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German Pages 525 [528] Year 2002
Röllwagenbüchlein
Röllwagenbüchlein Festschrift für Walter Röll zum 65. Geburtstag Herausgegeben von Jürgen Jaehrling, Uwe Meves und Erika Timm
Niellleyer
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahrne Röllwagenbüchlein : Festschrift für Walter Röll zum 65. Geburtstag I hrsg. von jürgen jaehrling .... - Tübingen: Niemeyer. 2002 ISBN 3-484-10845-2
© Max Niemeyer Verlag GmbH. Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfaltigungen. Übersetzungen. Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: Stefanie Röll. Trier Druck: Al Druck und Datentechnik GmbH. Kempten Einband: Heim. Koch. Tübingen
Inhalt
Grußwort
IX
Uwe Meves (Oldenburg) Zu den Auswirkungen der Revolution von 1848 auf den Institutionalisierungsprozeß des Faches Deutsche Philologie. Am Beispiel der Universitäten Leipzig, Rostock, Bonn und Tübingen . Wolfgang Haubrichs (Saarbrücken) Nomen gentis. Die Volksbezeichnung der Alamannen
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Manfred Lemmer (Halle a.d. Saale) Münch ze Toberlu. Anmerkungen zu Walther L 76,21
43
Rudolf Voß (Mainz) Intertextualitätsphänomene und Paradigmenwechsel in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide . . . . . . .
51
Kurt Gärtner (Trier) Die Benediktbeurer Bruchstücke des >Armen Heinrich< Hartmanns von Aue (Cgm 5249/296)
79
Horst Brunner (Würzburg) Die Spruchtöne Konrads von Würzburg. Bemerkungen zur Form und zur formgeschichtlichen Stellung . . . . . .
95
Alan Robertshaw (Exeter) Zur Datierung der Lieder Oswalds von Wolkenstein
107
Anton Schwob und Ute Monika Schwob (Graz) Ich hör die voglin gros und klain / in meinem wald umb Hauenstain. Beobachtungen zu den emotionalen Bindungen des Grundherrn Oswald von Wolkenstein an seinen Besitz
137
VI
Inhalt
Carla Winter (Trier) Zur literarischen Behandlung der Mädchenerziehung im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit am Beispiel der Erzählung >Frau Tugendreich< .
153
Brigitte Stuplich (Trier) Das ist dem adel ain große schant. Zu Rosenplüts politischen Fastnachtspielen .
165
Eckehard Simon (Cambridge, Mass.) >De scheve klot< (Hildesheim 1520). Ein politisches Fastnachtspiel in multimedialer Inszenierung
187
Manfred Caliebe (Raisdorf) Die beiden ältesten Königsberger Gesangbücher von 1527. Herzog Albrecht und die Anfänge des evangelischen Kirchenliedes in Preußen
205
Claus Ahlzweig (Hannover) Frühneuhochdeutsch - Regional
221
Hartrnut Kugler (Erlangen) Über Goethe und Sachs
239
Christoph Gerhardt und Hartmut Reinhardt (Trier) Madonnas Erdenblick. Goethe, Tizian, eine Gürtelgeschichte und eine Fernwirkung .
251
Jürgen Jaehrling (Trier) Die Vorlage von Peter Hacks: >Das Volksbuch vom Herzog Ernst< . . . . . . . . . . . . . . .
277
Kathryn Smits (Auckland) Dokumente einer Freundschaft. Zur Publikation des Briefwechsels zwischen Stijn Streuvels und Emmanuel de Born (Auswahljahre 1900-1914) . . . . . . . . . . . . .
291
Michael Trauth (Trier) Caesar incertus auctor. Ein quantifizierendes Wort zur Kritik von Verfasserfragen in lateinischen Texten . . .
313
Inhalt
VII
Klaus Cuno (Bonn) Rheinische Ortsnamen in jüdischen Quellen des Mittelalters
335
Gernot Heide (Itzehoe) Über die Lexik älterer jiddischer Glossare
345
Wulf-Otto Dreeßen (Stuttgart) Goliaths Schwestern und Brüder
369
Simon Neuberg (Trier) Reimstudien zur jiddischen Midrasch-Epik
391
Hennann-Josef Müller (Kairo) Ein wenig beachteter >Eulenspiegel< in hebräischen Lettern. Eulenspiegel als Kristallisationsgestalt in einem Nowidworer Druck von 1806 . . . . . . . . . . . . . . . . . .
411
Chava Turniansky (Jerusalem) Der loshn-koydesh-komponent in Glikls verk vi an eydes oyf ir bildung
(433-) 441
Erika Timm (Trier) Verwandtschaftsbezeichnungen im Jiddischen, kontrastiv zum Deutschen betrachtet
443
Hans Peter Althaus (Trier) Humor und Polemik in jüdisch-deutschen Schillerparodien
465
Heikki J. Hakkarainen (Helsinki) Judentum in Finnland . . . .
487
Schriften Walter Röll
503
Grußwort
Lieber Herr Röll, »Ein lustiger Gefährte ist ein Rollwagen auf der Wanderschaft«, meint Goethe, und wenn Sie die Passagierliste des vorliegenden Rollwagens überfliegen, werden Sie darauf so viele verschiedenartige Personen aus den unterschiedlichsten Phasen Ihrer langen Zeit als Universitätslehrer und Forscher verzeichnet finden, daß es Ihnen in der Tat als eine unterhaltsame und bunte Gesellschaft erscheinen muß, die sich da zu Ehren Ihres 65. Geburtstages zusammengefunden hat, um Sie in die Zeit ungestörten Forschens im Ruhestand zu begleiten. Zwar sind, entsprechend den beiden Hauptgebieten Ihrer Forschertätigkeit, die Flanken des Wagens durch die beiden Gruppen der Mediävisten und Jiddisten, männlich wie weiblich, besetzt; doch tummeln sich auf ihnen und dazwischen Sprach- und Literaturwissenschaftierlnnen so unterschiedlicher Couleur, daß der Gedanke an graues Einerlei dabei nicht aufkommen kann. Unnötig zu sagen, daß sich in der Buntheit dieser Reisegesellschaft die Vielfalt Ihrer Interessengebiete spiegelt. Wer' s nicht sehen kann oder mag, schaue in Ihr einliegendes Schriftenverzeichnis ! Wir hoffen sehr, daß dieses >RöllwagenbüchleinPferde< bzw. als >Trolle< (Dämonen): Herwig Wolfram, Geschichte der Goten, München 1979, S. 18-20. Weitere Beispiele bei Bach 1952 [LV], § 262; Neumann 1997 [LV], S.6. Daß die Bezeichnung der Alamanni als >zusammengelaufene Leute< einen antiken, bereits bei Thukydides als Verspottung der sizilischen Gegner Spartas (>zusammengespülte MenschenErklärung< des Namens dartiber hinaus freilich »durchaus zutreffend«.9 Ist dem so? Dürfen wir dem abschätzigen Informanten wirklich trauen? Es wird nicht unangemessen sein, den Namen der Alamannen der Bildungsweise und der Bedeutung nach mit anderen Ethnonymen, Völkernamen zu vergleichen, ist doch zu erwarten, daß sich auch dieser Name den bekannten Typen von Ethnonymen zuordnen läßt.
11.
Kleine Typologie der Volksbezeichnungen
Es ist dabei keineswegs beabsichtigt, eine umfassende Typologie der Volksbezeichnungen (vgl. Nikonov 1990; Dalberg 1997) zu geben, obwohl dies durchaus ein dringendes Desiderat wäre. Dazu fehlen an dieser Stelle aber Möglichkeiten, Voraussetzungen und auch die Notwendigkeit. Möglichkeiten und Voraussetzungen, weil es an ethnologischen oder ethnolinguistischen Vorarbeiten mangelt oder auch nur, weil mir diese nicht bekannt sind. 10 Notwendigkeit, weil die gebotene Einordnung und Bewertung des Alemannennamens durchaus mit weniger Aufwand betrieben werden kann. Immerhin empfiehlt sich doch ein exemplarischer Überblick über verschiedene Arten von ethnischer Nomenklatur und Tenninologie. Eine Typologie der Volksbezeichnungen, der NG (nomina gentium) kann auf verschiedenen sprachlichen Ebenen vorgenommen werden: z. B. auf der pragmatisch-funktionalen Ebene, indem man danach fragt, von welchen Gruppen das NG erfunden, motiviert und gebraucht wurde, etwa von den Angehörigen des bezeichneten Volkes selber (endonyme Bezeichnung) oder von seinen Nachbarn bzw. von Fremden wie Einwanderern, Eroberern usw. (exonyme Bezeichnungen): die Deutschen als Endonym (oder Selbstbezeichnung), die auch etwa in Italien mit Tedesci < *Theod-isci übernommen wurde oder sich parallel entwickelte, einerseits, [es Allemands in
8
9 10
Nur bei Kompetenz in einer germanischen Sprache ließ sich die Ambiguität des Lexems *al(l)a- im Sinne von >all< bzw. >ganz< für eine volksetymologische Deutung des Ethnonyms nutzen. Stellvertretend ist hier zitiert Dieter Geuenich, Die Alamannen - Vom Ende einer Legende, in: DAMALS 29 (1997), H. 6, S. 14. Vgl. u. Anm. 24. Vgl. mit einigen LiteralUrangaben Robert K. Herbert 1996 [LV]. Weiteres für extraeuropäische Ethnonyme bei Langenfeldt 1919/20 [LV]; Fodor 1967 [LV]; Goddard 1984 [LV]; für indogermanische und keltische Gruppenbezeichnungen u.a.: Kretschmer 1933 [LV]; Birkhan 1970 [LV]; Neumann 1986 [LV]; Lambert 1997 [LV]; für die germanischen Gruppen neben der oben genannten typologischen Literatur: Much 1893a-c; 1895a-b; 1901; 1918/19; 1936; Schönfeld 1911; Björkman 1920; Karsten 1936; Gutenbrunner 1936; 1938; Schütte 1939; Schwarz 1956; Malone 1962; Norden 1962, S. 155ff.; Wagner 1978; 1988; 1989; Laistner 1982; Markey 1986; Neumann 1986; 1997 [alle LV].
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Wolfgang Haubrichs
Frankreich dagegen als Exonym (oder Fremdbezeichnung). Oder indem man danach fragt, ob die Bezeichnung einen Bedeutungswandel erfahren hat, etwa eine Sinnerweiterung: germ. *Walh-öz- ursprünglich Bezeichnung des keltischen Stammes der Volci, dann aller Kelten, dann der Romanen; ahd. Winida, dt. Wenden zunächst als Bezeichnung der im Ostseeraum siedelnden Veneti, dann der nachfolgenden Slawen. Die NG können aber auch nach ihrer Morphologie, nach der Kompositionsart oder überhaupt nach den formalen Bildungsgesetzen betrachtet werden: z. B. ob die Bezeichnung Simplex (germ. *Stür-jöz >die Kräftigen< zu germ. *stür- >stark, kräftig, stönischIndividualitätSöhne der ErdeFreunde des Gottes */ngaz< zu germ. *wini- >Freund< (vgl. Wagner 1982; 1998); häufig Ableitung von fiktiven Göttern, Stammvätern, Urkönigen in gentilen OrigoSagen.
1.1.2. Nach einem eponymen Herrscher, Reichsbildner und damit in einem sekundären Sinne Stammvater, z. B. germ. Amal-ungi für Ostgoten nach dem Stammvater einer gotischen Königsdynastie; ae. (>Beowulf< v.2922) Merevio-ingas >Leute des Merowech, FrankenLeute des HelsingrLeute des Königs Lothar 11., Bewohner des Mittelreiches, LothringerLeute des Königs Karl des Kahlen, Bewohner des Westreichs, Franzosen< (vgl. Notker Labeo: Franci tfe uuir nu heizen Chdrlinga) usw. (vgl. Wenskus 1961, S. 62).
Nomen gentis. Die Volksbezeichnung der Alamannen
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1.1.3. Nach einem Stammvolk, Z.B. die Mars-igni < genn. *Mars-ingi und Mars-aci nach den Marsi; Frisi-avones >die zu den Friesen Gehörenden, von den Friesen Abstammenden< zur Volksbezeichnung Frisii (Neumann 1986, S. 113). 1.2.
Bezeichnungen nach dem Wohnsitz
1.2.1. Nach Toponymen, z. B. galt. Sequani >die an der Sequana, der Seine, Wohnendenan der Ems Wohnendean der Hase Wohnendean der March Wohnendean der Nith Wohnende< (zu den warjöz-Bildungen vgl. Foerste 1969; Wagner 1993); North-alb-ingi >die nördlich der Eibe Siedelnden< (vgl. zu NG aus Flußnamen Krahe 1954; Neumann 1997, S. 3); lat. Romani >Bewohner RomsBewohner der Insel Peukae, des Donaudeltas< (Jordanes, >GeticaBewohner der Landschaft Ongel in Jütlanddie im Lande Engem Wohnendendie in Raetien (dem Ries) Wohnendendie im Breisgau Siedelndendie an der *Lenta, der Linz, im Linzgau Siedelndenim Buchenwaldland Siedelndedie in Kent Siedelndendie im Land der Boier Wohnendendie im haim der Boier (Boiohaemum, Böhmen) Wohnendendie im haim der Teurier Wohnenden< etc. (vgl. Neumann 1986, S. llOf.; 1997, S.2f.). 1.2.2. Nach namenartig individualisierten Appellativen der Lage oder des Ortes, z. B. gall. Mor-ini >Meeresanwohner< zu idg. *mor- >Meer, SeeMeeresanwohnerGoten im Sandland< zu aso griot, ahd. grioz >Sand, Steppe< < genn. *greuta (Wagner 1981); Terw-ingi >Goten im Baumland< in metathetischer Fonn zu aso treo, an. tre < genn. *trewa- >Baum< (Neumann 1997, S.2); Vidi-varii >die im Wald Wohnenden< zu ae. widu, aso wido-hoppa >Wald-hüpfer< < genn. *widu- >WaldWaldbewohnerWidsithBeowulfBergwald, Wald< (vgl. Landschaftsname Harthesyael in Jütland, Haeredaland in Dänemark; analog Hordar, Hordaland in Norwegen: vgl. Wagner 1978); Holsten < Holtsaten < genn. *Holt-setun >die im Holz, Wald SitzendenWaldbewohnerBewohner der Niederung< zu ae. denu, dene >Tal< < genn. *dan-; Vangiones >Bewohner der Wiesen, des offenen Landes, des Gefildes< zu got. waggs >ParadiesWiesenlandebenes FeldFelslandbewohner< zu schwed. hall >Felsen< (Andersson 1999); ae. Myrce >Bewohner der Markendie Menschen, Männer des Grenzlandes< (vgl. an. mork, got. marka, ahd. marka) zu genn. marko- >Grenzgebiet< usw.
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Woljgang Haubrichs
1.2.3. Nach Himmelsrichtungen, z. B. Texua-n-dri >die im Süden Wohnenden< (vgl. Gaunamen Texandria, Tester-banf) zu got. taihswa, ahd. zesawa >rechtsliegend< < germ. *tehswan- >rechts, südlich< + kontrastierendes Suffix *dra- (Neumann 1986, S. 115f.); North-manni, an. North-menn >die Menschen, Männer des NordensMenschen des Ostens< für die östlichen Sachsen; altschwed. Vestmenn, Sudrmenn. Nord-menn usw. 1.2.4. Nach der ethnozentrischen Innen-Außen-Perspektive (zum Teil überschneidend mit 2.7.2.), z. B. kelt. Allobroges >die außerhalb des Landes Siedelndendie außerhalb (des Reiches) Sitzenden, ElsässerLandsmann< als Selbstbezeichnung der Isländer. 2. Qualitative Bezeichnungen NG definieren sich in dieser Gruppe durch die einer Gruppe von außen (exogen) oder innen (endogen) zugesprochenen Qualitäten. Solche Volksbezeichnungen besitzen daher oft, falls sie durchsichtig sind, den Anschein von >sprechenden Namendie Harten, die Helden< zu air. calath >heroischhartdie Kräftigen< zu ahd. stür, mnd!. stuur, an. storr < germ. *stür- >stark, kräftig, störrischWidsith< >die Rauhen< zu is!. hrani >Polterer, rauher Mensch< (Wagner 1988); Var-isti >die Allerwehrhaftesten< mit Superlativsuffix, später War-asci >die Wehrhaften< mit anderem Suffix zu got. warjan, an. verja, ahd. werien, aso ae. werian < germ. *war-ija >wehrenWidsithdie Wehrhaftendie Gewandten, Beweglichen, Raschen< zu germ. *wand- >wenden, sich drehendie Schnellen, Kühnen< zu germ. *balpa- >schnell, eifrig, kühndie Schwachen, Trägen< (vg!. 2.2.2.); wandalischer Spottname für die Goten latinisiert Trulla zu an. troll >Gespenst, UnholdTölpel, ungeschlachter Menschdie Farbigen< zu ir. Brit, kyrnr. Breith >varius, versicolordie Bemalten< für die Bewohner Schottlands; germ. Reud-igni >die Rötlichen< mit Ablaut zu germ. *rauda- >rotfahl< (vgl. West-, Ostfalen); russ. Polovci, dt. Falwe >die Bleichen< (vgl. Ludat 1953). 2.2. Bezeichnungen nach Geistes- und Charaktereigenschaften 2.2.1. Nach guten Eigenschaften, z. B. kelt. Brigant-es >die Hohen, Erhabenen< zu kelt. brigant- als Entsprechung zu ai. brhdnt-, avest. ber-ezant- >erhaben, hoch, großdie Ersten< (oder im Sinne von >Ur-Menschendie Wilden, Ungestümen< zu air. gal >vapeur, fureurin Ekstase befindlich< (Neumann 1986, S. 116f.); germ. latinisiert Franci, ahd. Franehön, Frankön, ae. Frakkar wohl zu einer nasalierten Nebenform von germ. *fraka- (vgl. ae. frax >eager, bold, daringmutig, raschgierig< < germ. *freka- (Tiefenbach 1973, S. 52ff.; Wagner 1977; Beck 1995; Neumann 1997, S.3; anders Seebold 2000, S.55); Seiri < *Skfröz < germ. *Skeir-öz >die Reinen, Hellen, Glänzenden< zu got. skeirs >hell, klarrein, lauterdie Vornehmen, Adligen< (Rübekeil 1992, S. 109ff.); Chauken >die Hohen, Erhabenen< zu got. hauhs, ahd. höh < germ. *hauha- (Rübekeil 1992, S. 133ff.); entsprechend kelt. Kaukoi (bei Ptolemäus); germ. Batavi >die Guten< zu germ. *bat- >gutdie Großen, Gewaltigen, Erhabenen< zu germ. *erminaz >groß, erhaben< (Wagner 1982, S.303); Thuringi >die sich etwas trauen, die Wagemutigen< (Neumann 1997, S. 3); Wig-mödi >die Kampfmutigen< (ebd., S. 3); Lacringes < *Lakr-ing-öz >die Übermütigen, Heiteren< zu germ. *lakra- >ausgelassen, übermütigWidsith< zu ae. myrge >lustig, erheiternddie FrohenLex Baiuwariorumverständig< (alle Wagner 1998). Prunknamen sind auch die sekundären qualifizierenden Zusammensetzungen nebst ihren Kurzformen wie in ae. Hred-gotan, an. Hreid-gotar >die reinen, auserlesenen Goten< neben ags. Hrredas (?) zu germ. *hreid- >rein, auserlesenEdel-Goten< neben Visi zu germ. *wisu- >edelGlanz-Goten< zu germ. *austa-ra >Morgenröte, Licht, OstenKampf-(Lango-)BardeGlanz-Däne< (vgl. Schütte 1930) uSW. 2.2.2. Nach >schlechten< Eigenschaften (entweder als >noms de guerre< gebraucht oder herabsetzend als Exonym von außen geprägt), Z. B. kelt. Viro-mandui >Männerzermalmerdie Zermalmer< zu idg. *mer-, *mor- >zerreiben< mit s-Ableitung wie in mhd. mürsen >zerstoßenmorschdie Üblen, Bösen< zu ahd. ubbi >inania, Eitelkeitübel< < germ. *ubjaz; langobardische Kriegergruppe Ende 6. Jh. Grusingi zu ahd. ir-grüsön >grausen, schauderndie Bösen< zu ndl. kwaad >böse, häßlichböseschlimm< (?) (vgl. Much 1895c); kelt. Baetasii zu air. baith >töricht, launisch< (Neumann 1986, S. 117f.); germ. Ouargiones (Ptolemäus) < *Wargjonez zu afrk. warg, mittellat. Lehnwort wargus (Lex Sal.), aisl. vargr < germ. *wargjaz >wölfisch, räuberischMischlinge< (?) im Gegensatz zu den Skiren, den >Reinen< (Knobloch 1984); lnkriones (bei Ptolemäus) zu afries. ink >erzürnt, jähzornig< < germ. *inka-; Draozza >die MürrischenLex Baiuwariorum< (Wagner 1998, S. 176f.); Gepides als gotischer Spottname nach Jordanes (>Getica< XVII,95) tardiores ingenii et graviores corporum velocitate bedeutend. 2.3. Bezeichnungen nach Tracht und Aussehen, z. B. gall. Cam-utes, 1at. Corn-uti >die Gehörnten< nach der Helmform; ags. Secgan, Sycgan zu ae. secg fern. >SchwertWidsith< Sweord-weras >SchwertmännerSchwertträger< wohl nach ihrer Hauptwaffe ahd. sahs >kurzes SchwertRes gestae Saxonicae< 1,6) bemerkt: [... ] erat autem illis diebus Saxonibus magnorum cultellorum usus, quibus usque hodie Angli utuntur. morem gentis antiquae sectantes; germ. Scudingi >Schildleute< zu idg. *skud- (vgl. 1at. scutum, griech. skutos >mit Leder überzogener SchildSchilddie ArmlosenLangbartträger< zu westgerm. *bard- >Bart< (Nedoma 1997; 2001; anders, aber nicht überzeugend Knobloch 1985); Hasd-ingi, ae. Heardingas >Langhaarträger< (ursprünglich Dynastie-Name) zu got. hazds >Haupthaarlanges, weibliches Haar< und mit grammatischem Wechsel zu ahd. aso Mr, an. har< germ. *h&rä- >HaarKraushaar, LockeLockenhaar< < germ. *frfs-jaz, *fres-jaz >gelockt, kraushaarigRohfleischesser< der benachbarten Algonkin; Rugii >Roggenesser< (vgl. das langobardische Rugiland) zu an. rugr, ae. ryge < germ. *rugi- >Roggen< (vgl. aso ahd. roggo < germ. *rugön); entsprechend an. Rygir (am Bukkeford, N); altnordischer Spottname Mor-Iandi für >Isländer< zu morr >Eingeweidefett< und landi >Landsmann< usw. 2.4.2. Nach der Wohnung, z. B. kelt. Tecto-sages >Hausbewohner< zu *tecto- >Dach, Haus< + Verbalisierungssuffix; germ. Bourg{ones (bei Ptolemäus) zu got. baurgjans >Bewohner befestigter Plätze< (?).
Nomen gentis. Die Volksbezeichnung der Alamannen
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Nach der militärischen oder inneren Organisation, z. B. germ.
2.4.3.
Tu-bantes, Tui-bantes >die in zwei Gauen Wohnenden, aus zwei Abteilungen Bestehenden< (hierher Landschaft Twente, NL); gaU. Tri-corii >die in drei Scharen Eingeteilten, Bewohner der Umgegend von Troyes bzw. Treguier< zu idg. *koiro- >Schar, Heerdie in vier Scharen Eingeteilten, Bewohner des Perigord< zu kelt. *petro- >vier< + idg. *koiro-; lat. Novempopulani >die in neun Völker Eingeteilten< in Aquitanien; usw. (vgl. Norden 1962, S. 137ff.). 2.5.
Bezeichnungen nach Sprache und Sprachfähigkeit
2.5.1. Nach der aUgemeinen Sprachfähigkeit, z. B. Slow-enen >die des Wortes Mächtigen, die Redenden< zu slaw. *slovo >WortRuhmdie Sprechenden< (vgl. lat. lingua >Zunge, Sprachestummdie Stammelnden< für alle Nichtgriechen; paraUel dazu Fremdbezeichnung der südafrikanischen Hottentot >Stammerer< (Jeffreys 1947); umgekehrt Theodisci, später eingegrenzt the Dutch und die Deutschen (mhd. diutsche man) >die der Sprache der *jJeuda Mächtigen, die Volkssprachigen< aus germ. *jJeud-isk (vgl. lat. Lehnwort theodiscus). 2.5.2. Nach spezieUen Sprachen, z. B. Ladini, Ladiner nach der lingua Latina >LateinRomanisch, LateinWagenfahrer< zu idg. *reid- >fahren, reitenPferdeleute, Reiter< in Schottland zu gall. brit. epos >Pferddie guten Reiter< < germ. *kannin- >tüchtig< + kelt. Lehnwort *-efat- >Reiter< (Markey 1986, S. 257; Rübekeil 2000); germ. Harii >Scharkrieger< nach germ. *harja- >Schar, HeerSchutzgänger< (normannische Schutzwache in Byzanz: Rübekeil 1992, S. 118). 2.7.
Bezeichnungen, die im Vergleich zu anderen Wesen qualifizieren
2.7.1. Im Vergleich zu Tieren (auch in der imitatio), z.B. griech. Lykier, Lykaones >die Wölfischen oder die Verehrer des Wolfsgottes< zu griech. lykos >WolfWolfWidsithdie BeUer< zu an. glami >WolfbellenWidsithWolfsgeschlecht< als alter Gentilname, der im Norden den Hundingar >Hundsgeschlecht< gegenübersteht; Ebur-ones zu kelt. *eburo-, germ. *ebura- >Eberdie als Eber kämpfendie als Raben kämpfen< zu kelt. *vik- >kämpfen, siegenSamengießer, Hengste, Männer< mit Ablaut zu got. geutan >gießen< (vgl. ais!. goti >HengstMänner, Heldenjunger Mann, BurschMännerMännerHirsch< (vgl. lat. cefVUS); analog brit. CafV-etii; germ. Cherusker (Cherusei, Herusei) zu germ. heruta- >Hirschdie im Kleide des Bären kämpfen< usw. (vgl. v. Kienle 1932; Neumann 1986, S. 120; 1997, S. 4). 2.7.2. Im Vergleich zur Menschheit und Menschengruppen (vgl. Solmsen 1922, S. 95f.; Wenskus 1961, S. 90f.; Rübekeil 1992, S. 36f.), z.B. Selbstbezeichnung der Eskimos als Inuit >MenschenMenschenMenschenMenschenMenschenMenschenMenschenMenschenMenschenMenschen par excellenceMänner, Menschen< usw. (vgl. Zimmer 1990, S. 22f.); also häufige Selbstbezeichnung von Völkern, die damit ihre Stellung als >die eigentlichen Menschen< in Abhebung von advenae oder Fremden zum Ausdruck bringen wollen (vgl. Lambert 1997, S. 33ff.); so auch Bezeichnungen als >Urmenschen< oder die >Früherendie Alten< zu air. sen >alt< (vgl. lat. senex); in ähnlichem Sinne auch differenzierend ae. Ealdseaxan >die Altsachsen, die ursprünglichen SachsenAbkömmlinge, Nachkommen, Menschenkinder< usw., z. B. der Zigeuner als Rom >Kinder der MenschenSerbeSorbe< zurück auf das in russ. paserb, poln. pasierb >Stiefsohn< hinter dem Präfix erscheinende Nomen, könnten also ursprünglich >Söhne, Abkömmlinge< bedeutet haben; germ. oder kelt. Sunuees, Sunuci, Sunici >Söhnlein, Sprößlinge< zu germ. *sunu>Sohn< + diminutivem k-Suffix (Neumann 1986, S. 114f.); dazu die germ. Juth-ungen, Iuthungi, Iotungi, a. 260 auf der Augsburger Inschrift in der Formel barbaros gentis Semnonum sive Iouthungorum faßbar, bzw. älter *Euthungaz (in der Matroneninschrift [mat]ribus Suebis Euthungabus), 11
Zum Namen der Goten vgl. Th. Andersson, G0tar, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 12 (1998), S. 278-283. Dort wird der Name der Goten unter demselben etymologischen Ansatz dezidiert aus einem Synonym für >Männer< abgeleitet, was mir angesichts der belegten Parallelen, der Semantik von *geuta-, *guta- und der belegten Tiermetaphorik in Ethnonymen und Personennamen dennoch nicht entschieden scheint.
Nomen gentis. Die Volksbezeichnung der Alamannen
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die mit -ung-Suffix auf germ. *eutha- )Sproß< (vgl. an. jod )prolesflU, ganz ähnlich bei Notker Labeo ahd. al-brandopher, al-jerbrennopher >vollkommenes Brandopfervölliger, uneingeschränkter Besitz< (Tiefenbach 1973, S.98f.; EWA, Bd. I, S. 165f.); ahd. ale-namo >nomen propriumdessen Vertrauen ganz und umfassend istvolles Vertrauenalles beherrschend, allmächtigAllbeherrscherallmächtigallentbehrend, -darbend, an allem Mangel leidendganz, vollkommen, sehr, eigentlichvollkommen< (zu got. waurstw >Werkganz rotganz ebenganz weißganz jungsehr fest, ganz bestimmtganz sicherganz neuganz glücklichdie Ganzund-gar-Schenkendensehr scharfdie vollkommen Göttlichen< aus Xanten und Alajerhviae >die vollkommen Lebendigen< aus der Nähe von Inden, was Schulze im "Wortsinn an die Alamanni erinnert«: Wilhelm Schulze, Alaferhviae, in: ZfdA 54 (1913), S. 172-174, neu in: ders., Kleine Schriften, Göttingen 1933, S. 477ff.; Birkhan 1970 [LV), S. 257ff.
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Wolfgang Haubrichs
>herrlichganz voll< und ganz verblaßt in ahd. al(e)-ganz >vollständigzum größten Teilder ganz Heilige< im >Widsith< (v. 35) gehört doch wohl in denselben Deutungszusammenhang (Malone 1962, S. 128). Der morphologische Ansatz von Jacob Grimm ist also vollauf gerechtfertigt; sein Bedeutungsansatz >Vollmensch, -mann; ausgezeichneter Mensch oder Mann, Mann kat exochenganz< dürfte ala-man jedenfalls nicht als >alle Männer< interpretiert werden, wie das meist geschieht, da die anderen Komposita mit ala wie ala-jung, ala-wari, ala-hwft, ala-rehto, ala-salig zeigen, daß ala lediglich verstärkende Bedeutung hat. Von dieser Regel bildet auch keine Ausnahme aso fatar alathiodo >Vater der Urvölker< (Heliand, v.4746) und das nur scheinbar dem Namen der Alamannen nahe-
15 Castritius 1990 [LV], S.77, hatte noch formuliert: »Bei dem Stammesnamen Alemannen handelt es sich um die Wiederbelebung bzw. Aufnahme eines uralten, kosmogonische und anthropogonische Vorstellungen enthaltenden und ausdrückenden Volksnamens, mit dem man für sich in Anspruch nahm, alle Menschen, die Menschheit insgesamt zu repräsentieren«. Diese Formulierung setzte sich von dem Begriff der >Männer< ab und suchte den Anschluß an die bei Tacitus berichtete anthropogonische Mannus-Mythe. Helmut Castritius, Die Inschrift des Augsburger Siegesaltars als Quelle der Erkenntnis zur Großstammbildung bei den Germanen, in: Egon Schallmayer (Hg.), Niederbieber, Postumus und der Limesfall. Stationen eines politischen Prozesses, Bad Homburg v. d. H. 1996, S. 18-21, hier S.20, nimmt dann explizit gegen die Deutung >alle MännerMenschen im Sinne von ganzen Menschen, VollmenschenVollmensch< trägt aber doch einen anderen, eben ethnozentrischen Akzent als >Kriegsmensch, Krieger< - wie Wolfgang Kleiber ebd. interpretiert. 16 Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch, Bd. 2: Ortsnamen, 2. Auf!. Bonn 1900, Neudruck München / Hildesheim 1966, Sp. 65. 17 Schönfeld 1911 [LV], S. 8. 18 Rosenfeld 1960/61 [LV], S. 173f. Die von Rosenfeld vorgetragene Deutung *alahman- >Leute im Heiligtum< ist jedoch mit den überlieferten frühen Schreibungen nicht zu vereinbaren. Die Deutung findet sich auch schon bei: Franz Ludwig Baumann, Forschungen zur Schwäbischen Geschichte, Kempten 1899, S. 516ff.
Nomen gen/iso Die Volksbezeichnung der Alamannen
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kommende got. in allaim alamanam >bei allen Menschen schlechthin< (Skeireins VIII, 11 f.).« Worauf sich Rosenfeld hier bezieht, ist die Kritik, die Rudolf Much 1911 in Hoops >Reallexikon der Germanischen Altertumskunde< am Ansatz Jacob Grimms geübt hat,19 und dessen neuer Interpretationsvorschlag der Bezeichnung *Ala-man(n)- im Sinne von >Menschen insgesamt, Menschen irgendwelcher ArtGesamtmannendie Männer, Menschen insgesamt«Menschen insgesamt«Menschen oder Männer, im Gesamten genommen< gestellt, freilich indem er die vorher scharf gezogene Grenze zwischen den verschiedenen Bedeutungen von germ. *al(l)a- verwischte und Ala-man wie Jacob Grimm
19
Much 1911/13 [LV]; auch schon in: ders. 1893a [LV], S. 96-98.
20 Solmsen 1922 [LV], S. 97f. Die >Verbandstheorie< wurde, vielleicht im Anschluß an
Much 1893a (Anm. 19), vor allem aber an die übliche Interpretation der AgathiasStelle (Anm. 6), auch schon vorher von zahlreichen Historikern vertreten, z. B. Karl Weller, Die Besiedlung des Alamannenlandes, in: Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte, NF 7 (1898), S. 302; ders., Besiedlungsgeschichte Württembergs vom 3. bis 13. Jh. n. ehr., Stuttgart 1938, S. 12; ders., Geschichte des schwäbischen Stammes bis zum Untergang der Staufer, München / Berlin 1944, S. 3; Albert Bauer, Gau und Grafschaft in Schwaben. Ein Beitrag zur Verfassungsgeschichte der Alamannen, Stuttgart 1927, S. 3f.; Friedrich Hertlein, Die Geschichte der Besetzung des römischen Württemberg, Stuttgart 1928, S. 148. 21 Kienle 1936 [LV], S. 66ff. 22 Bach 1952 [LV], § 176; dort (§26Ii) auch die >VerbandstheorieBundestheorie< bei Wenskus 1961 [LV], S. 494ff.
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zugleich an die Seite von ahd. ala-wäri >ganz wahr< stellte. 23 Die beiden Bedeutungen sind jedoch im konkreten Fall nicht miteinander vereinbar. Insofern ist Boeschs Stellungnahme im Sinne Muchs eher als Rückschritt zu werten. Die Deutungen Muchs, Bachs und vor allem Boeschs, aber auch anderer Philologen, haben, wohl weil hier aus dem Namen historische Schlüsse gezogen wurden und weil sie anscheinend eine Stütze in der bereits zitierten antiken Deutung durch griechische Historiker fanden, das Interesse und die Zustimmung nahezu sämtlicher neuerer Historiker der Alemannen, Hagen Keller (1989, S.93; 1993, S.87), Matthias Springer (1984, S. 130ff.), Dieter Geuenich (1982, S. 28; 1985, S. 137; 1988, S. 119; 1994, S. 164ff.; 1997, S.20) und Franz Staab (1994), gefunden. »Diese Deutung des Namens paßt vorzüglich zu der skizzierten Vorstellung einer Ethnogenese der Alemannen aus verschiedenen, ethnisch unterschiedlichen Personengruppen [... ]«, sagt Geuenich. 24 Immer wieder scheint dabei in der neueren historischen Diskussion die Volksbezeichnung *Ala-man(n)- als Argumentationsstütze für eine bestimmte Ansicht von der Ethnogenese der gens aus der >Vielfalt< kleiner Gruppen dienen zu müssen (vgl. Hummer 1998). Es fragt sich nur, ob diese von Much gezimmerte Stütze wirklich hält. Bei Much (1911113) sind bereits alle wichtigeren philologischen Argumente versammelt, die seine Nachfolger weiter ausbreiten und gelegentlich - vor allem Hans Kuhn (1973) - ergänzen: 1. In *Ala-man(n)- trägt germ. *ala den oben skizzierten Sinn als Numerale, das eine Gesamtheit von Individuen bezeichnet. 2. *Ala-man(n)- deckt sich mit got. *alamans, »das in den Verbindungen in allaim alamannam und alamanne kunni belegt ist. Es bedeutet >Menschen insgesamt, Menschen irgendwelcher Art«allen zugänglicher oder allgemein benutzter Weg< und almanna-IoJ >allgemeines oder einstimmiges Loballen Männern zugehörig< kommt. Hierzu
23
24
Boesch 1981 [LV], S.36lff. Im Sinne der bekannten Interpretation der AgathiasStelle faßt auch Zimmer 1990 [LV], S. 35 die Alamanni als colluvies gentium. Ähnlich auch Rübekeil 1992 [LV], S. 216ff., der aber das Zweitelement der Komposition (übrigens auch von Marko-manni) als >Menschen< im Sinne von Mannus-AbkömmIingen faßt. Vgl. auch oben Anm. 15. Geuenich 1997 [LV], S. 20. Vgl. auch noch Lawrence Okamura, Alamannia Devicta. Roman-Gennanic Conflicts from Caracalla to the First Tetrarchy (A.D. 213-305), Ann Arbor (Michigan) 1984, S. VII mit Anm. 1.
Nomen gentis. Die Volksbezeichnung der Alamannen
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paßt als singuläre Rückbildung ndl. ala-man >jedennannalle Menschen bzw. Männer< auch schon für frühgennanische Sprachen ausgehen darf, das auch >Gesamtheit der Menschen< bedeutete. Die singulare Rückbildung im Sinne von >jedennann< ist die Grundlage für ein sachgerechtes Vorverständnis der wohl volksetymologischen Interpretation des - sicherlich gennanischen 25 Gewährsmannes des Agathias, daß der >Name< der Alemannen selbst ihre Zusammensetzung aus den verschiedensten, sich zusammenschließenden und sich vennischenden Haufen bezeuge. Es steht ganz anders mit Muchs Argument Nr. 3, daß aso irminman(n) der Evangelienhannonie des >Heliand< ebenfalls einen solchen kollektiven Menschenbegriff vertreten solle. Genn. *ermin- ist analog aso irmin-thiod >Großvolk, Volk< im >Heliand< und ahd. irmindeot >Großvolk, bedeutende Leute, magnates< im >Hildebrandslied< bzw. ahd. irmin-sül >große Säule, erhabener Baum< in aso irmin-man(n) qualitatives Adjektiv im Sinne von >erhaben, groß, bedeutsamder alles Beherrschende, PantokratorGeschlecht der Menschen< und später mit man >Menschen, KriegerKrieger, Helden< und rink >Kriegerausgezeichnete, hervorgehobene Menschen< in den Kreis der Kriegernomina und heroischen Epitheta. 26 In der zweiten Passage (Heliand v.3502), in der es um die Sündenvergebung geht, der Weltgebieter ni uuili enigumu irminmanne faruuernien uuillean sfnes, will also keinem >würdigen Menschen< oder auch nur >Menschen< (wofür die Variation mit liuti, theod spricht) seinen Wunsch verwehren, d. h. in Gottes Erbarmen wird keinem würdigen Bittenden unter den Erdbewohnern die Erlösung verwehrt. 27 lrmin-man ist eine qualifizierende Bezeichnung des >würdigen< Menschen oder des >Menschen an sichHildebrandsliedesGroßvolkSkeireins< (VIII, 11 f.), wo die Stelle im Kontext lautet: ak mais silda leikjandans fraujins laisein swikanpaba in allaim alamannam (Dat. PI.) faurawisan rahnidedun. 28 Was wegen der sonst eintretenden Doppelung des Totalitätsaspekts in der Ausdrucksform (>in aller Gesamtmenschheitbei allen Menschen insgesamteigentlichen, wirklichen, ursprünglichen Menschen< und damit wirklich weitgehend synonym zu der Verwendung von irmin-man im altsächsischen >Heliandalle Menschen< oder >Gesamtheit der Menschen< als Plurale tantum, mit singularischer Rückbildung im Sinne von >jedermannVollmensch, eigentlicher Menschtutti gli uominiumanitaumanitauomini< gefaßt. Vgl. Sigmund Feist, Vergleichendes Wörterbuch der gotischen Sprache, 3. Aufl. Leiden 1939, S. 34. Zur Konstruktion und zum Kompositum s. noch George W. S. Friedrichsen, The Gothic Commentary on St. lohn >Skeireinsaurh lohannes, New York 1960, 2. Aufl. 1966, S. 38; Paolo Ramat, Il gotico manna e i suoi composti, in: Die Sprache. Zeitschrift für Sprachwissenschaft 9 (1963), S. 23-34, hier S. 3lff. Letzterer rückt Ala-manni in die Nähe der Bildungen ala-wäri. ala-hwft. Ala-teiviae usw. Rübekeil 1992 [LV], S. 217 übersetzt denn auch: »sie waren der Meinung, daß sie [die Lehre] deutlich unter allen Menschen hervorrage«, obwohl er alamans als >die gesamte Menschheit< auffaßt.
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Sicherheit, weil der Name seinen Ausgang auch von der Volksbezeichnung genommen haben kann. 3o Wir müssen also damit rechnen, daß, was keine Besonderheit wäre, der Volksbezeichnung *Ala-man(n)- eine bereits existierende germanische Appellativprägung zugrunde liegt. Es fragt sich nur: in welcher Bedeutung? Hier scheint man mir - wohl durchweg irregeleitet durch die späte, aber verführerische Interpretation ad malam partem, die Agathias aus letzten Endes wohl doch germanischer Quelle überliefert - bisher viel zu selten nach der kommunikativen und pragmatischen Funktion von Völkernamen gefragt zu haben, für die eine oben im Ansatz versuchte Typologie Hinweise geben kann. Aus welcher Motivation heraus etwa (was sich auch Hans Kuhn fragte) sollte denn einer sich formierenden Ethnie, einer Menschen- oder Kriegergruppe - sei es von innen oder von außen - die Bezeichnung >Gesamtheit der Menschen, Menschen insgesamt o. ä. < zugelegt worden sein? Denn die von Agathias kolportierte Bedeutung >zusammengelaufene Menschen< läßt sich aus dem Wortsinn von *ala-man(n)- keinesfalls erschließen, sondern ist interpretierende Auslegung des germanischen Gewährsmannes. Schon aus kommunikativen Gründen würde die Kennzeichnung einer Gruppe als wörtlich >alle Menschen< ans Absurde grenzen und der bei einem Angehörigen dieser Gruppe als Individualbezeichnung notwendig rückzubildende Singular >jedermann< ebenfalls. Solch eine Kreation hat auch - soweit wir im Augenblick zu sehen vermögen - keine Parallele und vor allem keinen Platz in der Skala ethnischer Bezeichnungen. Und selbst wenn man eine Ableitung von einem ala-man- >Gesamtheit< in Erwägung zöge, so verrnißte man doch das Ableitungs-Suffix, wie es bei Teutones, Vangiones, Bourgiones, Saxones, Scudingi, Hasdingi, usw., die von Substantiven abgeleitet sind, zu finden ist. Was also hindert uns, Jacob Grimm recht zu geben und *ala-man(n)im Sinne von >ausgezeichneter Mensch oder Mann< zu nehmen - ganz im Verein mit einem in allen germanischen Sprachen gängigen Kompositionstypus mit *al(l)a- - oder die Bildung mit Maurits Schönfeld (1911, S. 8) als »Mensch katexochen« oder - wie ich meine - als >Vollmensch< oder >Urmensch< in Analogie zum oben für den >Heliand< aufgewiesenen ala-thiod >Urvolk< aufzufassen. Diese Bedeutung einer ethnischen Bezeichnung ist im typologischen Katalog der >Völkernamen< gut vertreten und kann dort problemlos ihren Platz (s. o. 2.7.2.) finden.
30
Vgl. Ernst Förstemann, Altdeutsches Namenbuch, Bd. I: Personennamen, 2. Aufl. Bonn 1900, Neudruck München / Hildesheim 1966. Der langobardische >Edictus Rothari< (a. 643) enthält in der Genealogie des Königs Rothari auch Alamund filius Alaman: MGH SS rer. Lang., S. 3; Franz Beyerle (Hg.): Die Gesetze der Langobarden, Göttingen 1962 (= Gennanenrechte NF 9), S. 4, hat aus der Überlieferung rezipiert: adhamund filius alaman. Hierher gehört auch der in Allmespeunt bei Schwäbisch-Hall, 12. Jh. Almannesbunth, und anderen Ortsnamen steckende Personenname: Förstemann (Anm. 16), Sp. 66.
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Wolfgang Haubrichs
Das muß uns Philologen reichen. Zu den Fragen der Historiker, ob dieser >Name< eher eine alte aus dem Kreise der >Elbgermanen< mitgebrachte Bezeichnung oder eine junge Neubildung ist, oder ob sich gar im Namen die Ethnogenese eines neuen Volkes aus pluralen Gruppen, wie sie neuere Forschung wahrscheinlich gemacht hat, spiegele, vermag die Exegese des nomen allein in diesem Falle nichts beizutragen. Dennoch ist die Selbstbezeichnung einer Gruppe von hoher sozialer Bedeutung, ebenso wie der Namengebungsakt. Als er die aufständischen Heiden des Sachsenstammes im Jahre 842 charakterisiert, sagt der Historiker Nithard (Historiae IV, 2): [... ] nomen novum sibi, id est Stellinga, imposuerunt. 31 Eine neue Gruppe brauchte einen neuen Namen. Es hing nur vom Erfolg oder Mißerfolg der Gruppe ab, ob der Name überlebte oder verschwand. Die Alamannen hatten diesen Erfolg, die scheiternden Stellinga nicht.
Literaturverzeichnis Th. Andersson: Goten, Philologisches, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 12 (1998), S. 402-403. - Hallin, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 13 (1999), S. 431-432. Adolf Bach: Deutsche Namenkunde, Bd. I: Die deutschen Personennamen, Heidelberg 1952. Alfred Bammesberger: Die Morphologie des urgermanischen Nomens, Heidelberg 1990. Heinrich Beck: Franken. Namenkundliches, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde, 2. Aufl., Bd. 9 (1995), S. 373-374. Helmut Birkhan: Germanen und Kelten bis zum Ausgang der Römerzeit, Wien 1970 (= Österreichische Akademie der Wissenschaften, phil.-hist. Kl., Sitzungsberichte 272), S. 185ff. Erik Björkman: Studien über die Eigennamen im >Beowulfwestgennanische< Konsonantengemination, in: ZfdA 118 (1989), S. 34-42. - Zur Etymologie von lat.-genn. -varii, in: Beiträge zur Namenforschung NF 28 (1993), S. 1-5. - Die Namen von Lakringen, Sabalingen und Inkvionen, in: Historische Sprachforschung 111 (1998), S. 169 -176. Rainer Wenskus: Stammesbildung und Verfassung. Das Werden der frühmittelalterlichen gentes, Köln / Graz 1961, S. 59ff. und 434ff. Stefan Zimmer: Ursprache, Urvolk und Indogennanisierung. Zur Methode der Indogennanischen Altertumskunde, Innsbruck 1990.
Man/red Lemmer (Halle a.d. Saale)
Münch ze Toberlu Anmerkungen zu Walther L 76,21
Walthers Klage über die Unbilden des Winters und sein Mißbefinden dabei endet bekanntlich mit einer wirkungsvollen Pointe. Unter allem, was er lieber ertragen wolle, als weiter in der Falle der kalten Jahreszeit zu klemmen, nennt er in der letzten Zeile des Vokalspiels ein Leben im Kloster Doberlug. Dies hat zu der erstmals von Wilhelm Wackernagel 1833 geäußerten Annahme geführt, das Gedicht sei in der Zeit von Walthers Aufenthalt am Meißner Hof entstanden. I Wo anders auch hätte man diesen Scherz über ein Kloster an der Ostgrenze des Reiches im Wendengebiet richtig verstehen sollen?2 Man hätte sich durchaus damit zufrieden geben können, daß der Dichter seine Kenntnis Doberlugs, das gerade einmal ca. 50 Kilometer von Meißen entfernt liegt, am Hofe des Markgrafen Dietrich erlangt habe. Beflissene Forschung kam indes zu der Vermutung, Walther habe das Kloster selbst in Augenschein genommen, vielleicht gemeinsam mit Heinrich von Morungen. Das Gedicht »ist sicherlich auf Wanderungen mit Heinrich von Morungen in der Mark Meißen, wohl im Winter 1210/ 1211, der besonders schneereich war, entstanden«.3 Eine kuriose Vorstellung, daß die beiden bedeutendsten Lyriker der Zeit um 1200 bei Schnee und Eis gemeinsam in die Gegend von Doberlug »gewandert« sein sollten, wo es damals wahrlich keine Sehenswürdigkeiten gab. Was hätte sie aus der (auch im Winter vergleichsweise größeren) Annehmlichkeit des Meißner Hoflebens dorthin locken sollen? Eine weitere phantasievolle Version wurde um 1984 in der Klosterkirche selbst dargeboten. 4 Danach wäre Walther als markgräflicher
2
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Gedichte Walthers von der Vogelweide, übersetzt von Karl Sirnrock, mit Erläuterungen von Wilhelm Wackernagel, Berlin 1833, Bd. II, S. 140. Der Schreiber der Handschrift A (Heidelberg cpg 357) kannte den Namen Doberlug jedenfalls nicht, denn bei ihm steht zetobemu. Walther von der Vogelweide. Sprüche und Lieder. Gesamtausgabe hg. v. Helmut Protze, Halle 1963 (= Literarisches Erbe 3), S. 18 und 246. Dort lief um 1984 im Rahmen der Führung ein Tonband, darin es im Anschluß an Walthers Schlußzeile hieß: »So seufzt frierend in einem winterlich kalten Turrnzimmerchen der Burg in Meißen ein gewisser Walther von der Vogelweide. Er ist gerade von den Zisterziensern des Klosters Doberlug zurückgekommen, dessen Abt er eine Botschaft des Markgrafen Dietrich überbracht hat. Dabei hat er den Mönchen zugesehen, wie sie auf den Gerüsten standen und an ihrer Kirche bauten. Das war anno 1212.« Zitiert nach Ulrich Caesar, Ein Baudenkmal der Zisterzienser, in: Neue Zeit (Berlin) vom 27.10.84; dazu briefliche Auskunft vom 31.10.84. Das Band soll von
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Man/red Lemmer
Kurier in Doberlug gewesen. Da hatte wohl einer eine Reminiszenz an zwei Sprüche, in denen sich der Dichter selbst bote nennt (L 12,6 und 56,14). Nur wurde dabei der Unterschied zwischen einem Briefboten und dem Verkünder gewichtiger Botschaften nicht gesehen. Ein anderer hat unter Hinweis auf Walthers Schlußzeile behauptet, Doberlug sei um 1200 sprichwörtlich gewesen, und der Dichter habe mit einem Zitat geendet. 5 Daß die Verwendung von Toberlu mit dem erforderlichen u-Reim der fünften Strophe zu tun hat, ist communis opinio. Dennoch ist immer wieder gefragt worden, ob es mit dieser pointenträchtigen auffälligen Nennung eines Klosters in einem Lied vielleicht noch eine andere Bewandtnis hatte. Aussagen über das Kloster und seine Mönche sind mehrfach gemacht worden. Sie weichen aber in manchem Punkte voneinander ab, und man bekommt den Eindruck, daß man es zuweilen an historischen Recherchen hat fehlen lassen und der Phantasie oder Vennutung Raum gegeben hat. Vielleicht meinte man, sehr viel Hintergrundkenntnisse über das Kloster seien nicht nötig, wenn man nur die Schlußpointe verstanden habe. Daß dem nicht so ist, wird sich zeigen. Aber zunächst sei kurz referiert, welche Angaben man über Kloster Doberlug finden kann. 6 Es habe für »strenge Zucht / Disziplin / (Mönchs)Askese« gestanden. Dafür gibt es keinen historischen Beleg; aber der wäre auch gar nicht nötig gewesen. Strenge Zucht war bei klösterlichen Neugründungen (vollends im Kolonialland) eo ipso die Regel, und für solche Unternehmen hat man gewiß auch die besten Klosterbrüder ausgewählt. Was die wirtschaftliche Lage angeht, so schwanken die Angaben von »reich / blühend / reich begütert, nicht ann« (was immer das heißen mag) bis »(wohl) noch wenig begütert«. Man wies auf das verbreitete Sprüchlein hin Cell et Buch faciunt unum Dobrilug (gemeint sind die sächsischen Klöster Altzelle bei Nossen, 1175, und Buch, jetzt Klosterbuch bei Leisnig, 1192). Dabei übersah man nur, daß Doberlug den Ruf der »bestorganisierten Grundherrschaft östlich der EIbe« 7 erst allmählich nach 1217 und vor allem seit 1234 erlangte. 8
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einem Mitglied der Akademie der Wissenschaften zu Berlin besprochen worden sein, dessen Namen Caesar nicht kannte. Lediglich mit Hinweis auf Walthers Gedicht heißt es da: »Lieber wäre ich Mönch in Dobrilugk, lautete ein Sprichwort, das um das Jahr 1200 gänge war und soviel hieß als: lieber ließ ich's aufs Äußerste ankommen, oder lieber wählte ich das elende Leben im Kloster Dobrilugk« (ein gewisser ,K.< in: Neues Lausitzisches Magazin 18 [N. F. 5] 1840, S. 301). Diese Behauptung (»um 1210 offensichtlich sprichwörtlich«) wird noch wiederholt in: Zisterzienserklöster in Brandenburg, hg. v. Oliver H. Schmidt und H. Jürgen Feuerstake, Berlin 1998, S. 68. Auf die bibliographischen Nachweise ist im folgenden verzichtet. Sie finden sich bis 1969 in der Literatur zum Vokalspiel bei Manfred Günther Scholz, Bibliographie zu Walther von der Vogelweide, Berlin 1969 (= Bibliographien zur dt. Lit. d. Mittelalters, hg. v. Ulrich Pretzel und Wolfgang Bachofer, Heft 4), S. 115. Schmidt / Feuerstake (Anm. 5), S. 62. 1234 gehörten dem Kloster 18 Dörfer und zahlreiche Einzelstücke zwischen Schwar-
Münch ze ToberlU
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Ebensowenig trifft auf Walthers Zeit zu, daß das Kloster »auch außerhalb Meißens bekannt« oder gar »berühmt« war (dazu weiter unten). Wenn es von F. Hornemann sogar in den »Ruf der Heiligkeit« gestellt und »verehrungswürdig« genannt worden ist, so versteht man nicht recht, warum Walther einen Eintritt als eine so entsetzliche Alternative hingestellt hat. Aber das ist wohl die Absicht Hornemanns gewesen, schreibt er doch, Markgraf Dietrich hätte es »auch persönlich unangenehm empfinden müssen, wenn ein Kloster, welches er und sein Haus gefördert und geehrt, [... ] als ein abschreckender Aufenthalt verspottet worden wäre«.9 Nun, Walther ist mit ganz anderen hohen Herren spöttisch umgesprungen. Auf die Frage, was Walther mit der Schlußzeile bezweckt hat, antwortete Wilmanns, er habe »den Gegensatz gegen das Ritterleben schärfer hervortreten lassen wollen«.lo Mußte man die Meißner Hofgesellschaft über die unterschiedlichen Lebenswelten von Rittern und Mönchen belehren? Auch »Bewunderung« für und »Spott auf die Mönche« hat man aus Walthers Nennung des Klosters heraushören wollen. 11 In solchen Annahmen ist nicht bedacht, daß der Dichter einzig und allein von sei ne r augenblicklichen Befindlichkeit im verhaßten Winter redet. Walthers Gedicht ist im Tenor auf Scherzhaftigkeit angelegt mit Wendungen, die komische Wirkung hervorbringen sollen. Aber ihm wohnt eine zwiefache Spannung inne. Die >Perlenkette< der auf a-e-i-o-u gereimten Strophen hat auf die Zuhörerschaft gewiß einen formalen Reiz ausgeübt und Neugier erzeugt, welche Reime dem Dichter bei dem Zwang, den er sich mit dem Spiel von Strophe zu Strophe selbst auferlegt hat, noch einfallen würden. Ganz leicht ist das in der fünften Strophe wohl nicht gefallen, denn er mußte, um die Reimwörter zusammenzubekommen, auf zwei mundartliche Formen (ru, drU) und eben auf die Namensform Toberlu zurückgreifen. 12 Aber auch inhaltlich spürt man bei dem Gegensatzpaar sumerfreude und wintersorge , daß die Schelte des kalten Winters immer heftiger wird
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zer Elster und Eibe. 1372 bestätigte Karl IV. dem Kloster seine Güter: 26 Dörfer, 13 zerstreut liegende Orte, vier einzeln liegende Klosterhöfe (Franz Winter, Die Cistercienser des nordöstlichen Deutschlands bis zum Auftreten der Bettelorden, 2 Bde., Gotha 1868, Band 11, S. 3lOff. und 367). F. Hornemann, Zu Walthers Vokalspiel, in: Germania 29 (1884), S. 42-53, hier S. 46. Walther von der Vogelweide, hg. und erklärt von Wilhelm Wilmanns, 4. vollst. umgearb. Aufl., besorgt von Victor Michels, Halle 1924, S. 286. Schmidt / Feuerstake (Anm. 5), S. 68. Diese scheint eine gesprochene Form zu sein, denn sie kommt in der schriftlichen Überlieferung nur zweimal vor: »abbatia Doberlu vel Doberluch« in der >Tabula subscripta< des Zisterzienserordens (abgedruckt bei Winter [Anm. 8J, Bd. 11, S. 318) und 1231 in einer Urkunde (Doberlu). - Sonst begegnen »Dobraluh« (Thietmar 1012/18), »Doberluga / Dobrilug« (Petersberg-Chronik), »Doberluch« (erste Klosterurkunde von 1199, diese Form noch 1200, 1210, 1251 u.ö.), nach Ernst Eichler und Hans Walther, Städtenamen der DDR, Leipzig 1986, S. 78f.
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Manfred Lemmer
(Krebse roh verspeisen, Strohlager, ungepflegtes Haar, Esau/Sau, verligen, Gefühl des Gefangenseins). Alles spitzt sich auf den Schluß des Liedes zu und läßt den Zuhörer noch etwas Besonderes erwarten. »Bei dem Fehlen eines Höhepunkts ist ein [... ] zugespitzter Abschluß wünschenswert; ja fast nötig; er verhilft dem Sänger zu einem guten Abgang«. 13 Sollte Walther nach diesem langen >Anlauf< nur haben sagen wollen: Dann ginge ich lieber ins Kloster? Ein witziger Schluß gewiß, aber witzig genug, um angesichts seines geschilderten erbärmlichen seelischen und körperlichen Zustands eine Art Verzweiflungstat zu erwägen? Aber nicht Mönch irgendwo wollte er werden, sondern in Toberlu. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß in dem Hinweis auf dieses Kloster ein Hintersinn steckt, der sich womöglich nur der Meißner Hofgesellschaft voll erschlossen hat. Da er wohl nur aus den historischen Gegebenheiten kommen kann, sei in einem kurzen Exkurs dargelegt, was die Regionalforschung über das Kloster erbracht hat. Damit wird einiges aus den obigen vagen Annahmen geradegerückt, und man gewinnt auch ein besseres Verständnis für Walthers Liedschluß. Stifter des Klosters Doberlug war Graf Dietrich von Landsberg, der zweite Sohn Markgraf Konrads des Großen. Dieser hatte ein Jahr vor seinem Tode (1157) eine wettinische Erbteilung vorgenommen, und dabei war die Ostmark (Lausitz) an Dietrich gefallen. Dieser starb 1185, und ihm folgten Graf Dedo (gest. 1190), dessen Sohn Konrad (11.) von Landsberg (gest. 1210), und danach kam die Lausitz an Markgraf Dietrich (den Bedrängten) von Meißen, an dessen >Musenhof< sich Heinrich von Morungen (offenbar lange Zeit) und Walther von der Vogelweide (zeitweilig) aufgehalten haben. Dietrich war ein Schwiegersohn Landgraf Hermanns 1. von Thüringen, des vielgepriesenen Mäzens der mittelhochdeutschen klassischen Literaturperiode. Eine Gründungsurkunde für Doberlug gibt es nicht (jedenfalls ist keine erhalten). Laut Ordensüberlieferung der Zisterzienser soll am 1. Mai 1165 ein Mönchskonvent dort eingezogen sein. Er kam aus dem 1131 gegründeten Kloster Volkerode (bei Mühlhausen/Thüringen). Nun existiert für Doberlug noch ein zweites Gründungsdatum. Zum Jahre 1184 berichtet der Verfasser des um 1230 entstandenen >Chronicon montis sereni< aus dem Petersbergkloster (nördlich von Halle a. d. Saale), daß Markgraf Dietrich jundavit eeclesiam Cistereiensis in loeo, qui Doberluge dicitur. 14 Dieses zweite Datum könnte die Wiederaufnahme des Klosterausbaus meinen, denn Zeugnissen der Reformationszeit ist zu entnehmen, daß die Mönche 1184/85 nach Doberlug zurückgekehrt seien. Das würde bedeuten, daß sich der erste Konvent irgendwann aus dem gefährlichen Unruhegebiet
13 14
Julius Wiegand, Zur lyrischen Kunst Walthers, Klopstocks und Goethes, Tübingen 1956, S. 8f. MGH SS 23 (1874), S. 160.
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der Ostmark zurückgezogen hat. Heinrich der Löwe hatte nämlich, um den deutschen Fürsten im Osten zu schaden, die slawischen Lutizen und Pomeraner zum Widerstand gegen die deutsche Kolonisation und zum Einfall in die Lausitz aufgestachelt. Der Slawenaufstand von 1179/80 war der schlimmste von allen und hat weite Gebiete der Lausitz, vor allem Jüterbog und Kloster Zinna, verheert. Ob davon auch das im Entstehen begriffene Doberlug betroffen war, weiß man nicht, aber möglich wäre es. Erst nach der Entmachtung des Löwen (1180) besserten sich die Verhältnisse; aber ganz sicher vor Unruhen der slawischen Bevölkerung konnten sich die Wettiner noch lange nicht sein. 15 Verwunderlich ist, daß das Kloster über Jahrzehnte de jure gar nicht existierte. Erst 1199/1200 wurden in Wardenbrück und in Colmitz die Grenzen des klösterlichen Besitzes urkundlich bestätigt, nachdem sie durch »glaubwürdige Zeugen« festgestellt worden waren. 16 Sehr groß dürften die vomfundator zugewiesenen Gebiete und andere, durch Schenkung hinzugekommene nicht gewesen sein, und der Konvent war es anfänglich wohl auch nicht, wenn man das geringe Ausmaß der Klausurbauten in Betracht zieht. Im zweiten Jahrzehnt des 13. Jahrhunderts versuchten die Brüder durch das probate Mittel der Urkundenfälschung den Klosterbesitz zu erweitern. 17 Die (allerdings nicht gesicherte) Weihe der Kirche soll 1228 stattgefunden haben. Da im April 1209 die Gattin Markgraf Konrads (gest. 1210) in Doberlug beigesetzt worden ist, müssen zu dieser Zeit wenigstens Teile der Kirche (Chor, Vierung) fertiggestellt und teilgeweiht gewesen sein. Diese Bestattung war mit Schenkungen verbunden (preter multa alia bone voluntatis indicia 18 marcas obtulit}.18 Die unglückliche Anfangsphase des Klosters hatte aber auch mit dem höchst problematischen Ansiedlungsort zu tun. Das Kloster an der Kleinen Elster lag nach zisterziensischer Art weitab vom Weltgetriebe und in mannigfach unwirtlichem Gelände, das es urbar zu machen galt. Die Wahl dieses Ordens dürfte von Erzbischof Wichmann von Magdeburg vorgeschlagen worden sein, der die Benediktiner für unfähig hielt, solche Arbeit zu leisten. 19 Schon in der ersten Erwähnung des Ortes Dobraluh in pago Lucizi (Lausitz) erfährt man etwas vom Charakter der Gegend. Thietmar von Merseburg berichtet nämlich in seinem >Chronicon< (1012-1018), die Heere Heinrichs 11., Heinrichs von Bayern und Jaromirs von Böhmen hätten sich
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M. Georg Christoph Kreysig, Beyträge zur Historie der Chur- und FOrstlichen Sächsischen Lande, IV. Teil, Altenburg 1758, S. 57 ff. Winter (Anm. 8), Bd. I, S. 148. R. Lehmann, Die älteste Geschichte des Zisterzienserklosters Dobrilugk, in: Niederlausitzer Mitteilungen 13 (1916), S. 206. MGH (Anm. 14), S. 176. Lehmann (Anm. 17), S. 203, unter Hinweis auf den Codex diplomaticus Anhaltinus V, 357.
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dort 1005 zum Feldzug gegen Polen gesammelt und seien per solitudines paludesque bis zur Provinz Nice (Neiße) geführt worden. 20 Zwei Jahrhunderte später werden wir ausführlicher unterrichtet. Bei der Grenzfestlegung von 1199/1200 wird die Gegend »wässerig« genannt. Sumpfiges Land mit Wasserläufen, Tümpeln, Bächen und Teichen im Niederungsgebiet der Elster einerseits, unermeßliche düstere Wälder mit dichtem Unterholz, Moosen und Farnen zum andern waren es, die dem noch kleinen Mönchskonvent härteste Kolonisationsarbeit bei mageren Erträgen abforderten 21 - und das umgeben von einer feindlich gesonnenen slawischen Bevölkerung. So hebt Lehmann denn auch wiederholt hervor, daß das Leben der Mönche »kümmerlich« gewesen sei, daß sie am Anfang eine »harte entbehrungsreiche Zeit« gehabt hätten und daß »ihre Lage dürftig, ihr Dasein hart« gewesen sei. 22 Bekannt (oder gar berühmt) war Doberlug - wie behauptet worden ist zur Zeit von Walthers Aufenthalt in Meißen außerhalb des wettinischen Territoriums schwerlich. Es hat eher lange Zeit als eine Art >wilder< Gründung bestanden, die man besser verborgen hielt, weil sie vom Orden gar nicht so gern gesehen war; denn bereits 1152 hatte das Generalkapitel der Zisterzienser Neugründungen von Klöstern untersagt (Verbot 1170 wiederholt).23 Aber möglicherweise war man im Zuge der Ostkolonisation im Wendenland nicht so streng in der Auslegung. Das Fehlen einer Stiftungs- oder Gründungsurkunde könnte im übrigen damit zusammenhängen, daß der reichstreue Gründer Dietrich von Landsberg den Unmut Kaiser Friedrich Barbarossas nicht erregen wollte, der seinerzeit den Zisterziensern nicht gewogen warY Die historischen Quellen lassen also vom Doberlug der Zeit um 1212 ein gar nicht rosiges Bild entstehen. Es war damals (noch) nicht berühmt, vielleicht eher berüchtigt, und das am wenigsten wegen der »strengen Klosterzucht«. Über die Frühgeschichte des Klosters hat Walther wohl nichts gewußt, brauchte er auch nicht; aber über dessen derzeitige Befindlichkeit wird er durch Hörensagen erfahren haben, vielleicht von den Hofbeamten, die im 20 Thietmar von Merseburg, Chronicon VI, 22,16. 21 Die schlechte Beschaffenheit des Gebiets um Doberlug hat eine Besiedlung größeren Stils durch deutsche Bauern verhindert.
22 Lehmann (Anm. 17), S. 107, 202, 206. - Der um die Klostergeschichte verdiente Rudolf Lehmen schrieb noch 1995: »Schwer mußte die junge Stiftung in den ersten Jahrzehnten um ihr Dasein kämpfen« (Handbuch der historischen Stätten Deutschlands, Band 10: Berlin - Brandenburg, 3. überarb. und ergänzte Auflage, Stuttgart 1995, S. 161). 23 E. Hoffmann, Die Entwicklung der Wirtschaftsprinzipien im Cistercienserorden, in: Histor. Jahrbuch 31 (1910), S. 699- 727, hier S. 706. 24 Winter (Anm. 8), Bd. I, S. 148.
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Dienste Markgraf Dietrichs als dem Schutzherren der Stiftung mit den Verhältnissen am besten vertraut waren. Nur am Meißner Hof konnte er solche Informationen gewonnen haben. Mit seinem Gedicht steht Walther in der Reihe mittelhochdeutscher Lyriker, die die Plagen des Winters beklagten oder verfluchten und die Wonnen des sumers herbeisehnten. Er tut es in der künstlerischen Form des Vokalspiels. In dessen letzter Zeile taucht - einigermaßen ungewöhnlich für ein lyrisches Gedicht - der Name des Klosters Doberlug auf, der ihm in Meißen gleichsam auf dem Tablett gereicht worden ist und der so prächtig in seine erforderlichen u-Reime paßte. Und er versteht sein Wissen zu nutzen für einen fulminanten Schluß. Aus der dichterisch-ästhetischen Welt des Reimspiels stürzt er seine Hörerschaft unvermittelt in eine realistische Welt ca. 20 Meilen vor der Haustür, in die er in einer ins Auge gefaßten Verzweiflungstat eintreten will, falls der sumer nicht bald kommt. Damit droht der fahrende Sänger, der sich seiner Kunst bewußt und der stolz auf sie ist, der gern die Höfe hoher Herren sucht (ez ist mfn site, daz man mich iemer bf den tiursten vinde, L 35,8) und den Annehmlichkeiten höfischen Lebens nicht abhold ist, der seinerzeit, als ihn Herzog Leopold nicht mehr am Wiener Hofe sehen wollte und ihn in den Wald wünschte, den Fürsten anflehte: wünsche mir [... ] nicht ze walde: ichn kann niht riuten (L 35,18), dieser Dichter will nun in gemimter Verzweiflung ausgerechnet zu den Zisterziensern von Doberlug gehen, deren karge Lebensweise teilen und ihnen bei ihrer schweren Arbeit des Klosterausbaus und der Kolonisierung einer ziemlich trostlosen Landschaft beispringen, bei der das Bäumeroden keine geringe Rolle spielte! Diese Pointe, die erst aus den historischen Verhältnissen der Zisterze Doberlug ihre volle Geltung erlangt, ist eines Künstlers wie Walther würdig, und die berechnete Wirkung wird nicht ausgeblieben sein, am besten natürlich vor der Meißner Hofgesellschaft, wo allein das tiefere Verständnis des Witzes von einem potentiellen Bruder >Walther von Toberlu< zu erwarten war.
Rudolf Voß (Mainz)
Intertextualitätsphänomene und Paradigmenwechsel in der Minnelyrik Walthers von der Vogelweide
A. Paradigmenwechsel in Walthers Lyrik als Forschungsproblem Die Erforschung von Walthers (Euvre in seinen Kohärenzen und Disparitäten unterliegt den je eigenen Bedingungen der in ihm repräsentierten Gattungsbereiche, Sangspruch, Minnesang und religiöse Lyrik.' Hinsichtlich der Spruchdichtung ergeben sich aufgrund ihrer pragmatischen Bindung an aktuelle politische Gegebenheiten wenn auch nicht im einzelnen lückenlose und unstrittige, so doch aufs Ganze gesehen durchaus deutliche Befunde von Kontinuitäten und Positionsänderungen, einbegriffen Indizien zur relativen und sogar zur absoluten Chronologie. Die Minnelyrik hingegen entbehrt fast gänzlich solcher konkreten Anhaltspunkte, so daß gegenüber älteren, methodisch bedenklichen Versuchen, die Gedichte in eine sukzessive Ordnung zu bringen und aus dieser postulierten Ordnung heraus zu deuten, in der jüngeren Forschung die Neigung besteht, unterschiedliche Perspektivierungen des Phänomens der höfischen Liebe in Walthers Liedern als quasi simultan mögliche Variationen im Rahmen einer artifiziellen Inszenierung zu betrachten. Die religiöse Lyrik bietet ein zwiespältiges Bild. Soweit sie Reflexe der Alterssituation des Autors, womöglich verbunden mit Anspielungen auf politisch-gesellschaftliche Vorgänge, aufscheinen läßt, eröffnet sie ähnliche Möglichkeiten der Einordnung wie die Spruchdichtung. Wo sie jedoch den Horizont überpersönlich-dogmatischer Aussagegehalte nicht überschreitet, sperrt sie sich gegen eine distinkte Verortung im Gesamtwerk. Bis in die rezenten Gesamtausgaben und -darstellungen spiegelt sich diese unterschiedliche Konditionierung der Gattungsbereiche sinnfallig. Die Neubearbeitung der Lachmannsehen Edition durch Christoph Cormeau 2
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Die Problematik der Definition und der Abgrenzung dieser lyrischen Subspezies soll und kann in diesem Zusammenhang ebenso unbelÜcksichtigt bleiben wie die von Sondererscheinungen, welche sich einer eindeutigen Zuordnung entziehen. Walther von der Vogelweide. Leich, Lieder, SangsplÜche, 14., völlig neubearbeitete Auflage der Ausgabe Karl Lachmanns mit Beiträgen von Thomas Bein und Horst Brunner hg. v. Christoph Cormeau, Berlin I New York 1996. Nach dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert; dabei wird die dort neu eingeführte Identifizierung der Lieder oder Töne durch arabische Ziffern sowie der Strophen durch römische Ziffern in Verbindung mit der Abkürzung W für Walther anstatt der längst überholten Lachmann-Angaben verwendet.
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hat in Anbetracht der Schwierigkeiten, die Gedichte in eine sachlich begründete Abfolge zu bringen, Lachmanns wenig durchsichtige Mischung von überlieferungsgeschichtlichen und gattungsbezogenen Kriterien beibehalten, von einigen Retuschen abgesehen. 3 Günther Schweikle 4 ediert Walthers »Spruchlyrik« im Prinzip chronologisch, die »Liedlyrik« hingegen arrangiert er unabhängig von genetischen Zusammenhängen nach teils inhaltlichen, teils gattungstypologischen Gesichtspunkten. Daß sich diese Gliederung mehr als ein aus der Not ungelöster und vielfach nicht lösbarer Entstehungsverhältnisse geborenes Provisorium ausnimmt denn als ein den Werkkomplex zureichend erschließendes Gerüst, ist dem Herausgeber durchaus bewußt gewesen. 5 Ähnlich scheinen die Dinge bei Silvia Ranawakes Neuedition der Paulschen Ausgabe 6 zu liegen. Während die Herausgeberin für den vorliegenden ersten Teil, der hauptsächlich die Spruchdichtung umfaßt, ein chronologisches Grundgerüst akzeptiert, negiert sie für die dem ausstehenden zweiten Teil vorbehaltene Minnelyrik Walthers vorab die Durchführbarkeit, darüber hinaus sogar, pointierter als Schweikle, die Angemessenheit einer auf Paradigmenverschiebungen aufbauenden werkgeschichtlichen Gruppierung (S. XXIV): Auch auf eine gesicherte relative Chronologie müssen wir verzichten. Die Vorstellung etwa, Walther habe in der Auseinandersetzung mit Reinmars Minnekonzept verschiedene minnetheoretische Phasen - etwa der Hohen Minne, der Mädchenlieder und der neuen Hohen Minne - in zeitlicher Abfolge durchlaufen, läßt sich nicht verifizieren. Soweit sich dies an der datierbaren Spruchdichtung ablesen läßt, hat Walther vielmehr die gleichen Themen immer wieder variierend aufgegriffen und die Themenvielfalt genutzt, um zu jedem Zeitpunkt ein abwechslungsreiches Programm bieten zu können.
Grundsätzlich entsprechend verfahren die Gesamtdarstellungen der letzten Jahre. Die Einführungen von Horst Brunner, Gerhard Hahn, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler 7 sowie von Manfred Günter Scholz 8 erfassen die Spruchdichtung chronologisch, die religiöse Dichtung je nach Ansatzmöglichkeit systematisch oder als Erscheinungen des Spätwerks. Bezüglich der Minnelyrik zeigen beide Werke deutliche Vorbehalte gegen eine Gruppierung nach durch unterschiedliche Paradigmen der Minne gekennzeich-
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Cormeau (Anm. 2), Einleitung, S. XXIff. Walther von der Vogelweide. Werke, Gesamtausgabe, Bd. I: Spruchlyrik, Bd. 2: Liedlyrik, Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg., übersetzt und kommentiert von Günther Schweikle, Stuttgart 1994/1998. Schweikle (Anm. 4), Bd. 2, S. 7 und 47ff. Walther von der Vogelweide. Gedichte, 11. Auflage auf der Grundlage der Ausgabe von Hermann Paul hg. v. Silvia Ranawake mit einem Melodieanhang von Horst Brunner, Teil I: Der Spruchdichter, Tübingen 1997. Horst Brunner, Gerhard Hahn, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechder, unter Mitarbeit von Sigrid Neureiter-Lackner, Walther von der Vogel weide. Epoche - Werk Wirkung, München 1996. Manfred Günter Scholz, Walther von der Vogelweide, Stuttgart / Weimar 1999.
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neten Schaffensphasen. So formuliert Hahn, dem die Darstellung dieses Gattungsbereichs in dem von mehreren Autoren verantworteten Gemeinschaftswerk obliegt (S. 90): Auch ist nicht gemeint [... ], daß die drei Liedgruppen [i.e. Preisliedgruppe, »Mädchenlieder« und Lieder der neuen hohen Minne] im Verhältnis einer zeitlichen Abfolge stehen; sie stellen eher, chronologisch kaum festzulegen, zeitlich parallel laufende, ineinander verzahnte Versuche unterschiedlicher Art dar.
Wo Fragen der Chronologie, und sei es auch nur der relativen, berührt werden, da setzt der Autor gern Fragezeichen (S.81: »Frühe Lieder?«, S. 85: »Lieder einer >Wanderzeit