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German Pages 216 [217]
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Vorwort Die vorliegende Untersuchung ist die geringfügig überarbeitete Fassung meiner Dissertation (Dr. phil.), die im Sommersemester 2012 im Fachbereich Evangelische Theologie der Goethe-Universität Frankfurt am Main angenommen wurde. Mein Dank gilt an erster Stelle Herrn Prof. Dr. Dr. h.c. Hermann Deuser, meinem Doktorvater. Er verhalf mir dazu, die Philosophie im 19. Jahrhundert und die systematische Theologie klarer zu begreifen, sowie Kierkegaards Denken aus der Perspektive der Religionsphilosophie zu entdecken und die westliche Kultur als eine lebendige Atmosphäre des Denkens kennenzulernen. Herrn Prof. Dr. Heiko Schulz danke ich für seine Betreuung als Zweitgutachter. In seinen Lehrveranstaltungen lernte ich die Theologiegeschichte des 19. Jahrhunderts sowie Kierkegaards Denken im Ganzen besser zu verstehen und auch meine Interpretationen wissenschaftlich präziser zu formulieren. Intensive Gespräche mit beiden Gutachtern waren mir sehr hilfreich und haben sich als schöne Erinnerungen bei mir eingeprägt. Hierbei ist besonders das Café des Gießener Bahnhofs zu erwähnen, das von uns „Religionsphilosophiescafé“ genannt wurde, weil ich dort Herrn Prof. Deuser regelmäßig über den Fortschritten meiner Arbeit berichtet habe. Für Hilfe bei den Sprachkorrekturen bedanke ich mich bei Herrn Oliver Bertrand. Er war im Rahmen des Tutoriums des Internationalen Promotionsprogramms (IPP) der Goethe-Universität ein guter und geduldiger Gesprächspartner für mich. Für die Unterstützung des IPPs möchte ich mich bei Herrn Prof. Dr. Markus Wriedt, Herrn Dr. Karsten Schmidt und Herrn Dr. John Cochrane bedanken. Die finanziellen Unterstützungen des EEDs (Evangelischer Entwicklungsdienst in Bonn, seit Dez. 2012 EWDE in Berlin) ermöglichten mir die Durchführung meiner Arbeit in den vergangenen fünf Jahren. Für diese Unterstützung bin ich herzlich mit sehr großem Dank verbunden. Ganz herzlich danke ich meinen Eltern für den liebvollen Rückhalt den sie mir während meiner Studien- und Promotionszeit gegeben haben.
Frankfurt am Main, im Februar 2013
Zizhen Liu
Inhalt Einleitung .............................................................................................................. 9 1 Kierkegaards anthropologisches Anliegen ....................................................... 11 1.1 Die Grundfrage der Anthropologie und die Hauptfragen dieser Arbeit .... 11 1.2 Behandelte Werke ...................................................................................... 14 1.3 Perspektive und Methode ........................................................................... 22 1.4 Terminologie: Was bedeutet der Augenblick bei Kierkegaard?................ 29 2. Kierkegaards Auseinandersetzung in den Climacus-Schriften und in Der Begriff Angst mit anderen Philosophen und Theologen .......................... 35 2.1 Vigilius Haufniensis sowie Climacus und das griechische Denken .......... 36 2.2 Augustin: Zeit als menschliche Wahrnehmung ......................................... 44 2.3 Climacus und der deutsche Idealismus: Kierkegaard und Hegel im Hinblick auf die Zeittheorie ............................ 55 3. Augenblick und Angst in Der Begriff Angst ................................................... 67 3.1 Der Augenblick und die zeitliche Dimension des Menschen .................... 67 3.2 Augenblick, doppelte Synthese und Angst ................................................ 79 3.3 Angst und Augenblick................................................................................ 89 4. Paradox und Unmittelbarkeit ........................................................................ 101 4.1 Philosophische Brocken und Der Begriff Angst ...................................... 101 4.2 Das Paradox ............................................................................................. 107 4.3 Die Unmittelbarkeit.................................................................................. 122 5 Existenzauffassung bei Kierkegaard .............................................................. 137 5.1 Existenz .................................................................................................... 137 5.2 Existenz, Werden und Augenblick........................................................... 148 5.3 Menschwerden und Christwerden ............................................................ 161 5.4 Die subjektive Wahrheit........................................................................... 171 5.5 Das Lehrer-Schüler-Verhältnis ................................................................ 179 6 Kierkegaard und China................................................................................... 185 6.1 Einführung................................................................................................ 185 6.2 Buddhismus, Konfuzianismus, Daoismus, Chan-Buddhismus ............... 190 7
Was ist Buddhismus? .................................................................................. 190 Was ist Konfuzianismus? ............................................................................ 195 Was ist Daoismus? ...................................................................................... 197 Was ist Chan? ............................................................................................. 199 6.3 Kierkegaards Augenblick und der Augenblick der Erleuchtung. Ein Vergleich im Hinblick auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis ................ 202 Eine kleine Geschichte wird erzählt: .......................................................... 203 Kierkegaards Existenzauffassung im Vergleich zum Chan-Buddhismus ... 204 Bibliographie ..................................................................................................... 209
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Einleitung Kierkegaards Existenzauffassung befasst sich mit der menschlichen Existenz und dem menschlichen Geist. Der dänische Philosoph stellt sein anthropologisches und philosophisches Anliegen im Kontext des Christentums dar. In dieser Dissertation gehe ich von der Grundfrage der Anthropologie aus und werde mich damit beschäftigen, wie Kierkegaard die Frage „Was ist der Mensch?“ mit seiner Existenzauffassung behandelt und beantwortet. Kierkegaard verwendet eine zeitliche Perspektive in der Betrachtung des Menschen. Aus dieser Perspektive entdeckt Kierkegaard den zeitlichen Pol und entsprechend die synthetische und spannungsvolle Struktur des Menschen. Der zeitliche Pol zeigt die Sterblichkeit des Menschen, während der ewige Pol den menschlichen Wunsch nach Ewigkeit ausdrückt. In dieser Spannung beschreibt Kierkegaard mit der Existenz den Menschen in der Zeit. Kierkegaards Anliegen besteht in der Ausrichtung und Entwicklung des menschlichen Bewusstseins, da sich der Mensch in konkreten Situationen in seiner Existenz befindet, weil er in einer Zeit nach der Aufklärung und nach dem Fall der Autorität der Religion lebt. Ist eine solche Betrachtung für die heutige chinesische Bevölkerung in der Volksrepublik China sinnvoll, die in einer ganz unterschiedlichen Kultur und Tradition aufwächst und ausgebildet wird? Im Vergleich zu Kierkegaard ist Hans Christian Andersen in China berühmter und wird als ein wichtiger Vertreter der dänischen Literatur und Kultur anerkannt. China befindet sich heute in einer Zeit großer Entwicklung und des heftigen Wandels. Die Gesellschaft ist mit Problemen der Modernisierung konfrontiert, ähnlich der Probleme Europas in Kierkegaards Zeit. Wegen der Zerstörung der traditionellen Kultur und der Probleme der Post-Kolonialzeit sind dort die Modernisierungsprobleme komplizierter. Angst und Verzweiflung, als Darstellungen der Ungewissheit der Zukunft und als Aufgeben des Selbst aufgrund der Ungewissheit, sind generelle und gängige Stimmungen im menschlichen Geist. Aufgrund dieses Hintergrunds ist es höchst sinnvoll für Chinesen, Kierkegaard zu lesen, zu verstehen und an ihr eigenes Leben zu denken, wie man seine Selbstverwirklichung in dieser Zeit gestalten kann. Dieser Entwicklungsanspruch umfasst die Forderungen Kierkegaards zum Selbstwerden der Individuen. Mit „Kierkegaard und China“ als Vergleich auf der Basis der Begründungen der vorangesetzten fünf Kapitel, werde ich die analysierte Existenzauffassung Kierkegaards zusammenfassen und diese Arbeit mit der Suche nach einem möglichen Kulturdialog abschließen.
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1 Kierkegaards anthropologisches Anliegen 1.1 Die Grundfrage der Anthropologie und die Hauptfragen dieser Arbeit Die Grundfrage der Anthropologie lautet: Was ist der Mensch? In seiner Existenzauffassung distanziert sich Kierkegaard als ein subjektiver Denker mit Absicht vom objektiven Denken1 und von der objektiven Fragestellung. Mit der Fragestellung „Was ist der Mensch?“ wird der Mensch im objektiven Denken als ein stiller Gegenstand abstrakt und systematisch behandelt. Das „ist“ bezeichnet eine Suche nach dem Wesen des Menschen. Nach Kierkegaard hat der Mensch als ein in der Zeit Existierender unter der Wirkung der Zeit kein bestimmtes Wesen. Deshalb gibt Kierkegaard eine Beschreibung nur für die elementare Struktur an und auf dieser Basis fragt er: Wie wird der Mensch in der Zeit ein wirklicher Mensch oder wie kann der Mensch in der Zeit sich selbst als ein Mensch oder seine elementare Struktur verwirklichen? Kierkegaard beschreibt die menschliche Struktur als Synthese und Geist: „Der Mensch ist eine Synthese aus Seelischem und Körperlichem. Doch eine Synthese ist undenkbar, wenn sich die beiden Teile nicht in einem Dritten vereinen. Dieses Dritte ist der Geist.“2
Später beschreibt Kierkegaard diese Synthese aus zeitlicher Perspektive: „Der Mensch war also eine Synthese von Seele und Körper, doch gleichzeitig ist er eine Synthese von Zeitlichem und Ewigem.“3
Aus den beiden Beschreibungen kann das Missverhältnis entstehen, dass es zwei Synthesen im Menschen gibt. Deshalb expliziert Kierkegaard deutlich, dass der Mensch nur eine Synthese ist. „Die Synthese von Zeitlichem und Ewigem ist keine zweite Synthese, sondern Ausdruck jener ersten Synthese, derzufloge der Mensch eine Synthese aus Seele und Körper ist, getragen von Geist. Sobald der Geist gesetzt ist, ist der Augenblick da.“4
Die zweite Synthese gilt nach Kierkegaard nicht als eine zweite Synthese des Menschen, sondern als die zeitliche Darstellung der ersten Synthese bzw. als die zeitliche Bestimmung des Menschen. Mit dieser Bestimmung bezeichnet Kierkegaard die Zeitlichkeit des Menschen und zeigt seine Verwendungen der zeitlichen Perspektive in seiner Existenzauffassung. Ich behandele diese Auffassung
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Siehe: Das subjektive Denken und das objektive Denken in Kapitel 5.2. BA (1992), S. 52 / BA in SKS 4, S. 349. BA (1992), S. 99 / BA in SKS 4, S. 388. BA (1992), S. 104 / BA in SKS 4, S. 392.
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in Bezug auf Zeit bzw. den Augenblick als Zeit- und Existenzauffassung Kierkegaards in dieser Arbeit. Kierkegaards Ausführungen über den Menschen setzen den Menschen als eine Synthese voraus. Er versucht die Frage zu beantworten, wie der Mensch ein Christ werden kann. Das bedeutet, dass Christensein oder der Mensch mit religiösem Bewusstsein als ein Vorbild oder als die ideale Stufe eines Menschen oder als eine Richtung für die menschliche Existenz in der Zeit gilt. Christwerden ist auch die Forderung von Kierkegaard an den Menschen, wie ein Mensch unter der Bedingung „der Mensch als eine Synthese“ handeln soll. Deswegen wird Kierkegaards Frage „Wie kann der Mensch ein Mensch werden?“ in Abschießende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (1846) mit „Wie kann der Mensch ein Christ werden?“5 zum Ausdruck gebracht und Kierkegaard beschäftigt sich mit der Beantwortung der Frage des Christwerdens in all seinen Schriften. In den Climacus-Schriften weist Kierkegaard auf einen Widerspruch zwischen der menschlichen synthetischen Struktur (der Mensch wird von der Zeit begrenzt) und der Forderung (der Mensch verhält sich zu der ewigen Seligkeit) hin. Die Grundfrage der Anthropologie bzw. „Was ist der Mensch?“ verändert sich zu einer ähnlichen Frage, nämlich, „Wie ein von zeitlicher und ewiger Synthese bestimmter Mensch nach dem Ewigen oder der ewigen Seligkeit streben kann?“ Das Zeitliche gilt als ein Pol der menschlichen Synthese, die dem Strebenden eine Begrenzung setzt. Climacus verschärft den Widerspruch in seinen Schriften noch durch eine weitere Änderung. Er stellt die Frage aus einer anderen Perspektive. In Philosophische Brocken (1844) stehen die Spannungen und die Unterschiede zwischen ewigem (religiösem) Bewusstsein und historischem Wissen im Gegensatz zueinander. Aus neutestamentlicher Perspektive meint Anders Klostergaard Peterson, dass die veränderte Frage direkt die Inkarnation aufzeigt.6 Mir stellen sich dazu die Fragen: Was bedeutet Jesus vor zweitausend Jahren für einen modernen Menschen? Auf welche Weise ist Jesus Christus die Inkarnation Gottes? In welchem Sinn ist die Verbindung zwischen ihm und dem Menschen noch sinnvoll für den Menschen, der in dieser modernen, aufgeklärten Gesellschaft lebt? Solche Fragen richten sich auf die Spannung zwischen dem Menschen als in der Zeit Existierenden und seinem Anspruch auf die ewige 5 6
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Siehe: Die Perspektive von Climacus in Kapitel 1.3. “How did the eternal god become part of mundane time? In what sense can an historical event be attributed an epoch - marking character, and to what extent can an epoch marking event put a claim on other human beings living in another epoch and sharing other cultural and social conditions? This question is intimately related to New Testament narratives, but should not be identified with a specific New Testament structure of meaning.” Anders Klostergaard Peterson, Philosophical Fragments in a New Testament Perspective, in: Kierkegaard Studies Yearbook 2004. S. 39f.
Seligkeit bzw. auf die Spannung zwischen dem zeitlichen und dem ewigen Pol des Menschen. Mit seiner Begründung der Christologie konzentriert sich Kierkegaard auf die Wahrheitsfrage: Ist die Inkarnation Gottes in der Geschichte bereits die absolute Wahrheit für den Menschen? Kann der Mensch die Inkarnation als ein geschichtliches Wissen mit dem Verstand beurteilen, ob das Ereignis wahr oder nicht wahr ist? In seiner Christologie hebt Kierkegaard hervor, dass die Inkarnation Gottes das absolute Paradox und das absolute Faktum ist.7 Zu diesem Faktum soll sich der Mensch nur mit dem Glauben verhalten. Was für einen Glauben benötigt der Mensch? Sind der Glaube und die Religionswahrheit, die vom Verstand allein nicht erreicht werden können, noch sinnvoll für den modernen Menschen, der in einer vernünftigen Gesellschaft lebt? Was bedeuten der Glaube und die Religionswahrheit für das Menschwerden oder die Selbstverwirklichung in moderner Zeit? Mit Christologie, Wahrheit und Glauben legt Kierkegaard nach meiner Interpretation großen Wert auf die menschliche Existenz und den einzelnen Menschen. Kierkegaard wird als christlich-philosophischer Schriftsteller oder religiösphilosophischer Schriftsteller interpretiert.8 Ich interpretiere Kierkegaards Zeitund Existenzauffassung aus philosophischer Perspektive. Gleichzeitig kann ich die christlichen Aspekte und das religiöse Anliegen Kierkegaards nicht ignorieren, weil bei Kierkegaard der Glaube und die Religionswahrheit bzw. das Christwerden entscheidende Bedeutungen für das Selbstwerden haben.9 Um die oben gegebenen Fragen zu behandeln wähle ich zwei Kategorien von Kierkegaard, Augenblick und Angst, als Ausgangspunkt aus. Der Augenblick gilt als ein Zeitraum, in dem wichtige Veränderungen oder Ereignisse für den Menschen in seiner Existenz geschehen. Zeitlich gesehen zeigt die Angst dem Mensch die Bedrohung der Zukunft und auch die Spannung in seiner Struktur zwischen dem zeitlichen und dem ewigen Pol. Im ersten Kapitel wird nicht nur die Hauptfrage dieser Arbeit gestellt, sondern auch die Perspektive und der Standpunkt gewählt. Danach wird eine Basis für 7 8
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Ich werde in Kapitel 4.2 das Paradox thematisieren. Die Interpretationsperspektive ist auch eine Frage in der Interpretationsgeschichte. Gilt Kierkegaard als Philosoph oder Theologe oder religiöser Schriftsteller oder religiösphilosophischer Schriftsteller oder christlich-philosophischer Schriftsteller? Diese Frage ist für andere Fragen entscheidend und wichtig, z.B. Kierkegaards Verhältnis zu Sokrates oder die Beziehung zwischen „Christenwerden“ und „Selbstwerden“ bei Kierkegaard. Für meine Arbeit weist die Frage direkt auf meine Perspektive und Methode, weswegen diese später noch diskutiert werden muss. An den Beziehungen zwischen dem Selbstwerden und Christwerden werde ich in Kapitel 5.3 weiter arbeiten.
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diese Arbeit gelegt und begründet: In Kapitel 1.2 werden die Hauptreferenzwerke der Arbeit strikt begrenzt. In Kapitel 1.3 wird die Methode und Perspektive vorsichtig begründet. In Kapitel 1.4 wird die Terminologie dieser Arbeit erklärt.
1.2 Behandelte Werke Die Hauptreferenzwerke dieser Arbeit sind Der Begriff Angst (1844) (BA), Philosophische Brocken (1844) (PhB) und Abschießende Unwissenschaftliche Nachschrift zu den philosophischen Brocken (1846) (AUN). Der Begriff Angst wird von Kierkegaard unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis geschrieben. Die beiden anderen Schriften schreibt er unter dem Pseudonym Johannes Climacus, weshalb diese auch als Climacus-Schriften bezeichnet werden. Aufgrund der genannten Quellenauswahl beschränkt sich meine Betrachtung auf Kierkegaards Existenzauffassung von 1844 bis 1846. Die Auswahl der Quellen erfolgt aus den geplanten zu erarbeitenden Perspektiven.10 Die drei Werke sowie Die Krankheit zum Tode gehören zu den philosophischen Hauptwerken Kierkegaards.11 Die erstgenannten drei Werke deuten die Beschreibungen über das Selbst an, das als die Struktur des existierenden Menschen gilt und dessen Struktur als das Doppelverhältnis des Menschen in Die Krankheit zum Tode (1849) direkt und deutlich zum Ausdruck gebracht wird. Wenn die Beschreibung über das Selbst in dieser Arbeit begründet wird, muss Die Krankheit zum Tode zur Hilfe herangezogen werden.12 Am 13. Juni 1844 wurde das Buch Philosophische Brocken von Johannes Climacus als Schriftsteller und Sören Kierkegaard als Herausgeber in Kopenhagen veröffentlicht. Am 17. Juni 1844 erschien das Buch Der Begriff Angst unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis. Im Jahr 1846 veröffentlichte Kierkegaard wieder als Herausgeber unter dem Pseudonym Climacus das Buch Abschießende Unwissenschaftliche Nachschrift als eine weitere Erklärung zu den Philosophischen Brocken. Darin werden BA und PhB aus der Perspektive des Climacus’ in einem Teil unter dem Titel „Blick auf eine gleichzeitige Bestrebung in der dänischen Literatur“ geprüft, wo auch einer der wichtigsten Hinweise über die Beziehungen zwischen den drei Schriften gegeben wird. In den bisher entdeckten originalen Materialien (Manuskripten und Journale für die 3 Schriften) wurden
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Die Perspektiven in dieser Arbeit werden in Kapitel 1.3 erklärt. Eichler, Nachwort in Der Begriff Angst, 1992, S. 206. Siehe: Die Analysen über das Selbst und die Beziehungen zwischen Selbst, Synthese und Existenz in Kapitel 5.1.
keine Hinweise gefunden, dass zwischen BA und den Climacus-Schriften direkte inhaltliche Beziehungen bestehen.13 Ich werde zuerst die Pseudonyme Vigilius Haufniensis und Johannes Climacus sowie die Beziehungen zwischen den beiden erklären und analysieren. Davon ausgehend analysiere ich die inhaltlichen Beziehungen zwischen den drei Schriften. Die Frage nach der Pseudonymität Kierkegaards muss ein jeder Leser als Hintergrundwissen mit einbringen, um sein Werk zu verstehen. Klaus Schäfer versucht in seiner Dissertation Hermeneutische Ontologie in den ClimacusSchriften Sören Kierkegaards, das Pseudonymitätsproblem in den ClimacusSchriften und BA zu klären. Nach Schäfer geht es bei den Pseudonymen um die Verhältnisse zwischen Autor und Leser. Das Pseudonym hängt davon ab, was der Autor dem Leser übertragen will.14 Das heißt, dass Kierkegaard dem Leser mit dem Pseudonym für ein Werk seine Perspektive, sein Ziel usw. andeutet. „Kierkegaards Bitte, diese Werke im Ernst als die der angegebenen Autoren zu verstehen, ist keine Marotte, sondern folgt aus der Struktur der Texte. Sie muß daher erfüllt werden.“15 Davon geht seine Begründung für die Pseudonymität aus, und er richtet die Aufmerksamkeit auf die Erklärung des Pseudonyms Climacus und die Position von Climacus. Schäfer erklärt deutlich: Seine Arbeit „zeichnet keine Entwicklung des Denkens Kierkegaards nach, sie erforscht nicht, wie und warum es zu einer bestimmten Position kam. Vielmehr klärt sie [seine Arbeit] von den Texten der Werke aus, was diese Positionen sachlich bedeuten.“16
Ich stimme zu, dass jedes Pseudonym vom Inhalt eines Textes abhängt und nehme in meiner Arbeit die Auffassungen Schäfers über die Pseudonymität als Voraussetzung an. Dabei geht es bei den verschiedenen Pseudonymen auch um die Verhältnisse zwischen den Autoren in den verschiedenen Werken bzw. zwischen dem Autor Johannes Climacus in den Climacus-Schriften und dem Autor Vigilius Haufniensis in BA. Dadurch kann verständlich gemacht werden, dass es bei Kierkegaard auch darum geht, wie er sich als Schriftsteller zu sich selbst in verschiedenen Schriften verhält. Jedes Pseudonym ist ein Kennzeichen für eine einzigartige Perspektive bei Kierkegaard. Eine wichtige Funktion eines Pseudonyms liegt darin, dass Kierkegaard alles zum Ausdruck bringen kann, was er in einer bestimmten Richtung aus einer bestimmten Perspektive entdeckt und gefunden hat.
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Vgl. SKS K4, S. 181-194, (Tilblivelseshistorie) Textentstehung für PhB; S. 317-332, (Tilblivelseshistorie) Textentstehung für BA. Schäfer, 1968. S. 52. Schäfer, 1968, S. 53. Schäfer, 1968, S. 53.
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Mit den Pseudonymen distanziert sich Kierkegaard zuerst selber als eine Person von sich als einem Autor für ein bestimmtes Werk. Schäfer schreibt zur Pseudonymität: „Die Analyse des Titels ergibt, daß der Autor sein Buch als einen Mitteilungsvorgang betrachtet wissen will. Als gelesener und bedachter ist der Text selber dieser Vorgang. Sein Ausgangspunkt (der Sender) kommt für diesen Vorgang nur insofern ins Spiel, als er als der Mitteilende im Text vorkommt und so zum Vorgang gehört. Der Text unterscheidet zwischen dem Individuum (der Privatperson) und dem Autor (dem Sender). […] Climacus führt sich als den von der mitzuteilenden Sorge Bestimmten ein: Diese Sorge macht ihn zum Autor. Woran aber liegt es, dass dieser Autor sich als solchen vorführen und beschreiben muss, um seine Sorge auf den Leser zu übertragen?“17
Nach Schäfer geht es der Pseudonymität einerseits um das Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Schriftsteller als einem Autor, und andererseits zeigt die Pseudonymität aber auch das Verhältnis zwischen dem Autor und dem außenstehenden Leser. In Kierkegaards Fall sehe ich zusätzlich noch eine weitere Differenzierungsstufe dazwischen, in der sich Kierkegaard nicht nur als Autor und als Leser aufteilt, sondern auch in unterschiedlich wirkende Personen Haufniensis und Climacus differenziert. Das heißt, nachdem Kierkegaard mit den Pseudonymen zwischen seinem Individuum und den Autoren in seinen unterschiedlichen Schriften unterschieden hat, kommt Kierkegaard selber als Leser seiner Schrift vor. Climacus überprüft PhB und BA in AUN auch als kritischer Leser. Deshalb bin ich der Auffassung, dass Kierkegaard mit Pseudonym-Verhältnissen die unterschiedlichen Perspektiven aufzeigen und Dialoge miteinander führen lässt. Dieses Verhältnis ist auch das Verhältnis zwischen Kierkegaard selber, nämlich Kierkegaard überprüft sich selbst mit Hilfe der unterschiedlichen Pseudonyme, oder die Autoren überprüfen sich selbst von unterschiedlichen Perspektiven oder aus gegensätzlichen Perspektiven. In solchen Verhältnissen werden Kierkegaards Selbst-Verhältnis und Selbst-Kritik dargestellt. Die Pseudonymität gibt Kierkegaard die Möglichkeit, aus unterschiedlichen Perspektiven sich selbst zu prüfen. Die Übertragung vom Autor zu den wirklichen außenstehenden Lesern wird somit erst in der dritten und letzten Stufe vollzogen. Die Beziehungen zwischen beiden Schriften werden zuerst durch die Beziehungen zwischen den beiden Pseudonymen dargestellt. Johannes Climacus, dessen Name das Treppensteigen andeutet, möchte durch beide Schriften zeigen, wie ein Mensch, der kein Christ ist und ein Christ werden will, Christ wird. Das heißt, dass Johannes Climacus über das Problem des Christwerdens als ein
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Schäfer, 1968, S. 52.
Mensch außerhalb des Christentums spricht. Climacus bringt diese außerchristliche Perspektive in einer Selbstvorstellung in AUN zum Ausdruck. „Ich, Johannes Climacus, geboren und aufgewachsen in dieser Stadt, jetzt dreißig Jahre alt, ein Mensch recht und schlecht, so wie die meisten, nehme an, dass für mich ebenso gut wie für ein Dienstmädchen und einen Professor ein höchstes Gut, das eine ewige Seligkeit genannt wird, zu erwarten steht; ich habe gehört, daß das Christentum einem dieses Gut bedingt: nun frage ich, wie komme ich in ein Verhältnis zu dieser Lehre.“18
Wenn das Christentum eine Lehre ist, fragt sich Climacus, wie er sich als ein Mensch außerhalb dessen zu diesem verhalten kann und soll. Dies bringt Climacus 1846 zum ersten Mal wie eine verknüpfte Selbstvorstellung in der Einleitung der AUN zum Ausdruck. Besteht diese Absicht bereits 1844 in Kierkegaards Schriften? In den Forschungen am Entwurf der beiden Schriften wird gezeigt, dass ein Teil des Entwurfs der PhB von 1844 bis 1846 in AUN verwendet wird.19Außerdem wurden die beiden Climacus-Schriften bereits im Jahr 1844 als eine einheitliche Schrift gedacht und entworfen.20 Es zeigt sich auch, dass Kierkegaard 1844 zwischen der Arbeit an den PhB auch BA schrieb.21 Unter dem Pseudonym Vigilius Haufniensis (Kopenhagens Hüter) versucht Kierkegaard durch psychologische und phänomenologische Betrachtungen der Angst psychologische Annährungen an die Sünde. „Während die Psychologie die reale Möglichkeit der Sünde erforscht, erklärt die Dogmatik die Erbsünde und damit die ideelle Möglichkeit der Sünde.“22 Vigilius Haufniensis beschreibt die Angst und die Möglichkeit der Sünde in den Perspektiven der Psychologie. Allerdings ist die Psychologie bei Kierkegaard keine Psychologie in moderner Weise als experimentale und empirische Psychologie, sondern Kierkegaard beschreibt Angst als eine Stimmung des Menschen im Augenblick vor der Sünde. Mit Psychologie wird deswegen eine phänomenologische Beschreibung über den menschlichen Geist bezeichnet. Das Thema Sünde ist schon ein dogmatisches Thema. Vigilius erklärt die Beziehungen zwischen der Psychologie und der Dogmatik folgendermaßen: „Wenn sich das hier Entwickelte richtig verhält, dann wird man unschwer erkennen, mit welchem Recht ich die vorliegende Schrift eine psychologische Überlegung genannt habe und daß diese, sofern ihr Verhältnis zur Wissenschaft bewußt gemacht wurde, zur Psychologie gehört und wiederum zur Dogmatik tendiert.“23
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AUN in PhB & AUN (2005), S. 144 / AE in SKS 7, S. 25. Kondrup, 2004, S. 12. Kondrup, 2004, S. 17. Kondrup, 2004, S. 6. BA (1992), S. 29 / BA in SKS 4, S. 330. BA (1992), S. 29 / BA in SKS 4, S. 331.
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Weiter schreibt er: „Man hat die Psychologie die Lehre vom subjektiven Geist genannt. Wer dies etwas weiter verfolgt, der wird sehen, dass sie erst in die Lehre vom absoluten Geist umschlagen muß, wenn sie zum Problem der Sünde gelangt. Da liegt die Dogmatik.“24
Deswegen zielt Haufniensis mit der Betrachtung eines psychologischen Phänomens, bzw. der Angst, auf die Behandlung des dogmatischen Themas der Sünde. Danach verdeutlicht Climacus die Beziehungen zwischen Dogmatik und Psychologie bei Haufniensis. „So stand die Sache, da erschien eine Schrift: ‚Der Begriff der Angst‘, eine schlichte, hinweisende psychologische Untersuchung in Richtung auf das dogmatische Problem der Erbsünde.“25 In BA orientiert sich Haufniensis mit der Untersuchung der Angst an dem dogmatischen Thema der Sünde bzw. der Erbsünde. Als Hüter der Stadt Kopenhagen deutet Vigilius Haufniensis seine Position an, dass er sich von der Stadt Kopenhagen und seiner Zeit distanziert. Als Haufniensis weist Kierkegaard die Probleme seiner Zeit auf und erteilt den Zeitgenossen Ermahnungen. Nach Climacus ermahnt auch Haufniensis seine Zeitgenossen ihre geistigen Probleme anzugehen. „Im Übrigen ist Der Begriff der Angst von den anderen pseudonymen Schriften darin wesentlich verschieden, daß seine Form direkt und sogar ein bißchen dozierend ist.“26 Ich verstehe Kierkegaard als einen philosophisch-religiösen Schriftsteller, der weitaus philosophischer, in den Climacus-Schriften aber eher religiös, und dozierend in BA erscheint. Schäfer bringt in einer Anmerkung die beiden Pseudonyme in Zusammenhang, dass beide Pseudonyme „aus der Feder theologisch gebildeter Nichtchristen“27 stammen. Ich stimme zu, dass Climacus ein Nichtchrist sein muss. Aber ist Haufniensis auch ein Nichtchrist? Während Climacus nach dem Glauben sucht, erforscht Vigilius nüchtern das Problem der Sünde und gibt dem Menschen den Glauben als eine Lösung. Während Climacus Christwerden als eine persönliche Geschichte erzählt, beschreibt Haufniensis das Phänomen der Angst als einen Augenblick vor dem Sündenfall. Während Climacus deutlich ankündigt, dass er noch kein Christ ist, bleibt Vigilius über seine Konfession oder Position im Unklaren. Wie sich Haufniensis zum Christentum verhält, ist für ihn keine Frage, die es zu lösen gilt. Das hängt von dem Kontext und der gestellten Frage in jeder Schrift ab. Haufniensis beurteilt die Angst als Erziehungsmittel,28 24 25 26 27 28
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BA (1992), S. 29 / BA in SKS 4, S. 331. AUN in PhB & AUN (2005), S. 421 / AE in SKS 7, S. 244. AUN in PhB & AUN (2005), S. 422f / AE in SKS 7, S. 245. Schäfer, 1968, Anmerkung 115, S. 255. Vgl. BA (1992), S. 188 / BA in SKS 4, S. 459. „Mit Hilfe des Glaubens erzieht die Angst das Individuum dazu, in der Vorsehung zu ruhen.“
womit Gott den Menschen zum Glauben „bildet“29 bzw. führt. Mit dieser positiven Bedeutung der Angst für den Menschen unterstützt Haufniensis Climacus, dass die Sünde einen positiven Sinn im dialektischen Prozess des Christwerdens hat.30 Climacus stellt in AUN diesen positiven Sinn in drei Existenz-Sphären dar.31 In „Blick auf eine gleichzeitige Bestrebung in der dänischen Literatur“ interpretiert Kierkegaard unter Climacus seine anderen Schriften vor 1846 auch in Bezug auf Existenz-Sphären. Für Climacus befindet sich die Angst, die sich auf die Sünde bezieht, auf religiöser Ebene. „Wie Furcht und Zittern der Zustand des teleologisch Suspendierten war, indem Gott ihn versucht, so ist Angst der Seelen-Zustand des teleologisch Suspendierten in jener verzweifelten Befreiung von der Realisierung des Ethischen.“32
Die Sünde bei Haufniensis gehört auch zur menschlichen Existenz und kann nicht wie normalerweise als ein ethischer Begriff verstanden werden kann. „Die Sünde ist entscheidend für eine ganze Existenz-Sphäre, die im strengsten Sinne religiöse.“33 Mit der Angst hat die Sünde als Unwahrheit einen positiven Sinn für die subjektive Wahrheit bzw. für das Christwerden. Auf diese Weise orientiert sich Haufniensis nicht nur an der Sünde, sondern auch an der Erlösung von der Sünde bzw. am Glauben in BA und Christwerden wie bei Climacus. Im Hinblick auf das Christwerden kann ich deshalb die zwei Pseudonyme und ihre Schriften in engen Zusammenhang bringen. Christwerden bzw. der Sündenfall und die Erlösung von der Sünde als ein Schnittpunkt werden nach meiner Auffassung durch die Begründungen von Haufniensis und Climacus über die Kategorie Augenblick in BA und in den Climacus-Schriften dargestellt. Schäfer schreibt über den Zusammenhang zwischen den beiden Pseudonymen im Hinblick auf den Augenblick: „Der Begriff Angst ist bei der Interpretation der Climacus-Schriften mit Vorrang heranzuziehen, weil dieses Buch denen des Climacus nähersteht als alle anderen pseudonymen Schriften.“34 Aus ontologischer Perspektive nimmt er dort die Kategorie Augenblick und Zeitlichkeit in der Einleitung des dritten Kapitels in BA als ei29
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Vgl. BA (1992), S. 186 / BA in SKS 4, S. 458. „Indem nun das Individuum durch die Angst zum Glauben gebildet wird, will die Angst oben das ausrotten, was sie selbst hervorbringt.“ Siehe: Der positive Sinn der Sünde in Kapitel 5.4. Existenzstadien Vgl. AUN in PhB & AUN (2005), S. 694 / AE in SKS 7, S. 455. „Es gibt drei Existenzsphären: die ästhetische, die ethische, die religiöse.“ AUN in PhB & AUN (2005), S. 422 / AE in SKS 7, S. 244. AUN in PhB & AUN (2005), S. 421 / AE in SKS 7, S. 244. Schäfer, 1968, S. 67. In Anmerkung 115, S. 255 stellt Schäfer die Ähnlichkeiten zwischen PhB und BA dar. Er zeigt dort, dass die Frage nach der Bedeutung der Geschichte „für das Verständnis des Einzelnen“ in beiden Schriften gestellt wird.
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nen wichtigen Schnittpunkt an und gibt eine ontologische zeitliche Begründung für das menschliche Dasein.35 Ich finde diesen Schnittpunkt von BA und den Climacus-Schriften im Augenblick. Mit BA und Climacus-Schriften kann ich eine komplette Auffassung über den Augenblick in Kierkegaards Existenzauffassung entwickeln. Haufniensis und Climacus schreiben über den Augenblick aus verschiedenen Perspektiven. Mithilfe der Kategorie Augenblick wird Kierkegaards Zeit- und Existenzauffassung entfaltet. Das ist eine der wichtigsten Thesen dieser Arbeit, weswegen ich nur über die Perspektive Kierkegaards in Bezug auf Augenblick in beiden Schriften referiere. Wie wird der Augenblick von Haufniensis beschrieben? Haufniensis konzentriert sich nicht auf die Zeit als eine Zeitlinie, sondern als einen zeitlichen Pol in der menschlichen synthetischen Struktur. Mit dem Augenblick stellt Haufniensis den zeitlichen Ausdruck (der Mensch als eine Synthese aus Zeitlichem und Ewigem) für die menschliche Synthese (der Mensch als eine Synthese aus Leiblichem und Seelischem) dar. Der Augenblick gilt bei Haufniensis als die zeitliche Beschreibung für den Moment der Angst und für den Moment des Daseins des Geistes.36 „Die Angst war, wenn ich einen Ausdruck gebrauchen soll, der das gleiche besagt, was im Vorhergehenden gesagt wurde, und der gleichzeitig auf das Folgende verweist, die Angst war der Augenblick im individuellen Leben.“37
Mit dem Wort „das Folgende“ wird auf die Zeit verwiesen. Haufniensis widmet der Zeit bzw. dem Augenblick das ganze Kapitel III in BA. In der Einleitung des Kapitels III von BA führt Haufniensis eine Untersuchung des Augenblicks durch. Diese Untersuchung geht von der Analyse über die menschliche synthetische Struktur im ersten und zweiten Kapitel aus. Im dritten Kapitel von BA wird zusätzlich betont, dass der Mensch nur eine Synthese ist. „Die Synthese von Zeitlichem und Ewigem ist keine zweite Synthese, sondern Ausdruck jener ersten Synthese, derzufolge der Mensch eine Synthese aus Seele und Körper ist, getragen von Geist.“38
Deswegen wird der Augenblick im Zusammenhang zwischen dem zeitlichen Pol und dem ewigen Pol des Menschen bestimmt und beschrieben.
35 36
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Schäfer, 1968, S. 68. Siehe: Doppelsynthese des Menschen, Entdeckung des zeitlichen Pols sowie des zeitlichen Ausdrucks für die erste Synthese in Kapitel 3.1 und 3.2. Siehe: Der Augenblick des Daseins des Geistes gilt als der Anfang des Menschen, und die Unmittelbarkeit der menschlichen Sünde in Kapitel 4.1. BA (1992), S. 96 / BA in SKS 4, S. 384. BA (1992), S. 104 / BA in SKS 4, S. 392.
„So verstanden, ist der Augenblick nicht eigentlich das Atom der Zeit, sondern der Ewigkeit. Er ist der erste Reflex der Ewigkeit in der Zeit, ihr erster Versuch, die Zeit gleichsam anzuhalten.“39
Haufniensis beschreibt den Augenblick aus anthropologischer Perspektive und auf Basis der menschlich synthetischen Struktur. Im Augenblick der Angst vor dem Sündenfall entdeckt der Mensch den leiblichen Pol in seiner Synthese und damit seinen zeitlichen Pol und dadurch den ewigen Pol. Der Mensch ist sich zum ersten Mal der zeitlichen und ewigen Synthese bewusst. Er ist von der Zeit begrenzt. Die Entdeckung des ewigen Pols des Menschen in seiner Struktur ist „der erste Reflex“ des Menschen auf die Ewigkeit, der in der Zeit lebt. In diesem Augenblick der Entdeckung versucht der Mensch in der Zeit von seiner Seite einseitig die Zeit anzuhalten, weil der Mensch in diesem Augenblick zur Ewigkeit bzw. der Mensch in diesem Augenblick zu einem unsterblich Lebenden tendiert. Deswegen ist dieser Augenblick „das Atom der Ewigkeit“ für den Menschen. So schreibt Haufniensis: „Der Begriff, um den sich alles im Christentum dreht, der alles neu gemacht hat, ist die Erfüllung der Zeit, und die Zeit, die erfüllt ist, das ist der Augenblick als das Ewige, und doch ist dieses Ewige gleichzeitig das Zukünftige und das Vergangene.“40
Wenn der Mensch in diesem Augenblick als Atom der Ewigkeit zur Ewigkeit tendiert, bedeutet dies, dass er in diesem Augenblick eine Ganzheit der Zeit gewinnen will. In BA interpretiert Haufniensis „Erfüllung der Zeit“ im Sinne der Ganzheit: Der Mensch will mit Zukünftigem und Vergangenem diesen gegenwärtigen Augenblick erfüllen, bzw. der Mensch will in diesem Augenblick eine Ganzheit der Zeit erfahren. Mit dieser Tendenz des Menschen zur Ewigkeit stellt Haufniensis ein einseitiges Verhältnis vom Menschen als ein von der Zeit begrenzt Lebender zur Ewigkeit bzw. zu Gott dar. Aber dieses Verhältnis scheitert, weil in diesem Augenblick im Menschen die Angst eintritt und gleich danach der Sündenfall geschieht. Deswegen ist das Verhältnis ein Missverhältnis vom Menschen zur Ewigkeit und damit zu Gott. Haufniensis beschreibt den Augenblick anthropologisch und aus der Perspektive des einseitigen Verhältnisses vom Menschen zu Gott. Gleichzeitig verlangt Haufniensis, von diesem Missverhältnis bzw. von der Sünde ausgehend, expliziert mit dem Glauben am Ende von BA, ein richtiges Verhältnis vom Menschen zu Gott und zu sich selbst. Diese Forderung ist die Forderung nach der Erlösung von der Sünde. Wie wird der Augenblick von Climacus begründet? Climacus behandelt das Problem der Wahrheit „Wieweit kann die Wahrheit gelehrt werden?“41 bzw. wie 39 40 41
BA (1992), S. 104 / BA in SKS 4, S. 392. BA (1992), S. 106 / BA in SKS 4, S. 393. PhB (1984), S. 12 / PS in SKS 4, S. 218.
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wird der Mensch von der Sünde errettet? Im Vergleich zu Kapitel III in BA behandelt Climacus den Augenblick christologisch und anthropologisch. „Und nun der Augenblick. Ein solcher Augenblick ist von einer eigenen Natur. Wohl ist er kurz und zeitlich begrenzt, wie ein Augenblick das ist, vorübergehend wie ein Augenblick ist, im nächsten Augenblick vorübergegangen wie ein Augenblick, und doch ist er das Entscheidende, und doch ist er erfüllt vom Ewigen. Ein solcher Augenblick muß doch einen besonderen Namen haben. Nennen wir ihn: Fülle der Zeit.“42
Climacus stellt mit „Fülle der Zeit“ den Augenblick, nämlich die Inkarnation Gottes bzw. Gott in der Zeit dar. „Fülle der Zeit“ bedeutet bei Climacus, dass Gott, die Ewigkeit, in die Zeit kommt. Mit diesem Augenblick zeigt Climacus nicht mehr das Verhältnis vom Menschen zu Gott, sondern das Verhältnis von Gott zum Menschen. Das Scheitern des Menschen bei Haufniensis liegt darin, wie Climacus zeigt, dass sich der Mensch in der Zeit einseitig zur Ewigkeit verhalten will, bzw. dass dem Menschen die Bedingung fehlt, um in der Unwahrheit zur Wahrheit zu gelangen.43 In diesem Augenblick der Inkarnation als Gott in der Zeit kommt Gott in die Zeit und gibt dem Menschen die Bedingung zur Wahrheit bzw. zur Erlösung von der Sünde.44 Gott muss dem Menschen diese Bedingung zuerst geben und danach kann sich der Mensch zu Gott und zu sich selbst richtig verhalten.45 Deshalb hat dieser Augenblick der Inkarnation die entscheidende Bedeutung für die ganze menschliche Existenz: Der Augenblick des Menschwerdens oder Christwerdens.46 So gesehen betrachtet Climacus den Augenblick christologisch und anthropologisch. Davon ausgehend stehen BA und Climacus-Schriften in Hinblick auf Kierkegaards Existenzauffassung bzw. Auffassung über das Menschwerden in engem Zusammenhang. Ich kann deshalb diese drei Werke als die Hauptreferenzwerke in dieser Arbeit behandeln.
1.3 Perspektive und Methode Ich werde in dieser Arbeit Kierkegaards Zeit- und Existenzauffassung zunächst aus anthropologischer Perspektive betrachten. Die Schwierigkeit besteht darin, dass es bei Kierkegaard keine Anthropologie im heutigen Sinne gibt. Nach der Disziplin der heutigen Anthropologie wird gefordert, dass wissenschaftliche systematische Theorien formal aufgebaut werden. In Kierkegaards Existenzauffas42 43 44 45 46
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PhB (1984), S. 20 / PS in SKS 4, S. 226 . Siehe: Die Bedingung zur Erlösung von Gott in Kapitel 4.2 und 5.3. Siehe: Die Negativität der Wahrheit in Kapitel 5.4. Siehe: Die subjektive Wahrheit in Kapitel 5.4. Siehe: Das Menschwerden in Kapitel 5.2.
sung gibt es keine solche formale systematische und theoretische Anthropologie wie in der modernen Disziplin.47 Gemäß einer der neuesten anthropologischen Positionen, bedeutet Anthropologie die ständige Reflexion des Menschen über sich selbst.48 Nach dieser Forschungsposition bestehen das Anliegen und der wichtigste Inhalt der heutigen Anthropologie immer noch im Menschen selber, obwohl sie eine moderne systematische und wissenschaftliche Form verfolgt. In seiner Existenzauffassung beschreibt Kierkegaard den Menschen als einen in vielfältigen Verhältnissen Existierenden: Der Mensch ist in einem Verhältnis mit Gott gesetzt (das GottMensch-Verhältnis); auf dieser Basis befindet sich der Mensch in einem Doppelverhältnis, das Selbst-Verhältnis, das auf dem Gott-Menschverhältnis basiert (das Verhältnis zu sich Selbst);49 der Mensch ist eine Doppelsynthese (das Verhältnis zwischen dem leiblich-zeitlichen Pol und dem seelisch-ewigen Pol in einem Menschen);50 der Mensch verhält sich in der Gegenwart zu seiner momentanen Situation und auch zu seiner Zukunft.51 In seiner Existenzauffassung stellt Kierkegaard nicht nur die Verhältnisse dar, sondern er zeigt auch, dass der Mensch als ein Existierender seine eigene Existenz nicht wie ein erkennendes Objekt behandeln, sondern in der Existenz (im Existieren) seine eigene Existenz „verstehen“ soll. Der Mensch ist in das Doppelverhältnis gesetzt und gleichzeitig hat er eine Reflexion zu dem Verhältnis, weil er daran denkt, was das Verhältnis für ihn bedeutet. Solch eine Reflexion ist nach Kierkegaard eine Doppelreflexion, das subjektive Denken des Menschen über seine eigene Existenz.52 Davon ausgehend gilt die ständige „lebensweltliche Selbstreflexion“ als das anthropologische Anliegen, als der Schnittpunkt zwischen der modernen Anthropologie und Kierkegaards Existenzauffassung bzw. das subjektive Denken des Existierenden. Ich kann deshalb eine anthropologische Interpretation von Kierkegaards Existenzauffassung durchführen. 47
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Vgl. Schultzky, 1977, S. 11. „Kierkegaard hat keine Anthropologie verfaßt. Die wissenschaftliche Erforschung des Menschen mit dem Ziel, generelle Theorien über ihn zu bilden, lag nicht in seiner Absicht.“ Vgl. Schoberth, 2006, S. 11. „Anthropologie erschöpft sich nicht in einer wissenschaftlichen Theorie über den Menschen; sie zielt vielmehr auf die lebensweltliche Selbstreflexion des Menschenseins. “ Das Doppeltverhältnis des Menschen wird in Kapitel 4 und 5 intensiv bearbeitet und begründet. Siehe: Mensch als eine Synthese in Kapitel 1.1 und 3.1. Das Verhältnis wird in Bezug auf den Augenblick (die Zeit) und auf die Existenzdialektik in Kapitel 5 erklärt. Das Verhältnis wird mit Angst dargestellt, siehe Kapitel 3.2 und 3.3. Das subjektive Denken und die Doppelreflexion des Menschen finden sich in Kapitel 5.2.
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Schultzky bezieht den Beweis für eine implizite Anthropologie Kierkegaards auf das Feld des „Zur-Sprache-Kommens“. Er erklärt: „Wir betrachten daher ‚Kierkegaards Anthropologie‘ vorläufig nicht als dessen Darstellung seiner generellen Theorie über den Menschen, sondern als ein Feld, innerhalb dessen Kierkegaards Wahrnehmung des Menschen mitteilbar wird und wohl auch in bestimmtem Sinne theoretische Gestalt annimmt.“53
Abgesehen von seiner Interpretationsterminologie bezieht sich die Vorstellung von der Anthropologie Kierkegaards auf die Emotionen des Menschen und die Verhältnisse zu anderen. Ich bin der Auffassung, dass Kierkegaards Anthropologie nicht nur als ein Feld bezeichnet, sondern auch mit dem subjektiven Denken zum Ausdruck gebracht werden kann. Um seine Auffassungen zu begründen, gab Schultzky den Lesern eine Reihe unterschiedlicher Methoden der Anthropologie bei Kierkegaard. Nach Schultzky können mithilfe des „Zur-Sprache-Kommens“ die anthropologischen oder hermeneutischen Interpretationen in vier Arten aufgeteilt werden. Seiner Auffassung nach hatten Hermann Diem, Emanuel Hirsch, Jann Holl und Josef Brechtken schon anthropologische Perspektiven, obwohl sich die ersten Drei auf Kierkegaards „Konzeption des Selbst“ konzentrierten und der Letzte auf das Verstehensproblem „in der Paradoxie der inneren Geschichte Kierkegaards“.54 Nur Sløk brachte direkt „Kierkegaards Anthropologie“ zum Ausdruck, und die Interpretation von Michael Theunissen erreicht das „Zur-Sprache-Kommen des Menschen“.55 Die Forscher versuchten, die Interpretationen der Anthropologie bei Kierkegaard plausibel zu begründen, unter der Bedingung, dass Kierkegaard selber keine Anthropologie begründet hatte. Allerdings dürfen nach meiner Auffassung alle oben genannten anthropologischen Interpretationen eine wichtige Voraussetzung nicht ignorieren: die Existenzauffassung Kierkegaards. Kierkegaard stellt sein anthropologisches Anliegen mit eigener Terminologie dar, worin er den Menschen direkt beschreibt oder sich auf den Menschen bezieht: Der Mensch, der Einzelne, der Existierende, das Selbst, das Subjekt, die Angst, die Verzweiflung, die Leidenschaft, der Glaube. Statt einer systematischen Anthropologie beschreibt Kierkegaard in seinen Schriften vielfältige Phänomene und Situationen sowie Möglichkeiten der menschlichen Existenz.56 Nach meiner Auffassung schafft die Pseudonymität Kierkegaard diese Möglichkeit, denn mit Hilfe der unterschiedlichen Pseudonyme lässt er die unterschied-
53 54 55 56
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Schultzky, 1977, S. 14. Schultzky, 1977, S. 47. Schultzky, 1977, S. 14. Siehe: Die Existenz in Kapitel 5.1.
lichen Personen57 oder sich selbst aus Perspektiven der unterschiedlichen Personen über ihre eigene Existenz-Situationen wie z.B. Angst und Verzweiflung sowie ihr Streben nach ewiger Seligkeit z.B. Glauben und Wahrheit sprechen und ihre Meinungen im Dialog darbringen. In solchen Beschreibungen zeigt sich Kierkegaards anthropologisches Anliegen. Dass der Mensch „in einer Mehrzahl von Geltungsdimensionen zur Sprache kommt“, ist nach Schultzky ein Feld des anthropologischen Interesses bei Kierkegaard. Die Existenzauffassung Kierkegaards besteht in konkreten Verhältnissen und konkreten Situationen der menschlichen Existenz. Mit der Konkretation58 der menschlichen Existenz bezeichnet Kierkegaard den wesentlichen Unterschied seines subjektiven Denkens von dem objektiven Denken: Im subjektiven Denken Kierkegaards wird der Mensch nicht als der erkannte Gegenstand wie im objektiven Denken behandelt, sondern der Mensch wird als ein in der Zeit Existierender mit unterschiedlichen Emotionen und Wahrnehmungen beschrieben. Mithilfe der Zeit und der Emotion führt Kierkegaard psychologische und phänomenologische Betrachtungen59 (in Kierkegaards Sinne) über den Menschen und die konkrete menschliche Existenz durch. Der Mensch in der Zeit gilt weder als ein stabiler Zustand noch als ein stilles Objekt. Kierkegaard beschreibt das Menschwerden statt das Menschsein.60 Mit dem Menschwerden werden der Mensch in der Zeit und seine Reflexion in einer konkreten Situation beschrieben. Ich nehme deswegen in meinen anthropologischen Interpretationen die Kategorie Augenblick (einen entscheidenden Augenblick in der Lebenszeit des Menschen) und Angst (eine Art der Reflexion bzw. der Emotion) als Ausgangspunkte, um Kierkegaards anthropologisches Anliegen bzw. seine Existenzauffassung zu interpretieren. Durch meine Auseinandersetzung mit Schultzky wurde der Gegenstand dieser Arbeit in Bezug auf Augenblick und Angst dargestellt. Im Folgenden werde ich meine anthropologischen Perspektiven und Methoden mithilfe der Diskussion zwischen Johannes Sløk und Klaus Schäfer weiter ausführen.
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Bei Schultzky wurde der Mensch „als Sprechender“, „als Angesprochener oder als Dritter“, als „ein solcher besonderer Mensch oder als Mensch in generell“, oder „als wirklicher Mensch oder als hypothetischer Mensch“ benannt. „Damit soll keine Pluralität von ,Anthropologien‘ in Kierkegaards Werk behauptet [werden],“ Schultzky, 1977, S. 68. Ich stimme Schultzkys Argumentation zu. Meiner Meinung nach bezieht sich Kierkegaards anthropologisches Anliegen nicht auf den allgemeinen Menschen, sondern auf den einzelnen Menschen. Siehe: Konkretion in Kapitel 2.3 und 5.1. Siehe: Psychologische und phänomenologische Betrachtungen in Kapitel 1.1 und 3.1. Siehe: Existenz in Kapitel 5.1, Werden in Kapitel 5.2 und Menschwerden und Menschsein in Kapitel 5.2.
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Sløks Die Anthropologie Kierkegaards wurde 1954 aus dem Dänischen ins Deutsche übersetzt. Diese Monographie brachte zum ersten Mal die Anthropologie Kierkegaards unter diesem Titel heraus. Viele der bisherigen Forschungen zu anthropologischen Problemen bei Kierkegaard sind von der Untersuchung dieses Buches beeinflusst. In Sløks Interpretation werden Zeit, Ewigkeit und Augenblick bei Kierkegaard in Zusammenhang gebracht. Klaus Schäfer ging vom Seinsproblem im ersten Teil der AUN aus und versuchte, eine hermeneutische Ontologie bei Kierkegaard zu finden und zu begründen. In seiner Dissertation Hermeneutische Ontologie in den ClimacusSchriften Sören Kierkegaards, die im Jahr 1968 erschien, legte er den Begriff Sprung als den zentralen Begriff in seiner ontologischen Interpretation der Existenzauffassung Kierkegaards bzw. des Menschwerdens fest. In seiner Dissertation wurde der Augenblick sowie die Zeit schon im Kontext der Selbstbewegung sowie der Verwirklichung des Selbst (des Menschwerdens) interpretiert. Allerdings wurde der Augenblick theoretisch erklärt bzw. der Augenblick als die Augenblicklichkeit im Rahmen seiner Ontologie bezeichnet. Sløk und Schäfer waren ebenso mit der Frage konfrontiert: Gibt es eine Anthropologie in Kierkegaards Existenzauffassung? Sløk beschränkte seine Arbeit auf die Meinungen Kierkegaards über die Aufgabe des Menschen und die Konkretation in der menschlichen Existenz. Er erstellte drei Reihen wichtiger Kategorien, um das Feld seiner Interpretation der Anthropologie Kierkegaards zu markieren. Dabei legte er großen Wert auf Kierkegaards Analysen über den Menschen, der Mensch als ein Verhältnis bzw. „der Mensch ist ein Verhältnis, das sich zum Verhältnis verhält und im Sich-zum-Verhältnis-Verhalten verhält er sich zu sich selbst.“61 Mit diesem Hintergrund wird die Transzendenz bei Kierkegaard von Sløk rein immanent und existenziell interpretiert.62 Obwohl Schäfers Dissertation dreizehn Jahre später nach Kierkegaards Anthropologie von Sløk erschien, wollte Schäfer den Weg der Anthropologie Kierkegaards nicht weiter gehen. Stattdessen ging seine Frage von der Seinsfrage aus. Das bedeutet, dass er die traditionelle metaphysische bzw. ontologische Terminologie in seiner Interpretation beibehält. Allerdings war Schäfers Auffassung der Ontologie bei Kierkegaard nicht mehr traditionell, wie in der griechischen Metaphysik und dem deutschen Idealismus, sondern legte Wert auf die Seinsweise des Menschen. Wie vollzog Kierkegaard diese Änderung nach Schäfers Auslegung? „Der Begriff des Da-seins vermag die Weise, wie jeder Mensch für sich gegeben ist anfangsweise zu bezeichnen.“63 Unter der Bestimmung des Daseins ging Schäfers Entfaltung um das Werden des Selbst bzw. wie ein Da61 62 63
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Sløk, 1954, S. 32. Siehe: Auseindersetzung von Malantschuk zu Sløk in Kapitel 4.2. Schäfer, 1968, S. 88.
sein ein faktisches Sein werden kann. Schäfer wird von Heideggers Daseinsanalyse beeinflusst und betont aus dieser Perspektive, dass das Dasein als Seinsweise des Menschen bereits bei Kierkegaard wichtig ist. Nach meiner Auffassung steht das Dasein des Menschen bei Kierkegaard noch nicht an zentraler Stelle in seinen Analysen der menschlichen Struktur. In seiner Dissertation räumte Schäfer nicht ein, dass er Kierkegaard bzw. Climacus aus anthropologischer Perspektive interpretiert. Allerdings ist seine Entfaltung nach meiner Auffassung schon anthropologisch, wenn das Dasein des Menschen als Gegenstand seiner Forschung gedacht wird. In einem seiner Aufsätze erklärt Schäfer nach der Publikation seiner Dissertation, was mit dem Titel „Hermeneutische Ontologie“ gemeint ist. „Kierkegaards ontologische Überlegungen sind hermeneutisch: sie leben von dem Willen des jeweiligen Denkers, sich in seiner menschlichen Existenz zu verstehen. Sie sind sinnvoll nur als eine Form jener Reflexion, in der der Denker von seiner Existenz her sich in ihr denkend zu verstehen sucht. Und sie dienen der begrifflichen Artikulation der Aussagen, mit denen ein so Denkender seine Mitmenschen auf die von ihrem ,esse‘ ausgehende Forderung aufmerksam macht, sich selbst zu verstehen.“64
Das Selbstwerden in unterschiedlichen Verhältnissen ist nach Schäfer ein hermeneutischer Prozess des Menschen in seiner Existenz. In diesem Zitat räumt Schäfer mit „hermeneutischer Ontologie“ auch ein, dass er, die von Kierkegaard geforderte Aufgabe an den Menschen und an die menschliche Existenz bzw. sich selbst in der Existenz zu werden und so gut wie möglich zu existieren, aus hermeneutischer Perspektive interpretiert hat. Das heißt, Schäfers Ausgangspunkt ist zwar ontologisch, allerdings liegt sein Ziel auf dem Menschen und dessen Existenz, das gleich dem der Anthropologie ist. Im Gegensatz zu Schäfer bringt Sløk die Anthropologie Kierkegaards direkt zum Ausdruck. Nach Sløk konnte Kierkegaard aus anthropologischer Perspektive direkt interpretiert werden, weil eine von Kierkegaards Grundfragen auf den Menschen selbst zielt. „Er [der Mensch] interessierte sich für sich selbst und seine eigenen inneren Probleme.“65 Um diese Probleme zu beobachten, konnte nicht die moderne psychologische Perspektive verwendet werden, sondern die allgemein anthropologische. Weiter unterscheidet Sløk den Menschen, mit Hinweis auf die Unterscheidungen Kierkegaards, als den Gegenstand der Anthropologie, vom Menschen als den Gegenstand der Ethik, und auch den Menschen als das Individuelle vom Menschen als das Allgemeinmenschliche.66 Allerdings ist Kierkegaards Punkt 64 65 66
Schäfer, 1971, Anmerkung 28, S. 444. Sløk,1954, S. 12. Vgl. Sløk,1954, S. 19f.
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nicht die reine Scheidung zwischen den beiden, sondern nach Sløk bildet er mit der Intention der Unterscheidung zwischen den beiden den Ausgangspunkt zu seiner anthropologischen Betrachtung. „Sein [Kierkegaards] Ausgangspunkt ist im Grunde genommen nicht eine solche Scheidung zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinmenschlichen, vielmehr geht er davon aus, dass der Mensch in der unmittelbaren Betrachtung seiner selbst ganz individuell ist und daher kein Kriterium besitzt um eine Unterscheidung zwischen bedeutungsvollen und bedeutungslosen Elementen vorzunehmen.“67
Davon ausgehend richtet sich aber Sløks Begründung nicht direkt auf die Konzentration der menschlichen Existenz, sondern auf die Kategorien, womit Kierkegaard den individuellen Menschen beschrieben hat. Sløk verwendet diese Vorgehensweise, weil er die gleiche Frage anstößt, ob es eine Anthropologie bei Kierkegaard gibt. Mithilfe der Kategorien vermeidet es Sløk eine systematische Anthropologie bei Kierkegaard zu sehen, die Kierkegaard selber mit Absicht vermieden hat. Gleichzeitig kann Sløk mit den Kategorien die anthropologischen Auffassungen Kierkegaards in einer akademischen Weise erklären. Sløk beantwortet die Frage, ob es bei Kierkegaard Anthropologie gibt, nicht direkt. Allerdings sind die Kategorien gute Beweisstücke, weil die Kategorien aus der Terminologie Kierkegaards über den Menschen stammen. Obwohl die Perspektiven und die Methoden von Schäfer und Sløk unterschiedlich sind, erreichen beide Forscher das gleiche Ziel: Die Seinsweise oder die Existenz des Menschen als das Individuelle in konkreter Situation bei Kierkegaard zu fassen und zu erklären. Kierkegaards Fokus auf die Seinsweise zeigt sein Anliegen in Bezug auf den Menschen. Mit diesem Anliegen wird das Feld der Anthropologie Kierkegaards erfasst, aus dem die Arbeiten von Sløk und Schäfer hervorgehen. Woraus entstehen die unterschiedlichen Perspektiven der beiden Forscher? Durch Beantwortung dieser Frage werde ich meine eigene Perspektiven und Methoden in dieser Arbeit angeben. Nach meiner Auffassung entstehen die Unterschiede aus Kierkegaards Existenzauffassung selber: Er verwendet in seiner Begründung über den Menschen ontologische Terminologie, und er richtet sich auch auf das ontologische Problem, das Denken und das Sein, aber er baut keine Ontologie im traditionellen Sinn auf.68 Kierkegaard gibt eine ontologische, strukturelle Grundlage des Menschen und Begründung für das Menschwerden.69 Sein Anliegen ist anthropologisch, aber seine Methoden und Perspektiven sind unvermeidlich ontologisch. Bei Sløk wird das anthropologische Anliegen betont, 67 68 69
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Sløk, 1954, S. 21. Siehe: Kierkegaards Verwendung der Terminologie des deutschen Idealismus in Kapitel 2.3. Siehe: Über das Menschwerden in Kapitel 5.2 und 5.3.
während Schäfer die ontologischen Methoden wertschätzt. Ich interpretiere Kierkegaards Existenzauffassung aus anthropologischer und aus ontologischer Perspektive. Als eine Kategorie hat Angst in Bezug auf Sünde und auf Glauben ontologische und gleichzeitig in Bezug auf die menschliche Emotion anthropogische Funktionen. Als eine Kategorie hat Augenblick in Bezug auf Sprung (Sündenfall, Glaube, Menschwerden) ontologische und gleichzeitig in Bezug auf Zeit und Wahrnehmung anthropologische Funktionen. Ich nehme beide als Ausgangspunkte, um Kierkegaards Existenzauffassung zu betrachten. Aber die anthropologische und ontologische Perspektive werden mit einer religionsphilosophischen Perspektive in Zusammenhang gebracht.
1.4 Terminologie: Was bedeutet der Augenblick bei Kierkegaard? In der gesamten Arbeit wird die Existenzauffassung Kierkegaards in Bezug auf Angst und Augenblick entwickelt. Warum wird der Augenblick zuerst analysiert? Der Augenblick gilt als eine besondere Kategorie bei Kierkegaard und als der Leitfaden für weitere Begründungen, weswegen ich ihn hier vor allem wörtlich und terminologisch erklären möchte. Was bedeutet das Wort „Augenblick“? Beim Wort „Augenblick“ gibt es zwei Teile, „Auge“ und „Blick“. Das Substantiv „Blick“ kommt vom Verb „blicken“. Das Auge blickt schnell. Das heißt, die Dauer des Blicks ist kurz. Deswegen wird eine kurze Zeit oder ein Moment mit dem Wort „Augenblick“ bezeichnet. Wenn man das Wort Augenblick verwendet, kann ein kleiner Moment entweder in der Vergangenheit sowie im Jetzt oder in der Zukunft gemeint sein. Der Blick ist zwar kurz, dennoch dauert er eine kurze Zeit in der Zeit. Die Bedeutung des Wortes kann sich einmal auf die Aktion und einmal auf die Dauer beziehen. Was kann in einem solchem kurzen Zeitraum des Augenblicks passieren? Entweder nichts, weil die Zeitlinie aus unendlich vielen Augenblicken besteht, oder etwas Bestimmtes. Etwas kann in einem Augenblick verschwunden sein oder kann in einem Augenblick vorkommen. Eine Veränderung kann in einem Augenblick passieren. Augenblick bezieht sich auf die Augen, das empfindlichste und anschaulichste Sinnesorgan des Menschen. Mit den Augen kann der Mensch ohne Vernunft etwas direkt wahrnehmen. Die Worte „der Augenblick“ ist eine Übersetzung der dänischen Worte „et Øjeblik“ oder „Øjeblikket“.70 In Kierkegaards Zeit wurden sie „et Øieblik“ oder 70
Erklärungen über „Øjeblikket“ in Dänisch, Vgl. http://ordnet.dk/ods/ordbog?query= Øjeblik
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„Øieblikket“ geschrieben. „Øje“ ist die Bezeichnung für die Augen und „blik“ bedeutet auch der Blick der Augen. In der Geschichte des modernen Dänisch leistet im Grunde Kierkegaards Schrift über den Augenblick auch einen wichtigen Beitrag zu der Entwicklung der Bedeutungen des Wortes („et Øjeblik“).71 Die Verwendungen Kierkegaards vertiefen und prägen die Bedeutungen des Wortes. Auf Englisch wird „et Øjeblik“ mit dem Wort the moment und instant
72 Das Wort teilt sich im Englischen in verschiedene Bedeutungen auf: Movement (Bewegung) sowie cause (Ursache), change (Veränderung), part (Teil), short time (kurzer Zeitraum). Wenn „et Øjeblik“ mit „the moment“ übersetzt wird, ist der kleine Zeitraum auf der unendlichen Linie gemeint. Im Deutschen gibt es auch das Wort „der Moment“, der die gleiche Bedeutung von „the moment“ hat. Aber aus der Bedeutung zu schließen, scheint „der Augenblick“ näher von „et Øjeblik“ als „the moment“ zu stammen. Bisher wurde die populärste Übersetzung von Kierkegaards Hauptwerk (bzw. BA und PhB) ins Chinesische aus dem Englischen übersetzt.73 Das Wort „the moment“ wird mit „▐斜“ (shun jian) übersetzt. Manche chinesische Zeichen haben zwei Teile. Ein Teil bezeichnet die Bedeutungen oder zumindest elementare Bedeutungen, und der andere Teil bezeichnet die Aussprache oder den Klang. Alle Zeichen mit „┠“ als ein Teil haben in ihrer Bedeutungen mit den Augen zu tun. Das „┠“ kommt aus dem Bild für ein Auge. Es gibt zwei Zeichen im Wort „▐斜“, und das erste Zeichen „▐“ besteht bereits aus zwei Teilen. „┠“ ist das Zeichen für die Augen. „⯗“ ist die Aussprache und hat keine Bedeutung in diesem Zeichen. „斜“ bedeutet „ein Raum“. „▐斜“ bedeutet eine kurze Zeitdauer oder Zeitraum im Laufe der Zeit. Das Zeichen „▐“ erhält zwar keine Bewegung der Augen, aber ursprünglich wird mit diesem Zeichen ein kurzer Blick der Augen bezeichnet. „▐斜“ ist auch die Schriftsprache für den Ausdruck „୍╅║㖞斜“ in der Umgangssprache, der „ein kurzer Zeitraum eines Blicks der Augen“ bedeutet. Obwohl Chinesisch und Deutsch sowie Dänisch ganz unterschiedliche Sprachsysteme haben, finde ich die Übersetzung ins Chinesische auch näher an der deutschen und dänischen Bedeutung als vergleichsweise das Englische am Deutschen und Dänischen. 71 72 73
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Kierkegaard und „Øjeblik“. Vgl. http://ordnet.dk/ods/ordbog?query=Øjeblik The Oxford Dictionary of Word Origins: http://www.oxfordreference.com/views/EN TRY.html?subview=Main&entry=t292.e3255 Es gibt bereits Direktübersetzungen von Über den Begriff Ironie und Entweder Oder aus dem Dänischen, herausgegeben von der Akademie für Geistwissenschaft und Soziologie in China unter Mitarbeit des Kierkegaard-Instituts in Kopenhagen. Über den Begriff Ironie wurde von Tang, Chenxi übersetzt. Entweder Oder wurde von Jing, But übersetzt.
Was meint Kierkegaard mit der Kategorie „der Augenblick“? Kierkegaard bestimmt und beschreibt Augenblick aus unterschiedlichen Perspektiven: anthropologische, christologische (theologische), ontologische und existenzielle.74 Ich bin der Auffassung, dass sich Kierkegaard mit den unterschiedlichen Perspektiven an der existenziellen Betrachtung und Interpretation orientiert. Ich fasse Kierkegaards Verwendungen von Augenblick in drei Bedeutungen:
(1) Bedeutungsloser Moment: Augenblick gilt nur als ein zeitlicher Ausdruck für einen kleinen Moment auf der Zeitlinie.75 In diesem Sinn verwendet Kierkegaard das Wort Augenblick (et Øjeblik) wie in der alltäglichen Sprache. Er schaut darauf, was in diesem Zeitraum passiert ist. Damit wollte Kierkegaard von einer Geschichte oder einer Tätigkeit erzählen. In diesem Sinn wurde auch Kierkegaards „Augenblick“ (1854/1855) so genannt. Mit dem Wort „Augenblick“ ist irgendein Moment in dem Lauf der Zeit oder auf der Zeitlinie gemeint. Die Sukzession oder der kleine Bestand der Zeit werden hier betont. Es kann mit „zur Zeit“ oder „während“ ersetzt werden. Vor Kierkegaard gab es in der Philosophiegeschichte die objektive Zeit (die gemessene Zeit) und die subjektive Zeit (die erfahrene Zeit).76 Die Zeit zu messen setzt die Erfahrung der Zeit bzw. eines Augenblicks voraus. Als ein Bestand der Zeit bezeichnet Kierkegaard den Augenblick als einen von den Menschen erfahrenen Augenblick in der Gegenwart. Dieser Augenblick ist ein Spatium oder Intervall für den Menschen, „moment“ auf Englisch. Der Mensch spatiiert den Augenblick („moment“) vom allgemeinen Augenblick auf der Zeitlinie. Von diesem Augenblick ausgehend, kann der Mensch nach Kierkegaard die Zeit als Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unterscheiden und die Zeit als eine Zeitlinie (Sukzession) ordnen. „Wenn man glaubt, diese Einteilung festhalten zu können, dann deswegen, weil man einen Moment spatiiert, wodurch aber die unendliche Sukzession aufgehalten ist, dann deswegen, weil man die Vorstellung hereinbringt und die Zeit für die Vorstellung existieren läßt, anstatt sie zu denken.“77
Alle anderen bedeutungslosen Augenblicke auf der Zeitlinie müssen nach Kierkegaard einen für den Menschen bedeutungsvollen erfahrenen Augenblick als Anfang der Zeitlinie voraussetzen.78 Die Philosophen der objektiven Zeitthe74 75 76 77 78
HWP 1, (1971), S. 649f. Siehe: Kapitel 3.1. Siehe: Zeittheorie in der Philosophiegeschichte in Kapitel 2. Gemessene Zeit und Augustins Zeitauffassung als Vertreter der erfahrenen Zeit in Kapitel 2.2. BA (1992), S. 101 / BA in SKS 4, S. 389. Diese Auffassung ist ähnlich der Zeitauffassung von Augustin. Siehe: Kapitel 2.2.
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orie suchen nach einem abstrakten bedeutungslosen Zeitanfang.79 Kierkegaard stellt fest, dass der Mensch einen Anfang der Zeit nicht denken, sondern nur erfahren kann. Mit Augenblick als Spatium und als dem erfahrenen Zeitanfang betrachtet Kierkegaard die Zeit generell und die Unterscheidung bzw. das Messen der Zeit anthropologisch. Aus anthropologischer Perspektive legt Kierkegaard großen Wert auf den Augenblick als eine Wahrnehmungskategorie, verlangt aber einen absoluten Zeitanfang. Kierkegaard zeigt dann aus christlicher Perspektive den wichtigsten Anfang der Zeit, die Inkarnation.
(2) Der Berührungspunkt von Ewigkeit und Zeit. Um die Zeit zu messen benötigt der Mensch einen Augenblick als den Zeitanfang. In diesem Augenblick muss die Zeit anhalten. Für den Menschen ist irgendein Augenblick als Spatium relativ lang und relativ anhaltend.80 Deshalb benötigt der Mensch ein absolutes Zeitanhalten als den Zeitanfang. Die Zeit anzuhalten und der absolute Zeitanfang setzen die Ewigkeit in der Zeit voraus. Dieser Augenblick des Zeitanhaltens ist der Augenblick der Inkarnation, in dem Gott, die Ewigkeit, in die Zeit kommt und in dem die Ewigkeit die Zeit berührt. Der Augenblick der Inkarnation ist der Berührungspunkt von Ewigkeit und Zeit. Der Berührungspunkt als der Zeitanfang ist nicht abstrakt und bedeutungslos, sondern dieser Augenblick als Berührungspunkt von Ewigkeit und Zeit hat konkreten Inhalt: Durch die Inkarnation kommt Gott in die Zeit und lebt als ein konkreter leidender Mensch in der Zeit. Dieser Augenblick in der Zeit wird mit der Inkarnation als konkretem Inhalt gefüllt und angehalten. Dieser Augenblick ist „Fülle der Zeit“. „Und nun der Augenblick. Ein solcher Augenblick ist von einer eigenen Natur. Wohl ist er kurz und zeitlich begrenzt, wie ein Augenblick das ist, vorübergehend wie ein Augenblick, im nächsten Augenblick vorübergegangen wie ein Augenblick, und doch ist er das Entscheidende, und doch ist er erfüllt vom Ewigen. Ein solcher Augenblick muß doch einen besonderen Namen haben. Nennen wir ihn: Fülle der Zeit.“81
Der Augenblick muss ein absoluter Zeitanfang sein und gleichzeitig muss er einen konkreten Inhalt in der Zeit haben, damit der Mensch ihn direkt wahrnehmen kann. Gott als Ewigkeit und als in die Zeit Kommender garantieren bei Kierkegaard die Absolutheit und die Konkretheit des Zeitanfangs. 79 80
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Siehe: Über Platons Zeitauffassung in Kapitel 2.1. BA (1992), S. 101 / BA SKS 4, S. 389. Die Relativität des Spatiums bei Kierkegaard ist auch ähnlich der Zeitauffassung Augustins. Siehe: Augustins Beispiel des Klangs in Kapitel 2.2. PhB (1984), S. 20 / PS in SKS 4, S. 226 .
Kierkegaard unterscheidet nicht zwischen der subjektiven Zeit und der objektiven Zeit. In Bezug auf die Bestimmung des Menschen verwendet er „zeitlich“ und „ewig“ in anthropologischer Weise. In dieser Verwendungsweise werden das Ewige und die Ewigkeit unterschiedlich gesehen.82 In der Bestimmung des Menschen verwendet Kierkegaard die Kategorie Augenblick auch im anthropologischen Sinn. Der Mensch als eine Synthese aus Zeitlichem und Ewigem gilt als eine Ausdruckform für die Synthese aus Leiblichem und Seelischem.83 Der Augenblick des Daseins des Geistes ist zeitlich gesehen der Augenblick der Entdeckung der menschlichen Synthese aus dem zeitlichen Pol und dem ewigen Pol. Wenn der Geist da ist, sind die zwei Pole des Menschen auch gleichzeitig da. So gesehen gilt der Augenblick des Daseins des Geistes als ein Knotenpunkt von zeitlichem Pol und ewigem Pol im Menschen. Dieser Augenblick hat strukturelle Ähnlichkeit mit dem Augenblick der Inkarnation. Kierkegaard stellt die Zeitlichkeit des Menschen als eine Natur des Menschen mit dem Augenblick des Daseins des Geistes dar. Wie ich bereits in 1.2 erklärt habe, dass dieser Augenblick („das Atom der Ewigkeit“) als der Augenblick des menschlichen Bewusstseins („das erste Reflex“) von dem ewigen Pol in sich selbst gilt und danach Angst und Sündenfall beim Menschen geschehen.84
(3) Eine Bedeutung aus der Kombination von (1) und (2). Kierkegaard bringt die drei Bestimmungen und Beschreibungen über Augenblick, der Augenblick als Berührungspunkt von Zeit und Ewigkeit, als Wahrnehmungsaugenblick, und als Knotenpunkt von Zeitlichem und Ewigem beim Menschen, aus den existenziellen sowie anthropologisch-ontologischen Perspektiven mit dem Augenblick des Menschwerdens in eine Einheit. Mit dem Sündenfall stellt Kierkegaard das Missverhältnis zwischen Gott und Mensch, zwischen Mensch in der Zeit und Ewigkeit Gottes dar. Gott muss zuerst in die Zeit kommen und gibt dem Menschen die Bedingung, damit sich der Mensch der Unwahrheit bewusst werden kann.85 Die Inkarnation als das absolute Paradox, dass Gott gleichzeitig Mensch ist, muss der Mensch in einem Augenblick wahrnehmen und festhalten. Der Mensch verhält sich zur Inkarnation (als die Wahrheit) mit Glauben als einem Sprung, und er verhält sich 82
83 84 85
Kierkegaard unterscheidet in seiner Verwendung zwischen Ewigkeit und Ewigem, zwischen Zeit und Zeitlichem. Siehe: Die Unterscheidung zwischen Ewigkeit und Ewigem in Kapitel 3.1. Siehe: Die zeitliche Ausdrucksform für die Synthese aus Leiblichem und Seelischem in Kapitel 1.1. Siehe: Der Augenblick als der Schnittpunkt für das Zusammenbringen von BA und Climacus-Schriften in Kapitel 1.2. Siehe: Die Bedingung von Gott in Kapitel 4.2 und 5.4.
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gleichzeitig zu sich selbst. Beide Verhältnisse im Handeln gelten als der Prozess des Menschenwerdens und der subjektiven Wahrheit.86 Der Augenblick des Glaubens als Sprung gilt deswegen für den Menschen als ein Anhalten der Zeit und als ein neuer Zeitanfang als neuer Mensch. Der Augenblick der Inkarnation wird vom Menschen im Glauben wahrgenommen und als ein neuer Anfang des Menschen angesehen. Der Mensch wird ein Mensch, ein Selbst-Verhältnis aufgrund des Gott-Mensch-Verhältnisses.87 Dieser Mensch ist in einem richtigen Verhältnis zu Gott und zu sich selbst gesetzt. Zeitlich gesehen ist der Mensch im Glauben in einem richtigen Verhältnis zu seiner Zeitlichkeit und zur ewigen Seligkeit gesetzt. Dieser Augenblick als Wiedergeburt des Menschen hat gleichzeitig christologischen, anthropologisch-ontologischen und existenziellen Sinn. Allerdings ist der Augenblick wichtig für die menschliche Existenz in der Zeit. Deswegen bin ich der Auffassung, dass sich Kierkegaards Betrachtung des Augenblicks aus unterschiedlichen Perspektiven am Augenblick im existenziellen Sinn orientiert. Bevor ich mich Kierkegaards Zeit- und Existenzauffassung durch Augenblick, Angst und Existenz als den drei wichtigen Kategorien widme, werde ich in Kapitel 2 meine Aufmerksamkeit auf die Zeittheorien in der Philosophiegeschichte legen, und versuche nach dem historischen Hintergrund und den Quellen für Kierkegaards Zeit- und Existenzauffassung zu suchen und diese zu erklären.
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Ich werde in Kapitel 5.4 die subjektive Wahrheit weiter bearbeiten. Siehe: Das Doppelverhältnis in Kapitel 4 und 5.
2. Kierkegaards Auseinandersetzung in den Climacus-Schriften und in Der Begriff Angst mit anderen Philosophen und Theologen Der Begriff Augenblick gilt als eine Kategorie in Kierkegaards Existenzauffassung sowie in seiner Anthropologie. Mit dieser Kategorie ist zuerst ein zeitlicher Ausdruck des Menschen gegeben. Damit wird der Übergang im Prozess des Selbstwerdens und Christwerdens in der menschlichen Existenz zum Ausdruck gebracht. Wovon geht Kierkegaards Diskussion über Zeittheorie bzw. über Augenblick im Hinblick auf Existenz und Angst aus? Sie geht vom Kontext der Auseinandersetzung zwischen spekulativer Philosophie und Religion bzw. vom Kontext der Auseinandersetzung zwischen der griechischen Philosophie-Tradition im deutschen Idealismus und der Christentums-Tradition aus. Kierkegaards Begründung über den Begriff Augenblick beginnt mit der Diskussion über das griechische Denken, dessen Vertreter Platon, Sokrates und Aristoteles sind. Obwohl Kierkegaard in BA Augustins Auffassung über die Erbsünde erwähnt und diskutiert,88 führt er über die Zeit keine direkte Auseinandersetzung mit Augustin. Das Kapitel 2.2 dieser Arbeit gilt als ein Exkurs dieser nicht direkten Auseinandersetzung, der eine hermeneutische Betrachtung für die ganze Arbeit beinhaltet. Ich werde darauf hinweisen, dass es in der Tradition des Christentums vor Kierkegaard bereits den Versuch gab, indem die Zeit in Bezug auf die Offenbarung Gottes als die Wahrnehmung des Menschen betrachtet wird. Das zehnte und elfte Kapitel in den Confessiones von Augustin gelten deswegen als ein wichtiger Fortschritt in der Diskussion in der Geschichte der Philosophie und Theologie. Das Kapitel 2.2 zeigt, wie Augustin und Kierkegaard sich zueinander verhalten. Es gibt erkennbare und subtile Verbindungen zwischen Kierkegaards Denken und deutschem Idealismus. Obwohl bei Kierkegaards Zeit- und ExistenzAuffassung die Terminologie des Idealismus bzw. Hegels verwendet wird, schreibt er Hegels Auffassungen um und erhebt damit einen Einwand gegen Hegel. In Kapitel 2.3 werden diese genannten Verbindungen dargestellt.
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Vgl. BA (1992), S. 33 / BA in SKS 4, S. 333. Auch Vgl. BA (1992), S. 49 / BA in SKS 4, S. 346f. Kierkegaard führt an beiden Stellen Diskussionen mit Augustin über die Voraussetzung der Erbsünde.
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2.1 Vigilius Haufniensis sowie Climacus und das griechische Denken Die Auseinandersetzung zwischen griechischer Philosophie-Tradition im deutschen Idealismus und der Christentums-Tradition spielt eine entscheidende Rolle bei Vigilius Haufniensis und Johannes Climacus. In BA wird der Unterschied im Hinblick auf Zeit und Ewigkeit zu Platons Denken als Vertreter der griechischen Philosophie dargestellt. Was Paulus in der Bibel über die Zeit sagt,89 wird als Beispiel der christlichen Betrachtung vergleichsweise der griechischen Philosophie gegenüber gestellt.90 In PhB werden christliches Projekt A und sokratisch-griechisches Projekt B durch zwei Figuren, Sokrates und Jesus Christus, in Zusammenhang gebracht. Ausführlich wird bei Kierkegaard die Auseinandersetzung zwischen den zwei Traditionen als ein Kontext für seine Begründung über den Augenblick dargestellt. Kierkegaard beantwortet die Frage „Was bedeutet Augenblick im Christentum?“ im Vergleich mit dem griechischen Denken. Es handelt sich in BA nur darum, was Platon als Vertreter des griechischen Denkens über den Augenblick (bzw. das Plötzliche) meint, und was Kierkegaard darunter versteht. Warum stellt Kierkegaard die zwei Traditionen gegeneinander? Kierkegaard betont, dass seit Platon in philosophischen Systemen in der Philosophiegeschichte die konkrete menschliche Existenz fehlt. „IN DER SPRACHE der Abstraktion tritt das, was die Schwierigkeit der Existenz und des Existierenden ausmacht, eigentlich nie zutage, geschweige daß die Schwierigkeit erklärt wird.“91
Hier werden die philosophischen Systeme mit „der Abstraktion“ bezeichnet. Nach Kierkegaards Auffassung kommt der existierende Mensch in solchen Systemen niemals zum Vorschein. Dies ist in der Zeittheorie auch der Fall. Wenn man nach dem Grund dafür sucht, gibt es nach Kierkegaards Auffassung bereits bei Platon diesen Hinweis: „Der Augenblick wird nun von Platon rein abstrakt aufgefaßt.“92 Die Zeittheorie aus der spekulativen Tradition steht im Einfluss der Zeittheorie Platons. Von Kierkegaards Andeutung ausgehend wird die Möglichkeit der christlichen Tradition gezeigt, die die menschliche Existenz und die konkrete menschliche existenzielle Situation als das menschliche SelbstVerhältnis im Verhältnis zum Gott-Mensch-Verhältnis betont und konkretisiert.
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Kor 15,52, nach der Übersetzung Martin Luthers mit Apokryphen, Deutsche Bibelgesellschaft, 1999. „und das plötzlich, in einem Augenblick, […]“ Vgl. BA (1992), S. 103f / BA in SKS. 4, S. 391. AUN in PhB &AUN (2005), S. 460 / AE in SKS 7, S. 274. BA (1992), S. 97 / BA in SKS 4, S 385.
In welchem konkreten Kontext bringen Haufniensis und Climacus Platons Zeittheorie ins Spiel? Begriff und Denken über den Augenblick erhält Kierkegaard von Platon durch Schleiermachers Übersetzung.93 „In the ‚Introduction‘ to the Parmenides in his translation of Plato’s Works, Friedrich Schleiermacher notes ‚the concept of the momentary‘ (der Begriff des Augenblicklichen) as a remarkable achievement of Platonic speculative dialectics.“94
Haufniensis diskutiert den Begriff Augenblick bei Platon in einer langen Anmerkung am Anfang des dritten Kapitels in BA. Dem gegenüber stellt Haufniensis die christliche Betrachtung, konzentriert sich aber in derselben Anmerkung auf Platons Auffassung über den Augenblick. Haufniensis geht am Anfang des dritten Kapitels und der Anmerkung auf die elementare Frage der Philosophie ein, nämlich über das Sein. Allerdings hat Kierkegaard kein rein bloßes Interesse an der Frage über das Sein. Es wird vor dem Kontext gesehen, dass Haufniensis hier eine ontologische und metaphysische Erklärung für seine Begründung der Angst im Selbstwerden geben wollte. Nach Haufniensis gibt es eine Veränderung oder einen „Übergang“ zwischen dem Unbewussten des Menschen über das Selbstwerden und dem Bewusstsein des Menschen darüber. Die Angst enthüllt dem Menschen die Aufgabe, im Leben ein Selbst zu werden. Haufniensis schreibt: „Die Angst war, wenn ich einen neueren Ausdruck gebrauchen soll, der das gleiche besagt, was im Vorhergehenden gesagt wurde, und der gleichzeitig auf das Folgende verweist, die Angst war der Augenblick im individuellen Leben.“95
Ich verstehe darunter, dass der Begriff Augenblick bei Kierkegaard als eine Kategorie verwendet wird, um die Angst zu beschreiben und zu erforschen, die zeitlich als ein wichtiger Augenblick in der Existenz und im ganzen Leben des Menschen gilt. Augenblick gilt deswegen als eine Kategorie in Kierkegaards Anthropologie, die gleichzeitig anthropologische und ontologische Funktionen hat. Mit Augenblick gibt Haufniensis Begründungen für das Sein des Menschen in Bezug auf die Angst. 93 94
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Vgl. Kylliäinen, 2010, S. 59. Kylliäinen, 2010, S. 59f. Vgl. Friedrich Schleiermacher, die Einleitung zu Parmenides in Die Einleitungen zur Übersetzung des Platon (S. 128-146), S. 137. „Noch merkwürdiger aber sind zwei Begriffe, welche im Laufe der Untersuchung entwickelt werden, der eine eben in dem jetzt angeführten Versuch, der andere da wo das Eins als Nichtseiend vorausgesetzt wird, nämlich der Begriff des Augenblicklichen oder der Tatsache außer der Zeit, und der Begriff der Massen ohne Einheit.“ Nach Schleiermacher gehört das Augenblickliche [das Plötzliche] bei Platon nicht zu der Zeit. Kierkegaard hat Schleiermachers Übersetzung akzeptiert und zeigt den Widerspruch in Platons Auffassung über das Augenblickliche. BA (1992), S. 96 / BA in SKS 4 S. 384.
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Im anthropologischen Charakter unterscheidet sich der Augenblick bei Kierkegaard von dem Augenblick bei Platon. Der Augenblick bei Platon wird von Kierkegaard mit dem Plötzlichen bezeichnet. Das Plötzliche gilt als eine Kategorie in Platons Ontologie, um die Entstehung der Welt als den Anfang der Zeit zu beschreiben. Wie definiert Platon Augenblick bzw. Plötzliche? Was ist seine Natur? Der Augenblick ist eine zeitliche Beschreibung für den Übergang von Nicht-Sein zu Sein. !" #$%'*'+
das griechische Wort ist hier vorzüglich), das zwischen Bewegung und Ruhe liegt, ohne in irgendeiner Zeit zu sein, und zu ihm hin und von dorther schlägt das Bewegende in Ruhe und das Ruhende in Bewegung um. Der Augenblick wird daher die "
(respicere) hat.“501 Davon ausgehend stellt sich die Frage: Was bedeutet das absolute Verhältnis für das relative Verhältnis in der Zeit? Ich sehe das absolute Verhältnis als die Unterstützung für das relative Verhältnis des Menschen angesichts der Ungewissheit im Leben. Zeitlich gesehen gehört die Ungewissheit zur Zukunft, die der Mensch in der Gegenwart nicht komplett ansehen und nicht greifen kann. Durch das absolute Verhältnis erhält der Mensch die Ganzheit der Zeit, damit er weiß, wie er sich zur Zukunft verhalten soll. Der Prozess erfordert die Wahlfreiheit und die Entscheidung. In Kapitel 5.2 habe ich bereits begründet, dass der Tod eine extreme Darstellung der Ungewissheit und die größte Herausforderung für den Menschen ist. Ich habe dort auch gezeigt, dass in Kierkegaards Begründung der Tod als etwas Negatives zur positiven Funktion verändert wird.502 Kierkegaard hat ebenfalls für die Ungewissheit eine positive Funktion angedeutet. Die Ungewissheit wird in BA mit dem „Nichts“ zum Ausdruck gebracht. Meiner Analyse zufolge hat 500 Vgl. HWP 2, (1972), S. 863, Vgl. RGG4, Band. 2, 1999, S. 1814. Kierkegaard gilt als der erste Existenzphilosoph. Aber Kierkegaard ist gleichzeitig zu unterscheiden von anderen Existenzphilosophen in Bezug auf seine Betonung des christlichen Glaubens und Gott. Vgl. auch Janke, 1982, S. 5. „Unbestreitbar beginnt die existenziale Kritik der vergessenen und entfremdeten Wirklichkeit mit Kierkegaard und Marx in einer nachidealistischen Epoche, […]“. Janke schreibt am Anfang des Kapitels über Kierkegaard: „So macht sich die Ausgangsstellung des Existenzialismus in der Formel fest: Da sein (at være til) heißt, als Einzelner unmittelbar vor Gott zu sein. Von dieser seiner geschichtlichen Wurzel her ist der Existenzialismus also keineswegs eine gottlose Anthropozentrik, […] Er [Kierkegaard] beginnt vielmehr als entschiedener Versuch, jeden Einzelnen inmitten der geschichtlichen Glaubenskrise des Christentums in eine existenzielle Entscheidungssituation zu zwingen: […] “. Janke, 1982, S. 11. 501 AUN in PhB & AUN (2005), S. 581 / AE in SKS 7, S. 369. 502 Todesbewusstsein, Ernst und die menschliche Aufgabe in der Existenz wurden in Kapitel 5.2 ausgeführt.
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Kierkegaard mit dem Nichts den nicht-konkreten Gegenstand der Angst bezeichnet und das Gefühl des Menschen im Augenblick der Angst beschrieben.503 Das Nichts hat eine anthropologische Funktion. Die Angst stellt die menschliche Wahlfreiheit dar. Dadurch gilt die Angst auch als der Ausgangspunk für den Menschen, der zum Glauben gelangt. Das Nichts gewinnt den positiven Sinn durch die Angst. Dies führt mich zu der Ansicht, dass die Ungewissheit auch als die Wahlfreiheit im Menschen aufgefasst werden kann. Kierkegaard expliziert diese positive Seite der Ungewissheit nicht direkt. Stattdessen akzentuiert er den Entscheidungsaugenblick, um die Ungewissheit zu überwinden. Ihm zufolge benötigt der Mensch Leidenschaft, damit der Mensch mit der Hilfe der Ewigkeit in der Zeit die Ganzheit der Zeit erhalten kann. Um das Menschwerden als die Aufgabe auszuführen braucht man die Entscheidungsleidenschaft. „Nur momentweise kann das einzelne Individuum existierend in einer Einheit von Unendlichkeit und Endlichkeit sein, die über das Existieren hinausgeht. Dieser Moment ist der Augenblick der Leidenschaft“.504
Der Entscheidungsaugenblick ist zweideutig, die Entscheidung für seine Existenz und die Entscheidung für das Verhältnis zu Gott bzw. für den Glauben: „Aber das Wie, das subjektiv akzentuiert wird, ist zugleich, gerade weil das Subjekt existierend ist, in Richtung auf Zeit dialektisch. Im Entscheidungsaugenblick der Leidenschaft, wo der Weg von dem objektiven Wissen abbiegt, sieht es aus, als wäre damit die unendliche Entscheidung fertig. Aber im selben Augenblick ist der Existierende in der Zeitlichkeit und das subjektive Wie in ein Streben verwandelt, das von der entscheidenden Leidenschaft der Unendlichkeit impulsiert und wiederholt erfrischt wird, aber doch ein Streben ist.“505
Dieser Augenblick ist die zeitliche Beschreibung des Glaubens. Der Glaube gilt als der Sprung vom in der Zeit existierenden Menschen zur Ewigkeit Gottes. Kierkegaard zufolge besteht das Ziel des Glaubens nicht darin, dass der Mensch sich selbst für die ewige Seligkeit oder für die absolute Wahrheit aufgibt, sondern darin, dass der Glaube dem Menschen die Kraft gibt oder der Glaube die menschliche Existenz „impulsiert“, weil durch den Entscheidungsaugenblick der Mensch die Ganzheit des Lebens erhält und zeitlich erfährt. Diese Ganzheit der Existenz wird in Kierkegaards Auffassung von Gott und von der Ewigkeit Gottes gesichert. Der Mensch, der sich in der Zeit und in unterschiedlichen konkreten Situationen befindet, orientiert sich am Glauben. In jeden Augenblick des Lebens kann der Mensch die Freiheit zu wählen haben und eine Entscheidung treffen. Mit dem Glauben weiß er, wie er weiter mit Hilfe der Ganzheit wählen 503 Siehe: Nichts in BA in Kapitel 3.3. 504 AUN in PhB & AUN (2005), S. 337 / AE in SKS 7, S. 180. 505 AUN in PhB & AUN (2005), S. 344f / AE in SKS 7, 186.
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soll. Das ist der Glaube in der Existenz oder der Glaube im Leben. Damit wird Kierkegaard als Begründer der Existenztheologie gesehen.506 Der Glaube im Leben ist wichtig für die menschliche Existenz. Dieser Prozess bedeutet zugleich die Subjektivierung der Wahrheit.507 Ich habe bereits gezeigt, wie der Mensch ein Mensch wird. Ich werde auf dieser Basis die Fragen beantworten: Wie begründet Kierkegaard, das Christwerden als das Menschwerden? Inwiefern hängen die zwei Prozesse zusammen? Für die erste Frage liegt der Nachweis bei Kierkegaard selber oder darin, wie Kierkegaard ausdrücklich betont, dass das Christwerden das Menschwerden ist. Für die zweite Frage besteht die Schwierigkeit darin, wie und wo das Zusammenhängen in der Interpretationsgeschichte aufzufinden ist. Wie begründet Kierkegaard das Menschwerden als das Christwerden? In Kierkegaards Begründung gilt die Existenz als der Prozess, worin der Mensch die drei Existenzstadien durchläuft: Die ästhetische Sphäre, die ethische Sphäre und die religiöse Sphäre.508 In der ästhetischen Sphäre existiert der Mensch unmittelbar als die Synthese. In der ethischen Sphäre existiert er in den relativen Verhältnissen und ist sich bewusst, dass er für die Existenz und für die Gesellschaft verantwortlich sein muss. Diese Sphäre gilt auch als die Vorbereitung auf die religiöse Sphäre. In der religiösen Sphäre unterscheidet Kierkegaard Religiosität A und Religiosität B. Religiosität A entdeckt die Grenze des Verstandes und des Nicht-Verstehbaren.509 Aber nur bei Religiosität B kann der Mensch den Sprung erfahren und nur die Religiosität B ist das Paradox-Religiöse. Das absolute Paradox ist Jesus Christus als die Inkarnation Gottes in der Zeit. In dieser Stufe ist der Mensch im Verhältnis zu Gott in der Zeit sich bewusst, dass er als das einzelne Individuum vor Gott steht und dass er die Verantwortung für sein eigenes Leben hat. Die eigene Sphäre steht auf der Stufe der Existenzdialek506 Vgl. RGG4, Band. 2, 1999, S. 1816. „Mit E. [Existenztheologie] ist weniger eine einheitliche theol. [theologische] Position oder Methode als vielmehr eine bestimmte theol. [theologische] Haltung im Sinne eines polemischen und appellativen Korrektivs bez. Ihre jeweilige Kontur gewinnt sie durch krit. [kritische] Abkehr von einer verbürgerlichten und selbstgenügsamen Christlichkeit und von einer Theol.[Theogloie], die sich einseitig am Ideal objektiver Wissenschaft orientiert.“ Die Existenztheologie wird dort mit folgenden Eigenschaften gekennzeichnet: Die Betonungen des Glaubens, der Subjektivität, der Innerlichkeit im Verhältnis zu Gott, die Betonung des qualitativen Unterschiedes zwischen Gott und Mensch, die Phänomenologie als eine Methode. Diese Eigenschaften wurden von Kierkegaard bereits in seinen Schriften dar- und festgestellt. 507 Die subjektive Wahrheit wird in Kapitel 5.4 thematisiert. 508 Existenzstadien vgl. AUN in PhB & AUN (2005), S. 694 / AE in SKS 7, S. 455. „Es gibt drei Existenzsphären: die ästhetische, die ethische, die religiöse.“ 509 Der Unterschied zwischen Religiosität A und B im Hinblick auf das Paradox bzw. auf das absolute Paradox wurde bereits in Kapitel 4.2 begründet.
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tik:510 Ästhetische Sphäre – Synthese; ethische Sphäre sowie Religiosität A in der religiösen Sphäre – menschliches Selbst-Verhältnis; Religiosität B in der religiösen Sphäre – Selbst-Verhältnis aufgrund des Gott-Mensch-Verhältnisses. Deswegen steht das Christentum als Religion B auf der höchsten Stufe. Davon ausgehend ist das Menschwerden bei Kierkegaard selbstverständlich das Christwerden. Das liegt an der Tradition der Religion, Theologie und Philosophie Kierkegaards. Kierkegaard ist in der christlich-lutherisch-pietistischen Tradition geboren und ausgebildet.511 Das Christentum ist die einzige Religionstradition für Kierkegaard. Es ist nicht schwer zu verstehen, dass Kierkegaard die christliche Einstellung annimmt und dass Kierkegaard das Christwerden als das Ziel bzw. sogar das einzige Ziel der menschlichen Existenz fordert. Aus der kulturwissenschaftlichen Perspektive gilt das Christentum auch als die Ausdrucksform der Kultur und der Tradition in Dänemark. Es ist deshalb selbstverständlich, dass Kierkegaard zur Lösung der Probleme in seiner Zeit die Hauptquellen aus dem Christentum heranzieht. Zweitens kommt es auf die Probleme von Kierkegaards Zeit an, die Kierkegaard behandeln und bewältigen muss. Theologie und Philosophie werden von den Hegelianern geprägt. Sub specie aeterni zeigt, dass der Mensch mit seinem Verstand den Stellenwert des Gottes abwertet und seinen eigenen überhöht.512 Spießbürgerlichkeit und Oberflächlichkeit513 machen den Menschen weder fromm im Christsein noch ernst zu seinem eigenen Leben. Um diese Probleme zu lösen muss Kierkegaard die Aufmerksamkeit aufs Christentum richten: Was ist der wirkliche Glaube des Christentums? Was für ein Christentum braucht der Mensch in seiner Existenz? Aus der religionsphilosophischen Perspektive stelle ich die Fragen: Inwiefern hängen die zwei Prozesse (das Christwerden und das Menschwerden) zusam510 Ich setze die Sphären mithilfe der Gedankenstriche in Bezug zu den Stufen der Existenzdialektik. 511 Kierkegaards Erziehung, Philosophie- und Theologieausbildung, vgl. Gardiner 1988, (2001 ins Deutsche übersetzt), S. 13-16. Siehe auch: Kierkegaards Philosophie- und Theologieausbildung in Kapitel 2.3 in dieser Arbeit. 512 Siehe: sub specie aeterni in Kapitel 5.2. 513 Mit Spießbürgerlichkeit und Oberflächlichkeit kritisiert Kierkegaard als Gesellschaftkritiker in seinen Schriften in Bezug auf seine Existenzauffassung das Leben und oberflächliche Lebenseinstellung seiner Zeitgenossen. Diese Beispiele sind wiederholt belegt, z.B „Das Spießbürgerliche liegt immer im Gebrauch des Relativen als des Absoluten in bezug auf das Wesentliche.“ Vgl. AUN in PhB & AUN (2005), S. 749 / AE in SKS 7, S.497. „Denn die Reue ekelt es der leeren Allgemeinheit, sie ist aber auch kein kleinlicher Rechenmeister in eines Kleinmütigen Dienst, sondern ein ernster Beobachter vor Gott. Eine inhaltlose Allgemeinheit bereuen ist ein Widerspruch, gleich dem die tiefste Leidenschaft bei der Oberflächlichkeit zu Gaste zu laden;“ Anläßlich einer Beichte in DRG GW2 10, S. 140 / Ved Anledningen af et Skriftemaal i TTL in SKS 5, S. 413.
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men? Diese Fragen können auch umformuliert werden: Inwiefern hat die Existenzauffassung Kierkegaards christlichen Charakter? Zuerst beginne ich aber mit folgender Frage: Was für eine Rolle spielt Gott oder der christliche Gott in Kierkegaards Anthropologie? Erstens steht die göttliche Dimension an der Wurzel der menschlichen Struktur. Der Mensch ist die Synthese aus Leiblichem und Seelischem, die Synthese aus Zeitlichem und dem Ewigem. Bei A-Zeit und C-Zeit kann der Mensch die Ewigkeit erfahren.514 Die menschliche Existenz gilt als der Prozess, worin der Mensch die dialektische Bewegung in den drei Sphären vollzieht. Die menschliche Struktur wird durch diese existenzdialektische Bewegung verwirklicht. Allerdings zielt die Existenzdialektik auf die Wurzel des Menschen: Das Selbst-Verhältnis im Gott-MenschVerhältnis. Das Selbst-Verhältnis gilt als die durch das Gott-Mensch-Verhältnis verwirklichte Synthese. Zweitens unterstützt der christliche Gott die ontologische Begründung für die Anthropologie. Das Werden ist das ontologische Problem. Es ist der Übergang von Denken zum Sein, von Nichtsein zum Sein. Dazwischen gibt es einen Abgrund. Nach Kierkegaard kommt das Werden nur durch den Sprung zustande. Der Sprung ist nur durch Gott möglich, weil nach der Dogmatik nur Gott aus Nichtsein das Sein schaffen kann: Creatio ex nihilo (Schöpfung aus dem Nichts). Das heißt auch, dass das Menschwerden als die transzendente oder qualitative Veränderung die transzendente Kraft und den transzendenten Bedingungsgeber benötigt. Kierkegaard bietet die existenzielle Interpretation für das Erschaffen des Menschen von Gott in der Bibel als Weg an. Entsprechend ist drittens, bei Gott alles möglich.515 Die Möglichkeit und die Freiheit des Menschen werden von Gott garantiert. Warum ist das Christwerden das Menschwerden? Diese Frage setzt voraus, dass Gott der christliche Gott ist. Dann steht nicht nur Gott sondern auch die Inkarnation Gottes an zentraler Stelle. Deswegen bemüht sich Kierkegaard in den Climacus-Schriften um die Christologie. Aus der religionsphilosophischen Perspektive muss es Gott geben. Dieser Gott muss die Aufgaben für den Menschen des Christwerdens und Menschwerdens garantieren. Erstens wird bei Gott von Kierkegaard der absolute qualitative Unterschied zwischen Gott und Mensch 514 Siehe: A-Zeit und C-Zeit in Kapitel 3.1. 515 Vgl. KzT (1997), S. 113f / SD in SKS 11, S. 211f. „Doch gemäß der aufgestellten Definition von Sünde gehört dazu das durch die Vorstellung von Gott unendlich potenzierte Selbst und so wiederum das größtmögliche Bewusstsein von der Sünde als einer Handlung. – Dies ist der Ausdruck dafür, dass die Sünde eine Position ist; dass sie vor Gott ist, ist darin gerade das Positive.“ Durch den Glauben an Gott gewinnt die Sünde einen positiven Sinn und der Mensch wird von der Sünde erlöst. Bei Gott und durch den Glauben ist alles möglich.
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markiert.516 Und zweitens muss dieser Gott dem Menschen die Bedingung geben, damit der Mensch diesen Gott trotz des absoluten Unterschieds wahrnehmen kann.517 Gott muss die Kommunikation zwischen Gott und Mensch ermöglichen. Beide Funktionen kann nach Kierkegaard nur der christliche Gott, der Gott der Inkarnation, erfüllen. Kierkegaard beschreibt die zwei Funktionen auch zeitlich: Einerseits unterscheidet Kierkegaard strikt zwischen Gott in der Ewigkeit und Mensch als in der Zeit Existierender; andererseits betont Kierkegaard, dass Gott in der Zeit kommt und dass sich der Mensch in der Zeit zu diesem Gott verhält. „Das Paradox-Religiöse bestimmt die Distinktion dadurch absolut, daß es das Existieren paradox akzentuiert. Indem nämlich das Ewige in einem Moment der Zeit geworden ist, kommt das existierende Individuum nicht dazu, sich in der Zeit zum Ewigen zu verhalten oder sich auf sein Verhältnis (dies ist A) zu besinnen, sondern sich in der Zeit zum Ewigen in der Zeit zu verhalten;“518
Danach ist Jesus Christus bzw. das Christwerden notwendig für das Menschwerden. Und das Christwerden ist die Verwirklichung oder der Vollzug des Menschwerdens. Meinem Verständnis nach hat Kierkegaard mit der Christologie die Probleme seiner Zeit entsprechend behandelt. „Christwerden ist Menschwerden“ ist selbstverständlich in Kierkegaards Begründung der Christologie und wird in der Interpretationsgeschichte fortgeführt.519 Wenn Kierkegaards Einfluss in der christlichen Tradition bleibt, wird das Problem nicht zur Frage. Diese stellt sich erst in der Zeit der Multi-Kultur und Kierkegaard wird erst in dieser Zeit von unterschiedlichen Stellen und Kontexten interpretiert. Ist diese Auffassung „Christwerden ist Menschwerden“ schon missionarisch oder sogar aggressiv für den Leser aus nicht christlicher Tradition? Nein, ich finde nicht! Kierkegaards Einwände richten sich auf das Überhöhen des Men516 Mit der absoluten Verschiedenheit, erhebt Kierkegaard den Einwand gegen sub specie aeterni. Vgl. PhB (1984), S. 43. / SKS 4, S. 249. „Was ist also das Unbekannte? Es ist die Grenze, zu der man beständig kommt, und insofern ist es, wenn die Bestimmung der Bewegung vertauscht wird mit der der Ruhe, das Verschiedene, das absolute Verschiedene, für welches man kein Kennzeichen hat. Bestimmt als das absolute Verschiedene, scheint es im Begriff zu sein, offenbart zu werden, aber so ist es nicht, denn die absolute Verschiedenheit kann der Verstand nicht einmal denken.“ 517 Vgl. PhB (1984), S. 31 / PS in SKS 4, S. 238. „War also die Einheit nicht zuwege zu bringen durch ein Aufsteigen, dann muß sie durch ein Herabsteigen versucht werden. […] Also in der Gestalt des Knechts will der Gott sich zeigen, […] sondern [die Gestalt des Knechts] ist seine [Gottes] wahre Gestalt.“ 518 AUN in PhB & AUN (2005), S. 776f / AE in SKS 7, S. 518. 519 Sløk, 1954, S. 89, „[…] die einzige Möglichkeit diese Aufgabe [die Aufgabe in der menschlichen Existenz: das Menschwerden oder das Selbstwerden] zu lösen mit dem Christentum gegeben ist“. Vgl. auch H. Schulz, 2008, S. 230.
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schen über Gott, auf die Systematisierung als eine absolute Weltanschauung und die allgemeine Methode sowie auf die Selbstvergessenheit im System.520 Er unterscheidet das Christentum von der Christenheit.521 Kierkegaard interpretiert das Christentum als die Mitteilung des Glaubens im menschlichen Leben und für die menschliche Existenz geklärt. „Christwerden ist Menschwerden“ richtet sich auf den Kontext, der innerhalb der christlichen Tradition gegeben ist. Ergibt diese These „Christwerden ist Menschwerden“ heute noch einen Sinn für den nicht christlichen Kontext? Aus der religionswissenschaftlichen und existenziellen Perspektive ist mir folgende Interpretation möglich: Was Kierkegaard betont, ist die Bedeutung der Religion für den Menschen und für die menschliche Existenz. Die religiöse Dimension wurzelt in der existenziellen Struktur des Menschen. Mit dieser religiösen Dimension verhält sich der Mensch zur inneren und zur äußeren Richtung. Mit „Christwerden ist Menschwerden“ ermahnt Kierkegaard den Leser eine religiöse Dimension und Elemente in der menschlichen Existenz und für die menschliche Existenz anzunehmen. Damit können die Leser aus anderen religiösen- und kulturellen Traditionen an ihren eigenen Glauben und ihre eigene Tradition denken und Quellen für die Lösung der Probleme in ihrem eigenen Leben wieder entdecken.522 Für mich erfüllt sich darin der Sinn der These „Christwerden ist Menschwerden“. Nach „warum ist das Christwerden das Menschwerden“ zu fragen ist auch eine Interpretationsmethode, womit man eine Möglichkeit für den Dialog zwischen Kierkegaard und nicht christlichen Interpretationen finden kann. Bei einer Vertiefung dieses Gedankens, zielt Kierkegaard mit Hilfe Gottes auf die Befrei520 Siehe: Kierkegaards Kritik an Hegelianern in Bezug auf die Kategorie Existenz in Kapitel 5.1. 521 In seiner Kirchenkritik unterscheidet Kierkegaard das Christentum als die Verkündigung Gottes in der Zeit oder Mitteilung der Wahrheit oder Mitteilung des absoluten Paradoxes von der Christenheit, womit von Kierkegaard die damalige Staatskirche Dänemarks und das historische Christentum sowie die Kirche bezeichnet werden. Diese Beispiele sind wiederholt belegt, z.B: Christentum Vgl. EC in GW2 22, S. 61-66 / IC in SKS 12, S. 74-78. Christenheit Vgl. EC in GW2 22 S. 64 / IC in SKS 12, S. 76. „Ein historisches Christentum [Christenheit] ist Gallimathias und unchristliche Verwirrtheit; denn was es an wahren Christen gibt in jeder Generation, die sind gleichzeitig mit Christus, haben nichts zu schaffen mit den Christen der Generation vorher, und alles mit dem gleichzeitigen Christus.“. 522 „Wieder entdecken“ heißt speziell für Chinesen: In den vergangenen 150 Jahren wurde und wird die traditionelle chinesische Kultur, der Synkretismus von Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus fatal zerstört. Gründe hierfür sind u.a.: Kriege, KulturKonflikte, Kolonialwesen, Politik. Ein Suchen nach den originalen Quellen in der chinesischen Tradition und ihren Religionen sowie das Kennenlernen der westlichen Kultur könnten eine Basis für eine moderne chinesische Kultur bilden. Der NeuKonfuzianismus hat sich bereits damit beschäftigt, dessen berühmtester Vertreter Mou Zongsan ist. Über Mou Zongsan werde ich in Kapitel 6 referieren.
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ung des Menschen vom begrenzten Leben. Kierkegaard beschreibt das Leben mit „stückweise“,523 das von Zeitlichem und Ewigem gespannt und begrenzt ist. Nur mit Gott in der Zeit kann der Mensch in einem Augenblick in der Zeit die Ganzheit der Zeit erhalten, damit er die Entscheidung für das Leben vornehmen kann. Kierkegaard versucht auch mit Hilfe Gottes die Dichotomie oder die Unterscheidung von Subjekt und Objekt, Denken und Sein zu überwinden. Aus der buddhistischen Perspektive können sich die Fragen ergeben: Ist der Unterschied von Gott und Mensch eine neue Dichotomie? Gibt es eine andere Möglichkeit, dass der Mensch vom stückweisen Leben befreit werden kann? Im Buddhismus wird gelehrt, dass nur das Nichts die Wahrheit und das Faktum der Welt ist. Alle Unterscheidungen kommen aus dem menschlichen Geist und existieren als Vorstellungen (ich und andere, ich als Selbst), Wahrnehmungen (Zeitunterscheidung: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft) und Beurteilungen (gut und böse) des menschlichen Geistes. All diese werden vom Menschen selber im Geist konstruiert. Nachdem der Mensch das Nichts im Augenblick der Erleuchtung erfahren hat, nimmt er die Vorstellungen, Wahrnehmungen und Urteile nicht mehr als die Welt selber wahr. Dann kann er durch eine Weise der Einübung von der Begrenzung der Vorstellungen und Wahrnehmungen befreit werden. Der Mensch gewinnt die Ganzheit des Lebens durch die Aufhebung der Unterscheidung, besonders durch die Aufhebung der Zeit. Befreiung heißt, vom Leiden befreit zu werden, das durch Unterscheidung im menschlichen Geist entsteht. Diese Befreiung wird im modernen Chan-Buddhismus nicht nur im im diesmaligen Leben524 als eine positive Einstellung zum Leben zum Ausdruck gebracht. Das ist Chan im Leben. Durch 523 Vgl. AUN in PhB & AUN (2005), S. 682 / AE in SKS 7, S. 445. „Und ist sein Leben in der Zeitlichkeit, ist es eo ipso stückweise; ist es stückweise, dann ist es ja mit Zerstreuung vermischt, und in der Zerstreuung ist er ja von seinem Verhältnis zu Gott entfernt, oder doch nicht darinnen wie in dem starken Augenblick.“ 524 Das menschliche Leben in diesem Zeitraum ist nach chinesischem Buddhismus „diesmaliges Leben“. Im Buddhismus hat ein Mensch mehrmalige Leben in der Zeit, die nicht wie eine Zeitlinie sondern wie mehrmalige Zyklen vom Menschen erfahren werden. Dass die Zeit ein mehrmaliger Zyklus ist, stellt einen großen Unterschied zwischen der Zeitauffassung im chinesischen Buddhismus und im westlichen Denken dar. Es gibt Unterscheidungen zwischen Leben und nächstem Leben nach dem Tod des diesmaligen Lebens. Es gibt entsprechend keine Unterscheidung zwischen diesseitigem Leben und jenseitigem Leben. Nach den Lehren des chinesischen Buddhismus ist der Mensch in diesem Leben ein Mensch, aber er kann vielleicht im nächsten Leben (im nächsten Zyklus der Zeit) als ein anderes Wesen, zum Beispiel als Tier geboren werden. Wie kann ein solches Leben vermieden werden, und wie kann der Mensch vom Leiden von mehrmaligen Leben befreit werden? Im Buddhismus muss der Mensch in diesem Leben Übungen vollziehen (Chan oder Anbetung im Tempel), Gutes tun und ein moralischer Mensch sein, damit er aus der Zeit der mehrmaligen Zyklen befreit wird. Die Zeitauffassung des chinesischen Buddhismus wird in Kapitel 6 weiter ausgeführt.
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diese Einstellung zum Leben sehe ich schon die existenziellen Charaktere im Chan-Buddhismus und finde die Möglichkeit des Dialogs zwischen Kierkegaard und Chan-Buddhismus im Hinblick auf die anthropologischen Auffassungen. Ich nehme die Zeitauffassung als den Ausgangspunkt, um die anthropologisch existenziellen Auffassungen bei beiden zu betrachten. Diese Überlegung entsteht in Kapitel 6.
5.4 Die subjektive Wahrheit Existenz, Angst und Augenblick richten sich auf einen anderen wichtigen Begriff in der Existenzauffassung Kierkegaards, die subjektive Wahrheit. Die subjektive Wahrheit wird in diesem Kapitel als Schwerpunkt behandelt, und mit ihrer Hilfe ist es möglich eine Zusammenfassung der Existenzauffassung Kierkegaards zu erstellen, die auf der Basis der Begründungen des dritten, vierten und fünften Kapitels erfolgt. Kierkegaard erhebt Einwände gegen das spekulative Denken. Er versucht die Spaltung des Subjekts und Objekts sowie die Spaltung des Denkens und Seins mithilfe des Doppelverhältnisses des Menschen bzw. mithilfe des SelbstVerhältnisses aufgrund des Gott-Mensch-Verhältnisses zu überwinden. Das Anliegen wird auch durch seine Auffassung über die Wahrheit bzw. durch die subjektive Wahrheit zum Ausdruck gebracht. Auf welche Weise verwendet Kierkegaard den Begriff Wahrheit? Sie wird von Kierkegaard christlich-theologisch (die ewige Wahrheit) und philosophischexistenziell (die subjektive Wahrheit) verwendet. Diese zwei Ebenen entstehen aus dem Doppelverhältnis des Menschen und den zwei Richtungen der menschlichen Existenz. Es gibt mir die Möglichkeit, Kierkegaards Wahrheitsauffassung aus der religionsphilosophischen Perspektive zu interpretieren. Es stellt sich die Frage: Wie wird die ewige Wahrheit zur subjektiven Wahrheit? Ich gelange zu der Ansicht, dass beide Wahrheiten durch eine anthropologische Perspektive zur Einheit gebracht werden. Diese Einheit ist die subjektive Wahrheit. Mit der subjektiven Wahrheit führt Kierkegaard eine Auseinandersetzung mit der objektiven Wahrheit und der Korrespondenztheorie in der Wahrheitsauffassung der Philosophiegeschichte. Die Korrespondenztheorie gilt als die Lösung für das Problem des Denkens und Seins. Diese Lösung wird von den Philosophen im objektiven Denken und im abstrakten Denken gegeben. Nach Kierkegaard ist diese Lösung eine Tautologie in der Form:525 Die Übereinstim525 Vgl. AUN in PhB & AUN (2005), S. 330 / AE in SKS 7, S. 174. „Wird aber Sein so verstanden, dann ist die Formel eine Tautologie, das heißt, Denken und Sein bedeuten ein und dasselbe, und die Übereinstimmung, von der gesprochen wird, ist bloß die abstrakte Identität mit sich selbst.“
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mung des Denkens und Seins bleibt nur als die Identität des Denkens im Denken. Diese Übereinstimmung wird von der Korrespondenztheorie festgestellt. Mit der Akzentuierung der subjektiven Wahrheit differenziert Kierkegaard die Religionswahrheit von der Wissenschaftswahrheit, in der die Gültigkeit der Korrespondenztheorie noch bestehen bleibt. Die objektive Wahrheit sowie die Korrespondenztheorie setzt die Spaltung des Subjekt-Objekts voraus. Was ist die Voraussetzung für Kierkegaards Wahrheitsauffassung? Anstatt der Subjekt-Objekt-Spaltung schränkt Kierkegaard seine Begründung auf den Kontext des Gott-Mensch-Verhältnisses ein. Kierkegaard begründet das Verhältnis in dialektischer Weise. Gott ist kein Objekt, das vom Menschen erkannt werden muss. Der Mensch verhält sich zu Gott nicht durch den Verstand, sondern durch die höchste Leidenschaft in der Existenz bzw. den Glauben als einen Sprung im Handeln. Gott steht in einem Gebiet, in das der Verstand nicht eintreten kann. Das ist das Gebiet der Religion. Andererseits wurzelt die göttliche Dimension in der elementaren Struktur des Menschen. Wenn sich der Mensch zu Gott verhält, geht er auch auf den Weg des Selbsterkennens. Allerdings bedeutet das Selbsterkennen nicht, das Wissen über sich Selbst zu haben, sondern es bedeutet, sich Selbst als der Existierende in seiner eigenen Existenz zu verstehen. Damit wird die Aufgabe des Menschen in der menschlichen Existenz, dass er als ein Existierender so gut wie möglich existieren muss, im Hinblick auf Selbsterkennen noch mal zum Ausdruck gebracht.526 Wenn die Aufgabe umformuliert wird, kann sie sokratisch ausgedruckt werden: Erkenne Dich selbst; oder: Die subjektive Wahrheit bedeutet, sich in der Existenz zu verstehen. Der Mensch soll sich selbst als eine synthetische Struktur, seine Situation und seine Aufgabe als die Verwirklichung des Doppelverhältnisses in der Existenz verstehen und im Handeln durch Glauben seine Aufgabe vollziehen. Davon ausgehend entsteht die subjektive Wahrheit in der Existenz dadurch, dass sich der Mensch zu Gott verhält. Die Forderung des Menschen, sich zu Gott zu verhalten, entsteht aus der Forderung, dass er sich selbst und seine Existenz erkennen und verstehen soll und will. Obwohl der Mensch nur durch das Verhältnis zu Gott die subjektive Wahrheit finden kann, muss das Verhältnis zu Gott aus der Suche nach der subjektiven Wahrheit entspringen, ansonsten gerät die subjektive Wahrheit wieder in die Lage der objektiven Wahrheit, wo sich der Mensch zum erkennenden Objekt verhält. „Wird subjektiv nach der Wahrheit gefragt, dann wird subjektiv auf das Verhältnis des Individuums reflektiert; wenn nur das Wie dieses Verhältnisses des Indivi526 Vgl. AUN in PhB & AUN (2005), S. 519 / AE in SKS 7, S. 321. „Es ist die Aufgabe des subjektiven Denkers, sich selbst in Existenz zu verstehen.“
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duums reflektiert; dann ist das Individuum in Wahrheit, selbst wenn es sich so zur Unwahrheit verhielte.“527
Damit bleibt der Mensch in der Wahrheit und in der Existenz. Dass der Mensch nach der Wahrheit fragt, ist das Verhältnis zu Gott. Sich zu Gott zu verhalten ist bereits Handeln und nach der Wahrheit zu fragen ist deswegen ebenfalls Handeln. Dies ist die Subjektivität der Wahrheit, und es ist gerade auch die subjektive Wahrheit selber. „Objektiv wird akzentuiert: was gesagt wird; subjektiv: wie es gesagt wird. […] Objektiv wird bloß nach den Gedankenbestimmungen gefragt, subjektiv nach der Innerlichkeit. In seinem Maximum ist dieses Wie die Leidenschaft der Unendlichkeit, und die Leidenschaft der Unendlichkeit ist die Wahrheit selbst. Aber die Leidenschaft der Unendlichkeit ist gerade die Subjektivität, und somit ist die Subjektivität die Wahrheit.“528
Die subjektive Wahrheit als das Handeln wird mit dem Wie bezeichnet. Die subjektive Wahrheit legt den Wert nicht darauf, was die Wahrheit ist, sondern darauf, wie sich der Mensch zu der Wahrheit verhalten soll und was die Wahrheit für die menschliche Existenz bedeutet. Die ewige Wahrheit des Christentums wird durch die Inkarnation Gottes als das absolute Paradox dargestellt und offenbart. Das Paradox gilt für den menschlichen Verstand als die Markierung des Abstoßens, dass die Wahrheit mit dem Verstand nicht erfragt und nicht beurteilt werden kann. Der Mensch soll sich zu ihr mit dem Glauben als der Sprung im Handeln verhalten. Deswegen schreibt Kierkegaard: „Aber die gegebene Bestimmung der Wahrheit ist eine Umschreibung des Glaubens.“529 Was bedeutet die subjektive Wahrheit für den Menschen? Der Glaube wird in den Climacus-Schriften mit „dem Auge des Glaubens“ als die Wahrnehmung definiert. Im Hinblick auf den Glauben in Kierkegaards Sinn bedeutet die subjektive Wahrheit: Gleich ob die Inkarnation als das Paradox wahr oder nicht wahr nach dem objektiven Denken oder nach der Prüfung des Verstandes ist, wenn der Mensch die Wahrheit als wahr nimmt und sich zu der Inkarnation mit der höchsten Leidenschaft verhält, dann ist sie die Wahrheit für den Menschen und der Mensch ist in der subjektiven Wahrheit. Damit unterscheidet Kierkegaard die Religionswahrheit von der Wissenschaftswahrheit. 527 AUN in PhB & AUN (2005), S. 340 / AE in SKS 7, S. 182. Davor gibt Kierkegaard auch die objektive Wahrheit an. „Wird objektiv nach der Wahrheit gefragt, dann wird objektiv auf die Wahrheit als einen Gegenstand reflektiert, zu dem der Erkennende sich verhält. Es wird nicht auf das Verhältnis reflektiert, sondern darauf, daß es die Wahrheit ist, das Wahre, zu dem er sich verhält; wenn das, wozu er sich verhält, nur die Wahrheit, das Wahre ist, dann ist das Subjekt in der Wahrheit.“ 528 AUN in PhB & AUN (2005), S. 343f / SKS 7, S. 185f. 529 AUN in PhB & AUN (2005), S. 345 / SKS 7, S. 187.
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„Hier ist eine solche Definition der Wahrheit: die objektive Ungewißheit, festgehalten in der Aneignung der leidenschaftlichsten Innerlichkeit, ist die Wahrheit, die höchste Wahrheit, die es für einen Existierenden gibt.“530
Die subjektive Wahrheit besteht darin, dass die Wahrheit für die eigene konkrete Existenz des Menschen entscheidende Bedeutung hat. Wie wird diese Bedeutung der subjektiven Wahrheit für die menschliche Existenz in der Existenz dargestellt? Dies geschieht durch Aneignung, die die Innerlichkeit bestimmt und sich von der anderen Innerlichkeit unterscheidet.531 Der Unterschied besteht darin, dass die von der Aneignung bestimmte Innerlichkeit die christliche Innerlichkeit ist. Allerdings wird die Aneignung nicht davon begrenzt und zielt im Zusammenhang der christlichen Innerlichkeit schließlich auf die menschliche Existenz. Wie werden die zwei Formen der Aneignung verwendet? Mit der Aneignung zeigt sich der Unterschied der Innerlichkeit, weil die Aneignung als das Resultat der Doppel-Reflexion des subjektiven Denkens freigelegt wird. Diese DoppelReflexion entsteht aus dem Doppelverhältnis des Menschen in der Struktur der Existenz und stellt das Doppelverhältnis des menschlichen Geistes dar. „Indem für den existierenden Geist qua existierenden die Frage nach der Wahrheit entsteht, kehrt jene abstrakte Reduplikation der Wahrheit wieder; aber die Existenz selbst, die Existenz im Frager, der ja existiert, hält die beiden Momente auseinander, und die Reflexion zeigt zwei Verhältnisse auf.“532
Der Mensch setzt sich in Verhältnis zu Gott, und er hat die erste Reflexion von Gott als ein Anderer. Aber der Mensch ist damit nicht zufrieden, weil er als der Existierende nach seiner eignen Existenz im Verhältnis zu Gott fragt. Dann entsteht die zweite Reflexion über das Verhältnis. Diese zeigt das Verhältnis vom Menschen zum Gott-Mensch-Verhältnis. Dadurch befindet sich der Mensch aufgrund des Gott-Mensch-Verhältnisses im Verhältnis zu sich Selbst, was das Doppelverhältnis des Selbst ist. Mit der Aneignung betont Kierkegaard das Gott-Mensch-Verhältnis, nämlich die Rolle Gottes in der subjektiven Wahrheit (die spezifische und genau christliche Innerlichkeit) und zugleich auch das unendliche Ziel der Doppel-Reflexion bzw. die subjektive Wahrheit. Die subjektive Wahrheit richtet sich auf die eigene menschliche Existenz.
530 AUN in PhB & AUN (2005), S. 345 / AE in SKS 7, S. 186. 531 Vgl. AUN in PhB & AUN (2005), S. 823 / AE in SKS 7, S. 554. „Die Entscheidung liegt im Subjekt, die Aneignung ist die paradoxe Innerlichkeit, die von aller andern Innerlichkeit spezifisch verschieden ist.“ 532 AUN in PhB & AUN (2005), S. 331 / SKS 7, S. 176.
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„Für die subjektive Reflexion wird die Wahrheit die Aneignung, die Innerlichkeit, die Subjektivität, und es kommt eben darauf an, sich existierend in die Subjektivität zu vertiefen.“533
Mit dem Verhältnis zur Wahrheit versteht der Mensch durch die Aneignung seine eigene Existenz immer tiefer. Darin liegt die Bedeutung der subjektiven Wahrheit für den Menschen. Mit der Aneignung betont Kierkegaard, dass die subjektive Wahrheit keine abstrakte Idee sondern die Wahrheit ist, die in den konkreten Situationen der Existenz zu verstehen ist. Durch das Verstehen der Wahrheit erkennt der Mensch auch sich selbst. Das Christentum wird von Kierkegaard als die Mitteilungsform der subjektiven Wahrheit bestimmt. Der Mensch als Synthese wird von Zeit und Leib begrenzt. Selbsterkennen muss, wie oben begründet, mit Gott als der Andere vollzogen werden. Das Christentum ist die Verkündigung Gottes, der in der Zeit kommt. Wie soll sich der Mensch zur Wahrheit (Gott) verhalten? Diese Frage stellt sich in AUN mit der Frage, wie sich Climacus als der Mensch außerhalb des Christentums zum Christentum verhalten soll? Wie aber wird von Kierkegaard garantiert, dass die an die eigene Existenz zielende subjektive Wahrheit dieselbe wie die ewige Wahrheit des Christentums ist? Ich beantworte diese Frage mit der Kategorie des Augenblicks und des Paradoxes. Im Augenblick der Inkarnation kommt Gott als die Ewigkeit in der Zeit. Der Augenblick gilt als der Berührungspunkt der Ewigkeit und der Zeit. Im Augenblick verhält sich die ewige Wahrheit Gottes durch Inkarnation zum Menschen. Dass Gott in der Zeit kommt gibt dem Menschen in der Zeit die Bedingung, sich zu Gott bzw. zu der ewigen Wahrheit in der Zeit zu verhalten. Die ewige Wahrheit offenbart sich in der Zeit. Das ist das Paradox. „Die Subjektivität ist die Wahrheit. Dadurch, daß sich die ewige wesentliche Wahrheit zu dem Existierenden verhielt, entstand das Paradox. […] Nehmen wir an, daß die ewige wesentliche Wahrheit selbst das Paradox ist. Wie entsteht das Paradox? Dadurch, daß die ewige wesentliche Wahrheit und das Existieren zusammengesetzt werden. Wenn wir es also in der Wahrheit selbst zusammensetzen, dann wird die Wahrheit ein Paradox. Die ewige Wahrheit ist in der Zeit geworden. Dies ist das Paradox.“534
Im Augenblick der Inkarnation, als die Darstellung des Paradoxes, werden die menschliche Existenz und die ewige Wahrheit zusammengeführt. Wenn sich der Mensch in der Zeit zum Paradox mit Glauben als Sprung verhält, verhält er sich auch zu seiner eigenen Existenz und zu sich selbst. Mit dem Glauben an die Inkarnation ist die ewige Wahrheit in der Zeit als das Paradox die subjektive 533 AUN in PhB & AUN (2005), S. 331 / AE in SKS 7, S. 176. 534 AUN in PhB & AUN (2005), S. 352 / AE in SKS 7, S. 191.
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Wahrheit für den Menschen. Die Identität der beiden Wahrheiten wird vom Augenblick des Paradoxes bzw. der Inkarnation gesichert. Die ewige Wahrheit kommt in der Zeit und wird mit der subjektiven Wahrheit identifiziert. Hier stellt sich die Frage noch konkreter: Was macht der Mensch nach dem Empfang der Bedingung für die Wahrheit, damit die Wahrheit in sich selbst die subjektive Wahrheit wird? Ich beantworte diese Fragen mit der Negativität der Wahrheit. Die Verwendungen der Subjektivität und der Negativität zeigen auch, dass Kierkegaard Hegels Terminologie und die Dialektik als eine Art des Denkens übernommen hat. Die Subjektivität ist bereits die selbstbezügliche Negativität des Subjekts im Verhältnis zum Objekt in der hegelischen Dialektik bzw. die selbstbezügliche Negativität des Geistes oder des Selbst im Verhältnis zum Objekt. Die dialektische Bewegung wird als die Negativität bezeichnet. Die Subjektivität gilt aber bei Kierkegaard als die anthropologische Verwendung der Negativität. Mit dem Ausdruck „Die Wahrheit ist die Subjektivität“ oder „die Subjektivität ist die Wahrheit“ betont Kierkegaard die Selbstbezüglichkeit der Wahrheit, oder dass die Wahrheit in Bezug auf die Existenz des Menschen festgehalten werden muss. Mit „die Subjektivität ist die Unwahrheit“ betont Kierkegaard die Negativität in der Existenzdialektik, wodurch der Mensch die subjektive Wahrheit gewinnt. Kierkegaard begründet in BA, wie sich der Mensch aus der Synthese zum Geist verwirklicht und wie er gleich danach zum unmittelbaren Sünder wird. In PhB stellt Climacus die Frage: Wenn der Mensch als Sünder von Geburt an außerhalb der Wahrheit steht, wie kann er verstehen, dass er selbst immer in der Unwahrheit ist?535 Nur durch die Inkarnation Gottes als die Darstellung der Wahrheit kann Gott den Menschen daran erinnern, dass der Mensch im Vergleich zu Gott eigentlich in der Unwahrheit ist.536 Der in der Zeit inkarnierte Gott ist das Vollbild der Wahrheit und zeigt dem Menschen, dass der Mensch der Sünder bzw. in der Unwahrheit ist. Gott muss ihm sagen: Du bist der Sünder. Mit der Sünde bzw. mit dem Sündenbewusstsein des Menschen wird das Faktum enthüllt, dass sich Gott zum Menschen verhält und dass der Mensch bereits 535 Vgl. PhB (1984), S.16ff / PS in SKS 4, S. 222-224. Kierkegaard erklärt auf Seite 18 den Zustand und die Schwierigkeit, dass der Mensch in der Unwahrheit von der Wahrheit total „ausgeschlossen“ wird. PhB (1984), S.18 / PS in SKS 4, S. 224. „Denn frei von Wahrheit sein, heißt ja ausgeschlossen sein, und ausgeschlossen bei sich selber sein, heißt ja gebunden sein. Da er aber gebunden durch sich selbst ist, kann er ja nicht sich selbst lösen oder befreien.“ 536 Vgl. PhB (1984), S. 17 / PS in SKS 4, S. 224. „Der Lehrer ist also der Gott selbst, der, als Anlaß wirkend, veranlaßt, daß der Lernende erinnert wird, daß er die Wahrheit ist, […]“
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damit in Verhältnis zu Gott gesetzt ist. Deswegen hat die Sünde als etwas Negatives die positive Bedeutung, dass sie als der Anfang des Verhältnisses des Menschen in der Existenz zur Wahrheit gilt. „Die Sünde ist ein entscheidender Ausdruck für die religiöse Existenz. […] Die Sünde dagegen ist der entscheidende Ausganspunkt für die religiöse Existenz, ist nicht ein Moment innerhalb eines anderen, innerhalb einer anderen Ordnung der Dinge, sondern selbst der Anfang der religiösen Ordnung der Dinge.“537
Das Suchen nach der Wahrheit beginnt mit dem Sündenbewusstsein, dass der Mensch in der Unwahrheit ist. Auf diese Weise der Negativität der Wahrheit schreibt Kierkegaard in AUN: „Die Subjektivität ist die Unwahrheit.“538 Kierkegaard erklärt daraufhin: „Hier dagegen befindet sich die Subjektivität, in dem sie anfangen will, Wahrheit zu werden dadurch, daß sie subjektiv wird, in der Schwierigkeit, daß sie die Unwahrheit ist.“539 Das Empfinden der Schwierigkeit ist der Anfang der Subjektivität und auch der Anfang zur Wahrheit. Davon ausgehend gilt die Sünde als die Ausdrucksform der Negativität der Wahrheit. Nach dem Empfangen der Bedingung wird diese Negativität auch als die Negativität des menschlichen Verstandes dargestellt. Das Paradox erinnert den menschlichen Verstand an seine eigene Grenze. Der Verstand stößt sich von der Grenze ab, und der Mensch muss sich dessen bewusst sein, dass er sich zum Paradox nicht mehr mit dem Verstand allein verhalten kann. Dieses Abstoßen des Verstandes entspricht genau dem Sokratischen: „Ich weiß, dass ich nichts weiß.“ Der menschliche Verstand muss sich selbst negieren, damit der Mensch die subjektive Wahrheit in der Existenz verstehen kann. Mit „die Subjektivität ist die Unwahrheit“ hat Kierkegaard die sokratische Art des Denkens angewandt. „Erkenne Dich selbst“ beginnt mit dem Bewusstsein der Unwissenheit. Bei Kierkegaard beginnt die subjektive Wahrheit mit dem Bewusstsein der Unwahrheit: Nach dem Empfangen der ewigen Wahrheit weiß der Mensch, dass er ein Sünder ist. Warum kann das Sündenbewusstsein der Anfang der subjektiven Wahrheit sein? Wenn dem Menschen das Sündersein bewusst ist, bedeutet es zuerst, dass er die Bedingung von Gott erhalten hat. Das Sündenbewusstsein bringt gleichwohl auch die Forderung im Menschen zum Ausdruck, nach der Wahrheit zu suchen. Die Negativität der subjektiven Wahrheit wird nicht nur mit dem Sündenbewusstsein und mit dem Abstoßen des Verstandes dargestellt, sondern es wird auch mit Angst, Verzweiflung und Leiden in der menschlichen Existenz expli537 AUN in PhB & AUN (2005), S. 420 / AE in SKS 7, S. 243. 538 AUN in PhB & AUN (2005), S. 350 / AE in SKS 7, S. 189f. 539 AUN in PhB & AUN (2005), S. 350 / AE in SKS 7, S. 190.
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ziert. Mit den Dreien bezieht sich die subjektive Wahrheit auf die konkreten Erfahrungen und die Gefühle des Menschen in der Existenz. Angst und Verzweiflung gelten bei Kierkegaard als Hilfsmittel, um die Sünde zu betrachten. Beide stammen aus der Struktur des Menschen und enthüllen dem Menschen seine eigene Struktur. Angesichts des Bezugs auf die Sünde sind beide entweder in der Tatsache oder in Kierkegaards Begründung die negative Stimmung und die negative Erfahrung des Menschen. Allerdings ist nach Kierkegaard die negative Stimmung das „Erziehungsmittel“, das Gott dem Menschen gibt. Die Angst geschieht in einem Augenblick genau vor dem Sündenfall. Nach meinem Verständnis gilt sie als der Anfang des Anfangs der Wahrheit. Wie bezieht sich Leiden auf die subjektive Wahrheit? Kierkegaard bestimmt und beschreibt die auf die Wahrheit zielende Existenz in der ganzen Lebenszeit mit dem Leiden. Mit dem Leiden wird die Negativität der Wahrheit konkret und zusammen dargestellt. Das Leiden bedeutet nicht nur alles Unglückliche und die Ungewissheit im Leben, sondern mehr auch noch die Reflexion alles dessen im menschlichen Geist,540 zum Beispiel als Angst und Verzweiflung. Dann verlegt Kierkegaard mit dem Leiden die Angst und die Verzweiflung in den christlichen Kontext. Der Mensch verhält sich zu der ewigen Seligkeit durch das Leiden. „In der ewigen Seligkeit gibt es kein Leiden; wenn ein Existierender sich aber zu ihr verhält, drückt sich das Verhältnis ganz richtig durch das Leiden aus.“541 Der Mensch, der sich zu der Wahrheit sowie zu sich selbst verhält, verhält sich mit dem Leiden in der Zeit. Weil sich der Mensch nach Kierkegaard im Leiden mit der „Erwartung“542 der Seligkeit belohnt, gewinnt das Leiden eine positive Bedeutung. Wird die existenzielle Interpretation gegeben, dann kann der Mensch die Selbsterkenntnis durch das Leiden als den Ausdruck des Gott-Mensch540 Vgl. AUN in PhB & AUN (2005), S. 613f / AE in SKS 7, S. 394. „Aber das wesentliche existentielle Pathos verhält sich zum wesentlichen Existieren; und wesentlich Existieren ist die Innerlichkeit, und das Handeln der Innerlichkeit ist Leiden, denn das Individuum vermag nicht, sich selbst umzubilden, dergleichen kann es sich höchstens einbilden, und darum ist Leiden das höchste Handeln im Innern.“ Auch vgl. AUN in PhB & AUN (2005) S. 618 / SKS 7, S. 397. „Der sehr verehrliche Redner vergißt, daß die Religiosität die Innerlichkeit ist, daß die Innerlichkeit das Verhältnis des Individuums zu sich selbst vor Gott, seine Reflexion in sich selbst ist, und daß das Leiden gerade hierin seinen Ursprung, aber auch den Grund seiner wesentlichen Zugehörigkeit hat, […]“ 541 AUN in PhB & AUN (2005), S. 636 / AE in SKS 7, S. 411. 542 AUN in PhB & AUN (2005), S. 577 / AE in SKS 7, S. 366. „Fragen wir also: welches ~ %X_'
gewinnt? Im endlichen Sinne ist nichts zu gewinnen, sondern alles zu verlieren. In der Zeitlichkeit ist die Erwartung einer ewigen Seligkeit der höchste Lohn, weil eine ewige !" %X_' |
verhält, ist gerade, daß nicht nur kein Lohn zu erwarten, sondern Leiden zu ertragen ist.“
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Verhältnisses gewinnen. Mit dem Leiden gibt Kierkegaard die elementare Beschreibung für das menschliche Leben: Der Mensch leidet, aber dadurch gewinnt er als Geist die subjektive Wahrheit und die ewige Seligkeit. So gesehen schließt die subjektive Wahrheit konkrete Erfahrungen des Menschen in der Existenz ein. Die subjektive Wahrheit unterscheidet sich wesentlich von der wissenschaftlichen Wahrheit sowie von der Korrespondenztheorie. In diesem Kapitel stand die Rolle Gottes im Vordergrund, während ich mich im nächsten Kapitel konkret mit dem Lehrer-Schüler- Verhältnis in der subjektiven Wahrheit beschäftigen werde.
5.5 Das Lehrer-Schüler-Verhältnis Das Selbst-Verhältnis des Menschen, das aufgrund des Gott-MenschVerhältnisses gesetzt ist, wird bildlich durch das Lehrer-Schüler-Verhältnis in den Climacus-Schriften dargestellt. Meine Frage im letzten Kapitel „Wie wird die ewige Wahrheit die subjektive Wahrheit?“ wird von Kierkegaard in den PhB mit der Frage „Wie wird die [subjektive] Wahrheit gelehrt?“ zum Ausdruck gebracht. Diese Frage von Climacus gilt als der Leitfaden und als der Anfang der Argumentationen Kierkegaards in PhB.543 Nun richte ich mich auf die existenziellen und kulturellen Interpretationen des Lehrer-Schüler-Verhältnisses. Wie ist Gott als der Lehrer im Lehrer-SchülerVerhältnis zu verstehen? Kierkegaard hob die absolute qualitative Verschiedenheit zwischen Gott und Mensch hervor. Die absolute Verschiedenheit Gottes besteht darin, dass sich der Mensch zu Gott mit dem Verstand nicht verhalten kann,544 und dass der Mensch als eine synthetische Struktur von Zeitlichem und Leiblichem begrenzt ist, während Gott die Ewigkeit ist. Der Mensch muss die absolute Verschiedenheit einräumen und akzeptieren. Aus diesem Grund des absoluten Gott-Mensch-Verhältnisses ist das LehrerSchüler-Verhältnis im Christentum absolut. Das heißt, Gott als der Lehrer ist immer der Lehrer im Lehren der Wahrheit. Der Lehrer ist also nicht nur der Anlass, der den Schüler an die Wahrheit erinnert, sondern auch die gelehrte Wahrheit selber im christlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis. „[…] in Hinsicht auf welchen Bewußtseinsakt das Sokratische gilt, daß der Lehrer nur der Anlaß ist, wer immer er ist, und sei er selbst Gott.“545 Gott als der Lehrer ist unersetzbar
543 Vgl. PhB (1984), S. 12 / PS in SKS 4, S. 218. 544 Vgl. PhB (1984), S. 43 / PS in SKS 4, S. 249. „Bestimmt als das absolut Verschiedene, scheint es im Begriff zu sein, offenbart zu werden; aber so ist es nicht, denn die absolute Verschiedenheit kann der Verstand nicht einmal denken.“ 545 PhB (1984), S. 16 / PS in SKS 4, S 223.
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und der Mensch als Schüler kann nicht in dessen Rolle wechseln. Darin besteht die Absolutheit des Lehrer-Schüler-Verhältnisses im Christentum. In einem Lehrer-Schüler-Verhältnis, das auch Mensch-Mensch-Verhältnis sein kann, wirken Lehrer und Schüler miteinander, zum Beispiel in Sokrates‘ Fall, den Kierkegaard parallel zum christlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis in PhB dargestellt hat. In diesem Fall wechseln der Lehrer und der Schüler ständig im Prozess von Lehren und Lernen. Jeder kann der Lehrer werden, weil der Lehrer nicht den Inhalt des Lehrens ist, sondern nur „ein verschwindender Durchgang“.546 Dies Lehrer-Schüler-Verhältnis ist nach Kierkegaard das relative Verhältnis. Die Relativität dieses Verhältnisses besteht wesentlich in der elementaren Struktur des Menschen, die von Kierkegaard bestimmt wird: Der Lehrer und der Schüler sind wesentlich der Mensch und wesentlich gleich, der gleichzeitig in einer Spannung von Ewigem und Zeitlichem gesetzt und davon begrenzt ist. „Jedes Individuum [der Lehrer und der Schüler] ist wesentlich gleich ewig angelegt und verhält sich zum Ewigen“,547 deswegen ist das Verhältnis zwischen den beiden relativ. Wie wird die Wahrheit durch das relative Lehrer-Schüler-Verhältnis gelehrt? Die Wahrheit wird in den meisten Fällen nicht durch das Handeln des Lehrers, sondern durch das Sprechen oder Gespräch zwischen Lehrer und Schüler vermittelt. Davon ausgehend kann man gut verstehen, warum in Sokrates‘ Fall die Dialoge im Prozess des Erinnerns an zentraler Stelle stehen. Allerdings hat Sokrates nach Kierkegaards Interpretation das Paradox, nämlich die Grenze zwischen dem Denken (dem Sprechen) und dem Handeln entdeckt.548 Sokrates‘ Entdecken des Paradoxes und sein Handeln gelten für Kierkegaard als die höchste Stufe, die das relative Lehrer-Schüler-Verhältnis erreichen kann.549 Wie beeinflusst das relative Lehrer-Schüler-Verhältnis den Inhalt des Lehrens und Lernens? Was für eine Wahrheit wird in diesem Verhältnis gelehrt? Obwohl Sokrates mit seinem Leben das Paradox entdeckt, zieht sich sein Schüler Platon mit dem Erinnern und den Dialogen innerhalb der Grenze in das Gebiet des Denkens zurück. Die Philosophie wurde viel mehr zur Übung und zum Experiment des Denkens mit Begriffen und Kategorien im menschlichen Denken. Die durch Philosophie gelehrte Wahrheit tendiert zur objektiven Wahrheit, die im Denken bleibt und vom Handeln getrennt ist. Der zeitliche Unterschied zwischen zwei Lehr-Lern-Prozessen ist der Augenblick. Wenn die Wahrheit durch den Dialog und das Sprechen gelehrt wird, kann der Prozess des Lehrens und Lernens in irgendeinem Moment und irgendwo ge546 547 548 549
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Vgl. AUN in PhB & AUN (2005), S. 780 / AE in SKS 7, S. 520. AUN in PhB & AUN (2005), S. 780 / AE in SKS 7, S. 520. Siehe: Kapitel 4.2 über das Paradox. Siehe: Sokrates‘ Entdecken des Paradoxes in Kapitel 4.2.
schehen. Es gibt im relativen Lehrer-Schüler-Verhältnis keinen bestimmten und wendenden Moment für den Schüler, entweder in der Geschichte oder in seinem Leben. Demzufolge ergibt die objektive Wahrheit keinen Sinn für das menschliche Leben selber. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis spielt die wichtigste Rolle im Lehr-LernProzess. Das Gelehrte ist entscheidend für das Gelernte. Wie die Wahrheit gelehrt und gelernt wird hat Einfluss auf die Wahrheit selber bzw. darauf, was im Lehr-Lern-Prozess vermittelt wird. Wie der Mensch die Wahrheit lernt beeinflusst auch sein Selbsterkennen. Wenn er sich zu der objektiven Wahrheit verhält, verhält er sich zu sich selbst auch als der Beobachter. Angesichts der objektiven Wahrheit behandelt der Mensch sich selbst als Gegenstand. Der Mensch selbst wird das Objekt in der Reflexion des Denkens, und er lässt sich durch die objektive Wahrheit von seiner Existenz distanzieren. Das absolute oder christliche Lehrer-Schüler-Verhältnis hat als solches auch Einfluss auf den Inhalt der Wahrheit. Allerdings gilt auch im Gegenteil, dass die Inkarnation als die Lehrmethode Gottes vom Lehren der subjektiven Wahrheit gefordert wird. Inwiefern gilt das Christentum für Kierkegaard als die Mitteilungsform der subjektiven Wahrheit? Nach Kierkegaard zeigt Gott in der Liebe seine „wahre“ Gestalt bildlich als die Gestalt des Knechts.550 Das ist das Herabsteigen Gottes, was die absolute Verschiedenheit zwischen Gott und Mensch voraussetzt und zum absoluten Lehrer-Schüler-Verhältnis gehört. Das heißt, nur Gott ist in der Lage, den Menschen durch das Lehren der Wahrheit umzuschaffen. Der Schüler aber darf und kann diese Stelle Gottes als Lehrer nicht übernehmen. „Anderenfalls müßte er ja den Lernenden nicht umbilden, sondern umschaffen, ehe er anfängt, ihn zu lehren. Dies vermag kein Mensch; soll es trotzdem geschehen, so muß es durch Gott sein.“551
Wie vollführt Gott das Umschaffen des Menschen? Gott lässt sich im Leben des einzelnen Menschen alle Leiden erfahren.552 Damit gibt Gott dem Menschen das Vorbild der subjektiven Wahrheit, wie sich der Mensch in den konkreten Situationen in der Existenz zu sich selbst und zu Gott verhalten soll. Auf dieser Weise wird die Wahrheit durch die Inkarnation in Jesus Christus in der Existenz konkret dargestellt und gelehrt. In diesem Sinn gibt Gott dem Menschen die Bedingung, die ewige oder absolute Wahrheit subjektivieren zu lassen. Im absoluten Lehrer-Schüler-Verhältnis gibt der Lehrer dem Schüler die Bedingung, die
550 Vgl. PhB(1984), S. 31 / PS in SKS 4, S. 238. 551 PhB (1984), S. 17 / PS in SKS 4, S. 223. 552 Vgl. PhB (1984), S. 32f / PS in SKS 4, S. 239f.
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ewige Wahrheit zu empfangen, zu verstehen und zur subjektiven Wahrheit zu synchronisieren. Davon ausgehend ist die Inkarnation in Jesus Christus die Darstellung der Wahrheit und er ist die subjektive Wahrheit selber. In diesem absoluten LehrerSchüler-Verhältnis ist „wie die Wahrheit gelehrt wird“ dieselbe wie „was für eine Wahrheit gelehrt wird“. Gott als der Lehrer (Wie) ist gleichzeitig der Inhalt des Lehrens (Was). Die subjektive Wahrheit wird bereits durch das Wie in dem absoluten Lehrer-Schüler-Verhältnis bezeichnet. Gott oder Wahrheit als das Handeln ist auch gleichzeitig der Gegenstand des Lehr-Lern-Prozesses. In diesem Prozess wird die Trennung zwischen Denken (was ist die Wahrheit) und Handeln (wie ist die Wahrheit) vermieden, weil mit Gott als Lehrer des Prozesses die Trennung von Anfang an gar nicht benötigt wird. Damit weist Kierkegaard darauf hin, dass der Lehrer und der Schüler im absoluten Verhältnis nicht wechseln können. Der Schüler darf nicht wie beim relativen Verhältnis die Rolle Gottes als Lehrer übernehmen und ersetzen. Von diesem Punkt unterscheidet sich das absolute Lehrer-Schüler-Verhältnis wesentlich vom relativen Verhältnis. Wie ist der Mensch als der Schüler im absoluten Lehrer-Schüler-Verhältnis zu sehen? Der Schüler empfängt die Bedingung der Wahrheit und verhält sich zur Wahrheit. Der Mensch muss sich zur Inkarnation Gottes im Glauben verhalten. Obwohl der Gegenstand des Glaubens, Gott als die Ewigkeit in der Zeit, der Widerspruch und das Paradox für den menschlichen Verstand ist, nimmt der Mensch ihn trotzdem wahr. Was geschieht mit dem Menschen? Nach dem Empfangen der Bedingung und der Wahrheit erfährt der Mensch die qualitative Veränderung. „Wenn der Schüler die Unwahrheit ist […], aber doch Mensch ist und nun die Bedingung und die Wahrheit bekommt, dann wird er ja nicht erst Mensch, […] er wird vielmehr ein Mensch anderer Qualität oder, wie wir es nennen können, ein neuer Mensch.“553
Diese qualitative Veränderung geschieht im Augenblick, in dem die Bedingung gegeben wird, in dem der Mensch die Wahrheit wahrnimmt und in dem der Glauben durch den Sprung ausgeführt wird. Dieser Augenblick gilt als der Augenblick des Werdens des neuen Menschen, nämlich als der Augenblick des Menschwerdens. Mit dem Augenblick wird der Übergang vom Nichtsein des neuen Menschen zum Sein des neuen Menschen dargestellt. Dieser Übergang ist der Übergang vom Nichtsein zum Sein in der Anthropologie Kierkegaards. „Aber dieser Übergang vom Nichtsein zum Sein ist ja der der Geburt“.554 Des553 PhB (1984), S. 20 / PS in SKS 4, S. 227. 554 PhB (1984), S. 21 / PS in SKS 4, S. 227.
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wegen erhält dieser Augenblick des Werdens die wichtige Bedeutung in der Lebenszeit des Menschen. Nur Gott kann den Menschen umschaffen. Kierkegaard nennt die qualitative Veränderung des Menschen auch Bekehrung555 und Wiedergeburt556. Wie in Kapitel 5.3 bereits begründet, ist nach Kierkegaard das Menschwerden wie das Christwerden. In diesem Kapitel habe ich das absolute und das relative Lehrer-SchülerVerhältnis in Kierkegaards Begründung nachgewiesen, in dem der Augenblick im christlichen Verständnis dargestellt wird. Ich vergleiche ihn im Folgenden mit dem Augenblick der Erleuchtungen im Chan-Buddhismus in China. Der Augenblick sowie die Zeitauffassung bilden meinen Ausgangspunkt, um das Lehrer-Schüler-Verhältnis in Chan zu betrachten und mit dem christlichen zu vergleichen.
555 PhB (1984), S. 20 / PS in SKS 4, S. 227. 556 PhB (1984), S. 21 / PS in SKS 4, S. 227.
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6 Kierkegaard und China 6.1 Einführung Wie wird Kierkegaard in China verstanden? Im Kontext des chinesischen Denkens und Kultur-Dialogs ist diese Frage nicht einfach zu beantworten, denn es handelt sich nicht nur um die Geschichte der Interpretation in China, seitdem Kierkegaards Name zum ersten Mal in der chinesischen Literatur auftauchte,557 sondern es kommt zu dem prinzipiellen Problem: Wie kann Kierkegaard in der chinesischen Kultur überhaupt angenommen werden? Gibt es Schnittpunkte, von denen aus Kierkegaard und chinesisches Denken in Zusammenhang gebracht werden können? Dieser Zusammenhang soll nicht nur ein vordergründlich kultureller Vergleich sein, sondern als Dialog auf der Ebene der Denkart und des Kerngedankens ausgeführt werden. Einer der berühmten Vertreter der neu-konfuzianischen Philosophen, Mou Zongsan,558 versuchte die Philosophie des Konfuzianismus zu systematisieren und zu modernisieren. Er betrachtete die westliche Philosophie, besonders die 557 Vgl. Wang Qi, 2009. S. 103. In 1908 erwähnte Lu Xun in seinem kleinen Artikel On the Culture Extrems Kierkegaard als einen dänischen Philosophen, der großen Wert auf das Individuum-Werden legte. (On the Culture Extrems, in: Das gesammelte Werk von Lu Xun, Band. 1, Beijing Renmin Literatur Verlag, 1991, S. 44-62.) Lu Xun (1881-1936), Schriftname für Zhou Shuren, einer den berühmten Schriftsteller im modernen China, 1904-1909 studierte Medizin in Japan. Er lebte in der Kolonialzeit Chinas und rief ein neues und unabhängiges Land für Chinesen aus. Nach Lu Xuns Ansicht würde dafür eine neue Kultur für China benötigt werden. Sein Interesse lag in der Kulturkritik, Geschichte und Literatur. Lu Xun hatte zahlreiche Schriften verfasst und gilt den modernen Chinesen wie Shakespeare für die Engländer und Goethe für die Deutschen. 558 Mou Zongsan (1909-1995), chinesischer Philosoph, Vertreter des Neu-Konfuzianismus, ist 1909 in der Shandong Provinz geboren. 1927-1929 Precollege im Fachbereich der Philosophie in der Beijing Universität, 1919-1933 Studium im selben Fachbereich. 1933- 1949, Lehreraufträge an verschiedenen Universitäten: u.a. Huaxi, Zhongshan, Jinling, Zhejiang. 1927-1949 war eine fortwährende Kriegszeit in China. Viele Universitäten wurden zerstört, was zu Stellenwechseln der Professoren führte. 1949-1960, Professor an den Universitäten Taipei und Donghai in Taiwan. 1960-1974, Professor an der Hongkong sowie der Hongkong-Chinesische Universität. Er hatte zahlreiche Schriften über Kants Philosophie verfasst und baute auch ein neues System des Konfuzianismus in seinem Denken auf und versuchte, die konfuzianische Philosophie in der modernen Disziplin der Philosophie zum Ausdruck zu bringen. Mou hatte viele kantische Kategorien übernommen, um die konfuzianische Moral-Philosophie in der neuen Zeit zu interpretieren, von denen Kants Grundlegung zur Metaphysik der Sitten eine herausragende Rolle einnahm. Nach Mou konzentrierte sich Konfuzius nur auf die Moral im Handeln, wobei die metaphysischen und systematischen Begründungen fehlten. Deswegen kann Kants Philosophie nach Mou ein Schnittpunkt für die Chinesen sein, die westliche Philosophie zu verstehen und ihr Denken zu systematisieren.
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Philosophie der Aufklärung und des deutschen Idealismus, als Vorbild für seine Arbeit. Mou konnte Kierkegaards Denken nicht verstehen.559 Er führte einen Dialog zwischen Konfuzianismus und Kants Philosophie. Nach Mou lag der wichtigste Schnittpunkt des Dialogs in der Moralphilosophie der beiden. Wie kann Kierkegaard von den Chinesen verstanden werden, die in der chinesischen Kultur als eine Mischung von Konfuzianismus, Daoismus und Buddhismus besonders Chan-Buddhismus (Zen-Buddhismus), aufgewachsen und ausgebildet wurden? Ich bin der Auffassung, dass es möglich ist, Kierkegaards Denken und chinesisches Denken in Zusammenhang zu bringen. Die Schnittpunkte hierfür liegen in dieser Arbeit bei der Zeitauffassung Kierkegaards und der Zeitauffassung des Chan-Buddhismus bzw. der Augenblick in Kierkegaards Zeitauffassung und der Augenblick der Erleuchtung im Chan-Buddhismus. Der Name Chan wird in dieser Arbeit übernommen. Ich verwende den Begriff mit Absicht, weil Chan von Zen unterschieden werden muss. Zen ist die japanische Übersetzung für Chan. Nachdem die Japaner Chan gelernt hatten, entwickelten sie einen eigenen Weg in Japan, der Zen genannt wird. Aufgrund des Kultur- und Sprachunterschieds ist die Methode im Zen ähnlich aber nicht dieselbe wie bei Chan.560 Ich beschränke mich auf den chinesischen Chan. Warum wird dieser Punkt ausgewählt? Erstens ist Kierkegaards Denken für Chinesen relativ irrational und unsystematisch im Vergleich zur sonst bekannten westlichen Philosophie. Kierkegaard kritisiert die systematische Philosophie, weil darin die lebendige menschliche Existenz fehlt. Er lehnte selber die Systematisierung in seiner Philosophie ab. Die chinesische Philosophie hat seit Konfuzius großes Interesse am menschlichen Leben und an den konkreten Situationen im menschlichen Leben.561 Allerdings haben chinesische Philosophen weniger Interesse an der Systematisierung ihres Denkens. Das Interesse gilt vor allem der individuellen Moral und Moralverbesserung, und es wird auch als hoher Wert für die Stabilität der Familie und des Staates dargestellt. Wie sieht ein gutes Leben für traditionelle Chinesen aus? Ein traditioneller Chinese ist ein moralischer Mensch und verbessert sich und seine Moral ständig. Er lebt mit fast al559 Vgl. Wang Qi, 2009, S. 104. Nach dem Mainstream der modernen chinesischen Philosophie galt und gilt die systematisierte Philosophie als Basis der modernen Wissenschaft und Technik. Aber die konfuzianische Philosophie war – seit Konfuzius – nie systematisiert. Deswegen konnte die moderne Wissenschaft und Technik in China nicht entstehen, und sich China – bis heute – immer noch nicht wie ein moderner Staat entfalten. Die neu-konfuzianische Philosophen versuchen konfuzianische Philosophie zu einer modernen Philosophie umzubauen. 560 Vgl. Abe, 1997, S. 13. „Die westlichen Sprachen haben das Wort zwar aus dem Japanischen übernommen, aber die japanische Form ist selbst nichts als eine Japanisierung des chinesischen Begriffs Chan.“ 561 Ich verwende hier keine Kategorie wie „Existenz“, um Missverständnisse zu vermeiden.
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len Verwandten in einer großen Familie zusammen und bewahrt die Harmonie in diesem Kreis. Die ganze Familie lebt in einem friedlichen Staat, der wiederum wie eine vergrößerte Familie funktioniert. Deswegen wird auf die Harmonie der höchste Wert gelegt. Zweitens steht Kierkegaards Ausdrucksform der chinesischen Philosophie und Kultur näher als andere westliche Philosophien. Kierkegaard legt Wert auf die indirekte Mitteilung.562 Es ist Gemeingut der chinesischen Kultur und Sprache, indirekte Mitteilungen und Andeutungen zu benutzen. Seit Konfuzius sind Selbst-Reflexion und Selbstbewusstsein zur Verbesserung der Moral wesentlich. Die Verbesserung der Moral soll der Mensch selber vollziehen. Der reine Gehorsam ist keine Tugend. Konfuzius expliziert seinen Schülern ganz selten die Konsequenz direkt und klar. Der Schüler muss selbst überlegen und entscheiden, wie er gut handeln sollte. Drittens ist die Zeitauffassung ein wichtiges Element, um unterschiedliche Kulturen zu identifizieren. Die elementare Bestimmung der Zeit ist im Buddhismus Kreis und Zyklus. Nach der christlichen Zeitauffassung unterscheidet sich die Ewigkeit Gottes von der Zeit des Menschen. Die christliche Zeit ist entsprechend einer Zeitlinie. Der Vergleich wird in Kapitel 6.3 weiter entfaltet. Viertens wurden die Zeitauffassung des Konfuzianismus und Daoismus vom Buddhismus stark geprägt. Die sogenannte chinesische Kultur ist eine Mischung aus diesen Dreien. Nach der Disziplin der modernen Philosophie kann man unterscheiden: Daoismus bietet die Ontologie und Kosmologie, Konfuzianismus bietet die Ethik und der Buddhismus gilt als Religion und gleichzeitig auch als spekulative Philosophie. Ein typisches Beispiel dieser Mischung ist ChanBuddhismus in China. Nach der Begründung des Chan-Buddhismus wurde Chan der Mainstream des Buddhismus in China. Mit Chan gewann chinesischer Buddhismus seine eigene Identität. Danach war chinesischer Buddhismus nicht mehr nur Buddhismus in China oder nicht nur Übersetzung und Interpretation des indischen Buddhismus in China, sondern Chan-Buddhismus wird als ein der chinesischen Kultur angepasster Buddhismus beurteilt und anerkannt.563 Mit Chan 562 Kierkegaard verwendet die indirekte Mitteilung als eine Methode in angegebem Schreiben, und wenn der Mensch von Glauben redet: Vgl. FZ in GW2 5, S. 2 / FB in SKS 4, S. 100. Dort wird eine kleine Geschichte als ein Beispiel der indirekten Mitteilung gegeben: „Was Tarquinius Superbus in seinem Garten mit den Mohnköpfen sprach, verstand der Sohn, aber nicht der Bote.“ 563 Vgl. Fang Litian, 2011, S. 18. „Der von Huineng begründete Chan-Buddhismus ist ein neues System des Buddhismus, der auch wie eine Reformation des Buddhismus zu sehen ist. Im Vergleich zum indischen Buddhismus wird die Natur der chinesischen Kultur im chinesischen Buddhismus dargestellt. Nach chinesischer Kultur legt ChanBuddhismus auch großen Wert auf Hermeneutik, Volk, Selbstbewusstsein [Selbstreflexion], Realität, Erleuchtung. “ [eigene Übersetzung]
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veränderte sich der Buddhismus und passte sich dem Konfuzianismus und Daoismus an.564 Umgekehrt wurden Konfuzianismus und Daoismus auch von Chan-Buddhismus beeinflusst. So gesehen kann ich in diesem Kapitel den Chan-Buddhismus als den Vertreter der chinesischen Kultur behandeln. Deswegen werde ich die Zeitauffassung des Chan-Buddhismus als ein typisches Beispiel zum Vergleich heranziehen. Wie wird der interkulturelle Dialog im Hinblick auf Kierkegaard und ChanBuddhismus weiter geführt? Die wichtigsten Begriffe des Buddhismus werden erklärt und interpretiert und dazu wird Kierkegaards Terminologie zum Vergleich genutzt. In der Überlieferungsgeschichte gibt es klassische Texte über Buddha und seine Schüler. Diese Texte wurden im Buddhismus sehr hoch geschätzt und werden Sutras genannt. Vom 2. bis 7. Jahrhundert konzentrierten sich chinesische Mönche auf die Übersetzung der Sutras. Im Chan-Buddhismus wird prinzipiell die Autorität der meisten geschriebenen Texte vor der Entstehung (vor dem Patriarchen Hui Neng) des Chan-Buddhismus relativiert.565 Allerdings legt Chan-Buddhismus hohen Wert auf Tanjing (Plattform-Sutra) des Patriarchen des Chan-Buddhismus Hui Neng.566 Andere Sammlungen von kleinen Geschichten werden auch gelesen und verbreitet. Diese kleinen Geschichten erzählen von 564 In der frühen Entwickelung des Buddhismus in China mussten Mönche versuchen, Buddhismus als eine fremde Religion und Art des Denkens den Chinesen verständlich zu machen. Konfuzianer und Daoisten waren normalerweise tolerant gegenüber fremden Kulturen, es sei denn, dass die Harmonie der Familie und des Staates bedroht wurden. Mönche behandelten Probleme vorsichtig, wenn sie die Beziehung zwischen irdischem Leben, Gesellschaft und Buddhismus betrafen. Ich werde später noch erwähnen, wie Buddhismus vor Chan von den Konfuzianern kritisiert wurde. 565 Es gibt viele unterschiedliche buddhistische klassische Schriften. Sutras für Buddhismus haben einen ebenso hohen Stellenwert wie die Bibel für das Christentum. Während es sich bei der Bibel um ein einziges Buch handelt, schließen Sutras mehr als tausend Bücher ein. Ein großes Problem entstand aus den zahlreichen Schriften: Mönche sowie buddhistische Gemeindeangehörige haben sich mit dem Lernen der Schriften beschäftigt, besonders wenn Gemeindeangehörige kein schriftliches Chinesisch kannten. In solchen Situationen dachten Mönche und Gemeindeangehörige mehr an die Inhalte der Schriften als an die Lehre Buddhas sowie die Befreiung. Buddhas Lehre und die Befreiung wurden zum Wissensgut. Chan-Buddhismus musste versuchen, Buddhismus von einer Lage als Wissen zu befreien und Leute zu lehren, wie man direkt und relativ einfach zur Befreiung von sich selbst gelangt. Als erster Schritt wurden einige Sutras vom Chan-Buddhismus ausgewählt und andere weggelassen. In China gab es viele Kultformen des Buddhismus. Der Hauptunterschied bestand darin, dass verschiedene Schriften von verschiedenen Gruppierungen als wichtige Schriften ausgewählt wurden. 566 Vgl. Abe, 1997, S. 55. „Die Soto-Richtung im Zen lehnt die Texte weniger kategorisch ab als das Rinzai-Zen, aber trotz dieser prinzipiellen Ablehnung des Geschriebenen wurden manche Texte sehr geschätzt, wie zum Beispiel das Tanjing (>>PlattformSutra ~ " ¨ > 583 wird als direkter Nachfolger Buddhas von den Chan-Buddhisten anerkannt,584 der der ersten Schülergeneration Buddhas angehörte und dessen Methode der Erlösung unmittelbar erhielt und zur Erleuchtung gelang. Bodhidharma wird als der erste Patriarch des Chan-Buddhismus in China verehrt, weil er aus Indien nach China einwanderte und den Chan mitführte.585 Die chinesische Aneignung des Chan-Buddhismus wird vom sechsten Patriarchen Hui Neng ausgeführt und abgeschlossen. Deswegen wird Hui Neng als der Begründer des chinesischen Chan-Buddhismus anerkannt. Fang Litian geht ebenfalls von dieser Anerkennung aus.586
Was ist Chan? Worauf legt der chinesische Chan Wert? Chan definiert sich selber als eine einfache und direkte Methode zur Erlösung. „Es ist kein Wunder, daß Zen sich selbst zusammenfassend so definiert: 583 Maha ist hier eine Ehrbezeugung. 584 Vgl. Fang, Litian: Wer war der Begründer des chinesischen Chan Buddhismus? S.3f. in: Hrsg. Chen, Ping. Einführung in dem Chan-Buddhismus, Beijing, 2011. 585 Vgl. Greschat, 2003, S. 352. 586 Vgl. Fang, Litian: S.3-5. „Wer war der Begründer des chinesischen Chan Buddhismus? “. 2004. In: Hrsg. Chen, Ping. Einführung in dem Chan-Buddhismus, Beijing, 2011.
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Eine besondere Überlieferung außerhalb der (orthodoxen) Lehre; Unabhängigkeit von (heiligen) Schriften; Direktes Deuten auf den Geist des Menschen; Schau des eigenen Wesens und Buddha-Werdung.“587
Der chinesische Chan-Buddhismus hat seine eigene Überlieferungsgeschichte und lehnt die meisten anderen buddhistischen Schriften ab. „Unabhängigkeit von Schriften“ bedeutet auch, dass sich der Chan-Buddhismus auf indirekte Mitteilungen beruft, da die Patriarchen sowie der Meister des Chan-Buddhismus selber selten Schriften verfassten. Ziel und Methode des Lehrers: Er beseitigt beim Schüler dessen Verstand durch einmaliges Rufen eines unlogischen und unverständlichen Wortes, Sprechen einiger verworrener Sätze oder unterstreicht dies sogar durch Schlagen, damit der Schüler in einem Moment ohne Verstand die Leerheit der Welt kurz erfahren kann, und die Erleuchtung erhalten kann. Diese Methode ist der Chan. „Direktes Deuten auf den Geist des Menschen“ und „Schau des eigenen Wesens und Buddha-Werdung“ sind die weitere Begründungen und Erklärungen für den Chan und die Erleuchtung. Der Chan als eine Methode betont den einfachen und direkten Weg zur Erleuchtung. In der Erleuchtung erfährt man die Leerheit von der Welt und von sich selbst. „Schau des eigenen Wesens und Buddha-Werdung“ bedeutet, dass es in der Natur jedes Menschen die Möglichkeit gibt ein Buddha zu werden. Hier bezieht sich der Name Buddha nicht auf den Begründer des Buddhismus, sondern auf alle Erwachten im Leben. Diese Möglichkeit verwurzelt in der menschlichen Natur, zu erwachen und befreit zu werden. Man muss in eine innerliche Richtung gehen bzw. durch die Reflexion im Geist. Diese innerliche Richtung ist ähnlich wie die Reflexion der Moral im Konfuzianismus. Der Chan gilt als eine Kombination indischer Meditation sowie Versenkung des Geistes mit konfuzianischer Reflexion der Moral. „Schau des eigenen Wesens“ bedeutet auch, dass es nicht notwendig ist, dass sich der Mensch an die Schriften und Texte in der buddhistischen Tradition wenden muss, um Erwachen und Befreiung zu erlangen. Deswegen legt ChanBuddhismus Wert auf die Unabhängigkeit von den Schriften und von der Sprache. Der Erleuchtungsweg des Chan wurde von Hui Neng entscheidend hervorgehoben. Vor Hui Neng gab es Streit im Chan-Buddhismus: Kann man die Erlösung in der Erleuchtung in einem Moment des Lebens für immer erhalten oder muss man jeden Tag in der Ruhe und in der Versenkung üben und sich selbst reflektieren? Die erste qualitative Veränderung des Geistes beruht auf der Auffassung Hui Nengs, während die andere quantitative Übung von einem Bruder 587 Abe, 1997, S. 46.
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der Hui Neng-Gemeinde begründet wurde. In Hui Nengs Zeit standen die beiden Methoden gegeneinander. Die quantitative Verbesserung stand näher an der moralischen Verbesserung des Konfuzianismus, in der es bestimmte Stufen im Prozess gab. Man musste auf jede Stufe steigen, damit man die höchste Stufe bzw. die Befreiung erreichen konnte. Allerdings verlangte diese Methode ähnlich anderer damaliger Gruppierungen im chinesischen Buddhismus, dass die Gemeinde und das Lernen der buddhistischen Texte und Schriften wichtig waren. Am Anfang der Verbreitung des Buddhismus in China wurde besonders das Kleine Fahrzeug von Konfuzianern kritisiert, weil zur Befreiung eines Individuums tägliche oder gar lebenslange Übungen notwendig waren. Dies verlangte, dass der Mensch seine Familie und das irdische Leben verlassen und die Verantwortung für die ganze Familie und den Staat aufgeben musste. Die konfuzianische Kultur als damaliger Mainstream übte großen Druck auf die in diese Richtung gehende Entwicklung des Buddhismus in China aus. Der Chan-Buddhismus gehört zum Großen Fahrzeug und glaubt, dass in der Natur jedes Menschen die Möglichkeit besteht, Erwachter im Leben zu werden, und dass er durch die Erleuchtung die Befreiung erhalten kann. Hui Neng schuf einen wichtigen Beitrag den Buddhismus in die chinesische Kultur zu integrieren. Chan gilt seit Hui Neng als eine flexible, vielfältige Methode zur Erleuchtung und zur Befreiung. Der Mensch muss nicht unbedingt ein Mönch werden oder im Tempel leben, um Befreiung zu erlangen. Nach Chan-Buddhismus und Großem Fahrzeug kann die Natur des Menschen zur Erleuchtung in irgendeinem Moment und irgendeiner Situation inspiriert werden. Der Chan kann durch Unwesentliches im Leben dargestellt werden und dieser Chan kann die menschliche Einstellung zum Leben gänzlich verändern, wodurch der Mensch eine positive Einstellung gewinnen kann. Im Chan-Buddhismus hat das Leben Sinn im Leben selber und die Erleuchtung sowie Befreiung muss auch im Leben geschehen. Ein Erwachter zu werden bedeutet nicht, dass der Mensch weit entfernt von seiner Familie und vom Staat wohnt, sondern dass er nach der Befreiung seine Aufgaben in seinem Leben in dieser Erscheinungswelt ausführen soll, ein guter Sohn zu seinen Eltern, ein guter Mann zu seiner Frau, verantwortlich zur Familie und zum Staat zu sein. Erleuchtung und Befreiung besteht mehr in der Befreiung des menschlichen Geistes. Nachdem der Mensch durch Chan und Erleuchtung die Leerheit als die Wirklichkeit der Welt erfahren hat, negiert er nicht seine Vorstellungen und alle Erscheinungen in der Welt. Im Gegenteil weiß er schon, dass das Leiden nur in seiner Vorstellung existiert und aus Begehren entsteht, deshalb kann er Begehren verlassen und eine positive Stimmung in seiner Vorstellung wählen: Statt Leiden wählt er Glücklichsein und statt Angst wählt er Ruhe usw. Darin sehe ich den existenziellen Charakter des Chan-Buddhismus. Mit Chan-Buddhismus entwickelt sich der Buddhismus in 201
China in Harmonie mit Konfuzianismus und Daoismus. Diese konfuzianischdaoistisch-buddhistische Kultur wird seit Hui Neng als Kern der chinesischen Kultur angesehen. Generell bedeutet Chan Versenkung, Meditation, Übung, womit der menschliche Geist in einen ruhigen Zustand übergeht. Beim chinesischen ChanBuddhismus bedeutet Chan auch die Vorbereitung zur Erleuchtung. Allerdings ist diese Vorbereitung nicht unbedingt in Ruhe lange Zeit zu sitzen und zu meditieren, sondern Sprichworte, unverständliche Sätze und Schlagen, etc. können ebenfalls zum Chan gehören. Deswegen bezieht sich der Chan im ChanBuddhismus auf die Methode zur Erleuchtung und zur Befreiung. Der ChanBuddhismus legt keinen großen Wert auf Chan selber als Methode, sondern auf die Erleuchtung und Befreiung. Der Chan-Buddhismus lehnt die Kerngedanken Buddhas nicht ab, aber er gilt als Reformation in der Methode des chinesischen Buddhismus.
6.3 Kierkegaards Augenblick und der Augenblick der Erleuchtung. Ein Vergleich im Hinblick auf das Lehrer-Schüler-Verhältnis Wie wird Buddhas Wahrheit gelehrt? Im Chan-Buddhismus wird sie durch Chan gelehrt. Aber die Wahrheit wird vom Schüler nur durch die Erleuchtung in seinem eigenen Geist gelernt. Die Wahrheit hier bezieht sich nicht nur auf die Vier Edlen Wahrheiten, sondern auch auf Leerheit der Welt und den Kausalnexus. Die Wahrheit muss der Schüler selber durch die Erleuchtung erreichen. Der Schüler selber hat die Fähigkeit die Erleuchtung zu erlangen, weil nach dem Großen Fahrzeug alle fühlenden Wesen die Möglichkeit zum Erwachen haben. Im Chan gibt es eine Kluft zwischen dem Lehren und dem Lernen. Für den Schüler geschieht die Erleuchtung in einem Augenblick, um die Leerheit als die Wahrheit zu verspüren. Diese Wahrheit wird von der Sprache und von der Methode des Meisters im Chan übertragen. Allerdings sind die Sprache und die Methode nicht die Wahrheit selber. Chan ist die Vorbereitung für die Erleuchtung zur Wahrheit, aber nicht Erleuchtung und Wahrheit selber. Wenn der Schüler die wörtlichen Bedeutungen einer indirekten Mitteilung vom Meister zu verstehen versucht, geht er auf seinem Weg in die falsche Richtung. Er wird von der Sprache und vom Verstand verwirrt und begrenzt. Er strebt nach der Bedeutung und denkt vernünftig. Die Sprache zu verstehen bedeutet, dass er in diesem Prozess den Verstand verwendet. Das Streben und der Verstand sind Darstellungen des Begehrens, und aus Begehren entspringt das Leiden, weshalb solche Darstellungen überwunden werden müssen. 202
Eine kleine Geschichte wird erzählt: Ein Schüler besucht den Meister Ma Zu. Der Schüler fragt nach der Bedeutung: „Was bedeutet das Prinzip im Chan ‚Schau des eigenen Wesens und BuddhaWerdung‘?“ Der Meister antwortet: „Es bedeutet nur, dass der Mensch die Natur hat, Buddha zu werden. Der Mensch muss in eine innerliche Richtung gehen, damit er Erleuchtung erhalten kann.“ Der Schüler fragt: „Was bedeutet, dass Bodhidharma von Westen nach Osten gekommen ist?“ Der Meister sagt: „Du bist noch verwirrt. Komm nächstes Mal zu mir.“ Der Schüler geht weg. Als er fast das Zimmer verlässt, ruft der Meister plötzlich und ganz laut: „Hallo, Du!!!“ Der Schüler erschrickt, stoppt und schaut zurück. Der Meister fragt: „Was ist das?“ Der Schüler kann nicht antworten aber in diesem Augenblick bekommt er die Erleuchtung.588 „Zurück zu schauen“ ist hier eine Metapher. Der Meister lässt den Schüler zu sich selber zurück schauen. Der Schüler schaut hinter sich. Dies ist der Analog für die Bewegung der Reflexion des Denkens. Der Schüler kann des Meisters letzte Frage nicht beantworten. In diesem Augenblick funktioniert der Verstand nicht. Der Verstand stößt an etwas, dass er nicht verstehen kann. Deswegen suspendiert sich der Verstand und das Denken kehrt zu sich selbst zurück. Durch die Analogie entdeckt der Schüler, dass das Selbst als das Selbstbewusstsein leer ist. Der Schüler schaut zurück. Es gibt eigentlich nichts hinter ihm. Es fällt ihm ein, dass in der Welt außerhalb der Erscheinungen die Leerheit ist. In diesem Beispiel wird der Lehr-Lern-Prozess mit der Sprache ausgeführt. Was diskutiert wird dreht sich um die Erkenntnis im Chan-Buddhismus. Die Erkenntnis gehört zu den schriftlichen Texten und zur menschlichen Vorstellung, die im Chan-Buddhismus negiert werden. Durch die Fragestellung des Schülers merkt der Lehrer, dass der Schüler noch verwirrt ist und dass der Schüler innerhalb des Verstandes und der Vorstellung bleibt. Etwas zu verstehen ist kein Ausgangspunkt für die Erleuchtung. Der Lehrer muss mit dem Chan seine Vorstellung zerreißen, damit der Schüler die Leerheit außerhalb der Vorstellung erfahren kann. Der Chan wird durch das plötzliche Rufen und die Fragen des Lehrers dargestellt. Wie reagiert der Schüler auf den Chan? Er schaut schnell zurück und ist erstaunt. In diesem Erstaunen setzt sein Verstand aus, und in diesem Augenblick springt der Schüler aus seiner Vorstellung. Das ist der Augenblick der Erleuchtung. Aus der zeitlichen Perspektive erfährt der Schüler im Augenblick des Erstaunens das Anhalten der Zeit: Die Zeit existiert nicht in der Welt, sondern in
588 Vgl. Cai Chongxi, hrsg., 2005, S. 115.
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der Vorstellung. Wenn der Schüler aus der menschlichen Vorstellung herausspringt, erfährt er die Leerheit ohne Zeit und die Zeit gilt für ihn deswegen als etwas Anhaltendes.
Kierkegaards Existenzauffassung im Vergleich zum Chan-Buddhismus Die bisherigen Begründungen veranlassen mich davon auszugehen, dass das Lehrer-Schüler-Verhältnis im Chan-Buddhismus mit dem christlichen LehrerSchüler-Verhältnis bei Kierkegaard in einem Vergleich zusammenzubringen ist: Wie kann Wahrheit gelehrt werden? Das Lehrer-Schüler-Verhältnis im Chan ist im Wesen das Mensch-MenschVerhältnis. Der Lehrer sowie Chan als die Methode sind wie der „Durchgang“, der vom Schüler ignoriert werden muss. Auf diese Weise ist das Lehrer-SchülerVerhältnis im Chan ähnlich dem Sokratischen. Der Lehrer und der Schüler können nach Kierkegaard in solchem Verhältnis wechseln.589 In einem bestimmten Lehr-Lern-Prozess leitet der Lehrer den Chan, der Lehrer und der Schüler wechseln ihre Positionen jedoch nicht. Der Schüler muss selber die Erleuchtung erlangen. Auf diese Weise ist das Lehrer-Schüler-Verhältnis ähnlich dem christlichen. Bei Kierkegaard wird im christlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis die Unverwechselbarkeit des Lehrers und Schülers von der absoluten Verschiedenheit zwischen Gott und Mensch bestimmt und garantiert.590 Aber nicht nur der Lehrer muss im Chan vom Schüler ignoriert werden, sondern der Schüler muss sich selbst bzw. sein Selbstbewusstsein auch überwinden, um die Erleuchtung zu erlangen. Mit dem Selbstbewusstsein in der Vorstellung unterscheidet sich der Schüler selbst von anderen in der Welt. Er leidet unter den Unterscheidungen, und sie hindern ihn zur Erleuchtung und zur Befreiung vom Leiden zu gelangen. Deswegen muss der Schüler, wie im letzten Beispiel gezeigt, sich selbst als leer erfahren. Bei Kierkegaard spielt das Bewusstsein eine ganz gegensätzliche Rolle. Nach Kierkegaard wird das Selbstwerden mit Selbstbewusstsein betont. Angst, Verzweiflung, Traurigkeit sind Leiden im Leben. Aber sie sind notwendig in der Zeit im Prozess des Menschwerdens und werden 589 Nach Kierkegaard kann im Mensch-Mensch-Verhältnis der Lehrer und Schüler wechseln und sich gegenseitig inspirieren. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis im ChanBuddhismus ist ebenfalls Mensch-Mensch-Verhältnis, aber Lehrer und Schüler können ihre Positionen nicht, wie Kierkegaard beschrieben hat, tauschen. Ein Grund dafür liegt im chinesischen Hierarchieverständnis zwischen Vater und Sohn. Das Lehrer-SchülerVerhältnis im Chan-Buddhismus ist strukturell ähnlich dem Vater-Sohn-Verhältnis, indem die Positionen von Vater und von Sohn nicht wechseln können. Trotz dieses Unterschieds gibt es mehrere Ähnlichkeiten, die noch weiter ausgeführt werden. Die Widersprüchlichkeiten blockieren nicht den generellen hier vollzogenen Vergleich. 590 Siehe: Kapitel 5.5.
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mit Menschwerden und der ewigen Seligkeit belohnt.591 Die Erlösung von der Sünde beginnt nach Kierkegaard mit dem Sündenbewusstsein des Menschen. Die Sünde und das Sündenbewusstsein haben nach Kierkegaard den positiven Sinn für die subjektive Wahrheit.592 Im Lehrer-Schüler-Verhältnis im Chan werden Sprache und Verstand verwendet. Allerdings muss der Schüler Sprache und Verstand im Chan weglassen, um die Leerheit in einem Augenblick zu erfahren. Leerheit als etwas Nichtverstehbares kann der Schüler nur durch die Erleuchtung erreichen. Auf diese Weise gilt Chan auch als die Grenzmarkierung zwischen Verstand und Nichtverstehbarem, weil Chan den Verstand aussetzen lässt. Das Paradox im christlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis hat auf diese Weise genau die gleiche Grenzmarkierungsfunktion. Chan und Paradox zeigen dem Schüler, dass es im Leben zahlreiche Wiedersprüche gibt, die der Verstand nicht erfassen kann. Aber es gibt kein absolutes Paradox im Chan wie die Inkarnation im Christentum. Im ChanBuddhismus Erleuchtung zu erlangen sowie im Christentum die Inkarnation wahrzunehmen, bedarf keines Verstandes. Diese Einstellung zum Verstand ist im Chan-Buddhismus gleich der Glaubensauffassung Kierkegaards. Aber beide sind nicht rein irrational. In der Entwicklung des Chan-Buddhismus (zeitlich nach Hui Neng) werden das Lernen der klassischen Schriften als die Vorbereitung zum Chan und zur Erleuchtung festgelegt: Mönche besonderes Meister müssen gelehrt sein. Kierkegaard steht ebenso wenig konträr zum Denken. Mit dem subjektiven Denken betont er, dass einerseits der Mensch sich selbst und seine Existenz in der Existenz verstehen soll,593 und dass sich andererseits der Mensch der Grenze des Verstandes bewusst sein muss.594 Das Selbstbewusstsein gehört zum Selbst-Verhältnis. Beide Lehrer-SchülerVerhältnisse unterscheiden sich voneinander auch im Hinblick auf die Einstellung zum Selbstbewusstsein. Im chan-buddhistischen Lehrer-Schüler-Verhältnis gibt es ebenfalls beim Schüler zwei Richtungen: Im Chan verhält sich der Schüler zum Lehrer und gleichzeitig zu sich selbst. Der Zweck des Chans liegt darin, dass der Schüler zunächst mit dem Chan und dem Lehrer gehen und dann diese verlassen muss. Gleichzeitig verhält sich der Schüler zu sich selbst: Er muss durch Chan und Lehrer im Augenblick der Erleuchtung das Selbstbewusstsein überwinden. Im christlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis verhält sich der Schüler zum Lehrer, der Gott ist, mit Glauben als den Sprung und gewinnt sein wirkliches und authentisches Selbst: das Selbst-Verhältnis aufgrund des Gott-MenschVerhältnisses. 591 592 593 594
Siehe: Die Negativität der Wahrheit in Kapitel 5.4. Siehe: Die Negativität der Wahrheit in Kapitel 5.4. Siehe: Das subjektive Denken in Kapitel 5.2. Siehe: Die Grenze zwischen Verstand und Glauben in Kapitel 5.2 und Kapitel 4.2.
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Es gibt einen entscheidenden Augenblick im christlichen Lehrer-SchülerVerhältnis. Der Augenblick des Selbstwerdens hat entscheidenden Sinn für den Menschen in seinem ganzen Leben. Dieser Augenblick ist der Augenblick der Bekehrung oder Wiedergeburt des Menschen.595 Im Chan-buddhistischen Lehrer-Schüler-Verhältnis ist im Augenblick der Erleuchtung das Selbstbewusstsein des Schülers gelöscht. Dennoch ist dieser Augenblick immer noch wichtig für ihn. Sein Selbst wird in einem Augenblick gelöscht und er erfährt in diesem Augenblick die Leerheit als Wirklichkeit der Welt. Dass das Selbst im Augenblick der Erleuchtung gelöscht wird, bedeutet nicht, dass der Schüler in seinem Leben in der Erscheinungswelt sich selbst aufgibt, sondern dass er danach ständig in dieser Erscheinungswelt lebt. Er ist tolerant und ruhig gegenüber dem Unglück, Scheitern, Leiden, der Verletzung sowie gegenüber Unruhe im Geist und im Leben. Er ist auch ruhig zum Glück, Erfolg, Genuss und Wohlstand. Nach der Erfahrung der Leerheit weiß der Schüler, ob etwas glücklich oder unglücklich macht, verletzend oder gewinnbringend ist, da es nur seine eigene Beurteilung ist und in seiner Vorstellung und seinem Geist existiert. Durch das Erfahren der Leerheit als die Wahrheit gewinnt er eine positive und tolerante Einstellung zu seinem Leben. Er verhält sich anders als vor der Erleuchtung zu sich selbst, zu anderen Menschen und zu dieser Welt. Die unterschiedliche Einstellung und das unterschiedliche Handeln zum Leben stellen die Veränderung des Menschen dar. Auf diese Weise ist der Augenblick der Erleuchtung der wichtigste Augenblick dieser Veränderung im menschlichen Leben. Im Hinblick auf die Geschichte und das Vergehen der Zeit, ist das chanbuddhistische Lehrer-Schüler-Verhältnis mit einem gleichen Problem wie beim christlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis konfrontiert: Ist die in der Erleuchtung erfahrene Wahrheit dieselbe wie die von Buddha gelehrte Wahrheit? Im Christlichen ist diese Frage umformuliert: Wie wird garantiert, dass die subjektive Wahrheit die Wahrheit Jesus Christi ist? Im christlichen Lehrer-SchülerVerhältnis wird die Identität durch die Inkarnation als Gott in der Zeit und durch die Unmittelbarkeit sowie Gleichzeitigkeit des Glaubens festgehalten.596 Nur der Mensch lebt in der Zeit. Aber bei Gott gibt es keine Zeit und die Wahrheit ist die absolute Wahrheit. Die Zeitlinie gilt als eine Methode des Menschen sein Leben zu messen und zu ordnen. Die Zeitlinie bedeutet das Kalkulieren des Verstandes.597 Der Mensch soll sich zu Gott nicht mit Verstand, sondern mit Glauben als Sprung und als Wahrnehmung bzw. in höchster Leidenschaft verhalten. Nur im Augenblick des Glaubens kann der Mensch das Vergehen der Zeit überwinden und mit Gott gleichzeitig sein sowie mit der Ewigkeit in der Zeit eine feste 595 Siehe: Bekehrung und Wiedergeburt in Kapitel 5.4. 596 Siehe: Die Unmittelbarkeit des Glaubens in Kapitel 4.3. 597 Siehe: B-Zeit in Kapitel 3.1.
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Verbindung eingehen. Damit empfängt der Mensch die absolute Wahrheit und verwirklicht sie in seiner Existenz als die subjektive Wahrheit. Kierkegaards Lösung für das Problem setzt die absolute Verschiedenheit zwischen Gott und Mensch, zwischen Ewigkeit und Zeit voraus. Beim chanbuddhistischen Lehrer-Schüler-Verhältnis gibt es weder einen persönlichen Gott noch die absolute Verschiedenheit. Alle Unterscheidungen sind im Buddhismus Unterscheidungen in der menschlichen Vorstellung nach menschlichen Beurteilungen. Die Zeit ist das Unterscheiden und Messen des Menschen, der sterblich ist und der mit dem Tod als das Ende seiner Lebenszeit das Vergehen der Zeit messen muss. Es gibt keine Zeit in der Leerheit. Es gibt entsprechend keine Veränderungen in der Leerheit. Die Leerheit als die Wahrheit bleibt dieselbe für ewig, für jede Generation des Erwachten. Nachdem der Schüler die Leerheit durch die Erleuchtung erfahren hat, wird das Unterscheiden zwischen Leben und Tod und damit die Zeit relativiert. Es gibt ein chinesisches Sprichwort: Zehntausend Jahre ist ein Augenblick. Im Augenblick der Erleuchtung erfährt der Schüler die Leerheit auch als die Ganzheit, in der das Unterscheiden und das Vergehen der Zeit nicht existieren. Auch wegen der Zeitauffassung kommt die Identität der Wahrheit im chan-buddhistischen Lehrer-Schüler-Verhältnis nicht in Frage. Die Zeit ist nach der elementaren Zeitbestimmung der Zyklus oder die Zyklen. Es gibt im alltäglichen Leben die gemessene Zeit. Aber generell ist die Zeit im Buddhismus keine Zeitlinie und es gibt keine Abstände zwischen dem Vergangen, dem Gegenwärtigen, dem Zukünftigen. Mit der Wahrnehmung der Leerheit kann der Schüler die Zeit überwinden. Die Zeit muss überwunden werden, damit die Schüler die Wahrheit empfangen können. Das Ziel im chanbuddhistischen und im christlichen Lehrer-Schüler-Verhältnis ist identisch. Obwohl Chan-Buddhismus und Kierkegaards Existenzauffassung in unterschiedlichen Traditionen stehen, besteht die wichtigste Ähnlichkeit im ständigen Interesse am menschlichen Leben oder an der Existenz. In diesem Sinn bin ich der Ansicht, dass Chan-Buddhismus einer der Schnittpunkte für Chinesen werden kann, Kierkegaard zu verstehen und Dialoge auf der Ebene der Kerngedanken zwischen Kierkegaard und chinesisch traditioneller Kultur zu führen. Darin liegt mein persönliches Anliegen.
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