Rock, Rap, Recht: Beiträge zu Musik, Recht und Geschichte 9783534403035, 9783534403059, 9783534403042

Nicht erst seit dem Skandal um die Verleihung des Musikpreises Echo an die Gangsta-Rapper Farid Bang und Kollegah polari

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German Pages 148 [149] Year 2019

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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
Wolfgang Schild – Einführung zum Symposium
Markus Hirte – Mordballaden: Vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave
A. Der Bänkelsang als Kunstform
B. Die Moritat
C. Die Transformation der Moritat bei Bertolt Brecht
D. Rammstein und das Album „Liebe ist für alle da“ (2009)
E. Nick Cave and the Bad Seeds und das Album „Murder Ballads” (1996)
F. Zusammenfassung
Florian Knauer – Völkerstrafrecht und Musik
A. Einführung
B. Bisheriger Forschungsstand
C. Eigene Erhebung
D. Zusammenfassung
Wolfgang Schild – Musikalischer Hexensabbat
A. „Uneigentliche“ musikalische Hexensabbate
B. „Wirkliche“ musikalische Hexensabbate
Die Autoren
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Rock, Rap, Recht: Beiträge zu Musik, Recht und Geschichte
 9783534403035, 9783534403059, 9783534403042

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Rock, Rap, Recht Beiträge zu Musik, Recht und Geschichte

Rock, Rap, Recht Beiträge zu Musik, Recht und Geschichte Herausgegeben von Markus Hirte

Schriftenreihe des Mittelalterlichen Kriminalmuseums Rothenburg ob der Tauber Band X

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über http://dnd.d-nb.de abrufbar

wbg Academic ist ein Imprint der wbg © 2019 by wbg (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der wbg ermöglicht. Umschlagsabbildung: © Sebastian Goeß Satz und eBook: Satzweiss.com Print, Web, Software GmbH Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internept: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-40303-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-40305-9 eBook (epub): 978-3-534-40304-2

Inhalt Vorwort ................................................................................................................7   Wolfgang Schild – Einführung zum Symposium .........................................10   Markus Hirte – Mordballaden: Vom Schinderhannes zu

Rammstein und Nick Cave........................................................................16   A.   Der Bänkelsang als Kunstform ...........................................................16   B.   Die Moritat ............................................................................................19   C.   Die Transformation der Moritat bei Bertolt Brecht........................32   D.   Rammstein und das Album „Liebe ist für alle da“ (2009)..............35   E.   Nick Cave and the Bad Seeds und das Album

„Murder Ballads” (1996) ......................................................................45   F.   Zusammenfassung ................................................................................55   Florian Knauer – Völkerstrafrecht und Musik .............................................57   A.   Einführung .............................................................................................57   B.   Bisheriger Forschungsstand ................................................................63   C.   Eigene Erhebung ...................................................................................75   D.   Zusammenfassung ................................................................................84   Wolfgang Schild – Musikalischer Hexensabbat............................................85   A.   „Uneigentliche“ musikalische Hexensabbate ...................................86   B.   „Wirkliche“ musikalische Hexensabbate...........................................95

Die Autoren......................................................................................................147

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Vorwort

„Die Musik leidet […] unter konsequenter Nichtbeachtung bei Juristen. […] Warum sollte sich der Jurist im Geringsten um die Zustände der Neuen Musik scheren? […] Recht und Musik nutzen ja nicht einmal dasselbe Medium der Sprache, wie immerhin Recht und Literatur.“ 1 Dieses eher düstere Verdikt von Ulrich R. Haltern dürfte dergestalt heute nicht mehr haltbar sein. Eher schon Michael Ronellenfitschs Einschätzung: „Das seit jeher kontroverse Verhältnis von Kunst und Recht ist Gegenstand zahlloser Vorträge und Publikationen, bei denen Kunst nie künstlich, das heißt elitär genug sein kann. Dadurch gerät die Trivial­ kunst ins Abseits und wird in ihrer Bedeutung verkannt.“2 Zwischenzeitlich polarisieren jedoch auch einzelne Sparten der Trivialkunst im gesellschaftlichen Diskurs derart, dass sich das Recht dieser verstärkt annimmt. Hier sind aus dem Bereich der Populärmusik etwa die Genres des Gangsta-Rap, Punk und Heavy-Metal anzuführen. Die Popularität polarisierender Künstler ist an den Musikcharts und in den sozialen Medien abzulesen, wo Millionen von Followern, Fans, Likes und Shares eine eigene Sprache sprechen. Besonders die Jugend ist als Zielgruppe betroffen und ältere Generationen sind besorgt. Fast schon reflexartig folgen deshalb auf polarisierende Lieder oder Clips Forderungen nach Verbot, Zensur, nicht selten auch Strafanzeigen. Vorläufiger Höhepunkt war die Abschaffung des Musikpreises Echo im Nachgang der Preisverleihung an die Gangsta-Rapper Farid Bang und Kollegah im April 2018. Diesem Spannungsverhältnis von Musik und Recht möchte sich das Mittelal­ terliche Kriminalmuseum in Rothenburg ob der Tauber mit regelmäßigen Sym­ posien widmen. Als Europas bedeutendstes Rechtskundemuseum erweitert es

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Haltern, Ulrich R.: Musik (und Recht) heute, in: Epping, Volker/Fischer, Horst u.a. (Hrsg.): Brücken bauen und begehen. Festschrift für Knut Ipsen zum 65. Geburtstag. München 2000, S. 651 (652 f.). Ronellenfitsch, Michael: Rock & Roll und Recht. Stuttgart 1998, S. 1.

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den Fokus überdies um historische Aspekte. Frucht des ersten – in Kooperation mit dem Taubertal-Festival durchgeführten – Symposiums „Rock, Rap, Recht – Musik, Recht und Geschichte“ am 11. August 2018 ist vorliegender Sammelband mit aus­ gewählten Vorträgen der Veranstaltung.3

Referenten des Symposiums (v.l.n.r.): Oğlakcioğlu, Schild, Hirte, Rückert,

Knauer © Sensation Red

Dank gilt an dieser Stelle allen Referenten und insbesondere Prof. Dr. Wolfgang Schild für die Moderation der Veranstaltung. Weiterhin danken wir dem TaubertalFestival, namentlich Volker Hirsch und Florian Zoll für die Kooperation beider Veranstaltungen. PR Goldmann, namentlich Daniela Goldmann und Jakob Meinert sei gedankt für die großartige Unterstützung bei der Pressearbeit. Schließlich danke ich allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Kriminalmuseums, ohne die 3

Vgl. den Tagungsbericht Hirte, Markus: „Rock, Rap, Recht“ – Erstes Symposium zu Musik, Recht und Geschichte am Mittelalterlichen Kriminalmuseum, in: Monats­ schrift für Kriminologie und Strafrechtsreform. Köln 2018, S. 478 ff.

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diese Veranstaltung und vorliegende Publikation nicht möglich gewesen wäre, namentlich Hansi Meißner, Sandra Sauter, Charlotte Kätzel, Anja Bergermann sowie Valentine Franck und Maximilian Wilfling. Für die finanzielle Unterstützung danken wir herzlichst unseren Sponsoren, dem Rotary Club Rothenburg o.d.T. sowie der Kanzlei Meyerhuber Rechtsanwälte, Ansbach. Rothenburg, Christi Himmelfahrt 2019 Markus Hirte

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Einführung zum Symposium

Prof. Dr. Wolfgang Schild Das Thema „Rock, Rap, Recht“ ist für die heutige Zeit wahrscheinlich nicht leicht verständlich.1 Offensichtlich geht es um das Verhältnis von rechtlichen Problemen und Musik! Dies ist deshalb schwer verständlich, weil das Recht heute als Text auftritt, der hermeneutisch ausgelegt wird, also Sprache ist, zudem eine theoretische Sprache ist, die daher auch junge Menschen auf der Universität lernen können, ohne selbst irgendwelche Lebenserfahrungen mit dem Recht zu haben. Historisch war dies freilich völlig anders: Recht war damals primär gelebte menschliche Praxis, also öffentliches, sichtbares, sinnlich wahrnehmbares Rechts­ handeln. Deshalb war es auch bildlich darstellbar. Vielleicht haben Sie von den Bilderhandschriften des Sachsenspiegels aus dem 13. Jahrhundert gehört; oder Sie waren hier im Kriminalmuseum, das ja von dieser vergangenen bildlichen Existenz früheren Rechts lebt und von daher seine Spannung erhält? Es gibt im Kanon der Wissenschaften vom Recht also eine rechtliche Archäologie, eine rechtliche Volks­ kunde, eine Rechtsikonographie: alles Disziplinen, die sich mit dem Verhältnis Recht und Bild beschäftigen. Lässt man sich auf dieses Verhältnis ein, dann wird plötzlich erkennbar, dass es auch heute durchaus Beziehungen zwischen Recht und bildlicher Darstellung (Fotographien von Rechts- und/oder Staatsakten) gibt, wie manche Beispiele im Kriminalmuseum – das daher nicht nur mittelalterliche Objekte, sondern auch moderne Gegenstände ausstellt – zeigen. Man denke an Uniformen, Ausstattungen von Gerichtssälen und vieles mehr. Es gab historisch auch tönendes Recht, also eine Beziehung von Rechtshandeln und Musik. Wichtige Rechtsakte wurden durch Musikinstrumente (Trompete, Posaune, Trommeln) begleitet; es ist anzunehmen, dass selbst die mündlich über1

Die Vortragsform mit Hinweisen zum Ablauf wurde beibehalten und auf Referenzen verzichtet.

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lieferten Rechtsgewohnheiten in erhabener und feierlicher Weise „vorgesungen“ wurden. Und auch hier führt der historische Blick in die Gegenwart. Rechtliche Fragen wie Gerichtsverhandlungen, Folterungen, Hinrichtungen, aber auch Ehe­ schließungen werden in Opern, Operetten, Popsongs oder auch sinfonisch dar­ gestellt und damit musikalisch erfasst. Denken Sie zum Beispiel nur an das rechtliche Verfahren gegen Tyl Eulenspiegel in der gleichnamigen sinfonischen Dichtung von Richard Strauss; oder an das Speermotiv als Zeichen der staatlichen Rechtsherrschaft in Wagners „Ring des Nibelungen“. Oder an manche Lieder von Bob Dylan oder Johnny Cash.

Symposium Rock, Rap, Recht, August 2018 © Sensation Red Dieses Verhältnis von Recht zur Musik ist der eine Bereich, der zum Thema dieses Symposiums gehört. Der andere Bereich betrifft ebenfalls dieses Verhältnis, aber im Sinne des rechtlichen Eingreifens, der rechtlichen Kontrolle von Musikauffüh­ rungen, des rechtlichen Verbotes im Sinne einer Zensur. Man denke nur an das Verbot der Aufführung des Balletts „Abraxas“ 1948 in München, das einen mu­ sikalischen Hexensabbat als Zerrbild einer schwarzen Messe auf die Bühne 11

brachte und so als Beleidigung der christlichen Messe verstanden wurde. Das Problem verschärft sich, wenn Musik provokative Texte begleitet, dadurch be­ stimmte Zustände kritisiert, politisch wird; oder als Schmählieder die Grenze zur Beleidigung berührt. Aber das Recht kontrolliert, begrenzt, verbietet nicht nur; denn auf der einen Seite gewährt unsere rechtliche Verfassung des Grundgesetzes eine Freiheitssphäre für künstlerische Betätigung. Diese Befreiung der Kunst vom Recht kann aber nicht grenzenlos sein: Denn auf der anderen Seite schützt das Recht die Persönlichkeitsrechte der Einzelnen. Hier erweist sich „Rock, Rap, Recht“ als aktuelles Problemverhältnis, als juristische Bewertung von musikali­ schen Werken. Hier werden wir alle angesprochen, da es sich um die Frage der Organisation gesellschaftlichen Lebens handelt. In zwei Vorträgen („Gangsta-Rap – Strafbare Kunst?“ von Christian Rückert gemeinsam mit Mustafa Oğlakcioğlu so­ wie „Völkerstrafrecht und Musik – vertieft am Beispiel von Simon Bikindi und Serj Tankian [System of a Down]“ von Florian Knauer) wird darauf eingegangen werden. In den zwei anderen Vorträgen wird der weite Bogen von historischen zu gegen­ wärtigen musikalischen Darstellungen von Rechtsproblemen gezogen, also der erste Bereich angesprochen: zum Abschluss das Thema „musikalischer Hexensab­ bat“ (von Wolfgang Schild); und zu Beginn der Vortrag „Mordballaden – Vom Schinderhannes zu Rammstein und Nick Cave (Markus Hirte). Zu den Referenten: Markus Hirte Geboren in Weimar; Jura-Studium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Erste juristische Staatsprüfung 2001, Zweite juristische Staatsprüfung 2006; da­ zwischen Mitarbeiter bei Prof. Dr. Dr. Dr. Günter Jerouschek, M.A. in Jena, Promotion 2004 mit einer rechtsgeschichtlichen Arbeit („Papst Innozenz III., das IV. Lateranum und die Strafverfahren gegen Kleriker“, preisgekrönt). Dann Masterstudiengang in Hagen (LL.M.), 2012 Studienaufenthalt an der University of Cambridge. Ab 2007 Einstieg in große Anwaltskarriere im Bereich Aktien­ und Kapitalmarktrecht bei CMS Hasche Sigle (Stuttgart) und CMS Cameron McKenna (London). Seit 2013 Geschäftsführender Direktor des Mittelalterlichen Kriminalmuseums in Rothenburg ob der Tauber.

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Christian Rückert2 Jura-Studium an der Universität Erlangen-Nürnberg, Erste juristische Staatsprü­ fung 2011, Zweite juristische Staatsprüfung 2013; wissenschaftlicher Mitarbeiter in Erlangen-Nürnberg (Matthias Jahn, Hans Kudlich [Strafrecht], Georg Caspers [Bürgerliches Recht, Arbeitsrecht]), Promotion 2017 („Effektive Selbstverteidi­ gung und Notwehrrecht“); Mitarbeiter in Marburg (Christoph Safferling), seit 2017 Akademischer Rat am Lehrstuhl Strafrecht, Strafprozessrecht, Internationales Strafrecht und Völkerrecht (Christoph Safferling), daneben auch Mitarbeiter am Institut für Informations- und Wirtschaftsrecht des Karlsruher Instituts für Tech­ nologie; Forschungsschwerpunkt unter anderem Kriminalität mit virtuellen Kryp­ towährungen und deren Bekämpfung, Darknet, Fake News. Mustafa Oğlakcioğlu Geboren in Nürnberg; Jura-Studium Universität Erlangen-Nürnberg, Erste juristi­ sche Staatsprüfung 2009, Zweite juristische Staatsprüfung 2014; Promotion 2013 („Der allgemeine Teil des Betäubungsmittelstrafrechts“; mehrfach ausgezeichnet); seit 2015 Akademischer Rat am Lehrstuhl Strafrecht, Strafprozessrecht, Rechts­ philosophie (Hans Kudlich); Forschungsschwerpunkte unter anderem Vermö­ gens-, Wirtschaftsstrafrecht, Betäubungsmittelrecht. Florian Knauer Geboren in Berlin; Jura-Studium an der Humboldt-Universität, Erste juristi­ sche Staatsprüfung 1999, Zweite juristische Staatsprüfung 2001; Mitarbeiter an der Humboldt-Universität (Klaus Marxen, dann Tatjana Hörnle); Promotion 2005 („Strafvollzug und Internet. Rechtsprobleme der Nutzung elektronischer Kommunikationsmedien durch Strafgefangene“); Habilitation 2012 („Der 2

Der Vortrag von Christian Rückert und Mustafa Temmuz Oğlakcioğlu „Gangsta-Rap – Strafbare Kunst?“ ist in ähnlicher Form bereits veröffentlicht in: Oğlakcioğlu, Mustafa Temmuz/Rückert, Christian: Anklage ohne Grund. Ehrschutz contra Kunstfreiheit am Beispiel des sogenannten Gangsta-Rap, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM). München 2015, S. 876 ff.

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chutz der Psyche im Strafrecht. Eine strafrechtswissenschaftliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung von Stalking, Mobbing, psychischer Folter und Zersetzung“), Lehrbefähigung für Strafrecht, Strafprozessrecht, Krimino­ logie, Jugendstrafrecht, Strafvollzug; Aufenthalt an der Berkeley University of California 2009; mehrere Lehrstuhlvertretungen ab 2012, Rufe an die Universi­ tät Mainz und an die Universität Jena; in Jena Professor seit 2016.

Symposium Rock, Rap, Recht © Sensation Red Wolfgang Schild Geboren 1946 in Wien, Promotion 1968, Habilitation in München 1977, von 1977 bis 2018 Professor an der Universität Bielefeld – Lehrstuhl für Strafrecht, Straf­ prozessrecht, Strafrechtsgeschichte und Rechtsphilosophie. Neben fachjuristi­ schen Publikationen ist Prof. Dr. Schild mit einer Reihe von rechtshistorischen Publikationen hervorgetreten (darunter zahlreiche Beiträge im Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte), die oft Themen der Hexenforschung behandel­ ten. Er ist einer der führenden Spezialisten der Hexen-Ikonographie und Mitglied 14

des „Arbeitskreises für Interdisziplinäre Hexenforschung“ sowie Mitherausgeber der seit 1995 erscheinenden Buchreihe „Hexenforschung“. Als wissenschaftlicher Berater unterstützt er das Mittelalterliche Kriminalmuseum seit vielen Jahrzehn­ ten.

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Mordballaden:

Vom Schinderhannes zu

Rammstein und Nick Cave

Dr. Markus Hirte, LL.M.

A. Der Bänkelsang als Kunstform Wenig reizt den Menschen mehr als das Verbrechen.1 Mit Interesse betrachtet er das Geschehen. Die dahinterstehenden Triebe und Motive sind – abstrakt be­ trachtet – wohl niemandem fern. Aber auch die im Geschehen wurzelnde Span­ nung, der Ruch des Verbotenen, vermittelt einen fast magischen Reiz. Es verwundert daher wenig, dass sich auch die Kunst, die Musik, bereits früh beson­ ders spektakulärer Verbrechen annahm. Ortsansässige Liedersänger oder fah­ rende Dichter dürften das ganze Mittelalter hindurch die Bevölkerung mit Liedern unterhalten haben, die auch Gewalttaten zum Gegenstand hatten. Die Reichweite dieser Lieder war indes – bis auf wenige Ausnahmen – recht begrenzt.

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Die Vortagsform wurde an vielen Stellen beibehalten und ältere Literatur aus stilisti­ schen Gründen großzügiger wörtlich zitiert. Für die Unterstützung bei den Recher­ chen zu diesem Beitrag bedanke ich mich bei Frau Charlotte Kätzel, M.A. sowie Herrn stud. iur. Tristan Wißgott. Vgl. zum ersten Absatz Jacobs, Rainer: Das Verbrechen im Film, in: Becker, Jürgen/Lerche, Peter/Mestmäcker, Ernst-Joachim (Hrsg.): Wanderer zwischen Musik, Politik und Recht. Festschrift für Reinhold Kreile zu seinem 65. Ge­ burtstag. Baden-Baden 1994, S. 307.

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Dies sollte sich mit dem 15. Jahrhundert ändern im Kontext einer Medienrevolu­ tion.2

Anonym, Volksfest bei Cannstatt, Federlithographie, um 1845 © Mittelalterliches Kriminalmuseum Im Zuge der Medienrevolution des Buchdrucks etablierte sich ein regelrechter Buchmarkt. Die neuen Vervielfältigungstechniken beschränkten sich nicht nur auf das geschriebene Wort. Auch Bilder ließen sich mit Druckmaschinen verviel­ fältigen, etwa in Form von Holzschnitten oder Kupferstichen. Musste das Mittel­ alter noch mit verhältnismäßig wenig Büchern und Bildern auskommen, bricht sich mit dem 16. Jahrhundert eine wahre Buch- und Bilderflut Bahn. Zehntau­ sende Werke entstanden. Diese wurden begierig erworben und waren ein lukra­ tives Geschäft. Gleichwohl konnten bis zum Jahr 1600 nicht einmal drei Prozent

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Vgl. Müller-Waldeck, Gunnar: Unter Reu’ und bitterm Schmerz. Bänkelsang aus vier Jahrhunderten. Rostock 1977, S. 265; Riedel, Karl Veit: Der Bänkelsang. Wesen und Funktion einer volkstümlichen Kunst. Hamburg 1963, S. 18.

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der Bevölkerung lesen. 3 Was die drei Prozent der Alphabeten jedoch mit den 97 Prozent der Analphabeten teilten, war ein evolutionärer Urtrieb, der allen ein­ geprägt ist – die Neugier.4 Die Gier nach Neuem, oder wissenschaftlich ausge­ drückt: „Das als ein Reiz auftretende Verlangen, Neues zu erfahren und insbesondere Verborgenes kennenzulernen.“5 Des Lesens nicht Mächtige waren zum Stillen der Neugier auf Kommunikation angewiesen. Kommunikationszentren waren seit jeher Wirtshäuser und Märkte. Hier unterhielten (fahrende) Sänger die Besucher. Als Bühne dienten häufig Tische oder Bänke, Bänkel; weshalb sich die Bezeichnung Bänkelsänger lexikalisierte. 6 Die Bänkelsänger machten sich die neuen Massenmedien des 16. Jahrhunderts zu Nutze, die Flugblätter. Zunehmend besangen sie Geschichten, die bereits auf Flugblättern gedruckt waren. Durch den Verkauf dieser Blätter erschlossen sie sich eine zweite Einnahmequelle. Häufig führten sie bebilderte Tafeln mit sich. Während des Vortrags wiesen sie mit einem Stab kommentierend auf das jeweilige Bild und zeichneten so den Verlauf des Ge­ schehens nach. Der Bänkelsänger bot also public viewing in Reinform – ein kol­ lektives (Fern-)Seherlebnis. Leseunkundigen dienten die während des Vortrags feilgebotenen bebilderten Flugblätter überdies als Gedächtnisstütze. So machte die leseunkundige – oft weibliche – Bevölkerung einen großen Teil der Zuschauer und Käufer aus.7 Der Bänkelsang lässt sich als eine populäre Kunstform des Jahrmarkts einord­ nen.8 Als audiovisuelles Medium vereinte er die Kunstgattungen Literatur, Musik

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Vgl. Mortzfeld, Benjamin: Der unstillbare Hunger nach Bildnachrichten, in: Koschnick, Leonore/Mortzfeld, Benjamin (Hrsg.): Gier nach neuen Bildern. Flugblatt, Bilderbogen, Comicstrip. Darmstadt 2017, S. 12 (14). Ebd., S. 12 (12). Hoffmeister, Johannes: Wörterbuch der philosophischen Begriffe. Hamburg 1955, Lemma Neugier. Mit Hinweis auf die religiösen Wurzeln des Bänkelsangs vgl. Brednich, Rolf Wilhelm: Liedkolportage und geistlicher Bänkelsang. Neue Funde zur Ikonographie der Liedpubli­ zistik, in: Jahrbuch für Volksliedforschung. 22. Jahrgang Berlin 1977, S. 71 (76 f.) m.w.N. Vgl. Cheesman, Tom: The Shocking Ballad Picture Show. German Popular Literature and Cultural History. Oxford/Providence USA 1994, S. 18. Vgl. Weimar, Klaus (Hrsg.): Reallexikon der Deutschen Literaturwissenschaft. Band 1. Berlin 3. Auflage 1997, Lemma Bänkelsang.

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und bildende Kunst in sich9 – ein volksnahes Gesamtkunstwerk in Form der Re­ portage. Bänkelsänger waren bedeutende Nachrichtenüberbringer der prätelegra­ phischen Epoche und damit wichtig für die öffentliche Meinungsbildung. Sie operierten in einem Grenzbereich zwischen mündlicher und schriftlicher Tradi­ tion. Die Stücke, Blätter und Lieder der Bänkelsänger entsprangen jedoch keinem Furor poeticus und keinem künstlerischen Plan – es ging den Bänkelsängern aus­ schließlich um den Gelderwerb.10

B. Die Moritat Mit dem Durchbruch der Zeitungen im 17. Jahrhundert änderte sich die Situation des Bänkelsangs.11 Die Printmedien informierten umfassender und schneller über aktuelle Ereignisse. Mit dieser Geschwindigkeit konnten fahrende Sänger nicht mithalten. Sie mussten auf echte Aktualität verzichten, womit sich ihr Nachrich­ tenstoff verengte.12 In den Mittelpunkt rückten nun Skandale und Verbrechen, das Grauenerregende und Rührselige.13 Nur die geschäftstüchtigsten Bänkelsänger überlebten. Die Schilder wurden greller und bunter; die Gesänge lauter und die Geschichten spektakulärer: schreckliche Gewalttaten, garstige Räuberstücke, blutige Hinrichtungen, tragische Liebesgeschichten, entfesselte Naturgewalten. Der Ab­ stieg des Sängers vom wichtigen Nachrichtenübermittler zum Schausteller be­ gann. Mord und Totschlag bestimmten immer stärker den Bänkelsang. Der

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Vgl. Eichler, Ulrike: Einführung. Bänkelsang und Moritat, in: Staatsgalerie Stuttgart (Hrsg.): Bänkelsang und Moritat. Stuttgart 1975, S. 11 (11). Vgl. Schenda, Rudolf: Volk ohne Buch. Studien zur Sozialgeschichte der populären Le­ sestoffe 1770–1910. Frankfurt/M. 3. Auflage 1988, S. 155 f. Vgl. Müller-Waldeck: Unter Reu’ (wie Anm. 2), S. 274. Vgl. Petzoldt, Leander: Bänkelsang. Vom historischen Bänkelsang zum literarischen Chanson. Stuttgart 1974, S. 11. Vgl. Bänsch, Gabriele: Bänkelsang. Kulturanthropologische Aspekte. Norderstedt 2013, S. 6.

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Siegeszug der Moritat nahm seinen Lauf.14 Die sprachwissenschaftliche Herleitung (Etymologie) des Begriffs Moritat ist umstritten.15 Einige leiten ihn von Mordtat ab; andere vom lateinischen mors/mori (Tod/sterben), vom französischen la moralité (Moral/Sittlichkeit) oder gar aus einer geheimen Gaunersprache, dem Rotwelsch. Dort stand more für Händel oder Lärm.

W. Gail, Piazza Publica in Tivoli, um 1845 © Mittelalterliches Kriminalmuseum Neben der Verknappung des Informationsmarktes machte den Bänkelsängern die große Konkurrenz von Händlern, Bettlern und Jahrmarktartisten das Leben 14

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Dem Bänkelsang wird auch die Moritat zugerechnet, vgl. Riedel: Bänkelsang (wie Anm. 2), S. 7. Vgl. dazu und folgend: Lemma Moritat in: Burdorf, Dieter/Fasbender, Christoph/Moen­ ninghoff, Burkhard (Hrsg.): Metzler Literatur Lexikon. Stuttgart 3. Auflage 2007, S. 513.

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schwer. Haupterwerbsquelle wurden zunehmend die das Lied bebildernden Flug­ blätter,16 weshalb es die Zurschaustellung der Ware zu attraktivieren galt. Es sind mehrere bildliche Darstellungen überliefert, auf denen die Kolporteure zum Teil über und über mit Druckerzeugnissen behängt sind, sich diese gar an den Hut stecken.17 Das Sprichwort, „sich etwas an den Hut stecken können“, rührt daher. In anderen Fällen ließen die Bänkelsänger ihre Kinder oder Frauen während des Vortrags die Flugblätter verkaufen.

I.

Zensur im Bänkelsang

Die Obrigkeit beargwöhnte die Rolle der Bänkelsänger als Nachrichtenvermittler und ungebetene Berichterstatter. 18 Zensur, Überwachung und Verbote waren deshalb – vor allem im 18./19. Jahrhundert – allgegenwärtig; teilweise herrschte gar Konzessionspflicht.19 So wundert es nicht, dass die Moritaten der jeweiligen Ideologie genügen wollten und die Gerichte priesen.20 Viele Moritate zeichnen sich durch einen moralischen Rigorismus aus, ein unreflektiertes Gerechtigkeits­ gefühl, das der volkstümlichen Rechtsauffassung recht nah kam.21 Man zielte sie auf bestimmte moralische Lehren, ermahnte und belehrte. Dies trug dem Bänkel­ sänger rasch das Verdikt eines Sittenrichters ein. Die Moral ermöglichte zwar das

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Riha, Karl: Moritat, Bänkelsong, Protestballade. Zur Geschichte des engagierten Liedes in Deutschland. Frankfurt/M. 1975, S. 19 ff. Vgl. dazu und zum ganzen Absatz Brednich: Liedkolportage (wie Anm. 6), S. 71 (75 m.w.N.). Vgl. Hirschberg, Ludwig: Moritat und Justiz, in: Staatsgalerie: Bänkelsang (wie Anm. 9), S. 28 (28). Vgl. Riedel: Bänkelsang (wie Anm. 2), S. 19 ff. m.w.N; Petzoldt: Bänkelsang (wie Anm. 12), S. 21 f. m.w.N. sowie Thiel, Paul: „Dies Gewerbe ist aber eigentlich nichts anders, als eine Bettelei …“, in: Staatliche Museen zu Berlin (Hrsg.): Schilder, Bilder, Moritaten. Sonderschau des Museums für Volkskunde im Pergamonmuseum 25.9.1987–3.1.1988. Rostock 1987, S. 5 (8 f. m.w.N.). Vgl. Hirschberg: Moritat (wie Anm. 18), S. 28 (30). Vgl. Petzoldt: Bänkelsang (wie Anm. 12), S. 68.

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öffentliche Auftreten. Aber nur ein besonderes Spektakel versprach einen mer­ kantilen Mehrwert. Dies zeigt sich neben der Themenwahl auch in der Sprach­ verwendung. So zeichnen sich Bänkellieder durch einen signifikant hohen Anteil an Eigenschaftswörtern und drastische Übertreibungen aus.22 Eine Kindsmörde­ rin wird als liederlich, unnatürlich, gefühllos und töricht apostrophiert; ein Haus­ einsturz hinterlässt „über 40 Leichen […], zum Theil jämmerlich gequetscht und verstümmelt, mit zermalmten Schädeln und blutig zerfetzten Leibern“. Die An­ häufung drastischer Epitheta und Hypertrophierung weiterer sprachlicher Ele­ mente erhöhte jedoch weniger die Anschaulichkeit, als dass es die Aussagen standardisierte und damit trivialisierte. Oft überzeichneten die Vortragenden derart, dass die Moritat zur Parodie avancierte. Dass sich die Bänkelsänger um hochgestochene Reflexionen und eine gewählte Sprache bemühten, mit pseudo­ poetischen Bildern um sich warfen, machte es nicht besser.23

II.

Kunstgehalt der Moritat

Um die Mitte des 18. Jahrhunderts kam es zu einer folgenreichen Verbindung des Bänkelsangs mit der Literatur.24 Der Bänkelsang übernahm zeittypische literarische Motive (die hartherzigen Eltern, die Kindsmörderin, der kühne Räuber), nachdem er selbst beträchtlichen Einfluss auf die Romanzen- und Balladendichtung der Vor­ klassik genommen hatte. Gleichwohl galten Moritaten als etwas anrüchiges, unse­ riöses.25 Der Bänkelsänger als schlechter Dichter, der ein Geschäft daraus macht, gemeine Gegenstände auf gemeine Art zu besingen. 26 Auch dem Dichterfürsten Goethe galt Moritatenhaftes als Synonym für heuchlerisch und niedrig.27 Vor allem die Attitüde des Sittenrichters entlarvte den Bänkelsang als verlogen.

22 23 24 25 26 27

Vgl. dazu und folgend: ebd., S. 89 f.

Vgl. Müller-Waldeck: Unter Reu’ (wie Anm. 2), S. 277.

Vgl. dazu und zum ganzen Absatz: Riedel: Bänkelsang (wie Anm. 2), S. 20.

Vgl. Petzoldt: Bänkelsang (wie Anm. 12), S. 4 ff.

Vgl. Müller-Waldeck: Unter Reu’ (wie Anm. 2), S. 264 m.w.N.

Vgl. Braungart, Wolfgang (Hrsg.): Bänkelsang. Texte – Bilder – Kommentare. Stuttgart

1985, S. 389.

22

D. Chodowiecki, Verbesserung der Sitten, Kupferstich, 1787 © Mittelalterliches Kriminalmuseum Moritaten lassen sich als einfache Jahrmarkt-Bänkellieder über Tragisches und Mordtaten resümieren. Hinzu kamen Moralisierungen und das Bemühen um hochgestochene Reflexionen. Damit rückten die Moritaten unfreiwillig ein Stück weit ins Parodistische und Sarkastische. Hintergrund von Zensur und Verbot war ein befürchteter schädlicher Einfluss dieser volkstümlichen Kunst. Volkskundli­ che Untersuchungen ergaben jedoch, dass diese Befürchtungen bereits seinerzeit nicht gerechtfertigt waren und die allgemeine Meinung in dieser Hinsicht sehr übertrieb.28

28

Vgl. dazu und folgend Riedel: Bänkelsang (wie Anm. 2), S. 67 ff. m.w.N.

23

III. Räuber im Bänkelsang – Der Schinderhannes Das 19. Jahrhundert gilt als Blütezeit des Bänkelsangs und der Moritaten. Die Lie­ der wurden begeistert aufgenommen und gesungen, die Drucke vielfach verkauft. Die mit der französischen Revolution einsetzenden gesellschaftlichen Umwälzun­ gen spiegelten sich auch in dieser Kunstform wider. Vermehrt erschienen nun auch politische Motive. Sie verbanden sich rasch mit literarischen Motiven und kristallisierten besonders in den Räubergeschichten.29 Räuber beherrschten lange Zeit die Straße, die Lieder über sie nicht weniger.30 Die Sympathie, die feigen Mördern versagt war, genossen die Räuber und Wild­ schützen. Sie waren die Helden ihrer Zeit – wurden heroisiert und romantisiert. Johannes Bückler – der Schinderhannes – galt in des Volkes Augen als Rebell ge­ gen Fremdherrschaft und Fürstenwillkür. Diesen Ruhm konnte selbst der Mainzer Prozess gegen ihn nicht zerstören.31 Hier hielten es die Bänkelsänger wie Friedrich Schiller in „Die Räuber“. Schinderhannes war bei den Bänkelsängern so beliebt, weil seine Herzenskönigin ihren Kreisen entstammte. Julchen Bläsius hatte, als sie 17-jährig ihm in die Welt folgte, schon eine Karriere als Geigerin und Kassiererin bei einem Jahrmarktsänger hinter sich. Nach der Hinrichtung des Schinderhannes ehelichte sie allerdings einen hessischen Gendarmen mit Pensionsberechtigung. Von der Geliebten des Räuberhauptmanns zur Ehefrau eines Polizisten – ein Ab­ stieg, den ihr die Welt und vor allem die Unterwelt nie verzieh. Dem Renommee des Schinderhannes tat dieser Skandal jedoch keinen Abbruch. Bereits 1802 – noch zu seinen Lebzeiten – erschien das erste Bänkellied unter dem Titel „Ächte und wahrhafte Beschreibung von der Verhaftung des längst berüchtigten Anführers einer großen Räuberbande, genannt Schinderhannes, nebst einem Anhang von seinem Leben und Thaten.“ Folgend ein Auszug: 29 30

31

Vgl. ebd., S. 21, 48.

Vgl. dazu und zum ganzen Absatz Janda, Elsbeth/Nötzoldt, Fritz: Die Moritat vom

Bänkelsang. Oder das Lied der Straße. München 1959, S. 27 ff. Vgl. zum Strafverfahren auch Scheibe, Mark: Die Strafjustiz in Mainz und Frankfurt/M. 1796–1803. Unter besonderer Berücksichtigung des Verfahrens gegen den Serienstraf­ täter Johannes Bückler, genannt Schinderhannes, 1802/03. Kelkheim 2009.

24

Hier kann man von dem Schinderhanns

Und seinen Thaten lesen,

Der ein verruchter Teufelspflanz

Von Jugend auf gewesen.

Ein Spitzbub war er frühe schon

Und eines reichen Bauern Sohn,

Am Niederrhein gebürtig.

[…] Groß sind die Schrecken auf dem Land,

Erschrecklich die Geschichten,

Wovon die Bauern allerhand

Mit Angst und Furcht berichten;

Denn es behauptet jedermann:

Der dicke Schinderhannes kann

Noch hexen gar und zaubern.

[…] Nachdem ihm seine Streiche noch

Sind lange angegangen,

So wurde er am Ende doch

Ganz unverhofft gefangen.

Jetzt ist er in dem Diebsarrest,

Man kann ihn auf der Hauptwach vest

In Frankfurt sitzen sehen.32

Themenwahl, Sprachverwendung und moralisierende Aussagen kennzeichnen die­ ses Werk unzweifelhaft als Moritat. Deutlich bekannter dürfte heute eine Version der Schinderhannes-Moritat sein, die von Carl Zuckmayer für das 1927 uraufgeführte Schinderhannes-Schauspiel gefertigt wurde.33 Zuckmayer stilisiert seinen Lands­ 32 33

Zitiert nach Janda/Nötzoldt: Moritat (wie Anm. 30), S. 29. Vgl. dazu Fähnders, Walter: Volksstück mit letalem Ausgang. Carl Zuckmayers Schin­ derhannes in der Theaterkritik, in: Nickel, Gunther (Hrsg.): Carl Zuckmayer und die Me­ dien. Beiträge zu einem internationalen Symposion. Teil 1. St. Ingbert 2001, S. 155 ff.

25

mann Schinderhannes zu einem Bühnenhelden. Das Lied vom Schinderhannes aus diesem Schauspiel gilt als typische Moritat. Dies wird bereits in den ersten Strophen deutlich: Im Schneppenbacher Forste,

Da geht der Teufel rumdibum,

De Hals voll schwarzer Borste,

Und bringt die armen Kaufleut um!

Das ist der Schinderhannes,

Der Lumpenhund, der Galgenstrick,

Der Schrecken jedes Mannes,

Und auch der Weiberstück.

Im Soonewald, im Soonewald

Steht manche dunkle Tann,

Darunter liegt begraben bald

Ein braver Wandersmann.34

Moritatenhaft an dem Stück sind das Thema und die Sprachverwendung. Im Ge­ gensatz zu den Jahrmarktmoritaten ist Zuckmayers Werk jedoch ein Bühnen­ stück. Auch die Moral am Ende des Stückes weicht vom Rigorismus früherer Jahrhunderte ab. Diese Entwicklung wird besonders deutlich in der folgenden Moritat.

34

Zuckmayer, Carl: Der fröhliche Weinberg. Schinderhannes. Zwei Stücke. Frankfurt/M. 23. Auflage 2004, S. 75 f.

26

K. Ernst, Schinderhannes mit Frau und Sohn, Punktierstich, um 1803 © Mittelalterliches Kriminalmuseum

27

IV. Die Moritat „Sabinchen war ein Frauenzimmer“ Die Moritat von Sabinchen tauchte erstmals im Jahr 1848 in den Musenklängen aus Deutschlands Leierkasten auf.35 „Das Lied geht zwar auf eine Originalmoritat zurück, erscheint aber eindeutig satirisch-parodistisch. Es wurde offensichtlich mit der Absicht veröffentlicht, ähnliche moralisierende und volkserzieherische lyrische Produkte dieser Zeit zu verulken.“36 Es erzählt die schauderhafte Bege­ benheit von der Dienstmagd Sabine, die vom berühmten Treuenbrietzener Schuster entleibt wurde, wie folgt: Sabinchen war ein Frauenzimmer,

Gar fromm und tugendhaft.

Sie diente treu und redlich immer

Bei ihrer Dienstherrschaft.

Da kam aus Treuenbrietzen

Ein junger Mann daher,

Der wollte so gerne Sabinchen besitzen

Und war ein Schuhmacher.

Sein Geld, das hat der ganz versoffen

Beim Schnaps und auch beim Bier!

Da kam er zu Sabinchen geloffen

Und wollte welches von ihr;

35

36

Vgl. Janda/Nötzoldt: Moritat (wie Anm. 30), S. 224 ff. m.w.N.; weitere Literatur dazu Boock, Barbara: „Sabinchen war ein Frauenzimmer …“. Ein Lied mit Geschichte. in: Kinzler, Hartmuth (Hrsg.): Musik und Leben. Freundesgabe für Sabine Giesbrecht zur Emeritierung. Osnabrück 2003, S. 22–27 sowie Weismann, Anabella: Die merkwür­ dige Geschichte vom Schuster und seiner Sabine: Revolutionssatire – Dienstmädchen­ moral – „lustiges Lied“, in: Heister, Hanns Werner u.a. (Hrsg.): Zwischen Aufklärung & Kulturindustrie. Festschrift für Georg Knepler zum 85. Geburtstag. Band 3: Musik/ Gesellschaft. Hamburg 1993, S. 119 (127, 129). Müller-Waldeck: Unter Reu’ (wie Anm. 2), S. 263.

28

Sie konnt’ ihm keines geben,

Denn keines war zur Stell,

Da stahl sie ihrer Dienstherrschaft

Sechs silberne Eßlöffel.

Doch schon nach achtzehn Wochen,

Da kam der Diebstahl raus!

Da jagte man mit Schimpf und Schande

Sabinchen aus dem Haus.

Sie rief: „Verfluchter Schuster,

Du rabenschwarzer Hund!“

Da nahm der Schuster sein Schuhmachermesser

Und schnitt ihr ab den Schlund.

Ihr Blut zum Himmel spritzte,

Sabinchen fiel gleich um;

Der böse Schuster aus Treuenbrietzen,

Der stand um ihr herum.

In einem Kellerloche,

Bei Wasser und bei Brot,

Da hat er endlich eingestanden

Die grausig’ Moritot!

Und die Moral von der Geschicht’:

Trau keinem Schuster nicht!

Der Krug, der geht so lang zu Wasser,

Bis daß der Henkel abbricht!37

37

Zitiert nach Janda/Nötzoldt: Moritat (wie Anm. 30), S. 246 f.; leicht abweichender Text in: Hansen, Walter (Hrsg.); Sabinchen war ein Frauenzimmer. Moritaten und Jahr­ marktlieder. München 1996, S. 94 ff.

29

Mit dem sehr bildlich beschriebenen Mord des Treuenbrietzener Schusters an der Dienstmagd Sabinchen, die aus Liebe zu ihm sechs Silberlöffel stahl, was sie erst die Anstellung und dann das Leben kostete, handelt es sich thematisch wieder um eine Moritat, eine einfache Jahrmarktvolksweise um Verbrechen und Mord. Al­ lerdings ist diese eigentlich traurige Geschichte unterhaltsam aufgebaut und mit amüsanten Effekten versehen. Zudem ist sie in einem ironischen Grundgestus ge­ halten. Die Moral wird nämlich bewusst falsch gezogen wenn es heißt: Trau kei­ nem Schuster nicht. Das Lied parodiert also die Moritat und ist noch heute „eine der bekanntesten und beliebtesten Moritatenparodien“38.

V.

Das Ende des Bänkelsangs?

Um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts setzt der rasche Niedergang von Bänkelsang und Moritaten ein. Hauptgrund dürfte die übermächtige Konkurrenz durch Rundfunk, Film und Illustrierte gewesen sein, die Bänkelsang und Moritat innerhalb kurzer Zeit vom Markt drängte. In seiner Mischung von Wort, Bild und Musik wird der Bänkelsang nun einerseits vom Schlager, andererseits von der il­ lustrierten Zeitung und Sensationspresse abgelöst. Entgegen Karl Veit Riedel dürften die polizeilichen Verbote dem Gewerbe je­ doch weniger geschadet haben, als angenommen, und somit eher nachrangig als Grund des Niederganges des Bänkelsangs anzusehen sein.39 Meines Erachtens un­ terschätzt die Fachliteratur zudem die mittlerweile fast flächendeckende Lese­ und Schreibfähigkeit beiderlei Geschlechts auf den Niedergang des Bänkelsangs um die Jahrhundertwende. Wo nahezu jedermann selbst die Neuigkeiten lesen konnte, bedurfte es nicht mehr der audiovisuellen Vermittlung durch Bänkelsänger. Bereits in den 1930ern findet man Bänkelsänger nur noch vereinzelt auf Jahr­ märkten und Messen. „Bänkelsang und Moritat starben eines sanften Todes, den sie so oft und in so wechselhafter Form besungen haben. Volkskundler, Literatur­ 38 39

Stemmle, R. A. (Hrsg.): Herzeleid auf Leinewand. Sieben Moritaten. München 1962, S. 15. Wenn Riedel: Bänkelsang (wie Anm. 2), S. 24 richtigerweise darauf hinweist, dass die Behörden nach dem ersten Weltkrieg duldsamer gegen die Bänkelsänger wurden, ist nur schwer nachvollziehbar, dass die (gelockerten!) Verbote den Niedergang des Ge­ werbes beschleunigten.

30

historiker und Theaterwissenschaftler kamen zum Begräbnis zu spät.“40 Es gibt nur spärliche wissenschaftliche Hinweise in der Literatur. Bei der Allgemeinheit gerät diese Kunstform langsam in Vergessenheit. Dass sie nicht völlig ver­ schwand, ist einer weiteren Metamorphose zu verdanken und vor allem der Per­ son Bertolt Brechts.

Unbekannt, Der Moritatensänger, Lithographie, um 1860,

© Mittelalterliches Kriminalmuseum

40

Stemmle: Herzeleid (wie Anm. 38), S. 3 f.

31

C. Die Transformation der Moritat bei

Bertolt Brecht

Es waren die modernen Autoren des frühen 20. Jahrhunderts, die sich dem nieder­ gehenden historischen Bänkelsang annahmen. Sie entkleideten dessen trivialen Gehalt und dessen Form von allem Ulk und aller Parodie. Übrig blieb ein tragi­ sches – oft schockierendes – Protestlied des kleinen Mannes. Vor allem Bertolt Brecht nutzte die Moritat als Mittel der Gesellschaftskritik, 41 etwa in den die Hauspostille eröffnenden Schockmoritaten oder den schmutzaufwirbelnden, provozierenden und denunzierenden Bänkelsongs der Dreigroschenoper. Hier entlarvte er die herrschende Moral als Moral der Herrschenden; konfrontierte mit Hunger, Elend, Ausbeutung und Entrechtung. Ein gutes Beispiel dafür finden wir am Ende des 2. Aktes in der Ballade über die Frage, wovon lebt der Mensch: Ihr Herrn, die ihr uns lehrt, wie man brav leben

Und Sünd und Missetat vermeiden kann

Zuerst müsst ihr uns was zu fressen geben

Dann könnt ihr reden: damit fängt es an.

Ihr, die ihr euren Wanst und unsre Bravheit liebt

Das eine wisset ein für allemal:

Wie ihr es immer dreht und wie ihr’s immer schiebt

erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.42

Mit gezielt und effektiv gesetzten Schockeffekten entwickelt Brecht die Moritat weiter. Am bekanntesten ist die „Moritat von Mackie Messer“ zu Beginn der Dreigroschen­ oper. In der Szenenanmerkung heißt es: „Jahrmarkt in Soho. Die Bettler betteln, die Diebe stehlen, die Huren huren. Ein Moritatensänger singt eine Moritat.“43

41

42 43

Vgl. dazu und folgend Riha: Moritat (wie Anm. 16), S. 18 f. Zu Brecht und Bänkelsang vgl. auch McLean, Sammy: The Bänkelsang and the Work of Bertolt Brecht. Berlin 2019. Zitiert nach Brecht, Bertolt: Die Dreigroschenoper. Berlin 45. Auflage 2017, S. 69. Ebd., S. 7.

32

Und der Haifisch, der hat Zähne und die trägt er im Gesicht und Macheath, der hat ein Messer doch das Messer sieht man nicht. Ach, es sind des Haifischs Flossen rot, wenn dieser Blut vergießt. Mackie Messer trägt ’nen Handschuh drauf man keine Untat liest. An ’nem schönen blauen Sonntag liegt ein toter Mann am Strand und ein Mensch geht um die Ecke den man Mackie Messer nennt. Und Schmul Meier bleibt verschwunden und so mancher reiche Mann und sein Geld hat Mackie Messer dem man nichts beweisen kann. Jenny Towler ward gefunden mit ’nem Messer in der Brust und am Kai geht Mackie Messer der von allem nichts gewußt. Und das große Feuer in Soho sieben Kinder und ein Greis – in der Menge Mackie Messer, den man nicht fragt und der nichts weiss. Und die minderjährige Witwe deren Namen jeder weiss wachte auf und war geschändet – Mackie, welches war dein Preis? Wachte auf und war geschändet – Mackie, welches war dein Preis?

33

„Mackie Messer“ unterscheidet sich von der Form typischer Moritaten und Bal­ laden früherer Zeiten durch die Anzahl der Geschichten, einen Refrain sowie atypischen Beginn (fehlendes comm-all-ye) und atypisches Ende (keine Moral, sondern ironische Frage).44 Auch inhaltlich ist ein deutlich stärkerer Fokus auf Gesellschaftskritik zu konstatieren. Durch Brecht und andere Literaten überlebt die Moritat den Untergang des Bänkelsangs im neuen Gewand der literarischen Gesellschaftskritik.45 Gegen eine solche Kontinuität wenden sich zwar Stimmen in der Literatur mit Hinweis auf die Unterschiede zwischen dem volkstümlichen Bänkelsang beziehungsweise kommerziellen Moritaten sowie deren „hochlitera­ rischen“ Pendants.46 Hierbei handelt es sich jedoch um eine künstliche Unter­ scheidung über verschiedene Epochen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fokussiert sich die Gesellschaftskritik der Moritaten auf das Innerliterarische, aufs formale gegen den Strom Schwimmen, wie es Brecht nennt, und die Aufgabe, den literarischen und ästhetischen consensus infrage zu stellen.47 In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Moritat als Kunst­ form von Liedermachern wie Wolf Biermann und Konstantin Wecker sowie in Protestsongs der Friedens- und Anti-Atomkraft-Bewegungen ebenso genutzt wie in den humoristischen Seiten von Magazinen wie Stern, Spiegel und anderen.48 Diese Moritaten zeichnen sich durch klare gesellschaftskritische Aussagen aus. Resümiert man die Entwicklung des Gewalt- und Mordmotivs in der (volkstüm­ lichen) Vokalmusik, lässt sich ein Entwicklungsstrang aufzeigen. An der Wende zur Frühen Neuzeit dominierte noch der musikalische Zeitungsbericht – eher sachlich neutral. Später setzte sich die moralisierende Moritat auf den Jahrmärkten durch, oft unfreiwillig sarkastisch oder parodistisch. Mit dem Niedergang des Bänkelsangs eingangs des 20. Jahrhunderts nahm sich die Hochliteratur der Moritat an (Bertolt Brecht) und entkleidete sie von Ulk, Klamauk und Parodie. Das morali­ sierende Element ist folglich kein Wesensmerkmal der Moritat. Es gesellte sich in der Frühen Neuzeit zeitweilig zu dieser Kunstform, um der Zensur zu entgehen

44 45 46 47 48

Vgl. Cheesman: Shocking (wie Anm. 7), S. 32 f.

Vgl. dazu und folgend Riha: Moritat (wie Anm. 16), S. 23 f.

Vgl. Cheesman: Shocking (wie Anm. 7), S. 25 sowie zum folgenden ebd., S. 2, 25.

Vgl. Riha: Moritat (wie Anm. 16), S. 28.

Vgl. Cheesman: Shocking (wie Anm. 7), S. 30 f.

34

und einen musikalischen Vortrag erst möglich zu machen. Es ergab sich also aus den historischen Umständen.

D. Rammstein und das Album „Liebe ist für alle da“ (2009) Auch die zeitgenössische Populärmusik bespielt das Mord- und Gewaltmotiv ex­ tensiv. Als Beispiel soll eine der bekanntesten und umstrittensten deutschen Bands dienen, die sechsköpfige Formation Rammstein. Sie vereint eine kreative Mischung verschiedener Musikstile, etwa Techno, Punk, Heavy-Metal und In­ dustrial.49 Martialisches Auftreten, extensive Verwendung von stimmhaften alveo­ laren Vibranten (gerolltes „R“) sowie mehrdeutige Texte und Videoclips trugen Rammstein in den 90ern zeitweilig den Ruf einer rechtsnationalen Gesinnung ein.50 Dies führte zu mehreren deutlichen Klarstellungen der Band; sowohl verbal in den Medien51 als auch mit künstlerischen Mitteln, etwa im Song „Links 2-3-4“. Im Vorfeld des Releases der ersten Single „Deutschland“ des neuen Studioalbums im Frühjahr 2019 heizten Auszüge aus dem Videoclip die öffentliche Diskussion wieder an. Anstoß erregte eine Szene, in der die Bandmitglieder in KZ-Häftlings­ kleidung am Galgen kurz vor der Hinrichtung zu sehen sind.52 In vielen Rammstein-Songs findet sich das lyrische Ich im Kontext von Straftaten. Bereits das Debutalbum „Herzeleid“ (1995) thematisierte Pädophilie, Nekrophilie, Mord und Stalking, das zweite Album „Sehnsucht“ (1997) dann unter anderem

49

50

51 52

Vgl. Spisla, David: Die Songtexte der Band Rammstein aus dem Blickfeld der Litera­ turwissenschaft. München 2006, S. 3. Zum Medienecho vgl. Mühlmann, Wolf-Rüdiger: Letzte Ausfahrt: Germania. Ein Phä­ nomen namens Neue Deutsche Härte. Berlin 1999, S. 20 ff. Vgl. dazu m.w.N. Spisla: Rammstein (wie Anm. 49), S. 8 ff. Vgl. zum Medienecho etwa Hornuff, Daniel: Rammstein – Kann dich lieben, will dich hassen, in: Zeit Online – Kultur vom 29.03.2019, https://www.zeit.de/kultur/musik/ 2019-03/rammstein-video-deutschland-holocaust (Aufruf am 13. Mai 2019).

35

Eifersuchtsmord, Vergewaltigung und Missbrauch Schutzbefohlener. Das dritte Album „Mutter“ (2001) widmet sich Raubüberfall, Terrorismus und Drogenmiss­ brauch. Diese Tendenz ist auch für das vierte Album „Reise, Reise“ (2004) und das fünfte Album „Rosenrot“ (2005) zu konstatieren. Aus dem sechsten Studioalbum „Liebe ist für alle da“ (2009) lässt sich exemplarisch der Song „Wiener Blut“ anführen, der dem österreichischen Kriminalfall „Josef Fritzl“ nachempfun­ den ist. Bereits die Themensetzungen Beziehung, Schmerz, Vergänglichkeit und seelische Verarmung lassen eine Nähe zu professioneller Literatur erkennen. 53 Ferner integrieren Rammstein in vielen Liedern Elemente der klassischen Lyrik (etwa Strophenform, Versmaße und Reimung). Eine reichhaltige Bildersprache, expressive und klare Metaphorik, Oxymora, Anaphern und Parodien sind mitt­ lerweile ein Wesensmerkmal der Formation. Gleiches gilt für besondere musika­ lische Elemente, etwa die Relativierungen oder Unterstreichungen einzelner Textpassagen durch Instrumentierung und Lautstärke. Immer wieder greift die Formation aktuelle Ereignisse auf. So ist der Song „Hai­ fisch“ auf dem Album „Liebe ist für alle da“ zu verstehen als Stellungnahme zu den wiederholten Trennungsgerüchten. Der Videoclip verarbeitet jedoch zu­ gleich auch seinerzeitige Medienereignisse, etwa kirchliche Missbrauchsskandale. Musikalisch und inhaltlich lehnt sich der Refrain gar an Brechts „Moritat von Mackie Messer“ an, wenn es heißt: Und der Haifisch, der hat Tränen

Und die laufen vom Gesicht

Doch der Haifisch lebt im Wasser

So die Tränen sieht man nicht.54

53 54

Vgl. dazu und zum ganzen Absatz Spisla: Rammstein (wie Anm. 49), S. 15 ff. Zitiert nach Rammstein: Liebe ist für alle da. Booklet der CD. Universal 2009, S. 2 f.

36

Im Gegensatz zum Bänkelsänger früherer Jahrhunderte genießen Gegenwarts­ künstler einen deutlich höheren Freiheitsgrad. Meinungs-, Presse- und Kunstfrei­ heit sind verfassungsrechtlich geschützt (Art. 5 GG). Eine Zensur im Sinne einer Vorzensur55 findet nicht statt (Art. 5 Abs. 1 S. 3 GG). Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Freiheiten schrankenlos sind. Die Meinungs- und Pressefreiheit findet ihre Grenzen in den Vorschriften der allgemeinen Gesetze, den gesetzlichen Bestimmungen zum Schutze der Jugend und in dem Recht der persönlichen Ehre (Art. 5 Abs. 2 GG). Die Kunstfreiheit (Art. 5 Abs. 3 GG) wird zwar nach Sicht der BVerfG im Gegensatz zur Meinungsfreiheit vorbehaltlos gewährt,56 jedoch ebenfalls nicht schrankenlos. Ihre Grenzen findet die Kunstfreiheit in anderen ebenfalls verfassungsrechtlich geschützten Werten, etwa der Ehre Dritter oder dem Schutz der Jugend,57 die gegebenenfalls durch einfaches Gesetzesrecht (Strafgesetzbuch, Jugendschutzgesetz) bestimmt und konkretisiert werden.58 Deshalb verwundert es nicht, dass auch aktuelle Vokalmusik, zum Beispiel Alben, Booklets und Songs der Band Rammstein, Gegenstand von Verwaltungs- und Gerichtsverfahren waren.

55

56

57 58

Vorzensur sind „einschränkende Maßnahmen vor der Herstellung oder Verbreitung eines Geisteswerkes, insbesondere das Abhängigmachen von behördlicher Vorprü­ fung und Genehmigung seines Inhalts“, Wendt, Rudolf in: von Münch, Ingo/Kunig, Philip (Hrsg.): Grundgesetz-Kommentar. München 6. Auflage 2012, Art. 5 Rn. 62. BVerfG, Beschl. v. 24.02.1971 – 1 BvR 435/58, BVerfGE 30, S. 173 (192); BVerfG, Be­ schl. v. 17.07.1984 – 1 BvR 816/82, BVerfGE 67, S. 213 (228). Vgl. Wendt: von Münch/Kunig (wie Anm. 55), Art. 5 Rn. 97–99. Mit der Entscheidung „Josefine Mutzenbacher“ erkannte das BVerfG den Jugend­ schutz als Wert von Verfassungsrang an mit der Folge, dass dessen einfachgesetzliche Konkretisierung im Jugendschutzgesetz eine Abwägung mit der Kunstfreiheit ermög­ licht, vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87, BVerfGE 83, 130.

37

Till Lindemann von Rammstein

© Gonzales Photo/Alamy Stock Photo

38

I.

Differenzierung Jugendschutz und Strafrecht

In den öffentlichen Debatten um polarisierende Kunst werden Indizierung, Verbot, Zensur, Jugendschutz und Strafrecht häufig vermengt, was die sachliche Ausei­ nandersetzung erschwert. Wie bereits ausgeführt, genießt die Kunstfreiheit Ver­ fassungsrang. Einschränkungen erfährt sie beispielsweise im Ehrschutz anderer (§§ 185 ff. StGB – Beleidigung, Verleumdung), dem öffentlichen Frieden (§ 131 StGB – Gewaltdarstellung; § 166 StGB – Beschimpfung von Bekenntnissen, Reli­ gionsgemeinschaften und Weltanschauungsvereinigungen) oder der sexuellen Selbstbestimmung (§ 184 StGB – Verbreitung pornographischer Schriften59). Von diesen strafrechtlichen Bestimmungen zu unterscheiden ist der Jugend­ schutz. Das Jugendschutzrecht soll Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen fernhalten oder vermeiden.60 Es ist seit 2003 besonders geregelt im Jugendschutz­ gesetz (JuSchG). Zwar wäre eine Differenzierung zwischen Strafrecht und Ju­ gendschutzrecht nach der Schutzgruppe Allgemeinheit bzw. Kinder/Jugendliche zu pauschal. Schließlich sanktioniert auch das Strafgesetzbuch besonders sozial­ schädliches Verhalten gegenüber Kindern und Jugendlichen, etwa § 174 StGB (sexueller Missbrauch von Schutzbefohlenen). Für den hier vorliegenden Bereich der Medien mag diese Differenzierung jedoch ein erster Ansatz sein, da das JuSchG insoweit spezielle Regelungen bereithält. So sieht § 17 JuSchG eine Bun­ desprüfstelle für jugendgefährdende Medien vor (folgend „BPjM“), welche über eine Aufnahme von Medien in die Liste jugendgefährdender Medien entscheidet (sogenannte Indizierung). Dieses Indizierungsprinzip ist in § 18 JuSchG beson­ ders geregelt. Einmal indiziert, unterliegen die Trägermedien umfassenden Ver­ breitungs- und Werbebeschränkungen (§ 15 JuSchG).

59

60

Vgl. zum Streit um den Schutzzweck von § 184 StGB auch Fischer, Thomas: Strafge­ setzbuch mit Nebengesetzen, München 66. Auflage 2019, § 184 StGB Rn. 2–3b. Vgl. Nikles, Bruno W./Roll, Sigmar/Spürck, Dieter/Umbach, Klaus: Jugendschutz­ recht. Kommentar. München 2. Auflage 2005, S. 6 Rn. 9.

39

II.

Indizierungsverfahren bei Rammstein

Wie die Bänkelsänger und Brecht nutzen Rammstein die Grenzüberschreitung als Stilmittel und erregen Aufmerksamkeit, auch bei Verwaltung und Justiz. So wun­ dert es nicht, dass die ersten sechs Studioalben der Band Gegenstand von Indizie­ rungsverfahren der BPjM waren.61 Eine (kurzzeitige) Indizierung erfolgte jedoch erst beim sechsten Studioalbum „Liebe ist für alle da“ (2009). Indizierungsrelevant waren der Song „Ich tu Dir weh“ und einer farbige ganzseitige Booklet-Abbildung einer nackten Frau, die über dem Knie eines Mannes liegt, der im Begriff ist, ihr einen Schlag mit der Hand auf ihr Gesäß zu geben.62 Heute scheint dies – dank „Fifty Shades of Grey“ – zum Grundrepertoire der Fantasiewelt in deutschen Schlafzimmern zu gehören. 2009 hingegen ordnete die Bundesprüfstelle Text und Abbildung als verrohend, unsittlich und sadistischen Tendenzen Vorschub leistend ein. Das Album wurde kurzzeitig indiziert und auf Konzerten durfte „Ich tu Dir weh“ nicht gespielt werden.63 Das Verwaltungsgericht Köln folgte der Auffassung des BPjM nicht und hob die Indizierung auf.

1.

Entscheidung der BPjM

Rechtsgrundlage für die umstrittene Entscheidung der BPjM war § 18 Abs. 1 S. 1 JuSchG, wonach Träger- und Telemedien, die geeignet sind, die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen oder ihre Erziehung zu einer eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit zu gefährden, von der BPjM in eine Liste jugendgefährdender Medien aufzunehmen sind. Zu diesen jugendgefähr­ denden Medien zählen nach § 18 Abs. 1 S. 2 JuSchG vor allem unsittliche, verro­ hend wirkende sowie zu Gewalttätigkeit, Verbrechen oder Rassenhass anreizende Medien.

61 62 63

Entscheidung Nr. 5513 der BPjM vom 10.10.2007. Entscheidung Nr. 5682 der BPjM vom 05.11.2009. Vgl. VG Gelsenkirchen, Urt. v. 29.02.2012 – 7 K 943/10, BeckRS 2012, 50607.

40

Die Booklet-Abbildung eines sitzenden Mannes, der im Begriff ist, eine über seinem Knie liegende nackte Frau zu schlagen, übe eine verrohende Wirkung auf Kinder und Jugendliche aus.64 Verrohend wirken Medien, wenn sie geeignet sind, bei Kindern und Jugendlichen negative Charaktereigenschaften wie Sadismus und Gewalttätigkeit, Gefühllosigkeit gegenüber anderen, Hinterlist und gemeine Schadenfreude zu wecken oder zu fördern, etwa wenn mediale Darstellungen Brutalität fördern beziehungsweise ihr entschuldigend das Wort reden, was vor allem dann gegeben ist, wenn Gewalt ausführlich und detailliert gezeigt wird und die Leiden der Opfer ausgeblendet beziehungsweise sie als ausgestoßen, minder­ wertig oder Schuldige dargestellt werden. Im Lied „Ich tu Dir weh“ würden in befürwortender und rücksichtsloser Art und Weise drastische Gewaltanwendungen gegen eine andere Person präsentiert, die in hohem Maße geeignet seien, Kinder und Jugendliche gegenüber dem Leiden Anderer gleichgültig werden zu lassen. Zudem werde sadistischen Tendenzen Vorschub geleistet. Zusätzlich sei das Lied auch als unsittlich einzustufen, da in Zusammenhang mit der Gewaltanwendung sexuelle Stimulation und damit sado­ masochistische Handlungen präsentiert würden, die eindeutig dem Erwachsenen­ bereich vorbehalten seien. Für Jugendliche sei in dem Lied auch nicht erkennbar, dass es sich hier nicht um eine von mehreren normalen Varianten der Liebe han­ dele, die man kennenlernen solle. Forschungsergebnisse würden zeigen, dass die Verknüpfung von Sex und Gewalt generell in hohem Maße jugendgefährdend sei.

2.

Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln

Das Verwaltungsgericht Köln teilte in seinen beiden Entscheidungen die Einschät­ zung der BPjM nicht.65 Es bezweifelt die verrohende Wirkung beziehungsweise

64

65

Vgl. dazu sowie zum folgenden Absatz Entscheidung Nr. 5682 der BPjM vom 05.11.2009, S. 18, 19 m.w.N. VG Köln, Beschl. v. 31.05.2010 – 22 L 1899/09 (Einstweiliger Rechtsschutz), MultiMe­ dia und Recht (MMR) München 2010, S. 578 m. Anm. Schade, Peer Boris/Ott, Sebas­ tian sowie VG Köln, Urt. v. 11.10.2011 – 22 K 8391/09 (Hauptsacheverfahren), MMR München 2012, S. 346 m. Anm. Ott, Sebastian.

41

Unsittlichkeit von Song und Abbildung.66 Im Song „Ich tu Dir weh“ werden ge­ rade keine wirklichkeitsnahen Gewaltexzesse wiedergegeben. Die Gewaltelemente werden lediglich in Satz- und Wortfetzen angedeutet oder surreal übersteigert („Stacheldraht im Harnkanal“, „führ Dir Nagetiere ein“). Auch der Vorwurf einer befürwortenden Darstellung von gefühllosen Schmerzzufügungen sei nicht hin­ reichend belegt. Zum einen unterlasse die BPjM die Rückbeziehung auf das im­ mer wieder betonte Stilmittel Rammsteins, ihre Texte aus der Sicht des Bösen wiederzugeben, ohne das Böse zu propagieren. Zum anderen wird sowohl der gegenläufige Inhalt der fünften Strophe völlig ausgeblendet (Beziehungsebene von „Täter“ und „Opfer“) als auch deren abweichende musikalische Umsetzung (geringere Tonstärke, weitgehender Verzicht auf Schlagzeug und Gitarren, zu­ rückhaltender Gebrauch stimmhafter alveolarer Vibranten). Gerade Letzteres unterstreiche die nachdenklicheren Aussagen. Auch von der umstrittenen Abbil­ dung im Booklet dürften wohl nur schwerlich verrohende Einflüsse ausgehen, da der „künstliche“ Charakter der Darstellung überwiegt. Letztlich lässt das Verwal­ tungsgericht die abschließende Bewertung der jugendgefährdenden Wirkung offen, da die Entscheidung der BPjM den weiteren an eine rechtmäßige Indizie­ rung zu stellenden Anforderungen offensichtlich nicht genügt. Ein Medium darf gemäß § 18 Abs. 3 Nr. 2 JuSchG unter anderem dann nicht in die Liste jugendgefährdender Medien aufgenommen werden, wenn es der Kunst dient. Die Bundesprüfstelle hat den Kunstcharakter der indizierten CD bejaht und den Kunstgehalt als überdurchschnittlich hoch eingestuft.67 Allein der Kunstcha­ rakter eines Mediums steht jedoch seiner Indizierung noch nicht entgegen. Viel­ mehr sind im Sinne einer praktischen Konkordanz der Belange des Jugendschutzes einerseits und der Kunstfreiheit andererseits beide Belange im Einzelfall gegenei­ nander abzuwägen, und zwar unabhängig davon, ob es sich um ein schlicht ju­ gendgefährdendes oder um ein schwer jugendgefährdendes Medium handelt.68

66 67 68

Vgl. dazu und zu den folgenden Absätzen VG Köln: Urt. v. 11.10.2011 (wie Anm. 65).

Entscheidung Nr. 5682 der BPjM vom 05. November 2009, S. 24.

Vgl. BVerfG, Beschl. v. 27.11.1990 – 1 BvR 402/87, BVerfGE 83, S. 130 (143); BVerwG,

Urt. v. 26.11.1992 – 7 C 22/92, Neue Juristische Wochenschrift (NJW) München 1993, S. 1490 (1490 f.).

42

Eine fehlerfreie Abwägung setzt dabei eine umfassende Ermittlung der beiden wi­ derstreitenden Belange voraus.69 Diesen Anforderungen genügt die vorliegende Entscheidung der Bundesprüf­ stelle nicht, so das Gericht. Weder hinsichtlich der auf der Seite des Jugendschut­ zes noch der der Kunst einzustellenden Abwägungskriterien enthält sie im Blick hierauf eine hinreichend ausdifferenzierte Bewertung. Ausgehend von dem auch nach Auffassung der BPjM überdurchschnittlich hohen Kunstwert der indizier­ ten CD hätte es einer eingehenden und alle Erkenntnismöglichkeiten nutzenden Ermittlung und Gewichtung der für die auf beiden Seiten der Waagschalen anzu­ setzenden verfassungsrechtlichen Schutzgüter Jugendschutz und Kunstfreiheit bedurft, die vorliegend von der Bundesprüfstelle nicht geleistet worden ist. Weder wird begründet, warum bereits die bloße Darstellung sadomasochistischer Hand­ lungen für sich genommen geeignet sein könnte, mit den Texten und der Musik von Rammstein konfrontierte Jugendliche in ihrer sexuellen Entwicklung zu be­ einträchtigen. Noch wird die künstlerische Bedeutung des indizierten Mediums konkret gewichtet (Berücksichtigung der Reaktionen von Publikum, Kritik und Wissenschaft auf das Kunstwerk) sowie die Gesamtkonzeption des Kunstwerks außer Acht gelassen. Dem folgte auch das Oberverwaltungsgericht NordrheinWestfalen im Berufungsverfahren.70

3.

Desiderat einer stärkeren Einbeziehung historischer Aspekte

Im Ergebnis ist den Entscheidungen der Gerichte im Fall Rammstein beizupflich­ ten. Eine genauere Betrachtung der Entscheidungen zeigt, dass sowohl Prüfstelle als auch Verwaltungsgericht in ihre Abwägungen kunstgeschichtliche Aspekte einfließen ließen. Eine musikgeschichtliche Einordnung sucht man indes verge­ bens. Dies scheint kein Sonderfall. Soweit ersichtlich, befassen sich die jüngeren Entscheidungen von BPjM sowie Gerichten bei der Behandlung von Musikstü­ cken mit Gewaltbezügen kaum mit dem größeren historischen Kontext. Wie auf­ gezeigt, findet sich das Gewaltmotiv fast durchgehend in der Vokalmusik. Wir 69 70

Vgl. BVerwG, Urt. v. 18.02.1998 – 6 C 9/97, NJW München 1999, S. 75 (76). OVG Nordrhein-Westfalen, Beschl. v. 18.03.2015 Az. 19 A 2556/11, MMR München 2016, S. 140.

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haben es bei den Moritaten mit einer eigenständigen Kunstform zu tun, die ähnlich wie Satire, Karikatur, Western und Splatter über spezifische Eigenarten verfügt. Diese gilt es auch bei der Abwägung zwischen Jugendschutz und Kunstfreiheit stärker zu beachten. Indizieren Diskographie, Album oder Song, dass der Künstler auf die Form der Moritat rekurriert, ist dies bei der Abwägung besonders zu berücksichtigen. Da detaillierte Darstellungen von Gewalt in der musikalischen Darbietung von Kri­ minalfällen wesenstypisch und seit Jahrhunderten Bestandteil der Vokalmusik sind, sind a limine höhere Anforderungen an die widerstreitenden Interessen des Jugendschutzes anzulegen. Ob und inwieweit ein moralisierendes Element in dem Werk zu finden ist, spielt für die Einordnung nur eine untergeordnete Rolle. His­ torisch gesehen hielt es im Schlepptau von Zensur Einzug in die Gattung. Als In­ diz mag gelten: Je solitärer die Gewaltdarstellung steht, desto gewichtiger sind die widerstreitenden Interessen des Jugendschutzes.

III. Zwischenergebnis Gewalt findet sich auch in der Vokalmusik der Gegenwart in vielfältiger Form. Überzogenes Moralisieren, Ulk und Klamauk wie in den Moritaten alter Zeit sind vergleichsweise selten. Mangels Zensur bedarf es dieser „Absicherung“ heute nicht mehr. Moritaten sind in Deutschland heute gefeit vor Vorzensur. Sofern sie als Kunst im verfassungsrechtlichen Sinne einzuordnen sind, genießen sie beson­ deren Schutz. Eine Schranke kann im Jugendschutz liegen. Bei der konkreten In­ dizierungsentscheidung ist der Kunstgehalt des Werks konkret zu beleuchten und zu werten. Hier sollte auch musikhistorisch gearbeitet werden und Eigenheiten der Kunstform der Moritat Berücksichtigung finden. Der hohe Kunstgehalt bei Werken der Formation Rammstein erklärt auch deren vergleichsweise geringe In­ dizierungshäufigkeit, verglichen mit Vertretern anderer Musikrichtung, etwa dem Gangsta-Rap, Rechtsrock oder Death-Metal.71 71

Zum Gangsta-Rap vergleiche Oğlakcioğlu, Mustafa Temmuz/Rückert, Christian: An­ klage ohne Grund. Ehrschutz contra Kunstfreiheit am Beispiel des sogenannten Gangsta-Rap, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM). München 2015, S. 876 ff. und zum Rechtsrock Melz, Joanna/Bielecki, Alice Anna/Zielinska, Claudia:

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E. Nick Cave and the Bad Seeds und das Album „Murder Ballads” (1996) Nach den bei Rammstein aufgezeigten jugendschutzrechtlichen Implikationen soll abschließend das Spannungsverhältnis von zeitgenössischer Moritat und Strafrecht skizziert werden. Als Beispiel dient der weltweit wohl am engsten mit der Moritat verknüpfte Künstler Nick Cave. Der Australier gilt in der Musikpresse als „Fürst der Finsternis“72 und das 1996 erschienene Album „Murder Ballads“ (Balladen über Morde) – mittlerweile das erfolgreichste Album der Band Nick Cave and the Bad Seeds – als Inbegriff der Moritaten.73

I.

Inhalt des Albums

Das Album ist in der Landessprache des Künstlers aufgenommen. Zur Erleichte­ rung der inhaltlichen Betrachtung werden deshalb zunächst die einzelnen Stücke kurz in Deutsch zusammengefasst. Im ersten Lied – „Song of Joy“ – findet ein Ehemann seine Frau Joy und seine drei kleinen Töchter Hilda, Hattie und Holly, mit Isolierband gefesselt, geknebelt und – von Messerstichen durchbohrt – tot in ihren Schlafsäcken. Täter war ein unbekannter Besucher, den die Frau in die Wohnung gelassen hatte. Mit dem Blut der Opfer beschmierte der Mörder die Zimmerwände, Zitate aus John Miltons (1608–1674) „Paradise Lost“ (1667) verwendend. Der Ehemann verlässt daraufhin

72

73

„Verbotene“ Lieder? Ein Überblick über strafrechtlich kontroverse Musik in Deutsch­ land, in: Plywaczewski, Emil W./Guzik-Makaruk, Ewa M. (Hrsg.): Current Problems of the Penal Law and Criminology. Warschau 2017, S. 145 ff. https://www.nrz.de/staedte/duesseldorf/tanz-mit-dem-fuersten-der-finsternis-id2122 27699.html; https://www.deutschlandfunkkultur.de/nick-cave-in-concert-der-meister­ der-duesteren-balladen.2165.de.html?dram:article_id=319146; https://www.zeit.de/2013/ 12/Nick-Cave-Push-The-Sky-Away-Rezension (Aufrufe am 14. Mai 2019). https://www.rollingstone.de/nick-cave-zum-60-geburtstag-die-kunst-des-daemmers­ 1348713/ (Aufruf am 14. Mai 2019).

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seine Heimat und reist umher. Am Ende des Songs steht er vor der Tür eines an­ deren Familienvaters und bittet um Einlass. Der zweite Track – „Stagger Lee“ – ist eine von vielen Versionen der Geschichte um den Mörder Lee Shelton, einem schwarzen Kutscher und Zuhälter aus St. Louis, der am Heiligabend des Jahres 1895 seinen Freund Billy tötete. Caves sehr freie In­ terpretation dieser Geschichte strotzt vor Stolz und Gewalt, Häme und Mitleid und verzichtet auf jegliche gesellschaftskritischen Anmerkungen. Letzteres wäre indes gut möglich, gilt die Geschichte von Lee Shelton doch als Stereotyp eines kalten schwarzen Killers oder vice versa als Widerstand der Schwarzen gegen die Weißen. Im dritten Song – „Henry Lee“ – ersticht eine unglücklich verliebte Frau Henry Lee, als dieser ihr seine Liebe zu einer anderen Frau gestand. Das vierte Stück – „Lovely Creature“ – thematisiert die „Große Liebe“, mit der man um die Welt reisen möchte; sie ist jedoch leider nicht mehr am Leben. Die Liebe wird durch den Tod gefunden und verloren. Der fünfte Track, das mit Kylie Minogue aufgenommene Duett – „Where the Wild Roses Grow“ – umschreibt die traurige Geschichte der Jungfrau Elisa Day (Kosename Wild Rose), die sich in den „Sänger“ verliebt. Dieser erschlägt sie beim dritten Date mit einem Stein am Ufer eines Gewässers, wo wilde Rosen wachsen. Dazu singt er „All beauty must die“ und legt ihr eine Rose in den Mund. Die In­ terpretation der Motivation des lyrischen Ichs ist offen. Im sechsten Song – „The Curse of Millhaven“ – zieht die blonde 14-jährige Lottie mordend durch die Kleinstadt Millhaven und verschont in ihrem Blutrausch weder jung noch alt, arm noch reich. Das Arsenal der Hinrichtungsformen erinnert an Märtyrerlegenden und den frühneuzeitlichen Strafenkanon. Lebenslänglich verurteilt und eingeliefert in die Psychiatrie verzweifeln die Ärzte an Lotties un­ therapierbarer Mordlust und ihrem lärchenhaften Trällern. Der siebte Track – „The Kindness of Strangers“ – kommt der Stilform der Mo­ ritat am Nächsten. Ihre Gutgläubigkeit wird der jungen Weltenbummlerin Mary Bellows zum tödlichen Verhängnis. Der Song resümiert moralisierend: „Also, Mütter, behaltet eure Mädchen daheim – Lasst sie nicht auf eine Reise allein.“ Im achten Song – „Crow Jane“ – rächt sich ein Vergewaltigungsopfer blutigst an 20 Minenarbeitern und im neunten Song („O’Malley’s Bar“) wird eine kom­ plette Bar niedergemetzelt. Das Bob-Dylan-Cover „Death is Not the End“ schließt das Album beinahe friedlich, kommt doch darin niemand ums Leben. 46

Nick Cave, © Edd Westmacott/Alamy Stock Photo

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Das Album umschreibt eine Vielzahl von Verbrechen und nicht weniger als 64 Tötungen, was für seine Einordnung unter die Kunstform Moritat spricht. Zwar sucht man plakatives Moralisieren im Stil der Moritat früherer Jahrhun­ derte auch in „Murder Ballads“ vergeblich. Dies ist jedoch nicht konstitutiv für die Einordnung eines Albums oder Liedes in diese Gattung. Überdies lassen sich mehrere Stücke bei näherem Hinhören durchaus gesellschaftskritisch interpretie­ ren.74 „Murder Ballads“ ist folglich ein Moritatenalbum. Nach dieser musikhisto­ rischen Einordnung stellt sich die Frage möglicher strafrechtlicher Implikationen. Diese sollen exemplarisch an dem längsten – und die Grundlage des Albums bildenden – Song beleuchtet werden, „O’Malley’s Bar“.

II. „O’Malley’s Bar“ als Gewaltdarstellung im Sinne von § 131 StGB „O’Malley’s Bar“ ist nur spärlich mit Klavier, Orgel und dezentem Schlagzeug in­ strumentiert. Das Stück lebt hauptsächlich von der Geschichte und damit dem Text und Gesang. Wie immer besingt Nick Cave auch diese Geschichte eines Amoklaufes in einer Bar extrem bildhaft, so dass § 131 StGB (Gewaltdarstellung) einschlägig sein könnte. Fraglich ist zunächst, ob deutsches Strafrecht anwendbar ist, schließlich ist der Künstler australischer Staatsbürger. Auch wurde das Album in Melbourne (Australien) und London (Großbritannien) aufgenommen. Das StGB folgt dem Territoria­ litätsprinzip (§§ 3, 9 StGB). Danach gilt für in Deutschland begangene Taten das deutsche Strafrecht (Begehungsort). Anknüpfungspunkt für den Tatort können der Ort der Handlung oder der Ort des Erfolges sein (sogenanntes Ubiquitätsprinzip).75 Bei Erfolgsdelikten wie der Beleidigung (§ 185 StGB) kann also eine in Deutsch­ land über Radio, Fernsehen oder Internet vernommene Beleidigung auch dann

74

75

Etwa Track 1 (Mitleidlosigkeit), Track 6 (Medienberichterstattungen über Amok-Läufe), Track 7 (Aufsichts-, Erziehungspflichtverletzung), Track 8 (sexuelle Gewalt gegen Frauen), Track 9 (Vereinsamung). Vgl. Heger, Martin in: Lackner, Karl/Kühl, Kristian (Hrsg.): Strafgesetzbuch-Kom­ mentar. München 29. Auflage 2018, § 9 StGB Rn. 1 ff.

48

die Strafbarkeit begründen, wenn sie im Ausland aufgenommen oder abgesetzt wurde.76 Fraglich ist, wie ein im Ausland begangenes abstraktes Gefährdungsde­ likt, etwa die Gewaltdarstellung (§ 131 StGB)77, zu behandeln ist, da diese Delikts­ kategorie typischerweise keinen Erfolgsort aufweist. Diese – vor allem bei durch das Internet vermittelten Straftaten – virulente Problematik muss im vorliegen­ den Fall indes nicht entschieden werden, da das Album „Murder Ballads“ in Deutschland vertrieben wird und seine Songs hier gespielt werden, mithin meh­ rere Handlungsvarianten des § 131 Abs. 1 StGB erfüllt sind.

1.

Gewaltdarstellung § 131 StGB

Gemäß § 131 Abs. 1 StGB ist unter anderem das Verbreiten einer Schrift (§ 11 Abs. 3 StGB) zu ahnden, die grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen oder menschenähnliche Wesen in einer Art schildert, die eine Verherrlichung oder Verharmlosung solcher Gewalttätigkeiten ausdrückt oder das Grausame oder Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellt. In erster Linie dient diese Norm dem öffentlichen Frieden, vor allem jedoch dem Jugendschutz; der Einzelne soll geschützt werden vor einer aggressionsbedingten Fehlentwicklung.78 Zwar spricht § 131 Abs. 1 S. 1 StGB von Schriften, verweist jedoch sogleich auf § 11 Abs. 3 StGB, der Tonträger den Schriften gleich stellt. Die CD „Murder Ballads“ ist ein Tonträger, weshalb § 131 StGB anwendbar ist.

76

77

78

Vgl. BGH, Urt. v. 12.12.2000 – 1 StR 184/00, BGHSt 46, S. 212 (225) – Verbreitung der Auschwitzlüge im Internet. Vgl. Schäfer, Jürgen in: Joecks, Wolfgang/Miesbach, Klaus (Hrsg.): Münchener Kom­ mentar zum Strafgesetzbuch. München 3. Auflage 2017, § 131 StGB Rn. 8, a.A. Stein, Ulrich in: Wolter, Jürgen (Hrsg.): SK-StGB Systematischer Kommentar zum StGB. Köln 9. Auflage 2019, § 131 StGB Rn 4. Vgl. Ostendorf, Heribert in: Kindhäuser, Urs/Neumann, Ulfrid/Paeffgen, Hans-Ullrich (Hrsg.): Strafgesetzbuch – Kommentar, Baden-Baden 5. Auflage 2017, § 131 StGB Rn. 3.

49

a.

Grausame oder sonst unmenschliche Gewalttätigkeiten gegen Menschen

Die erste Tatbestandsvariante von § 131 Abs. 1 StGB fordert die grausame oder sonst unmenschliche Schilderung von Gewalttätigkeiten gegen Menschen. Dabei muss es sich nicht um ein reales Geschehen handeln; fiktive Geschichten reichen aus.79 Gewalttätigkeit ist ein aggressives, aktives Tun, durch das unter Einsatz oder Ingangsetzen physischer Kraft unmittelbar oder mittelbar auf den Körper eines Menschen in einer dessen leibliche oder seelische Unversehrtheit beeinträchti­ genden oder konkret gefährdenden Weise eingewirkt wird. 80 „O’Malley’s Bar“ schildert in einem erdachten, western-ähnlichen Szenario die Tötung von zwölf Menschen in einer Bar. Neun Menschen werden erschossen, zwei Frauen er­ würgt/ertränkt und ein Mann mit einem großen Aschenbecher erschlagen. Diese Vorgänge sind mithin Gewalttätigkeiten im Sinne von § 131 Abs. 1 StGB. Weiterhin müssen diese Gewalttätigkeiten grausam sein, worunter die Zufü­ gung besonderer Schmerzen oder Qualen körperlicher oder seelischer Art aus ge­ fühlloser und unbarmherziger Gesinnung zu subsumieren ist81. Das Erwürgen/ Ertränken der Barfrau in der schmutzigen Spüle mit Speiseresten erfüllt das Tat­ bestandsmerkmal der Grausamkeit. Auch das Tatbestandsmerkmal der Unmensch­ lichkeit, das eine menschenverachtende, rücksichtslose, rohe oder unbarmherzige Tendenz fordert,82 ist bei der Mehrzahl der Tötungen in „O’Malley’s Bar“ zu be­ jahen. Der Barkeeper beispielsweise wird aus reiner Freude am Töten hingerichtet (was den Täter auch sexuell stimulierte: „And my dick felt long and hard“), Caffey, weil er aufstand, Frau Holmes, weil sie entsetzt schrie, deren Mann, weil er den Täter anschrie als „evil man“, Mr. Brooks, weil er den Täter an den heiligen Franz von Assisi erinnerte und der junge Richardson, weil er dem heiligen Sebastian

79

80 81 82

Vgl. Sternberg-Lieben, Detlev/Schittenhelm, Ulrike in: Schönke, Adolf/Schröder, Horst (Hrsg.): Strafgesetzbuch-Kommentar. München 30. Auflage 2019, § 131 StGB Rn. 8. Vgl. Ebd., Rn. 6. Vgl. Schäfer: MüKo-StGB (wie Anm. 77), § 131 StGB Rn. 23. Ebd., § 131 StGB Rn. 24.

50

ähnelte. Die letzte Hinrichtung erfolgte „executioner style“ mit der Waffe am Kopf des sitzenden Vincent West.

b.

Verherrlichende oder verharmlosende Schilderung

Die vorbenannten grausamen Gewalttätigkeiten müssen gemäß § 131 Abs. 1 Var. 1 StGB in einer Art geschildert werden, die eine Verherrlichung oder Ver­ harmlosung ausdrückt. Verherrlicht werden Gewalttaten, wenn sie als etwas Werthaltiges gezeigt werden, als verdienstvoll, als abenteuerlich erstrebenswert, als Bewährungsprobe.83 Dies ist bereits für die erste Erschießung („O’Malley“) zu bejahen („When I shot him, I was so handsome“). Eine Verharmlosung, das heißt das Bagatellisieren der Gewaltakte als übliche, akzeptable, zumindest nicht ver­ werfliche Konfliktlösung,84 ist bei der lapidaren Beschreibung des Zertrümmerns von Jerry Barlows Schädel mit einem großen Aschenbecher ebenfalls zu bejahen. Entscheidend ist allerdings sowohl für die Verherrlichungs- als auch die Ver­ harmlosungstendenz, inwieweit die allgemein anerkannten Grenzen eines be­ stimmten Genres eingehalten werden und sich im Rahmen sozialer Adäquanz bewegen.85 Die Literatur erklärt Gewaltverherrlichung bei Schilderungen in Wes­ tern-, Krimi- und Actionfilmen für tatbestandslos.86 „O’Malley’s Bar“ lehnt sich an ein Westernszenario an (Saloon). Mit der Abführung des Täters am Ende des Songs sind auch Anleihen an das Krimi-Genre offenkundig. Vor allem aber die musikalische Einordnung als Moritat und deren genretypischen Übertreibungen lassen die Tatbestandsmäßigkeit auf dieser Ebene scheitern. Die Moritat lebt ge­ radezu von exzessiven Gewaltdarstellungen. Die erste Tatbestandsvariante von § 131 Abs. 1 StGB scheidet damit aus.

83

84 85

86

Rackow, Peter in: v. Heintschel-Heinegg, Bernd (Hrsg.); BeckOK-StGB, 41. Edition 2019, § 131 StGB Rn. 13 m.w.N. Ebd. Rn. 15. Vgl. ebd. Rn. 12.1 sowie Erdemir, Murad: Gewaltverherrlichung, Gewaltverharmlo­ sung und Menschenwürde, in: Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht (ZUM). München 2000, S. 699 (700). Vgl. Schäfer: MüKo-StGB (wie Anm. 77), § 131 StGB Rn. 30.

51

c.

Menschenwürdeverletzende Darstellung

Folglich ist die zweite Tatbestandsvariante von § 131 Abs. 1 StGB zu prüfen, näm­ lich ob diese geschilderten Gewalttätigkeiten das Grausame und Unmenschliche des Vorgangs in einer die Menschenwürde verletzenden Weise darstellen. Selbi­ ges wird bei Darstellungen angenommen, die darauf angelegt sind, beim Betrachter eine Einstellung zu erzeugen oder zu verstärken, die den fundamentalen Wertund Achtungsanspruch leugnet, der jedem Menschen zukommt; der Mensch zum bloßen Objekt degradiert wird.87 In diesen Fällen ist auch keine Rechtfertigung über die Kunstfreiheit Art. 5 Abs. 3 GG mehr möglich. Der Menschenwürdevariante unterfallen vor allem Splatter-Filme, in denen ohne dramaturgisches Korsett Scheußlichkeiten aneinandergereiht werden. 88 Nach den Gesetzesmaterialien geht es hier um „exzessive Schilderungen von Gewalttä­ tigkeiten, die unter anderem gekennzeichnet sind durch das Darstellen von Ge­ walttätigkeiten in allen Einzelheiten, zum Beispiel das (nicht nur) genüssliche Verharren auf einem leidverzerrten Gesicht oder den aus einem aufgeschlitzten Bauch herausquellenden Gedärmen“. 89 Prima facie sprechen dafür Nick Caves sehr bildhafte Beschreibung der Hinrichtungen und der Reaktionen der Opfer. Bei der Frage, ob dabei die Stufe zur selbstzweckhaften Übersteigerung über­ schritten ist, muss jedoch auch auf den Gesamtzusammenhang abgestellt werden, in den die Gewaltbeschreibung eingebettet wurde. Der Song endet mit der Ver­ haftung des Täters und dessen Reflektion über seine Taten. Ferner integriert Nick Cave gesellschaftskritische Aspekte, etwa bei der Umschreibung der Tötung von Vincent West („Did you know I lived in your street?“). Im Kontext der Tötung von Richard Holmes sinniert der Täter gar über seine eigene Willensfreiheit („If I have no free will then how can I be morally culpable, I wonder“). Die Gewalt­ darstellungen sind folglich gerade nicht selbstzweckhaft übersteigert, weshalb auch diese Tatbestandsvariante zu verneinen ist.

87 88 89

Vgl. ebd., Rn. 37 f.

Vgl. Rackow: BeckOK-StGB (wie Anm. 83), § 131 Rn. 17.1.

Vgl. Sternberg-Lieben/Schnittenhelm: Sch/Sch (wie Anm. 79), StGB § 131 Rn. 11.

52

2.

Zwischenfazit und Bewertungsmaßstab bei Moritaten

Der Song „O’Malley’s Bar“ von Nick Cave ist keine tatbestandliche Gewaltver­ herrlichung. Die exemplarische Betrachtung des Songs zeigt zugleich die engen Grenzen der Strafbarkeit nach § 131 StGB bei Vokalmusik. Wird der Straftatbestand der Gewaltverherrlichung im Kontext von Moritaten diskutiert, sollte ein besonderer Prüfungsmaßstab angelegt werden. Moritaten le­ ben schon entwicklungsgeschichtlich von sehr bildhaften und expliziten Gewalt­ darstellungen. Streitgegenständliche Werke sind deshalb besonders intensiv zu prüfen, inwieweit sie moralisierende oder gesellschaftskritische Interpretationen zulassen. Diese müssen keine Offenkundigkeit im Sinne der Moritaten älteren Typus an den Tag legen. Es reichen dafür auch sehr feinfühlige und angedeutete Indizien, wie etwa in „O’Malley’s Bar“ oder „Song of Joy“, „The Curse of Millhaven“, „The Kindness of Strangers“ oder „Crow Jane“.

III. Exkurs – Einfluss von Gewaltdarstellung auf Individual­ personen Zum Ende dieses Beitrags soll kurz auf ein – im gesellschaftlichen Diskurs immer wieder angeführtes – Argument eingegangen werden: die Auswirkungen von Ge­ waltdarstellungen auf Menschen. Diese Frage ist seit Jahrhunderten umstritten. In der Gegenwart stehen sich verschiedene wissenschaftliche Ansichten gegenüber. Nach der Lerntheorie können Gewaltdarstellungen nachgeahmt, gelernt werden und damit eine Gewöhnung eintreten (Habitualisierungshypothese). 90 Die Sti­ mulationstheorie geht noch einen Schritt weiter, wenn sie davon ausgeht, dass Gewaltdarstellungen sogar Kriminalität verursachen, sie originär stimulieren können.91 Dem stehen die Inhibitions- und die Katharsistheorie gegenüber. Nach ersterer identifiziert sich der Zuschauer mit dem Opfer, empfindet Mitleid und

90 91

Vgl. Ostendorf: Kindhäuser (wie Anm. 78), § 131 Rn. 6 m.w.N.

Vgl. Green, R./Berkowitz, L.: Name-mediated aggressive cue properties. Journal of Per­ sonality, 34 (3). 1966, S. 456–465.

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Angst, womit eine Aggressionsentstehung verhindert wird.92 Die Katharsistheo­ rie behauptet die Reinigung von bestehender Gewaltlust, indem die Gewaltvor­ führung Stellvertretungscharakter erhält.93 Nach dem aktuellen Forschungsstand ist die unmittelbar kriminalitätsverursachende Wirkung von Gewaltdarstellun­ gen auf Individuen eher restriktiv zu beurteilen.94 Vor diesem Hintergrund sollte auch das strafrechtliche Instrumentarium eher restriktiv gehandhabt werden. Bei Kindern und Jugendlichen konnte jedoch eine Festigung und Stärkung des Aggressionspotentials festgestellt werden, wenngleich die Wirkung der Gewalt­ darstellungen in einem soziokulturellen Kontext zu sehen ist und der „Konsum“ nicht monokausal zur Aggression führt.95 Eine solche einübende Gewöhnung an Gewalt mag in besonderen Konfliktsituationen zu einer tatsächlichen Gewalt­ eskalation, zu einem Gewaltmassaker beitragen. Es müssen allerdings weitere Faktoren hinzukommen wie frustrierende Niederlagen in der persönlichen oder beruflichen Sphäre, ein leichter Zugang zu – kompensierenden – Gewaltmitteln, ein Ausbleiben einer kommunikativen Selbst- und Fremdkontrolle. Für den Ju­ gendschutz müssen deshalb andere Maßstäbe angelegt werden und präventive Maßnahmen ergriffen werden.

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93

94 95

Vgl. Berkowitz, L./Rawlings, E.: Effects of film violence on inhibitions against subse­ quent aggression. The Journal of Abnormal and Social Psychology, 66 (5). 1963, S. 405–412. Vgl. Feshbach, S.: The drive-reducing function of fantasy behavior. The Journal of Ab­ normal and Social Psychology, 50 (1). 1955, S. 3–11. Vgl. Ostendorf: Kindhäuser (wie Anm. 78), § 131 StGB Rn. 6 m.w.N. Vgl. ebd.

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F. Zusammenfassung Mit den „Murder Ballads“ – den Moritaten von Nick Cave –, schließt sich der Rundgang durch ein halbes Jahrtausend Gewalt und Mord in der Musik. Folgen­ des bleibt festzuhalten: 1. Das Motiv des Verbrechens zieht sich durch die Geschichte der Musik. Anfangs noch als musikalischer Zeitungsbericht, also eher sachlich neutral. Später dann als moralisierende Moritat auf den Jahrmärkten, oft unfreiwillig sarkastisch oder parodistisch. Mit dem Niedergang des Bänkelsangs eingangs des 20. Jahr­ hunderts nimmt sich die Hochliteratur der Moritat an (Bertolt Brecht) und später auch die Populärmusik. Bislang unterschätzt wird von der Literatur die fast flä­ chendeckende Lese- und Schreibfähigkeit um 1900 für den Niedergang des Bän­ kelsangs, wohingegen die Bedeutung der polizeilichen Verbote vom Schrifttum überbewertet wird. 2. In der Musikjournalistik werden Songs, die sich mit Mord beschäftigen, häu­ fig als Moritat bezeichnet, auch wenn das moralisierende Element fehlt oder nur in Ansätzen erkennbar ist. Meines Erachtens ist dieses Element nicht konstitutiv für die Einordnung eines Werkes unter diese Gattung. Das moralisierende Ele­ ment gesellte sich in der Frühen Neuzeit zeitweilig zur Moritat, um der Zensur zu entgehen und einen musikalischen Vortrag erst möglich zu machen. Es ergab sich also aus den historischen Umständen. 3. Grenzüberschreitungen sind ein Wesensmerkmal der volkstümlichen Vokal­ musik zu Gewalt und Verbrechen. Die Bänkelsänger griffen aus merkantilen Gesichtspunkten auf dieses Stilmittel zurück. Mit Brecht wurde die Grenzüber­ schreitung dann in die Hochkunst übernommen und später in die Unterhaltungs­ musikindustrie. Überzogenes Moralisieren, Ulk und Klamauk sind mangels Vorzensur und Dank der Kunstfreiheit für – das Gewaltmotiv bearbeitende – Ge­ genwartskünstler nicht mehr notwendig. 4. Am Beispiel Rammsteins und den Indizierungs- sowie Gerichtsverfahren gegen die Band konnten die Einschränkungen der Kunstfreiheit durch den Ju­ gendschutz aufgezeigt werden. Bislang wird bei konkreten Indizierungsentschei­ dungen zu wenig auf die Eigenheiten der Moritat als Kunstform geachtet. Dieser 55

sind bereits wesensmäßig sehr bildliche Darstellungen inhärent. Deshalb sprechen auch weniger offensichtliche moralisierende oder gesellschaftskritische Indizien gegen eine Indizierung. Dies sollte bei künftigen Indizierungsentscheidungen stärkere Beachtung finden. 5. Am Beispiel Nick Caves Album „Murder Ballads“ konnten die engen Gren­ zen aufgezeigt werden, innerhalb derer Vokalmusik als strafbare Gewaltverherr­ lichung (§ 131 StGB) einzuordnen ist. Auch hier ist bei Abwägungen mit anderen Verfassungsgütern, etwa der Kunstfreiheit, ein stärkeres Gewicht auf die histori­ schen Eigenheiten der Kunstform Moritat zu legen. Ob deren Wesensmerkmals der übertriebenen Darstellung sprechen auch versteckte gesellschaftskritische In­ terpretationsmöglichkeiten gegen eine Strafbarkeit. 6. Angesichts des Forschungsstands zur unmittelbar kriminalitätsverursachen­ den Wirkung von Gewaltdarstellungen auf Individuen muss das Strafrecht bei Moritaten ultima ratio bleiben. Historisch betrachtet lebt diese Gattung seit Jahr­ hunderten von plastischst geschilderten Verbrechen. Staatliches Reglement trug den Moritaten oft unfreiwillig das sarkastische, parodistische Element ein. Gesun­ gen wurden die Lieder dennoch. Erfolgversprechender für die Demokratien des 21. Jahrhunderts sind deshalb weder Verbot noch das Damoklesschwert des Straf­ rechts, sondern ein gesellschaftlicher Diskurs.

56

Völkerstrafrecht und Musik

Vertieft anhand von Experteninterviews mit Simon Bikindi und Serj Tankian (System of a Down) Prof. Dr. Florian Knauer

A. Einführung I.

Anlass, Ziel und Aufbau des Beitrags

Für die Befassung mit dem Thema „Völkerstrafrecht und Musik“ bildete die Einladung zu dem Symposium mit dem Thema „Rock, Rap, Recht“ im Sommer 2018 nur den konkreten Anlass. Denn schon zuvor hatte ich seit einiger Zeit über den Gegenstand nachgedacht. Als Strafrechtler und Kriminologe einerseits und ehemaliger Musiker andererseits interessieren mich Fragestellungen aus dem Schnittbereich von Strafrecht und Musik ganz allgemein seit jeher.1 Mein spezielles Interesse an dem Thema „Völkerstrafrecht und Musik“ geht zurück auf meine Tätigkeit an der Humboldt-Universität zu Berlin als Vertreter des Lehrstuhls von Prof. Gerhard Werle. Bei der Vorbereitung meiner Lehrveranstaltungen zum Völ­ kerstrafrecht war ich auf ein Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof 1

Vgl. Knauer, Florian: „I Shot a Man in Reno, Just to Watch Him Die“ – Überlegungen zum Verhältnis von Strafrecht und Musik, vertieft am Beispiel zeitgenössischer Populär­ musik von Johnny Cash. Zeitschrift für das Juristische Studium (ZJS) 2012, S. 413–431, abrufbar im Internet unter http://www.zjs-online.com/dat/artikel/2012_3_587.pdf (Aufruf am 30. Mai 2019).

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für Ruanda (folgend „ICTR“) aufmerksam geworden, in dem der ruandische Mu­ siker Simon Bikindi aufgrund seiner Lieder wegen unmittelbarer und öffentlicher Anreizung zur Begehung von Völkermord nach Art. 2 Abs. 3 c) ICTR-Statut an­ geklagt worden war. In dem Zusammenhang erinnerte ich mich zudem daran, dass die Mitglieder der bekannten US-amerikanischen Band System of a Down einschließlich ihres Sängers Serj Tankian armenische Wurzeln haben und in ih­ ren Liedern wiederholt den Völkermord an den Armeniern in der Türkei wäh­ rend des Ersten Weltkrieges thematisiert hatten. Bei einer Gegenüberstellung beider Musiker stellte sich damit auf der einen Seite in dem Verfahren gegen Simon Bikindi die Frage, ob und inwieweit Musik ein Mittel zur Begehung von Völkerrechtsverbrechen sein kann. Auf der anderen Seite erschien interessant, inwieweit Musik wie die von Serj Tankian und System of a Down die Öffentlichkeit für Völkerrechtsverbrechen sensibilisieren und auf diese Weise der Begehung weiterer Völkerrechtsverbrechen entgegenwirken kann. Eine erste Sichtung der Literatur zu beiden Musikern zeigte dabei rasch, dass im Vergleich zur Beschäftigung mit den Texten von Bikindi und Tankian die spezifisch musikalischen Aspekte ihrer Lieder bislang noch nicht die gebotene Aufmerk­ samkeit erhalten hatten. Ziel des Beitrages ist daher, bei der Untersuchung des Themenkreises „Völkerstrafrecht und Musik“ einmal gezielt die Musik von Bikindi und Tankian in den Blick zu nehmen. Mit Blick auf den Aufbau des Beitrags werden in einem ersten Schritt der bis­ herige Diskussionsstand dargestellt und offene Forschungsfragen identifiziert (unten B.). In einem zweiten Schritt soll mit einer eigenen Erhebung zur Schlie­ ßung dieser Forschungslücken beigetragen werden (C.). Abschließend werden die Ergebnisse zusammengefasst (D.). Angesichts des mutmaßlich heterogenen Le­ serkreises sollen freilich zunächst die zentralen Gegenstände des Beitrags kurz vorgestellt werden: das Völkerstrafrecht und die Musik im Allgemeinen sowie die Musiker Simon Bikindi und Serj Tankian im Besonderen (A.II.).

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II.

Gegenstände des Beitrags

Das Völkerstrafrecht umfasst „alle Normen des Völkerrechts, die unmittelbar Strafbarkeit begründen, ausschließen oder in anderer Weise regeln“.2 Eine solche Strafbarkeit nach Völkerrecht jenseits einzelner nationaler Strafrechtsordnungen besteht bislang nur für die vier sogenannten Kernverbrechen Völkermord, Ver­ brechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Ag­ gression.3 Wichtige historische Beispiele für die Verfolgung solcher Völkerrechts­ verbrechen durch internationale Gerichte sind die Nürnberger und Tokioter Kriegsverbrecherprozesse nach dem Zweiten Weltkrieg,4 die Strafverfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien 5 und die Verfahren vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda6. Anders als in diesen seit der Mitte des 20. Jahrhunderts durchgeführten Völkerstrafverfahren vor internationalen Strafgerichten wurden frühere ähnliche Makroverbrechen noch nicht in gleicher Weise völkerstrafrechtlich geahndet. Dies gilt namentlich für im Ersten Weltkrieg begangene Völkerrechtsverbrechen7, zu denen der Völ­ kermord an den Armeniern in der Türkei im Jahr 1915 zählt8. Im Hinblick auf die Musik ist für die weiteren Überlegungen keine allgemein­ gültige Definition erforderlich. Angezeigt erscheint lediglich eine Konkretisierung der Musikformate, um die es im Folgenden zur Hauptsache gehen soll. Im Mittel­ punkt der Überlegungen werden der Populärmusik zuzurechnende, aus Text und Musik bestehende Lieder stehen. Daneben wird speziell mit Blick auf Serj Tankian auch von ihm komponierte Filmmusik eine Rolle spielen.

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Werle, Gerhard/Jeßberger, Florian: Völkerstrafrecht. Tübingen 4. Auflage 2016, Rn. 89. Ebd., Rn. 90 f. Ebd., Rn. 15 ff. m.N. Ebd., Rn. 45 ff., 48 ff. m.N. Ebd., Rn. 45 ff., 54 f. m.N. Ebd., Rn. 6 ff. m.N. Ebd., Rn. 14 m.N.

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Simon Bikindi wurde 1954 in Ruanda geboren und war ruandischer Staatsbür­ ger.9 Der ICTR bezeichnete ihn in seinem Urteil als bekannten Sänger und Kom­ ponisten.10 Daneben war Simon Bikindi Mitglied und Leiter des Irindiro-Balletts. Dabei handelte es sich um eine aus rund 50 Tänzern, Sängern und Trommlern bestehende Tanzgruppe, zu dessen Mitgliedern auch Angehörige der später ver­ folgten Tutsi-Minderheit zählten.11 In der Literatur wird Simon Bikindi als einer der bekanntesten12 oder sogar als der bekannteste13 Musiker Ruandas beschrie­ ben. Veranschaulichend wurde er bisweilen der ruandische Michael Jackson ge­ nannt. 14 Simon Bikindi kombinierte in seiner Musik das Alte und das Neue miteinander, indem er zu traditionellen Volksliedern in Englisch, Französisch und Kinyarwanda, der ruandischen Landessprache, rappte.15 Klassische ruandi­ sche Melodien und Tänze verband er mit modernen Motiven. 16 Während des Völkermordes an der Tutsi-Minderheit im Jahr 199417 bildeten seine Lieder den

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ICTR, Trial Chamber, The Prosecutor v. Simon Bikindi, Case No. ICTR-01-72-T, Judgement of 2. December 2008, Rn. 4. Ebd., Rn. 41. Ebd., Rn. 41; nach Ansicht von Grant, Morag Josephine: Musik im Dienst des Massen­ mords, in: Bröcker, Marianne (Hrsg.): Musik in urbanen Kulturen. Münster 2010, S. 265, steht jedoch Bikindis Musik im Mittelpunkt der gegen ihn gerichteten Vor­ würfe, so dass er in erster Linie als Popmusiker zu bezeichnen ist. Parker, James: The Musicology of Justice: Simon Bikindi and Incitement to Genocide at the International Criminal Tribunal for Rwanda, in: Grant, Morag Josephine/StoneDavis, Férdia J. (Hrsg.): The Soundtrack of Conflict. The Role of Music in Radio Broad­ casting in Wartime and in Conflict Situations. Hildesheim 2013, S. 212. La Mort, Justine: The Soundtrack to Genocide: Using Incitement to Genocide in the Bikindi Trial to Protect Free Speech and Uphold the Promise of Never Again, 4 Inter­ disciplinary Journal of Human Rights Law. 2009, S. 43 (44). Ebd., S. 43 (44); Parker: The Musicology of Justice (wie Anm. 12), S. 212.

La Mort: The Soundtrack to Genocide (wie Anm. 13), S. 43 (44).

Snyder, Robert H.: „Disillusioned Words Like Bullets Bark“: Incitement to Genocide,

Music, and the Trial of Simon Bikindi, 35 Georgia Journal of International and Com­ parative Law. 2007, S. 645 (668). Zu den Hintergründen des Völkermordes in Ruanda Snyder: „Disillusioned Words Like Bullets Bark“ (wie Anm. 16), S. 645 (648 ff.).

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Soundtrack zum Genozid.18 Wegen dreier dieser Lieder wurde er der Anreizung zum Völkermord angeklagt. Allein aufgrund seiner musikalischen Kompositionen war Simon Bikindi ein so „dicker Fisch“ (big fish ), dass er vor dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda angeklagt wurde und nicht vor den nationalen Gerichten.19 Simon Bikindi verstarb im Dezember 2018 im Benin.20 Serj Tankian wurde 1967 in Beirut im Libanon geboren und siedelte mit seinen Eltern im Kindesalter nach Los Angeles in den Stadtteil Hollywood über.21 Serj Tankian selbst berichtet, dass sein Großvater ihm häufig davon erzählt habe, wie er den Völkermord von 1915 überlebt habe und dass seine ganze übrige Familie da­ mals getötet worden sei.22 Serj Tankian besuchte eine armenische Privatschule23 und wuchs mit armenischer Volksmusik auf24. Als Teenager trat Serj Tankian einer armenischen Jugendorganisation bei.25 Später studierte er Marketing und Business an der California State University.26 Nach einer kurzen Zeit als Mitglied der Band Soil27 gründete Serj Tankian gemeinsam mit drei weiteren Musikern mit armeni­ schen Wurzeln die Rockband System of a Down.28 System of a Down veröffentlich­ ten zwischen 1998 und 2005 fünf Alben29, die sich millionenfach verkauften und die Band zu einer der erfolgreichsten Musikgruppen der Welt machten.30 18 19

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Parker: The Musicology of Justice (wie Anm. 12), S. 212. Ebd., S. 212; ähnlich Benesch, Susan: The ICTR’s Prosecution of a Pop Star: The Bikindi Case, in: African Yearbook of International Law. 2012, S. 447 (450). Zur Musik Bikindis siehe Grant: Musik im Dienst des Massenmords (wie Anm. 11), S. 266, mit der Einschätzung, dass Hassmusik nicht „hässlich“ sein muss. Vgl. den Nachruf von McCoy im Internet unter http://www.therwandan.com/rip­ simon-bikindi-92854-121518/ (Aufruf am 30. Mai 2019). Myers, Ben: System of a Down: Right here in Hollywood. New York 2006, S. 12 f. Ebd., S. 11. Ebd., S. 14. Ebd., S. 36. Ebd., S. 16. Ebd., S. 17. Ebd., S. 35 ff. Ebd., S. 38 ff. Ebd., S. 202 f. Ebd., S. 188.

61

Die Einflüsse der Musik von System of a Down reichen von klassischem US­ amerikanischem Metal bis hin zu osteuropäischen und asiatischen Elementen.31 System of a Down verbanden armenische Volksmusik und Instrumente mit zeit­ genössischem Rock.32 Ihre armenische Herkunft machte die Band in der damali­ gen Musikszene einzigartig.33 Zu dem wachsenden Interesse an der Band trugen ihre Texte bei, die armenische Themen einschließlich des Völkermordes behan­ delten.34 Das darin hervortretende politische Engagement der Band war gerade für eine der Metalszene zuzurechnende Gruppe ungewöhnlich.35 Man würde al­ lerdings ein unvollständiges Bild zeichnen, wenn man System of a Down auf sol­ che ernsten Themen reduzieren würde. Serj Tankian selbst wies einmal darauf hin, dass in der Regel nur zwei oder drei Songs je Album politisch seien.36 Auch für die Konzerte von System of a Down war der Wechsel zwischen ernsten, poli­ tischen Ansagen des Sängers Serj Tankian und den eher prosaischen Äußerungen des Gitarristen kennzeichnend.37 Das Publikum habe sich nach den Beobach­ tungen eines Musikjournalisten daher stets gefragt, ob die Musiker Politiker oder Deviante seien.38 Nachdem System of a Down 2006 eine Auszeit angekündigt und genommen hatten39, veröffentlichte Serj Tankian mehrere Soloplatten40. Auch zwei Bücher von Serj Tankian sind mittlerweile erschienen.41 Zuletzt war er vor allem als Kom­ ponist von Filmmusik tätig. Die entsprechenden Filme wie zum Beispiel „The

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Ebd., S. 50.

Ebd., S. 51.

Ebd., S. 50 f.

Ebd., S. 52.

Aitken, Paul A.: Attack/Affect: System of a Down and Genocide Activism, MUSICul­ tures 38. S. 65 (67). Myers: System of a Down (wie Anm. 21), S. 141. Ebd., S. 49; anschaulich ebd., S. 97 f. Ebd., S. 49. Ebd., S. 191. Elect the Dead, 2007; Elect the Dead Symphony, 2010; Imperfect Harmonies, 2010; Harakiri, 2012; Orca Symphony No. 1, 2013; Jazz-Iz Christ, 2013. Cool Gardens, 2001; Glaring Through Oblivion, 2011.

62

Promise“ behandelten zumeist armenische Themen und dabei insbesondere den Völkermord von 1915.42

B. Bisheriger Forschungsstand I.

Allgemein zu Völkerstrafrecht und Musik

Der Diskussionsstand zum Verhältnis von Musik und Recht ist nach Ansicht des mit dem Thema besonders intensiv befassten Rechtswissenschaftlers Parker unter­ entwickelt. In einem 2013 veröffentlichten Aufsatz zu dem Verfahren gegen Simon Bikindi kritisiert er ganz generell, dass die Musikologie des Rechts (musicology of justice) bislang wenig akademische Aufmerksamkeit erfahren hat.43 Selbst in etwas weiter entwickelten Bereichen wie dem Urheberrecht sei das Diskussionsniveau insoweit bislang nicht sehr hoch.44 Parker fordert daher, dass die Musikologie des Rechts künftig ernster genommen werden müsse als bislang.45 Dazu aufgerufen sei nicht nur das Recht, sondern auch die Musikwissenschaft.46 Parker selbst hat in seiner 2015 veröffentlichten Monografie mit dem Titel „Acoustic Jurisprudence“ den material- und gedankenreichen Versuch unternommen, ausgehend von dem Verfahren gegen Simon Bikindi einige verallgemeinernde Überlegungen zum Verhältnis von Recht und Musik zu entwickeln.47 42

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Zu der Filmmusik des Films The Promise steuerte Tankian den von ihm neu arran­ gierten Song Sari Siroun Yar bei. Seinen ersten vollständigen Soundtrack komponierte Tankian für den Film „1915”, der 2015 Premiere feierte; https://serjtankian.com/pages/ 1915-original-motion-picture-soundtrack (Aufruf am 30. Mai 2019). Einen weiteren Soundtrack schrieb Tankian zu dem Film Intent to Destroy von 2017. Parker: The Musicology of Justice (wie Anm. 12), S. 211.

Ebd., S. 211 Fn. 2.

Ebd., S. 214.

Ebd., S. 225.

Parker, James: Acoustic Jurisprudence – Listening to the Trial of Simon Bikindi.

Oxford 2015, S. 6.

63

Zwar wird man Parkers Kritik an dem bislang unzureichend entwickelten For­ schungsstand zum Verhältnis von Recht und Musik im Grundsatz auch heute noch zustimmen können. Jedoch hat die Intensität der Debatte seit einigen Jahren merklich zugenommen. Neben der Monografie von Parker sind in letzter Zeit neben zahlreichen Einzelaufsätzen mehrere Sammelbände mit Bezügen zum Verhältnis speziell von Völkerstrafrecht und Musik erschienen.48 Möchte man den mittlerweile erreichten Forschungsstand systematisierend beschreiben, so wird man erstens sagen können, dass die Debatte international geprägt ist. Neben Publikationen in deutscher Sprache wurden zahlreiche eng­ lischsprachige Beiträge zum Thema veröffentlicht. Diese stammen nicht nur von Autorinnen und Autoren aus den Vereinigten Staaten und Großbritannien, son­ dern teilweise auch beispielsweise aus Osteuropa.49 Zweitens ist die Diskussion seinem Gegenstand entsprechend interdisziplinär ausgerichtet. Beteiligt haben sich unter anderem Autorinnen und Autoren aus der Rechtswissenschaft50, der Musikwissenschaft51, der Soziologie und der Philosophie52. 48

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Eine Reihe dieser Veröffentlichungen geht zurück auf eine von der Musikwissenschaft­ lerin Grant 2008 bis 2014 an der Universität Göttingen geleitete Forschungsgruppe mit dem Titel „Music, Conflict and the State“; vgl. den Abschlussbericht der Forschungs­ gruppe „Music, Conflict and the State. Summary of research activities and achievements, 2008-2014“, abrufbar im Internet unter http://www.mjgrant.eu/mjg/mcs_files/Music %20Conflict%20and%20the%20State_Final%20Report.pdf (Aufruf am 30. Mai 2019) mit einer Übersicht über die aus dem Projekt hervorgegangenen Publikationen. Zu diesen Veröffentlichungen zählt etwa der Sammelband von Grant, Morag Josephine/ Stone-Davis, Férdia (Hrsg.): The Soundtrack of Conflict. The Role of Music in Radio Broadcasting in Wartime and in Conflict Situations. Hildesheim 2013. Siehe ferner Klimczyk, Wojciech/Swierzowska, Agata (Hrsg.): Music and Genocide. Frankfurt/M. 2015; Diederichsen, Detlef/Schulze, Holger (Hrsg.): Krieg singen. Berlin 2017. Vgl. etwa Klimczyk/Swierzowska (Hrsg.): Music and Genocide (wie Anm. 48).

Parker: Acoustic Jurisprudence (wie Anm. 47).

Zu Veröffentlichungen der Musikwissenschaftlerin Grant siehe Anm. 48; ferner

McCoy, Jason T.: Mbwirabumva („I Speak to Those Who Understand“): Three Songs by Simon Bikindi and the War and Genocide in Rwanda. Florida 2013, auf S. 22 ff. m.w.N. zum bisherigen Forschungsstand. Der Sammelband „Music and Genocide“ (Anm. 48) beispielsweise wurde gemeinsam von dem Soziologen Klimczyk und der Philosophin Swierzowska herausgegeben.

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Mit Blick auf den inhaltlichen Stand der Diskussion kreisen die Diskussions­ beiträge drittens bislang noch vielfach um Einzelbereiche aus dem Themenfeld „Völkerstrafrecht und Musik“. Zu denken ist etwa an die Bedeutung der Musik als Mittel der Konfliktbewältigung und der Versöhnung53 oder eben das auch hier aufgegriffene Verfahren gegen Simon Bikindi54. Nur vereinzelt finden sich wie bei Parker Ansätze zu tiefergehenden Analysen des Gesamtbereichs.55 Viertens wird in der bisherigen Diskussion noch nicht hinreichend deutlich ge­ macht, welche praktischen Konsequenzen sich aus der näheren Betrachtung von Recht und Musik ergeben sollen. Dies gilt auch für die im Übrigen Anerkennung verdienenden Bemühungen von Parker. Zwar kritisiert er deutlich die Taubheit des Rechts, welche die Internationale Gemeinschaft daran gehindert habe, Simon Bikindi in einer der Sache angemessenen Weise zur Verantwortung zu ziehen.56 Jedoch gesteht auch Parker ein, dass eine größere Offenheit des ICTR gegenüber den spezifisch musikalischen Aspekten des Verfahrensgegenstandes nicht not­ wendig zu einem besseren oder gerechteren Urteil gegen Bikindi geführt hätte57 oder auch nur zu einer anderen Entscheidung in Einzelfragen des Prozesses58.59 Dementsprechend warnt Parker selbst davor, die Bedeutung der von ihm gefor­ derten Ausentwicklung einer „Acoustic Jurisprudence“ zu überschätzen.60

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Nachweise bei Grant: Musik im Dienst des Massenmords (wie Anm. 11), S. 259. Nachweise dazu sogleich unter II. Vgl. Grant: Musik im Dienst des Massenmords (wie Anm. 11), S. 265. Parker: The Musicology of Justice (wie Anm. 12), S. 224. Ebd., S. 224. Parker: Acoustic Jurisprudence (wie Anm. 47), S. 178. Entsprechend vage bleiben die von Parker: Acoustic Jurisprudence (wie Anm. 47), S. 6, formulierten Ziele seiner Studie. Parker: Acoustic Jurisprudence (wie Anm. 47), S. 132 f.

65

II.

Speziell zu Simon Bikindi und Serj Tankian

Im Hinblick auf Simon Bikindi wird im Folgenden zur Hauptsache auf das gegen ihn vor dem ICTR durchgeführte Strafverfahren eingegangen. Die Anklagebehörde warf Bikindi unter anderem vor, durch seine Musik und Reden zu Hass und Ge­ walt gegen Angehörige der Tutsi-Minderheit aufgerufen zu haben.61 Mit Blick auf Bikindis Musik widmete sich der ICTR in seiner erstinstanzlichen Entscheidung ausführlich dreien seiner Lieder, die auch im Internet auf YouTube angehört wer­ den können: erstens „Twasezereye (We Said Good Bye to the Monarchy)“, zwei­ tens „Nanga Abahutu (I Hate These Hutu)“ und drittens „Bene Sebahinzi (Descendants of the Father of Farmers)“ bzw. „Intabaza (The Alert)“.62 Alle diese drei Lieder zeichnen sich durch die Verwendung einer poetischen Sprache mit vielen Metaphern aus, denen der Aufruf zum Genozid nur mittelbar entnommen werden kann.63 Zwar war das Gericht in tatsächlicher Hinsicht der Auffassung, dass alle drei Lieder die Geschichte Ruandas verfälscht so schildern, dass die Solidarität der Hutu untereinander gestärkt wird.64 Auch war die Kammer der Ansicht, dass in den Liedern „Nanga Abahutu“ und „Bene Sebahinzi“ die Tutsi als Unterdrücker und Feinde der Hutu erscheinen und für die Probleme in Ruanda verantwortlich

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ICTR: Trial Chamber (wie Anm. 9), Rn. 8. Ebd., Rn. 186 ff., 206 ff.; näher zu dem Streit um die Titel der Songs Benesch: The ICTR’s Prosecution of a Pop Star (wie Anm. 19), 447 (447 Fn. 5); Parker, The Musico­ logy of Justice (wie Anm. 12), S. 213 Fn. 6; Parker: Acoustic Jurisprudence (wie Anm. 47), S. 51 f. Näher zu der in den Texten verwendeten Sprache ICTR: Trial Chamber (wie Anm. 9), Rn. 197 ff.; die Texte von Twasezereye und Nanga Abahutu sind in englischer Sprache abgedruckt bei Gowan, Jennifer: Fanning the Flames: A Musician’s Role in the Rwandan Genocide, Note Bene: Canadian Undergraduate Journal of Musicology, Volume 4, Issue 2, Article 9; ausführlich zu den Texten aller drei Lieder McCoy: Mbwirabumva (wie Anm. 51), S. 150 ff. ICTR: Trial Chamber (wie Anm. 9), Rn. 254.

66

gemacht werden.65 Diese beiden Lieder seien von Bikindi auch mit dem Ziel kom­ poniert worden, eine Ideologie pro Hutu und Propaganda gegen die Tutsi zu ver­ breiten, und auf diese Weise ethnische Spannungen zu fördern.66 Ferner hat der ICTR in seinen rechtlichen Ausführungen zur Bedeutung der Meinungsfreiheit den Standpunkt vertreten, dass diese einer Verurteilung wegen Aufhetzung zum Völkermord nicht entgegenstehe.67 Auch wenn die betreffende Aussage ein Musikstück begleite, sei sie aus rechtlicher Sicht einer Rede vergleich­ bar.68 Ob sie im Einzelfall als Aufhetzung zum Völkermord anzusehen sei, sei von zahlreichen Umständen abhängig. Dazu gehörten der kulturelle und sprachliche Kontext, die politische und gesellschaftliche Stellung des Verfassers und seine Zu­ hörerschaft. Der Aufruf zum Völkermord müsse nicht ausdrücklich erfolgen, sondern könne je nach Kontext auch implizit zum Ausdruck gebracht werden.69 In seinen weiteren rechtlichen Erwägungen hat der ICTR eine Strafbarkeit Bikin­ dis wegen Aufhetzung zum Völkermord gleichwohl abgelehnt, weil dem Musiker nicht die für eine Verurteilung notwendige Absicht nachgewiesen werden könne, zum Völkermord aufzurufen. Keines der drei in Rede stehenden Lieder könne per se als Aufhetzung zum Völkermord angesehen werden, so dass das bloße Schreiben der Lieder für eine Strafbarkeit nicht ausreiche. 70 Für die spätere Verwendung seiner Songs während des Genozids insbesondere im Radio könne Bikindi nicht verant­ wortlich gemacht werden.71 Dementsprechend hielt das Gericht Bikindi der Aufhet­ zung zum Völkermord durch seine Lieder für nicht schuldig. Die Verurteilung von Bikindi zu 15 Jahren Freiheitsstrafe beruhte daher nicht auf seinen Liedern, sondern auf zwei aufhetzenden Äußerungen, die Bikindi an einem Kontrollpunkt über ein Lautsprechersystem gegenüber Angehörigen einer Hutu-Miliz gemacht hatte.72

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70 71 72

Ebd., Rn. 254.

Ebd., Rn. 254.

Ebd., Rn. 378 ff., 396 f.

Ebd., Rn. 384.

Ebd., Rn. 387; Benesch: The ICTR’s Prosecution of a Pop Star (wie Anm. 19), S. 447

(449) spricht mit Blick auf die Lieder Bikindis von “ambiguous lyrics”. ICTR: Trial Chamber (wie Anm. 9), Rn. 421. Ebd., Rn. 421 ff. Ebd., Rn. 422 ff. und zur Strafzumessung Rn. 442 ff.

67

Der Freispruch Bikindis hinsichtlich seiner Lieder hat der breiten Rezeption der gegen ihn ergangenen Entscheidung im Schrifttum freilich keinen Abbruch ge­ tan.73 In der umfangreichen Diskussion des Urteils lassen sich ein juristischer und ein musikwissenschaftlicher Schwerpunkt ausmachen.74 Zum einen kreisen die Besprechungsaufsätze um die vom ICTR näher erörterte rechtliche Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Umständen auch Musik­ stücke ein Aufhetzen zum Völkermord darstellen können. 75 Insoweit wird im Schrifttum zunächst übereinstimmend gewürdigt, dass der ICTR erstmals in der Geschichte gerichtlich anerkannt habe, dass ein Völkerrechtsverbrechen auch mittels Musik begangen werden könne.76 Bezüglich der inhaltlichen Bewertung der Entscheidung sind die Stimmen im Schrifttum geteilt. Auf der einen Seite hat der ICTR Zustimmung erfahren.77 Auf der anderen Seite haben sich mit Blick auf die Meinungsfreiheit aber auch mehrere Autorinnen und Autoren bemüht, alter­ native Vorschläge zur Abgrenzung von strafbaren und nicht strafbaren Äußerun­ gen zu entwickeln.78 Dieser Teil der Diskussion soll im Folgenden nicht weiter verfolgt werden, weil der ICTR insoweit jedenfalls im Ausgangspunkt Zustim­ mung verdient und wenig Anlass besteht, der vergleichsweise ausdifferenzierten Debatte eine weitere Nuance hinzuzufügen. Größere Aufmerksamkeit verdient im hiesigen Kontext vielmehr der zweite Schwerpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung.

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Vgl. die zahlreichen Nachweise bei Parker: Acoustic Jurisprudence (wie Anm. 47), S. 55 ff. Ebd., S. 56. Vgl. etwa Benesch: The ICTR’s Prosecution of a Pop Star (wie Anm. 19), S. 447. Grant: Musik im Dienst des Massenmords (wie Anm. 11), S. 261 f.; Benesch: The ICTR’s Prosecution of a Pop Star (wie Anm. 19), S. 447; Parker: Acoustic Jurispru­ dence (wie Anm. 47), S. 2. Ligeti, Katalin: Commentary on Prosecutor v. Bikindi Judgement, The International Criminal Tribunal for Rwanda: November–December 2008. 2011, S. 132 (136). Vgl. etwa La Mort: The Soundtrack to Genocide (wie Anm. 13), S. 43 (58 ff.), van der Wilt, Harmen: Between Hate Speech and Mass Murder: How to Recognize Incitement to Genocide, in: van der Wilt, Harmen u.a. (Hrsg.): The Genocide Convention. The Legacy of 60 Years. Leiden 2012, S. 41 ff., 47 ff.; jeweils m.w.N.

68

Zum anderen hat sich ein Teil der Literatur im Laufe der Zeit nämlich immer stärker den zahlreichen musikalischen Aspekten des Strafprozesses gegen Simon Bikindi zugewandt, der bereits während des Verfahrens als musical trial bezeich­ net wurde. 79 Dabei lassen sich mindestens vier Ebenen unterscheiden. Erstens wäre Bikindi, wie erwähnt, nicht vor dem ICTR angeklagt worden, wenn er nicht ein so bekannter Musiker gewesen wäre.80 Zweitens standen, wie ebenfalls bereits ausgeführt, drei seiner Lieder als mögliche Begehungsform eines Völkerrechts­ verbrechens im Mittelpunkt des gegen ihn geführten Strafverfahrens.81 Drittens musste sich die Rechtsmittelkammer des ICTR mit dem Vorbringen der Vertei­ digung auseinandersetzen, die Tatsacheninstanz habe nicht strafmildernd be­ rücksichtigt, dass Bikindi auch Lieder für den Frieden in Ruanda komponiert hatte.82 Viertens hat Bikindi sein letztes Wort zum Abschluss des erstinstanzli­ chen Verfahrens nicht gesprochen, sondern gesungen.83 Unter diesen vier musikalischen Aspekten am meisten Aufmerksamkeit her­ vorgerufen hat die mögliche Strafbarkeit Bikindis wegen Aufhetzung zum Völ­ kermord durch drei seiner Lieder. Gegen die entsprechenden Ausführungen des ICTR richtet sich auch die schärfste Kritik im Schrifttum. Namentlich wird dem Gericht vorgeworfen, dass es sich zu sehr auf die Liedtexte konzentriert und die Musik im Vergleich dazu vernachlässigt habe.84 Bereits mit Blick auf den Umfang der Ausführungen habe das Gericht in seinem Urteil gerade einmal elf Zeilen der Musik Bikindis gewidmet.85 Aber auch in der Sache habe der ICTR die Musik ge­ genüber den Texten zu weit in den Hintergrund treten lassen.86 79 80 81

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Parker: Acoustic Jurisprudence (wie Anm. 47), S. 3 und 86, jeweils m.N.

Parker: The Musicology of Justice (wie Anm. 12), S. 212.

Ebd., S. 212 f.; näher zu den konkreten Anlässen, bei denen die Lieder vor Gericht ab­ gespielt wurden, Parker: Acoustic Jurisprudence (wie Anm. 47), S. 92 ff. ICTR, Appeals Chamber, Simon Bikindi v. The Prosecutor, Case No. ICTR-01-72-A, Judgement of 18. March 2010, Rn. 166 f. Ausführlich dazu Parker: Acoustic Jurisprudence (wie Anm. 47), S. 96 ff. Grant: Musik im Dienst des Massenmords (wie Anm. 11), S. 262; Parker: The Musi­ cology of Justice (wie Anm. 12), S. 215 ff. Parker: The Musicology of Justice (wie Anm. 12), S. 215; die entsprechenden Ur­ teilspassagen finden sich bei ICTR: Trial Chamber (wie Anm. 9), Rn. 195 f. Parker: The Musicology of Justice (wie Anm. 12), S. 215.

69

Dieses Vorgehen des Gerichts ist in der Literatur deswegen auf Widerspruch gestoßen, weil Musik und Text eines Liedes nicht getrennt voneinander betrachtet werden könnten.87 Daran habe auch die Hinzuziehung mehrerer Sachverständi­ ger nichts geändert, weil diese sich ungeachtet ihrer teilweise durchaus vorhan­ denen musikalischen Kompetenzen letztlich allein Fragen der Texte gewidmet hätten.88 Festzuhalten ist bezüglich der Kritik am ICTR allerdings auch der auf­ fällige Umstand, dass keine Autorin und kein Autor einmal selbst näher ausge­ führt hat, welche spezifisch musikalischen Elemente das Gericht ganz konkret hätte berücksichtigen sollen.89 Zum bisherigen Forschungsstand zu Serj Tankian lässt sich zunächst ganz all­ gemein festhalten, dass die Debatte weniger umfangreich ist als diejenige zu Si­ mon Bikindi. Ähnlich wie bei Bikindi lassen sich aber auch bei Tankian zwei Teildiskussionen unterscheiden. Auf der einen Seite finden sich hier wie dort stär­ ker auf die Musik gerichtete Betrachtungen.90 Während auf der anderen, rechtli­ chen Seite aber bei Bikindi Fragen der Rechtsanwendung im Mittelpunkt der Debatte standen, geht es in der Literatur zu Tankian in erster Linie um sein En­ gagement im Bereich der Rechtspolitik.

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Parker: The Musicology of Justice (wie Anm. 12), S. 217 und mit anschaulichen Bei­ spielen aus anderen Musikstücken auf S. 223 einschließlich Fn. 11–14. Parker: The Musicology of Justice (wie Anm. 12), S. 218 ff. Auf die Bedeutung der Stimme Bikindis für die Aussage seiner Lieder sei das Gericht überhaupt nicht einge­ gangen; Parker: Acoustic Jurisprudence (wie Anm. 47), S. 129 f. Auch sei unzureichend berücksichtigt worden, dass das Anhören von Musik nicht unabhängig von der jewei­ ligen Situation erfasst werden könne; ebd., S. 85 f. Parker: The Musicology of Justice (wie Anm. 12), S. 225, verweist insoweit auf die insge­ samt schmale Literaturgrundlage; auch der Musikwissenschaftler McCoy: Mbwirabumva (wie Anm. 51), hat sich zur Hauptsache auf die Texte Bikindis konzentriert und dessen Musik nur wenig Aufmerksamkeit gewidmet (S. 368). Aitken: Attack/Affect (wie Anm. 35), S. 65.

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Serj Tankian, System of a Down © ZUMA Press, Inc / Alamy Stock Photo 71

Mit Blick auf das rechtspolitische Engagement Tankians ist der Völkermord an den Armeniern zwar nicht der einzige Gegenstand seines Interesses. Insbeson­ dere die von Tankian gemeinsam mit Tom Morello, dem Gitarristen von Rage against the Machine, gegründete Organisation „Axis of Justice“ beispielsweise war thematisch deutlich breiter aufgestellt.91 Gleichwohl bildete der Völkermord an den Armeniern erkennbar einen Schwerpunkt des politischen Einsatzes von Tankian. Zu denken ist beispielsweise an seine Unterstützung einer in den Verei­ nigten Staaten im Jahr 2000 geplanten Parlamentsabstimmung auf Bundesebene über eine Resolution zur Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern.92 Ein weiteres Beispiel waren die jährlich am 24. April organisierten Benefizkon­ zerte von System of a Down zur Erinnerung an den Völkermord.93 Im Jahr 2005 äußerte sich Tankian bei einer Versammlung vor dem Haus eines Bundespoliti­ kers in Illinois mit dem Ziel, diesen zur Abgabe seiner Stimme für zwei weitere Resolutionen zur Anerkennung des Völkermordes an den Armeniern zu bewe­ gen.94 Aufgrund seiner Verdienste wurde Tankian bei einem Besuch in Armenien vom armenischen Außenminister empfangen.95 Vor diesem Hintergrund sagte Tankians Bandkollege Shavo Odadjian, dass System of a Down mehr für die Armenier getan hätten als irgendeine andere Per­ son in den Vereinigten Staaten. Erst sie hätten Armenien wieder auf die Landkarte gesetzt. 96 Im gleichen Zusammenhang verwies Odadjian zustimmend auf eine Äußerung des Musikers will.i.am von den Black Eyed Peas. Dieser habe einmal zutreffend geäußert, dass es keine andere Band gebe, hinter der eine ganze Nation stehe. Wo immer auf der Welt man einen Armenier treffe, kenne dieser System of a Down und unterstütze die Band.97 Neben seinem beschriebenen allgemeinen politischen Engagement gilt im Fol­ genden das besondere Interesse auch bei Serj Tankian seiner Musik. Tankians

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Myers: System of a Down (wie Anm. 21), S. 147 f.

Ebd., S. 111.

Ebd., S. 133.

Ebd., S. 187 f.

Ebd., S. 189.

Ebd., S. 190.

Ebd., S. 190.

72

Band System of a Down hat den Völkermord an den Armeniern in mehreren Liedern zum Gegenstand gemacht. Von ihrem ersten, selbstbetitelten Album aus dem Jahr 1998 werden in der Literatur insoweit die Songs „War?“ und „P.L.U.C.K.“ genannt.98 Im Hinblick auf das 2001 veröffentlichte Album Toxicity wird darauf hingewiesen, dass der wohl bekannteste Song „Chop Suey“ den ar­ menischen Dichter Father Armeni zitiere. Dieser habe in einem Werk über den Völkermord an den Armeniern an Gott gerichtet gefragt „why have you forsaken me in your eyes?“. An anderer Stelle habe er von einem „self righteous suicide“ geschrieben. 99 Die 2005 erschienene Platte „Hypnotize“ enthält wieder zwei Songs, die im Schrifttum als Äußerungen zum Völkermord an den Armeniern angesehen werden, nämlich zum einen den Titel „Attack“100 und zum anderen das Lied „Holy Mountains“101. Obwohl die zu System of a Down und Serj Tankian veröffentlichte Fachliteratur weniger umfangreich ist als die zu Simon Bikindi, ist sie in einer für die hiesigen Betrachtungen wichtigen Frage doch einen entscheidenden Schritt weiterge­ gangen. Denn im Hinblick auf System of a Down finden sich immerhin gezielte Bemühungen, Lieder der Band mit Bezügen zum Völkermord an den Armeniern auf ihre spezifisch musikalischen Elemente hin näher zu untersuchen.102 Der Komponist und Dirigent Aitken hat sich insoweit insbesondere den Liedern „Attack“ und „Holy Mountains“ von dem Album „Hypnotize“ gewidmet.103 Nach seiner Ansicht kann die Musik von System of a Down als Darstellung des Völker­ mordes an den Armeniern verstanden werden.104 Die Band bringe Zuhörer gerade 98

99 100

101 102 103 104

Ebd., S. 77 und 78 f. Während der Titel War? noch weniger direkt den Genozid an den Armeniern behandele, nehme P.L.U.C.K. (das für Politically, Lying, Cowardly, Killers stehe) unmittelbar auf ihn Bezug; ebd., S. 78 f. Zum Artwork des Albums, das auf den aus Deutschland stammenden, 1933 emigrierten Kommunisten Helmut Herzfeld (spä­ ter John Heartfield) Bezug nehme, ebd., S. 79. Ebd., S. 123. Aitken: Attack/Affect (wie Anm. 35), S. 65 (70 ff.); demgegenüber stellt Myers: System of a Down (wie Anm. 21), S. 184 keinen solchen Bezug her. Aitken: Attack/Affect (wie Anm. 35), S. 65 (74 ff.). Ebd., S. 65 (68). Ebd., S. 65 (70 ff.). Ebd., S. 65 (66).

73

durch ihre Musik dazu, ihr Wissen über den Völkermord an den Armeniern zu reflektieren.105 Musik und Text könnten nicht unabhängig voneinander interpre­ tiert werden.106 Der Text des Songs „Attack“ beschreibt nach Aitkens Deutung zahlreiche Formen der Gewalt, wie sie den Armeniern während des Völkermordes und danach zugefügt wurde.107 Die den Song strukturierenden Gitarrenriffs würden beim Zu­ hörer jedes Gefühl für Kontinuität verhindern.108 Dieses Ziel der Destabilisierung werde durch Wechsel des Timbres, der Dynamik und der Intensität noch ver­ stärkt.109 Die vielen Unterbrechungen und Wechsel innerhalb der Komposition könnten daher als Repräsentation des Völkermordes an den Armeniern verstan­ den werden.110 Man mag Aitkens Sprache, die ich in meiner Übersetzung aus Gründen der bes­ seren Verständlichkeit vereinfacht habe, sehr vage finden und seine Interpretation der Musik von System of a Down auch in der Sache als zu weitgehend ansehen. Festzuhalten ist immerhin, dass er mit seinen Bemühungen einen Schritt weiter­ gegangen ist als die Kritiker des ICTR im Fall Bikindi und wenigstens einen mög­ lichen Weg hin zu einer Annäherung an die Musik gewiesen hat.

III. Zwischenergebnisse Für die weiteren Überlegungen lassen sich daher folgende Zwischenergebnisse festhalten. Erstens deuten die Ausführungen zum allgemeinen Forschungsstand zu Völkerstrafrecht und Musik darauf hin, dass die Diskussion wegen ihrer Inter­ disziplinarität wichtige Fragen nach der jeweiligen Fachkompetenz der einzelnen Autoren und Autorinnen aufwirft. Zweitens ist in der allgemeinen Debatte bis­ lang offengeblieben, welche praktischen Konsequenzen aus der Beschäftigung mit

105 106 107 108 109 110

Ebd., S. 65 (69). Ebd., S. 65 (76). Ebd., S. 65 (70). Ebd., S. 65 (71). Ebd., S. 65 (72). Ebd., S. 65 (73).

74

dem Thema folgen. Drittens haben es die Kritiker des ICTR bezüglich des Ver­ fahrens gegen Simon Bikindi bei dem Vorwurf belassen, dass das Gericht die mu­ sikalischen Aspekte des Verfahrensgegenstandes vernachlässigt habe; der positive Nachweis, wie und mit welchem Ertrag diese Einbeziehung hätte erfolgen sollen, wurde hingegen bislang nicht geliefert. Viertens lassen sich demgegenüber mit Blick auf die Musik von System of a Down Bemühungen um eine nähere Analyse ausmachen.

C. Eigene Erhebung I.

Konkretisierung der Fragestellungen

Anknüpfend an die vorstehenden Ausführungen zum bisherigen Forschungs­ stand können nun zwei konkrete Forschungsfragen formuliert werden. Erstens: Haben bei Musikstücken wie denen von Simon Bikindi und Serj Tankian neben den Texten auch die spezifisch musikalischen Elemente eine eigenständige Be­ deutung für das Verhältnis von Völkerstrafrecht und Musik und gegebenenfalls welche? Zweitens: Welche praktischen Konsequenzen ergeben sich daraus für die Rechtspraxis und die Wissenschaft?

II.

Methodische Vorüberlegungen

Zur Beantwortung dieser Forschungsfragen war zunächst die ganz allgemeine Vorfrage zu klären, aus der Perspektive welcher wissenschaftlichen Fachrichtung das Thema zweckmäßigerweise untersucht werden kann. Ein Musikwissenschaft­ ler könnte sich dem Material aufgrund seiner eigenen Kompetenz annähern, wie es beispielsweise Aitken im Hinblick auf die Musik von System of a Down getan hat.111 Mir persönlich fehlt selbst als ehemaligem Musiker – genauer Bassist – die

111

Ebd., S. 65.

75

dafür erforderliche Fachkompetenz. Dies gilt in besonderem Maße für die Lieder Simon Bikindis, die ihre Wurzeln in der ruandischen Volksmusik haben.112 Aber auch bezüglich Serj Tankian fehlen mir fundierte Kenntnisse hinsichtlich der ar­ menischen Elemente seiner Musik. Das Gleiche gilt für die von ihm nach seiner Zeit als Sänger von System of a Down komponierte Filmmusik.113 Vor diesem Hintergrund lag es mit Blick auf meine eigenen fachlichen Kompe­ tenzen nahe, mich dem Thema in einem ersten Schritt als Kriminologe im Wege einer empirischen Erhebung anzunähern (dazu C.III. und C.IV.) und in einem zweiten Schritt als Strafrechtler aus meinen Ergebnissen gegebenenfalls (völker­ straf-)rechtliche oder kriminalpolitische Folgerungen zu ziehen (dazu C.V.). Für den ersten, empirischen Schritt kam aus dem Bereich der Sozialforschung insbesondere die qualitative Erhebungsmethode des Experteninterviews in Be­ tracht.114 Dabei stellte sich insbesondere die Frage, wer für die hiesigen Fragestel­ lungen ein geeigneter Experte sein könnte.115 Nahe lagen Gespräche mit Personen, die besonders qualifiziert über die Musik von Simon Bikindi und Serj Tankian Auskunft geben könnten. In Betracht kamen zum einen Wissenschaftler wie die Sachverständigen in dem Verfahren gegen Simon Bikindi oder der mit System of a Down vorbefasste Aitken.116 Zum anderen erschien es möglich, die Musiker Simon Bikindi und Serj Tankian selbst zu ihren Liedern zu befragen. Da die eige­ nen Einschätzungen der Musiker besonders interessant erschienen und unmittel­ bare Eindrücke über das Thema versprachen, entschied ich mich für die zweite Variante und führte dementsprechend zwei halbstrukturierte Experteninterviews mit Simon Bikindi und Serj Tankian.

112

113

114

115

116

Vgl. zu dem Umgang mit Kompetenzproblemen in diesem Bereich Grant: Musik im Dienst des Massenmords (wie Anm. 11), S. 260. Vor diesem Hintergrund kann die Frage offenbleiben, ob Kompetenzen als Musiker aus dem Bereich Punkrock ausreichen würden, um Lieder aus dem benachbarten Genre des ebenfalls der Gitarrenmusik zuzuzählenden (Alternative) Metal zu analysieren. Allgemein zur Erhebungsmethode der Experteninterviews Döring, Nicola/Bortz, Jür­ gen: Forschungsmethoden und Evaluation. Berlin 5. Auflage 2016, S. 375 f. Allgemein zum Begriff des Experten Lamnek, Siegfried/Krell, Claudia: Qualitative So­ zialforschung. Weinheim 6. Auflage 2016, S. 687. Aitken: Attack/Affect (wie Anm. 35), S. 65.

76

III. Durchführung der Erhebung Bei der Vorbereitung der Interviews erwies sich die allgemeine Methodenliteratur nur auf einer sehr grundsätzlichen Ebene als hilfreich. Zwar leuchtete unmittelbar ein, dass man auch für den Zugang zu Simon Bikindi und Serj Tankian sogenannte Gatekeeper ausfindig machen und davon überzeugen musste, dass das hiesige Forschungsvorhaben ihre Unterstützung und die der beiden Musiker verdient.117 Keinerlei Anhaltspunkte enthielt das methodische Schrifttum jedoch zu der spezi­ ellen Frage, wie man einen mittlerweile aus dem Strafvollzug entlassenen afrikani­ schen Völkerrechtsverbrecher ausfindig macht. Das Gleiche gilt für das Verein­ baren eines Interviews mit einem bekannten Rockmusiker, der in Kalifornien und Neuseeland lebt. Beim Zugang zu beiden Musikern erwiesen sich meine Erfah­ rungen aus früheren eigenen empirischen Forschungen im Bereich des Völker­ strafvollzugs einerseits und als früherer Musiker, Musikinteressierter und Mitgesellschafter einer Plattenfirma andererseits als hilfreich. Bezüglich Simon Bikindi ergab eine Recherche im Internet zwar, dass er seine vom ICTR verhängte 15-jährige Freiheitsstrafe bis 2016 im westafrikanischen Be­ nin verbüßt hatte. Jedoch fanden sich dort keine Hinweise darauf, ob er nach sei­ ner Haftentlassung im Benin geblieben, nach Ruanda zurückgekehrt oder in ein anderes Land gezogen war. Im Rahmen einer Erhebung zum Völkerstrafvollzug in Deutschland war es gelungen, entlassene Völkerrechtsverbrecher auf dem Bal­ kan über persönliche Kontakte zu Journalistinnen und Journalisten und deren Netzwerke vor Ort ausfindig zu machen.118 Im Hinblick auf Simon Bikindi hatte ein solches Vorgehen leider keinen Erfolg. Nach mehrmonatigen erfolglosen Be­ mühungen verhalfen mir schließlich Kontakte zu im Bereich des Völkerstraf­ rechts tätigen Justizpraktikern zur E-Mailadresse und Telefonnummer von Simon Bikindi, so dass ich mit ihm Kontakt aufnehmen konnte. Er lebte immer noch im Benin. 117

118

Allgemein zur Bedeutung sog. Gatekeeper in der empirischen Sozialforschung Döring/ Bortz: Forschungsmethoden (wie Anm. 114), S. 337; Lamnek/Krell: Qualitative Sozial­ forschung (wie Anm. 115), S. 568. Knauer, Florian: Völkerstrafvollzug in Deutschland (in Vorbereitung).

77

Hinsichtlich Serj Tankian rief ich zunächst in der Redaktion des Musikmaga­ zins „Visions“ an und fragte nach, wie sie für ein Interview Kontakt zu Serj Tankian aufnehmen würden. Dort nannte man mir eine Ansprechpartnerin bei Tankians Plattenfirma, die nach einem Telefongespräch freundlicherweise zu­ sagte, meinen Gesprächswunsch per Mail an Serj Tankian weiterzuleiten. Beiden Musikern stellte ich im Rahmen meiner Interviewanfrage anheim, ob sie dieses gegebenenfalls per E-Mail, am Telefon, via Skype oder bei einem Treffen in einem persönlichen Gespräch führen wollten.119 Während Simon Bikindi ein persönliches Treffen im Benin vorschlug, wollte Serj Tankian meine Fragen per E-Mail beantworten. Mit Simon Bikindi führte ich dementsprechend im März 2018 im Benin ein knapp dreistündiges, halbstrukturiertes Interview. Da meine Kenntnisse der fran­ zösischen Sprache für die Durchführung des Interviews nicht ausreichten, über­ setzte ein von der Deutschen Botschaft in Cotonou vermittelter Dolmetscher das Gespräch vom Deutschen ins Französische und umgekehrt.120 Mit Serj Tankian konnte ich mich zwar unproblematisch in englischer Sprache verständigen. Jedoch musste ich bei seiner Befragung mit der besonderen Schwie­ rigkeit umgehen, dass ich aufgrund der indirekten Kommunikation mittels über seine Plattenfirma weitergeleiteten E-Mails seine anderweitigen Arbeitsbelastun­ gen und seine allgemeine Motivationslage schwer abschätzen konnte. Angesichts dieser Unsicherheit reduzierte ich meinen ursprünglich deutlich umfangreicheren Fragenkatalog während der Formulierung meiner Anfang Juni 2018 abgesendeten E-Mail immer mehr, so dass diese schließlich nur noch rund zehn Einzelfragen umfasste.

119

120

Zu den verschiedenen Formen von Interviews Lamnek/Krell: Qualitative Sozialfor­ schung (wie Anm. 115), S. 313 ff.; vertiefend Scholl, Armin: Die Befragung. Konstanz 4. Auflage 2018, S. 29 ff. Zur Bedeutung von Dolmetschern in der empirischen Sozialforschung Lamnek/Krell: Qualitative Sozialforschung (wie Anm. 115), S. 682 ff.

78

Simon Bikindi, Tunde Francois Diogo (Dolmetscher), Prof. Dr. Florian Knauer, 2018 © Florian Knauer

IV. Ergebnisse der Erhebung Inhaltlich kreisten die Fragen an beide Musiker zur Hauptsache um allgemeine Grundkategorien von Musik jenseits des Textes wie namentlich die jeweiligen In­ terpreten, die Songauswahl, die Instrumentation und den Rhythmus. Erstens fragte ich Bikindi und Tankian nach der Auswahl der Interpreten ihrer Musik. Bezüglich Simon Bikindi bestanden zwar keine Zweifel, dass er seine Lie­ der selbst gesungen hat, was er in dem Interview noch einmal bestätigte. Jedoch war mir beim Anhören seiner Musik aufgefallen, dass seine Lieder (zum Beispiel in „Bene Sebahinzi“/„Intabaza“) bisweilen Wechselgesänge mit Chören enthielten. Auf meine entsprechende Nachfrage sagte Bikindi, dass diese Passagen von rund zehn Mitgliedern des von ihm geleiteten Irindiro-Balletts eingesungen worden seien. Unter den Sängern und Sängerinnen seien auch mehrere Angehörige der Tutsi-Minderheit gewesen. Ich fragte nach, ob das Mitwirken von Tutsi an der Aufnahme eines Liedes, das nach Ansicht der Anklage zum Hass gegen die Tutsi aufrufe, nicht vor Gericht als entlastender Umstand hätte vorgetragen werden kön­ nen. Bikindi verwies hierzu lediglich darauf, dass bereits der allgemeine Umstand, 79

dass in dem von ihm geleiteten Irindiro-Ballett mehrere Tutsi Mitglied waren, seitens des Gerichts kein Interesse gefunden habe. Auch Serj Tankian hat die von ihm – für System of a Down teilweise gemein­ sam mit seinem Gitarristen Daron Malakian – getexteten Lieder überwiegend selbst gesungen. Anders verhielt es sich allerdings beispielsweise mit dem Lied „Sari Siroun Yar“, das Tankian für den Soundtrack zu dem Film „The Promise“ beigesteuert hat. Bei dem Song handelt es sich um ein altes armenisches Volkslied, das Tankian für den Film neu arrangiert hat. Eingesungen wurde es von der schweizerischen Sängerin Veronika Stadler, die keine armenischen Wurzeln hat. Ich fragte Tankian, ob für die Auswahl der Interpretin deren armenische oder nichtarmenische Herkunft ein Kriterium gewesen sei. Immerhin hätte ja bereits durch die Auswahl der Sängerin eine bestimmte Aussage transportiert werden können. Beispielsweise hätte es doch einen Unterschied gemacht, ob das Lied in dem Film von einer Sängerin mit armenischen Wurzeln, einer Interpretin mit türkischem Hintergrund oder von einem amerikanischen Popstar gesungen wor­ den wäre. Tankian antwortete, dass er Veronika Stadler bereits früher armenische Lieder habe singen hören. Auch habe sie in einem anderen Zusammenhang schon einmal ein von ihm geschriebenes Lied eingesungen. Für ihn habe es sich daher quasi von selbst ergeben, dass Veronika Stadler das Lied für den Film interpretiert habe. In erster Linie sei es ihm darum gegangen, das in der armenischen Com­ munity sehr bekannte Lied „Sari Siroun Yar“ musikalisch und gesanglich frisch zu arrangieren. Zweitens fragte ich Tankian erneut speziell mit Blick auf das Lied „Sari Siroun Yar“ von dem Soundtrack zu dem Film „The Promise“ auch noch, warum er ge­ rade diesen Song ausgewählt hat, etwa, weil er in einem besonderen Zusammen­ hang mit dem im Film behandelten Völkermord an den Armeniern steht. Tankian schrieb dazu, dass der Protagonist in dem Film aus der Stadt Siroun ge­ stammt habe, sodass das Lied deswegen gepasst habe. Inhaltlich behandle der Song zwar nicht den Genozid. Im Film diene er aber als Verweis auf frühere Zei­ ten, in denen die Armenier in der Türkei ein wenigstens einigermaßen normales Leben hätten führen können. Drittens fragte ich Simon Bikindi und Serj Tankian, ob und gegebenenfalls in­ wieweit die Instrumentation ihrer Lieder eine Bedeutung für die Aussagen ihrer Songs haben. An Simon Bikindi richtete ich die Frage deswegen, weil ich selbst nicht beurteilen konnte, ob es in der ruandischen Musik Instrumente gibt, die für 80

die Hutu typisch sind oder vor allem von Tutsi gespielt werden. Auch auf diese Weise hätte ja eine Aussage darübergemacht werden können, wie die Texte der Lieder zu verstehen sind – etwa, weil der Interpret sich bereits durch die Instru­ mentation einer der beiden am Konflikt beteiligten Gruppen zuordnet oder eben nicht. Mit Blick auf Deutschland könnte man beispielsweise an die mittlerweile aufgelöste, aus Bayern stammende Musik- und Kabarettgruppe Biermösl Blosn denken, deren die bayrische Obrigkeit kritisierenden Texte durch ihre volksmu­ sikartige Instrumentation ganz sicher anders transportiert wurden, als dies durch die Verwendung außerhalb Bayerns gebräuchlicher Instrumente möglich gewe­ sen wäre. Nach Bikindis Einschätzung gibt es in Ruanda allerdings keine typi­ schen Instrumente der Hutu einerseits und der Tutsi andererseits. Ähnlich knapp antwortete Serj Tankian auf meine entsprechende Frage. Die von ihm für seine Musik verschiedentlich genutzte oboenähnliche Duduk sei noch das wichtigste typisch armenische Instrument in seiner Musik, die im Übrigen aber überwiegend klassisch instrumentiert sei. Die Duduk werde ganz allgemein für das Transportieren melancholischer Stimmungen eingesetzt, auch solche mit Blick auf den Völkermord an den Armeniern. Viertens stellte ich in beiden Interviews Fragen zum Rhythmus der Lieder. Simon Bikindi äußerte insoweit zunächst, dass er beim Komponieren seiner Lieder in der Regel vom Rhythmus und der Melodie ausgehe und erst später den Text dazu entwickle. Ähnlich wie bei der Instrumentierung fragte ich nach, ob in der Musik der Hutu und der Tutsi unterschiedliche Rhythmen Verwendung finden. Bikindi verneinte auch dies. Die verschiedenen Rhythmen in Ruanda könnten nicht den unterschiedlichen Volksgruppen zugeordnet werden, sondern lediglich bestimm­ ten Regionen des Landes. Vor dem ICTR seien entsprechende Fragen nicht ein­ mal thematisiert worden. Meine Fragen an Serj Tankian zum Thema Rhythmus gingen in eine etwas an­ dere Richtung. Beim Anhören des Liedes „P.L.U.C.K.“ von System of a Down war mir aufgefallen, dass Textpassagen mit einem besonders engen Bezug zum Völker­ mord an den Armenien („A whole race genocide …“) von einem sehr tanzbaren Off-Beat-Rhythmus begleitet wurden. Das erschien mir deswegen bemerkens­ wert, weil für die Lieder von System of a Down im Übrigen der Wechsel zwischen melodischen Gesangsteilen einerseits und harten Gitarrenriffs und Shouts ande­ rerseits charakteristisch ist. Ich fragte Serj Tankian daher, ob die Band den tanz­ baren Rhythmus eventuell deswegen bewusst gewählt habe, um die Aussage der 81

Textzeilen durch das begleitende Auf- und Abspringen des Livepublikums gezielt zu unterstreichen. Tankian antwortete darauf, dass solche Elemente der Kompo­ sition eher musikalischem Instinkt folgten. Allgemein gesprochen denke die Band mehr über die Texte nach als über die Musik. Zu dem speziellen rhythmischen Element des Breaks fragte ich Tankian ferner, ob die Interpretation Aitkens zutrifft, dass der auffällige Einsatz von Unterbre­ chungen in dem Lied Attack als Bezugnahme auf den Völkermord an den Arme­ niern zu interpretieren sei. Tankian schrieb mir dazu, dass die Breaks in dem Song nichts mit dem Völkermord zu tun hätten, sondern seiner Erinnerung nach aus­ schließlich aus Gründen des musikalischen Effekts in den Song eingefügt worden seien. Aus gänzlicher Ruhe in die volle Lautstärke zu wechseln sei schlicht dyna­ mischer als der Übergang von ruhiger zu lauter Musik. Möchte man aus den Antworten von Bikindi und Tankian zu den genannten Einzelaspekten der Musik einige allgemeine Überlegungen entwickeln, so ergibt sich folgendes Bild. Im Hinblick auf das Verfahren gegen Simon Bikindi ist deutlich geworden, dass eine nähere Betrachtung der musikalischen Elemente seiner Lieder vor Gericht durchaus lohnenswert gewesen wäre. Dies gilt insbesondere für die Frage nach den Interpreten und Interpretinnen, die mit ihm gemeinsam die Lieder eingesungen haben. Dass Angehörige der Tutsi-Minderheit auf der Aufnahme eines Liedes mitgesungen haben sollen, das nach Ansicht der Anklagebehörde und des ICTR zum Hass gegen die Tutsi aufruft, erscheint durchaus als ein auch vor Gericht diskussionswürdiger Umstand. Dies gilt umso mehr, als Bikindi in dem Interview noch ergänzte, dass Kassetten mit seinen Liedern im ganzen Land auch von Tutsi verkauft worden seien. Demgegenüber haben Fragen zur Instrumentation und zum Rhythmus seiner Lieder jedenfalls im konkreten Fall Bikindi keinen greifba­ ren Ertrag gebracht, weil es nach Bikindis Einschätzung insoweit keine typischen Unterschiede zwischen Hutu und Tutsi gibt. Dies schließt freilich nicht aus, dass in künftigen (Völker-)Strafverfahren wegen Taten in anderen Regionen und zwi­ schen anderen Volksgruppen derartige Fragen von Bedeutung sein könnten. Bezüglich Serj Tankian ergibt sich ein ähnlich differenziertes Bild. Einerseits lassen seine Antworten zur Songauswahl (bei „Sari Siroun Yar“) und zur Instru­ mentation (bei der Verwendung der Duduk) erkennen, dass in seiner Musik auch jenseits des bloßen Textes bedeutsame Aspekte zu entdecken sind. Andererseits mahnen seine Ausführungen speziell zu Fragen des Rhythmus einschließlich der 82

von Aitken möglicherweise überinterpretierten Breaks in dem Song „Attack“ zur Zurückhaltung gegenüber zu weitgehenden Folgerungen aus musikalischen Teil­ elementen seiner Lieder.

V.

Folgerungen für Praxis und Wissenschaft

Für die Praxis und Wissenschaft sind die Ergebnisse der Erhebung in folgender Hinsicht von Bedeutung. Mit Blick auf die gerichtliche Praxis wird man der im Schrifttum geäußerten Kritik an dem Bikindi-Urteil des ICTR zwar im Ausgangspunkt zustimmen kön­ nen. In der Tat hätte die nähere Beschäftigung mit musikalischen Aspekten jen­ seits des Textes (zum Beispiel den jeweiligen Sängerinnen und Sängern) Fragen aufgeworfen, die für die Interpretation der Lieder insgesamt von Bedeutung ge­ wesen wären. Demgegenüber erwiesen sich andere Aspekte wie die Instrumenta­ tion und der Rhythmus im Fall Bikindi jedoch als unergiebig. Angesichts des Umstandes, dass die Mitgliedschaft von Tutsi in dem insgesamt rund 50 Personen umfassenden Irindiro-Ballett dem Gericht bekannt war, ist daher zweifelhaft, ob die Berücksichtigung des Mitsingens mehrerer Tutsi auf den Aufnahmen der in Rede stehenden Lieder das Gericht zu einer anderen Deutung von deren Aussa­ gen bewegt hätte. Das ändert freilich nichts daran, dass die Gerichte in künftigen vergleichbaren (Völker-) Strafverfahren die Musik stärker in die Analyse des Aus­ sagegehalts aufhetzender Lieder einbeziehen müssen. Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema „Völkerstrafrecht und Musik“ haben die bisherigen Überlegungen gezeigt, dass es sich um einen Forschungsbereich handelt, der zuletzt zu Recht wachsende Aufmerksamkeit erfahren hat und dessen weitere Untersuchung lohnenswert erscheint. Wünschens­ wert wären insoweit nähere Analysen der spezifisch musikalischen Elemente entsprechender Lieder121, weitere Bemühungen um eine größere Praxisrelevanz und tiefergehende Untersuchungen zum Gesamtbereich. In besonderem Maße zu begrüßen wären Beiträge von Autorinnen und Autoren mit einer größeren 121

Ebenso McCoy: Mbwirabumva (wie Anm. 51), S. 368, der darüber hinaus auch noch die Untersuchung der Darbietungsform bei Auftritten vor Publikum einschließlich et­ waiger Choreografien anregt.

83

musikalischen Fachkompetenz als meiner eigenen, weil auf diese Weise noch de­ taillierter die spezifisch musikalischen Fragen erörtert werden könnten als dies im vorliegenden Beitrag möglich war.

D. Zusammenfassung Die Ergebnisse der vorstehenden Überlegungen lassen sich wie folgt zusammen­ fassen. Erstens handelt es sich bei dem Thema „Völkerstrafrecht und Musik“ um ein Forschungsfeld, das zuletzt verstärkt wissenschaftliche Aufmerksamkeit ge­ funden hat. Als zwei Beispiele für entsprechende Teildiskussionen können die hier vertieften Debatten über Simon Bikindi und System of a Down dienen. Zwei­ tens hat die nähere Betrachtung des bisherigen Forschungstandes ergeben, dass insbesondere der ICTR hinsichtlich seines Urteils im Verfahren gegen Simon Bikindi dafür kritisiert wurde, dass er den spezifisch musikalischen Elementen von Bikindis Liedern zu wenig Beachtung geschenkt hat. Drittens haben zwei Experteninterviews mit Bikindi und Tankian den Fokus gezielt auf die musikali­ schen Elemente ihrer Songs gelegt und dabei ein differenziertes Bild ergeben. Während einzelne musikalische Elemente wie die mitwirkenden Interpreten im Verfahren gegen Bikindi durchaus relevant hätten sein können, war dies in ande­ ren Bereichen nicht in gleichem Maße der Fall. Viertens sind weitere Studien zum Thema wünschenswert, insbesondere solche von Verfasserinnen und Verfassern mit der für weiterführende Untersuchungen erforderlichen musikalischen Fach­ kompetenz.

84

Musikalischer Hexensabbat

Prof. Dr. Wolfgang Schild Im Folgenden1 geht es um den Inhalt von Musikstücken, die einen Hexensabbat darstellen, was freilich nur möglich ist, wenn die Musik auf dieses Thema bezogen wird: als Begleitung, Unter- oder Ausmalung, Hintergrund, Unterstützung eines solchen Hexensabbats. Dabei wird dieser Inhalt durch Sprache vorgegeben: als gedichtete Szene in einem Schauspiel, die durch Bühnenmusik begleitet wird, oder als Szene eines Films, die durch Musik untermalt wird, oder als Szene in ei­ nem Opernlibretto oder als Schilderung eines Musikstücks oder eines Balletts durch ein beigegebenes Programm, das auf den Hexensabbat verweist, der musi­ kalisch dargestellt beziehungsweise getanzt werden soll. Oder durch den Titel, der einem Musikstück (auch einem Lied oder einem Popsong) gegeben wird, weil dieses über einen solchen Hexensabbat erzählt. Allerdings wird nicht immer unter dem Titel „Hexensabbat“ ein solcher musi­ kalisch dargestellt; wie auch umgekehrt in manchen Stücken, die nicht diese Be­ zeichnung führen, durchaus ein Hexensabbat Thema sein kann. Unter A. werden kurz einige solcher „uneigentlicher“ musikalischer Hexensabbate vorgestellt. Die „wirklichen“ musikalischen Hexensabbate werden unter B. in drei ein Programm ausführenden Instrumentalwerken, in Bühnenmusiken, in einigen Opern und schließlich kurz in einigen Werken aus dem Bereich der sogenannten U-Musik angesprochen. Nicht behandelt werden die Filmszenen eines Hexensabbats, die durch Musik untermalt und begleitet werden. Irgendein Anspruch auf Vollstän­ digkeit wird nicht erhoben; es geht vor allem um den Aufweis der Vielgestaltigkeit dieser musikalischen Werke.

1

Es handelt sich um eine in Text und Anmerkungen gekürzte Fassung eines Beitrages, der vollständig in dem von Wolfgang Behringer u.a. herausgegebenen Sammelband „Hexensabbat“ (voraussichtlich Bielefeld 2020) abgedruckt ist.

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A. „Uneigentliche“ musikalische Hexensabbate Zunächst werden einige Musikstücke vorgestellt, die sich im Titel auf einen He­ xensabbat beziehen, aber eigentlich keinen solchen darstellen (A.I.) beziehungs­ weise die in der Sache einen Hexensabbat erklingen lassen, ohne sich im Titel darauf zu beziehen (A.II.). Unter A.III. wird auf das gleichgerichtete Problem der „Walpurgisnacht“ hingewiesen.

I.

„Hexensabbat“ als bloßer Titel für Hexenmusik

Diese bloße Titelgebung für ein Musikstück gerät leicht in die Nähe zu der hier nicht näher zu behandelnden häufigen allgemeinen Charakteristik von Musik als einer „hexischen“ Kunst, wobei auf die zauberische Macht der Töne – die die Hö­ renden aus der Realität der Verstandeswelt entrückt und in ein Reich der Phantasie, der Irrealität, der Gefühle versetzt – abgestellt wird. Ich erwähne einige Beispiele von Musikstücken, denen der Titel „Hexensabbat“ offensichtlich auch nur deshalb gegeben wurde, weil damit eine solche hexische Musik gekennzeichnet werden soll. So nannte die 1941 geborene Pianistin und Schlagzeugerin Irene Schweizer eines ihrer im „Freejazz“-Stil 1977 aufgenommenen Stücke „Hexensabbat“, das in neun Minuten sechs Sekunden eine Musik ertönen lässt, die nicht einen Hexensabbat illustrieren, sondern nur den freien, sehr rhythmischen Klang charakterisieren soll. In gleicher Weise wählte die Heavy Metal-Band Black Sabbath für zwei ihrer Songs den Titel „Black Sabbath“ beziehungsweise „Sabbath Bloody Sabbath“; die aber mit Hexensabbat nichts zu tun haben. Einmal wird nur die Vision des Satans zum dröhnenden Erklingen gebracht, der bedrohlich auf den Sänger Ozzy Osbourne – der sich als der „Ausgewählte“ erkennt – deutet und die Flammen der Verdammnis betrachtet, wie sie höher und höher werden; im zweiten Song wird der Sabbat zwar ausdrücklich genannt, aber ebenfalls ohne jeden Bezug auf den Hexensabbat. Dies scheint auch für andere Musikgruppen aus dieser Heavy-Me­ tal-Szene zu gelten, offensichtlich, weil mit einem solchen Titel das Bedrohliche ihrer Musik verdeutlicht werden kann. So produzierten mehrere amerikanische 86

Musiker, die sich zu einer Band Hexentanz zusammengeschlossen haben, 2007 das Album „The Sabbat Comes Softly“ und 2010 das Album „Nekrocrafte“, auf denen ohne begleitenden Text Stücke mit den Titeln „Osculum Infame“, „Devil´s Mass“, „Bringer of the Luciferian Flame“, „Abjuring the Cross“ oder „Ritual Kiss to Satan“ enthalten sind. Die Lieder wollen die Atmosphäre des mittelalterlichen und modernen Hexenkults durch die Verwendung alter und neuer Instrumente, aber auch von menschlichen Knochen zum Erklingen bringen und so die Zuhö­ rer/-innen zum identifizierenden Eintauchen in diese Welt bringen. Gerne wurden und werden wilde Tänze mit diesem Titel versehen. So kompo­ nierten die beiden Wiener Walzerfürsten Joseph Lanner und Johann Strauß Vater je einen Walzer im Jahre 1843, den sie „Hexentanz“ beziehungsweise „Die Dämo­ nen“ nannten, wobei auf dem Drucktitelblatt der ersteren Komposition acht Hexen zu einer von drei Teufeln auf Violine, Viola und Violoncello gespielten Musik tanzen. Auch Johann Strauß Sohn schrieb einen Walzer „Mephistos Höllenrufe“ und – 1862 für die Künstlergruppe Hesperus – eine „Luzifer Polka“. Einige Jahre zuvor (von 1856–1860) komponierte Franz von Liszt seine vier virtuosen „Mephisto-Walzer“, wobei der erste – nach dem Faust-Gedicht von Nikolaus Lenau – das Aufspielen des Mephisto zu einem Tanz bringt, der alle dämonisiert und sie zu bacchantischem Taumel bringt. Ob mit diesen Stücken ein Hexensabbat mu­ sikalisch dargestellt werden soll, ist mehr als fraglich; es geht um wilde, dämoni­ sche Musik für einen ausgelassenen und zügellosen Tanz. Schließlich sei noch das Stück genannt, dem 1908 der US-amerikanische Pianist Edward MacDowell (1860–1908) den Titel „Witches’ Dance“ gegeben hat. Was daran der Hexentanz sein soll, wird aus der Musik nicht klar. Vielleicht sollte der Titel darauf hindeuten, dass die virtuose Bewältigung dieses schwierigen und ra­ sant zu spielenden Klavierstückes an Hexerei grenzt.

87

II.

Unbenannte musikalische Hexensabbate

Diese Einschränkung meines Materials auf Musikstücke, die sprachlich den Be­ zug zum Hexensabbat herstellen, stellt allerdings vor die weitere Schwierigkeit, dass der dabei meist verwendete sprachliche Begriff nicht zu dem in der Forschung (wie vor allem im Arbeitskreis für interdisziplinäre Hexenforschung [AKIH]) erkannten und verwendeten passt2, weshalb auch andere musikalisch begleitete Szenen oder Programme – die nicht ausdrücklich als „Hexensabbat“ bezeichnet werden – einbezogen werden könnten, weil sie für die Forschung sich als ein sol­ cher darstellen (können). Auch hier nur einige Hinweise!

1.

Walküre

Als hexenhafte Wesen – so das erste Beispiel – wurden etwa die Walküren be­ trachtet, deren todesbringender Ritt oft mit dem Wilden Heer (vielleicht als diese in den Lüften wild kämpfenden Strigen) in Verbindung gebracht wurde (unter Führung des germanischen Gottes Wuotan/Odinn, der konsequent von christli­ chen Theoretikern deshalb auch mit dem Teufel gleichgesetzt wurde)3. So sprach eine englische Predigt des 11. Jahrhunderts von wiccan and waelcyrian; so er­ zählte ein aus ungefähr derselben Zeit stammendes „Walkürenlied“ von einem Mann in Schottland, der am Karfreitag des Jahres 1014 eine schreckliche Vision gehabt habe: Es seien zwölf Frauen zu einem Gemache geritten und hätten dort ihre schauerliche Arbeit – nämlich eine Webarbeit (vergleichbar den Schicksals­ 2

3

Vgl. Schild, Wolfgang: Die Dimensionen der Hexerei, in: Lorenz, Sönke/Schmidt, Jür­ gen Michael (Hrsg.): Wider alle Hexerei und Teufelswerk. Die europäische Hexenver­ folgung und ihre Auswirkungen auf Südwestdeutschland. Ostfildern 2004, S. 1–104. Vgl. Meinck, Ernst: Die sagenwissenschaftlichen Grundlagen der Nibelungendichtung Richard Wagners. Berlin 1892; Meinck, Ernst: Richard Wagners Dichtung Der Ring des Nibelungen aus der Sage neu erläutert. Liegnitz 1920, S. 70; Zurmühl, Sabine: Leuchtende Liebe, lachender Tod. Zum Tochter-Mythos Brünnhilde. München 1984, S. 70. Zum Wilden Heer und Wuotan vgl. Behringer, Wolfgang: Chonrad Stoeckhlin und die Nachtschar. München 1994, S. 79 ff.

88

göttinnen, also den Nornen) – verrichtet, wobei Menschenköpfe als Gewichts­ steine und Gedärme als Garn und Einschlag gedient; sie hätten ihm die Zukunft vorausgesagt, nämlich Siegesglück. Folgt man dieser Kennzeichnung der Walküren als Hexengestalten, könnte man die Zusammenkunft der Walküren in Wagners Musikdrama „Die Walküre“ (1854) als Hexensabbat (mit Wotan als diese Teufelsgestalt) einbeziehen. Doch ist auch auf das Ballett „Valkyrien“ hinzuweisen, zu dem der dänische Komponist Johann Peter Emilius Hartmann (1805–1900) im Jahre 1861 die Musik schrieb und dabei vor allem an Spohr, Marschner, Schumann und Franz Liszt orientiert war.

2.

Venusberg

Wagner ist aber nochmals (für das zweite Beispiel) zu nennen. Denn 1508 brachte der Straßburger Domprediger Johann Geiler von Kaisersberg in einer Predigt „Von den Unholden und von denen Hexen“ die nachtfahrenden Frauen des Canon Episcopi mit dem Venusberg in einen Zusammenhang: Sie würden näm­ lich dorthin fahren und dort Feste feiern. Vielleicht übernahm der Prediger diese Theorie von dem italienischen Inquisitor Giovanni delle Piatte, der drei Jahre zu­ vor zahlreiche Frauen in Völs am Schlern in Südtirol auf den Scheiterhaufen ge­ bracht hatte: unter anderen wegen des Vorwurfes, in den Venusberg – in dem die nachtfahrende Göttin Herodias hause – gefahren zu sein. Schon zu Beginn des 15. Jahrhunderts hatte der Thurgauer Dichter Heinrich von Wittenweiler in sei­ nem „Ring“ die Hexen (häxen) auf den Heuberg (höperg) fliegen lassen, wo sich Riesen und Recken – darunter Dietrich von Bern – sowie Herren und Zwerge ein­ fänden; und der Heuberg galt seit alters her als Venusberg. Der Hirt Chonrad Stoeckhlin erzählte Ende des 16. Jahrhunderts von seinen Fahrten in den Venusberg. Noch im 17. Jahrhundert bekannte der Wahrsager Diel Breul aus Calbach in Hessen, er fahre während der Quatember – d.h. Mittwoch, Freitag und Samstag in den Wochen nach Pfingsten, der Kreuzerhöhung (14. September), dem Fest der Lucia (13. Dezember) und dem 1. Fastensonntag – in den Venusberg, wo ihm fraw Holt die Toten und ihre Pein zeige4.

4

Vgl. dazu Behringer: Stoeckhlin (wie Anm. 3), S. 62 f., 73, 108 ff.; Schild, Wolfgang: Holda zwischen und jenseits von Göttin und Hexengestalt. Eine christliche Geschichte,

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T.de Bry, Geiler v. Kaisersberg, Kupferstich, um 1600 © Mittelalterliches Kriminalmuseum

in: Steppan, Markus/Gebhardt, Helmut (Hrsg.): Zur Geschichte des Rechts. Festschrift für Gernot Kocher zum 65. Geburtstag. Graz 2006, S. 393–406; Schild, Wolfgang: Holda zwischen und jenseits von Göttin und Hexengestalt. Eine christliche Geschichte, in: Meininger Museen (Hrsg.): Frau Holle. Mythos, Märchen und Brauch in Thüringen. Meiningen 2010, S. 46–69.

90

Von daher müsste Wagners „Tannhäuser“ (1845) genannt werden, jedenfalls für die Erweiterung 1861 für die Pariser Aufführung, in der er das Ballett im Ve­ nusberg erweiterte und mit Szenen bereicherte, die das Prädikat „Jugendverbot“ verdienen. Doch bot bereits die erste, die sogenannte Dresdner Fassung einen echten Hexensabbat in diesem sexuellen Sinne. Nur angemerkt sei, dass die Szene der Walpurgisnacht in der Oper „Faust“ („Margarete“) von Charles Gounod (1859) – auf die unter B.IV.2.b. noch einge­ gangen wird – trotz der grundsätzlichen Anlehnung an Goethes Dichtung an ein Gelage im Venusberg erinnert.

3.

Holde Frauen (Feen, Nymphen)

Die Gestalt der „frau holt“ (auch der Herodias) verweist auf den Canon Episcopi (um 906), der im Zusammenhang mit der nachtfahrenden Göttin Diana (und He­ rodias) auch den Hinweis auf eine turba holda (oft interpretiert als eine Göttin Holda) verwendet5. Die Schar, der mit ihr durch die nächtliche Welt Fahrenden wurden als die Holdinnen bezeichnet (womit ein drittes Beispiel gegeben wird). Sie sitzen an der Tafel im Venusberg; manchmal ist auch von Männern die Rede, die mit eingeladen und bewirtet werden, dabei oft Heilwissen oder die Kraft der Wahrsagekunst erhalten. Begleitet wird das Fest von einer „überirdisch schönen Musik“6, gespielt von Bäumen beziehungsweise Ästen, von Tieren, auch von Geis­ tern oder Menschen als Musikanten, zu der die Versammelten sich drehen im anmutigen Tanz, ohne bösen Hintergedanken, voller Zartheit und Wärme, eine Unschuld zeigend, die reizt und das Böse erregen kann. Dies bringt uns zu einer Reihe von Frauengestalten, die ebenfalls eine Verfüh­ rung darstellen, allerdings in einer höchst sublimierten, sexuell verfeinerten Form, die also eher anziehend als erregend sind, mehr Geborgenheit versprechen als erotische Befriedigung. Diese Frauen sind Gestalten des – herkömmlich weib­ lich charakterisierten – Meeres oder überhaupt der weiblich gedachten Natur, zu­ gleich von naiver und unbeschwerter, heiterer, lockerer (und daher verlockender) Art: keine Menschen, sondern Wassergeister, Nixen, Nymphen, auch Geschöpfe 5 6

Dazu vgl. Schild: Holda (wie Anm. 4), S. 393 ff. So die Überschrift eines Abschnittes bei Behringer: Stoeckhlin (wie Anm. 3), S. 41 ff.

91

des Waldes, Feen7 oder Elfen. Auch sie sind wegen ihrer Unmenschlichkeit un­ heimlich, aber zugleich auch anheimelnd und Sehnsucht erweckend: Halb ziehen sie die Männer hin, halb sinken diese hin. Denn sie streben nach einer ehelichen Beziehung zu den Männern, da sie durch das Sakrament aus Gottes Gnade eine Seele zu erhalten hoffen. Dass diese Feengestalten beliebtes Thema für Ballette und dann auch für andere musikalische Werke waren und sind, liegt auf der Hand. Ich verzichte auf eine nähere Aufzählung einschlägiger (und bekannter) Werke. Denn diese illustrieren mit ihren Feenreigen eigentlich keine musikali­ schen Hexensabbate, die nur negativ mit dem Bösen (und auch einer bösen Sexu­ alität als Unzucht) verbunden werden, was hier fehlt.

4.

Totentanz

Aus dem Tanz der Feen oder der Wassergeister kann mit fließendem Übergang ein anderes Unheimliches werden: der Tanz der Toten. Auch manche ihre Hexe­ rei gestehenden Frauen hatten erzählt, dass auf dem Sabbat auch verbrannte Tä­ ter/-innen – also Tote – mittanzen würden. Nun lässt sich dieser Zusammenhang in einer neuen Dimension erfassen. Sexualität ist Leben und Glücksverheißung, zugleich aber auch verbunden mit dem Tod (zumindest als kleiner Tod im Or­ gasmus) und süchtigem Leiden. Die durch die Luft reitenden jungfräulichen Wal­ küren bei Wagner sind die todverkündenden und –bringenden, scheuen und lieblosen Göttinnen, deren kalte und doch strahlende Schönheit fasziniert. Der Hexentanz bringt den Tod; weshalb die tanzende Salome/Herodias eine Hexe ist. Hexentanz ist Totentanz. Eine Verbindung von Hexenleuten zu Geistern (und damit auch Totengeistern) liegt durchaus auf der Hand. Man betrachte nur die Bearbeitung der sinfonischen Dichtung „Johannisnacht auf dem Kahlen Berge“ von Modest P. Mussorgski durch den englisch-amerika­ nischen Musiker und Dirigenten Leopold Stokowski für den 1940 als Zeichen­ trickfilm geschaffenen Walt-Disney-Klassiker „Fantasia“. Der Film sah das ur­ sprünglich 1867 komponierte Werk als von dem Lisztschen „Totentanz“ inspi­ riert und ließ daher Hexensabbat und Totentanz ineinander übergehen. Auf die

7

Zu diesen Gestalten vgl. Schreiber, Heinrich: Feen in Europa. Leipzig 1842 (Nachdruck 1981).

92

Urfassung von Mussorgski selbst wird unter B.II.2. eingegangen. Einen ähnli­ chen (musikalischen) Zusammenhang gestaltete bereits die 1830 geschaffene „Symphonie fantastique“ von Hector Berlioz – auf die noch unter B.II.1. einzu­ gehen sein wird –; er findet sich aber auch in dem tödlichen Höllenritt Fausts in Berlioz´ opernhaften Oratorium „Fausts Verdammung“. So könnte auch die sin­ fonische Dichtung „Totentanz“ (La danse macabre) von Charles-Camille SaintSaëns aus dem Jahre 1874 als dämonischer (wenn auch nicht primär an Sexualität orientierter) Hexensabbat bezeichnet werden, obwohl nach dem als Programm vorangestellten Gedicht nur die Skelette der Toten aus den Gräbern steigen und zur Geige des Todes – oder ist es ein aufspielender Zigeuner? – zu einem unheim­ lichen Reigen antreten, dem das Krähen des Hahnes am Morgen sein Ende macht.

5.

Weitere Beispiele

Schließlich ist auf Szenen von Tänzen der Zauberer und Zauberinnen, die oft auch als „Hexen“ bezeichnet werden, hinzuweisen. Stellt man auf Musikstücke mit ver­ gleichbar wildem, voll berückendem Klangzauber, getragen von scharfen Rhyth­ men, die immer von neuem antreiben und alles in Atem halten, ab, dann ist zunächst der Unterschied zu früheren solcher Szenen wesentlich und zu beachten. So finden wir zwar zum Beispiel bereits 1689 in Henry Purcells „Dido and Aeneas“ ein Ballett der Furien – die an die Hexen in Shakespeares „Macbeth“ er­ innern –, die durch ihre Anführerin beschworen wird, oder 1817 in Rossinis „Armida“ eine Szene mit in den Lüften tanzenden Dämonen; aber die Musik ist noch sehr geordnet und harmonisch. Etwas wilder geht es schon zu bei Giacomo Meyerbeers „Robert der Teufel“ (1831), in dem ein Ballett vorgesehen ist, das Nonnen tanzen, die aus dem Grab heraufbeschworen werden, dann die grauen Hüllen fallenlassen und sich als verführerische Frauen zu einer Orgie vereinigen. Ähnlich wie bei Meyerbeer sind die Tänze in dem Ballett über eine Waldfee na­ mens „La Sylphide“ von Jean-Madeleine Schneitzhoeffer (1832, erweitert 1836) einzuschätzen, wohl auch die rauschhafte Darstellung des Treibens der Hexen und Trolle in der Halle des Bergkönigs, die Peer Gynt jagen, in der gleichnamigen Suite (Nr.1, op.46) von Edvard Grieg (1874–1876). Ausgesprochen wild sind etwa der „Höllentanz des dämonischen Zauberers Kashchei“ in dem Ballett „Der Feu­ ervogel“ von Igor Strawinsky aus dem Jahre 1910 oder die ekstatische Orgie im 93

Nonnenkloster, wie sie Sergej Sergejewitsch Prokofjew 1928 in seiner Oper „Der feurige Engel“ (Der Flammenengel) vorsah.

III. Walpurgisnacht Vergleichbares wie zum Titel „Hexensabbat“ gilt auch für den Titel „Walpurgis­ nacht“. Denn damit muss nicht das wilde Treiben der Hexen gemeint sein. Man denke etwa an die klassische Walpurgisnacht in „Faust. Zweiter Teil“ von Goethe; oder an seine 1799 gedichtete Ballade „Die erste Walpurgisnacht“, die 1827 und 1830 von Johann Rümmler und Adolf Müller vertont wurden. Hier wird der keltische Brauch der Druiden, den Mai als Frühling durch ein Feuer zu be­ grüßen, verherrlicht und den Versammelten der Entschluss zugeschrieben, den dieser Feier feindlich gegenüberstehenden „Pfaffenchristen“ einen Streich zu spielen, nämlich sie mit dem Teufel zu erschrecken, von dem sie stets fabeln. Vor allem bekannt ist die musikalische Umsetzung dieser Ballade durch Felix Men­ delssohn Bartholdy 1832 – überarbeitet 1842 – geworden; zu nennen sind noch die Werke von Carl Loewe und Felix Gröbenschütz8. Auch mehrere moderne Lieder und Songs aus der E-Musik handeln von einer „Walpurgisnacht“ oder Walpurgis Night, die mit einem Hexensabbat nichts (oder wenigstens nur am Rande) zu tun hat. Zu nennen sind beispielshaft „Walpurgis­ nacht“ (2007) von K.I.Z., „Incubus, Succubus“ (1982) von x-Mal Deutschland, „Die Hexen kommen/Walpurgisnacht“ (1988) von EAV (Erste Allgemeine Ver­ unsicherung).

8

Vgl. Meier, Andreas: Faustlibretti. Geschichte des Fauststoffs auf der europäischen Musikbühne. Frankfurt/Main 1990, S. 816 f.

94

B. „Wirkliche“ musikalische Hexensabbate In dem zweiten Teil werden einige musikalische Hexensabbate dargestellt, die eindeutig diesen Namen (und dann auch den Titel) verdienen.

I.

Vorbemerkung

Hinzuweisen ist als Vorbemerkung darauf, dass die Versammlung von als Hexen­ leuten bezeichneten Menschen eigentlich immer auch ein musikalisches Ereignis war. So berichteten es die Frauen und Männer in den Verhören vor den kirchli­ chen Inquisitoren und den weltlichen Richtern. Unterschiedlich wurde allerdings von der Musik und den Musikanten erzählt. Manche (wie die Frauen in Völs am Schlern 1505, über die unter A.II.2. schon berichtet wurde) schwärmten von fest­ licher Musik, die zu Schmaus und Tanz erklang. Der Zusammenhang zur Vor­ stellung des Venusberges wurde schon erwähnt, wie auch über die Verbindung zu den Männerphantasien von Feen (aber auch zu Nymphen und Nixen) berichtet. Es bleibt aber anzumerken, dass diese anmutigen Feen in der Überlieferung tatsächlich allmählich ihre Unschuld verloren und in der Sicht der männlichen Theoretiker und inquisitorischen Praktiker in die Nähe der bösen Hexenfrauen rückten, deren Tanz den eigentlichen Hexensabbat darstellte 9 . Bereits im Na­ men – „Sabbat“ oder „Synagoge“ – kam das negative Element einer religiösen, ge­ gen die christliche Welt gerichteten und daher gefährlichen Sekte zum Ausdruck. Männer und Frauen trafen sich – so imaginierte die kirchliche und weltliche Ob­ rigkeit – in tiefer Nacht an geheimen Orten, um ihrem Gott – dem Satan, oft in Tiergestalt – zu huldigen, ihm die Schöpfungsordnung schädigende Taten zu ver­ sprechen, Kinder zu verzehren bei einem grotesken Mahl; und dann auch bei schrecklicher Musik sich sexuell ausschweifenden Tänzen hinzugeben. Musikanten 9

Zu den unterschiedlichen Konzepten eines Hexensabbats vgl. auch Schild, Wolfgang: Das Mahl der Hexenleut‘, in: Nipperdey, Justus/Reinholdt, Katjarina (Hrsg.): Essen und Trinken in der Europäischen Kulturgeschichte. Berlin 2016, S.147–161.

95

waren oft untergeordnete Teufel oder Dämonen, die auf Knochen oder gemarter­ ten Tieren grauenerregende Töne produzierten – da das Böse nichts Schönes er­ zeugen konnte –, die aber die Hexenleute – die einen Pakt mit dem Satan geschlossen und sich mit ihm sexuell vereinigt hatten – als erregend empfanden. Auf diese bösen und schädlichen Gruppen reagierte die Obrigkeit in ihrer Ver­ antwortung für den christlichen Gott, anfangs die Kirche10, dann auch die weltli­ che Macht, die immer schon gegen Schadenszauber vorgegangen war, seit dem 16. Jahrhundert bereits auf das „Umgehen mit dem Teufel“ (in Pakt, Buhlschaft, Sabbat) abstellte und dieses mit dem Feuertod bestrafte. So wurde der Hexensab­ bat auch zu einem (straf-) rechtlichen Problem. Im Folgenden steht freilich diese musikalische Dimension des rechtlichen He­ xereiverbrechens (und in ihm: des Sabbats) nicht im Mittelpunkt, sondern der Sabbat als Thema von musikalischen Kunstwerken. Es liegt auf der Hand, dass solche künstlerischen Darstellungen eines Hexensabbats eine geschichtliche Situ­ ation voraussetzten, in denen die strafrechtliche Verfolgung der Hexenleute nicht mehr vorgesehen war, ja in denen an eine solche gefährliche dämonische Ver­ sammlung nicht mehr ernstlich geglaubt wurde. Im 18. Jahrhundert kam es zum Ende der Verfolgung; sei es, dass die Strafbestimmungen aufgehoben wurden, sei es, dass die aufgeklärten Herrscher verlangten, dass die Hexereiverfahren ihnen selbst vorgelegt wurden, in denen sie dann keine Verurteilungen mehr fällten. 1775 fand der letzte Prozess auf dem Gebiet des heutigen Deutschlands statt: Im Fürststift Kempten wurde Anna Maria Schwegelin zum Tode verurteilt, das Ver­ fahren dann aber neu aufgerollt; die Verurteilte starb 1781 im Gefängnis eines natürlichen Todes. 1782 wurde im reformierten schweizerischen Glarus Anna Göldi hingerichtet, wobei es das Urteil vermied, ausdrücklich von Hexerei zu sprechen; auch so machten sich die verantwortlichen Ratsherren zum Gespött der aufgeklärten Kreise. Trotzdem scheuten sich die Künstler noch lange, wilde Hexen­ sabbate auf die Bühne zu bringen. Denn es bestand die Gefahr, dass einflussreiche kirchliche Kreise darin gotteslästerliche schwarze Messen sahen und für Verbot und Bestrafung eintraten. Daher griff man anfangs zu humorvollen Bearbeitun­ gen, zu Hexensabbaten als Inhalt von Marionettentheater oder Puppenspielen,

10

Vgl. Schild, Wolfgang: Die frühen Hexenschriften, in: Hirte, Markus (Hrsg.): „Mit dem Schwert oder festem Glauben“. Luther und die Hexen. Rothenburg o.d.T. 2017, S. 85–105.

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auch von Balletten oder sogar von Hundedressuren (wie vom Augsburger Schau­ steller Rudolf Lang, der mit einer Hundenummer zum Thema Faust 1717–21 durch Österreich und Deutschland zog und sich einmal ernsthaft gegen den Vor­ wurf der Hexerei verteidigen musste). Lange Zeit wurde auch die Geschichte von Dr. Faust in dieser Weise von Wanderbühnen aufgeführt, bis es Ende des 18. Jahrhundert zu einer Um- und Aufwertung der historischen Gestalt kam: Faust als ein moderner Mensch, der nach dem Überschreiten der Grenzen des Erkennbaren strebt. Es wird im Folgenden, wo an einigen Beispielen gezeigt werden soll, wie Musi­ ker (auch in Zusammenarbeit mit Textdichtern) eine solche teuflische Zusam­ menkunft in Töne fassten, der Faust-Stoff im Zentrum stehen. Unter B.II. möchte ich zum Einstieg drei berühmte Hexensabbate, die nur musikalisch geschildert (aber zugleich in einem beigegebenen Text programmatisch erzählt) werden, vor­ stellen. Als B.III. soll die Begleitung von Hexenszenen in Schauspielen durch eine entsprechende Bühnenmusik angesprochen werden. Unter B.IV. werden einige Hexensabbate in Opern vorgeführt, in denen – wie auch in Operetten und Musi­ cals, auf die mit einer Ausnahme nicht näher eingegangen wird – von vornherein Text (Libretto) und Musik aufeinander bezogen sind. Als B.V. und Abschluss werden kurz einige Werke aus der sogenannten U-Musik vorgestellt, die von He­ xensabbat(en) erzählen. Zu erwähnen ist noch, dass viele musikalische Projekte verloren und nicht mehr greifbar sind. Gerne hätte ich meine Aufzählung mit dem Anfang September des Jahres 1773 auf Schloss Esterházy und 1777 im Schloss Schönbrunn vor Maria Theresia aufgeführten Stück „Der Hexenschabbas“ begonnen, nämlich einem „Marionettenfest in einem Aufzuge“, nach einem Libretto von Josef Karl von Pauersbach, zu dem Joseph Haydn die Musik schrieb. Das Libretto hat man 2005 in Wien, dann 2010 in Weimar gefunden und 2016 veröffentlicht. Die Partitur ist leider verschollen. Es ist anzunehmen, dass die zu diesen Texten komponierte Musik eher erfrischenden, lieblichen, komischen Charakter hatte.

97

II.

Texte mit musikalischer Einkleidung

Als Einstieg sollen nun drei berühmte Hexensabbate vorgestellt werden, die nur musikalisch geschildert, aber zugleich in einem beigegebenen Text programma­ tisch erzählt werden.

1.

Hector Berlioz „Symphonie fantastique“ (1830)

1830 entwarf der damals 27jährige Hector Berlioz seine „Symphonie fantastique“. Der 1803 im Departement Isère geborene Arztsohn, der sich das Komponieren selbst aus Büchern in der Bibliothek des Vaters beigebracht hatte, studierte nach dem Abbruch eines Medizinstudiums ab 1826 am Pariser Konservatorium und schrieb an einigen Szenen für eine Faust-Sinfonie, seit er die französische Über­ setzung des Goethe-Werkes gelesen hatte. Offensichtlich war er schnell zu be­ geistern. So erfasste ihn auch – wie viele seiner jungen Zeitgenossen – die Shakespeare-Welle, die durch die Vorstellungen einer englischen Schau­ spieltruppe in Paris 1827 begann. Berlioz sah eine Aufführung des „Hamlet“ und dann von „Romeo und Julia“. Obwohl er nicht die englische Sprache beherrschte, erschütterten ihn das Spiel der Darsteller, die Szenenfolge, die Gebärden und der Tonfall. „Ich erkannte die ganze Größe, die ganze Schönheit, die ganze Wahrheit der dramatischen Kunst“. Vor allem begeisterte ihn die Darstellerin der Ophelia und der Julia, die irische Schauspielerin Harriet Smithson. Er verknallte sich ein­ fach in diese Berühmtheit, wollte sie kennenlernen, ihr imponieren; doch nahm sie von ihm keinerlei Notiz, selbst als im Mai 1828 ein Konzert im Konservato­ rium mit seinen eigenen Werken aufgeführt und in der Presse sehr positiv ge­ nannt wurde. Daneben hörte er in demselben Jahr (1828) die französischen Erstaufführungen der Sinfonien Beethovens durch die neugegründete Konzertge­ sellschaft am Konservatorium unter dem Dirigenten Habeneck: „Er erschütterte mich fast in ebensolchem Maße, wie Shakespeare es getan hatte. Er erschloss mir eine neue Welt der Musik, so wie der Dichter mir ein neues Universum der Poesie enthüllt hatte“.

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Wegen der Erfolglosigkeit seiner Bemühungen um Harriet wandte sich der ent­ täuschte Berlioz einer neuen Liebe zu, verlobte sich mit der Pianistin Camille Moke, gewann 1830 den Wettbewerb um den sogenannten „Rompreis“ (mit zwei­ jährigem Romaufenthalt); und hatte kurz vor diesem Erfolg zwischen Februar und März 1830 die „Symphonie fantastique“ (also: „Fantastische Sinfonie“) ge­ schrieben, ursprünglich mit dem (in Deutsch übersetzen) Titel „Episode aus dem Leben eines Künstlers“. Darin führte Berlioz die Kunst Beethovens, mit reiner Instrumentalmusik konkrete Idee auszudrücken, weiter: zu einer echten drama­ tischen Programmmusik, was sich darin zeigte, dass er ein Programm nieder­ schrieb, das an die Zuhörer/-innen verteilt werden sollte: „weil es unerlässlich für ein vollständiges Verständnis der dramatischen Anlage des Werkes“ sei11. Dieses Programm wurde später mehrmals geändert. Doch war von vornherein klar (und wurde auch so von der Pariser Gesellschaft verstanden), dass es sich hier um ein autobiographisches Werk handelte, dass hier erstmals ein Musiker seine privaten Gefühle an die Öffentlichkeit getragen hatte; nämlich eine „Sinfonie, die seine ei­ genen Leiden, seine innere Welt aus Emotionen und Träumen einer einseitigen Liebe zum Inhalt“ hatte. Auf diese Weise vermochte der 27-jährige seine seeli­ schen Probleme zu bewältigen. Das Programm schildert in fünf Bildern (Sätzen) die „phantastische Welt“, die voller widersprüchlicher Leidenschaften in der Seele des Künstlers ist, der eine Frau gesehen hat, die in sich alle Reize des Idealwesens vereinigte, die er sich in

11

Dazu vgl. Dürr, Albrecht: Hector Berlioz: Symphonie fantastique – Les nuits d‘été. In­ formationen zum Konzert der Stuttgarter Philharmoniker am 22. Oktober 2016 (http://www.stuttgarter-philharmoniker.de/assets/files/spielzeit_2016/berlioz.pdf [Auf­ ruf am 11. Mai 2019]). Die Zitate sind aus dieser Arbeit übernommen. Zu Berlioz vgl. Dahlhaus, Carl/Miller, Norbert: Wagners Berlioz-Kritik und die Ästhetik des Häßlichen, in: Dahlhaus, Carl/Miller, Norbert (Hrsg.): Europäische Romantik in der Musik (Band 2). Stuttgart 2007, S. 897–906; Dömling, Wolfgang: Die Symphonie fantastique und Berlioz´ Auffassung von Programmmusik, in: Die Musikforschung 28. Kassel 1975, S. 260–283; Dömling, Wolfgang: Hector Berlioz. Die symphonisch-dramatischen Werke. München 1979, S. 105 ff.; Pucciarelli, Mauro: Berlioz – Symphonie fantastique op.14, in: Große Komponisten und ihre Musik (Band 1 Nr.10). Hamburg 1983, S. 232– 239; Schacher, Thomas: Idee und Erscheinungsformen des Dramatischen bei Hector Berlioz. Hamburg 1987.

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seiner Vorstellung erträumt und in die er sich sterblich verliebt hat. Eigentümli­ cherweise zeigt sich das geliebte Bild dem geistigen Auge des Künstlers nie, ohne mit einem musikalischen Gedanken verbunden zu sein, in welchem er einen ge­ wissen leidenschaftlichen, aber noblen und schüchternen Charakter erkennt, wie er ihn auch dem geliebten Wesen zuschreibt. Dieses musikalische Bild und dessen Vorbild verfolgen ihn unaufhörlich wie eine doppelte idée fixe, im Übrigen ein Begriff aus der Psychiatrie (der dem Arztsohn bekannt war). Dieses Leitmo­ tiv – das zum ersten Mal nicht in einer Oper, sondern in einer Sinfonie verwendet wurde – erscheint in immer neuer Gestalt und verbindet zugleich die gesamte Tondichtung zur Einheit. Zunächst dargestellt als Phantasie in melancholischem Träumen, aber auch Zorn und Eifersucht und in Tränen (erstes Bild), dann als Zusammentreffen auf einem Ball, das seine Seele in Unruhe versetzt (zweites Bild); dann das Sichberuhigen in der Szene auf dem Lande in einer Vision von innerem Frieden; doch schon kommen dunkle Ahnungen, ertönt dumpfes Don­ nergrollen (drittes Bild). Im vierten Bild „vergiftet sich der Künstler mit Opium, in der sicheren Erkenntnis, dass seine Liebe missachtet wird“; doch die zu schwa­ che Dosis versenkt ihn in einen von den schrecklisten Visionen begleiteten Schlaf. „Er träumt, er habe die Frau, die er liebte, getötet, er sei zum Tode verurteilt, werde zum Richtplatz geführt und helfe bei der eigenen Hinrichtung“. Das fünfte Bild ist überschrieben mit „Traum einer Sabbatnacht“ (in das offen­ sichtlich Reste der geplanten Faust-Sinfonie eingingen) und schließt unmittelbar an. Ich zitiere aus dem Programm selbst: „Er sieht sich beim Hexensabbat inmit­ ten einer abscheulichen Schar von Geistern, Hexen und Ungeheuern aller Art, die sich zu seiner Totenfeier versammelt haben. Seltsame Geräusche, Stöhnen, schal­ lendes Gelächter, ferne Schreie, auf die andere Schreie zu antworten scheinen. Das Motiv seiner Liebe erscheint noch einmal, doch es hat seinen noblen und schüch­ ternen Charakter verloren; es ist nichts mehr als ein gemeines Tanzlied, trivial und grotesk; sie ist es, die zum Sabbat gekommen ist […] Freudengebrüll begrüßt ihre Ankunft“. Seine Geliebte ist hier hexenhaft entstellt, wie eine Dirne aufge­ macht. Der Sabbattanz erklingt als eine Klangorgie von bisher ungeahnten Aus­ maßen mit seltsamen Tönen. Wieder erklingt die idée fixe, erneut in der Klarinette mit durchdringendem Ton, sie wird dabei von anderen rauen Holzin­ strumenten begleitet, während vier Fagotte schnell steigende Phrasierungen hin­ zufügen. Die ganze Versammlung der Hexen schreit vor Begeisterung auf und wirbelt in ausgelassener Heiterkeit durcheinander, bis der Tanz von einem plötzlichen 100

Tremolo unterbrochen wird, worauf eine dramatische Passage der Fagotte, Celli und Kontrabässe folgt. Totenglocken klingen unheilvoll aus der Ferne herüber und erzeugen eine feierliche Stimmung. Die Tänzer versuchen noch zweimal, ihr Treiben fortzusetzen, werden aber jedesmal von wütenden Akkorden auseinan­ dergetrieben. Während die Glocken ihr Klagegeläut fortsetzen, ertönt das Dies irae mit bedächtigem Schritt; so als würde der Künstler sein eigenes Begräbnis erleben. Doch dann erweist sich das Ganze – wie es in einer Pressenotiz von Berlioz hieß – als eine „Verhöhnung des Dies irae im blasphemischen Schlund einer Walpurgisnacht“, weil der Künstler „von geradezu obartigen Obsessionen auf eine begehrte Frau befallen sei“; wild entschlossen setzt der Hexenreigen er­ neut ein, die Tänzer beginnen inmitten dieser ernsten Warnungen erneut mit ih­ ren konvulsischen Zuckungen. Um die allgemeine Verwirrung der Szenerie und das Ausbrechen einzelner Gruppen darzustellen, konstruiert Berlioz an dieser Stelle eine Fuge. Der unheimliche Tanz setzt sich fort, bis die Warnungen der Blechbläser sich zu einem neuerlichen Angriff sammeln und den Tanz auseinan­ derstieben lassen. Doch schließlich vereinigt sich das Dies irae mit dem Tanz zu einer atemberaubenden Folge von Lasterhaftigkeit und Ausgelassenheit. Die Geigen steigern noch die Spannung, indem sie die orientierungslosen Blechbläserwar­ nungen aufnehmen und unter ständiger Wiederholung immer höher hinauftrei­ ben. Dann – und vielleicht zur Veranschaulichung des Klapperns tanzender Skelette (auf welche Verbindung von Hexen- und Totentanz bereits unter A.II.4. hingewiesen wurde) – drehen die Geiger und Bratschisten ihre Bögen um und spielen mit dem Holzkörper auf den Saiten. Daneben setzen die Holzbläser den Tanz fort, werden aber plötzlich allein gelassen und verlieren sich schnell in all­ gemeinem Durcheinander. Dann beherrschen zerrissene Rhythmen die Szene, und das Dies irae stürzt sich kopfüber in einen abschließenden Höhepunkt. Die Szene endet mit einem fast teuflischen Gelächter: Die arme Seele des verdammten Künstlers wird im Triumph vom Teufel geholt.

101

F. Cremer, Hexensabbat, Kaltnadelradierung, 1967 © Mittelalterliches Kriminalmuseum 102

Dieser musikalische Hexensabbat war unerhört, eine so noch niemals gehörte Musik, keine Sinfonie im herkömmlichen Verständnis und Aufbau, sondern selbst eine Dichtung in Tönen zentriert an etwas Neuem: nämlich an dem Reiz am Bösen selbst. Die Musik wollte erregen, mitreißen, den Zuhörer in den teufli­ schen Sabbat und damit in das Böse hineinreißen, auch ihn zum Opfer machen, wie der Künstler es durch die Beziehung zu dieser Frau geworden war. Berlioz schrieb zu dem 4. und 5. Satz bewusst hässliche Musik, indem er dissonante Ak­ korde anhäufte, grobe Instrumentalklänge durch reichlichen Gebrauch von viel Schlagzeug und Blechblasinstrumente erzeugte und schließlich auch noch dadurch provozierte, dass er Elemente aus der Kirchenmusik in dieser Umgebung zitierte. Damit – so Albrecht Dürr – „brach er völlig mit den Kunstvorstellungen des 18. Jahrhunderts, nach denen Kunst und Musik dem Ausdruck des Schönen dienen zugunsten einer neuen Ästhetik“. Noch eine historisch-biographische Anmerkung: Die Uraufführung 1830 geriet zu einem Triumph. Doch persönlich löste Camille Moke die Verlobung auf, Berlioz erlebte in Rom eine Krise (Selbstmordversuch eingeschlossen). 1832 kehrte er nach Paris zurück, wo im Dezember eine weitere Aufführung des Wer­ kes stattfand. Auch Harriet Smithson war wieder in Paris, Berlioz – der ihr jetzt das erste Mal vorgestellt wurde – lud sie zu der Aufführung ein, in dessen Verlauf ihr allmählich bewusst wurde, dass es darin um sie selbst ging. Im Oktober 1833 heirateten sie, 1834 wurde ein Sohn geboren. Harriets Karriere begann zu verblas­ sen, sie war häufig krank, zog sich – auch wegen ihrer mangelnden Französisch­ kenntnisse – immer mehr aus dem öffentlichen Leben zurück, verfiel schließlich dem Alkohol. Berlioz selbst widmete sich zunehmend der Musik und wechseln­ den Geliebten.1840 war die Ehe gescheitert; 1844 erfolgte auch die räumliche Trennung. Er selbst wurde zu einem viel gerühmten Vorbild; Franz Liszt fertigte einen Klavierauszug als „Extrakt zum häuslichen Gebrauch“ an, Robert Schu­ mann schrieb eine fundierte Analyse. Damit war Berlioz zum „Erzvater der mu­ sikalischen Avantgarde“ geworden.

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2.

Modest P. Mussorgski „Johannisnacht auf dem Kahlen Berge“ (1867)

Das zweite hier zu nennende Musikstück wurde 1867 geschrieben, aber erst 1932 aufgeführt, obwohl sie in mehrfach entfremdeter Gestalt schon ab 1886 zu hören war. Der Komponist ist der 1839 in Karevo (Russland) als Sohn eines wohlhaben­ den Großgrundbesitzers geborene Modest Petrowitsch Mussorgski12. Ursprüng­ lich für eine Karriere im Militärdienst vorgesehen, bedeutete die 1861 vom Zaren durchgeführte Aufhebung der Leibeigenschaft große finanzielle Schwierigkeiten für die Familie; Mussorgski musste eine Stelle im staatlichen Verwaltungsdienst in Sankt Petersburg annehmen. Mit vier Freunden, alle – wie er seit seiner Jugend selbst – Musikliebhaber und Komponisten (neben ihm Alexander Borodin, Cèsar Cui, Milij Balakirew, Nikolaj Rimskij-Korsakow), lebte er in einer Art Kommune zusammen. Sie wollten eine ganz neue, typisch russische Musik schaffen, einen nationalrussischen Stil begründen, der in der russischen Volksmusik wurzeln sollte. Sie lehnten jede Form akademischer Ausbildung und schulmäßiger Ausar­ beitung der Musik ab. In dieser „Gruppe der Fünf“ stellte er 1867 seine erste große, in zwölf Tagen geschaffene und am Vorabend des Johannistages (23. Juni) fertiggestellte Komposition vor, ein Stück Programmmusik (als „sinfonische Dichtung“) mit einem nationalrussischen Thema: das Orchesterwerk „Johannis­ nacht auf dem Kahlen Berge“. Es stieß auf massive Ablehnung in der Gruppe, galt

12

Zu ihm vgl. Neef, Sigrid: Die Russischen Fünf: Balakirew – Borodin – Cui – Mussorgski – Rimski-Korsakow. Monographien, Dokumente, Briefe, Programme, Werke. Berlin 1992. Zum Werk vgl. Dieterich, Joachim: Programmmusik im Unterricht – Eine Nacht auf dem Kahlen Berge. Hausarbeit 2004; Eberle, Gottfried: Johannisnacht auf dem Kahlen Berge (Originalfassung), in: Konold, Wulf (Hrsg.): Lexikon Orchestermusik Romantik (Band 2). Mainz/München 1989, S. 528–532; Garden, Edward: Three Nights on Bare Mountain, in: The Musical Times 129. London 1988, S. 333–335; Möller, Christine: Modest Mussorgskij „Eine Nacht auf dem Kahlen Berge“. Begleitmaterial zum 4. Jugendkonzert der Spielzeit Münchner Philharmoniker 2016/17 (https://www. spielfeld-klassik.de/fileadmin/redaktionSFK/bilder/Jugendkonzerte/Begleitmaterial_ Jukos/Begleitmaterial_4.Juko_16-17.pdf [Aufruf am 3. Juni 2019]); Stegemann, Michael: Original und Verfälschung. Modest Mussorgskys „Nacht auf dem kahlen Berge“, in: Melos. Neue Zeitschrift für Musik 4. Mainz 1978, S. 11–15.

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den Freunden als „unsinnig“, als „Müll“. Mussorgski verteidigte sein Werk, hatte aber den Mut verloren und bemühte sich aber nicht um eine Aufführung (schrieb auch keine Orchesterwerke mehr). Kurze Zeit später entstanden die Opern „Boris Godunow“ und „Chowanschtschina“, 1874 schrieb er den be­ rühmten Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“; unvollendet blieben die Opernprojekte „Mlada“ und „Der Jahrmarkt von Sorotschinzy“. Trotz der äuße­ ren Erfolge verfiel Mussorgski immer mehr dem Alkohol, 1880 wurde er deshalb aus dem Staatsdienst entlassen. Die letzten Wochen seines Lebens verbrachte der völlig verarmte Komponist in einem Militärkrankenhaus in Sankt Petersburg, wo er 1881 mit 42 Jahren starb. In dieser sinfonischen Dichtung wird musikalisch die russisch-slawische Sage dargestellt, wonach sich in der Nacht zum Johannistag, dem Fest von Johannes dem Täufer (also vom 23. auf den 24. Juni), die Hexen auf dem Berg des Triglaw, eines der slawischen Hauptgötter, eben: dem Kahlen Berge in der Nähe von Kiew zusammenfinden, um ihren Gebieter, den Teufel, zu empfangen. In den Worten des Komponisten selbst: „[Die] Hexen [pflegten] auf diesem Berge zusammenzu­ kommen, trieben ihren Schabernack und erwarteten ihren Herrn – Satan. Bei sei­ ner Ankunft bildeten sie einen Kreis um seinen Thron, auf dem er in Form eines Ziegenbocks saß, und sangen sein Lob. Als Satan durch ihren Preisgesang genü­ gend in Leidenschaft versetzt worden war, gab er den Befehl für den Sabbath, wo­ bei er für sich selbst die Hexen aussuchte, die seinen Sinn fesselten“. Mussorgski schrieb dazu eine Musik in einer größtmöglichen Schroffheit und Wildheit; eine Vielzahl von Motiven ließ er in wilder (Un-) Ordnung aufeinander folgen. In der Partitur notierte er mehrere programmatische Zwischenüberschriften: „Versamm­ lung der Hexen und ihr Geschwätz“, „Satans Zug“, „Verherrlichung des Satans“, „(Hexen-)Sabbat“. Nach dem frühen Tod des Freundes nahm sich sein Freund Nikolai A. RimskiKorsakow – der sich von der früheren Auffassung des Musikschaffens abgewen­ det und die akademische Ausbildung nachgeholt hatte – das Werk vor und rich­ tete es für eine Aufführung ein. Dabei versuchte er, das wilde Werk zu glätten und zu entschärfen, insbesondere die harmonischen und instrumentalen Härten und Schroffheiten der Partitur zu eliminieren und dem Werk eine leichter verständli­ che, d.h. eine traditionellere und schulmäßigere Form zu geben. Im Übrigen hatte Mussorgski selbst eine Neubearbeitung für die beiden, dann nicht vollendeten Opernprojekte „Mlada“ [als Ballett] und „Der Jahrmarkt von Sorotschinzy“ (als 105

Traumsequenz) geschaffen, auf die Rimski-Korsakow auch zurückgriff. Der He­ xensabbat wurde stark gekürzt, stattdessen ein versöhnlicher Schluss (Tagesan­ bruch mit dem Läuten einer Dorfkirche, bei deren Klang sich die Geister der Finsternis zerstreuen) komponiert. In dieser Fassung wurde das nun als „Eine Nacht auf dem Kahlen Berge“ bezeichnete Werk 1886 in Sankt Petersburg, dann 1889 auf der Pariser Weltausstellung mit viel Erfolg aufgeführt. 1940 stellte – wie bereits unter A.II.4. angemerkt wurde – der englisch-amerikanische Dirigent Leo­ pold Stokowski eine Umarbeitung her, die in dem Zeichentrickfilm „Fantasia“ auch bildlich dargestellt wurde (und in der der Teufel – als der schwarze Gott Tschernobog in der slawischen Mythologie – in den Vordergrund gerückt wurde); zudem wurde nahtlos in diesen Film eine gezeichnete Adaption von Franz Schu­ berts „Ave Maria“ angefügt. Weitere klassische Bearbeitungen erfolgten durch Gottfried von Einem und Wissarion Schebalin; 2014 erschien eine Orgel-Bearbei­ tung des dänischen Organisten Erik Kolind. 1920 wurde die Originalpartitur von Mussorgski wieder entdeckt; das Werk wurde 1932 in London von Nikolai Malko uraufgeführt. Es hat aber bisher gegen die Rimski-Korsakow-Fassung einen schweren Stand in der Publikumsgunst. Auch die meisten modernen Bearbeitungen griffen nicht auf die Originalpartitur von 1867 zurück, obwohl diese 1968 im Druck erschien. Zu nennen ist der japanische Musiker und Komponist Isao Tomita (1932– 2016), der durch seine Umsetzungen klassischer Musikwerke auf dem Syntheziser (Beethoven, Debussy, Holst, Stravinski) bekannt und durch die Aufnahme von Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ (1975) berühmt wurde. Auf der 1976 ver­ öffentlichen Platte The Firebird findet sich auch die Interpretation der „Nacht auf dem Kahlen Berge“. Die 1964 in Meißen in der DDR gegründete Rockband (eine der ältesten in Deutschland) Stern Combo Meißen spielte 1977 eine Aufnahme für Keyboard und Percussion ein, die Thomas Kurzhals geschaffen hatte. In dem 1990 veröffentlichen Album „Dances of Death (and Other Walking Shadows)“ der 1985 von Ralf Hubert gegründeten Band Mekong Delta, die der Metal-Szene (genauer dem Heavy Metal, noch genauer: der extremen Spielart des Trash- oder auch des Progressive Metal) zugeordnet wird, findet sich auch ihre Version von „Night on a Bare Mountain“. Ebenfalls zur Metal-Szene gehört die in den 1980er Jahren in Solingen gegründete Band Accept, in die 1976 der bekannte Fotograf und Liebhaber klassischere Musik Wolf Hoffmann als Gitarrist eintrat. 2016 ver­ öffentlichte Hoffmann mit der Band das Video „Night on Bald Mountain“. 106

3.

Heinrich Heine, Werner Egk, Bertold Hummel „Faust-Ballett“ (1846, 1948, 1977)

Ein Programm stellte auch das „Tanzpoem“ dar, das Heinrich Heine 1846 und 1847 niederschrieb (a.) und das 1948 von Werner Egk (b.), 1977 von Bertold Hummel (c.) in Musik gesetzt wurde.

a.

Heinrich Heine „Der Doktor Faust“ (1848/1851)

In den Jahren 1846 und 1847 schrieb Heinrich Heine für den Direktor des Her Majesty´s Theatre in London, Benjamin Lumley, einen Entwurf eines „Tanzpoems“ nieder mit dem ursprünglichen (französischen) Titel „Die Legende von Doktor Johannes Faust, ein pantomimisches Ballett“13. Heine schrieb auch seine Erläute­ rungen für das Programmheft; unter anderem machte er den Gegensatz zu Goethes Werk deutlich: Seine Deutung sei als „Revolte der realistischen, sensualistischen Lebenslust gegen die spiritualistisch altkatholische Askese“ gemeint. Es fanden sich daher auch Szenen, die sich über verstaubte Traditionen lustig machten. Doch kam es nicht zu einer Aufführung, weil erstens der Choreograph mit einigen Szenen – die wohl die Zensur nicht passiert hätten (worauf ich sofort komme) – nicht einverstanden war und die Sängerin Jenny Lind so viel Erfolg hatte, dass Lumley das Ballett problemlos streichen konnte (allerdings Heine großzügig be­ zahlte). 1851 veröffentlichte Heine das Werk in seiner Gedichtsammlung „Ro­ manzero“ unter dem Titel „Der Doktor Faust. Ein Tanzpoem, nebst kuriousen Berichten über Teufel, Hexen und Dichtkunst“. Dann verschwand das Werk in den Archiven der Geschichte14.

13

14

Dazu Enders, Carl: Heinrich Heines Faustdichtungen, in: Zeitschrift für deutsche Phi­ lologie 74. Berlin 1955, S. 364 ff.; Henning, Hans: Faust-Variationen. München 1993, S. 341 ff.; Meier: Faustlibretti (wie Anm. 8), S. 352 ff. Bausch, Stefan: Einführung in die CD: Werner Egk, Abraxas. Oehms Classics 2006. Vgl. auch Poeschel, Thomas: Abraxas. Höllen-Spectaculum. Ein zeitgeschichtliches Libretto des deutschen Nationalmythos von Heinrich Heine bis Werner Egk. Berlin 2002, S. 23 ff.

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Heine hatte viel Erfahrung mit Ballett, noch mehr mit den Tänzerinnen, da er zahlreiche Affären hatte, von denen er immer wieder begeistert berichtete15. Dar­ über hinaus war er von Früh an von dem Faust-Stoff fasziniert, hatte (auch des­ halb) 1824 Goethe besucht, um enttäuscht von dessen Kälte sich dann wieder zu distanzieren. 1826 nahm er trotzdem die Arbeit an seinem eigenen Faust-Projekt, das anders sein sollte als das von Goethe, auf, kam aber nicht weiter. Und dann der Auftrag 1846, den er in kurzer Zeit vollendete. Anzumerken ist16, dass es bereits früher Faust-Ballette gegeben hatte, unabhängig von Goethe. Um 1730 wurde in Wien ein solches Stück zu italienischer Musik aufgeführt, später in Hamburg, Frankfurt, Dresden, London und Paris. 1832 wird Goethes „Faust“ (den es seit 1820 auf der Bühne gab) in Kopenhagen getanzt. In Heines Libretto17 hat Faust seine Seele einem weiblichen Teufel, der Mephis­ tophela, verschrieben, um die Liebe einer obszönen Herzogin – des stark erotischen Werkzeuges des Teufels – zu erringen. Von ihrer Geilheit beim Hexensabbat mit dem Kult des schwarzen Bockes abgestoßen, kommt Faust zur Besinnung und flüchtet in die antike Welt mit der harmonischen Liebe zu Helena. Doch die Her­ zogin zerstört dieses Idyll. Faust, durch die Zerstörung seines Glücks aufs höchste erbost, bohrt der Herzogin das Schwert durch die Brust. Dann flieht er mit Mephis­ tophela auf seinem Zauberrappen aus der klassischen Welt zurück in die raue Wirk­ lichkeit. Auch in der Liebe zu einem unschuldigen Bürgermädchen findet er keine Ruhe. Mephistophela besteht auf ihrem Pakt und reißt ihn mit sich fort in die Hölle. Deutlich ist, dass Heines Faust sich nicht mit dem Goethes vergleichen kann. Heine stellt nur auf das erotische Motiv ab; er verzichtete auf alle weltanschauli­ chen und religiösen Probleme, auf alles faustische Ringen. Er gibt nur Fausts Lie­ besleben im niedrigen, triebhaften Sinne. Er stürzt sich von einer Liebschaft in die 15

16

17

Vgl. Niehaus, Max: Himmel, Hölle und Trikot. Heinrich Heine und das Ballett. Mün­ chen 1959, S. 9 ff. Vgl. Lillie, Roland: Der Faust auf der Tanzbühne. Das Faustthema in Pantomime und Ballett. München 1968; Stumme, Gerhard: Faust als Pantomime und Ballett. Leipzig 1942. Ich folge der Inhaltsangabe in: Niehaus: Himmel (wie Anm. 15), S. 51. Auch abge­ druckt in: Geißler, Horst W.: Gestaltungen des Faust. Die bedeutendsten Werke der Faustdichtung seit 1587 (3 Bände). München 1927, III, S. 351 ff.; Vgl. dazu Enders: Faustdichtungen (wie Anm.13), S. 364 ff.

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andere; das ewig Weibliche ist ihm eine teuflische, vernichtende Macht. Der Held hätte bei Heine mit besserem Recht durchaus „Don Juan“ heißen können. Doch obwohl Heine sich gegen kirchliche Asketik wendet und die Sinneslust triumphie­ ren lässt, siegt am Ende das Nazarenentum über den Hellenismus: Faust geht unter. Entsprechend sinnlich ausschweifend und zügellos sind die Vorlagen, die Heine den Tänzern, die zugleich Schauspieler seiner Pantomime sein mussten, mitgab, wobei selbstverständlich der Hexensabbat im Mittelpunkt steht. Heine verlangt als nächtlichen Schauplatz eine breite Bergkuppe, zu beiden Seiten Bäume, an deren Zweigen seltsame Lampen hängen, die die Szene erleuchten; Vorbild ist der Blocksberg im Harz. In der Mitte ein steinernes Postament, wie ein Altar, auf dem ein großer schwarzer Bock mit einem schwarzen Menschenant­ litz und einer brennenden Kerze zwischen den Hörnern steht. Heine nennt ihn Luzifer („von Gottes Ungnaden König der Finsternis“) oder „Satanas“. Auf den Bäumen hocken Musikanten mit Vogelgesichtern und wunderlichen Saiten- und Blasinstrumenten; es sind höllische Geister in fabelhafter Fratzenbildung oder va­ gabundierende Virtuosen, die von der Landstraße aufgegriffen worden (am liebs­ ten blinde Fiedler oder Flötenspieler, die nicht vor Entsetzen im Muszieren gestört werden können). Die Szene wird belebt von tanzenden Gruppen aus un­ terschiedlichen Gegenden und Zeiten, was bedeutet: auch von Toten, vergleich­ bar einem Maskenball; immer wieder kommen neue Gäste auf Besenstielen, Mistgabeln, Kochlöffeln geflogen, auch auf Wölfen und Katzen geritten, die Her­ zogin – so entblößt als möglich gekleidet, am rechten Fuß einen goldenen Schuh (als Zeichen, dass sie die Auserwählte und Leibmätresse des Luzifers ist) – wird auf einer ungeheuren Fledermaus herangezogen. Die Partner der Hexen und He­ xenmeister sind Teufel von unterschiedlichstem Rang, daher auch unterschiedli­ cher Kleidung, von der unerlässlichen blutroten Hahnenfeder abgesehen. Doch soll – so schreibt Heine vor – der Schönheitssinn nicht verletzt werden, der häss­ liche Eindruck des Fratzenwesens wird gemildert oder verwischt durch märchen­ hafte Pracht und positives Grauen. Vor den Bock treten immer wieder Männer und Frauen, knien nieder und leisten das Homagium des Kusses auf den Hintern. Dann kommt es zu wilden Tänzen, wobei die Tänzer sich den Rücken zudrehen und keiner des anderen Antlitzes schaut (worin Heine in den angefügten „kurio­ sen Berichten über Teufel, Hexen und Dichtkunst“ eine reine Vorsichtsmaßregel sieht, damit man unter der Folter den Partner nicht benennen kann). Heine nennt hier einen solchen Tanz „Gaillard“ und beruft sich auf Johannes Praetorius, der 109

darin einen welschen Tanz sah, „wo man einander an schamigen Orten fasset und wie ein getriebener Topf herumhaspelt und wirbelt“, der also ein „Wirbeltanz vol­ ler schändlicher untätiger Gebärden und unzüchtiger Bewegungen ist, er auch das Unglück auf sich trage, dass unzählig viel Morde und Mißgeburten daraus entste­ hen“. Heine schreibt über den Tanz von Faust und der Herzogin: „ihre über­ schwellende Inbrunst offenbart sich in den verzücktesten Tänzen“, die „die ganze Stufenleiter einer wahren Leidenschaft, einer wilden Liebe, durchtanzen“. Dann verlieren sie sich hinter die Bäume, während viele Mönche und Nonnen in extra­ vaganten Polkasprüngen die Versammelten erquicken. Als Faust und die Herzo­ gin zurückkehren, ist sein Antlitz verstört, er wendet sich von ihr – die ihn mit den wollüstigsten Karessen verfolgt – verdrossen ab. Drei Mohren teilen der Her­ zogin den Befehl mit, sich unverzüglich zu ihrem Herrn und Meister Satanas zu begeben, und schleppen sie zu einem lüsternen Menuett mit dem schwarzen Bock, auf dessen Antlitz „der Trübsinn eines gefallenen Engels und der tiefe Ennui eines blasierten Fürsten“ liegen. Diesen Tanz zwischen dem Bock und der Herzogin führt Heine auf den alten Nationaltanz Sodomas zurück, dessen Tradition von den Töchtern Lots gerettet und sich bis heute erhalten hat. Während die Herzogin zunehmend in Verzweiflung fällt, wendet Faust sich mit Widerwillen und Ekel ab und Mephistophela zu, die ihm das Bild der Helena erscheinen lässt und so seine Sehnsucht nach der vollkommenen hellenistischen Welt weckt. Beide verlassen den Sabbat, während die Herzogin ohnmächtig zu Boden fällt. Der wilde Tanz geht weiter, der plötzlich durch den gellenden Klang eines Glöckchens und einem Orgelchoral, der eine verruchte Parodie der Kirchenmusik ist, unterbrochen wird. Alles drängt hin zum Altar, wo der schwarze Bock in Flammen aufgeht und pras­ selnd verbrennt. „Nachdem der Vorhang schon gefallen, hört man noch die grau­ senhaft burlesken Freveltöne der Satansmesse“. 1900 wurde das fünfte Bild als Pantomime in einem Zirkus verwendet. Erst 1926 wurde das Ballett in Prag mit der Musik von Frantisek Skvor aufgeführt, blieb aber ohne weitere Wirkung. Es sind auch Fotos von einer Aufführung im australischen Sydney durch die Tanzgruppe unter der dänischen Choreographin Hélène Kirsova im Jahre 1941 überliefert, die Musik stammte von dem Österreicher Henry Krips18. Leider gibt es keine Berichte weder von der musikalische noch von

18

Vgl. Niehaus: Himmel (wie Anm. 15), S. 56, die Fotos abgedruckt als Abb. S. 58–60.

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der tänzerischen Umsetzung dieses Programms 1926 in Prag oder 1941 in Sydney, wobei von letzterer nur bekannt ist, dass auf die kaum darstellbaren Ausgeburten von Heines dichterischer Phantasie verzichtet wurde, das Höllenfest sich aber doch als wüste Orgie der Unterweltgeister gestaltete19.

b.

Werner Egk „Abraxas“ (1948)

Am 6. Juni 1948 allerdings hätten sie die künstlerische Darbietung im halbzer­ störten Münchener Prinzregententheater genießen können: nämlich als das „Faust-Ballett nach Heinrich Heine“, das Werner Egk (geboren als Werner Mayer) (1901–1983) unter dem Titel „Abraxas“ nach seinem eigenen Libretto kompo­ niert hatte und dessen Uraufführung er nun als Dirigent leitete20; Choreograph war Marcel Luipart21. Egk hatte zuvor (unter anderem zur Olympiade 1936) schon einige Tanzstücke geschrieben, darunter auch das in Paris aufgeführte Ballett „Joan von Zarissa“ und sich intensiv mit dieser Kunst in ihren modernen Formen beschäftigt. Als der Direktor der Pariser Oper (Serge Lifar) von ihm einen Démon verlangte, begann Egk direkt nach Kriegsende ohne konkreten Auftrag „Abraxas“ zu vertonen. Er knüpfte an Heine an, ohne allerdings dessen ironische Untertöne aufzugrei­ fen, gab auch den Hauptfiguren zum Teil andere Namen; so Bellastriga (das heißt: „die schöne Hexe“) statt Mephistophela (sie tritt in Gestalt einer Ballerina auf, lässt dem greisen Faust die schöne Archisposa erscheinen, für die dieser den Teu­ felspakt schließt und eine jugendliche Gestalt zurückerhält), Archisposa (laut Egk „in der Sage die Erzbuhlin des Teufels, die sich in jeder Zeit und in jeder Gestalt irdisch manifestieren kann“ [so auch in der Gestalt der Herzogin von Parma], die das Weiblich-Dämonische, Nächtlich-Böse, die weltliche Lust, Macht und Üppig­ keit repräsentiert) statt Herzogin (um sie als Teufelsbuhle zu kennzeichnen), das Bürgermädchen erhielt den Namen Margarete. Der Titel „Abraxas“ soll möglichst

19

Vgl. ebd., S. 57.

20

Zuvor hatte es eine nur orchestrale Aufführung in Baden-Baden gegeben.

Dazu Meier: Faustlibretti (wie Anm. 8), S. 449 ff.; Strobel, Heinrich: „Abraxas“ von

Werner Egk, in: Melos 8/9. Mainz 1948, S. 14–18.

21

111

wenig Assoziationen zu Goethes Werk zulassen; Abraxas war in gnostischen Texten des 2. Jahrhunderts der höchste Geist, mit dem die Gnostiker in ihrem Streben nach Einsicht in die jenseitige Welt in magische Verbindung zu treten versuchten (weshalb er in Beschwörungsformeln immer wieder auftauchte)22. Dieses Kunstwerk23 in fünf Bildern (Der Pakt – Die Verstrickung – Pandämo­ nium – Das Trugbild – Die Begleichung) brachte eine vitale, schlagkräftige Musik mit Höllentänzen voll aggressiver Dämonie. Die Sabbatszenen werden in dem dritten Bild als „Pandämonium“ vom Blocksberg in einen Raum mit Dekoratio­ nen aus dem fin de siècle verlegt, anstelle des Bockes regiert Satanas im schwarzen Frack, umgeben von Teufeln (unter ihnen auch Bellastriga) (wobei Egk diese Gruppe als „eine Art Sanctissimum oder Hochaltar“ bezeichnet), was aber die zü­ gellose Orgie und die erotische Atmosphäre dieser teuflischen Messe nicht ab­ kühlen kann. Die Tanzszenen von Faust und Archisposa (der Herzogin von Parma, die er vom Hof entführt hat) gleichen wilden erotischem Liebesrasen, die – so Egk – „keine Empfindung für den Partner mehr kennt, sondern sich im wüstesten Selbstgenuß erschöpft“. Die dämonischen Buhlen und Buhlinnen, die Gesichter mit Gaze verhüllt, führen einen Tanz routiniert-blasierter Lasterhaf­ tigkeit aus. Sie sind dazu verdammt, in Ewigkeit ohne natürlichen Impuls und selbst ohne den Stachel der Begierde die bloße Gebärde des Lasters zu wiederholen. Schließlich fordert und erzwingt Satanas die sexuelle Vereinigung mit Archisposa; Egk schreibt, dass diese „Art sakrilegischer Zeremonie“ nicht einer schauerlichen und grandiosen Feierlichkeit entbehrt und den Höhepunkt der „Schwarzen Messe“ bedeute, deren Zelebrierung das Kernstück bei den Zusammenkünften der Hölle und ihres Anhangs bilden würde. Faust flieht entsetzt und mit dem Ge­ fühl der Erniedrigung und des Ekels. Aus einer zeitgenössischen Besprechung dieser Szenen: „die gesamte Musik ist ein unaufhaltsam sich steigerndes Wech­ selspiel von heftigen Rhythmen und girrenden, peitschenden Streicherfiguren. Auf dem Höhepunkt des Liebestaumels wird das ganze Orchester ein hämmern­ des und stoßendes Schlagzeug“24. Egk vergrößert den höllischen Reigen durch

22

Zur Namensgebung durch Egk vgl. Poeschel: Abraxas (wie Anm. 14).

23

Das Libretto ist abgedruckt ebd., S. 184–190. Dazu Hansen, Claas: Werner Egk – Abraxas.

Studienarbeit 2003; Niehaus: Himmel (wie Anm. 15), S. 8 ff. Zitiert in: Niehaus: Himmel (wie Anm. 15), S. 60.

24

112

eine Veränderung der Schlussszene, in welcher – wie er schreibt – „die Szene zum Inferno wird“. Faust, der mit Bellastriga in ein mittelalterliches Volksfest mit Mummenschanz gerät, ist von der unschuldigen Margarete tief beeindruckt und verliebt sie in sich. Da ein vollkommenes, Gott gefälliges Paar die Ordnung wie­ derherstellen und den Pakt zunichtemachen würde, versucht Bellastriga, die auf­ keimende Liebe – die sich in zärtlichem Tanz und in der Übergabe eines Medaillons an ihn zeigt – zu verhindern. Faust – der durch Bellastriga in einen feurig-schönen Jüngling verwandelt worden war – reagiert auf deren Versuche, die Beziehung zu Margarete zu stören, mit dem Zerreißen des Paktes und wird dadurch nichtsahnend wieder in den alten Faust verwandelt, in welcher Gestalt er von Margarete nicht wiedererkannt wird. Das Medaillon, das der Alte vorweist, wird von ihr als schmählichster Verrat angesehen, sie bricht zusammen. Das mit­ telalterliche Volksfest vor dem Dom nimmt – aufgestachelt durch höllische Mu­ sik und laszive Tanzbewegungen von Bellastriga und Archisposa – hexenhaft­ höllische Züge an. Faust und Margarethe werden von der Menge, deren Tanz zu einer infernalischen Orgie gesteigert wurde, zerstampft. Jedenfalls war dies dem bayerischen Kultusminister Dr. Alois Hundhammer zu viel 25 . Trotz des durchschlagenden Erfolges in fünf umjubelten Aufführungen wurde das Stück erst klammheimlich vom Spielplan abgesetzt, nach Bekanntwer­ den des ministeriellen Eingriffs offiziell verboten: wegen „Beleidigung der Mehr­ heit des Volkes“ und „Verletzung der religiösen Gefühle“ durch diese schwarze Messe. Es kam zu einem kulturpolitischen Skandal und zu einer erregten Diskus­ sion im Landtag, dessen Mehrheit dann am 26. Januar 1949 das Vorgehen des Ministers billigt. Dabei wies Hundhammer – der aufgrund seiner politischen Überzeugung im NS-Staat im Konzentrationslager Dachau eingesperrt worden war – die Behauptung, er habe aus politischen Motiven gegen Egk – der von 1941 bis 1945 Leiter der „Fachschaft Komponisten“ der Reichsmusikkammer gewesen war und die Musik für die Olympiade 1936 komponiert hatte – gehandelt, zurück. Die amerikanische Besatzungsbehörde beobachtet den Skandal mit Besorgnis, weil der Staat in die künstlerische Freiheit eingegriffen habe, sieht aber keine 25

Dazu vgl. Hansen: Egk (wie Anm. 23), S. 15 ff.; Natzer, Ulrike/von Zech-Kleber, Bernhard: Abraxas-Skandal, in: Historisches Lexikon 2016 (https://www.historisches-lexikonbayerns.de/Lexikon/Abraxas-Skandal [Aufruf am 3. Juni 2019]); Poeschel: Abraxas (wie Anm. 14), S. 157 ff.

113

Grundlage für ein Einschreiten. Egk droht Beleidigungsklage an, führt dann einen Schadenersatzprozess, der nach mehreren Jahren mit einem Vergleich endet. Das Stück setzte sich aber dennoch (und vielleicht gerade auch deshalb) durch, was Dr. Hundhammer zu dem Satz verleitete: „Diejenigen, die die Schweinerei sehen wollen, sollen ihr ruhig nachlaufen“. 1949 folgte die Aufführung in Berlin, mit ebenso großem Erfolg. „Abraxas“ wurde Egks erfolgreichstes Ballett.

c.

Bertold Hummel „Faustszenen“ (1977)

Am 25. September 1979 wurde das Werk Heines im Rahmen der Berliner Fest­ wochen in einer anderen musikalischen Gestaltung neu aufgeführt: als „Ballett nach einem Tanzpoem von Heinrich Heine für Bläser- und Schlagzeugensemble“, das der schwäbische Musiker und Komponist Bertold Hummel (1925–2002) unter dem Titel „Faustszenen“ für 16 Holz- und Blechbläser und 5 Schlagzeuger geschrieben hatte; allerdings nur konzertant ohne Tänzer (und auch ohne Text­ programm). Entsprechend der Vorlage heißt die vierte Szene „Hexensabbat“. Unter Aufnahme einer an Wagner erinnernden Leitmotivtechnik, die die Figuren der Handlung charakterisieren, aber zugleich auch deren Metamorphosen zum Ausdruck bringen können, wird die Vorlage Heines gestrafft, aber im Wesentli­ chen unverändert in 50 Minuten umgesetzt. Die Kritik war durchaus angetan: Das Werk sei „mit eminentem Klangsinn und Sinn für Effekte gearbeitet. Eine solche Sammlung zumal von differenzierten Schlagzeugwirkungen erlebt man nicht alle Tage“; und die „Musik ist von krasser szenischer Wirkung“, die „Klang­ sprache primär bildlich und assoziativ“. Gelobt wurde das Zusammenspiel von meckernden Holzbläsern und ehernen Posaunenklängen, grundiert von Schlag­ zeug-Exzessen.

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III. Bühnenmusik

C. v. Sichem, Faust und Mephisto, Kupferstich, 1677

© Mittelalterliches Kriminalmuseum

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Ein Ballett konnte auch in einem Schauspiel oder in einer Oper vorgesehen wer­ den, also eingebunden in eine dichterische Erzählung; wie es zum Beispiel 1859 Charles Gounod in seiner Oper „Faust“ („Margarethe“) oder 1868 Arrigo Boito in seinem „Mephistopheles“ („Mefistofele“) versuchten. Auch Hervé (Ronger Florimond) gestaltete die Hochzeit von Dr. Faust und Marguerite in seiner Ope­ rette „Der kleine Faust“ (1869) zu einem ausgelassenen Treiben, getreu der Wal­ purgisnacht entsprechend. Ich beginne mit einigen allgemeinen Bemerkungen zur Schauspielkunst (B.III.1.), an die sich beispielhafte Ausführungen zu Shake­ speares „Macbeth“ (B.III.2.) und Goethes „Faust“ (B.III.3.) anschließen. Ein An­ spruch auf Vollständigkeit wird auch hier nicht erhoben.

1.

Schauspielmusik

Es geht also um die Schauspielmusik oder Bühnenmusik, ein Bereich, der von der Musik- und Theatergeschichtsforschung stiefmütterlich behandelt worden ist26. Dies ist dadurch verständlich, dass diese Musik ihren Schwerpunkt im Voll­ zug – also in dem theatralischen Ereignis – hatte. Eine Partitur wurde meist nicht angefertigt; oder sie wurde nicht aufbewahrt. Im besten Falle bezog sich der Diri­ gent auf einen Klavierauszug; oft herrscht Improvisation. Man kann sagen: Die Musik wurde mehr arrangiert als komponiert. Trotzdem ist festzuhalten, dass auch Schauspieltheater ohne musikalische Begleitung lange Zeit nicht denkbar war. Nicht nur in den alle Sinne ansprechenden Jesuiten- und Benediktinerdra­ men, sondern auch in den Volksspielen und schließlich in den „ernsten“ Auffüh­ rungen. Anfangs war diese Musik von dem Dichter des Schauspiels selbst vorgesehen. Sie sollte etwa einen Tanz, ein Fest, ein Begräbnis oder einen Marsch erklingen lassen und die Szene musikalisch erweitern, um die Stimmung zu steigern. Später diente die Musik der Interpretation des Schauspiels aus der Sicht des Komponis­ ten, der dies in einem Vorspiel zur Einführung und in Zwischenaktstücken für 26

Dazu Altenburg, Detlef/Schmidt, Beate Agnes (Hrsg.): Musik und Theater um 1800. Sinzig 2012; Meier, Hedwig: Die Schaubühne als musikalische Anstalt. Studien zur Ge­ schichte und Theorie der Schauspielmusik im 18. und 19. Jahrhundert sowie zu ausge­ wählten „Faust“-Kompositionen. Bielefeld 1999.

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die jeweilige Situation des dramatischen Geschehens versuchte. Endpunkt der Entwicklung war das sich in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts herausbildende Melodram, in dem sich gesprochener Text, Gestik und Instrumentalmusik ab­ wechseln oder überlagern, ohne dass – wie in der Oper – gesungen wird. Für die musikalische Begleitung eines Hexensabbats in einem Schauspiel kom­ men vor allem zwei „Klassiker“ in Betracht: Shakespeares „Macbeth“ und Goethes „Faust“.

2.

William Shakespeare „Macbeth“ (1606)

Betrachten wir zunächst Shakespeares „Macbeth“27, um 1606 entstanden. In Be­ tracht kommen vier Szenen, in denen die drei Hexen auftreten (I 1; I 3; III 5; IV 1); in zwei von ihnen (III 5; IV 1) gesellt sich Hekate zu ihnen, die Meisterin der Hexen, wie es auch Macbeth weiß: „Hexenkunst begeht den Dienst der blei­ chen Hekate“. Hekate spricht ein anderes Versmaß, die Regieanweisungen für ihre Auftritte sind seltsam unklar, es finden sich nur die Anfangszeilen ihrer Lie­ der („Come away, come away; Black spirits“). Offenbar sind die Hekate-Szenen nachträglich eingefügt, wobei die meisten Interpreten auf Thomas Middleton, 27

Dazu Schabert, Ina (Hrsg.): Shakespeare-Handbuch. Stuttgart 4. Auflage 2000, S. 561 ff.; Martin, Dieter: Deutsche Shakespeare-Opern um 1800, in: Goethezeitportal: http://www.goethezeitportal.de/db/wiss/epoche/martin_shakespeare_opern.pdf (Auf­ ruf am 24. Mai 2019); vgl. dazu Kramer, Ursula: Herausforderung Shakespeare. ‚Analoge‘ Musik für das Schauspiel an deutschsprachigen Bühnen zwischen 1778 und 1825, in: Die Musikforschung 55. Kassel 2002, S. 129–144; Oschmann, Susanne: „Dämme­ richt und grausenvoll“ – Die Hexen von Berlin. Zur Schauspielmusik zwischen Klassik und Romantik, in: Langer, Arne/Oschmann, Susanne (Hrsg.): Musik zu ShakespeareInszenierungen. Berlin 1999, S. 49–66; Schmidt, Beate Agnes: Griechischer Chor und wilde Hexen in Shakespeares „Macbeth“, in: Klassik Stiftung Weimar (Hrsg.): Ereignis Weimar. Anna Amalia, Carl August und das Entstehen der Klassik 1757–1807 (Katalog). Leipzig 2007, S. 234–235; Schmidt, Beate Agnes: „Fürchterlich schöne” Hexenmusik in Schillers Macbeth: zum Umgang mit Schauspielmusik auf dem Theater um 1800, in: Edler, Arnfried u.a. (Hrsg.): Musik, Wissenschaft und ihre Vermittlung: Bericht über die Internationale Musikwissenschaftliche Tagung der Hochschule für Musik Hannover. Augsburg 2002, S. 297–300.

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den Verfasser des Stückes „The Witch“, tippen, das diese beiden Lieder vollstän­ dig enthält; die Ergänzung wird auf 1613 bis 1618 geschätzt. Als Quellen dieser Szenen werden die zeitgenössischen Traktate von Reginald Scott und King James genannt; manche nehmen einfach ein zeitgemäßes Allgemeinwissen an. Es ist sicher, dass „Macbeth“ frühzeitig von Schauspielmusik begleitet wurde. Noch mehr: Ab 1664 wurden die Hexenszenen in der opernhaften Adaption von W. Davenant gespielt, die zu komischen Showeinlagen mit Tanz und Gesang um­ gestaltet waren und von Männern gespielt wurden. 1702 schuf Richard Leveridge eine musikalische Begleitung. Die deutschen Komponisten dagegen legten seit dem späten 18. Jahrhundert Wert darauf, dass ihre Musik ernst genommen wurde, weshalb die intensive Shakespeare-Rezeption um 1800 zugleich zur ästhe­ tischen Etablierung des Genres „Schauspielmusik“ wurde. So finden wir um 1780 bereits eine solche Musik zu „Macbeth“ von Johann André, Johann Rudolf Zum­ steeg, Carl David Stegmann, um 1778 von Samuel Arnold, Christian Gottlob Neefe (1779 Mannheim), Franz Andreas Holly (1780 Breslau), Ignaz Fränzle (1788 Mannheim), Johann Gallus Mederitsch (1794 Pest). Der entscheidende Vorstoß gelang Johann Friedrich Reichardt28, der sich von Bürgers „Macbeth“Übersetzung und ihren naturalistischen Hexen-Szenen 1787 zu großen Einlei­ tungs- und Begleitmusiken inspirieren ließ. Diese Musik beeindruckte durch dif­ ferenzierte Instrumentation und grundierte mit unkonventionellen Klängen die von Bürger gewünschte musikalische Rezitation der „Zauberverse“. Lange Nach­ wirkung sicherte sich Reichardts Schauspielmusik nicht zuletzt durch ihre (Teil-) Veröffentlichung unter dem Titel „Einige Hexenscenen aus Schakespear´s

28

Dazu Martin: Shakespeare-Opern (wie Anm. 27); Kramer, Ursula: Auf den Spuren des Häßlichen. Johann Friedrich Reichardts Hexenszenen aus Schackespear’s Macbeth, in: Archiv für Musikwissenschaft 57. Stuttgart 2000, S. 301–307; Schmidt, Beate Agnes: Nordische Hexen im antiken Gewand. Reichardts Musik zu Shakespeares „Macbeth“ im Experimentierfeld der Weimarer Bühnenästhetik, in: Seemann, Hellmut Theodor/ Valk, Thorsten (Hrsg.): Übertönte Geschichten. Musikkultur in Weimar (= Jahrbuch der Klassik Stiftung Weimar 2011). Göttingen 2011, S. 67–89; Schmidt, Beate Agnes/ Franz, Hildegard: Johann Friedrich Reichardts „Hexenscenen aus Schakespears Macbeth“, in: Altenburg, Detlef/Schmidt, Beate Agnes (Hrsg.): Musik und Theater um 1800. Konzeptionen - Aufführungspraxis - Rezeption (= Musik und Theater 1). Sinzig 2012, S. 157–178.

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Macbeth“ (1789). Lange Zeit wurde diese Musik an deutschen Theatern verwendet. Daneben gab es aber auch andere Kompositionen: 1825 Louis Spohr für Leipzig, 1926 Wilhelm Petersen, 1934 Aram Chatschaturjan, 1942 Karl Amadeus Hart­ mann, 1992 Joseph Diermaier, 1994 Peter Herborn, 1998 Simone Danaylowa. Ebenso sind die Schauspielmusiken von Arthur Sullivan (1888) und William Wal­ ton (1942) zu nennen. Ich kenne nun diese vielen Begleitmusiken – auch wenn die Noten erhalten sind – nicht; deshalb kann ich nicht sagen, ob und wie der Hexensabbat in diesem Stück musikalisch dargestellt wurde und wird. Ich möchte aber die Frage stellen, ob „Macbeth“ wirklich zu unserem Thema passt, ob es also in diesem Stück wirk­ lich einen Hexensabbat gibt. Es fällt auf den ersten Blick auf, dass der Teufel nicht vorkommt, daher auch keine teuflische Verehrung durch die drei Frauen; Sexua­ lität hat keinerlei Bedeutung. Es ist überdies bereits fraglich, ob dies wirklich Frauen sind; immerhin tragen sie einen Bart. Allerdings werden sie im Originaltext als Weird-Sisters bezeichnet. Doch ist jedenfalls mit Katherine Mary Briggs daran zu zweifeln, dass sie menschliche Gestalten sind29. In ihrer Namenlosigkeit erinnern sie eher an Nornen oder Sibyllen; ist ihr hauptsächlich geschildertes Ge­ schäft doch das Wahrsagen, verstanden als magische Beantwortung der Fragen des Macbeth nach der Zukunft. Ihre Dreiheit scheint symbolisch für Vergangen­ heit, Gegenwart und Zukunft zu stehen. Auch ihre Unterordnung unter Hekate, die als Göttin der Unterwelt den Kontakt mit den Toten herzustellen vermag (die dann außerhalb der Zeit stehen und deshalb die Zukunft sehen), spricht eher für eine zwar übernatürliche, aber nicht diabolische Wesenheit. Allerdings sind sie (mit ihrer Herrin) Unheilsbringer, die über Wind und Wetter gebieten, durch die Luft fahren können, Tiere töten; auch für Macbeth stellen sie Unheil dar, ohne ihn freilich heteronom zu bestimmen. Sie treiben nur die bereits in ihm vorhan­ denen unheiligen Wünsche hervor und unterstützen sie durch ihre zauberischen Prophezeiungen. Die Zusammenkunft der drei Hexen ist deshalb für mich kein eigentlicher He­ xensabbat. Daran ändert auch das Hinzutreten der Hekate nichts. Sie brauen in der Szene des vierten Aktes (IV 1), der durch die Szene des dritten Aktes (III 5) 29

Briggs, Katharine Mary: Pale Hecate's team. An examination of the beliefs on witch­ craft and magic among Shakespeare's contemporaries and his immediate successors. London 1962, S. 77.

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von Hekate vorbereitet wird, die die erforderlichen Zauberutensilien besorgt, den Zaubertrank, der all die Erscheinungen auftreten lässt, die Macbeths Fragen be­ antworten sollen. Es sind Hexenzusammenkünfte, in denen durchaus auch Un­ heil besprochen, geplant und durchgeführt wird. Man kann aber nicht und sollte auch nicht von einem Hexensabbat sprechen. Daher wird im Folgenden auch auf die Macbeth-Opern nicht (mehr) eingegangen.

3.

Johann Wolfgang Goethes „Faust“ (1808)

So bleibt der zweite genannte Klassiker über, der eindeutig einen Hexensabbat schildert: Goethes „Faust“30, der in der „Walpurgisnacht“ genannten Szene schil­ dert, wie Faust von Mephisto zum Hexentanz auf den Blocksberg gelockt wird. Sie geraten in eine Windsbraut, ein Gewimmel von Hexen, die zur Bergspitze hin­ aufreiten, wo der Teufel Hof hält. Faust wünscht sich, bis zum Gipfel vorzudrin­ gen: „Dort strömt die Menge zu dem Bösen; Da muss sich manches Rätsel lösen“. Mephisto aber überredet Faust, stattdessen an einer Hexenfeier teilzunehmen. Er bietet ihm an, dort als Fausts Kuppler zu fungieren. Bald ergehen sich beide im Tanz und anzüglichem Wechselgesang mit zwei lüsternen Hexen. Faust bricht den Tanz ab, als seiner Partnerin ein „rotes Mäuschen“ aus dem Mund springt und ihm ein „blasses, schönes Kind“ erscheint, das ihn an Gretchen erinnert und ein „rotes Schnürchen“ um den Hals trägt (eine Vorausdeutung auf Gretchens Hinrichtung). Er flieht die Hexenfeier. Es ist außerhalb des Kreises von Spezialisten zu wenig bekannt, dass Goethe selbst seinen Faust – dessen Gestalt um 1800 konzipiert wurde – von vornherein für eine musikalische Gestaltung geschaffen hat. Die ersten Bühnenversuche in Weimar von 1810 bis 1812, die Goethe selbst und dann Fürst Anton Heinrich Radziwill unternahmen, zeigen deutlich ein musikdramatisches Konzept. Goethe unterstützte die Vertonung des Fürsten, die dieser als „Compositionen zu Göthe´s Faust“ von 1808 bis 1832 versuchte31. Er hielt nach geeigneten Musikern 30

31

Dazu Miller, Norbert: Die ungeheure Gewalt der Musik. Goethe und seine Komponis­ ten. München 2009; Schmidt, Beate Agnes: Musik in Goethes ‚Faust‘. Dramaturgie, Rezeption und Aufführungspraxis (= Musik und Theater 5). Sinzig 2006. Dazu Meier: Faustlibretti (wie Anm. 8), S. 105 ff.; Schmidt: Musik (wie Anm. 28), S. 203 ff.

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als möglichen Komponisten für eine Schauspielmusik Ausschau; so erteilte er einen Kompositionsauftrag an Carl Friedrich Zelter und Carl Eberwein. Er wünschte sogar eine Gesamtvertonung des Werkes und dachte anfangs an Mozart, vielleicht auch an Meyerbeer. Die Vorhaben scheiterten. Denn obwohl Goethe selbst der Musik als solcher einen dämonischen Charakter zuschrieb (weil sie eine das Ver­ standesmäßige überschreitende Wirkung habe), kam er zu dem Schluss, dass eine passende Musik für das „Abstoßende, Widerwärtige, Furchtbare, was sie [die Mu­ sik] stellenweise enthalten müsste“ wohl nicht zu finden sei. Dies lag sicherlich einmal an dem damaligen Stand des Musikschaffens, die im Nachwirken der mit­ telalterlichen Konzeption sich noch nicht zu einer solchen Wildheit fortreißen ließ, wie wir sie bei Berlioz gesehen haben. Zweitens aber trennten die Theater­ macher um 1830 noch deutlich das „Unmögliche“ und „Undarstellbare“ von dem darstellbar Möglichen, von Kürzungen aus Zeit- und Geschmacksgründen abge­ sehen. August Klingebach, der Regisseur der Uraufführung des „Faust“ 1829 in Braunschweig, zählte zu diesen notwendig zu streichenden Szenen unter anderem auch den „Hexensabbath auf dem Blocksberge“32. Sie wissen, dass Goethe sich an diese Maxime bei der Druckfassung seines Stücks gehalten und diese Walpurgis­ nacht nur in gekürzter Fassung veröffentlicht hat. Albrecht Schöne hat die Origi­ nalfassung rekonstruiert33. Für die Praxis der ersten Aufführungen des Faust wurde die Konsequenz auch gezogen. Die Szene des Hexensabbats wurde meist gestrichen, jedenfalls aber nicht musikalisch begleitet34. Nur Ludwig Tieck sah für die Dresdner Aufführung 1829 eine Art Pantomime vor, die nicht von Musik begleitet wurde, sondern zu der nur eine „Donner- und Sturm-Kulisse“ ertönte. Die Personen agierten aller­ dings wie Feen oder wie in der Wolfsschlucht in Webers „Freischütz“, was den Ernst des Stückes deutlich störte. Zwar meine die Presse, dass das „infernalische Treiben und Toben der Walpurgisnacht […] von ergreifender Wirkung“ gewesen

32 33

34

Ebd., S. 85.

Schöne, Albrecht: Götterzeichen, Liebeszauber, Satanskult. München 1982. Dazu kri­ tisch Zabka, Thomas: Dialektik des Bösen. Warum es in Goethes ‚Walpurgisnacht‘ kei­ nen Satan gibt, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 723, Göttingen 1998. Schmidt: Musik (wie Anm. 28), S. 116, 292, 296, 299, 349 ff.

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sei; doch wurde die Szene nur bei der ersten Aufführung gespielt und dann ein­ fach weggelassen35. Dies änderte sich erst um 188036. Der Schwerpunkt der Inszenierungen verla­ gerte sich von der Gretchenkatastrophe und dem Scheitern des faustischen Cha­ rakters hin zu der Dämonie, die in diesem Stück lag. Die Walpurgisnacht bot die Gelegenheit zu erotischem Tanz und wilder, ausschweifender Musik. Ich kann hier nicht versuchen, einen Überblick über die vielen Schauspiel­ musiken zu geben, die in der Folgezeit aufgeführt wurde. Ich möchte nur ein neueres Beispiel geben (das an der Grenze zur Filmmusik – die ich hier nicht behandle – steht): Gustav Gründgens inszenierte 1957 als neuer Intendant am Hamburger Schauspielhaus das Stück, in dem er über 600-mal in 40 Jahren als Mephisto aufgetreten und geglänzt und dabei dieser Gestalt den ironischen, zyni­ schen und alles kritisierenden Ton und das nicht normal menschliche Aussehen verliehen hatte. Endlich gelang es, seine Abneigung gegen eine Verfilmung zu überwinden, da man einen Kompromiss zwischen abgefilmtem Bühnenstück und eigenständiger Filmkunst fand, den der eigene Adoptivsohn (Peter Gorski) als Regisseur umsetzte. 1960 wurde gedreht, mit Gründgens als Mephisto und Will Quadflieg als Faust, im Wesentlichen originalgetreu. Nur in der Walpurgisnacht­ szene wurde eine Atombombenexplosion eingebaut. Die Musik stammte von Mark Lothar (1902–1985).

IV. Einige Hexensabbate in der Oper Hier liegt der Schwerpunkt auf dem Faust-Stoff (unter B.IV.2.). Doch soll zuvor unter B.IV.1. auf eine originelle Variation dieses Themas eingegangen werden. Auch hier gilt: Ohne Anspruch auf Vollständigkeit werden einige Beispiele vor­ gestellt, die in einigen Fällen zu dem Standardrepertoire der Opernhäuser gehö­ ren und daher vielfach bekannt sind.

35 36

Ebd., S. 302. Ebd., S. 425.

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1.

Heinrich Marschner „Der Vampyr“ (1828)

Vom Titel her hat der Held der Oper, die der Leipziger Kapellmeister Heinrich Marschner (1795–1861) im Jahre 1828 nach einem Libretto von Wilhelm August Wohlbrück (nach einem gleichnamigen Schauspiel von Heinrich Ludwig Ritter aus 1822) schuf, mit Hexerei nichts zu tun. Die Vorstellung von Vampiren 37 wurde erst im 17. Jahrhundert aus dem südosteuropäischen Raum in das östliche Österreich getragen. Zentral war zunächst nicht das Blutsaugen durch einen Un­ toten, sondern das Verlassen des Grabes des Verstorbenen als eines Wiedergän­ gers, der als gefährlich angesehen wurde. In Rumänien sprach man in diesem Zusammenhang von strigoi, wobei diese Bezeichnung vom lateinischen strix be­ ziehungsweise striges abgeleitet werden kann und somit durchaus eine antike Ge­ stalt betraf, die mit der Hexerei in Verbindung gebracht wird. Es wurden mit diesem Namen sowohl Untote als auch verfluchte Lebende bezeichnet, wobei an einen Teufelspakt nicht gedacht wurde. Zudem war von einer Gemeinschaft die­ ser Vampire nicht die Rede. Zu der dämonischen Gestalt, die wir heute aus Ro­ manen und Filmen kennen, wurde der Vampir durch den englischen Arzt und Schriftsteller John William Polidori (1795–1821), der ab 1816 für Lord Byron als Leibarzt arbeitete und mit dem er im selben Jahr am Genfersee gemeinsam unter anderem mit Mary Godwin (später: Shelley) regenreiche Tage verbrachte, die man zum Erzählen von Schauergeschichten nutzte. Mary schrieb „Frankenstein“, Byron skizzierte eine Vampirgeschichte, die Polidori aufgriff und ausbaute. 1819 wurde sie veröffentlicht und Byron zugeschrieben, wodurch sie weltbekannt wurde und den modernen Vampirmythos begründete. Ritter und Wohlbrück griffen auf diese Erzählung von Polidori zurück und zo­ gen eine Verbindung zu den Hexenleuten. Der Held der Oper, Lord Ruthven, ist bereits zu Lebzeiten zum Vampir geworden, offensichtlich durch ein Bündnis mit dem Teufel. Denn der Teufel – hier als „Vampyrmeister“ bezeichnet und als bloße 37

Dazu vgl. Copper, Basil: Der Vampir in Legende, Kunst und Wirklichkeit. Leipzig 2007; Kremer, Peter: Draculas Vettern. Auf den Spuren des Vampirglaubens in Deutschland. Düren 2006; Kreuter, Peter Mario: Der Vampirglaube in Südosteuropa. Studien zur Genese, Bedeutung und Funktion. Rumänien und der Balkanraum. Berlin 2001; Schaub, Hagen: Blutspuren: Die Geschichte der Vampire. Auf den Spuren eines Mythos. Graz 2008.

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Sprechrolle gestaltet –, zugleich Herr der zu Beginn des Stückes in der Wildnis bei einer Höhle versammelten Hexen (und Hexenmeister) und Geister, gewährt ihm ein weiteres Lebensjahr (wodurch er von der Hölle verschont wird, wo ein Vam­ pir die schlechteste Stellung hat), wenn er ihm binnen 24 Stunden drei jungfräu­ liche Seelen „besorgt“. Zweimal ist Ruthven erfolgreich, bei der dritten greift deren Geliebter, der seine Wesensart erkannt hat, ein und entlarvt ihn vor dem Altar der Hochzeitsfeier. Da die 24 Stunden um sind, fährt der Vampir vom Blitz getroffen in die Hölle. Diese Versammlung der Hexen und Geister als „Hexensabbat“ zu bezeichnen, geht wohl nur schwer und mit Abstrichen an. Es fehlt jeder Bezug zum elaborier­ ten Hexereibegriff. Hexen sind bloß irgendwelche unheimliche Wesen, die laut Libretto denn auch wie die Geister „in abenteuerlichen Gestalten“ auftreten und bei romantischer Musik ebensolche Verse singen: „Ihr Hexen und Geister, schlingt fröhlich den Reihn, bald wird unser Meister hier unter uns sein! Wegen grauser Freveltaten ward der Boden hier verflucht, drum wird er von uns gesucht, dass wir uns auf ihm beraten. Lichtscheu in der Mitternacht, wenn nur Angst und Bosheit wacht, schleichen wir beim Mondenschein in die finstre Kluft hinein“, und so weiter. Anzumerken ist, dass auf Marschners Oper die gleichnamige Fernseh-Miniserie („A soap opera“) der BBC von 1992 beruhte.

2.

Der Faust-Stoff

Der Faust-Stoff in seinen unterschiedlichen Quellen (Volksbuch „Historia von D. Johann Fausten“, 1587; Puppenspiel; dichterischen Gestaltungen von Marlowe über Klinger bis Goethe) ist auch von zahlreichen Musikern vertont worden; die Liste der Faust-Opern und sonstigen musikalischen Verarbeitungen ist umwer­ fend38. Doch finden sich in den wenigsten dieser Werke eine Vertonung des He­ xensabbats, selbst wenn sie sonst – wie zum Beispiel in der 1887 geschaffenen 38

Vgl. die Übersicht in: Fricke, Hannes/Grenzmann, Ludger: „Faust“ und die Musik, in: Möbus, Frank u.a. (Hrsg.): Faust. Annäherung an einen Mythos. Göttingen 1995, S. 153–168; Grimm, Gunter E.: Faust-Opern. Eine Skizze. 2005 (http://www.goethe­ zeitportal.de/fileadmin/PDF/db/wiss/goethe/faust-musikalisch_grimm.pdf/ [Aufruf am

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Oper „Faust“ von Heinrich Zöllner (1854–1941) – auf den Goetheschen Text un­ mittelbar zurückgreifen. Ich greife drei Beispiele als Ausnahmen heraus, wobei auch ein „uneigentlicher“ Hexensabbat zu finden ist (auf den bereits unter A.II. hingewiesen ist).

a.

Louis Spohr „Faust“ (1813)

Wohlbrücks/Marschners Oper schließt im Stil in gewisser Weise an eine Verto­ nung des Faust-Stoffes an, die 1813 geschaffen, 1818 in Wien als Singspiel urauf­ geführt, 1852 für Covent Garden durchkomponiert wurde, sich aber nicht an der Dichtung Goethes (veröffentlicht im Ersten Teil 1808), sondern unmittelbar am Volksbuch („Historia von D. Johann Fausten“, 1587) und an dem Ritter- und Schauerromantik verbreitenden Roman „Fausts Leben, Taten und Höllenfahrt“ (1791) von Friedrich Maximilian Klinger orientierte. Komponist war der Kapell­ meister und Geiger Louis Spohr (1784–1859), das Libretto stammte von Josef Carl Bernard; der Titel „Faust“39. Auf den Inhalt im Einzelnen ist hier nicht einzugehen; es interessiert nur die Blocksbergszene. Mephisto ist aus der Hölle verbannt, darf nur zurückkehren, wenn er Fausts Seele gewinnt: Dann nämlich, wenn dieser dreimal schwört (was er zuletzt tut, um Röschen zu retten, wodurch er die Höllenfahrt antreten muss). Zunächst geht es aber um die Befriedigung der sinnlichen Liebes- und Lebenslust, wozu Faust einen Trank braucht, der jede Frau zwingt, ihn zu lieben. Diesen erhält er am Blocksberg von der alten Hexe Sycorax. Der Trank wirkt so schnell (und gut), dass Faust vor den in Liebe entbrannten versammelten Hexen fliehen muss.

39

24. Mai 2019; Kreutzer, Hans Joachim: Faust: Mythos und Musik. München 2003; Meier: Faustlibretti (wie Anm. 8); Meier: Schaubühne (wie Anm. 26); Panagl, Oswald: Faust und Mephisto. Ein deutscher Mythos auf der Opernbühne, in: Der Neue Merkur, München 1997, S. 1 ff.; Reischert, Alexander: Kompendium der musikalischen Sujets. Ein Werkkatalog (Band 1). Kassel 2001, S. 355 ff.; Theens, Karl: Faust in der Musik, in: Faust-Blätter N.F. 4. Stuttgart 1968, S. 106–123; Vgl. auch Aign, Walter: Faust im Lied. Knittlingen 1975; Fähnrich, Hermann: Faust in Kantaten, Oratorien, symphonischen Dichtungen und symphonischen Kantaten. Knittlingen 1978. Vgl. auch Prodolliet, Ernst: Faust im Kino. Fribourg 1978. Dazu Meier: Faustlibretti (wie Anm. 8), S. 178 ff.

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Diese Blocksbergszene gilt als „Meisterwerk romantischer Inspiration“, die den zweiten Akt eröffnet „mit der geheimnisvollen Adagio-Introduktion, den prickelnd rhythmisierten, zwischen h-Moll und H-Dur wechselnden Hexenchören und dem leise verklingenden, das Verfliegen des Zaubers andeutenden Schluss“.40 Es findet sich nichts Düsteres oder Schwarzes, sondern Bernard und Spohr setzten mehr auf elfischen Zauber41. Die Musik ist von einer quirlenden Lebendigkeit und bestechenden Frische, wie man sie sonst nur von den genialen Schöpfungen des jungen Mendelssohn, zumal im „Sommernachtstraum“ (1821) kennt. Für Zelter waren „die Hexenchöre mit der höchst originellen Begleitung wahre Meister­ stücke“. Es erscheinen in der Nacht am Blocksberg „Hexen in phantastischem Aufzuge singend und tanzend“, nämlich singend im Chor: „Brenne Laterne! Nahe und ferne dämmere auf! Flimmer´ und leuchte über die feuchte Heide hinauf! Dass wir sausen, dass wir brausen Hussassa laut! Bis es graut“. Eine Stimme fährt fort: „Wenn die Weide sproßt, wenn der Kuckuck ruft, und die Heide sproßt, zieh´n wir durch die Luft auf den alten Blocksberg aus. Bei des Irrlichts Glanz um die zwölfte Stund´ sind wir da zum Schmaus, sind wir da zum Tanz, von dem ganzen Erdenrund. Und in Saus und Braus wird die Nacht durchwacht, geht die Lampe aus, ist das Fest vollbracht, wenn es graut, sind wir zu Haus“. Und als Höhepunkt: „Frisch zum Tanze rings im Kranze! Hussassa laut!“

b.

Charles Gounod „Faust“/„Margarete“ (1859)

Eng an Goethes Dichtung hielt sich dagegen das Libretto der Oper „Faust“ (deutsch: „Margarete“), das der französische Goethe-Übersetzer Michel Carré ge­ meinsam mit Jules Barbier 1856 bis 1858 für den Komponisten und Organisten Charles Gounod (1818–1893) – der sich mit dem Stoff seit 1838 beschäftigt, zuvor schon musikalische Entwürfe zur Walpurgisnacht angefertigt und eine Bühnen­

40 41

Vgl. Grimm: Faust-Opern (wie Anm. 38), S. 6 f.

Dazu und zum Folgenden Harders-Wuthenow, Frank: Spohrs Faust – das ‚missing

link‘ der deutschen Operngeschichte, in: Booklet der Live-Aufnahme der Bielefelder Inszenierung. Georgsmarienhütte 1993, S. 8–17.

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musik zu dem Stück von Carré komponiert hatte – verfasste.42 1859 wurde das Werk als Dialogoper (also mit gesprochenen Einlagen) in Paris mit großem Erfolg uraufgeführt, bald darauf in Straßburg mit der Ablösung der Dialoge durch Rezi­ tative; für die Pariser Aufführung 1869 wurden nachträglich mehrere Ballettsze­ nen für die Walpurgisnacht komponiert. Trotz dieser Anlehnung an Goethes „Faust Erster Teil“ (1808) wurde die Walpur­ gisnacht mit Elementen der klassischen Form in „Faust Zweiter Teil“ konzipiert. Die Szene spielt zwar im Harzgebirge, der Eingangschor singt auch: „Hexen zum Brocken in Scharen ziehn. Gelb sind die Stoppeln, die Saaten grün. Über die Wege zieht es herauf, über die Stege dränget der Hauf! Von allen Seiten, von nah und fern, kommt hergezogen! Wir sehn euch gern. Irrende Lichter, tanzet herbei, Geister der Hölle, heut seid ihr frei, ruhlose Seelen, heut seid ihr frei!“ Dies singt aber der Chor der Irrlichter, der dann auch nach dem Erscheinen von Mephisto und Faust jubelt: „Heut feiern wir Walpurgisnacht! Huhu! Huhu! Huhu! Huhu!“ Die Hexen und Höllengeister bleiben stumm, sind anfangs auch nicht auf der Bühne. Auf einen Wink von Mephisto, der den verstörten Faust ablenken will, „öffnen sich die Berge; man sieht einen prachtvollen Palast. Königinnen und Frauen der Vorzeit beim Mahle“ (so die Regieanweisung). Dies erinnert an den Venusberg, über den unter A.II.2. berichtet wurde, in dem im eigentlichen Sinne kein Hexensabbat stattfindet. Mephisto nennt ausdrücklich unter diesen „Königinnen und Kurtisanen“ Kleo­ patra und Helena; alle Frauen sind durch ihre Schönheit charakterisiert, was durch den Chor herausgehoben wird: „Lasst die Becher uns leeren, doch füllt sie bis zum Rand, um die Schönheit zu ehren hier in der Liebe Land!“ Mephisto fordert Faust auf, einen Vergessenstrank zu trinken und sich zu diesen schönen Frauen zu gesel­ len und sich des Festes mit ihnen zu erfreuen. Faust gehorcht, doch tritt der Erfolg nicht ein. „Er scheint einer fernen Stimme zu lauschen. Es wird finster, die Frauen verschwinden […] Der Palast versinkt“. Die Szene verwandelt sich, sie spielt nun im Brockental, in dem sich „Geister“ (offensichtlich: die oben genannten Höllen­ geister) versammelt haben (von Hexen keine Spur). Auf einem Berggipfel sieht Faust die Erscheinung der enthaupteten Margarete, er zieht Mephisto mit fort und „bahnt sich mit gezogenem Degen einen Weg durch die Geister“.

42

Dazu Grimm: Faust-Opern (wie Anm. 38), S. 10 f.; Meier: Faustlibretti (wie Anm. 8), S. 254 ff.; Panagl: Faust (wie Anm. 38), S. 12 f.

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c.

Arrigo Boito „Mefistofele“ (1868, 1875)

Etwas wilder geht es in der Oper zu, die Arrigo Boito (1842–1918) zu eigenem Libretto nach Goethes Faust-Dramen 1868 schuf und ihr den Titel „Mefistofele“ gab 43 . Boito war Wortführer der neoromantischen Intellektuellenbewegung in Mailand, schwärmte für Baudelaire, schrieb unter anderem für Verdi die Libretti „Othello“ und „Falstaff“ und wählte für seine einzig fertiggestellte Oper eine neue ästhetische Form: keine Abfolge von Arien und Nummern, sondern Primat der dramatischen Handlung, Entwicklung von Klang und Rhythmus. Seine fünfein­ halb Stunden dauernde Oper fiel 1868 durch, er wurde des „Futurismus“ und „Wagnerianismus“ bezichtigt; und zog die Oper zurück und verbrannte teilweise die Partitur. Erst 1875 ging er an die Neubearbeitung, sah für Faust statt (wie ur­ sprünglich) Bariton nun Tenor vor, kürzte und schuf eine Brockenszene, die an Webers Wolfsschlucht erinnerte und von Bernhard Shaw als „schlicht und ein­ fach Narretei“ charakterisiert wurde. Diese Szene spielt in der Walpurgisnacht in einer öden, wilden Gegend „im Tal der Schierke am Fuß des Brocken im Harzgebirge, wo der Hexensabbat stattfin­ det. Ein rötlicher Mondschein wirft diffuses Licht“ (so das Libretto). Faust und Mephistopheles steigen zum Gipfel des Berges auf, wie bei Goethe umtanzt sie ein Irrlicht, sie hören Stimmen, auch die der Hexen, die sich dem Gebirge nähern: „Gehen wir, gehen wir, es drängt die Zeit, wir müssen eilen zu Beelzebubs Ball. Es ist die schicksalhafte Nacht, der Hexensabbat. Wer zuerst das Ziel erreicht, erhält besond’ren Lohn. Es ist die Nacht des Schreckens, der Hexensabbat. Wer zuerst das Ziel erreicht, erhält einen besond’ren Lohn. Hinauf! Hinauf! Hinauf! Hinauf!“ Die Zauberer stimmen ein: „Hinauf, geschwind, hinauf, es drängt die Zeit. Unsere Gefährten sind oben vereint. Eine Nacht des Schreckens ist der Hexensabbat. Wer 43

Dazu Ashbrook, William: Boito and the 1868 Mefistofele Libretto as a Reform Text, in: Groos, Arthur/Parker, Roger (Hrsg.): Reading Opera. Princeton 1988, S. 268 ff.; Grimm: Faust-Opern (wie Anm. 38), S. 12 f.; Maeder, Constantino C. M.: Arrigo Boito und Fausts Erlösung, in: Scobadi, Peter u.a. (Hrsg.): Europäische Mythen der Neuzeit: Faust und Don Juan. Anif/Salzburg 1993, S. 549–558; Meier: Faustlibretti (wie Anm. 8), S. 288 ff.; Panagl: Faust (wie Anm. 38), S. 13; Wagner-Trenkwitz, Christoph: „Der Orkus führt dich bei den Füßen“. Boito und das Böse, in: Scobádi, Peter u.a. (Hrsg.): Welttheater, Myste­ rienspiel, rituelles Theater. Salzburg 1992, S. 365–370.

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zuerst das Ziel erreicht, erhält einen besond’ren Lohn“, und so weiter Hexen und Zauberer rasen über die Bühne und singen: „Wir sind gerettet für die Ewigkeit!“ Sie stimmen ihren fremdartigen Gesang an: „Sabba, Sabba, Saboe! Sabboe!“ Nach dem Auftritt des Mephistopheles knien sie in einem Kreis um ihn nieder und hul­ digen ihm: „Wir beugen uns vor Mephistopheles, dem König. Wir alle fallen dir zu Füßen“. Dann folgt der Hexentanz. Anschließend verlangt Mephistopheles Mantel und Zepter; er setzt sich auf einen Thron und rühmt sich als Herrscher nicht nur „meines wilden Reiches“, sondern der gesamten Welt. Die Hexen und Zauberer laufen um einen Kessel: „Lass lodern das Feuer unter dem Kessel, lauf zum Kessel und rühre, rühre, laufe, laufe und tanz um den Kessel. Hier hast du nun die ganze Welt, o Fürst!“, bei welchen Worten sie Mephistopheles einen Glas­ globus reichen. Dieser spottet über das Menschengeschlecht: „Auf ihrem breiten, alten Rücken [gemeint: der Glasglobus] lebt ein Geschlecht, verdorben und när­ risch, stolz und elend, böse und sinnig, das stündlich selbst sich zerstört, vom Kopf bis zum Fuße der bösen Welt. Ein dummes Märchen ist Satan ihnen, die Hölle macht sie lachen, und Spott und Gelächter ist ihnen auch das Paradies. Oh, bei Gott! [eine seltsame Formulierung für einen Teufel]. Auch ich kann lachen, wenn ich bedenke, was ich verborgen halte. Ha! Ha! Ha! Ha! Ha! Hier ist die Welt!“ Bei diesen Worten wirft er den Glasglobus auf die Erde, der zersplittert. Begeistert stimmen nun Hexen und Zauberer in einen Chor ein: „Tanzen wir, tanzen wir […], lasst uns tanzen, denn die ganze Welt ist hin! Tanzen wir, tanzen wir, denn die Welt ist verloren. Auf den toten Scherben der unseligen Welt soll die Hölle im Reigen sich umschlingen, verflechten. Tanzen wir, tanzen wir“, und so weiter Faust erblickt in der Ferne in den Wolken die Gestalt der Margarete, die mit Ketten gefesselt scheint, die Augen weit geöffnet, der Kopf abgeschlagen. Dazu singen Hexen und Zauberer: „Ach! Hinauf! Tanzen wir – denn die Zeit drängt – auf den alten Scherben der verdammten Welt; eine Nacht des Schre­ ckens ist der Hexensabbat. Soll der Höllentanz ein Echo finden im Gebirge“ und wiederholen ihren fremdartigen Gesang, während Faust und Mephisopheles ab­ gehen: „Sabba, Sabba, Saboe […] Saboe har Sabbah“.

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C. F. Hoermann (nach D. Teniers), Départ pour le Sabat, Radierung, um 1750 © Mittelalterliches Kriminalmuseum

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V.

Einige U-Musik-Stücke

Abschließend werden beispielshaft noch einige Musikstücke aus der sogenannten Unterhaltungsmusik (folgend „U-Musik“) vorgestellt, ohne auf strittige Abgren­ zungs- und terminologische Probleme einzugehen; ich lege diese Unterscheidung nur als äußerliches Einteilungsschema zugrunde. Ebenso kann ich hier nicht auf die nähere Zuordnung der angeführten Bands zu unterschiedlichen Musikrich­ tungen eingehen; die Heavy-Metal-Szene (B.V.2.) und die Folk-Rock-Szene (B.V.3.) sind ebenfalls nur als äußerliches Schema zu verstehen. Unter B.V.1. wird ein Musical behandelt, das auch verfilmt wurde (wobei letzterer nicht erörtert wird). Hinzuweisen ist darauf, dass der Faust-Stoff auch von U-Musikern aufgenom­ men wurde. Goethes Faust wurde mitsamt der Hexenszene in der Popmusik ver­ tont, nämlich 1997 und 2003 von Rudolf Volz in der Rockoper „Faust I, II“ , 2006 in dem Musical „Faust“ des deutschen Komponisten Ernst Heckel und des engli­ schen Librettisten Richard Bunting und 2010 von Nick Cave und Warren Ellis in einer Adaption von Gisli Örn Gardarsson.44

44

In anderen Pop-Vertonungen des Fauststoffes findet sich die Hexenszene nicht; vgl. zum Beispiel „Fäustling“ von Joseph Prokopetz und Wolfgang Ambros (1973), „Faust“ von Randy Newman (1995), „Musik für Faust“ von den Einstürzenden Neubauten (1996; Vertonung von Werner Schwab „Faust: Mein Brustkorb: Mein Helm“), „Faust & Fisto“ von Erik Rastetter und Michael Postweiler (1995/97), „Mephisto“ von Subway to Sally (1997), „Mephisto“ von Jürgen Lorenzen und Walter Bialek, „Faust“ von Cur­ rent of 93 (2000).

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1.

John Dempsey/Dana P. Rowe „Die Hexen von Eastwick“ (2000)

Nach dem Roman „The Witches of Eastwick“ (1984) des amerikanischen Schrift­ stellers John Updike (1932–2009), der 1986 von George Miller verfilmt wurde45, schufen der Komponist Dana P. Rowe und der Librettist John Dempsey ein gleichnamiges Musical, das 2000 in London und 2012 in deutscher Fassung in Gelsenkirchen (Text: Roman Hinze) uraufgeführt wurde. Die Geschichte erzählt mit vielen Abweichungen zum Roman von einer fiktiven Stadt in Rhode Island (eben: Eastwick), in der drei attraktive Frauen, um die Vierzig, ehemals verheiratet, auch zum Teil Kinder, mit Namen Alexandra Spofford (Künstlerin), Jane Smart (Cellistin, Klavierlehrerin, Chorleiterin) und Sukie Rougemont (Journalistin) le­ ben, die über zauberische Kräfte verfügen, denen sie sich allmählich bewusstwer­ den. Schließlich wünschen sie sich einen Mann herbei, „ein sanfter Satansbraten mit Heiligenschein“, „alles Männliche in einem Mann“; „er soll sinnlich wie der Teufel und trotzdem göttlich sein“. Und dieser Mann tritt in Gestalt des New Yor­ ker Millionärs Darryl van Horne auch auf und verzaubert zunächst alle in der Kirche Versammelten zu einem wilden Tanz, anfangs offenbar gegen ihren Wil­ len, bis sie allmählich Gefallen daran finden uns ausgelassen weitermachen. Zu einem solchen „Tanz mit dem Teufel“ bringt er später auch alle Männer. Eigentliche Hexensabbate feiert er dann mit den drei Frauen, die er verführt und mit denen er orgiastische Gelage veranstaltet, bei denen er ihnen nach Anlei­ tung des Buches „Das Malefica“ (!) Schadenszauber lehrt und ihnen auch den Flug durch die Luft beibringt. Als sie diesen Zauber gegen die Umweltaktivistin Felicia Gabriel einsetzen, was zu ihrer Ermordung durch den Ehemann führt, kommen die drei Frauen zur Besinnung und beginnen, sich von Darryl zurückzuziehen. Als dieser sich mit der zur Waise gewordenen Tochter der Felicia tröstet, sie ver­ führt und in der Kirche zur Frau nehmen will, vertreiben sie ihn durch Anwen­ dung des im Zauberbuch angegebenen Voodoo-Zaubers. Doch bald merken sie, dass sie alle schwanger sind.

45

Mit den Darstellern Jack Nicholson, Cher, Susan Sharandon, Michele Pfeiffer. Dazu vgl. Bach, Verena: Im Angesicht des Teufels. Seine Erscheinung und Darstellung im Film seit 1980. München 2006, S. 295 ff. 2009 brachte der US-Sender ABC eine TVAdaption des Romans, die nicht erfolgreich war.

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2.

Heavy-Metal-Songs

Rhythmisch wilde, laute, dämonische Atmosphäre (auch in der Performance) verbreitende Musik können – wie unter dargestellt – leicht mit dem Treiben von Hexenleuten in Verbindung gebracht werden; oft verwenden Bands entsprechende furchterregende und ausdrucksstarke Namen. Auf die Gruppe Black Sabbath wurde unter B.I. in diesem Zusammenhang schon hingewiesen, auch darauf, dass ihre Songs „Black Sabbath“ und „Sabbath Bloody Sabbath“ nichts zu unserem Thema beitragen. Auch sonst tragen einige Songs anderer Gruppen einen schein­ bar einschlägigen Titel, stellen aber dann doch keinen Hexensabbat dar, sondern bringen nur durch die Art der musikalischen Performance eine dämonische und ausgelassene bis aggressive Atmosphäre zum Ausdruck. Einige Songs, die zu un­ serem Thema passen, sind (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) vorzustellen, wo­ bei ich mich auf deutsche und österreichische Bands beschränke. 1976 wurde die deutsche Heavy-Metal-Band Running Wild gegründet, die in der Anfangszeit mit okkulter Symbolik spielte, was ihr den (sicherlich unzutreffen­ den) Ruf einbrachte, Satanisten zu sein; ab 1987 kam es zu einem Imagewechsel hin zum Historischen, später zur Esoterik. Aus der wilden Zeit (1984) stammt der Song „Walpurgis Night”: The streets are empty, all men are hidden home

I wonder why, what’s going on here?

Someone shouts „stop boy“ don’t move on that way.

Tonight they’re hunting for someone, for someone just like you.

I see fire, fire in the night

Symbols are burning so bright

It’s the sign, the sign of women's fight

All men are so frightened

Thousand wild witches are screaming through the night

They are thrilling with their magic, tragic is the daughter’s fight

Pointing at me with their fingers, saying „you are the sin“

„Let’s take him to our mountain to purify his soul“

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I see fire, fire in the night

Symbols are burning so bright

It’s the sign, the sign of women’s fight

All men are so frightened

They bind me to a pole, naked they are beating with whips

They torture to inquire, hate is on their lips

Suddenly, the queen of the witches shouts „he is mine“

Naked she comes to violate me, there is no harder love in town

I see fire, fire in the night

Symbols are burning so bright

It’s the sign, the sign of women's fight

All men are so frightened.

Die 1979 gegründete deutsche Heavy-Metal-Band Stormwitch veröffentlichte 1984 ihr Debüt-Album „Walpurgis Night,“ das einen für Hexensabbat einschlä­ gigen Song enthielt: Walpurgis Night The time has come, the witches are ready tonight

On the hill, black sabbath, evil rite

They are descending on magical broomsticks

Riding on he-goats through the night

Come nearer, come nearer

You can’t resist their might

At walpurgis night

All around you can smell a nasty, strange scent

They are making oils from the bodies of murdered infants

They’re dancing ’round a hot, flickering fire

Mixing poison, singing cursed songs

134

Come nearer, come nearer

You can’t resist their might

At walpurgis night

Warted feed are trembling the ground like and earthquake

They are making love, with broomsticks with rats and with snakes

Holding crazy orgies with the devil

Praying to the master of hell

Come nearer, come nearer

You can’t resist their might

At walpurgis night.

In Neubesetzung, aber unter demselben Namen veröffentliche Stormwitch 2002 ein Album mit dem Titel „Dance with the Witches“, das den gleichnamigen Song enthielt: Dance with the Witches You know the story goes

Like worms we crawl out of the ground

They say we’ll bring the pest

On this you can count

The devil is honouring us

In magical mystical nights

He turns us around and around

We’re bound to his dark gloomy mights

Come and dance with the witches

Don’t spare no pains get rid of your fear

Come and dance with the witches

Close season is over the witches are near

It’s right we’re sly and cruel

We come at night and steal your best off all

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At least your innocence

And no one hears your call

The devil … Come and …

Die 1991 gegründete österreichische Death-Metal-Band Belphegor (also benannt nach dem Dämon aus der jüdischen und mittelalterlichen Dämonologie) haben eine Vielzahl dämonischer und auf den Teufel und Hexen bezogener Songs her­ ausgebracht. Einen Hexensabbat erzählt der Song aus 2009: Walpurgis Rites Whitches dance around the fire

Naked bodies covered with cuttings

Brand them all – leave your mark

Honoramus opum tuum, oh, dominus

Riding on – goats through the night

Carcass offered to the throne

Hailing chaos – procession of Sathan

The broken mountain – hell on earth

Walpurgis rites

Deadfucked to create

Walpurgis rites

Circulos obscurus

Perched upon – the highest peak

Ravens caw – orgasmic cosmic death

Horned Lucifer – spirit from the past

On earth and sky and sea

Walpurgis rites

Deadfucked to create

Walpurgis rites

Circulos obscurus

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The broken mountain – hell on earth

The broken mountain – procession of Sathan.

Von Hexen und Dämonen als Reiter des Wilden Heeres handelt ein deutschspra­ chiger Song von Belphegor ebenfalls aus 2009, der zwar nicht unmittelbar einen Hexensabbat meint, aber doch ein verwandtes Thema behandelt: Der Geistertreiber Auf schwarzen Hunden

Rast das Totenheer

Durch die finstre Nacht

Tote essen in den Gräbern

Kopflose Wesen – Schweine und Ziegen

Hexen und Dämonen

Der Teufel speiht Galle und Feuer

Der Geistertreiber ohne Gnade

Tobend, rasend im wilden Flug

Der Geistertreiber aus der Hölle

Die Körper zerfetzt, die Seelen verflucht

Oh, Führer wilden Treibens

Zur ewigen ruhelosen Jagd verdammt

Reitend, tanzend auf Böcken

Verrucht und Todtgeweiht

Kopflose Wesen - Schweine und Ziegen

Hexen und Dämonen

Der Teufel speiht Bluht und Feuer

Der Geistertreiber ohne Gnade

Tobend, rasend im wilden Flug

Der Geistertreiber aus der Hölle

Die Körper zerfetzt, die Seelen verflucht.

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C. F. Hoermann (nach D. Teniers), Arrivé au Sabat, Radierung, um 1750 © Mittelalterliches Kriminalmuseum

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Die 1992 in Potsdam gegründete Band Subway to Sally wird häufig als „MittelalterMetal“ bezeichnet; doch machte sie ursprünglich Folkmusik (auch in englischer, gälischer und lateinischer Sprache), erst später kamen Metaleinflüsse dazu. Ihr 1999 veröffentlichter Song kann den Übergang zu den Folk-Rock-Liedern bilden: Sabbat Die Nacht ist heut gewitterschwer

der Berg ist voll von Lärm und Licht

und in dem heißen Fackelmeer

hat nichts mehr menschliches Gesicht.

Trommeln schlagen, Funken fliegen

alles kreischt aus vollen Lungen

und im Kreis der Feuer liegen

nackte Leiber eng umschlungen.

Noch bevor der Morgen graut

küsst der Bräutigam die Braut.

Hoch am Firmament die Sterne

sind mit Wolken dicht verhängt

schwarz umschleiert ist der Becher

der das rote Blut empfängt.

Geigen kreischen, Hörner schallen

schwarze Schatten nähern sich

und der schwärzeste von allen

zeigt sich nackt und königlich.

Noch bevor der Morgen graut

küsst der Bräutigam die Braut.

Und Schlag Zwölf um Mitternacht

wird der Hochzeitsakt vollbracht

139

an den Feuern, Haut an Haut

küsst der Bräutigam die Braut.

Noch bevor der Morgen graut

küsst der Bräutigam die Braut.

3.

Folk-Rock-Lieder

Als letztes sind einige Lieder über den Hexensabbat zu nennen, die aus der soge­ nannten Folk-Rock (auch als Mittelalter-Folk-Rock) -Szene stammen. Auch hier beschränke ich mich auf den deutschen Sprachraum. Die 1998 von sechs Musikern aus München und Umgebung gegründete Band Schandmaul veröffentlichte 1999 ihr erstes Album „Wahre Helden“, das das fol­ gende Lied über einen Hexensabbat enthielt: Hexentanz Die Sonne brannte auf die Felder,

wo mein Tagwerk ich vollbracht.

Auf meiner Suche nach Quartier,

irre ich nun durch die dunkle Nacht.

Wie ein Zeichen aus der Ferne,

hör ich dumpfen Trommelschlag,

ich sehne mich nach Herd und Wärme

und dem Weib, bei dem ich lag

Verloren in dichten Nebelschwaden,

seh ich von weit die Feuersglut,

ich hör den Schrei der schwarzen Raben,

der Himmel glüht wie rotes Blut.

Der Wald gibt eine Lichtung preis,

wo im fahlen Mondeslicht,

140

Gestalten tanzen und murmeln leis,

doch die Gesichter seh ich nicht.

„Als Wesen der Nacht sind wir gebannt,

das Tageslicht ich nie gekannt!

Der Zauber soll gebrochen sein,

wir sehen uns im Sonnenschein!“ (2x)

Im Schutz des Waldes, schleich ich hin,

seh sieben Frauen an diesem Ort,

Wegzulaufen hat keinen Sinn,

verstehe nun ihr Zauberwort.

„Rundherum im Feuerschein,

wollen wir heute zusammen sein,

zu brechen den Fluch, der auf uns liegt,

die Finsternis, die uns umgibt!“

„Als Wesen der Nacht sind wir gebannt,

das Tageslicht ich nie gekannt!

Der Zauber soll gebrochen sein,

wir sehen uns im Sonnenschein!“ (2x)

Da hebt sich der erste Sonnenstrahl,

vom hellen Tag er Kunde tut.

Die Hexen verschwinden auf einmal,

übrig bleibt nur heiße Glut.

Dort wo der Zauber hat begonnen,

erinnert nur noch Schwefelduft,

an ihre Hoffnung, die zerronnen,

die Leiber aufgelöst in Luft.

„Als Wesen der Nacht sind wir gebannt,

das Tageslicht ich nie gekannt!

141

Der Zauber soll gebrochen sein,

wir sehen uns im Sonnenschein!“ (3x)

Das 2002 veröffentlichte dritte Album von Schandmaul (mit dem Titel „Narren­ könig“) enthielt das Hexensabbat-Lied „Walpurgisnacht“: Walpurgisnacht Der Mond scheint voll und klar,

taucht die Welt in bleiches Licht.

Nebel – sonderbar –

verschleiern Sein und Sinne.

Magisch strahlt der Ort,

zieht uns an mit seiner Macht.

Ich muss fort – es ist Walpurgisnacht!

Stetig steil bergauf,

dorthin wo das Feuer lodert.

Zieht uns in ihren Bann,

der Gottheit wilde Meute.

Nah an der Feuersglut,

verschmelzen wir zu einem Körper,

werden eins mit der Walpurgisnacht!

4x

Rundherum ums helle Feuer,

rundherum im wilden Tanz,

kreisen Körper, Geister,

Blicke berühren sich im Fluge!

Sieh’ ein Rabe fliegt,

hinaus ins dunkle, weite Land.

Auf seinen Schwingen liegt

mein innigster Gedanke.

142

Mag er ihn bewahren,

auf diese Weise weitertragen,

weit in die dunkle Walpurgisnacht.

Einen Moment lang sah ich

diese Welt aus seinen Augen.

Einen Moment lang spürt' ich

seine freie Seele.

Als der Morgen graut,

ist er dem Blick entschwunden –

es neigt sich diese Walpurgisnacht

6x

Rundherum ums helle Feuer,

rundherum im wilden Tanz,

kreisen Körper, Geister,

Blicke berühren sich im Fluge!

1994 gründete Marcus van Langen mit drei weiteren Musikern die MittelalterRockband, der er seinen Namen – Van Langen – gab. Ursprünglich orientiert am Irish Folk-Rock, entstand allmählich eine Symbiose aus mittelalterlicher Instru­ mentierung (Dudelsack, Schalmei, Harfe, Cister) und harten Elektrosounds (E-Gitarre, Bass, Schlagzeug). Das Lied über den „Hexentanz“ erschien 1999 auf dem Album „Des Teufels Lockvogel“: Hexentanz Der Besen ist frisiert, mit Runen reich verziert

Alraunenmännchen steht, Haar im Winde weht

Flugsalbe aufgetragen wollen Wir die Reise wagen.

Komm mit mir, komm mit mir …

Heut’ Nacht, heut’ Nacht, heut’ tanzen wir den Hexentanz

Um den Kessel dreht Euch rund, werft das Gift in Seinen Schlund

Kröte, die im kalten Stein Tag und Nächte dreimal neun

Zähen Schleim im Schlaf gegoren, soll zuerst im Kessel schmoren

143

Spart’ am Werk nicht Fleiß noch Mühe, Feuer sprühe, Kessel glühe.

Komm mit mir, komm mit mir …

Heut’ Nacht, heut’ Nacht, heut’ tanzen wir den Hexentanz

Sumpf’ger Schlange Schweif und Kopf, brat’ und koch’ im Zaubertopf

Molchesaug’ und Unkenzehe, Hundemaul und Hirn der Krähe

Zäher Saft des Bilsenkrauts, Echsenbein und Flaum vom Kauz

Mächt’ger Zauber würzt die Brühe, Höllenbrei im Kessel glühe

Spart’ am Werk nicht Fleiß noch Mühe, Feuer sprühe, Kessel glühe.

Komm mit mir, komm mit mir …

Heut’ Nacht, heut’ Nacht, heut’ tanzen wir den Hexentanz

Hexen tanzen, Hexen tanzen …

Heut’ Nacht, heut’ Nacht, heut’ tanzen wir den Hexentanz.

Als letztes Lied ist eine Ballade zu nennen, die Achim Reichel – 1960 Mitglied der deutschen Beatband The Rattles, ab 1975 Solokünstler mit deutschsprachigen ly­ rischen, auch von Klassikern stammenden Texten – in dem 2002 veröffentlichten Album „Wilder Wassermann. Balladen & Mythen“ gesungen hat (wobei die Zu­ ordnung zum Folk-Rock nicht ganz stimmig ist): Walpurgisnacht (Theodor Storm) Am Kreuzweg weint die verlassene Maid,

Sie weint um verlassene Liebe.

Sie klagt den fliegenden Wolken ihr Leid,

Ruft Himmel und Hölle zu Hülfe. –

Da stürmt es heran durch die finstere Nacht,

Die Eiche zittert und die Fichte kracht,

Es flattern so krächzend die Raben.

Am Kreuzweg feiert das Böse sein Fest,

Mit Sang und Klang und Reigen:

Die Eule rafft sich vom heimlichen Nest

Und lädt viel luftige Gäste.

Die stürzen sich ach durch die Lüfte heran,

Geschmückt mit Distel und Drachenzahn,

Und grüßen den harrenden Meister.

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Und über die Heide weit und breit

Ertönt es im wilden Getümmel:

„Wer bist du, du schöne, du lustige Maid?

Juchheisa, Walpurgis ist kommen!

Was zauderst du, Hexchen, komm, spring ein,

Sollst heute des Meisters Liebste sein,

Du schöne, du lustige Dirne!“

Der Nachtwind peitscht die tolle Schar

Im Kreis um die weinende Dirne,

Da packt sie der Meister am goldenen Haar

Und schwingt sie im sausenden Reigen,

Und wie im Zwielicht der Auerhahn schreit,

Da hat der Teufel die Dirne gefreit

Und hat sie nimmer gelassen.

Und über die Heide weit und breit

Ertönt es im wilden Getümmel.

„Wer bist du, du schöne, du lustige Maid?

Juchheisa, Walpurgis ist kommen!“

Der Nachtwind peitscht die tolle Schar

Im Kreis um die weinende Dirne,

Da packt sie der Meister am goldenen Haar

Und schwingt sie im sausenden Reigen.

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Taubertal-Festival, Rothenburg o.d.T.

© Sebastian Goeß

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Die Autoren

Dr. Markus Hirte, LL.M., geb. 1977, studierte Rechtswissenschaften mit Schwerpunkt Rechtsgeschichte, arbeitete als Anwalt bei CMS Hasche Sigle in Stuttgart, Berlin und London und ist seit 2013 Geschäftsführender Direktor des Mittelalterlichen Kriminalmuseums in Rothenburg o.T. Prof. Dr. Florian Knauer, geb. 1975, studierte Rechtswissenschaften an der Hum­ boldt-Universität zu Berlin, promovierte zu „Strafvollzug und Internet“ und habili­ tierte zu „Der Schutz der Psyche im Strafrecht“. Seit 2016 Universitätsprofessor an der Universität Jena. Prof. Dr. Wolfgang Schild, geb. 1946 in Wien, studierte Rechtswissenschaften. Nach Promotion (1968) und Habilitation (1977) bis 2018 Universitätsprofessor an der Universität Bielefeld. Forschungsschwerpunkte: Hexenforschung, Rechtsikonogra­ phie und Strafrecht.

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