erkenne man in den religiösen Ausdrucksformen regelrecht wieder, was im ureigensten Erleben vor aller Reflexion intuitiv schon verinnerlicht war. Die religiöse Anlage befähigt also den Menschen dazu, im Gefühl etwas zu erkennen, was aller empirischen Erfahrung auf eigentümliche Weise voran bzw. durch sie hindurch geht. Es kann daher kaum verwundern, dass dem Erlebenden des »sensus numinis« die Begriffe fehlen, um das Erlebte adäquat zu beschreiben. Allein durch Analogien zu natürlichen Emotionen – wie beispielsweise der Angst – oder durch abstrakte Ideogramme und Begriffe vermag der Mensch anzudeuten und in Ähnlichem zu spiegeln, was er im numinosen Erleben geschaut hat und kaum anders umschreiben kann, als mit dem notdürftigen ontologischen Etikett eines hinter den Dingen waltenden Sinns und eines alles Sein umfassenden Unbedingten. An dieser Stelle kommt Ottos Begriff der Divination wieder ins Spiel. Sie ist letztlich der Name für einen Vorgang, den eigentlich jeder religiöse Mensch nachvollziehen können müsste: Angeregt durch einen natürlichen Anlass wird etwas erlebt, was die vermeintlich anregende Ursache in ihrer Natürlichkeit hinter sich lässt und sich ihr schließlich sogar regelrecht entgegensetzt. An einem natürlichen Reiz, einem Eindruck der Welt wird etwas als tatsächlich wirksam und wahr »wiedererkannt«, was die sich hieraus nahelegenden Begriffe und Spekulationen um das Heilige nur andeuten können. Das im Erleben intuitiv Erkannte sträubt sich förmlich gegen jede Verobjektivierung oder Rationalisierung. Alle Versuche seiner Darstellung und Beschreibung werden dabei dem Erlebten nicht gerecht und müssen letztlich zu der Einsicht führen, dass es sich bei dem im Gefühl begegnenden »Objekt« nicht um ein den übrigen Objekten der Welt vergleichbares, ontologisch fassbares Wesen handelt, sondern um das »Ganz andere«, das allein im Gefühl erkannt wird. Doch es bleibt nicht bei dieser negativen Einsicht in die Unfassbarkeit des Erlebten. Divination ist bei Otto gerade als ein positives Erleben und Erkennen zu verstehen, das gleichwohl rational nur als Paradox beschrieben werden kann. Gerade im Endlichen, Vergänglichen und Weltlichen wird demnach intuitiv das Ganze, Unendliche und Ewige erkannt, das in Begriffen nicht mehr einzuholen ist. Was Otto in ­Luthers Geistbegriff, in Schleiermachers »Anschauung des Universums« und in vielen weiteren Formeln der Geistesgeschichte – z. B. im Werk Goethes – fand, sind folglich andeutende Redeweisen über ein Gefühl, das im Fragment das Ganze, im Zeitlichen das Ewige und im Endlichen das Unendliche, kurz, das Göttliche im Natürlichen erkennen kann als das in allem und durch alles Wirkende und Umfassende. Ottos Hauptwerk Das Heilige kann letztlich als Versuch verstanden werden, den sich im religiösen Erleben intuitiv vollziehenden Moment des Unterscheidens sowohl in den irrationalen Momenten des Erlebens selber, als auch in seinen rationalen Schemata zu beschreiben. Alle Momente des Numinosen  – und in

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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ihnen besonders die »Scheu« – sind demnach intuitive Unterscheidungsmomente, in denen der Mensch im intuitiven Erkennen des Numinosen die in sich beschlossene Endlichkeit und Kausalität der natürlichen Dinge durchbricht und von dem sie durchwaltenden und umfassenden Ganzen gleichsam unterscheidet. Zugleich aber erlebt er sich als in diesem Ganzen restlos aufgehoben. Besonders eindrücklich ist dies besonders deshalb, weil sich dieses Erleben in erster Linie auf den Erlebenden selbst richtet. Die klassischen Begriffe der christlichen Dogmatik versuchen dies abzubilden: Der Begriff der Sünde steht für das Gefühl, das Unendliche im Endlichen zu erkennen und sich selbst dennoch mit jener Endlichkeit verstrickt zu erleben. Der Begriff der Erlösung steht hingegen für den umgekehrten Vorgang, sich gerade in der eigenen Endlichkeit und Kreatürlichkeit als dennoch im unendlichen göttlichen Urgrund aufgehoben zu erleben. Geradezu als ein »Monogramm des ewigen Mysteriums« sieht Otto dies – hier ganz christlicher Theologe – im Kreuz Christi zur Anschauung kommen.824 Das Kreuz ist für Otto zugleich Ausdruck und Ursache der Wiedererkenntnis des Heiligen in der Welt, ist Symbol für Grund und Abgrund zugleich, so wie es zugleich als »fascinans« und »tremendum« erlebt wird. Gleiches gilt ihm von Jesus selbst, in dem Otto – wie die berühmten letzten Zeilen von Das Heilige zeigen  – weder den religiösen Lehrer, noch den Propheten sieht, sondern das vielleicht eindrücklichste »Objekt der Divination« überhaupt: den »Sohn«.825

2. Die Kategorienunterscheidung von Angst und »mysterium tremendum« als Paradigma von Ottos Theorie religiösen Erlebens Ottos berühmte Gretchenfrage, die er im dritten Kapitel seines Hauptwerks implizit an seine Leser stellt, ist als hermeneutische Bedingung zu verstehen. Er unterstellt, dass das Verständnis seiner Ausführungen in den folgenden Kapiteln nur durch die vorherige Besinnung des Lesers auf »eigentümlich religiöse Gefühle« möglich sei: »Wir fordern auf, sich auf einen Moment starker und möglichst einseitiger religiöser Erregtheit zu besinnen. Wer das nicht kann oder wer solche Momente überhaupt nicht hat, ist gebeten, nicht weiter zu lesen«.826

Otto fordert damit eine bemerkenswerte Weichenstellung ein, die möglicherweise an Werke der Erbauungsliteratur erinnern mag: Er bindet die Tragfähigkeit und Relevanz seines theologischen Hauptwerks nicht etwa an religionsphilo824 Vgl.

DH23–25, 200. DH23–25, 205. 826 DH23–25, 8. 825 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

sophische Vorannahmen und theoretische Prolegomena jedweder Art, sondern an das Vermögen seiner Leser, die von ihm geschilderten »Gefühlsmomente« an sich selbst nachzuvollziehen.827 Der Erfolg seiner Schrift hängt damit an der Treffsicherheit seines Versuchs, die beim Leser vorausgesetzten religiösen »Seelen-zustände« adäquat zu beschreiben.828 Obwohl Otto Zeit seines Lebens bedauert haben soll, selber keine ekstatischen Erweckungserlebnisse erfahren zu haben,829 ist es ihm offenbar gelungen, in der ganzen Welt zahlreiche Leser in seinen Annäherungen an die Wirklichkeit religiösen Erlebens tatsächlich anzusprechen und in ihrem Empfinden zu bestätigen.830 Eine herausragende Rolle in der Wirklichkeit der Religion spielen in nahezu allen Kapiteln von Das Heilige Momente, die an Angst erinnern. Dennoch brachte Otto  – wie sich in den vorliegenden Untersuchungen zeigte  – gegenüber den besonders seit dem Ersten Weltkrieg in Literatur und Wissenschaft aufbrechenden Debatten um den Angstbegriff und seiner Bedeutung für die Moderne keinerlei Interesse auf. Ihm ging es gerade um die Wiederentdeckung und Darstellung der Eigenständigkeit der Religion bis in die tiefsten Wurzeln menschlichen Fühlens hinein. Die sich schon in Ottos frühen Studien zu ­Luther und Schleiermacher andeutende transzendentale Kategorienunterscheidung genuin religiösen Angsterlebens von jeder Form natürlicher und profaner Angst war ihm daher unerlässlich.831 Um die aufwändige Darstellung der urtümlichen und tiefsten Momente des Numinosen darzustellen, musste Otto regelrecht eine eigene Sprache erschaffen. Die Darstellungsweise in Ottos Hauptwerk hat in diesem Sinne sicherlich nicht unwesentlich zu dem nachhaltigen Erfolg und der weitreichenden Wirkungsgeschichte von Das Heilige beigetragen. Ottos berühmte Latinismen und Kunstwörter wie das »mysterium tremendum«, die weit über die religionsphilosophischen Fachgrenzen hinaus in den wissenschaftlichen Grundwortschatz eingingen, sind dabei weit mehr als schillernde und wohlklingende Fachtermini. Vielmehr scheint es so zu sein, dass die Eigennamen der numinosen Angst827 Im Umkehrschluss spricht Otto dem – wie wir heute sagen würden – »religiös unmusikalischen« Menschen geradewegs die Fähigkeit ab, »Religionskunde zu treiben« (DH23–25, 8). 828 Vgl. DH23–25, 8. 829  Vgl. Ratschow, Art. Otto, 562. 830  Hierfür kann der herausragende Erfolg von Ottos Hauptwerk als Beleg gelten, der sich auch in zahlreichen Rezensionen wiederspiegelt. Vgl. hierzu besonders die bereits zitierte enthusiastische Bemerkung Adolf von Harnacks (vgl. Harnack, Die Neuheit des Evangeliums, 363). 831 Die beste Darstellung von Ottos Anliegen in seiner besonderen Zuspitzung auf die an Angst erinnernde Dimension religiösen Erlebens hat in jüngster Vergangenheit Roderich Barth in einem Vergleich von Ottos Sündenverständnis mit Paul Ricoeur vorgeführt. Ottos explizite Unterscheidung gewöhnlicher Angst und Ehrfurcht vom numinosen Werterleben im Moment religiöser »Scheu« kommt hier charakteristisch zur Geltung (vgl. Barth, Phänomenologie der Sünde, 111–125).

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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momente wie der »dämonischen Scheu«, des »mysterium tremendum« oder des »mirum« in Sprache und Darstellungsweise selber schon einen entscheidenden Teil der sachlichen Problembewältigung darstellen.832 Der sprachliche Rahmen und der begriffslogische Umgang mit dem Problem des religiösen Erlebens eröffnet zuweilen eine geradezu kontemplative Vermittlungskomponente, deren Ausdruckskraft die Plausibilität des verhandelten Gegenstands erst eigentlich ermöglicht. Damit ist nicht gemeint, dass Ottos Buch als von unsachlichen und schöngeistigen Überblendungen durchzogenes Machwerk diffuser Esoterik anzusehen ist.833 Sprachlicher Populismus und übertriebene Blumigkeit in Denken und Darstellung lagen dem sonst gerade für seine nüchterne Gedankenschärfe und für seine kühle Sachlichkeit bekannten Otto mehr als fern. Die hier vertretene These ist deshalb vielmehr die, dass Ottos Begriffe, Sprache und Darstellungsweise in Das Heilige gerade in ihrer Befremdlichkeit, Eigenständigkeit und ihrer zuweilen archaisch-urtümlichen Färbung in sich gleichnishaft zur Darstellung des sich ebenfalls entziehenden, zuweilen befremdlichen und gleichsam urtümlichen Gegenstandes des Buchs, dem Phänomen religiösen Erlebens und der Idee des Numinosen beitragen.834 Die unableitbare, ja apriorische Eigenständigkeit und Ursprünglichkeit des »mysterium tremendum« im Unterschied zu profanen Angstgefühlen spiegelt sich demnach nicht zufällig in Ottos Begriffs‑ und Stilbildungen wieder, die den beschriebenen Phänomenen der Religion eine ganz besondere Brisanz und Eindrücklichkeit verleihen sollen. Dies wäre aus begriffslogischen Operationen des Angstbegriffs heraus – wie sie beispielsweise 832 Der bemerkenswerteste Versuch, Ottos Hauptwerk insbesondere im Hinblick auf seine Sprache zu untersuchen, stammt von Alan Gibbons (vgl. Gibbons, Religion und Sprache, besonders 59 ff). Auch bei Georg Pfleiderer finden sich Anmerkungen zu Ottos Sprache. Pfleiderer sieht in Ottos Begriffen ein »Sprachspiel« von »archaischer Dignität«, das sich nicht der Spekulation, sondern der »religiösen Lebenswelt selbst« verdankt (vgl. Pfleiderer, Theologie 119 f). Gerade am Beispiel des Angstbegriffs erweist sich Pfleiderers These, Ottos »Analyse des Religiösen« vollziehe sich »wesentlich als Sprachanalyse« (a. a. O., 120), durchaus als plausibel. Hanno Willenborg deutet die Sprache und Begriffe bei Otto analog zu der hier vertretenen These im Kontext der »Kommunikationspsychologie« und bezieht sich dabei besonders auf die Überlegungen von Alan Gibbons und Gerd Theissen (vgl. Willenborg, Das Heilige, 97). Zum Problem des Verhältnisses von Sprache und religiösem Erleben im Anschluss an Otto vgl. außerdem den Beitrag von Leon Schlamm (Schlamm, Numinous Experience and Religious Language, 533–551) und den deutlichen Widerspruch hierzu durch L. Philip Barnes (Barnes, Rudolf Otto and the Limits of Religious Description, 219–230). 833  So wettern Kritiker wie Friedrich K. Feigel, Ottos schriftstellerische Extravaganz vertusche die Schwächen seiner Theologie durch vage Gefühlsduselei und sprachlichen Populismus, wodurch nach dem Ersten Weltkrieg leicht Aufsehen zu erregen gewesen sei (vgl. Feigel, »Das Heilige«, 1–9). Deutlich gegen die Deutung von DH als »Erbauungsbuch« votierte hingegen jüngst Hans Joas in: Joas, Säkulare Heiligkeit, 67. 834 Auch der eigenwillige Sprachduktus Ottos sowie seine sonderbare Orthographie (insbes. in den ersten Auflagen von DH) tragen zu dem Eindruck bei, dass er gerade im Bereich von Sprache und Darstellung einen eigenen Stimmungs‑ und Entfaltungsrahmen schaffen möchte, der mit dem dargestellten Inhalt notwendig korrespondiert bzw. geradezu aus ihm erwachsen ist.

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seit Kierkegaard traditionell in der Unterscheidung von »Angst« und »Furcht« versucht werden – kaum zu leisten gewesen. Ottos Bestreben, in der Ausdrucksform seines Werkes eine geradezu eigene Sphäre des Zugangs zur Annäherung an das Wesen der Religion zu entwerfen, wird schließlich bis in die Zeichensetzung hinein verfolgt: Wo die eigenen Begriffe nicht ausreichen, macht Otto die Unterscheidung natürlicher Angst von numinoser »Scheu« in seinen Schriften durch Anführungszeichen kenntlich. Dass numinose »›Furcht‹ mehr als Furcht ist«, nämlich eine »ganz artbesondere Gefühls-reaktion«, die natürlicher Furcht allenfalls ähnlich bzw. »analogisch« ist,835 wird durch – wie Ottos Kritiker Friedrich K. Feigel es nennt – »numinose Gänsefüßchen«836 hervorgehoben. Wie durch die eigentümlichen Begriffe des »mirum« oder des »tremendum« scheint Otto mit den Anführungszeichen auf die tatsächliche Unmöglichkeit der begrifflichen Fixierung der Dimension des Irrationalen und Überweltlichen und zugleich auf die transzendentalphilosophische Begründungslogik seiner Theorie religiösen Erlebens hinweisen zu wollen.837 Die Gleichnishaftigkeit seiner ganzen Rede vom Numinosen wird so durch ein einschränkendes »Sozusagen« implizit und durchweg präsent gehalten. An dieser Stelle wird auch die Kritik an Otto anzusetzen haben. Wie sich noch zeigen wird, ist Otto gerade jenes Stehenbleiben vor dem religiösen Mysterium und sein Vorstoß in die Tiefen apriorischer Religionsbegründung zum Vorwurf gemacht worden. In seiner virtuosen Sprache und Gefühlstheorie entzieht sich Otto auf eigentümliche Weise den modernen Debatten um das Wesen der Religion im 20. Jahrhundert. Ottos Entwurf wird – auch hinsichtlich des Problems der Angst  – letztlich daran zu messen sein, inwiefern jener Rückzug hinter die Schranken des religiösen Erlebens als eines der Ratio unzugänglichen Mysteriums dennoch dem Aufklärungsbedürfnis der modernen Wissenschaft und zugleich der Wirklichkeit der Religion selbst gerecht wird. Der für eine theologische Deutung der Angst entscheidende Gedanke ist in Das Heilige schließlich der, hinsichtlich pathologischer oder instinkthaft-natürlicher Ängste eigentümlich zurückhaltend zu bleiben. Letztere sind bei Otto offen835 Vgl.

DH23–25, 15. Feigel wirft Otto – wie bereits erwähnt – im Zusammenhang der »numinosen Gänsefüßchen« generell populistische Oberflächlichkeit und begriffliche Schattenfechterei vor, die den seiner Auffassung nach ungerechtfertigten Auflagenerfolg von Das Heilige erklären soll (vgl. Feigel, Das Heilige, 125). Tatsächlich will Otto jedoch mit den eigentümlichen Begriffen wie »mirum«, »tremendum« usw. auf die Unmöglichkeit begrifflicher Fassbarkeit des Irrationalen hinweisen. Die Gänsefüßchen weisen auf die chiffrenhafte Funktion des damit eingerahmten Begriffs hin und schwächen seinen Anspruch, das mit ihm Bezeichnete begrifflich fassen zu können (vgl. hierzu Ottos Begründung der »Gänsefüßchen« in DH23–25, 16). 837  Vgl. DH23–25, 16. Vgl. hierzu auch grundlegend die Untersuchung von Roderich Barth zum Sündenbegriff bei Otto und Ricoeur, besonders auch hinsichtlich der begriffslogischen Differenzierung Ottos im Bezug auf den Begriff Angst im Kontext numinosen Werterlebens (Barth, Phänomenologie der Sünde, 111–125). 836 Friedrich

III. Angst und »mysterium tremendum« in Ottos Hauptwerk Das Heilige

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sichtlich  – wenn sie überhaupt direkt mit Religion zu tun haben  – bestenfalls Gegenstand seelsorgerlicher Praxis, die ihren Ort in den Institutionen von Kirche und Gemeinde hat. Ganz anders liegt die Sache hingegen im Falle der numinosen Angstmomente in »Scheu« und »mysterium tremendum«, die – wie Otto immer wieder betont – Sache des »Geistes« sind, und die nur hat und fühlt, wer des »Geistes ist«. Jene Momente sind nicht – wie natürliche Ängste – Gegenstand der Religion, sondern liegen ihrem Wesen selbst zu Grunde. Hinsichtlich der Frage nach der Berührung von Angst und »Scheu« bleibt Otto oftmals etwas undeutlich. In seiner ausdrücklichen Betonung ihrer qualitativen Artverschiedenheit äußert er sich nur wenig über das nicht zu leugnende Verhältnis beider. Es sei daher versucht, die Ausführungen Ottos an dieser Stelle weiterzudenken: Bei näherem Hinsehen hat Otto eine gewisse Wechselwirkung zwischen Angst und »Scheu« durchaus zugestanden. Durch »Gefühlsgesellung« können sich nach seiner Auffassung numinose und natürliche Angst zuweilen gegenseitig anregen und verstärken. Dass und wie dies vor sich geht, kann man nach Ottos Dafürhalten  – und hier greift erneut die hermeneutische Pointe aus dem Eingangsteil von Das Heilige – mit etwas Bemühen an sich selbst überprüfen: Angst lässt sich laut Otto hinsichtlich ihres Objekts und ihrer natürlichen Verursachung immer irgendwie aufklären und zuweisen. Es klärt sich nach intensiver Selbstbesinnung oder Therapie zumindest theoretisch immer auf, welche natürliche Bedrohung der natürlichen Angst zu Grunde liegt – und sei es eine noch so diffuse oder inhaltsleere Vorstellung von Sinnlosigkeit oder des »Nichts«.838 Numinoses Angsterleben, religiöse »Scheu«, ist hingegen ein Gefühl, das sich auch bei gründlichster Selbstbesinnung nicht auflösen oder aufklären lässt, denn es bleibt bei jeder rationalen Besinnung auf das Erlebte immer ein über das tatsächlich empirisch Erlebte hinausgehendes, spontanes, intuitives und a priori angelegtes Deutungsgeschehen im Raum stehen, das einen Wert erfasst, der aus keinem Weltzusammenhang ableitbar ist und gleichsam über alles Weltliche hinausgeht. Natürliche Angst und numinose »Scheu« stehen also in einem geradezu dialektischen Verhältnis von Anziehung und Abstoßung bzw. von Ähnlichkeit und Befremdlichkeit. Anziehung und Ähnlichkeit werden in dem Moment deutlich, wo natürliches, profanes Angsterleben zum natürlichen »Reiz« und zur Anregung des numinosen »tremendum« wird. Als Analogie wird Angst dem numinosen Erleben so zum anregenden Anlass bzw. zum Gleichnis. Doch die religiöse Anlage des Menschen stößt – dies ist das Moment von Abstoßung und Befremdlichkeit  – jede Ähnlichkeit und Nähe zu profaner Angst und Furcht 838 Vgl. oben die Hinweise auf die Distanz Ottos zu den Entwürfen eines »existentialen« Angstbegriffs im Sinne Heideggers und der Annahme grundlegender »Weltangst«.

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sogleich intuitiv »von sich«839 und führt den Erlebenden in geradezu apriorischer Erkenntnis zur Entlarvung von natürlicher Angst und ihrer Loslösung von religiöser »Scheu« vor dem »Ganz anderen«. Schließlich zeigt sich in Das Heilige erneut, dass es Otto bei der numinosen »Scheu« offenbar um ein intuitives Unterscheidungserlebnis geht. Jedes fromme Unterscheiden des Menschen zwischen Materie und Geist, zwischen Welt und Gott und schließlich zwischen sich selbst und dem »Ganz anderen« nimmt hier intuitiv im Gefühl seinen Ausgang. Jede Regung der Religion  – rational wie irrational  – baut hierauf auf und führt zur Ausbildung der historischen Religionen. Dies ist ein eindeutiges Votum gegen eine pauschale Vereinnahmung jeder Form der Angst durch die Religion. Denn niemals wird eine natürliche Bedrohung oder bloß der diffuse und illusionshafte Gedanke einer solchen im eigentlichen Sinne numinos sein und dementsprechend eine über alles Weltliche hinausgehende Unterscheidung der natürlichen Welt von dem schlechthin Überweltlichen im Gefühl erzeugen können. Vom Weltlich-Natürlichen auf das Göttliche zu schließen läuft dem Gottesgedanken selbst zuwider. Es braucht deshalb – das hat das Buch Das Heilige ausführlich gezeigt – für jede Form der Offenbarung laut Otto ein Erlebnis eigener Qualität, das als Veranlagung a priori zu einer Erkenntnis führt, die im natürlichen Fühlen nicht auf‑ sondern durch es hindurchgeht. Es handelt sich dabei um ein ursprüngliches und ausschließlich religiöses Erleben, das, wo es erlebt wird, zu echten Momenten der Divination führen kann. In Gegenständen, Erscheinungen und Geschehnissen der Welt wird so das Heilige selbst wiedererkannt – auch und besonders im Modus jenes an Angst erinnernden Gefühls der numinosen »Scheu«.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext In der bisherigen Darstellung von Ottos L ­ uther‑ und Schleiermacherdeutung vor dem Hintergrund seines Frühwerks sowie der ausführlichen Erörterung seines Hauptwerks Das Heilige wurden die wichtigsten Punkte in Ottos Interpretation der Angst in ihrem Verhältnis zur Religion deutlich. In seinen umfassenden Werken zu Theologie, Religionsphilosophie und Religionsgeschichte hat Otto seine Theorie der Komplexkategorie des Heiligen mit ihren rein numinosen Momenten angstvollen Erlebens immer wieder zu Sprache gebracht und die Momente des »mysterium tremendum« in ihrer Unterscheidung von – wie Otto es nennt  – »natürlicher« Angst in den unterschiedlichsten Zusammenhängen erörtert. 839 DH23–25,

138.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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An zahlreichen und teilweise auch eher abgelegenen Stellen in Ottos Werk finden sich Konkretionen seiner Idee des »mysterium tremendum«, die das bisher Geschilderte mit unterschiedlichsten Themen und Debatten seiner Zeit in Zusammenhang bringen. Die für eine theologische Verhältnisbestimmung von Angst und Religion in der Moderne interessantesten und für Ottos Gesamtwerk wichtigsten Stellen sollen im Folgenden anhand ausgewählter Themen und Problemzusammenhänge zur Sprache kommen. Es werden dabei auch Werke und Arbeitsfelder aus Ottos Werk thematisiert, die bisher in der Forschung noch kaum zur Kenntnis genommen wurden. Dabei wird versucht, mit der Anordnung der Themen in etwa der zeitlichen Chronologie ihres Ortes in Ottos Gesamtwerk Rechnung zu tragen. Inhaltlich ist in diesem Kapitel eine Vertiefung des bisher dargestellten Problemzusammenhangs zu erwarten. Anhand zahlreicher Beispiele lassen sich hierfür Anwendungsfelder und Weiterführungen von Ottos Konzept der Unterscheidung von Angst und »Scheu« erschließen. Die dahinter stehenden theoretischen Grundlagen entsprechen zwar weitgehend denjenigen der bisher dargestellten Werke, erfahren aber hier eine besonders anschauliche Explikation und Kontextualisierung. Den Anfang bilden einige Überlegungen zu den zahlreichen, teils monatelangen Reisen, die Otto seit seiner Studentenzeit immer wieder unternahm.840 Es folgen Aspekte zum Verhältnis von Angst und Religion in Ottos Auseinandersetzung mit dem modernen Naturalismus und der Evolutionstheorie, wobei insbesondere die Gegenüberstellung Darwins und Goethes eine entscheidende Rolle spielt.841 Grundlegende Impulse verdankt Otto seiner Auseinandersetzung mit der »Völkerpsychologie« Wilhelm Wundts, die auch wichtige Aspekte zum Phänomen der Angst enthält.842 Individuelle Aspekte und empirische Vergleichsstudien zur religiösen Entwicklung des Menschen hat Otto in seinen über mehrere Jahre verfolgten Studien zu religiösen Kindheitserinnerungen erforscht und dabei eine empirische Grundlage für seine Theorie der numinosen »Scheu« zu erarbeiten versucht.843 Schließlich kommen einige Schlaglichter aus Ottos Spätwerk zur Sprache, die gleichsam die Grundlinien seines Lebenswerks und seiner Verhältnisbestimmung von Angst und Religion zusammenfassen.844

840 Vgl.

im Zweiten Teil, Kap. IV, 1.  Vgl. Zweiter Teil, Kap. IV, 2. 842 Vgl. Zweiter Teil, Kap. IV, 3. 843 Vgl. Zweiter Teil, Kap. IV, 4. 844 Vgl. Zweiter Teil, Kap. IV, 5. 841

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1. Die Angst und das Fremde – Das »Ganz andere« in Ottos Reiseerlebnissen Bis zum Zeitpunkt seines Zweiten Theologischen Examens im Jahre 1894, mit dem er das zweijährige Vikariat abschloss,845 hatte Otto bereits erste Auslandsreisen unternommen.846 Die in den nächsten Jahrzehnten noch folgenden und teilweise spektakulären Reisen bis nach Nordafrika, Indien und Japan gehören bis heute zum Kernbestand jeder biographischen Studie über Rudolf Otto.847 Zweifellos ist es daher zutreffend, wenn Ferdinand Kattenbusch angesichts von Ottos Reisetätigkeit schreibt, dieser sei unter den deutschen Theologen »der ›weltbekannteste‹« gewesen.848 Bei seinen Zeitgenossen sorgte die für damalige Zeiten außergewöhnliche Welterfahrenheit Ottos offenbar für Aufsehen. Dies wurde noch verstärkt durch die Veröffentlichung einiger Reisebriefe, in denen Otto eine Auswahl von Reiseerlebnissen stilistisch glänzend anschaulich zu machen verstand.849 Immer wieder wurde daher – offenbar auch durch persönliche Äußerungen Ottos angeregt – über die Bedeutung von Ottos Reisetätigkeit für 845  Den praktischen Teil des Vikariats verbrachte Otto an der deutschen evangelischen Gemeinde in Cannes, die theoretische Ausbildung absolvierte er bis 1894 im Predigerseminar der Hannoverschen Landeskirche auf der Erichsburg in Dassel und schloss mit dem Zweiten Theologischen Examen ab. Vgl. hierzu den selbstverfassten Lebenslauf Ottos von 1898 in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Signatur: 4 II b 96 a, 2–3. 846  Schon auf seinen ersten Reisen hat Otto offenbar Eindrücke gewonnen, die seine Sicht auf Religion und Christentum deutlich beeinflussten. Die Pluralität verschiedener Frömmigkeitsstile sowie die eindrückliche Spiritualität fremder Kulturen und Religionen erweiterte nicht nur sein religionsgeschichtliches Interesse, sondern wirkte auch auf seinen eigenen religiösen Standpunkt zurück. Dies mag andeutungsweise schon für seine erste Reise nach England gelten, die er in den Sommerferien 1889 unternahm: »Da lernte ich weiter unter Wesleyanern Congregationisten, Hoch‑ Breit‑ u. Niederkirchlern, auch Salvationisten, d[a]ß es mancherlei Weisen des christlichen Erkennens gäbe« (Otto, Vita, 5). Besonders eindrücklich war dann die erste mehrwöchige Fernreise mit den Freunden Hackmann und Thimme im Sommer / Herbst 1891 »durch die Alpen, Italien, Griechenland und zurück über Smyrna, Constantin[o]pel, Wien« (vgl. Ottos Brief an das »Brief-Kränzchen« vom 14.–17. 10. 1891, UB Marburg, Ms 797.347). 847  Die beiden wohl bedeutendsten Reisen in Ottos Leben sind besonders nach damaligem Maßstab Weltreisen. Die erste wurde von Oktober 1911 bis Juli 1912 unternommen und führte Otto um die halbe Erde: von Europa bis nach Indien, China, Japan und Sibirien (vgl. hierzu Schinzer, Rudolf Otto, 17 f). Die zweite und zugleich letzte große Reise unternahm Otto von 1927 bis 1928 (teilweise zusammen mit Birger Forell) nach Ceylon, Indien, Ägypten und Palästina. Vgl. generell zu den Reisen Ottos (in Auswahl): Alles, Rudolf Otto. Autobiographical, 61–101, Greschat, Rudolf Otto, 1–8, Ratschow, Art. Otto, 559 f und Schinzer, Rudolf Otto, 6 f, 12 f, 17 f, 24–27. 848 Vgl. Kattenbusch, Die deutsche evangelische Theologie, II, 36. Mit noch mehr Nachdruck schreibt Reinhard Schinzer, Otto sei der »erste Weltreisende unter den Theologen« gewesen (vgl. Schinzer, Rudolf Otto, 3). 849  Die Veröffentlichung einiger Reisebriefe in der Kirchenzeitung Der Hannoversche Sonntagsbote im Jahre 1897 ist zugleich die erste Publikation Ottos überhaupt. Die bekanntesten Reiseberichte Ottos sind aus den Briefen bekannt, die Martin Rade in der Zeitschrift Die Christliche Welt veröffentlichte. Es handelt sich hierbei um Briefe von einer kürzeren Reise, die Otto 1911 nach Nordafrika und Teneriffa unternahm. Das hier beschriebene »Synagogenerleb-

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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sein theologisches Werk spekuliert.850 Auch die angstvollen Momente religiösen Erlebens stehen hiermit in einem gewissen Zusammenhang. Die Bedeutung von Ottos Reisen für sein Denken. Nicht selten wird die Vermutung nahegelegt, Otto habe insbesondere die Idee seiner berühmten Kontrastharmonie des Heiligen als »mysterium tremendum et fascinans« aus spirituellen Begegnungen und Erlebnissen auf seinen Reisen gewonnen.851 Anlass hierfür sind Zeugnisse darüber, dass Otto auf seinen Reisen in fernen Ländern und Kulturen den unterschiedlichsten Stätten und Ereignissen gelebter Frömmigkeit und Liturgie nicht nur als interessierter Zuschauer beiwohnte, sondern vom Erlebten zuweilen ergriffen und tief beeindruck war. Einige Beispiele aus Ottos Reiseerlebnissen, die mit seinem späteren Werk in Zusammenhang gebracht werden, sind immer wieder in diesem Sinne zitiert und interpretiert worden:852 Kaum eine Darstellung über Ottos Leben und Denken kommt ohne die 1911 erlebte, berühmte Episode in einer Synagoge in Mogador aus, wo Otto den Gesang des im Jesajabuch überlieferten Dreimalheilig in besonderer Eindrücklichkeit erlebte.853 Doch auch die Schilderung eines abendlichen Ritts bei Sonnenuntergang in der Umgebung Jerusalems von 1895,854 sowie der Besuch des dreiköpfigen Standbildes »Sadāšiva-Rudra’s« im Felsentempel von Elephanta in Bombay, den Otto auf der letzten großen Reise von 1927/28 besuchte,855 werden als prägende nis« in Mogador zählt zu den berühmtesten Episoden aus Ottos Leben. Vgl. einige dieser Briefe, jüngst neu abgedruckt in: Dietz /Matern, Rudolf Otto, 13–48, ursprünglich in ChW 25, 1911. 850 Zu den Äußerungen Ottos über die Bedeutung seiner Reisen, vgl. u. a. Benz, Rudolf Otto als Theologe, 36 und Heiler, Die Bedeutung, 16. Zur Bedeutung von Reiseberichten für die Religionsforschung am Beispiel Ottos vgl. Beinhauer-Köhler, Rekurs auf Rudolf Otto?, 577–590. 851  Dies wird beispielsweise vertreten in: Benz, Rudolf Otto als Theologe, 36, und bei­ Heiler, Die Bedeutung, 16. 852 Hans-Jürgen Greschat deutet seine Zusammenstellung einiger besonders eindrücklich beschriebener Erlebnisse Ottos als »peak experiences« (Greschat, Rudolf Otto, 7), geht aber nicht so weit, in ihnen eine ekstatische Begegnung mit dem Heiligen zu veranschlagen. Vielmehr wirbt Greschat für Ottos zugewandte Art der Religionskunde, die sich dem Gegenstand, über den sie reflektiert, aussetzt und das Erlebte in ästhetischer Weise zu beschreiben imstande ist. 853 Vgl. Hierzu den berühmten Brief in ChW 25 (1911), 709. Im Anschluss an spätere Äußerungen von Otto selbst resumiert Philip Almond über diese Reise: »This journey is customarily seen, quite properly, as providing the origin of those ideas which were to come to fruition in Das Heilige.« (Almond, Rudolf Otto, 10 f). 854  Vgl. die psychologisierende Interpretation der Szene in Jerusalem als »noumenous experience« in Capps, Men, Religion and Melancholia, 81, im Anschluss an die geschilderten Reiseerlebnisse Ottos bei Almond, Rudolf Otto, 3–24. 855 In seinem Aufsatz Steigende und sinkende Numina von 1932 nennt Otto jenes Bild »das erhabenste Götterbild der Erde« (GÜ, 115) und schrieb darüber in einem Brief: »Nirgends habe ich das Geheimnis des Überweltlichen grandioser und vollkommener ausgedrückt gefunden als in diesen drei Köpfen« (vgl. ChW 52 (1938), 986 und dazu Heiler, Die Bedeutung, 16). Letztlich resümiert Otto über das Erlebnis auf Elephanta: »Diese Stelle zu sehen wäre wahrlich allein eine Reise nach Indien wert und von dem Geiste der Religion, die hier gelebt hat, erfährt man in einer Stunde der Anschauung mehr als aus allen Büchern.« (ChW 52 (1938), 986).

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Erlebnisse Ottos interpretiert. Der Versuchung, Ottos späteres Werk auf derartige Reiseerlebnisse zurückzuführen, ja die Wurzel seines Denkens in ihnen zu veranschlagen, wurde gerne und oft nachgegeben. Jene in der Geistesgeschichte immer wieder zu beobachtende Tendenz, bedeutende Werke an einzelne Erweckungserlebnisse oder Initiationsmomente rückbinden zu wollen, ist jedoch meist verdächtig und mag auch im Falle Ottos von der Nachwelt überzeichnet worden sein.856 Führt man die entscheidenden Ideen und bahnbrechenden Gedanken von Ottos Werk auf wenige Momente der Ergriffenheit und der spirituellen Anteilnahme in fernen Ländern zurück, besteht die Gefahr, den langen theoretischen Weg von Ottos Denken zu unterschätzen oder ganz zu übersehen.857 Reiseerlebnisse gegen theoretische Denkleistung ausspielen zu wollen, ist im Falle Ottos mehr als fragwürdig. Im Übrigen handelte es sich nachweislich bei Ottos Erkundungen nicht um Pilgerreisen oder spirituelle Expeditionen, sondern es standen in erster Linie touristische, diplomatische oder wissenschaftliche Aspekte im Vordergrund seiner Reisen.858 Die zweifellos spirituellen Erlebnisse Ottos in der Ferne sind also – und das macht sie gerade so eindrucksvoll – eher ein womöglich sogar ungesuchter Nebenschauplatz. Die zuweilen auch von Vertrauten Ottos vertretene Ansicht, dieser habe auf seinen Reisen regelrechte Erweckungserlebnisse gehabt, die ihn den Kern seines Werks  – das Numinose  – förmlich schauen ließen, ist letztlich mit Vorsicht 856  Ein Beispiel für jenen Prozess der mutwilligen Rückbindung von Ottos Werk an zuvor gemachte Reiseerlebnisse hat Gregory Alles herausgearbeitet: Alles hält die 1941 veranlasste Edition eines Auszugs aus einem Brief Ottos von einer frühen Reise aus dem Jahr 1891 für den recht offensichtlichen Versuch, Ottos Idee des Heiligen nachträglich in seine frühsten Reiseerlebnisse zurückzudatieren (vgl. Alles, Rudolf Otto. Autobiographical, 100 f). Weniger krass und dennoch nach einem ähnlichen Prinzip verfährt scheinbar die kleine Auswahl von Briefen von Ottos letzter Indienreise, die kurz nach seinem Tod im Jahre 1938 in ChW 52 veröffentlicht wurde. 857 Dem steht außerdem Ottos eigene Einschätzung entgegen. Besonders in DH benennt er ganz konkret die Lektüre ­Luthers, Schleiermachers, Fries’ uvm. als die entscheidenden Quellen und Ausgangspunkte seines Denkens. 858  Entgegen dem in erster Linie touristischen Interesse der frühen Reisen, wurde die Weltreise der Jahre 1911–12 von der Reisestiftung Albert Kahns großzügig finanziert und diente auch dazu, »Bücher und religiöse Bildwerke« zu erwerben (vgl. Ratschow, Art. Otto, 559 f. Umfassende Einblicke in die Reisezuschüsse und Förderungsbedingungen bieten die diesbezüglichen Dokumente und Korrespondenzen Ottos mit dem Universitätskuratorium Göttingen, dem Kuratorium der Stiftung für Auslandsreisen sowie mit dem zuständigen Ministerium im Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Signatur: 4 II b 96 a, 49 ff). Gleiches gilt in noch viel größerem Ausmaß für die Indienreise im Jahre 1927. Auch hier sollte – diesmal im Dienste des Ministers für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung  – fremdes »Kultmaterial« im Wert von vierzigtausend Mark erworben werden und später die Grundlage der Religionskundlichen Sammlung bilden (vgl. hierzu Kraatz, Die religionskundliche Sammlung, 384). Etwas zu weit geht in der kritischen Beurteilung der Reisen hingegen Gregory Alles, der die spirituellen Erlebnisse auf Ottos Reisen als »Legendenbildung« bezeichnet und in erster Linie pragmatische und kulturimperialistische Ziele als Hauptmotive von Ottos Reisen ansieht (vgl. Alles, Die Neugeburt, 49 ff).

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zu beurteilen.859 Vielmehr war es wohl der »Gesamteindruck« der Reiseerlebnisse, der Otto zum eindrucksvollen und reichen Erfahrungsschatz religiöser Stimmungen und Erlebnisse wurde und sich mit seinem theologischen Denken verband.860 In den Reisen entdeckte Otto demnach Anschauungsformen dessen, was ihn theoretisch umtrieb und die eigentliche Materie für die Beschreibung desjenigen, womit er sich theologisch und religionsphilosophisch seit frühsten Jahren beschäftigte. Es war eben nicht nur die »ungewöhnliche Tiefe und Intensität des religiösen Erlebens« an Otto, die ihn zu einem herausragenden Denker der Religion werden ließ,861 sondern die hinzukommende rationale und kühle Reflektionsfähigkeit macht seine Reiseerlebnisse aus, die gerade auch durch vorsichtige Distanznahme zu den erkundeten religiösen Phänomenen geprägt sind.862 Das Zusammentreten von persönlicher Frömmigkeit und Erlebniskraft

859  Dennoch legt Ernst Benz eine solche Vorstellung nahe und beruft sich dabei auf eine persönliche Mitteilung Ottos (vgl. Benz, Rudolf Otto, 36). Demnach liegt Ottos Idee des Heiligen eine »spontane religiöse Erfahrung« zu Grunde, die Otto 1911 beim Gesang des Dreimalheilig in einer Synagoge von Mogador erlebte. Ähnlich beurteilt dies Friedrich Heiler. Er sieht ebenfalls das Erlebnis in Mogador, sowie Ottos Besuch des Shiva von Elephanta als zentrale Erlebnisse für Ottos Leben und Werk an (vgl. Heiler, Die Bedeutung, 15 f). Heinrich Frick erinnert sich in seiner Rede am Sarg Ottos, dieser habe die Szene in Mogador »geradezu als die Entdeckungsstunde seines Verständnisses vom Heiligen bezeichnet und mit rührenden Worten beschrieben« (Frick, Rede am Sarge, 5 f). 860  Vgl. Schinzer, Rudolf Otto, 17 und Boozer, Rudolf Otto, 366 f. Reinhard Schinzer, der den ausführlichsten biographischen Bericht über Ottos Reisen bietet, weist darauf hin, dass besonders die frühe Reise von 1891 eher von allgemeinem und touristischem Interesse gewesen sei. Auch in darauffolgenden Reisen habe der Schwerpunkt besonders auf Naturbetrachtungen im Stil klassischer Reisetagebücher gelegen und keinen besonderen Schwerpunkt auf die Religion erkennen lassen (vgl. Schinzer, a. a. O., 6). Erst in späteren Reisen sieht Schinzer bei Otto einen Wandel hin zum Versuch, »Theologie als Gefühlsanalyse zu treiben« (vgl. a. a. O., 9). Vgl. auch die Ausfrührungen in: Boeke, Rudolf Otto, 133–137. Rudolf Boeke bezeichnet Otto als Persönlichkeit, die den »unmittelbaren Zugang zur göttlichen Wirklichkeit« suchte (a. a. O., 137). Gleichwohl zeigt sich Ottos ausgeprägte »Einfühlungsfähigkeit« in seiner religionskundlichen Arbeit auch an eindrucksvollen Einzelerlebnissen, wie Gustav Mensching deutlich macht (vgl. Mensching, Rudolf Otto, 50). 861 Vgl. Wach, Rudolf Otto, 209. Joachim Wach äußert die die Hypothese, Otto hätte – wäre er nicht für die intellektuell-akademische Reflexion und Darstellung seiner Theorie begabt gewesen – dennoch allein durch den »rein persönlichen Ausdruck seines religiösen Erlebens« gleich einem religiösen Schriftsteller oder Poeten zu einem Markstein der »Geschichte der Frömmigkeit« werden können. 862 Dies zeigt sich, wenn Otto das Erkundete zuweilen geradezu ironisch darstellt, galant historisch-kritische Anmerkungen einstreut und damit stets in der religionskundlichen Beobachterrolle verharrt. Ein Beispiel hierfür sind die berühmten Briefe in Die Christliche Welt aus dem Jahre 1911: Die hier beschriebenen heiligen Stätten auf Teneriffa, die Otto zwar beeindruckten und ihn über »die Spaltung des einen Numen in die zahllose Menge seiner ›Erscheinungen‹« und die Lehre der »ubiquitas« des Göttlichen bei ­Luther nachsinnen ließ, hielten ihn nicht davon ab, zugleich die erkundeten Kapellen und Wallfahrtsorte durch sachliche Überlegungen zu entzaubern oder zuweilen geradezu spöttisch in ihrer naiven Volksfrömmigkeit zu verulken. Vgl. hierzu beispielsweise den Brief aus Candelaria, in ChW 26, 606.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

mit nüchterner Religionsphilosophie und Religionskunde macht folglich Ottos Reiseerfahrungen und letztlich überhaupt sein ganzes Lebenswerk aus. Reisen und religiöses Erleben der »Scheu«. Im Zusammenhang der Reiseerlebnisse Ottos liegt es nicht fern zu überlegen, inwiefern nicht besonders auch gerade die in der vorliegenden Untersuchung interessierende Dimension religiösen Angsterlebens eine gewisse Wurzel in Ottos Erfahrungen und Anschauungen in fernen Ländern haben könnte. Eine für diese Frage interessante These hat Uwe Stenglein-Hektor vorgelegt, der eine frömmigkeitsgeschichtliche Deutung von Ottos Reisen vorschlägt.863 Stenglein-Hektor hält die These, Otto habe ein herausragendes einziges Erweckungserlebnis erfahren, im Hinblick auf die zahlreichen Notizen, Tagebücher und Briefe aus dem Nachlass Ottos für abwegig und versucht stattdessen der »wiederkehrenden Typik« hinter den zahlreich überlieferten Erlebnisbeschreibungen Ottos nachzugehen.864 So resümiert Stenglein-Hektor: »Otto erkannte so in der wiederkehrenden Befremdung durch andersartige, religiöse Erscheinungen letztlich das Eigene«.865 Dahinter steht die durchaus schlüssige Vermutung, Ottos Entdeckung der religiösen »Scheu« und des »mysterium tremendum« liege nicht in Schreckmomenten oder Angsterlebnissen angesichts fremder religiöser Praktiken, sondern in dem Fremden selbst, das Otto durch das Erlebte hindurch als den Kern der eigenen Frömmigkeit erlebte. Die religiösen Reiseerlebnisse sind demnach »bewegender Auslöser einer existentiellen Revision christlicher Religion.«866 Was Stenglein-Hektor in seinen nur knappen Ausführungen über Ottos Begegnungen mit dem Heiligen im Fremden andeutet, lässt sich in Ottos Schriften präzisieren, indem man es als Analogie zu dem versteht, was Otto selbst innerhalb und außerhalb des Christentums als Prinzip der »dissimilitas dei« beschrieb,867 als einen Durchbruch des Befremdlichen im Erlebnis des Numinosen: »Die Götterbilder der Welt, auf einen Haufen zusammengebracht, würden an Fantastik, Seltsamkeit und immer anderem Ausdruck des ganz Befremdlichen alle Museen futuristischer Künstler von heute zuschanden machen.«868 863 Auch Stenglein-Hektor votiert gegen eine Deutung des berühmten Synagogenerlebnisses in Mogador als einzigartigem Ursprungs‑ oder »Bekehrungserlebnis« und weist auf die zahllosen Hinweise auf die sensible Begeisterung Ottos für fremde religiöse Bräuche und Riten hin (vgl. Stenglein-Hektor, Religion, 219 f). 864  Vgl. Stenglein-Hektor, Religion, 219 ff. 865 Stenglein-Hektor, Religion, 222 (kursiv im Original). 866 Stenglein-Hektor, Religion, 223. 867 Vgl. den wichtigen und umfangreichen Aufsatz über das »Ganz andere« in GÜ, 212–240. 868 GÜ, 215. Ottos eigenes »Museum« – die von ihm gegründete Religionskundliche Sammlung in Marburg – deren frühste Ausstellungsstücke auf Ottos Reisen und seine in aller Welt erworbenen Artefakte zurückgehen, ist für das Beschriebene ein bis heute eindrucksvolles Zeugnis. Die späten Werke Ottos zeigen, wie wichtig ihm diese Anschauungsmaterialien waren: In fast allen seinen Büchern sind Bilder aus der Marburger Sammlung abgedruckt oder in Verweisen erwähnt.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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Neben Augustinus  – im Gedanken des »aliud valde«  – und Marcion  – im Gedanken des »Distanzgefühles«  – führt Otto in diesem Zusammenhang den von ihm hochgeschätzten Johannes Chrysostomus als Zeugen und zugleich als genialen Schriftsteller des ἀκατάληπτον, des Momentes des »Ganz anderen«, an.869 Eindrücklicher als jemals zuvor macht Otto hier gegen »moralisch-rationale Selbstabwertungen, als Gewissensangst u. dgl.«870 mit Chrysostomus auf die Artbesonderheit religiösen Erlebens als Moment des Unfasslichen und zugleich Abdrängenden im »tremendum« des »Ganz anderen« aufmerksam: »Nirgends ist wohl der sensus numinos als das Gefühl des ›Übernatürlichen‹ mit seiner ›Scheu‹, ja mit seinem Grauen und Erstarren lebhafter und echter nachgefühlt und packender und zwingender geschildert worden als hier.«871

Das von Stenglein-Hektor zitierte Erlebnis einer Auferstehungsfeier in der Grabeskirche in Jerusalem, von dem der noch junge Otto in einem Brief von 1895 berichtet, liest sich in diesem Zusammenhang wie eine Illustrationsfolie zu den Ausführungen über Chrysostomos und Augustinus in Ottos Spätwerk.872 Was Otto in der Grabeskirche beschreibt als »so unbeschreiblich malerisch, phantastisch, interessant, gräßlich, packend, entzückend, alles durcheinander, daß ein Versuch die Sache zu beschreiben, undenkbar wäre […]«873, deutet einen ganz ähnlichen Reigen religiöser Gefühle an, den er später – 1911 – auch in seinem berühmten Synagogenerlebnis in Mogador beschreibt im Gesang des »Kadosch Kadosch Kadosch«, durch den sich ein »feierlicher Schreck« regt und eindringt »in die tiefsten Gründe der Seele, aufregend und rührend mit mächtigem Schauer das Geheimnis des Ueberweltlichen«.874 Auch von seiner letzten Reise nach Indien berichtet Otto in einem Brief über Momente, die an die Kontrastharmonie religiösen Erlebens in Das Heilige erinnern: »Bald ruhig gewaltig, bald schreck-

869 Vgl.

erneut GÜ, 212–240. 236. Otto unterstreicht hier, dass die Momente des ἀκατάληπτον bei Chrysostomos demnach »Natur-reaktionen sind der Kreatur, der ›asthéneia fýseōs‹, gegenüber dem Übersinnlich-Überweltlichen überhaupt«. 871 GÜ, 236. Schon an früherer Stelle zitierte Otto ausführlich Hans Leisegang, der schon 1919 auf den Zusammenhang der Momente »Furcht, Grauen und ehrfürchtige Scheu« vor dem Hintergrund des Fremden in der Religion aufmerksam gemacht hatte (vgl. GÜ, 216). Durch Kursivierungen hebt Otto im Zitat Leisegangs bezeichnenderweise die von ihm bevorzugten Begriffe »Grauen« und »Scheu« hervor und disqualifiziert damit zugleich vorsichtig den Begriff der Furcht, den Otto im Kontext des numinosen Erlebens ja gerade vermeiden will. 872 Vgl. den Briefausschnitt, abgedruckt in Stenglein-Hektor, Religion, 221 f. Der Brief belegt zugleich die oben im Zweiten Teil, Kap. I, 4. geäußerte These, dass Otto schon in frühen Jahren – er war zum Zeitpunkt der beschriebenen Jerusalemreise gerade erst 26 Jahre alt – die Tiefendimensionen religiösen Erlebens reflektierte und auch gerade die angstvollen Momente darin deutlich wahrnahm. 873 Vgl. den Brief vom 11. 4. 1895, ausschnittweise abgedruckt in Stenglein-Hektor, Religion, 221 f. 874 ChW 26, 709. 870 GÜ,

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

haft majestätisch, bald lächelnd gütig« erlebt Otto die dreiköpfige Shiva-Statue auf der Insel Elephanta im Golf von Bombay.875 Die numinosen Angstmomente, die Otto in seinem Hauptwerk in Begriffen wie »Scheu« und »tremendum« von gewöhnlicher Angst und Furcht unterscheidet, scheinen letztlich in zweifacher Weise in seinen Reiseerlebnissen angelegt zu sein: Zum einen ist Otto die ungemein detailreiche und präzise Beschreibung der feinen Schattierungen religiösen Erlebens und besonders der abdrängenden und befremdenden Momente des Numinosen erst aus dem reichen Erfahrungsschatz seiner Reiseerlebnisse möglich. Was er über das »mirum« oder die numinose »Scheu« schreibt, scheint sich in seinen Reiseberichten gleichsam zu spiegeln. Darüber hinaus ist jedoch noch eine weitere Ebene interessant: Otto kann nicht nur aus den faszinierenden Facetten der Eindrücke fremder Religionen Anschauungsmaterial zur Beschreibung religiöser »Scheu« in ihren fremdartigen Spielarten gewinnen, sondern scheint das Erlebte zuweilen als Begegnung mit dem Fremden schlechthin verstanden zu haben. Das eigentümliche Moment des Fremden wird hier als eigentlicher Kern des religiösen Erlebens überhaupt identifiziert und – das ist das Entscheidende – in die eigene Religion übertragen. Inmitten der ureigenen und vertrauten christlich-lutherischen Frömmigkeit wird im schlechthin Fremden das göttliche »Ganz andere« als Grund der Religion überhaupt erkannt.876 Das Moment der Fremdheit ließe sich noch ergänzen durch dasjenige der Dürftigkeit: Nicht nur das Fremde kontrastiert mit dem ganz Eigenen und Innersten sondern auch das Ärmliche und Fragmentarische steht am »dürftigen Orte«877 – wie Otto in der Synagoge von Mogador sagt – der »majestas« und dem »fascinans« des numinosen Erlebens gegenüber. In seiner Trauerrede am Sarg Rudolf Ottos hob Heinrich Frick in diesem Sinne ausdrücklich hervor, gerade in »Armseligkeit und Nichtigkeit« sei Otto das Erleben des Heiligen in besonderer Intensität deutlich geworden und »wegen des Kontrastes immer als der erschütterndste« Eindruck des Heiligen erschienen.878 875 Vgl.

ChW 52, 986 (Brief von 4. 1. 1928). in diesem Sinne leuchtet es ein, dass Uwe Stenglein-Hektor Ottos Reisen als »Pilgerfahrten« apostrophiert (vgl. erneut Stenglein-Hektor, Religion, 219 ff). Es sind keine reinen religionswissenschaftlichen Studien, sondern letztlich besonders Selbststudien: Im Fremden erkundet Otto das eigentliche der Religion, das dann erst im eigenen Glauben und in der christlichen Theologie rational erfasst werden kann. In der Fremde erschließt sich der Kern des Religiösen in den Begriffen der eigenen Religion. Stenglein-Hektor spricht in diesem Zusammenhang sehr treffend von einem »Verhältnis produktiver Spannung« und einer gewissen »Resonanz« zwischen »Binnenperspektive und Außenperspektive« des Christentums bei Otto (vgl. a. a. O., 223). 877  Vgl. ChW 26, 709. 878 Vgl. Frick, Rede am Sarge, 5. Auch hier bezieht sich Frick in erster Linie auf das Synagogenerlebnis in Marokko und schildert die Szene als ein Kontrasterlebnis: »Was für ein Kontrast! Hier dieses jämmerliche Notbauwerk mit einem kleinen Häuflein ebenso jämmerlicher Exis876 Nur

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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Das numinose Angsterleben in den Momenten des »Kreaturgefühls«, der »Scheu«, des »mysterium tremendum« lässt sich so in Ottos Reiseerlebnissen nachzeichnen und zeigt sich auch und gerade hier erneut als Unterscheidungserlebnis: In rührender Ärmlichkeit bricht das Erleben numinoser »majestas« auf, im Fremden und Unzugänglichen wird die unmittelbare Begegnung mit dem Göttlichen und seiner unüberbietbaren Nähe erlebt. Gerade in vermeintlich primitiver, unaufgeklärter und zuweilen naiver gelebter Religion bietet sich Otto ein Blick auf den eigenen christlichen Glauben und die in seiner Tiefe verankerte Kontrastharmonie des Heiligen. Für Ottos Reisen kann also gelten, was ganz ähnlich bereits über seine Sprache und Darstellungsweise in Das Heilige gesagt wurde: Im Fremden und dem Befremdlichen in der Begegnung mit fernen Ländern, Kulturen und Religionen wird die »dissimilitas dei«, das »ἀκατάληπτον« als das Fremde in der eigenen Frömmigkeit freigelegt und  – um es mit einem Terminus Ottos zu sagen  – schematisiert. Das befremdende »Ganz andere« im Kern jeden religiösen Erlebens wird so besonders in der schauervollen und befremdlichen Begegnung mit den Religionen der Welt in aller Eindrücklichkeit erkannt.879 In seiner frömmigkeitsgeschichtlichen Studie zur »Rationalitätskrise« der liberalen Theologie im frühen 20. Jahrhundert hat Uwe Stenglein-Hektor O ­ ttos Reisen und ihre Bedeutung für sein Werk geradezu als Protestbewegung interpretiert.880 Dies deckt sich mit der bereits geschilderten Emanzipationsbewegung Ottos in seiner Göttinger Zeit, die ihn von der liberalen Tradition der Ritschlschule zunehmend Abstand nehmen ließ. Die in Ottos Hauptwerk ausführlich dargestellten und mit reichhaltigem Anschauungsmaterial vorgeführten Momente des Numinosen als Kern und Ursprung der Religion stellen sich in diesem Zusammenhang nicht als rein theoretische Phänomenologie der Religion heraus, sondern als kraftvoller Revitalisierungsversuch der Theologie als einer tenzen, – aber da der aufflammende Lobgesang aus dem Propheten Jesaja […] im flackernden Glanz der Kerzen schien die ganze Majestät des Herrn über Himmel und Erde mitten in unsrer Armseligkeit und Nichtigkeit gegenwärtig zu sein« (ebd.). 879  Ulrich Barth deutet im gleichen Schema das generelle Interesse Ottos an fremden Religionen: »Darum hat die Verwurzelung im Christentum auch nicht seine Neugier auf das Unbekannte, das Fremde beeinträchtigt. Es war eher umgekehrt: Durch die Betrachtung anderer Religionen und ihrer reichen Frömmigkeitspraxis wollte er auch dem christlichen Glauben zu einem tieferen Verständnis seiner selbst verhelfen. Der Blick nach außen sollte die Erlebnisvielfalt der eigenen Religion entdecken helfen.« (vgl. Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 58). 880 Stenglein-Hektor spricht von einer »Neubegründung theologischer Rationalität«, die darin bestehe, dass »der dialektische Wechselbezug zwischen der unverrechenbaren Subjektivität von Religion (Binnenaspekt) und ihrer kommunikativen Mitteilung über die Grenzen der Lebenswelt hinaus (Außenaspekt)« zum Kernproblem theologischen Denkens erhoben werde (vgl. Stenglein-Hektor, Religion, 224, Klammern im Original). Ob Stenglein-Hektor in seiner Darstellung dem Werk Ottos inhaltlich in jeder Hinsicht gerecht wird, bleint an einigen Punkten zu diskutieren. In seiner frömmigkeitsgeschichtlichen Einschätzung der Bedeutung von Ottos Reisen hat er auf jeden Fall einen brisanten Aspekt in der Problemgeschichte der liberalen Theologie des 20. Jahrhunderts herausgearbeitet.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Erfahrungswissenschaft, die aus dem religiösen Erleben selbst lebt und verstanden wird. Die hierbei herausragende Bedeutung religiösen Angsterlebens wird in den überlieferten Reiseerlebnissen Ottos als Moment der »Scheu« in der Begegnung mit dem »Fremden« im religiösen Erleben in einer Lebensfrische und Anschaulichkeit deutlich, die in der protestantischen Theologie der Moderne Ihresgleichen sucht. Im Fremden und Befremdlichen ferner Kulturen und Religionen wird demnach besonders greifbar, was Otto auch in der eigenen Religion, dem lutherischen Christentum, als Kern erkannte: Das bei aller Innerlichkeit und hingebungsvoller Ergriffenheit sich dennoch Entziehende und Befremdliche des Deus absconditus, der als das »Ganz andere« im religiösen Erleben der »Scheu« unmittelbar vergegenwärtigt wird.

2. Angst und Evolution – Ottos Auseinandersetzung mit Darwin und Goethe Schon in den ersten Jahren als Hochschullehrer in Göttingen setzte sich Otto am Beispiel des Evolutionsgedankens ausgiebig mit dem Verhältnis von Geistes‑ und Naturwissenschaft auseinander. Er verfolgte in diesem Zusammenhang ein durchaus apologetisch zu nennendes Interesse,881 denn es ging ihm grundsätzlich um den Erweis der wissenschafts‑ und erkenntnistheoretischen Eigenständigkeit »religiöser Weltansicht« im Gegenüber zu naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Ansätzen seiner Zeit.882 Im Vordergrund stand dabei zunächst die Vermittlung im Streit konkurrierender Methoden und Ansätze im Blick auf die Entstehung und Entwicklung menschlichen Lebens. Ein grundlegendes Problem sah Otto hierbei in den methodischen Vereinseitigungen und in der weltanschaulichen Radikalisierung jener zwei wissenschaftstheoretischen Lager, die er unter den Begriffen »Rationalismus« und »Irrationalismus« zu fassen versuchte.883 Unter »Rationalismus« verstand Otto eine weltanschauliche Übergewichtung geistesgeschichtlicher Traditionen des Aufklärungszeitalters, besonders im Blick auf deren – laut Otto – zu einseitig-spekulative Philosophie und Weltsicht. Demgegenüber versuchte Otto auf unterschiedlichen Ebenen eine irrationale Dimension der Wirklichkeit geltend zu machen, die er insbesondere für die Religion als 881 Schon Ottos Förderer und väterlicher Freund Ferdinand Kattenbusch bemerkte im Blick auf seinen Schützling, dieser habe sich in seiner Göttinger Zeit als »eindringlicher Apologet« hervorgetan (vgl. Kattenbusch, Die deutsche evangelische Theologie, II, 35). 882 Dieses Grundanliegen ist für beide Hauptwerke der Göttinger Zeit (Naturalistische und religiöse Weltansicht von 1904 und Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie von 1909) von zentraler Bedeutung. Vgl. hierzu besonders die konzeptionelle Einleitung zum Problem der »frommen Weltansicht« in NRW3, 1 ff. 883 Vgl. hierzu grundlegend den späten, frühere Einzelstudien zusammenfassenden Aufsatz Rationale Theologie gegen naturalistischen Irrationalismus in SU, 190–225.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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entscheidend erachtete.884 Ottos Hauptwerk über »das Irrationale in der Idee des Göttlichen« – so der Untertitel von Das Heilige – und seine Wertschätzung von »Wiederentdeckern« des Irrationalen im Gefühl wie Zinzendorf oder Schleiermacher sind so zu erklären. Dies bedeutet jedoch nicht, dass Otto dem Rationalen abgeneigt war – ganz im Gegenteil. Letztlich ist Ottos Gesamtwerk durchweg gerade eine Bemühung um das Rationale in Theologie und Philosophie gewesen, dessen begrifflich unzugänglicher und doch andeutbarer Gegenstand das Irrationale ist.885 Ottos Apologetik richtet sich also keineswegs pauschal gegen rationale Theologie oder rationales Denken, sondern vielmehr gegen deren einseitige Verabsolutierung, welche, wenn sie das Irrationale aus dem Blick verliert, zwangsläufig zur rationalistischen Ideologie und damit zum einseitigen Reduktionismus werden muss.886 Unter »Irrationalismus« verstand Otto den Versuch, eine Weltanschauung allein auf sich der Ratio entziehende Momente der Wirklichkeit zu gründen. Auch gegen eine solche Weltsicht wandte sich Otto energisch, insbesondere auf dem Feld der Naturwissenschaften. In seiner damals hochaktuellen Auseinandersetzung mit dem im frühen 20. Jahrhundert vorherrschenden naturalistisch-monistischen Weltbild trat Otto für die Bewahrung einer rationalen Weltsicht im Sinne klassischer-idealistischer Philosophie und Teleologie ein und bekämpfte leidenschaftlich den Gedanken einer irrationalen und blinden Zufälligkeit im Walten der Natur, wie er sich bei vielen Rezipienten von Darwins Evolutionstheorie als Weltanschauung durchzusetzten begann.887 Wie Otto hier argumentiert, ist also durchaus überraschend: Das in der Religion als zentral erachtete Irrationale wird hier im Kontext der Naturwissenschaften als hochproblematisch angesehen. Der Gedanke des Irrationalen ist nach Ottos Verständnis also eine geradezu genuin religiöse Kategorie, die mit dem naturwissenschaftlichen Denken per se nicht zusammenpasst. Das apologetische Programm und Ziel von Ottos Schriften zu Naturalismus und Evolutionstheorie richtete sich in erster Linie gegen eine vulgärdarwinistische Ausweitung von Darwins Evolutionstheorie zu einer irrationalistisch884 Besonders deutlich wurde dies schon in Ottos Schleiermacherdeutung (vgl. oben im Zweiten Teil, Kap. II, 2.). 885 So schreibt Otto im Rückblick, es sei seine Absicht in Das Heilige »gerade eine ›rationale‹ gewesen, nämlich die, den irrationalen Momenten in der Gottesidee zwar ihr Recht wiederzugeben und sie ins Licht zu stellen, aber eben sie ins Licht zu stellen, […] zu charakterisieren und so der Sfäre des Rationalen anzunähern, und zugleich zu zeigen, daß sie der Rand sind an klaren rationalen Momenten, die ebenso zum Gehalte der Gottesidee gehören.« (SU, 190). 886 Im Zusammenhang der gegenwärtigen Debatten um religiösen Fundamentalismus und kreationistische Weltanschauungen erscheint Ottos Projekt erstaunlich aktuell. Vgl. z. B. die jüngst erschiene Arbeit: Peetz, Der Dawkins-Diskurs in der Theologie. 887  Aus der Flut an Publikationen jener Zeit, die durch die enormen Erfolge und Fortschritte naturwissenschaftlicher Entdeckungen und technischer Entwicklung angestoßen wurde, ist im deutschsprachigen Raum besonders das 1899 erschienene Buch Die Welträtsel des Jenaer Zoologen Ernst Haeckel hervorzuheben.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

naturalistischen Weltanschauung, die dennoch zugleich mit dem Anspruch ganzheitlicher Weltdeutung auftritt: »Zur Abwehr und Verteidigung wird unser Unternehmen erst dadurch, daß nicht aus Willkür oder Gottlosigkeit, sondern mit einer hoch zu beschreibenden relativen Notwendigkeit die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse, im Bunde mit andern Überzeugungen und Motiven, sich leicht zu einem eigentümlichen, selbstständigen Ganzen von Weltdeutung zusammenzuschließen trachten, das, wenn es richtig und ausreichend wäre, eine fromme Weltansicht in die Enge treiben oder unmöglich machen würde. Dies selbstständige Ganze ist der Naturalismus. Seiner Angriffe hat fromme Weltansicht verteidigend sich zu wehren.«888

Ottos intensive Auseinandersetzung mit dem Darwinismus und seine als ein gewisses Gegengewicht fungierende Rezeption Goethes spielen sich zwischen den Extremen von Rationalismus und Irrationalismus ab. Sowohl eine rein rationalistische wie eine rein irrationalistische Weltanschauung versucht Otto zu vermeiden und entwirft so ein ganz eigenes Konzept »frommer Weltansicht«, in dem auch das Verhältnis natürlicher und instinkthafter Angst gegenüber religiöser »Scheu« besonders deutlich wird. Seine Grundthese in der Auseinandersetzung mit dem Naturalismus lautet, naturalistische Weltansicht von religiöser und teleologischer Weltansicht grundlegend als zwei vollkommen verschiedene Sphären der Wirklichkeitsbegegnung zu unterscheiden, die in keinem Konkurrenzverhältnis um die Deutungshoheit der Welt stehen dürfen – wie man in den damaligen Debatten um den Monismus zuweilen meinte – sondern produktiv nebeneinander und füreinander arbeiten: »So tritt der Frömmigkeit, mit Gewißheit, die Welt unter teleologische Betrachtung. Und zu einer solchen und in diesem Sinne ist ihr die streng kausale Betrachtungsweise der Naturwissenschaften nicht feindlich sondern sogar nötig.«889

Darwin versus Goethe – Ottos Auseinandersetzung mit dem Darwinismus. Die Auseinandersetzung mit Naturalismus und Evolutionstheorie kann  – betrachtet man allein die Fülle an Publikationen zu diesem Thema – als einer der wichtigsten Schwerpunkte in Ottos Werk angesehen werden.890 Schon in seiner 888 NRW3,

4. 63. 890  Das dies in der Rezeption Ottos in dieser Deutlichkeit nicht wahrgenommen wird, mag daran liegen, dass seine Naturalismusschriften besonders in das Frühwerk der Göttinger Zeit fallen und im späteren Werk – gleichwohl sie in den Aufsatzbänden stets präsent sind – eher ein Randthema bilden. Im Hintergrund seines Denkens ist jedoch die ausführliche Beschäftigung mit Naturalismus und Evolution bei Otto bis ins Spätwerk hinein vor Augen gewesen, was auch in der vorliegenden Studie am Beispiel des Angstbegriffs bei Otto deutlich werden soll. Insgesamt harrt Ottos Werk zum Naturalismus noch der Auswertung – nur ein kurzer Abschnitt widmet sich dem Thema in: Schütte, Religion und Christentum, 31–33. Eine Sichtung des Themas bei Otto hat Hans-Martin Barth unternommen, interessiert sich aber in erster Linie lediglich für die gegenwärtige Anschlussfähigkeit Ottos zur Frage des Widerstreits von Religion und Naturwissenschaft. Ottos Position rekonstruiert Barth vorwiegend aus dem Buch NRW 889 NRW3,

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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Schul‑ und Studienzeit hatte Otto den Widerstreit darwinistischer Evolutionstheorie mit religiösen bzw. schöpfungstheologischen Ansichten als Themenfeld für sich entdeckt.891 Als Erforscher Darwins ist Otto dann seit 1902 mit einer Serie von Aufsätzen hervorgetreten892 und betätigte sich eifrig als Rezensent in der um 1900 lebhaft geführten Naturalismus-Debatte,893 wobei er eine gewisse Nähe zu dem antimonistischen und antidarwinistischen Keplerbund zur Förderung der Naturerkenntnis – einer Gegenbewegung zu Ernst Haeckels Deutschem Monistenbund – erkennen lässt.894 In der Monographie Naturalistische und religiöse Weltansicht von 1904 bündelt Otto schließlich seine Verhältnisbestimmung von Naturalismus und Religion. Die hieraus entwickelte Zusammenfassung und Pointierung als Gegenüberstellung des Darwinismus mit Goethe wurde schließlich bis in Ottos Spätwerk verfolgt und wird den folgenden Überlegungen zu Grunde gelegt.895 und bietet keine werkgeschichtliche Aufarbeitung des Themas (vgl. Barth, Naturalismus, 445–460). Die ausführlichste Studie insbesondere zum Verhältnis von Otto und Darwin wurde jüngst aus religionswissenschaftlicher und emotionspsychologischer Perspektive unternommen von Hanno Willenborg (vgl. Willenborg, Das Heilige, 196–255 sowie Willenborg, Von der Bowling, 625–638). 891  In seiner Examensmeldung erinnert sich Otto an seine Schulzeit: »noch Kinder, stritten wir begeistert u. erbittert genug über Gottessohnschaft u. Schöpfungsbericht, über Darwinismus u. Urzeug[un]g; und ich wartete sehnlich auf die Zeit, wo ich alle d[ie]se Probleme gründlich studieren könnte.« (vgl. Otto, Vita, 3). Im Studium ist Ottos Auseinandersetzung mit Darwin in Form einer Lehrveranstaltung zu »Darwins Theorie« greifbar, die Otto gleich im ersten Studiensemester in Erlangen bei dem Zoologen und Forschungsreisenden Emil Selenka besuchte (vgl. hierzu Ottos Zeugnis zum Abgang von der königlich Bayerischen FriedrichAlexanders Universität Erlangen, Verzeichnis der Vorlesungen (Sommersemester 1888), in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Theol. Prom. 0136, 34). 892  Vgl. die Aufsatzserie in der Zeitschrift Theologische Rundschau: Darwinismus von heute und Theologie I, in: ThR 5 (1902), 483–496, Darwinismus von heute und Theologie II–III, in: ThR 6 (1903), 183–199 und 229–236, sowie Darwinismus von heute und Theologie IV–V, in: ThR 7 (1904), 1–15. Vgl. außerdem die Aufsätze Die mechanistische Lebenstheorie und die Theologie, in:  ZThK  13 (1903), 179–213 und Die Überwindung der mechanistischen Lehre vom Leben in der heutigen Naturwissenschaft, in: ZThK 14 (1904), 234–272. Außerdem vgl. Naturwissenschaft und Theologie. Thesen für Liegnitz den 27. Mai, in: ChW 18 (1904), 497–498. 893 Vgl. die Rezension von 1901 zu J. Sack, Monistische Gottes‑ und Weltanschauung (Leipzig, 1899), in: ThLZ 26 (1901), 89–91. Es folgen 1903 einige Besprechungen der Veröffentlichungen des Naturforschers und Philosophen Eberhard Dennert (1861–1942) der 1907 den Keplerbund zur Förderung der Naturerkenntnis gründete und die monistische Weltanschauung Ernst Haeckels bekämpfte. Vgl. Ottos Rezensionen in ChW 17 (1903), 90, sowie a. a. O., 281–282. Vgl. überdies Ottos Rezensionen zu Studien bzgl. des Verhältnisses von Religion und Naturwissenschaft in ChW 18 (1904), 282, sowie a. a. O., 717. 894 Generell zum Darwinismus-Streit um 1900 in Deutschland und seiner Bedeutung für den Protestantismus vgl. Rohls, Darwin und die Theologie, 107–131, und hier bes. 130 f. 895 Vgl. hierzu erneut den gewissermaßen als Extrakt von Ottos lebenslanger Auseinandersetzung mit Naturalismus und Darwinismus in theologischer Perspektive anzusehenden Aufsatz Rationale Theologie gegen naturalistischen Irrationalismus in SU, 190–225. Vorlage dieses Aufsatzes sind Ottos Schriften Goethe und Darwin. Darwinismus und Religion und Darwinismus und Religion von 1909.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Ottos Ablehnung des Darwinismus und der »Darwinisten« ist – dies droht zuweilen übersehen zu werden – nicht in erster Linie durch einen naturwissenschaftlichen Einspruch gegen die Forschungen und Theorien Charles Darwins motiviert, sondern richtet sich gegen deren Ausweitung zum monistischen Weltbild. Dennoch macht Otto keinen Hehl daraus, dass er Darwins Werk auch biologisch für fragwürdig hält: Von einem Naturprinzip auszugehen, das schlechthin »ohne ein zweckesetzendes Prinzip« die Lebewesen und Arten der Welt »als blindes Ergebnis blinder Naturkräfte, ohne teleologische Richtekräfte« hervorbringt, hält Otto schlechterdings für unwahrscheinlich, unausgegoren und überdies für empirisch schwach belegt.896 Letztlich steht Otto jedoch der Frage nach der biologischen Plausibilität von Darwins Deszendenz‑ und Zuchtwahllehre relativ gleichgültig gegenüber, da sie sich – so Otto – zunächst allein auf ein naturwissenschaftliches Problem richtet und dementsprechend innerhalb der Biologie zu diskutieren bzw. zu falsifizieren bleibt.897 Darwins Theorie entstammt nach Ottos Meinung aus den nüchternen Naturbeobachtungen und Messungen eines etwas einseitig begabten und umso leidenschaftlicheren Käfersammlers, der als »Mann der nüchtern exakten Naturwissenschaft, die von ›Ideen‹ in ihrem Bereiche nichts wissen will und nichts anerkennt«, keinen tieferen und weltumfassenden Deutungsanspruch im philosophischen oder theologischen Sinne verfolgt, da seine Methode auf »Einzelbeobachtung und Einzelexperiment« beruhe.898 Für eine teleologische Weltdeutung hält Otto Darwin also für schlichtweg inkompetent und weist damit – ob er Darwin hierin nun letztlich gerecht wird oder nicht – auf einen wichtigen Punkt hin: In der Tat ging es Darwin nie um eine monistische Weltanschauung sondern an erster Stelle um biologische Naturforschung. Ottos Einspruch richtet sich deshalb gerade nicht auf die naturwissenschaftlichen Probleme der Evolutionsbiologie als Deszendenzlehre, sondern gegen deren missbräuchliche Anwendung auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften. Was Otto mit größter Leidenschaft bekämpft, ist 896 Vor dem Hintergrund jener Skepsis gegenüber Darwis Lehre ist demnach Ottos Kommentar zu der Entdeckung und Untersuchung des Homo Heidelbergensis von 1908 durch Otto Schoetensack zu erklären. Otto deutet Schoetensacks Entdeckung nicht ohne Genugtuung als Widerlegung von Darwins Thesen zur Entstehung des Menschen. Vgl. hierzu das Vorwort in der dritten, photomechanisch gedruckten Auflage von Naturalistische und religiöse Weltansicht (NRW3, V–VI). 897  So klingt es fast wie ein friedlich-desinteressiertes Schlusswort zu Darwins Theorie selbst, wenn Otto schreibt: »Diese Hypothese für sich allein genommen beschränkt sich auf das Gebiet der Biologie und löst vielleicht ein Problem, das auch für die Wissenschaft vom Geiste interessant ist: nämlich die Frage, unter welchen Bedingungen, in welchen Zusammenhängen körperlichen Werdens Geist und Geistesart an unserer Erde aufgetreten ist und sich entwickelt hat. Was dieser aber selber sei, und was und woher seine Inhalte und wie seine Gesetze, davon weiß sie noch gar nichts, wenn man etwa die fysikalischen oder biologischen Bedingungen seines Auftretens kennt.« (GÜ, 205). Bemerkenswert ist an diesem Diktum Ottos nicht zuletzt auch seine bleibende Aktualität. Die hier skizzierte »Wissenschaft vom Geiste« erinnert deutlich an Grundfragen der sogenannten Mind-Brain-Debatte im frühen 21. Jahrhundert. 898 Vgl. SU, 198.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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nicht Darwin selbst, sondern der »Darwinismus vulgaris«,899 durch den »gewisse ›Naturfilosofen‹, die großen Stimmungsgehalte der Goetheschen Naturverherrlichung und der alten originalen Entwicklungslehre glauben in eins fassen zu können mit den Prinzipien und Lehren Darwins.«900 Es werden also durch den Darwinismus, wie ihn Otto versteht, gleich zwei Seiten geschädigt: Zum einen Darwin selbst, indem seine Lehre unrechtmäßig auf Bereiche der Geisteswissenschaften ausgeweitet und zur monistischen Weltanschauung erhoben wird, und zum anderen – was schwerer wiegt – die Welt des Geistes, bei Otto verkörpert durch den Dichter Johann Wolfgang von Goethe, dessen ganzheitliches und naturmystisches Weltbild laut Otto vom Darwinismus mit biologischen Annahmen überformt und damit naturalistisch vereinnahmt zu werden droht.901 Kurzum: Ottos ganzer Protest richtet sich gegen jeglichen Versuch, eine »darwinistische Lehre vom Wesen des menschlichen Geistes« zu entwerfen.902 Denn was Otto unter »Geist« versteht, ist – das wurde schon in seiner frühen Luther­deutung herausgearbeitet  – gerade nicht aus Naturbeobachtungen deduzierbar, sondern steht im engen Zusammenhang mit dem Begriff der Seele, also einer philosophischen Kategorie jenseits sinnlicher Erfahrung, die bis in das antike Erbe Platons zurückreicht. Der Fehler des Darwinismus lautet nach Otto also, »mit Fysiologie Psychologie machen zu wollen«903 und er resümiert: »Geistiges erklärt sich weder aus Körperlichem noch auch nur in seiner Analogie und umgekehrt. Falsch ist die Meinung, daß der Geist ein zufälliges Aggregat bunter ›nützlicher Variationen‹ sei.«.904

Den Bereich der Ethik, der Religion, der Ästhetik dem Darwin’schen »survival of the fittest« zu unterwerfen und nach seinen Selektionsvorteilen im Kampf ums Dasein zu untersuchen, hält Otto demnach für vollkommen abwegig. Zwar mag – das ist ein bis heute vieldiskutierter Gedanke, den Otto so gar nicht thematisiert – Religion in ihrer sozialen Funktion als identitätsstiftende Kulturleistung 899

 SU, 200.  SU, 199. Zur häufigen Vereinnahmung Goethes in naturphilosophischen und monistischen Schriften um 1900 vgl. Gooch, »Das Schaudern«, 308 f. 901 Vgl. SU, 200. Das prominenteste Beispiel für eine solche naturphilosophische Vereinnahmung ist der bereits erwähnte und damals weit verbreitete Bestseller Die Welträtsel des Jenaer Zoologen Ernst Haeckel. 902  Vgl. SU, 202. 903 SU, 204. 904 SU, 204. Die fatalen Folgen einer darwinistischen Weltanschauung, die Naturprozesse bis in ihre gesellschaftlichen, geschichtlichen und psychologischen Aspekte hinein nach ihrer Zweckmäßigkeit im Kampf ums Überleben beurteilt, scheint Otto hier schon zu ahnen (vgl. SU, 202 f). Selbst der Wahrheitsbegriff wird laut Otto demnach der darwinistischen Ideologie unterworfen: Wahr ist lediglich »das Nützliche« (vgl. SU, 203). Otto sieht hierin einen überaus fatalen Bruch mit einer jahrtausendealten geistesgeschichtlichen Tradition und begründet hiermit zugleich sein Interesse, als Theologe eine Widerlegung des Darwinismus zu unternehmen (vgl. SU, 204). 900

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

möglicherweise einen gewissen Vorteil in der Durchsetzung einer Population im Überlebenskampf bieten;905 der Gegenstand und Inhalt der Religion, die Idee des Göttlichen und der Wahrheit, ist jedoch damit überhaupt nicht berührt, denn diese sind, wie Otto lapidar sagen würde, »Geist«, und damit natürlichen Zusammenhängen enthoben. Die erkenntnistheoretische Konkurrenz zwischen Theologie und Darwinismus ist für Otto daher letztlich nichts anderes als ein »Scheinproblem«.906 Mit dem Geistbegriff kommt Otto an dieser Stelle auf den vielleicht wichtigsten Gedanken seiner Dissertation zurück: Die Idee der Allwirksamkeit Gottes, des göttlichen Wirkens in allem Wirken überhaupt und damit auch in und durch die Natur, die allein im Medium des Geistes gleichsam erlebt, erfasst und erkannt werden kann.907 Es geht Otto um ein »frommes Weltgefühl«,908 welches nicht – wie der »Supranaturalismus«, den er ebenfalls bekämpft909 – hier und da ein Eingreifen übernatürlicher Mächte in die Naturkausalität bedeutet, sondern vom »Gefühl einer unmittelbaren Beziehung aller Dinge zu Gott« ausgeht.910 Geradezu als ein Kernsatz von Ottos Theologie überhaupt kann es gelten, wenn er hier schreibt: »Welt und Dasein überhaupt sinken in Gottes unmittelbare Allbefassung«.911 Fragen nach »theologischer Zoologie«, also einer Erklärung schöpfungstheologischer Aussagen durch biologische Zusammenhänge oder umgekehrt sind damit sinnlos – Natur und ihre Kausalität sind vielmehr nach Ottos Auffassung aufgehoben in der allein im Gefühl gewonnenen Gewissheit der allumfassenden göttlichen Wirklichkeit: »Es gibt sicher kein Mittel, Gott und sein Zwecke aus der Naturwissenschaft abzulesen. Weiß man aber anderswoher von ihnen, dann legt sich das Bild, das die Naturwissenschaft vom Weltwerden in streng kausaler Erklärung gibt, dem unter, und das Getriebe der mannigfach und kunstvoll verschlungenen Ursachen und Mittel wird dem frommen Gefühle zum immer wieder wunderwürdigen ›Spielen der Weisheit vor dem Herrn‹.«912 905 Vgl. beispielsweise: Grom, Religion – nur ein Evolutionsvorteil, 433–434. Religion naturwissenschaftlich als Evolutionsvorteil zu interpretieren, ist jedoch  – und dies wird in der Debatte oft übersehen  – schon religionsgeschichtlich und empirisch nicht unbedingt naheliegend. Für das Gegenteil lassen sich ebenso Argumente finden: Religion ist durchaus auch als biologisch unnützes Hemmnis interpretierbar, das im Kampf ums Dasein durch fortpflanzungsökonomisch sinnlose oder kontraproduktive Gesetze und Traditionen mehr blockiert als fördert. Die seit über hundert Jahren andauernden Debatten um die biologische Bedeutung der Religion werden bis heute international und in zahlreichen Einzeldebatten ausgetragen. Einen Überblick hierzu bietet Rohls, Darwin und die Theologie, 107–131. 906 Vgl. SU, 207. 907 Im Anhang an seinen späten Naturalismusaufsatz von 1932 druckt Otto bezeichnenderweise nochmals Teile seiner über 30 Jahre zurückliegenden Dissertation ab (vgl. SU, 221 ff). 908 SU, 212. 909  Vgl. SU, 211. 910 SU, 231. 911 SU, 212 f. Zugleich ergibt sich hier erneut ein Bezug zu Schleiermacher (vgl. SU, 214). 912 SU, 219.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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Jenes »anderswoher« und »Spielen der Weisheit« sieht Otto in herausragender Weise in Werk und Person Goethes verkörpert. Anders als seine darwinistischmonistischen Gegner erkennt Otto in Goethes »Entwicklungslehre« keine kongeniale Parallele zu Darwin,913 sondern einen fundamentalen Gegenentwurf: Während Darwin einen »Transformismus« der Arten durch natürliche Zuchtwahl914 und damit einen laut Otto irrationalen, auf Zufällen beruhenden Vorgang der ständigen »Addition« neuentwickelter Arten vertrete,915 stehe Goethe hingegen für eine Lehre klassischer Entelechie und Teleologie. Allein ein rationales Weltbild, wie es Goethe vertritt, vermag demnach laut Otto die Sphäre des Geistes mit den Bewegungen der Natur zu verbinden: Statt eines irrational-zufälligen Addierens ist die Entwicklung des Lebens nach Goethe demnach ein »Potenzieren«,916 also ein tatsächliches Entwickeln im Sinne einer Auswicklung und Verwirklichung von Uranlagen, die allen Wesen der Welt zu Grunde liegen wie der Keim dem Baum. Mit Goethe kann Otto sagen: »[Die] Welt ist im Großen wie im Kleinsten geformt und bestimmt durch Entelechien und Formkräfte.«917 Es handelt sich also um die Weltsicht eines Naturforschers, der nicht die Natur in ihren Einzelphänomenen beobachtet, sondern in der Natur eine Schau des Ganzen gewinnt. Besonders in Goethes Farbenlehre sieht Otto den Versuch verwirklicht, rational auf Welt‑ und Urprinzipien in der Natur zu schließen. Er mündet in einer zuweilen mystischen Weltsicht und Naturfrömmigkeit, die zwangsläufig von einem Plan ausgehen muss, von etwas, »was die Welt im Innersten zusammenhält«.918 Dass Goethe dem Christentum eher distanziert gegenüber stand, ist Otto in diesem Zusammenhang gerade recht: Besonders im »›Heiden‹ Goethe«919 erkennt Otto in eindrücklicher Weise eine unverdächtige und unverfängliche »divinatorische Natur«, die im Gefühl des »Dämonischen« – auch hier schwingt wieder das Moment der Angst mit – das Heilige in seiner Erscheinung zu schauen vermag.920 »Bei Goethe gestaltet sich daraus auf der dem Christentum zugekehrten Seite seines Gefühls der Pan-en-theismus, die All-in-Gott-lehre«,921 die Otto bei L ­ uther als im Geist erkannte Allwirksamkeit Gottes beschrieb. 913 Otto macht den Darwinisten genau dies zum Vorwurf, dass sie sich unrechtmäßig auf die Entwicklungslehre Goethes berufen. Eben dies ist nach Ottos Meinung ein Fehlschluss, da die Lehre Darwins auf den Prinzipien des Zufalls und der Mutation beruhe, während sich bei Goethe das Höhere aus dem Niederen tatsächlich entwickle und demnach in ihm »angelegt« sei (vgl. SU, 197). 914 Vgl. SU, 195. Die englischen Begriffe lauten »natural selection« bzw. »preservation of favored races in the struggle for life«. 915 Vgl. SU, 197. 916 SU, 197. 917 SU, 198. 918  Zu Ottos Goetherezeption vgl. Gooch, »Das Schaudern«, 307–318. 919 DH23–25, 182. 920 Vgl. DH23–25, 179. 921 SU, 213.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Gefühl und Natur in Ottos Deutung Goethes. Wie sich zeigte, ist es besonders die Dimension des Gefühls, mit der Otto die religiöse Weltsicht, die Sphäre des Geistes von der rein naturwissenschaftlich-empirischen Betrachtung der Welt unterscheidet. Nicht zufällig ist es gerade Goethe, mit dem Otto seine wichtige »Schlußbemerkung über ›Gefühl‹« von 1932 erläutert.922 Die entscheidende These ist auch hier  – wie schon in seiner ausführlichen gefühlstheoretischen Anmerkung in West-östliche Mystik  – die Unterscheidung von »Gefühl« und »Emotion«.923 Damals zeichnete Otto Gefühle gegenüber Emotionen als besondere »Erkenntnisakte« aus. Durch die bloß sinnliche Wahrnehmung hindurch bezeichnet das Gefühl bei Otto Momente von geradezu transzendentaler Qualität, die sich dem rationalen Zugriff versperren.924 Auch in der Schlußbemerkung versteht Otto den Vorgang des Fühlens als einen unmittelbaren und vorbegrifflichen Erkenntnisvorgang, mit dem empirisch greifbare Emotionen nur als äußerliche Begleiterscheinungen einhergehen. Während »bloße Emotion dem Denken überhaupt entgegengesetzt werden kann«, also einen reinen Affekt ohne erkannte Inhalte meint, ist das Gefühl bei Otto ein viel tiefer liegender und eher dem Denken verwandter Vorgang der Erkenntnis.925 In Schleiermachers Begriff der »Anschauung« und Fries’ Begriff der »Ahndung« sieht Otto genau jene Vorstellung von Gefühl beschrieben,926 die er nun bei Goethe vorführt: »Gefühlsmäßig kritisiert, beurteilt, anerkennt als zulänglich oder verwirft als nur vorläufig Goethe als Urteilender die eigenen Versuche, das in verständige Theorie aufzulösen, was er zuerst in bloßen Gefühlen besessen hatte.«927

Besonders eindrucksvoll sieht Otto bei Goethe demnach bestätigt, dass sich im Gefühl eine »Objekterfassung«, ein Erkennen ereignet, das in keiner Weise adäquat in Begriffen expliziert werden kann: 922 Vgl. GÜ 327–333. Es handelt sich hierbei nicht nur um eine »Schlußbemerkung« im Sinne eines den Aufsatzband abschließendes Schlusswortes, sondern auch im übertragenen Sinne um eine letzte Bemerkung Ottos zur Gefühlstheorie, in der die wichtigsten Einsichten seines Lebens zum Gefühlsbegriff gebündelt und zusammengefasst werden. 923  Inhaltlich nimmt Otto hier die bereits beschriebene Spur auf, die er schon in WÖM in einer längeren Anmerkung zu seinem Kapitel über Schleiermacher ausgeführt hatte: Die Unterscheidung von Gefühl und Emotion. Vgl. dazu oben im Zweiten Teil, Kap. II, 2.3. und die dort besprochene Anmerkung zum »Gefühl« in WÖM1, 383–387. 924 Vgl. WÖM1, 384. 925  Vgl. GÜ, 329. 926  Vgl. zu den Parallelen bei Schleiermacher und Fries GÜ, 331 f. Insbesondere ­Schleiermacher hatte bereits in WÖM1, 383–387 eine zentrale Stellung in Ottos Gefühlstheorie. In seinem Vorwort zum Sammelband AN bemerkt Otto, Schleiermacher eröffne der Theologie den Weg der »Selbstbesinnung«, Fries hingegen habe demgegenüber eine »anthropologische Methode« eingeführt, also gewissermaßen ein Erweiterungsprogramm in Form einer begrifflichen Ausarbeitung dessen, was Schleiermacher vorhatte (AN1, VI). Ottos eigenes Programm schildert er in diesem Zusammenhang als eine Synthese beider Methoden als Weg der »Selbstbesinnung« hin zur »Sachbesinnung« (vgl. ebd.). 927 GÜ, 329 (kursiv im Original). Es ist wohl vor allem Goethes Methode in der Farbenlehre, die Otto hier vor Augen hat.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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»Entgegengesetzt ist der Besitz der Wahrheit im Gefühle zu dem Versuche, das Besessene darüber hinaus auch noch durch ›Demonstration‹, d. h. durch logische Mittel des Beweises oder der Theorie sichern zu wollen.«928

Ein solches »intutives Erfassen« in gesteigerter und intensiver Form sieht Otto bei Goethe besonders treffend mit dem Begriff des »Aperçu« beschrieben.929 Entscheidend ist letztlich, was Otto anhand des in Das Heilige als Motto gewählten Zitats aus Goethes Faust II – »Das Schaudern ist der Menschheit bestes Theil; […]« – darzustellen versucht: »das Emotionale ist hier in Wahrheit doch Fortsetzung des Erkennens selbst, sofern sich in ihm und seiner Eigenart das Besondere der Wertart und Tiefe dessen spiegelt und abdrückt, was fühlend erkannt ward.«930

Das »Schaudern«, das Goethe in Faust II beschreibt, ist laut Otto also insofern von bloßer Emotion im Sinne einer instinkthaften Gemütsregung zu unterscheiden, als es einen Erkenntnisvorgang a priori, ein »Aperçu« bezeichnet.931 In ihm geschieht eine Apperzeption »tiefster und bedeutsamster Sinngehalte«, indem das »Schaudern« als das »Ungeheure« erkannt wird.932 Die Unterscheidung von gewöhnlicher Angst als Affekt – Otto würde sagen: als »Emotion« – von numinoser »Scheu« als Erkenntnis a priori wäre in diesem Sinne sogar direkt in dem genannten Zitat aus Faust II spiegelbar: »Doch im Erstarren such ich nicht mein Heil, Das Schaudern ist der Menschheit bestes Theil; Wie auch die Welt ihm das Gefühl vertheure, Ergriffen, fühlt er tief das Ungeheure.«933 928 GÜ,

329. GÜ, 331. 930  GÜ, 333. Vgl. hierzu das Motto in DH23–25, VI aus Goethe, Faust II, 6272–6274 (MA 18.1, 157) und hierzu im Kontext des numinosen Momentes des »Ungeheuer« den betreffenden Abschnitt oben im Zweiten Teil, Kap. III, 1.1. Vgl. außerdem zum »Heiligen Schauder« bei Goethe im kultur‑ und religionsgeschichtlichen Kontext Burkert, Horror Storries, 47. 931 Deutlich wird Ottos Interpretation des »Aperçu« an dieser Stelle besonders dann, wenn man die postum in den Maximen und Reflexionen abgedruckten Ausführungen heranzieht, auf die Dorothea Hölscher-Lohmeyer im Kommentarteil zu Faust II in der Münchner Ausgabe im Blick auf die genannten Verse in Faust II, 6272–6274 verweist (vgl. den Kommentar in Goethe, Maximen und Reflexionen, MA 18.1, 754 f). Überzeugend zieht Hölscher-Lohmeyer hier eine direkte Linie von dem Begriff des »Schauderns« in Faust II zu Goethes Begriff des »Aperçu«. Zur Bedeutung des »Aperçu« als eines vorreflexiven Erkenntnisaktes bei Goethe vgl. auch Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 562 [Zählung nach Max Hecker], MA 17, 822: »Alles was wir Erfinden, Entdecken im höheren Sinne nennen, ist die bedeutende Ausübung, Betätigung eines originalen Wahrheitsgefühls, das, im Stillen längst ausgebildet, unversehens, mit Blitzesschnelle zu einer fruchtbaren Erkenntnis führt. Es ist eine aus dem Innern am Äußern sich entwickelnde Offenbarung, die den Menschen seine Gottähnlichkeit vorahnen lässt. Es ist eine Synthese von Welt und Geist, welche von der ewigen Harmonie des Daseins die seligste Versicherung gibt.« 932 Vgl. GÜ, 333 und erneut Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 562 [Zählung nach Max Hecker], MA 17, 822. 933 Goethe, Faust II, 6271–6274 (MA 18.1, 157). Offen bleiben muss die Frage, warum 929 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Das bloße Erstarren vor unbekannter Bedrohung  – man könnte auch sagen, einfache Furcht und Angst – wird überboten von Fausts »Schaudern«, das sich hier auf die von Mephisto erwähnten »Mütter« bezieht, auf geradezu numinose Wesen jenseits aller Sinnlichkeit in den Abgründen der Seele.934 Die Welt in ihren unzähligen Erscheinungsformen und Reizen verhindert, erschwert, »vertheuert« jenes tiefe Gefühl des Schauderns, so wie die empirische naturwissenschaftliche Detailforschung nach Goethes Auffassung die tiefe Schau der »Urphänomene« im Wirken der Natur zuweilen verdeckt. Überhaupt ist Goethes Idee der »Ur­ phänomene«, die im Didaktischen Teil der Farbenlehre erstmals auftaucht, im engen Zusammenhang mit jenem »Aperçu« zu sehen, das Otto hier bei Goethe als Beispiel für die Divination und das numinose Erleben heranzieht.935 Mit der Schau der »Urphänomene« beschreibt Goethe die Erkenntnis einer hinter den empirischen Erfahrungen und jenseits aller begrifflichen Fassbarkeit liegenden Wirklichkeit, ein ahnendes Gefühl, ein Staunen über die hinter dem sinnlich Wahrnehmbaren liegenden Grundprinzipien der Welt. Auch Goethes geheimnisvolle, nur erahnbare, nicht aber beschreibbare »Urphänomene« sind ein »mysterium tremendum« im Sinne Ottos. Die Schau der »Urphänomene« hinter den empirischen Erscheinungsformen der Welt erzeugt ein eigentümliches Gefühl der Selbstüberschreitung, das Ottos »numinoser Scheu« und dem »Kreaturgefühl« verwandt zu sein scheint: »Das unmittelbare Gewahrwerden der Urphänomene versetzt uns in eine Art von Angst, wir fühlen unsere Unzulänglichkeit; nur durch das ewige Spiel der Empirie belebt erfreuen sie uns.«936

Es wird in Ottos Goethedeutung nochmals deutlich, was er meinte, wenn er in seiner Schrift Naturalistische und religiöse Weltansicht forderte, dem Naturalismus »gegenüber Recht und Freiheit frommer Weltansicht offenzuhalten«.937 Mit Goethe will Otto zeigen, dass eine teleologische Deutung des Weltgeschehens keine sekundäre Interpretation naturwissenschaftlicher Beobachtungen darstellt, sondern sich einer vorbegrifflichen, transzendentalen Weise des Erkennens – im Otto die erste Zeile »Doch im Erstarren […]« in dem in Das Heilige als Motto vorangestellten Faust-Zitat weglässt. 934 Zum Hintergrund vgl. die ganze Szene »Finstere Gallerie« im Ersten Akt (vgl. Goethe, Faust II, 6173‑ 6306 (MA 18.1, 154–158). 935  Vgl. Goethe, Die Farbenlehre, § 174–177 (MA 10, 74 f). 936 Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 433, MA 17, 798. Vgl. hierzu auch oben die der Einleitung des vorliegenden Buches als Motto vorangestellten Zeilen aus Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 412, MA 17, 792: »Vor den Urphänomenen, wenn sie unseren Sinnen enthüllt erscheinen, fühlen wir eine Art von Scheu, bis zur Angst. Die sinnlichen Menschen retten sich in’s Erstaunen; geschwind aber kommt der tätige Kuppler-Verstand und will auf seine Weise das Edelste mit dem Gemeinsten vermitteln.« Zur Verwandschaft zwischen Goethes Idee von den »Urphänomenen« mit Ottos Konzeption des numinosen Erlebens vgl. auch Köller, Perspektivität und Sprache, 268. 937 NRW3, 212.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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Gefühl – verdankt. Strenggenommen müsste man mit Otto sogar sagen, ist es umgekehrt: die »fromme Weltansicht«, wie sie in Goethes Naturmystik durchscheint, ist die eigentlich ursprüngliche und unmittelbare Weltsicht überhaupt im Sinne eines Welt-Erkennens, der Schau des Unbedingten, der gegenüber die naturwissenschaftliche Weltsicht eine sekundäre, weil unabgeschlossene und immer an Sinneserfahrung und deren empirische Auswertung gebundene ist. Die eigentlich naheliegende und ursprüngliche Weltsicht ist damit für Otto die intuitive, teleologische, während  – analog zur kulturgeschichtlichen Entwicklung – die empirische Weltsicht sich als präzisierende Naturforschung erst später gleichsam als Hülle entwickelt. Das »Ungeheure« Goethes, das Otto seinem Hauptwerk voranstellte, ist folglich nichts anderes als ein Begriff für jenes rohe Fühlen, aus dem Ottos Momente des Numinosen hervorgehen. Die angstvollen Momente jenes »Ungeheuren« sind demnach nicht sinnliche Empfindungen aufgrund einer Bedrohung, sondern geheimnisvolle und vorbegriffliche Erkenntnisse, mit denen zugleich sinnliche Erfahrungsmomente einhergehen.938 Ob Otto Darwin im Detail hinsichtlich biologischer Fragen gerecht wird, darf als fragwürdig gelten und bleibt zu diskutieren. Sehr einleuchtend und hochaktuell ist dagegen Ottos Hinweis auf die Einseitigkeit eines sich auf naturwissenschaftliche Messungen beschränkenden Weltbildes. Durch sein gefühlstheoretisches Konzept des intuitiven Erkennens a priori verschafft Otto einem ganzheitlichen und teleologischen Weltbild Raum, das – gleichwohl es offensichtlich tief im menschlichen Empfinden verankert und seit der Antike im Begriff der Seele überliefert ist – in der Moderne stark aus dem Blickfeld geriet. Angst und Religion bei Otto und Darwin. Die religionspsychologische und gefühlstheoretische Grundlegung von Ottos Denken ist – soviel wurde deutlich – schon in den frühen Göttinger Jahren anhand seiner Abgrenzung gegenüber Naturalismus und Darwinismus geltend gemacht und womöglich überhaupt entdeckt worden. Im Folgenden soll nun abschließend die These herausgearbeitet werden, dass Otto sich von Darwin nicht nur abgrenzt, sondern ihm womöglich sogar entscheidende Anregungen verdankt. Der zentrale Punkt einer Verbindungslinie zwischen Darwins und Ottos Gefühlstheorie liegt – deshalb ist dieser Zusammenhang hier von besonderem Interesse und muss ausführlicher behandelt werden – in ihrer Beurteilung des Verhältnisses von Angst und Religion. Bekanntlich bezeichnete sich der zu der Zeit seiner berühmten Forschungsreise mit der Beagle noch unbeirrbare Christ und ehemalige Theologiestudent ­Darwin in seinen letzten Lebensjahren als »Agnostic« und stand dem Christentum insbesondere in schöpfungstheologischen Fragen kritisch bis ablehnend 938 Vgl. hierzu erneut oben im Zweiten Teil, Kap. III, 1.1, wo der Begriff des »Ungeheuren« bei Otto als Synthesebegriff der dunklen Momente des Numinosen gedeutet wurde.

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gegenüber.939 Er meinte aus seinen naturwissenschaftlichen Ansichten hinsichtlich der Entstehung der Arten das ordnende Schöpfungshandeln eines Gottes nicht mehr für wahr halten zu können und beurteilte überdies das Christentum als moralisch fragwürdig und zuweilen grausam. Allein aus humanistischen Gründen hielt er daher seine Apostasie für unumgänglich.940 Anders als die Kritik an der Existenz eines intelligenten Schöpfergottes und seiner Offenbarung, wie sie besonders im Anschluss an Darwins Deszendenztheorie in seinem berühmten Buch On the Origin of Species heftig diskutiert wurde, sind Darwins emotionstheoretische Überlegungen zur Religion weniger bekannt.941 In ihnen tun sich fernab der Debatte um Abstammungslehre und natürliche Selektion gewisse Parallelen zu Ottos Religionsforschung auf.942 Jenseits der Frage nach Wahrheit und Offenbarung im Christentum unternimmt Darwin in seinem Werk The Descent of Man von 1871 den Versuch, das Phänomen der Religion empirisch zu beschreiben und auf seine natürlichen Grundlagen hin zu befragen. Darwins Beobachtungen zum religiösen Erleben des Menschen erinnern dabei in teilweise deutlicher Ähnlichkeit an jene Momente numinosen Erlebens, die Otto in Das Heilige beschrieb: »The feeling of religious devotion is a highly complex one, consisting of love, complete submission to an exalted and mysterious superior, a strong sense of dependence, fear, reverence, gratitude, hope for the future, and perhaps other elements. No being could experience so complex an emotion until advanced in his intellectual and moral faculties to at least a moderately high level.«943

Ganz ähnlich wie bei Otto wird hier die Religion als besondere Fähigkeit des Menschen beschrieben, die als Gefühl (»feeling«) in Erscheinung tritt. Die Facetten jenes religiösen Fühlens beschreibt Darwin in einer Weise, die Ottos »Kontrastharmonie« sehr nahe zu kommen scheint: Momente der Abhängigkeit und der Angst halten sich die Waage mit einem geheimnisvollen und anziehenden Überschwang. Trotz seiner Absage an das Christentum in seinen späten Lebensjahrzehnten hält Darwin offensichtlich Religion keineswegs für eine Illusion: Eindeutig erkennt er an, dass allen Religionen der Welt eine im Menschen angelegte spirituelle Fähigkeit im Sinne eines »belief in unseen or spiritual agencies« zu Grunde liegt.944 Religion ist also nach Darwins Meinung nicht etwas Sekundäres und Unnatürliches, sondern – wie er ausdrücklich betont – eine hohe geistige 939 Vgl. Darwin, The Autobiography, 94. Vgl. hierzu grundlegend: Moore, Of Love and Death, 195–229, sowie Mayr, Charles Darwins Autobiographie, 14. 940 Vgl. hierzu Wuketis, Darwin, 102 ff. 941 Zu den Debatten über die Bedeutung von Darwins Lehre für Religion und Kirche vgl. grundlegend Rohls, Darwin und die Theologie, 107–131. 942  Grundlegend hat auf die emotionstheoretischen Parallelen zwischen Otto und Darwin jüngst Hanno Willenborg hingewiesen, vgl. Willenborg, Das Heilige, insbes. 215–255. 943 Darwin, The Descent of Man, 68. 944 Vgl. Darwin, The Descent of Man, 63.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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Fähigkeit, die den Menschen gegenüber dem Tier auszeichnet und letztlich den einfachsten spirituellen Regungen wie auch den großen Religionen im Kern zu Grunde liegt.945 Offen lässt Darwin dabei die Frage, in wieweit jene besondere Weise des religiösen Fühlens in niederer Ausprägung auch bei Tieren veranlagt ist. Die Ähnlichkeiten der religiösen »devotion« des Menschen im Vergleich zum Abhängigkeitsgefühl eines Hundes gegenüber seinem Herrn scheint Darwin als Hinweis zu sehen, dass es eine niedere Form oder Vorstufe des religiösen Gefühls auch bei Tieren geben könnte.946 Interessant ist in diesem Zusammenhang die deutliche Diskrepanz der religionskritisch-agnostischen Privatmeinung Darwins gegenüber der besonders in seinen späteren Werken nahezu selbstverständlichen Darstellung der Religion als menschliche Gefühlsregung.947 Eine ausführliche Phänomenologie jener religiösen Gefühlsmomente schildert Darwin in The Expression of the Emotions in Man and Animals von 1872. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dabei der Beschreibung von Momenten der Angst und Furcht, die er deutlich mit religiösem Erleben in Zusammenhang bringt. Ganz ähnlich wie bei Otto die Thronsaalvision aus Jes 6, wird auch bei Darwin ein Beispiel aus dem Alten Testament als Beispiel zur Beschreibung einer ganz artbesonderen und unbestimmten Angst in der Begegnung mit dem Göttlichen beschrieben. Darwin zitiert hierfür aus der »well-known and grand description in Job« (Hiob 4,13) eine Szene von »vague fear« die alle entscheidenden Momente von Ottos Beschreibung des sensus numinis  – einschließlich der »Gänsehaut«  – enthält.948 Im Anschluss hieran entwirft Darwin eine ausführliche Bestandsaufnahme von Momenten diffuser und richtungsloser Angst: »As fear increases into an agony of terror, we behold, as under all violent emotions, diversified results. The heart beats wildly, or may fail to act and faintness ensue; there is a deathlike pallor; the breathing is laboured; the wings of the nostrils are wildly dilated; there is 945 Vgl. Darwin, The Descent of Man, 68: »The same high mental faculties which first led man to believe in unseen spiritual agencies, then in fetishism, polytheism, and ultimately in monotheism, would infallibly lead him, as long as his reasoning powers remained poorly developed, to various strange superstitions and customs«. 946 Darwin, The Descent of Man, 68. Dies zielt zugleich auf die vieldiskutierte Pointe des ganzen Werkes ab: Die Verwandtschaft des Menschen mit anderen Spezies und seine Abstammung von denselben Vorfahren wie die Affen. 947  Darwins Sicht der Entwicklung der Religion aus niederen Formen der Furcht hin zu monotheistischen Hochreligionen ist nach neueren Forschungen vermutlich inspiriert von David Humes Schrift The Natural History of Religion (vgl. hierzu: Engels, Darwin, 157). 948 Vgl. das Hiobzitat in Darwin, The Expression, 291: »In thoughts from the visions of the night, when deep sleep falleth on men, fear came upon me, and trembling, which made all my bones to shake. Then a spirit passed before my face; the hair of my flesh stood up. It stood still, but I could not discern the form thereof: an image was before my eyes, there was silence, and I heard a voice, saying, Shall mortal man be more just than God? Shall a man be more pure than his Maker?« Die Parallelen zu den bei Otto beschriebenen abdrängenden Momenten des Numinosen in Das Heilige sind – nicht nur im Falle der bei Otto beschriebenen »Gänsehaut« – offensichtlich.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

a gasping and convulsive motion of the lips, a tremor on the hollow cheek, a gulping and catching of the throat;«949

Die Verbindung jener Angstmomente zur Religion stellt Darwin schließlich an anderer Stelle am Beispiel des menschlichen Verhaltens im Gebet dar: »As devotion is, in some degree, related to affection, though mainly consisting of reverence, often combined with fear, the expression of this state of mind may here be briefly noticed.«950

Im Gebet formt sich jenes angstvolle Andachtsgefühl in eine Haltung des Betenden, die Otto wohl mit dem Gefühl der »majestas« oder dem »Kreaturgefühl« beschreiben würde: Darwin schildert dies in der körperlichen Ausrichtung auf das Obere und den Himmel: »As the eyes are often turned up in prayer, without the mind being so much absorbed in thought as to approach to the unconsciousness of sleep, the movement is probably a conventional one – the result of the common belief that Heaven, the source of Divine power to which we pray, is seated above us.«951

Zahlreiche weitere Belege für Darwins emotionstheoretische Beschreibung der Religion im Zusammenhang mit Momenten der Angst in The Expression of the Emotions hat in seiner ausführlichen Studie zu Rudolf Otto im Kontext klassischer Emotionstheorien Hanno Willenborg zusammengeführt und stellt die teilweise frappierenden Ähnlichkeiten zwischen Darwin und Otto dar.952 Auch wenn Darwin und Otto letztlich vollkommen unterschiedliche Schlüsse in ihrer Deutung des religiösen Erlebens und seines Gegenstandes ziehen, stehen sie in ihrer empirischen Methode und in ihrer Fokussierung der Angst als wichtigstes und tiefstes Element religiösen Fühlens in einer gewissen Nähe zueinander.953 Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang Darwins autobiographische Erinnerungen, in denen er sich auch ausführlich zu seiner persönlichen Auseinandersetzung mit dem Glauben äußert.954 Ausdrücklich geht er auch hier davon aus, dass die Religion ihre Wurzeln in einem besonderen Erleben 949

 Darwin, The Expression, 291. The Expression, 220. Viktor Carus übersetzte »devotion« als Gefühl der »Andacht« in: Darwin, Gesammelte Werke, 1287. 951 Darwin, The Expression, 220 f. 952  Vgl. Willenborg, Das Heilige, 212 ff. 953  Vgl. die teilweise geradezu synoptischen Parallelen zwischen Darwin und Otto (z. B. in der Darstellung religiöser »Urlaute«), dargestellt in Willenborg, Das Heilige, 212–247 und die Zuspitzung auf die Angst als entscheidenden Schwerpunkt beider für die Erforschung der Religion (a. a. O., 247–255). 954 Eindrücklich ist überdies die Überlieferungsgeschichte jener Autobiographie. Erst ­Darwins Enkelin Nora Barlow reintegrierte wieder die entscheidenden Passagen zum Thema Religion in Darwins Lebenserinnerungen, die zuvor von Darwins direkten Angehörigen entfernt wurden. Vgl. hierzu ausführlich den Aufsatz von James Richard Moore (Moore, Of Love and Death, 195–229), der die Entwicklung von Darwins Entfremdung vom Christentum und zugleich die dramatische Entstehungsgeschichte seiner Autobiographie nachzeichnet. Zu 950 Darwin,

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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habe, »in the deep inward conviction and feelings which are experienced by most persons«955. Auch bei sich selbst meint Darwin in jungen Jahren demnach im ergriffenen Erleben zum Glauben gekommen zu sein und schildert eine eindrückliche Naturszenerie in Südamerika als religiöses Erlebnis: »Formerly I was led by feelings such as those just referred to, (although I do not think that the religious sentiment was ever strongly developed in me), to the firm conviction of the existence of God, and of the immortality of the soul. In my Journal I wrote that whilst standing in the midst of the grandeur of a Brazilian forest, ›it is not possible to give an adequate idea of the higher feelings of wonder, admiration, and devotion which fill and elevate the mind.‹ I well remember my conviction that there is more in man than the mere breath of his body.«956

Keineswegs wird hier das Erlebte rein naturalistisch gedeutet, sondern liegt vielmehr ganz auf der Linie dessen, was Otto als numinoses bzw. teleologisches Erleben beschreibt. Ein Gefühl wird zum unmittelbaren Evidenzerlebnis. Derartiges an Ottos Kontrastharmonie erinnerndes Erleben meint Darwin jedoch im Laufe der Jahre geradezu verlernt zu haben: »But now the grandest scenes would not cause any such convictions and feelings to rise in my mind. It may be truly said that I am like a man who has become colour-blind, and the universal belief by men of the existence of redness makes my present loss of perception of not the least value as evidence. This argument would be a valid one if all men of all races had the same inward conviction of the existence of one God; but we know that this is very far from being the case. Therefore I cannot see that such inward convictions and feelings are of any weight as evidence of what really exists.«957

Darwin scheint sich offensichtlich förmlich zu verbieten, das selbst Erlebte als Ausgangspunkt zum Verständnis der Religion überhaupt zu machen. Die statistische Verschiedenheit religiösen Erlebens in den Kulturen der Welt lässt ihn vom eigenen Erleben, welches bei Otto gerade der Ausgangspunkt in Das Heilige war, Abstand nehmen. Außerdem störte Darwin ein Problem, das auch Otto beschäftigte: Die Frage nach der Unterscheidung religiösen Erlebens von ästhetischen Erfahrungen: »The state of mind which grand scenes formerly excited in me, and which was intimately connected with a belief in God, did not essentially differ from that which is often called the sense of sublimity; and however difficult it may be to explain the genesis of this sense, Darwins Auseinandersetzung mit dem Christentum mit deutlichen Hinweisen auf die Differenzen zum Darwinismus und Monismus vgl. Blume, Besser als der Darwinismus, 33–37. 955 Darwin, The Autobiography, 90. 956 Darwin, The Autobiography, 91. 957 Darwin, The Autobiography, 91. An dieser Stelle tut sich eine deutliche Parallele zu der in einem anderen Zusammenhang geäußerten These Ottos auf, der zufolge das religiöse Erleben bei Kindern noch am stärksten ausgeprägt ist und mit zunehmendem Alter abnimmt (vgl. zu Ottos Auseinandersetzung mit dem Phänomen religiöser Kindheitserlebnisse unten im Zweiten Teil, Kap. IV, 4.).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

it can hardly be advanced as an argument for the existence of God, any more than the powerful though vague and similar feelings excited by music.«958

Obwohl Darwin offensichtlich durchaus mit jenen Momenten religiösen Erlebens vertraut ist, die Otto in seinem Werk als numinos bezeichnet, weigert er sich, von selbigen auf das Wesen der Religion überhaupt zu schließen. Der Grund hierfür scheint tatsächlich die Persönlichkeit und das Weltbild Darwins zu sein, das Otto im Gegenteil zu Goethe als »naturwissenschaftlich« beschrieb: Darwin legt an die Frage nach der »Existenz Gottes« die gleichen Maßstäbe und Forderungen nach logischer Evidenz an, wie er sie in der Beurteilung von Naturbeobachtungen anwenden würde. Freilich muss dieser Versuch eines naturalistischen Gottesbeweises scheitern. Was Darwin in diesem Zusammenhang also ganz offensichtlich fehlt, ist jene intuitive teleologische Weltansicht, wie sie Otto am Beispiel Goethes darstellte und die es ermöglicht, religiöses Erleben als Sinnerlebnis und ganz artbesondere Form von Erkenntnis zu verstehen, die sich den kausalen Zusammenhängen der Natur entzieht und sie gleichsam umfasst bzw. in einem neuen Licht erscheinen lässt. Die Erlebnisse des jungen Darwin, die durchaus numinose Momente im Sinne Ottos zu enthalten scheinen, entziehen sich daher in Darwins späteren Lebensjahren offensichtlich schlicht seinem Interesse, da sie sich im Kontext naturwissenschaftlicher Weltsicht als kaum mehr denn als emotionale Regungen neben anderen darstellen. Von hier aus auf einen unbedingten Grund und ein Erkennen über die rein sinnliche Ebene hinaus zu schließen, liegt Darwin vollkommen fern. Da ihm für einen gefühls‑ bzw. frömmigkeitstheoretischen Zugang zur Religion offensichtlich sowohl das Interesse als auch das Bedürfnis fehlt, verhält er sich gegenüber dem Phänomen religiösen Erlebens in zufriedener Resignation:959 »The mystery of the beginning of all things is insoluble by us; and I for one must be content to remain an Agnostic.«960 Für die Beurteilung des Verhältnisses von Angst und Religion wird im Rückblick der besondere Stellenwert deutlich, den Darwin neben anziehenden und erhebenden Gefühlen in erster Linie dem Erleben von »religious devotion«, »complete submission to an exalted and mysterious superior«, »a strong sense of dependence«, »fear«, »reverence«, »vague fear« bis hin zu »agony of terror« und 958

 Darwin, The Autobiography, 91 f. bedeutete sein Glaubensabfall für Darwin ein weitreichendes Problem im Privaten. Aufschlussreich sind hierfür die Briefe seiner sehr frommen Frau Emma Darwin, die ihren Mann zielgenau auf das Problem der Inkommensurabilität naturwissenschaftlicher Erkenntnisse und innerlicher Glaubensgewissheit hinweist (vgl. den Brief von Emma Darwin in: Darwin, The Autobiography, 236): »May not the habit in scientific pursuits of believing nothing till it is proved, influence your mind too much in other things which cannot be proved in the same way, and which if true are likely to be above our comprehension.« (vgl. hierzu Mayr, Charles Darwins Autobiographie, 14). 960 Darwin, The Autobiography, 94. 959 Gleichwohl

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

325

»tremor on the hollow cheek« einräumt. Damit ergibt sich eine deutliche Parallele zu den numinosen Momenten der Kategorie des »mysterium tremendum«, die bei Otto empirisch in ganz ähnlicher Weise beschrieben werden.961 Anders als bei Otto bleiben die bei Darwin geschilderten Momente religiösen Angsterlebens jedoch in die Kausalketten natürlicher Emotionen eingebunden und werden nicht hinsichtlich des numinosen Gegenstandes befragt, auf den sie verweisen, bzw. dem sich der religiöse Mensch gegenübergestellt sieht. Bei Darwin sind Momente der Angst sehr wohl elementare Emotionen im Kontext der Religion, jedoch nur insofern, als sie die natürlichen Affekte darstellen, aus denen sich im Zuge der Evolution die Religionen der Menschheit in unterschiedlicher Weise entwickelten.962 Bei Otto sind hingegen – wie ausführlich gezeigt wurde – »Scheu« und »mysterium tremendum« keine instinkthaften Affekte, sondern Regungen des Geistes, die als Wertung und Deutung über das in der Kausalkette der Natur Erlebte hinausgehen bzw. ihm a priori zu Grunde liegen.963 Darwin wie Otto beziehen 961 Nochmals sei an dieser Stelle auf die Studie von Hanno Willenborg verwiesen. Willenborg geht von einer stillschweigenden Darwinrezeption Ottos aus, insbesondere hinsichtlich Darwins Abstammung des Menschen und der Gemütsbewegungen, in denen sich deutliche Parallelen zu Otto zeigen lassen. Eine zentrale Rolle kommt dabei der Beurteilung der Angst zu: »Darwin sieht wie Otto die Furcht als Ausdruck der real empfundenen Angst vorm Unerklärlichen, der Transzendenz. Dabei stellt Darwin das Erleben von Transzendenz letztlich als Illusion dar, Otto sieht sie hingegen allgemein als real an. Darwin und Otto trennt der Glaube, doch sie eint die emotionsbasierte Religionstheorie: Die Furcht als ›Grundemotion‹ der Religion kennen beide Autoren.« (Willenborg, Das Heilige, 249). An anderer Stelle resümiert Willenborg dementsprechend: »Keine andere Emotion bringt Darwin in seinen »Gemütsbewegungen« so häufig mit dem Bereich Religion in Bezug wie die Furcht.« (Willenborg, Von der Bowling, 630 f). 962 Willenborg sieht Darwin daher als »Begründer der modernen, nicht mehr bloß philosophisch-hermeneutischen, sondern naturwissenschaftlich untermauerten emotionspsychologischen Forschung« an. Dabei räumt er dem Moment der Angst eine derart zentrale Rolle bei Darwin ein, dass er hier geradezu ein Paradigma der neueren Religionspsychologie begründet sieht: »Religiöse Erfahrung und Furcht sind unmittelbar verbunden«. Ottos Konzept der »Scheu« wird von Willenborg demnach als religionstheoretische Spielart jener bei Darwin zentralen Verbindung von Angst und Religion interpretiert. Vgl. hierzu Willenborg, Von der Billard, 631. Grundsätzlich wird Darwin hier als Vertreter des im Ersten Teil dieser Studie geschilderten Mottos »deos fecit timor« erkennbar. 963 Daher scheint es etwas übertrieben, wenn Hanno Willenborg letztlich Otto als »religiösen Darwinist« bezeichnet (vgl. Willenborg, Das Heilige, 254). Der Grund für Willenborgs Ergebnis ist, dass er sich in der Gegenüberstellung Ottos und Darwins in erster Linie auf die empirischen Phänomenbeschreibungen bezieht und demgegenüber die grundlegende Bedeutung der »Scheu« bei Otto als theologische Kategorie des Erkennens und Wertens als »nebensächlich« betrachtet. Dies wird jedoch Otto an dieser Stelle nicht gerecht. Gerade die theologische Dimension des Problems religiösen Angsterlebens ist in Ottos Werk das Entscheidende. Er zieht den »Geist«, also die Gaben intuitiven Wertens und Stellungnehmens im religiösen Erleben der rein empirisch-naturwissenschaftlichen Beobachtung ausdrücklich vor. Die hochinteressanten Parallelen in der emotionstheoretischen Beurteilung der Angst bei Otto und Darwin bleiben daher letztlich für eine theologische Deutung der Angst von nur geringem Ertrag und haben bei Otto ihre zentrale Aussage nicht in den Übereinstimmungen sondern gerade in der fundamentalen Abgrenzung zu Darwin.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

sich beide auf Erlebnisse, wie sie bei Hiob oder Jesaja beschrieben und gedeutet werden  – jedoch lässt Darwin nur als rätselhafte Gemütsregung gelten, was Otto – im Sinne Goethes – als eine Schau des Überweltlichen, als eigene Kategorie unbedingter Qualität deutet. Was Darwin leidenschaftslos als »mystery« offen lassen kann und nicht in seine Überlegungen zur Religion einbezieht, ist bei Otto gerade das Entscheidende: Keine bloß sinnliche Emotion, die man – wie Darwin – gegenüber dem rationalem Denken unterordnet, sondern ein fühlendes Erkennen, das tiefer liegt als alles logische Begreifen. Deshalb ist Otto geradezu gezwungen, von numinoser »Scheu« anzunehmen, was für emotionale Instinkte und ästhetische Erfahrungen kaum gelten kann, nämlich, dass sie eine eigene, artbesondere Fühlensweise ist, die als seelische Anlage a priori zum Durchbruch kommt. Religiöse Gefühle sind demnach nicht durch natürliche Selektion entstanden, sondern bilden eine Tiefe in aller Natur ab, die nicht aus selbiger heraus, sondern nur durch sie hindurch zur Erscheinung kommen kann. Da es wahrscheinlich ist, dass Otto – obwohl er sie nicht zitiert – auch die emotionstheoretischen Schriften Darwins kannte,964 ist davon auszugehen, dass er seine eigenen Überlegungen zum religiösen Gefühl und seiner Bedeutung durchaus gerade in der Abgrenzung zu Darwin entwickelte. Eine Gegenüberstellung Ottos und Darwins am Beispiel des religiösen Erlebens ist daher besonders aufschlussreich, um gerade die Unterschiede deutlich zu machen und in den Kontext der Debatten im frühen 20. Jahrhundert einzuordnen. Deutlich wird dabei, dass die Ablehnung der naturwissenschaftlichen Deutung der Religion bei Darwin nicht darüber hinwegtäuschen sollte, dass zwischen beiden gerade im Kontext der Bedeutung der Angst für die Religion augenscheinliche Parallelen methodischer und empirischer Art bestehen.965

3. Angst und »Scheu« in der religionspsychologischen Deutung der Religionsgeschichte – Ottos Kritik an Wilhelm Wundt Ottos Versuch, dem Wesen der Religion auf den Grund zu gehen, führt fast zwangsläufig auf das Problem der Entstehungsgeschichte der Religion. Es stellt sich die Frage: Wie und wann ist Religion entstanden? Grundlegende Überlegungen Ottos zu den Anfängen und Grundprinzipien der Religionsgeschichte gehen auf seine Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundts monumentalem Werk zur 964 Hiervon geht mit schlüssigen Argumenten auch Hanno Willenborg aus, vgl. Willenborg, Von der Billard, 625–638. 965 Vgl. hierzu erneut die These zur Verbindungslinie zwischen dem »›Religionsphänomenologen‹ Rudolf Otto zum ›Seelenforscher‹ Charles Darwin« bei Willenborg, Von der Billard, 625–638. Willenborg sieht die Wurzeln jener produktiven Auseinandersetzung mit Darwin in der frühen und intensiven Darwinlektüre seit der Schulzeit zusammen mit Ottos langjährigem Freund Heinrich Hackmann, mit Verweis auf Strachotta, Religiöses Ahnen, 63.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

327

»Völkerpsychologie« zurück.966 Unmittelbar nach dem Erscheinen des letzten Teils des zweiten Bandes von Wundts Opus magnum mit dem Titel Mythus und Religion unterzog Otto selbiges einer eingehenden Kritik, die er bis in sein Spätwerk hinein immer wieder überarbeitete.967 Allein die regelmäßigen Überarbeitungen und Neuveröffentlichungen seiner Kritik an Wundts völkerpsychologischem Verständnis der Religion sind ein Hinweis auf die durchaus grundlegende Bedeutung derselben für Ottos Gesamtwerk.968 Wie sich im Folgenden zeigt, ist Ottos Wundt-Rezeption überdies auch für seine Unterscheidung von profaner Angst und religiöser »Scheu« von Bedeutung. Wilhelm Wundt und die Frage nach dem Ursprung der Religion. »Völkerpsychologie« – so referiert Otto Wundt – richtet sich auf »diejenige Stufe geistigen Hervorbringens, wo die Gemeinschaft bildet, ohne daß das hervortreten Ein966  Das epochale Hauptwerk Wundts umfasst zehn materialreiche Bände. Gegenstand von Ottos jahrelanger Auseinandersetzung mit Wundts Werk war insbesondere der zweite Band der Völkerpsychologie unter dem Titel Mythus und Religion, der in den Jahren 1905–1909 in drei Teilbänden erschien. 967 Die öffentliche Auseinandersetzung Ottos mit Wundt fällt in seine spätere Göttinger Zeit unmittelbar nach dem Erscheinen seines Buchs Kantisch-Fries’sche Religionsphilosophie von 1909. Im Jahre 1910 widmete Otto Wundt einen längeren Aufsatz: Mythus und Religion in Wundts Völkerpsychologie, in: Theologische Rundschau 13 (1910), 251–275, 293–305 (= Mythus und Religion nach Wilhelm Wundt, in: Deutsche Literaturzeitung 31 (1910), 2373– 2382). Die Studie wurde dann später in überarbeiteter Form als Beilage von Das Heilige und schließlich stark verändert und erweitert als letztes Kapitel des Aufsatzbandes AN abgedruckt. Eine neuerlich überarbeitete Version dieses Aufsatzes wurde 1932 veröffentlicht in GÜ, 11–57. Frühere Bemerkungen zu Wundt finden sich im Rahmen von Ottos intensiver Rezensententätigkeit seit 1900. Ulrich Barth hat in diesem Zusammenhang auf eine Rezension Ottos zu Friedrich Reinhard Lipsius aus dem Jahre 1901 hingewiesen, in der sich Otto am Rande auch zu Wundt äußert (vgl. Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 48, Anm. 38 mit Verweis auf Ottos Rezension zu Friedrich Reinhard Lipsius’ Buch Die Vorfragen der systematischen Theologie). Auch in NRW wird Wundt kurz erwähnt (vgl. NRW3, 238). 968 Ulrich Barth misst in seiner werkgeschichtlichen Untersuchung zu Ottos Religionspsychologie der Wundtrezeption eine entscheidende Bedeutung bei und rekonstruiert auch die wichtigsten Hintergründe von deren Entstehungsgeschichte (vgl. grundlegend Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 48–55). Nach Meinung Barths wurde Ottos Auseinandersetzung mit Wundt in der Sekundärliteratur bisher kaum eingehender zu Kenntnis genommen (vgl. hierzu a. a. O., 48). Dies gilt jedoch nur für die Theologie. In jüngerer Zeit entstanden durchaus Arbeiten zu Otto und Wundt, insbesondere hinsichtlich ihres Verhältnisses zur Psychologie: Stephanie Gripentrog gibt einen Überblick über die Entstehungsgeschichte der Religionspsychologie in: Gripentrog, Rudolf Otto, 155–176, und insbes. zu Wundt vgl. a. a. O., 163–168. Die emotionstheoretischen Parallelen zwischen Otto und Wundt hat Hanno Willenborg ausführlich bearbeitet und als »Schlüsselrolle im Werk Ottos« bezeichnet in: Willenborg, Das Heilige, 256–312. Willenborg verweist auf die 1953 verfasste und nahezu unbeachtete Dissertation zu Otto und Wundt von Louis Gerhard Graf (vgl. Graf, Die Auffassung). Eine frühere zwar knappe, aber umso scharfsinnigere Untersuchung findet sich in der Arbeit von Hans-Walter Schütte, der Ottos Wundtdeutung eine entscheidende Verbindungsstelle zwischen Ottos frühen und späten Werken zuweist und in ihr zudem die maßgeblichen Grundlagen von Das Heilige angelegt sieht (vgl. Schütte, Religion und Christentum, insbes. 45–50).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

zelner dabei eine Rolle spielt«.969 Und in der Tat ging es Wundt im Grundsatz darum, den Fokus der Psychologie vom Individuum und den ihm inhärenten Bewusstseinsprozessen auszuweiten auf das Kollektiv.970 Der Gegenstand, auf den Wundt abzielte, ist also der, mit dem sich heute Kultursoziologie und Ethnologie befassen: »Völkerpsychologie« betrieb er als eine Wissenschaft, die Entstehungsprozesse von sozialen, kulturellen und eben auch religiösen Phänomenen anhand der psychischen Prozesse zu erklären versucht, die in den sie hervorbringenden Gemeinschaften produktiv wirksam sind.971 Ohne an dieser Stelle ausführlicher auf das großangelegte Projekt Wundts einzugehen, wird schon hier deutlich, wo Ottos Kritik ansetzt: Bei aller Hochachtung vor Wundts wissenschaftlicher Gesamtleistung bezweifelt er dennoch schon von vorneherein überhaupt die Möglichkeit einer solchen »Allgemeinpsychologie«, denn auch diese sei letztlich – schon aus methodischen Gründen – auf die Betrachtung der »Leistungen der Einzelseelen« angewiesen.972 Doch der eigentliche Vorwurf Ottos richtet sich nicht auf die seiner Meinung nach illegitime Anwendung psychologischer Methoden, sondern auf die von Wundt hieraus gezogenen Schlüsse für eine Theorie der Entstehung von Religion. Zentral ist hierfür Wundts Theorie der »Apperzeption« unter den produktiven Voraussetzungen der »Phantasie«.973 Wundt beschreibt hiermit im weitesten Sinne den Vorgang, dass der Mensch innere Vorstellungen und Empfindungen an »Objekte« heftet, sie also personifiziert und mittels seiner Phantasie zu einem eigenen »Wesen« synthetisiert. Allerdings findet dieser Prozess unbewusst statt und führt letztlich dazu, dass die objektivierte und von der Phantasie zusammengesetzte Vorstellung nicht als eine solche erkannt, sondern schließlich als real erlebt wird. Das von Otto am häufigsten dargestellte Beispiel in Wundts Konzeption ist jener Vorgang, den man gemeinhin als »Animismus« bezeichnet. Es geht hierbei um einen Beseelungsvorgang, in dem der Mensch kraft der Phantasie sein Innerstes  – die Vorstellung seiner eigenen Seele  – auf einen Gegenstand 969 GÜ,

13.  So folgert Wundt am Ende des dritten und letzten Teils von Mythus und Religion in seiner Völkerpsychologie: »Die Religion ist demnach von Hause aus ein völkerpsychologisches, kein individualpsychologisches Problem« (Wundt, Völkerpsychologie. Mythus und Religion, Bd. VI, 3. Teil, 513). Zum »Wesen der Religion« und seinen individuellen, psychischen Implikationen im Gegensatz zu kulturellen und kollektiven Aspekten der Völkerpsychologie vgl. Wundt, a. a. O., 509 ff. 971  Im Hinblick auf die Kritik Ottos vgl. grundsätzlich die Darstellung von Wundts völkerpsychologischer Deutung der Religion bei Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 48 ff. 972 Vgl. GÜ, 14. Die »Individual-psyche« ist es also, die nach Ottos Auffassung allein Gegenstand der Psychologie sein kann. 973 Religion entsteht demnach laut Wundt aus einer »belebenden Apperzeption, die das eigene seelische Geschehen in die Objekte hineinträgt, und ohne die kein mythologisches Denken verständlich ist« (Wundt, Völkerpsychologie. Mythus und Religion, Bd. VI, 3. Teil, 25). Grundlegend zu Wundts Idee der »Apperzeption« und der Bedeutung der »Phantasie« für die Religion vgl. Wundt, Völkerpsychologie. Mythus und Religion, Bd. IV, 1. Teil, 3 ff und hierzu Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 50 f, sowie Gripentrog, Rudolf Otto, 167. 970

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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projiziert und damit die Vorstellung eines beseelten Wesens hervorbringt, dem er sich schließlich als etwas Fremdem gegenübergestellt sieht.974 Der dahinterstehende Grundgedanke, den Otto im Zuge eines ausführlichen Referats der Wundt’schen Konzeption kritisiert, ist der, dass die »primitiven« Geister‑ und Göttervorstellungen der Religionsgeschichte nicht auf Vorstellungen gründen, die auf ein Erleben folgen, sondern dass umgekehrt ein produktiver Akt der Vorstellung – die »beseelende Apperzeption« – von der menschlichen Phantasie selbst hervorgebracht wird und dann erst zu Erlebnissen führt, die religiös gedeutet werden und in ihrer sozialen und spirituellen Weiterentwicklung zu aufwändigen Kulten und Götterbildern aufsteigen.975 Solche Göttervorstellungen beruhen – das ist die Konsequenz von Wundts Überlegungen – also letztlich auf Illusionen, sie halten etwas für wahr bzw. existent, was letztlich aus der eigenen Phantasie entstanden ist. Wundts Versuch, derartige animistischen Formen als »niederen Mythus« und als Vorstufe der eigentlichen Religion – insbesondere des Christentums – zu disqualifizieren,976 hält Otto für einen Fehlschluss, der letztlich den Begriff der Religion »einseitig westlich« allein für abendländischtheistische Transzendenzvorstellungen reserviert.977 Otto indes schwebt grundsätzlich eine andere Theorie der Religionsentstehung vor: Bemühe man »das intimste Gebiet menschlicher Seelenkunde« – so Otto – dann stelle sich schon allein empirisch heraus, dass Religion ursprünglich und immer aus einer »eigenen Erfahrungs-Quelle« komme.978 Auch wenn der Wahrheitsanspruch solcher »Offenbarungen« nicht zu verifizieren sei, so liege dennoch jeder Form von Religion ein Erleben zu Grunde, auf das hin sich dann erst jene Vorstellungen bilden, die in der Religionsgeschichte aufweisbar sind. Ohne ein vorangehendes Erleben, ohne eine »Erschauung« ist  – so die These Ottos – die Phantasie überhaupt nicht in der Lage, aus dem Nichts jene gewaltigen und zuweilen befremdlichen Bilder und Vorstellungen neu zu generieren, die in der Religionsgeschichte auftauchen.979 So resümiert Otto daher im Hinblick auf Wundt in seiner grundlegenden Antwort auf die Frage nach dem Ursprung der Religion, selbige sei in ihren einfachsten und scheinbar primitivsten Formen

974 Zu Wundts Positionierung unter den animistischen Theorien seiner Zeit als »Hypothesen über den Ursprung der Göttervorstellungen vgl. Wundt, Völkerpsychologie, sechster Band, Mythus und Religion Bd. III, 21 ff. Siehe hierzu die Darstellung Ottos u. a. in: GÜ 24 ff. Seiner Kritik entsprechend, bezeichnet Otto Wundt letztlich schlechterdings als »Animist« (vgl. GÜ, 49., bzw. zu »Wundts Animismus«, DH23–25, 16). 975 Vgl. u. a. GÜ, 38 f. 976 Vgl. GÜ, 45. 977 Vgl. GÜ, 47. Ulrich Barth sieht hier ein Grundmotiv von Ottos Kritik an Wundt vorliegen: »Ottos ganzes Streben ist deshalb darauf gerichtet, Wundts Gegensatz von phantastischer Mythenwelt und ideeller Hochreligion zu unterlaufen« (Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 54). 978 Vgl. GÜ, 48. 979 Vgl. GÜ, 36 f.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

immer schon Religion im eigentlichen Sinne. Vor‑ und Zwischenstufen, wie sie der Animismus behauptet, könne es dagegen nicht geben. Religion fängt »zwar nicht als fertige Religion wohl aber mit sich selbst an, sofern sie, als sensus numinis von Anbeginn Erlebnis des Mysteriösen und Zug und Trieb zum Mysterium ist, ein Erleben, das aus den Tiefen des Gefühlslebens selber, auf Reize und Anlässe von außen hin, als das ›Gefühl des Ganz andern‹ durchbricht.«980

Der Ursprung der Religion ist laut Otto demnach auch kein kreativer Moment der Phantasie oder ein psychisch-soziales Kommunikationsgefüge, sondern ein numinoses Erleben, wie es in Das Heilige beschrieben wird. Es geht auf ein »seelisches Urelement« zurück, das nicht anders, denn als eine geradezu transzendentale Anlage völlig eigener Art beschrieben werden kann, die im Moment ihres entwicklungsgeschichtlichen Vorhandenseins auch zugleich den Ursprungsmoment der Religion markiert: »Wie alle anderen seelischen Urelemente taucht es zu seiner Zeit in der Entwicklung menschlichen Geisteslebens auf und ist dann einfach da.«981

Aus Sicht seiner späteren Werke konnte Otto seine Studien zu Wundt daher eindeutig einem Kapitel in seinem Hauptwerk zuweisen: Dem Kapitel über das Heilige als »Kategorie a priori«.982 Die Phänomenologie jenes Urmomentes religiösen Erlebens fällt hingegen in den Anfangsteil von Das Heilige: Otto beschreibt auch hier ein Angsterleben eigener Art, das er mit dem Begriff der »Scheu« belegt. Von diesem Begriff sagt Otto später, er habe ihn ursprünglich im Zusammenhang seiner »Auseinandersetzung mit Wundts Animismus« erstmals vorgeschlagen.983 Ottos Entdeckung der »Scheu« als Urmoment der Religion. Entgegen dem Vorschlag Wundts, den Ursprung der Religion in – wie Otto es nennt – »Seelenvorstellungen« zu suchen, findet Otto die Ursprungskeime des Numinosen in den Zeugnissen der Religionsgeschichte an ganz anderen Orten: »Das numen, das im geheimnisvollen Grauen der Höhlen und Grotten, dieser weltweiten und allmenschlichen Anreger und Geburtsstätten der »Scheu«, dämmert, das Numen der Einöden und grauenhaften Stätten, der Berge und Klüfte, der ›haunted places‹, der wunderlichen und auffallenden Natur-erscheinungen«.984 980

 GÜ, 53.

981 DH23–25,

151. den Untertitel des Wundaufsatzes in GÜ, 11 mit Verweis auf Kapitel 15 in DH. Hans-Walter Schütte geht soweit, in dem Wundt-Aufsatz von 1910 geradezu eine »Vorwegnahme« der entscheidenden Gedanken von Das Heilige zu sehen (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 45). 983  Vgl. DH23–25, 16. Schon in der Erstauflage von DH bezieht Otto sein Konzept der »Scheu« auf seine Auseinandersetzung mit Wundt (DH1, 15 f), ab der zweiten Auflage dann in einer längeren Fußnote (vgl. DH2, 16). 984 GÜ, 39. 982 Vgl.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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Aus der Beobachtung, dass alle Religionen der Welt derartige Orte und Momente des Grauens, des Tabus, eben der »Scheu« kennen, schließt Otto, dass es sich hierbei um Wiedererkenntnisse handeln muss, die auf ein innerstes Erleben aller Menschen und Kulturen zu allen Zeiten der Menschheitsgeschichte zurückgehen. Offensichtlich »heftet sich«, wie Otto vermutet, hier etwas »an Bilder und Vorstellungen« was zuvor dunkel und diffus am eigenen Leib erlebt wurde. Betrachtet man jenes Erleben genauer, wird man – so Otto – letztlich »überall auf ein eigentümliches Gefühl zurückgeworfen, das Gefühl der ›religiösen Scheu‹, das dämmernd und dunkel den ontologischen Vorstellungs-keim des ›Übernatürlichen‹ impliziert«.985

Jener Vorgang wäre dem Konzept Wundts gar nicht unähnlich, wenn der »Scheu« wiederum Bedrohungen und Ursachen zu Grunde liegen würden. Ganz im Sinne der antiken Parole des »timor fecit deos« sind bei Wundt Angst und Furcht die natürlichen Ursachen der Phantasieanregung für Geister‑ und Dämonenvorstellungen, die schließlich als Vorstufen der Religion verstanden werden.986 Bei Wundt ist in diesem Sinne die Todesangst des Menschen die grundlegendste Bedrohung seines Lebens überhaupt, aus der die Phantasie dann schließlich Jenseits‑ und Gottesvorstellungen apperzipiert.987 Otto nimmt hingegen – dies wurde an anderer Stelle schon deutlich – auch hier wieder »ein Scheuen völlig eigener Art, typisch verschieden von ›Furcht‹ in gewöhnlichem Sinne« an.988 Das angstvolle Grauen, das er als Urmoment der Religion erkennt, ist  – das wurde Otto offensichtlich gerade in seiner Wundtrezeption deutlich – ein unableitbares Angsterleben, »bei dem ganz dunkel bleibt, wovor und was man eigentlich scheut«.989 Es ist diese scheinbar grundlose »Scheu« letztlich der Ur985

 GÜ, 52 (Hervorhebung im Original gesperrt). GÜ, 52 und hierzu das Kapitel II. zu Angst und Religion im Ersten Teil der vorliegenden Untersuchung. Aufschlussreich für Wundts Vorstellung angstvoller Momente der »Scheu« in der Religion und den dahinterstehenden Dämonenvorstellungen ist beispielsweise das Kapitel zur »Heiligkeit der Götter« in Wundt, Völkerpsychologie. Mythus und Religion, Bd. VI, 3. Teil, 309 ff. Es liegt nahe, hier eine wichtige Anregung für Ottos Begriff der »Scheu« zu vermuten, wenn Wundt schreibt: »Die gemeinsame Grundlage aller der Regungen, die der Mensch den Dämonen wie den Göttern gegenüber empfindet, ist das Gefühl der Scheu.« (a. a. O., 314, Hervorhebung im Original gesperrt). Allerdings legt Wundt hier – ganz anders als Otto – gewöhnliche Affekte zu Grunde, die dann durch die Phantasie »Furcht« zu »Gottesfurcht« werden lassen (vgl. Wundt, a. a. O., 312 ff). Auf Wundts Deutung von Angst und Furcht im Zusammenhang mit der Religion hat Thorsten Dietz bereits hingewiesen (vgl. Dietz, Die ­Luther-Rezeption, 94, Anm. 64). Dietz geht davon aus, dass gerade auch von hier aus »ein anregender Einfluss auf Otto« und dessen Konzept der Kontrastharmonie religiösen Erlebens ausgegangen sein könnte. 987 Gegen Wundts These, Todesfurcht als ein entscheidendes Entstehungsmoment der Religion zu verstehen, vgl. DH23–25, 144 ff. Bei Otto ist auch die Angst vor dem Tod letztlich die Angst vor einer Bedrohung und richtet sich damit auf etwas Natürliches – und kann dementsprechend nach seinem Konzept nicht numinos sein. 988 GÜ, 52. 989 Vgl. GÜ, 52. 986 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

sprung aller Religion  – völlig unabhängig von der jeweiligen kulturellen und individuellen Ausdifferenzierung der aus ihr herausgesetzten Analogien und Anschauungsformen.990 Noch deutlicher als an anderen Stellen seines Werks wird hier die zentrale Bedeutung der Unterscheidung von Angst und »Scheu« bei Otto deutlich, indem er jene Aufspaltung numinosen und natürlichen Erlebens der Angst anhand von empirischen Beobachtungen gleichsam zum Ursprungspunkt der Religionsgeschichte erklärt.991 In deutlicher Analogie zu Robert Ranulph ­Maretts Konzept, der mit dem Begriff »awe« ebenfalls ein kultur‑ und epochenunabhängiges religiöses Angsterleben zum Urmoment der Religion erhebt,992 ist Ottos Abgrenzung zu Wundt überdies ein bemerkenswerter Beitrag gegen die seit dem 19. Jahrhundert häufig vertretene Auffassung der Überlegenheit westlicher Kulturen und Religionen gegenüber sogenannten »primitiven«

990  Vgl. hierzu erneut die berühmten Zeilen zum Ursprung der Religion in DH23–25, 16 f. Otto nimmt hier Nathan Söderblom und Robert Ranulph Marett gegen Wundt in Anspruch. Besonders Marett kommt Ottos Angsttheorie »auf Haaresbreite nahe« in dem Konzept, das man später als Präanimismustheorie bezeichnet hat (vgl. DH23–25, 16 f, Anm. 2). Gemeint ist die bei Otto gegen Wundt geltend gemachte Annahme, dass jede Form religiöser oder animistischer Vorstellung auf einen Erlebniskern zurückgehen muss und nicht  – sozusagen aus dem Nichts – aus der Phantasie entwickelt werden kann. Bezüglich der Angst als eines solchen Urerlebnisses der Religion betont Otto die (seiner Meinung bei Marett zwar angedeutete aber noch nicht vollständig durchdachte) Grundbedingung eines »zu allen ›natürlichen‹ Gefühlen in qualitativem Unterschiede stehenden Charakter[s] der ›Scheu‹« (vgl. DH23–25, 17, Anm.). Vgl. zu Ottos Unterscheidung numinoser »Scheu« von natürlicher Angst im Anschluss an seine Kritik an Wundt: Schütte, Religion und Christentum, 47 f. 991 Zur Grundlegung numinoser Angst als das »›Unheimliche‹ und das ›Grauen‹« in der »Scheu« »als »Ausgangspunkt der Religionsgeschichte« vgl. Ottos Verweis auf sein Buch Gottheit und Gottheiten der Arier in DH23–25, 17, Anm. 1. Die Ausführungen zum Thema der »Scheu« als Urmoment der Religion können in diesem Spätwerk Ottos gewissermaßen als Summe seiner theologischen Deutung der Angst gelten (vgl. hierzu unten im Zweiten Teil, Kap IV, 5.2.). 992 Marett prägte in diesem Sinne den Begriff der »pre-animistic religion«, der, ganz ähnlich wie bei Otto, gerade keine Seelenvorstellung oder Phantasieschöpfung zum Ursprung der Religion erhebt, sondern ein »feeling« als Urmoment ausmacht (vgl. Marett, a. a. O., 1 ff). Auch bei Marett ist jenes Urmoment ein eigentümliches Moment der Angst, dem er – ebenso wie Otto – einen eigenen Begriff zuordnet (Marett wählt den Begriff »awe«), um seine Artbesonderheit und Differenz zu gewöhnlicher Furcht (fear) deutlich zu machen: »Of all English words awe is, I think, the one that expresses the fundamental religious feeling most nearly.« (vgl. Marett, a. a. O., 13). Auch Otto hebt das englische »awe« ausdrücklich als einen in »seinem tieferen und eigensten Sinn« besonders angemessenen Begriff für das numinose Erleben der »Scheu« hervor (vgl. DH23–25, 15 und John Harveys Ausführungen zum Begriff »awe« bei Otto in seiner Übersetzung von Das Heilige und hierzu Harvey, The Expression of the Numinous in Englisch, 216–220). Die Differenz zwischen Marett und Otto besteht derweil in der gefühlstheoretischen Deutung jenes Gefühls. Otto geht hier religionsphilosophisch weiter als Marett, der die transzendentale Dimension des religiösen Erlebens nicht näher in den Blick nimmt. Anders als bei Otto ist überdies bei Marett nicht Wundt, sondern Edward Burnett Tylor (ebenso wie James George Frazer) die maßgebliche animistische Gegenposition, von der er sich abgrenzt (vgl. Marett, The Threshold, 1).

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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und »wilden« Naturvölkern.993 Was im religiösen Erleben des »Primitiven« geschieht, gilt – so Ottos fortschrittliche Auffassung gegen Wundt – ebenso für die hochentwickelten Weltreligionen als Kern und Urmoment überhaupt, sodass letztlich Religionen auf der Ebene des Gefühls auf einer Stufe stehen: »Diese Apperzeption einer seltsamen Naturerscheinung ist etwas völlig anderes als die sogenannte beseelende Apperzeption Wundts oder als ein Akt der allgemeinen Beseelung, die angeblich der Primitive geübt haben soll. Er beseelt weder alles beliebige noch beseelt er hier überhaupt. Er hat ein Erlebnis, und eines völlig eigener Art. Er erfühlt hinter einer seltsamen mich zunächst mit eigener ›Scheu‹ erfüllenden Erscheinung fremde seltsame Wesenheit, ein Etwas, das dieses Ding ist und nach ihm ist, in allerlei Wirkung um es her ist, an es gebunden ist, und auch völlig frei von ihm spuken kann.«994

Das Urmoment der Religion war und ist also bei Otto ein Moment erkennenden Fühlens, der an Angst erinnert  – eine rätselhafte »Scheu«. Man kann daran kritisieren, dass diese »Scheu« sich als Urmoment letztlich mit den Mitteln empirischer Religionswissenschaft und Psychologie kaum wird verifizieren und von Angst unterscheiden lassen. Für die Evidenz des religiösen Erlebens, die sich aus der Binnenperspektive der Religion ergibt, ist Ottos Entwurf hingegen von großer Plausibilität. Dem Ursprung der Religion eine unabweisbare und unüberbietbare Erkenntnis – ein Offenbarungsmoment – beizulegen, entspricht dem Selbstverständnis der Religionen der Welt durchaus und ist kaum mit der These beizulegen, er gehe auf ein primitives Fantasieerzeugnis zurück. Religiöses Erleben ist bei Otto, das wird hier einmal mehr deutlich, ein a priori Eingestelltsein des Menschen vor und in allem Fühlen und Denken.

4. Der individuelle Ursprung der Religion – Ottos entwicklungspsychologische Beobachtungen zur Unterscheidung von Angst und »Scheu« Was in der Auseinandersetzung mit dem Darwinismus die Evolution und im Falle der Wundt-Rezeption die Religionsgeschichte betraf, nämlich die Frage nach dem psychologischen Grund der Religion, hat Otto schließlich auch individual‑ und entwicklungspsychologisch zu erforschen versucht. Dabei möchte er offensichtlich einlösen, was er besonders bei Wundt vermisste, nämlich eine vorbehaltlose Erforschung der empirischen Grundlagen der Religion im Kontext 993 Als Beispiele können die von Marett kritisierten James George Frazer und Edward Burnett Tylor gelten. Besonders letzterer hatte mit seinem bedeutenden Werk Primitive Culture von 1871 eine sozialathropologische Studie zur Entstehung und Entwicklung der Religion aus einfachen animistischen Vorstellungen vorgelegt. Hieraus leitete er die vielrezipierte Theorie ab, es habe sich die Religion von hier aus immer höher entwickelt bis sie im Monotheismus der großen Religionen zur Vollendung gekommen sei. 994 Vgl. GÜ, 79 (Hervorhebungen im Original gesperrt).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

ihrer Erlebnisdimension. Im Folgenden geht es also weniger um neue Einsichten und Thesen, sondern um die Darstellung weiterer Anwendungsfelder der bereits dargestellten Idee Ottos. Schon in seiner Auseinandersetzung mit Wundt stellte Otto fest: Das »Verständnis von Religion und auch von Vorreligion muß mit Gefühls-analyse beginnen.«995 Dies geht jedoch seiner Meinung nach nicht – wie im Falle Wundts – völkerpsychologisch, sondern die Analyse muss sich auf den Einzelnen und das individuelle religiöse Erleben richten. Die Methode, die Otto hierfür immer wieder einfordert, ist der Vorgang »seelischer Zergliederung«.996 Gemeint ist damit eine Analyse psychischer Gemütszustände im Kontext der Religion. Es soll das als religiöses Erlebnis gedeutete tatsächliche Fühlen des Menschen möglichst objektiv beschrieben werden. Als Ergebnis einer solchen »Zergliederung« verspricht sich Otto eine Phänomenologie der Religion, die nicht auf rationale Metaphysik oder ein supranaturalistisches Eingreifen höherer Mächte angewiesen ist, sondern den Kern der Religion im Erleben selbst beschreibt und seine Bedeutung in den konkreten Phänomenen enthüllt. Letztlich will Otto herausfinden, was die Religion schon im Erleben über sich selber mitteilt, ohne dass man aufwändige Deutungen und Vorannahmen an sie heranträgt. Dahinter steht die These, dass die Religionen der Welt keine willkürlichen Deutungen und Darstellungsvarianten von Erfahrungen sind, sondern dass das Erlebte die Bilder, Gebräuche und Vorstellungen der Religionen schon aus sich selbst heraus nahelegt und im Gefühl schon a priori präfiguriert. Nur so kann sich Otto die eindrücklichen Übereinstimmungen in den religiösen Vorstellungen und Bräuchen der unterschiedlichsten Religionen der Welt erklären. Ihnen allen liegen seiner These zufolge Momente irrationalen Erlebens zu Grunde, die als rohe und urtümliche Grundgehalte der Religion förmlich zu ihren geschichtlichen Erscheinungsformen drängen und sich ihre Ausdrucksgestalten zu suchen scheinen. Das im vorliegenden Kontext behandelte Phänomen der »Scheu«, verstanden als ein genuin religiöses »numinoses« Angsterleben, ist – soviel wurde bereits deutlich – die wohl unterste und grundlegendste Stufe jener Urmomente der Religion, die sich in allen Religionen der Welt in charakteristischer Weise Raum verschafft hat und durch »seelische Zergliederung« nachgewiesen werden kann. Genau diese empirische Untersuchung der »Scheu« an beispielhaften Einzelerlebnissen soll nun Thema sein. Durch sein Bestreben, sich mit der zeitgenössischen Psychologie auseinanderzusetzen und einen religionspsychologischen Zugang zum Phänomen religiösen Erlebens zu finden, hat Otto einen bemerkenswerten Vorstoß gewagt, der eine

995 Vgl. 996 Vgl.

GÜ, 24. DH23–25, 18.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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stattliche Wirkungsgeschichte entfaltete.997 Die jüngsten Studien von Hanno Willenborg zu den Verbindungen Ottos mit den emotionstheoretischen Debatten seiner Zeit führen vor Augen, wie aktuell und weitreichend sich Ottos Auseinandersetzung mit der Psychologie darstellt.998 Auch in Ottos Versuchen, anhand von Studien über die individuelle Entwicklung der menschlichen Psyche auf empirischem Wege mehr über das religiöse Erleben zu erfahren, wird die grundlegende Bedeutung von Momenten der Angst in der Religion deutlich. Ottos Beschäftigung mit Fragen der Experimentalpsychologie im frühen 20. Jahrhundert und seine religionspsychologischen Studien im Anschluss an sein Hauptwerk sind daher für die vorliegende Untersuchung unerlässlich, zeigen aber auch die Grenzen und Probleme in Ottos Ansatz auf. Die Entdeckung des »sensus numinis« in Momenten der »Scheu« bei ZinDas Interesse Ottos an der damals noch jungen experimentalpsychologischen Wissenschaft erwachte offenbar schon früh. Bereits in seiner Erlanger Studienzeit besuchte er im Wintersemester 1889/90 eine Vorlesung zur Psychologie bei dem Philosphen Gustav Class.999 Über das in seinen frühen Arbeiten der Göttinger Jahre durchscheinende Interesse an psychologischen Fragen hinaus, versucht Otto schließlich in Das Heilige erstmals das religiöse Erleben auch anhand seiner empirischen Phänomene zu beschreiben. Doch auch hier steht die eigentliche »seelische Zergliederung« und die empirische Arbeit mit Fallbeispielen im Hintergrund. Erst in den »Beilagen« zu späteren Auflagen, also in Studien im Anschluss an Das Heilige, begann Otto mit Detailarbeiten zu den empirischen Hintergründen seiner Frömmigkeitstheorie.1000 Ein wichtiges Projekt jener Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen Experimentalpsychologie und zugleich ein über Jahre verfolgtes Forschungsthema Ottos waren die seit 1923 in Aufsätzen verfolgten Studien zu religiösen Kindheitserlebnissen. Mit seinen Kindheitsstudien bewegte sich Otto nicht nur auf damals hochaktuellem Terrain,1001 sondern bot auch erstmals konkrete Anschauzendorf.

 997  Vgl. zu der weitgefächerten Wirkung von Ottos religionspsychologischen Studien und seiner Rezeptionsgeschichte insbes. in der Psychologie Gripentrog, Rudolf Otto, 155–176.  998 Für einen Überblick insbesondere zu den Berührungspunkten Ottos mit Charles Darwin, Wilhelm Wundt, William James und William McDougall im Kontext emotionstheoretischer und religionspsychologischer Debatten im frühen 20. Jahrhundert und deren Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart vgl. Willenborg, Das Heilige, insbes. 428–440, sowie Willenborg, Von der Billard, 625–638.  999 Vgl. Ottos Zeugnis zum Abgang von der königlich Bayerischen Friedrich-Alexanders Universität Erlangen, Verzeichnis der Vorlesungen (Wintersemester 1889/90 bis Wintersemester 1891/92), in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Theol. Prom. 0136, 35–36. Claß wurde besonders durch seine geistphilosophischen Arbeiten bekannt und war in Erlangen ein wichtiger Lehrer Ernst Troeltschs. 1000 Vgl. beispielsweise den Abschnitt zu »Numinosen Urlauten« im Anhang zu DH4, 219 ff. 1001 Hanno Willenborg spricht von einer regelrechten »Flut an Publikationen zum Thema Kindheitsentwicklung zu Beginn des 20. Jahrhunderts« (Willenborg, Das Heilige, 221). Für

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ungsbeispiele für seine Theorie, die nicht aus historischem Material, sondern mehr oder weniger der gegenwärtigen Alltagswelt entnommen waren.1002 Das historische Vorbild seiner psychologischen Beobachtungen fand Otto in Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Ihm kommt laut Otto der Verdienst zu, anders als die übrigen frühen Pioniere religionspsychologischer Forschung im 18. Jahrhundert »das numinose Gefühl deutlich in seiner Besonderung erkannt« zu haben. Ihm gelang es demnach, »innerhalb des Gemütslebens jene ganz besondere Gruppe von Regungen auszusondern, die als die eigens religiösen und besonders als die numinosen zu bezeichnen sind.«1003 Sogleich wird deutlich, welches Ziel Otto dabei verfolgt: Er versucht eine empirische Bestätigung für sein Konzept des religiösen Apriori zu erschließen und findet bei Zinzendorf ein erstes prominentes Beispiel für genau dieses Vorhaben, nämlich für die empirische Darstellung von Gefühlen und Erlebnissen, die als artbesondere und genuin religiöse Gefühle aufgefasst werden können. Anders als in herkömmlicher »Psychologie« im Sinne einfacher »Gefühls-analysen« – Otto nennt als Beispiel hierfür David Hume – gehe es demnach bei Zinzendorf um »tiefere Seelenkunde«, das heißt, um eine Analyse nicht nur der empirischen Erscheinungsform von Gefühlen, sondern auch um deren unmittelbaren Gehalt und Erkenntniswert.1004 Für jenes erkennende Fühlen hinsichtlich des Göttlichen steht bei Zinzendorf der Begriff der »Andacht«, den Otto als deckungsgleich mit jenen Begriffen für das religiöse Erleben versteht, die er in Das Heilige von Fries (»Ahndung«) und Schleiermacher (»Anschauung«) entlehnte.1005 In der deutlich erweiterten Neuausgabe seines Aufsatzes zu Zinzendorf von 1932 arbeitet Otto schließlich – noch ausführlicher als schon 1923 – die empirische Erscheinungsform jenes Andachtserlebens bei Zinzendorf heraus und stößt dabei besonders auf dunkle und angstvolle Gefühlsmomente: »Diese Emotionen sind, wo der sensus spontan und in erster Regung auftritt, zunächst eigentümlich ›abdrängender Art‹: sie sind Scheu und Entsetzen. Und diese Momente unterscheidet Z. gut von sonstigen, natürlichen Furcht-emotionen: er selber braucht dafür schon das Adjektiv ›schaurigt‹.«1006 einen kurzen Überblick zu den damaligen Debatten über das religiöse Erleben bei Kindern vgl. Käbisch, Erfahrungsbezogener Religionsunterricht, 251. 1002 Otto selbst betont daher, dass es sich im Falle der Studien zum »Erwachen des sensus numinis« um Beispiele handele, die mehrheitlich in der modernen Lebens‑ und Alltagswelt »auch in unserer Zeit« zu finden seien (vgl. GÜ, 274). 1003 Vgl. AN1, 51 f. Zinzendorf ist es auch, dem Otto nachträglich die »Entdeckerrechte« des Begriffs »sensus numinis« zuerkennt (vgl. DH23–25, 7. Anm. 1 und AN1, 52). 1004 Vgl. AN1, 51. 1005 Vgl. AN1, 53. 1006 GÜ, 6. Eine der eindrücklichsten Umschreibungen jenes »sensus numinis« findet Otto in Zinzendorfs Londoner Reden: »Alle sichtbaren Kreaturen, sie denken gleich mehr oder weniger, haben einen inwendigen Scheu und Entsetzen, welches sich am meisten zur Zeit der Einsamkeit hervortut …« […] »und dasjenige […] nennet man mit Recht sensum numinis«, es ist ein »Gefühl von etwas Superieurem« (zit. nach Otto in AN1, 54).

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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Was Otto an Zinzendorfs Darstellung besonders zu schätzen scheint, ist dessen deutliche Unterscheidung natürlicher Gefühlsgestimmtheiten von einem besonderen »Beziehungs-gefühle«, einer speziellen »Furcht vor einem ›etwas‹, von dem der Mensch dunkel irgendwie weiß«. Jenes besondere Gefühl, das laut Otto zu einer »besonderen Sinn-deutung des es erregenden Objektes führen kann, sich dann an dieses heftet und es nun einführt in den Bereich der ›mythischen‹ Objekte«, muss nun bei Zinzendorf ausdrücklich nicht an eine religiöse Vorbildung oder ein Bekenntnis gebunden sein.1007 Freilich ist mit dem bei Zinzendorf beschriebenen geheimnisvollen Angsterleben das Wesen der Religion noch nicht vollends ausgemacht. Es ist  – das macht Otto ohne Umschweife deutlich – allein aus dem »sensus numinis« und der dahinter stehenden religiösen Anlage des Menschen noch nicht das eigentliche Zustandekommen der Religionen zu erklären: Ohne weiteres kann die Deutung des Erlebten auch »in die Region des ›Aberglaubens‹ von Spuk und Zauber absinken«.1008 Aus dem »Offenbarungs-geschehnisse« ist demnach das »Gläubigwerden-können« der Menschen noch nicht notwendig herzuleiten. Der Glaube kommt erst dadurch zustande, dass das Erleben auf die Grundlage eines »entwickelten allgemeineren religiösen Gefühles« und damit auf die Heils‑ und Erlösungsbotschaft einer verfassten Religion trifft und sich mit ihr verbindet.1009 Das Erlebte selbst ist also zuweilen zweideutig: Es fehlt dem »sensus numinis« noch die Sphäre des Rationalen um vollends zur Religion ausgeformt zu werden. Schon in Das Heilige hatte Otto dementsprechend die Kategorie des Heiligen als eine »Komplex-kategorie« beschrieben, die erst im Ineinandergreifen von irrationalen und rationalen Momenten vollständig ist. Religion entsteht demnach im Zuge des bei Zinzendorf als Scheu-Erlebnis beschriebenen numinosen Erkennens erst dann, wenn es auf rationale Spuren gelenkt wird: Im »Gläubigsein« der Religion treten demnach »die der christlichen Dogmatik geläufigen Kategorien von revelatio generalis und revelatio specialis« mit dem »sensus numinis« zusammen und lassen erst hieraus die Religion im eigentlichen Sinne entstehen.1010 1007  Vgl. GÜ, 7. Dass auch schon Zinzendorf religiöses Erleben nicht an das christliche Bekenntnis bindet, ist besonders bemerkenswert. Er kommt damit Ottos Goethedeutung sehr entgegen, wenn er das numinose Erleben als eine geradezu anthropologische Grundanlage des Menschen annimmt, die keine religiöse oder gar kirchliche Sozialisation voraussetzt: »Mit Recht erkennt Z. es wieder als das Urelement in den Religionen ›auch der entferntesten Heiden‹« (vgl. GÜ, 7). Und an anderer Stelle: »Er [Zinzendorf] fühlt das Verwandte zwischen den Gefühlen ›selbst der wildesten Heyden‹ mit den Regungen, die spontan auch ihm kommen, ›wenn er abends auf dem Feld‹ ist« (GÜ, 8.). 1008 GÜ, 7. 1009 Vgl. GÜ, 7–9. Die Fähigkeit, allein aus dem Erleben neue Impulse und eine Botschaft für eine Religion zu stiften, ist demnach die seltene Gabe erwählter Propheten – der durchschnittliche Mensch ist auf das Vorfinden verfasster Religion angewiesen, um in ihr das Erlebte wiederzuerkennen. 1010 Vgl. GÜ, 9. Otto bezieht sich, um dies zu erklären, auf die fünfte von Schleier­machers »Reden«, in der das Zusammentreten der speziellen christlichen Erlösungsidee mit dem all-

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Angst und Religion in Ottos Studien zu religiösen Kindheitserlebnissen.1011 Im Aufsatzband Aufsätze das Numinose betreffend von 1923 folgt auf die Auseinandersetzung mit Zinzendorf nun die eigentliche Überleitung auf die empirische Ebene. Otto stellt hier nun Beispiele und Belege für das bei Zinzendorf beschriebene artbesondere numinose Angsterleben – jener »fürchterlichen Seite« religiösen Erlebens – zusammen und konzentriert sich dabei in erster Linie auf Darstellungen von Kindheitserlebnissen.1012 Anhand zweier Beispiele präsentiert Otto hier nun Berichte über »rein numinose Erlebnisse«, in denen sich Menschen besonders unvoreingenommen etwas Überweltlichem ausgesetzt fühlen.1013 Als erstes zitiert Otto ausführlich aus den Jugenderinnerungen des bedeutenden Kunsthistorikers und Landschaftsmalers John Ruskin: »although there was no definite religious sentiment mingled with it, there was a continual perception of Sanctity in the whole of nature, from the slightest thing to the vastest; – an instinctive awe. Mixed with delight, an indefinable thrill, such as we sometimes imagine to indicate the presence of a disembodied spirit. I could only feel this perfectly when I was alone; and then it would often make me shiver from head to foot with the joy and fear of it.«1014

Minutiös kommentiert und analysiert Otto die poetisch ausgestalteten Naturbeschreibungen Ruskins, der ausdrücklich die Unmöglichkeit der adäquaten Darstellung des Erlebten schildert1015 und mit dem Hungergefühl vergleicht, das ebenfalls kaum für jemanden beschreibbar sei, der noch niemals zuvor Hunger hatte.1016 Spätestens im Alter von 20 Jahren meint Ruskin die beschriebenen gemeinen religiösen Erleben des Menschen beschrieben wird. Otto sieht hier eine derart große Übereinstimmung zwischen Schleiermacher und Zinzendorf vorliegen, dass er einen »Überlieferungs-Zusammenhang« hinsichtlich ihrer gemeinsamen Herkunft aus der Herrnhuter Frömmigkeit vermutet (vgl. GÜ, 109). 1011 Eine kürzere Untersuchung zu diesem Thema vor dem Hintergrund des Problems des Verhältnisses von Angst und Religion wurde vom Verfasser bereits vorgelegt: vgl. Schüz, Numinose »Scheu«, 127–142. 1012 Ottos erste Veröffentlichung zu religiösen Entwicklung von Kindern ist der Aufsatz Numinoses Erlebnis bei Ruskin und Parker, den Otto 1923 in AN1, 56–60 veröffentlichte. 1013  Vgl. AN1, 56. 1014 Die zitierte Passage ist ein Ausschnitt aus den Erinnerungen Ruskins aus dessen monumentalem Werk Modern Painters (Band 3, § 19), hier zitiert nach Otto, in AN1, 56 f (vgl. ebenso GÜ, 277). 1015  Was bei Otto keine Erwähnung findet, ist die hierbei nicht unbedeutende Tatsache, dass Ruskin ein großer Verehrer und Freund des Malers William Turner war. In Ruskins großangelegter Verteidigung und Würdigung von Turners Gesamtwerk insbes. gegen die Landschaftsmalerei Lorrains spielt eben jene Unmöglichkeit der Darstellung des Wesens der Natur in der Abstraktion eine zentrale Rolle (vgl. hierzu insbes. Ackroyd, Turner, 132 ff). Auf die ebenfalls zuweilen düsteren und an »anxiety« und »despair« erinnernden Naturerlebnisse und Gemütslagen Turners weist Peter Ackroyd hin (a. a. O., 65). Die Malerei Turners ist von hier aus besehen für die Frage nach dem modernen Angstbegriff in der Kunst ein ganz eigener Gesprächspartner, dem hier aber leider nicht weiter nachgegangen werden kann. 1016 Vgl. Ruskin, ebenfalls zitiert nach Otto, in: AN1, 56 f.: »If we had to explain even the sense of bodily hunger to a person who had never felt it, we should be hard put to it for words;

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Erlebnisse immer seltener gemacht zu haben, da praktische Orientierungsfragen und »›Cares of this world‹« für sein Denken und Fühlen fortan im Vordergrund standen.1017 Otto meint »fast alle Momente« der Kategorie des Heiligen, die er sechs Jahre zuvor in Das Heilige beschrieb, in dem geschilderten Naturerlebnis des jugendlichen Ruskin vorzufinden. Es handelt sich dabei laut Otto um eine gerade nicht explizit religiös erlebte Szenerie in der Natur, die sich ohne eine konkrete objektive Bedrohung durch einen rätselhaften Schauer vernehmbar macht. In Ruskins spontanem Erleben, das  – so Otto  – »nicht aus Reflexion geboren« wurde, sondern aus der »Seelentiefe« als Erkenntnis a priori aufbrach, sieht Otto weder ein rein ästhetisches Naturerlebnis noch eine ethische Erfahrung, sondern eine Begegnung mit »sanctity«, mit dem »Ganz anderen« in dem »Schauer, der entzückend (delight) und schrecklich zugleich [ist], die Mischung des fascinans mit dem tremendum ac stupendum« zum Audruck bringt.1018 Gerade in ­Ruskins Begriffen wie »thrill« oder »awe« werden nach Ottos Verständnis genau jene Angstmomente umschrieben, die eben keine natürliche Angst, sondern ein schlechthin numinoses Gefühl meinen. An einem zweiten Beispiel unterstreicht Otto die These, es gäbe gerade bei Kindern eine »erhöhte Anlage für das Numinose«, die sich in Erinnerungen an eindrückliche Erlebnisse niederschlage. Als Beispiel zieht Otto hierfür ein Zitat des amerikanischen Predigers Theodore Parker heran, der das religiöse Erleben von Kindern zu beschreiben versucht: »Ihr waret verwundert, daß ihr es nicht mit Augen sehen, mit Ohren hören, mit Händen rühren konntet, was ihr doch fühlet und wonach ihr trachtetet mit so seltsamer Undeutlichkeit. Bisweilen mußtet ihr es lieben, bisweilen fürchten. Ihr durftet es nicht nennen, oder wenn ihr wolltet, so war kein Wort als Name genug für ein so wechselvolles Etwas. Ihr verknüpftet es mit allem, das fremd und ungemein war.«1019

Neben den deutlichen Ähnlichkeiten zu seiner Vorstellung der »Kontrastharmonie« sind hier offenbar besonders die gefühlstheoretischen Aspekte für Otto interessant: Ausdrücklich ist  – ganz in seinem Sinne  – nicht von rein sinnlichen Emotionen die Rede, sondern von einer scheinbar artbesonderen eigenen and the joy in nature seemed to me to come of a sort of heart-hunger, satisfied with the presence of a Great and Holy Spirit.« 1017  Vgl. AN1, 57. 1018 Vgl. AN1, 57 f (runde Klammern im Original). Hier klingt eine Einsicht an, die Otto schon sehr früh immer wieder betont hat: Die strenge Unterscheidung ästhetischer Naturerlebnisse von genuin religiösem Erleben. Vgl. hierzu beispielsweise Ottos Bemerkung in seinen Reisebriefen von 1911 angesichts eindrucksvoller Naturerlebnisse auf Teneriffa in ChW 25 (1911), 607: »ästhetisches Erleben der Natur hat zwar tausend Uebergänge in das religiöse und ist ihm verwandt in tiefen Gründen, aber Aesthetik ist nicht Religion. Und ihre Ursprünge liegen ganz wo anders.« Wo nun jene »Ursprünge« liegen – eine Frage, der sich Ottos ganzes späteres Lebenswerk widmet – lässt Otto an dieser Stelle noch offen (vgl. ebd.). 1019 Vgl. den Auszug aus Parkers Predigt, auf Deutsch zitiert bei Otto in: AN1, 59.

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Gefühlskategorie, die mehr ein Erkennen als ein sinnliches Empfinden ist.1020 Die bei Parker durchscheinende Idee einer weder ästhetischen, noch sittlichen, sondern genuin religiösen Anlage1021 – insbesondere bei Kindern – findet Otto gerade in »fylogenetischer Hinsicht« bemerkenswert:1022 Das Phänomen verstärkten religiösen Erlebens bei Kindern weitet Parker zu einer menschheitsgeschichtlichen Hypothese aus. Demnach gibt es auch in der Entwicklungsgeschichte menschlicher Kulturen Stadien der »Kindheit« – Parker nennt jene Kulturen dementsprechend »Kindheitsvölker« – in denen »Sprache noch ein zu plumpes Werkzeug ist für den feineren Ausdruck« und die religiöse Anlage in noch besonders roher und anschaulicher Weise in Personifikationen von Gegenständen und Bildern zum Ausdruck kommt.1023 Ausgehend von derartigem Anschauungsmaterial wie im Falle Ruskins und Parkers hat Otto in den Zwanzigerjahren auch weiterhin empirisches Material in Form von Erlebnisberichten gesammelt und ausgewertet. So konnte er 1926 mit weiteren Beispielen für religiöse Kindheitserlebnisse in Karl Beths renommierter Wiener Zeitschrift für Religionspsychologie hervortreten.1024 Ein entscheidendes und immer wiederkehrendes Motiv sind hierin stets Momente eines eigentümlichen Angsterlebens, in dem Otto gerade keine natürlichen Bedrohungsaffekte, sondern Formen der numinosen »Scheu« erkennt, die er in Das Heilige zu beschreiben versuchte.1025 1020 Vgl. hierzu die bereits mehrfach zu Rate gezogenen Ausführungen Ottos zum Gefühlsbegriff in WÖM1, 383–387 und in GÜ, 327–333. 1021 So betont Otto schon in der ersten Studie von 1923, es handle sich hier um »Nichts ästhetisches, aber auch nichts ethisches oder teleologisches mischt sich ein« (AN1, 58). 1022 Vgl. AN1, 60, Anm. 1. 1023 Vgl. AN1, 60. Dass Otto diese These schätzt, ist naheliegend, tut sich doch in ihr eine Bestätigung seiner Kritik an Wilhelm Wundt auf: Anders als Wundt, der von einer Höherentwicklung der Religion aus animistischen Vorstufen ausging, ist Otto – in Übereinstimmung mit Parker – der Auffassung, dass Religion in ihrer Erlebnisdimension ihre vollendete Form immer schon erreicht und auch in prähistorischer Zeit voll entfaltet hat. Das numinose Gefühl ist demnach in sogenannten »primitiven« Kulturen nicht weniger präsent und lebendig als in den großen Religionen (vgl. hierzu GÜ, 280 f). Zur phylogenetischen Entwicklung der Angst aus rein psychologischer Sicht – auch im Blick auf die Entwicklungspsychologie des Kindes – vgl. Baeyer / Baeyer-Katte, Angst, 16 f, sowie 178 ff. 1024 Der am Ende des Aufsatzes vermerkte Aufruf Ottos an die Leser, ihm weitere Erfahrungsberichte dieser Art zukommen zu lassen, deutet an, dass Otto in den Folgejahren eine regelrechte empirische Studie unternommen hat (vgl. AN1, 60, Anm. 1.). Auch wenn Ottos Vorgehen dabei aus heutiger Sicht nicht den Anforderungen sauberer empirischer Arbeit entspricht, ist sein Vorhaben für die damalige Zeit durchaus bemerkenswert und fortschrittlich. Bezeichnend ist für diesen forschungsgeschichtlichen Sachverhalt die Einführung in das erste Heft der Schriftenreihe »Religionspsychologie« des Wiener Religionspsychologischen ForschungsInstituts unter der Leitung von Karl Beth. Dieser bezeichnet die Religionspsychologie hier noch als »eine junge Wissenschaft, die auf manchem ihrer Wege noch tastend voranschreiten muß. Was sie zu erfassen sucht, ist das religiöse Leben, so wie es ist und verläuft« (vgl. Beth, Einführung, 1). Zu Ottos Beitrag vgl. Otto, Religiöse Kindheitserfahrungen, 99–105. 1025 Aus einer privaten Zuschrift erfährt Otto über ähnliche spontane Angsterfahrungen im Kindesalter: »Als achtjähriges Kind hatte ich einmal abends im Bett solche Angst vor der

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Unter den Kindheitserinnerungen, die Otto auswertete, beeindruckte ihn diejenige des Tübinger Religionswissenschaftlers und zeitweiligen Marburger Kollegen Jakob Wilhelm Hauer offenbar besonders. In Hauers Erinnerung wird das »Spontane und Selbstständige« im religiösen Erleben eines Zwölfjährigen als »ein Sehnen und Lauschen innerster Art« besonders eindrücklich wiedergegeben. Das Erlebte wird hier zum »rauschenden Akkord« und erscheint als eine »rätselhafte, drängende Gegenwart«: »Und nun stürzt es hernieder auf ihn mit erdrückender Wucht, wie eine schauervolle Flut unfaßbarer Wesenheit. Er packt in Angst sein Ährensäckchen, das in der Furche liegt, stürzt bedrängt davon und läuft um sein Leben«.1026

Dass Otto gerade die Ausführungen Hauers immer wieder als Paradebeispiel spontanen religiösen Erlebens anführt, ist hinsichtlich der Frage nach dem Angstbegriff besonders brisant. Denn Hauer geht in seinem Buch Die Religionen von 1923, aus dem Otto das geschilderte Erlebnis zitiert, ausführlich auf die Bedeutung der Angst im Kontext religiösen Erlebens ein und bezieht sich dabei besonders auf Oswald Spengler, wenn er »das Wesen der Religion als Erlebnis« auf eine bei allen Menschen und Kulturen tief veranlagte »Weltangst« zurückführt.1027 Gemeint ist ein »kosmisches Schuldbewusstsein«, das sich nicht durch sittliches Bewusstsein, sondern durch »die Angst vor dem Nichtgewussten« einstellt:1028 »Und beobachten wir uns feinsinnig genug, so entdecken wir in diesen Regungen auch ihre tiefste Wurzel: Es ist die Angst vor der Übergewalt, vor dem Verschlungenwerden, vor dem Ende. Und in der Angst vor dem Unsichtbaren, die ab und zu etwa im Kindes‑ oder Knabenalter auf uns niederstürzt, brechen vielleicht uralte Quellen niederer Schichten der Entwicklung in uns auf und überfluten unser Ich, mit Gefühlen jäher Abwehr.«1029

In Hauers Versuch, »das elementare religiöse Urerlebnis« in seinen »niederen Stufen« als Gefühl für das »ganz Andre« im Moment des »gewaltig SchauervolEwigkeit, daß man mich nicht beruhigen konnte und aus einer Gesellschaft meine Mutter rufen mußte.« Nachdem die Mutter das Kind getröstet hatte – so der Bericht – schlief es ganz ruhig ein. Der lange Brief schließt damit mit dem Vermerk, der Schreiber habe jene Erlebnisse im Erwachsenenalter verloren, er sei »Weltkind geworden«, habe dann aber irgendwann wieder jene – wie er sagt – »angeborenen« Stimmungen seiner Kindheit hier und da wiederentdecken können (vgl. Otto, Religiöse Kindheitserfahrungen, 101–103). 1026  Hier zitiert nach Otto, Religiöse Kindheitserfahrungen, 100. Vgl. dazu Hauer, Die Religionen, 37. Otto zitiert die hier wiedergegebene Erlebnisbeschreibung Hauers erneut in GÜ, 275 f sowie in GGA, 24 f. Hier weist Otto auch darauf hin, dass es sich bei den Schilderungen Hauers um persönliche Erlebnisse des Autors handelt, was in Hauers Buch so nicht deutlich wird. 1027 Vgl. Hauer, Die Religionen, 27 f und dazu GGA, 24 f, wo Otto mit einer ausführlichen Fußnote auf das Problem des Angstbegriffs im Kontext religiösen Erlebens eingeht (vgl. hierzu unten im Zweiten Teil, Kap. IV, 5.2.). 1028 Hauer, Die Religionen, 28 f (Hervorhebung im Original gesperrt). 1029 Hauer, Die Religionen, 29 (Hervorhebung im Original gesperrt).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

len, nicht des Sittlichen« darzustellen, wird die Nähe zu Otto, auf den er sich auch ausdrücklich bezieht, nur zu deutlich.1030 Anders jedoch als Otto  – der Hauers Buch durchaus zu schätzen wusste1031 – sah Hauer kein Problem darin, auch den Begriff Angst für jenes Urgefühl religiösen Erlebens in Anschlag zu bringen, für das Otto allein den Begriff der numinosen »Scheu« in ausdrücklicher Unterscheidung von Angst verwendete.1032 Unter dem Titel Spontanes Erwachen des sensus numinis veröffentlichte Otto 1932 nochmals eine Zusammenstellung von religiösen Erlebnisberichten, in denen er auch einige der früheren Beispiele erneut abdruckte.1033 Deutlicher als in den früheren Studien wird hier Ottos nähere Bekanntschaft mit Erich Rudolf Jaensch deutlich, auf dessen eidologische Forschungen sich Otto ausdrücklich bezieht.1034 Analog zu Jaenschs Grundsätzen der Eidetik geht Otto davon 1030 Vgl. Hauer, Die Religionen, 38 (Hervorhebung im Original gesperrt). Vgl. auch a. a. O., 36 f, wo Hauer mit dem »polaren Charakter« des religiösen Erlebens Ottos Begriff der »Kontrastharmonie« von »tremendum« und »fascinans« sinngemäß wiedergibt und schließlich auch die qualitative Unterscheidung jener »Scheu und Angst« von gewöhnlichen profanen Gefühlen deutlich macht. Bei der Bezugnahme Hauers auf Otto ist zu berücksichtigen, dass Hauer gerade in seiner Marburger Zeit eng mit Otto zusammenarbeitete, insbesondere hinsichtlich des Religiösen Menschheitsbundes. Hauers zunehmender Hang zu völkischen Themen und der »Deutschen Glaubensbewegung« führten jedoch schließlich zum Bruch mit Otto (vgl. hierzu Kraatz, »[…] meine stellung«, 4 und 13, sowie Alles, Rudolf Otto. Autobiographical, 194, Anm. 48). 1031  Vgl. Ottos Rezension zu Hauers Buch (Otto, Rez.: J. W. Hauer, Die Religionen, 437– 439). 1032 Vgl. zur Angst in ihrer besonderen Erscheinungsform als Urmoment der Religion bei Hauer: Hauer, Die Religionen, 28 f, 33 f, 354. Zugleich beschreibt Hauer auch den Vorgang des »Erlösungsganges« im religiösen Erleben von der Angst zu »Hinneigung, der Andacht, der Liebe«: »Was die Angst begonnen, will die Liebe vollenden« (a. a. O., 34). So führt das religiöse Erleben schließlich auch zur Erlösung »von der Weltangst« (vgl. a. a. O., 45). Undeutlich bleibt dabei die Unterscheidung von solcher »Weltangst«, die in der menschlichen Phantasie verhaftet ist (a. a. O., 33 f) von solcher, die im echten religiösen Erleben gefühlt wird und mit Ottos »Scheu« gemeint war – in diesem Punkt bleibt Hauer gegenüber Otto unklar. Vorzuschweben scheint ihm eine mit Spenglers Begriff der »Weltangst« gekoppelte profane Komponente religiösen Erlebens, die in der Religion dann letztgültig überwunden wird durch die Befreiung von Egozentrismus und Selbstsucht. Von hier aus ergeben sich gewisse Anknüpfungspunkte von Hauers Angstbegriff zu den Angst-Deutungen bei Paul Tillich und Werner Elert. 1033 Vgl. GÜ, 274–281. Sowohl Teile des Aufsatzes Numinoses Erlebnis bei Ruskin und Parker von 1923 als auch des Beitrags in der Zeitschrift Religionspsychologie von 1926 fließen hier ein. Neu gegenüber den früheren Studien sind zusätzliche Beispiele aus den Memoiren des viktorianischen Dichters Alfred Tennyson sowie ein Verweis auf die Kindheitserlebnisse des indischen Philosophen und Literaturnobelpreisträgers Rabindranath Tagore. An anderen Stellen seines Werkes streut Otto weitere Kindheitserlebnisse ein. So weist Otto zum Beispiel in GÜ, 95, Anm. 1 auf das Buch Maria und Martha von Ankor Larson (gemeint ist der dänische Schriftsteller Johannes Anker Larsen) hin und macht auch hier ein numinoses Kindheitserlebnis aus. 1034 Vgl. GÜ, 274. 280 f. Zum Verhältnis Ottos zu Jaensch vgl. grundlegend Willenborg, Das Heilige, 151–154.301. Für Ottos Interpretation seiner Kindheitsstudien war der Austausch mit dem Marburger Entwicklungspsychologen und Pionier der Eidetik offenbar von

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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aus, dass »der kindliche Geist überhaupt an Anlagen viel reicher ist als der Erwachsene und daß der Erwachsene häufig zugleich eine Einbuße an Anlagen erleidet«.1035 Dies scheint sich mit Ottos Beobachtung zum religiösen Erleben zu decken: In fast allen Fallbeispielen, die Otto darstellt, wird von einem Rückgang bzw. von einer gewissen Eintrübung der religiösen Anlagen und der Intensität religiöser Erlebnisse im Erwachsenenalter berichtet, woraus Otto schließt, dass die religiösen Anlagen im Laufe des Lebens zurückgehen oder überlagert werden.1036 Otto zieht darüber hinaus aus seinen Fallbeispielen insbesondere bei Kindern den Schluss, religiöse Erlebnisse seien nicht auf religiöse oder kirchliche Sozialisation angewiesen. Deutlich wird dies laut Otto gerade dadurch, dass die Erlebnisse der religiösen Vorprägung und Bildung des jeweiligen Kindes meist sogar geradezu entgegenlaufen und außerordentlich fremd sind. Für Otto ist dies ein Beleg dafür, die Unvoreingenommenheit numinoser Erlebnisse, die sich ohne jede Anleitung oder Vorbildung allein aus einer religiösen Anlage erheben und in Momenten der »Scheu« das Heilige unmittelbar in seiner Erscheinung wiedererkennen lassen. Hieraus meint Otto nun auch ein empirisches Argument gegen die Theorien Wundts und des Darwinismus in der Hand zu haben: Religion ist nicht im Laufe der Menschheitsgeschichte in fortschreitender Entwicklung aus Kultur entstanden, sondern ist »aller Kultur vorangegangen«.1037 Vor allem für damalige Zeit ergibt sich hieraus eine brisante These: Nicht in den Hochkulturen der Gegenwart und ihren ausdifferenzierten Religionen, sondern in den einfachsten und entwicklungsgeschichtlich frühsten Epochen der Menschheit sowie in den am wenigsten zivilisierten Völkern der Welt ist – analog zu Kindern – das numinose Angsterleben in seiner kräftigsten und reinsten Form lebendig: »Es eignet noch heute den Menschen primitiver Kulturen in höherem Maße als den kultivierten Menschen. Und wie noch heute die spezifisch numinosen Gefühle des ›Wunderbaren‹, des ›Grauens‹, der ›Scheu‹, aber auch der Andacht am stärksten und am spontansten sind in der Seele des Kindes und des Naiven, so müssen wir es auch für die Kindheits‑ und Naivitätszeiten des genus Mensch voraussetzen.«1038 grundlegender Wichtigkeit. Jaensch vertritt in seinen Untersuchungen kindlicher Anschauungsanlagen u. a. die These, dass der an Anlagen reiche kindliche Geist mit zunehmendem Alter depotenziert oder eintrübt (vgl. AN1, 60). 1035 GÜ, 280 (Hervorhebung im Original gesperrt). 1036  Vgl. GÜ, 280. 1037  Vgl. GÜ, 280. Schon in Das Heilige machte Otto diese Position deutlich: Es gibt kein »Sich-allmählich-entwickeln« der Religion – dies wäre nämlich »seelische Alchemie und Goldmacherei«, wie Otto sagt – sondern es muss Religion immer schon eine eigene qualitative Größe sein (vgl. DH23–25, 58). 1038 GÜ, 281. Wann immer Otto von »Primitiven« bzw. von primitiveren Religionen spricht, meint er damit keineswegs eine Abwertung (was für damalige Zeit als fortschrittlich gelten kann). Schon in seiner Auseinandersetzung mit Wilhelm Wundt wurde deutlich, dass Otto die zumal eindeutig westlich-europäische Überheblichkeit der Überordnung der großen Schrift­ religionen gegenüber angeblich minderwertigen animistischen Vorstufen für falsch hielt. So kann er auch die einfachsten Spuren der Religion in der frühsten Menschheitsgeschichte als

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Insgesamt bestätigt sich nach Ottos Auffassung in seinen empirischen Untersuchungen der schon zuvor gehegte Eindruck, dass im religiösen Erleben zwei Ebenen des Geschehens auseinander treten: die physiologische bzw. körperlichemotionale Ebene einerseits und der dabei sich vollziehende Wertungs‑ und Erkenntnisprozess andererseits. Während die erstgenannte Ebene der Psychologie zufällt, ist letztere Gegenstand der von Otto sogenannten »Seelenkunde«.1039 Ottos Ziel ist es dabei, die Originalität und Eigenständigkeit der »Seelenkunde« gegenüber der Psychologie nachzuweisen. Otto deutet seine Beobachtungen als Belege für die Unableitbarkeit des im religiösen Erleben Erkannten und intuitivspontan gewerteten Gegenstandes, der weder aus der Physiologie des Vorgangs, noch aus den äußeren Bedingungen des Erlebens, noch aus der Vorprägung und Phantasie des Erlebenden heraus zu erklären ist.1040 Es geht Otto um den empirischen Erweis von »Uranlagen«,1041 die, »so sehr sich diese zugleich mit den Erzeugnissen der ›Völker‹‑ oder der Privat-Fantasie mischen und verdecken mögen«, auf einen ursprünglichen und artbesonderen Kern apriorischen Urteils‑ und Erkenntnisvermögens zurückgehen.1042 Otto versucht also empirisch zu untermauern, was er schon in seinen frühsten Schriften zu vermuten scheint, nämlich eine im menschlichen Wesen veranlagte Fähigkeit des Fühlens  – bei ­Luther erkannte er sie beispielsweise im Begriff »Geist« wieder, bei Fries im Begriff der »Ahndung« – die nicht sinnlich-affektiv, sondern erkennend-intuitiv die natürlichen Kausalzusammenhänge der Welt ähnlich einer platonischen Ideenschau durchstößt und zugleich umfasst. Auf der empirisch-sinnlichen Ebene erweisen sich dabei in der Rückschau einmal mehr diejenigen Erlebnismomente als die grundlegendsten, die zunächst an Angst und Furcht erinnern.1043 In der Wirkungsgeschichte Ottos wird dann später deutlich, dass Otto mit den Versuchen einer empirisch-psychologischen Untermauerung seiner Thesen nicht unbedingt zum besseren Verständnis seines Grundgedankens beigetragen hat. Die empirischen Anmerkungen zur Unterscheidung von Angst und »Scheu« Religion im eigentlichen Sinne anerkennen. Dies gilt beispielweise auch analog für die prähistorische Höhlenmalerei von den »Künstlern der Eiszeit« (vgl. a. a. O., 281). Vgl. hierzu auch GGA, 8, wo Otto der Höhlenmalerei den »vollen Potenzgehalt des ›Künstlerischen‹« zugesteht. 1039 Zu Ottos Unterscheidung der empirischen Psychologie von der »Seelenkunde« vgl. AN1, VIf und hierzu Barth, Das Psychologische, 373. 1040  Hier meint Otto die Parallelen zu Jaenschs Eidologie auszumachen, dem es auch um die Unableitbarkeit imaginativer Bilder ging. Vgl. hierzu Jaensch, Eidetische Anlage und kindliches Seelenleben. 1041 GÜ, 274. 1042 GÜ, 275. 1043 Hierin mag auch der Grund dafür liegen, dass in psychologischen Debatten besonders im Zusammenhang von Angst und Furcht auf Ottos religionspsychologische Studien Bezug genommen wurde. Vgl. zur herausragenden Bedeutung der Angst in Ottos Rezeptionsgeschichte in den psychologischen Debatten des 20. Jahrhunderts Willenborg, Das Heilige, 430 f, sowie grundlegend zum Thema Angst im wahrnehmungspsychologischen Kontext am Beispiel Ottos Willenborg, a. a. O., 142 ff, 151 ff, 221 ff.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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verunklären – wie sich in Ottos Wirkungsgeschichte noch zeigen wird – zuweilen die eigentliche Pointe Ottos, die eine theologische ist, nämlich die, im religiösen Erleben eben keine psychologische Affektkonstellation zu sehen, sondern einen Akt geradezu transzendentaler Erkenntnis. Es kam Otto also – das droht hier leicht übersehen zu werden  – primär gar nicht auf eine empirische Differenzierung von Angst und »Scheu« an, sondern auf deren qualitative, theologische Differenzierung. Überdies stoßen Ottos empirische Studien und Methoden aus der Sicht heutiger Psychologie schnell an ihre Grenzen. Eine eindeutige Unterscheidung unterschiedlicher Angstmomente im Sinne Ottos ist aus psychologischer und neurophysiologischer Sicht heute kaum noch vertretbar.1044

5. Angst und »Scheu« in Ottos Spätwerk – Ein zusammenfassender Überblick Es zeigte sich in den bisherigen Arbeitsschritten, dass Ottos Unterscheidung und Differenzierung von natürlicher Angst als Emotion und numinoser »Scheu« als artbesonderem religiösem Gefühl einen durch sein ganzes Werk hindurchlaufenden und grundlegenden Gedanken umfasst. Die Unterscheidung von Angst und »Scheu« ist geradezu als Paradigma von Ottos Gesamtwerk aufzufassen, welches die für sein Denken fundamentale Unterscheidung von Natur und Geist, von Welt und Gott abbildet und zugleich im Erleben selbst anschaulich zu machen versucht. Auch in Ottos Spätwerk taucht demnach die Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion in den unterschiedlichsten Zusammenhängen immer wieder auf. Da die dahinterstehenden entscheidenden inhaltlichen Fragen bereits ausführlich zur Sprache kamen, sollen anhand einiger Schlaglichter aus Ottos Spätwerk die wichtigsten Grundeinsichten rekapituliert werden. Dabei kommen auch erneut unbekanntere Schriften Ottos zur Sprache, die in der Forschung bisher kaum berücksichtigt wurden. 5.1. Das Problem von Angst und »Scheu« als Unterscheidung von Natur und Geist in Ottos späten Aufsatzbänden Die beiden Aufsatzbände aus dem Jahr 1932, Sünde und Urschuld und Das Gefühl des Überweltlichen, bilden die entscheidenden Stationen von Ottos theologischem, religionsphilosophischem und religionsgeschichtlichem Denken der zurückliegenden drei Jahrzehnte ab. Auch die wichtigsten Aufsätze früherer Jahre ließ Otto – meist überarbeitet – hier erneut einfließen und bot damit ein 1044 Vgl. hierzu die Ausführungen zu Ottos Wirkungsgeschichte in der Psychologie unten im Zweiten Teil, Kap. V, 1.3.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

umfassendes Ergänzungswerk zu seinem ebenfalls immer wieder überarbeiteten Hauptwerk Das Heilige. Einige für das Verhältnis von Angst und »Scheu« interessante Aufsätze kamen in der vorliegenden Untersuchung bisher noch nicht zur Geltung und sollen im Folgenden erläutert werden. In dem Aufsatz Religionskundliche und theologische Aussagen1045 kommt Otto grundsätzlich auf ein Problem zurück, das im Zusammenhang der theologischen Beurteilung des Phänomens der Angst immer wieder aufbricht: die Frage nach dem Verhältnis empirischer, vergleichender Beobachtungen der Religion zu theologischen Aussagen und Urteilen. Was man heute allgemein »vergleichende Religionswissenschaft« nennen würde, bezeichnet Otto hier als »religionskundliche« Methode, die hinsichtlich der Religion als »Betrachtung ›von außen‹« operiert.1046 Die Theologie hingegen redet laut Otto vom »Erkenntnis-charakter« der Religion.1047 Nach ihrem Urteil ist der Mensch in seinen religiösen Vorstellungen nicht durch »schöpferische Fantasie« produktiv tätig, sondern er empfindet sich als »erkennend«, indem er im religiösen Erleben etwas »einsieht, nämlich diesen eigentümlichen Wert«, der sich ihm im numinosen Gefühl erschließt.1048 Für das in allen Religionen anzutreffende Moment numinosen Angsterlebens bedeutet dies, dass in theologischer Perspektive nicht allein das äußere empirische Vonstattengehen des Erlebens von Interesse ist, sondern gerade der Inhalt. Denn im sich hier intuitiv vollziehenden axiologischen Urteil, im Moment des Wertens, wird zugleich ein ontologisches Urteil mitgefällt. Es wird das Gewertete als ein besonderes höchstes Seiendes gewertet bzw. gefühlt: »Was in der numinosen ›Scheu‹ bewertet wird, das wird zugleich implicite als einer ›ganz anderen‹ Wesensordnung eingerechnet, selbst wenn es äußerlich als ein Objekt der Natur erscheint. Was als Das Heilige selber erkannt wird, das ›ist nicht von dieser Welt‹ und muß mit wachsender Klarheit zu allem Diesigen seinem Sein nach in Gegensatz gesetzt werden.«1049

Was Otto numinose »Scheu« nennt, geht also über seine affektive Erscheinungsform deutlich hinaus, es weist auf eine Sphäre »heiligen Seins« hin, die – wie Otto sagt  – »irrational« bzw. geradezu »superrational« ist.1050 Es wird im Heiligen etwas Seiendes erlebt, das jedoch niemals als tatsächliches Seiendes neben anderen seienden Dingen zu stehen kommt, sondern allein im Gefühl als Seiendes erlebt wird. »Der Zusammenhang von Heiligkeit und (ontischer) ›Überweltlichkeit‹ wird zwar dem Gefühle aufs stärkste kund, aber was das negative Hieroglyph ›Überweltliches Sein‹ po1045 Vgl.

GÜ, 58–63. GÜ, 58. 1047  Vgl. GÜ, 60. 1048 GÜ, 59 f. 1049 GÜ, 61 (Hervorhebungen im Original). 1050 Vgl. GÜ, 62. 1046 Vgl.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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sitiv enthalte, sagt nicht, wie bei ›freiem Sein‹, eine klare Vorstellung sondern nur das unaufhörliche Gefühl selbst.«1051

Die Theologie erkennt im religiösen Angsterleben demnach »theologische Deutungs-kategorien«, wo die empirische Religionswissenschaft, die »Religionskunde«, von lediglich »genialer Sondererzeugung der Fantasie« sprechen kann.1052 Die beiden heute mehr denn je methodisch divergenten Disziplinen wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Religion  – Theologie und Religionswissenschaft – werden also schon bei Otto gerade am Beispiel des Verhältnisses von Religion und Angst charakteristisch beschrieben: Während die Theologie im religiösen Erleben die numinose »Scheu« als einen intuitiven und apriorischen Erkenntnisprozess beschreibt, der nicht-religiöser Angst äußerlich zwar ähnlich, aber in seinem Wesen vollkommen fremd ist, geht es der Religionskunde (Religionswissenschaft) um die empirischen Belange, Ausformungen und Erscheinungsformen der sich hier vollziehenden physiologischen Regungen und um deren kulturelle Einbettung, die sich von gewöhnlicher Angst bestenfalls in der Intensität, nicht aber in ihrer Qualität unterscheiden lassen. In seinem Aufsatz Steigende und sinkende Numina1053 greifen nun – dies ist gerade für Ottos Denken charakteristisch  – beide Disziplinen ineinander. In einer umfangreichen Sammlung von Beispielen  – insbesondere aus dem Rig Veda – versucht Otto vorzuführen, wie sich das theologisch beschriebene numinose Erleben durch Religionskunde in den Religionen der Welt identifizieren lässt. Dabei unterscheidet Otto »aufsteigende« und »absteigende« Motive in den Ausdrucksformen des Numinosen. Vor dem Hintergrund seiner Annahme eines numinosen Urerlebens kann Otto religionswissenschaftlich solche religiösen Ausdrucksformen, die »durch Aufstieg und Entfaltung« zu hohen »Göttertypen« führen, von solchen, die durch »Zurückdrängung und Entleerung« dafür sorgen, dass ein »ursprüngliches Moment numinosen Gefühles« schließlich »absinkt« und »zur Karikatur seiner selbst wird«, unterscheiden.1054 Für Ottos numinose »Scheu« ist dieser religionsgeschichtliche Vorgang entscheidend, denn das im numinosen Erleben herausgearbeitete Moment der »Scheu« kann so in theologischer Besinnung religionskundlich in den aufsteigenden und absinkenden Momenten der Religionsgeschichte schemenhaft wiedererkannt werden. In zahlreichen Beispielen versucht Otto zu zeigen, wie in den Religionen der Welt »Potenzen sowohl des Aufstieges wie des Abstieges« enthalten sind:1055 Das ursprüngliche rohe numinose Erleben der »Scheu« kann sowohl aufsteigen zu reinsten Anschauungsformen des »Ganz anderen«, bei1051 GÜ,

62. GÜ, 63. 1053  Vgl. GÜ, 64–115. Dieser umfangreiche Aufsatz kann als Parallelunternehmung zu Ottos im gleichen Jahr erschienenem Buch Gottheit und Gottheiten der Arier gelten. 1054 Vgl. GÜ, 64 f. 1055 Vgl. GÜ, 110. 1052 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

spielsweise im Motiv des »Zornes Gottes«, als auch absteigen zu einfachster Gespensterfurcht, in der sich »zur bloßen Spukfurcht degenerierte Absenker« in Vorstellungen, Bildern und Märchen zeigen, die eher natürlichen Grusel und Angst als numinose »Scheu« erzeugen.1056 So sehr, wie echtes numinoses Erleben in derartig volkstümliche und abergläubige »Absenker« hinein objektiviert werden kann, so wenig kann nach Ottos Auffassung allerdings aus »solchen Abfallprodukten« andersherum ein höheres Moment des Numinosen gewonnen werden. So kann er süffisant konstatieren: »aus dem Waldschrat wird nie ein wirkliches numen, aus den Gespenstern werden nie wirklich dii manes.«1057 Sehr wohl kann also reines numinoses Erleben des »tremendum« in Volksfrömmigkeit und Aberglauben zu den Niederungen einfacher Gruselgeschichten und Gespenstervorstellungen »abgesenkt« und damit von natürlicher Angst überformt werden. Der Umkehrschluss hingegen ist nach Ottos Auffassung nicht möglich: Wie schon in der Kritik an Wilhelm Wundt deutlich wurde, ist die menschliche Phantasie laut Otto nicht in der Lage, hinter primitiver Spukfurcht und Gespensterangst Momente des Numinosen zu erkennen. Denn letztere sind, wie Otto immer wieder betont, keine Ableitungen aus gewöhnlicher Angst, sondern sie setzen ein besonderes Erkennen im Erleben der »Scheu« voraus, das aus natürlicher Angst nicht zu gewinnen ist. Auch hier wird man wie schon an anderen Stellen kritisch anfragen dürfen, ob Otto hier nicht zu radikal argumentiert. Der Vorschlag Paul Tillichs, von Ottos Konzept aus eine kulturtheologische Analyse zu unternehmen, würde gerade in primitiven und märchenhaften Spuk‑ und Gruselerzählungen, sowie in Kunst und Literatur überhaupt Gleichnisse erkennen können, die in ihrer Tiefe eben doch auf das Unbedingte im Bedingten verweisen und damit auf ihre religiöse Substanz hin transparent sind.1058 In seinem Aufsatz Das Ganz-andere in außerchristlicher und in christlicher Theologie und Spekulation1059 kann Otto jedoch auch zeigen, dass numinose »Scheu« nicht nur zu anthropomorphen »Absenkern« der Angst in Märchen und Spukbildern degenerieren kann, sondern dass auch in spekulativer Theologie und Religionsphilosophie das numinose Urerleben »verkappt und verbrämt durch seine ›Schemata‹  – in subtiler Spekulation« umbaut und teilweise ver1056  An anderer Stelle spricht Otto regelrecht von »Abfall-produkte[n] der Explikation des dämonischen Schauers«, in Figuren wie dem »Rübezahl« oder dem »Gespenst« (vgl. GÜ, 46 f). 1057 GÜ, 47. 1058 Zu Tillichs kulturtheologischem Einwand im Kontext der Frage nach der Angst vgl. Schüz, Numinose »Scheu«, 136, sowie im weiteren Zusammenhang Ders., Rudolf Otto und Paul Tillich, 197–136. 1059  GÜ, 212–240. Enthalten sind hier u. a. der frühere Aufsatz Chrysostomus über das Unbegreifliche, der erstmals in der Zeitschrift für Kirchengeschichte 21 (1921), 239–246 erschienen war und dann in AN1, Kapitel 1 erneut abgedruckt wurde. Vgl. zu diesem Aufsatz auch den Gedanken des »Überpersönlichen« in Ottos Studie Tiefen des sensus numinis in GÜ, 261–273.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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deckt wird.1060 Allerdings ist deshalb für Otto beileibe nicht jegliche spekulative Religionsphilosophie zum Scheitern verurteilt. Sogleich wartet er mit Beispielen der Theologiegeschichte auf, welche die Momente religiösen Erlebens eben nicht rational überformen oder spekulativ glätten, sondern durch enorme sprachliche Darstellungskraft die gemeinte »Scheu« anhand philosophischer Begriffe treffend umschreiben. So findet Otto in Begriffen wie der »dissimilitas dei«, der »simplicitas dei« oder der Idee des »Absoluten« traditionelle spekulative Ausdrücke für die Vorstellung des »Ganz anderen«, die – in der Tradition einer via negationis, also mit den Mitteln klassischer negativer Theologie – vom numinosen Erleben der »Scheu« gerade in seiner Inkommensurabilität und Fremdheit zu sprechen verstehen. Im Begriff des »aliud valde« bei Augustinus, besonders aber im »ἀκατάληπτον« bei Johannes Chrysostomus erkennt Otto spekulative Anschauungsformen, die in unübertroffener Weise das unausdrückbare religiöse Erleben gerade in seiner Unfassbarkeit erfassen und zum Ausdruck bringen, indem sie die numinose »Scheu« nicht zu einem natürlichen Angsterleben säkularisieren bzw. naturalisieren, sondern in ihr ein Mysterium, ein »unserer ganzen Natur selber [ein] schlechthin Verschiedenes, darum Erstarren-machendes« erkennen.1061 5.2. »Scheu« als Urmoment der Religion in Ottos Schrift Gottheit und Gottheiten der Arier Für die religiöse Deutung der Angst sind im Spätwerk Ottos schließlich besonders diejenigen Werke von Interesse, in denen er sich mit religiösen Traditionen Asiens auseinandersetze.1062 Die vielleicht pointierteste Darstellung seines Verständnisses numinoser »Scheu« in ihrem Unterschied zu natürlicher Angst hat Otto im Kontext seiner Studien zur indischen Religionsgeschichte in seine Schrift Gottheit und Gottheiten der Arier eingeflochten, deren Einleitung zugleich eine komprimierte Zusammenfassung seiner Religionstheorie überhaupt bietet.1063 1060 Vgl.

hierzu GÜ, 212.  Vgl. GÜ, 234 (Hervorhebungen im Original), und im weiteren Zusammenhang 212–240. 1062  In GÜ setzte sich Otto ausführlich mit der alten vedischen Gottheit Varuna auseinander (vgl. den Aufsatz König Varuna – Das Werden eines Gottes, GÜ, 125–202). Eindrücklich schildert Otto hier besonders die dunkle und abdrängende Aura dieses Gottes als das »Grauenvolle seines Wesens, das am Menschen dann als negatives sacrum, als Furchtbar-Schreckliches« (a. a. O., 130) und als ein »Unnahbares« (a. a. O., 158) erscheint (vgl. hierzu auch die Ausführungen zu Varuna in RGM1, 9 ff). Bereits zwei Jahre zuvor hatte Otto in der Schrift Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum die »bhakti-bewegung« in Indien mit dem Christentum zu vergleichen versucht und dabei die Grundzüge einer Heils‑ und Sündenlehre entfaltet. Auch hier spielt das Erleben des Sündenbewusstseins im Momenten der »Scheu« und des »Kreaturgefühls« eine wichtige Rolle. Vgl. zu den soteriologischen und hamartiologischen Grundzügen dieser Schrift Dietz, »Das Kreuz Christi«, 103 ff. 1063  Vgl. insbes. die Einleitung in GGA, 1–15. Darüber hinaus führt Otto einen neuen Begriff ein: die »Numinosierung«. Gemeint ist hiermit ein Vorgang, der an die in Das Heilige beschriebene »Anamnesis« erinnert, allerdings vielmehr im Sinne eines produktiven Vorgangs der »Assoziation«: Das Numinose wird nicht nur in natürlichen Gegebenheiten wiedererkannt, 1061

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Es kommen dabei inhaltlich zum Problem der Angst kaum neue Erkenntnisse zutage. Dennoch lohnt ein Blick auf diese eher unbekannte Schrift Ottos, da in ihr das Verhältnis von Angst und »Scheu« nochmals in aller Klarheit und anhand zahlreicher Beispiele dargestellt wird. Immer wieder stößt Otto im Zuge seiner Darstellung der Urmomente religiösen Erlebens am Beispiel der alt-arischen und vedischen Gottheiten auf Momente und Strukturen, die ihn sein Verständnis des Verhältnisses von Angst und Religion erneut vortragen lassen. Die hieraus entstandenen Ausführungen zum Angstbegriff können zugleich als Resümee aller bisherigen Überlegungen gelten. Anhand der Schilderung eindrücklicher Naturfrömmigkeit und fremdartiger Naturgottheiten fühlt sich Otto offenbar genötigt, nochmals endgültig auf die religionskritische antike Parole des »deos fecit timor«  – der im Ersten Teil dieser Studie entfalteten These der Entstehung der Religion in Folge von Angst – einzugehen. Die Annahme, es habe zunächst in der frühsten Menschheitsgeschichte nur natürliche Angst im Sinne von »Angst vor Schädigung« gegeben, die dann zu Gottesvorstellungen ausgebaut worden sei, hält Otto für grundlegend falsch.1064 Aus seinen Beobachtungen und Studien zum religiösen Erleben heraus sieht Otto vielmehr den Grund für die Momente der »Scheu« und des »tremendum« nicht in einer Gefahr für Leib und Leben, sondern – wie schon mehrmals erläutert – in einem besonderen Wertungsvorgang in der Begegnung mit einem »Tabu«: »Ein Tabu ist aber nicht nur das aus Gründen der Angst Unberührbare, sondern es ist ein vom ›Unreinen‹ Unberührbares, es ist ein respektierbares. Ganz elementar entbindet sich aus numinoser Apperzeption die Erkenntnis, oder sagen wir vorsichtiger, die Anerkenntnis eines Respekt-wertes völlig eigener Art.«1065

Otto dreht die Reihenfolge des Entstehens der Religionen also geradezu um: Nicht die dunklen und grauenhaften Momente und Vorstellungen in den Religionen entstehen in Folge von natürlicher Bedrohung, sondern aus einem ganz ursprünglichen Erleben der »Scheu« im Zuge eines intuitiven Bewertens und Gewahrwerdens einer numinosen »Macht« heraus werden erst anschließend natürliche Momente der Angst angeeignet, an Naturphänomene geheftet – »numinosiert« – und in die Formen religiöser Ausdrucksgestaltung einbezogen:

sondern förmlich an sie herangetragen und bringt in diesem Vorgang die Grundlagen und Urformen der Religionen hervor. Für Darstellungen und Interpretationen des Begriffs der Numinosierung (insbesondere in Angrenzung zu der Vorstellung einer »Naturbeseelung«) vgl. GGA, 7.15 und besonders 65 f. 1064 Vgl. GGA, 11. 1065 GGA, 11.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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»Natürliche Hemmnis oder Schrecknis wird von übernatürlichem Schrecknis durchglüht. Aber letzteres entsteht nicht aus ersterem, es ist gleichsam eine Form a priori, die ersteres als Materie in sich aufnimmt.«1066

Die auf ein »tremendum« bezogene »Scheu« ist also eine »rohe Ersterregung des numinosen Gefühles«,1067 die laut Otto keineswegs aus ihr zu Grunde liegenden nicht-numinosen Angstmomenten hervorgegangen sein kann. Es kommt einer Zusammenfassung aller seiner früheren Bemerkungen zum Verhältnis von Angst und Religion gleich, wenn Otto schließlich über den Ursprung und ersten Aufbruch des sensus numinis resümiert: »Es war nicht eine sogenannte ›Weltangst‹, es war auch nicht bloße natürliche Angst vor natürlicher Schrecknis oder Gefährdung. Der ›Naturmensch‹ ist so ›ängstlich‹ gar nicht; selbst in bezug auf Krankheit, Untergang und Tod ist er vielfach gelassener oder vielleicht stumpfer als der ›Kulturmensch‹, und was er von natürlicher Furcht oder Schrecken besitzt, das bringt aus sich nicht diejenigen qualitativ ganz besonderen Angst-, Sorge‑ und Furcht-Zustände zuwege, die für elementare Religion in der Tat weithin charakteristisch gewesen sind.«1068

Ganz ausdrücklich als Gegenentwurf der im Ersten Teil vorgestellten These des »deos fecit timor« plädiert Otto für den Umkehrschluss der klassischen Hypothese der Herleitung der religiösen »Scheu« aus natürlicher Angst: »Nicht aus natürlichen Schreckgestalten erwuchsen ihm [dem Menschen] die numina, sondern umgekehrt, erst aus numinosem Gefühl heraus erwuchsen ihm die eigentlichen Schreckgestalten, die dräuend, sichtbar oder unsichtbar, ihn umlagerten, die im natürlichen Schrecknis sich offenbarten, aber auch von solcher Einkleidung ganz abgesehen, als völlig außernatürliches Gebild da waren und als solches am drohendsten waren.«1069

Was Otto hier am Beispiel vedischer Gottheiten vorführt, ist letztlich nichts anderes als eine neuerliche Zusammenfassung seiner Frömmigkeitstheorie überhaupt, die er insbesondere in seinem Hauptwerk Das Heilige, aber auch darüber hinaus in der Summe seines Werkes über Jahrzehnte entfaltete. Otto macht in diesem Zusammenhang klar, dass die Wurzel und der eigentliche Kern seiner Arbeit zum religiösen Erleben des Menschen im numinosen Gefühl letztlich in seiner Entdeckung der »Scheu« als dem alle Religion begründenden Urmoment mündet. Die in seinen Werken immerzu bekräftigte Abgrenzung jener »Scheu« 1066 GGA, 12. Ausführlich schildert Otto an anderer Stelle, wie sich seiner Meinung nach aus jenem Urmoment der »Scheu« heraus das »tremendum« gewissermaßen »objektiviert«. Es heftet sich so in der Gottheit Rudra – laut Otto geradezu eine Personifikation des »tremendum«  – an das numinose Urmoment der »Scheu« eine reiche Sammlung von Assoziationen und Objektivationen, die der Alltagserfahrung entstammen und dem angstvollen numinosen Erleben ähnlich sind: geheimnisvolle Naturgewalten, wilde Tiere usw., in denen gleichsam Rudra wiedererkannt und objektiviert wird (vgl. hierzu GGA, 20 ff). 1067 GGA, 8. 1068 GGA, 6. 1069 GGA, 6.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

von profanen Analogien, insbesondere von dem in der Moderne hochbrisant diskutierten Angstbegriff, lässt sich schließlich geradezu als Schlüssel zum Verständnis seines Grundanliegens begreifen: Religion ist nicht ein Phänomen unter anderen, sondern ist eine das Wesen des Menschen notwendig bestimmende Konstitution. Nicht das Wesen der Religion allein versucht Otto so zu erfassen, sondern er entwirft zugleich stillschweigend auch eine Theorie des Wesens des Menschen überhaupt, indem er seinem Fühlen und Erleben mit der Religion eine apriorische Kategorie unhintergehbaren Wertens und Deutens unterstellt, ohne die die Entwicklungsgeschichte der Menschheit und ihrer Kultur schlechterdings nicht vorstellbar wäre. Als Beispiel hierzu kann eine weitere Passage zum Angstbegriff gelten, in der Otto die Entstehung jeglichen Grauens und jeglicher Unheimlichkeit in der Natur nicht an natürliche Furchtinstinkte und Angsterlebnisse bindet, sondern diesen sogar geradezu entgegenstellt, um die eigentliche Wurzel jenen Grauens in dunklen Höhlen und  – wie Otto gerne sagt  – »haunted places« in einem »Erlebnis ›numinoser Gegenwart‹ mitten in unserer Gegenwart« zu suchen.1070 In einer Anmerkung zu dem bereits an anderer Stelle erwähnten religiösen Kindheitserlebnis Jakob Wilhelm Hauers, das Otto hier erneut ausführlich interpretiert,1071 schildert Otto dafür einen Hergang, den er in Anlehnung an die vedische Terminologie ein »rudra-Erlebnis« nennt, nämlich das plötzliche Aufkeimen von »Angst« angesichts von Naturereignissen. Seinen neuerlichen Hinweis darauf, dass ein so geschehenes Naturerlebnis »eben nicht Angst ist, sondern eine ganz spezifische ›Angst‹, nämlich ein Grauen, und daß dieses [sowohl] qualitativ etwas anderes ist als Angst«, verstärkt Otto mit der These, jenes rudra-Erlebnis breche gerade dort in besonderer Weise durch, wo »bloß natürliche Angst vielleicht nur schwach oder vielleicht gar nicht sich regt.«1072 Als Argument hierfür führt Otto ins Feld, »der Wilde, der, seiner Umgebung längst gewöhnt, auf Jagd geht«, empfinde an markanten Naturerscheinungen eben gerade keine natürliche Angst: »Das Wenige, was er hier noch von natürlicher Angst empfindet, würde sich zu keinem Gebild gestalten, wenn es nicht als Reiz und Anstoß wirkte für numinose Fühlensweise.«1073

Mit anderen Worten: Die in den Religionen mit tiefem Schauder und Grauen als unnahbar verehrten und anerkannten heiligen Orte sind ihrer Äußerlichkeit nach viel zu gewöhnlich und viel zu wenig eine tatsächliche Gefahr, als das die hier zuweilen intensiv erlebten Gefühle der »Scheu« aus instinktivem Überlebenstrieb und damit verbundenem natürlichem Angstempfinden entsprungen sein könn1070

 Vgl. GGA, 24. GGA, 24 f. Vgl. hierzu die Überlegungen oben im Zweiten Teil, Kap. IV, 4. 1072 Vgl. GGA, 24, Anm. 1. 1073 Vgl. GGA, 24, Anm. 1. 1071 Vgl.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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ten. Völlig »unscheinbare und fast zufällige Momente« werden demnach häufig zum Auslöser intensivster numinoser »Scheu«, weshalb diese – so Ottos logische Schlussfolgerung  – nicht aus dem natürlichen Anlass der Furchterregung entstanden sein kann, sondern aus »ganz anderen Seelentiefen« hervorgebrochen sein muss.1074 Otto ist der Meinung, religiöses Erleben der »Scheu« ereigne sich deshalb durchaus auch und gerade bei denjenigen Menschen, »die von Haus aus gar nicht ›ängstlich‹ sind«.1075 Nicht ein besonderer Hang zu natürlichem Angstempfinden, sondern die religiöse Anlage ist folglich die entscheidende Voraussetzung für die Fähigkeit spontanen numinosen Erlebens. Die apriorische Trennung von Angst und »Scheu« führt Otto an dieser Stelle sogar zu einer noch kühneren Vermutung: »Ja, vielleicht kann tiefstes innerlichstes Grauen überhaupt nur empfunden werden von Naturen, die robust und stark sich gewöhnliche Ängste nicht ankommen lassen.«1076

Der religiöse Virtuose oder Prophet würde sich – wenn die These zutrifft – folglich besonders dadurch auszeichnen, dass seine Erlebnisse des Grauens und der »Scheu« im krassen Gegensatz stehen zu seiner sonstigen Persönlichkeit und Gemütslage, die ihn sich gerade nicht vor Bedrohungen der Natur fürchten lassen – ein deutliches Votum gegen das klassische Paradigma »deos fecit timor«. Schließlich kommt Otto auf jenen Aspekt im Zusammenhang religiösen Erlebens zu sprechen, den er in Das Heilige als »fascinans« beschrieben und als Erlösungsmoment in seiner Interpretation der Gethsemane-Perikope geschildert hatte, nämlich die bei allem Grauen dennoch anziehende Kraft im Erleben numinoser »Scheu«. Das empirische Phänomen, das Otto hierfür heranzieht ist überaus einleuchtend: »[…] wäre die numinose Scheu einfach Schrecken, Angst, Furcht im gewöhnlichen Sinne, so könnte man vor einem erfahrenen Graus-Dinge nur davonlaufen und ihm für immer möglichst aus dem Wege gehen, nicht aber es geradezu suchen, nach ihm begehren und von ihm erfüllt sein wollen.«1077

Ein dem psychologischen Tatbestand der Angst völlig entgegenlaufendes Phänomen spielt sich demnach im religiösen Erleben ab: Keine Flucht oder Abwehr ist die Folge, wie sie normalerweise instinktiv der Angst folgt und folgen muss, sondern genau das Gegenteil: eine »eigentümliche Faszination und Attraktion« schwingt im Erleben mit.1078 Es wird das Erlebte trotz aller abdrängenden Macht 1074 Vgl.

GGA, 24, Anm. 1. 25, Anm. 1076 GGA, 25, Anm. 1077 GGA, 48. 1078  Otto verweist an dieser Stelle ausdrücklich auf seine Studien zur Mystik, die im vorliegenden Zusammenhang ausführlicher im Kontext von Ottos L ­ uther‑ und Schleiermacherdeutung, sowie in Das Heilige dargestellt wurde. Elementar ist auch hier der Gedanke, dass Mystik sich nicht allein in einer entrückten »All-eins-Schau« ergeht, sondern in der Religions1075 GGA,

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

als »sich zukehrend, als vertrauenswürdig, als hilfs‑ und schutzbereit« erfahren. Der »›ira‹ tritt entgegen die gratia«,1079 ganz ähnlich wie dies von Otto schon in ­Luthers Begriff des »adhaerere deo« vorgeführt wurde. Was sich in Das Heilige bereits als Schlüsselstelle herausstellte – Ottos Interpretation der Kontrastharmonie religiösen Erlebens in der Gethsemane-Perikope – wiederholt Otto hier nun sinngemäß am Beispiel der alten vedischen Tradition: »In der numinosen Scheu entspringt die Idee dräuender Schreckensmacht, die den Menschen umlagert und bedroht. Aber aus derselben Wurzel entspringt auch andererseits – und offenbar durch eine eigene, unableitbare Intuition – die Idee, daß solche Schreckensmacht, wenn versöhnt, Heils und Segensmacht ist. Aus der numinosen Scheu entspringt die Idee der feindlichen Gewalt, aber aus ihr selber entspringt auch die Idee der numinosen Übergewalt, die die Widergewalt bannt, besiegt vernichtet.«1080

Der Grundgedanke der »Kontrastharmonie« religiösen Erlebens wird hier am Beispiel der »Scheu« anschaulich: Gerade im Moment des abdrängenden Grauens bricht das anziehend beseligende Moment auf. In christlicher Deutung würde dies heißen: Gerade im Kreaturgefühl, im schlechthinnigen Sünden‑ und Verlorenheitsbewusstsein greift die Erlösungsbotschaft der alles überbietenden und umfassenden göttlichen Gnade ein. In Das Heilige hatte Otto schon im Fluchtpunkt genau dieses Gedankens das Zentrum seiner Soteriologie und Kreuzes­theologie verankert: Das »Kreuz Christi, dieses Monogramm des ewigen Mysteriums« bedeutet für Otto dort die »tiefste religiöse Intuition«, die »je auf dem Gebiete der Religionsgeschichte zu finden gewesen ist«.1081 Im »Kreuze Christi« wird das Zusammentreten des »Offenbaren mit dem ahndevollen Unoffenbaren, der höchsten Liebe mit der schauervollen orgḗ des numen« nach Ottos Dafürhalten in herausragender Weise zur Anschauung gebracht und bringt damit zur Vollendung, was schon im einfachsten religiösen Erleben in der Natur im Moment der »Scheu« und des »Grauens« im grundlegenden Unterschied zu profaner, natürlicher Angst angelegt und lebendig ist.1082

geschichte häufig auch in Form eines »horror mysticus« begegnet. Vgl. hierzu grundlegend das Kapitel zu Tremendum und Mystik in AN1, 65–70. Bemerkenswert ist hier besonders der Bezug zu Platon, den Otto herstellt: Schon in Platons Phaidros sieht Otto ein feines Gespür für den in der Ideenschau mitschwingenden »Moment des numinosen Erschauerns« (vgl. AN1, 66). Schleiermacher übersetzt die von Otto zitierten Stellen mit griechischen Begriffen wie »ephrixe« und »deimaton sepheisa hyptia« bezeichnenderweise mit »Angst« und »Ehrfurcht«, was Otto prompt zu einem Verbesserungsvorschlag herausfordert: »(besser wohl heiliger Scheu)« (vgl. AN1, 66, Anm. 2, Klammer im Original). 1079 GGA, 50. 1080 GGA, 12. Zu dem in DH beschriebenen analogen Vorgang in der biblischen Szene im Garten Gethsemane vgl. die diesbezüglichen Ausführungen oben im Zweiten Teil, Kap. III, 1.2. 1081 Vgl. DH23–25, 200. 1082 Vgl. DH23–25, 200.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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5.3. Angst und Religion in Ottos Jesusdeutung Ottos im Jahre 1934 veröffentlichtes Jesusbuch mit dem Titel Reich Gottes und Menschensohn. Ein religionsgeschichtlicher Versuch ist sein letztes größeres Werk.1083 Otto versucht darin das Leben, die Botschaft und das Wirken Jesu religionsgeschichtlich einzubetten und im Kontext der »spät-jüdischen Eschatologie und Apokalyptik« zu verorten und zu verstehen.1084 Sowohl die von Jesus aufgenommenen und adaptierten Traditionen seines damaligen Umfeldes – insbesondere aus dem Judentum  – als auch seine Innovationsleistung und die Besonderheiten seiner Reich-Gottes-Botschaft untersucht Otto demnach im Rahmen einer religionsgeschichtlichen Studie. Dabei greift er auch auf seine umfassenden Arbeiten zu fernöstlichen Traditionen und Religionen zurück, die er dem Leben und Wirken Jesu vergleichend gegenüber stellt. Jedoch bleibt es nicht bei einer religionsgeschichtlichen Erkundung, denn hinter den Ausführungen Ottos scheinen auch christologische Grundgedanken durch. Die eigentümliche Zurückhaltung Ottos in Fragen der Christologie,1085 die schon in seinen früheren Werken sowie in seiner mehrmals gehaltenen Vorlesung zur Glaubenslehre zu beobachten ist,1086 erfährt hier gewissermaßen ihre Auflösung: In seine religionsgeschichtlichen Beobachtungen verwoben, führt Otto hier die Pointe seiner 1083  Das Buch Reich Gottes und Menschensohn ist in seiner Bedeutung für die Theologie ­ ttos vergleichsweise wenig rezipiert worden. Die besten Darstellungen und Auswertungen O sind bis heute diejenigen von Hans-Walter Schütte (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 61–69) und von Ernst Benz (vgl. Benz, Rudolf Otto und die Erforschung, 377–382). Sehr rege war hingegen die direkte Reaktion auf Ottos Jesusbuch im Hinblick auf seine exegetischen Passagen und Ergebnisse in Form von Rezensionen. Für eine Übersicht über die überwiegend kritischen Reaktionen unmittelbar nach der Erstveröffentlichung vgl. Schütte, a. a. O., 63. Zu der jahrelangen Entstehungsgeschichte des Werks vgl. Benz, Rudolf Otto als Theologe, 37 f. 1084  Vgl. RGM1, 4, im weiteren Zusammenhang, 3 ff und dazu Benz, Rudolf Otto und die Erforschung, 378 ff. Zur Genese von Ottos Jesusbild insbesondere in seiner Göttinger Zeit unter besonderer Berücksichtigung seines Austauschs mit Wilhelm Bousset vgl. Laube, Rudolf Otto und die Religionsgeschichtliche Schule, 223 ff. 1085 Dass Otto keine ausführliche und systematische Christologie ausführte, heißt jedoch nicht, dass er, wie Reinhard Feldmeier meint, »mit keinem Wort« auf die Christologie eingegangen ist (vgl. Feldmeier, Der Heilige, 85). Zu verweisen wäre auf die Schriften LWJ, GICh und besonders RGM. Diese Schriften im Blick, wird deutlich, dass sogar DH eine – wenn auch zurückhaltende und eher implizite – Christologie enthält, insbesondere in Kap. 21 Divination im Urchristentume (vgl. DH23–25, 183 ff), in dem Otto »den Hauptsinn Christi« darin sieht, »selber ›das Heilige in Erscheinung‹ zu sein« und damit zu ermöglichen, an ihm »selber spontan das sich offenbarende Walten der Gottheit ›anschauen und fühlen‹« zu können (DH23–25, 183). 1086 Zur Christologie in Ottos Vorlesungen zur Glaubenslehre vgl. Lauster, Der unbekannte Otto, 162 und in Bezug auf RGM: Schütte, Religion und Christentum, 62 f. Offen bleibt in den Fragmenten der Glaubenslehre die Frage, ob hinter Ottos Zurückhaltung in der Christologie nicht vielleicht sogar eine Absicht steckt, nämlich eben die, das Konzept einer Christologie, die Jesus Christus zwar auch als herausragendes Subjekt der Divination, besonders aber auch zugleich als entscheidendes Objekt der Divination begreift, bewusst der dogmatischen Spekulation zu entziehen und damit in ihrer Bedeutung als Mysterium und als Moment religiösen Erlebens zu unterstreichen. Zu dieser These, die Christologie sei gerade implizit »in Ottos Schaffen immer präsent« gewesen, vgl. Lauster, a. a. O., Anm. 3.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Christologie als eine Lehre von der Divination vor, wie er sie in seinem Hauptwerk bereits andeutete. Nicht in dogmatischen oder trinitarischen Formeln, sondern gerade im Leben und der Person Jesu kommt laut Otto das Göttliche als das Heilige zur »Erscheinung«. Es wird in der Begegnung mit ihm und seiner Botschaft intuitiv erlebt und erkannt, was Erlösung bedeutet: »Heil und überschwänglichstes Heil, Befreiung und Überwindung der ›Welt‹, des weltlich-gebundenen Daseins, ja der Kreatürlichkeit überhaupt, Überwindung von Gottesferne und Gottesfeindschaft, Erlösung von Sündenknechtschaft und Sündenschuld, Versöhnung und Entsühnung«.1087

Nicht, dass Jesus ein herausragendes »Subjekt der Divination«, also ein erleuchteter religiöser Virtuose und vorbildlicher Prophet war, ist demnach das Entscheidende an ihm und auch die durch historisch-kritische Exegese erforschbaren Überlieferungen seines Selbstverständnisses sind laut Otto nur bedingt aufschlussreich, um seine Bedeutung als Sohn Gottes zu begreifen.1088 Denn letztlich ist es – das machte Otto schon in Das Heilige klar – der »nicht durch Lehre sondern durch Erleben gewonnene Glaube«, der das Christentum auszeichnet und in seinem Kern ausmacht.1089 Jener Christusglaube beruht nach Ottos Auffassung auf dem Gefühl, in der Begegnung mit Jesus schlichtweg »eine wirkliche Offenbarung« zu erleben und in ihm demnach das ultimative »Objekt« der Divination zu sehen.1090 Wie damals bei den Anhängern und Mitmenschen Jesu ist folglich auch heute noch die »spontane Einsicht und Anerkenntnis« entscheidend, in Jesus dem Heiligen in seiner Erscheinung und damit dem Göttlichen selbst zu begegnen.1091 Was damals den Menschen aus dem Umfeld Jesu ebenso wie heute den Hörern seines Lebens und Wirkens zum Erlösungserlebnis wurde und wird, ist demnach die unmittelbare Wirkung seines Eindrucks im Gefühl, demgegenüber die theologischen Aussagen über seine Person in Bibel und Dogmengeschichte eine eher sekundäre Rationalisierungsleistung darstellen. Schon zwei Jahre vor seinem späten Jesusbuch machte Otto diese DivinationsChristologie als Grund und Kern des christlichen Glaubens aus, wenn er in seiner Indienschrift zum Begriff der Sühne schreibt: »Sondern daß Christus ein ›Versühner‹ sei, ist der tiefste Sinn seiner Erscheinung, und alle spekulativen Lehren über seine Person finden erst von hier aus ihren besonderen Sinn und zugleich den theologischen Maßstab hinsichtlich ihrer Gültigkeit.«1092

1087 Vgl.

DH23–25, 191. DH23–25, 183 f. Otto macht deutlich, es sei in erster Linie die »Reichs-botschaft« gewesen, die im Zentrum der Verkündigung Jesu stand, während seine »Selbstaussagen« eine vergleichsweise marginale Rollen gespielt haben (vgl. DH23–25, 184). 1089  DH23–25, 187. 1090 Vgl. DH23–25, 183. 1091 Vgl. DH23–25, 184. 1092 GICh, 81. 1088 Vgl.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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Dass Ottos Christologie eher zurückhaltend im Hintergrund seines Denkens agiert und an keiner Stelle ausführlicher dogmatisch bzw. systematisch auseinandergelegt wird, ist demnach kein Versäumnis, sondern gerade das Programm Ottos. Die Christologie ist ihm kein Hauptthema der Dogmatik, sondern ein der Dogmatik zugrundeliegendes und vorangehendes Geschehen, das als ein Erleben der dogmatischen Entfaltung letztlich unverfügbar und nur andeutbar bleibt. Sowohl die Botschaft als auch die Gestalt Jesu sind nach Ottos Auffassung daher »Mirum und Paradoxon«.1093 Dies trifft zugleich den Kern von Ottos Theologie überhaupt, in der das »mysterium« – wie bereits ausführlich gezeigt  – den entscheidenden Gehalt der Religion ausmacht und ausschließlich im Erleben, in Momenten des Numinosen andeutbar wird. Jesus als der Christus ist für Otto – so könnte man etwas überspitzt resümieren – ein derart schlechthinniges Mysterium, dass er sich ihm allein auf der Ebene der Religionsgeschichte zu nähern wagt und christologische Spekulation eher vermeidet.1094 Allein die Untersuchung des religiösen Erlebens der Menschen, die mit Jesus und seiner Botschaft konfrontiert und regelrecht getroffen wurden, scheint für Otto die einzig adäquate Möglichkeit der Annäherung an die Bedeutung Jesu Christi für das Christentum zu sein.1095 Mag man Otto an dieser Stelle auch eine gewissen dogmatische Skepsis vorwerfen – im Hinblick auf sein Gesamtwerk ist jene zurückhaltende und zuweilen regelrecht fromm anmutende Christologie nur konsequent und macht das Kernanliegen Ottos  – die Theorie religiösen Erlebens  – aus der Binnenperspektive der christlichen Frömmigkeit pointiert deutlich. In Reich Gottes und Menschensohn führt der lange theologische Lebensweg Ottos am Ende wieder dahin zurück, wo er ursprünglich begonnen hatte: zu der Frage nach dem Kern der christlichen Religion und ihrer Erlebnisdimension, die nach der Dissertation zu ­Luther mit der kleinen Schrift zum Leben und Wirken Jesu nach historisch-kritischer Auffassung im Jahre 1902 auch in der Frage nach der Bedeutung Jesu ihren Ausgang genommen hatte.1096 1093

 Vgl. RGM1, 128. RGM1, 127, wo Otto den Unterschied der »Glaubensfrage« gegenüber einer religionsgeschichtlichen Betrachtung deutlich zu machen versucht. Zu Jesus und dem »mystērion« als »Mirum« vgl. RGM1, 55. 1095  Ganz ähnlich deutet Hans-Walter Schütte die Christologie Ottos, wenn er zu RGM schreibt: »Die Systematische Theologie, die sich dementsprechend als Verstehen einer geschichtlichen Wirklichkeit begreift, verzichtet damit auf die Form eines konstruktiven theologischen Systems und stellt sich lediglich als die Entfaltung einer Glaubenserfahrung und ihres Grundes dar.« (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 63). 1096 Es ist ein weiterer Beleg für die eindrucksvolle Kontinuität und Geschlossenheit von Ottos Lebenswerk, dass er im Spätwerk ohne Probleme an seine Jugendschrift LWJ anknüpfen und einen Auszug aus selbiger sogar 30 Jahre nach ihrem Ersterscheinen erneut abdrucken kann (Vgl. SU, 91–95). Auch in RGM nimmt Otto – freilich mit Ergänzungen und Korrekturen – ausdrücklich die Gedanken seiner Jugendschrift auf (vgl. RGM1, 35, Anm. 1). Hans-Walter Schütte erblickt aus diesem Grund in RGM den eigentlichen »Beitrag zur 1094 Vgl.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Welche Bedeutung hat nun Ottos Jesusdeutung für die in so zahlreichen Schriften seines Lebenswerks verhandelte Verhältnisbestimmung von Religion und Angst? Ottos grundlegende Unterscheidung numinoser »Scheu« und natürlicher Angst bekommt – das deutete sich schon in Das Heilige an – im Falle Jesu eine ganz besondere Wendung, die laut Otto auch zugleich sein Erlöser-, Versühner‑ und letztlich sein Sohn-Sein begründet. Die Besonderheit Jesu als dem Christus besteht demnach darin, dass das aller Religion als Urmoment zu Grunde liegende numinose Gefühl der »Scheu« von Jesus nicht nur in herausragender Weise selbst erlebt, durchlebt und damit zu Vorbild und Urbild numinosen Scheuerlebens wird,1097 sondern besteht vielmehr darin, dass Jesus zugleich selber zum »mysterium tremendum«, zum Objekt und Auslöser der »Scheu« wurde durch seinen »Eindrucks-nimbus«, wie Otto sagt, der »nicht der des gelehrten Rabbi oder des Weisen, der durch Reiz oder Tiefe der Rede Bewunderung erregt,« war, sondern der schlichtweg in »Staunen, Furcht, Entsetzen« versetzt.1098 Doch nicht nur die Erscheinung und das Leben Jesu lösen Momente der »Scheu« aus, sondern auch seine Botschaft und sein Selbstverständnis werden den Hörern zum »mysterium tremendum«. In Folge einiger Beispiele resümiert Otto: »Diese Häufung der Termini numinoser ›Scheu‹ soll besagen, daß hier etwas völlig einziges vorlag: dieser Mann hatte in die Prärogative Gottes selber eingegriffen, er hatte, was nur Gott zusteht, sich angemaßt, ›Sünde zu vergeben‹, und die Erde hatte ihn dafür nicht verschlungen, sondern die erfolgte Heilung hatte seine Anmaßung bestätigt. Das war es, was ekstasis, Entsetzen, und das Gefühl des paradoxon auslöste und auslösen mußte.«1099

Nicht nur seine Gestalt ist es, die ihn zum Objekt der Divination werden lässt, sondern auch sein »Sendungs-bewusstsein«, wie Otto es nennt, seine ἐξουσία hebt Jesus über den Status des Propheten hinaus und lässt die Menschen ihn als Christus, als den »Sohn« erleben und erkennen.1100 Jesus »weiß sich als Stück

Deutung des Christentums« bei Otto und gleichsam die Summe seines Werks (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 61 mit Verweis auf die Rezensionen von Adolf Jülicher und Heinrich Frick). 1097 Die schon mehrmals erwähnte Gethsemaneperikope wäre hierfür ein Beispiel, vgl. diesbezüglich DH23–25, 105 und die Ausführungen oben, im Zweiten Teil, Kap. III, 1.2. 1098 Vgl. RGM1, 131. Otto verweist als Beispiel für diesen »Nimbus, der Christi Gestalt umgeben haben muß« auf LK 5,26 und übersetzt folgendermaßen: »ekstasis erfaßte sie alle und sie wurden erfüllt mit Schrecken und sprachen: heute haben wir paradoxa gesehen (vgl. RGM1, 132, Hervorhebungen im Original gesperrt). Otto kommentiert: »Das ist ein ›Eindruck‹ von ganz spezifischer Art. Er ist der Eindruck, der Menschen packt und erregt, wo in fast unheimlicher Weise – dieses Moment wird durch diese hochgesteigerten Worte fühlbar angedeutet – numinose Gestalt, numinoses Geschehen erfahren zu sein vermeint wird, ja, wir dürfen sagen: wo numen praesens erlebt wird.« (ebd.). In DH verwies Otto im gleichen Zusammenhang auf eine ganz ähnliche Stelle im Markusevangelium (vgl. DH23–25, 186 und hierzu die Ausführungen oben im Zweiten Teil, Kap 3.1.4.). 1099 RGM1, 133. 1100 RGM1, 133 f und die berühmten Schlussworte von DH23–25, 205.

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

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und Organ des rettend hereindringenden Eschatons selber«.1101 Die numinose »Scheu« ereignet sich also – so könnte man Otto zusammenfassen – bei Jesus zugleich in dreifachem Sinne: durch den Verkünder, durch den Verkündeten und durch das Verkündete. Sein eigenes religiöses Erleben, das durch ihn gewirkte Erleben seiner Mitmenschen und die Wirkung der von ihm verkündeten Botschaft lassen das grundlegendste Moment religiösen Erlebens  – die numinose »Scheu« – derart eindrücklich in der Person Jesu zusammenfallen, dass diejenigen, die für derartiges Erleben empfänglich sind – Otto würde sagen, die »des Geistes sind« – an ihm und durch ihn mehr als nur einen diffusen numinosen Schauer erleben, sondern eines »›Eindrucks‹ von ganz spezifischer Art«, einer unmittelbaren Begegnung mit dem Göttlichen und seiner versöhnenden Kraft teilhaftig werden.1102 Nach Ottos Auffassung ist das von und durch Jesus verkündete »›Kommen des Reiches‹ aufrüttelnd, erschütternd, erweckend« gerade dadurch, dass es den Charakter des »Ganz anderen« hat. Es ist demnach die Botschaft vom Reich Gottes – durchaus in Anlehnung an Albert Schweitzers These – in ihren apokalyptischen und eschatologischen Momenten als »konsequente« Eschatologie zu verstehen.1103 Es geht hierbei nicht um eine symbolische Rede von Gegenwärtigem oder Diesseitigem, sondern um etwas, das »alles weltliche Sein und allen weltlichen Zustand ausschaltet und übersteigt als ein ganz anderer Zustand«:1104 »Weil zu Reich die Association des Ganzandern, Überweltlichen gehört, darum gehört zu ihm nicht die modernistische Idee einer ›Krisis‹ – von ›Krisen‹ wußte Jesus nichts – sondern die Idee des übernatürlichen Abbruches alles Weltlaufes.«1105

Mit bemerkenswerter Leidenschaftlichkeit streicht Otto die Zeitlosigkeit und die Artbesonderheit desjenigen heraus, was Jesus seiner Auffassung nach als Reich Gottes und als Eschaton der Welt verkündet hat. Otto kehrt damit in gewisser Weise auch in seinem Verständnis der Eschatologie zu der Unterscheidung von numinoser »Scheu« und profaner »Angst« zurück: Die Rede vom 1101  RGM1, 83. An anderer Stelle resümiert Otto, Jesus begreife sich selbst als »Teil eines umfassenden Erlösungsgeschehens, das mit ihm hereinbricht« (vgl. RGM1, 81, Hervorhebung im Original gesperrt). 1102 Vgl. RGM1, 132. Otto hat den Begriff des »Eindrucks« schon früh in jenem speziellen Sinne verwendet, vgl. beispielsweise in DH2, 170 (= DH23–25, 187). 1103  Vgl. bes. RGM1, 37. Einen ausführlichen Verweis auf die These der »konsequenten Eschatologie« in der Jesusbotschaft bei Albert Schweitzer und Johannes Weiss bietet Otto in RGM1, 45 ff. 1104 Vgl. RGM1, 36, im weiteren Zusammenhang RGM1, 34 ff und hier beispielsweise die Stelle: »So schließt ›konsequente‹ oder sagen wir besser echte Eschatologie zweierlei ein: die Idee der ›Wunderbarmachung‹, des ›Himmelreiches‹ als neue und andere Sfäre und Daseinsform geheiligten und darum notwendig nicht mehr weltlichen Daseins, im Gegensatze des dortigen zum hiesigen, und die Idee realen ›Kommens‹ desselben im Gegensatze des Einstigen und Jetzigen.« (RGM1, 40). 1105 RGM1, 43.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Reich Gottes richtet sich nicht auf Belange der Welt und auf ihre natürlichen Ängste, sondern kommt selbst im Erleben einer besonderen »Angst« erst zur Erscheinung, nämlich im numinosen Erleben der »Scheu«. Der Versuch einer Vergegenwärtigung oder Anwendung des eschatologischen Fluchtpunktes im Leben und Verkünden Jesu auf immanente oder gar alltagsbezogene Wirklichkeit hin muss demnach laut Otto scheitern bzw. an der ursprünglichen Botschaft Jesu vorbei führen. Das Ende der Welt ist seiner Auffassung nach nicht als biologisches oder weltgeschichtliches Ende der Menschheit oder des Planeten Erde zu verstehen, sondern als ein rein religiöses, nicht am Weltgeschehen messbares Geschehen. Besonders deutlich wird diese These Ottos in seiner Kritik an der existenzphilosophisch inspirierten Theologie und Exegese der Weimarer Zeit, insbesondere in Gestalt derjenigen Exegese, die von Rudolf Bultmann später als »existentiale Interpretation« ins Feld geführt wurde. So verurteilt Otto mit deutlicher Polemik die »Modernismen«, die durch »Anleihen aus einer modischen ›Existenz‹-filosofie« durch »Allegorisierung« die Tatsache »maskiert«, das sie insgeheim mit dem originalen »chronologischen« Telos »echter alter eschatologischer Fühlungsweise nicht mehr in Verbindung ist«.1106 Offen spricht Otto von Eintragungen und Verfälschungen der ursprünglichen Botschaft Jesu: »Denn nicht meine Existenz stellt seine Botschaft in Aussicht sondern das ›Heil‹. Die Frage nach dem Heil aber auf ›Existenzfragen‹ zu reducieren oder sie überhaupt nur mit ihnen in die Reihe zu bringen ist wohl die fatalste Verfilosofierung und Profanisierung, die original religiösen Konzeptionen widerfahren kann.«1107

Der Versuch einer Verortung einer Botschaft vom übernatürlichen Gottesreich in natürlichen  – existentiellen  – Zusammenhängen kann demnach laut Otto nicht funktionieren. Die völlige Zerrüttung des in den Breslauer Jahren noch ausgesprochen guten Verhältnisses zwischen Otto und Rudolf Bultmann ist hier mit Händen zu greifen.1108 Ungeachtet der Frage, ob Ottos harsche Vorwürfe Bultmann im Detail gerecht werden, interessiert im vorliegenden Zusammenhang die Tatsache, dass es gerade der Angstbegriff war, der in besonderer Weise in Martin Heideggers Existenzphilosophie und dann auch in deren Anwendung auf die Theologie eine zentrale Rolle spielte. Der Versuch, den existenzphilosophischen Angstbegriff als »Existential« mit dem »tremendum« 1106

 RGM1, 38.  RGM1, 38. Otto fasst an anderer Stelle zusammen, es gehe für den Menschen in der jesuanischen Predigt um die Bedrohung, nicht etwa »seine ›Existenz‹ wohl aber sein Heil verlieren« zu können (vgl. RGM1, 40). 1108 Vgl. zum Verhältnis von Otto und Bultmann vor dem Hintergrund der Christologie Lauster, Christologie, 239 und Evang, Rudolf Bultmann, 97. Grundlegend zur kontroversen Jesusdeutung bei Otto und Bultmann vgl. Beyer, Streitpunkt »Jesus«, sowie Wittekind, Transzendenz und Mystik, 235–249. Dass Otto auch persönlich unter den Anhängern Bultmanns zu leiden hatte und zunehmend vereinsamte, schildert besonders Ernst Benz und führt auch Ottos frühzeitige Emeritierung auf die zunehmende Polemik seitens des Bultmann-Lagers zurück (vgl. Benz, Rudolf Otto als Theologe, 33). 1107

IV. Ottos Unterscheidung profaner Angst und religiöser »Scheu« im Kontext

361

und dem »Grauen« der Religion oder gar mit der Reich-Gottes-Botschaft Jesu in Deckung zu bringen, muss nach Ottos Konzept ein fataler Fehlgriff sein. Explizit deutlich macht Otto dies in seinem letzten, der Auseinandersetzung mit Nicolai Hartmann gewidmeten Manuskript, das er kurz vor seinem Tod im Frühjahr 1937 verfasste: »Sündegefühl (nicht Weltängste oder Existential-nöte) ist es, woran das Christentum mit seiner Predigt anknüpft. Sündegefühl und von ihm dunkel impliziert und vorausgesetzt (denn sonst wäre es nicht möglich), das Gefühl des Heiligen ist ›das religiöse Apriori‹ speziell hinsichtlich des Christentumes.«1109

Der Hintergrund dieser These sollte in den bisherigen Kapiteln hinreichend deutlich geworden sein. Wovon der Sündebegriff redet und was das dahinterstehende Gefühl der »Verlorenheit« meint, ist nicht auf Ängste bezogen, die sich auf weltliche Bedrohungen richten, sondern entsteht aus der Ahnung des »Ganz anderen«. Einen Bezug von hier aus zu Ottos Jesusbuch und zu seinem Grundgedanken der Kontrastharmonie im religiösen Erleben stellt Theodor Siegfried in seinem Nachwort zu der besagten letzten Schrift Ottos ausdrücklich her, wenn er schreibt: »Vor allem aber kreist Ottos Denken um die bleibenden Grundpole der Religion: göttliche maiestas und menschliche Nichtigkeit (Hiobfrage), Schreckens‑ und Heilsantlitz der Gottheit, personale und ›mystische‹ Gottesidee. Fast alle diese Linien vereinigen sich im letzten großen Werk, welches der Botschaft und der Gestalt Jesu gilt: Reich Gottes und Menschensohn«.1110

Das religiöse Erleben der Menschen angesichts des Lebens und Wirkens Jesu ist demnach das entscheidende Thema von Ottos Christologie, dem sich allein 1109  FN, 10 (Klammern im Original). Mit dem etwas unbestimmten Ausdruck des Gefühls des »Heiligen« sind hier ganz offensichtlich besonders jene Momente numinosen Erlebens gemeint, die im Bereich des »tremendum« und der »Scheu« liegen. Mit seiner postumen Herausgabe von Ottos letztem Manuskript unter dem Titel Freiheit und Notwendigkeit hat Theodor Siegfried nach eigenem Dafürhalten ein Vermächtnis Ottos ans Licht gebracht (vgl. Siegfried, Nachwort in: FN, 19). Dabei weist Siegfried darauf hin, dass sich Otto in seinen letzten Lebensjahren ausgesprochen intensiv mit ethischen Fragen auseinandergesetzt hat. Vgl. hierzu die Zusammenstellung der ethischen Aufsätze Ottos von Jack Boozer und die jüngsten Aufsätze zu Ottos Ethik von Georg Pfleiderer, Harald Matern und Friedemann Voigt, alle in: Lauster / Schüz /Barth/ Danz (Hg.), Rudolf Otto, die teilweise auch Bezug auf die umfangreichen Manuskripte von Ottos Ethikvorlesungen nehmen. Zu dem in der vorliegenden Untersuchung verhandelten Problem der Angst im Kontext der Religion ist Ottos Ethik nur von mäßigem Ertrag, weshalb hierzu kein eigenes Kapitel eingefügt wird. Erwähnenswert ist indes der im Kontext von Ottos Ethik grundlegend wichtige Wertbegriff, der sich auch auf die Unterscheidung von Angst und »Scheu« auswirkt: Religiöse »Scheu« hat anders als Angst bei Otto eine axiologische Dimension: »Scheu« entsteht durch ein unmittelbares Wertungsgeschehen, in dem sich der Mensch gegenüber einem unendlich hohen Wert geradezu wertlos und nichtig fühlt. Demensprechend ist religiöse »Scheu« im Sinne eines Wert-Gefühls auch zugleich ein Anschauungsfeld für Ottos Begriff der Sünde als einer theologischen Deutung des »Widerwertes« des Heiligen. 1110 Vgl. Siegfried, Nachwort, 36 (Klammer im Original).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

die religionsgeschichtliche Methode vorsichtig und beschreibend nähern kann. Dabei interessierten den aus der liberalen und kritischen Schule Göttingens kommenden Otto die Fragen nach der Historizität der biblischen Erzählungen oder nach dem von Bultmann so genannten »Mythologischen« im Neuen Testament durchaus, wie schon sein Jugendwerk zum Leben und Wirken Jesu zeigt.1111 Jedoch ist – das wird besonders in Ottos letztem Buch deutlich – das christologische Ziel jenes Interesses gerade die Relativierung jeder exegetischen und dogmatischen Unternehmung um deutlich zu machen, dass es eben der durch alle Jahrhunderte der Überlieferung und durch alle Stufen der exegetischen und dogmatischen Kritik hindurchgehende unmittelbare Gefühlseindruck ist, der an erster Stelle den Glauben im Menschen wirkt, das heißt, in unmittelbarer und intuitiver Ergriffenheit religiös bewegt und letztlich erkennen und bekennen lässt. Es ist, wie Otto in Reich Gottes und Menschensohn in jedem Kapitel deutlich zu machen versucht, gerade das »Ganz andere«, um das es in der Religion schlechthin geht: Ihm gegenüber ist jedes Medium seiner Wiedererkenntnis in der Welt – sei es als Mythos oder als abstrakte Dogmatik  – letztlich sekundär angesichts der sich zuerst unmittelbar im Erleben mitteilenden Erkenntnis des Numinosen. Als letzte Frage bleibt derweil offen, wie sich nach Ottos Auffassung die Jesusbotschaft – von ihrer eschatologischen Exklusivität einmal abgesehen – zu dem Phänomen profaner Angst und Furcht verhält – ein bei Otto etwas vernachlässigtes Problem, dem nachzugehen ist.1112 An einer Stelle spricht Otto davon, Jesus stehe für jene Erlösungsbotschaft, deren Inhalt der »nicht nur von Teufels-furcht sondern von aller Furcht und Sorge befreiende, das ganze Leben mit kindlicher Sorgelosigkeit erfüllende Vatergott ist.«1113 Wie dies zu verstehen ist, wird erst im weiteren Kontext deutlicher: Otto meint keineswegs, dass der gläubige Mensch keine Ängste mehr hat oder dass die Botschaft vom Reich Gottes ein therapeutisches Ziel zur Heilung der Angst verfolgt. Vielmehr ergibt sich folgendes Bild: Das im numinosen Erleben erkannte Erlösungshandeln Gottes, die »Heilsbotschaft« Jesu begreift Otto offenbar als eine Art universales Vorzeichen, das nicht einzelne Bezüge zu Fragen des Lebens – beispielweise zu gewöhnlichen 1111 Schon 1902 hatte Otto hier gegenüber einem interessieren Laienpublikum – es handelte sich um im Rahmen einer kirchlichen Fortbildung gehaltene Vorträge in Hannover (vgl. das Vorwort in LWJ, 5 f) – gerade für das Recht und die Notwendigkeit der historischen Kritik plädiert und geworben. Allerdings baute Otto auch hier schon den bis in sein Spätwerk sich haltenden Vorbehalt ein, dass es sich bei der historisch-kritischen Exegese um ein hinsichtlich ihres Gegenstandes – dem Leben und Wirken Jesu – letztlich vergebliches Bemühen handeln muss, das nur »einen dunklen, hin und her zersprungenen Spiegel« darstellen kann (vgl. LWJ, 72 f), demgegenüber das eigentliche Erleben der »Begegnung« Jesu, in historischer und leibhaftiger Begegnung wie in der Überlieferung und Verkündigung späterer Jahrhunderte, den eigentlichen Kern christlichen Glaubens ausmacht. 1112 Vgl. hierzu unten insbesondere den Ausblick im Dritten Teil dieser Untersuchung. 1113 RGM1, 83.

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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Ängsten  – herstellt, sondern schlichtweg die gesamte Weltsicht des Menschen in ein neues Licht rückt. Auch wenn sich Furcht und Ängste nicht durch die Religion kurieren lassen, so erscheinen sie im Kontext religiöser Lebensdeutung dennoch in einer anderen, relativierten Weise: »Denn leicht wird das Schwerste, wenn es eingebettet ist in eine Verkündigung von einer ›Erlösung‹, die nahe ist […]. Eine solche macht möglich, was dem fürchtenden, dem nur erschrockenen, nicht getrösteten Gewissen unmöglich ist.«1114

Es scheint sich also um eine Art der Aufhebung von Angst und Furcht zu handeln, die selber »Mirum und Paradoxon« ist,1115 dergestalt, dass sich im religiösen Erleben – insbesondere im Moment der »Scheu« – im Menschen eine intuitive Erkenntnis auftut, die sein Leben zwar nicht grundlegend existentiell verändert, es aber in einem neuem Licht erscheinen lässt und damit in der Sphäre des Geistes die Prämisse verschiebt: Angst, Sorge und Furcht haben keine zerstörerische Macht mehr über das menschliche Handeln und Denken, weil sie in der Perspektive »frommer Weltansicht« – wie Otto es früher nannte – relativiert werden.1116 Numinose »Scheu« als Urmoment und Kern des Religion ändert so gewissermaßen das Vorzeichen aller ihm analogen und ähnlichen natürlichen Affekte, indem sie als Grunderleben einer durch alles natürliche Erleben hindurchgehenden Sinndimension erscheint, die letztlich die Weltverstrickung des Menschen und seine hierin begründete Angst transzendiert und aufhebt.

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick – »Scheu« als religiöses Erleben bei Rudolf Otto Die entscheidenden Grundlagen von Ottos Beurteilung der Angst im Kontext religiösen Erlebens wurden in den vorigen Kapiteln ausführlich anhand wichtiger Stationen seines Gesamtwerks dargestellt. Dabei zeigte sich, dass Ottos Unterscheidung von natürlichen und genuin religiösen Momenten der Angst keine punktuelle Problemfrage in einem bestimmten Abschnitt seines Lebensweges war, sondern als eine grundlegende Konstante seines Denkens überhaupt auszumachen ist. Am Problem der numinosen »Scheu«, die in der dogmatischen Tradition des Christentums in der Rede vom »Zorn Gottes« und der »Gottes1114 RGM1,

54. 128. 1116 Dass nichtsdestotrotz die Pointe hinsichtlich des Angstbegriffs in Ottos Jesusbild letztlich dennoch in der Betonung der »religiösen« Angst – der numinosen »Scheu« – liegt, die Otto in der jesuanischen Botschaft zu verankern versucht, macht Reinhard Feldmeier deutlich, wenn er schreibt: »Eine von Otto sensibilisierte relecture der neutestamentlichen Schriften entdeckt schnell, dass auch im Evangelium das Erschrecken, ja Entsetzen über den in Jesus nahekommenden Gott eine weit größere Rolle spielt, als das in Theologie und Kirche heute gemeinhin wahrgenommen wird.« (vgl. Feldmeier, Der Heilige, 90). 1115 RGM1,

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

furcht« sowie in den Überlieferungen der Mystik ihren Niederschlag gefunden hat, bricht bei Otto in der Gegenüberstellung zum Phänomen der Angst letztlich keine geringere Frage auf, als die nach dem Wesen und Urgrund der Religion überhaupt. Da die Ergebnisse der Untersuchung in den einzelnen Abschnitten der Auseinandersetzung mit Ottos Werken bereits zusammengefasst und ausgewertet wurden, wird auf eine neuerliche Zusammenstellung der Einzelergebnisse verzichtet. Stattdessen soll ein hinter den einzelnen Kapiteln stehender Zusammenhang deutlich werden: Hinsichtlich des Angstbegriffs ergibt sich demnach eine durchgehende Linie von Ottos Denken hinsichtlich seiner Deutung von Angst und Religion, ausgehend von seinen frühen Studienjahren, besonders seiner lebenslangen Auseinandersetzung mit ­Luther und Schleiermacher, bis hin zu den Arbeiten der Göttinger Zeit und seinem Hauptwerk Das Heilige. Hier und in zahlreichen weiteren Spezialthemen und Stationen von Ottos Lebenswerk stellte sich die Unterscheidung einer artbesonderen numinosen »Scheu« von profaner Angst auch als ein Thema heraus, das in der Rezeption von Ottos Werk und in seiner Wirkungsgeschichte besondere Beachtung fand. In den bisherigen Kapiteln wurden an verschiedenen Stellen bereits Aspekte der Wirkungsgeschichte Ottos angesprochen. Vor dem Versuch, ein abschließendes und zusammenfassendes Fazit zu ziehen, soll anhand einiger Beispiele zuvor ein Überblick darüber gewonnen werden, in welcher Weise Otto insbesondere hinsichtlich der Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion rezipiert und weitergedacht wurde. Für eine Annäherung an die weitreichende und verzweigte Wirkungsgeschichte Ottos sollen im Folgenden einzelne Aspekte seiner Rezeptionsgeschichte in unterschiedlichen Fachgebieten dargestellt werden. Schließlich werden in einem letzten Abschnitt die entscheidenden Gedanken Ottos zum Problem der theologischen Deutung der Angst in ihrer Bedeutung für die protestantische Theologie und die Theologie der Gegenwart zusammengefasst und kurz ausgewertet.

1. Ottos Wirkung auf die Debatten um das Verhältnis von Angst und Religion im 20. Jahrhundert Ähnlich wie die Wirkungsgeschichte seines Gesamtwerkes ist auch die Rezeption von Ottos theologischer Deutung der Angst einerseits von bis heute großer und weitreichender Wirkung, aber auch von kritischen Distanzierungen und Missverständnissen geprägt.1117 Gleichwohl Ottos Angstverständnis in der zweiten 1117 Zu den verwickelten Linien von Ottos Wirkung in der Theologie bis in die Gegenwart, vgl. Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 37–39 Die ausführlichste und scharfsinnigste Analyse der

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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Hälfte des 20. Jahrhunderts einen deutlichen Wiederhall in unterschiedlichen Fachdisziplinen gefunden hat und insbesondere seine berühmten Begriffe wie das »tremendum« schnell zu klassischem Rang aufstiegen, sind jedoch die entscheidenden inhaltlichen Pointen seiner Unterscheidung von numinoser »Scheu« und profaner Angst nur selten ausführlicher rezipiert worden. Um die wirkungsgeschichtlichen Probleme von Ottos Angstdeutung nachzuvollziehen, sollen im Folgenden wenigstens einige wenige Beispiele und Aspekte aus der weitverzweigten Wirkungsgeschichte Ottos in Theologie, Philosophie, Psychologie und Religionswissenschaft vorgestellt werden. 1.1. Angst und »Scheu« in der Wirkung Ottos auf die Theologie Das naheliegendste Feld für eine Aufnahme und Fortführung von Ottos theologischer Deutung der Angst ist selbstverständlich seine eigene Fachdisziplin, die Theologie. Wichtige Wirkungsfelder von Ottos Konzept der »Scheu« in der Theologiegeschichte des 20. Jahrhunderts wurden bereits in den bisherigen Kapiteln genannt. Insgesamt fällt dabei auf, dass die Präsenz Ottos in den zahlreichen theologischen Studien zum Angstbegriff in den letzten Jahrzehnten erstaunlich gering ausfällt. Zwar wird besonders sein Begriff des »mysterium tremendum« und die Idee der »Kontrastharmonie« im religiösen Erleben häufig genannt, eine tiefergehende Erörterung des dahinterstehenden Gedankens der Unterscheidung profaner Angsterfahrungen von numinoser »Scheu« als einer Kategorie a priori wird jedoch kaum unternommen. Während Ottos Werk und seine Deutung der Angst in Religionswissenschaft und Religionspsychologie durchaus stark rezipiert wurden, ist sein Denken in seiner eigenen Zunft, der Theologie, seit dem Zweiten Weltkrieg zunehmend in den Hintergrund getreten und dementsprechend auch aus den Debatten um die theologische Deutung der Angst nahezu verschwunden.1118 Die weitverbreitete Zustimmung zu den Wirkungsgeschichte Ottos in der Theologie wurde vor über 40 Jahren von Hans-Walter Schütte unternommen (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 103 ff). 1118 Zum »zwischen die Mühlsteine geraten« Ottos seit der Mitte des 20. Jahrhunderts vgl. Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 37. Zur Wirkungsgeschichte Ottos in der Theologie vgl. grundlegend Schütte, Religion und Christentum, 103 ff. Drastisch resümiert Hans-Walter Schütte zur Rezeption Ottos nach dem Zweiten Weltkrieg, dieser sei »in seiner Wirkung auf die Theologie ohne nennenswerte Folgen gebliebenen« (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 107) und weist darauf hin, der Abbruch von Ottos Wirkungsgeschichte sei keineswegs allein der theologiegeschichtlichen Großwetterlage geschuldet, sondern habe auch mit Ottos Werk selbst zu tun. In den jüngeren theologischen Arbeiten zur Angst wird Otto demnach kaum genannt. Eine der wenigen Ausnahmen bildet beispielsweise der Aufsatz zum Verhältnis von Angst und Religion von Kirsten Huxel, die Otto jedoch nur in einer kurzen Bemerkung anführt (vgl. Huxel, Das Phänomen, 38). In katholischen Entwürfen zur Angst taucht Otto so gut wie nie auf (eine Ausnahme: Müller, Angst der Menschen, 52). In den einschlägigen theologischen Lexika wird Otto unter dem Stichwort Angst stets mit Verweis auf das »tremendum« erwähnt, jedoch in seinem Grundanliegen nicht näher dargestellt.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

treffenden Beschreibungen der empirischen Aspekte religiösen Erlebens bei Otto  – insbesondere im Fall des »mysterium tremendum«  – ist einer eingehenderen Beschäftigung mit den theologischen bzw. religions‑ und gefühlstheoretischen Grundlagen derselben also offensichtlich nicht zuträglich gewesen. Die genaueren Hintergründe der eher bescheidenen Wirkungsgeschichte Ottos in der Theologie zu erörtern, bedürfte einer eigenen umfassenden Abhandlung, weshalb hier nur drei Punkte vorgeschlagen werden sollen, die im vorliegenden Zusammenhang besonders wichtig erscheinen: Erstens sind die kirchenpolitischen und theologiegeschichtlichen Rahmenbedingungen der Dreißigerjahre zu nennen. Seit der Machtergreifung der Nationalsozialisten ist der inzwischen emeritierte und gesundheitlich chronisch angeschlagene Otto im Streit der Lager des Kirchenkampfes ins Abseits geraten und konnte mit seiner unpolitischen und gewissermaßen auch unzeitgemäßen Theologie kaum in die damaligen Debatten einwirken, die besonders auf die Aktualität und existentielle Relevanz des christlichen Bekenntnisses abzielten.1119 Der Zugang zur Bekennenden Kirche war Otto schon allein dadurch verbaut, dass sie stark durch die Dialektische Theologie beeinflusst war, von der er sich in Marburg insbesondere durch den Schülerkreis Rudolf Bultmanns angefeindet sah.1120 Die sich im Gefolge der Dialektischen Theologie zuweilen mobilisierenden konservativen und neuorthodoxen Kräfte liefen Ottos in jungen Jahren mühsam errungener Emanzipation hin zu einer Vermittlungsposition zwischen konservativer und liberaler Theologie förmlich entgegen.1121 Diese 1119 Zur Unzeitgemäßheit Ottos vgl. den diesbezüglichen Abschnitt unten im Zweiten Teil, Kap. V, 2. Otto ging es in seiner Theologie ausdrücklich nicht in erster Linie um Gegenwartsrelevanz. Er verfolgte stattdessen eine Theologie, die gerade die epochenunabhängigen Tiefenstrukturen der Religion zu ergründen und für die Gegenwart verständlich zu machen versucht. Eine Theologie der Existenz oder ein politisches Bekenntnis des christlichen Glaubens angesichts tagespolitischer Ereignisse war ihm hingegen fremd. Vgl. insbesondere die resignierten Worte Ottos aus einem Brief an Jakob Wilhelm Hauer von 1933: »[…] [I]ch selber kann nur leben und sterben als das, was ich immer gewesen bin, als ›pitistisch[!] gefärbter Lutheraner mit einer liberalen theologie‹. damit sitze ich gewiss nicht nur zwischen zwei sondern zwischen 22 stühlen, weiß, daß ich damit so unzeitgemäß wie möglich bin und daß ich still auf die seite zu gehen habe […].« (24.8.33/BA Koblenz: NL Hauer 54, 389 ff. ) zitiert nach Kraatz, »[…] meine stellung«, 4, Anm. 8. 1120 Ernst Benz schildert, wie sich Otto von den jugendlichen »ridikülisierenden« Anhängern Bultmanns anfeinden und seine gerade im Aufbau befindliche Religionskundliche Sammlung als »Götzentempel« beschimpfen lassen musste (vgl. Benz, Rudolf Otto, 33). 1121 Doch auch der Gegenposition im Kirchenkampf, dem Lager der Deutschen Christen, konnte Otto sich nicht anschließen und erst recht nicht der sich formierenden, immer stärker völkisch-germanisch geprägten neureligiösen Deutschen Glaubensbewegung im Gefolge seines einstigen Weggefährten im Projekt des Religiösen Menschheitsbundes, Jakob Wilhelm Hauer. »Germanismus«, völkische, rassistische oder gar antijudaistische Tendenzen waren Ottos Denken überhaupt und seiner großen Wertschätzung des Judentums offenbar fremd. So ist das Buch GGA gerade keine Schrift zur rassenideologischen Deutung der Religion (vgl. GGA, 125). Derweil bekennt sich Otto immer wieder zu seiner großen theologischen Verehrung des Judentums: Das Heilige sei »das eigentliche Urwort der Religion Israels« (RGM1, 219, Hervorhebung

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Ausgangslage und die zudem immer mehr auf die Religionen Indiens und die Ausarbeitung seiner Ethik gerichteten Aktivitäten außerhalb der Debatten der deutschsprachigen Theologie führten Otto zu seinem Lebensende hin in eine theologische Vereinsamung, die auch über seinen Tod und den Zweiten Weltkrieg hinaus nicht mehr überwunden wurde.1122 Otto hatte sich – wie an früherer Stelle deutlich wurde – von seinen liberalen Lehrern emanzipiert und zu einer ganz eigenen Offenbarungstheologie des religiösen Erlebens gefunden, die ihm jedoch zugeich den Weg in die Lager des orthodoxen Luthertums oder der damals besonders wirkmächtigen Dialektischen Theologie versperrte. Heinrich Fricks bemerkenswerter Versuch, Ottos Stellung in der deutschsprachigen Theologie zwischen den Weltkriegen als Position der »Mitte« zwischen den liberalen und konservativen Kräften seiner Zeit zur Tugend zu erklären, kann aus heutiger Sicht nicht darüber hinwegtäuschen, dass Otto diese durchaus reiz‑ und spannungsvolle Rolle wirkungsgeschichtlich nicht zugutekam.1123 Frick konnte sich damals noch nicht vorstellen, dass spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg das einstmals so wirkungsvolle Werk Ottos in der deutschsprachigen Theologe nur noch eine Außenseiterrolle spielen würde. Zweitens wurde Otto seine Interdisziplinarität zum Verhängnis. Trug seine Wirkung auch auf nichttheologische Disziplinen einst zu seinem internationalen Ruhm bei, so wurde das reizvolle Zusammentreten unterschiedlicher Fachgebiete in Ottos Werk schon bald nach seinem Tod als heikel empfunden. Die unterschiedlichen Wissenschaftsfelder im Grenzgebiet der Theologie, auf denen sich Otto – der sich immer in erster Linie als Theologe empfand1124 – bewegte, emanzipierten sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts immer weiter zu eigenen akademischen Disziplinen außerhalb der Theologie. Besonders hinsichtlich des Angstbegriffs wird das hieraus folgende Problem in Bezug auf Ottos Werk deutlich: Die unterschiedlichen Fachdisziplinen beanspruchten zunehmend im Original gesperrt). Schließlich ging es Otto nicht nur um die jüdische Religion, sondern auch um das Volk Israels, wenn er schreibt: »Dieses Tiefste, gegenüber dem doch eben alles zurücktritt, was sonst in der Religionsgeschichte aufgetreten ist, ward nicht von Griechen, nicht von Indern oder Iraniern gefunden sondern ist in Judenseelen geboren worden« (RGM1, 220). Dass sich Otto, der die Zerstörung der Marburger Synagoge 1938 nicht mehr erlebte, dennoch nicht ausdrücklich vom Nationalsozialismus distanzierte und politisch in seinen letzten Lebensjahren eher resigniert und indifferent blieb, macht ihm Gregory D. Alles zum Vorwurf (vgl. Alles, The Science of Religions, 177–204). 1122  Vgl. hierzu Frick, Rudolf Otto innerhalb der theologischen Situation, 9. 1123 Vgl. Frick, Rudolf Otto innerhalb der theologischen Situation, 9 und 14 f. Frick macht deutlich, dass Otto und die Dialektische Theologie zeitweise »gegen dieselben Gegner« kämpften (Frick, a. a. O., 10). Von allen Kritikern sei dabei übersehen worden, dass es Otto um das »Uranliegen echter Offenbarungstheologie, nämlich die Bemühung um die Frage nach der konkreten Berührung des lebendigen Gottes unserer zeiträumlichen Wirklichkeit« gegangen sei (a. a. O., 12). 1124 Vgl. hierzu die bis zur letzten Auflage von Das Heilige im Vorwort enthaltene Bemerkung: »Darf es als ein Buch ernster deutscher Theologenarbeit gelten, so wäre ihm Lohnes genug.« (DH23–25, IX).

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

einen eigenen Zugang zum Moment der Angst in der Religion und verwahrten sich gegen Ottos theologische Vermittlungs‑ und Syntheseleistung. Sowohl die immer stärker empirisch arbeitenden Religionswissenschaften, als auch die Religionspsychologie und die Religionsphilosophie konnten offenbar mit Ottos Behauptung einer Kategorie »sui generis« im religiösen Erleben und einer von profaner Angst zu unterscheidenden ganz artbesonderen numinosen »Scheu« schon bald nichts mehr anfangen. Diese Aufspaltung der interdisziplinären Stränge in Ottos Denken fiel offensichtlich zuletzt auch auf seine Wirkung in der Theologie zurück. Der dritte Punkt ist der vielleicht entscheidende und betrifft Ottos theologisches Denken selbst und die darin verfolgte Methode. Die Loslösung Ottos von der liberalen Tradition der Ritschl-Ära einerseits und zugleich die Ablehnung Ottos durch die nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend tonangebenden Theologen Karl Barth und Rudolf Bultmann führte Otto theologiegeschichtlich auf ein Abstellgleis.1125 Dabei verband Otto und Karl Barth eigentlich zunächst Grundlegendes: Beide verfolgten eine leidenschaftliche Kritik an der liberalen Tradition, die sich nicht als modische Neuerung, sondern als Wiederbelebung der Theologie überhaupt verstand. Rudolf Bultmann geht so weit zu sagen, es sei Ottos Werk Das Heilige »aus der gleichen theologischen Situation entstanden wie der Protest von Barth, Gogarten und ihrem Kreis«.1126 Dabei ging es Otto wie Barth um eine der Moderne angemessene Rede von der unüberbietbaren Transzendenz und Verborgenheit Gottes, vom lutherischen »Deus absconditus«, den Otto als das »Ganz andere« beschrieb und damit eine nicht unwesentliche Wirkung auf die frühe Dialektische Theologie ausübte.1127 1125 So folgert Martin Kraatz aus den Briefen Ottos und dem Briefwechsel Barths und Bultmanns, Otto habe »unter der Dominanz der Dialektischen Theologie in Deutschland nur als theologiegeschichtliches Stichwort« existiert (vgl. Kraatz, »[…] meine stellung«, 5). Dabei waren Otto und Barth hinsichtlich des Gottesbildes hinter Begriffen wie des »deus absconditus« oder dem Göttlichen als dem »ganz anderen« der Sache nach gar nicht weit voneinander entfernt. Auch Barth war an einer Wiederentdeckung von Begriffen wie dem »Zorn Gottes« und der »Gottesfurcht« gelegen. Jedoch verbaute ihm seine Religionskritik und Erfahrungsskepsis den Weg, den Otto beschritt, nämlich von der Wirklichkeit der Religionen und dem religiösen Erleben selbst auszugehen. 1126 Vgl. Bultmann, Die liberale Theologie, 22. Bultmann fährt hier fort: »Seine [Ottos] Bezeichnung Gottes als des Ganz-Anderen, seine Betonung des Kreaturgefühls als wesentlichen Moments der Frömmigkeit sind dafür charakteristisch. Und wie seiner Fassung des ›Heiligen‹ die Absicht zugrunde liegt, das Wesen des Göttlichen als jenseits der Sphäre des Rationalen und Ethischen liegend zu bestimmen, so ist seine Betonung der inneren Verbundenheit der Momente des Tremendum und Fascinosum im Numinosen eine nicht nur äußerliche Analogie zu jenem Satz von der inneren Zusammengehörigkeit der Erkenntnis des Gerichtes und der Gnade.« (ebd.). 1127 Immer wieder wird in diesem Zusammenhang auf den Briefwechsel Barths mit Eduard Thurneysen verwiesen, in dem Barth seine ersten »mit ziemlicher Freude« gewonnenen Lektüreeindrücke von Das Heilige beschreibt und hierin gerade das »›Ganz Andre‹, das Göttliche an Gott« als besonders treffende Formulierung hervorhebt (vgl. Barth, Karl Barth – Eduard Thurneysen Briefwechsel, Bd. I, 330) Dies schlug sich in Der Römerbrief deutlich nieder, wie in

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Michael von Brück spricht demnach in seiner Gegenüberstellung beider von einer regelrechten »Komplementarität der Positionen Karl Barths und Rudolf Ottos«.1128 Beide verfolgen als gemeinsames Anliegen die Betonung der Unverfügbarkeit Gottes, nur dass Barth mehr von der Christologie und dem Offenbarungsbegriff ausging, während Otto an erster Stelle jene Unverfügbarkeit in ihrer Spiegelung im religiösen Erleben suchte, um erst dann von hier aus zur Christologie vorzustoßen. Was beide letztlich entzweite, war demnach weniger ihr Gottesbild als ihre theologische Methode. Die Anhänger der Dialektischen Theologie warfen Otto vor, sich in seinem Ausgehen vom religiösen Erleben der Beliebigkeit und Zweideutigkeit preiszugeben und damit die Verbindlichkeit der christlichen Offenbarung zu verwässern.1129 In Barths und Bultmanns Theologie beschränkt sich dagegen nach Ottos Meinung die Idee Gottes als des »Ganz anderen« zu sehr auf – wie Otto es nannte – »Attrappen« in einer ausufernden und rationalistischen Dogmatik und einer zu optimistischen Zuspitzung auf die traditionellen Begriffe von Bibel und Dogma.1130 Otto versuchte an dieser Stelle dogmatisch bescheidener zu bleiben: Ihn interessierte das Wie der Begegnung des Menschen mit der Offenbarung Gottes als des »Ganz anderen« in den Momenten seines Gestaltwerdens und Erkanntwerdens im Erleben. Anders als Otto unternahm Barth jedoch keine nähere Untersuchung der empirischen Wirklichkeit der Gottesfurcht und verwarf die Annäherung an selbige über eine Erkundung des religiösen Erlebens. Dass der Knoten zwischen Barth und Otto letztlich so scharf auseinanderging, ist kaum aus direkten Begegnungen oder tatsächlichen Auseinandersetzungen beider zu belegen. Es waren vielmehr besonders das Umfeld der frühen Dialektischen Theologie und die Schulen Barths und Bultmanns, die Otto besonders anfeindeten und wiederum deutliche Polemiken von Seiten Ottos provozierten, der aber letztlich der damaligen Durchschlagskraft jener jüngeren Theologengeneration nicht gewachsen war.1131 der kritischen Ausgabe treffend angemerkt wird (vgl. Barth, Der Römerbrief (zweite Fassung von 1922), 47, Anm. 4). Es geht also um jenen zentralen Punkt des christlichen Gottesbildes, der Otto besonders in seiner Luther­deutung klar wurde. 1128 Vgl. in der Dissertation von Michael von Brück zur Theologie der Religionen bei Otto und Barth: Brück, Möglichkeiten und Grenzen, 102–108. 1129 So moniert Bultmann in seiner Enzyklopädie: »die Qualitäten des Tremendum wie des Fascinosum eignen dem Teufel so gut wie Gott« (Bultmann, Theologische Enzyklopädie, 53 und im weiteren Zusammenhang zum Erlebnis des Numinosen a. a. O., 81). Vgl. zu Bultmanns Interpretation Ottos grundsätzlich die luziden Ausführungen bei Wittekind, Transzendenz und Mystik, 235–249. 1130 Vgl. hierzu DH23–25, 70, wo Otto der Dialektischen Theologie vorwirft, letztlich das eigentliche religiöse Erleben und seine Ausdrucksformen als »mythologische Fossile« anzusehen und die »rational-ethischen« Spekulationen der Dogmatik zu verabsolutieren. 1131  So erinnert sich Ernst Benz, es seien die Vertreter eines »jugendlich vereinfachten Barthianismus« gewesen, die Ottos akademische Verdrängung vorantrieben (vgl. Benz, Rudolf Otto als Theologe, 33). Wie das Verhältnis von Otto und Barth selbst zu charakterisieren wäre, bleibt auszuwerten. Über einen Besuch Barths bei Otto kurz vor dessen Tod, von dem Eberhard

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Hans-Walter Schütte vermutet grundsätzlich zur theologischen Wirkungsgeschichte Ottos: »Der der Unmittelbarkeit zuneigende Stil seines Denkens und das scheinbar Auseinanderstrebende seiner Arbeit haben den Eindruck entstehen lassen, seine Theologie sei eine der Intuition sich hingebende Verklärung besonderer unerweislicher Einfälle.«1132

Diese Kritik an Ottos theologischer Methode trifft einen wichtigen Punkt. Die Angreifbarkeit von Ottos Theorie des religiösen Erlebens aus einer religionskritischen Position heraus, wie sie atheistische Religionskritiker ebenso wie auch Karl Barth anmerkten, ist kaum zu entkräften, denn Ottos ganzes Konzept hängt letztlich an der Nachvollziehbarkeit seiner Theologie aus der individuellen Frömmigkeit heraus. Aus religionskritischer Perspektive bleibt anstößig, dass Otto zum Verständnis der Religon Mittel einfordert, die selbst religiös sind. Ottos Theologie ist – dies wird gerade in seiner Wirkungsgeschichte deutlich – demnach in gewisser Weise apologetisch und aporetisch zugleich: Der eindrucksvolle Theorieaufwand, den er für seine theologische Interpretation des religiösen Erlebens betreibt, mündet letztlich nicht in einem systematischen Entwurf im Sinne einer klassischen Dogmatik, sondern scheint ganz bewusst in einer geradezu andächtigen Erlösungslehre aufzugehen, die sich ganz der Wirklichkeit der Religion und ihrer unmittelbaren und intuitiven Evidenz im Erleben hingibt. Otto verzichtet auf eine systematische Explikation dessen, was er als numioses »Objekt« bezeichnete. Seine Zurückhaltung hinsichtlich der Leistungsfähigkeit von Religionsphilosophie und dogmatischer Spekulation und letztlich seine Hinwendung zu den rohen und urtümlichen Grundlagen religiösen Fühlens selbst mussten in der Theologie – und nicht nur dort – den Vorwurf förmlich heraufbeschwören, Otto entziehe sich den entscheidenden Anfragen an den christlichen Glauben durch einen Rückzug hinter dessen Ausdrucksgestalten und Gefühlsdimensionen.1133 In der von ihm selbst so aufwändig betriebenen Theologie vertrat Otto am Ende eine Bescheidenheit hinsichtlich ihrer Bedeutung für die Religion selbst, die zahlreiche Fachkollegen, die der Dogmatik und der Philosophie mehr zutrauten, geradezu kompromittierte. Die entscheidenden Aufnahmen und Weiterführungen von Ottos Impulsen für eine Theologie der Angst beschränken sich daher auf Entwürfe, die in ähnlicher Weise wie Otto stark an der Dimension der religiösen Wirklichkeit und ihrer historischen Erscheinungsform orientiert waren. Busch berichtet (vgl. Busch, Meine Zeit mit Karl Barth, 333), ist nichts Näheres bekannt. Es handelt sich hier wohl um ein Missverständnis. 1132  Vgl. Schütte, Religion und Christentum, 107. 1133 Grundsätzlich dazu, vgl. Schütte, Religion und Christentum, 9. Zu der Debatte um Ottos Hauptwerk und der Kritik hierzu vgl. die Zusammenstellung in Colpe (Hg.), Die Diskussion, 257–429.

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

371

Bereits ausführlicher erwähnt wurde die Ottorezeption des Erlanger Theologen Werner Elert, der in seinen frühen Werken nach dem Ersten Weltkrieg an Otto anknüpfte.1134 Zusammen mit seiner Bezugnahme auf die Werke Oswald Spenglers entwickelte Elert eine eigene Theologie der Angst, in der die Impulse Ottos deutlich erkennbar bleiben und die sich – in ähnlicher Weise kritisch gegenüber rationaler Dogmatik und Spekulation wie Otto selbst – auf das religiöse »Urerlebnis« und seine schauervollen Aspekte konzentriert.1135 Paul Tillichs Rezeption Ottos reicht wie diejenige Elerts, der ebenso wie Tillich Das Heilige noch als Feldprediger im Ersten Weltkrieg gelesen hatte, bis in die Weimarer Zeit zurück. Vieles deutet darauf hin, in Tillichs Werk eine der wirkungsvollsten theologischen Aufnahmen und Fortführungen von Ottos

1134 Vgl.

1.4.

zu Elerts Theologie der Angst die Ausführungen oben im Zweiten Teil, Kap. II,

1135  Die Aufnahme Ottos in Elerts Frühwerk wurde bereits oben im Zweiten Teil, Kap. II, 1.4. thematisiert (vgl. hierzu u. a. Elert, Der Kampf um das Christentum, 449). Die frühe Auseinandersetzung Elerts mit dem Angstbegriff und dem damit verbundenen Rückgriff auf Otto hat Notger Slenczka deutlich herausgearbeitet. Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang Elerts Rezeption des von Otto ebenfalls sehr geschätzten Jakob Böhme (vgl. hierzu Slenczka, Selbstkonstitution, 28 f mit besonderer Berücksichtigung des Werkes DogmaEthos-Pathos von 1920). Umfassend zu Elerts früher Zeitdiagnostik und seiner Auseinandersetzung mit Rudolf Otto vgl. Bayer, Werner Elerts apologetisches Frühwerk, 195 ff. Zu Elerts Deutung des Angstbegriffs als Grundmotiv des Luthertums ist die Schrift Die Forderung unseres Zeitalters an die Sprecher der Christenheit von 1922 besonders wichtig (vgl. Elert, Die Forderung, 420 f und 434–436), in der die Angst als Erfahrungsdimension des Motivs des Zornes Gottes mit deutlichem, wenn auch vereinfachten und überdies nicht kenntlich gemachtem Rückgriff auf Otto als Grund der lutherischen Glaubensauffassung vorgestellt wird: »Wenn Gott aber dennoch lebt und wirkt und seine Hände auch nach unsern Zeitgenossen ausstreckt, so muß diese Erkenntnis der Transzendenz, der absoluten Ferne Gottes in ihnen das Erlebnis einer unaussprechlichen Angst hervorrufen […] das Erlebnis der Angst vor dem Unerkannten, vor dem unaussprechlichen Rätsel der Ferne.« (Elert, Die Forderung, 420). Wenige Jahre später, in dem Aufsatz Angst und Einsamkeit in der Geschichte des Luthertums von 1925, bettet Elert das lutherische Angstmotiv in einen theologiegeschichtlichen Zusammenhang ein und scheint dabei ebenso wie Otto ein genuin religiöses Erleben im Sinne eines intuitiven Erkennens a priori im Auge zu haben: »Dieses Urgefühl der Angst läßt sich aus ­Luthers Grunderlebnis schlechterdings nicht fortdenken. Es ist bei ihm keineswegs nur eine nervöse Stimmung, sondern erkenntnismäßig und willensmäßig mit der Totalität seiner Persönlichkeit verflochten. ­Luther hat die Angst in fast metaphysischer Tiefe erlebt vor dem Deus absconditus.« (Elert, Angst und Einsamkeit, 6, Hervorhebung im Original gesperrt). Zum »Urerlebnis« der Angst in der späteren Morphologie des Luthertums vgl. Elert, Morphologie I, 15 ff. Elerts Morphologie setzt ein mit der Beschreibung eines rätselhaften angstvollen Grauens, das den Menschen unvermittelt überfällt: »Aber über all dieser Vernünftigkeit der Welt und Verständlichkeit des Sollens fährt der Mensch plötzlich zusammen. Ihn packt das Grauen« (Elert, Morphologie, I, 18). Und weiter: »In seiner Angst blickt der Mensch auf Gott, der dies Ungeheuerliche über ihn verhängt hat. Aber was erfährt er? Er sieht den Zorn entbrannt« (a. a. O., 19). Zur theologiegeschichtlichen Einordnung jenes religiösen »Urerlebnis[ses] der Angst« bei Elert vgl. Rohls, Theologiegeschichte, II, 290, sowie Volkmann, Der Zorn Gottes, 198 f. Ausgesprochen aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Slenczka, Selbstkonstitution, 50–70 und mit Blick auf Otto besonders a. a. O., 58 f.

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Denken überhaupt zu sehen.1136 Dabei griff Tillich nicht nur immer wieder auf die jahrelange Auseinandersetzung mit Ottos Schriften zurück, sondern profitierte auch von dem direkten Austausch mit Otto in den gemeinsamen Jahren in Marburg, in denen sich zwischen beiden eine fruchtbare Gelehrtenfreundschaft entwickelte.1137 Dies schlägt sich auch in der für Tillichs Werk besonders wichtigen Deutung des Angstbegriffs nieder: Tillichs Konzeption einer Theologie der Angst, die in ihrer späteren Gestalt in The Courage to Be von 1952 als die vielleicht bedeutendste theologische Deutung der Angst des 20. Jahrhunderts gelten kann, verdankt dem Einfluss Ottos entscheidende Anregungen.1138 Auch Tillich teilt die Leidenschaft Ottos für die Mystik und hat – seinen streng systematischen Arbeiten zum Trotz – in seinem Begriff der Paradoxie des Glaubens oft genug auf den aporetischen und zuweilen abgründigen Charakter der christlichen Botschaft hingewiesen. Gerade im Rahmen seiner Kulturtheologie hat Tillich dabei das Problem des Verhältnisses von Angst und Religion weiterdenken und über Otto hinausführen können.1139 Tillichs Kritik an Otto lautete schon früh, dessen Konzeption des Heiligen und des Irrationalen sei zu stark von der Sphäre des Profanen und Rationalen abgespalten. Tillich sprach hier von einer »verhängnisvolle[n] Nebenordnung«, die er selbst durch seinen Begriff des »Unbedingten« im Rahmen kulturtheologischer Überlegungen zu überwinden suchte.1140 Es ist nach Tillichs Auffassung völlig unmöglich, dass eine »Kulturerscheinung schlechthin außerhalb der heiligen Sphäre steht«.1141 Vielmehr versucht Tillich in seiner Theologie der Kultur die einzelnen Kulturerscheinungen transparent zu machen für den in ihnen und durch sie hindurch geltenden unbedingten Grund, der somit die Religion nicht als einen Teilaspekt der Kultur, sondern als deren Substanz und Tiefe beschreibt.1142 Was Tillich also im Anschluss an Otto fordert, ist eine »Analyse sämtlicher religiöser und kultureller Ausdrucksformen« auf ihren unbedingten – Otto würde sagen: »numinosen« – Grund hin.1143 Worum es Tillich geht, ist die Betonung der Transparenz aller Kultur auf ihre Sinndimension und transzendente Tiefe: 1136  Vgl. grundlegend zur Bedeutung Ottos für Tillichs Denken: Schüssler, »My very highly esteemed friend«, 153–174. 1137 Zu den freundschaftlich-kollegialen Verbindungen zwischen Otto und Tillich Mitte der Zwanzigerjahre und zu den zahlreichen Verbindungslinien ihres Denkens vgl. Schüz, Rudolf Otto und Paul Tillich, 197–136. 1138  Zur Bedeutung Ottos für Tillichs Angstbegriff vgl. Coe, Angst and the Abyss, 164–166. Zu Tillichs Angstbegriff und seiner Bedeutung im 20. Jahrhundert vgl. die bereits zusammengestellten Hinweise oben im Ersten Teil, Kap. II, 2.2. 1139 Vgl. zur Rekonstruktion der Bedeutung des Angstbegriffs in Tillichs Kulturtheologie: Schüz, Der Begriff Angst, 327–345. 1140 Vgl. Tillich, Die Kategorie des Heiligen, 186. 1141  Vgl. Tillich, Die Kategorie des Heiligen, 186. 1142 Zur neueren Deutung von Tillichs Theologie der Kultur vgl. als Überblick den Sammelband: Danz / Schüssler (Hg.), Paul Tillichs Theologie der Kultur. 1143 Vgl. Tillich, Die Kategorie, 186.

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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»Sehr deutlich gemacht hat das Wesen der Grundoffenbarung Ottos Bestimmung des Heiligen als mysterium tremendum et fascinosum. Aber auch hier ist der Glaubenscharakter nicht scharf genug herausgearbeitet. Das liegt an der bloß phänomenologischen Beschreibung. Sie hat zur Folge, daß das Heilige den übrigen Funktionen nebengeordnet wird. Damit aber ist die Möglichkeit gegeben, es unter den Zweifel zu stellen und beiseite zu schieben. Und umgekehrt, wenn es bejaht wird, so gelingt es nur schwer, es zu den übrigen Sinngebieten in Beziehung zu setzen. Aber gerade als Durchbruch durch die Sinngebiete, als ihr Abgrund und ihr Grund muß es gefaßt werden. Dann ist es freilich nur dem Glauben zugänglich, kann aber darum nie beiseite geschoben werden. Das ganz andere ist immer zugleich das ganz Eigene, der Abgrund ist immer zugleich der Grund.«1144

Ottos Zurückhaltung bei der religiösen Deutung profaner Gegenstände und Ausdrucksformen wird also bei Tillich überwunden und kommt gerade im Angstbegriff besonders zum Tragen. Bei Tillich ist Angst weder der kausale Anlass für die Religion, noch ist sie als religiöses Erleben der »Scheu« ein exklusives numinoses Gefühl. Sondern Angst wird vielmehr verstanden als eine durchaus existentielle Erfahrung, die jedoch auf einen essentiellen Grund hin transparent ist: Beispielsweise in der Angst vor dem Tod schwingt nach Tillichs Auffassung eine unbedingte Grundfrage mit, nämlich die nach Sein oder Nichtsein, Ewigkeit und Endlichkeit, die das Gefühl der Angst zugleich transzendiert und seine religiöse Substanz zum Durchbruch führt. Angst ist bei Tillich also beides zugleich: sowohl profanes psychisches Problem als auch religiöses Erleben von Grund und Abgrund des Unbedingten. Letztlich ist Tillich im Kerngedanken ganz nah bei den Grundgedanken Ottos, dessen Werk Tillich bis zu seinem Lebensende in höchstem Maße verehrte. Der Unterschied im Zusammenhang der Angst ist allein der, dass Tillich das numinose Erleben des »tremendum« und der »Scheu« nicht wie Otto primär in den explizit religiösen Ausdrucksmitteln der Religionsgeschichte suchte, sondern in erster Linie in seinen impliziten und überlagerten Spuren in der Kultur.1145 Angst ist damit bei Tillich anders als bei Otto eine zentrale  – vielleicht sogar die entscheidende  – Erlebnisdimension menschlichen Lebens überhaupt, die besonders in der Kultur der Moderne sowohl in explizit religiösen wie profanen Modi greifbar und der theologischen Deutung zugänglich ist. Jene Spannung zwischen Otto und Tillich stellt keinen Widerspruch sondern vielmehr zwei sich ergänzende Sichtweisen und Sprachformen ein und desselben Grundgedankens dar und wird im Ausblick der vorliegenden Arbeit inhaltlich nochmals aufgegriffen werden. Was Otto in einer 1144 So Tillich in seinem Aufsatz Rechtfertigung und Zweifel von 1924, der zeitlich genau in die Jahre der freundschaftlichen Bekanntschaft und Zusammenarbeit mit Otto in Marburg fällt (Tillich, Rechtfertigung und Zweifel, 95 f). Dass Otto sich Tillichs Kritik zu eigen machen konnte und sich in dessen Hinweisen durchaus verstanden fühlte, zeigt die ausdrückliche Übernahme des von Tillich angeregten Motivs von »Grund und Abgrund« in späteren Jahren (vgl. SU, 190). 1145 Zu Tillichs kulturtheologischer Angstdeutung vgl. erneut Schüz, Der Begriff Angst im Kontext der Kulturtheologie Paul Tillichs, 327–345.

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theologischen Theorie religiösen Erlebens anhand der Religionsgeschichte zum »tremendum« herausarbeitet, ergänzt Tillich durch die Herausstellung der hiermit korrelierenden Sinndimensionen in der modernen Kultur im Zusammenhang mit einer religionsphilosophischen Deutung des modernen Angstbegriffs.1146 Tillichs Anknüpfung an Otto und seine damit verbundene umfassende theologische Deutung der Angst ist der mit Abstand wichtigste und ertragreichste Impuls in der Wirkungsgeschichte Ottos hinsichtlich des Problems von Angst und Religion. Weitere direkte Bezugnahmen auf Otto hinsichtlich in Bezug auf den Angstbegriff sucht man in der Theologiegeschichte bis heute fast vergeblich. Nur im Rahmen eines einzigen, aber vielbeachteten Aufsatzes hat allein Ernst Benz eine theologische Deutung der Angst mit deutlicher Bezugnahme auf seinen väterlichen Freund und Fachkollegen Otto unternommen.1147 Wie Elert und Tillich konnte offensichtlich auch Benz in Ottos Theologie gerade bejahen, was ihm die Theologie sonst mehrheitlich verübelte: die Rückbesinnung auf die letztlich nur aus der Binnenperspektive und der Gefühlsebene einholbare Wirklichkeit der Religion in der Geschichte der Mystik, die Benz besonders in der Theologiegeschichte der Ostkirchen erforschte. Damit bleibt lediglich noch ein theologischer Ansatz zur Deutung der Angst zu erwähnen, der zwar weder Otto noch Tillich namentlich nennt oder zitiert, jedoch inhaltlich deutliche Parallelen aufweist: Das 1950 erschienene Buch Angst und Glaube von Otto Haendler. Die deutliche Überschneidung von ­Haendlers Konzept mit den Grundgedanken Ottos besteht in dem Gedanken, dass die empirische und das alltägliche Leben bestimmende kausale Angst im Kontext der Religion eigentümlich überstrahlt wird von einer ganz eigenen Art der Angst, einer religiösen Angst – Haendler nennt sie nach dem traditionellen Begriff »Gottesfurcht« – die eine grundstürzende Auswirkung auf das Selbstverständnis und Weltverständnis des Menschen hat. Haendlers Deutung der Angst ist demnach – wie er selbst betont – tatsächlich »grundlegend theologisch«, denn sie stellt das religiöse Erleben bzw. die religiöse Angst über die »psychologischen, pädagogischen, ästhetischen, usw.« Aspekte der Angst.1148 Die theologische Grundidee Haendlers ist die, dass die profane Angst des Menschen durch die Religion zwar nicht wie in einem Kausalverhältnis geheilt wird, stattdessen aber im Glauben eine grundlegende »Wandlung« erfährt.1149 Die Grundfigur dieses Gedankens erinnert durchaus deutlich an Otto: Die empirische Angst bleibt nach empirischen Kriterien ein existentieller Aspekt des menschlichen Lebens. In 1146 Treffend spricht Heiko Schulz daher von den Ansätzen Ottos und Tillichs als regelrecht »kongenialen« Weiterführungen des Angstmotivs in der Theologie im Erbe Kierkegaards (vgl. Schulz, Art. Angst, 498). Vgl. zur Verbindung Ottos und Tillichs im Zusammenhang mit dem Angstbegriff: Coe, Angst and the Abyss, 164–166, bes. 166. 1147 Vgl. den vielbeachteten Aufsatz: Benz, Die Angst in der Religion, 189–221. 1148 Vgl. Haendler, Angst und Glaube, 160. 1149 Vgl. Haendler, Angst und Glaube, 144 ff, besonders 147.

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einem völlig neuen Licht erscheint jene Angst jedoch laut Haendler dann, wenn sie auf den Gottesgedanken eingestellt wird. Als tiefsten Grund aller Angst des Menschen macht Haendler dann eine Angst aus, die sich nicht auf Aspekte der Welt bezieht, sondern die Unfassbarkeit des Göttlichen im – wie Haendler sagt – »›verborgenen‹ Gott« betrifft:1150 »Wir machten uns deutlich, daß die Angst nur dann überwunden und gelöst werden kann, wenn wir ihre tiefste Wurzel erreichen. Verfolgt man sie aber bis zu dieser letzten Wurzel hin, so scheint gerade damit die Frage der Lösung hoffnungslos zu werden. Denn darum ist die Angst so zähe, weil alle Angst, die doch bei Gott zur Lösung kommen möchte, im letzten Grunde Angst vor eben diesem Gott ist.«1151

Wer in seiner Angst auf Heilung der Angst in der Religion hofft, wird nach Haendlers Auffassung gerade auf die »letzte Tiefe des Verlorenseins« gestoßen1152 – ein Gedanke, der sich nicht nur L ­ uther verpflichtet weiß, sondern auch deutlich an Ottos Grundfigur des »Ganz anderen« im Erleben der Kontrastharmonie von »tremendum« und »fascinans« erinnert, denn genau in jener Angst des Verlorenseins im Erleben der Gottesfurcht liegt laut Haendler zugleich deren Erlösungsmoment: »Die Angst vor Gott wird darin gerade wirklich aufgehoben und entmächtigt, daß sie in ihrer Verzweiflung vor dem schrecklichen Gott geworfen ist auf die Gnade und nun an ihr sich wandeln muß und darf. Sie wird gewandelt in die Gottesfurcht.«1153

Ganz ähnlich wie Otto geht es Haendler offenbar um die Betonung der Besonderheit des religiösen Erlebens und seiner darin aufscheinenden Erahnung des Göttlichen im Motiv des Deus absconditus, einem in seiner Transzendenz unnahbaren und nur im Gefühl eigentümlicher Angst sich andeutenden »Ganz anderen«. Die Pointe hinsichtlich gewöhnlicher Ängste ist auch bei Haendler der Gedanke der Relativierung: Im religiösen Erleben der Gottesfurcht vollzieht sie eine Wandlung im Selbst‑ und Weltverhältnis, die die existentiellen Ängste des Menschen »entmächtigt«, wie Haendler es nennt, also in einem neuen Licht des Relativen, Vorläufigen und nicht länger Letztgültigen erscheinen lässt. Von den genannten Beispielen abgesehen, scheint Ottos theologische Deutung der Angst im Kontext religiösen Erlebens etwas in Vergessenheit geraten zu sein. Seine Unterscheidung von profaner Angst und numinoser »Scheu« findet heute in theologischen Abhandlungen zum Verhältnis von Angst und Religion nur selten den Weg in eine Fußnotenbemerkung. Ottos Kerngedanke einer eigenen religiösen Kategorie des Gefühls, seine Idee des »mysterium tremendum« als Grundelement der Gottesfurcht in der Religionsgeschichte wird hingegen bis heute gerne und oft als Klassiker zitiert, ohne dabei Ottos diffizile Unterschei1150

 Vgl. Haendler, Angst und Glaube, 144. Angst und Glaube, 144. 1152 Vgl. Haendler, Angst und Glaube, 145. 1153 Vgl. Haendler, Angst und Glaube, 145. 1151 Haendler,

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dung von religiöser »Scheu« und gewöhnlicher Angst mit zu verhandeln.1154 Im letzten Teil der vorliegenden Arbeit soll daher der Versuch unternommen werden, Ottos Angstdeutung skizzenhaft in den Ausblick einer Theologie der Angst zu integrieren und dabei auch die Anregungen insbesondere von Tillich und Haendler zu berücksichtigen. 1.2. Angst und »Scheu« in der Wirkung Ottos auf die Philosophie Auch aus den philosophischen Debatten um den Angstbegriff ist Otto schon seit Jahrzehnten so gut wie verschwunden. Während Klassiker wie Søren Kierkegaard und Martin Heidegger immer wieder als Eckpfeiler jeder philosophischen Untersuchung der Angst bemüht werden, sucht man Otto hier vergeblich. Dies ist erstaunlich, denn ursprünglich zählten gerade auch Philosophen zu den ersten Rezipienten und Befürwortern von Ottos Hauptwerk.1155 Doch schnell wird klar, wie es auch hier hinsichtlich des Angstbegriffs zum Abbruch kam: Die entscheidenden Debatten zum Angstbegriff seit den Zwanzigerjahren wurden gerade von derjenigen Philosophengeneration dominiert, deren nun bekämpfte Lehrer einst Ottos Förderer und Bewunderer waren. So wurden gegenüber Otto wohlgesonnene Philosophen wie Edmund Husserl, Max Scheler, aber auch Heinrich Rickert und Ernst Cassirer, die allesamt Otto gerade für seine phänomenologischen Studien über das religiöse Erleben bewunderten, von ihrer Schülergeneration, die man später im weitesten Sinne der Philosophie der Existenz zuordnete, letztlich in den philosophischen Debatten der Zwanzigerjahre zunehmend in den Schatten gestellt. Besonders Martin Heidegger, Karl Jaspers und später dann Jean-Paul Sartre traten  – angeregt durch Kierkegaard – mit Schriften zum Angstbegriff hervor, die bis heute als klassische Deutungen der Angst der Moderne gelten und neben denen Ottos Studien zur numinosen »Scheu« seltsam antiquiert und randständig wirken mussten. Wie 1154 Als Begriff für den in der Religionsgeschichte und auch in der Bibel reichlich überlieferten Moment der »Gottesfurcht«, des heiligen Schreckens und ehrfürchtigen Erschauerns wird Ottos »mysterium tremendum« bis heute gerne in Anspruch genommen. Als prominentes Beispiel in der jüngeren Vergangenheit mag das dreibändige Jesusbuch von Joseph Ratzinger/ Papst Benedikt XVI. gelten, der immer wieder auf die Furchtmomente, den »Gottesschrecken« in der Gottesbegegnung im Alten und Neuen Testament hinweist und dabei auch explizit vom »Tremendum Gottes« spricht (vgl. z. B. Ratzinger, Jesus von Nazareth, Erster Teil, 348, 361 u. a.) 1155 Man denke beispielweise an die zustimmenden und wohlwollenden Worte ­Heinrich Rickerts (Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, 557) Max ­Schelers (vgl. Scheler, Vom Ewigen im Menschen, 10.141, besonders 166 ff, sowie 280 ff.301.311), Edmund Husserls (vgl. den Brief an Otto, abgedruckt in Schütte, Religion und Christentum, 139–142) sowie Ernst Cassirers (vgl. Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, 89 ff (Originalpaginierung 97 ff) und hierzu Pedersen, The Holy as an Epistemic Category, 207–227 sowie Richter, Die Religion in der Sprache, 7, 214 ff, 273 ff) und aus religionsphilosophischer Perspektive besonders Paul Tillich, z. B. in: Tillich, Der Religionsphilosoph, 179–183.

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ist nun das Verhältnis Ottos zum Angstbegriff in der Existenzphilosophie zu beurteilen? Geht man von Ottos eigenen Bemerkungen aus, so ergibt sich ein eindeutiges Bild: Otto äußerte sich zu Kierkegaard oder Heidegger fast nie, und wenn, dann abschätzig. Kierkegaards Angstbegriff scheint Otto schlicht deshalb nicht zu interessieren, weil er in ihm gerade kein religiöses Erleben, sondern dem Glauben gegenüberstehende Emotionen pathologischer Ängste beschrieben fand.1156 Wie Otto in Gottheit und Gottheiten der Arier deutlich machte, sind es gerade furchtlose, prophetische Naturen und religiöse Virtuosen wie Hiob oder Martin ­Luther, die beide alles andere als ängstlich erscheinen, an denen das Erleben numinoser »Scheu« besonders deutlich wird.1157 Demgegenüber scheint Otto in Kierkegaard eher einen unter ganz weltlichen Ängsten leidenden Charakter zu sehen, der nicht numinose »Scheu«, sondern existentielle Angsterfahrungen zum Ausgangspunkt seiner Deutung der Angst erhob.1158 1156 Zu Ottos Geringschätzung von Kierkegaards Angstbegriff vgl. Gooch, The Numinous, 136, mit Verweis auf die unveröffentlichte Vorlesung Sittengesetz und Gotteswille, in der Otto sinngemäß schreibt, die von Kierkegaard beschriebene Angst sei kein religiöses oder theologisches, sondern ein pathologisches Problem. 1157  Vgl. GGA, 24 f, Anm. 1. 1158  Dennoch ist eine gewissen Ähnlichkeit von Ottos Konzept der »Scheu« zu Kierkegaards Angstbegriff nicht zu leugnen, wie Hermann Deuser jüngst deutlich gemacht hat: »Gegenwart, als Phänomen selbst, hat insofern eine begrifflich gesehen dunkle Seite, und alles, was Otto im zehnten Kapitel (›Was heißt irrational?‹) vorträgt, fällt in diese Kategorie: ›eine geheimnisvoll-dunkle Sfäre‹ [sic!] (DH23–25, 76.) die zugleich als konstitutiv und unauflösbar zu gelten hat. Ottos Beispiel, die Unterscheidung zwischen konkret benennbarer ›Furcht‹ und unsagbarer ›Scheu‹ vor dem Numinosen kommt Kierkegaards Existenzphänomenologie der Angst sehr nahe, hält sich aber an die religionsgeschichtlichen Belegfelder, denen so die Begründungslast für das Irrationale zukommt« (Deuser, »A feeling«, 328, runde und eckige Klammern im Original). Insofern wird Otto Kierkegaard sicherlich nicht gerecht. Dass Otto und Kierkegaard jedoch bei aller vermeindlichen Ähnlichkeit hinsichtlich des Angstproblems deutlich zu unterscheiden sind, ist dennoch anzunehmen. Wenn Kierkegaard in seinem Werk Der Begriff Angst feststellt, es werde »das Individuum durch die Angst gebildet zum Glauben« (Kierkegaard, Der Begriff Angst, 166), scheint damit weniger ein genuin religiöses Erleben und eine im Gefühl a priori gewonnene Erkenntnis des Numinosen als des »Ganz anderen« gemeint zu sein, als vielmehr ein auf die existentielle Welt und Lebenssituation des Menschen gerichtete Erkenntnis der Problematik der Freiheit menschlicher Vorstellungskraft. In dem Strudel der Möglichkeiten realisiert der Mensch in der Angst bei Kierkegaard also offensichtlich gerade das Zurückfallen des Menschen auf sich selbst und nicht die Erahnung des Numinosen. Arne Grøn hat deutlich gemacht, dass jene existentielle Angst bei Kierkegaard jedoch durchaus eine konstitutive Funktion für den Glauben hat: »der Glaube erlöst durch die Angst hindurch, oder genauer gesagt, die Angst erlöst mit Hilfe des Glaubens« (Grøn, Angst bei Sören Kierkegaard, 171) – es ist also die Angst bei Kierkegaard nicht einfach das Problem des Menschen, für das der »Sprung« des Glaubens die rettende Antwort ist. Dennoch hat aber bei Kierkegaard die Angst eine in erster Linie zum Glauben führende Funktion und ist also von ihm letztlich unterschieden. An diesem Punkt argumentiert Otto völlig anders und macht damit auch die unüberbrückbare Differenz zu Kierkegaards Angstbegriff deutlich: In seinem Begriff der »Scheu« sieht Otto keine zum Glauben bildende oder zur Religion führende existentielle Erfahrung, sondern nach seiner Auffassung ist die »Scheu« selbst schon ein Ur‑ und Kernmoment des religiösen Erlebens und damit

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In der sich häufig auf Kierkegaard beziehenden Existenzphilosophie, die in Ottos direktem Umfeld im Marburg der Zwanzigerjahre unter dem Einfluss Heideggers für großes Aufsehen sorgte, sah Otto eine vorübergehende Modeerscheinung, deren sensationellen Erfolg er nicht nachvollziehen konnte.1159 Was störte ihn daran so sehr? Nach zahlreichen versteckten Spitzen gegen die Existenzphilosophie äußert sich Otto – wie bereits gezeigt – in seinem letzten theologischen Werk etwas ausführlicher.1160 Otto erkennt im Begriff der Existenz demnach scheinbar einen Ausdruck für die Totalität des Natürlichen und Profanen überhaupt und zugleich eine Verneinung derjenigen Sphäre, die unter den klassischen Begriffen der Seele und des Geistes steht, auf die Ottos Theorie religiösen Erlebens aufbaut. In Heideggers Philosophie scheint Otto eine Art säkularistische Weltansicht zu sehen, die in der »Existenz« zugleich die Letztbegründung der Wirklichkeit begreift.1161 Die Unterscheidung von »natürlich« und »übernatürlich«, die Otto in seiner Luther­deutung entwickelte, erschien ihm offenbar hiermit ebensowenig vereinbar wie der grundlegende Gedanke der Unableitbarkeit der Religion. So konstatiert Otto im Kontext seiner Ausführungen zur christlichen »Idee der Verlorenheit« im Anschluss an ­Luther die Unhintergehbarkeit und Ursprünglichkeit der Religion nicht ohne einen Seitenhieb auf die Existenzphilosophie: »Dies zur Warnung für diejenigen, die auch heute wieder trotz L ­ uther ›die religiöse Lage‹, die eigene Situation oder die eigene ›Existenz‹ vor der Religion selber konstruieren. Religion fängt durchaus und nur mit sich selber an.«1162

Hinsichtlich des Angstbegriffs, der gerade in Heideggers Sein und Zeit eine zentrale Stellung einnimmt, scheint Otto überdies eine existenzphilosophische Fehlinterpretation seines eigenen Werkes zu befürchten, die möglicherweise durch der Innerlichkeit des Glaubens selber: Sie richtet sich gerade nicht auf die Widersprüchlichkeit und Abgründigkeit der menschlichen Existenz, sondern auf die unmittelbare Erahnung von deren Gegenteil im Numinosen. 1159  Zu Ottos Bemerkungen über Heidegger in Briefen vgl. Kraatz, »[…] meine stellung«, 4 f. Karl Löwith erinnert sich, Otto habe in der Dialektischen Theologie und in der Existenzphilosophie letztlich »Inflationserscheinungen« gesehen (vgl. Löwith, Mein Leben, 65). 1160 Vgl. RGM1, 38 und die Ausführungen oben im Zweiten Teil, Kap. IV, 5.3. Die Kritik richtet sich ganz offensichtlich insbesondere gegen Rudolf Bultmann, der seit Mitte der Zwanzigerjahre im regen Austausch mit Heidegger stand und seither den Versuch einer Anwendung von dessen Philosophie auf das Neue Testament und die Theologie überhaupt vorantrieb. In seiner Kritik an Bultmann ist Otto übrigens erneut Karl Barth nicht unähnlich, der Bultmann ebenso vorwarf, in einer existenzphilosophischen Theologie den Geltungsanspruch des christlichen Offenbarungsglaubens letztlich zu verspielen. Vgl. hierzu Barth, Rudolf Bultmann. Ein Versuch, ihn zu verstehen. 1161 Otto fehlte hierfür jedes Verständnis. Nach der Lektüre von Sein und Zeit berichtet er in einem Brief: »Ich kann dies ›Filosofieren‹ wirklich nur für eine Art Geisteskrankheit halten, ganz abgesehen von ganz massiven logischen Fehlern, die mit unterlaufen.« (zitiert nach Kraatz, »[…] meine stellung«, 5). 1162 Vgl. SU, 33, Anm. 1.

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Anfragen aus dem Lager Bultmanns zu ihm drang. Nur so ist zu erklären, warum Otto seit dem Ende der Zwanzigerjahre immer wieder mit Nachdruck darauf hinweisen musste, das »mysterium tremendum« und die »Scheu« seien gerade keine »Weltangst«1163 und sein Kreatur‑ und »Sündegefühl« sei gerade keine sekundäre Deutung von »Weltängste[n] oder Existential-nöte[n]«1164, sondern ein erstes und ursprüngliches Erleben und Erkennen im Sinne eines religiösen Apriori. Eine das »Nichts« offenbarende Angst im Sinne einer »Grundstimmung«1165 und eines Lebensprinzips usurpiert also nach Ottos Ansicht die Idee der »Scheu« als einer besonderen, durch alles Profane hindurchgehenden, genuin religiösen, unmittelbaren Sinn-Evidenz und Erkenntnis des »Ganz anderen«, der seiner Auffassung nach gerade keine existentiale Grundstimmung vorangeht. Nicht das »Nichts« oder das »In-der-Welt-sein« ist es, was laut Otto im religiösen Erleben begegnet, sondern ein ganz konkreter und dennoch restlos entzogener, »ganz anderer« höchster Wert. Besonders in Bultmanns theologischer Anwendung von Heideggers Angstbegriff musste Otto daher einen völligen Fehlgriff sehen.1166 Offen bleibt indes die Frage, ob es nicht vielleicht umgekehrt vielmehr Otto war, der seinerseits eine gewisse Wirkung auf Heidegger und die Entstehung von dessen Angstbegriff ausübte. Immerhin haben Heidegger und Husserl nach den Erinnerungen Hans-Georg Gadamers »eine Zeitlang mit großem Interesse« Ottos Das Heilige gelesen.1167 Im Rahmen der Schleiermacherdeutung Ottos wurde bereits auf die These hingewiesen, Heidegger könne im Zuge seiner Entwürfe für die nicht gehaltene Vorlesung zu den »Grundlangen der mittelalterlichen Mystik«1168 und für die Vorlesung »Einleitung in die Phänomenologie der Religion« von 1920/21 durch Ottos Beschreibung des »mysterium tremendum« und des »Kreaturgefühls« für die Ausarbeitung seines eigenen Angstbegriffs in Sein und Zeit angeregt worden sein.1169 Brisant ist die Frage deshalb, weil hiermit eine Verbindung von Ottos theologischer Problematisierung der Angst zu der wohl wirkungsvollsten Angstdeutung des 20. Jahrhunderts bei Heidegger be1163  Auf die späteren Ergänzungen in Das Heilige hinsichtlich des Gedankens »einer vermeintlichen allgemeinen ›Weltangst‹« (DH23–25, 17) wurde bereits hingewiesen. Vgl. hierzu auch u. a. GGA, 6. 1164 Vgl. FN, 10. 1165 Vgl. beispielsweise Heidegger, Was ist Metaphysik, 32 f oder die einschlägigen Passagen zur Angst in Heideggers Sein und Zeit, insbes. in § 40. 1166  So verurteilt Otto mit deutlicher Polemik die »Modernismen«, die durch »Anleihen aus einer modischen ›Existenz‹-filosofie« durch »Allegorisierung« die ursprünglich genuin religiösen Erlebnismomente und ihre Ausdrucksformen in Mythos und Dogma durch Entmythologisierung auf die Gegenwart zu übertragen versuchen. Vgl. RGM1, 38, wo das Problem am Beispiel der Eschatologie diskutiert wurde (vgl. dazu oben im Zweiten Teil, Kap. IV, 5.3). 1167 Vgl. Gadamer, Hermeneutik im Rückblick, 249. 1168  Die Vorlesung war für das Wintersemester 1919/20 geplant. Unter den Fragmenten befindet sich auch der Entwurf einer Rezension zu Ottos Das Heilige (vgl. Heidegger, Das Heilige, 332–334). 1169 Vgl. Han, Schleiermachers Religionsbegriff, 101 ff, 125 und 234 f.

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stünde.1170 Allerdings sind die tatsächlichen Parallelen eher marginal und liegen mehr auf der begrifflichen als auf der inhaltlichen Ebene, wie beispielsweise im Falle des »Kreaturgefühls« als des Gefühls »eigener Nichtigkeit, eigenen Versinkens gegenüber dem in der ›Scheu‹ erlebten Schauervollen und Großen selber«1171 oder den Ausführungen Ottos zum »Nichts« in der Mystik.1172 Mit der Idee des »Ganz anderen« ging Otto dann letztlich doch in eine ganz andere Richtung als Heidegger, dem es weniger um eine Phänomenologie religiösen Erlebens, als um eine fundamentalontologische Grundlegung der Philosophie ging.1173 Heideggers faktische Verabschiedung von Ottos grundlegender Idee eines religiösen Apriori, die ebenfalls in seiner Vorlesung zur Phänomenologie der Religion deutlich wird, hat kürzlich Christian Danz herausgearbeitet.1174 Ob Heidegger trotz jener inhaltlichen Differenzen dennoch wichtige Impulse für sein eigenes Denken aus Ottos Hauptwerk schöpfte, muss letztlich offen bleiben. Überhaupt war das Problem des religiösen Apriori der vielleicht wichtigste Kritikpunkt an Ottos Entwurf seitens der Philosophie. Als Exemplarisch kann hierfür die kritische Schrift Friedrich K. Feigels gelten, der Otto vorwarf, die Unterscheidung von Angst und »Scheu« sei seit Kant schlichtweg kategorisch nicht möglich und demnach ein apologetisch motivierter, epistemologischer Etikettenschwindel.1175 Hinsichtlich der wirkungsgeschichtlichen Entwicklungen von Ottos Deutung der Angst wird aus den angestellten Überlegungen eines deutlich: Der im Anschluss an Kierkegaard  – möglicherweise auch inspiriert von Oswald Spengler – entwickelte Angstbegriff Heideggers hat es offensichtlich ganz anders als derjenige Ottos vermocht, dem modernen Lebensgefühl seiner Zeit in besonderer Weise zu entsprechen. Die Aufnahme des existenzphilosophischen Angstbegriffs etwa bei Karl Jaspers oder Jean-Paul Sartre spiegelte die Stimmung des auf sich selbst zurückfallenden modernen Menschen und der Krise der westlichen Kulturen kraftvoll wieder und wurde dementsprechend in nicht mehr überschaubarem Maße rezipiert. Dagegen ist Ottos Studium des religiösen Erlebens und seiner angstvollen Dimension ein unscheinbares Randthema seiner 1170 Leider bietet das kurze Fragment zu Das Heilige in Heideggers Nachlass kaum weitere Anhaltspunkte (vgl. Heidegger, Das Heilige, 332–334). 1171  Vgl. DH23–25, 20, und ähnlich in DH23–25, 10. 1172  Vgl. DH23–25, 34 f. 1173 Denkbar ist es deshalb, dass weniger Otto als vielmehr Oswald Spengler neben ­Kierkegaard als wichtige Anregung für Heideggers Angstbegriff fungierte. 1174 Vgl. hierzu grundlegend: Danz, Zwischen Transzendentalphilosophie und Phänomenologie, 335–346. Danz hebt hier besonders Heideggers Verabschiedung des Gedankens eines religiösen Apriori zugunsten eines Verständnisses der Religion »als das konkrete Sich-Verstehen des Menschen in der Geschichte« hervor (vgl. a. a. O., 343). 1175 Vgl. hierzu Feigel, Das Heilige. Ausführlich zum Problem des religiösen Apriori bei Otto, seinen philosophischen Grundlagen bei Kant, Fries und Apelt, soweit seiner Wirkungsgeschichte vgl. Paus, Religiöser Erkenntnisgrund.

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Zeit, das zwar durch seine eindrückliche Darstellungskraft und seine scharfsinnigen phänomenologischen Beschreibungen auffiel, in seinem theologischen Anspruch jedoch kaum erfasst wurde. Dass Ottos »mysterium tremendum« letztlich in den philosophischen Debatten auf der Strecke blieb, ist dabei kein bedauerlicher Irrtum, sondern gerade inhaltlich nur folgerichtig. Denn während der besonders nach dem Zweiten Weltkrieg intensiv diskutierte moderne Angstbegriff gerade ein säkulares, wenn nicht sogar atheistisches Projekt war, ging es Otto in der Unterscheidung natürlicher Angst von numinoser »Scheu« gerade um eine Wiederentdeckung der transzendentalen Urmomente der Religion und einer genuin religiösen Kategorie des Erlebens. Er verfolgte ein apologetisches Programm, wie Hans-Walter Schütte schlüssig dargestellt hat, das zu keinem Zeitpunkt aktuell oder zeitgemäß sein wollte und kein Interesse an einer Anknüpfung an den modernen Angstbegriff hatte.1176 Von einem nichttheologischen, empirischen oder areligiösen Standpunkt aus muss Ottos Konzept deshalb als hermetische und unzugängliche Binnenperspektive der Religion erscheinen. Die berechtigte Kritik an Otto seitens der Philosophie lautet demnach letztlich, dass man – wie auch schon Edmund Husserl1177 bedauerte, letztlich in Ottos Sinne religiös sein muss, um seinem Konzept einer Unterscheidung von Angst und »Scheu« folgen zu können. Ottos Ansatz jedoch deshalb als überholt zu verabschieden, ist dennoch ein voreiliges Fehlurteil. Gerade die Binnenperspektive ist ein entscheidendes Element, durch das Religion ihrem Wesen nach erfasst und beurteilt werden kann.1178 Um der Religion und ihrem Anspruch gerecht zu werden, so könnte man Otto hier zusammenfassen, muss sie durch das Medium der Religion selbst erschlossen werden. Ob Otto hingegen heute in den postmodernen Debatten um eine Neudeutung des Gefühlsbegriffs in ganz neuer Weise anschlussfähig oder sogar wegweisend sein könnte, muss offen bleiben. In der jüngeren Vergangenheit hat bereits Hermann Schmitz in seinen phänomenologischen Studien deutlich an Otto anzuknüpfen versucht.1179 Weitere Anknüpfungspunkte von Ottos Gefühlstheorie an die gegenwärtigen Debatten um eine Philosophie der Gefühle haben jüngst Roderich Barth1180 und Notger Slenczka1181 aufgezeigt. Inwiefern von Otto und seinem Beharren auf dem religiösen Erleben als einer artbesonde1176

 Vgl. Schütte, Religion und Christentum, 108 ff.  Vgl. erneut den Brief Husserls an Otto, abgedruckt in Schütte, Religion und Christentum, 139–142. 1178 Zum Problem der »Innenperspektive« bei Otto vgl. Barth, Rudolf Ottos Entwurf, 57 und grundsätzlich hinsichtlich der Debatte um das Heilige Joas, Säkulare Heiligkeit, 66. 1179 Vgl. hierzu insbesondere die Ausführungen zu Otto in Schmitz’ System der Philosophie, die zu den leidenschaftlichsten Würdigen Ottos überhaupt zu rechnen ist, in: Schmitz, System der Philosophie III/4, Das Göttliche und der Raum, 9–11, besonders 74–91 u. a. 1180 Vgl. Barth, Phänomenologie der Sünde, 111–125, sowie Ders., Gefühl und Religion, 15–48. 1181 Vgl. Slenczka, Rudolf Ottos Theorie, 275–292. 1177

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ren Weise des Erkennens auch für die aktuellen philosophischen Debatten zur Bedeutung von Gefühlen im allgemeinen und der Angst im Besonderen noch weiterführende Impulse zu erwarten sind, bleibt zu erforschen.1182 1.3. Angst und »Scheu« in der Wirkung Ottos auf die Religionspsychologie Wie weitreichend und verzweigt sich die Wirkungsgeschichte Ottos in der erst zu seinen Lebzeiten entstehenden Religionspsychologie und von hier ausgehend in der Psychologie überhaupt darstellt, hat jüngst Hanno Willenborg ausführlich gezeigt.1183 Seit der bereits geschilderten frühen Beschäftigung mit entwicklungspsychologischen Fragen der Religion in den Zwanzigerjahren und seiner Auseinandersetzung mit Erich Rudolf Jaensch war Otto nicht nur den frühen Debatten der Religionspsychologie eng verbunden,1184 sondern fand in den folgenden Jahrzehnten auch immer wieder Resonanz in religionspsychologischen Entwürfen. Der Begriff der Angst spielt dabei eine herausragende Rolle: Gerade im Zusammenhang von Angst und Religion wurde immer wieder auf Otto Bezug genommen.1185 Dabei ist zu beachten, dass die »Epoche der ersten Blüte« der Religionspsychologie, in die Ottos Das Heilige fiel, noch stark von der Theologie bestimmt und betrieben wurde.1186 Frühe Protagonisten der Religionspsychologie wie Karl Girgensohn und Werner Gruehn bezogen sich noch wie selbstverständlich auf Otto.1187 Schon bald wurde dabei ein besonderes Augenmerk auf das Problem der Angst gerichtet, wobei gegen Otto zunehmend immer der gleiche Kritikpunkt laut wurde: Man warf Otto vor, das häufig als Kernstück seiner Religionspsychologie erkannte Urmoment der »Scheu« sei empirisch nicht von profanen Angstempfindungen zu unterscheiden.1188 Doch nicht nur Religionspsychologen, sondern auch Theologen wurden durch Ottos strikte Trennung numinoser »Scheu« von natürlicher Angst zu kritischen Bemerkungen veranlasst.1189 Selbst der Otto eher wohlgesonnene Wilhelm Pöll kann sich in seiner Religionspsychologie von 1965 diesem Kritikpunkt 1182  Ein weiteres Beispiel ist der jüngst unternommene Versuch zur Deutung Ottos im Kontext der Semiotik von Gesche Linde in: Linde, Zeichen und Gewissheit, 177 ff u. a. 1183 Willenborg, Das Heilige, insbes. 428 ff, sowie Ders., Von der Bowling, 625–638. 1184 Zu denken ist besonders an Ottos bereits erwähnte Kontakte zu der Internationalen Religionspsychologischen Gesellschaft in Wien unter der Führung von Karl Beth. 1185  Vgl. hierzu Willenborg, Das Heilige, 431. 1186 Vgl. für einen Überblick über die Entwicklungsgeschichte der Religionspsychologie Henning, 100 Jahre, 23–40, hier besonders 25. 1187 Zu den wichtigsten Rezipienten von Ottos religionspsychologischen Impulsen insbesondere im Kontext des Angstbegriffs vgl. Willenborg, Das Heilige, 156 ff. 1188 Zur Kritik an Otto insbesondere bei Girgensohn, Gruehn, Geyser, Feigel und anderen vgl. Willenborg, Das Heilige 114 ff und 156 ff. 1189 Zu dem grundlegenden Problem der Unterscheidung von Angst und »Scheu« bei Otto im Kontext der Theologie vgl. Schüz, Numinose »Scheu«, 127–142, mit Verweisen auf die Kritik Rudolf Bultmanns und Paul Tillichs.

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nicht entziehen und stellt das Problem der Unterscheidung von »religiösem Erleben« gegenüber »anderen Gefühlserlebnissen« ausführlich dar.1190 Insofern wird der springende Punkt in Ottos Deutung der Angst von der Religionspsychologie deutlich erfasst: Ottos Konzept hängt an der Unterscheidung einer eigenen religiösen Kategorie numinosen Erlebens, der »Scheu«, von gewöhnlicher Angst. Die hierauf oft postwendend geäußerte Kritik seitens der Religionspsychologie verbindet sich dabei meistens mit dem Vorwurf, die empirische Forschung könne Ottos Differenzierung religiöser und profaner Gefühle nicht eindeutig bestätigen. Es wird also bezweifelt, dass die von Otto immerzu geschilderte Unterscheidung von numinoser »Scheu« beispielsweise von profaner Gespensterfurcht1191 experimentell und psychologisch nachvollzogen werden kann. Dabei half es offensichtlich wenig, dass Wolfgang Trillhaas schon in seiner Religionspsychologie von 1946 darauf hingewiesen hatte, dass die Angst als Urmoment der Religion immer schon als kategorisch religiöses Moment aufgefasst werden müsse und dabei ausdrücklich auf Otto verwies.1192 Dennoch erlag Ottos religionspsychologische Rezeptionsgeschichte seither immer wieder dem Missverständnis, Ottos Analyse religiösen Erlebens sei psychologisch-deskriptiv gemeint1193 und demnach die numinose »Scheu« lediglich in empirischen Merkmalen von anderen Gefühlsregungen zu unterscheiden. Nur in dieser Lesart Ottos ist beispielsweise verständlich, dass Bernhard Grom in seiner Religionspsychologie zu diskutieren versucht, wie numinose Erfahrungen von nicht-numinosen empirisch zu unterscheiden seien. Er hält dabei Otto entgegen, numinoses Erleben könne auch »innerweltlichen Gegenständen gelten und von areligiösen Menschen erfahren werden«.1194 So kann Grom folgern: »numinoses Erleben kann, muß aber nicht religiös sein«.1195 Ottos Hauptwerk wird in dieser verbreiteten Interpretation als rein psychologische Phänomenbeschreibung von Erfahrungszuständen gelesen, die anschließend religiös gedeutet werden können. Die entscheidenden gefühlstheoretischen und theologischen Implikationen Ottos werden dabei übergangen, obwohl Otto das Besondere am religiösen Erleben gerade nicht an einer äußerlichen empirischen Gestalt und Reizwirkung hatte ausweisen wollen, sondern daran, dass religiöses Erleben als Vorgang intuitiven 1190 Vgl. die ausführliche Darstellung der Debattenlage in Pöll, Religionspsychologie, 95– 116, besonders 106 ff. 1191  Vgl. beispielsweise DH23–25, 33. 1192  Vgl. besonders zum Problem der Angst als Urmoment menschlichen Lebens und ihrem Verhältnis zur Religion Trillhaas, Die innere Welt, 25 ff sowie 11 und 91. In seiner Religionsphilosophie weist Trillhaas ebenso auf die Gefahr der »Psychologisierung und zur Banalisierung« von Ottos Konzept des Heiligen hin (vgl. Trillhaas, Religionsphilosophie, 122 f). 1193 Zur Wirkung Ottos seit den Sechzigerjahren und der hier geäußerten Kritik insbesondere am Beispiel der Angst vgl. erneut Willenborg, Das Heilige, 166 ff. 1194  Vgl. Grom, Religionspsychologie, 247. 1195 Vgl. zu Groms Kritik an Otto: Grom, Religionspsychologie, 398 ff. Ganz ähnlich wie Grom argumentiert im Übrigen Gerd Theissen (vgl. Theissen, Erleben und Verhalten, 167, Anm. 98).

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Erkennens und vorreflexiven Stellungnehmens gerade jenseits gewöhnlicher Affekte liegt.1196 Sehr wohl muss also nach Otto numinoses Erleben zwingend religiös sein, weil sich in ihm seiner Auffassung nach ein a priori veranlagter, intuitiver Wertungsvorgang vollzieht, den es nur in der Religion, nur in der Begegnung mit Übernatürlichem geben kann – und der dementsprechend nur aus der Binnenperspektive der Religion heraus nachvollziehbar ist. Was ist der Grund für jene immer wieder geäußerte und dennoch häufig fehlgehende Kritik an Otto aus dem Lager der Religionspsychologie? Vieles deutet darauf hin, die Ursache hierfür in der methodischen Arbeit der religionspsychologischen Forschung zu sehen, die sich im Laufe der Jahrzehnte immer stärker zu einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin mit in erster Linie empirischem und psychologischem Schwerpunkt entwickelte.1197 Am Phänomen der Angst wird dies nirgendwo deutlicher als in Oskar Pfisters umfangreichem Spätwerk Das Christentum und die Angst von 1944. Pfister unternimmt – aus der Schule Sigmund Freuds kommend – den großangelegten Versuch einer Untersuchung der Angst im Christentum anhand tiefenpsychologischer, bzw. psychoanalytischer Methoden.1198 Dabei sieht sich Pfister erstaunlicherweise geradezu »in den Fußstapfen Rudolf Ottos schreitend und seinen Weg fortsetzend«.1199 Dass auch Pfister Otto hierbei als empirischen Religionspsychologen ansieht, wird deutlich, wenn Pfister schreibt, »der feinsinnige Marburger« sei trotz allem Verdienst »bei Allgemeinheiten und in der Phänomenologie stecken« geblieben und sei nun auf psychologischer und biologischer Ebene weiterzuverfolgen.1200 Konsequenterweise unternimmt Pfister im weiteren Verlauf eine primär psychologische Analyse der Angst im Christentum, in der Ottos eigentliches Anliegen, nämlich die theologische Deutung religiösen Erlebens als einer eigenen Kategorie sui generis, völlig unberührt bleibt. Von Otto letztlich übernommen werden allein seine berühmten Begriffe des »Numinosen« und des »tremendum«, die aber Pfister in völlig anderer und rein deskriptiv-psychologischer Weise verwendet.1201 Was hier von Pfister gilt, trifft zu der gleichen Zeit auch weitgehend auf 1196  Vgl. in diesem Zusammenhang auch den schon 1942 gegenüber Otto vorgetragenen Vorwurf des »Psychologismus« von Walther Baetke in dessen Buch Das Heilige im Germanischen (vgl. Baetke, Das Heilige, bes. 17 ff) und hierzu die Erwiderung: Schilling, Das Phänomen des Heiligen, 206 ff. 1197  Vgl. hierzu im Überblick Henning, 100 Jahre, 29 ff. 1198  Vgl. hierzu die Einleitung in Pfister, Das Christentum, 1 ff. 1199 Pfister, Das Christentum, 4. 1200 Vgl. Pfister, Das Christentum, 2. 1201 Vgl. beispielsweise das Kapitel zur »Christlichen Angstbearbeitung« in Pfister, Das Christentun, 447 ff. Viel näher kommt dem Anliegen Ottos hingegen Carl Gustav Jung, der sich in dem Band Psychologie und Religion ausdrücklich auf Otto bezieht (vgl. Jung, Die Autonomie, 13 ff). Jung versucht hier gerade nicht die Religion und mit ihr die Momente der »Scheu« als psychische Gegenstände neben anderen zu behandeln, sondern versteht unter Religion eine »Wirkung« des »Numinosen«, die unmittelbar und unergründlich auf das Bewusstsein einwirkt (vgl. Jung, a. a. O., 13). Dabei versteht er das religiöse Erleben als eine »besondere

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die vielbeachteten Werke des Psychotherapeuten Theodor Bovet zu. Auch Bovet greift – insbesondere in seinem Buch Die Angst vor dem lebendigen Gott von 1948 – im Versuch der Darstellung der »Begegnung des Menschen mit dem ›Ganz Andern‹, mit dem Numinosen« umfassend auf die Rhetorik Ottos zurück.1202 Da es jedoch Bovet in erster Linie um psychopathologische Fragen im Kontext der Religion geht – Bovet spricht von »Religionspathologie« – stehen dabei die Fragen des Zusammenhangs von Krankheit und Religion im Vordergrund.1203 Die Anknüpfung an Otto bezieht sich folglich auch hier auf die phänomenologischen Aspekte seines Werkes und das hierfür verwendete Begriffsinstrumentarium, um hiermit die pathologischen Spuren im religiösen Erleben zu erkunden. Der theologische Deutungsanspruch Ottos hinsichtlich der Unterscheidungs von Angst und »Scheu« bleibt dabei auch bei Bovet unterbestimmt. Daraus ergibt sich bereits ein aufschlussreiches Bild der Rezeption von Ottos Deutung der Angst in der Religionspsychologie: Otto hat im 20. Jahrhundert in den psychologischen und religionspsychologischen Untersuchungen zur Angst besonders durch seinen Begriff des »tremendum« und des »Numinosen« den Status eines Klassikers eingenommen.1204 Der Gedanke der »Kontrastharmonie« religiösen Erlebens in der Ambivalenz von »tremendum« und »fascinans« ist unzählige Male auch rein empirisch bzw. psychologisch verstanden und als treffende Phänomenologie der Angst in ihrer abdrängenden und lockenden Gestalt goutiert und zitiert worden.1205 Gleichwohl Otto in prominenten Studien zur Angst wie im Buch von Walter von Baeyer und Wanda von Baeyer-Katte an herausragender Stelle zur Geltung kommt, wird sein eigentliches Anliegen dennoch häufig missverstanden oder abgelehnt.1206 Dies und die Tatsache, dass Einstellung des menschlichen Geistes«, die den Menschen überhaupt erst empfänglich für den Eindruck des Numinosen macht. Näher geht Jung nicht auf Otto ein, setzt sich aber deutlich von den Hauptlinien der Religionspsychologie ab, die vielmehr von außen auf die Phänomene der Religion blickt. 1202 Vgl. insbesondere Bovet, Die Angst vor dem lebendigen Gott, 22 ff und zahlreiche weitere Stellen. 1203  Vgl. insbes. die Einführung in Bovet, Die Angst vor dem lebendigen Gott, 9 ff. 1204 Vgl. hierzu erneut die ausführlichen Studien von Hanno Willenborg, der zu dem Ergebnis kommt, das »Numinose« werde ebenso wie das »tremendum« in der Psychologie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts geradezu »inflationär und teils völlig losgelöst von Ottos Theorie« verwendet (vgl. Willenborg, Das Heilige, 18). 1205  Vgl. beispielsweise die repräsentativen und vielbeachteten Ausführungen zur »Anthropologie der Angst« bei Viktor von Gebsattel in: Gebsattel, Prolegomena, 379. In Gert Theissens Werk Erleben und Verhalten der ersten Christen fungiert Ottos »tremendum« geradezu als terminus technicus in der Erörterung von Angst und Furcht im frühen Christentum. Vgl. hierzu Theissen, Erleben und Verhalten, insbesondere die Passagen zu Otto, 114 ff und 166 ff. 1206  Das Kapitel »Die Angst und das Numinose« in Baeyer /Baeyer-Katte, Angst, 36–39 macht als eine der wenigen psychologischen Studien zur Angst die Sonderstellung von Ottos Idee des numinosen Angsterlebens in der Religion gegenüber den übrigen Angstdeutungen in Psychologie und Philosophie deutlich.

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heute selbst in der klinischen Psychologie der Begriff der »numinosen Angst« als Fachausdruck verwendet wird1207 – freilich völlig losgelöst von der Intention Ottos – mag daran liegen, dass die deutliche Hinwendung der Psychologie hin zu Medizin und Naturwissenschaft mit Ottos theologischer Kategorie der Seele, des numinosen Wertes und überhaupt des religiösen Erlebens als Erkenntnis a priori nichts mehr anfangen kann. Überdies müssen der hochspezialisierten Psychologie der Gegenwart die empirischen Studien Ottos alleine schon methodisch fragwürdig erscheinen. Nicht zuletzt hat Otto die Grundlagen für die Kritik seitens der Psychologie selbst gelegt: Seine zeitweilig unternommenen Versuche, auch durch empirische Beispiele auf die Besonderheit religiöser Gefühlsmomente aufmerksam zu machen, legten falsche Fährten, die förmlich zu Missverständnissen führen mussten. Mit den oft zitierten und kurios anmutenden Passagen in Das Heilige, in denen Otto beispielsweise die »Gänsehaut« als »etwas ›Übernatürliches‹« und geradezu als körperlichen Indikator numinosen Fühlens veranschlagt, hat Otto den vielgeäußerten Psychologismusvorwurf geradezu heraufbeschworen.1208 Seine Beispiele klingen zuweilen wie empirische Beweisführungsversuche seiner Theorie der Artbesonderheit religiösen Erlebens und lenken dabei von der eigentlichen Pointe derselben ab: Denn es ist gerade ein intuitives »Erkennen«, ein transzendentales Wertungsgeschehen, das laut Otto numinoses Erleben ausmacht und eben keine psychologisch-physiologische Erfahrung.1209 Otto verunklärte mit seinen psychologischen Studien teilweise den von ihm selbst vertretenen Grundsatz, dass von natürlicher Kausalität her gerade nicht im Beweisverfahren auf die Sinndimension der Religion geschlossen werden kann.1210 Allzuleicht konnte dadurch übersehen werden, dass es Otto in Phänomenen wie der Gänsehaut nicht um den Anlass, sondern um die »körperliche Rückwirkung« der »Scheu« ging.1211 Es werden also »Scheu« und Gänsehaut im Zusammenhang erlebt, wobei die Gänsehaut nur die empirische Begleiterscheinung eines Vorgangs ist, der im Kern »eine völlig eigene, neue Erlebens‑ und Wertungs-funktion des menschlichen Geistes« ist.1212 1207 Vgl. Willenborg, Das Heilige, 248 sowie im Hinblick auf die Ottorezeption in Japan Hisamatsu, Rudolf Ottos Rezeption, 611. 1208 Zur »Gänsehaut« bei Otto vgl. DH23–25, 18. Zu diesem vielzitierten und vielgescholtenen Problem vgl. Pfleiderer, Theologie, 123 f. Die heftigste Kritik an Ottos Ausführungen zu den physiologischen Aspekten religiösen Erlebens am Beispiel der Gänsehaut äußerten Friedrich K. Feigel (Feigel, Das Heilige, 75) und Walther Baetke (Baetke, Das Heilige im Germanischen, 17). Zum Überblick über die Debatten vgl. Colpe (Hg.), Die Diskussion. Zu der noch immer vorwiegend polemischen Beurteilung in der gegenwärtigen Religionswissenschaft vgl. Willenborg, Das Heilige, 251. 1209 Vgl. hierzu grundsätzlich die diesbezügliche Studie von Roderich Barth (Barth, Das Psychologische, 371–388 und hier besonders 373). 1210 Vgl. besonders DH23–25, 173 f. 1211 Vgl. erneut DH23–25, 18. 1212 Vgl. DH23–25, 17 f.

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Otto wollte mit seinen psychologischen Beispielen sicherlich zeigen, dass religiöses Erleben kein vergeistigter und abstrakter Vorgang im Bewusstsein, sondern ein alle Schichten menschlicher Sinne erfassendes, beziehungsweise ihm zu Grunde liegendes Fühlen ist.1213 Was er dabei aber offensichtlich hätte deutlicher machen müssen, ist, dass der Primat in seinem Konzept letztlich aber im Erkennen und Deuten liegt und nicht in den körperlichen Auswirkungen desselben. Ein »physiologischer Gottesbeweis« wie ihn Hanno Willenborg hier vorliegen sieht,1214 kam für Otto gerade nicht in Frage, denn niemals hätte er wohl behaupten wollen, das Numinose sei an Körperreaktionen förmlich ablesbar. Der Vorgang religiösen Erlebens läuft bei Otto vielmehr andersherum: im intuitiven Erkennen des Numinosen als einem vorreflexiven Evidenzerlebnis werden die damit einhergehenden Körperreaktionen gleichsam in das Wertungsgeschehen mit hineingenommen – sie werden, wie Otto später in Gottheit und Gottheiten der Arier sagte – »numinos apperzipiert«.1215 Gefühl ist bei Otto – wie ausführlich gezeigt wurde – kein Affekt, sondern ein vor jeder Erfahrung liegender Erkenntnisakt eigener Art, der alle emotionalen Regungen der Religion präfiguriert und durchzieht.1216 Es ist an dieser Stelle erneut mit Nachdruck auf Ottos Geistverständnis im Anschluss an seine Luther­deutung zu verweisen. In seinem Aufsatz Geist und Fleisch macht Otto den hier entscheidenden Aspekt deutlich: Die Regungen des »Geistes«, die Momente religiösen Erlebens, sind demzufolge schon bei ­Luther keine übernatürlichen Aktivitäten neben oder gar jenseits physiologischer Prozesse. Entgegen einem solchen Leib-Seele-Dualismus vertritt Otto vielmehr eine Auffassung, die man vielleicht als ganzheitlich bezeichnen könnte: Geist ist demnach das in Allem und durch Alles sich Regende und Wirkende und erfasst damit alle Aspekte der Wirklichkeit. Auf das religiöse Erleben bezogen, ist damit die Trennung von Geist und Körper obsolet: Religiöses Erleben entsteht in einem intuitiven Erkenntnisakt im Gefühl, der schon vor jeder Erfahrung und Reflexion mit dem unabweisbaren Anspruch erlebt wird, die gesamte Wirklichkeit in ihrem Gegenüber zum »Ganz anderen« zu erfassen. Religiöses Erleben ist also – das wird bei Otto immer wieder missverstanden – kein Erleben, das mit anderen profanen Erfahrungen vergleichbar 1213 Indem sich Otto das religiöse Erleben als Einheit von körperlichen und seelischem Empfinden vorstellt, ergibt sich hier, wie Hanno Willenborg bemerkt, eine Parallele zu den emotionstheoretischen Konzepten von Charles Darwin (Willenborg, Das Heilige, 251 f) und besonders zu William James (vgl. Willenborg, a. a. O., 342 f). 1214 Vgl. Willenborg, Das Heilige, 352. 1215 Vgl. GGA, 4. An anderer Stelle macht Otto hier nochmals seine Haltung gegenüber der psychologischen Betrachtungsweise der Religion am Beispiel von »Scheu« und Angst deutlich, indem er feststellt: »echtes numinoses Primitivgefühl […] ist zugleich nicht durch eine Psychologie abzuleiten, die mit ihm als einem originalen Faktor völlig eigener Gesetzlichkeit nicht rechnet, sondern versucht, es auf sonstige und gewöhnliche psychische Elemente zurückzuleiten.« (GGA, 48). 1216 Es sei auch hier wieder verwiesen auf die gefühlstheoretischen Ausführungen Ottos in WÖM1, 383–387 und in GÜ 327–333.

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wäre, sondern liegt ihnen voraus und zu Grunde. Alle Erfahrungsaspekte psychischer und physiologischer Art werden im religiösen Erlebens damit in ein neues Licht getaucht und von ihm durchdrungen: »der ganze Mensch glaubt oder glaubt nicht, mit allen seinen Gemütskräften«, wie Otto im Anschluss an ­Luther resümiert.1217 Von einer rein psychologisch-physiologischen Warte besehen, haben die Kritiker Ottos hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Angst und »Scheu« mit ihrem Psychologismusvorwurf also vollkommen Recht. Hinsichtlich der physiologischen Phänomene müssen sie wie Mario Wandruszka letztlich sagen: »Nein: die Angst vor einem Überirdischen läßt sich nicht durch besondere Körperempfindungen von der gewöhnlichen Angst trennen. Es ist vielmehr in tausenderlei Gestalt immer die gleiche menschliche Angst, die als letzten unsichtbaren Urheber aller dunklen Ängste einen jenseitigen Zorn sucht.«1218

Dass der Psychologismusvorwurf jedoch nur die äußerlichen Phänomenbeschreibungen, nicht aber Ottos eigentliche Idee des religiösen Erlebens trifft, hat Otto schon selbst betont. Wer den Gedanken des religiösen Apriori und des religiösen Erlebens als eines artbesonderen intuitiven Wertungsgeschehens nicht mit einbezieht, muss demnach Ottos Studien zwangsläufig missverstehen, denn über »Wert und Gültigkeit aber solcher religiöser Intuitionen aus reinem Gefühl kann man naturgemäß nicht rechten mit Leuten die sich auf das religiöse Gefühl selber nicht einlassen«.1219

Ganz im Sinne des genannten Wertungsgeschehens gibt Otto im Vorwort seines ersten Aufsatzbandes Aufsätze das Numinose betreffend schließlich eine Bemerkung Heinrich Rickerts zustimmend wieder, der offenbar zielgenau die Gefahr einer psychologischen Lesart von Ottos Werk vorhersah, wenn er über Das Heilige schreibt:

1217 Vgl. SU, 19. Ausdrücklich weist Otto hier darauf hin, dass auch bei ­Luther Glaube nicht ein vergeistigtes und abstraktes Geschehen ist, sondern durchaus auch und gerade körperliche Regungen umfasst: »Denn Glaube ist gerade, wie ­Luther betont, selber heißester Affekt, ist affektvolles Trauen und Ergreifen und Insichfassen, ist Erregung und Leidenschaft, ist allerstärkstes Begehren, Begehren nach Leben, Gut und Seligkeit, ist Sturm und Drang der Seele mit stärkstem páschein und taráttesthai und ist allem stoischen ›Vernünftigsein‹ so fern wie nur möglich.« (ebd.). 1218 Vgl. Wandruszka, Angst und Mut 65, ebenfalls im Anschluss an das Gänsehaut-Beispiel Ottos. 1219  Vgl. DH23–25, 200. Pointiert macht Otto die beiden Sphären der Beschäftigung mit der Religion deutlich, wenn er damit auch von seinen naturwissenschaftlichen und psychologischempirischen Kritikern sagt: »Ihre Waffen sind ja zu kurz und können nicht treffen da der Angreifer immer außerhalb der Arena selber steht« (vgl. ebd.).

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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»Diese Schrift gibt sich als ›psychologisch‹. In Wahrheit ist sie eine der … Beiträge zur Religionsphilosophie als Wert-wissenschaft … Nicht der psychische Akt sondern sein ›Gegenstand‹, das Heilige, wird im ›Numinosen‹ aufgezeigt.«1220

Das Projekt, das Otto verfolgt, ist demnach auf »Selbstbesinnung« aufbauende »Seelenkunde« und eben keine »bloße ›Psychologie‹«.1221 Die häufig als sperrig empfundene Unterscheidung von Angst und »Scheu« bei Otto ist damit letztlich von bleibender Brisanz, verweist sie doch auf den Gehalt und Gegenstand des religiösen Erlebens, den intuitiv dem numinosen »Objekt« beigemessenen Wert, der – wie laut Otto jeder religiöse Mensch bestätigen kann – nicht in den empirischen Erscheinungsformen der Religion aufgeht. Durch rein psychologische Forschung ist dies seiner Auffassung nach nicht nachzuvollziehen. Nur in der Binnenperspektive der Religion kann demnach die eigentliche Tragweite und Tiefe der Religion überhaupt erfasst werden, die ihrem Anspruch nach auf das gerichtet ist, was Paul Tillich als das Unbedingte bezeichnet hat. Dass diese alle Wirklichkeit umfassende und durchdringende Tragweite einer »frommen Weltansicht« freilich für die naturwissenschaftliche oder soziologische Forschung ihren Zumutungscharakter behält und – wie soeben dargestellt – vielfach missverstanden oder kritisiert wurde, liegt in der Natur ihres Gegenstandes. Das bleibende Skandalon der Religion und ihres Verhältnisses zur Angst ist der in ihr vertretene Anspruch, auf das Unbedingte, auf das »Ganz andere« gerichtet zu sein, das in der Außenperspektive der Religion letztlich von auf pathologische Gemütsfunktionen aufbauender bloßer Rhetorik nicht zu unterscheiden ist. Der bleibende Disput zwischen Binnenperspektive und Außenperspektive in der Erforschung der Religion hat also gerade in Ottos Werk und besonders in seiner Unterscheidung von »Scheu« und Angst eine besonders anschauliche Zuspitzung erfahren. 1.4. Angst und »Scheu« in der Wirkung Ottos auf die Religionswissenschaft Die Wirkungsgeschichte von Ottos Deutung der Angst in der Religionswissenschaft verläuft in weiten Teilen analog zu derjenigen in der Religionspsychologie. Viele Einwände gegenüber Otto sind hier der Sache nach die gleichen. Auch in der Religionswissenschaft vollzog sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Wende zur empirischen Forschung, die zugleich eine Emanzipation von der 1220 Vgl. hierzu den Auszug aus Heinrich Rickerts Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung, hier wiedergegeben aus dem Vorwort Ottos in AN1, VI (Auslassungen und Hervorhebung im Original). Ausführlich kommt in seiner Abhandlung zum Psychologie-Problem bei Otto Roderich Barth auf das Rickertzitat zurück, vgl. hierzu Barth, Das Psychologische, 372 ff. 1221 Vgl. AN1, VIf. Ausdrücklich wies in diesem Sinne auch Paul Tillich immer wieder darauf hin, Otto sei als Religionsphilosoph, keinesfalls aber als Psychologe zu lesen, so z. B. in: Tillich, Der Religionsphilosoph, 182: »Man hat mit guter Absicht Ottos Buch eine religionspsychologische Untersuchung genannt. Von nichts ist sie weiter entfernt.«

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Theologie bedeutete, aus der sie ursprünglich – nicht zuletzt unter dem Einfluss Ottos  – entstanden war. In seinem Büchlein Die Gnadenreligion Indiens und das Christentum von 1930 scheint sich Otto in diesem Sinne von der »Religionsgeschichte« – wie Otto jene Forschungsrichtung nannte, die man heute als Religionswissenschaft bezeichnen würde – ebenfalls mit dem Verweis auf jenes intuitive Deuten und Werten im religiösen Erleben abgrenzen zu wollen, das er schon gegenüber der Psychologie geltend machte: »Wenn man wissen will, was Religion sei, so genügt es nicht zu achten auf noch so geistvolle oder tiefsinnige Spekulation, auf Bestimmungen des ›Absoluten‹ in diesem oder jenem Sinne, sondern man muß auf dieses der Religion eigentümliche, dem ›natürlichen‹ Menschen notwendigerweise ganz fantastisch erscheinende Verlangen achten nach diesem ganz ›irrationalen‹ und überschwänglichen Gute, das eben ›das Heil‹ ist. Das dieses sich so verhalte, muß auch die bloße ›Religionsgeschichte‹ erkennen, wenn sie nicht überhaupt an ihrem Objekte ganz vorbei greift. Sie mag es bestimmen als ein ›Fantasiegut‹, und seine Idee erklären als ein allmähliches ›Entwicklungsprodukt‹ der ›Völkerpsychologie‹, oder sie mag andere ›Erklärungen‹ für dieses Faktum suchen. Aber das Faktum, das eben dieses Suchen und vermeintliche Finden eines ›Heiles‹ in angedeuteten Charakterzügen erst das innere Wesen der Hochreligionen in Ost wie West ausmache, wird sie anerkennen müssen. (Und wenn sie nicht gröblich die Grenzen bloßer ›Religionsgeschichte‹ überschreiten will. So müßte sie hinzufügen, daß sie aus sich nicht die Mittel habe, über das Möglich oder Wirklich einer ›Heilserreichung‹ etwas auszusagen, nicht im bejahenden, aber ebensowenig im verneinenden Sinne.)«1222

In dieser Äußerung deutet sich an, dass auch Otto, dem die fruchtbare Verbindung klassischer Theologie mit religionsgeschichtlicher Forschung noch eine Selbstverständlichkeit war, vielleicht schon ahnte, dass Theologie und Religionswissenschaft auf eine Wegscheide zuliefen, die im Laufe des 20. Jahrhunderts in die strickte und nicht konfrontationsfreie Trennung beider Disziplinen führte.1223 Ottos Werk steht dabei – wie sich Martin Kraatz erinnert – wirkungsgeschichtlich geradezu im Zentrum des immer grundsätzlicheren Streits »zwischen den religiös engagierten Religionsforschern, zu denen Otto doch wohl zu zählen wäre, und denen, die Religionen aus historisch-kritischer Distanz betrachten«.1224 Besonders Ottos Aufforderung zur Selbstbesinnung seiner Leser auf ihr individuelles religiöses Erleben1225 wird bis heute in der Religionswissenschaft 1222 GICh,

3 f (Klammer im Original). zu Ottos Auseinandersetzung mit den Gegensätzen von Theologie und Religionswissenschaft oben im Zweiten Teil, Kap. IV, 5.1, sowie den bereits erwähnten Aufsatz Religionskundliche und theologische Aussagen in: GÜ, 58–63. 1224 Vgl. hierzu die Schilderungen von Martin Kraatz zur frühen Wirkungsgeschichte Ottos in der Religionswissenschaft der Fünfziger‑ und Sechzigerjahre (Kraatz, »[…] meine stellung«, 6). Zur Wirkungsgeschichte Ottos in der Religionswissenschaft vgl. grundlegend Johannsen, Das Numinose, 36–65. 1225 Vgl. erneut die berühmte Stelle in DH23–25, 8. 1223 Vgl.

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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häufig als »methodologische Unzulässigkeit« angesehen.1226 Von dieser Warte aus wurde Ottos Entwurf zuweilen als irritierend und irreführend, vereinzelt sogar als hochproblematisch wenn nicht gar als regelrecht gefährlich beurteilt.1227 Die Einstufung Ottos als Klassiker in der Entstehungsgeschichte der Religionswissenschaft verband sich dafür oft genug mit seiner Musealisierung zum teils originellen, teils abschreckenden Vorläufer.1228 Ottos Werk wurde zunehmend eher als religiöses Erbauungsbuch denn als wissenschaftliches Werk verstanden. Man bescheinigte ihm zwar eine schillernde Darstellungskraft, verurteilte jedoch die methodischen und inhaltlichen Anliegen darin scharf.1229 Man unterstellt – wie Hans Joas es jüngst formulierte – bis heute der Position Ottos und seinen Anhängern eine »konfessionelle Schlagseite«.1230 Dies zeigt sich auch in Ottos Wirkungsgeschichte in der Religionswissenschaft hinsichtlich seiner Beurteilung des Verhältnisses von Angst und Religion vor dem Hintergrund religiösen Erlebens. Während Gelehrte aus Ottos direktem Umfeld wie Jakob Wilhelm Hauer oder Friedrich Heiler die Deutung numinosen Angsterlebens als Moment intuitiven Erkennens a priori noch nachvollziehen und in ihre eigenen Studien einbeziehen konnten,1231 war dies späteren Generationen in der Religionswissenschaft häufig nicht mehr möglich. Die Herauslösung theologischen Denkens aus der empirischen Religionswissenschaft und die zunehmende Ausblendung der Binnenperspektive, subjektiven religiösen Erlebens als Momente von »geistigen Werterlebnissen«1232 ließ auch Ottos Konzept der numinosen »Scheu« in ihrer Besonderheit gegenüber profaner Angst hinfällig werden. So kommt es, dass in jüngeren Studien zur religionswissenschaftlichen Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion meist allein von pathologischer bzw. zumindest »natürlicher« Angst ausgegangen und ihre Bedeutung für die Entstehung der Religion ausgelotet wird. Die Rede ist dabei von einem regelrechten »neurobiologischen Primat der Angst«1233 in der Religion, demgegenüber Ottos Kontrastharmonie von »tremendum« und »fascians« lediglich als äußerliche Beschreibung von Bewusstseinszuständen il1226

 So treffend in: Johannsen, Das Numinose, 37 und im weiteren Zusammenhang 36–65. der religionswissenschaftlichen Diskussion um die Bedeutung Ottos im Überblick vgl. Johannsen, Das Numinose, 59 ff. 1228 Vgl. hierzu das Vorwort in Michaels (Hg.), Klassiker der Religionswissenschaft, 7–10, wo Otto als »Neutestamentler« dargestellt wird, der »Definition […] durch Erlebnis, Erfahrung und Teilhabe ersetzt« habe (vgl. Michaels, a. a. O., 10). 1229 Für einen Überblick über wichtige religionswissenschaftliche Positionen zur Kritik an Otto vgl. Colpe (Hg.), Die Diskussion. 1230 Vgl. Joas, Säkulare Heiligkeit, 68. 1231 Vgl. hierzu das bereits erwähnte Buch Hauers Die Religionen und Heilers Klassiker Das Gebet (zur Angst, vgl. hier 347 ff und besonders 350). 1232  Heiler, Das Gebet, 350. 1233 Vgl. Michaels, Religionen, 91 ff. Bei Michaels wird Ottos Unterscheidung von numinoser und natürlicher Angst sogar kurzerhand für sachlich irrelevant erklärt (vgl. Michaels, a. a. O., 97). 1227 Zu

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

lustrierend beigestellt wird.1234 Inhaltlich bedeutet dies nicht weniger als einen Rückfall in die Thesen der klassischen Religionskritik seit der Antike – freilich ohne damit Religionskritik betreiben zu wollen. Es wird also die Religion einerseits als Bewältigungsstrategie gegen die Angst verstanden – dies entspräche dem klassischen »deos fecit timor« – oder sogar die Religion als Instrument zur Erzeugung von Angst gesehen.1235 Im »Streit zwischen Substantialisten und Funktionalisten« wird Otto von Axel Michaels daher ein klarer Platz zugewiesen: Da er eine »höhere Macht« als Ursache seiner »Scheu« vorausgesetzt habe, komme sein Werk für eine religionswissenschaftliche Theorie der Angst letztlich kaum noch in Frage.1236 Freilich wird dabei übersehen, dass Otto die Existenz einer solchen »höheren Macht« in seinem Konzept des religiösen Apriori ausdrücklich bestritten hat. Ottos an Kant geschulte erkenntnis‑ und gefühlstheoretischen Überlegungen dienten ja gerade dem Zweck der Vermeidung eines supranaturalistischen, in die Welt eingreifenden Gottesbildes. Es wird an dieser Stelle deutlich, wie schwer es offensichtlich den empirischen Wissenschaften zunehmend fiel, Ottos Kategorienunterscheidung hin zu einer transzendentalen Deutungs‑ und Wertungsdimension nachzuvollziehen und damit Religion zur Voraussetzung des Verständnisses von Religion zu machen. Obwohl Otto im Kontext von Angst und Religion bis heute vielfach rezipiert wurde, wird schließlich als Ergebnis festzuhalten sein, dass sein zentraler Gedanke einer qualitativen Besonderheit numinoser »Scheu« gegenüber jeder Form der Angst insbesondere in den religionswissenschaftlichen Debatten letztlich als weithin unverstanden gelten muss. Mit seiner Interpretation der numinosen »Scheu« als ein intuitives Wertungserlebnis im religiösen Gefühl entzog sich Otto offenbar der funktionalistischen Debatte um die Frage nach der Bedeutung 1234 Vgl. Böhme, Vom phobos zur Angst, 176. Laut Renate Schlesier dominiert in der Religionssoziologie und Ethnologie gegenwärtig die Auffassung, der Angst sei im Kontext der Religion lediglich eine »periphere Bedeutung« einzuräumen (Schlesier, Angst, 464). Dementsprechend kann sie Ottos Konzept einer besonderen numinosen »Scheu« als »Grundlage religiösen Erlebens« als »religionshistorisch bislang unzureichend untersucht und ausgewertet« bezeichnen (Schlesier, Angst, 464). Hans-Walter Schütte weist ausdrücklich auf die starke Wirkung von Ottos »tremendum« in der Religionswissenschaft hin, die aber begonnen habe, einer »eigenen Logik zu folgen« und letztlich den theologischen Hintergründen nicht mehr gerecht geworden sei (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 7). 1235  Vgl. Laubscher, Angst und ihre Überwindung, 83. Der Münchner Ethnologe Matthias S. Laubscher stellt zwar fest: »Angst, das ›Erzittern‹ vor dem ›Schauervollen‹, ›Übermächtigen‹, ›Ganz Anderen‹, das mysterium tremendum wird seit Rudolf Otto’s Werk ›Das Heilige‹ als Grunderfahrung des Numinosen an den Anfang aller Religiosität gestellt« (a. a. O., 83), allerdings versteht er dies dann als ein »Domestizieren der Angst vor dem Numinosen« und letztlich als Beschreibung des Versuchs der Menschen, die Formen der Religion als »Instrumentarien« zu verwenden, um »Angst abzubauen«. 1236  Vgl. Michaels, Religionen, 102. Ob Michaels in seiner Untersuchung zum »neurobiologischen Primat der Angst« der Komplexität von Ottos Werk gerecht wird, ist fraglich. Fest steht jedoch, dass offensichtlich die Zugangsweise Ottos schon per se die eingehendere religionswissenschaftliche Auseinandersetzung mit seinem Werk verhindert.

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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der Angst in der Religion und wurde daher in der Religionswissenschaft bestenfalls mit seinen berühmten Begriffen und phänomenologischen Studien, nicht aber mit seinem eigentlichen Anliegen der Unterscheidung von »Scheu« und Angst zur Kenntnis genommen. 1.5. Fazit und Plädoyer für eine Wiederanknüpfung an Ottos theologische Unterscheidung von Angst und religiöser »Scheu« Im Anschluss an die umfassende Darstellung der Genese von Ottos Unterscheidung natürlicher Angst von numinoser »Scheu« und deren Niederschlag in den Spuren von Ottos Wirkungsgeschichte in den Debatten um das Verhältnis von Angst und Religion im 20. Jahrhundert ergab sich ein eigentümliches Bild: Sowohl in der Theologie, als auch in den ihr angrenzenden Wissenschaften wurde zwar Ottos Werk bis heute immer wieder für Verhältnisbestimmungen von Angst und Religion prominent in Anspruch genommen und fand gerade hinsichtlich des Vokabulars nachhaltig Eingang in die Fachterminologie,1237 zugleich aber ging dabei  – so scheint es  – der theologische und religionsphilosophische Grundgedanke seines Gesamtwerkes und seiner Deutung der Angst regelrecht verloren. Wie sich im Laufe der Untersuchung zeigte, wird man Ottos Ausführungen letztlich nur gerecht, wenn man ihre theologischen und religionsphilosophischen Implikationen berücksichtigt. Dass es Otto nicht um eine empirisch-psychologische Unterscheidung religiöser und profaner Angstaffekte ging, sondern um eine Kategorienunterscheidung beider im Kontext einer theologischen Theorie religiösen Erlebens, bleibt bis heute unterbelichtet. Vieles an dieser Entwicklung ist nachvollziehbar. Das seit seinen frühsten Lutherstudien am Begriff des Geistes orientierte, teleologische Prinzip in Ottos Theologie, sein Verständnis der Seele und des religiösen Gefühls als einer transzendentalen Kategorie des Ahndens und intuitiven Erkennens war im Laufe desjenigen Jahrhunderts, das wie kein anderes von den sensationellen Entwicklungen der Natur‑ und Neurowissenschaften, der Psychologie und besonders der immer differenzierter arbeitenden empirischen Sozial‑ und Kulturwissenschaft geprägt wurde, kaum zu vermitteln. Offenbar hat es Otto den modernen Wissenschaften fast unmöglich gemacht, ihn – von wenigen schillernden Zitaten abgesehen  – auch außerhalb der Theologie angemessen zu rezipieren. Ein schwerwiegender Faktor dieser Entfremdungsgeschichte ist sicherlich grundsätzlicher Art: Die großen und alten Fragen der europäischen Geistesgeschichte, die Frage nach der menschlichen Seele, der Idee des Unbedingten sowie die dahinter stehenden transzendentalphilosophischen Probleme haben spätestens seit der Mitte 1237  Vgl. u. a. Feldtkeller, Art. Mysterium tremendum, 1651, mit dem Hinweis auf die besonders breite Rezeption des Ausdrucks »mysterium tremendum« im Zusammenhang mit »Gefühlen starker Angst«, insbesondere in der Kunst.

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

des 20. Jahrhunderts ihren einstmals zentralen Stellenwert eingebüßt und sind seitdem alles andere als selbstverständlich. Da jedoch jene klassischen Kategorien des Geistes, der Seele und der Erkenntnis a priori in Ottos Ansatz eine unverzichtbare Rolle spielen, fällt besonders den immer stärker auf empirische Forschung ausgerichteten Kultur‑ und Sozialwissenschaften die Anknüpfung an die religionsphilosophischen Implikationen seines Werkes immer schwerer. So vermeintlich »modern« sein Werk auf phänomenologischer oder psychologischer Ebene auch sein mag, so ist es im Kern letztlich tief in der Traditionsgeschichte des Christentums und der klassischen Philosophie verwurzelt. Alles dies spricht dafür, Otto wieder verstärkt in diejenige Wissenschaft einzubeziehen, der er ursprünglich auch selbst entstammt. Gerade die kuriose Wirkungsgeschichte Ottos, besonders aber die Untersuchung seines Gesamtwerks hinsichtlich des Problems der Angst zeigt, dass sein Werk allein durch ein genuin theologisches Vorverständnis angemessen nachvollzogen werden kann. So schreibt Otto selbst: »Das uns leitende Interesse in D. H. war weder ein religionsgeschichtliches noch ein religionspsychologisches sondern ein theologisches, und zwar das christlich-theologische: nämlich durch Untersuchung des Heiligen und seiner sowohl irrationalen wie rationalen Gehalte und ihrer Verbindungen und wechselseitigen Durchdringungen uns vorzubereiten für eine schärfere und bessere Erfassung der biblischen und besonders der neutestamentlichen Gotteserfahrung.«1238

Einer gegenwärtigen theologischen Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion steht gerade mit dem Theologen Otto und seinem diffizilen Umgang mit dem Phänomen der Angst im Kontext religiösen Erlebens eine bisher nur wenig erforschte und dennoch bis heute inspirierende Quelle zu Verfügung. Um allerdings Ottos Aktualisierung und Deutung von klassischen Begriffen wie »Gottesfurcht« oder »Zorn Gottes« in ihrer frömmigkeitstheoretischen Pointe nachvollziehen zu können, ist es entscheidend, sich auch auf das geistesgeschichtliche Erbe einzulassen, dem Otto entstammt und das für sein Denken konstitutiv ist. Gemeint sind hiermit nicht nur Klassiker des Protestantismus wie Schleiermacher und ­Luther, sondern auch erkenntnistheoretische Grundlagen bei Kant und philosophische Traditionslinien, die bis in die Antike zurückreichen. Hieran schließt sich die Frage an, inwiefern eine theologische Deutung Ottos und seines Verständnisses der Angst wiederum außerhalb der Theologie anschlussfähig sein könnte. Die vorliegende Untersuchung und ein Blick auf die soeben skizzierte Wirkungsgeschichte Ottos lehren Zurückhaltung an diesem Punkt. Der Durchgang durch Ottos Werke von seinen frühen Anfängen im Studium der Theologie ­Luthers bis zu seinem späten Jesusbuch gab ihn – einstweiligen interdisziplinären Aufnahmen zum Trotz – in seiner verwickelten Wir1238 SU,

61.

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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kungsgeschichte als einen Theologen zu erkennen, der wie nur wenige andere letztlich für eine Rückführung der Theologie zu sich selbst und ihrem ureigensten Gegenstand, der Religion und ihrem Urgrund, unter den Bedingungen des 20. Jahrhunderts steht. Sein Neuansatz bedeutet dabei keine Anknüpfung an die Moderne und ihre Weltsicht, sondern vielmehr eine Rückbesinnung auf die Grundlagen des Christentums, die Otto in den Urmomenten religiösen Erlebens fand, die sich seit Anbeginn der Menschheit in den Ausdrucksformen der Religionsgeschichte spiegeln. Eine Verschiebung der Theologie hin zur Religionspsychologie oder empirischen Religionswissenschaft ist dabei gerade nicht intendiert gewesen. Letztlich wird damit am Problem des Verhältnisses von Angst und »Scheu« in der Religion deutlich, worauf es Otto überhaupt anzukommen scheint: Nicht allein auf der theoretischen Erschließung und intellektuellen Auseinandersetzung mit der Religion beruht das Kernanliegen seines Werkes und Denkens, sondern auch und gerade in einem intuitiven Nachvollziehen und Wiedererkennen des innerlich Gefühlten, der individuellen Frömmigkeit in der Religionsgeschichte und ihrer Ausdrucksformen in der Kulturgeschichte. Am Ende bleibt zu untersuchen, inwiefern die Idee des religiösen Erlebens als Gefühlskategorie a priori auch heute noch als angemessener Weg zur Erforschung und Beschreibung menschlicher Frömmigkeit gelten kann. Ottos Rückbesinnung auf die transzendentale Wurzel religiösen Erlebens im Gefühl steht schnell im Verdacht, eine theologische Immunisierungsstrategie zu verfolgen. Diesem Vorwurf entgeht sein Ansatz nur dann, wenn man in seiner Wiederentdeckung klassischer religiöser Begriffe wie der »Gottesfurcht« im Traditionsbestand der Religionsgeschichte zugleich eine Wiederentdeckung des Wesens der Religion überhaupt erblicken kann. Alles hängt an der Grundidee, gerade in den einfachsten Momenten religiösen Erlebens einen intuitiven Unterscheidungs‑ und Deutungsvorgang zu sehen, der sich nicht auf die empirische Welt, sondern auf deren Übersteigung und Überwindung richtet. Religiös sein bedeutet demnach nicht, etwas aus logischen oder pragmatischen Gründen einzusehen, eine Botschaft als wahr anzuerkennen, sondern, in einer religiösen Botschaft etwas wiederzuerkennen, was bereits als zutiefst Eigenes, Innerstes, Wahres gefühlt und erahnt wurde.

2. Ausblick: »Scheu« als Urmoment der Religion und ihr Verhältnis zur Angst In seiner Auseinandersetzung mit dem Kirchenvater Johannes Chrysotomos formulierte Otto einen Rückblick auf sein bisheriges Gesamtwerk, der auch als Zusammenfassung seiner Deutung des Verhältnisses von Angst und Religion gelten kann:

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

»Wir sagten früher, daß uns das ›Ganz andere‹ komme, wo uns ein Etwas nicht nur jeden Begriff übersteige, sondern wo wir auf etwas stoßen, das überhaupt unserer ganzen Natur selber ein schlechthin Verschiedenes, darum Erstarren-machendes sei.«1239

Religion setzt sich demnach nicht primär mit Erfahrungen der Angst auseinander. Sie ist auch keine Kompensationsstrategie, um Ängste zu heilen oder zu verdrängen. Es ist – so wird man Otto zusammenfassen dürfen – vielmehr Religion selbst in ihrem Kern eine besondere Art der »Angst«, die man in der Religionsgeschichte traditionell mit Begriffen wie »Gottesfurcht« belegte. Religion geht demnach auf ein an Angst erinnerndes Erleben zurück, das jedoch nicht als eine Ursache der Religion und damit als etwas von ihr Verschiedenes angesehen werden kann. Es ist ein Erleben, das zugleich schon tiefstes und ureigenstes Moment der Religion selber ist: eine von jeder gewöhnlichen Angst kategorisch und qualitativ verschiedene »Scheu«, deren Gegenstand sich aller begrifflichen Fassbarkeit entzieht. »Scheu« als Unterscheidungserlebnis. Profane Angst – und sei sie nur ein diffuser romantischer Schauer oder ein existentialer »Schwindel der Freiheit« – fällt, wie Otto in seinen Werken immer wieder deutlich machte, unter die Begriffe und die Kausalität der Welt. Sie hat eine Ursache, einen Gegenstand – und sei er noch so abstrakt. Was Otto mit der numinosen »Scheu« beschrieb, ist hingegen ein eigentümliches Unterscheidungserlebnis, das nicht durch Einsicht, sondern durch intuitives Fühlen die Erkenntnis gewinnen lässt, dass allem Sein der Welt ein schlechthin Anderes gegenübersteht, das sich von allem Weltlichen restlos unterscheidet und doch selbst Alles in Allem ist, wirkt und umschließt.1240 Dies ist bei Otto der eigentliche Grund, von der Geistbegabung des Menschen und dem Wirken des »Geistes« zu reden: Das Urerlebnis der Religion ist seiner Auffassung nach kein Affekt im Kausalitätsgefüge der Natur, sondern eine Regung des Geistes, ein Wertungs‑ und Erkenntnisgeschehen a priori, ein vorreflexives Eingestellt‑ und Voreingenommensein, das vielmehr durch die natürlichen Prozesse der Welt hindurchgeht. Es führt den Menschen in die intuitive Unterscheidung seiner selbst als Kreatur und Teil der Welt vom Göttlichen, dass gerade indem es als das »Ganz andere« erscheint, zugleich als das alles Erhaltende und Erlösende erlebt und geglaubt wird. Jener Grundgedanke in Ottos Denken lässt sich – das haben die vergangenen Kapitel gezeigt – bis in seine frühsten Werke und letztlich bis in seine eigene Frömmigkeit zurückverfolgen.

1239 AN1,

3. im Hintergrund zu vergegenwärtigen ist dabei der Gefühlsbegriff Ottos im Sinne eines vorreflexiven Erkenntnisaktes, ohne den seine gesamte Konzeption nicht verständlich wird: »Denn Gefühl in seinem Ursinn ist  – auch in unserm heutigen allgemeinen Sprachgebrauche noch – in erster Linie nicht eine Emotion, sondern gerade eine Objekterfassung und der Anfang von Erkennen.« (WÖM1, 384). 1240 Stets

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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Neben den Einflüssen aus der Jugend‑ und Studienzeit (Kap. I) erwies sich seine Auseinandersetzung mit Martin ­Luther als eine der wichtigsten Grundlagen für Ottos Denken überhaupt (Kap. II, 1.). Wegweisend für Ottos weitere Arbeit war hier zunächst der Gedanke des doppelten Wesens des Menschen, einerseits als in den Lauf und die Kausalität der Welt verstrickter »homo naturalis«, der allein natürliche Angst erfährt, zugleich aber andererseits als »homo spiritualis«, der sich im Erleben der »Scheu« und des »Kreaturgefühls« als vom Geist berührter und getragener Teil der göttlichen Allwirksamkeit erlebt. Jenes Geisterlebnis der »Scheu« erwies sich bei Otto als Unterscheidungserlebnis, das sich nicht in theologischer Reflektion, sondern im Gefühl abspielt, als eine intuitive schauervolle Fundamentalunterscheidung der menschlichen Kreatürlichkeit gegenüber dem allumfassenden, allmächtigen und rechtfertigenden Göttlichen. Entscheidend war schließlich, was Otto als ­Luthers Paradoxie des Glaubens und »Idee der Verlorenheit« bezeichnete. Allein in der Begegnung mit dem »Ganz anderen« – »coram deo« – erkennt der Mensch Kraft des Geistes im Erleben numinoser »Scheu«, was ihm als rein »natürlicher Mensch« in bloßer Angst immer verborgen bleiben müsste: Die intuitive Erkenntnis eigenen Unwertes, restloser Nichtigkeit und Kreatürlichkeit, die zugleich in dieser Erkenntnis schon überwunden, im Glauben aufgehoben und dennoch bleibend im religiösen Bewusstsein verankert ist. Von grundlegender und lebenslanger Bedeutung war ebenso Ottos Auseinandersetzung mit Friedrich Schleiermacher (Kap. II, 2.). In der hier entwickelten Idee des »Kreaturgefühls« fand Otto den Schlüssel zu einer Theorie des religiösen Erlebens als eines artbesonderen Fühlens im intuitiven Deuten und Erkennen des Ewigen im Endlichen, das sich von ästhetischen und überhaupt von allen profanen Gefühlen und Erfahrungen kategorisch unterscheidet. Die gefühlstheoretische Auseinandersetzung mit einem genuin religiösen Erleben der »Scheu« als Urgund der Religion im Unterschied zu gewöhnlichen Angsterfahrungen nahm hier ihren Ausgang. Ein zentraler Teil der Untersuchung galt Ottos Hauptwerk Das Heilige (Kap. III). Die schon zuvor sich andeutende kategorische Unterscheidung von profaner Angst und numinoser »Scheu« wird hier aufwändig anhand der Analyse von Momenten des religiösen Erlebens und ihren Ausdrucksmitteln vorgeführt. Die Pointe von Ottos theologischer Deutung von Angst und Religion wurde dabei zum Abschluss gebracht, indem die Unableitbarkeit und Ursprünglichkeit des »mysterium tremendum« als Kategorie a priori im Unterschied zu profanen Angstgefühlen als Urmoment der Religion überhaupt vorgestellt wurde. Entscheidend war dabei die Evidenz der sich im religiösen Erleben selbst nahelegenden und zu Ausdrucksformen drängenden Urmomente der Religion, die sich nicht aus der empirischen Gestalt von Erfahrungen heraus erschließt, sondern nur aus der Binnenperspektive der Religion im individuellen Erleben selbst nachvollzogen und in der Religionsgeschichte und der Kulturgeschichte

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

wiedererkannt und kultiviert werden kann. Ottos Hauptwerk erwies sich dabei nicht als phänomenologische oder gar als psychologische Analyse der Religion, sondern als theologischer Entwurf einer Frömmigkeitstheorie, die sich in ihrer Gestalt und Durchführung als Anleitung zur »Selbstbesinnung« versteht und erst in einem zweiten Schritt zur »Sachbesinnung« übergeht, indem sie den im religiösen Erleben erkannten Gegenstand zum Ausgangspunkt der Theologie erhebt.1241 Sowohl in Ottos Selbst‑ wie in der Sachbesinnung waren Momente des »mysterium tremendum« entscheidend – sowohl als rohe Regungen numinosen Fühlens der »Scheu«, als auch in der theologischen Deutung von Sünde und Erlösung im Christentum als Gefühlsgrund der Idee des Kreuzes und der Verlorenheit in der Erlösungslehre. In zahlreichen weiteren Themen und Aspekten in Ottos weitverzweigtem Werk wurden schließlich Anwendungsfelder und Weiterführungen des beschriebenen Grundgedankens der theologischen Unterscheidung von »Scheu« und Angst weiterverfolgt (Kap. IV). Dies wurde zunächst deutlich in Ottos Reiseerlebnissen, die als Begegnung mit dem »Fremden« interpretiert wurden und für Otto offenbar einen wichtigen Anschauungshintergrund für die Beschreibung der Momente des »mysterium tremendum« in fernen Kulturen und Religionen bildeten (Kap. IV, 1.). In der Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie wurde Ottos Unterscheidung einer »naturalistischen« und einer »frommen Weltansicht« besonders am Angstbegriff deutlich, indem Otto zeigen konnte, wie Momente des »mysterium tremendum« bei Charles Darwin als bloß kausale Angstreaktionen, bei Johann Wolfgang von Goethe hingegen als »dämonische Scheu« erfasst werden (Kap. IV, 2.). In seiner Kritik Wilhelm Wundts machte Otto auch anhand empirischer Studien deutlich, dass Religion nicht als Kulturerscheinung aus animistischen Vorstufen erwachsen, sondern im Urmoment der »Scheu« mit einen genuin religiösen Gefühl und Erkennen aufgebrochen sein muss (Kap. IV, 3.). Daran anschließend wandte sich Otto der Entwicklungs‑ und Religionspsychologie zu, um die »Scheu« als Urmoment der Religion nicht nur in der Religionsgeschichte, sondern auch im individuellen Erleben zu erkunden zu können (Kap. IV, 4). In Ottos späten Werken flossen schließlich die Grundlagen seines Verständnisses von Angst und Religion nochmals wie in einem Fazit zusammen und machten besonders die theologische Bedeutung der Unterscheidung von »Scheu« und Angst in ihrer religionsgeschichtlichen Einbettung und Ausdrucksgeschichte deutlich (Kap. IV, 5.). Theologie der Angst nach Rudolf Otto. In dem nun beschlossenen Zweiten Teil der vorliegenden Studie wurde versucht, die Genese und theologische Argumentation von Ottos Unterscheidung von Angst und »Scheu« umfassend zu 1241 Vgl. hierzu erneut das Vorwort mit Ottos Bemerkungen zum Anliegen seines Hauptwerkes in AN1, VIf.

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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rekonstruieren. Der dabei gesicherte Ertrag dient letztlich auch der Schließung einer Forschungslücke. Was bisher in der Forschungsliteratur nur in zahlreichen kurzen Bemerkungen und auszugsweisen Zitationen zum Problem der Angst bemerkt wurde, stellte sich in den obigen Kapiteln als Desiderat heraus: Ottos Werk ist – anders als in den bis heute meist oberflächlichen Bemerkungen in seiner weitverzweigten Wirkungsgeschichte – weit mehr als ein Steinbruch griffiger Formulierungen für die Ambivalenz von Angsterfahrungen. Es zeigte sich vielmehr, dass Otto seit seiner frühen und lebenslangen Beschäftigung mit ­Luther und Schleiermacher in den Momenten angstvollen Erschauerns in der Religion geradezu den Kern derselben und zugleich auch ein zentrales Thema seines Lebenswerks fand. In seiner Unterscheidung von numinoser »Scheu« als dem Gefühl dessen, was in der Tradition den Begriffen der Gottesfurcht, des Zornes Gottes und schließlich überhaupt dem Verständnis von Sünde und Erlösung zu Grunde liegt, entwarf Otto zugleich eine umfassende theologische Deutung und Verhältnisbestimmung von Angst und Religion, die implizit sein gesamtes Werk durchzieht. Gerade in seiner charakteristischen Abgrenzung vom modernen Angstbegriff zugunsten seiner Konzeption des »mysterium tremendum« ist in Ottos Werk  – soviel lässt sich nun im Rückblick auf die bisherigen Kapitel sagen – im wahrsten Sinne des Wortes eine Theologie der Angst zu finden, die das Problem von Angst und Religion zugleich mit der Frage nach dem Urgrund und Wesen der Religion überhaupt verbindet. Eine Theologie der Angst im eigentlichen Sinne ist Ottos Werk insofern, als er nicht die Angst des Menschen als Problem oder Anlass der Religion begreift, sondern sie von einem Erleben unterscheidet, das nicht anders als innerhalb und durch die Religion selbst als Urgrund des Glaubens erfasst werden kann. Ottos Rede von der »Scheu« als einem der Angst ähnlichen, genuin religiösen Erleben wird demnach nicht in Gestalt einer rein dogmatischen Abhandlung ausgeführt, sondern beruft sich auf die religiöse Begabung des Menschen selber und seine im intuitiven Fühlen, Deuten und Erkennen sich nahelegenden und ausdrückenden Gottesbilder: »Und zwar so, daß die Religion auch hier nicht ein begleitender Stimmungsrand ist am übrigen Leben, sondern daß sie als eigentlicher Lebenssinn selbst gefaßt wird.«1242 Ottos Unterscheidung von Angst und »Scheu« ist damit keine rein spekulative Unternehmung, sondern ein theologischer Nachvollzug dessen, was tatsächlich selbst schon Religion ist: Die im Gefühl sich vollziehende intuitive Unterscheidung eigener Endlichkeit und Nichtigkeit von dem alles tragenden und umfassenden »Ganz anderen« und zugleich die gerade darin beschlossene Gewissheit, in dessen Allwirksamkeit aufgehoben zu sein. Die oftmals bezweifelte psychologisch-empirische Unterscheidbarkeit von profaner Angst und numinoser »Scheu« ist damit in Ottos Konzept nahezu unbedeutend, denn die Bewertung des Erlebens als »numinos« entscheidet sich seiner Auffassung nach schon vor 1242 GICh,

29 (Hervorhebung im Original gesperrt).

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jeder Reflexion in einem intuitiven Stellungnehmen, das eine nachträgliche Deutung des Erlebten gar nicht mehr zur Disposition stellt. Dass es sich im Erlebten um eine Begegnung mit dem Numinosen, also um »Scheu« handelt, steht für den Erlebenden schon fest, bevor überhaupt die Frage aufkommt, was das Erlebte denn eigentlich ist und wodurch es veranlasst worden sein könnte. Rudolf Ottos Unzeitgemäßheit und der moderne Angstbegriff. Im Zuge der Rekonstruktion von Ottos Konzept der Unterscheidung von »Scheu« und Angst wurde immer wieder deutlich, dass Otto sich vehement dagegen wehrte, den vieldiskutierten Angstbegriff der Moderne in seine Überlegungen einzubeziehen. Nicht nur hier stellt sich grundsätzlich die Frage nach Ottos Verhältnis zur Moderne und überhaupt zu den Debatten seiner Gegenwart. Eine hierzu bezeichnende und sehr scharfsinnige Bemerkung über Ottos Das Heilige hat Adolf von Harnack zum Erscheinen der achten Auflage des Werkes geäußert: »Selten ist ein theologisches Werk der Stimmung der Zeit so entgegengekommen und selten so restlos eingesogen worden wie das vorliegende. Daß dies nicht nur ein günstiges Zeichen ist, weiß niemand besser als der Verf.«1243

Was Harnack hier anzudeuten scheint, lässt sich möglicherweise hinsichtlich des Problems von Angst und Religion im Rückgriff auf die im Ersten Teil der vorliegenden Studie angestellten Überlegungen zum Verhältnis von Angst und Moderne deutlich machen. Es konnte dort gezeigt werden, dass der Angstbegriff in der Zeit der Erstveröffentlichung von Das Heilige geradezu als Prinzip des gegenwärtigen Zeitalters verstanden wurde. Angst und Moderne standen offenbar in einem spannungsreichen, reziproken Verhältnis, das in der modernen Kultur in facettenreichster Weise zum Ausdruck und zur Darstellung kam. Es liegt nahe, gerade hierin den Grund dafür zu sehen, dass Otto mit seiner Konzeption eines an Angst erinnernden, düsternen, rätselhaften und ambivalenten Urmomentes in der Religion dieser Zeitstimmung entgegen kam. Und tatsächlich hat gerade der Begriff des »mysterium tremendum« in besonderer Weise zu der bemerkenswerten Wirkung von Ottos Hauptwerk nach dem Ersten Weltkrieg beigetragen.1244 Warum Harnack im Erfolg von Ottos Buch jedoch nicht nur ein »günstiges Zeichen« sah, mag bei einem Blick auf Ottos Wirkungsgeschichte deutlicher werden. In unzähligen Abhandlungen zur Angst in der Moderne wurde oft und gerne auf Ottos schillernde Begriffe der »Kontrastharmonie« und des »mysterium tremendum« zurückgegriffen, jedoch gingen dabei  – wie ausführlich gezeigt wurde – das theologische Anliegen Ottos sowie die hochdifferenzierten religionsphilosophischen Hintergründe seines Denkens verloren. Es wurde weit1243 Adolf von Harnack, Rudolf Otto, Das Heilige, 993 (Rezension zur 8. Auflage von Das Heilige). 1244 Vgl. hierzu Schütte, Religion und Christentum, 6 f.

V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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gehend übersehen, dass es Otto gerade nicht um die theologische Einholung des modernen Angstbegriffs im Sinne einer prinzipiellen Weltangst oder Lebensangst ging, sondern um etwas geradezu fundamental anderes: Um ein gerade von jeder Welt‑ und Epochenbezüglichkeit gelöstes intuitives Erleben eines rätselhaften »Grauens«, das den Anspruch mit sich führt, eben nicht zeitgemäß, sondern gerade zeitlos und im Wesen des Menschen als Urgrund der Religion a priori verwurzelt zu sein. Ein Gefühl, dass sich nicht auf die Welt, sondern auf das ihr schlechthin entgegengesetzte »Ganz andere« richtet.1245 Nur wenige erkannten schon damals, dass Otto damit weder modern noch zeitgemäß, sondern vielmehr ausgesprochen »unzeitgemäß« argumentierte und sich dessen auch durchaus bewusst war.1246 Dies zeigt sich nicht nur in Ottos bereits erwähnten zahlreichen Abgrenzungen vom Angstbegriff der Existenzphilosophie, sondern auch in seiner generellen Skepsis gegenüber der Moderne und ihrem kulturellen Selbstverständnis. Zwar nahm Otto sehr wohl die Ambivalenz und Zerrissenheit der westlichen Zivilisationen im Zeitalter der Moderne zur Kenntnis,1247 jedoch trat er tunlichst dafür ein, dies nicht zur Grundlage seines theologischen Denkens und Anspruchs zu erheben.1248 Worum es ihm ging, wurde in den bisherigen Überlegungen am Beispiel des Problems der Angst deutlich: Nicht der Auseinandersetzung mit den Ängsten des Menschen im Gestaltwandel der Epochen und ihrer theologischen Deutung oder Bewältigung galt sein Bemühen, sondern der andeutenden Annäherung an einen in allen Epochen der Menschheitsgeschichte wirksamen Erlebniskern der Religion in der »Gottesfurcht«, der selbst nicht dem Wandel der Kulturgeschichte unter1245 Dies ist insbesondere denjenigen Kritikern Ottos vorzuhalten, die seine vermeintliche Zeitgemäßheit und Verbindung zum Lebensgefühl im Ersten Weltkrieg als Beleg für seine angebliche Oberflächlichkeit und Unwissenschaftlichkeit anführen. Am ausdrücklichsten wurde in diesem Sinne der Vorwurf des Populismus und der unwissenschaftlichen Nutznießerei der Krisenstimmung im Krieg an Otto herangetragen in Feigel, Das Heilige, 1 ff. 1246 Vgl. hierzu die Bemerkung in einem Brief an Jakob Wilhelm Hauer: »[…] damit sitze ich gewiss nicht nur zwischen zwei sondern zwischen 22 stühlen, weiß, daß ich damit so unzeitgemäß wie möglich bin und daß ich still auf die seite zu gehen habe […].« (24.8.33/BA Koblenz: NL Hauer 54, 389 ff, hier zitiert nach Kraatz, »[…] meine stellung«, 4 f, Kleinschreibung im Original). Eine gute Ergänzung hierzu ist eine Bemerkung Karl Löwiths, der im Rückblick auf die Zwanzigerjahre in Marburg schildert, wie Otto entgegen der damals florierenden Dialektischen Theologie und Existenzphilosophie im Umfeld Heideggers »seine eigene Unzeitgemäßheit mit stolzer Würde ertrug« (vgl. Löwith, Mein Leben, 65). 1247 Vgl. beispielsweise Ottos Ausführungen in Otto, Gott und das Unendliche, 178. 1248 Ottos skeptische Einstellung gegenüber einer zum Lebensgefühl erhobenen Moderne und ihrer Kultur nahm teilweise heftige Züge an, wenn er anlässlich der »allmählich langweilig werdenden Fragen nach ›dem‹ modernen Menschen« ausruft: »was geht uns denn ›der moderne Mensch‹ an! Die Wahrheit der Sache geht uns an. Und wenn zwischen ihr und ›dem‹ modernen Menschen ›ein unüberbrückbarer Gegensatz‹ wäre, um so schlimmer! Nämlich für den modernen Menschen« (Otto, Der unbekannte Gott, 627, Hervorhebung im Original gesperrt). Vgl. hierzu, ebenfalls mit Hinweis auf Ottos Modernekritik: Osthövener, Ottos Auseinandersetzung, 184.

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liegt.1249 Hingegen im Wandel begriffen sind sehr wohl die Ausdrucksformen und Schematisierungen des Numinosen in der Religionsgeschichte, die Otto mit großem Interesse verfolgte. Doch worauf es Otto dabei eigentlich ankam, ist das in ihnen nur andeutbare, aufscheinende und nur im religiösen Erleben selbst nachvollziehbare, zeitlose religiöse Gefühl, das nicht Gegenstand oder Anlass, sondern selbst der Urgund und Inbegriff von Religion ist. Das Problem der Angst kann – wie sich zeigte – in diesem Zusammenhang als Paradigma zum Verständnis von Ottos Werk gelten: Nicht moderne Angst, sondern die in allen Phasen der Menschheitsgeschichte aufbrechende »Scheu« ist es, um die es ihm geht.1250 Gottesgedanke und Religionsgeschichte in Ottos moderner Frömmigkeitstheorie. Der Fragwürdigkeit und Kritik des spekulativen Gottesgedankens in der Moderne versuchte Otto durch seine Besinnung auf die Ausdrucksgestalten des numinosen Erlebens in der Religionsgeschichte zu entgehen, indem er gerade die intuitive Evidenz des Erlebens selber zum entscheidenden Offenbarungsmoment erhob und dessen Schematisierungen in Begriffen und Ausdrucksformen als letztlich sekundäre Erscheinungen verstand, deren Ursache auf rationalem Wege nicht mehr einholbar, bestenfalls andeutbar und erahnbar, gewiss aber nur im religiösen Erleben selbst nachvollziehbar ist. Das mag man eine Aporie nennen, zuweilen erscheint es sogar als eine regelrechte Kapitulation im Streit der intellektuellen Begründungsversuche von Religion und Christentum in der Moderne, da Otto sich letztlich hinter die im Gefühl sich nahelegende Evidenz des religiösen Erlebens selbst zurückzieht. Es ist jedoch  – das mag man Otto zugutehalten – eine Aporie, die sich aus dem Wesen der Religion und ihren Ausdrucks‑ und Darstellungsformen geradezu nahelegt. Otto bringt das Moment der Paradoxie des Glaubens in eindrücklichster Weise auf den Punkt und stellt auf dem Wege aufwändiger religionsphilosophischer, historischer und theologischer Arbeit den unvermeidbaren Zumutungscharakter der Religion unter den Bedingungen der Moderne eindrücklich heraus. Gerade dieses Verdienst wird vielleicht an keiner Stelle so anschaulich deutlich, wie in seiner Unterscheidung von »Scheu« und Angst, die weniger eine fromme Immunisierungsstrategie, als eine bemerkenswerte Kritik der in die Krise geratenen protestantischen Theologie in der Moderne darstellt. 1249 Auch für »Scheu« und moderne Angst kann daher gelten, was Otto meint, wenn er schreibt, es ginge ihm mit dem religiösen Erleben um etwas, »das den Menschen von heute nicht näher angeht, als es Hiob angegangen ist, und das nicht Regung einer Zeit nur ist, sondern zu verschiedensten Zeiten der Geschichte des Gemütes sich regte und in der Religionsgeschichte selber nicht ein Letztes, gottlob nun endlich Gefundenes, sondern ein Erstes und ein immer Wiederkommendes ist.« (Otto, Der unbekannte Gott, 627, Hervorhebung im Original gesperrt). 1250 Vgl. hierzu erneut als Zusammenfassung GGA, 6.

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Ottos Werk ist demnach kein Versuch der Anknüpfung an die Moderne, sondern an die Geschichte der Religion überhaupt. Am Beispiel der Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion in Ottos Werk bestätigte sich damit die These seines Schülers Ernst Benz, der zufolge es weniger die Religions‑ oder Kirchengeschichte, sondern die »Geschichte der christlichen Frömmigkeit« ist, um die es Otto zu tun war, um in ihr zu zeigen, dass ihre Ausdrucksformen letztlich nur der Rand eines rational nicht einholbaren Erlebnisgrundes sind.1251 Der theologische Gehalt der Religionsgeschichte und des Christentums überhaupt erschließt sich damit letztlich nur im Modus des intuitiven Wiedererkennens von Momenten, die aus dem eigenen numinosen Erleben – und sei es noch so rätselhaft und jenseitig jeder institutionellen Konfession – in dunkler Ahnung bekannt sind und daher unmittelbar einleuchten, anrühren oder wenigstens erkennen lassen, dass es sich hier um etwas Artbesonderes handelt, das über die empirische Wirklichkeit hinausweist.1252 Sich so vernünftig wie möglich dem zu nähern, was jenseits der Vernunft liegt, war damit Ottos Lebensthema und ließ ihn an den theologischen Hauptstömungen seiner Zeit Anstoß nehmen.1253 Mit dem Begriffswerkzeug, das man aus dem Umfeld des Phänomens der Angst kennt, arbeitete sich Otto an ein Erleben heran, von dem eigentlich in Begriffen nicht oder nur unbefriedigend zu reden ist. Wie um dies zu unterstreichen, schuf er hierfür jene Terminologie, die ihn  – besonders mit dem Begriff des »mysterium tremendum«  – berühmt machte. Kaum wird man dabei Otto schließlich von dem Vorwurf entbinden können, sich der nichtreligiösen und empirisch-naturwissenschaftlichen Anfrage an Religion und Christentum letztlich zu entziehen. Ohne Zweifel verweist er 1251 Vgl.

Benz, Rudolf Otto in seiner Bedeutung, 376 (Hervorhebung im Original gesperrt).  In diesem Sinne ist wohl auch die folgende Bemerkung von Ernst Benz zu verstehen, der hier Ottos Theorie der Frömmigkeit als eine Synthese des religiösen Lebens und seines Geheimnisses mit den Ausdrucksgestalten der Religionsgeschichte versteht: »Überblickt man die Gesamtauffassung von der Geschichte der Frömmigkeit und die Fülle von Ideen, welche die zentralen Punkte der Entwicklung der christlichen Religion beleuchten, das Jesusbild, die Ideen zu Meister Eckhart, zu ­Luther und Schleiermacher, so sieht man hier einen Geist, der mit aller Kraft am Werke ist, einer neuen Auffassung des Christentums die Bahn zu brechen. Rudolf Otto ist ein Anfang: nicht nur ein Anfang einer neuen Betrachtung der Geschichte der Religion, nicht nur ein Befreier der Hauptgestalten deutscher Frömmigkeit von einem wahren Schutthaufen von theologischen und dogmatischen Vorurteilen, die eine das Wesen echter Frömmigkeit entweder ignorierende oder verachtende Theologie auf sie gehäuft hat, sondern ist auch ein Anfang einer neuen Auffassung und einer neuen Darstellung des Christentums selbst, weil sie der Grundrichtung der werdenden Frömmigkeit zum Ausdruck und zur Form verhilft: der Richtung auf die wirkliche persönliche Erfahrung, auf die Deutung des Erfahrenen in den Worten, Bildern und Anschauungsformen unserer Zeit, auf die Darstellung der Erfahrung und auf ihre Verwirklichung in einer sittlichen Lebensform, in welcher der klaffende Riß zwischen Leben und Lehre überwunden ist.« (Benz, Rudolf Otto in seiner Bedeutung, 398). 1253  Ähnlich brachte Hans-Walther Schütte das Grundanliegen Ottos im Schlusssatz seines Buchs zu Ottos Theologie auf den Punkt: »Die Theologie Rudolf Ottos stellt sich als der Versuch dar, das Mysterium des Geistes als das Geheimnis der Religion in der Sphäre der Vernunft auszudrücken.« (Schütte, Religion und Christentum, 116). 1252

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auf eine intuitive Evidenz, ein »Wahrheitsgefühl«, das weder auf rationalem, noch auf empirischem Wege vollständig einholbar ist. Jedoch zeigt sich in dieser Schwäche auch zugleich der Gewinn von Ottos Ansatz. Ihm gelingt es, eine Rede vom Göttlichen – eine Theologie – zu entwerfen, die den Gottesgedanken im Hinblick auf die subjektive Wirklichkeit der Religion im Auge zu behalten und damit die menschliche Frömmigkeit, das intuitive Zuherzengehen der Religion, in besonderer Weise ernst nimmt – auch und gerade im säkularen Zeitalter und in kritischer Auseinandersetzung mit dem Erbe der Liberalen Theologie. Ausblick: Die theologische Deutung der Angst und ihr Verhältnis zur »Scheu«. Von der Interpretation des grundlegenden Anliegens Ottos ist zum Schluss noch einmal der Blick auf die theologischen Implikationen zu lenken, die sich aus dem Problem des Verhältnisses von »Scheu« und Angst ergaben. Im Zentrum steht dabei die in den vergangenen Kapiteln immer wieder durchscheinende Frage, wie sich das Erleben der »Scheu« zu den Grundgedanken theologischer Versöhnungslehre verhält. Der Schlüssel hierzu ist Ottos Idee der Kontrastharmonie des »tremendum et fascinans«, die er im Hinblick auf die Idee der Erlösung in seiner späten Schrift Gottheit und Gottheiten der Arier folgendermaßen ins Gedächtnis ruft: »In der numinosen Scheu entspringt die Idee dräuender Schreckensmacht, die den Menschen umlagert und bedroht. Aber aus derselben Wurzel entspringt auch andererseits – und offenbar durch eine eigene, unableitbare Intuition – die Idee, daß solche Schreckensmacht, wenn versöhnt, Heils‑ und Segensmacht ist. Aus der numinosen Scheu entspringt die Idee der feindlichen Gewalt, aber aus ihr selber entspringt auch die Idee der numinosen Übergewalt, die die Widergewalt bannt, besiegt vernichtet.«1254

Otto versteht demnach, wie schon in seiner frühen Luther­deutung im Gedanken der »Paradoxie des Glaubens« deutlich wurde, unter dem Erlösungsgedanken insbesondere im Christentum keine nachklappende dogmatische Antwort auf das Urmoment des religiösen Erlebens der »Scheu«, sondern ein in diesem Erleben schon zugleich mitgesetztes urtümliches Gefühl der Erhebung und Anziehung. Allein aus diesem Gefühl heraus, einer mit dem »mysterium tremendum« mitschwingenden »adhaeresis«, kann demnach die Botschaft von Jesus Christus und schließlich überhaupt der christliche Liebes‑ und Erlösungsgedanke in unabweisbarer Eindrücklichkeit als wahr erkannt und erlebt werden, weil in ihm intuitiv wiedererkannt wird, was zuvor bereits in tiefstem und urtümlichstem Erleben förmlich erahnt und erfühlt wurde. Den christlichen Gedanken der Allversöhnung als unüberbietbar wahr zu begreifen, bedarf demnach keiner großen argumentativen Überzeugungskraft, sondern drängt sich dem Frommen, dem religiös Fühlenden im Moment der Divination förmlich als Anamnesis auf. Das in Religionsgeschichte und Dogmatik teilweise abstrakt und allzumenschlich 1254 GGA,

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V. Wirkungsgeschichte und Ausblick

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Ausgedrückte, Beschriebene und Verkündete kann so als das zugleich immer schon Ureigenste, Innerlichste und im Gefühl Offenbarte wiedererkannt und geglaubt werden. Die Allwirksamkeit eines das eigene Leben und Sterben umfassenden Heilsgeschehens wird auf diese Weise nicht durch eine Lehre vermittelt, eingesehen oder verstanden, sondern intuitiv als schon immer gegeben und wahr erkannt. Das dem »fascinans« zu Grunde liegende Urmoment der »Scheu« und der theologische Erlösungsgedanke stehen so nach Ottos Auffassung letztlich in einer Linie, deren Substanz kein Gedanke, sondern ein Erleben ist. Die sich hieran anschließende Schlussfrage führt nun zurück zum Ausgangpunkt der vorliegenden Untersuchung und betrifft das Phänomen der Angst. Wie ist die soeben skizzierte theologische Gedankenführung im Anschluss an Otto auf die Angst zu beziehen, also auf jene Emotion, die Otto stets energisch als »natürlich« und »profan« von den Momenten des »mysterium tremendum« zu unterscheiden bemüht war? Dieser konkreten Frage ist Otto selbst vergleichsweise wenig nachgegangen. Sie soll nun als Ausblick dienen. Hierfür sei zunächst auf die soeben zitierte Stelle in Ottos Buch Gottheit und Gottheiten der Arier zurückverwiesen, in der Otto seinen Gedanken der Kontrastharmonie mit zwei widerstreitenden »Gewalten« beschrieb. Im weiteren Verlauf bezieht nun Otto – und das bietet den entscheidenden Hinweis hinsichtlich der Angst – jene »numinosen Gewalten« auf ihnen verwandte natürliche Ereignisse und Emotionen: »Beide Gewalten sind zugleich numinose Gewalten, sind numinose Macht, die in sich entzweit und wider-einander-gekehrt ist. Dieser Widerstreit zieht den natürlichen Widerstreit von Gesundheit und Krankheit, Leben und Tod, Dürre und Fruchtbarkeit der Natur usw. in sich hinein. Natürliches Hemmnis oder Schrecknis wird von übernatürlichem Schrecknis durchglüht.«1255

Gemeint ist hier der Vorgang, den Otto als »numinose Apperzeption« beschrieb: Es wird wie in einem Gleichnis  – und doch viel unmittelbarer und intuitiver  – Übernatürliches im Natürlichen, beziehungsweise Geist in Natur wiedererkannt. Nochmals schärft Otto bei dieser Gelegenheit seine These vom religiösen Apriori ein: »Aber letzteres entsteht nicht aus ersterem, es ist gleichsam eine Form a priori, die ersteres als Materie in sich aufnimmt. Ja, man ist versucht, zu fragen, ob nicht vielleicht das Bedürfnis nach Schutz vor den ›imaginären‹ Drohnissen ganz original entstanden ist und erst hernach das natürliche Sorgen und Fürchten vor natürlichem Übel in sich eingesogen hat.«1256

Was Otto hier verdeutlicht, wurde bereits ausführlich in seinem Werk dargestellt: Es geht um die These, dass »Scheu« und »mysterium tremendum« der natürlichen Angst gefühlstheoretisch geradezu vorausgehen, um sich schließlich an sie zu heften und mit ihr verbunden zu werden. Im religiösen Erleben wird 1255 GGA, 1256 GGA,

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demzufolge das Wesen des Menschen und sein Verhältnis zum Absoluten, zum Universum, zum göttlichen »Ganz anderen« schon vor allem Denken und Erfahren im Gefühl erkannt und erst dann intuitiv mit natürlichen Gegebenheiten assoziiert. Letztere werden demnach – wie Otto es ausdrückte – »numinosiert«. Die numinose »Scheu« heftet sich an Orte des Grusels oder bringt zuweilen furchterregende »Absenker« in Form von Gespensterglaube und anderen Schreckensbildern hervor. Was ergibt sich hieraus für ein abschließendes theologisches Urteil hinsichtlich jener Angst, die Otto hier als »das natürliche Sorgen und Fürchten« beschreibt? Welche Folgen hat das religiöse Erleben für die natürliche Angst des Menschen? Diese bei Otto etwas vernachlässigte Frage stellt sich letztlich nicht nur im Kontext der Seelsorge, sondern ist eine Grundfrage theologischer und damit auch christlicher Anthropologie überhaupt. Wie ist jene natürliche, alltägliche und das Leben bestimmende Angst des Menschen – abgesehen von ihrer Unterscheidung von numinoser »Scheu« – im Anschluss an Ottos Werk theologisch zu bewerten? Die sich aus Ottos Ausführungen nahelegende Antwort malt sich vergleichsweise einfach aus und geht auf einen Gedanken zurück, der bereits im Kontext der Ausführungen zu seinem Buch Reich Gottes und Menschensohn angedeutet wurde. Keineswegs handelt es sich demnach im Vorgang der »Numinosierung« der Angst bei Otto um einen Vorgang der Heilung oder der Linderung der Angst. Die natürlichen und pathologischen Ängste bleiben letztlich, wie überhaupt der Lauf der Welt, den Otto als »Kausalnexus« beschrieb, unverändert bestehen. Natürliche Emotionen bleiben aus diesem Grund nach Ottos Verständnis vom religiösen Erleben zunächst eigentümlich unberührt und werden eher der ärztlichen Behandlung als der Religion anempfohlen. Dennoch geschieht aber ganz offensichtlich im religiösen Erleben etwas, das auch für die Angst des Menschen grundlegende Folgen hat. Im Moment des »mysterium tremendum« vollzieht sich eine aus tief irrationalem Erleben aufbrechende Neudeutung der Welt und ein Durchbruch durch die empirischen Kausalzusammenhänge. Die direkte Verbindung, die zwischen religiösem Erleben und der Idee der Erlösung deutlich wurde, ist hier von zentraler Bedeutung: Im Moment der »Scheu« und den aus ihr hervorbrechenden Momenten religiösen Erlebens in »tremendum«, »fascinans« und »Kreaturgefühl« drängt sich – man denke an Ottos Goetherezeption – eine neue Weltsicht auf, die über die natürlichen, empirischen Erscheinungsformen derselben gerade hinausgeht. Dies hat freilich Folgen für die Emotion der Angst. Es ergibt sich aus purer religiöser Intuition heraus eine »fromme Weltsicht«, die die Kausalzusammenhänge der Welt nicht nur übersteigt, sondern auch relativiert. Dabei verändert sich in den physikalischen und emotionalen Grundvoraussetzungen des Erlebenden zunächst nichts. Jedoch erscheinen die Ängste zusammen mit dem Kausalgefüge der Welt in einem neuen Licht. Es wird, wie bereits im Anschluss an Ottos Jesusdeutung beschrieben, die Prämisse der Weltsicht verschoben, indem sie um

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die Sphäre dessen erweitert wird, was Otto »Geist« nennt. Aus der Perspektive des Geistes ist, wie in Ottos Lutherschriften deutlich wurde, der »natürliche Mensch« – und mit ihm die Angst – eine nur fragmentarische und relative Wirklichkeit. Der »natürliche Mensch« und seine zuweilen angstvolle Verstrickung in die natürlichen Kausalgefüge und Emotionen wird im Moment der »Scheu« gleichsam aufgehoben und relativiert. Die zweifelsohne noch immer plagenden Ängste haben in der Perspektive des Geistes folglich keine letztgültige Macht mehr über die letzten Sinnfragen des Menschen. Sie quälen ihn zwar weiterhin in seinem alltäglichen Lebenswandel, aber sie erscheinen nicht mehr als alles bestimmende Wirklichkeit, die den Lebenssinn überhaupt immer wieder und grundlegend in Frage stellt. Die natürliche Angst bekommt in der Perspektive des Geistes durch die »Scheu« einen Charakter des Vorläufigen. Sehr wohl hat das Erleben der »Scheu« bei Otto also eine direkte und nachhaltige Folge für die Ängste des Menschen, von der Angst vor alltäglicher Bedrohung und dem Tod bis hin zu existentieller Welt‑ und Lebensangst. Jene Ängste erscheinen dem religiösen Menschen nunmehr als eindrückliche Anschauungsformen einer Weltverstrickung und kausalen, in sich ruhenden Endlichkeit, durch die der aus dem religiösen Erleben sich abzeichnende Gedanke eines allumfassenden Sinns überhaupt erst verstanden werden kann. Die natürliche Angst ist in diesem Sinne für Ottos Theologie vielleicht wichtiger, als dieser es zugeben mag, denn nur in ihr wird auf eindrücklichste Art erfahren, was jenes in die Kausalität der Welt verstrickte Kreatursein bedeutet, das nach Otto im »Kreaturgefühl« intuitiv von dem, was über und jenseits aller Kreatürlichkeit liegt, unterschieden wird. Angst wird nach Ottos Konzept nur und gerade dann zur eindrücklichen Erfahrung dessen, was der klassische Begriff der Sünde meint, weil sie in dem ihr ähnlichen Gefühl von »Scheu« und »mysterium tremendum« als rein kausale Welterfahrung entlarvt und zugleich um die Dimension des »Ganz anderen« erweitert wird. Tatsächlich hat das religiöse Gefühl der »Scheu« demnach eine relativierende Kraft gegenüber der natürlichen Angst, indem es gerade in seiner empirischen Ähnlichkeit zur Angst selbige von sich stößt, sich als ein besonderes Erleben des »Ganz anderen« zeigt, und damit die gleichsam in der Welt immerzu waltende und regierende Angst als zugleich mit dieser aufgehobene und letztlich überwundene begreift. Es erscheint in diesem Sinne geradezu eine an Ottos Idee des religiösen Erlebens gekoppelte Interpretation des bekannten Jesuswortes zur Angst in Joh 16,331257 möglich zu sein: Nicht die zur Welt und zum Leben zwangsläufig und konstitutiv dazugehörende Angst ist es demnach, die im Glauben – oder mit Otto zu sagen: im Moment numinosen Erlebens – überwunden wird im Sinne einer Heilung, sondern die ganze von der Angst durchwaltete natürliche Welt ist es, die im Moment der Divination – im 1257 Vgl. Joh 16,33b in der revidierten ­Luther-Übersetzung: »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden.«

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Zweiter Teil: Angst und Religion bei Rudolf Otto

Johannesevangelium konkret in der Divination durch die Person Jesu – als im göttlichen Universum aufgehobene und in ihrer fragmentarischen Natürlichkeit immer schon umschlossene und überwundene Welt erkannt wird.

Dritter Teil

Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«als Thema der Theologie

[…] μετὰ φόβου καὶ τρόμου τὴν ἑαυτῶν σωτηρίαν κατεργάζεσθε· θεὸς γάρ ἐστιν ὁ ἐνεργῶν ἐν ὑμῖν καὶ τὸ θέλειν καὶ τὸ ἐνεργεῖν ὑπὲρ τῆς εὐδοκίας. Phil 2, 12b.13.

Der Begriff Angst spielt besonders seit der Moderne eine herausragende Rolle in der abendländischen Geistes‑ und Kulturgeschichte. Die ersten Kapitel der vorliegenden Studie ließen deutlich werden, dass sich die Angst spätestens seit dem frühen 20. Jahrhundert nicht nur als lebenswichtiger Affekt, sondern als ein Grundgefühl des menschlichen Selbst‑ und Weltverhältnisses in das kulturelle Gedächtnis eingrub, das bis heute nichts von seiner Eindrücklichkeit eingebüßt hat. Angst und Moderne stehen demnach – so lautete die These – in einem besonderen, geradezu reziproken Verhältnis. Die Moderne kann insofern als »Zeitalter der Angst« gelten, als in ihren kulturellen Ausdrucksformen ein eigentümliches Lebensgefühl der Haltlosigkeit und des drohenden Sinnverlusts allgegenwärtig mitzuschwingen scheint. Dieses bis heute wirksame besondere Augenmerk der modernen Kultur auf die Angst als eines geradezu prinzipiellen Grundelements des Lebens weckt, wie in zahlreichen Beispielen vorgeführt wurde, auch das Interesse der Theologie. Es drängt sich die Frage auf, in welchem Verhältnis die Religion zu jenem in der Moderne so wichtigen Phänomen der Angst steht. Ein Blick auf die Verhältnisbestimmungen von Angst und Religion in der Geistesgeschichte ließ schnell deutlich werden, dass es sich bei dieser Frage nicht um einen Nebenaspekt, sondern um ein seit vielen Jahrhunderten diskutiertes Grundproblem in der Erforschung der Religion handelt. Die beiden eingangs vorgestellten Perspektiven zur Bestimmung des Verhältnisses von Angst und Religion führten damit zu grundsätzlichen Fragen nach dem Wesen und dem Urgrund der Religion überhaupt. Beide erforderten jeweils eine zumindest umrisshafte Rekonstruktion des weiträumigen Problemzusammenhangs und seiner Traditionsgeschichte. Dementsprechend wurde jeder der beiden hier diskutierten Perspektiven ein eigener Teil der vorliegenden

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Dritter Teil: Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«

Untersuchung zugeordnet. Während im Verlauf des Ersten Teils primär die klassische Hypothese eines reduktionistischen Kausalverhältnisses zwischen Angst und Religion vorgestellt und diskutiert wurde, ist im Zweiten Teil im Rahmen einer ausführlichen Darstellung des Werkes von Rudolf Otto der Gedanke entfaltet worden, dass der Religion gerade nicht die Angst des Menschen, sondern ein genuin religiöses Erleben zu Grunde liegt, dessen Grundstrukturen zwar empirisch der Angst zum Verwechseln ähneln, in ihrem Wesen jedoch von ganz eigener, genuin religiöser, geradezu transzendentaler Qualität sind.1 Die beiden Perspektiven gilt es zunächst noch einmal kurz ins Gedächtnis zu rufen. Im Blick auf die bisherigen Kapitel ist zu rekapitulieren, wie sich die in den beiden Teilen der Studie dargestellten Gedankengänge zueinander verhalten und welchen Ertrag sie hinsichtlich der Frage nach dem Verhältnis von Angst und Religion erbringen.2 Schließlich soll in einem letzten Kapitel ein kurzer Ausblick zum Entwurf einer theologischen Beurteilung der Angst vorgeschlagen werden. Im Fokus steht dabei die Frage nach dem theologischen Verhältnis von Ottos Konzept der »Scheu« und des »mysterium tremendum« zum klassischen Begriff der Angst vor dem Hintergrund des christlichen Erlösungsgedankens.3

I. Rückblick: Die beiden Perspektiven auf das Verhältnis von Angst und Religion In den ersten beiden Teilen der vorliegenden Studie ging es um einen je eigenen spezifischen Grundgedanken in der Verhältnisbestimmung von Angst und Religion. Wenn nun die beiden dahinterstehenden Perspektiven nochmals kurz in Erinnerung gerufen werden, soll es weniger um ein neuerliches Resümee der beiden bisherigen Teile dieser Untersuchung, sondern vielmehr um eine kurze Darstellung ihrer jeweiligen Pointen und ihres Verhältnisses zueinander gehen. 1 Wie in der Einleitung des Zweiten Teils der vorliegenden Untersuchung sei auch hier auf die luziden Beobachtungen Hans Blumenbergs hingewiesen. Blumenberg unterscheidet angesichts der »Mannigfaltigkeit der historisch aufgelaufenen Theorien über die Entstehung der Religion« grundsätzlich »zwei Haupttypen« (Blumenberg, Arbeit am Mythos, 35). Der erste Typ wird bei Blumenberg am Beispiel Feuerbachs als »Selbstentwerfung des Menschen an den Himmel« vorgestellt, und entspricht im Grundgedanken der im Ersten Teil vorgestellten Gedankenlinie unter dem Paradigma des Mottos »deos fecit timor«. Im Hinweis auf den anderen Typus zur Sicht auf die Entstehung der Religion verweist Blumenberg – wie auch diese Arbeit im Zweiten Teil  – auf die grundlegende Bedeutung Rudolf Ottos und dessen Annahme einer »apriorischen und homogenen Urempfindung des ›Heiligen‹ […], in der sich Schauder und Furcht, Faszination und Weltangst, Unheimlichkeit und Unvertrautheit sekundär verbinden« (ebd.). 2 Im Dritten Teil, Kap. I. 3 Im Dritten Teil, Kap. II.

I. Rückblick: Die beiden Perspektiven auf das Verhältnis von Angst und Religion

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Der Erste Teil galt zunächst grundlegenden Vorüberlegungen zum Verhältnis von Angst und Moderne sowie zum Verhältnis von Angst und Religion. Im ersten Kapitel (I.) zeigte sich, dass dem Angstbegriff besonders im 20. Jahrhundert eine besondere Bedeutung für das moderne Selbstverständnis beigelegt wurde. Für die Kulturgeschichte der Moderne ist demnach die Angst eine geradezu konstitutive Kategorie, in der das Ringen um das Selbst‑ und Weltverhältnis des Menschen in herausragender Weise zur Anschauung kommt. Weniger als Affekt infolge einer konkreten Bedrohung, sondern vielmehr als Gefühlsdimension für die Ambivalenzen der Moderne und ihres Menschenbildes überhaupt hat der Angstbegriff in der Moderne  – und für die Moderne  – eine Schlüsselrolle gespielt. Er steht für das latente Lebensgefühl einer Identitäts‑ und Sinnkrise des Menschen vor dem Hintergrund durch ihn selbst entfesselter kultureller Transformations‑ und Entwicklungsprozesse. Im zweiten Kapitel (II.) folgte die Darstellung des klassischen Gedankens vom Kausalverhältnis zwischen Angst und Religion, der eingangs als erste Perspektive angekündigt wurde. In einer ideengeschichtlichen Linie von der Antike bis in die Gegenwart erwies sich die These, es sei die Religion eine aus der Phantasie erzeugte, sekundäre Kulturleistung zur Projektion und Bewältigung menschlicher Ängste, als wirkmächtiges und plausibles Erklärungsmodell von klassischem Rang. Nicht nur das Verhältnis der Religion zur Angst, sondern das Wesen der Religion überhaupt hoffen die Erben des alten Mottos »Primus in orbe deos fecit timor« demnach vor dem Horizont psychologischer, materialistischer oder schlicht empirischer Kriterien bestimmen zu können. Das Spektrum des seit der Antike verfolgten Programms reichte dabei in den dargestellten Beispielen von dezenten Aufklärungstendenzen bis hin zu radikaler Religionskritik. In der Diskussion jenes klassischen Paradigmas zum Verhältnis von Angst und Religion erwies sich das dahinter stehende reduktionistische Grundargument als durchaus schlüssig. Von der Antike bis in die Gegenwart lassen sich unzählige Beispiele dafür anführen, dass die Bewältigung von Ängsten in den unterschiedlichsten Epochen und Kulturen meist deutlich mit der Religion in Verbindung stand und bis heute steht. Schicksal, Krankheit und Tod markieren ebenso wie viele andere Ursachen der Angst entscheidende Orte und Themen in den Schriften, Ritualen und Lehren der Religionen. Sozialgeschichtliche und religionssoziologische Studien belegen diese Verbindung von Angst und Religion anhand eindrücklicher Beispiele aus Geschichte und Gegenwart und zeigen, dass sich die existentiellen und insbesondere kollektiven Ängste der Menschen häufig in den Gottesbildern und religiösen Vorstellungswelten widerspiegeln. Und in der Tat wäre eine Religion, die sich nicht grundlegend mit den Ängsten der Menschen auseinandersetzt, schwer vorstellbar. Besonders im Christentum hatten die Ängste der Menschen in ihren vielfachen Schattierungen stets an zentraler Stelle ihren Ort. Trost und Bewältigung der Angst sind seit jeher fest in der Seelsorge, im Gebet und in der religiösen Praxis überhaupt verankert und lassen sich bis

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Dritter Teil: Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«

in die Texte des Alten Testaments zurückverfolgen. Das immer wiederkehrende Motiv der Angst und ihrer Überwindung im Liedgut der kirchlichen Gesangbücher mag ebenfalls als eindrückliches Beispiel dafür gelten, dass die Angst auch im Christentum ein zentrales Fundament theologischer Anthropologie und ein Kernthema der Religion ist. Diese empirische Tatsache ist der reduktionistischen These des Kausalverhältnisses von Angst und Religion zugute zu halten. Unter dem Motto »Primus in orbe deos fecit timor« taten sich jedoch bei aller Überzeugungskraft und geistesgeschichtlichen Prominenz des Gedankengangs auch Probleme und offene Fragen auf. Jüngere empirische Studien der Religionswissenschaft lassen zunehmend Zweifel an der kulturellen und sozialen Nützlichkeit sowie der angstbewältigenden Funktion der Religionen aufkommen. Besonders aber aus der Perspektive des religiösen Menschen selbst, also aus der Binnenperspektive der Religion und ihren theologischen Grundlagen regt sich – wie insbesondere im Ansatz Rudolf Ottos deutlich wurde  – Widerspruch. Der Vorwurf lautet, es sei der Gedanke »deos fecit timor« zwar ein durchaus überzeugendes Modell für die Beschreibung der psychologisch-empirischen und sozialgeschichtlichen Außenperspektive der Religion, jedoch komme damit offensichtlich nur ein sehr begrenzter Teilaspekt der Religion in den Blick. Sowohl auf der Linie expliziter Religionskritik, als auch im Zuge des Versuchs einer pastoraltheologischen Wendung des Kausalitätsgedankens hin zu einer »therapeutischen Theologie« erweist sich der angstkompensierende und therapeutische Nutzen der Religion nur als ein Nebengleis ihres tatsächlichen Gehaltes. Diesem Nebengleis steht mit dem alten theologischen Motiv der »Gottesfurcht« eine explizit religiöse Variante der Angst gegenüber, die sich keineswegs allein psychologisch erklären lässt. An den reichen Beständen dogmatischer Abhandlungen zum Motiv der Gottesfurcht von der Antike bis in die Neuzeit bildet sich dies eindrucksvoll ab. Mit der »Furcht Gottes« waren jahrhundertelang gerade nicht die auf das Gottesbild projizierten Ängste des Alltags gemeint, sondern es wird hierin theologisch das Verhältnis zwischen Gott und Mensch selber und der Inbegriff menschlichen Sündenbewusstseins ausgedrückt. Der Begriff der Gottesfurcht ist damit als ein Symbol für das Unterscheidungserlebnis zwischen menschlicher Endlichkeit und göttlicher Allmacht von zentraler Bedeutung. So nützlich Religion auch zuweilen für die alltägliche Angstbewältigung sein mag, so ist hierin – so lautet die Kritik an der reduktionistischen Perspektive – dennoch keineswegs ihr eigentlicher Grund erfasst, der nach dem Selbstverständnis des frommen Menschen gerade nicht in den Ängsten des Alltags, sondern in seinem Gottesverhältnis selber zu suchen ist. Die Religionsforschung, besonders aber die Theologie kann daher mit dem reduktionistischen Gedanken unter dem Motto »deos fecit timor« kaum zufrieden sein. Die Wirklichkeit der Religion und ihre Ausdrucksformen scheinen förmlich danach zu drängen, das Korsett ihrer kausalen Reduktion auf die Angstbewältigung zu sprengen und die religiöse

I. Rückblick: Die beiden Perspektiven auf das Verhältnis von Angst und Religion

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Binnenperspektive als substantiellen Kern für die Bestimmung des Wesens der Religion zur Geltung zu bringen. Nicht nur in den Ausführungen Ottos wurde jedoch deutlich, dass auch die theologisch-dogmatische Sicht auf das Problem der Angst nicht selten dazu neigt, sich ihrerseits zu einer engführenden Sichtweise zu entwickeln. Sehr leicht wird in klassischen Schul‑ und Lehrtraditionen der christlichen Dogmatik die Rede von der Angst als »Gottesfurcht« oder als Folge des »Zornes Gottes« als abstrakter theologischer Begriff verselbstständigt.4 Auch hier wird zuweilen nur ein Teilaspekt der Religion – nämlich der ihrer rationalen Begriffslogik in der Dogmatik – berücksichtigt. Die lebensweltliche Verankerung der Religion, ihre empirische Wirklichkeit und Frömmigkeitsgeschichte tritt in der Beschränkung auf die dogmatischen Gehalte des Angstmotivs in den Hintergrund. Die theologische Eingrenzung des Angstbegriffs auf die Rhetorik traditioneller Schuldogmatik, der Rückzug auf überlieferte Schriftzeugnisse und abstrakte Formeln entzieht die klassische Rede von der Gottesfurcht ihres religionsgeschichtlichen Niederschlags und ihres Bezugs zu den Ausdrucksformen religiösen Erlebens. So lässt sich resümieren: Weder die psychologisch-reduktionistische These vom Kausalverhältnis zwischen Angst und Religion und ihre christliche Adaption in einer »therapeutischen Theologie«, noch die rein dogmatische Denkfigur einer abstrakten »Furcht Gottes« werden für sich genommen in ihrem einseitigen Blickfeld dem Selbstverständnis frommer Menschen und ihrer religiösen Praxis vollends gerecht.5 Im Zweiten Teil dieser Untersuchung stellte sich die soeben beschriebene doppelte Kritik am empirisch-psychologischen Reduktionismus sowie am einseitig-dogmatischen Rationalismus als einer der wichtigsten Punkte im Denken Rudolf Ottos heraus. Die ausführliche Rekonstruktion von Ottos Gesamtwerk anhand des Problems der Angst hat gezeigt, dass es ihm offenbar um einen Vermittlungsversuch, wenn nicht sogar um eine synthetische Aufhebung beider Sichtweisen ging. Besonders seit seinem Hauptwerk Das Heilige sah Otto in der empirischen Außenperspektive der Religion und ihren historischen 4 Auf diese Gefahr der dogmatischen Verselbstständigung des Angstmotivs insbesondere in der theologischen Tradition der Scholastik wurde schon in der Reformationszeit hingewiesen. Vgl. hierzu erneut die klassische Abhandlung Hunzinger, Das Furchtproblem in der katholischen Lehre von Augustin bis ­Luther. 5 Mit dem Hinweis auf theologische Ansätze zum Verhältnis von Angst und Religion in der Moderne wie denjenigen von Werner Elert, Paul Tillich oder Otto Haendler wurden Beispiele genannt, die für den Versuch stehen, zwischen dem in ihrer Zeit allgegenwärtigen modernen Angstbegriff und dem klassischen Bestand christlicher Dogmatik zu vermitteln. Ihre nicht zuletzt auch von Rudolf Otto inspirierten Ansätze einer Theologie der Angst beschreiben eine Korrelation zwischen den geschichtsphilosophischen, existentialistischen und psychologischen Dimensionen des modernen Angstbegriffs einerseits und den in der Theologie hinter der dogmatischen Rede von der »Gottesfurcht« und dem »deus absconditus« stehenden Rede vom Gottesverhältnis des Menschen andererseits.

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Dritter Teil: Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«

oder psychologischen Beobachtungen keinen grundsätzlichen Widerspruch zur religiösen Binnenperspektive und ihren theologischen Gehalten. Vielmehr ging es ihm darum, die empirische und die theologische Ebene der Religion als unterschiedliche rationale Aspekte ein und desselben irrationalen Erlebens deutlich zu machen, das beiden Seiten – der empirischen wie der theologischen – voraus und zu Grunde liegt. Am Beispiel von Ottos Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Angst und dem ihr entgegengestellten religiösen Erleben des »mysterium tremendum« ließ sich dies besonders anschaulich in allen Abschnitten seines Lebenswerks nachvollziehen. Neben grundlegenden Einsichten hinsichtlich der Theologie Ottos und ihrer Genese ging es im Zweiten Teil folglich um die Explikation und Diskussion dessen, was in der Einleitung als zweite Perspektive auf das Verhältnis von Angst und Religion beschrieben wurde. Als Pointe dieser Perspektive stellte sich heraus, dass sowohl das Modell des Kausalverhältnisses von Angst und Religion, als auch die rein dogmatische Adaption des Angstbegriffs in der Theologie nach Ottos Auffassung zwar jeweils in ihrem Anliegen durchaus zu würdigen sind, jedoch dabei den eigentlichen Grund menschlicher Frömmigkeit eigentümlich unberührt lassen. Eben jenen Grund erhob Otto in der Kategorie religiösen Erlebens daher zum Kernkurrikulum seiner theologischen und religionsgeschichtlichen Arbeit. Den Ausgangspunkt für Ottos Theorie des religiösen Erlebens bilden, wie an zahlreichen Beispielen deutlich wurde, das religiöse Gefühl des frommen Menschen und seine Ausdrucksformen. So überzeugend sowohl einerseits die reduktionistische Sicht auf die Religion und ihre kausalen Funktionen, als auch andererseits die spekulativ-philosophische oder theologische Beschreibung des Göttlichen für sich genommen sein mögen: Das religiöse Erleben und Empfinden des Menschen widerstrebt nach Ottos Beobachtung der Vereinseitigung beider Varianten. Intuitiv ahnt demnach der Fromme, dass weder der reduktionistische, noch der spekulativ-rationale Begründungsansatz der Religion den hiermit beschriebenen Gegenstand tatsächlich trifft. Der religiöse Mensch ist intuitiv voreingenommen. Diese Intuition – gleichsam das Kernstück von Ottos schon früh entfaltetem Begriff des »Geistes« und seiner Theorie religiösen Erlebens – und ihre Ausdrucksformen in der Religionsgeschichte sowie im Gefühl des einzelnen Menschen nimmt Otto in besonderer Weise ernst. Im Begriff der »Scheu« fand Otto das vielleicht grundlegendste und tiefste Gefühlsmoment jenes intuitiven religiösen Erlebens, das er sowohl von dem empirisch-psychologischen wie vom philosophischen Angstbegriff der Moderne abzugrenzen versucht. »Scheu« erwies sich dabei nicht als alternative Erfahrung oder Variante neben anderen Angsterfahrungen, sondern als ein ahnendes Erkennen, das sich nicht auf die Welt und ihre Objekte, sondern auf das »Numinose«, auf das der Welt schlechthin Jenseitige und ihr Zugrundeliegende richtet. »Scheu« wird dabei verstanden als ein aller Erfahrung vorausliegendes Urgefühl,

I. Rückblick: Die beiden Perspektiven auf das Verhältnis von Angst und Religion

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ein Eingestellt‑ und Voreingenommensein, das in der intuitiven Erkenntnis der Unterscheidung des Menschen von dem schlechthin »Ganz anderen« besteht. Schon in seinen frühen Werken zu ­Luther und Schleiermacher sowie in den Studien zum Naturalismus, zur Psychologie und zur Religionsgeschichte machte Otto immer schärfer deutlich, dass der Ursprung und Grund der Religion weder in einer kausal wirksamen Emotion wie der Angst noch in einem rationalen Gedanken liegen kann, sondern beiden als eine Kategorie sui generis vorausliegen muss. Was er mit seinen originellen Begriffen wie »Scheu« oder der Kategorie des »mysterium tremendum« bezeichnete, erschien Otto demnach als eine genuin religiöse Gefühlskategorie, die in jeder Erfahrung und jedem Denken im Zusammenhang der Religion als Erkenntnis ganz eigener Qualität mitschwingt, ja ihr zugrunde liegt. Anstatt sich als Verarbeitungsform von Ängsten zu erweisen, drängt nach Ottos Auffassung das »mysterium tremendum« in zuweilen befremdliche und archaische Ausdrucksmittel, die sich in der Geschichte der Religion in reicher Vielfalt niederschlagen. Die Religionsgeschichte stellt sich damit nicht als Verarbeitungsgeschichte von Ängsten, sondern primär als Abbild und Ausdrucksgeschichte jenes religiösen Erlebens der »Scheu« dar. Der »Gegenstand« des religiösen Gefühls, das »Numinose«, bleibt dabei im Dunkeln; es wird erlebt als »Grund und Abgrund« des Universums, als das »Ganz andere«, als Mysterium, das nur in Ideogrammen umschrieben und angedeutet werden kann. Ottos Ansatz lediglich als Vermittlung entweder der Außen‑ und Binnenperspektive der Religion, oder aber ihrer empirischen und rationalen Ebene zu beschreiben, greift damit letztlich zu kurz. In der Abgrenzung des »mysterium tremendum« von der rein kausal-empirischen Emotion der Angst einerseits und den rein rationalen Begriffen der Weltangst oder der Gottesfurcht andererseits, markierte Otto einen letztgültigen »Rand«, an welchem die empirische, wie die rationale Sicht auf die Religion regelrecht abzuprallen scheinen, da sie sich von dort her als sekundäre Verarbeitungsformen erweisen. Im Erleben der »Scheu« erschließt sich laut Otto dem Menschen hingegen vor jeder Erfahrung, was ihm sein empirisches wie abstrakt-spekulatives Urteilsvermögen versagt: eine Erahnung des Grundes und Abgrundes allen Seins im Gefühl, der in Empirie und Begriff – die bei Otto beide unter die Sphäre des Rationalen fallen – zwar nicht erfasst, aber dennoch im Gefühl und seinen Ausdrucksformen angedeutet werden kann. So fasst Otto sein Anliegen rückblickend zusammen: »Der Untertitel unserer Schrift über Das Heilige war: »Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen«. Aber die Absicht der Schrift war gerade eine »rationale« gewesen, nämlich die, den irrationalen Momenten in der Gottesidee zwar ihr Recht wiederzugeben und sie ins Licht zu stellen, aber eben sie ins Licht zu stellen, d. h. sie nicht in einen allgemeinen Nebel »des Irrationalen« zu versetzen, in dem, wie Hegel sagt, »alle Kühe grau sind« sondern sie in strenger Gefühlsanalyse und durch ideogrammatische Symbolisierung nach Möglichkeit zu unterscheiden, zu charakterisieren und so der Sfäre des Rationalen anzunähern, und zugleich zu zeigen, daß sie der Rand sind an klaren rationalen Momenten,

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Dritter Teil: Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«

die ebenso zum Gehalte der Gottesidee gehören. Denn dies eben ist der Sachverhalt: das, was ›über alle Vernunft‹ ist und vor dem ›Name und Begriff umkehren‹, das ist doch selber zugleich Grund und Quell aller Vernunft, aller theoretischen wie praktischen Vernunft, es ist, wie P. Tillich es treffend genannt hat, ›Grund und Abgrund zugleich‹.«6

Mit der Entdeckung der »Scheu« als Urmoment der Religion errang Otto der christlichen Theologie einen Zugang zu einem allen Religionen der Welt zugrunde liegenden a priori Voreingenommensein des Menschen im Gefühl. Es handelt sich dabei um ein »Wahrheitsgefühl« für die unüberbietbare Geltung und Macht des letzten Grundes des Universums; ein Gefühl, das weder in den kausalen Zusammenhängen des Weltgeschehens, noch in den rationalen Begriffen der Vernunft wirklich erfasst werden kann, zugleich aber dennoch von der Vernunft kaum abgewiesen werden kann. Schließlich ist es gerade jene unabweisbare Erahnung des »Ganz anderen«, des »Mysteriums«, die in Ottos Argumentation die Unterscheidung des Erlebens der »Scheu« von der Emotion der Angst notwendig macht. Anders als in der »Scheu«, als eines intuitiven Ahnens des »Ganz anderen« vor jeder Erfahrung, versteht Otto die Angst als ein grundlegendes Element der in sich ruhenden Endlichkeit der empirischen Welt und ihrer Verstrickung in die Kausalität. Die Angst kommt also vollkommen ohne das »Ganz andere« aus und stellt sich als ein profanes, »natürliches« und auf den Menschen selbst gerichtetes Welterleben der Bedrohung dar. Die eingangs beschriebenen und im Ersten Teil sowie im Zweiten Teil der vorliegenden Untersuchung erarbeiteten Perspektiven auf das Verhältnis von Angst und Religion stehen damit insbesondere im Anschluss an den Ansatz Ottos deutlich vor Augen: Die erste Perspektive, die Angst und Religion als einen kausalen Zusammenhang beschreibt, versteht Religion als eine Verarbeitungsform von Erfahrungen, insbesondere von Erfahrungen der Angst, die durch eine Ursache der Bedrohung sinnlich veranlasst werden. Die zweite Perspektive hingegen, wie sie in Ottos Werk greifbar wird, beschreibt den Grund der Religion als eine von gewöhnlicher Erfahrung und somit auch von der Angst unabhängige Weise der intuitiven Erkenntnis im Gefühl. Daher nannte Otto das aller Religion zugrunde liegende Erleben eine Kategorie a priori, ein »höheres Erkenntnis-vermögen«, das nicht neben der sinnlichen Erfahrung wirkt, sondern ihr vorausliegt und durch sie hindurchgeht. Die Verschiedenheit dessen, was der Begriff Angst bezeichnet, von dem, was Otto unter der Kategorie des »mysterium tremendum« versteht, könnte also größer kaum sein. Zwischen ihnen besteht, wie Otto immer wieder betont, ein fundamentaler Qualitätsunterschied. Allerdings legen ihre empirische Ähnlichkeit und die Tatsache, dass die Angst in der Realität offenbar aufs Engste mit der Religion verbunden ist, schließlich die Frage nahe, ob zwischen 6 SU,

190 (Hervorhebung im Original).

II. Angst und »mysterium tremendum« in ihrer Bedeutung für die Idee der Erlösung 417

ihnen nicht dennoch ein produktives Verhältnis besteht, das sich theologisch beschreiben lässt. Und tatsächlich deutet Otto selbst an, dass profane, sinnliche Erfahrungen – im Falle der Angst also Momente wie Todesangst, Gespenstergrusel und Furcht vor Bedrohung und Sinnlosigkeit  – durchaus Anregungen, kraftvolle Gleichnisse oder wirkungsvolle »Absenker« religiösen Erlebens, also auch religiöser »Scheu«, sein können. Es zeigte sich, dass »Scheu« und Angst bei aller Verschiedenheit keineswegs völlig unvermittelt nebeneinander stehen, sondern gewisse Kontaktstellen zueinander aufweisen, die jedoch bei Otto nur angedeutet werden. Jener Verbindungs‑ und Analogielinie gilt es nun in einem Ausblick nachzugehen, der zugleich eine mögliche Weiterführung von Ottos Konzeption im Hinblick auf eine theologische Deutung der Angst zu skizzieren versucht. Ziel ist es dabei, sowohl den Angstbegriff, als auch den Begriff der »Scheu« bzw. des »mysterium tremendum« bei Otto mit dem in der christlichen Theologie zentralen Gedanken der Erlösung ins Verhältnis zu setzen, um hieraus eine theologische Sicht auf das Verhältnis von Angst und Religion zu gewinnen.

II. Angst und »mysterium tremendum« in ihrer Bedeutung für die Idee der Erlösungim Christentum Das Christentum ist Ottos Urteil zufolge eine Erlösungsreligion, ja geradezu »›Erlösungsreligion‹ schlechthin«.7 Der Kern der christlichen Botschaft ist demnach die Erlösung der Welt, wie sie im Evangelium überliefert, von der Kirche verkündet und von den Christen geglaubt und bekannt wird. Wie verhält sich diese Botschaft zum Problem des Verhältnisses von Angst und Religion sowie zu den bei Otto geschilderten Momenten religiösen Erlebens? Zunächst sind für die Frage nach dem Verhältnis von Angst und Erlösung einige grundsätzliche Gedanken im Rückgriff auf frühere Kapitel anzusetzen: Im Zuge der bisherigen Überlegungen zum Verhältnis von Angst und Religion zeichnete sich ab, dass die Idee der Erlösung eine entscheidende Rolle in der theologischen Deutung der Angst spielt. Kritiker wie Anhänger der Religion sind sich ganz offensichtlich dahingehend einig, dass die Angst des Menschen um sich selbst ein grundlegender Aspekt ist, auf den sich religiöse Erlösungsbotschaften richten, um deren Macht über das menschliche Leben zu brechen. Angst gilt als Inbegriff der Ohnmacht, Hoffnungslosigkeit und Erlösungsbedürftigkeit. Doch wie ist dieser Gedanke zu verstehen? »In der Welt habt ihr Angst«8 heißt es in jenem bereits an früherer Stelle erwähnten und vielzitierten Jesuswort aus dem Johannesevangelium, das gerade 7 Vgl. 8 Vgl.

DH23–25, 191. Joh 16,33.

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Dritter Teil: Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«

in der Literatur zum Verhältnis von Angst und Religion in der Moderne immer wieder als selbstverständliche Grundeinsicht angeführt wird. Die Fortsetzung des Bibelverses gilt gleichsam als Zusammenfassung der christlichen Hoffnungs‑ und Erlösungsbotschaft von Jesus Christus: »seid getrost, ich habe die Welt überwunden.«9 Dass die Erlösungsbotschaft der Religion auch und insbesondere anhand des Angstbegriffs und seiner Bedeutung für die Erlösungsbedürftigkeit der Welt zu explizieren sei, scheint als verbreiteter Konsens zu gelten.10 Doch der Blick auf die grundlegende Bedeutung der Angst für die Religion von der Antike bis in die Gegenwart hat gezeigt, dass nach empirischen Kriterien von einer Durchbrechung der geradezu allgegenwärtigen Angst kaum eine Rede sein kann. Während die das Leben bestimmenden Ängste des Menschen eine unbestrittene, alltäglich greifbare Wirklichkeit darstellen und kaum wegzudiskutieren sind, scheint das Christentum den empirischen Nachweis seiner Erlösungserfolge schuldig zu bleiben. Sollte die Erlösungsbotschaft des Christentums auf die tatsächliche Befreiung oder Linderung der Angst abzielen, ist ihre Erfolgsbilanz eher fragwürdig. Dies kann den Aufklärern unter dem Motto »Primus in orbe deos fecit timor« als Bestätigung ihres Urteils über die Religion gelten: Gegenüber der unbestreitbaren Allgegenwart der Angst scheint die Erlösung der Welt nur eine naive Behauptung in therapeutischer Absicht zu sein, die jeder Evidenz entbehrt. Die Religionen der Welt  – das Christentum eingeschlossen  – stellen sich ihnen als traditionsreiche Kulturleistungen zur Bewältigung der Angst dar, deren Erlösungsgedanke jedoch mehr eine Metapher und ein psychologisches Sedativum als tatsächliche Kontingenz‑ und Angstbewältigung zu sein scheint. Das Paradigma »deos fecit timor« ist damit gerade hinsichtlich der besonderen Bedeutung des Angstbegriffs in der Moderne eine religionskritische Formel: Letztgültige Gewissheit über die Wahrheit der Erlösungs‑ und Hoffnungsbotschaft der Religionen ist auf empirischem Wege kaum zu gewinnen, denn es gibt zunächst keine glaubwürdigen Anzeichen dafür, dass die in der Welt waltende Angst grundsätzlich überwindbar ist. Besonders den kulturellen Ausdrucksformen der Moderne und ihren eindringlichen Darstellungen der Angst ist die Einsicht zu verdanken, dass menschliches Leben viel eher in einen Kreislauf der Ängste verstrickt zu sein scheint. Die religiöse Rede von Erlösung und Hoffnung mutet von hier aus wie ein fossiles Phantasiegebilde an, das sich der Angst zwar mutig entgegenwirft, letztlich aber seinen Wahrheits‑ und Geltungsanspruch  9 Das Jesuswort aus Joh 16,33 wird in fast allen Studien zum Verhältnis von Angst und Religion und insbesondere in Ansätzen zur Theologie der Angst als soteriologisches Grundschema angeführt und diskutiert, so beispielsweise auch in: Benz, Die Angst, 220 f; Dietz, Der Begriff der Furcht, 388; Huxel, Das Phänomen Angst, 35 und 53. Kritisch gegenüber dieser Lesart von Joh 16,33 wird argumentiert in: Körtner, »Um Trost war mir sehr bange«, 75. 10 Vgl. als Überblick über den Zusammenhang von Angst und Erlösung die beiden Bände: Koslowski/Hermanni (Hg.), Endangst und Erlösung, Bd. 1 und Koslowski (Hg.), Endangst und Erlösung, Bd. 2.

II. Angst und »mysterium tremendum« in ihrer Bedeutung für die Idee der Erlösung 419

kaum empirisch beweisen kann. Mag die Religion auch Trost spenden  – die Angst bleibt. Die von Rudolf Otto verfolgte Idee einer Theorie religiösen Erlebens und seine hieraus entwickelte Theologie eröffnet, wie ausführlich gezeigt wurde, eine grundlegend alternative Sichtweise auf die geschilderte Bedeutung der Angst und ihr Verhältnis zur Religion. Otto zeichnet eine Traditionslinie der Begründung menschlicher Frömmigkeit nach, die keineswegs auf dem psychologischen Nutzen oder der argumentativen Überzeugungskraft der Religion gegründet ist, sondern stattdessen in der Idee des religiösen Erlebens auf eine ganz eigene Begründungslogik aufbaut. In den Jahrtausenden der menschlichen Kultur‑ und Religionsgeschichte entdeckt Otto deutliche Anzeichen dafür, dass religiöse Menschen keineswegs deshalb fromm sind, weil ihnen die dogmatischen Argumente ihrer Religion intellektuell besonders einleuchten oder weil sie sich aus der religiösen Praxis Linderung ihrer Ängste versprechen dürfen. Der psychologische, soziale oder ethische Nutzen der Religion, sowie ihre dogmatische und religionsphilosophische Begründung ist bei Otto weniger die Voraussetzung, als eine nachträgliche Verwirklichungsform eines »Wahrheitsgefühls«, das den geschichtlichen Religionen und ihrer Erlösungsbotschaft förmlich entgegenkommt. Ottos im Zweiten Teil dieser Studie ausführlich diskutierte Antwort auf die Frage nach dem Grund der Frömmigkeit lautet infolge dessen: Das Gefühl ist es, das den Wahrheitsgehalt der Erlösungsbotschaft der Religion intuitiv vor jeder empirischen Erfahrung und vor jeder Reflexion erkennen lässt. Im religiösen Erleben wird der Mensch, wie Otto es im Anschluss an L ­ uther ausdrückt, »verbo conformis«. Kongenial kommt das religiöse Gefühl der Erlösungsbotschaft entgegen und erkennt in ihr und ihren Symbolformen wieder, was jenseits von Erfahrung und Theorie bereits im Gefühl geschaut und unmittelbar erkannt wurde. Es wurde aus der Rekonstruktion von Ottos Theologie deutlich, dass der Gedanke der Erlösung in seinem Konzept keineswegs die empirische Heilung von Ängsten zum Ziel hat, sondern vielmehr auf ein genuin religiöses Problem gerichtet ist. Es ist daher dem Gedanken zu folgen, ob nicht das bereits zitierte Jesuswort »In der Welt habt ihr Angst; aber seid getrost, ich habe die Welt überwunden« womöglich ganz wörtlich zu verstehen ist: Es ginge demnach in der Idee der Erlösung nicht um Angstüberwindung, sondern um Weltüberwindung, also um eine rein religiöse Kategorie, die das Gottesverhältnis des Menschen betrifft und erst hierdurch vermittelt das Problem der Angst berührt. Dieser Grundgedanke soll nun noch einmal mit Hilfe der Erkenntnisse aus den bisherigen Kapiteln skizzenhaft in drei Schritten entfaltet werden. Die Basis dafür bietet die bereits im Kontext von Ottos Luther­deutung entwickelte und wiederholt dargelegte These, dass Ottos Konzept des »mysterium tremendum« als ein Unterscheidungserlebnis verstanden werden kann (1). In einem zweiten Schritt ist zu überlegen, wie jenes religiöse Unterscheidungserlebnis der »Scheu« mit dem christlichen Erlösungsgedanken ins Verhältnis zu setzen ist (2). Schließ-

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Dritter Teil: Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«

lich soll von hier aus in einem letzten Abschnitt eine theologische Perspektive auf die Angst des Menschen um sich selbst als Ausblick entfaltet werden (3). Somit berühren sich in den letzten drei Abschnitten Angst und »Scheu« im Erlösungsbegriff und sollen darüber hinaus in ihrem theologischen Verhältnis zueinander bestimmt werden. (1) »Scheu« als Unterscheidungserlebnis. Den urtümlichsten und tiefsten Moment religiösen Erlebens beschrieb Otto als ein Moment der numinosen »Scheu«. Er verstand darunter jenes Gefühl, dass im Menschen zunächst nichts weiter nach sich zieht, als die dunkle Erahnung des »Ganz anderen«, welches sich jedoch jeder rationalen Erfassung entzieht. Was von jenem »Ganz anderen« allerdings beschreibbar ist, sind die sich aus der »Scheu« heraussetzenden Gefühlsreaktionen, die im menschlichen Bewusstsein als Erkenntnis des »Heiligen« Gestalt gewinnen. Sowohl im Alten Testament – besonders die Thronsaalvision des Jesaja galt Otto als Paradebeispiel – als auch in den Texten des Neuen Testaments stellt sich die Bibel für Otto als eine Fülle von Schilderungen numinosen Erlebens dar, in denen stets »Furcht und Zittern« eine entscheidende Rolle spielen.11 Für die Charakterisierung jenes Erlebens wurde bereits an früherer Stelle vorgeschlagen, in dem bei Otto beschriebenen Gefühl der »Scheu« einen intuitiven Vorgang des Unterscheidens zu sehen. Das geheimnisvolle Erleben der »Scheu«, aus dem in Ottos Terminologie das der Frömmigkeit zugrunde liegende »Kreaturgefühl« hervorgeht, hat demnach seine durchschlagende Kraft gerade darin, dass in ihm intuitiv zwischen der Welt und ihrem Grund, zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit oder  – in klassischer Ausdrucksweise  – zwischen Mensch und Gott unterschieden wird. Freilich führt diese Unterscheidung zunächst zu keiner näheren Erkenntnis des »Ganz anderen«, denn dieses ist gerade als das schlechthin »Andere« der Grund und Abgrund der Unterscheidung. Mit dem Kategorienbegriff des »mysterium tremendum« hat Otto eine einprägsame Formel für jene Verbindung der »Scheu« mit dem schlechthin Geheimnisvollen, dem »Ganz anderen« gefunden. Es fällt das menschliche Selbstbewusstsein mit der im »mysterium tremendum« erlebten Unterscheidung auf sich selbst zurück: Erlebt wird die eigene Nichtigkeit angesichts des geschauten Universums und der eigene Unwert angesichts eines unüberbietbar größten Wertes. Dabei ist diese Unterscheidung zwischen eigener Endlichkeit und göttlicher Unendlichkeit nicht als Akt rationaler Reflexion zu verstehen. Der Begriff der 11 Es sei an dieser Stelle beispielhaft auf die dem vorliegenden Dritten Teil dieser Arbeit als Motto vorangestellte Passage in Phil 2,12 f verwiesen: »[…] schaffet, dass ihr selig werdet, mit Furcht und Zittern. Denn Gott ist’s, der in euch wirkt beides, das Wollen und das Vollbringen, nach seinem Wohlgefallen.« Erhellend sind hierzu auch die Ausführungen Rudolf Bultmanns zu der Verbindung von ἐλπίς und φόβος im paulinischen Glaubensbegriff: »Solcher ἐλπίς korrespondiert aber in eigentümlicher Weise der φόβος, der ein unentbehrliches konstitutives Element in der πίστις ist, sofern er die Richtung des Blickes des Glaubenden auf Gottes χάρις sichert.« (vgl. Bultmann, Theologie des neuen Testaments, 321 f, auch im Rückgriff auf Phil 2,12 f).

II. Angst und »mysterium tremendum« in ihrer Bedeutung für die Idee der Erlösung 421

Unterscheidung ist nicht als intellektuelle Differenzierungsleistung oder Abwägung gemeint, sondern als »Ideogramm«, wie Otto sagen würde, also als ein andeutender Analogiebegriff. Treffender wäre es daher, nicht von einer rationalen Unterscheidung, sondern von einem intuitiven und aller Erfahrung vorausliegenden Unterscheidungserlebnis zu sprechen. Die Unterscheidung von Mensch und Gott oder Kreatur und Schöpfer ist damit in jedem religiösen Erleben schon immer intuitiv mitgegeben. Es handelt sich um eine das religiöse Erleben des Menschen präfigurierende Urerkenntnis, die ihn in allem Erleben intuitiv bereits eingestellt sein lässt auf die Grundunterscheidung vom »Ganz anderen«, die sich in individuell ganz verschiedener Art und Häufigkeit als durch die natürliche Kausalität der Welt hindurchscheinende Sphäre des Geistes zeigt. Die in jenem frommen Unterscheiden gewonnene Erkenntnis ist also nicht die Folge eines Reflexionsvorgangs oder einer sinnlichen Wahrnehmung, sondern vielmehr die Bedingung allen religiösen Reflektierens und Wahrnehmens  – es ist, um eine Wendung Ottos zu gebrauchen, ein Unterscheiden a priori.12 Das Unterscheiden geht im Erleben selbst vor sich. Das Verhältnis von »mysterium tremendum« und gewöhnlicher Angst ist in diesem Zusammenhang besonders brisant. Indem sich die nach Ottos Auffassung vor aller Erfahrung liegende »Scheu« als Erkenntnis a priori auf das »Ganz andere« richtet, entlarvt sie zugleich die ihr äußerlich ähnlichen Ängste des Menschen als in die Kausalität der Welt verstrickte profane Emotionen. In der »Scheu« vor dem »Ganz anderen« erweist sich die Angst als Emotion selbstbezüglicher Sorge um das eigene Leben und Schicksal. Für die theologische Bewertung der Angst im klassischen Begriff der »Gottesfurcht« ist dies grundlegend wichtig: Nicht die angstvolle Vorstellung Gottes als strafender oder zorniger Richter erzeugt demnach durch ihre Bedrohlichkeit das Gefühl der »Scheu«, sondern das im Unterscheidungserlebnis erahnte Wesen und Gott-Sein Gottes selbst als der »Ganz andere«. Die bis auf Augustinus zurückgehende theologische Differenzierung zweier Weisen der Gottesfurcht steht mit diesem Gedanken in einer gewissen Verwandtschaft: Nicht der »timor servilis«, also die aus gewöhnlicher Angst vor Bedrohung in das Gottesbild hineinprojizierte Angst vor Strafe ist mit dem Unterscheidungserlebnis der »Scheu« gemeint, sondern jene fromme Gottesfurcht, die Augustinus als »timor castus«, das heißt, als eine nicht auf Bedrohung, sondern auf die Fundamentalunterscheidung zwischen Mensch und Gott gerichtete »Scheu« im Sinne frommer und liebender Ehrfurcht beschreibt. Damit kann – 12 In etwa diesen Sachverhalt scheint auch Hans-Walter Schütte im Auge zu haben, wenn er im Zusammenhang von Ottos Luther­deutung von einem »Differenzerlebnis« spricht, aus dem das »Bewußtsein der Differenz zwischen Gott und Mensch« im »›heiligen Erschauern vor dem Ewigen‹ in die religiöse Grundbeziehung eingeht« (vgl. Schütte, Religion und Christentum, 21). Ein Unterscheidungserlebnis beschreibt auch David K. Coe, wenn er im Anschluss an Paul Tillich von einer »primordial Angst« als »›the pre-reflective apprehension‹ of the abyss separating finite from infinite Being, the temporal from the eternal, the contingent from the necessary, or the created from the creator.« spricht (Coe, Angst and the Abyss, 197 f).

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Dritter Teil: Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«

das war eine entscheidende Pointe im obigen Zweiten Teil  – die Differenz zwischen numinoser »Scheu« und profaner Angst durchaus als Paradigma zur Beschreibung religiösen Erlebens überhaupt gelten. Besonders im Gedanken des Unterscheidungserlebnisses wird die qualitative Verschiedenheit von Angst und »Scheu« besonders deutlich. Während sich die Angst immer nur auf die in ihrer Kausalität ruhende Welt richtet, ja durch die um sich selbst kreisende Kausalität der Welt überhaupt erst entsteht, ist die »Scheu« als Unterscheidungserlebnis geradezu das Gefühl für die Sprengung jener Selbstbezüglichkeit der Welt. (2) Das Unterscheidungserlebnis als Erlösungserlebnis. Worin besteht nun der Erlösungscharakter des Unterscheidungserlebnisses der »Scheu« und wie ist er mit der Erlösungsbotschaft des christlichen Glaubens verbunden? Otto beschreibt den Glauben grundsätzlich als einen Vorgang der religiösen »Anamnesis«. In den Ausdrucksformen der Religionen – und so auch in denen des Christentums – wird demnach das im religiösen Erleben als wahr Erkannte intuitiv wiedererkannt. Die grundlegende Einstellung zu der Glaubensbotschaft kommt damit nicht erst durch intellektuelle Einsicht zustande, sondern steht im Gefühl bereits im Grunde fest, ist voreingenommen, bevor sie in religiösen Symbolen ausgedrückt und rational in theologischer Reflexion nachvollzogen und hinterfragt werden kann. Das Gefühl kommt der Botschaft also förmlich entgegen. Der Mensch trägt bereits in sich, was das Evangelium dann zur Entfaltung bringt und was schließlich die Dogmatik in Begriffe und rationale Zusammenhänge fügt. Doch es bleibt dabei zunächst unklar, wie das Gefühl eigener Nichtigkeit in der Unterscheidung vom »Ganz anderen« dem entgegen kommen soll, was im Christentum als die erlösende Liebe und Gnade Gottes geglaubt und bekannt wird. Das als Unterscheidungserlebnis interpretierte Gefühl der »Scheu« sieht auf den ersten Blick keineswegs nach einer Erlösungsbotschaft aus, denn ganz offensichtlich wird in ihm keine konkret benennbare Heilsnachricht und erst recht keine Heilung oder Bewältigung von Angst erwirkt. Dies belegen auch eindrückliche biblische Schilderungen religiösen Erlebens, die Otto neben zahlreichen Beispielen aus der Religionspsychologie und Religionsgeschichte anführt und deren Heils‑ und Erlösungscharakter zunächst dunkel bleibt. Die Berufungsvision des Jesaja etwa schildert ein Erschauern des Propheten vor der Herrlichkeit Gottes, das zunächst nicht in wohltuender Erlösung, sondern im Gefühl eigener Unreinheit und in dem Ausruf gipfelt »Weh mir, ich vergehe!«.13 Gleichsam erzählt die von Otto eindrücklich dargestellte Szene im Garten Gethsemane von einem Erleben »betrübt bis an den Tod« voller »zittern und zagen«.14

13 Vgl. 14 Vgl.

Jes 6,5. Mk 14,32 ff.

II. Angst und »mysterium tremendum« in ihrer Bedeutung für die Idee der Erlösung 423

Hieraus wird Grundlegendes deutlich: Ganz offensichtlich ist das Erlösungsmoment im religiösen Erleben nicht primär auf die innerweltliche Verstrickung und Angst des Menschen gerichtet, sondern liegt gerade darin, über die Welt hinauszugehen. So wie nach Ottos Auffassung das Gefühl der Erlösungsbedürftigkeit im »Kreaturgefühl« keine Folge von sittlichen oder sozialen Minderwertigkeitsgefühlen und Ängsten ist, ist die erlösende Kraft der Religion auch nicht in therapeutischer Angstlinderung zu messen. Die Idee der Erlösung betrifft also nicht unmittelbar die Verbesserung des empirischen Zustands und Befindens des Menschen, sondern richtet sich theologisch gesprochen auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gott. Der Kern der Erlösung ist damit ganz unmittelbar an jenen Moment gebunden, der soeben als Unterscheidungserlebnis bezeichnet wurde. Wenn das »Kreaturgefühl« das Erlebnis der Selbstunterscheidung zwischen Mensch und Gott im Gefühl ist, dann kann Erlösung nichts anderes bedeuten, als die Überwindung jener Fundamentalunterscheidung zwischen Mensch und Gott im Sinne der Einheit und Gemeinschaft beider. Um als wahr erkannt zu werden, muss also jener Gedanke der Überwindung der Fremdheit und Ferne des »Ganz anderen« hin zur erlösenden Gewissheit der Gemeinschaft mit Gott – nach klassischer Terminologie die Idee der Versöhnung – ebenfalls im Gefühl a priori präfiguriert und regelrecht erlebt worden sein, um dann im Evangelium als Gnade Gottes im Bild des barmherzigen himmlischen Vaters wiedererkannt zu werden. Erlösung kann damit weder durch rationale Argumentation eingesehen, noch an therapeutischer Heilungswirkung oder Angstlinderung nachgewiesen werden. Sie ist  – ebenso wie Sündenbewusstsein und »Kreaturgefühl«  – eine Kategorie religiösen Erlebens. An dieser Stelle kommt Ottos Begriff der »Kontrastharmonie« ins Spiel, der die Gefühlsmomente des »mysterium tremendum« untrennbar mit dem Moment des »fascinans«, dem Erleben des unabweisbar Anziehenden und Erhebenden verbindet. Das Unterscheidungserlebnis der »Scheu« erzeugt bei Otto demnach beides zugleich: Abstoßung und Anziehung. Das Erlösende, das erhebende und anziehende »fascinans« hat im Erleben der »Scheu« die gleiche Wurzel wie das die eigene Nichtigkeit erkennende »Kreaturgefühl«. So abdrängend und befremdend das numinose Erleben des »mysterium tremendum« auch sein mag  – es ist immer zugleich von unabweisbarer, beseligender Anziehungskraft, die Otto als »adhaeresis« bezeichnet, als »den Frieden der über alle Vernunft ist.«15 Die Grundgestalt religiösen Erlebens, wie Otto sie in vielfacher Weise beschreibt und analysiert, bedeutet also Verlorenheitsbewusstsein und Erlösungsbewusstsein zugleich: »Daß dieses geheimnisvoll-Scheubare, dieses fremde Unnahbare ›im Himmel‹ zugleich selber heimsuchend nahender Gnadenwille sei: dieser aufgelöste Kontrast erst macht die Harmonie echten christlichen Grundgefühles aus. Und der hört sie falsch, der in ihr 15 Vgl.

DH23–25, 45 und im weiteren Zusammenhang zum »fascinans« DH23–25, 42 ff.

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Dritter Teil: Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«

nicht diese aufgehobene Septime immer nachklingen hört. Ja, gelegentlich können auch in Jesu Predigt noch Töne anklingen, die selbst noch von jenem seltsamen Erschauern und Grauen vor den Geheimnissen des Überweltlichen etwas spüren lassen von dem wir früher sprachen.«16

»Tremendum« und »fascinans« generieren im Erleben ein intuitives Gefühl für die Wahrheit dessen, was in der klassischen Dogmatik mit den Begriffen der Sünde und der Versöhnung ausgedrückt wird: Die Ferne und Fremdheit Gottes und zugleich seine allumfassende Nähe und Liebe. Aus diesem Grund konnte Otto im Kreuz Christi das vollendete Zeichen der Erlösung überhaupt sehen. Er erkannte im Kreuz nicht nur ein unübertroffenes Gleichnis oder Symbol für den Gedanken von Verlorenheit und Erlösung, sondern die Quelle eines jenem Gedanken zugrunde liegenden Erlebens von »tremendum« und »fascinans«. Der angerührte Hörer der Botschaft vom Kreuzesgeschehen kann demzufolge den hierin manifestierten Erlösungsgedanken im Gefühl intuitiv als wahr erkennen: »Und in der Verschlingung jener rationalen Momente seiner Bedeutung mit diesen irrationalen, in seiner Mischung des Offenbaren mit dem ahndevoll Unoffenbaren, der höchsten Liebe mit der schauervollen orgḗ des numen im Kreuze Christi hat das christliche Gefühl die lebendigste Anwendung der ›Kategorie des Heiligen‹ vollzogen und damit die tiefste religiöse Intuition hervorgebracht, die je auf dem Gebiete der Religionsgeschichte zu finden gewesen ist.«17

Jene Erlösungslehre als Erlösungserkenntnis im Gefühl erinnert besonders an Ottos lebenslange und intensive Auseinandersetzung mit der Theologie Martin ­Luthers. Gerade bei ­Luther wurde Otto jene notwendige Zusammengehörigkeit des Erlebens der »Scheu« mit dem Gefühl der »adhaeresis« deutlich, welches er gerne mit ­Luthers Metapher beschrieb, mit Gott »ein Kuche« zu werden. Die Pointe von Ottos Idee der Erlösung im religiösen Erleben ist damit folgende: Nicht ein singuläres oder isolierbares Einzelgefühl – womöglich das Moment des »fascinans« – ist nach seiner Auffassung der Erkenntnisgrund, der die christliche Botschaft von der Überwindung der Welt und der Erlösung im Reich Gottes als wahr erkennen und glauben lässt. Sondern es ist gerade das Zusammenwirken jenes anziehenden und erhebenden Moments mit dem Erleben der »Scheu«, das Otto als entscheidend erachtet. Erlösungsgewissheit geht demnach mit dem Unterscheidungserlebnis zwischen Welt und Gott, zwischen Nichtigkeit und Allmacht notwendig einher. Erlösungsbedürftigkeit als Sündenbewusstsein und Erlösungsgewissheit als Versöhnungsbewusstsein sind damit ein und dasselbe Geschehen. Mit der unmittelbaren Gefühlserkenntnis des schlechthin »Ganz anderen« in seiner Unterscheidung von der in sich ruhenden Kausalität der natürlichen Welt geht das Gefühl einher, mit jenem »Ganz anderen« gerade in diesem rätselhaften Unterscheidungserleben zutiefst verbunden, ja von ihm 16 DH23–25, 17 DH23–25,

104 (Hervorhebungen im Original). 200.

II. Angst und »mysterium tremendum« in ihrer Bedeutung für die Idee der Erlösung 425

umschlossen und aufgehoben zu sein. In dem Abgrund des Gefühls eigener Verlorenheit und Nichtigkeit öffnet sich zugleich und gerade hierin die Erkenntnis des jene Unterscheidung erst ermöglichenden und allumschließenden Grundes, die in traditioneller Terminologie als Gemeinschaft mit Gott beschrieben wird.18 Das Gefühl der »Scheu« und die Idee der Erlösung sind eins. (3) »Scheu« als Erlösung und ihr Verhältnis zur Angst. Wie ist von dem Gedanken des Unterscheidungserlebnisses und der Erlösung her nun das Phänomen der Angst theologisch zu deuten? Aus theologischer Sicht erwies sich die Angst bei Otto nicht als Grund und Anlass der Religion, sondern als Element ihres Gegenteils, nämlich als Funktion natürlicher Kausalität, die durch das numinose Gefühl gerade in ihrer Relativität und Profanität entlarvt wird. Angst steht demnach für die Grundsituation des »natürlichen Menschen«, wie sie Otto im Anschluss an ­Luther beschrieb, also für die Situation der in Sorge um sich selbst verkrümmten und in die Kausalität der Welt verstrickten Existenz. Damit ist Otto in bester Gesellschaft: Eine lange Tradition abendländischer Theologiegeschichte sah in der Angst des Menschen eine Erscheinungsform der Sünde. Insofern gilt die Angst als klassischer Begriff der theologischen Anthropologie, in der mit den Worten Wolfhart Pannenbergs gilt: »Angst ist die fundamentale Erscheinungsform der Sünde im menschlichen Selbstbewußtsein«.19 In etwas anderer Betonung und dennoch ganz ähnlich bezeichnet Gerhard Ebeling in seiner Dogmatik die Angst als »die entscheidende Sündenfolge« und

18 Die hier beschriebene dialektische Spannung hat möglicherweise auch Ernst Cassirer in seiner Philosophie der symbolischen Formen im Auge. Cassirer beschreibt hier anhand von Beispielen aus der Religionsgeschichte die Erkenntnis einer »Kluft«, die ebenfalls an eine Art Unterscheidungserlebnis im Spiegel religiöser Ausdrucksformen erinnert. Gerade in der Erkenntnis des Gegensatzes zwischen Mensch und Gott – einer fundamentalen Unterscheidungserkenntnis also  – wird demnach die Überwindungsgewissheit dieses Gegensatzes vergegenwärtigt. Vgl. hierzu Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen, Zweiter Teil, 271 (Originalpaginierung 283 f): »So erscheint auch in der Entwicklung des Gebets und des Opfers dies als das eigentlich Entscheidende: daß beide nicht nur als Medien erscheinen, die die Extreme des Göttlichen und Menschlichen miteinander vermitteln, sondern daß sie den Gehalt dieser beiden Extreme erst feststellen, daß sie ihn erst finden lehren. Jede neue Form von ihnen schließt einen neuen Gehalt des Göttlichen wie des Menschlichen und eine neue Beziehung zwischen beiden auf. Das Verhältnis der wechselseitigen Spannung, das sich zwischen beiden herstellt, gibt jedem von ihnen erst seinen Charakter und Sinn. So wird durch Gebet und Opfer nicht nur eine für das religiöse Bewußtsein von Anfang an bestehende Kluft geschlossen, sondern das Bewußtsein schafft diese Kluft, um sie sodann zu schließen: Es bringt den Gegensatz zwischen Gott und Mensch zu immer schärferer Ausprägung, um eben darin die Mittel zu seiner Überwindung zu finden.« (Hervorhebungen im Original gesperrt). 19  Pannenberg, Anthropologie, 147. Pannenberg orientiert sich hier insbesondere an ­Kierkegaard, wenn er die Angst im Kontext des Sündenbegriffs theologisch bestimmt als »Angst des um sich selber kreisenden Ich« (vgl. ebd.). Ausführlicher zur Pannenbergs Verhältnisbestimmung von Angst und Sünde vgl. Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. II, 266–290.

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Dritter Teil: Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«

als »eine der verheerendsten Konkretionen menschlicher Sünde«, durch die »die Macht des Bösen ermuntert und ermächtigt wird«.20 Damit fungiert die Angst in theologischer Perspektive als Gegenteil von Erlösung. Sie gilt als Inbegriff dessen, was der Begriff Sünde meint, nämlich als unabänderlich zur menschlichen Existenz gehörende Selbstbezogenheit und Gottesferne. Nicht zuletzt im Hinblick auf Ottos Unterscheidung von Angst und »Scheu« leuchtet diese theologische Charakterisierung der Angst als Erscheinungsform der Sünde unmittelbar ein. Jedoch ist damit nicht geklärt, welche konkrete Bedeutung der Angst damit im praktischen Leben und Vollzug der Religion zukommt. Nicht nur im Kontext der Seelsorge stellt sich die Frage, was es denn heißt, dass die Angst Erscheinungsform der Sünde ist und welche Folgen diese Erkenntnis für den konkreten Umgang mit der Angst hat. Wie schlagen sich die bisher entfalteten Überlegungen zur theologischen Bedeutung der Angst in der religiösen Wirklichkeit und in der individuellen Frömmigkeit nieder? Interessant ist diese Frage besonders deshalb, weil die Angst seit der Moderne als Schlüsselbegriff kultureller Gegenwartsdiagnosen gilt. So einleuchtend es den bisherigen Überlegungen zufolge ist, dass die Religion aus theologischer Perspektive kein bloßes Mittel zur Heilung oder Bewältigung der Angst darstellt, so ist hieraus nicht zwangsläufig zu schließen, dass die Religion keine grundlegende – auch lebenspraktische – Bedeutung für den Umgang mit der Angst und für ihre Deutung hat. Die christliche Seelsorge und umso mehr die Vielfalt der Frömmigkeitsstile, wie sie sich nicht nur in der Geschichte, sondern auch in der Gegenwart zeigt, führen eindrücklich vor Augen, dass die allzumenschlichen Ängste der Menschen einen festen Platz in der religiösen Praxis haben. Wie in der individuellen Frömmigkeit beispielsweise das Gebet ein zentraler Ort des religiösen Umgangs mit der Angst ist, so kann besonders die religiöse Artikulation und Bewältigung der Angst im Kirchenlied als eindrücklicher und zahlreich belegter Aspekt der christlichen Frömmigkeitsgeschichte gelten. Ottos Begriff des »Kreaturgefühls« ließ bereits erahnen, dass das dahinter stehende Unterscheidungserlebnis fundamentale Folgen für das Selbstbewusstsein des Menschen hat. Veranschaulichen lässt sich dies an den Gefühlsmomenten des »Kreaturgefühls« selbst. Der Erlebende gewinnt aus der »Scheu« das Gefühl schlechthinniger Nichtigkeit und Wertlosigkeit seiner selbst. Das religiöse Erleben bedeutet in diesem Zusammenhang eine vollkommene Selbstrelativierung zugunsten der erlösenden Teilhabe und Vereinigung mit dem in der »Scheu« begegnenden »Numinosen«. Jene Relativierung betrifft jedoch nicht nur den Menschen selbst als Individuum, sondern auch alle ihn bestimmenden und seine natürliche Existenz ausmachenden Faktoren: seinen Willen, seine Emotionen, 20 Vgl.

Ebeling, Dogmatik des christlichen Glaubens, Bd. II, 546.

II. Angst und »mysterium tremendum« in ihrer Bedeutung für die Idee der Erlösung 427

seine Ängste und schließlich die gesamte Kausalität der Welt überhaupt. Religiöses Erleben meint auf der Linie Ottos also strenggenommen nicht nur das Gefühl der Selbstrelativierung, sondern der Weltrelativierung. Die im Gefühl erkannte Durchbrechung der kausalen Welt auf einen letzten, sie umfassenden und aufhebenden Grund hin, lässt die Welt eine andere werden. Freilich bleibt auch der religiöse Mensch weiterhin in die Kausalität der Welt verwoben, jedoch erscheint sie ihm nun in einem neuen Licht. Die Welt ist im Zuge des Unterscheidungserlebnisses nicht mehr länger die alles bestimmende abgeschlossene Wirklichkeit und Letztgültigkeit menschlichen Lebens, sondern zeigt sich nun als relativer und fragmentarischer Teilaspekt der Wirklichkeit, der auf den allumfassenden göttlichen Grund hin transparent wird. Die Angst als ein wesentlicher Teil der weltlichen Kausalität ist von dieser Relativitätserkenntnis im Unterscheidungserlebnis mit betroffen. Auch die Angst erscheint dem religiösen Menschen – so sehr sie weiterhin sein Leben bestimmen mag – in jenem neuen Licht der Relativität und Vorläufigkeit. Die religiöse Weltsicht nimmt der Angst den Schein, die alles bestimmende Wirklichkeit der Welt zu sein, die Denken und Handeln durchzieht. Dies kann im Einzelfall auch heißen, sich im Glauben von seinen Ängsten – auch von der Todesangst – befreit zu fühlen, obwohl und gerade weil sie noch vorhanden sind.21 Die Folge des im Anschluss an Otto beschriebenen Unterscheidungserlebnisses und seiner Wiedererkenntnis in der Idee der Erlösung ist also ein Relativierungsgeschehen, das die ganze Welt und damit besonders auch die sie bestimmende Angst entlarvt und entzaubert. Angst ist nun  – wie die von ihr durchwaltete Welt – nicht mehr länger ein vermeintlich transzendentales Weltprinzip der Lebensangst, sondern nur ein relativer Aspekt der natürlichen Kausalität und ihrer Verstrickung. Jakob Wilhelm Hauer hat diesen Gedanken in ganz ähnlicher Weise in Worte gefasst und dabei deutlich Bezug auf Rudolf Otto genommen: »Die Religion als Erlebnis stellt sich dar als ein Berührtwerden oder Ergriffensein von einer übernatürlichen Macht unter starken Gefühlen der menschlichen Nichtigkeit, der Scheu und Ehrfurcht, Erhobenheit und Seligkeit. Diese Macht wird als höchste Wirklichkeit erlebt; Im Erlebnis selber ist Gewissheit und Wahrheit unmittelbar gegeben; es führt den Menschen hinein in eine geheimnisvolle Verbundenheit mit jener Macht, der er nur schwer entgehen kann, und die den Beginn eines neuen Lebensprozesses ausmacht. Er wird erlöst von der Weltangst, sein Selbst wird gestärkt, gesteigert und erhöht, er erhebt sich zu den Hochgefühlen unbedingter Kraft und unbedingten Wertes.«22

21 Als

Beispiel sei in diesem Zusammenhang verwiesen auf die in der protestantischen Kirchenmusik und Frömmigkeit überaus wirkmächtigen und berühmten Zeilen Paul Gerhardts: »Wenn ich einmal soll scheiden,/ so scheide nicht von mir, / wenn ich den Tod soll leiden,/ so tritt du dann herfür;/wenn mir am allerbängsten/ wird um das Herze sein, / so reiß mich aus den Ängsten/kraft deiner Angst und Pein.« (vgl. Evangelisches Gesangbuch, Nr. 85. Strophe 9). 22 Hauer, Die Religionen, 45.

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Dritter Teil: Das Verhältnis von Angst und »mysterium tremendum«

Setzt man – wie auch von Otto selbst intendiert – die klassischen theologischen Termini der »Gottesfurcht« oder des »Zornes Gottes« für den hier beschriebenen Relativierungsvorgang im religiösen Unterscheidungserlebnis ein, lässt sich der Grundgedanke der Erlösung als Weltrelativierung in der Theologie‑ und Religionsgeschichte weit zurückverfolgen. Er ließe sich auf die Formel bringen: Die Gottesfurcht relativiert die Weltangst – das religiöse Erleben durchstrahlt und überstrahlt das kausale Welterleben.23 Auch der bereits erwähnte und für das Verhältnis von Angst und Religion immer wieder herangezogene Passus in Joh 16,33 scheint jene Verbindung von der Entmachtung und Relativierung der Angst durch die Relativierung und Überwindung der Welt widerzuspiegeln.24 Lebenspraktische und ethische Folgen dieses religiösen Erkenntnisvorgangs bleiben womöglich nicht aus. Die im religiösen Gefühl erahnte Relativität der Angst verändert nicht nur die Sicht auf die Angst selber, sondern möglicherweise auch auf den Umgang mit ihr. Die religiöse Ergriffenheit von der Relativität der Angst und der Durchbrechung ihrer Macht lässt zumindest die Möglichkeit zu, das eigene Leben und Handeln der Angst nicht vollends zu unterwerfen. Die lebenspraktische Wirkung der Religion und ihrer Erlösungsbotschaft ist damit nicht die Heilung oder Verdrängung der Angst, sondern geradezu das Gegenteil: ihre mutige Bejahung. Es handelt sich hier im Grundsatz um jenen Gedanken, den Paul Tillich als den »Mut zum Sein« bezeichnet hat. Gerade in der Angst und ihrer Bejahung bewährt sich der christliche Erlösungsglaube, der sich im Erleben eigener Nichtigkeit gegenüber dem »Ganz anderen« als religiöses Unterscheidungserlebnis erhebt.25 Die Angst wird besonders seit der Moderne als ein geradezu grundlegender hermeneutischer Schlüssel zur Selbst‑ und Weltdeutung menschlichen Lebens angesehen. Gerade hierin besteht die unmittelbare Nähe und zugleich die grundsätzliche Differenz zur Idee des »mysterium tremendum«. Der Gewinn des Angstbegriffs für die Religion und besonders für die Theologie der Gegenwart scheint demnach zu sein, die Ausdrucksformen religiösen Erlebens im Lebensgefühl der Menschen zu verankern und dennoch zugleich auch in ihrer Artbesonderheit deutlich und nachvollziehbar zu machen. Damit wäre die Angst theologisch als ein Abbild des Begriffs der Sünde und der Idee der Verlorenheit im Kontext profaner Kultur zu verstehen, das mit dem religiösen Erleben selbst 23 Vgl. hierzu die luziden historiographischen Ausführungen von Andreas Bähr zum Gedanken der Überwindung der Angst durch Gottesfurcht als Grundmotiv in der frühen Neuzeit und insbes. im Zeitalter des Barock in: Bähr, Welt=Angst (Onlineausgabe). 24 Vgl. hierzu die Deutung von Joh 16,33 bei Otto Haendler, der ganz ähnlich argumentiert, indem er schreibt, die Angst werde im Glauben nicht gemindert, sondern vielmehr »gewandelt« und »gelöst« (Haendler, Angst und Glaube, 164). 25 Vgl. hierzu Tillichs berühmtes Schlusswort aus Der Mut zum Sein: »Der Mut zum Sein gründet in dem Gott, der erscheint, wenn Gott in der Angst des Zweifels untergegangen ist« (Tillich, Der Mut zum Sein, 139, kursiv im Original).

II. Angst und »mysterium tremendum« in ihrer Bedeutung für die Idee der Erlösung 429

in einem regelrechten Korrelationsverhältnis steht. Otto sprach in diesem Zusammenhang von dem Phänomen der »Gefühlsgesellung«: Ebenso wie das Unterscheidungserlebnis der »Scheu« danach drängt, sich an natürliche Formen, Orte und Symbole zu heften, sich – wie Otto es ausdrückte – in den Bereich des Natürlichen »abzusenken« und dem Phänomen der Angst anzunähern, so vermögen im Gegenzug Emotionen der Angst das religiöse Gefühl des Menschen förmlich anzuregen, um sich dann schließlich umso deutlicher von ihm zu unterscheiden. Wenn es wahr ist, dass es sich bei der gegenwärtigen Krise des Christentums in Europa maßgeblich um ein »Darstellungsproblem« handelt,26 genauer, um einen Plausibilitätsverlust der religiösen Darstellungsformen, dann kann die Unterscheidung von Angst und »mysterium tremendum« damit geradezu als ein Paradigma zur Analyse dieses Problems fungieren. Die Kritik und Neugenerierung religiöser Darstellungsformen kann nur dann den religiösen Nerv des Christentums treffen, wenn sie sich auf das Unterscheidungserlebnis in und hinter den Ausdrucksgestalten der Frömmigkeit in Tradition und Gegenwart zu besinnen versteht. Gleichwohl das religiöse Erleben die Angst als profane Emotion entlarvt und relativiert, steht die Angst gerade hierin mit dem Erleben der »Scheu« und dem sich aus ihr erhebenden Unterscheidungs‑ und Erlösungsgeschehen in einem besonderen Verhältnis. In der Angst und ihrer Relativierung im Erleben der »Scheu« wird an einer der mächtigsten Emotionen des menschlichen Lebens greifbar und als Gleichnis in der Kultur abbildbar, was der auf die ganze Welt und ihre Überwindung abzielende Erlösungsgedanke meint.

26 Vgl. das jüngst von Thomas Erne vorgetragene Plädoyer zum »Darstellungsproblem der christlichen Religion« in Erne, Hegels These vom Ende der Kunst, 201–216.

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Literaturverzeichnis

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Vita zum 1. Examen, in: Rudolf Otto Archiv, Universitätsbibliothek Marburg, Signatur: Hs. 797:582 (transskribiert von Martin Kraatz). Verzeichnis der Vorlesungen auf der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen während des Sommerhalbjahrs 1891, Göttingen 1891 Verzeichnis der Vorlesungen auf der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen während des Sommerhalbjahrs 1899, Göttingen 1899. Verzeichnis der Vorlesungen auf der Georg-Augusts-Universität zu Göttingen während des Sommerhalbjahrs 1901, Göttingen 1901. Verzeichnis der Vorlesungen an der Schlesischen Friedrich Wilhelms-Universität zu Breslau im Sommer-Semester 1917/18, vom 16. April 1917 bis 15. August 1917, Breslau 1917. Verzeichnis der Vorlesungen an der Schlesischen Friedrich Wilhelms-Universität zu Breslau im Winter-Semester 1917/18, vom 17. September 1917 bis 2. Februar 1918, Breslau 1917. Zeugnis zum Abgang von der königlich Bayerischen Friedrich-Alexanders Universität Erlangen, Verzeichnis der Vorlesungen (Wintersemester 1889/90 bis Wintersemester 1891/92), in: Universitätsarchiv der Universität Göttingen, Akte Rudolf Otto 1898, Signatur: Theol. Prom. 0136, 35–36.

Namensregister Abaelard 82 Ackroyd, Peter  338 Adler, René  68 Ahrens, Jörn  16 Albertz, Jörg  14, 16 Albrecht, Christian  129 Alewyn, Richard  21, 39 Alkier, Stefan  286 Alles, Gregory  101, 105 f, 118, 121–123, 132, 300, 302, 342, 367 Almond, Philip  100, 102–104, 106, 118, 134, 301 Apelt, Ernst Friedrich  271, 380 Apfelbacher, Karl-Ernst  130, 135 Aristoteles  45, 164 Arndt, Johann  147, 166 Arnim, Hans von  190 Arnold, Gottfried  166 Asendorf, Ulrich  179 Assel, Heinrich  141, 181, 191 Assisi, Franz von  215 Assmann, Jan  78 Auden, Wystan Hugh  37 f, 40 Augustinus  3, 82–84, 141, 215, 305, 349, 421 Avila, Theresa von  168 Aylesworth, Gary  31 Baars, Bernard  18 Baetke, Walther  384, 386 Baeyer, Walter von  12 f, 20, 23 f, 26, 28, 33, 42, 95, 256, 340, 385 Baeyer-Katte, Wanda von  12 f, 20, 23 f, 26, 28, 33, 42, 95, 256, 340, 385 Bähr, Andreas  22, 34, 39, 52 f, 67, 79, 428 Balthasar, Hans Urs von  38, 41, 70, 74 Barlow, Nora  322 Barnes, L. Philip  295 Barth, Hans-Martin  310 f

Barth, Karl  75–78, 80, 126, 180, 182, 186, 368–370, 378 Barth, Roderich  138, 149, 179 f, 206, 209, 224 f, 233 f, 294, 296, 344, 361, 381, 386, 389 Barth, Ulrich  32, 36, 45, 53, 55, 141, 145, 152, 210, 223, 235, 270 f, 275, 291, 307, 327–329, 364 f, 381 Bayer, Joachim  186 f, 371 Becker, Eni  17 f Becker, Joachim  81 Begemann, Christian  52 f, 56 Beinhauer-Köhler, Bärbel  301 Bell, Daniel  30, 31 Benz, Ernst  43 f, 95, 97, 102, 138, 167 f, 180, 198 f, 241, 243, 301, 303, 355, 360, 366, 369, 374, 403 Bergengruen, Werner  38 Bergenholtz, Henning  23–25 Berkefeld, Mario  91 Berner, Ulrich  50 Bernstein, Leonard  38 Beth, Karl  340, 382 Beutel, Albrecht  164, 202 f Beyer, Gudrun  285, 360 Beyschlag, Karlmann  107, 109, 115 Biser, Eugen  71 Bitter, Wilhelm  14, 38 Blankenburg, Walter  20, 29 Blume, Michael  323 Blumenberg, Hans  94, 410 Boeke, Rudolf  100, 303 Böhme, Christian  51, 78 Böhme, Hartmut  20, 34, 37, 42, 45, 51, 53, 67, 392 Böhme, Jakob  20, 166, 270 f Bohren, Rudolf  14 Bonhoeffer, Thomas  69 Boozer, Jack  153, 199, 303, 361

462

Namensregister

Borchert, Wolfgang  38 Bornhausen, Karl  271 f Bornkamm, Heinrich  151, 181, 185 f, 190 Bosbach, Franz  14, 19 Bourke, Joanna  9, 33 Bousset, Wilhelm  130, 139, 165 Bovet, Theodor  38, 69, 74, 385 Braeunlich, Hans  130 Brandes, Albert  129 Brück, Michael von  369 Brüggemann, Romy  79 Brunner, Emil  38, 41, 72, 131, 185 Bücheler, Franz  43 Büchner, Karl  48 Büchner, Ludwig  60 f Bultmann, Rudolf  115, 131, 157–159, 265, 285, 360, 362, 366, 368 f, 378 f, 382, 420 Buntfuß, Markus  21, 217, 240, 287 Burkert, Walter  43, 317 Busch, Eberhard  370 C. G. Jung-Institut Zürich  14, 38 Camus, Albert  38 Canetti, Elias  9 Capps, Donald  103 f, 301 Carus, Julius Viktor  322 Cassirer, Ernst  91, 376, 425 Chrysostomus, Johannes  129, 164, 305, 348 f Claß, Gustav  335 Clemens von Alexandrien  46 Coe, David  19 f, 24, 26, 75, 83, 294, 296, 372, 374, 421 Colpe, Carsten  370, 386, 391 Condrau, Gion  39 Conrad, Horst  21 Danz, Christian  361, 372, 380 Danzer, Gerhard  65 Darwin, Charles  17, 19, 261, 299, 308–315, 319–326, 335, 387, 398 Darwin, Emma  324 Dawkins, Richard  61 De Wette, Wilhelm Martin Leberecht  271 Degenhardt, Ingeborg  180 Delumeau, Jean  22, 34, 39 f, 51 f, 79 Demmerling, Christoph  11, 20, 24, 36 Demokrit  47, 50, 62

Dennert, Eberhard  311 Dennet, Daniel  61 Deuser, Hermann  377 Diederich, Eugen  155, 245 Diefendorf, Elizabeth  59 Diels, Hermann  46 f Dietz, Thorsten  26, 70, 83, 107, 137–139, 141, 143, 147, 154, 162, 165, 168, 172, 179–181, 185, 192, 195–197, 199, 301, 331, 349, 418 Dilthey, Wilhelm  32, 210 Dinzelbacher, Peter  22, 34, 40, 51 f, 63, 79, 83 Ditfurth, Hoimar von  12 Dodds, Eric  40, 78 Dole, Andrew  206, 208, 222 Drehsen, Volker  185 Drescher, Hans-Georg  129 f Drewermann, Eugen  70, 73 Duby, Georges  22, 79 Durkheim, Émile  65 f Düsing, Edith  20 Ebeling, Gerhard  164, 194, 201 f, 425 f Eckhart,  Meister 166–168, 179 f, 228, 232 f, 270, 403 Ehrenberg, Alain  16 Eichhorn, Albert  149 Eifler, Günter  14 Eisenberger, Herbert  47 Elert, Werner  95, 106–108, 110, 182, 186–190, 204, 256, 342, 371, 374, 413 Eliade, Mircea  84 Ellis, Etienne  81 Engels, Eve-Marie  321 Epikur  47–50, 54, 56, 60, 62 Erikson, Erik  103 f, 192 Ermann, Michael  15 Erne, Thomas  287, 429 Evang, Martin  115, 360 Faller, Hermann  14, 21, 34, 40 Feigel, Friedrich  272, 295 f, 380, 382, 386, 401 Feldmann, Stephan  105, 120, 124, 131, 141, 147, 149 f, 165, 183 Feldmeier, Reinhard  82, 270, 355, 363 Feldtkeller, Andreas  393

Namensregister

Feuerbach, Ludwig  61–63, 410 Figal, Günter  31 Fink-Eitel, Hinrich  21, 24 Finstuen, Andrew  41 Fischer, Hermann  126 Fischer, Johannes  14 Flöttmann, Holger Bertrand  15 Forell, Birger  300 Frank, Franz Hermann Reinhold von  106–117, 119, 123, 132, 150 f, 184–187 Franke, Ursula  235 Frankl, Viktor  65 Frazer, James George  65, 87, 332 f Freud, Sigmund  17 f, 25, 35, 64 f, 69 f, 384 Frick, Heinrich  93 f, 120, 134, 198, 204, 303, 306, 358, 367 Fries, Jakob Friedrich  159, 229, 245, 271, 284, 302, 316, 336, 344, 380 Fröhlich, Werner  40 Fromm, Erich  65 Gäbler, Ulrich  14 Gadamer, Hans-Georg  20 f, 379 Gebsattel, Viktor Emil von  33–35, 74, 385 George, Stefan  217 Gerhardt, Paul  427 Gerlach, Alf  65 Geyser, Joseph  382 Gibbons, Alan  295 Gigon, Olof  47, 50 Girgensohn, Karl  382 Gladigow, Burkhard  43 Gloël, Johannes  114 Goethe, Johann Wolfgang von  230, 252, 256 f, 261, 284, 292, 299, 308, 310 f, 313, 315–319, 324, 326, 398 Gogarten, Friedrich  131, 368 Gooch, Todd  104, 313, 315, 377 Graf, Friedrich Wilhelm  112 Graf, Louis Gerhard  327 Greinacher, Norbert  14 Greschat, Hans-Jürgen  300, 301 Grimm, Jacob und Wilhelm  27, 137 Gripentrog, Stephanie  327 f, 335 Grom, Bernhard  314, 383 Grøn, Arne  24, 377

463

Gruehn, Werner  382 Gründer, Karlfried  52 Habermas, Jürgen  10–13, 29, 32, 37 Hackmann, Heinrich  105, 130, 133, 300, 326 Haeckel, Ernst  61, 309, 311, 313 Haendler, Otto  34, 38, 74, 374–376, 413, 428 Haering, Hermann 124, 126 Häfner, Heinz  26 Hamm, Berndt  137, 168 Han, San-Youn  240 f, 379 Häring, Theodor (von)  119 f, 124–129, 131, 134, 147, 165, 183, 242 Harleß, Adolf Gottlieb Christoph von 113 Harnack, Adolf von  120, 140 f, 149, 185, 205, 294, 400 Harnack, Theodosius  108, 113, 162, 184–187 Hartmann, Nicolai  112, 361, 431 Hartung, Marianne  65 Harvey, John  227, 332 Hauber, Reinhard  108, 186, 188 Haubold, Wilhelm  140 Hauer, Jakob Wilhelm  100, 102, 126, 341 f, 352, 366, 391, 401, 427 Hauptmann, Gerhard  38 Hecker, Max  317 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich  31 f, 221, 415 Heidegger, Martin  3, 11 f, 20 f, 24, 240 f, 248, 251, 253, 264 f, 287, 360, 376–380, 401 Heiler, Friedrich  205, 301, 303, 391 Hein, Martin  106, 107, 116 Heitmüller, Wilhelm  130 Henning, Christian  382, 384 Henrich, Dieter  36 Hermanni, Friedrich  418 Herodot 46 Herrmann, Wilhelm  149, 206, 210, 233, 237–239 Hesiod  45 f Hiery, Hermann Joseph  38 Hiob  94, 163, 326, 377, 402 Hippius, Hans  17

464

Namensregister

Hirsch, Emanuel  114 Hisamatsu, Eiji  386 Hitchens, Christopher  61 Hitzer, Bettina  10, 15 Hobbes, Thomas  54 Hoffmann, Ernst  21, 217 f Hofmann, Frank  140, 151, 182, 184 Hofmannsthal, Hugo von  33, 38 Holbach, Paul Henri Thiry d’  55 f Holl, Karl  120, 127, 179–181, 185 f, 191 Hölscher-Lohmeyer, Dorothea  317 Holtzmann, Heinrich Julius  118 Homer 46 Hossenfelder, Malte  47–49 Huch, Ricarda  186 Hume, David  54–56, 321, 336 Hunzinger, Wilhelm  82 f, 413 Husserl, Edmund  376, 379, 381 Hüther, Gerald  15, 17 Huxel, Kirsten  24, 365, 418 Jaeger, Werner  46, 51 James, William  103, 224, 335, 387 Janta, Bernhard  18 Jaspers, Karl  11–13, 20, 22, 376, 380 Jenni, Ernst  78 Jens, Walter  21 Jesaja  81, 112, 148, 230, 260, 307, 326, 420, 422 Jesus Christus  69, 72 f, 76 f, 121, 183 f, 197, 203, 230, 284–286, 355–358, 404, 418 Joas, Hans  32, 67, 295, 381, 391, 431 Johannes vom Kreuz  270 Johannsen, Dirk  96, 256, 390 f Jülicher, Adolf  358 Jung, Carl Gustav  69, 96, 103, 384 f Käbisch, David  336 Kafka, Franz  33, 38 Kahl, Heinrich  234, 236 Kähler, Martin  120, 126 Kant, Immanuel  56, 60, 115, 154, 229, 270–272, 278, 289, 380, 392, 394 Kastl, Johann von  167 Kattenbusch, Ferdinand  129, 151, 200, 245, 300, 308 Keller, Fritz  33, 38

Kierkegaard, Søren  3, 12, 20 f, 23 f, 35–37, 95, 237, 241, 248, 265, 296, 374, 376–378, 380, 425 Kisser, Thomas  14 Klein, Helmfried  17 Kneppe, Alfred  78 Knoke, Karl  118 Koch, Lars  11, 14, 19, 21, 39, 75 Kolde, Theodor von  114, 150 Köller, Wilhelm  318 Kopp, Eduard  269 Korsch, Dietrich  31, 189, 199 Körtner, Ulrich H. J.  14, 39, 74, 418 Koslowski, Peter  418 Kraatz, Martin  101, 302, 342, 366, 368, 378, 390, 401 Kraft, Heinrich  82 Krämer, Felix  21 Kranz, Walther  46 f Kraus, Hans-Joachim  51 Krautz, Hans-Wolfgang  47 Kreimendahl, Lothar  55 Krohne, Heinz Walter  15, 17 f Krüger, Gerhard  47 Künzli, Arnold  35, 38 Küssner, Karl  100 f Lactantius / Laktanz  1, 82, 164 Lagarde, Paul Antonde  118 Lamarck, Jean-Baptiste  261 Landweer, Hilge  11, 20, 24, 36 Lang, Hermann  14, 21, 34, 40, 96 Lange, Friedrich Albert  60 Larsen, Johannes Anker  342 Laube, Martin  118, 120, 129 f, 272, 355 Laubscher, Matthias  392 Lauer, Gerhard  53 Lauster, Jörg  234, 236, 269, 355, 360 f, 431 Le Fort, Gertrud von  38 Lecouteux, Claude  22, 79 Leppin, Volker  168, 199 Lessing, Eckhart  126, 132 Leyhausen, Paul  17 Linde, Gesche  382 Lipsius, Friedrich Reinhard  327 Loader, James Alfred  81 f Loewenich, Walther von  168, 179 f, 185 Löffler, Ulrich  53

Namensregister

Löhr, Gebhard  51, 78 Lombardus, Petrus  141 Loofs, Friedrich  149 Löwith, Karl  36, 378, 401 Lucretius, Titus/Lukrez  43, 48–50, 59 f Ludwig, Bernd  54 Luhmann, Niklas  40 Lütgert, Wilhelm  137 Luther, Martin  20, 27, 82 f, 94 f, 97, 99, 103 f, 107, 112–114, 127 f, 130, 135–205, 208, 210 f, 215, 219, 226, 228, 239, 242–244, 249, 254, 259, 268, 270, 286, 289, 292, 294, 302 f, 315, 344, 354, 357, 364, 371, 375, 377 f, 387 f, 394, 397, 399, 403, 413, 415, 419, 424 f Mann, Thomas  38 Mansfeld, Jaap  45–47 Marett, Robert Ranulph  65, 87, 277, 332 f Mariña, Jacqueline  206 Marx, Karl  62 f Matern, Harald  107, 301, 361 May, Rollo  19, 33 f, 38, 65 Mayr, Ernst  320, 324 McDougall, William  335 Meier, Heinrich  32 Mensching, Gustav  233, 303 Meyer, Guido  15 Michaels, Axel  22, 51, 66 f, 86, 95, 391, 392 Miller, Arthur  38 Minney, Robin  138, 199–201, 208 Möde, Erwin  14, 39, 71 Mok, Daniël  100, 106 Moleschott, Jakob  61 Moore, James Richard  320, 322 Morgenthaler, Christoph  65, 70 Moser, Tilmann  65 Müller, Konrad  43 Müller, Peter  137 Müller, Wolfgang  71, 365 Münch, Karsten  18 Nase, Eckart  65, 69 Nelson, Leonard  271 Neumann, Johannes  68 Nietzsche, Friedrich  12, 32, 35–37 Nilsson, Martin Persson  44

465

Noth, Isabelle  65, 70 Novalis/Hardenberg, Friedrich von 213, 215, 217 f Nowak, Kurt  190 f, 217 Oesterle, Günter  235 Osterhammel, Jürgen  30 f Osthövener, Claus-Dieter  206, 209, 401 Ott, Heinrich  75 Pannenberg, Wolfhart  23, 425 Parker, Theodore  338–340, 342 Pascal, Blaise  20 Paus, Ansgar  272, 380 Pedersen, Esther Oluffa  376 Peetz, Katharina  309 Petronius, Titus  43–45, 50, 52–56, 60 f, 67–69, 78, 80, 88 Pfister, Oskar  38, 65, 68–70, 88, 95, 138, 196, 384 Pfleiderer, Georg  190, 272, 295, 361, 386 Plath, Siegfried  81 Platon  164, 281, 313, 354 Pöll, Wilhelm  382 f Praz, Mario  21 Prenter, Regin  152, 179 Pünjer, Georg Christian Bernhard  208 Rachman, Stanley  25 Rade, Martin  300 Rahlfs, Alfred  130 Rapp, Christof  46 Ratschow, Carl Heinz  99, 102, 124, 131, 294, 300, 302 Rattner, Josef  65 Ratzinger, Joseph / Benedikt XVI  376 Reemtsma, Jan Philipp  31 Reichardt, Rolf  190 f, 194 Reich-Ranicki, Marcel  218 Reischle, Max  149 Rendtorff, Trutz  32 Rengstorf, Karl Heinrich  52 Richmond, James  131 Richter, Cornelia  376 Richter, Liselotte  38 Rickert, Heinrich  219, 376, 388 f Ricœur, Paul  294, 296 Riemann, Fritz  19, 26

466

Namensregister

Ries, Wiebrecht  33 Rilke, Rainer Maria  38, 217 Rippl, Daniela  14 Ritschl, Albrecht  105, 109, 115 f, 119–121, 123–129, 131, 133 f, 140–142, 147, 149–151, 162 f, 165, 180–186, 189, 191, 203, 208, 239 Ritter, Gerhard  182, 190–194, 199 Rohls, Jan  311, 314, 320, 371 Rolland, Romain  64 f Rosa, Hartmut  32 Rozelaar, Marc  50 Rupprecht, Rainer  15 Ruskin, John  338–340, 342 Russell, Bertrand  58 f Saame, Otto  14 Śankara/Shankara 233 Sartre, Jean-Paul  20, 26, 38, 376, 380 Schäfer, Rolf  124 f, 128, 185 Scharfenberg, Joachim  65 Schäufele, Wolf-Friedrich  138, 168, 180 f, 190, 192 f Scheler, Max  376 Scheliha, Arnulf von  208 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph  20, 36 Schilling, Werner  384 Schinzer, Reinhard  100–102, 105, 117–119, 125, 272 f, 276, 300, 303 Schlamm, Leon  295 Schlatter, Adolf  120 Schlechta, Karl  14, 21 Schlegel, August Wilhelm  215 Schlegel, Friedrich  215 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst  97, 99, 104, 106 f, 109, 112, 114, 121, 124, 130, 135 f, 154, 182 f, 195, 205–234, 236–244, 247, 249, 251 f, 259, 264, 282–284, 286, 289 f, 292, 294, 302, 309, 314, 316, 336–338, 354, 364, 394, 397, 399, 403, 415 Schlesier, Renate  63, 95, 392 Schlösser, Anne-Marie  65 Schluchter, Wolfgang  36 Schmidt, Alfred  57 Schmitz, Hermann  381 Schneider, Peter  14 Schneider-Flume, Gunda  39, 64, 70, 73

Schnitzler, Arthur  38 Schnyder, Bernadette  20 Schoene, Wolfgang  36 Schoetensack, Otto  312 Schopenhauer, Arthur  56–58, 73, 112 Schröder, Winfried  43 f, 46, 51, 55 f Schultz, Anna  123 Schultz, Hermann  14, 105, 116 f, 119–124, 129, 131 f, 134, 149, 150 f, 165, 271 Schulz, Heiko  95, 166, 270, 374 Schulz, Walter  20, 36 Schulze, Winfried  30 Schüßler, Werner  372 Schütte, Hans-Walter  120, 124 f, 127 f, 130, 132, 134 f, 138, 140, 145, 148, 152 f, 157 f, 165, 183, 185, 189, 239, 270, 272, 275 f, 310, 327, 330, 332, 355, 357 f, 365, 370, 376, 381, 392, 400, 403, 421 Schwabe, Klaus  190 f, 194 Schwarzwäller, Klaus  73 f, 162 Schweitzer, Albert  120, 285, 359 Sedlmayr, Hans  33 Seeberg, Erich  168, 179 f, 186 Seeberg, Reinhold  106 f, 110, 112 f, 140, 150 f Selenka, Emil  311 Sextus Empiricus  47 Siegfried, Theodor  361 Simmel, Georg  32 Slenczka, Notger  79, 83, 106–113, 116, 119, 187 f, 371, 381 Smend, Rudolf  117 f, 120, 124 Smith, Arthur David  206, 208, 222 Söderblom, Nathan  332 Spener, Philipp Jacob  166 Spengler, Oswald  3, 21, 34 f, 186, 188, 341 f, 371, 380 Spiegel, Friedrich  114 Spira, Andreas  20, 45, 78 Springer, Anne  18, 65 Staehelin, Baltasar  71 Statius, Publius Papinius  43, 45 Stenglein-Hektor, Uwe  304–307 Stietencron, Heinrich von  14, 26, 43 f, 84–86 Strauß, David Friedrich  113 Strian, Friedrich  15, 17 Sundermeier, Theo  95

Namensregister

467

Tagore, Rabindranath  342 Tanaseanu-Döbler, Ilinca  50 Tauler, Johannes  168 Taylor, Charles  32, 67 Tennyson, Alfred  342 Tetens, Johannes Nikolaus  234 f Thales von  Milet 45 Theißen, Gerd  295, 383, 385 Thielicke, Helmut  72 f Thieme, Karl  149 Thimme, Friedrich Wilhelm Karl  133, 300 Thurneysen, Eduard  368 Tieck, Ludwig  215 Tiedtke, Marion  14 Tillich, Paul  26, 36–38, 40 f, 72, 74 f, 77 f, 80, 84, 158, 253, 283, 287, 342, 348, 371–374, 376, 382, 389, 413, 416, 421, 428 Trakl, Georg  38 Trautwein, Wolfgang  21 f Tribuljak, Tomislav  271 Trillhaas, Wolfgang  119, 184, 383 Troeltsch, Ernst  32, 120, 129 f, 135, 270–272, 275, 335 Tschackert, Paul  118, 150 f Turner, William  338 Tylor, Edward Burnett  65, 87, 332 f

Wach, Joachim  102, 180, 198, 240, 303 Wagner, Falk  106, 109, 115, 119 Wagner-Rau, Ulrike  68 Wandruszka, Mario  20, 22, 24–28, 34, 37 f, 43, 138, 194, 388 Weber, Max  11, 32, 36 Weger, Karl-Heinz  55 Weiss, Johannes  359 Welsch, Wolfgang  11, 31 Werfel, Franz  38 Wiefel-Jenner, Katharina  106, 181 Wiesbrock, Heinz  14, 19, 22, 24, 28, 38 Wiesinger, August  118 Willenborg, Hanno  96, 256, 295, 311, 320, 322, 325–327, 335, 342, 344, 382 f, 385–387 Williams, Tennessee  38 Winter, Friedrich Wilhelm  113, 150 Wittekind, Folkart  157, 360, 369 Wittkau-Horgby, Annette  60 f Wlosok, Antonie  82 Wuketis, Franz Manfred  320 Wülfing, Wulf  21 Wundt, Wilhelm  19, 65, 87, 245, 250, 272, 299, 326–335, 340, 343, 348, 398

Ulrich, Peter  122–124 Unger, Thorsten  53

Zelger, Manuel  133 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von  309, 335–338 Zubin, Joseph  38 Zulehner, Paul  35, 71 zur Mühlen, Karl-Heinz  168, 182 f Zweig, Stefan  38, 40

van der Leeuw, Gerardus  205 Vocelka, Karl  51, 53, 63, 79 Vogt, Carl  61 Voigt, Friedemann  361 Volkmann, Stefan  182–184, 186, 371 Voltaire 53

Xenophanes  46, 88

Sachregister Abendland  12, 21, 34–36, 40, 42, 83, 166, 270, 329, 409, 425 Aberglaube  41, 51, 60, 76, 183, 194, 281, 337, 489 Abgrund  21, 24, 33, 38 f, 72, 139, 162 f, 186, 217 f, 239, 242, 254, 293, 318, 372 f, 378, 415 f, 420 Absolutheit  68, 75, 80, 93 f, 114, 116, 128, 130, 151, 193, 197, 218, 221, 244, 247 f, 253, 258–260, 281, 309, 349, 369, 371, 390, 406 Affekt  5, 20 f, 25, 42, 62, 67 f, 89, 159, 196, 200 f, 217, 240, 243, 276, 287, 289, 316 f, 325, 331, 340, 344–346, 363, 384, 387 f, 393, 396, 409, 411 Ahndung  128, 159, 316, 336, 344 Ahnung  24, 89, 145, 157, 159 f, 176, 197, 200, 202, 287, 289, 361, 375, 377 f, 403, 415 f, 420 Altes Testament  80 f, 117, 122, 154 f, 268, 321, 412, 420 Ambivalenz  21, 29, 71, 131, 145, 162, 169, 181, 185, 194, 197, 204, 217 f, 255 f, 385, 399–401, 411 Analogie  75, 81, 88, 136, 196, 220 f, 229, 238, 244, 247–252, 258, 261–270, 283, 287, 292, 296 f, 304, 313, 319, 332, 352, 363, 368, 417, 421 Anamnesis  268, 283, 287, 349, 404, 422 Andacht  145, 213–220, 239, 266, 322, 336, 342 f, 370 Angst –– anxiety  19, 25 f, 33 f, 37 f, 54, 65, 72, 74 f, 78, 338 –– Heilung/Überwindung der Angst  15 f, 41, 68–77, 80, 196 f, 362, 375, 406 f, 419, 422 f, 426, 428 –– kollektive Angst  34–40, 52, 79, 83, 411

–– Lebensangst  12, 21, 36, 38, 69, 71 f, 96, 188, 201 f, 401, 407, 427 –– Primat der Angst  66 f, 86, 391 f –– Todesangst  47 f, 50, 201, 269, 331, 373, 417, 427 –– Weltangst  21, 35, 39, 91, 94, 193, 251, 254, 265, 297, 341 f, 351, 361, 379, 401, 410, 415, 427 f –– Zeitalter der Angst  10, 16, 30, 37–40, 59, 72, 409 Animismus 328–332 Antinomie  165, 191 f, 253 f Anschauung  281, 284, 289, 292 f, 299–316, 332, 335 f, 347, 349, 354 f, 361, 398, 403, 407, 411 Anthropologie  22 f, 33 f, 42, 45, 61, 73 f, 77, 79, 113, 152, 316, 337, 385, 406, 412, 425, Anthropomorphismus  46, 50, 55, 80, 204, 348 Aperçu  317 f Apologetik  73, 80, 82, 101, 105, 109 f, 116, 121–123, 150, 186 f, 245, 271, 280, 308 f, 370 f, 380 f Aporie  249, 370, 372, 402 Apperzeption  278, 317, 328 f, 333, 350, 405 Apriori/a priori  134, 246, 262, 270–298, 317, 319, 325 f, 330, 333 f, 336, 339, 344, 347, 351 f, 361, 365, 371, 379 f, 384, 386, 388, 391–397, 401, 405, 410, 416, 421, 423 Asien  281, 349 Ästhetik  213, 229, 301, 313, 323, 326, 339 f, 374, 397 Atomismus 47–50 Atheismus  41, 51, 55 f, 61 f, 68, 73, 76, 370, 381 Aufklärung  5, 21, 26, 30, 42, 44–78, 85 f, 91, 150, 215, 222, 235, 277, 280, 296 f, 308, 411, 418

470

Sachregister

Ausdruck  12, 25–29, 33 f, 37, 57 f, 61, 63, 75–89, 96, 99, 121 f, 130 f, 134, 145, 159, 163, 168 f, 176, 183, 194, 203, 217, 221, 243, 246, 253, 259, 265–269, 275–279, 283, 288–304, 325, 334, 340, 347, 349 f, 361, 369–373, 378 f, 393–429 Autonomie  31 f, 36, 41, 72, 96, 384 awe  87, 95, 250, 277, 332, 338 f Begabung  101, 208, 230, 396, 399 Bedrohung  21, 24 f, 28 f, 33, 39 f, 43, 47, 52, 62, 83 f, 89, 91, 162, 178, 194, 200, 217, 235–237, 243, 247 f, 264, 276, 288–291, 297 f, 318 f, 331, 339 f, 350, 353, 360 f, 407, 411, 416 f, 421 Bekehrung  77, 109 f, 125, 255, 304 Bekenntnis  94, 105–110, 114–116, 132, 134, 185, 198, 260, 337, 366 Bewusstsein  21, 31, 39 f, 44, 52, 83, 109– 116, 121 f, 127, 131, 137–139, 146–151, 158 f, 183, 186–190, 196 f, 204 f, 210, 217, 225, 230, 239, 242, 259, 271, 283, 285, 290 f, 328, 341, 349, 354, 358, 384, 387, 391, 397, 412, 420, 423 f, 426 –– religiöses Bewusstsein  109 f, 146, 271, 290, 397 Bibel  5, 69 f, 81, 91, 119, 173, 257, 259, 268 f, 356, 369, 376, 418, 420 –– Hl. Schrift  107–110, 114 f, 118 f, 121, 145, 173, 281, 363 Bild  46, 71, 85, 90, 102, 104, 110, 125, 151, 171, 175, 181, 189, 210, 217, 253, 262, 268, 278 f, 288, 291, 301 f, 304, 314, 329, 331, 334, 340, 344, 348, 358, 377, 385, 393, 403, 406, 415, 423 Biographie  99–105, 110, 113, 137 f, 150, 182, 190–199, 285, 300–303, 320, 322, 324, 342 Biologie  15–17, 22, 51, 66 f, 86, 312–314, 319, 360, 384, 391 f Christologie  120, 202, 230, 284, 355–357, 360–362, 369 Dämonische, das/dämonisch  218, 252– 255, 260 267 f, 270, 277–279, 281–284, 295, 315, 348

Darstellung  33, 117, 127, 231, 246, 266 f, 292, 294 f, 334, 336, 338, 349, 381, 402, 429 Deismus  53, 55 f, 142 Demut  127, 146, 216, 218, 228, 231, 238 f, 291 Deszendenz  312, 320 Deutung –– theologische/ religiöse Deutungen der Angst  6 f, 28, 41, 53, 66, 68, 79, 83, 85, 95, 97–100, 102, 106 f, 113, 131, 138, 141, 143, 149, 155, 160 f, 174, 177 f, 182, 195 f, 198, 208, 223, 236, 240, 243 f, 259, 263, 287, 296, 325, 332, 349, 364 f, 371–379, 383, 385, 389, 391, 393–395, 397–399, 401, 404, 417, 426 –– religiöses Deuten / religiöse Deutungskategorie  88, 157–159, 160, 200, 202, 205, 213, 222, 229, 231, 235, 243, 246–248, 250, 252, 258, 269, 273–280, 288, 291 f, 297, 325, 347, 352, 387, 390, 392, 397, 395, 399 –– Weltdeutung  28, 38 f, 46, 50, 68 f, 79–89, 93, 243–345, 405 Dialektik  77, 153, 189, 196 f, 202, 268, 297, 307, 425 Dialektische Theologie  31, 131, 181 f, 185–189, 259, 366–369, 378, 401 Divination  218, 229–232, 246, 276, 280, 282–287, 290–293, 298, 318, 355 f, 358, 404, 407 f Dogmatik  6, 57, 74, 80–84, 107–113, 119, 121, 123 f, 128 f, 139–143, 150 f, 165–169, 173–177, 199, 201, 219, 225, 259 f, 271, 282, 291, 293, 337, 355–357, 362 f, 369–371, 399, 403 f, 412–414, 419, 422, 424 f Dogmengeschichte  83, 114, 141, 356 Eidetik  342, 344 Ehrfurcht  81, 94, 181, 212 f, 218, 231, 263 f, 305, 354 Ekklesiologie 75 Emotion  3, 9–11, 16, 20, 25, 27, 32, 42, 44, 83, 102, 113, 151, 234–237, 243, 256, 261, 263 f, 267, 273, 277, 271, 288 f, 291 f, 311, 316 f, 320–322, 324–327, 335–339,

Sachregister

344 f, 377, 387, 396, 405–407, 415 f, 421, 426, 429 Empirie  153, 175, 178, 272, 318 Empirismus  54, 122 Endliche, das  5, 207, 209, 213, 218, 292 f, 397 Endlichkeit  21, 29, 53, 74, 171, 205, 242, 247 f, 293, 373, 399, 407, 412, 416, 420 Entsetzen  82, 88, 146, 254, 286, 336, 358 Erfahrung –– Erfahrungstheologie  105–110, 113–115, 119, 134, 150, 152 –– Erfahrung der Angst  44, 340, 365, 377, 399, 414 –– existentielle Erfahrung  39, 373, 377 –– religiöse Erfahrung  27, 107, 111, 114 f, 134, 168, 183, 197, 203, 206, 219, 241, 325, 394 Ergriffenheit  107, 146, 172, 210, 213, 220, 241 f, 257, 287, 301 f, 308, 317, 323, 362, 427 f Erhabene, das  93, 214, 263, 283 Erlösung  6 f, 62, 75 f, 80, 146, 153, 173, 177 f, 183, 189, 199, 203, 255, 260, 284, 287, 293, 337, 353 f, 356, 359, 362 f, 370, 375, 398 f, 404–406, 410, 417–429 –– Erlösungsbedürftigkeit  75, 196 f, 237–239, 259 f, 417 f, 423 f Eschatologie  78 f, 128, 183, 359–362, 379 Erscheinung  203, 209, 211, 229 f, 232, 282–287, 289, 290, 315, 320, 326, 333, 343, 355 f, 360 Erstarrung  252, 254, 305, 317 f, 349, 396 Ethik  59, 70, 109, 120 f, 125, 127, 134 f, 140, 186, 193, 204, 207, 282, 313, 339 f, 361, 367–369, 419, 428 Ethnologie  65, 328, 392 Etymologie  23, 26–28, 194 Evolution 17, 66, 98, 261–263, 299, 308–314, 325, 333, 398 Ewige, das  146 f, 193, 207, 209–213, 218, 229, 284, 292 f, 318, 354, 397, 421 Exegese  70, 113, 117 f, 131, 134, 356, 360, 362 Fascinosum  1, 62, 172, 187, 254–256, 258, 277, 287 f, 293, 301, 306, 242, 353, 368 f, 373, 375, 385, 404–406, 423 f

471

Freiheit  21, 24, 28, 36, 53, 113, 237, 248, 377, 396 Fremde, das  189, 290, 300, 304–308, 329, 398 Frömmigkeit  1, 4, 43, 53, 55 f, 61, 68, 81, 85, 90 f, 93 f, 100, 117, 121 f, 125 f, 128, 130, 132–139, 143, 150, 156, 163 f, 166–170, 179, 183–186, 189, 192, 194 f, 198 f, 204, 216, 220, 226, 230, 238 f, 242, 245, 255, 269, 279, 285, 300 f, 303 f, 306 f, 310, 315, 338, 348, 350, 357, 368, 370, 395 f, 403 f, 413 f, 419 f, 426, 429 –– Theorie der Frömmigkeit  130 f, 151 f, 161, 179, 181, 188, 190, 192, 195, 198, 206, 208, 218, 237, 255, 258, 324, 335, 351, 394, 398, 402 f Furcht –– fear  25 f, 54 f, 58, 81, 87, 103, 272, 320–324, 332, 338 –– Gottesfurcht /Furcht Gottes  2–7, 41, 45, 80–84, 90 f, 135, 155–158, 181, 263, 368 f, 374–376, 394–396, 399, 401, 412–415, 421, 428 –– Unterscheidung von Furcht und Angst  23–29, 223, 296 Ganz andere, das  1, 87, 89, 103 f, 112, 136, 149, 153, 160, 170 f, 173, 176, 181, 192, 200, 204 f, 231, 239, 244, 248, 252–254, 265, 280, 287–289, 292, 298, 300, 304–308, 330, 339, 346 f, 349, 359, 361 f, 368 f, 373, 375, 377, 379 f, 385, 387, 389, 392, 396 f, 399, 401, 406 f, 415 f, 420–424, 428 Gebet  266, 322, 391, 411, 425 f Gefühl –– Abhängigkeitsgefühl  56, 61 f, 216, 220–228, 231–233, 236, 238 f, 242 f, 247, 251 f, 320 f –– Gefühlsgesellung  297, 429 –– Gefühlstheorie  96, 158, 188, 196, 206, 225 f, 232–237, 242, 245, 249, 257, 263, 279, 291, 296, 316, 319, 332, 339, 366, 383, 387, 392, 397, 405 –– Kreaturgefühl  93, 104, 138 f, 146, 151, 153 f, 166–173, 177–179, 188, 190, 193, 197, 199 f, 208, 213 f, 216, 219, 222–231, 239–243, 247 f, 252, 257, 260, 287, 307,

472

Sachregister

322, 349, 354, 368, 379 f, 397, 406 f, 423, 426 –– Lebensgefühl  9–11, 31, 33–35, 39, 59, 89, 185, 187, 189 f, 204 f, 380, 401, 409, 411 –– numinoses Gefühl  66, 170, 212, 246, 252 f, 258 f, 266–270, 274, 276, 278–281, 287, 289, 291, 336, 339 f, 343, 346 f, 351 f, 358, 373 f, 386, 425 –– Objektgefühl  224, 226, 264, 288, 391 –– religiöses Gefühl  95, 121, 155, 172, 188, 193, 205, 225, 227, 231 f, 245, 267 f, 276, 278, 281, 291, 293, 320–322, 326, 336 f, 370, 386, 392 f, 398, 415, 428, Geheimnis  2, 94, 128, 187, 192 f, 200, 229, 232, 249, 252, 284, 301, 305, 403, 420, 424 Geist/ Heiliger Geist  28, 49, 57 f, 111, 121, 139, 141–159, 167, 171–180, 193, 195, 199–205, 211 f, 218, 230, 235, 237, 242–244, 247, 249, 259, 266, 273 f, 278, 280, 286 f, 289, 292, 297 f, 313–317, 325, 330, 343–345, 359, 363, 378, 386 f, 393 f, 396 f, 403, 405, 407, 414, 421 Gespenst/Gespensterfurcht  201, 253, 348, 383, 406, 417 Gleichnis  58, 216, 232, 269, 283, 290, 295–297, 348, 405, 417, 424, 429 Gott –– Allwirksamkeit Gottes  145, 153, 159, 243, 314 f, 397 –– Deus absconditus  94, 108, 112–114, 151, 169, 171, 182, 184, 187, 190, 308, 368, 371, 375, 413 –– Fremdheit Gottes  81, 153, 170, 189, 224, 423 f, 349 f –– Gottesbild  47, 50, 53, 56 f, 88, 91, 112, 125, 128, 153, 161–164, 169, 183, 186, 197, 280 f, 290, 368 f, 392, 399, 411 f, 421 –– Gottesverhältnis 81, 83 f, 91, 128, 174, 196–198, 203, 227, 412 f, 419 –– Allmacht/Omnipotenz Gottes 148, 162, 169, 180, 191, 197, 214, 412, 424 –– Verborgenheit Gottes  162, 187, 189, 198, 247, 368, 375 Grauen  3, 88, 112, 155–158, 160, 164, 166, 169, 170, 172, 178, 183, 187 f, 190, 200, 218, 244, 251, 256, 260 f, 269, 276, 280 f,

305, 330–332, 343, 350, 352–354, 361, 371, 401, 424 Gruseln  244, 253, 267, 348, 406, 417 Hermeneutik  26, 38, 203, 269, 293, 297, 325, 428 Herz  71, 122, 148, 162, 173, 266, 283, 286, 404, 427 Hoffnung / Hoffnungslosigkeit  6, 56, 76, 112, 225, 375, 417 f Horror mysticus  138, 167, 169, 178, 354 Idealismus  13, 36, 56, 61 f, 113, 271, 309 Ideengeschichte  45, 50, 52 f, 64, 67, 78, 85, 89, 106, 108, 120, 411 Ideogramm  246, 251–253, 255, 264, 268 f, 281 f, 415, 421 Indien  245, 300–302, 349, 356, 367 Individuum / individuell  32 f, 40, 99, 115, 169, 187, 203, 262 f, 275 f, 299, 328, 332–335, 370, 377, 390, 397 f, 426 Innerlichkeit  125, 128, 142, 144, 167, 216, 292, 308, 353, 378, 395, 405 Instinkt  5, 16 f, 29, 61, 191, 257, 276, 296, 310, 317, 325, 326, 352 f Intuition  27, 57 f, 88 f, 144–146, 152 f, 158, 160 f, 164, 166, 171 f, 177 f, 197, 200–204, 208, 211, 217, 222 f, 228 f, 231 f, 234–240, 243, 247, 251 f, 257–260, 275–280, 284, 287, 289–293, 297 f, 319, 324 f, 344, 346 f, 350, 354, 356, 363, 370, 383–404, 406, 414–416, 420–424 Katastrophe 38 f, 44, 52 f, 72, 79 Katholizismus  70, 82, 101, 141 f, 166, 270, 365 Kausalität  53, 85, 144 f, 159 f, 175, 177, 206, 211, 227, 279, 289 f, 293, 310, 314, 324 f, 344, 386, 396 f, 406 f, 416, 421 f, 424 f, 427 f –– Kausalverhältnis zwischen Angst und Religion  5 f, 10, 42, 44 f, 51 f, 54–56, 59, 61, 64, 66–68, 70, 73–79, 83, 86 f, 90 f, 267 f, 373, 410–414, 416 Kindheit / Kindheitserlebnis  99, 101–104, 199, 299, 323, 335, 338–344 Kontemplation  168, 229, 232, 234, 284, 287, 295

Sachregister

Kontingenz  42, 80, 85, 418 Kreuz / Kreuzestheologie  70, 293, 349, 354, 398, 424 Krise  31, 35, 40, 72, 116, 118, 120, 124 f, 127, 130, 132, 135, 137, 181 f, 185–190, 197, 204 f, 217, 307, 359, 380, 402, 411, 429 Kultur –– Kulturgeschichte  4, 9, 19, 34, 51, 67, 79, 89, 319, 395, 397, 401, 409, 411 –– Kulturprotestantismus  119 f, 126, 131, 134, 198, 204 –– Kulturtheologie  40 f, 75, 115, 287, 348, 372 f Kunst/Kunstgeschichte  11, 21, 32 f, 38–40, 59, 75, 118, 217, 268, 338, 348, 393 Liberalismus/Liberale Theologie  100, 105, 109, 117, 119 f, 126 f, 129, 131–134, 163, 180, 182–186, 198 f, 203 f, 242, 307, 362, 366–368, 404 Liebe  62, 69, 82 f, 121, 148 f, 174, 181, 183, 186, 196 f, 263, 339, 342, 354, 404, 421 f, 424 Luthertum 98, 100, 107, 126, 133 f, 147, 166, 180 f, 184, 186, 198, 203 f, 242, 367, 371 Macht, numinose Macht  56, 85, 122, 171 f, 197, 212, 238, 252, 267, 290, 350, 353, 392, 405, 407, 416, 426–428 Majestas  101, 136, 139, 153, 159, 161–164, 170, 178, 201, 211, 226–228, 231 f, 240, 243, 252, 256, 260, 277, 306 f, 322 Märchen /Legende  276, 348 Materialismus  48, 55 f, 59–61, 85, 290, 411 Medizin  11, 15–17, 77, 192, 386 Mentalitätsgeschichte  34, 40, 51, 83 Mirum 165, 252, 254, 281, 295 f, 306, 357, 363 Monismus  310, 323 Mut  53, 75, 118, 418, 428 Mystik  12, 64, 82 f, 94, 120, 122, 126 f, 131, 133, 145, 147, 154, 157, 161, 163, 165–169, 172 f, 175, 178 f, 181, 199, 206, 210 f, 218, 226–229, 232–234, 238, 242, 245, 252 f, 255, 264, 270, 279, 282, 291,

473

313, 315 f, 319, 353 f, 360, 361, 364, 372, 374, 379 f Mythos  46, 94, 362, 379 Mythologie /mythologisch  45 f, 56 f, 60, 122, 183, 259, 328, 362, 369 Natur –– Naturalismus  98, 206, 245, 299, 309–311, 319, 415 –– Naturphänomen 44, 46, 49, 52, 57, 178, 350 –– Naturwissenschaft  15, 22, 59–61, 185, 205, 308–312, 314, 316, 318–320, 324–326, 376, 386, 388 f, 403 Neues Testament  81 f, 121, 169, 260, 269, 285, 362, 376, 378, 420 Nichts, das  21, 24, 74, 147, 168, 189, 222, 226, 231, 241, 248, 253, 265, 297, 329, 332, 340, 373, 379 f –– Nichtigkeit  228, 247, 361 Offenbarung  76 f, 80, 118 f, 122, 148, 155, 175, 221, 238 f, 273, 283, 285, 298, 317, 320, 329 f, 337, 256, 367, 369, 373, 378, 402 Ohnmacht  29, 53, 56, 62, 64, 146, 221, 227 f, 242, 417 Ontologie  22, 24, 201, 225, 228, 265, 292, 331, 346, 380 Orthodoxie  55, 107, 109 f, 140, 151, 163, 165, 185, 198 f, 203 f, 367 Pantheismus  218, 229 Paradox/Paradoxie  74 f, 128, 146 f, 153, 161, 163–165, 172, 177 f, 179, 193, 196, 202, 222, 253 f, 287, 292, 357 f, 363, 372, 397, 402, 404 Pastoraltheologie  68, 103, 412 Persönlichkeit  93, 99–104, 109, 111, 114, 123–125, 128, 131–135, 143, 161, 163, 166, 169, 179, 184, 190–195, 198 f, 208, 219, 234, 239, 242, 285, 324, 353, 371 Phänomenologie  20, 23, 62, 98, 125, 185, 209, 219, 225 f, 278, 296, 307, 321, 330, 334, 373, 376–381, 384 f, 393 f, 398 Phantasie 44, 57, 60 f, 76, 78, 83, 150, 253, 267 f, 328–332, 342, 344, 348, 411, 418

474

Sachregister

Philosophie  4, 11 f, 14 f, 20, 22, 24, 30, 36, 39, 45 f, 48, 50, 57, 59, 61, 63, 73, 82, 115, 164, 209, 240 f, 248, 264, 271, 308 f, 365, 370, 376, 378, 380 f, 385, 394, 425 –– Existenzphilosophie  20, 22, 24, 26, 36, 253, 360, 377 f, 401 –– Geschichtsphilosophie  34, 413 –– Naturphilosophie  45 f, 61 f –– Religionsphilosophie  1, 22, 47, 97, 130 f, 234, 241, 245, 270–272, 290, 298, 304, 308, 327, 348 f, 368, 370, 383, 389 –– Transzendentalphilosophie 380 Pietismus  126 f Platonismus/platonisch  289, 344 Pneumatologie  136, 141, 143 f, 150, 153, 179 Politik  14, 19, 31 f, 36, 59, 185 Praxis  86, 101, 117, 282, 297, 307, 411, 413, 419, 426 Predigt  117, 123, 141 f, 146, 162, 167, 169, 171, 173, 183, 266, 281, 339, 360 f, 424 Primitive, das  156, 267 f, 276, 279, 281, 285, 329, 332 f, 340, 343, 348, 387 Profanität  175, 177, 204 f, 257, 259, 425 Projektion  46 f, 50, 61, 64, 78, 86, 88, 103, 411 Prophet  148, 185, 193, 198, 211, 219, 230, 268, 293, 307, 337, 353, 356, 358, 377, 422 Protestantismus  2, 31, 74, 114 f, 119 f, 128, 131, 134, 140 f, 165 f, 185 f, 198, 204, 215, 242, 281, 311, 394 Psalmen/Psalter  81, 116, 137 Psychologie  3 f, 13, 15 f, 18–20, 22, 25, 32, 59, 64 f, 70, 103, 122, 195 f, 235, 271 f, 295, 313, 325, 327 f, 333–336, 340, 342, 344 f, 365, 368, 382–387, 389 f, 393, 395, 398, 415, 422 –– Entwicklungspsychologie  245, 340 –– Völkerpsychologie  299, 327–329, 331, 390 Psychoanalyse  3, 19, 26, 32, 37, 64 f, 68–70 Rationalismus  115, 122, 186, 215, 229, 244, 284, 308, 310, 413 Rechtfertigung  70, 75, 80, 128, 154, 167, 169 f, 170, 172–175, 181, 184, 191, 199, 201, 203, 259, 373

Reformation  52, 79, 82, 139, 150, 171, 215, 413 Reich Gottes  121, 355, 357, 359–362, 406, 424 Reise  103, 117, 133, 285, 299–308, 311, 319, 339, 398 Relativierung  76, 110, 276, 362, 375, 426–429 Religion –– Anlage zur Religion  145, 148, 156, 176, 211, 243, 266, 273–275, 281, 286, 289, 292, 297, 326, 330, 337, 340, 343 f, 353 –– gelebte Religion  117, 191, 266, 301, 307 –– naturalistische Deutung der Religion  1, 22, 88, 153, 245, 271, 276, 308–313, 318, 323, 398 –– naturwissenschaftliche Deutung der Religion  308, 326 –– pathologische Deutung der Religion  192, 239, 271, 385, 389, 391 –– reduktionistische Deutung der Religion  6, 42, 54, 58 f, 65, 68, 78, 80, 84, 86, 90, 271, 410–414 –– Religionen  1, 4, 9, 22, 47, 50 f, 57 f, 60–62, 66 f, 76–78, 85 f, 88–90, 95, 122 f, 128, 134, 226, 238, 258, 268, 271, 278–283, 285, 288–292, 298, 300, 306 f, 320 f, 325, 331–334, 337, 340, 343, 346 f, 350, 352, 355, 367–369, 390–392, 398, 411 f, 416, 418 f, 422, 427 –– Religionsgeschichte  3, 29, 55, 66, 81, 84–86, 88 f, 91, 122, 124, 130, 134, 169, 245, 248, 260, 268, 270, 276, 280 f, 288 f, 298, 326, 329 f, 332 f, 347, 349, 353 f, 367, 373–376, 390, 395, 397 f, 402–404, 414 f, 419, 422, 424 f, 428 –– Religionskunde  220, 238, 285, 294, 301, 304, 347 –– Religionskritik  42, 44–46, 48–52, 54–56, 58 f, 62 f, 65, 68, 70, 73, 76, 78–80, 85, 88, 90, 368, 370, 392, 411 f –– Religionsphilosophie  1, 47, 97, 130, 131, 241, 245, 270–272, 290, 298, 304, 308, 327, 248 f, 368, 370, 383, 389 –– Religionspsychologie  43 f, 65, 84, 103, 125, 139, 143, 149, 152, 155, 159, 170, 192, 319, 325–327, 334–336, 340, 342, 344, 365, 382–385, 389, 394, 398, 422

Sachregister

–– Religionssoziologie  22, 35, 392, 411 –– Religionswissenschaft  22, 65–67, 84, 86 f, 95, 245, 271, 306, 311, 333, 341, 346 f, 365, 368, 386, 389–393, 395 –– religiöse Außenperspektive  44 f, 51, 54, 66, 84, 87, 90, 306, 389, 412 f –– religiöse Binnenperspektive  28, 66, 78, 80, 83–85, 91, 306, 333, 357, 374, 381, 384, 389, 391, 397, 412–414 –– Ursprung/Grund der Religion  1, 3 f, 43 f, 51, 66, 68, 94, 110, 231, 240, 250, 258, 272, 276, 293, 307, 327, 329–333, 364, 378, 395, 397, 399, 401, 409, 415 –– Wesen der Religion  3, 61 f, 72, 74, 84, 88, 90, 121 f, 130, 165, 219, 238, 279, 291, 296, 324, 326, 328, 337, 341, 352, 399, 402, 411 Religionsgeschichtliche Schule  118, 129 f, 272, 355 Renaissance  30, 45, 51 f, –– Lutherrenaissance  127, 138, 141, 180 f, 187, 191 –– Schleiermacherrenaissance 217 Ritual  85 f, 266, 279, 411 Romantik  21 f, 208, 213–215, 217–219, 234, 239 f, 242, 248, 256 Rudra  301, 351 f Säkularisierung  32 f, 41 Schauer/ schauervoll/Erschauern  2 f, 21 f, 81 f, 90, 94, 98, 101 f, 136, 149, 162 f, 169 f, 181, 186, 192, 205, 212, 218 f, 231, 234, 249 f, 252, 269, 277, 283, 285, 305, 307, 339, 341, 348, 354, 359, 371, 376, 380, 392, 396 f, 399, 421 f, 424 Schema  64, 74, 86, 120, 151, 233, 247, 263 f, 268, 281, 292, 307, 348, 418 –– Schematisierung  240, 244, 263, 266, 280 f, 288, 307, 402 Schicksal  36, 43, 52, 62, 64, 72, 130, 218, 411, 421 Schrecken  53, 82, 94, 96, 159, 192 f, 197, 239, 251, 267, 280, 351, 353 f, 358, 361, 363, 376, 404 Schuld  40, 69, 146 f, 239, 241, 255, 341, 356 Seele  48, 69, 71, 87, 122, 142, 163, 173, 177, 188, 192, 200, 211, 220, 233, 286,

475

289, 294, 305, 313, 318 f, 326, 328–330, 332 f, 336, 339, 343 f, 353, 367, 378, 386–389, 393 f –– Seelengrund  269, 274 Seelsorge  65, 68 f, 79 f, 297, 406, 411, 426 Sehnsucht  171 f, 212 Sinn –– Lebenssinn  399, 407 –– Sinn des Daseins  29 –– Sinndimension  85, 232, 363, 374, 386 –– Sinnlichkeit 318 –– Sinnlosigkeit  41, 297, 417 Sittlichkeit  46, 60, 64, 83, 121–123, 146, 150, 193 f, 244, 257–259, 280 f, 340–342, 403, 423 Sohn, Gottessohn  101, 124 f, 163, 185, 194, 230, 293, 311, 355–358, 361 f, 406 Soteriologie  82, 187, 260, 284, 349, 354, 418 Soziologie  13, 22, 30, 59, 328, 392 Spontaneität/spontan  144, 257, 278 f, 284, 297, 303, 336–344, 353, 355 f Sprache  23–29, 37, 56, 97 f, 118, 124, 136, 139. 154, 166, 194, 214, 218, 229, 231, 250, 287, 294–296, 298 f, 307, 340, 345, 376 Staunen  94 f, 252, 267, 286, 318, 358 Stimmung  12, 57, 117, 125, 131, 139, 145, 149, 152 f, 157, 160, 165–167, 176, 188, 217 f, 240, 244, 246, 260, 265, 284, 295, 303, 313, 341, 371, 379 f, 399–401 Subjektivität  32, 104, 107, 109 f, 114 f, 132, 217, 226, 290 Substanz  122, 348, 372 f, 405 Sühne  111, 153, 187, 203, 259 f, 356, 358 Sünde  22, 41, 73, 78, 80, 82 f, 137, 146, 153, 162, 166 f, 169, 173–179, 184, 188, 193, 196 f, 199, 202 f, 255, 259 f, 270, 293 f, 296, 349, 354, 356, 358, 361, 379, 398 f, 407, 412, 423–426, 428 –– Erbsünde 177 Supranaturalismus  145, 152 f, 206, 284, 314 Symbol  67, 74, 88, 293, 359, 412, 419, 422, 424 f, 429 Tabu  64, 289, 331, 350 Teleologie  309, 315

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Sachregister

Therapie  16, 65, 71, 75, 103, 196, 201, 297 Tier  46, 61, 252, 267, 321, 351 timor  5, 10, 43–45, 50 f, 55–57, 59, 61–71, 73 f, 76–79, 83–88, 90 f, 267 f, 325, 331, 350 f, 353, 392, 410, 412, 418 –– timor castus  82 f, 421 –– timor filialis  82 –– timor servilis  82 f, 421 Tod  43, 47–50, 53, 62, 81, 88, 93, 100, 104, 120, 122 f, 129, 133, 198, 201, 269, 302, 331, 351, 361, 367, 369, 373, 405, 407, 411, 417, 422, 427 Transzendenz  61, 81, 83, 187 f, 325, 329, 368 f, 371, 375 Traum 81 Trinität  141–144, 152 Übernatürliche, das  111, 147 f, 157–160, 177 f, 200, 211, 253, 305, 331, 378, 384, 386, 405 Unbedingte, das  41, 218, 273, 290, 292, 319, 348, 372 f, 389, 393, 427 Ungeheure, das  256 f, 260, 317, 319 Unheimlichkeit  352, 410 Universum  25, 40, 88, 209 f, 212 f, 216, 218, 234, 238, 269, 292, 406, 408, 415 f, 420 Unterscheidungserlebnis  171, 199 f, 228, 232, 287, 298, 396 f, 412, 419–429 Unverfügbarkeit  36, 90, 182, 224, 357, 369 Unzeitgemäßheit  133, 366, 400 f Urphänomen 318 Verlorenheit  75, 166, 171, 174 f, 177 f, 193, 197, 199, 203 f, 214, 238 f, 241 f, 259, 354, 361, 378, 397 f, 423 f, 428 Vermittlung  84, 126, 133, 146, 242, 295, 308, 366, 368, 413, 415

–– Vermittlungstheologie  126, 131 f, 134 Vernunft  21, 53, 56, 58, 121 f, 164, 179, 200, 244, 254 f, 271, 273, 371, 388, 403, 416, 423 Versöhnung  149, 184, 404, 423 Vertrauen  4, 49, 71 f, 82, 146–149, 163, 167, 170, 263, 354 Vision  81, 148, 321, 420 Vorsokratiker  46 f, 50 Weltbild  12, 33 f, 36, 47, 52, 59 f, 83, 205, 285, 309, 312 f, 315, 319, 324 Weltdeutung  3, 13, 36, 289, 310, 312, 428 Weltkrieg  11, 13, 21, 31, 33, 36–39, 72, 108, 181 f, 186, 188, 190, 195, 197, 204, 240, 294 f, 365, 367 f, 371, 381, 400 f Weltprinzip  21, 188, 427 Weltverhältnis  20, 28 f, 67, 222, 375, 409, 411 Wert/ Wertung / Bewertung  50, 82, 88 f, 110, 124, 145, 151, 156–160, 172, 174, 178 f, 183, 188 f, 193, 200–202, 205, 209, 211, 224, 227–229, 232, 235–237, 240, 243, 246–248, 251, 257, 259 f, 263, 274–276, 278–280, 287, 291, 294, 305, 310, 319, 325, 343 f, 346, 350, 355, 361, 379, 384, 386–389, 392, 396, 399, 420, 427 Wiedergeburt  109, 132, 134, 175, 255 Wunder  57, 81, 202, 211 f, 215 Zeichen  9, 128, 232, 283, 362 f, 400, 424 Zorn Gottes  3, 41, 82, 91, 127, 131, 151, 162, 182–184, 186, 188 f, 281, 363, 368, 371, 394 Zweifel  75, 118, 125, 127, 169, 230, 373, 412, 428