Rhetorik für Europa: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Instituts für Rhetorik und Methodik in der politischen Bildung (IRM) [1 ed.] 9783428478989, 9783428078981


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German Pages 182 Year 1993

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Rhetorik für Europa: Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Instituts für Rhetorik und Methodik in der politischen Bildung (IRM) [1 ed.]
 9783428478989, 9783428078981

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DAUMEN I HERBIG I WESSELA (Hrsg.)

Rhetorik für Europa Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Instituts für Rhetorik und Methodik in der politischen Bildung (IRM)

Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen Herausgegeben von Heiner Timmermann

Band 70

Rhetorik für Europa Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Instituts für Rhetorik und Methodik in der politischen Bildung (IRM)

Herausgegeben von Raimund Dahmen, Albert Herbig und Eva Wessela

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Rhetorik für Europa : Festschrift zum 25jährigen Bestehen des Instituts für Rhetorik und Methodik in der Politischen Bildung (IRM) I hrsg. von Raimund Dahmen ... - Berlin : Duncker und Humblot, 1993 (Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen : Bd. 70) ISBN 3-428-07898-5 NE: Dahmen, Raimund [Hrsg.]; Institut für Rhetorik und Methodik in der Politischen Bildung (Saarbrücken); Europäische Akademie (Otzenhausen): Dokumente und Schriften der Europäischen Akademie Otzenhausen e. V.

Alle Rechte vorbehalten © 1993 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Werner Hildebrand, Berlin Printed in Germany ISSN 0944-7431 ISBN 3-428-07898-5

Inhalt Grußworte . . . . . . . . . . .

.7

Vorwort der Herausgeber/innen

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A. Thematischer Teil Demokratie und Rhetorische Kommunikation Hellmut Geißner, Landau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Das Interesse an Rhetorik in Deutschland Martin Beck, Offenbach. . . . . . . . Klären - eine Methode in der Pädagogik der interkulturellen Kommunikation Edith Slembek, Lausanne . . . . . . . . . . . . . . . . .

. . . . . . 33

. . . . 43

Mündlich - öffentlich - dialogisch. Medienrhetorik und politische Kommunikation Norbert Gutenberg, Saarbrücken . . . . . . . 53 Integrierte Weiterbildung für Betriebsräte Raimund Dahmen, Nonnweiler . . . .

. . . . . 81

Vom Umgang mit Begriffen- "Wenden" und "Subsidiarität" in Vergangenheit und Gegenwart Heiner Timmermann, Nonnweiler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Kritische Rhetorik in der politischen, ebenso wie in der beruflichen Bildung Katrin Dahmen, Nonnweilet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Kurzbiographien der Autoren/Autorionen und Herausgeber/innen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133

6

Inhalt

B. Das IRM • Geschichte, Dokumente, Unterhaltsames 25 JahreiRM Raimund Dahmen, Nonnweiler .

. . . . . 137

"Ziele und methodische Grundlagen der Arbeit des Instituts für Rhetorik und Methodik in der politischen Bildung". Erste programmatische Verlautbarung des IRM aus dem Gründungsjahr 1968 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.141

Der erste Kurs (Modellkurs) des IRM (19.-23.11.1968).

.143

"Privat gesprächig- politisch stumm". Festvortrag von Prof Dr. Hellmut Geißner anläßtich der 30-Jahr-Feier der Europäischen Akademie Otzenhausen am 26. Mai 1984 . . . . . . . . . . . . . . . 145 "Rhetorik heute - Techniken, Tricks und Theorien des wirksamen Sprechens"- Das IRM im Hörfunk. Auszüge aus einer Hörfunkgemeinschaftsproduktion des WDR, SFB und SWF aus dem Jahre 1983 von Carola Wedel ausgewählt und zusammengestellt von Eva Wessela. . . . . . 155 "Reden kann jede" - Das IRM in der Presse ausgewählt und zusammengestellt von Eva Wessela.

. . . . 161

"Der Lehrgang hat gezeigt, daß das Gespräch zwischen Konservativen und Progressiven dennoch möglich ist" - Aus den Seminarberichten ausgewählt und zusammengestellt von Eva Wessela. . . . . . . 169 "Viel geredet- wenig getan"- Gästebucheintragongen ausgewählt und zusammengestellt von Eva Wessela .

.111

Das IRM "im Bild". . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.177

"Rhetorische Kommunikation"- eine Auswahlbibliographie mit Beiträgen von Mitarbeiter/innen des IRM . . . . . . . . . . . . . . . 179

Grußwort der Ministerin für Bildung und Sport, Frau Marianne Granz Das Institut für Rhetorik und Methodik feiert in diesen Tagen das 25. Jubiläum seiner Arbeit in der außerschulischen politischen Bildung. Zu diesem "Generationssprung" gratuliere ich herzlich dem wissenschaftlichen Leiter des Instituts, Herrn Prof. Dr. Hellmut Geißner und den Mitarbeitern. Ihr Verdienst ist es, in der Region Saar-Lor-Lux "Demokratie durch Diskussion" (C.W. Mills) verankert und kontinuierlich ausgebaut zu haben. Es bedeutet ein viertel Jahrhundert Arbeit im und mit dem Medium Sprache, vor allem in der Form von Rede und Gespräch; miteinander reden, zuhören können, ohne unbedingten Glauben zu schenken, Fragen stellen lernen, die Antworten als vorläufige hinnehmen, kurz, mit Hilfe von immer neuen Informationen allmählich zu Überzeugungen zu gelangen, die eine kritische Urteilskraft begründen und zu rationalem politischen Handeln befähigen. Ein Handeln im Vorfeld ausbrechender Gewalt! Ein Handeln notfalls gegen alle Extremismen! So hat sich bisher - und ich hoffe, daß dies in Zukunft weiterhin intensiv geschieht - politische Bildung im Rahmen der Institutionsarbeit als rhetorische Kommunikation vollzogen, im Wortsinne des communicare als Teilhabe des einzelnen am vergesellschafteten Leben und als Möglichkeit, etwas zur gemeinsamen Sache zu machen. Um nicht doch anfallig zu werden für große Worte oder der Schönrednerei auf den Leim zu gehen, bedarf es einer Art der politischen Weiterbildung, wie sie das Institut für Rhetorik und Methodik vermittelt. Die Bereitschaft dazu kann verhindem helfen, daß der Bürger plötzlich sprachlos ist oder von demokratiefeindlichen Kräften mundtot gemacht wird. Für seine weitere Bildungsarbeit wünsche ich dem Institut für Rhetorik und Methodik viel Erfolg.

Grußwort des Präsidenten der Bundeszentrale für politische Bildung, Herrn Dr. Günter Reichert Im bewegten Jahr 1968 wurde das Institut für Rhetorik und Methodik in der politischen Bildung als Tochterinstitut der Europäischen Akademie atzenhausen gegründet. Getxagen von der Idee, den kritisch-konstruktiven Dialog der Menschen in der Demokratie und somit den mündigen Bürger zu fördern, ist die Arbeit des Instituts darauf angelegt, durch Seminarangebote und wissenschaftliche Auseinandersetzung ihre Tagungsteilnehmer zum konstruktiven Engagement für und in der Gesellschaft auszurüsten. Ganz im Geiste der Europäischen Akademie atzenhausen hat zudem der Gedanke der europäischen Einigung über das programmatische Bekenntnis hinaus die Seminararbeit geprägt und war gelebte Verpflichtung. Die Bundeszentrale für politische Bildung hat von Anbeginn die Arbeit des IRM ideell wie materiell unterstützt. Beide Häuser verbindet das Engagement für die Mündigkeit des Bürgers in Freiheit und Demokratie. Anfang 1993 hat die Akademie atzenhausen einen großzügigen Erweiterungsbau, das "Europaeum" erhalten, der auch in Zukunft ein Kristallisationspunkt für mannigfache Veranstaltungen im europäischen Geiste sein wird. Ich wünsche dem wissenschaftlichen Leiter des Instituts für Rhetorik und Methodik in der politischen Bildung, Herrn Prof. Dr. H. Geißner, sowie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern alles Gute für die Zukunft und für unsere beiden Häuser auch weiterhin ein gedeihliches Zusammenwirken.

Geleitwort des Leiters der Europäischen Akademie Otzenhausen e.V., Herrn Arno Krause Schon zu Beginn des europäischen Einigungsprozesses Anfang der 50er Jahre war den Gründem und Trägem der Europäischen Akademie Otzenhausen (EAO) e. V. bewußt, daß der damit verbundene Wandel in Staat. und Gesellschaft ohne eine begleitende Informations- und Bildungsarbeit nicht erfolgreich gestaltet werden kann. Die Europäische Akademie Otzenhausen wurde als Begegnungsstätte für die europäische Jugend gegründet und 1959 zu einer gemeinnützig anerkannten Einrichtung der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung weiterentwickelt. Dabei wurde ihr die Aufgabe gestellt, als Institut für Grundfragen der europäischen Einigung, politischen Bildung und deutsch-französischen Zusammenarbeit die erforderlichen Grundlagen und Methoden für eine europäische und übernationale Bildungsarbeit zu erarbeiten und zu gewährleisten. Ausgangspunkt für diesen Auftrag war die geographische und geschichtliche Erfahrung in dieser Grenzregion, die Wirtschaft und Gesellschaft vielfaltig geprägt haben. So hat sich die Europäische Akademie Otzenhausen über ihren engeren Bildungsauftrag hinaus immer der inhaltlichen Begründung und Weiterentwicklung einer demokratischen und europäischen Gesellschaft verpflichtet gefühlt. Im Jahr 1968 gründete sie das Institut für regionalpolitische Zusammenarbeit in innergemeinschaftlichen Grenzräumen a.s.b.l. (IRI), womit sie einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung der Großregion Saar-LorLux geleistet hat. Mit der Gründung des Instituts für Rhetorik und Methodik in der politischen Bildung (IRM) im gleichen Jahr wurde der Anspruch verbunden, durch Förderung demokratischer Kommunikation die Entwicklung einer teilnehmerorientierten dialogischen Methodik politischer Bildungsarbeit zu verbinden, die Fundament einer demokratisch europäischen Bildung sein könnte.

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Geleitwort

Grundlage für die Zielsetzung und Arbeitsweise des Instituts bildete die theoretische sowie die didaktisch/methodische Konzeption von Prof. Dr. H. Geißner, der zunächst an der Universität des Saarlandes und dann an der Universität Koblenz-Landau lehrte, und der als Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Sprechwissenschaft und Sprecherziehung (DGSS) richtungsweisend Konzepte für eine demokratische rhetorische Bildung vertrat. Ohne sein Wissen, seine pädagogischen Fähigkeiten und vor allem auch sein persönliches Engagement wäre die kontinuierliche und erfolgreiche Arbeit des Instituts über 25 Jahre nicht möglich geworden. Dafür dankt ihm die Europäische Akademie Otzenhausen auch bei dieser Gelegenheit besonders herzlich. Aus dem Kreis seiner Studentinnen und Studenten konnten viele pädagogische Erfahrungen in den Kursen des IRM sammeln, die sie im Laufe der Institutsarbeit befähigten, als Mitarbeiter und Trainer tätig zu werden. Auch ihnen sei an dieser Stelle für ihr hohes fachliches Können und Engagement gedankt. Der ständig fortschreitende europäische Einigungsprozeß ist begleitet von demokratischen Defiziten, deren Beseitigung europäisch mündiger Bürger bedarf. Die rhetorische Kommunikation kann hierzu Wesentliches beitragen. Die nationalen Denk- und Verhaltensweisen bedürfen der Ergänzung und Erfahrung im europäischen Dialog. Dieser Erkenntnis sollte die Arbeit des IRM weiter verpflichtet bleiben und es als eine Herausforderung für die Zukunft ansehen. Die Europäische Akademie Otzenhausen wird das IRM in diesem Bestreben auch weiterhin tatkräftig unterstützen.

Vorwort der Herausgeber/innen Seit 25 Jahren besteht das Institut für Rhetorik und Methodik in der politischen Bildung (IRM) der Europäischen Akademie Otzenhausen (EAO). Seit 25 Jahren wird an diesem Institut über Möglichkeiten rhetorischer Bildung nachgedacht, werden Seminarmodelle und -konzepte im Bereich rhetorischer Kommunikation erarbeitet und diese in einer Vielzahl von Kursen und Tagungen pädagogisch umgesetzt. Grundlegend für das Konzept des Instituts war dabei immer der enge Zusammenhang von Demokratie und rhetorischer Kommunikation, den Prof. Dr. H. Geißner, der wissenschaftliche Leiter des IRM, in diesem Band (S. 22) darstellt: "In großen Staatsgebilden gibt es die verschiedenartigsten Menschengruppen, regional und sozial, "mythisch" und ethnisch. Für sie ist in ihrem Leben ganz Verschiedenes wichtig, erstrebenswert, sinnvoll (...). Alle Miteinanderlebenden müßten in einem Grundsatz übereinstimmen: Gewalt und physische Vernichtung sind keine Mittel der Politik, weder der staatlichen noch der häuslichen! Alle Meinungsverschiedenheiten sind miteinander zu besprechen. Die Regularien hierfür sind - soweit nicht vorhanden zu vereinbaren. In diesen Beratungen, den Klärungs- und Streitgesprächen wird keine monokultureile "Harmonisierung" angestrebt. Konflikte sind generell, also auch in einer multikulturellen Lebenswelt nicht nur unvermeidlich, sondern wesentlich."

In diesen 25 Jahren seit der Gründung des Instituts ist der europäische Einigungsprozeß immer weiter vorangekommen. Europa ist Realität geworden. Dieser veränderte politische Hintergrund hat Auswirkungen auf die politische Bildungsarbeit Während sich "Bildung über Europa" mit Europa in seiner historischen, politischen, geographischen und kulturellen Dimension zum Zwecke der Erweiterung des Informationstandes beschäftigt, konzentriert sich "Bildung für Europa" auf den Prozeß des sich einigenden Europa mit dem Ziel, die Menschen in die Lage zu versetzen, sich aktiv am Integrationsprozeß zu beteiligen. I Dazu müssen politische Sachverhalte nicht nur verstanden werden, viebnehr müssen Einfluß- und Entscheidungsmöglichkeiten wahrgenommen I B. Janssen (1991): Europäische Bildung. In: Politische Bildung für Europa. Bundeszentrale für politische Bildung (Hg.). Bonn 51-63

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Vorwort der Herausgeber/innen

und politische Verantwortung übernommen werden. Genau hier setzt die Bildungsarbeit des IRM im Rahmen der Europäischen Akademie an: rhetorische Bildung als Bildung für Europa - "Rhetorik für Europa". Politische Einflußnahme ist angesichts des fortschreitenden europäischen Integrationsprozesses nicht mehr nur in nationalen, sondern in europäischen Dimensionen zu sehen. Dafür gibt es viele Beispiele. Das aktuellste ist sicherlich die Diskussion um den Vertrag von Maastricht über die Europäische Union. Es hat gezeigt, wie notwendig es ist, in europäischen Dimensionen zu denken, zu diskutieren und zu handeln. Gleichzeitig wurde deutlich, wie schnell politisch Erreichtes in Gefahr geraten kann, wenn Politik nur von "oben" gemacht wird, wenn Bürger/innen das Gefühl haben, nicht am Gestaltungsprozeß beteiligt gewesen zu sein, keinen Einfluß gehabt zu haben, nicht gefragt oder im besten Fall "überredet" worden zu sein. Zu fordern ist daher, über Europa noch mehr als bisher unter dem Gesichtspunkt rhetorischer Kommunikation nachzudenken. "Europa" - das sind Menschen, Länder, Kulturen, Traditionen, Institutionen, Parlamente, Verbände usw., die miteinander ins Gespräch kommen und einander verstehen lernen müssen. Und: die lernen müssen mit ihrem Anderssein und Interessengegensätzen konstruktiv umzugehen. Rhetorische Bildung als politische Bildung für Europa leistet hierzu einen wichtigen Beitrag. Die Arbeit des IRM in diese Richtung weiterzuentwickeln, wird die Aufgabe für die Zukunft sein. Einen Schritt auf diesem Weg stellt das anläßtich des 25-jährigen Bestehens des Instituts veranstaltete Kolloquium zum Thema "Europäische Versammlungskultur" dar. Die vorliegende Festschrift besteht aus zwei Teilen. Im thematischen ersten Teil setzen sich eine Reihe von Autor/innen, die mit dem Institut in unterschiedlichen Funktionen eng verbunden sind, unter verschiedenen Gesichtspunkten mit dem Thema "rhetorische Kommunikation" auseinander, im zweiten Teil wird die Entwicklung des IRM von den Anfängen bis heute auf teilweise unterhaltsame Weise aufgezeigt. Hier finden sich rückblickende Beschreibungen, Dokumentatorisches, Ausschnitte aus Medienberichten über das IRM u. a. Der Band endet mit einer Auswahlbibliographie von Dozenten/Dozentinnen des IRM zum Thema "rhetorische Kommunikation".

Vorwort der Herausgeber/innen

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All denen, die bei der Entstehung des Bandes mitgewirkt haben, möchten wir an dieser Stelle herzlich danken. Unser besonderer Dank geht an Brigitte Schönecker und Remy Els, die mitgeholfen haben, die vielen Teile dieses Buches in eine druckreife Vorlage zu verwandeln. September 1993

R. Dahmen

A. Herbig

E. Wessela

A. Thematischer Teil

Demokratie und Rhetorische Kommunikation Hellmut Geißner [.

Die Evolutionsgeschichte zeigt, "...daß der Mensch weder in der Herde noch als vereinzeltes Individuum überleben kann" (Leroi-Gourhan 1964:201). Er braucht eine Gruppe, um Beute zu erjagen, doch darf die Gruppe nicht größer sein als von der Beute satt werden können. Für diese 'Arbeitsorganisation' besaßen die Hominiden keine angeborenen Regulative, also mußten sie lernen, sich zu 'verständigen'. Aus dieser Not-Wendigkeit- meinen Anthropobiologenhat sich das "Artmerkmal Sprache" entwickelt (Müller 1987). Mit der Austauschbarkeit des gesammelten Wissens haben sich allmählich Bedingungen der Möglichkeit entwickelt, die biologische 'Minderausstattung' nicht nur technisch-apparativ durch Werkzeuge und Maschinen zu überwinden, sondern symbolisch (vgl. Geißner 1955). Miteinandersprechend haben Menschen ihr Zusammenleben organisiert, indem sie sich über "Wege und Ziele" gemeinsamen Handeins verständigten, und nur weil sie sich verständigen konnten, konnten sie zusammen leben. Dieses Wechselverhältnis faßte schon Aristoteles in die Begriffe vom 'zoon logon echon' als 'zoon politikon'. Er sagte, das Ziel der Klärung und Lösung politischer Streitfragen (Konflikt) liege im gerechten politischen Handeln. Das Miteinandersprechen der vergesellschafteten Menschen (Kommunikation) ist also orientiert am Miteinanderhandeln (Kooperation). Diese Finalisierung präzisiert Kommunikation als rhetorische, die in den Vollzugsformen Gespräch und Rede abhängig ist von den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen. Rhetorische Kommunikation muß sich also in ihren Vollzugsformen mit den gesellschaftlichen Verhältnissen wandeln. Gerade in dieser Unabgeschlossenheit oder Offenheit von anthropologischer Bedingtheit und politischer Verfaßtheil kann sich dialogische Ethik entwickeln.

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Hellmut Geißner

Es hilft folglich nicht, irgendeine der geschichtlichen Erscheinungsfonnen des Rhetorischen absolut zu setzen. Angesichts des Scheiteros der attischen Polisdemokratie und der römischen Republik kann die Idealisierung eines gleichsam 'naturwüchsigen' Zusammenhangs von Rhetorik und Demokratie nur als 'gemeinplätzig', als topisch eingeschätzt werden. Freilich ist die in solcher Wertung zum Vorschein kommende Utopie noch immer eher zu verantworten als die Dystopien imperativer Rhetoriken. Herrschende Hierarchien entfachen den Streit über "Anpassung oder Aufklärung" (Geißner 1971/1986:187 ff). Letztlich führt kein Weg vorbei an Gadamers Feststellung: "Politik verlangt von der Vernunft, daß sie Interessen zu Willensbildungen führt, und alle sozialen und politischen Willensbekundungen sind vom Aufbau gemeinsamer Überzeugungen durch Rhetorik abhängig" (1971:316).- Auch in einer Fernsehdemokratie? II.

"Die Demokratie ist stärker als die Tyrannis!" Periander von Korinth, einer der sieben Weisen, soll dies vor 2500 Jahren gesagt haben. Im Hochgefühl der deutschen Einheit werden nur wenige Menschen diesem Satz widersprechen. Freilich bleibt die Zustimmung wohlfeil, wenn nicht geklärt wird, was bejaht wird. Welche Tyrannis ist gemeint, welche Demokratie?

In der alten und in der neuen Welt sind viele Tyrannen bekannt, alte und neue. Die sogenannte 'Dritte Welt' macht da keine Ausnahmen. Mal sind es einzelne Personen, mal Gruppen von Menschen, mal Institutionen, mal Organisationen, mal Religionen, die tyrannisieren. Zu Zeiten von Inquisition und Hexenverfolgung war beispielsweise das Christentum nicht weniger tyrannisch als die chinesischen Kommunisten bei den Massakern auf dem "Platz des himmlischen Friedens". Stalinistische Tyrannei ist bekannt, aber was ist sie im Vergleich mit der nationalsozialistischen Tyrannis, mit dem Holocaust. Gibt es gemeinsame Merkmale des Tyrannischen? Gemeinsam mag den verschiedenen Fonnen des Tyrannisierens das Moment der Willkür sein. Noch stärker freilich sind sie geprägt von Kommunikationslosigkeit. Weder die Kommandos der Befehlenden noch die Schreie der Gefolterten, weder die Stummheit der Verängstigten noch die Echolalien der Unterwürfigen sind Ausdrucksfonnen des Miteinandersprechens. Wenn Tyrannei kommunikationslos ist, hieße das Gegenteil: Wenn und wo immer Menschen frei miteinander sprechen können, herrscht keine Tyrannei.

Demokratie und rhetorische Kommunikation

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In der Gegenwelt der Tyrannis könnten also alle Menschen als freie Menschen frei miteinandersprechen. Sie könnten nicht nur miteinander sprechen, sondern mitreden. Mitreden über ihre eigenen und die gemeinsamen Angelegenheiten. Sie könnten mitbestimmen, was geschehen, mit welchen Mitteln welche Ziele erreicht werden sollen. Diese Gegenwelt wird benannt mit dem ebenfalls aus dem Griechischen stammenden Wort "Demokratie". Dazu läßt sich wiederholen: In der alten und neuen Welt sind viele Demokratien bekannt, alte und neue. Reicht die einfache Übersetzung des Wortes Demokratie mit "Volksherrschaft" aus, um den Begriff zu fassen? Selbst wenn dabei nur an eines von den Griechenvölkern, das attische, gedacht wird, die Antwort wird dadurch nicht einfacher. Zu welcher Zeit und wie lange herrschte denn in Athen wirklich das Volk? Und wer war "das Volk"? Uns Zeitgenossen bleiben die Sprechchöre von den Leipziger Montagsdemonstrationen unvergeßlich, die 1989 den Zusammenbruch der DDR eingeläutet haben. Zuerst riefen die Menschen "Wir sind das Volk" und stellten sich damit gegen die sie beherrschenden 'Volksdemokraten'. Dann riefen sie "Wir sind ein Volk", ein nach Westen gerichteter grenzüberschreitender Ruf. Schließlich skandierten sie, spürend, daß ihre Bewegung schon das "ganze Volk" ergriffen hatte, eine Zeile aus ihrer Hymne "Deutschland, einig Vaterland". Nach der Wende - als der Rausch verflogen war, als sich die übergroßen Hoffnungen zerschlugen, als das Machbare erkennbar, das Unmachbare spürbar wurde,- wurde nicht nur der "Gefühlsstau" (Maatz) fühlbar, sondern es stand hie und da auf Schildern "Wir sind ein dummes Volk". Wer ist das Volk heute? Wen repräsentieren die "Vertreter des ganzen Volkes", die "an Auftrag und Weisung nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" sind (Art. 38,1 GG)? Zwar geht "alle Staatsgewalt vom Volke aus" (Art. 20,1 GG), aber immer mehr Bürgerinnen und Bürger fragen sich mit Bertolt Brecht: "Wo geht sie hin"? Wer 'repräsentiert' die Hunderttausende, die kein Bürgerrecht, kein Wahlrecht haben? All diejenigen also, ohne die 'das Volk' nicht so gut leben könnte wie es lebt. Wer ist es heute? In großen Staatsgebilden gibt es die verschiedenartigsten Menschengruppen, regional und sozial, "mythisch" und ethnisch. Für sie ist in ihrem Leben ganz Verschiedenes wichtig, erstrebenswert, sinnvoll. So haben oder entwickeln sie unterschiedliche Lebensformen und Lebensgewohnheiten. Auch ohne die hier lebenden Ausländer - und wann hätten hier keine gelebt? gibt es in Deutschland keine Monokultur. Mit den Ausländern wird die multikulturelle Vielfalt allerdings noch reicher.

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Hellmut Geißner

Ob Hochkultur, ob Subkultur, keine kann der anderen das Lebensrecht absprechen. Wer das versuchte, würde Mitmenschen entmündigen. Aus dieser Anmaßung führt ein kleiner Schritt zum Verbrennen der Bücher der Andersdenkenden, Andersgläubigen, - der nächste zu ihrer Ächtung, der nächste zu ihrer Folterung, zu ihrer Ermordung. Aus jüngster Vergangenheit sollten Deutsche diesen Zwangsvollzug kennen und fürchten. Wie anders aber ist die kulturelle Vielfalt innerhalb einer Kultur und zwischen den Kulturen lebbar zu machen? Alle Miteinanderlebenden müßten in einem Grundsatz übereinstimmen: Gewalt und physische Vernichtung sind keine Mittel der Politik, weder der staatlichen noch der häuslichen! Alle Meinungsverschiedenheiten sind miteinander zu besprechen. Die Regularien hierfür sind - soweit nicht vorhanden - zu vereinbaren. In diesen Beratungen, den Klärungs- und Streitgesprächen, wird keine monokultureile "Harrnonisierung" angestrebt. Konflikte sind generell, also auch in einer multikulturellen Lebenswelt nicht nur unvermeidlich, sondern wesentlich. Eine derartige Einschätzung geht davon aus, daß der genannte Basiskonsens zustandekommen kann. Sie geht damit davon aus, daß Bürgerinnen und Bürger konfliktfähig sind. Sie geht weiter davon aus, daß Bürgerinnen und Bürger ihre Meinungen und Vorstellungen äußern können. Wer seine Kritik nicht öffentlich äußern kann, kann in Konfliktsituationen weder "zur Rede gestellt" werden, noch "Rede stehen". Kommunikationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit bedingen sich als Grund von Verantwortung (vgl. Griesharnmer 1993). Fraglich bleibt jedoch, ob alle Bürgerinnen und Bürger unter den gegebenen politischen Bedingungen intra- und interkulturell diese "kritische Mündigkeit" erlangen können. Die parlamentarische Verfaßtheil gibt dafür so wenig eine Garantie wie inhaltsleeres Demokratiespielen beim Abstimmen oder Wählen. Werden in gesellschaftlichen Institutionen die Möglichkeiten rhetorischer Kommunikation nicht entwickelt, gar unterbunden oder unterlaufen, dann entwickelt sich im demokratischen Mäntelchen allenfalls eine Scheindemokratie. Dann verwischt sich die Grenzlinie zwischen Tyrannei und Demokratie. Oder, wie Stanley Deetz vor kurzem sagte: Dann entsteht "in der Demokratie eine unsichtbare aber effektive Tyrannis" (1990:95). 111. Der Zusammenhang von Demokratie und Rhetorik ist gewiß ein Problem für theoretische Reflexionen. Er ist für mich zugleich ein wesentliches Stück

Demokratie IDid rhetorische Kommunikation

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meiner lebensgeschichtlichen Praxis. Aus dieser Kommunikationsbiografie läßt sich manches verstehen, was sonst vielleicht "nur ausgedacht" (rein theoretisch) erscheinen mag. Das unauflösliche Bedingungsverhältnis von Theorie und Praxis bestimmt auch das Konzept rhetorischer Kommunikation. Ich will versuchen, dies zu erklären: Als kleiner Junge lief ich hinter den Pfadfmdern her, sie hatten grüne Hemden an, merkwürdige Halstücher in einem Lederknoten und große Hüte mit Kinnriemen; ich staunte an ihren Zelten, beneidete sie um ihre Klettertürme und lauschte ihren Liedern. Doch ich war zu jung, um mitmachen zu dürfen. Als ich endlich 10 Jahre alt wurde (1936) und mitmachen durfte, hatten sie keine grünen Hemden mehr an, sondern braune, die Halstücher waren schwarz, nur der geflochtene Lederknoten war geblieben, die meisten Lieder auch. Meine Pflichtmitgliedschaft in der "Deutschen Staatsjugend" begann, mein Leben als 'Pimpf und später als Pimpfenführer. Wie stark die Nazi-Rhetorik uns - in einer abgeschlossenen Gesellschaft - Heranwachsende prägte, läßt sich im einzelnen kaum ermessen. Es war ja nicht nur die Rhetorik der Reder., sondern eine der Massenversammlungen und Aufmärsche, der Filme und Feste, der Rituale und Symbole, der Fahnen und Fackeln, der Trommeln und Fanfaren, des Kabelrundfunks und der Einheitspresse, später der Schlachten und Siege mit 'Pauken und Trompeten'. So wurde auch ich mit 18 Jahren an die Front "rhetorisiert". Nach der Verwundung kam ich kun zu einem "Bombenurlaub" in die fast gänzlich vernichtete Stadt meiner Kindheit, danach Beginn einer Offiziersausbildung in Jena (an Pfingsten betrachtete ich von außen die noch von Sowjetsoldaten belegte Kaserne), wachsende Zweifel am "Sinn dieses Krieges", noch einmal "an die Front", dann in amerikanischer Gefangenschaft der endgültige Zusammenbruch der Verblendung, die "Überzeugung" entlarvte sich als einsozialisierte, kollektiv konditionierte Überredung. Soziologen nannten die Kriegsgeneration die "skeptische". In dem langsam sich entwickelnden demokratischen Leben blieb eine Distanz zu den politischen Parteien, im Grunde zu allen Organisationsformen des gesellschaftlichen Lebens. Zugleich aber entwickelte sich im Studium (seit 1946) in der Auseinandersetzung mit der antiken Rhetorik, der Philosophie, besonders mit der philosophischen Anthropologie und der Sprachphilosophie, den dialogischen Neuansätzen im 19. Jahrhundert und der Dialektik der Plan, ein rhetorisches Konzept zu schaffen, das eine Wiederholung rederhetorischen Blendwerks ausschließen soll. So entstand allmählich auf dem Fundament des Dialogischen der Entwurf einer Gesprächsrhetorik in einem Gesamtkonzept rhetorischer Kommunikation.

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Hellmut Geißner

Dieses Konzept ist kritisch. Ihm liegt kein hannonistisches Bild von Menschen und Gesellschaft zugrunde, eher ein Konfliktmodell. Kommunikationsfähigkeit und Konfliktfähigkeit bedingen sich wechselseitig ebenso wie Kooperationsfähigkeit und Kritikfähigkeit In diesem dialektischen Bedingungsverhältnis stehen - für mich - auch Politikfähigkeit und Freiheitsfähigkeit. Die kritisch aufgearbeiteten Erfahrungen meiner politisierten Jugend verbieten den Traum einer heilen Welt, einer hannonischen Gesellschaft, einer gerechten Wirtschaft. Diese gedankliche Entwicklung verdankt Entscheidendes meinen Frankfurter Universitätslehrern. Von Heinrich Weinstock, meinem Doktorvater, lernte ich, was "Die Tragödie des Humanismus" ist, und daß "Arbeit und Bildung" vermittelt werden müssen. Von Hans-Georg Gadamer erhielt ich die ersten Anregungen, mich in das Verhältnis von Dialogik und Dialektik hineinzudenken und in den Zusammenhang von Rhetorik und Hermeneutik. Bei Max Horkheimer und Theodor Adorno schließlich erfuhr ich schmerzhaft die "Dialektik der Aufklärung", entdeckte die Verschränkung von Aesthetik und negativer Dialektik, vor allem aber gründete sich mein Ansatz, daß - in Adornos Worten - "Kritik aller Demokratie wesentlich" ist, daß Demokratie durch Kritik "geradezu definiert wird". So entwickelte sich in der Folgezeit meine Auffassung von Sprechwissenschaft, fundiert im Gespräch als dem Prototyp mündlicher Kommunikation, mit Gesprächsfähigkeit als globalem Lernziel der - als angewandte Sprechwissenschaft sich verstehenden - Sprecherziehung und der unnachgiebigen Forderung nach kritischer Mündigkeit, einlösbar in dialogischer Ethik. Unerwähnt blieb in dieser Skizze bis jetzt, daß Walter Wittsack mir die fachlichen Wege- im engeren Sinne- zeigte, daß er mich großzügig gewähren ließ, zumal in der Zeit zwischen SprecherzieheTprüfung (1949) und Promotion (1955), als ich im Institut und in der außeruniversitären Erwachsenenbildung die ersten Lehrerfahrungen sammelte. Unterstützt hat er mich auch dadurch, daß er früh bereit war, Anregungen des Jüngeren in seine Arbeit aufzunehmen (1957). Rhetorische Kommunikation steht im Widerspruch zu sämtlichen Praktiken technokratischer Rhetorik. Sie verwirft in ihrem Anspruch, Unmündige zur Mündigkeit zu befreien, einerseits jeden Versuch eines vielerorts kapitalisierbaren rhetorischen Sozialdarwinismus. Von ihrer kritischen Grundlage her vermeidet sie andererseits einen Rückfall in harmonistische Sozialromantik. Das führt dazu, daß die Sozialdarwinisten unter den Rhetorikern sie für sozialromantisch halten, und die Sozialromantiker sie für sozialdarwinistisch. Es ist eben nicht leicht zu verstehen, daß sich Theorie und Praxis rhetorischer

Demokratie wtd rhetorische Kommunikation

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Kommunikation zwischen beiden Extremen an die realisierbaren Möglichkeiten hält, an die Möglichkeiten der Verwirklichung gesellschaftlicher Ziele in konkreten Sozialsituationen. Es geht ihr also nicht vordergründig um Veränderung von Gesprächs- und Redefähigkeiten als Ziel, sondern um deren Veränderung als 'Bedingung der Möglichkeit' der Veränderung gesellschaftlicher Praxis. Aus dieser Haltung definiert sie sich als sozialpragmatisch. Aus dieser Haltung habe ich 1968 den "Turm" verlassen und drei zusätzliche Tätigkeiten begonnen. (Rückschauend ist es merkwürdig, daß dies in dem Jahr geschah, als die später so genannten "68er" anfmgen mit ihren Reformen und Reformversuchen, die gelegentlich als studentische "Revolutionen" überschätzt werden.) Es handelt sich um folgende Tätigkeiten:

I.

Für die politische Praxis wurde das "Institut für Rhetorik und Methodik in der politischen Bildung" (IRM) an der Europäischen Akademie in Otzenhausen gegründet. Es war und ist das einzige Rhetorik-Institut in Deutschland, in dem es keine Kaderschulung für irgendeine "Ideologie" gibt, weder für Parteien, Konfessionen oder Konzerne, sondern basisdemokratische Arbeit (vgl. Anhang). Mit den Formen von Gespräch und Rede wurden vor allem soziale und 'deutsch-deutsche' Fragen argumentativ erarbeitet. Nach der - zumindest 'formellen' -Lösung der deutschen Frage verlagert sich der Akzent auf die Aufgabe "Demokratische Rhetorik in Europa".

2.

Für die innerfachliche Auseinandersetzung begründete ich die Schriftenreihe "Sprache und Sprechen", von der 1991 der 25. Band erschienen ist. (Für die ersten sieben Bände war W.L. Höffe Mitherausgeber.) Häufig wurden in der Reihe Probleme der Theorie und Praxis rhetorischer Kommunikation behandelt; so 1990 noch einmal ausdrücklich in dem Band "Rhetorik und Erwachsenenbildung", der den Obertitel trägt "Ermunterung zur Freiheit".

3.

Zur Überwindung ethnozentristischer Vorurteiligkeit wurde eingerichtet - zusammen mit der Speech Communication Association der USA - das "Internationale Kolloquium für mündliche Kommunikation". Amerikanische und europäische Fachleute treffen sich alle zwei Jahre mal diesseits, mal jenseits des 'Großen Teichs', tauschen Forschungsergebnisse aus und diskutieren ihre fachlichen Probleme im politischen Kontext. Zuletzt geschah dies 1992 in Washington, D.C., mit dem Thema: Ethnische Barrieren in Gespräch und Rede (Ethnorhetorik) und beim Verstehen (Ethnohermeneutik).

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Hellmut Geißner

IV. Warum ich das alles hier aufschreibe? Es geht mir darum zu schildern, wie sich aus der Kritik an autoritärer Kollektiv-Erziehung mein Demokratieverständnis entwickelt hat, aus welchen politischen Kindheitserfahrungen das Gegenkonzept einer Theorie der rhetorischen Kommunikation entstanden ist, welche Ziele mit ihm verfolgt werden und - vor allem - wie viele Jahre es gebraucht hat, es zu denken, es zu erproben, es schließlich zu formulieren und Schritt um Schritt zu verwirklichen, dabei die Erfahrungen des Scheiteros ebenso zu ertragen wie die des Erfolgs. - Diese Zeit fehlt jetzt zur situationsangemessenen Reifung entsprechender Arbeit in der ehemaligen DDR. Die Art und Weise, wie technokratische Politiker und Trainer die "innere Kolonisation" der DDR-Bevölkerung betreiben, schließt eine allmähliche innere Entwicklung aus. Das gilt nicht nur für die Werberkolonnen, die Abonnements für Zeitschriften oder Versicherungen fischen, das gilt auch für die "Haie" in den Gebieten Management, Menschenführung, Kommunikation und Rhetorik. Es wäre deshalb bei der desolaten eigenen Finanzlage nicht verwunderlich, wenn auch speechwissenschaftlich ausgebildete Rhetoriker/innen mit den Haien zuschnappten oder - um eine fachlich angemessenere Metapher zu verwenden - "mit den Wölfen heulten". Das könnte dann leicht zu einem kunterbunten Gemisch aus dem Warenangebot der 'Trainingsliteratur' führen nach dem Motto: "Wer Vieles bringt, wird jedem etwas bringen". Man nehme einige "Spielchen" aus der gruppendynamischen Kiste, etwas Verständlichkeitsmessung, dann Präsentationstechniken, falls nicht vermeidbar auch Argumentationsübungen, einige Übungen zur 'Körpersprache' und zur Selbstbehauptung, zudem vielleicht noch eine Prise TZI oder TA, rühre etwas NLP darunter (so etwa bei Allhoff 1992) und garniere das Ganze mit einigen hehren Zitaten über den Zusammenhang von Marktwirtschaft und Demokratie. Freilich wäre das auf diese Weise Zusammengerührte nicht nur unseriös, weil alle Methoden 'Zeit der Reifung' brauchen. Beispielsweise dauert eine seriöse NIP-Ausbildung so lange wie ein Studium der Sprecherziehung. Vergleichbares gilt für Gruppendynamik, TZI und Transaktions-Analyse. Das Zusammengerührte bliebe genau betrachtet Ausdruck einer fast schon wieder rührend zu nennenden Hilflosigkeit. Das Mixturn wäre zwar in mancher Hinsicht marktkonform, gewiß sogar marktträchtig; es wäre aber zugleich die Fortsetzung der alten Anpassungsrhetorik mit anderen Mitteln. Die autoritäre Rederhetorik politischer Kader und willfiihriger Kaderschulung würde so lediglich methodisch aufgemotzt - fortgesetzt im Dienste oekonomischer Kader und ihrer Schulung. Die als Methodenpluralismus sich mißverstehende

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Konzeptionslosigkeit, d.h. politische Ziellosigkeit wirkte so daran mit, daß Marktwirtschaft das nicht werden kann, was sie sein soll, nämlich "frei und sozial". Soll sie das werden, dann müßte in den gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen der Freiraum geschaffen und frei gehalten werden für soziale Verantwortung. Daran könnte die Entwicklung rhetorischer Kommunikationsfähigkeit mitwirken. Wenn dagegen die 'Marktordnung' dies unterbindet, wenn Kommunikation systematisch verzerrt wird, dann bleibt nur mehr der Versuch, das herrschende System zu unterlaufen. Deshalb nannte ich schon vor Jahren sozialpragmatische Rhetorik in ihrem Vollzug "subversiv". Diese für besondere Zustände angemessene Bezeichnung erschreckt noch immer. Im Grunde lieferte das Einfädeln der Wende in der Zeit vor dem November 1989 ein historisches Beispiel, das sich allgemeiner Anerkennung erfreut. Wenn mit 'subversiv' eine Haltung bezeichnet wird, die zu Handlungen führte, die mit dem Sturz der politischen 'Tyrannis' endeten, warum soll es kein taugliches Mittel sein, eine kritische Haltung zu entwickeln gegen die "heimliche Tyrannis" in der Demokratie? Vorausgesetzt, daß Demokratie kein Zustand ist - einmal erreicht, ewig vorhanden -, sondern ein geschichtlicher Prozeß, muß sie sich unaufhörlich erzeugen und verändern. Wenn sie erstarrt ist, so ist sie nicht mehr. Freilich erstarrt sie eher selten als Ganzes, z.B. als 'volksdemokratischer' Staat, dagegen unentwegt in 'staatstragenden' und 'den Staat fmanzierenden' Institutionen und Organisationen. Dem grundgesetzwidrigen Bevormundungsanspruch dieser sektoralen Demokraturen gilt es in kritischer Mündigkeit zu widerstehen. Daraus ergibt sich die Aufgabe, Mitbürger und Mitbürgerinnen konflikt- und kritikfähig zu machen, ihnen die Chance zu eröffnen, im geschilderten Sinne gesprächsfähig zu werden.

V. Wenn sich unsere Demokratie eine 'parlamentarische' nennt, dann ist sie der verfaßten Idee nach keine Rede-Demokratie, sondern "government by discussion", eine Gesprächs-Demokratie. Da sie dies jedoch im Vollzug nahezu nie ist, gilt es zunächst, die eingeschliffenen Exekutionsformen der Parlamentarik nicht kritiklos hinzunehmen. Zwar ist in einer repräsentativen Demokratie die Einwirkungsmöglichkeit des Staatsvolkes auf seine Repräsentanten gering, deshalb kann sich Demokratie auch nicht in der Stimmabgabe am Wahltag erschöpfen, gegeben ist Einwirkung dagegen in den Organisationen, die laut Verfassung (Art. 21 GG) "bei der politischen Willensbildung des Volkes" mitwirken, den Parteien. Wie der Name sagt, handelt es sich um - partes - um organisierte Teilmeinungen, die nicht nur danach streben, Macht zu erlangen und Macht zu erhalten, sondern die tendenziell darauf aus sind, absolute Macht

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zu werden. Was geschieht, wenn eine Einheitspartei die Macht "ergreift", haben NSDAP und SED - wenn auch auf letztlich unvergleichbare Weise demonstriert. Gemeinsam bleibt beiden Ausprägungen von Gewaltherrschaft allerdings, daß sie ihre Macht rederhetorisch agitierten, daß sie - gegensinnig formuliert - gesprächsrhetorische Handlungen in der Öffentlichkeit unterdrückten. Durch Rede läßt sich propagandistisch als 'fraglos' geltendes "Gedankengut" wirkungsvoller und schneller 'einlehren' (indoktrinieren) und so in kurzer Zeit den größten Teil des Staatsvolks in die gewünschte ('Denk'-) Form bringen (in-formieren); es ist nur ein winziger Schritt zur Uni-Form (vgl. Beck 1991). Verhängnisvoll ist, wenn es in einer der Verfassung nach "offenen Gesellschaft" Systeme gibt, die abgeschlossen sind, die von Bürgerinnen und Bürgern nicht oder nicht unmittelbar befragt, ins Gespräch oder zur Verantwortung gezogen werden können. Es handelt sich dabei um all die Institutionen, die - wo nicht noch immer blinden Gehorsam, so doch - Konformität (Linientreue), Wohlverhalten (Gefolgschaft) und Normerfüllung (Disziplin) einfordern, und die ein konditioniertes Anpassungsverhalten sozial und/oder fmanziell honorieren. Dabei geht es auch um die Dienstleistungseliten - Lehrer, Pfarrer, Schreiber, Ärzte, Richter-, die die heimlichen Herrschaftsformen aus- und damit einüben, mehr noch um die undurchschaubare "strukturelle Gewalt" in den verschiedenen Formen des Produzierens und Wirtschaftens. Längst sind davon nicht mehr nur die abhängig Arbeitenden unmittelbar betroffen, sondern alle, dringt doch die Propaganda der Unternehmen in die Wohnungen ein und bestimmt den Alltag, nicht nur in unserer Rolle als Konsumenten. "The corporation defmes what is good and delivers the goods" (Deetz 1990:101). Diese Zugriffsmöglichkeit wird durch die Medien eröffnet, vor allem durch das Fernsehen, in dem Bürgerinnen und Bürger - von etrugen 'Partizipations'sendungen abgesehen - kein Gesprächsrecht haben. Wenn Demokratie ohne Gespräch nicht vollzogen werden kann, dann ist jede Institution, die Gespräche ausschließt, undemokratisch (Geißner 1991). Insofern läßt sich sagen: Die "Mediokratie" höhlt die Demokratie aus. Hier also ist rhetorische Kritik gefordert. Fatalerweise beglänzen sich Medien mit der Aura von Kommunikation und Information. Dabei bleiben beide Begriffe ungeklärt. Die elektronischen Medien sind allenfalls im technischen Verständnis Kommunikations-Medien, Informations-Medien sind sie nur, wenn Hörende/Sehende aus den Sendungen etwas nelunen können, was sie in ihrer Lebenswelt brauchen. Nur Menschen besitzen die Fähigkeit "aus Daten durch Interpretation Informationen zu gewinnen" (Krallmann/Soeffner 1973:70); "Informationen an und für sich" gibt es überhaupt nicht (Geissner 1988:46). Sogar "eine sprachliche Äußerung selbst vermittelt also dem Hörer nicht Information, die er

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vorher nicht gehabt hat, sondern der Hörer schafft, geleitet von der sprachlichen Äußerung, Information" (Hörmann 1976:506). Ob etwas "informativ" ist oder werden kann, hängt davon ab, ob es für ihn oder sie Sinn 'macht', ob es auf bereits vorhandene Erwartungen trifft, ob er/sie "bereits Vorinformationen über den betreffenden Gegenstand besitzt" (Arnold 1981:73). Da dies im allgemeinen bei dem schnellen Wechsel der Ereignisse, dem kommerziellen Neuigkeitsgebot z.B. der Nachrichten kaum möglich ist, "ändert sich die Tagesordnung" in den Köpfen nach Belieben, kann aber nicht 'abgearbeitet' werden. Was auf diese Weise günstigstenfalls zustandekommt, ist "Information für Informierte" (Wodak 1987). Medial wird temporär ein "Scheinkonsens hergestellt" (Herman & Chomsky 1988), was durch die 'Fernsehinszenierung' der Revolution in Rumänien (v.Amelunxen & Ujica 1990) und die Berichterstattung vom Golfkrieg jüngst erschreckend gezeigt wurde. Wenn Konsens darüber besteht, daß Gewalt und physische Vernichtung keine Mittel der Politik sein sollen, dann sind auch alle Formen verschleierter Gewalt und psychischer Vernichtung kritisch aufzuklären. Deshalb läßt sich "rhetorische Kommunikation nicht reduzieren auf intrakommunikatives Verhalten und Konfliktverhalten, sie greift als final handlungsauslösende notwendigerweise aus in Sachkonflikte, insofern impliziert sie Konfliktfahigkeit, eben die Ambiguität von 'Konsens' und 'Dissens', diesseits physischer Vernichtung" (Geißner 1973/1986:205). Deshalb auch korrumpiert sich SprecherzieheTisches Handeln im Feld rhetorischer Kommunikation, wenn esobwohl es auf dem Boden des demokratischen Grundkonsens steht - etwas anderes anstrebt als kritische Mündigkeit. Freilich sind die Kriterien dieses Kritischseins und die Kriterien dieser Mündigkeit nicht zeitlos rezeptiert. Sie können nur gefunden werden im Miteinandersprechen der vergesellschafteten Subjekte, die klären und streiten müssen, wie sie künftig miteinander leben und handeln wollen, also nur in dialogischer Ethik.

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Anhang

Y'rf""'r'

:f

Verfassungswirklichkeit

par!ammtarjs;T Qemglqatie

·

( = organisierte Teilmeinungen)

Meinung-Meinungsäußerung-Meinungswandel-Meinungsverschiedenheit-Meinun sstreit f.c;mrirJu- UDd BMc;§hjgGit

Konfliktfi!hj gmt

mitsprechen: über eigene Interessen mitberatal: über Ziele und Wege mitentscbeiden: durch Argumente überzeugen mitverantworteD: Konsens (o.begründeter Dissens) mitbande._, _In_:--------.----W_eg=..e_un_d-J~ele rechtfertigen

~

rtpcamjw;hc Kgmmnnjlgtrim (nicht: beruf~ Sozialtechnologie)

Meth !OZialcs I...emen in Gruppen

Selbsterfahrung der Gesprlchs-, Rede- und Konfliktflhigkeit gemeinsam L6suncen suchen, bei gqensitzl. lnteresaen mit Gründen streiten

~ .

, Inhalt und Zjel politischer Bildung '

r•

"--· -·· · -- - - · .. -----. - ------ . . . ,

denx>kratiscbes 1 Verhalten '

rdemokratische 1 Formen

~

IMündig~t I kritisch

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treffen und

legitimieren Spra:beu mit lllderen zu lllderen für aDdae

Kommlllli.kl.tiomunfähigkeit passive (JChweigende/ leidaxle) Mdutteit

1 demokratische 1 Haltung

wenn nicht, dann I

KommunikationsvJrweigerung emotionale Minderheit Brachialisierung

Demokratie lßld rhetorische Kommunikation

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Literatur

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Das Interesse an Rhetorik in Deutschland Martin Beck Das Interesse an Rhetorik war in den letzten drei Jahrzehnten immer wieder Gegenstand des Interesses von Rhetorikern. Kopperschmidt zitiert Jens mit der 1965 gemachten Äußerung: "Eine Tradition der politischen Rede mit Vorbildern, Beispielen und Mustern hat sich, von wenigen Ausnahmen abgesehen, zwischen Konstanz und Kiel nie gebildet" (Jens, 1989: 5). Jens beendete seine Rede "Von deutscher Rede" übrigens mit dem Wunsch, daß "die Rhetorik als alte und neue Königin der Wissenschaften, endlich auch in unserem Lande aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht..." (ebd.: 28). Geißner überschrieb das erste Kapitel seiner "Rede in der Öffentlichkeit" mit "Warum ist >rhetorisch< in Deutschland ein Schimpfwort?" (Geißner, 1969/1: 7). Kopperschmidt selbst versucht in seinem 1989 geschriebenen Aufsatz "einige theoretische Erklärungsversuche zu rekonstruieren, die den Mangel an öffentlicher Rede plausibel zu machen beanspruchen" (Kopperschmidt, 1989: 213). Dagegen wies Dyck 1974 "das alte Klagelied über die ungerechtfertigte Verachtung der Rhetorik in Deutschland" zurück. "Denn Rhetorik ist heute(...) ein Schlager ersten Ranges auf dem sprachlichen und methodisch-didaktischen Bildungsmarlet" (Dyck, 1974: 7). Gibt es also in den letzten 30 Jahren einen gesellschaftlichen Wandel, der nach einem Tief in den sechziger Jahren wie in einer Wellenbewegung nach einer Phase rhetorischer Hochkonjunktur in den siebziger Jahren nunmehr eine Phase der Rezession der Rhetorik nach sich zieht? Zunächst vermag die Klärung von Begrifflichkeilen einige Mißverständnisse auszuschließen. Der Begriff "Rhetorik" kann ganz unterschiedliches zum Inhalt haben (Vgl Geißner 1981/1: 11). Jens gebraucht ihn 1965 gleichbedeutend mit öffentlicher Rede, mit Mustern öffentlicher, politischer Rede, wohl auch als "Redelehre" (Jens, 1989: 15) und "Redestil" (ebd.: 16), und wohl auch als "Disziplin" (ebd.: 19), als "Wissenschaft von der Beredsamkeit" (ebd.: 23). Der Begriff "Rhetorik" bei ihm ist folglich synonym für Theorie, Pädagogik/Didaktik und Praxis. Spricht man in diesem Sinne vom Niedergang, Verfall oder vom wiedererwachten Interesse an Rhetorik, dann könnte alles oder nur 3 Rhetorik für Europa

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eines gemeint sein. Darum ist es sinnvoll den Begriff "Rhetorik" im Zusammenhang mit ihrer gesellschaftlichen Bewertung ausdifferenziert zu gebrauchen, wie bei Geißner systematisiert (Geißner, 1975: 32ft), u.a. als Theorie, Praxis und Didaktik rhetorischer Kommunikation. Spricht also Jens vom "Dornröschenschlaf' der Rhetorik, dann meint er alle rhetorischen Disziplinen. Spricht Kopperschmidt in seinem 1989 veröffentlichten Aufsatz "Öffentliche Rede in Deutschland" von Rhetorik, dann meint er gewiß vor allem die rhetorische Praxis, genauer: die Praxis politischer Rede in Deutschland. Er weist in Anlehnung an Fuhrmann (Von Fuhrmann (siehe Literaturliste) übernimmt er den Begriff einer Rhetorik >>im eigentlichen Sinne