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German Pages 242 Year 2015
Céline Kaiser Rhetorik der Entartung
Céline Kaiser (Dr. phil.) lehrt Neuere deutsche Literatur an der Universität Bonn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind: Literatur- und Kulturtheorie, Medizingeschichte, Theatralität und Politiken der Wahrnehmung.
Céline Kaiser Rhetorik der Entartung. Max Nordau und die Sprache der Verletzung
Gedruckt mit Hilfe der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein.
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© 2007 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Lektorat & Satz: Céline Kaiser Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-672-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT Das ist keine Thèse 7 Einleitung 9 1 Eine Widmung 21 2 Vor dem Gericht 51 Apokalyptische Rede
53 Diskursives Regime
59 Symptome & Stigmata
63 Symptome, psychoanalytisch
72 Untersuchungsrichter & Detektive
76 3 Polizeiordnung 87 Mystizismus-Kritik: falsche Verknüpfung
97 Gesetze der Ideenassoziation
105 Lektüren
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4 Ansteckungsgefahr 127 Übertragung
129 Mitten unter uns
137 5 Etwas wird sichtbar 149 Mystizismus
149 Graphomanen
156 6 Ich-Sucht 169 Wiederholung/Echolalie
172 Orang-Utan-Präsenz
179 7 »Machtergreifung« 197 Das ist nicht das Ende 215 Ende 222 Literatur 225
DAS IST KEINE THÈSE »Ich plane ein Unternehmen,«1 das heißt, eigentlich, ehrlich gesagt, in Wahrheit plane ich seit Jahren dieses Projekt, welches sich im Laufe der Zeit, unter dem Einfluss so mancher – rein zufälliger, ja äußerlicher – Ereignisse wandelte und, man möchte meinen, fast bis zur Unkenntlichkeit veränderte. Immerhin – als ich mein erstes Exposé schrieb, da handelte meine Doktorarbeit von Verschwörungstheorien und ihrer Rhetorik. Doch immer dann, wenn ich meinte, endlich sei festes Land in Sicht, ergriff mich eine Unterströmung, die das ganze Unternehmen in eine neue Richtung trieb. Jeder endlich fixierte Rahmen wurde – kaum dass er ausgemacht, ausbuchstabiert, ausformuliert hätte werden können – einer neuen, verheißungsvolleren Idee geopfert, mit Bedauern in die Ecke geschoben, bis ihm die jüngste Idee kurz darauf Gesellschaft leisten durfte. Als ich dies Spiel bereits einige Jahre gespielt hatte, stellte ich eines Tages fest, dass ich zwar Materialberge für ein halbes Dutzend Doktorarbeiten bearbeitet und in Ecken geschaufelt hatte, aber – ein Thema, eine Fragestellung, einen roten Faden herausgreifen, mich für eine Variante entscheiden, dass schien, nein, es schien nicht nur, es war unmöglich. In meiner Verzweiflung vertraute ich einem Freund mein Unvermögen an. Er gab mir einen Rat: ›Schaue dir jeden Text, den du noch interessant findest, an und löse aus ihm einen Satz heraus. Danach lege den Text ganz beiseite. Schreibe alle diese besonderen Sätze heraus auf Karteizettel, die du dann erneut betrachten kannst. Du wirst sehen, es gibt mehr Zusammenhang in deinem Projekt, als du glaubst und als dir im Moment bewusst ist.‹ Ich habe diese Regieanweisung mehrere Tage befolgt, aus der Vielfalt der Texte die Entscheidung für einzelne Sätze getroffen und meine Karteikarten in immer und immer neuen Konstellationen zusammen geschoben. In der Tat, da gab es eine ganze Reihe vorher mehr oder minder geheimer Zusammenhänge unterschiedlichster, mal struktureller, mal metaphorischer Art. Doch dann, als ich diese 1
Diese und folgende Zitate stammen aus: Rousseau 1985: 37. 7
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Materialverfremdung bereits eine Weile betrieben hatte, kam plötzlich – Erkenntnisse kommen ja immer plötzlich – die Einsicht: Mein Thema, mein roter Faden, die Klammer, die diese Karten dort zusammenhielt, kurz: das worauf alle Verbindungslinien verwiesen, das war »Einzig und allein ich«. Es gibt Erkenntnisse, die einen ratloser machen als die Suche nach ihnen. Weitere Freunde, denen ich verschämt vom Ergebnis meines Experimentes berichtete, rieten mir nachdrücklich davon ab, diesen Weg weiter zu verfolgen. Selbsterkenntnis, schön und gut, aber eine Dissertation kann man daraus nicht machen. Da braucht man schon eine These, auch ein Material und eine Methode. Ich fand das sehr einleuchtend – und legte die Arbeit beiseite. Diese Selbstbezüglichkeit ist ja auch peinlich und unheimlich. Auf der anderen Seite: Meine – wenngleich irgendwie formelhaft abstrakte – Devise war doch stets gewesen, dass so ein Unternehmen irgendwie eine besondere persönliche Note haben sollte, sozusagen eine Dringlichkeit zweiter Ordnung, da sie der Dringlichkeit erster Ordnung, die beispielsweise Magisterarbeiten – als quasinatürlicher Abschluss einer Ausbildung – besitzen, entbehrt. Und damit nicht genug hatte ich mir vorgenommen, keinen Text zu kommentieren, interpretieren, lesen, den ich nur rundweg ablehnen, verwerfen, gegen den ich nur polemisieren könnte. Ambivalenz: so hieß meine Ein-Wort-Ethik des Lesens. Kurz und gut, ich plane ein Unternehmen alle Vorbehalte und guten Ratschläge in den Wind schlagend. Ich habe mich entschieden, der Spur zu folgen, als ob ich eine Wahl hätte. »Ob« ich »gut oder übel daran getan« habe, »das wird man nur beurteilen können, nachdem man mich gelesen hat.« Dass man dies nun tun kann, dafür bin ich einer Reihe von Menschen zu Dank verpflichtet und möchte mich an dieser Stelle für die unterschiedlichsten Formen der Unterstützung bei Annika Belgrath, André Berger, Alexander Böhnke, Jürgen Fohrmann, Anke Kaiser, Rembert Hüser, Leander Scholz, Erika Schippmann, Helmut Schneider, Heinz Schott, Barbara Wolf-Braun sowie der Böhringer Stiftung bedanken.
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Als ich im Frühjahr 2001, die zweite Intifada erreichte bereits einen ersten Höhepunkt, im Central Zionist Archive1 in Jerusalem Archivmaterialien zu Max Nordau durchsah, stieß ich unter anderem auf einen Brief, den ein junger Mann an den Arzt und Zionisten Nordau geschickt hatte. Zu meiner Überraschung wandte sich dieser junge Mann vertrauensvoll an Nordau, um ihn um seinen ärztlichen Rat zu bitten, da er selbst seit einiger Zeit unter nervösen Erschöpfungssymptomen litt. Die Anfrage, die nicht die einzige dieser Art war,2 erstaunte umso mehr, als der Absender zu Beginn des Schreibens zu erkennen gab, dass er mit den Schriften Nordaus, insbesondere seinen Conventionellen Lügen der Kulturmenschheit vertraut sei. Bereits in den Conventionellen Lügen hatte Nordau eine umfassende Kulturkritik mit einer dezidiert medizinischen Sicht verbunden und Abweichungen von der Norm als Entartungsphänomene beschrieben. Diese Argumentation, welche Nordau knapp ein Jahrzehnt später in seinem zweibändigen Werk Entartung (Nordau 1896; Nordau 1893) weiter ausführen und generalisieren sollte, lässt keinen Zweifel daran, dass Nordau zwar eine kulturkritische Perspektive einnimmt, diese jedoch stark utilitaristisch und sozialdarwinistisch geprägt ist. Kurz gesagt, ein Leser der Conventionellen Lügen oder von Entartung, der sich selbst als neurasthenisch und krank wahrnimmt, hätte angesichts der Schriften Nordaus allen Grund zu der Annahme gehabt, dass Nordau ihn als degenerierten Kranken, als eine für das Gemeinwohl unnütze Existenz betrachten würde. »Thue Alles, was das Wol der Menschheit fördert; unterlasse Alles, was der Menschheit Schaden oder Schmerz zufügt« (Nor1
Dem ich an dieser Stelle herzlich für die Möglichkeit zur Einsichtnahme in die gesamten Nordau-Materialien danken möchte. Weiterer Dank gilt der DFG, durch deren Finanzierung die Archivreise nach Israel möglich gemacht wurde. 2 Siehe File A 119/120, 46 und 52 im Central Zionist Archive, Jerusalem. 9
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dau 1884: 417f), lautet denn auch Nordaus Abwandlung des Kategorischen Imperativs, die für Empathie mit dem Einzelnen kaum Raum lässt. Vor allem in Entartung wird er nicht müde, moderne Kunst und ihre Produzenten unnachgiebig als Phänomene einer grassierenden Entartung zu stigmatisieren und für ihren Ausschluss nicht nur aus dem ästhetischen, sondern auch dem gesellschaftlichen Diskurs zu plädieren. Wie kann man vor diesem Hintergrund verstehen, dass ein Leser dieser Werke seine postalische Krankenbeichte direkt an Nordau adressiert? Sicher, diejenigen, die Nordau in dieser Weise um Hilfe und ärztlichen Rat baten, gaben sich in ihrem Schreiben als Juden und der zionistischen Sache Verbundene zu erkennen. Nordau, Gründungsvater des politischen Zionismus wie Theodor Herzl,3 hatte in einer seiner ersten Zionistischen Schriften (Nordau 1909a) für ein sportliches Engagement plädiert: Die jüdische Turnbewegung als Motor einer Renaissance des jüdischen Körpers, in der aus »Nervenjuden« nunmehr »Muskeljuden« geformt werden sollten (Nordau 1909c; vgl. Mosse 1996). Doch kann es gelingen, nur die eine, zionistische Seite von Nordaus Botschaft aufzugreifen und die ätzende Häme gegen die Entarteten und Neurasthenischen auszublenden? Wie komplex ist solch eine Identifikation, die in einem ersten Schritt aus einer Selbstwahrnehmung ein klinisches Muster, die Neurasthenie, entwickelt,4 um sich im nächsten Schritt mit dieser Selbstdiagnose an eine der exponiertesten Gestalten zu wenden, die aus der Diagnose »Neurasthenie« ein bedrohliches Stigma macht, um schlussendlich die Hoffnung auf Besserung des Zustandes mit der Einschreibung in einen besonders gefährdeten Kollektivkörper, dem ›Nervenjudentum‹, zu verbinden? Offensichtlich fühlten sich jene Leser einerseits von der stigmatisierenden Rede angesprochen und fanden andererseits einen Weg, die Stigmatisierung zum Ausgangspunkt einer Kommunikation zu nehmen. Es fragt sich also, auf welche Weise eine verletzende und stigmatisierende Rede funktioniert? Wie sie ihre »Opfer« definiert und welche Spielräume sie eventuell lässt? Zugleich wirft diese Art der Kommunikation die Frage auf, inwieweit eine solche Rede ei3 4
Zu Nordaus Stellung innerhalb der zionistischen Bewegung siehe Heymann 1995 und Schulte 1997: 255-308. Dass dies Phänomen gerade für die Neurasthenie keine Seltenheit war, hat insbesondere Joachim Radkau gezeigt: Radkau 2000: 9-15 sowie Kapitel 2: Ärztlicher Blick und Patientenerfahrung, 81-182. 10
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nen Diskurs etabliert, verbreitet, Patterns bereitstellt, von denen sich Leser angesprochen, adressiert fühlen und dadurch diese Identifikationsmuster aufgreifen und umwandeln können. Dieses Sichangesprochen-Fühlen, diese komplexe Identifikation, beruht vor allem auf einer Struktur der Anrede, in der der Adressat nicht nur zum Gegenstand eines Diskurses, sondern zugleich auch zu einem möglichen Subjekt eben dieses Diskurses wird. Judith Butler hat diese dialektische Struktur einer Rede, die gleichermaßen ein Subjekt als gleichwertiges verwirft und konstituiert, beschrieben: Das Subjekt wird in der Sprache konstituiert (oder »angerufen«), und zwar durch einen Ausleseprozeß, der die Bedingungen der lesbaren und intelligiblen Subjektivität regelt. Selbst wenn das Subjekt benannt wird, hängt die Frage, »wer« es ist, ebenso von den Namen ab, die es niemals erhalten hat: Durch den Namen werden die Möglichkeiten des sprachlichen Lebens ebenso eröffnet wie verworfen. Die Sprache konstituiert das Subjekt also teilweise durch die Verwerfung, eine Art inoffizieller Zensur oder ursprünglicher Einschränkung des Sprechens, die zugleich die Möglichkeit der Handlungsmacht im Sprechen konstituiert. (Butler 1998: 64f)
Die Irritation, die jener Brief an Nordau ausgelöst hatte, verstärkte das Interesse an Nordaus Entartung und lenkte meine Nachforschungen statt in eine historische in eine theoretische Richtung. Wie können »Verwerfung« und »die Möglichkeiten der Handlungsmacht im Sprechen« zusammengedacht werden? Auf welche Weise hängt ein Modell souveränen Sprechens mit dem Akt der Zensur und Verwerfung zusammen? Diese Fragen scheinen mir für Nordaus Text von zentraler Bedeutung zu sein. Nordaus Entartung stellt dabei nicht nur eine aufschlussreiche Verbindung zwischen Psychopathologie und Kulturkritik, zwischen Medizin und Literatur her, sondern ist in seinem ganzen Impetus ein Text, der die Verwerfung seiner ›Gegner‹ auf die Spitze treibt. In diesem fast tausendseitigen Werk erklärt Nordau der gesamten Literatur und Kunst seiner Zeit den totalen Krieg, den Vernichtungskrieg. Tolstoj, Richard Wagner, Ibsen, Schopenhauer, Nietzsche, Zola, Maeterlinck, Oscar Wilde, Verlaine, Baudelaire, William Morris und eine Unzahl kleinerer Geister wie Hermann Bahr, Arno Holz, Johannes Schlaf, Carl Bleibtreu werden von ihm »abgeschossen« wie tolle Hunde. In der Tat: wie tolle Hunde. Denn Nordau begnügt sich nicht mit einer ästhetischen 11
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Kritik ihrer Schöpfungen, er lehnt nicht bloß ihre Produkte ab, sondern ihr menschliches Wesen, indem er sie als Entartete, Irrsinnige, Kranke und dem Verbrechen nahe Schädlinge der Gesellschaft darstellt. Nicht als Literarhistoriker, sondern als Arzt tritt er an ihr Krankenbett und verdammt sie allesamt unter Flüchen und Verwünschungen zu einem unbarmherzigen Tod. (Anonym 1961: 8)
Kann man Nordaus Entartung ›ernst‹ nehmen? Ist es möglich, seinen Text auch und gerade an jenen Punkten ernst zu nehmen, an welchen er von Wut, Zorn und überhaupt Affekten der Abwehr und Verwerfung bestimmt zu sein scheint? Oder sind es nicht gerade die affektiven Bewegungen, die ihn – im Gegensatz zu einer historischen Einordnung und Würdigung seiner Quellenkundigkeit – noch interessant erscheinen lassen? In der Nordau-Literatur wird immer wieder hervorgehoben, dass Nordau entgegen der ›Grobschlächtigkeit‹ seiner Argumentationen ein hervorragender Kenner seiner Gegenstandsbereiche gewesen sei – als ob sich eine affektgeladene Perspektive und Sachkompetenz ausschließen würden.5 Die Affektivität, die er selbst in den Texten der Modernen ahndet, desavouiert seinen eigenen Text in den Augen eines wissenschaftlich geprägten Publikums. Hier waltet nicht die Macht des ›besseren Arguments‹, hier waltet nicht Vernunft, sondern ein irrationales Begehren. Diese Affektivität und dieses Begeh5
Siehe Kottow 2004: 42: »Abschließend möchte ich bemerken, dass beim Lesen des Hauptwerkes Nordaus, der Leser oder die Leserin immer wieder von einem seltsamen Gefühl heimsucht wird. Nordau hat sich intensiv und sehr detailliert mit einer Reihe von ästhetischen Phänomenen auseinandergesetzt, die er fundamental ablehnt. Es erstaunt sein Wissen und seine Belesenheit. Er kennt das, was er als Krankheit abstempelt, sehr genau, was immer wieder den Lesern und Kritikern von Entartung aufgefallen ist. Kaum ein Zeitgenosse Nordaus hat einen ähnlich vollständigen Überblick über die Kunst der Jahrhundertwende erstellt. Alle Figuren, die für die europäische Kunst ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ausschlaggebend sein sollten, werden von Nordau behandelt. Die exakte Wiedergabe von Textstellen, die Anzahl an Zitaten und Hinweisen auf Schriften oder Gemälde sind überwältigend und spiegeln eine konzentrierte Rezeption von Seiten Nordaus wider. Es scheint ihn der Drang zu bewegen, das, was er als gesellschaftsfeindlich markieren möchte, so genau zu kennen, dass er jedes Detail als Resultat einer Krankheit erkennen und beschreiben kann. Tatsächlich scheint ein Arzt am Werke zu sein, der, um eine Krankheit bekämpfen zu können, diese zunächst sehr gut beobachten muss.« 12
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ren lösen auch ›heute‹ noch Reaktionen aus; sie nötigen den Leser, in irgendeiner Weise gleichfalls affektiv zu reagieren (auch wenn diese Reaktionen quasi hinter vorgehaltener Hand vorgebracht werden): »Ich will dieses Vorwort mit dem Eingeständnis schließen, daß ich noch nie so ausführlich über einen Menschen geschrieben habe, der mir nach Weltanschauung, Werk und Persönlichkeit so fern, und in manchem auch unsympathisch war wie Max Nordau.« (Schulte 1997: 17) – heißt es in Christoph Schultes Habilitationsschrift. Nicht nur der Titel Entartung zwingt zum Kommentar6 (in dem Kontinuität und vor allem Diskontinuität des Entartungskonzeptes im Dritten Reich erörtert werden)7, Nordaus Kampfschrift wirft überhaupt die Frage auf, wie sich ein Sprechen in Handeln, ein »Verbalradikalismus« in Wirkungen übersetzt. Wenn Christoph Schulte betont, dass Nordau »[nie zur Tat] schreitet«, obgleich die 6
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Auch wenn dieser dem Versuch erliegt, die Parallelen zu entschärfen: »Daß ausgerechnet ein Rabbinersohn und späterer Zionist mit diesem deutschen Wort für den psychiatrischen Terminus ›Degeneration‹ dem nationalsozialistischen Kampf gegen die ästhetische Moderne den zentralen Begriff lieferte, hat man mit Recht als ›einen der absurdesten ideologiegeschichtlichen Treppenwitze‹ bezeichnet.« (Anz 1989: 34) Zynischer Weise ist für die Ausgabe der Bonner Universitäts- und Landesbibliothek textkritisch anzumerken, dass der Schmutztitel unter Stempeln erkennbar zeigt, dass diese Ausgabe aus dem Besitz der Adolf-Hitler-Schule Köln-Aachen stammt. Auch Petra Zudrell nimmt auf diese Frage in Auseinandersetzung mit der Rezeption von Nordaus Werk nach 1945 Bezug: »Daß Nordau nicht für die Entartungskampagne der Nationalsozialisten verantwortlich gemacht werden kann, dürfte unbestritten sein, doch Nordau quasi für die philiströse Verdammung der modernen Kunst haftbar zu machen [wie bei René Wellek, C.K.], scheint gleichsam verfehlt angesichts seines eigenen wissenschaftlichen Anspruchs und angesichts des immensen Wissens über die von ihm kritisierten [!] Kunst. Michael Worbs formuliert sogar den Verdacht, daß Nordaus oberflächliche ›Ausrichtung an der Sprache der Medizin‹ ahnen lasse, ›daß der Kritiker des Fin de siècle dem Kritisierten näherstand, [als] er sich eingestehen mochte.‹ Auch die beiden Literaturwissenschaftler, die in der [!] siebziger Jahren in Deutschland erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder auf Max Nordau hingewiesen haben, Erwin Koppen und Jens Malte Fischer, beschäftigen sich vor allem mit Entartung […]. Erwin Koppen etwa sieht unter Berufung auf René Welleks Äußerung […] noch in der ›von der NS-Ideologie entwickelte[n] Vorstellung von der ›entarteten Kunst‹ in mancher Hinsicht wenigstens indirekt auf Nordau‹ zurückgehende ›Fernwirkungen‹ […].« (Zudrell 2003: 67). 13
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»Folgerung aus seinen Ausführungen wäre […], diese Freiheit der Kunst und Literatur einzuschränken und Zensur zu üben« (Schulte 1997: 238), stellt sich die Frage, wie hier Tat und Sprechen resp. Schreiben aufeinander bezogen werden. Es bleibt bei der intellektuellen Legitimation der Schutzmänner. Und bei Verbalinjurien des autoritären Charakters, mit denen das Kapitel zu den ›Decadenten und Aestheten‹ endet. Diese sind ›Gelichter‹, stehen tiefer ›als der letzte Kanalräumer‹, bringen dem Gemeinwesen keinen Nutzen, sind ›Schwächlinge des Willens‹, arbeitsunwillig, ›schmarotzen‹, betreiben ›emsige Tagedieberei‹, sind ›Sudler‹ und ›Auswurf der gesitteten Völker‹. Das ist die Sprache des gesunden Volksempfindens gegen die moderne Kunst. (Schulte 1997: 238f )
Entgegen dieser strikten Trennung von Nordaus Sprechen auf der einen und möglichen perlokutionären Effekten dieses Sprechens auf der anderen Seite, führt Schulte im direkten Anschluss an seine Ausführungen an, dass Oscar Wilde wenig später zum Opfer jenes »gesunden Volksempfindens« geworden sei: 1895 erscheint Entartung unter dem Titel Degeneration schon in fünfter Auflage im Verlag Heinemann in London. Im gleichen Jahr wird Oscar Wilde, der, wie Nordau ganz richtig bemerkt hat, mit seinem The Picture of Dorian Gray den ›klassischen‹ englischen Dekadenz-Roman vorgelegt hatte und auffälligster Protagonist des l’art pour l’art in England war, seiner Homosexualität wegen in einem Schauprozeß verurteilt und in die Haftanstalt Reading verbracht. Er stirbt 1900, ein Opfer des gesunden Volksempfindens seiner Richter, als gebrochener Mann. (Schulte 1997: 239)
Dieses Lavieren zwischen einer offensichtlich in Nordaus Text befindlichen Gewaltsamkeit, die »alles Abweichende«, »jede abweichende Form von Rationalität, auch die in andersartigen Kunst- und Zivilisationsleistungen« »als eine Form des Irreseins pathologisiert« und dem Insistieren darauf, dass Nordau lediglich die »intellektuelle[] Legitimation der Schutzmänner« besorge (Schulte 1997: 213), also spreche, ohne dieses Sprechen in Handeln umzusetzen, deutet auf ein Problem hin. Dies Problem besteht nicht nur darin, dass Nordau einerseits die Terminologie in wichtigen Punkten prägt, die Jahrzehnte später zur Diffamierung und Vernichtung ›entarteter Kunst‹ wieder aufgegriffen wird (auch von Parasitenmetaphorik 14
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macht Nordau weiträumigen Gebrauch), zugleich jedoch auch ein Gründungsvater des politischen Zionismus war.8 Schulte macht den Unterschied zwischen Kritik und Tat denn auch mit der ›braunen Diktatur‹ fest. Während er einräumt, dass Nordau ein »Verbalradikaler« sei, »der in manchen Sätzen nicht nur in seiner Metaphorik gewalttätig ist«, betont er: »Das ist durchaus schon die Sprache der ›autoritären Biologie‹ (Helmuth Plessner) späterer Zeiten, aber es ist nur deren Sprache. Nordau ist nie zur Tat geschritten wie die Diktatoren und ihre Schergen.« (Schulte 1997: 214) Schultes Einschränkung verweist (implizit) auf die Frage nach der institutionellen Verankerung eines Sprechens und damit nach der Macht des Sprechers, Worte in Handlungen zu transformieren. Ist nur der Sprecher zur Zensur ermächtigt, der einer entsprechenden Behörde oder Institution angehört? Wie verhält sich die Souveränität des Sprechens zur Institution? Und ist die performative Wirkung eines Sprechaktes davon abhängig, dass ein Sprecher zu einem Sprechakt ermächtigt wird? Wie verläuft die Grenze zwischen Macht und Selbstermächtigung? In diesen Formulierungen zeichnet sich ein Dilemma ab, das über die Problematik von Nordaus Entartung hinausweist: Es zeigt sich, dass die Frage, wann ein Sprechen ein Handeln ist, das Effekte hervorbringt, im Hintergrund schwelt und zugleich untrennbar mit der Frage verbunden ist, wem die Effekte eines (sprachlichen) Handelns zuzurechnen seien. In diesem Sinne lese ich Schultes Versuch, Nordaus Sprache von jenen Effekten zu trennen, die im Kontext des NS-Regimes auftraten, als Hinweis auf die Schwierigkeiten, die sich aus einer Position ergeben, die grundsätzlich die Effekte eines Sprechens in der institutionell verankerten Souveränität des Sprechers aufsucht. Die strikte Trennung zwischen Nordaus Sprache, die kein Handeln, und der Sprache der ›braunen Diktatur‹, die ein Handeln ist, scheint mir nur so verständlich zu sein. Da Nordau nicht für die Sprache der Nationalsozialisten verantwortlich gemacht werden kann und soll, wird sein Sprechen kategorial von der Sphäre des Handelns unterschieden. Doch ist dieser Schluss zwingend? Muss man behaupten, 8
In diesem Sinne wirft auch Jens Malte Fischer die Frage auf: »Max Nordau serait-il donc un préfasciste? Non, certainement pas. Son pacifisme, son antimilitarisme, son sionisme et sa grande intégrité morale attesté par tous ses contemporains interdisent de le compter au nombre des ancêtres spirituels du national-socialisme.« (Fischer 1996: 118f). 15
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dass eine »Sprache der ›autoritären Biologie‹«, dass »Verbalradikalismus« kein Handeln sei, wenn man davor zurückschreckt, einen bestimmten Sprecher mit derartigen Folgen des Sprechens zu identifizieren? Gibt es einen kategorialen Unterschied zwischen dem Sprechen des Kritikers, der »bereit [ist], ›den Daumen auf das gesellschaftsfeindliche Ungeziefer zu drücken‹« (Schulte 1997: 214/ Nordau 1893: 554), und der Sprache der »Diktatoren« und »Schergen«? – Und wenn man diesem kategorialen Unterschied zustimmt und Tun und Sprechen radikal trennt, welche Konsequenzen ergeben sich daraus für kulturwissenschaftliches Arbeiten, für eine kritische Reflexion? – Muss man andererseits behaupten, dass, wenn sowohl die eine als auch die andere Rede ein Handeln ist, Nordau für die Effekte seines Sprechens im emphatischen Sinne verantwortlich sei? Dass er die Sprache der »Diktatoren« und »Schergen« wenn nicht intendiert, so doch mit hervorgerufen habe? Muss man Nordau an eben jenen Parametern des souveränen Sprechens messen, die er in seiner Modernekritik anlegt? Ich meine, die Schwierigkeiten, die sich ergeben, sobald man sich um eine ›Einordnung‹ von Nordaus Text bemüht, weisen gleichermaßen auf eine grundlegende theoretische Frage hin, und berühren sich in entscheidenden Punkten mit Nordaus Entartungsprojekt selbst. Wenngleich ich im Folgenden immer wieder Nordaus Text im Zusammenhang mit zeitgenössischen Materialien diskutiere, liegt mein Interesse weniger in einer historischen Verortung seines Textes. Es geht mir nicht in erster Linie darum, seine Argumentation und seine Modernekritik im Einzelnen oder die Art und Weise, wie er seine ›ärztliche Diagnostik‹ wissenschaftlich fundiert, in einem allgemeinen medizin- und literarhistorischen Feld einzuordnen.9 Und für die Frage nach jenen Effekten seines Textes, die man als Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte formulieren könnte, möchte ich hier auf die Arbeit von Petra Zudrell hinweisen.10 Die Frage, die mich mit Blick auf Nordaus Entartung beschäftigt, hat vielmehr zu tun mit dem Versuch einer Kritik der ethischen Gewalt und einer Auseinandersetzung mit jenem Sprechen, welches 9
Wer an einem summarischen Überblick interessiert ist, findet ihn in Form von zusammenfassenden Paraphrasen bei Schulte 1997, Söder 1991 und Kottow 2004. 10 Zudrell liefert eine Gesamtschau der publizierten Reaktionen auf Nordaus Werke, allerdings ohne eine darüber hinausgehende systematische oder theoretische Fragestellung zu verfolgen (Zudrell 2003). 16
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sich mit dem Begriff der Hate Speech verbindet (vgl. Butler 1998; Butler 2003). Die Beschäftigung mit den jüngeren Arbeiten von Judith Butler ist in diesem Sinne zentral für meine Annäherung an Nordaus Text. Im Mittelpunkt meiner Nordau-Lektüre steht die Frage, wie ein ethischer Rigorismus sich aus der Verwerfung des Anderen speist und in der Art und Weise, wie er sein Sprechen inszeniert, einen Handlungsraum etabliert, in welchem die Durchsetzung der eigenen Geltungsansprüche in greifbare Nähe zu rücken scheint. Nordaus Entartung scheint mir in mehrfacher Hinsicht mit diesen Fragen zu tun zu haben. Sofern man überhaupt mit der Unterscheidung von Objekt- und Metaebene operieren will – und Nordaus Text ist ein Beispiel dafür, wie prekär diese Unterscheidung ist –, kann man Entartung als Versuch lesen, Kriterien für eine Zensur zu entwickeln. Diese soll dazu dienen, eine Form des Diskurses, den Nordau an mehreren Stellen als aggressiven, die Grundlagen sprachlicher Konventionen und moralischer Grundlagen ›zersetzenden‹, zum Teil auch antisemitischen Diskurs identifiziert, auszuschließen. Nordau fühlt sich dabei dem Projekt der Aufklärung verpflichtet, welches er mit den Mitteln der Psychopathologie beerbt und radikalisiert. Nordau erklärt sich denen zugehörig, die es sich »zur Lebensaufgabe gemacht haben, alten Aberglauben zu bekämpfen, Aufklärung zu verbreiten, geschichtliche Ruinen vollends niederzureißen und ihren Schutt wegzuräumen, die Freiheit des Individuums gegen den Druck des Staates und der gedankenlosen Philister-Routine zu vertheidigen«, und deren »theuerste Losungsworte« »Freiheit«, »Emanzipation«, »Modernität«, »Fortschritt« und »Wahrheit« sind. […] Nordaus »Entartung« liefert […] ein vorzügliches Beispiel für das Potential an Inhumanität, das dem Projekt der Aufklärung auch inhärent ist, für jene »Dialektik der Aufklärung« also, wie sie Adorno und Horkheimer im Blick auf den Faschismus in Deutschland beschrieben haben. (Anz 1989: 46)
Den modernen ästhetischen Diskurs, den er im Blick hat, beschreibt Nordau als eine Gefährdung ›des‹ Ethos und somit als eine Form des Redens, die einen gleichermaßen umfassenden wie bedrohlichen Angriff darstellt. Diese Gefahren gilt es in seinem Sinne einzudämmen. Auf einer – analytisch kaum ›sauber‹ zu trennenden – zweiten Ebene ist Nordaus eigene Rede geprägt von einer scharfen Rhetorik,
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die den ›Gegner‹ nicht ›nur‹ analysieren, sondern ihn mit den Mitteln der Pathologisierung ›zum Schweigen bringen‹ will. Nordau inszeniert seine Modernekritik in besonderer Weise und bedient sich all jener Mittel, die seinem »Verbalradikalismus« zuträglich zu sein scheinen. In diesem Sinne beobachtet Nordau nicht primär eine Form von Hate Speech, er macht von ihr auch weiträumigen Gebrauch. Damit seine Rede die nötige Autorität erlangen kann, um seiner Kulturkritik Nachdruck zu verleihen, operiert er zum einen mit seiner Doppelfunktion als Arzt und Journalist (vgl. Schulte 1997: 250), zum anderen schreibt er sich gleichermaßen in einen aufklärerischen wie in einen apokalyptischen Diskurs ein, der seine Redestrategie strukturiert. Doch Nordaus Entartung ist nicht nur ein Paradebeispiel einer ausgeprägt autoritären, sich totalisierenden Rede, die, im Gewand einer Ethik, Gewalt ausübt. Entartung ist zugleich ein Text, an dem sich die Brüche ablesen lassen, die den Versuch, eine souveräne Sprecherposition einzunehmen, Sprechen und Handeln in eins fallen zu lassen, meiner Meinung nach zwangsläufig unterminieren. Auf einem ersten historischen Höhepunkt von Biologismus und radikal utilitaristischem Sozialdarwinismus zeigt Nordaus Entartung Macht und Ohnmacht des souveränen transparenten Sprechens. Diesen Facetten von Nordaus Entartungsprojekt werde ich im Folgenden nachgehen. In einer Lektüre jener Paratexte, die Nordau seinen zwei Bänden voranstellt, wird die Art und Weise, in welcher Nordau seine eigene Sprecherposition etabliert und begründet, betrachtet (Teil 1: Eine Widmung). Widmung und Widmungsepistel inszenieren im Kern nicht nur die Programmatik von Entartung, sondern auch die Souveränität ihres Autors. Im zweiten Teil (Vor dem Gericht) wird das apokalyptische Szenario, welches Nordau in seiner Kritik des Fin de Siècle entwirft, zum Ausgangspunkt genommen, um die Anleihen an einer apokalyptischen Redeform, die Nordaus eigenes Sprechen steuern, näher zu beleuchten. Ein Gestus der Selbstermächtigung und ein emphatischer Wahrheitsbegriff gehen hier Hand in Hand mit einer medizinischen Semiotik, die die Geltungsansprüche der eigenen Rede untermauern soll. So wie die apokalyptische Szene immer auch auf eine Gerichtsszene verweist, in welcher die Entscheidung zwischen wahren und falschen Geltungsansprüchen getroffen wird, hat Nordaus normativer Ansatz auch eine exekutive Instanz im Blick, die für die Einhaltung allgemeinverbindlicher Maßstäbe Sorge tragen soll. Dieser »Polizeiord18
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nung« widmet sich der 3. Teil meiner Arbeit, in welchem einerseits der systematische Stellenwert einer Sprach- und Denknorm diskutiert und andererseits jene zeitgenössischen Versuche, eine Ordnung des Denkens psychologisch und psychiatrisch zu definieren, aufgegriffen werden. Teil 4 (Ansteckungsgefahr) greift die epidemiologische Metaphorik von Entartung auf, um der Frage nachzugehen, in welcher Weise einer ›entarteten‹ Rede eine Ansteckungsgefahr zugesprochen wird und die Metaphorik der Ansteckung auf die Zementierung einer Innen/Außendifferenz setzt. Die Bedrohung, die von Außen kommt, verweist auf die Brüchigkeit stabiler Subjektgrenzen und führt zu Versuchen, den Ursprung der Bedrohung dingfest zu machen. Was diese ›grassierende Seuche‹ mit der Materialität der Signifikanten zu tun hat, wird im fünften Teil (Etwas wird sichtbar) diskutiert, in welchem Nordaus Mystizismuskritik und insbesondere das Phänomen der ›Graphomanie‹ in den Blick genommen werden. Im sechsten Teil (Ich-Sucht) werden die ethischen Implikationen von Entartung – Nordaus Kritik der Ich-Sucht und normative Begründung einer Gemeinschaft der Gesunden – thematisiert. Wie organisiert Nordau den Fremdbezug? Wie das Verhältnis von Ich und Du, Wir und Sie? Diese Fragen sind auch für den abschließenden 6. Teil (›Machtergreifung‹) relevant, in welchem die verschiedenen Fäden der Arbeit wieder aufgegriffen und in Hinblick auf Nordaus ›Therapie‹ und ›Prognose‹ betitelte Schlusskapitel enggeführt werden. Nordau wendet sich im Duktus einer Predigt an sein Publikum, beschwört die Gemeinschaft des »wir« und grenzt sie vom feindlichen »sie« ab. Ein Zitat aus der Bergpredigt, mit dem Nordaus Text endet, wird somit zum Anlass einer abschließenden Diskussion des performativen Charakters von Entartung.
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1 EINE WIDMUNG
Mit Hilfe der Askese soll es manchen Buddhisten gelingen, eine ganze Landschaft aus einer Saubohne herauszulesen. (Barthes 1987: 7)
Max Nordau, Entartung
Mit dieser Widmung beginnt der zweibändige Bestseller des überaus protestantischen Wegbereiters des Zionismus Max Nordau. Schon die Art und Weise, in der die Widmung gesetzt ist, ist aufschlussreich: Eine von oben links nach unten rechts absteigende Diagonale signalisiert, in welcher Weise das Verhältnis von Autor und Ko-Autor zu denken ist und markiert die Position des Verfassers, welche er gegenüber dem zentralen, nicht nur in der Schriftgröße überragenden Lombroso, in dessen Schatten er segelt, einnimmt. Lombrosos Name selbst wird durch die podestartige Nennung eben jener Institution der Irrenheilkunde und Gerichtsmedizin gestützt, für die sein Name im neunzehnten Jahrhundert metonymisch
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steht.1 Zugleich erweckt sie den Eindruck einer Adresse, wie überhaupt die Widmung durch die Merkmale »Herrn«, Name, Anschrift, Absender den nachfolgenden ›Brief‹ ankündigt. »Statt eines Vorwortes« folgt dementsprechend ein als Brief gekennzeichneter zweiseitiger Passus, in dem der »Hochgeehrte[] und theure[] Meister« direkt angesprochen wird:
Statt eines Vorwortes. Herrn Professor Cesare Lombroso in Turin. Hochgeehrter und theurer Meister, Ich widme Ihnen dieses Buch, um laut und freudig die Thatsache anzuerkennen, daß es ohne Ihre Arbeiten nie hätte geschrieben werden können. Der zuerst von Morel in die Wissenschaft eingeführte, durch Sie genial ausgestaltete Begriff der Entartung hat sich, von Ihnen gehandhabt, bereits nach den verschiedensten Richtungen hin überaus fruchtbar erwiesen. Sie haben über zahlreiche dunkle Hauptstücke der Irrenheilkunde, des Strafrechts, der Politik und Gesellschaftslehre eine wahre Flut von Licht verbreitet, welche nur von denen nicht wahrgenommen wird, die aus eigensinniger Verstocktheit ihre Augen schließen oder die zu blödsichtig sind, um noch aus irgendeiner Helligkeit Nutzen zu ziehen. In ein weites und wichtiges Gebiet aber haben bisher weder Sie noch Ihre Schüler die Leuchte Ihrer Methode getragen, nämlich in das der Kunst und des Schriftthums. Die Entarteten sind nicht immer Verbrecher, Prostituirte, Anarchisten und erklärte Wahnsinnige. Sie sind manchmal Schriftsteller und Künstler. Aber diese weisen dieselben geistigen – und meist auch leiblichen – Züge auf wie diejenigen Mitglieder der nämlichen anthropologischen Familie, die ihre ungesunden Triebe mit dem Messer des Meuchelmörders oder der Patrone des Dynamit-Gesellen statt mit der Feder oder dem Pinsel befriedigen. Einige dieser Entarteten des Schriftthums, der Musik und Malerei sind in den letzten Jahren außerordentlich in Schwang gekommen und werden von zahlreichen Verehrern als Schöpfer einer neuen Kunst, als Herolde der kommenden Jahrhunderte gepriesen. Das ist keine gleichgiltige Erscheinung. Bücher und Kunstwerke üben eine mächtige Suggestion auf die Massen. Aus ihnen schöpft ein Zeitalter sein Ideal von Sittlichkeit und Schönheit. Wenn sie nun unsinnig und ge1
Zur Person Lombrosos und dessen Verhältnis zu Max Nordau siehe: Anderson 1996. 22
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sellschaftsfeindlich sind, so wirken sie verwirrend und verderbend auf die Anschauungen eines ganzen Geschlechts. Dieses, namentlich die eindrucksfähige, sich für alles Seltsame und scheinbar Neue leicht begeisternde Jugend, muß deshalb gewarnt und über die wirkliche Natur der blind bewunderten Schöpfungen aufgeklärt werden. Die landläufige Kritik thut dies nicht. Eine ausschließlich literarisch-ästhetische Bildung ist ja auch die denkbar schlechteste Vorbereitung zu einer richtigen Erkenntnis des pathologischen Charakters der Werke von Entarteten. Der phrasendreschende Schöngeist trägt mehr oder weniger zierlich, hochtrabend oder geistreichelnd die subjektiven Eindrücke vor, die er von den kritisierten Werken empfängt, ist aber außer Stande, zu beurtheilen, ob diese Werke die Ausgeburten eines zerrütteten Gehirns sind und welcher Art die Geistesstörung ist, die sich in ihnen ausdrückt. Ich habe es nun unternommen, die Moderichtungen in Kunst und Schriftthum möglichst nach Ihrer Methode zu untersuchen und den Nachweis zu führen, daß sie ihren Ursprung in der Entartung ihrer Urheber haben und daß ihre Bewunderer für Kundgebungen des stärker oder schwächer ausgesprochenen moralischen Irrsinns, des Schwachsinns und der Verrücktheit schwärmen. So ist dieses Buch ein Versuch wirklich wissenschaftlicher Kritik, die ein Werk nicht nach den sehr zufälligen, grillenhaften und mit dem Temperament und der Stimmung des einzelnen Lesers wechselnden Emotionen beurtheilt, welche es erweckt, sondern nach den psycho-physiologischen Elementen, aus denen es entstanden ist, und es wagt zugleich eine Lücke ausfüllen zu wollen, die in dem mächtigen Bau Ihres Systems noch besteht. Ueber die Folgen, welche mein Beginnen für mich haben wird, bin ich nicht im Zweifel. Es ist heute ungefährlich, die Kirche anzugreifen, denn sie verfügt nicht mehr über Scheiterhaufen; auch gegen Herrscher und Regierung zu schreiben ist wenig bedenklich, denn schlimmstenfalls wird man eingesperrt und hat als Entschädigung den Ruhm der Blutzeugenschaft. Uebel aber ist das Schicksal desjenigen, der sich unterfängt, ästhetische Moden als Formen geistiger Zersetzung zu kennzeichnen. Der getroffene Schriftsteller oder Künstler verzeiht es nie, daß man ihn als Geisteskranken oder Erfolg-Schwindler erkannt hat; die subjektiv schwatzende Kritik ist wüthend, daß man ihr nachweist, wie seicht und unzuständig sie ist oder wie feig sie mit dem Strome schwimmt; und selbst das Publikum ist geärgert, wenn es einsehen muß, daß es hinter Narren, Zahnbrechern und Jahrmarkt-Rufern wie hinter Propheten hergelaufen ist. Die Graphomanen und ihre kritische Leibwache beherrschen aber ungefähr
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die ganze Presse und besitzen in dieser das Marterwerkzeug, um den unbequemen Spielverderber bis an sein Lebensende indianisch zu foltern. Doch die Gefahr, der er sich aussetzt, kann einen Mann nicht abhalten, das zu thun, was er als seine Pflicht erkannt hat. Wenn man eine wissenschaftliche Wahrheit gefunden hat, schuldet man sie der Menschheit und darf sie ihr nicht vorenthalten. Aber man kann es nicht einmal, ebensowenig wie das Weib sich willkürlich enthalten kann, die gereifte Frucht seines Leibes zu gebären. Ohne mich im Entferntesten mit Ihnen, einer der stolzesten geistigen Erscheinungen des Jahrhunderts, vergleichen zu wollen, darf ich mir doch die lächelnde Ruhe zum Beispiel nehmen, mit der Sie Ihren Weg gehen, ohne sich um Verkennung, Begeiferung und Unverstand zu kümmern. Bleiben Sie weiter gewogen, hochgeehrter und theurer Meister, Ihrem dankbar ergebenen Max Nordau.
Der Seite, die die Widmung typographisch in Szene setzt, folgt somit eine als Nicht-Vorwort gekennzeichnete Widmungsepistel.2 Widmung und Widmungsepistel, die, wenngleich sie als Verneinung der paratextuellen Gattung des Vorwortes auftritt, wesentliche Funktionen eines Vorwortes erfüllt, entfalten ein komplexes Spiel von Adressierungen und Etablieren nicht nur eine Sprecherposition, die sich als diejenige des Verfassers zu erkennen gibt, sondern enthalten bereits im Kern die Programmatik von Entartung. Nordau gelingt damit etwas, was Jean Paul als Funktion von Vorreden überhaupt bestimmt hatte: »eine Vorrede […] soll nichts sein als ein längeres Titelblatt«, sie ist der »erklärende Kommentar zum Titel« (Genette 1989: 207): Entartung. Oder, wie Gerard Genette an einer Stelle angemerkt hat: »Die vielleicht wichtigste unter den Funktionen des Originalvorworts besteht in einer Interpretation des Textes durch den Autor oder, wenn man lieber will, einer Absichtserklä2
Siehe Genette 1989: 116f: »Die Zueignung wird zu einer selbständigen Aussage, entweder in der bündigen Form einer kurzen Erwähnung des Adressaten der Zueignung oder in der längeren Form einer Rede an ihn, die im allgemeinen als Widmungsepistel bezeichnet wird, oder aber in beiden Formen gleichzeitig, wobei die erste auf dem Titelblatt aufscheint. Aus Gründen, auf die ich später eingehe, ist die zweite Form eigentlich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts unerläßlich, und zwar so sehr, daß damals das Wort Widmung völlig gleichbedeutend war mit Widmungsepistel.« 24
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rung.« (Genette 1989: 214) Titel und Programm des zweibändigen Werkes lassen sich somit bereits in der typographischen Setzung der Widmung ablesen. Mehr noch: im Rahmen der Widmung werden eine Sprecherposition und ein Sprachstil etabliert, welche meines Erachtens ebenso folgenreich für Nordaus Modell von Literatur und -kritik, wie aussagekräftig für sein zugrunde liegendes Sprachverständnis sind. Diesen paratextuellen Spuren möchte ich ein Stück weit folgen. Die Form, der sich Nordau bedient, und die zwischen Widmung, Widmungsepistel und den typischen Formen und Funktionen eines Vorwortes anzusiedeln ist, entfaltet ein Geflecht von Adressierungen (vgl. Wilpert 2001: 154; Genette 1989: 116). Sowohl in der ›klassischen‹ Widmung als auch in jenem Passus, der mit »Statt eines Vorwortes« gekennzeichnet ist, wird vordergründig Cesare Lombroso angesprochen. Wir wohnen, so scheint es, einem postalisch geführtem Gespräch bei, dessen Einseitigkeit einerseits natürlich der Briefform als solcher geschuldet ist, andererseits die Position des Lesers antizipiert, der diesem Zwiegespräch nur stumm beiwohnen kann.3 Die Tatsache, dass der Adressat konstitutiv abwesend ist, ermöglicht es dem Leser von Entartung, sich mit der Position des Adressaten zu identifizieren. Gérard Genette hat die Funktion von Adressierungen im Kontext von Widmungen wie folgt bestimmt: Das Ziel einer Werkszueignung ist, wer auch immer der offizielle Adressat sein mag, nie eindeutig und peilt immer wenigstens zwei Adressaten an: den Zueignungsadressaten, aber auch den Leser, da es sich um einen öffentlichen Akt handelt, bei dem der Leser sozusagen als Zeuge geladen ist. Die Formulierung ist also […] typisch performativ, da sie als solche ganz allein den Akt konstituiert, den sie angeblich beschreibt; sie lautet folglich nicht bloß: »Ich eigne dieses Buch einem Soundso zu« (das heißt: »Ich sage Soundso, daß ich ihm dieses Buch zueigne«), sondern auch, und manchmal in noch stärkerem Maße: »Ich sage dem Leser, daß ich dieses Buch Soundso zueigne.« Folglich aber auch: »Ich sage Soundso, 3
Siehe hierzu allgemein Genette 1989: 188: »Der Adressat des Vorworts ist der Leser des Textes. […] Dieser letzte Adressat wird jedoch mitunter von einem mittelbaren Adressaten abgelöst, der gewissermaßen als Stellvertreter fungiert. Das gilt offenkundig für die bereits erwähnten Widmungsepisteln mit Vorwortfunktion […]. Zu diesen Adressaten, die kenntlich […] oder anonym sind, kann man die kollektiven oder symbolischen Adressaten hinzufügen […].« 25
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daß ich dem Leser sage, daß ich dieses Buch Soundso zueigne« (anders ausgedrückt: »Ich sage Soundso, daß ich ihm eine öffentliche Zueignung mache«). Damit aber auch genauso: »Ich sage dem Leser, daß ich Soundso sage und so weiter« – und das hat natürlich kein Ende. Die Werkszueignung ist also immer demonstrativ, ostentativ, exhibitionistisch: Sie stellt eine intellektuelle oder private, wirkliche oder symbolische Beziehung zur Schau, und diese Zurschaustellung steht als Argument für einen höheren Wert oder als Motiv für Kommentare immer im Dienst des Werkes […]. (Genette 1989: 131f)
Nordaus ostentative Widmung an Cesare Lombroso stellt eine intellektuelle Beziehung zu Lombroso her, in der sich die Ebenen von wirklicher und symbolischer Verbindung ineinander verschlingen. Auf der Ebene der Wirklichkeit von Archiven existiert ein Briefwechsel zwischen Cesare Lombroso und Max Nordau. Im Central Zionist Archive, Jerusalem, findet sich auch ein Schreiben Lombrosos, in dem er die »dedicace« akzeptiert (»C´est avec plaisir, avec orgeuil que j’accepte la [unleserlich] dedicace de votre ouvrage […]«4). In seinen Briefen an Nordau tituliert Lombroso diesen unter anderem einmal als »M.«5, andere Male als »Chère Maitre«6, als »Illustre collega«7 oder schlicht als »Mon. le Dr Max Nordau«8. Das Spektrum der Titulierungen liefert einen Hinweis auf die mehr oder minder formelle Höflichkeit, mit der man einen Fachkollegen anspricht bis hin zu anscheinend intimen Adressierungen wie jener in der Lombroso im Jahr 1893 an »Chère Max«9 schreibt. Dieser wirkliche, im Sinne der Archive reale Briefkontakt zwischen Nordau und Lombroso10 sollte jedoch nicht die komplexe
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Lombroso an Nordau, Brief vom August 1892, File A119/120, Nr. 14, Central Zionist Archive, Jerusalem. Lombroso an Nordau, Brief vom August 1892, File A119/120, Nr. 14, Central Zionist Archive, Jerusalem. Lombroso an Nordau, File A119/120, Nr. 17, Central Zionist Archive, Jerusalem. Lombroso an Nordau, Brief vermutlich aus dem Jahre 1891, File A119/120, Nr. 13, Central Zionist Archive, Jerusalem. Lombroso an Nordau, Brief vom 16.11.1895, File A119/73, Nr. 40 und 41, Central Zionist Archive, Jerusalem. Lombroso an Nordau, Brief aus dem Jahre 1893, File A119/120, Nr. 15, Central Zionist Archive, Jerusalem. Siehe hierzu auch den File A119/73 im Central Zionist Archive, Jerusalem, Israel. 26
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symbolische Beziehung, die Nordau durch seine Widmung an Lombroso inszeniert, verdecken. In der Widmungsepistel etabliert Nordau ein besonderes Verhältnis zu Lombroso. Nordau, der Leser von Lombrosos Werken, tritt mit der Quelle dieser Werke in »direkten« Kontakt, adressiert ihn »persönlich«. Eine Vor-Szene wird somit etabliert: der Autor Lombroso und sein (idealer) Leser Nordau verständigen sich über Entartung. Dabei wird schnell deutlich, dass die Zueignung Nordau aus der Rolle des Lesers hinein in die Rolle des Autors versetzt. Nordau produziert sich nicht nur als der ideale Leser, er schreibt sogleich nach der Lektüre ein Buch, welches »ohne Ihre Arbeiten nie hätte geschrieben werden können« (Nordau 1896: VII). Die Lektüre, die ein Schreiben ist, erhebt jedoch sogleich ihre eigenen Ansprüche. Sie ergänzt das Werk Lombrosos an jenen Stellen, an denen dieser blind geblieben ist. Zu Beginn setzt sich Nordau mehr oder minder dezent von jenen Lesern Lombrosos ab, die aufgrund einer »fehlgeleiteten« Einstellung oder mangelnder geistiger Kapazitäten außerstande zu sein scheinen, an Lombrosos wissenschaftlichen Wahrheiten teilzuhaben – Nordau greift an dieser Stelle auf die klassische Aufklärungsmetaphorik des Lichtes zurück, welches jedoch in seiner Adaptation nur wenigen zu leuchten scheint. Diese Abgrenzungsbewegung bezweckt nicht zuletzt auch eine Bestimmung derjenigen Leserschaft, die er selbst mit seinem Text anzusprechen bzw. auszuladen gewillt ist.11 Sein Anspruch: So ist dieses Buch ein Versuch wirklich wissenschaftlicher Kritik, die ein Werk nicht nach den sehr zufälligen, grillenhaften und mit dem Temperament und der Stimmung des einzelnen Lesers wechselnden Emotionen beurtheilt, welche es erweckt, sondern nach den psycho=physiologischen Elementen, aus denen es entstanden ist, und es wagt zugleich eine Lücke ausfüllen zu wollen, die in dem mächtigen Bau Ihres Systems noch besteht (Nordau 1896: VIII),
dient so dazu, sich von jenen journalistischen Kollegen abzusetzen, die ein Produkt nach rein ästhetischen Kriterien beurteilen. Nordau, 11 Dies ist eine übliche Funktion von Vorworten, siehe Genette 1989: 206: »Will man den Leser lenken, so muß man ihn zunächst ausmachen und bestimmen. Es ist nicht immer ratsam, zu große Weiden abzugrasen, und die Autoren haben oft eine genaue Vorstellung von dem Lesertypus, den sie sich wünschen oder zu erreichen verstehen; aber auch von dem, den sie tunlichst vermeiden […].« 27
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der Leser, schreibt eine ›wissenschaftliche Kritik‹, die sich zur wesentlichen Aufgabe macht, denjenigen Teil der Leser auszuschließen, der sich weder den gleichen wissenschaftlichen Grundsätzen verpflichtet fühlt – die öffentliche Widmung an Lombroso markiert ja recht deutlich, dass Nordau als Fachmann für Psychopathologie auftreten und nicht etwa auf die Stellung eines Feuilletonisten ›reduziert‹ werden will – noch willens oder in der Lage ist, seine dem Zufall und individuellen Grillen geschuldete Sicht zugunsten eines streng determinierenden Blicks aufzugeben. In dieser indirekten Weise, er wendet sich ja nicht an den Leser, sondern an Lombroso, macht Nordau kurzerhand die Parameter deutlich, mit Hilfe derer er sein Werk rezipiert sehen will.12 Die Aufgabe der Widmungsepistel ist dementsprechend […] eine gute Lektüre des Textes zu gewährleisten. Diese simple Formel ist komplexer, als sie scheinen mag, da sie sich in zwei Aktionen zerlegen läßt, wobei die erste eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für die zweite bildet, die dadurch keineswegs gesichert wird: 1. eine Lektüre bewirken und 2. bewirken, daß diese Lektüre gut verläuft. (Genette 1989: 191)
Gegen die Bedrohung durch Kontingenz und zur Sicherstellung einer »guten Lektüre« setzt Nordau – ausgerechnet – auf die Psychophysiologie. In seinen Aufschreibesystemen hat Friedrich A. Kittler die Rolle der Psychophysiologie im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert für die Produktion und Rezeption von Schrift herausgestrichen: Sprechen und Hören, Schreiben und Lesen kommen um 1900 als isolierte Funktionen, ohne dahinterstehendes Subjekt oder Denken, auf den Prüfstand. »Zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit hat das Wort Raum genug, um auf die Mithilfe der Gedanken verzichten zu können.« Statt sei12 Genette 1989: 202f: »Also treten seit dem 19. Jahrhundert die Aufwertungsfunktionen […] zugunsten informierender und lektüresteuernder Funktionen in den Hintergrund […]. ›Der Gebrauch des Buches‹, hat Novalis gesagt, ›wird in der Vorrede gegeben.‹ Die Formel ist richtig, aber brutal. Die Steuerung einer Lektüre, das Bestreben, eine gute Lektüre zu bewirken, bedient sich nicht nur direkter Vorschriften. Sie besteht ebenfalls, und vielleicht in erster Linie, darin, den – vorausgesetzten – Leser in den Besitz der Informationen zu bringen, die der Autor für eine gute Lektüre notwendig hält.« 28
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ner Genese, dieses langen Wegs mit dem Ausgangspunkt Natur und dem Ziel Bildung, zählt sein Mechanismus, so wie er unter normalen oder auch pathologischen Bedingungen nun einmal läuft. […] Die große Einheit Bildung, in der Sprechen, Hören, Schreiben, Lesen alle aufeinander und zuletzt auf Sinn hin durchsichtig waren, zerfällt. (Kittler 1995: 268f )
Statt jenem Programm, welches, wie Kittler anhand des Aufkommens des Genres Deutschaufsatz zeigt, um 1800 auf eine Synthesebildung in der Innerlichkeit des bildungsbürgerlichen Subjektes gesetzt hatte, wird seiner Meinung nach unter dem Regime einer ärztlichen Forschung gerade die Willkürlichkeit der Buchstabenfolgen in den Vordergrund geschoben. Statt einem synthetisierenden Subjekt dominiere eine Technik, die zeigte, dass die »Regeln«, mittels derer die Verknüpfungen von Signifikanten hergestellt werden, »zur Gänze auf Zufall und Kombinatorik beruhen« (Kittler 1995: 263). Nordau knüpft paradoxer Weise an diese Forschungsrichtungen an. Mit den Psychophysiologen teilt er das Interesse einer an naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ausgerichteten Kritik des Lesers, der als kontingentes, empirisches Wesen ausgeschlossen werden soll, um die ›allgemeinen Gesetzmäßigkeiten‹ zu analysieren. Doch Nordaus Interesse ist dabei eine normative Beschreibung, die gerade keine Affirmation von Kontingenz ist, sondern die Funktion erhält, Norm und Abweichung verbindlich zu regeln. Nordau versucht einen Spagat zwischen einer radikalisierten medizinisch geprägten Sicht und jenem Deutschaufsatz-Programm, das Garant für die Identität ›deutscher Dichter und Denker‹ sein sollte. Während die zeitgenössische Psychophysiologie aufzeigt, dass es keine bruchlose Verbindung von Buchstabe und Sinn gibt, dass die Sinngebung vielmehr Resultat einer konstruktiven Leistung von Hirnfunktionen ist, die durch Krankheit eben auch ausfallen können, ist es das Ziel des schreibenden Lesers Nordau, im Feld des Ästhetischen die Arbitrarität des Signifikanten mit allen Mitteln zu bekämpfen (vgl. Kapitel 5: Etwas wird sichtbar). Doch Nordaus Lektüre Lombrososcher Werke ist hiermit nicht ausreichend beschrieben. Während Lombroso »eine wahre Flut von Licht« in diverse Wissensfelder – von der »Irrenheilkunde«, dem »Strafrecht[]« zur »Politik und Gesellschaftslehre« – »verbreitet« hat, so sind doch die Bereiche von Kunst und Literatur (zunächst) ausgespart geblieben. Nordaus Programm – »Ich habe es nun unternommen, die Moderichtungen in Kunst und Schriftthum möglichst
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nach Ihrer Methode zu untersuchen und den Nachweis zu führen, daß sie ihren Ursprung in der Entartung ihrer Urheber haben […]« (Nordau 1896: VIII) –, ist die Fortsetzung der Lombrososchen Forschungen auf ästhetischem Terrain. Wie Nordau hervorhebt, ist dies »ein weites und wichtiges Gebiet[, in welches] bisher weder Sie noch Ihre Schüler die Leuchte Ihrer Methode getragen« haben. Dieser Schachzug Nordaus, der im Sinne Gérard Genettes dazu dient, den Text »[…] aufzuwerten, ohne den Leser durch eine allzu unbescheidene oder auch nur offenkundige Aufwertung des Autors zu verstimmen« (Genette 1989: 192), ermöglicht es Nordau zugleich, sich selbst als Schüler Lombrosos darzustellen. Dies ist eine der Bedeutungen, die man der typographischen Setzung der Widmung zuschreiben kann: Cesare Lombroso, der große Meister, auf der einen, der Verfasser, Schüler und Vollender der Meisters, auf der anderen Seite. Während der Meister übergroß dargestellt wird, bekommt der ›Verfasser‹ eine ungleich kleinere Schriftgröße. Wem eignet man zu?13 Die Widmung an Lombroso, »als dessen Schüler Nordau auftrat« (Anonym 1961: 8), hat jedoch noch eine weitere Bedeutungsebene. Lombroso rückt in die Position nicht nur eines Meisters, sondern auch eines wissenschaftlichen Vaters. Dies verdeutlicht die Setzung der Widmung, die wie ein Bruchstück eines Stammbaumes den Vater Lombroso in der zentralen Mitte, den Filius Nordau mit einer durch die dazwischen platzierte Schrift angedeuteten Linie nach rechts unten verbindet. Diese Filiation ist in zweifacher Hinsicht interessant. Zum einen ruft bereits die Adresse »Lombroso, Professor der Irrenheilkunde und gerichtlichen Medizin an der Universität zu Turin«, für den Leser eine Reihe von Assoziationen auf den Plan, die durch den Titel von Nordaus Text in eine klare Richtung drängen: Cesare Lombroso ist im Gefolge von Bénédict Augustin Morel einer der bekanntesten Vertreter jener Degenerationstheorie, die in einer pessimistischen Lesart der Rous13 Genette 1989: 128f: »Wem eignet man zu? Hält man die alte Geflogenheit der bittstellenden Zueignung für obsolet, so bleiben zwei Arten von Adressaten: private und öffentliche. Unter einem privaten Zueignungsadressaten verstehe ich eine Person, öffentlich bekannt oder nicht, der ein Werk im Namen einer persönlichen Beziehung zugeeignet wird; einer freundschaftlichen, familiären oder anderen. […] Der öffentliche Zueignungsadressat ist eine mehr oder weniger bekannte Person, zu der der Autor durch seine Zueignung allerdings eine Beziehung öffentlicher Art zur Schau stellt: eine intellektuelle, künstlerische, politische usw.« 30
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seauschen Zivilisationskritik, die Gefahren einer fortschreitenden Entartung beschworen.14 Morel hatte in seinem 1857 erschienenen Traité des Dégénérescence eine Theorie der Entartung entwickelt, die entgegen älteren Theorien insbesondere das Merkmal einer von Generation zu Generation fortschreitenden Verschlechterung herausgestrich. Volker Roelcke hat in Krankheit und Kulturkritik die Entwicklung der Degenerationstheorie vor allem im Umfeld psychiatrischer Quellen vom 18. bis ins beginnende 20. Jahrhundert untersucht. Während Buffon die »dégénération« als eine natürliche Variation der menschlichen Spezies definiert hatte, welche von einem ursprünglichen Typus der Menschheit abstammen sollte (etwa die verschiedenen Spielarten menschlicher Rassen), übertrug Morel den Entartungsbegriff nun auf pathologische Phänomene und gab dem Begriff damit eine negative Konnotation. Obligates Charakteristikum der Degeneration war – nach Morel – die Progression: Danach verschlechterte sich der physische und psychische Zustand der betroffenen Individuen von Generation zu Generation bis hin zur Sterilität. (Roelcke 1999: 85)
Dieses Modell erlangte eine umfassende Popularität, ermöglichte es doch eine Beschreibung pathologischer Phänomene auf Grundlage erbbiologischer Prämissen. Griesinger wie auch Krafft-Ebbing, Möbius und andere Psychiater des ausgehenden 19. Jahrhunderts machten vom Degenerationskonzept weitgehenden Gebrauch, wandten es aber auf individuelle Erkrankungen an (vgl. Roelcke 1999: 88-100). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts jedoch wandelte sich der Degenerationsbegriff. Volker Roelcke spricht in diesem Zusammenhang von einer zweiten Rezeptionsphase. Diese zweite Phase ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass ein vormals latenter Bedeutungsinhalt von ›Degeneration‹ nun eine Generalisierung und Ausweitung erfährt, die den Begriff auf Kollektive anwendbar macht. Roelcke argumentiert, dass diese Wandlung des Entartungsbegriffes nicht zuletzt durch die explizite Selbstbeschreibung als ›degeneriert‹ innerhalb ästhetischer Diskurse der Avantgardebewegung der Moderne (beginnend bei Charles Baudelaire) entstanden sei. Der neue, 14 Siehe zum Topos der Zivilisationskrankheiten in der modernen Medizin Roelcke 1999 und zur Degenerationstheorie besonders: Weingart/Kroll/Bayertz 1988. Speziell zu Nordau siehe auch Mattenklott 1996: 161-173. 31
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auf Kollektive bezogene Begriff korrespondiert mit den sich etablierenden biologistischen Deutungsmustern vor allem auch in der psychiatrischen Klinik. Gerade das allseits beklagte Phänomen der modernen Nervosität, das unter dem Stichwort Neurasthenie breit diskutiert wird, trägt seinen Teil dazu bei, das ältere Modell der Zivilisationskrankheiten mit jenem der Entartung sowie einer allgemeinen Kulturkritik zu verbinden.15 Cesare Lombroso hatte in seinem Buch L’uomo delinquente sowie in dem späteren, äußerst populären Werk Genie und Irrsinn, das 1894 auf Deutsch erschien, die Anwendung der Degenerationstheorie auf Bevölkerungsgruppen vorexerziert. Im Kontext stark biologistischer Deutungen entwickelte sich zudem eine Verbindung mit Rassenanthropologie und -hygiene, die wie Weingart, Kroll und Bayertz gezeigt haben, maßgeblich für die Etablierung eines rassenhygienischen Diskurses war, der sich bis in das Dritte Reich immer weiter verschärfen sollte.16 Wie bereits angemerkt schreibt sich Max Nordau in diesen Degenerationsbegriff ein und gestaltet ihn derart aus, dass er nunmehr auf das gesamte Feld ästhetischer Produktion angewandt wird. Auch Künstler und Literaten seien »Mitglieder der nämlichen anthropologischen Familie« von Entarteten, wie jene sozialen Randgruppen, die Lombroso im Sinn hatte. Die absteigende Linie der Widmung zeigt es an: die Degenerationsfolge ist keine optimistische Sicht auf Geschichtsläufe. Doch in Nordaus Rezeption der Morelschen Degenerationstheorie wird ein Aspekt herausgestrichen, der im Laufe des 20. Jahrhunderts in den Hintergrund rücken sollte: Zwar stellt die Erbfolge der Degenerierten eine sukzessive Verschlechterung des Allgemeinzustandes dar, wer sich am unteren Ende der Stammbäume einträgt, ist stärker degeneriert als derjenige, von dem er abstammt, doch Morel hatte als finalen Zustand des Degenerationsprozesses die Sterilität der Betroffenen angenommen. Mit anderen Worten: eine degenerierte Gruppe ist zum Aussterben verurteilt, nur die »besser« ausgestatteten Individuen können sich vermehren und sind – ganz im Sinne des Sozialdarwinismus – längerfristig überlebensfähig.17 15 Zu Nordaus Rolle in der allgemeinen Nervositätsdebatte und Zivilisationskritik siehe: Höfler 1996. 16 Siehe hierzu vor allem die einleitenden Kapitel in Weingart/Kroll/ Bayertz 1988. Zum Kontext von Neurastheniedebatte und Judentum siehe auch meinen Beitrag: Kaiser 2003b. 17 Dagegen zu undifferenziert der Kommentar von Robert S. Wistrich: »His anti-modernist critique of this culture was pan-European in its 32
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Wenn sich »der Verfasser« von Entartung also am unteren Ende der absteigenden Linie einträgt, signalisiert diese Filiation zugleich die Logik des Degenerationsdiskurses selbst. Vorher und Nachher, Prätext und Text sind denkbar nur als Filiationsfolge. Ein genealogisches Muster ist strukturbildend für die Stellung des Kommentars. Cesare Lombroso, mit dessen Namen die Degenerationstheorie wie auch ein früher Versuch, dieses Konzept auf Kollektivkörper zu übertragen, verbunden ist, und sein Filius Nordau stehen in diesem Sinne in einem überdeterminierten Verhältnis zueinander. Nordaus einleitende Geste der Bescheidenheit, in welcher er sich gegenüber Lombroso als jemand darstellt, der lediglich bestrebt sei, dessen Werk zu ergänzen und fortzuführen, wird bereits wenig später von seinen eigenen Ausführungen konterkariert. Nordau wirft sich nun in eine überaus heroische Pose, seine ›Größe‹ leitet sich aus der Macht derjenigen Feinde ab, die er sich mutmaßlich durch die Veröffentlichung von Entartung schaffen wird. Weder Kirche noch Staat seien so Furcht erregende Gegner wie Schriftsteller, Presse und ›das Publikum‹, mit denen er es nun aufnähme. Doch die Verkündung seiner (und Lombrosos) Wahrheit stellt geradezu einen Zwang dar, öffentlich jene falschen Apostel anzuprangern und die ›wahre wissenschaftliche Lehre‹ der Menschheit zu offenbaren. Ja, Nordau geht hier so weit, das Bild eines Geschlechtswechsels zu entwerfen, wenn er, quasi schwanger von Lombrosos System, sich der naturgesetzlichen Notwendigkeit ihrer Verkündigung unterwirft. Virilität und Feminität kommen somit in seiner Metaphorik zusammen: Doch die Gefahr, der er sich aussetzt, kann einen Mann nicht abhalten, das zu thun, was er als seine Pflicht erkannt hat. Wenn man eine wissenschaftliche Wahrheit gefunden hat, schuldet man sie der Menschheit und darf sie ihr nicht vorenthalten. Aber man kann es nicht einmal, ebensowenig wie das Weib sich willkürlich enthalten kann, die gereifte Frucht seines Leibes zu gebären. (Nordau 1896: VIII)
Nordau wusste, wovon er sprach: Zunächst in Pest, dann in Paris hielt der mit einer Arbeit über De la castration de la femme bei Charcot promovierte Nordau eine kleine gynäkologische Praxis, die scope and intensely pessimistic in its diagnosis of the morbid symptoms of ›degeneration‹ that he detected even in its most creative artists and thinkers.« (Wistrich 1995: 1). 33
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neben seinen Schriften eine wichtige Einnahmequelle war (vgl. Schulte 1997: 89 und 109). In kondensierter Form präsentiert Nordau hier einen Impuls, der aus Sicht einer feministischen Literaturwissenschaft höchst aufschlussreich zu sein scheint. In das patriarchale Modell des LehrerSchüler- und Vater-Sohn-Verhältnisses wird ein weibliches Prinzip dergestalt eingetragen, das die Weiblichkeit nicht nur marginalisiert, sondern diese vielmehr mit der männlichen Position verschmelzen lässt. Nordau ist Mann und Frau zugleich. Und diese Identität wird auf der einen Seite als heroische Pose desjenigen, der die Wahrheit verkünden muss, und auf der anderen Seite als Akt der Geburt behauptet. Diese Stelle, die prominent in der Vorrede platziert ist, weist eine deutliche Parallele zu der Filiationsstruktur in Freuds Mann Moses und der Monotheismus auf. Jonathan Culler hat mit Blick auf Freuds Text die Eckpfeiler einer Literaturkritik innerhalb einer »patriarchalischen Gesellschaft« rekapituliert: (1) Die Rolle des Autors würde als eine väterliche aufgefaßt, und jede mütterliche Funktion, die man für wertvoll hielte, würde der Vaterschaft assimiliert; (2) man würde viel in väterliche Autoren investieren, denen ihre gesamte textuelle Nachkommenschaft als Verdienst angerechnet würde; (3) es gäbe ein großes Interesse daran, welche Bedeutungen als legitime und welche als illegitime anzusehen wären (da ja die väterliche Rolle des Autors bei der Zeugung von Bedeutungen nur erschlossen werden könnte); schließlich würde die Kritik alles unternehmen, um Prinzipien zu entwickeln, mit denen man einerseits feststellen könnte, welche Bedeutungen wirklich die eigene Nachkommenschaft des Autors wären, und mit denen man andererseits den Verkehr mit anderen Texten kontrollieren könnte, um so das Wuchern illegitimer Interpretationen zu verhindern. Viele Aspekte der Kritik wie die Bevorzugung der Metapher gegenüber der Metonymie, der Begriff des Autors und das Interesse, legitime von illegitimen Bedeutungen zu unterscheiden, können als Bestandteil der Erhöhung des Vaters angesehen werden. Im Phallogozentrismus verbindet sich das Interesse an der patriarchalen Autorität mit dem Interesse an der Einheit des Sinns und der Gewißheit des Ursprungs. (Culler 1999: 65f)
In der Art und Weise, wie Nordau sein Schreiben als Akt der Filiation in Szene setzt, steckt dementsprechend eine bestimmte Ökonomie von Bedeutung. Indem er die weibliche Funktion des Gebärens metaphorisch usurpiert – es ist ihm unmöglich die »Frucht sei34
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nes Leibes« zurückzuhalten –, nimmt er eine Position ein, die es ihm zu ermöglichen scheint, sich des Ursprungs seines Sprechens zu vergewissern. Entartung wird somit nicht nur als (einzig) legitimer Nachfolger von Lombrosos Schriften eingeführt. Nordau selbst rückt in die Position, über den Status legitimer und illegitimer Nachkommenschaft zu urteilen. Die postartige »Erhöhung des Vaters« dient somit einer phallogozentrischen Bedeutungsökonomie, die dem Sprechen Nordaus eine gewichtige Rolle zuweist. Diese Ökonomie, die sich, wie Culler anführt, in dem Bestreben nach Limitierung von Bedeutung, der Möglichkeit ihrer Kontrolle und der Unterscheidung von legitimen und illegitimen Bedeutungen sowie dem Interesse, sich des Ursprungs und der Einheit des Sinns zu vergewissern, ausdrückt, ist zentral für Nordaus Schreiben. Dabei scheint mir jedoch weniger die offen anti-emanzipatorische, restaurative Sicht Nordaus auf die zeitgenössischen Versuche, Weiblichkeit neu zu definieren, aufschlussreich zu sein.18 Es wird im Folgenden viel mehr darum gehen, die Ökonomie und das Begehren, welches Nordaus Schreiben strukturiert, näher zu beleuchten. Betrachtet man die Widmungsepistel, so wird deutlich, dass für diese Ökonomie mit der Unterscheidung von legitimen und illegitimen Bedeutungen gleichermaßen eine stabile Freund-FeindUnterscheidung wesentlich ist. Ihr Verhältnis wird strikt antagonistisch aufgefasst. Nordau wirft sich zum Anwalt der alten Ordnung und damit der kulturellen Errungenschaften auf, die er von ihren ›entarteten‹ Störfaktoren befreien will. Es geht um die Aufrechterhaltung der ›gesitteten Welt‹, die mit allen Mitteln verteidigt werden muss. Nordau will die Welt warnen vor jenen einflussreichen Erscheinungen, die eine »mächtige Suggestion auf die Massen« ausüben und die Vorstellungen über »Sittlichkeit und Schönheit« einer Epoche prägen. »Wenn sie nun unsinnig und gesellschaftsfeindlich sind, so wirken sie verwirrend und verderbend auf die Anschauungen eines ganzen Geschlechts. Dieses, namentlich die […] Jugend, muß deshalb gewarnt und über die wirkliche Natur der blind bewunderten Schöpfungen aufgeklärt werden.« Sind die wahren Volksfeinde einmal ausgemacht, so gibt es für einen Mann der Ehre kein Zurück: »Doch die Gefahr, der er sich aussetzt, kann einen 18 Siehe hierzu zum Beispiel Nordaus Auseinandersetzung mit Ibsens Stücken, anhand derer Nordau exemplarisch alle Konzepte, ›die Frau‹ von ihrer Funktion als Ehegattin und Mutter zu lösen, abstraft (Nordau 1893: 153-271). 35
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Mann nicht abhalten, das zu thun, was er als seine Pflicht erkannt hat. Wenn man eine wissenschaftliche Wahrheit gefunden hat, schuldet man sie der Menschheit und darf sie ihr nicht vorenthalten.« Nordaus Geste ist eine Geste der Selbstermächtigung. Im Dienste der Wissenschaft, im Dienste einer medizinischen Semiotik macht er sich daran, die falschen Propheten zu brandmarken. Ein wahrer gegen eine Überzahl falscher Propheten. Ein einsamer Wolf, dessen Vorbild die großen Heroen der Wissenschaft sind, die im tödlichen Selbstversuch alles wagen, alles in die Wagschale werfen. Ein höheres Ideal als die Vermehrung der Erkenntniß kann es überhaupt nicht geben. Welche Heiligensage ist so schön wie das Leben eines Forschers, der sein Dasein über ein Mikroskop gebeugt zubringt, fast ohne leibliche Bedürfnisse, von Wenigen gekannt und geehrt, blos für sein eigenes Gewissen arbeitend, ohne einen andern Ehrgeiz als den, vielleicht eine einzige, kleine neue Thatsache sicherzustellen, die ein glücklicherer Nachfolger zu einer glänzenden Synthese benützen, als Baustein in ein Denkmal der Natur-Erkenntniß einfügen wird? Welches Glaubensmärchen hat erhabenere Blutzeugen zu Todesverachtung begeistert als ein Gehlen, der bei der Bereitung des von ihm entdeckten Arsenwasserstoffs vergiftet hinsinkt, einen Croce-Spinelli, den im allzuraschen Aufstieg seines Luftballons der Tod beim Beobachten des Luftdrucks ereilt, von einem Ehrenberg, der über seiner Lebensarbeit erblindet, einem Hyrtl, dem seine anatomischen Corrosiv-Präparate das Augenlicht fast ganz zerstören, von den Aerzten, die sich tödtliche Krankheiten einimpfen, von der fast unübersehbaren Schaar der Entdeckungsreisenden nach dem Nordpol und dem Innern dunkler Erdtheile nicht zu sprechen? (Nordau 1896: 198f)
Der Wissenschaftler als neuer Heiliger, Wissenschaftsgeschichte als Hagiographie, das ist es, was Nordau vorschwebt und nicht weniger. Keine Heiligensage, kein Glaubensmärchen vermag gegen die heroischen Geschichten zu bestehen, die sich um Präparate und Injektionen, Ballonfahrten und Entdeckungsreisen ranken. Ein Diskurs wird etabliert, der keinen Raum lässt für Kompromisse. Allein, wie Ibsens Badearzt Stockmann gegen »die kompakte Majorität« (Ibsen 1986: 92) von »Hundertausenden« Bazillen (Ibsen 1986: 26) auf der einen und einer korrupten Öffentlichkeit auf der anderen Seite, setzt sich die Erkenntnis durch, dass »der stärkste Mann hier auf dieser Welt« derjenige sei, »der ganz für sich allein steht« (Ibsen 1986: 36
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112). Im Widerspruch zu Nordaus Ibsen-Kritik schreibt er die heroische Pose des Volksfeindes fort.19 Denn wahre Propheten stellen sich in den Dienst der Gemeinschaft, sie arbeiten im Kleinen und Bescheidenen an jenen »Thatsache[n] […], die ein glücklicherer Nachfolger zu einer glänzenden Synthese benützen, als Baustein in ein Denkmal der Natur-Erkenntniß einfügen wird«. Wie Stockmann sind sie die wahren Hüter des Gemeinwohles, das sie – ganz allein ihrem Gewissen verpflichtet – besser beurteilen können als jeder andere. In diesen Lobgesang auf ein Heldentum im stillen und abgelegenen Labor mischt sich die Erwartung, dass die bedingungslose Verpflichtung auf das wissenschaftliche Gewissen ein Reinheitsgebot sei, dass ein Sprechen im Dienste der Wahrheit und des wissenschaftlichen Fortschritts frei sei von partikularen Interessen. Ein reines Sprechen der Wahrheit, die sozusagen durch den Wissenschaftler hindurch spricht, ihn transzendiert, ihn zum reinen Sprechkörper macht, durch dessen Linse sich das Licht der Wahrheit einen Weg zur Menschheit bahnt. Doch Wahrheit spricht nicht überall. Nordaus Plädoyer gilt einem großen Hygieneprojekt im Reich von Kultur, von Ästhetik. Denn der »phrasendreschende Schöngeist« ist seiner Meinung nach nicht in der Lage, eine objektive Einschätzung der Produkte zu geben, die »die Ausgeburten eines zerrütteten Gehirns sind«, noch zu erkennen, »welcher Art die Geistesstörung ist, die sich in ihnen ausdrückt.« Ästhetische Bildung wird somit als unzureichend abgetan. Oder anders ausgedrückt: »Der medizinischwissenschaftliche Blick enthebt sich der Mühe ästhetischen Argumentierens und konstituiert das von seinen Normvorstellungen Abweichende als pathologischen Fall.« (Anz 1989: 35) Ästhetiker sind nicht entscheidungsfähig, sie haben keine Kriterien um über Werke und ihre Schöpfer letzte Urteile zu fällen. Wie schon in Kierke19 Im zweiten Band von Entartung widmet Nordau Henrik Ibsens Dramen ein eigenes Kapitel, in dem er den Nachweis führen will, dass Ibsen nicht nur in seiner künstlerischen Arbeit überschätzt wird, sondern vielmehr als ich-süchtiger Entarteter betrachtet werden muss (Nordau 1893: 153-271). Nordau hält Ibsens Volksfeind einerseits eine zu freie Umgangsweise mit medizinischen Sachverhalten vor (vgl. Nordau 1893: 176), andererseits wird jedoch gerade die Pose des vereinzelten Heroen vehement kritisiert: Stockmann wird als asoziale und blind anarchistische Figur beschrieben, die Frontstellung gegenüber der »kompakten Majorität« als egozentrische Überhebung des Ichs kritisiert, die »das Recht des Ichs gegenüber der Mehrheit, gegenüber der Gattung« behauptet (Nordau 1893: 205; 246f). 37
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gaards Briefen zwischen dem Ästhetiker A und dem Ethiker B zeigt sich das ästhetische als das unterlegene Verhalten (Kierkegaard 2003). Doch die Widmung und die in ihr angelegte Genealogie hat noch eine weitere Bedeutungsebene. Lombroso, der wissenschaftliche und intellektuelle Vorreiter jenes Entartungskonzeptes, das Nordau mit seinem Werk fortschreiben will, erhält qua Widmung die Funktion eines idealen Vaters. Nordau stellt sich als Schüler Lombrosos und seinen geistigen Sohn dar. Dementsprechend wird Lombroso zu einem Substitut des ›realen‹ Vaters. In seiner Selbstbiographie schreibt Nordau: Ich bin in Pest – damals gab es noch kein Buda-Pest – am 29. Juli 1849 mitten in dem Durcheinander des in den letzten Zügen liegenden ungarischen Freiheitskampfes geboren. […] Meine Mutter, die ich am 2. Januar 1900 in ihrem 88. Lebensjahre verlor und die auf dem Friedhof Montparnasse begraben liegt, war eine geborene Nelkin aus Riga. Mein Vater, More Morenu Haraw Rabbi Gabriel Ben Oser Ben Simcha Ben Moshe Ben Josef Südfeld – den Namen Nordau führe ich gesetzlich seit dem 11. April 1874 – ist 1799 in Krotoschin, im Großherzogtum Posen, geboren und 1872 in Budapest gestorben. Mein Vater war Rabbiner […], er übte aber sein Rabbineramt nicht aus. Vielleicht hatte er sich vorgesetzt, seinen Lebensunterhalt als Lehrer zu verdienen. […] Mein Vater war ein streng religiöser Jude und von seinem hebräischen und talmudischen Wissen legen seine Bücher in hebräischer Sprache, Prosa und Verse, Zeugnis ab. Er selbst gab mir den ersten hebräischen Unterricht, und ich war noch nicht neun Jahre alt, als er mit mir den Pentateuch zum erstenmal durchgenommen hatte. Zu Hause nannte man mich Simcha und den Vornamen Max wendete man nur in Gegenwart von Fremden an.20
Nach dem Tod des Vaters, im Januar 1873, schreibt der unter dem amtlichen Namen »Simon Max Südfeld« eingetragene an ›das hohe königlich ungarische Ministerium des Innern‹: Hohes Ministerium! Der ergebenst Gefertigte erlaubt sich unter Beilegung seines Geburtszeugnisses die Bitte, das hohe k. ung. Ministerium des Innern wolle ge-
20 Nordau 1909: 484f. Zitiert nach Schulte 1997: 21f. Siehe auch: Nordau 1928. 38
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statten, daß er seinen Familiennamen ›Südfeld‹ in ›Nordau‹ gesetzlich umändern dürfe. Des hohen Ministeriums ergebenster Diener Simon Max Südfeld Pester Einwohner Pest, 7. Januar 1873 (Schulte 1997: 31; vgl. Söder 1990)
Wie Christoph Schulte im Rahmen seiner Nordau-Biographie und Werkübersicht näher untersucht hat, unterzeichnet Max Nordau bereits im Alter von siebzehn Jahren mit den Initialen M.N. Auch in Briefen an seine Familie signiert er auf diese Weise – mit zwei Ausnahmen: seine Schwester Lotti und sein Vater erhalten Briefe, die mit »Dein Simi« unterschrieben werden (Schulte 1997: 30). Ebenso veröffentlicht Simcha Südfeld bereits seine ersten Artikel für den Pester Loyd mit dem Namen Max Nordau, Jahre bevor er die Namensänderung gesetzlich beantragt hatte und diese bewilligt worden war. Schulte erklärt die Eindeutschung von »Süd-Feld« in »Nord-Au« aus den sozialhistorischen Bedingungen des Pester Judentums, das einen bestimmten »Sozialtypus« darstelle. Dieser Sozialtypus sei vor allem durch eine besondere sozio-kulturelle Situation im Pest um 1850 geprägt, eine Mischung aus »bäuerlichen und neu-proletarischen« Magyaren sowie einer magyarischen, adligen und katholischen Oberschicht und dem überwiegend deutschen Bürgertum, das meist protestantisch geprägt war. Das gebildete Bürgertum und die Mehrzahl der Akademiker setzte sich überwiegend aus Juden und Deutschen zusammen. Die dominierende Sprache in diesem Feld war Deutsch. »Die Deutschen haben das Monopol bei den Buchläden, die Amts-, Literatur- und Schriftsprache ist ebenfalls Deutsch.« Das Pester Judentum stellte einen Großteil »der Rechtsanwälte, Ärzte und Journalisten« – zu denen auch Max Nordau gehörte, der bereits 1867 für den deutschsprachigen Pester Loyd arbeitete (Schulte 1997: 34f). Der Akt des Namenswechsels wird vor diesem Hintergrund nicht nur von Gert Mattenklott als »kulturpolitische[r]« (Mattenklott 1994: 21), sondern auch von Schulte als »politischer und weltanschaulicher Akt« gedeutet. Der germanisierte Name stellt – gerade in einer Zeit, in der die meisten Juden, die eine Namensänderung vornehmen, sich am ungarischen Nationalismus orientieren und somit auch einen ungarischen Namen annehmen – eine zweifache, klare Abgrenzung dar: gegenüber dem Judentum und dem Magya-
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rentum. »Mit diesem Namen schlägt er sich auf die Seite des soziokulturellen und politischen Feindes. […] ›Max Nordau‹ ist dort [in Pest] eine Kampfansage.« (Schulte 1997: 37) Betrachtet man nun Widmung und Widmungsepistel zu Entartung, so fällt auf, dass Nordau seinen Brief zunächst mit »Verfasser« und sodann mit »Max Nordau« signiert. Diese konventionelle Geste, ein Brief wird mit dem Namen des Absenders unterzeichnet, ist in diesem Sinne und mit Blick auf den folgenden Text ein hochkomplexer Akt. Wie eingangs ausgeführt, stellt eine Widmung einen performativen Akt dar. »Hiermit widme ich … mein Buch« ist selbst der Akt der Widmung. Durch die Signatur bekommt dieser Akt einen (scheinbar) klar identifizierbaren Absender. Die Funktion der Unterschrift ist in Hinblick auf Max Nordaus Kritik der ästhetischen Moderne von weit reichendem Interesse: Wie bereits gesehen ist es Nordaus erklärtes Ziel, die Grenzen von Bedeutung klar abzustecken. In diesem Zusammenhang steht eines seiner zentralen Anliegen: Er identifiziert den Produzenten eines Textes oder Kunstwerkes mit seinem Produkt. Letzteres wird als unmittelbarer Ausdruck der psycho-physischen Struktur seines »Urhebers« angesehen. Nordau verfolgt so ein auf die Spitze getriebenes Konzept von Determination und Intentionalität. Die Signatur erscheint dabei als dasjenige Moment, das die Autorschaft, und mit dieser verbunden, die Einheit stiftende Kraft der Intention des Autors verbürgt.21 Nun ist die Signatur auch im Kontext von Austins Theorie der Performativität von Sprechakten als derjenige Akt diskutiert worden, der für die Intentionalität des Sprechers einsteht (Austin 1994). Die Unterschrift war Ausgangspunkt einer Kontroverse, in deren Verlauf Jacques Derrida und John Searle ihre unterschiedlichen Positionen deutlich gemacht haben. Während Searle die These vertrat, dass insbesondere der Akt der Unterschrift ein Indiz dafür sei, dass die Intention des Sprechers ein konstitutiver Aspekt von Sprechakten ist, argumentierte Derrida, dass (auch und gerade) eine Unterschrift nur dadurch als Akt der Unterschrift funktionieren könne, dass die Unterschrift selbst ein wiederholbarer und somit konventi21 Ich möchte an dieser Stelle nicht näher auf die umfangreiche Literatur, die in den letzten Jahrzehnten zum Problem der Autorschaft entstanden ist, eingehen. Insbesondere Roland Barthes und Michel Foucault haben die Diskussion um den »Tod des Autors« initiiert, die im Zuge der poststrukturalistischen und dekonstruktiven Arbeiten zu einer umfassenden Kritik von Funktion und Genese des Autorkonzeptes geführt hat. 40
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oneller Akt sei. Indem Searle auf der Bedeutung einer den Sprechakt begleitenden Intention aufbaut (wenn er zum Beispiel für den Akt des Versprechens die Intention des Sprechers, das Versprechen auch zu halten, und somit eine Aufrichtigkeitsmaxime auf Seiten des Sprechers als notwendige Voraussetzung für das Gelingen des Sprechaktes ansieht), erhalten der Moment des Sprechens und die psychische Disposition des Sprechers eine relativ hohe Bedeutung zugesprochen. (Derrida 1986; Searle 1994: 88-113) Dagegen akzentuiert Derrida in seiner Lektüre von Austins Sprechakttheorie den Punkt, dass das wesentliche Merkmal von Sprechakten nicht die Intention des Sprechers und der Moment ihres Entstehens, sondern ihre Konventionalität und Wiederholbarkeit (Iterabilität) sei. Dabei wird die Iterabilität zugleich zum Ausgangspunkt für Derridas Konzept der différance: In der konstitutiven Wiederholbarkeit des Sprechaktes steckt das Potential für die Verschiebung von Bedeutungen, für einen unendlichen Prozess der Differenzierungen. Was heißt das nun für den Akt der Unterschrift? Was für die Widmungsepistel von Entartung? Kurz, was ist eine Unterschrift? Austins Ausführungen zeigen, daß in der bisherigen Denktradition die Unterschrift attestieren soll, zu einem ganz bestimmten Zeitpunkt sei dem Bewußtsein eine Bedeutungsintention präsent. Ganz gleich, was ich davor oder danach dachte, es gab einen Augenblick, in dem ich eine intendierte Bedeutung voll und ganz intendierte. Der Begriff der Unterschrift scheint so einen Moment des DemBewußtsein-präsent-Seins zu implizieren, der zum Ursprung von daraus folgenden Verpflichtungen und anderer Wirkungen wird. (Culler 1999: 139f)
Stellt man eine Unterschrift aus, so könnte man bilanzieren, suggeriert dieser Akt, es gäbe einen Punkt, an dem eine Präsenz erscheint, die als Ausgangspunkt, als Ursprung der Bedeutungsstiftung anzusehen sei.22 22 Diese Form ist, wie man mit Christian Metz im Anschluss an Emile Benveniste sagen kann, eine »prototypische[] Form« für den Diskurs von Ich und Du: »In einer Konversation gewinnt man den Eindruck, daß man die Quelle und das Ziel der Kommunikation sehen oder sogar berühren kann, wenngleich sie sich in Wirklichkeit diesem Kontakt entziehen, da beide lediglich in Form von grammatikalischen Pronomina bestehen.« (Metz 1997: 4) Mit anderen Worten: Nordau inszeniert zu Beginn seines Textes die Begegnung zwischen einem 41
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Wenn Nordau seinem Text statt einer Vorrede eine Widmungsepistel voranstellt, suggeriert die postalische Anrede nicht nur, dass es einen klaren Adressaten – Lombroso – im Gegensatz zu einem allgemeinen, nicht weiter differenzierten Leser gäbe. Die ›Unterzeichnung‹ des Briefes mit »Max Nordau« suggeriert zudem einen klaren Absender, der als Ursprung der folgenden Schrift zu identifizieren wäre. Doch im Falle Nordaus ist die Situation verwickelter. Das, womit man unterzeichnet, ist – in der Regel – der eigene Name. Dabei ist der Name eine Bezeichnung, die man von anderen erhält. Für den Eigennamen gilt: Man wird soundso genannt, gerufen. Wie oben angeführt ist der Vorname Max derjenige Name, mit dem Nordau in jungen Jahren »nur in Gegenwart von Fremden« (Schulte 1997: 21f) angesprochen wurde. Im Familienkreis hieß er Simcha. Der Nachname »Nordau« ist bereits vor dem amtlichen Namenswechsel der Name, mit dem Nordau seine Texte unterzeichnet. Als Autor ist Nordau also schon bei seinen ersten Publikationen »Nordau«. Bis zum Tode seines Vaters trägt er jedoch den Familiennamen Südfeld, welcher dann vollständig abgelegt wird. Der ›Künstlername‹, den man sich in der Regel selbst wählt, also der Autorname »Nordau« wird zum Familiennamen. Wie lässt sich dieser Vorgang näher beschreiben? Im Anschluss an Louis Althusser23 und Jacques Lacan24 hat Judith Butler das Problem des Namens mit der Frage nach der AnruIch, welches sich dezent als der »Verfasser« zu erkennen gibt, und einem Du, welches zugleich als Über-Vater-Figur angeführt wird. Zugleich wird ein Raum der Lektüre eröffnet, der diese als Akt der Kommunikation konstituiert. 23 »Wir behaupten außerdem, daß die Ideologie in einer Weise ›handelt‹ oder ›funktioniert‹, daß sie durch einen ganz bestimmten Vorgang, den wir Anrufung (interpellation) nennen, aus der Masse der Individuen Subjekte ›rekrutiert‹ (sie rekrutiert sie alle) oder diese Individuen in Subjekte ›tranformiert‹ (sie transfomiert sie alle). Man kann sich diese Anrufung nach dem Muster der einfachen und alltäglichen Anrufung durch einen Polizisten vorstellen: ›He, Sie da!‹ Wenn wir einmal annehmen, daß die vorgestellte theoretische Szene sich auf der Straße abspielt, so wendet sich das angerufene Individuum um. Durch diese einfache physische Wendung um 180 Grad wird es zum Subjekt. Warum? Weil es damit anerkennt, daß der Anruf ›genau‹ ihm galt und daß es ›gerade es war, das angerufen wurde‹ (und niemand anderes). Dies ist jedenfalls ein merkwürdiges Phänomen, das nicht allein durch ein ›Schuldgefühl‹ erklärt werden kann, 42
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fung und dem performativen Status der Anrufung diskutiert. In ihrem Buch Haß spricht. Zur Politik des Performativen verbindet sie die Problematik der Namensgebung mit der Frage, wie diskriminierende Sprechakte funktionieren. Althusser hatte die Funktionsweise der Anrufung anhand einer kleinen Geschichte vorgeführt: In der berühmten Anrufungsszene, […] ruft ein Polizist einem Passanten »Hallo, Sie da!« zu. Der Passant, der sich selbst wiedererkennt und sich umwendet, um auf den Ruf zu antworten – d.h. fast jeder –, existiert im strengen Sinne nicht vor diesem Ruf. Was bedeutet diese sehr anschauliche Szene? Indem der Passant sich umwendet, erhält er eine bestimmte Identität, die sozusagen um den Preis der Schuld erkauft ist. Der Akt der Anerkennung wird zu einem Akt der Konstitution; die Anrede ruft das Subjekt ins Leben. (Butler 1998: 42f)
Butlers Interpretation setzt – im Unterschied zu Althussers Anbindung an die zentralen ideologischen Apparate bzw. Institutionen – auf eine Szene. Das Subjekt wird zum Subjekt qua Anrufung, womit jener Akt gemeint ist, der den Ruf des einen und die Anerkennung des Rufes, das Sich-gemeint-Fühlen durch den anderen einschließt. In diesem Spiel kommt demjenigen, der ruft, eine machtvolle Position zu. Wie Butler in ihrer Kritik an Althusser ausführt, erscheint derjenige, von dem der Ruf ausgeht, als Ursprung der Benennung, als mächtige Instanz, die sich aus einer Übertragung gottähnlicher Machtbefugnisse und Schöpferqualitäten ableitet.25 Die Macht, die dem Akt der Benennung innewohnt, ist dabei besonders brisant, sobald der Ruf eine diskriminierende Namensgebung vollzieht. Da die Konstituierung des Subjektes auf dem Wechselspiel von Anrufung und Annahme des Rufes beruht, kann die wiederholte Zuschreibung einer Identität ein Machtverhältnis zementieren, in welchem demjenigen, der den Ruf annimmt eine untergeordnete Rolle zugesprochen wird. Diese Sichtweise auf die Bildung von Identität ist insbesondere im Kontext von Gender- und Rassenzuschreibungen eingehend diskutiert worden.
trotz der Vielzahl der Leute, die ›sich etwas vorzuwerfen haben‹.« (Althusser 1977: 142f). 24 Lacan 1988: 28-54; siehe auch die folgenden Artikel im selben Band, die Überblicks- und Ergänzungsmaterialien liefern, 55-98. 25 Zur Kritik an Althusser siehe Butler 1998: 51ff. 43
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Kendall Thomas hat argumentiert, daß die »Rassenzugehörigkeit« eines Subjekts in einer ähnlichen Form erzeugt wird [wie die wiederholte Zuschreibung einer Geschlechtsidentität, C.K.] – sie wird dem Subjekt ebenfalls von Anfang an durch regulative Instanzen zugeschrieben. Die Macht, mit der Rassenzugehörigkeit und Geschlechtsidentität zugeschrieben und hergestellt werden, geht also dem einzelnen voraus, der mit dieser Macht spricht und sie scheinbar selbst besitzt. (Butler 1998: 74)
Die Herstellung von »Rassenzugehörigkeit« erfolgt also über die wiederholte Anrufung eines Subjektes als »xy…«, mit welcher sich dieses identifiziert. Dabei ist gegen Kendall und gegen manche feministische Theorie das Argument von besonderem Interesse, dass nicht der einzelne Akt die performative Kraft besitzt, den Anderen in dieser Weise zu konstituieren. Die »regulativen Instanzen« gewinnen die Macht der Zuschreibung im wesentlichen aus zwei Konventionen: zum einen der konventionell festgelegten ›Kompetenz‹, die Zuschreibung adäquat vorzunehmen, zum anderen aus dem Umstand, dass die Art und Weise der Zuschreibung den ebenfalls konventionellen Regeln des Sprachgebrauches entsprechen. Dieser Gesichtspunkt ist insofern wichtig, als er deutlich macht, dass es bei der Zuschreibung von Identität nicht um einen singulären, schlechthin schöpferischen Akt geht, dessen Kraft auf der konkreten Situation der Artikulation und einem eindeutig in einem Sprecher zu lokalisierenden Ursprung derselben beruht. Wenn Performativität eine Macht erfordert, das Benannte zu bewirken oder auszuführen, dann stellt sich die Frage, wer über diese Macht verfügt oder wie sie sich denken läßt. Wie kann man in diesem Rahmen das verletzende Wort erklären, das ein gesellschaftliches Subjekt nicht nur benennt, sondern im Prozeß der Benennung, in einer Folge einer Reihe gewaltsamer Anrufungen konstruiert? Verfügt der einzelne selbst über die Macht zu verletzen, wenn er eine verletzende Benennung ausspricht? […] Zitiert der Sprecher in der Äußerung die verletzende Bezeichnung, d.h. macht er sich zu ihrem Autor und begründet dabei zugleich den abgeleiteten Status dieser Autorschaft? […] Läßt sich die Iterabilität bzw. die Zitathaftigkeit der Äußerung nicht gerade als das metaleptische Verfahren beschreiben, mittels dessen, das Subjekt, das die performative Äußerung »zitiert«, als nachträglicher und fiktiver Ursprung dieser Äußerung hergestellt wird? (Butler 1998: 74f)
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Butlers Vorschlag, die Wirksamkeit des verletzenden, performativen Aktes gerade in der »Zitathaftigkeit der Äußerung« zu suchen, greift auf die Argumentation Jacques Derridas zurück, um das Problem der Autorschaft des anrufenden und Subjektivität begründenden Aktes zu lösen. Dass ein Subjekt, welches eine »gewaltsame Anrufung« vollzieht, als Urheber und Ursprung der verletzenden Macht erscheint, wird somit als Effekt der Zitathaftigkeit und Iterabilität von Sprechakten konzipiert. Die Zuschreibung, der (verletzende) Akt beruhe auf der Macht des Subjektes, wird als nachträgliche Deutung aufgefasst. Autorschaft erscheint somit als eine Ableitung, die sich aus dem Zitat einer Äußerung ergibt, die bereits vor der Aktualisierung ›bereit liegt‹ und vom Sprechenden ›lediglich‹ aufgerufen und gegebenenfalls abgewandelt wird. Macht kommt somit letztlich nicht dem Einzelnen oder einer Stimme zu, sondern liegt in der performativen Struktur von Sprache begründet, die vom Subjekt nicht eingesetzt wird, sondern vielmehr diesem vorgängig ist.26 Nichtsdestotrotz hat die Anrufung des Passanten eine Wirkung auf den Angesprochenen. Indem er sich umwendet, gibt er sich als Adressat des Rufes zu erkennen, erkennt er sich selbst in der Anrufung 26 Butlers Punkt ist hierbei nicht, die verletzende Wirkung von diskriminierenden Sprechakten auf das angerufene Subjekt infrage zu stellen, sondern vielmehr das Interesse, jenen Zensurbestrebungen, die sich in den USA vor allem um die PC-Debatten und die Frage nach den Regulierungsmöglichkeiten von Hate Speech verbreitet haben, entgegenzutreten. Der Versuch, das sprechende Subjekt ursächlich für den Sprechakt verantwortlich zu machen, hat – so Butlers Kritik – dazu geführt, einerseits ›korrekte‹ Konventionen des Sprechens zu formulieren und somit eine Sprachzensur zu etablieren und andererseits den einzelnen Akt in der juristischen Person des Sprechers zu lokalisieren. Dies führt Butlers Meinung nach zu dem Kurzschluss, in der juristischen Verfolgung von diskriminierenden Sprechakten sei ein quasi neutraler Raum gefunden, in welchem die Frage, wie Sprechakte vollzogen werden dürften, eine verbindliche Regelung finden könnte. Butler weist darauf hin, dass zum einen die Definition, was ein diskriminierender Akt sei, an die Gerichte übergehe und zum anderen dem einzelnen Sprecher eine Macht zugesprochen würde, die er gar nicht besäße. Die Hate Speech Debatte führe somit zu einer ideologischen Verschiebung in der kritischen Auseinandersetzung mit der Macht und zu einer Delegierung an gerade diejenigen Instanzen, die konventioneller Weise mit einer hohen performativen Macht ausgestattet seien (Butler beruft sich hier wiederholt auf die Beispiele für performative Sprechakte in der Theorie Austins, die sich auf juristische Sprechakte beziehen). 45
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wieder. Die Appellation unterwirft ihn somit denjenigen Merkmalen, die mit der jeweiligen Bezeichnung, die ihm gegeben wird, verbunden sind.27 Dass diese Annahme des verletzenden Rufes die Zuschreibungen nicht ›bloß wiederholen‹ muss, sondern auch abwandeln und gegebenenfalls entschärfen kann, lässt sich etwa am Beispiel der Bezeichnung »Kanake« zeigen, die wie der Ausdruck »Nigger« im US-amerikanischen Rap, als Selbstbeschreibung aufgegriffen und gewendet werden kann.28 Dieses Spannungsverhältnis zwischen (potenziell verletzender) Zuschreibung von Identität einerseits, und der Möglichkeit der Umschreibung und Rekontextualisierung andererseits zeigt sich insbesondere im Akt der Benennung und der Selbstbenennung und wird von Butler nicht zuletzt für die Zuschreibung von Homosexualität und die Selbstbeschreibung als Homosexuelle/r im Coming out beobachtet (Butler 1998: 149179). Was heißt das nun für unseren Zusammenhang? Welche Struktur wird von Nordau etabliert und wie kann der Zusammenhang zwischen Signatur und Namensgebung gedacht werden? Der performative Akt der Widmung wird vollzogen mit den Worten »gewidmet vom Verfasser«. In der nachfolgenden Widmungsepistel wird die Angabe der Funktion »Verfasser« bereits durch den Autornamen »Max Nordau« substituiert. Nun ist in diesem Falle »Max Nordau« wiederum eine Überschreibung des Namens »Simcha Südfeld«, desjenigen Namens, den »Max« von seinem Vater bekam und der mit dem Vater bis zu dessen Tode verbunden blieb. Vor dem Hintergrund des ungarischen Nationalismus und des zeitgenössischen Antisemitismus, der nicht nur in Pest dazu geführt hat, dass zahlreiche Juden, die Möglichkeit zur Namensänderung ergriffen haben,29 leuchtet es ein, dass ein ›jüdischer Name‹ 27 Auch an diesem Punkt schränkt Butler Althussers Konzept ein: Damit eine Anrufung funktioniere, sei es durchaus nicht notwendig, das der Angerufene sich auch »umwendet«, sprich: dass er den Ruf als denjenigen annimmt, der ihn bezeichnet. Eine ganze Reihe von identitätsstiftenden Sprechakten könnten sehr wohl in Abwesenheit erfolgen, indem zwei oder mehrere sich auf eine Bezeichnung einigten. Ein Beispiel für diesen Prozess stellt etwa die Namensgebung dar, die in der Regel von einer Reaktion des Benannten absehen kann, ja gegebenenfalls vor der Geburt stattfindet. 28 Siehe als prominentes Beispiel für diesen Vorgang Zaimoglu 2004: 918. 29 Zur Problematik des Namenswechsels im Raum Österreich-Ungarn um 1900 siehe etwa: Staudacher 2002; Staudacher 2004a; Staudacher 2004b. 46
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in Hinblick auf eine antisemitische Anrufung – wie sie in radikalisierter Form durch die Zwangsbenennung im Dritten Reich stattfand (vgl. Hofinger 1994) – bedeutsam sein konnte.30 Im Sinne des oben ausgeführten stellt der Familienname jedoch auch einen Akt der Identitätskonstitution dar, in welchem man sich genealogisch in die Geschichte seiner Familie einschreibt, diese Geschichte (sei es affirmativ oder kritisch) fortschreibt. Da Nordau bis zu seinem Engagement für die Sache des Zionismus keinen Hehl aus seinem distanzierten Verhältnis zu Religion im Allgemeinen und zum Judentum im Besonderen machte, kann man davon ausgehen, dass der Akt des Namenswechsels auch eine Distanzierung vom Judentum meinte. Indem er sich einen deutschen Namen wählte, machte er aus dem Namenswechsel (im Sinne Mattenklotts und Schultes) einen (kultur-)politischen Akt.31 Widmung und Widmungsepistel demonstrieren also in mehrfacher Hinsicht einen Akt, der der Etablierung einer Sprecherposition und der Umschreibung einer Identität dient. Dabei erscheint Nordau in mindestens zweifacher Weise als Autor: Zum einen signalisiert 30 Sander L. Gilman ist der Frage nach der Konversions- und Konvertitenproblematik um 1900 nachgegangen und hat sie vor dem Hintergrund des ›jüdischen Selbsthasses‹ diskutiert. Siehe Gilman 1993: 125. 31 Dagegen Anz 1989: 47: »Man könnte im Gegenteil daraus, daß er ursprünglich Max Simon Südfeld hieß, folgern, er habe sich mit der Namensänderung arisieren wollen. Dagegen spricht indes nicht erst sein zionistisches Engagement seit 1896, sondern schon seine vehemente Kritik deutschnationaler Ideologiebildung in ›Entartung‹. Auf dieses Buch hätte sich später die nationalsozialistische Kampagne gegen die ›entartete Kunst‹ nicht nur nicht berufen können, weil es ein Jude verfaßt hatte, sondern auch deshalb nicht, weil sie sich hier selbst zum pathologischen Fall hätte disqualifiziert sehen müssen […].« Gegen diese Argumentation von Anz lässt sich einerseits mit Christoph Schulte einwenden, dass die Antisemitismuskritik in Entartung einen verschwindend geringen Teil einnimmt. Andererseits identifiziert Anz hier etwas voreilig die Arisierung des Namens mit einer deutschnationalen Ideologie. Man mag die Linien vom deutschen Bildungsbürgertum zum Nationalsozialismus ziehen oder nicht, aber innerhalb Nordaus Entartungskritik wird der ›deutsche‹ Bildungskanon deutlich vom Wagnerismus und dem zeitgenössischen Antisemitismus getrennt. Sofern man also in der Wahl eines deutschen Namens eine Entscheidung zum »Deutschtum« sehen will, handelt es sich hier nicht um die – etwa noch nationalsozialistisch geprägte – Politik der Arisierung, sondern um ein Votum für das deutsche, vornehmlich protestantisch geprägte Bildungsbürgertum. 47
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der Wechsel von »Verfasser« zu »Max Nordau«, dass der Sprecher der Widmung klar identifizierbar sei, die Widmung also einen klaren Absender und damit einen eindeutigen Ursprung besitze. Zum anderen wiederholt die Signatur »Max Nordau« einen Akt der Selbstbenennung, den Nordau bereits in seinen früheren Schriften etabliert und immer wieder wiederholt hat. Die Logik der Umbenennung hat zur Folge, dass Nordau in diesem Sinne als Autor seiner selbst, als identitätsstiftende Instanz auftritt. Dieser Aspekt ist interessant, da bereits in Widmung und Widmungsepistel eine Sprecherposition etabliert wird: Insofern die Widmung nicht nur eine Berufung auf eine wissenschaftlich fundierte, ärztliche Autorität (= Lombroso) darstellt, sondern in der Wahl des Namens auch suggeriert, dass dem Sprecher die Macht zukommt, sich selbst zu benennen, stellt die Signatur den Versuch dar, sich die Sprecherposition radikal anzueignen. Die Ablehnung der Anrufung als Simcha Südfeld mit ihren diskriminierenden Aspekten, wird transformiert in die Vorstellung, nun qua Selbstbenennung in die Position des Autors zu schlüpfen – es ist ja auch der Autorname, der zum Personennamen wird – sich selbst zu benennen, sich selbst somit neu zu schöpfen. Zugleich zeigt sich, dass die Möglichkeiten der sprachlichen Neuschöpfung begrenzt sind: Während sich Nordau klar gegenüber dem Nationalismus und Katholizismus des Magyarentums sowie dem Judentum abgrenzt, wird jedoch mit dem germanisierten Namen auch das bildungsbürgerlich und protestantisch geprägte ›Deutschtum‹ angeeignet.32 Wie in den 32 Dass diese positive Grundeinstellung nicht untypisch ist für das assimilierte Judentum des ausgehenden 19. Jahrhunderts ist – soweit ich sehe – Konsens in der Forschung. Siehe hierzu etwa: Volkov 1990: 13-36 und Hübinger (1994: 267), der auf Volkovs Arbeiten Bezug nimmt: »In vergleichbarer Weise waren beide Milieus [von Kulturprotestantismus und Kulturjudaismus] im 19. Jahrhundert Avantgarde einer bürgerlichen Moderne und den universellen Werten gleicher Staatsbürgerrechte und gleicher Lebensführungschancen verpflichtet. Unter dieser gemeinsamen kulturliberalen Oberfläche lag jedoch eine charakteristische Asymmetrie in der wechselseitigen Wahrnehmung verborgen. Die assimilierten Juden übernahmen in aller Regel bereitwillig Normen und Verhaltensmuster ihrer kulturprotestantischen Vorbilder. Die vielfachen Formen der Überanpassung und die Identitätsbrüche, die dabei entstanden, sind oft und eindringlich geschildert worden.« Für Nordau ist dabei allerdings zu bemerken, dass dieser in seinem Tempelstreit die zionistische Bewegung zum einen von Theologie überhaupt, zum anderen speziell von universalistischen Bestre48
EINE WIDMUNG
folgenden Kapiteln zu zeigen sein wird, hat dessen Wertekanon große Bedeutung für Nordaus Kritik der Moderne. Jenseits dieser konkreten kulturhistorischen ›Füllung‹ scheint mir jedoch ein Aspekt für Nordaus Projekt von zentraler Bedeutung zu sein: Widmung und Widmungsepistel enthalten in nuce das Programm von Nordaus Großangriff auf die ästhetische Moderne. Für dieses Programm ist die Position des Sprechers ein wesentlicher Aspekt. Sie leitet sich einerseits aus einer komplexen Filiation ab, die Nordau in der Widmung graphisch arrangiert und im Zuge der Epistel ausführt. Andererseits wird die Legitimation und Macht des Sprechers durch den Akt der Unterzeichnung des Briefes inszeniert, der gerade den abgeleiteten, zitathaften Charakter der Signatur auszublenden versucht und den Sprecher als Ursprung und Quelle der Sprachmacht installieren will. Dieser Akt der Selbstermächtigung, der bereits im Paratext von Entartung anvisiert wird, und der, wie wir gesehen haben, auch die Metaphorik von Heldentum und Weiblichkeit steuert, ist für Nordaus Situationsanalyse des Fin-de-Siècle höchst aufschlussreich und wird vor diesem Hintergrund im folgenden Kapitel näher beleuchtet werden.
bungen des liberalen Protestantismus abgegrenzt hat. Vgl. Nordau 1909b: 4f; Hackeschmidt 1998: 177-178. 49
2 VOR
DEM
GERICHT
Die Herstellung einer souveränen Sprecherposition ist über die Widmung hinaus zentrales, wenngleich implizites Thema von Entartung. Wie inszeniert Nordau sein Sprechen? Auf welche Weise verleiht er seinem Sprechen Autorität? Am Anfang steht ein Ende. Ein spezifisches Ende, will es scheinen. Die Rede ist vom Ende des Jahrhunderts, vom »Fin de Siècle«. So titelt bereits die Kapitelüberschrift des einleitenden Teiles von Entartung. Eine Situation wird etabliert, eine Situation, die Nordaus Rede verorten und sie zugleich legitimieren soll. Ein Geschichtsabschnitt neigt sich unverkennbar zur Rüste und ein anderer kündigt sich an. Durch alle Überlieferungen geht ein Riß und Morgen scheint nicht an Heute anknüpfen zu wollen. Das Bestehende wankt und stürzt, man läßt es niedertaumeln, weil man seiner satt ist und nicht glaubt, daß seine Erhaltung einer Anstrengung werth sei. Die Anschauungen, die bisher die Geister beherrscht haben, sind todt oder wie entthronte Könige verjagt; um ihre Erbschaft ringen berechtigte und anmaßende Nachfolger. Einstweilen waltet das Interregnum mit all seinen Schrecken: Verwirrung der Gewalten, Rathlosigkeit der ihrer Führer beraubten Menge, Willkür der Starken, Auftauchen falscher Propheten, Entstehen vergänglicher, doch um so tyrannischerer Theilherrschaften. Sehnsüchtig blickt man nach dem kommenden Neuen aus, ohne indeß zu ahnen, aus welcher Richtung es zu erwarten ist und was es sein wird. Im Durcheinander der Gedanken erhofft man von der Kunst Aufschlüsse über die Ordnung, welche dem Wirrwarr folgen soll. Der Dichter, der Musiker soll verkünden oder doch errathen, mindestens ahnen lassen, in welchen Formen die Gesittung sich weiter entwickeln wird. Was wird morgen sittlich, was schön sein? Was wird man morgen wissen, woran glauben, wofür sich begeistern, wie genießen? So tönt die tausendstimmige Frage aus der Menge und wo ein Marktschreier eine Bude aufthut und eine Antwort zu haben behauptet, wo ein Narr oder ein Schwindler plötzlich in Vers oder Prosa, in Tönen oder Farben zu weissagen beginnt oder seine Kunst anders zu üben vorgibt wie seine Vorgänger und Wettbewerber, da entsteht
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RHETORIK DER ENTARTUNG
ein großer Zulauf zu ihm, die Leute, die sich um ihn drängen, suchen in seinen Leistungen wie in Orakeln der Pythia einen Sinn zu errathen und sie zu deuten und je dunkler, je nichtssagender sie sind, umso mehr Zukunft scheinen sie den armen nach Offenbarungen lechzenden Maulaffen in sich zu schließen und umso gieriger, umso leidenschaftlicher werden sie ausgelegt. (Nordau 1896: 11f)
Ein apokalyptisches Gemälde wird hier entworfen, welches sich auszeichnet durch die Verabschiedung des alten Reiches mit seinen Werten und Normen und die Suche nach einem neuen Reich, in welchem die Maßstäbe, nach denen zu urteilen sein wird, neu definiert werden. Ein »Riß« geht durch die Überlieferung, der das Alte vom Neuen trennt. Eine »tausendstimmige Frage« und das »Wirrwarr« der orientierungslosen Massen bestimmen die Szene ebenso wie ein Machtvakuum, welches durch die Ablösung der althergebrachten Herrschaft und die Kämpfe des »Interregnums« gekennzeichnet ist. Gegenüber der Masse, die »nach Offenbarungen« Ausschau hält, und den »berechtigten« Nachfolgern der althergebrachten Ordnung stehen eine Vielzahl falscher Propheten, die auf dem Markt der Wahrheiten ihre »Bude« aufstellen und ihre Dogmen verkünden. Dabei erscheinen die »Theilherrschaften« als »tyrannisch«. Ohne Legitimation zu besitzen, setzen sie sich absolut. Geleitet von der humanistischen Annahme, in der Kunst erfülle sich ein Ideal, welches nicht nur ästhetischer, sondern vor allem ethischer Natur sei, werden Kunst und Kultur zum Hauptschauplatz des apokalyptischen Kampfes erklärt. Die Dichotomien von alt und neu, von Masse und Herrschaft, von Suggestibilität und Suggestion, von wahren und falschen Propheten, von Wert und Unwert sowie vom Wunsch nach Orientierung auf der einen und orakelhafter Dunkelheit auf der anderen Seite beherrschen die Szenerie, die sich in einer wahren Deutungswut entlädt. Nordau konfrontiert den Leser mit einer Situation, die er polemisch vorzuführen gedenkt. »Fin de Siècle« ist jene Chiffre, mit Hilfe derer sich die westlichen Kulturen selbst beschreiben. In seinem einführenden Kapitel, das den bezeichnenden Titel Völkerdämmerung trägt, nimmt Nordau diese Selbstbeschreibung zunächst kritisch aufs Korn, um das grassierende »Modewort« als Infantilität vor allem der französischen »›oberen Zehntausend‹« (Nordau 1896: 5) zu entlarven. Hauptbezugsachse seiner Kritik ist dabei die Fokussierung auf eine kalendarische Konvention, die Aufladung der Zahl
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VOR DEM GERICHT
›1900‹ mit Bedeutsamkeit, die sich einer Hypostasierung und einem dieser zugrunde liegenden naiven »Anthropo- bzw. Zoomorphismus« verdankt. Der ›1-9-0-0‹ der christlichen Kulturen stellt er die Zeitrechnung von Judentum und Islam gegenüber.1 Gleichwohl kommt der Rede vom Fin de Siècle eine performative Kraft zu, hat sie sich doch nicht nur ausgehend von Paris über die westliche Hemisphäre ausgebreitet (»Das Wort ist durch beide Welten geflogen und hat in alle gebildeten Sprachen Eingang gefunden«) und damit eine Sogwirkung entfaltet, die auf ein »Bedürfniß« hinweist, sondern sie fasst zugleich einen »gemeinsame[n] Charakter zahlreicher Zeiterscheinungen« und eine »Grundstimmung« zusammen (Nordau 1896: 3).2 Die moderne Seelenlage ist auf Apokalyptik eingestellt. Nordaus kulturkritisches Unterfangen macht es sich zur Aufgabe, diese ›grassierende Apokalypse‹ zu beschreiben und ihre zeitgenössischen Ausprägungen vor allem auf dem Gebiet der ästhetischen Produktion näher zu beleuchten.
A p o k a l y p t i s c he R ed e Aller kritischen Distanz zum Trotz ist es genau jene Selbstbeschreibung einer Epoche vis-à-vis dem Ende einer Zeit, die auch Nordaus Sprachgestus steuert. »Fin de Siècle« hat also zwei Seiten: Einerseits meint es die Selbstbeschreibung derjenigen ästhetischen Moderne, die Nordau zum Objekt seiner Kulturkritik macht, andererseits weist bereits die Titelgebung seines ersten Teiles auf jene Textbewegung hin, die die eigene Rede mitten in jenem Feld lokali1
Vgl.: »Dieser kindische Anthropo- oder Zoomorphismus bedenkt nicht einmal, daß die willkürliche Teilung der ewiggleichmäßig dahinrollenden Zeit nicht bei allen gesitteten Menschen die nämliche ist und daß zu derselben Zeit, da das verkörpert gedachte neunzehnte Jahrhundert der Christenheit angeblich in großer Erschöpfung seinem Tode entgegensiecht, das vierzehnte Jahrhundert der mohammedanischen Welt noch in den Kinderschuhen seines ersten Jahrzehnts dahinhüpft und das siebenundfünfzigste Jahrhundert der Juden mit seinem sechsundfünfzigsten Jahre gerade auf der Höhe seiner Entwicklung stattlich einherschreitet.« (Nordau 1896: 4). 2 In diesem Sinne beschreibt auch Martin Ray Nordaus Einfluss auf Joseph Conrad dadurch, dass »Nordau helped to define for contemporary writers that development by which fin de siècle becomes fin du globe, a local and temporary lassitude turning into an apocalyptic nightmare.« (Ray 1984: 127). 53
RHETORIK DER ENTARTUNG
siert, von dem sie sich argumentativ abzugrenzen scheint. Darüber hinaus korreliert Nordau schon im Aufbau des ersten Teiles seine Situationsanalyse mit einer dezidiert medizinischen Sicht auf die Kultur der Moderne, die sich in der Kapitelstruktur von Entartung niederschlägt und im letzten Teil des zweiten Bandes wieder aufgegriffen und abgeschlossen wird:3 »Symptome«, »Diagnose« und »Aetiologie« eröffnen die Argumentation, die mit »Therapie« und »Prognose« endet. Diese Verzahnung von medizinischer Fallgeschichte mit einer Redeform, die vom bevorstehenden Ende lebt, scheint mir aufschlussreicher zu sein, als gemeinhin in der NordauLiteratur vermutet wird. Aus ihr entwickelt sich jener ›Drive‹, der sich aus der Übertragung einer medizinischen Semiotik auf ästhetische Gegenstände allein nicht ableiten lässt. Wie strukturiert sich nun diese Rede von/vor dem Ende? Die Doppelperspektive, die sich aus der Gegenüberstellung einer allgemeine Verbreitung findenden Rede vom Fin de Siècle mit einer Sprecherposition, die, indem sie diese Rede zum Objekt ihrer (medizinischen) Analyse machen will, zugleich an ihr partizipiert, ist konstitutiv für Nordaus Text. Die Trennung von Objekt- und Metasprache erweist sich immer wieder als brüchiges Unternehmen.4 Denn Nordaus eigene Rede partizipiert an der Logik der Apokalypse, die er lediglich zu beobachten behauptet: Wie die Darstellung jener Szene des Interregnums deutlich macht und wie wir bereits in der Analyse der Widmungsepistel sehen konnten, steuern die Leitunterscheidungen, mit denen Nordau die Auseinandersetzungen der ästhetischen Moderne darstellt, seine eigene Rede. Auf hunderten von Seiten lässt er wahre gegen falsche Propheten kämpfen, organisiert er die »Naturgeschichte der ästhetischen Schulen« als dogmatischen Wettstreit von Marktbudenschreiern, deren vorrangiges Ziel in der Bildung einer eigenen Jüngerschaft besteht:5 Das ist die Naturgeschichte der ästhetischen Schulen. Ein Degenerierter verkündet unter der Wirkung einer Zwangsvorstellung irgend ein literarisches Dogma, den Realismus, die Pornographie, den Mystizismus, den 3 4 5
Dieser Aspekt des Nordauschen Textes ist in der Literatur immer wieder betont worden. Siehe hierzu etwa die jüngst publizierte Dissertation von Kottow 2004 sowie Anz 1989: 35. Zur Problematik der Unterscheidung von Objekt- und Metasprache siehe Schüttpelz 1995. Zum prekären Verhältnis zwischen religiöser Metaphorik und Anspruch auf Wissenschaftlichkeit siehe auch Kaiser 2003a. 54
VOR DEM GERICHT
Symbolismus, den Diabolismus. Er thut es mit heftiger, durchdringender Beredsamkeit, mit Aufregung, mit wüthender Rücksichtslosigkeit. Andere Degenerierte, Hysteriker, Neurastheniker schaaren sich um ihn, empfangen das neue Dogma aus seinem Munde und leben von nun an nur für dessen Ausbreitung. (Nordau 1896: 58f)
Hervorstechendes Merkmal der Degenerierten ist somit die Art und Weise, in der sie ihre ›Dogmen‹ verkünden: mit »Beredsamkeit«, »Aufregung« und »Rücksichtslosigkeit« wenden sie sich an ihr Publikum und die Adverbien verstärken den Eindruck der Emotionalität und Heftigkeit ihrer Rede zusätzlich. Während die affizierten Massen mit der »Diagnose« (so titelt das entsprechende Kapitel) der zeitgenössischen ›Modekrankheiten‹ Hysterie und Neurasthenie identifiziert werden, klassifiziert Nordau ihre Anführer (die Unterscheidung von Masse versus Führer6 ist durchgehend bedeutsam für Nordaus Text) als Entartete, deren Irrlehren zu überführen und zu bekämpfen Nordau sich zur zentralen Aufgabe macht. Von einer Naturgeschichte spricht Nordau in diesem Zusammenhang, insofern die Vertreter der »ästhetischen Schulen« unter einem quasi naturgesetzlichen Zwang stehen, so und nicht anders zu handeln, so und nicht anders Kunst zu gestalten, da die ›Krankheit‹ ihre Programme und Produkte determiniert.7 Nordau stimmt letztlich in jenen Abgesang des Abendlandes mit ein, den er in den Selbstbeschreibungen der Modernen hämisch vorführt. Vielmehr: Er stellt in seiner Modernekritik diese apokalyptische Situation in besonderer Weise her. Als Ausgangspunkt von Entartung wird eine allgemeine Notsituation evoziert, um so eine Legitimationsgrundlage für sein Sprechen zu schaffen. In diesem Sinne ist es keinesfalls zufällig, dass Nordau in dem einleitend zitierten Passus den Untergang des Alten und das Bevorstehen eines Neuen beschwört und auf diesem Schauplatz (s)ein wahrhaft legitimiertes Sprechen einer Vielzahl falscher Prophetien entgegensetzt. Nordau greift hier auf Strukturmuster zurück, die eine lange und durch die Metaphorik seiner Beschreibungen eindeutig zitierte Tradition besitzen. Die ›Schrecken des Interregnums‹ bezeichnen genau jenen Zeitpunkt, der den Untergang der Welt kons6 7
Zur Analyse dieser Unterscheidung mit Blick auf ein paranoides Verhältnis siehe auch: Canetti 1998 und Kapitel 4: Ansteckungsgefahr. Ein Beispiel von vielen ist etwa Nordaus Kommentar zur impressionistischen Malerei (Nordau 1896: 52). 55
RHETORIK DER ENTARTUNG
tatiert und das Hereinbrechen des letzten göttlichen Gerichtes sowie die Errichtung des himmlischen Jerusalems antizipiert. Die Rede lokalisiert sich in jenem Zwischenreich, in welchem der Kampf der Gewalten8 ausgetragen und die Entscheidung zwischen Gut und Böse getroffen wird. Das »Interregnum« eröffnet überhaupt erst den Raum für neue, sich gegenseitig bestreitende Geltungsansprüche und deren Verfechter, die »von begeisterten Jüngern zu Führern nach dem verheißenen Lande der Zukunft ausgerufen werden.« (Nordau 1896: 46f) Nordau rekonstruiert also nicht nur die zeitgenössischen ästhetischen Richtungen im Rahmen einer apokalyptischen Narration, sondern positioniert seinen eigenen Standpunkt in und durch eben diese narrative Struktur. Anders formuliert: Nordau selbst nimmt die Position des Apokalyptikers ein, dessen Aufgabe die Verkündung der geoffenbarten Wahrheit und die Warnung vor bösen Mächten und falschen Propheten ist. Diese Sprecherposition ist, wie Jürgen Brokoff in seiner Analyse politischer Texte der Weimarer Republik gezeigt hat, kennzeichnend für die apokalyptische Redeform. Brokoff erarbeitet anhand der Johannesoffenbarung Strukturmerkmale, die im Kontext moderner Texturen nachhaltig fortwirken.9 Dabei ist die Unterscheidung zwischen Immanenz und Transzendenz für Brokoff – wie auch für Jürgen Fohrmann10 – das zentrale Merkmal apokalyptischer Rede, eine Unterscheidung, die zu einer 8
Zur Apokalyptik, insbesondere des Mittelalters siehe Gurjewitsch 1989 sowie zum Chiliasmus vom Mittelalter bis in die Moderne Wendorff 1985. 9 Brokoff 2001: 28: »Die Johannesoffenbarung gibt von ihrer Textstruktur her das entscheidende Muster ab, an dem sich in der Nachfolge zahlreiche Texte orientieren werden.« 10 Fohrmann akzentuiert den zeitlichen Aspekt der Rede, die sich zwischen den zukünftigen Geschehnissen und der bereits vergangenen Vision im Hier und Jetzt kundtut: »Mit solchem Zeugnis wird eine spezifische Kommunikationssituation geschaffen, er-zeugt. Der Zeuge, der bereits gesehen hat, was noch geschehen wird, spricht aus etwas heraus, das die Immanenz des gegenwärtigen Augenblicks übersteigt, weil er um die im Etwas verborgene Wahrheit (und um die rechte oder schlechte Entscheidung) bereits weiß. Er spricht mithin als Stimme der Transzendenz. Dieses Sprechen aber gilt nur dem gegenwärtigen Augenblick (des Hörens oder Lesens) der Botschaft: ›Wer Ohren hat, der höre!‹ Man könnte auch sagen: Vergangenheit und Zukunft sind bereits von der Stimme okkupiert, d.h. endgültig ausgelegt.« (Fohrmann 2004: 135). 56
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»›doppelte[n]‹ Strukturbildung« führt und im Sinne des oben Beobachteten dazu dient, »apokalyptische Wahrheits- und Geltungsansprüche in Bezug auf die eigene Rede zu formulieren und durchzusetzen« (Brokoff 2001: 10). Die Einschreibung des apokalyptischen Textes in die göttliche Transzendenz erfolgt deshalb nicht so sehr im Blick auf das tatsächliche Ende der Welt, sondern im Blick auf die Gegenwart. In der Gegenwart kann der apokalyptische Text zwar nicht das außerhalb des Textes stattfindende Ende der Welt, wohl aber das Ende des Sprechens herbeiführen. Bereits hier und jetzt will der Text die Grenzen der Immanenz überschreiten, will er Teil der göttlichen Wahrheit sein. […] Das Ziel des apokalyptischen Textes ist die Installierung eines diskursiven Regimes, in dem allein er selbst noch zu sprechen vermag. (Brokoff 2001: 28)
Wie Brokoff zeigt, findet sich dieses Strukturmuster auch in den untersuchten modernen Texten wieder, die allerdings die »religiöse Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz« in »den Bereich des Politischen« übertragen (Brokoff 2001: 10). Gemeinsames Merkmal dieser ›modernen Transzendenz‹ ist ein Rekurs auf eine die Souveränität des Diskurses legitimierende Instanz (wie etwa bei Walter Benjamin und Carl Schmitt).11 Dabei ist im Sinne Brokoffs eine Überbietungsstruktur wesentlich für die Art und Weise, wie apokalyptische Texte sich auf andere Texte beziehen. Mit dem Anspruch, eine (etwa göttlich verbürgte, letzte) Wahrheit zu formulieren, korreliert die radikale Abwertung anderer Wahrheitsansprüche, die im und durch den Text durchgesetzt werden soll. Anders – und in einer mehr psychoanalytisch geprägten Begrifflichkeit – formuliert: Das Begehren, die diskursive Alleinherrschaft sicherzustellen, artikuliert sich im Rahmen der apokalyptischen Rede selbst. Sprechen und Begehren koinzidieren. Und diese Koinzi11 Siehe Brokoff 2001: 12: »In allen drei Fällen [d.i. bei Schmitt, Benjamin und Jünger] berichten die apokalyptischen Texte nicht nur davon, daß die neue Transzendenz – der Souverän, die revolutionäre Gewalt, die Gestalt des Arbeiters – in die bestehende Welt der Immanenz eingreift, diese untergehen läßt und eine neue Welt an die Stelle der alten setzt. Die Texte nehmen darüber hinaus für sich in Anspruch, bei den von ihnen geschilderten Vorgängen selbst die ausschlaggebende Rolle zu spielen […].« Siehe zur Debatte um die Gesetze einsetzende Macht auch Derrida 1991 und verschiedene Aufsätze in Haverkamp 1994. 57
RHETORIK DER ENTARTUNG
denz erscheint mit Blick auf Nordaus Argumentation als höchst paradox, ist es doch gerade das Begehren der Anderen, der Vielzahl der Propheten, die mit seinem Diskurs konkurrieren, welches seiner Meinung nach so überaus verräterisch in ihrem apokalyptischen und apodiktischen Diskurs zum Ausdruck kommt. Gerade die »mit heftiger, durchdringender Beredsamkeit, mit Aufregung, mit wüthender Rücksichtslosigkeit« (Nordau 1896: 58f) vorgetragenen ›Dogmen‹ werden zum Anlass seines Sprechens erhoben. Das ›aufgeregte Sprechen‹ ist somit ein Anzeichen für die Verfassung der Sprecher, welches diese einerseits als besonders gewaltsam und andererseits als tendenziell unzurechnungsfähig, da affektiv gesteuert, erscheinen lässt. Damit wird impliziert, dass die ›Aufgeregtheit‹ des Sprechens einen Verlust von Souveränität des Sprechers bedeute. Es verwundert daher nicht, dass das ›rechte Maß‹ und das Leitideal der ›Unaufgeregtheit‹ für den wissenschaftlichen Wahrheitsanspruch bedeutsam sind. Otniel Dror hat in ausgedehnten Materialstudien gezeigt, dass die psychologische, experimentelle Forschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts sich an diesem Ideal der Emotionslosigkeit orientierte und sie zur verbindlichen Norm erheben wollte.12 Das Scheitern dieser Arbeitsprämissen in der Laborarbeit und die Notwendigkeit, das Labor mit den Erfahrungsfeldern der Klinik zu verbinden, führte selbst wiederum zur Thematisierung des mehr oder weniger emotional befangenen Probanden. Doch nicht nur die frühe psychologische Forschung lebte vom Ideal der Unaufgeregtheit, auch für den juridischen Diskurs ist diese Kategorie, wie Judith Butler beschreibt, nach wie vor wesentlich: »Juristisch versteht man unter excitable speech (›erregtes Sprechen‹) solche Äußerungen, die unter Zwang erfolgen, d. h. normalerweise Geständnisse, die vor Gericht nicht verwendet werden können, weil sie nicht den ausgeglichenen Geisteszustand ihres Sprechers widerspiegeln.« (Butler 1998: 29) Dass die Gegenspieler in Nordaus apokalyptischer Szene in diesem Sinne ›erregt sprechen‹ wird somit zum Hinweis auf ihre Unzurechnungsfähigkeit. In der Regel, so betont er an einer Stelle, sei diese Form des Sprechens Ausdruck von Krankheit und entziehe sich somit der bewussten Kontrolle – wohingegen auch Fälle mitbedacht werden, in denen nicht die Krankheit, sondern vielmehr ein manipulatives Interesse vorliege, welches sich die Leichtgläubigkeit
12 Siehe etwa die Kurzfassung seines Forschungsprojektes: Dror 2003. 58
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der Massen zunutze mache, um von der allgemeinen Bewegung zu profitieren.13 Die zwei Merkmale aufgeregten Sprechens, seine verletzende Kraft und die mangelnde Souveränität des Sprechers, werden von Nordau zur Legitimation des eigenen diskursiven Regimes herangezogen. Doch die Korrelation von Rede und Affektivität, von Begehren und Sprechen stellt über Nordaus Gestus der Selbstermächtigung hinaus einen Zusammenhang zu der Frage nach der Souveränität des Sprechens überhaupt her. Ich möchte auf diesen Punkt an späterer Stelle zurückkommen. Zunächst soll jedoch die Art und Weise, wie Nordau sein ›diskursives Regime‹ ausbaut, inwiefern seine eigene Rede den Parametern der Hate Speech verhaftet ist, näher beleuchtet werden.
Di s k ur s iv es Re g im e Nordaus Projekt besteht nicht nur darin, einen alleinigen Wahrheitsanspruch zu vertreten und diskursiv umzusetzen, es besteht ebenfalls in der Etikettierung ›der Anderen‹ als ›Entartete‹. Dabei lässt sich eine doppelte Strategie erkennen: Zum einen nimmt er sich gezielt Künstler und Philosophen der Moderne vor, die er auch und gerade als entartete Produzenten, Personen und potentielle Patienten zu demaskieren vorgibt. Zum anderen ergibt sich aus seinen zahlreichen Attacken gegen exponierte Vertreter der Moderne ein Bild jenes Sprechens, welches er als ›entarteten‹ Diskurs auszuschließen gedenkt. Mit anderen Worten: Nordau bemüht sich um einen doppelten Ausschluss, der einerseits einen bestimmten Diskurs rigoros abweist und andererseits auch eine Gruppe von Personen und Rep13 »Aber freilich wird das klinisch ganz klare Bild in der Regel getrübt, wenn es dem Apostel eines Deliriums und seinem Gefolge gelingt, die Aufmerksamkeit weiterer Kreise auf sich zu ziehen. Dann erhält er Zulauf von Leuten, die nicht mehr guten Glaubens sind, die sehr wohl das Wahnwitzige des neuen Dogmas zu erkennen vermögen, es aber dennoch annehmen, weil sie hoffen, als Mitglieder der neuen Sekte Ruf und Geld zu gewinnen. […] Man muß deshalb bei der Untersuchung einige Vorsicht üben und stets die gutgläubigen Urheber von den nachahmenden Strebern unterscheiden, den Religionsstifter und seine Apostel von dem Janhagel, dem es nicht um die Bergpredigt, sondern um den wunderbaren Fischzug und die Vermehrung der Brode zu thun ist.« (Nordau 1896: 60). 59
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räsentanten dieses Diskurses aus den Reihen der legitimen Sprecher eliminieren will. Um sich die Autorität zu verleihen, die für die Vertretung dieses Anspruches notwendig ist, greift Nordau auf den medizinischen, spezieller: den psychiatrischen Diskurs zurück. Wie bereits im ersten Kapitel anhand der Widmungsepistel beschrieben, erklärt er gerade denjenigen Diskurs, der konventioneller Weise für die Beurteilung von ästhetischen Produkten maßgeblich ist, als inkompetent. Ästhetische Bildung wird zum Handicap für die Beurteilung ästhetischer Werke degradiert.14 Und dies, obgleich Nordau selbst in erster Linie als Kritiker und Journalist für verschiedene Zeitungen tätig war.15 Um seiner Rede Wirkung zu verleihen, setzt Nordau also ganz auf die Autorität eines anderen Diskurses, der den Anspruch auf letzte Gültigkeit untermauern soll. Indem er ästhetische Phänomene im Rahmen einer medizinischen Nomenklatur beobachtet, implementiert er, wie er selbst hervorhebt, eine ›neue‹ Logik, mit Hilfe derer er sein Beobachtungsfeld strukturiert. Anstatt von künstlerischen Techniken und Verfahrensweisen spricht er von Symptomen, anstatt von Künstlern spricht er von Kranken. Die Sprecherposition, die Nordau einnimmt, wird somit in besonderer Weise durch die Überlagerung einer apokalyptischen Redeform mit einer medizinischen Semiotik erreicht. Um Nordaus Argumentation näher zu beleuchten, möchte ich zunächst auf den Anfang seines »Symptome« betitelten Kapitels eingehen. Nordau beginnt seine Betrachtungen mit der Errichtung einer spezifischen Perspektive: »Mischen wir uns auf den Zierplätzen europäischer Großstädte, auf den Spazierwegen vornehmer Badeorte, bei Abend-Empfängen reicher Leute unter die Menge und betrachten wir die Gestalten, aus denen sie sich zusammensetzt.« (Nordau 1896: 15) Das »wir« ist keinesfalls zufällig gesetzt: Es umfasst nicht etwa Betrachter und Objekt der Betrachtung, sondern adressiert den Leser in besonderer Weise. Wenn Nordau sich mit dem 14 Siehe Kapitel 1: Eine Widmung und die entsprechende Passage aus der Widmungsepistel, Nordau 1896: VIIf. 15 Nach seiner Tätigkeit für den Pester Lloyd ist Nordau eine Zeit lang als Korrespondent für die Vossische Zeitung tätig; er verfasst eine Vielzahl von Artikeln für das Feuilleton der Neuen Freien Presse. Siehe hierzu Schulte 1997: 104f und 311-324, sowie den Anhang auf 372-378, in dem sich eine Liste von Nordaus Feuilleton-Artikeln zwischen 1895 und 1921 findet. 60
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Leser gemeinsam auf die »Zierplätze[] europäischer Großstädte« begibt, etabliert er eine Sprecherposition, die ihn als allwissenden Erzähler inthronisiert.16 Ein Beobachter kommt – vergleichbar mit den filmischen Verfahren eines establishing shots – an jene Orte, an denen seine Zeitgenossen beobachtet werden können. Im folgenden Text schleicht er wie ein Schatten hinter ihnen durch Galerien, verfolgt ihre Blicke und beschreibt nicht nur ihre äußere Erscheinungsform, sondern ebenso ihre Versuche, sich vom ›Pöbel‹ abzusetzen (Nordau 1896: 15-29). Er berichtet über Emotionen, Vorlieben und Abneigungen der Betrachter. Der Erzähler weiß mehr als seine Figuren.17 Diese privilegierte Perspektive ermöglicht ihm, eine Differenz festzuhalten: die Differenz von äußerer Erscheinung und innerem Wesen. »Vor den Augen des Lesers« entfaltet Nordau ein Panoptikum der Moderne und ihrer krankhaften Entwicklungen. Die Symptome, die er sammelt, sind dabei sowohl für seine Kritik wie auch für die Art seines eigenen Diskurses aufschlussreich. Wenngleich Nordau in dem Kapitel lediglich Stigmata der Entartung benennt und das Wort Symptom selbst nicht auftritt, so ist sein Versuch, die Moderne zu beschreiben, doch von dem Bestreben geprägt, alle ihn umgebenden Erscheinungen als Symptome lesbar zu machen, sie einzugliedern in ein Ordnungssystem, in dem der ›ursprüngliche Typus‹, die dahinter stehende Ordnung als solche 16 Zu einer Sprecherposition, die sich außerhalb der narrativen Erzählebene bzw. jenseits der die Objektebene betreffenden Unterscheidungen lokalisiert siehe auch Weber 1987: 4. 17 Genette 1994: 134: »Es ist sicher legitim, eine Typologie der ›Erzählsituationen‹ erstellen zu wollen, die sowohl den Modus wie die Stimme berücksichtigt; nicht legitim ist es jedoch eine solche Klassifikation allein mit der Kategorie des point of view durchzuführen oder eine Liste zu erstellen, in der die beiden Bestimmungen auf der Basis einer offenkundigen Vermengung miteinander rivalisieren. Vielleicht sollte man deshalb zunächst einmal nur die rein modalen Bestimmungen betrachten, die alsdo [sic] das betreffen, was man üblicherweise den point of view nennt, oder, mit Jean Pouillon und Tzvetan Todorov, die ›Sicht‹ [vision] bzw. den ›Aspekt‹. Wenn man sich diese Beschränkungen auferlegt, stellt sich leicht ein Konsens über eine dreigliedrige Typologie her, deren erster Typ dem entspricht, was die angelsächsische Kritik eine Erzählung mit allwissendem Erzähler und Pouillon ›Übersicht‹ [vision par derrière] nennt, und was Todorov durch die Formel symbolisiert: Erzähler > Figur (wo der Erzähler also mehr weiß als die Figur, oder genauer, wo er mehr sagt, als irgendeine der Figuren weiß) […].« 61
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wenn nicht wieder erkennbar, so doch immerhin zur Bezugsgröße schlechthin wird. Dabei geht es selbstverständlich nicht darum, diesen Vorgang transparent zu machen. Der Betrachter bleibt, so scheint es zumindest, merkwürdig unmarkiert. Im Gegensatz zu jenen Galerien, die er beschreibt, ist es für seine Rede wesentlich, dass der Rahmen des Gemäldes, welches er entwirft, keine Aufmerksamkeit auf sich zieht: »Auf samtdrapierten Staffeleien stehen Bilder, deren Rahmen durch irgendeine Absonderlichkeit, eine Spinne in ihrem Netz, ein Strauß von Distelköpfen aus Metall und dergleichen vordringlich den Blick auf sich zu ziehen suchen.« (Nordau 1896: 20) Nordau möchte den Blick gerade nicht auf den Rahmen, bzw. auf den Akt der Rahmung lenken, sondern diesen dem Blick des Betrachters entziehen. Anders ausgedrückt: Nordau entwirft in dem Kapitel »Symptome« ein Bild, ein Tableaux jener Moderne, das seiner Meinung nach kennzeichnend für Entartungsprozesse ist. Dieses Tableaux wird von einem allwissenden Erzähler, der sich quasi schwebend über dem Geschehen diesseits und jenseits der Differenzen bewegt, dargeboten. Auf diese Weise erreicht er eine Position, die es zu erlauben scheint, die Erscheinungsformen der Welt nicht nur zu beschreiben, sondern auch mit Blick auf eine dahinter stehende letzte, wahre Ebene kritisch zu durchleuchten. Der Betrachter stellt sich jenseits des Bildes auf und überlässt es dem Leser die Schlussfolgerungen zu ziehen, nachdem dieser hinreichend instruiert worden ist: »Der Leser ist nun auf die Aussichtspunkte gestellt, von denen er die neuen ästhetischen Richtungen in ihrer wahren Beleuchtung und Gestalt sieht.« (Nordau 1896: I, 81)18 Für die »wahre Beleuchtung« hat Nordau Sorge getragen. Sein Anteil soll als der eines idealen Mediums erscheinen, durch das die »Wahrheit« sich Gehör zu verschaffen weiß. Der Sprecher macht sich zum Medium der (transzendenten) Wahrheit, beherrscht beide Seiten, das Innen und das Außen. Dass es sich hierbei um eine phantasmatische Idealisierung handelt, dass Nordau die ›Spinne‹ nicht vom Rahmen verscheuchen kann, ist bereits angeklungen und wird uns im Rahmen der Frage nach dem Begehren, welches sich in Nordaus Sprache manifestiert, noch eingehender beschäftigen. Hier 18 Weiter heißt es dort: »Aufgabe der folgenden Bücher wird es sein, bei jeder einzelnen die Krankhaftigkeit nachzuweisen und zu untersuchen, mit welcher besondern Gattung von Entartungs-Delirien oder hysterischen Denkvorgängen sie verwandt oder identisch sind.« 62
VOR DEM GERICHT
interessiert mich zunächst eine Facette, die meines Erachtens die eingangs beschriebene apokalyptische Redeform mit der medizinischen Semiotik verbindet. Einerseits ruft die apokalyptische Szenerie den Eindruck hervor, dass Nordaus Warnungen »namentlich [an] die eindrucksfähige, sich für alles Seltsame und scheinbar Neue leicht begeisternde Jugend«, kurz vor dem Jüngsten Gericht lokalisiert werden. Andererseits weist auch der Symptombegriff auf eine Struktur hin, die nicht nur in das semantische Feld der apokalyptischen Zeichen hinüberreicht, sondern auch Affinitäten zum juridischen Diskurs besitzt. Um den Zusammenhang zwischen Gerichtsdiskurs und Symptomatologie nachgehen zu können, möchte ich zunächst den Begriff des Symptoms, wie er bei Max Nordau und in der Psychoanalyse Sigmund Freuds entwickelt wurde, näher beleuchten, seine versuchsweise Nutzanwendung für die Kriminalpsychologie der Jahrhundertwende andeuten, um schließlich auf Nordaus Symptomkonzept zurückzukommen.
S y m p t o m e & S t ig m a t a Schon das Wort »Symptom« weist mehrfache Bedeutungsebenen auf, die sich für diese Überlagerung anbieten. Das Fremdwörterbuch des Dudens definiert »Symptom« wörtlich: griechisch »Zufall; vorübergehende Eigentümlichkeit« und führt näher aus »1. Anzeichen, Vorbote, Warnungszeichen; Kennzeichen, Merkmal« und fügt dieser ersten, allgemeinen Definition des Symptoms eine zweite spezifische hinzu: »Krankheitszeichen, für eine bestimmte Krankheit charakteristische, zu einem bestimmten Krankheitsbild gehörende krankhafte Veränderung (Medizin)«. (Dudenredaktion 2001: 758) In Nordaus Argumentation greifen zwei Bedeutungsebenen beständig ineinander über: Wenn er von Symptomen spricht, meint er zunächst Symptome im Sinne von Krankheitszeichen. In diesem Sinne sammelt er in seinen ›Einzelanalysen‹ Hinweise darauf, dass Produkt und Produzent Merkmale der Entartung aufweisen. Für den Duktus seiner eigenen Rede ist aber darüber hinaus die erste Bedeutungsebene von Symptom relevant: Die beobachteten Merkmale werden quasi unter der Hand zu »Anzeichen«, Vorboten und »Warnungszeichen« einer allgemeinen Situation, die er als apokalyptische Zäsur inszeniert. 63
RHETORIK DER ENTARTUNG
Diese zweifache Bedeutung des Symptombegriffs liefert einen Hinweis darauf, wie eine Eigentümlichkeit von Nordaus Text erklärt werden könnte: Wenngleich Nordaus zweites Kapitel den Titel »Symptome« trägt, taucht der Begriff im Kapiteltext selbst nicht auf. Signifikanterweise verwendet Nordau den Begriff des Symptoms überhaupt kaum, sondern spricht stattdessen von Stigmata 19 der Entartung. Was bedeutet diese terminologische Verschiebung? Und steckt in ihr mehr als nur eine Frage der Terminologie? Nordau entscheidet sich für den Begriff des Stigmas, obgleich ihn diese Wahl direkt in Erklärungsnot bringt: Der Rede vom Stigma haftet eine religiöse und ethische Konnotation an, die Nordau abzuweisen versucht. Die Entartung verrät sich beim Menschen durch gewisse körperliche Merkzeichen, welche man »Stigmate« oder Brandmarken nennt, ein unglückliches Wort, denn es ist von der falschen Vorstellung eingegeben, als wäre die Entartung notwendig die Folge einer Schuld und ihr Anzeichen eine Strafe. Solche Stigmate sind Mißbildungen, Mehrbildungen und Bildungshemmungen, in erster Reihe die Asymmetrie, d. h. die ungleiche Entwicklung der beiden Hälften des Gesichtes und Schädels, dann Unvollkommenheiten an der Ohrmuschel, die durch unförmliche Größe auffällt oder henkelartig vom Kopfe absteht, deren Läppchen fehlt oder angewachsen, deren Randleiste (Helix) nicht umgeschlagen ist, ferner Schielauge, Hasenscharte, Unregelmäßigkeiten in der Form und Stellung der Zähne, spitzbogiger oder flacher Bau des Gaumens, zusammengewachsene oder überzählige Finger (Syn- und Polydaktylie) usw. (Nordau 1896: 32f)
Das ›unglückliche Wort‹ verrät durch seine Provenienz die Überlagerung von medizinischem und religiös-ethischem Diskurs. Doch mit dem Begriff des Stigmas kommt eine weitere, nicht unwesentliche Bedeutungsverschiebung ins Spiel: Während man mit Symptom ein temporäres Krankheitsanzeichen meint, zielt der Begriff Stigma auf eine bleibende Merkmalsveränderung. Wie die Beispiele, die Nordau anführt, deutlich machen, handelt es sich in der Regel um vererbte bzw. angeborene »Mißbildungen, Mehrbildungen und Bil19 Unter dem Eintrag »Stigma« definiert das Fremdwörterbuch des Duden: »a) Mal, Zeichen; Wundmal; b) […] Wundmale Christi; […] den Sklaven aufgebranntes Mal bei Griechen und Römern. […] auffälliges Krankheitszeichen, bleibende krankhafte Veränderung« (Dudenredaktion 2001: 949). 64
VOR DEM GERICHT
dungshemmungen«. Insofern ermöglicht die Rede vom Stigma eine direkte Einbindung in das Entartungskonzept, da dieses auf der Logik von Vererbungslehre bzw. genauer: auf der direkten Übertragung von Merkmalen beruht. Die Differenz, die sich durch die Verschiebung von Symptomund Stigmabegriff zeigt, scheint mir bedeutsam zu sein. Thomas Anz20 spricht mit Blick auf Nordau in seiner Studie zu Krankheitsmodellen in der Literatur davon, dass »Nordaus normative Diskursstrategie […] nicht primär darauf [zielt], mit Entartung als Sanktion für normwidriges Verhalten zu drohen« (Anz 1989: 41). Entgegen Nordaus Versuch, sich von der ›unglücklichen‹ Bedeutung des Stigmas zu befreien, erhält der Begriff jedoch »etwas von jener ursprünglichen Bedeutung zurück«: »Als ›Stigmate‹ fungieren in kulturkritischen Diskursen […], diagnostische Etikette […], die dem angeheftet werden, der gegen die postulierten Normen verstößt.« (Anz 1989: 41) Die Verquickung von Medizin, Norm und Moral erscheint dabei als komplexes Manöver: Der diagnostische Begriff des »moralischen Irrsinns« oder der »moral insanity« aus der naturwissenschaftlichen Psychiatrie des 19. Jahrhunderts ist zwar hochgradig normativ, doch nicht moralistisch in dem Sinn, daß dem Kranken die moralische Schuld für sein Irresein angelastet wird. Die Ursachen jedenfalls, die Nordau ganz unpolemisch für die kollektiven Entartungsphänomene anführt, stellt er nicht annähernd in ein ähnlich negatives Licht wie die Phänomene selbst. Und sie sind im Grunde nicht dazu geeignet, diejenigen, die von den Normen abweichen, mit Schuldzuweisungen zu belasten. (Anz 1989: 42)
Und Christoph Schulte betont, Nordaus Verwendung des Symptombegriffes sei verhältnismäßig unscharf.21 Er schreibt: »Ein weites Feld von Symptomen, von denen sich eines oder mehrere je nach 20 Anz betont in diesem Sinne die Rolle der Krankheitssymptome, die »Nordau an der Haar- und Kleidermode oder der Wohnungseinrichtung der gehobenen Gesellschaftsschicht ebenso ab[liest] wie an derem [sic!] Geschmack in Kunstausstellungen und Konzertsälen, im Theater oder bei der Lektüre. […] All diese ›Symptome‹ ergeben zusammen das ›Syndrom oder Gesamtbild‹ von Krankheiten, die in der Psychopathologie und Kulturkritik um 1900 eine […] herausragende Rolle spielten.« (Anz 1989: 35f). 21 So heißt es etwa, Nordau sammle »eine Vielzahl von reichlich weit gefassten Symptomen der Entartung« (Schulte 1997: 222). 65
RHETORIK DER ENTARTUNG
Bedarf in den Werken der als entartet Kritisierten werden nachweisen lassen.« (Schulte 1997: 222) Der Eindruck von Beliebigkeit entsteht also aufgrund einer zweifachen Übertragung: zum einen werden körperliche Merkmale mit geistigen analogisiert und somit die klassische Descartes’sche Unterscheidung unterlaufen, zum anderen wird alles und jedes potentiell als Symptom beobachtbar, ohne dass eine spezielle Ätiologie eingehalten werden muss, wie dies für die konventionelle Auffassung des Symptoms in der Medizin und speziell im Bereich der Psychiatrie gilt. Mitte des 19. Jahrhunderts bestand ein Schwerpunkt der psychopathologischen Forschungen darin, das Verhältnis von Symptomen bzw. Symptomkomplexen zu Krankheitseinheiten grundlegend zu definieren.22 Statt einer Beschreibung der aus dieser Sicht einschlägigen medizinischen Krankheitsmerkmale, liefert Nordau eine detailreiche Schilderung der zeitgenössischen Damen- und Herren- sowie Kindermode, eine
22 Siehe hierzu die Probevorlesung von Gruhle, in der dieser einen Überblick über die Genese des Symptombegriffs im 19. Jahrhundert und dessen Infragestellung durch die Psychoanalyse liefert. »Ein großer Teil seiner [Kräpelins] Vorgänger hatte sich mit dem Studium einzelner Symptome oder einiger Symptomvereinigungen befaßt und dabei die Meinung gehegt, in diesen einfachen oder komplexen Zuständen Krankheiten vor sich zu haben. Aber schon 1840 erwähnte Zeller (Winnenthal) ausdrücklich, dass die 4 Formen der seelischen Störung (Schwermut, Tollheit, Verrücktheit, Blödsinn) nicht Krankheitsarten, sondern Stadien des psychischen Krankheitsprozesses sind. Und derselben Meinung ist Griesinger, der die genannten 4 Formen ausdrücklich nur als Grundzustände, als Symptomenkomplexe bezeichnet, während er das ›Wesen‹ der psychischen Krankheiten und also auch ihrer Einteilung in den ›zugrundeliegenden anatomischen Veränderungen des Gehirns‹ erblickt. Von dem letzten Irrtum hält sich Kahlbaum frei; er spricht schon in seinem Vortrage über die klinisch-diagnostischen Gesichtspunkte der Psychopathologie (in den 70er Jahren) davon, dass die 4 Hauptformen des Irreseins (Melancholie, Manie, Moria oder Perturbation, Demenz) sich mischen und sich auch folgen können, sodaß der Eindruck entsteht, jemand leide gleichzeitig oder nacheinander an zwei, ja mehr seelischen Krankheiten. Es seien dies aber gar keine Krankheiten sondern Symptomenkomplexe […]. Die Krankheiten müsse man nach Umfang, Verlauf und Ausgang der Störung beurteilen. […] Bei Kahlbaum findet sich der Satz: ›Dieses eines ätiologische Moment bedingt aber noch keine Diagnose, sondern erst der gesamte klinische Charakter, d.h. der allseitige Symptomenzustand und der gesamte Verlauf.‹« (Gruhle 1913: 466f). 66
VOR DEM GERICHT
Beschreibung der Freizeitgestaltung und des modischen Interieurs des Fin de Siècle. Nordau konstatiert das Auseinanderfallen zwischen einem ursprünglichen Typus, einem klaren Stil, einer Handschrift und ihrer verwirrenden Darbietung, die aus allen Erscheinungsformen der Moderne Elemente eines Maskenballs, aus ernsthafter Darbietung eine theatrale Schauspielerei macht. Das wahre Wesen wird, so scheint es, durch die falsche Erscheinungsform verdeckt. Dieser Eindruck entsteht nicht zuletzt durch die Übertragung körperlicher Merkmale auf geistige und textuelle Phänomene.23 Der gemeinsame Charakter aller dieser Menschen-Erscheinungen ist, daß sie nicht ihre wirkliche Eigenart geben, sondern etwas darstellen wollen, was sie nicht sind. Sie begnügen sich nicht damit, ihre natürliche Bildung zu zeigen, auch nicht damit, diese mit erlaubter Nachhilfe ihrem richtig empfundenen Typus entsprechend zu vervollkommnen, sondern suchen irgendein Vorbild aus der Kunst zu verkörpern, das mit ihrem eigenen Schema keine Verwandtschaft hat, ja ihm oft heftig entgegengesetzt ist; und meist nicht einmal ein einziges Vorbild, sondern mehrere zugleich, die wieder gegen einander die Zähne fletschen. So entstehen Köpfe, die auf Schultern sitzen, zu welchen sie nicht gehören, Trachten, deren Bestandtheile unzusammenhängend sind wie ein Traumkostüm, Farbengesellungen, die im Dunkeln vorgenommen scheinen. Man hat den Ein23 Ich sehe in dieser terminologischen Entscheidung Nordaus nicht lediglich die Trennung von einer geistig-kulturellen Ebene, die als Symptome beschrieben, und einer körperlichen Ebene, die als Stigmate gefasst wird. Der Übertragungsvorgang, der hier stattfindet, bleibt nicht ohne Spuren. Dagegen implizit bei Andrea Kottow: »Die beschriebenen Charakteristika seiner Zeitgenossen sind für den Arzt Nordau jedoch nicht nur Modeerscheinungen, sondern Symptome einer Krankheit, die sich erschreckend ausbreitet und zum Epochenphänomen avanciert. Das Erkennungsmerkmal für dieses Phänomen ist die ›Unregelmäßigkeit‹. Sie ist im Psychischen das Pendant zu den körperlichen Stigmaten, die sich ebenfalls durch Asymmetrie auszeichnen. Durch das Stichwort der Unregelmäßigkeit gelingt es Nordau, auch heterogene Erscheinungsbilder in seiner Perspektive zu betrachten. Unregelmäßig ist der fehlende Sinn für Sittlichkeit, Recht, Gesetz, Anstand und Schamhaftigkeit, was in der Pathologie als ›moralischer Irrsinn‹ bezeichnet wird, unregelmäßig sind auch die Selbstsucht, die Impulsivität und die Emotivität. Unregelmäßig ist, was der Norm der Vernunft nicht entspricht, und diese bezieht sich auf individuelle wie auch auf kollektive Verhaltensweisen.« (Kottow 2004: 135f). 67
RHETORIK DER ENTARTUNG
druck, auf einem Maskenfeste zu sein, auf dem Jeder in einer Verkleidung und mit einem Charakter-Kopf erschienen ist. Bei manchen Gelegenheiten, wie am Firnißtage des Pariser Marsfeldsalons oder bei der Eröffnung der Gemälde-Ausstellung der Londoner Royal Academy, kann sich dieser Eindruck so unheimlich steigern, daß man glaubt, unter Larven zu wandeln, die in einer fabelhaften Leichenkammer aus zerstückten Körpern aufs Gerathewohl zusammengeflickt wurden, Köpfe, Rümpfe, Gliedmaßen, wie sie gerade zur Hand waren, und die der Bildner dann in unbedenklichem Durcheinander mit den erstbesten Gewändern aus allen Geschichtszeiten und Weltgegenden bekleidet hat. Jede einzelne Gestalt strebt sichtlich danach, mit irgend einer Seltsamkeit des Umrisses, der Haltung, des Schnittes, der Farbe, die Aufmerksamkeit heftig wachzurütteln und gebieterisch festzuhalten. Sie will einen starken, gleichgiltig ob angenehmen oder unangenehmen, Nervenreiz üben. Ihr fixer Gedanke ist, grell aufzufallen. (Nordau 1896: 18f)
Auch im Interieur ist alles »ungleichartig, alles wahllos zusammengewürfelt«. Diese Erscheinungsformen zeichnen sich durch einen hohen Eklektizismus aus, in welchem heterogene Stilelemente unterschiedlicher Epochen miteinander vermengt werden, sodass die jeweils eindeutige Handschrift dieser Stile nicht mehr erkennbar ist. Er resümiert: »Der gemeinsame Charakter aller dieser MenschenErscheinungen ist, daß sie nicht ihre wirkliche Eigenart geben, sondern etwas darstellen wollen, was sie nicht sind.« (Nordau 1896: 18) Die Frage nach Inkongruenz von Erscheinungsbild und originärem Typus sowie nach Wesen und theatraler (Selbst-) Inszenierung findet ein interessantes Pendant in der zeitgenössischen Hysterieforschung. Hysterie und Schauspielerei wurden immer wieder als enge Verwandte betrachtet, wie etwa Elaine Showalter in ihren Hystorien (Showalter 1997) ausgeführt hat. Jean Martin Charcot, bei dem sowohl Max Nordau als auch Sigmund Freud studierten, hatte an der Pariser Salpêtrièr das bis in die 1890er Jahre maßgebliche Krankheitsbild der Hysterie entwickelt, welches vor allem somatische Ursachen und eine degenerative Ätiologie, d. h. eine erbliche Disposition für Hysterie, als Ausgangspunkt der Krankheit postulierte.24 Irritierend – wenngleich nicht für Charcots Konzept der Hysterie – an seinen Befunden war, dass die Patientinnen solche Merkmale auf24 Zur wechselseitigen und intensiven Beziehung von Hysterie und Theatralität bei Charcot siehe vor allem die Studie von Didi-Huberman 1997. 68
VOR DEM GERICHT
wiesen, wie sie ansonsten eher für die im gleichen Trakt untergebrachten Epileptikerinnen typisch waren (vgl. Shorter 1994: 300309). Hysterie und Theatralität rückten in eine unheimliche Nachbarschaft (vgl. Showalter 1997: 143-158 und 49-60). Die Grande Hystérie, die sich etwa durch so markante Phänomene wie den großen Bogen, bei dem die Patientin den Rücken in konvulsivischen Krämpfen nach hinten wirft, so dass der Bauch nach oben, der Kopf wiederum abwärts gedrückt wird, geriet somit in den Verdacht der Simulation und Manipulation.25 Wie Edward Shorter anmerkt, kam es insbesondere in der Salpêtrièr zu einer markanten Häufung so gestalteter Hysteriefälle; Showalter spricht von einer ›metaphorischen Epidemie‹. Charcot löste das Problem zunächst durch die Annahme, dass Hysterische eine besondere Suggestibilität hätten, die sich etwa in der Eignung der Kranken für die Hypnose ausdrückte. Nachahmung wird somit in das Krankheitsbild integriert, ja die Suggestibilität und Fähigkeit zur Hypnose wird selbst zum Anzeichen von Hysterie. Nordaus Vorstellung geht in eine ähnliche Richtung: Die Inkongruenz von Wesen und Erscheinung, die Nordau hervorhebt,26 ist 25 Zum Verdacht der ärztlichen Manipulation: »Gegen Ende seines Lebens äußerte Charcot zunehmend Bedenken der Art, daß seine Theorien mangelhaft sein könnten und er den psychischen und sozialen Komponenten im Leben seiner Patientinnen mehr Aufmerksamkeit hätte schenken sollen. […] Wissenschaftliche Rivalen Charcots wie Hippolyte Bernheim in Nancy fochten seine Theorien an, und einige seiner eigenen Assistenten gaben jetzt zu verstehen, er habe seine Patientinnen womöglich zu ihren Darbietungen angeleitet. […] Der Schweizer Neurologe Paul Dubois hielt zu Anfang des Jahrhunderts fest: in der Salpêtrière ›sind alle Hysteriefälle einander ähnlich. Der Oberarzt oder die Assistenzärzte brauchen nur das Kommando zu geben, und schon führen sie sich auf wie Marionetten oder wie Zirkuspferde, wenn sie in einem fort die gewohnten Runden drehen.‹« (Showalter 1997: 59). 26 Andrea Kottow deutet die Dichotomie von Wesen und Erscheinung dahingehend, dass der Mangel an »Einheitlichkeit« im Erscheinungsbild und der Eklektizismus, welcher die modernen Gestalten im Sinne Nordaus kennzeichnet, ein »hybrides Nichts« anzeige. Ich denke, Nordau orientiert sich in seiner Symptombeschreibung durchaus an den Parametern des Entartungskonzeptes. Der »Mangel an Eigenart«, den er beklagt, erhält einen Namen, der das beobachtete Phänomen nicht so sehr zum Statthalter des Mangels schlechthin, sondern diesen vielmehr auf einer Skala zwischen krank und gesund verortbar machen soll. Vgl. Kottow 2004: 134. 69
RHETORIK DER ENTARTUNG
verwickelter gedacht, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn gerade das Auseinandertreten von Wesen und Erscheinung ist, so die Pointe seines Ansatzes, das entscheidende Krankheitsmerkmal der Entartung. Gerade indem sie von »ihrer wirklichen Eigenart« abweichen, zeigen die Menschen und Kulturerscheinungen dem ärztlichen Beobachter ihre wahre Gestalt. Die Symptome der Entartung lassen sich somit überall beobachten, sie durchdringen die gesamte Kultur, den Habitus und seine Manifestationen. Dass diese ›Diagnose‹ kein ästhetisches, sondern ein medizinisches Werturteil darstellt, wird von Nordau mit Hilfe einer Eins-zu-eins-Relation zwischen körperlichen und geistigen Strukturen begründet. Die »körperlichen Merkzeichen«, die ganz im Geiste des ausgehenden 19. Jahrhunderts durch eine sorgfältige Ausmessung des Kopfes sowie eine »Prüfung [des Stammbaumes]« (Nordau 1896: 34) eruiert und etwa nach dem Vorbilde Rudolf Virchows archiviert werden können,27 damit die Diagnose Degeneration außer Zweifel steht, entziehen sich in aller Regel Nordaus Möglichkeiten der Überprüfung. Nordau reagiert in dieser Not mit einem Großangriff durch Analogiebildung: Die Wissenschaft hat aber neben den körperlichen auch geistige Stigmate gefunden, welche die Entartung eben so sicher kennzeichnen wie jene, und diese lassen sich in allen Lebensäußerungen, namentlich auch in allen Werken der Entarteten mit Leichtigkeit nachweisen, so daß es nicht nötig ist, den Schädel eines Schriftstellers zu messen oder das Ohrläppchen eines Malers zu sehen, um zu erkennen, daß er zur Klasse der Entarteten gehört […]. Dieselbe Ungleichmäßigkeit, die wir in der körperlichen Entwickelung der Entarteten beobachtet haben, treffen wir auch in ihrer geistigen an. Die Asymmetrie des Gesichtes und Schädels findet gleichsam ihr Gegenstück in ihren Fähigkeiten. Einzelne von diesen sind ganz verkümmert, andere krankhaft übertrieben. (Nordau 1896: 34f )
»Ungleichmäßigkeit« und – der annähernd synonyme Begriff – »Asymmetrie« sind die Hauptgesichtspunkte, die körperliche Merkmale und ›alle Lebensäußerungen‹ wie »Fähigkeiten« prägen. Abweichung vom Gleichmaß, oder wie Andrea Kottow schreibt, von der »Norm« ist in diesem Sinne gleichbedeutend mit Entartung (Kottow 2004: 135f). Denn wenn die Art mit der Norm gleichge27 Siehe hierzu z.B. den Artikel im Ausstellungskatalog des Dresdner Hygienemuseums von te Heesen 1999. 70
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setzt wird, wird jede Abweichung von dieser Norm als Ent-Artung lesbar.28 Nordau unterfüttert diese allgemeinen Strukturmerkmale mit einer Vielzahl von Einzelcharakteristika, die er aus der umfangreichen – vor allem französischen – psychopathologischen Literatur zusammenträgt. Als Einzelmerkmal oder in Bündelung liefern sie ihm Hinweise darauf, dass ein Schriftsteller oder Maler »zur Klasse der Entarteten gehört«. Nordau dehnt das Verfahren der Psychopathologie des 19. Jahrhunderts aus: Ziel seiner Untersuchungen ist nicht mehr, wie bei den klassischen Vertretern der Psychopathologie, eine möglichst umfassende Rekonstruktion biographischer Details, die Aufschluss über die Genese des Krankheitsbildes geben könnten, und die mit den ästhetischen Produktionen korreliert werden,29 sondern Nordau reicht das Auffinden einzelner Hinweise – seien sie nun biographischer oder werkimmanenter Natur.30 Die 28 Zum Komplex von Normalismus und Normativität siehe Link 1997: 15-26 und 185-276. Und Nordau 1896: 32: »Wir müssen uns die Entartung als eine krankhafte Abweichung von einem ursprünglichen Typus vorstellen. Diese Abweichung, auch wenn sie anfänglich noch so einfach wäre, schließt übertragbare Elemente von solcher Beschaffenheit in sich, daß derjenige, der ihren Keim in sich trägt, immer mehr und mehr unfähig wird, seine Aufgabe in der Menschheit zu erfüllen, und daß der geistige Fortschritt, der schon in seiner Person gehemmt ist, sich auch bei seinen Nachkommen bedroht findet.« 29 Zum Verhältnis von Fiktionalität und Psychopathographie siehe auch Link-Heer 1983: 280-302. 30 Das Genre der Pathographie, das mit den ersten Schriften von Paul Julius Möbius über Rousseau, Schopenhauer u.a. Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt und in den 1920er Jahren wieder größere Verbreitung findet, gewinnt vor diesem Hintergrund erhebliche Wichtigkeit. Das Interesse der Psychiatrie an einer »verständlichen« Darstellung von Paranoiafällen, das sich vor allem in Anschluss an Karl Jaspers Unterscheidung von Prozess vs. Entwicklung bzw. Erklären vs. Verstehen bildet, verlangt mehr als die bloße Feststellung von Symptomen des Wahns, wie sie in der früheren Paranoiaforschung gang und gäbe war. An deren Stelle tritt die Notwendigkeit, Genese und Verlauf der Paranoia in einer konsistenten Darstellung zu präsentieren, die Anfang und Endpunkt des Krankheitsverlaufes vor dem Hintergrund von Lebensereignissen und Persönlichkeitsstrukturen fassen soll. Damit wird die »lückenlose Verstehbarkeit« eines Paranoiafalles zu einem wesentlichen Kriterium für die Ätiologie der Paranoia. Die Konstruktion einer dynamischen Entwicklungslinie, die alle Elemente der Biographie unter dem Gesichtspunkt psychiatrischer Typenbildung vereinheitlicht, wird selbst zum Gegenstand der Reflexion erhoben. Denn das Geoder Misslingen einer biographischen Narration wird in dem Maße 71
RHETORIK DER ENTARTUNG
Symptome müssen nicht in Vollständigkeit und auch nicht im Sinne eines Krankheitsverlaufes angeordnet sein, sondern einzelne Elemente (wie eine besondere Emotivität, Ideenflucht etc.) gelten als hinreichendes Anzeichen für die physisch-geistige Verfassung ihrer Träger. Nordau reichen somit einzelne Indizien, um nach seiner Ansicht einen begründeten Verdacht auf die Diagnose »Entartung« zu formulieren. Er macht Gebrauch von umfangreichen Analogisierungen. »Entartung« wird somit selbst zu einer Metapher, die die heterogenen Bereiche verbindet. So wie die körperlichen Merkmale der Beurteilung psychischer, so dienen die psychischen Manifestationen Rückschlüssen auf organische Deformationen.
S y m p t o m e, p s y c ho a n a l y t is c h Freuds Symptombegriff geht in seiner ersten und bedeutendsten Fassung auf die gemeinsame Arbeit mit Josef Breuer zur Hysterie zurück. In ihrer – wie Nordaus Entartung – ebenfalls in den 1890er Jahren entstandenen Schrift Studien zur Hysterie hatten sie die These aufgestellt, die Bildung hysterischer Symptome sei einem verdrängten Affekt zu verdanken, der wieder aus dem Unter- ins Bewusstsein hervorgeholt werden müsste, damit die ›Leiden an den Reminiszenzen‹ geheilt werden könnten (vgl. Freud 1999a: 86). Das Symptom selbst nimmt sich in der Wahrnehmung des Patienten wie ein unverständlicher »Fremdkörper«31 aus, dessen Verbindung zu verdrängten Affekten sich dem verstehenden Zugriff des Patienten entzieht. Erst in der psychoanalytischen Konstruktion (vgl. Freud 1999p) werden die Verbindungslinien zum verdrängten Affekt hergestellt und eine Deutung des Symptoms vorgenommen, die das Symptom zur Lebensgeschichte des Patienten in ein Verhältnis bedeutsam, wie die psychiatrische Nomenklatur in Abhängigkeit gerät zur Art und Weise der Darstellung ihrer Fälle. Siehe etwa Möbius 1889; Heidenhain 1924; auch Worbs 1988. 31 Freud 1999a: 85: »Aber der kausale Zusammenhang des veranlassenden psychischen Traumas mit dem hysterischen Phänomen ist nicht etwa von der Art, daß das Trauma als agent provocateur das Symptom auslösen würde, welches dann, selbständig geworden, weiter bestände. Wir müssen vielmehr behaupten, daß das psychische Trauma, respektive die Erinnerung an dasselbe, nach Art eines Fremdkörpers wirkt, welcher noch lange Zeit nach seinem Eindringen als gegenwärtig wirkendes Agens gelten muß […].« 72
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setzt.32 Die Deutungen, die im Rahmen der Psychoanalyse zwischen Patient und Analytiker ausgehandelt werden, unterliegen dabei einer konstitutiven Nachträglichkeit (vgl. Freud 1999l). Sie liefern nicht die Rekonstruktion einer kausalen Ursache, sondern vielmehr ein Netz von Deutungen, welche der Patient im Laufe und im Durchgang durch seine Biographie hinsichtlich des verursachenden Komplexes entwirft. Das Symptom ist ein »Knotenpunkt der Bedeutungen«, die sich nicht monokausal auflösen lassen; es ist überdeterminiert.33 Im Kontext eines psychoanalytischen Symptombegriffs wird die Differenz zwischen Affekt und Artikulation bedeutsam. Das Auseinandertreten von Sprechen und Empfinden ist in diesem Sinne auch für C.G. Jung ein Krankheitsmerkmal. Jung hatte bereits 1902 Versuche zum Assoziationsverhalten Gesunder gemacht,34 die er in den folgenden Jahren für verschiedene Krankheitsfelder weiter ausdehnte. Im vierten Kapitel seiner 1907 veröffentlichten Studie zur Dementia praecox mit dem Titel Dementia praecox und Hysterie: Eine Parallele greift er die Grundidee Sigmund Freuds zur Ätiologie der Hysterie auf, um sie mit der Symptomatik der Dementia praecox zu vergleichen. Jung erklärt den Vorgang der Verdrängung anhand einer affektiven Umkehrung zwischen einem ›authentischen‹ Gefühl in einer spezifischen Situation und Zeit sowie der Art und Weise, wie dieses ausgedrückt oder vorgestellt wird. 32 Auf die theoretischen Wandlungen und die Veränderungen des Symptombegriffs im Laufe der Freudschen Arbeiten kann ich hier nicht näher eingehen. Siehe neben den frühesten Konzepten in den Studien zur Hysterie vor allem seine Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse von 1916/17, Freud 1999k: 264-281 und etwa Freud 1999o. 33 Zum Symptom und dessen Überdeterminiertheit in der Psychoanalyse siehe Wilden 1984: 34-39 und bei iek: »Das Symptom ist in der Psychoanalyse natürlich ein Knotenpunkt von Bedeutungen; eine Erscheinung, deren symbolische Überdeterminierung dechiffriert werden muß. Damit ist aber bei weitem noch nicht alles gesagt. Es gibt noch einen Überschuß, der auch dann noch fortbesteht, wenn wir hinter dem Symptom seine symbolische Überdeterminierung dechiffriert haben, einen Überschuß, der von keiner signifikanten Interpretation aufgehoben werden kann« (iek 1991: 20). 34 Es handelt sich hier um Pionierforschung am Burghölzli in Zürich, um Versuche – unter Jungs Leitung – an der Psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich von ca. 1902 an. Die Studien erschienen zwischen 1904 und 1910 im Journal für Psychologie und Neurologie. 73
RHETORIK DER ENTARTUNG
Ich habe längere Zeit eine Hysterische beobachtet, die jedes Mal, wenn sie von düsteren Komplexgedanken geplagt wurde, sich in eine ausgelassen heitere Stimmung hineinsteigerte, wodurch sie den Komplex verdrängte. Wenn sie etwas Trauriges, das sie eigentlich tief bewegen mußte, erzählte, so tat sie es mit lautem Gelächter. Andere Male sprach sie mit absolutem Gleichmut (der aber den Akzent der Absichtlichkeit verriet) von ihren Komplexen, wie wenn diese sie nicht von ferne berührten. Der psychologische Grund dieser Inkongruenz zwischen Vorstellungsinhalt und Affekt scheint darin zu liegen, dass der Komplex autonom ist und sich darum nur dann reproduzieren läßt, wenn er will. (Jung 1995c: 79)
Neben der autosuggestiven Begabung der Patientin (eine Beziehung zwischen Hypnotismus, Suggestibilität und Hysterie hatten bereits James Braide und wie erwähnt J. M. Charcot nahegelegt)35 fällt auf, dass die Patientin einen anscheinend selbstverständlichen Mechanismus der Kongruenzbildung durchkreuzt. Vielmehr nicht sie, als bewusst Handelnde, sondern ihr Komplex durchkreuzt die adäquate Repräsentation. Dieser agiert wie ein autonomer Fremdkörper. Jung beobachtet über längere Zeit die Art und Weise, wie seine Patientin eine Differenz zwischen ihrer (unterstellten) wahren Emotion und ihrer zum Ausdruck gebrachten erzeugt. Dabei verrät sie sich in seinen Augen selbst: obgleich ihr die zugrunde liegenden Mechanismen nicht bewusst sind, zeigen ihre Verschleierungen einen »Akzent der Absichtlichkeit«, ja diese verborgene Ebene wird in den Augen des Arztes als die eigentliche, wahre Intention erkennbar. In ihrer Fähigkeit zur »Pseudoselbstbeherrschung« und ihrem Drang, sich verbal von ihren affektiven Regungen zu distanzieren (Jung nennt dies ein »Darüberwegreden«), sieht er eine große Gemeinsamkeit zwischen seinen hysterischen und dementen Patienten (Jung 1995c: 80 und 79). Das hysterische Symptom erscheint dementsprechend als das ›wahrhaftigere Kommunikationsangebot‹, das sich unter geeigneten Umständen entschlüsseln lassen könnte. In seiner Psychopathologie des Alltagslebens hat Freud eine Vielzahl von Fallbeispielen präsentiert, die die Determiniertheit des scheinbar zufälligen, unabsichtlichen und unbewussten Symptom-
35 Siehe Eckart 1989: 298f und zur Geschichte der Hysterie etwa Showalter 1997: 11-117. 74
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handelns beweisen sollen. Neben der einleitenden Erzählung,36 in welcher sich Freud auf einer Zugfahrt bei einem Reisegefährten, der ihn und seine Theorie der Determiniertheit der Fehlleistungen herausfordert, als erfolgreicher Detektiv darstellt,37 finden sich zahlreiche Geschichten, die von unbewussten Handlungen berichten, denen der Analytiker/Leser eine klare Absicht zuordnen kann. Der unbewusste Charakter macht Fehlleistungen dieser Art zu einer »Quelle von Mißverständnissen im menschlichen Verkehr«, denn: Der Täter, der von einer mit ihnen verknüpften Absicht nichts weiß, rechnet sich dieselben nicht an und hält sich nicht verantwortlich für sie. Der 36 Zum narrativen Charakter der Freudschen Falldarstellungen liegt eine umfangreiche Literatur vor, die ich hier nicht kritisch wiedergeben kann. Siehe etwa Mahony 1989; de Certeau 1997: 113-141. 37 Freud 1999b: 13-20. Zu dieser Geschichte siehe auch die bereits erwähnte Arbeit von Wilden 1984: 54-56, wo er eine kurze Analyse der metaphorischen und metonymischen Struktur der Assoziationen des Reisebegleiters vornimmt. Äußerst kritisch sieht van het Reve die narrative Anleihe an der Kriminalerzählung (nicht nur dieser) Freudschen Fallgeschichte: »›Freuds Analyse ist so brillant und so weithergeholt – man könnte sagen, daß sie sogar die fiktiven Meisterleistungen Sherlock Holmes in den Schatten stellt,‹ sagt Swales. Auch mich machte die ›literarische‹ Seite des Gesprächs zwischen Freud und dem jungen Mann stutzig. Es paßt alles zu schön, um wahr zu sein. Auffallend ist beispielsweise, daß Freud dem Patienten – und nicht, was naheliegend wäre, dem Analytiker – die Trennung von aliquis in den Mund legt. Der gesammte Dialog erinnert an die Konversation zwischen Sherlock Holmes und Dr. Watson. Die geniale Spürnase zieht eine Schlußfolgerung, die seinen Gesprächspartner in Erstaunen versetzt (›Wie können Sie das erraten?‹ ›How the deuce did you know that, Holmes?‹). Der Detektiv nimmt das Erstaunen mit Befriedigung zur Kenntnis, erklärt, daß das alles sehr einfach sei (›Das ist nicht mehr schwierig‹, ›Elementary, my dear Watson‹), und erklärt dann, wie er zu dieser Schlußfolgerung gekommen ist.« (van het Reve 1994: 18) Und: »Ein bemerkenswerter Unterschied zwischen Freud und Conan Doyle liegt darin, daß Conan Doyle seine Geschichten als Fiktionen publizierte und daß selbst innerhalb dieser Fiktion Sherlock Holmes, jedenfalls in The sign of four, soviel Redlichkeit für sich in Anspruch nimmt, zuzugeben, daß seine Deduktionen ›die Bilanz der Wahrscheinlichkeit‹ seien, womit er zu verstehen gibt, daß auch andere Schlüsse aus diesen Beobachtungen möglich sind. Freud hingegen tut gerade so, als ob alles tatsächlich so geschehen sei wie behauptet, und läßt darüber hinaus keine andere Erklärung als die seine zu.« (van het Reve 1994: 24). 75
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andere hingegen erkennt, indem er regelmäßig auch solche Handlungen seines Partners zu Schlüssen über dessen Absichten und Gesinnungen verwertet, mehr von den psychischen Vorgängen des Fremden, als dieser selbst zuzugeben bereit ist und mitgeteilt zu haben glaubt. Letzterer aber entrüstet sich, wenn ihm diese aus seinen Symptomhandlungen gezogenen Schlüsse vorgehalten werden, erklärt sie für grundlos, da ihm das Bewußtsein für die Absicht bei der Ausführung fehlt, und klagt über Mißverständnis von Seiten des anderen. Genau gesehen beruht ein solches Mißverständnis auf einem Zufein- und Zuvielverstehen. (Freud 1999b: 235)
Neben der Spannung zwischen Nicht-Verstehen auf der einen und »einem Zufein- und Zuvielverstehen« auf der anderen Seite, scheint mir an diesem Passus eine Begrifflichkeit aufschlussreich zu sein: Die Rede ist vom Täter, dem eine Handlung zur Last gelegt wird, für die er sich verantworten soll. Doch dieser Täter (der gleichermaßen als Partner und Fremder bezeichnet wird) ist nicht in der Lage, Rechenschaft für seine unbewussten Absichten zu liefern. Die Aufgabe des Analytikers in der Analyse ist es dementsprechend, anhand von Assoziationen und Träumen, jenen Verbindungslinien auf die Spur zu kommen, die sich dem Bewusstsein des Patienten entziehen und seine Deutungen peu à peu mit den Erinnerungen des Patienten so zu ergänzen, dass sich diesem ein bewusster Zugang eröffnet. Während der Patient genötigt ist, eine (zunächst) unmögliche Rechenschaft abzulegen, rückt der Analytiker in die Position eines Detektivs und Untersuchungsrichters, der nicht nur mehr sieht und weiß als sein Analysant, sondern auch in der analytischen Situation mit der Macht ausgestattet wird, Rechenschaft einzufordern (vgl. Butler 2003: 63-79).
Un t er s uc hu n g s r ic ht er & D et ek t iv e In zahlreichen Arbeiten über Freuds Psychoanalyse ist die Affinität zwischen der analytischen Arbeit und den Nachforschungen eines Detektivs betont worden und auch Freud hat im Rahmen seiner Falldarstellungen die Metaphorik der detective fiction aufgegriffen.38 C.G. Jung und Freud haben sich sehr früh für die kriminalpsy38 Eine Übersichtsdarstellung zur Detektiv-Metapher in Bezug auf die Psychoanalyse haben Haubl/Mertens 1996 geliefert. 76
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chologische Verwertbarkeit ihrer Assoziationstheorien interessiert. Wie Carlo Ginzburg in seinem Buch »Spurensicherung«. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst gezeigt hat, gibt es im ausgehenden 19. Jahrhundert eine starke Affinität zwischen den wissenschaftlichen Konzepten der Psychoanalyse, der Kriminologie und kunsthistorischen Beschreibungsmethoden, insofern als in diesen Wissenschaften eine neue Aufmerksamkeit für das Nebensächliche, das kleine Detail, entwickelt wird, das zum Schlüssel der Deutung wird (Ginzburg 1995: 7-44). Die Hysteriestudien hatten den Weg zu einer Sicht des Symptoms geebnet, das als eine Art »›Protosprache‹« aufgefasst werden kann, als ein »Code, in dem ein Patient eine Nachricht übermittelt, die aus den unterschiedlichsten Gründen nicht verbalisiert werden kann«.39 Durch die Intervention des Analytikers scheint es möglich, diesen teils nonverbalen Code zu knacken. Der Analytiker-Detektiv »betrachtet Verhaltensweisen als ›Symptome‹ und ›Leute wie Texte, die es zu lesen gilt«.40 Sherlock Holmes und Alphons Dupin stehen auch innerhalb der psychoanalytischen Literatur Pate für ein Erkenntnismodell, welches auf die Dechiffrierung des Symptoms setzt.41 Siegfried Bern39 Robert M. Woolsey, Hysteria 1875 to 1975, in: Diseases of the Nervous System 37 (Juli 1976), 379; zitiert nach: Showalter 1997: 17. 40 Haubl/Mertens 1996: 27f: »›Einige Jahre, bevor Freud mit seinem großen Werk begann, stand ein anderer Mann, der gleichzeitig Arzt und Schriftsteller war, in London im Rampenlicht öffentlichen Interesses. Die Arbeit, die er zu beschreiben begann, und von der er vorgab, daß sie im Haus in der Baker Street 221 B geschähe, nimmt interessanterweise einiges der Aktivitäten voraus, die kurz darauf tatsächlich in der Berggasse ihren Anfang nahmen. Die ›Methoden‹ des Umgangs mit dem Material, das der von diesem Schriftsteller erdachte Detektiv in Augenschein nahm, sind wohl bekannt. Er ist vor allem ein Meister der Beobachtung. Er hat sich trainiert, wie er oftmals sagt, ›zu sehen, was andere übersehen‹. Er betrachtet Verhaltensweisen als ›Symptome‹ und ›Leute wie Texte, die es zu lesen gilt.‹« 41 Dass sich das Verhältnis von Detektiv und Analytiker im Kontext einer an Jacques Lacans Freudlektüre orientierten Psychoanalyse anders ausnimmt, erhellt bereits aus der Lacanschen Fassung des Symptombegriffes. Siehe hierzu: »Hier müssen wir uns von der üblichen Auffassung des Symptoms als eines Zeichens trennen, eines Zeichens, das anderswohin verweist, das eine versteckte, an einem anderen Ort gegebene Wahrheit signalisiert: Das Symptom im analytischen Sinn, wenigstens beim Lacan der letzten Jahre, ist keine Chiffre, die anderswohin verweist, es ist vielmehr die Sache selbst, das einzige, das 77
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feld hat in seiner Schrift über den Begriff der Deutung in der Psychoanalyse die Parallele zwischen einem detektivischen Verfahren und der Psychoanalyse hervorgestrichen, diese jedoch in Hinblick auf die Vielschichtigkeit des psychoanalytischen Deutungsbegriffs systematisch eingeordnet.42 Die Arbeit der psychoanalytischen Rekonstruktion, die versucht jene Spuren im Seelenleben aufzudecken, die im Dienste der unbewussten Verschleierung verwischt worden sind, bietet sich in seinem Sinne am ehesten für eine derartige Parallelisierung an.43 Auch Freud wendet sich werbewirksam direkt an künftige Untersuchungsrichter: In »einem Vortrag, den Freud vor Jurastudenten
wahrhaftig existiert, das der Realität ihre Konsistenz gerade insofern verleiht, als es aus ihr als ein Fremdkörper herausfallen muß. Und insofern im Symptom ein Kern des Genießens persistiert, der jeder Interpretation widersteht, ist vielleicht auch das Ende der Analyse nicht in einer interpretativen Auflösung des Symptoms zu suchen, sondern in einer Identifikation mit ihm […].« (iek 1991: 26) Neben Lacan 1988 seien hier die Analysen von Hitchcockfilmen in iek 1994 sowie der Sammelband Michels et al. 2000 erwähnt. 42 Bernfeld unterscheidet fünf Deutungstypen: 1.) die finale Deutung, 2.) die funktionelle Deutung, 3.) die Rekonstruktion oder genetische Deutung, 4.) die diagnostische Deutung und 5.) die Symboldeutung (Bernfeld 1932: 452-460, 460-470, 471-477, 477-479, 479-481). 43 Bernfeld 1932: 472f: »Dieses Ziel hat zwei unerläßliche Voraussetzungen. 1. Der Vorgang, um dessen Rekonstruktion es geht, muß Spuren hinterlassen haben. 2. Zwischen bestimmten seelischen, personalen Geschehnissen und den Spuren, die sie hinterlassen, muß eine regelhafte gesetzmäßige Beziehung bestehen, damit jene aus diesen bestimmbar, erschließbar, erratbar, ›deutbar‹ werden. […] Die Rekonstruktion dieses Geschehnisses da wird nur auf Grund einer Theorie über den Geschehenstyp, dem es angehört, möglich sein. Die Rekonstruktion ist in dem Grade sicher, als die Theorie durch eine Wissenschaft von den Spuren seelischer, personaler Geschehnisse gesichert ist.« Und: »Ebenso steht SHERLOCK HOLMES vor dem ›Trümmerhaufen‹: Zimmer, in dem der Mord geschah. Ihm ist die Ausgangssituation bekannt oder so leicht in Rechnung gestellt, wie für den Archäologen der Zerstörungsvorgang. Ihn interessiert die Rekonstruktion des ›Zerstörungsvorganges‹; wie die Tat geschah, von wem. Er hat den Vorgang gleichfalls aus den Spuren zu rekonstruieren, die er hinterließ; die Möglichkeit hierzu bietet ihm seine ›Spurenwissenschaft‹. Er wird insbesondere beachten, daß Spuren absichtlich verwischt wurden, und bietet sein höchstes Kunststück, wenn er eben aus der Art, wie diese Spurenverwischung erfolgte, aus diesen Spuren zweiter Ordnung, den Täter erkennt, der ›immer so verfährt‹.« 78
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gehalten hat,«44 führt er die Psychoanalyse als eine Theorie ein, die sich das Aufdecken von Geheimnissen anhand derjenigen Spuren, die der ›Täter‹ unentwegt selbst produziert, zur Pflicht macht. Schon in seinem Bruchstück einer Hysterie-Analyse heißt es: Als ich mir die Aufgabe stellte, das, was die Menschen verstecken, nicht durch den Zwang der Hypnose, sondern aus dem, was sie sagen und zeigen, ans Licht zu bringen, hielt ich die Aufgabe für schwerer, als sie wirklich ist. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, überzeugt sich, daß die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen; aus allen Poren dringt ihm der Verrat. (Freud 1999c: 240f)
Doch um diese Geheimnisse angemessen aufdecken und beurteilen zu können, bedarf es einer Lektüretechnik. C.G. Jung, begeistert von den Möglichkeiten, die ihm die Freudsche Psychoanalyse darbietet, macht sich bereits nach seinen ersten Forschungsarbeiten, die sich mit dem Assoziationsverhalten Gesunder befassen, nicht nur daran, eine Verbindung zwischen der Freudschen Psychoanalyse und den traditionellen Theorien der Ideenassoziationen innerhalb von Psychologie und Psychiatrie herzustellen, er probiert die Schlagkraft der Assoziationstheorie direkt in einem konkreten Fall aus. In seiner Psychologischen Diagnose des Tatbestandes berichtet er von einem jungen Mann aus seiner unmittelbaren Nachbarschaft, der in den Verdacht geraten war, einen Diebstahl begangen zu haben. Damit beauftragt, dem Verdacht nachzugehen, unterzieht C.G. Jung den jungen Mann einem Assoziationsexperiment. Ohne den detektivischen Hintergrund zu erahnen beteiligt dieser sich an einer Experimentalreihe. Wie schon in seinen großen Studien sieht Jungs Experiment vor, dass der Analytiker dem Probanden ein Wort zuruft und der Proband ohne Nachzudenken so schnell wie möglich mit einem weiteren Begriff reagiert. Die Zeit, die zwischen Reiz und Reaktion verstreicht wird vom Experimentator mit Hilfe einer Fünf-
44 Haubl/Mertens 1996: 21. Freuds Vorlesung wurde zunächst im Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik unter dem Titel Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse veröffentlicht. Freud spricht selbst davon, dass die Aufgabe des Therapeuten mit derjenigen des Untersuchungsrichters vergleichbar sei, dass beide sich »Detektivkünsten« bedienen müssen (Freud 1999e: 3-15). 79
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telsekundenuhr45 gemessen. Wie nicht anders zu erwarten, zeigt sich, dass der Verdächtigte gerade bei jenen mit dem Tatbestand in Zusammenhang stehenden Stichworten, die ihm Jung vermengt mit einer ganzen Reihe neutraler anderer Stichworte zuruft, mit einer Verzögerung reagiert. Derart überführt gesteht der Verdächtigte die Tat ein. Freud und Jung haben die »praktische« Anwendungsmöglichkeit ihrer assoziativen Methode zwar betont,46 jedoch zugleich auch ihre Verlässlichkeit für die kriminologische Untersuchungssituation eingeschränkt. Die Verzögerung, die sich einer affektiven Besetzung des Reizwortes (d.i. einem Komplex) verdankt, kann im Grunde viele Ursachen haben, lässt sich also nicht mit Gewissheit aus dem untersuchten Tatbestand allein ableiten.47 Das Symptom ist – 45 Siehe Jung 1995b: 344: »Außer dem Inhalt der Reaktion haben wir noch ein sehr feines Reagens für die Komplexkonstellation: es ist die Reaktionszeit. Wir messen mit einer Fünftelsekundenuhr jeweils die Zeit, die zwischen dem Aussprechen des Reizwortes und der Reaktion verstreicht. Wie man erwarten kann, schwanken die Zeiten in scheinbar regelloser Weise. Wenn man aber genauer zusieht, so findet man bald, daß sehr lange Reaktionszeiten fast immer an ganz bestimmten Orten vorkommen.« 46 Jung 1995b: 348: »Die neueste Anwendung unseres Experimentes wurde vorgeschlagen von Wertheimer und Klein, zwei Schülern des bekannten Kriminalpsychologen Hans Gross. Es ist die Anwendung beim Deliquenten, die Ausforschung des Komplexes eines Verbrechens. Verrät sich eine Versuchsperson, die auf das Experiment eingeht, unbewussterweise, wie wir gezeigt haben, so muss sich auch der Verbrecher, der Kenntnis hat von einem bestimmten Tatbestande, verraten. Damit, so hofft man, wird es möglich sein, experimentell nachzuweisen, ob ein Mensch Kenntnis hat von einem bestimmten Tatbestand oder nicht. Wie jedermann einsieht, ist diese Frage praktisch von enormer Tragweite.« 47 Siehe etwa die einschränkenden und verallgemeinernden Ausführungen bei Jung 1995b: 342: »Es ist niemand, der nicht einen Komplex hätte, so gut als es niemand gibt, der nicht Gefühle hätte. Doch sind die Menschen ungeheuer verschieden nach der Stärke der Gefühle. Entsprechend der Intensität ihrer Gefühle ist das Denken und Handeln der Menschen auch durch ihre Komplexe konstelliert, ebenso auch ihre Assoziationen. Aber es liegt doch in der Macht und im Willen eines jeden, ob er seinen Komplex verraten will oder nicht? wird man erstaunt fragen; nicht jeder wird so freimütig und unbekümmert sein Geheimnis preisgeben, wie dieser junge Mann. Gewiss, dieser junge Mann ist eine Ausnahme, er hatte Vertrauen zum Experimentator und sagte alles so heraus, wie es ihm einfiel. Nicht alle verhalten sich so; viele sogar hüten sich ängstlich, etwas Kompromittierendes zu sagen. 80
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im Sinne der psychoanalytischen Konzeption – eben nicht nur determiniert, sondern auch überdeterminiert. Dennoch ist der verräterische Charakter der Symptomhandlungen von Seiten der Kriminalanthropologie und -psychologie in seiner praktischen Verwertbarkeit sehr schnell erkannt und gewürdigt worden. Hans Gross und seine Schüler widmeten sich der Nutzanwendung der psychoanalytisch fundierten Assoziationsverfahren und Gross behandelt in seinem Lehrbuch der Kriminalpsychologie auf einigen Seiten Nutzen und Gefahren der Assoziationsmethode: Für unsere Zwecke können solche Erscheinungen, die doch nur durch Assoziationen zu erklären sind, in der Weise verwertbar seien, dass oft leugnende Beschuldigte von Beschädigungen derart assoziativ berührt werden, dass sie unwillkürlich Bewegungen machen, die den erwähnten Verletzungen entsprechen. Allerdings muß man da vorsichtig sein, weil oft nur die genaue Beschreibung einer Wunde, namentlich bei sehr nervösen Personen, dasselbe bewirken kann, wie der Anblick derselben; wenn man aber die Verletzung nicht beschreibt, vielleicht ihren Sitz nicht erwähnt, und nur von »Verwundung« im allgemeinen spricht, und der Beschuldigte greift z.B. nach jener Stelle seines Körpers, an der beim Verletzen die Wunde gesessen ist, so hat man zumindestens eine Mahnung, aufmerksam zu sein. Viel mehr ist ein solches Indiz allerdings nicht wert, mit unter ist aber schon eine solche Mahnung wichtig. (Gross 1905a: 326; vgl. Gross 1905b)
In dieser Weise wird nicht nur die frühe psychoanalytische Forschung für die Kriminologie erprobt, sondern zugleich der Begriff des Symptoms in den Begriff eines Indizes überführt, das gleichermaßen der Logik der detective fiction und der des juridischen Diskurses folgt. Die Attraktivität des Freud-Jungschen Modells liegt offensichtlich darin, dass dieser Ansatz verspricht, etwas sichtbar zu Andere sind gleichmütiger und reihen bloß Wort an Wort, ohne sich dabei irgendwelche tiefere Zusammenhänge zu denken. Konstelliert aber auch in diesem Falle, wo man sich gar nichts weiteres denkt, jedenfalls nicht an seine Geheimnisse, ein Komplex die Assoziation? Theoretisch muß die Frage unbedingt bejaht werden, denn niemand kann etwas Unpersönliches tun; jedenfalls gibt es keine psychische Äußerung, die nicht den Charakter des Individuellen hätte. Praktisch ist aber die Frage schwieriger zu entscheiden; kann man auch bei Assoziationen, bei denen sich die Versuchsperson entweder nicht verraten will, oder an nichts Besonderes denkt, die Konstellation durch Komplexe nachweisen?«. 81
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machen, was die bewusste Steuerung des Angeklagten unterläuft. Eine »unwillkürlich[e] Bewegung[]« wird zum Anlass, die klassische Unterscheidung von Simulation und Dissimulation auf eine dahinter liegende Ebene zu transzendieren. Das Unbewusste plaudert das wohl gehütete »Geheimnis« aus, »[w]essen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen«. Mit Hilfe der Fünftelsekundenuhr scheint ein Mittel gefunden, die Abweichung von Wesen und Erscheinung messbar und den (bewusst oder unbewusst) verdrängten Affekt beobachtbar zu machen. Wie schwierig sich Wesen und Erscheinung, Krankheit und Simulation, unbewusste Absicht und bewusstes Verstehen voneinander abgrenzen lassen, war somit eine Frage, die für die psychiatrische und psychoanalytische Forschung und Praxis höchst bedeutsam war. Mit ganzer Wucht zeigt sie sich in der ›Nutzanwendung‹ für die Kriminalpsychologie. Hier ist die Frage, wo genau die Grenze verläuft, jeweils zu entscheiden. Auch Max Nordau setzt sich im juridischen Kontext mit diesem Dilemma auseinander. In seiner Kritik der »Schrift eines Anfängers«, den Études sur la simulation de la folie (Nancy 1888) von Ch. J. J. Sazaret, versucht er seine Antwort auf die Frage nach der Möglichkeit von Simulation und Dissimulation zu formulieren. Sazarets Argumentation findet er bezeichnenderweise – »darum besonders ergötzlich, weil alle Beobachtungen, die der Verfasser anführt, genau das Gegenteil von dem beweisen, was er zu beweisen beabsichtigt.« (Nordau 1893: 85) Während bereits Sarazets Beweisführung an der Inkongruenz von Autorabsicht und Ausführung leidet, behauptet Nordau, die Unterscheidung von simuliertem und echtem Wahnsinn sei hinfällig: Nachdem er – selbst festgestellt hat, daß »die Opfer der Hysterie sehr geneigt sind, alle möglichen Krankheiten zu heucheln«, sagt er –: «Geisteskranke heucheln manchmal Wahnsinn. Der Fall ist selten, aber er ist doch festgestellt worden und wenn man ihn nicht öfter verzeichnet hat, so ist es, glauben wir, weil man sich auf eine oberflächliche Untersuchung beschränkt und gewisse Handlungen nicht zergliedert hat«. Der Fall ist so wenig selten, daß er sich in jeder von Sazaret angeführten Beobachtung nachweisen läßt: Im Falle Ballairgers (2. Beob.) war die angebliche Simulantin acht Jahre vorher als sehr echte Wahnsinnige in einer Irrenanstalt gewesen; dem Falle Borelles (4. Beob.) hat der Simulant »beim Anblick einer Lanzette wahre Nervenanfälle«, was doch deutliche Aichmophobie und ein bestimmtes Entartungszeichen ist; – der Fall Legrand du Saolles 82
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(18. Beob.) »war der Sohn einer Hysterikerin und Enkel eines Wahnsinnigen«; – u.s.w. Alle diese angeblichen Heuchler waren unverkennbar geisteskrank und dass sie die Anzeichen ihres Wahnsinns absichtlich übertrieben, war nur ein Beweis mehr für ihre Gestörtheit. (Nordau 1896: 87f)
Nordaus Argumentation entspricht einer Logik der Metonymie: Jedwede Form des Kontaktes mit ›Entartung‹ ist ansteckend. Gleich, ob in räumlicher (als Insasse einer »Irrenanstalt«) oder in zeitlicher Hinsicht (qua Filiation und Familiendisposition) oder dadurch, dass ein Indiz für Entartungssymptome vorliegt, in jedem Fall wird der Verdacht zur Gewissheit umgemünzt. Einmal mit dem Makel der Entartung behaftet steht die Diagnose fest. Eine Sprache der Verstellung48 wird somit letztlich ausgeschlossen, die Beobachtungsebenen, die Schein und Sein differenzieren, surren zu einer klaren Analogie zusammen: Wie man spricht und welche Symptome man produziert, wird als unmittelbarer Ausdruck dafür lesbar, an welchem Punkt der Skala von gesund bis krank man sich befindet. Doch diese eindeutige Diagnose zu stellen, liegt nur in der Macht einer bestimmten, medizinisch gebildeten Klasse von Beobachtern, als deren Vorreiter sich Max Nordau stilisiert. Entgegen aller fundamentaler Unterschiede, die man zwischen Nordaus Entartungskonzept und den psychoanalytischen Theorien feststellen muss, begegnen sich beide Positionen in ihrer Neigung zu deterministischen Schlussfolgerungen. Wie Paul Reiwald, ein an der Psychoanalyse interessierter Kriminalpsychologe, in seinem Text Die Gesellschaft und ihre Verbrecher von 1948 feststellt, bedingen sich eine allwissende Beobachterposition und ein kausaldeterministisches Bild vom Symptom: Der Detektiv erreicht Allwissenheit, weil er »die Verkörperung der unfehlbaren Anwendung des unfehlbaren Kausalgesetzes« […] ist, die auf 48 So der Titel einer Studie von Ursula Geitner (Geitner 1992), die die Unterscheidung von Verstellung und ›wahrer Herzensrede‹ für das 17. und 18. Jahrhundert eingehend untersucht hat. Ohne hier näher auf die Entwicklungslinien, die von der Unterscheidung einer Eloquentia corporis und einer Eloquentia cordes bis hin zu den Experimentalreihen von Jung gezogen werden können, eingehen zu können, sei hier nur darauf hingewiesen, dass es vielversprechend wäre, die Vorstellung, dass das hysterische Symptom das wahrhaftere Kommunikationsangebot sei, vor diesem rhetorischen Hintergrund auszuleuchten. 83
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der Annahme eines allumfassenden Kausalnexus beruht: Alles hängt – wie bei den »Assoziationsfolgen, die der Analytiker bei seinem Patienten auszulösen sucht« […] – mit allem kausaldeterministisch zusammen. »Dadurch konnte die Vorstellung entstehen, daß, wenn auch nur ein Glied einer Kette gegeben ist, ich in der Lage sein muß, auch das letzte zu erfassen. Sobald die Deduktion auf Grund einer ersten Tatsache, z.B. von Spuren, schlüssig auseinander abgeleitet sind, muß ihnen die Wirklichkeit entsprechen. Dies und nichts anderes ist der Ausgangspunkt Dupins und Holmes. Das läuft aber auf die Gleichsetzung der Primitiven von Gedanken und Wirklichkeit hinaus. Das Kausalgesetz, dessen strenger Anwendung die moderne Wissenschaft ihre Grundlagen und ihre Entwicklung verdankt, schlägt hier um in den Glauben an die Allmacht des Wissens.« […]. (Haubl/Mertens 1996: 32)
Das Wörtchen »all« bestimmt die Kritik in dreifacher Hinsicht: Reiwald führt den »allumfassenden Kausalnexus« mit der detektivischen »Allwissenheit« und schließlich dem Umschlag »in den Glauben an die Allmacht des Wissens« zusammen. Die Prämisse »eines allumfassenden Kausalnexus« scheint mir zwar nur eine Dimension der psychoanalytischen Theorie zu sein, für Nordaus Konzept der Entartung ist diese Beschreibung jedoch zutreffend. Nicht nur das Symptom ist für ihn streng determiniert, überhaupt steht die Geschichte der menschlichen Zivilisation unter dem »Allgesetz der Ursächlichkeit« (Nordau 1896: 268f). Die sprichwörtliche Allwissenheit der Super-Detektive Holmes und Dupin steht nicht nur Pate für die Selbstinszenierungen der Psychoanalytiker Freud und Jung, sie ist auch das hervorstechende Attribut des allwissenden Erzählers Nordau, der uns, seine Leser, auf jene Plattform befördert, von der aus auch wir an jener Wahrheit teilhaben können, die er uns als ideales Medium vorführt. Was er demonstriert, ist ein Gemälde seiner Zeit, in welchem die Gesunden auf der einen, die eindeutig identifizierbar Kranken auf der anderen Seite stehen. Vor seinen und unseren Augen werden die falschen Propheten und ihre Anhängerschaft genötigt, Rechenschaft über ihren Gesundheitszustand abzulegen, der, wie bereits das »unglückliche Wort« Stigma zeigte, immer auch ein moralisch-ethischer Zustand ist. Wie nah beieinander der Untersuchungsduktus des Detektivs und die Position eines Propheten liegen, wurde von Haubl und Mertens für die Freudsche Psychoanalyse betont:
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Es muß eigentümlich berühren, wenn Freud schließlich in einen – zugespitzt formuliert – Duktus der Offenbarung […] verfällt. Denn dieser verwandelt den Analytiker-Detektiven in einen Propheten, der, weil er »Augen hat zu sehen und Ohren zu hören«, eine nicht zu bezweifelnde Deutungsmacht gegenüber den »Sterblichen« besitzt! (Haubl/Mertens 1996: 37)
Auf welche Weise Nordau sein ›diskursives Regime‹ und die damit verbundene »nicht zu bezweifelnde Deutungsmacht« in eine exekutive Macht zu transformieren versucht, soll im folgenden Teil näher beleuchtet werden.
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3 POLIZEIORDNUNG
Wenn die Eule schreit, ist der Wald nicht weit. (Schiller)
Wie vielfach hervorgehoben steht Nordaus Entartung in einem prekären Traditionszusammenhang zur Aufklärung. Mit Blick auf Adorno und Horkheimer wird betont, dass Nordau Sinnbild der Dialektik der Aufklärung sei und somit jenen Punkt markiere, an welchem sich die aufklärerische Vernunft in eine instrumentelle verwandele und sich somit dialektisch gegen das Projekt der Aufklärung selbst richte (vgl. Schulte 1997: 206, 213f; Anz 1989: 46). Ohne den Vergleich mit der Dialektik der Aufklärung hier im Einzelnen diskutieren zu wollen, möchte ich mich im Folgenden mit einer Frage befassen, die sehr wohl einen historischen und einen systematischen Zusammenhang zum Projekt der Aufklärung besitzt. Insbesondere im Rahmen seiner Mystizismuskritik entwirft Nordau ein Ideal vernünftigen (und das heißt bei ihm: gesunden) Sprechens, das er zur allgemeinen Norm erheben will. Gegen babylonische Sprachverwirrung, gegen das apokalyptische »Wirrwarr« (Nordau 1896: 11f)1 der Marktbudenschreier greift er zur Zensur, zur Brandmarkung der ›kranken‹ und ›emotiven‹ falschen Propheten. Dabei setzt er nicht mehr auf die Verstandeskräfte des Einzelnen: Sie [die »Encyklopädisten« und Philosophen des 18. Jh.s, C.K.] glaubten, das Denken und Handeln des Menschen sei vom Verstande, von den Gesetzen der Folgerichtigkeit bestimmt, und hatten keine Ahnung davon, daß die eigentliche treibende Kraft seiner Gedanken und Thaten die Emotionen sind, jene in den Tiefen der inneren Organe ausgearbeiteten Erregungen, deren Ursprung sich dem Bewußtsein entzieht, die plötzlich wie eine Horde von Wilden ins Bewußtsein einbrechen, nicht angeben, woher 1
Siehe Kapitel 2 dieser Arbeit. 87
RHETORIK DER ENTARTUNG
sie kommen, sich keiner Polizeiordnung des gesitteten Denkens fügen und gebieterisch Unterkunft fordern. (Nordau 1896: 131f )
Nordaus bildreiche Schilderung erscheint überraschend freudianisch: Die wilden Horden des Unbewussten sind die eigentlichen Triebkräfte menschlichen Handelns und eine aufklärerische Kritik, die auf die kritischen Vermögen des Verstandes und der Vernunft baute, erscheint angesichts dieser aus »den Tiefen der inneren Organe« hervordringenden Emotionen als gutgläubige Naivität. Der »Ursprung« dieser ›treibenden Kraft‹ entzieht sich dem Bewusstsein; der Verstand ist nicht ›Herr im eigenen Haus‹. Der irrationalen Triebkraft der menschlichen »Gedanken und Thaten« muss Rechnung getragen werden. Anders als Freud interessieren Nordau die Ausprägungen, die das Unbewusste und die affektiven Besetzungen für die Konstitution des Einzelnen haben, nicht so sehr; sein Anliegen ist eher eine effektivere Kontrolle. Er setzt auf die Etablierung einer »Polizeiordnung des gesitteten Denkens«. Anders als die Philosophen der Aufklärung und die »Encyklopädisten« greift er zur Formulierung und Umsetzung seiner »Polizeiordnung« auf die Medizin zurück. Dabei steht Nordaus Anliegen in einer auf die Aufklärung zurückgehenden Tradition. In den Jahrzehnten zwischen 1779 und 1827 hatte Johann Peter Frank sein sechsbändiges Werk System einer vollständigen medicinischen Polizey veröffentlicht, in welchem er einen Plan präventiver medizinisch geleiteter Maßnahmen entworfen hatte, die von der Geburt bis zum Tode alle Bereiche menschlichen Lebens umfassten. Frank reformuliert das seit der Antike (Hippokrates, Galen) in die Medizin eingeführte diätetische Aufgabenspektrum im Dienste einer absolutistischen Aufklärung. Aufgabe der staatlich geführten »Gesundheitspflege« ist die »Anleitung eines jeden Menschen zu einem gesunden Leben. Wie ein strenger Familienvater soll der Herrscher, beraten von seinen Ärzten, den Untertanen verbieten, was ihrer Gesundheit schadet.« (Schott 2000: 140) Diätetik zielt nicht mehr lediglich auf die Förderung der Gesundheit des Einzelnen, sie wird vielmehr eingebettet in die allgemeinen Interessen von Staat und Ökonomie, denn »jeder geheilte Kranke war wertvoll als Arbeitskraft und als Quelle der Macht des Gemeinwesens.« (Seidler 1996: 258)2 Sein – teilweise 2
Siehe auch Schott 2000: 140: »Der aufgeklärte absolutistische Herrscher müsse außerdem daran interessiert sein, die wertvolle, durch 88
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auch praktisch erprobtes – Programm umfasst alle Lebensbereiche von der Geburt bis zum Tode, von »eugenische[n] Vorstellungen«, die sich vor allem auf »Personen mit Erbkrankheiten« beziehen, bis hin zu Anweisungen bezüglich der »Produktion und Aufbewahrung hygienisch einwandfreier Speisen und Getränke, gesunde[r] Kleidung ohne modische ›Geschmacklosigkeiten‹, Wohnungs- und Städtebau, Beseitigung von Abwasser, Fäkalien und Müll sowie [der] wünschenswerte[n] Form von Volksbelustigungen«, Fragen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, des Scheintods und schließlich eines Reformprogramms der medizinischen Ausbildung (Schott 2000: 140). Der umfassende Anspruch dieses frühen sozialmedizinischen Entwurfes ist dabei ebenso aufschlussreich wie der Umstand, dass sich Franks Argumentation auf die Rousseausche Zivilisationskritik bezieht. Krankheit und Lebensführung werden hier mit einem fehlgeleiteten Zivilisationsprozess verbunden, so dass auch die präventiven Maßnahmen der »medicinischen Polizey« alle Bereiche der Lebensführung zum Gegenstand machen.3 Der beeindruckende Umfang von Lebensbereichen, mit denen sich Franks medizinisches Polizeisystem befasst, weist in seiner Anlage einige Parallelen zu Nordaus Modernekritik auf: Auch die Symptome, die Nordau betrachtet, umfassen diverse Felder der Lebensführung von der Mode zur Architektur bis hin zu Kunst und Literatur. Auf welche Weise die Menschen »Volksbelustigungen« nachgehen, ist ebenso medizinisch zu klären wie Vererbungsfragen. Hier wie dort wird die diätetische Seite medizinischer Interventionen im traditionellen, allumfassenden Sinne verstanden. Doch die Polizeiordnung, die Nordau anstrebt, konzentriert sich – entgegen der Fülle der Entartungssymptome – auf den Bereich des Denkens, vielmehr denjenigen des »gesitteten Denkens«. Wie an späterer Stelle noch ausführlich zu verhandeln sein wird, ist die Engführung von Denken und moralisch-sittlichen Aspekten für Nordaus Projekt von zentraler Bedeutung (siehe Teil 6: Ich-Sucht). Auch in Hinblick auf eine Polizeiordnung des Denkens lässt sich eine Traditionslinie zur Aufklärung ziehen. Immanuel Kant hat sich in seiner Schrift Von einem neuerdings erhobenen vornehmen
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Krankheiten und überhöhte Sterblichkeit gefährdete Arbeitskraft seiner Untertanen zum Wohle des Staates zu erhalten.« Siehe hierzu Seidler 1996: 261: »Mit Rousseau ist sich Johann Peter Frank einig, daß ein großer Teil der Leiden der Menschen durch einen zivilisatorischen Entartungsprozeß verursacht sei«. 89
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Ton in der Philosophie vor dem Hintergrund der philosophischen These, das Ende des Philosophierens stünde unmittelbar bevor, mit der Frage einer normativen Regelung wissenschaftlicher Aussagen befasst. Jacques Derrida kommentiert Kants Text: Kant hat Nachsicht mit den hochgestellten Personen, die sich der Philosophie widmen, selbst wenn sie es schlecht machen, die Verstöße wider die Schule vervielfältigen und glauben, bis zu den Spitzen der Metaphysik vorzudringen. […] Dagegen ist es unverzeihlich, wenn die Berufsphilosophen vornehm und groß tun. Ihr Verbrechen ist eigentlich politischer Natur und unterliegt der Zuständigkeit einer Art von Polizei. Etwas weiter spricht Kant von der »Polizei im Reich der Wissenschaften«. Sie soll – symbolisch – nicht allein die Individuen überwachen und bestrafen, die sich unberechtigt den Titel Philosoph verleihen und den vornehmen Ton in der Philosophie an sich reißen und sich mit ihm schmücken, sondern auch diejenigen, die sich um jene versammeln; denn dieser Hochmut [morgue], mit dem sie sich auf den Gipfeln der Metaphysik einrichten, diese geschwätzige und ansteckende Arroganz gibt Anlaß für Zusammenkünfte, Ordensgemeinschaften und Gruppierungen. (Derrida 1985: 31)
Gegenstand Kantscher Kritik ist – Derridas Analyse zufolge – nicht nur ein Missbrauch des Titels ›Philosoph‹, der dazu verwendet wird, eine Vormachtstellung innerhalb des vernünftigen Diskurses der Berufsphilosophen an sich zu reißen. Auch »diejenigen, die sich um jene versammeln«, die »Ordensgemeinschaften und Gruppierungen« derjenigen, die dem vornehmen Ton folgen, sollen durch eine ›symbolische‹ »Polizei im Reich der Wissenschaften« bestraft werden. »Hochmut« in der Philosophie ist ›ansteckend‹; Arroganz greift um sich und schafft ein Klima der Gruppenbildung, die sich nicht mehr dem vernünftigen Argument verpflichtet fühlt, sondern dem Reiz des ›Großen‹ unterliegt. Kants Polizei erhält somit ein ähnliches Aufgabenspektrum wie Nordaus: Beide nehmen die Anmaßung ›dogmatischer Propheten‹, deren mal vornehmen, mal höchst aggressiven Ton,4 die Tendenz zur Bildung abgegrenzter Gruppen (der Jüngerschaft, Ordensgemeinschaften etc.) und die von ihnen ausgehende Ansteckungsgefahr zum Ausgangspunkt der eigenen Intervention. Der Ton, den die sich selbst zum Führer Stilisierenden anschlagen, steht in beiden Fällen im Gegensatz zum vernünftigen Argument, das praktisch ›tonlos‹ gedacht wird: »Denn 4
Siehe etwa Nordau 1896: 62, und Kapitel 4: Ansteckungsgefahr. 90
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besteht nicht der Traum oder das Ideal des philosophischen Diskurses […] darin, die tonale Differenz unhörbar werden zu lassen und mit ihr ein Begehren, einen Affekt oder ein Szenisches, die den Begriff zur Schmugglerware […] machen?«5 Anders formuliert: Besteht nicht der Traum des aufklärerischen Projektes darin, das Begehren aus dem Diskurs auszuschließen, die affektive ›Tönung‹ zu eliminieren? Bei allen Differenzen bestehen hier eine Reihe von Parallelen zwischen dem Kantschen Diskurs der Aufklärung und seiner Fortführung bei Nordau. Der universale Anspruch des vernünftigen Diskurses ›verträgt‹ weder Einschränkungen in sozialer noch in affektiver Hinsicht. Die Instrumentalisierung des philosophischen, vernünftigen Diskurses für Einzel- oder Gruppeninteressen stellt eine Bedrohung für das Projekt der Aufklärung dar, wie die ›Kontamination‹ des Sprechens durch ein erkenn- oder ahnbares Begehren den »Begriff zur Schmugglerware« ›verkommen‹ lässt.6 Im Dienste des universalen, vernünftigen Diskurses scheinen somit eine Reihe von Ausschlüssen notwendig zu sein, die – paradoxer Weise – gerade den allgemeinen Zugang zu eben diesem Diskurs sicherstellen sollen. Ein Hauptschauplatz solcher diskursiven Ausschlüsse ist das Feld der Psychiatrie und die Rede vom Wahnsinn. Auf das wechselseitige Bedingungsverhältnis von aufklärerischer Vernunft auf der einen und dem Wahnsinn auf der anderen Seite ist insbesondere seit Michel Foucaults Arbeiten zu Wahnsinn und Gesellschaft in der Forschung immer wieder hingewiesen worden. Ich möchte mich daher auf wenige Anmerkungen beschränken, die den systematischen Bezug zwischen Aufklärungsdiskurs und Nordaus ›Polizeiordnung des gesitteten Denkens‹ aufzeigen helfen. 5
Derrida 1985: 18f. Dazu heißt es: »Die Unterscheidungsmerkmale […] eines Tons sind schwer zu isolieren, selbst wenn sie in aller Reinheit existieren, was ich vor allem in einem geschriebenen Diskurs bezweifle. Was kennzeichnet einen Ton, einen Tonwechsel oder eine Tonunterbrechung? Woran erkennt man eine tonale Differenz innerhalb desselben Korpus? Auf welche Züge […] soll man sich bei der Analyse verlassen, auf welche Zeichengebung […], die nicht wieder stilistisch, noch rhetorisch, natürlich auch nicht thematisch oder semantisch wäre? Die […] Schwierigkeit […] tritt noch deutlicher hervor, wenn es sich um Philosophie handelt.« 6 Zum Verhältnis von Vernunftdiskurs auf der einen und den von diesen verdrängten Bereichen der Affektivität, Einbildungskraft und Körperlichkeit siehe die Untersuchung von Böhme/Böhme 1996. 91
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In seinen vorkritischen Schriften hat sich Immanuel Kant mit einer Systematik des Wahns befasst und ausgehend von den Verstandesvermögen eine schematische Übersicht über die Formen des ›Irreseins‹ entworfen. In seinem Versuch über die Krankheiten des Kopfes nennt er vier Haupttypen (den Tor, den Narr, den Blödsinnigen und das gestörte Gemüt) und zergliedert letzteres in drei Formen: Das gestörte Gemüt tritt in Erscheinung 1. als Verrückung, »d.i. Verkehrtheit der Erfahrungsbegriffe«, 2. als Wahnsinn, »d.i. Unordnung der Urteilskraft« und 3. als Wahnwitz, »d.i. die in Ansehung allgemeiner Urteile verkehrt gewordene Vernunft« (Kant 1960: 892f). In diesem Schema kann man einen frühen Versuch sehen, jenen Diskurs zu beschreiben, der auf der anderen Seite der Vernunft liegt.7 Der so gestaltete ›Diskurs der Vernunft‹ nimmt Teil an der Begründung eines Sprechens, welches Michel Foucault als »Monolog der Vernunft über den Wahnsinn« beschrieben hat (vor allem: Foucault 1993). Thomas Anz hat diesen Monolog als »Abbruch des Dialoges mit dem Kranken« aufgefasst, d.h. als eine Limitierung des hermeneutischen Gespräches, welches nicht mit dem »Wahnsinnigen« ›rechtet‹, sondern »nur über ihn. Er kann Gegenstand des vernünftigen Diskurses sein, aber nicht mehr gleichberechtigter Teilhaber.« (Anz 1989: 31) Die Pathologisierung – und damit verbundene Degradierung des Anderen zum Gegenstand – dient somit der effizienten Errichtung einer Grenze, die den Zugang zum vernünftigen Diskurs regelt.8 In der Perspektive von Thomas Anz ist der Akt der Pathologisierung ein performativer Sprechakt: Die rhetorische Wirksamkeit des Attributs ›krank‹ in normativen Diskursen basiert, wo es allein pejorativ gemeint ist, auf dem Angstpotential, das es zu mobilisieren vermag. Es droht mit dem Stigma der Minderwertigkeit, mit sozialer Isolation und mit der Aberkennung bürgerlicher Rechte. Die rhetorische Strategie zielt dabei vor allem auch auf den Abbruch der Kommunikation mit denen, gegen die sich das Krankheitsverdikt richtet. (Anz 1989: 30)
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Siehe hierzu die einleitenden Ausführungen in Schäffner 1995: 15138, die einen Überblick von literaturwissenschaftlicher Seite zur Grenze der Hermeneutik seit der Aufklärung liefert und speziell auf die Frage nach deren Bedrohung durch Paranoia eingeht. Über den Zusammenhang zwischen Bürgerrecht und Aufklärung siehe etwa Kittler 1988b sowie Schäffner 1995: 22ff. 92
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Die performative Wirkung des pathologisierenden Sprechaktes basiert demnach auf der Struktur der Drohung. In Anz’ Formulierung erscheint sie selbst als Form einer instrumentalisierenden Sprache: Die Drohung ›zielt auf‹, sie ist eine »rhetorische Strategie«, was suggeriert, dass sich hinter dem Ausspruch eines pathologisierenden Verdiktes eine wie auch immer geartete intentionale Instanz verbirgt. Derjenige, der in dieser Weise adressiert wird, läuft Gefahr, durch die Drohung die Möglichkeit der Partizipation am Diskurs zu verlieren und aus der Kommunikation ausgeschlossen zu werden. Die Macht der Drohung beruht auf der Angst, die sie beim Angesprochenen hervorzurufen vermag, einer Angst vor »dem Stigma der Minderwertigkeit«, »sozialer Isolation« und »der Aberkennung bürgerlicher Rechte«. Anz Darlegung stimmt damit in einigen Punkten mit jenen Argumenten überein, die für die Debatten um eine verletzende, diskriminierende Rede (nicht nur) in den USA leitend sind. Hate Speech wird in diesem Kontext als eine Form der Rede verstanden, die nicht nur die sozialen Ausschlüsse reproduziert, sondern diese im Akt des Sprechens selbst herstellt. Judith Butler hat darauf hingewiesen, dass die Auffassung der performativen Kraft von diskriminierenden Sprechakten die Tendenz hat, eine übergeordnete Instanz anzurufen oder zu installieren (gemeint ist zunächst die juristische Ebene), die die Aufgabe erhält, eine Sprachkonvention festzulegen, die den Zugang ›aller‹ zum Diskurs verbindlich regeln soll. Die These, daß hate speech eine »Opferschicht« erzeugt, verleugnet die kritische Handlungsmacht und unterstützt tendenziell Eingriffe, in denen die Handlungsmacht vollständig an den Staat übergeht. An Stelle einer staatlich gestützten Zensur geht es um einen gesellschaftlichen und kulturellen Sprachkampf, in dem sich die Handlungsmacht von der Verletzung herleitet und ihr gerade dadurch entgegentritt. (Butler 1998: 64)
Statt auf die Interventionsmöglichkeiten des juristischen Diskurses setzt Butler auf die »kritische Handlungsmacht«, die sie dort verortet, wo ein ›gesellschaftlicher und kultureller Sprachkampf‹ ausgetragen wird. In ihrer Lesart hat die Engführung von verletzender Rede und perlokutionärer Wirkung, die Identifikation von diskriminierender Sprache und einer »Opferschicht« eine Stärkung der juridischen Gewalt und damit die Etablierung einer Sprachzensur zur Folge. Dabei geht ihre Kritik über einzelne Positionen innerhalb der
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amerikanischen Debatte hinaus und richtet sich ebenso gegen das Projekt einer Diskursethik, wie sie von Jürgen Habermas entworfen worden ist. Auch Thomas Anz hat mit Blick auf Karl-Otto Apel und Jürgen Habermas kritisch angemerkt, dass das ideologiekritische Modell einer Diskursethik nicht nur metaphorische Anleihen an den psychopathologischen Diskurs der Aufklärung aufweise.9 Beide Theoretiker identifizierten den ideologischen Diskurs mit einem pathologischen und würden somit nicht nur den Ideologiekritiker in die Position eines Therapeuten befördern, der mittels symptomaler Lektüre die systematische Verzerrung der Kommunikation beobachte, sondern auch die ›klassischen‹ Stigmatisierungen wiederholen. 9
Siehe Anz 1989: 31: »Karl-Otto Apel beschrieb Ende der sechziger Jahre in einer wissenschaftstheoretischen Studie […] ›das Verhältnis des Arztes zu seinem Patienten, insbesondere das des Psychotherapeuten zum Neurotiker‹, nach einem ›Modell der partiell suspendierten Kommunikation‹. Charakteristisch hierfür ist der partielle ›Abbruch der hermeneutischen Kommunikation zugunsten objektiver Erkenntnismethoden‹. Der Psychotherapeut nimmt die Äußerungen des Patienten in ihren subjektiven Intentionen nicht durchwegs ernst, sondern versucht, sie auch ›als Symptom objektiver Tatbestände zu werten, die er von außen, in einer Sprache, an der der Partner nicht teilnimmt, zu erklären vermag.‹ Apels Ausführungen sind mir hier vor allem deshalb wichtig, weil sie eingebunden sind in die wissenschaftstheoretische Fundierung einer Ideologiekritik, die gerade auch in ihrem Interesse an der Psychopathologie den kritischen Traditionen der Aufklärung deutlich verpflichtet ist. In Übereinstimmung mit Jürgen Habermas und gegen den universalen Anspruch der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers gerichtet, beschrieb Apel nämlich mit dem Status des Therapeuten den des Ideologiekritikers, der das historischhermeneutische Verstehen von Sinntraditionen durch objektivierende Verfahren sozialwissenschaftlichen Erklärens teilweise zu suspendieren habe, und zwar dort, wo er es mit ›vernunftlosen‹ Traditionen ›falschen Bewußtseins‹ zu tun hat. Ideologiekritik, so Apels Resümee, ist demnach eine Art ›Psychoanalyse‹ der menschlichen Sozialgeschichte‹ und zugleich ›Psychotherapie‹ der aktuellen Krisen des menschlichen Handelns. Was als Ideologie kritisiert wird, ist also auch in diesem Modell mit dem Stigma der ›Krankheit‹ versehen. Deutlicher noch und vor allem resonanzreicher als Apel hat Habermas wiederholt ›ideologische‹ als ›pathologisch verzerrte‹ Kommunikationsakte beschrieben. Seine Kultur- und Gesellschaftskritik sowie seine theoretischen Versuche zur Grundlegung eines diskursethisch begründeten Moralbewußtseins sind durchsetzt von psychopathologischen Kategorien.« 94
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Butlers Kritik hat dagegen noch eine andere Stoßrichtung: Auch in ihren Augen ist die Grenzziehung zwischen dem Sagbaren und dem Nicht-Sagbaren ein »Zensurvorgang«, der das aufklärerische Projekt an die gegebenen normativen Vorstellungen fessele.10 Doch diese Tendenz wird von ihr vielmehr im Zusammenhang mit dem universalen Anspruch der Diskursethik und Habermas’ »Ideal des Konsenses« gesehen. Sein Versuch, zum Zwecke der Verständigung die Bedeutung von Sprechakten festzulegen, habe per se die Neigung eine diskursive Kontrollmacht zu installieren, die Sprachzensur ausübe. Das Ideal eines Konsenses hat anscheinend nur insoweit Sinn, wie die sprachlichen Ausdrücke, um die es geht, einer konsensuell festgesetzten Bedeutung angepaßt werden. Sprachliche Ausdrücke, die verschiedene Bedeutungen haben, bedrohen daher das Ideal des Konsenses. Deswegen insistiert Habermas darauf, daß Worte, wenn ein Konsens hergestellt werden soll, mit eindeutigen Bedeutungen versehen werden müssen: »Die Produktion des Verstehensprozesses bleibt nur solange unproblematisch, wie alle Beteiligten am Bezugspunkt einer möglichen aktuellen Verständigung festhalten, in der sie denselben Äußerungen dieselbe Bedeutung beimessen.« Aber wer sind wir, wer immer dieses »wir« sein mag, die Form von Gemeinschaft, in der solche Bedeutungen ein für allemal festgelegt werden können? Ist es nicht so, daß es eine permanente Diversität im semantischen Feld gibt, die die unhintergehbare Situation jeder politischen Theorie darstellt? Wer steht über dem Streit der Interpretationen in einer Position, daß er denselben Äußerungen dieselbe Bedeutung beilegen könnte? Und warum hält man die Bedrohung, die von einer solchen Autorität ausgeht, für weniger schwerwiegend, als die, die entsteht, wenn mehrdeutige Interpretationen einfach stehenbleiben? (Butler 1998: 124f)
Sicherlich wäre zu diskutieren, inwiefern Butler das Modell eines idealen Konsenses von Habermas an dieser Stelle adäquat zusammenfasst.11 Für unseren Zusammenhang ist jedoch eher die Frage 10 Butler 1998: 130: »Die Grenze, die das Sagbare dadurch erzeugt, daß sie bestimmte Formen des Sprechens ausschließt, wird zum Zensurvorgang, der gerade durch die Postulierung des Universalen ausgeübt wird. Schreibt dieses Postulat des Universalen als ein Bestehendes und Gegebenes nicht die Ausschlüsse fest, mit denen es arbeitet?« 11 Butlers Punkt ist, dass Habermas das universalistische Programm seiner Diskursethik in der Weise ausgestaltet, dass von vorneherein bestimmte, sprachliche Konventionen festgelegt werden, die den Pro95
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interessant, inwieweit eine diskursive Ethik auf die Festlegung von Bedeutungen angewiesen ist und in welcher Weise eine solche Festlegung auf eine Instanz zurückgreifen muss, der die Autorität zukommt, »denselben Äußerungen dieselbe Bedeutung« zuzuweisen. Butler fragt, wer mit dem »wir« gemeint sei, wie sich diese »Gemeinschaft« herstelle, an die die definitorische Gewalt delegiert würde. Und sie fragt, aus welchem Grunde eine solche Autorität weniger bedrohlich erscheine, als ein nicht konventionell vorstrukturierter »Sprachkampf«, in welchem eine Position jenseits der »permanente[n] Diversität im semantischen Feld« nicht einnehmbar wäre. Mir scheinen diese Fragen für die Analyse von Max Nordaus Entartung relevant zu sein. Seine Kritik der klassischen Moderne nimmt gerade diejenigen Gruppierungen und sprachlichen Innovationen aufs Korn, die seiner Meinung nach die Gemeinschaft, für die zu sprechen er antritt, zu bedrohen scheinen. Um das Personalpronomen »wir« kreist nicht nur seine Apokalypsekritik, in der er die dezidierte Absonderung einzelner Gruppen ahndet, sondern auch seine Auseinandersetzung mit der modernen Kunst. Die »Polizeiordnung des gesitteten Denkens« soll dazu beitragen, ›ein für allemal‹ jene Konventionen und Bedeutungen festzulegen, die für die Gemeinschaft der Gesunden und Normalen Geltung haben sollen. Im Unterschied zu Habermas handelt es sich für Nordau nicht um ein antizipiertes Ideal, welches im idealen Konsens ausgehandelt wird, sondern um eine Angelegenheit des Common sense, der längst bereit liegt. Vor allem im Rahmen seiner Kritik am Mystizismus zess der Konsensbildung normativ strukturieren. Ihr Vorwurf, Habermas würde sprachliche Bedeutungen ein für alle mal festlegen wollen, ist eher nachzuvollziehen vor dem Hintergrund ihres Begriffes von Universalität: »Worum es bei dieser Definition von Universalität geht, ist die Unterscheidung zwischen einer idealisierenden Unterstellung eines Konsenses, die in einem gewissen Sinne bereits stattfindet, und einer, die erst noch artikuliert werden muß und die Konventionen in Frage stellt, die unsere antizipatorischen Vorstellungen beherrschen. Letzteres ist etwas anderes als eine nicht-konventionelle Idealisierung (Habermas), die immer schon da ist oder aber im bestehenden internationalen Recht kodifiziert ist (Matsuda) und somit gegenwärtige und letztmögliche Errungenschaften einander gleichsetzt. Die antizipierte Universalität, für die wir keine fertige Konzeption haben, ist eine, deren Artikulation, wenn überhaupt, daraus hervorgehen wird, daß sie als Universalität an ihren bereits imaginierten Grenzen angefochten wird.« (Butler 1998: 131). 96
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führt er vor, wie die Sprachregelung auszusehen habe und dass er selbst die nötige Autorität besitze, ihr Geltung zu verschaffen. Nordau selbst ist die Zensurinstanz, vor deren Richtstuhl die ›Modernen‹ zitiert werden. Er beleiht dabei nicht nur ein »wir«, für das er zu sprechen vorgibt, sondern ebenfalls die Autorität der psychologischen und psychopathologischen Forschungen des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Im Folgenden möchte ich seine Vorgehensweise näher beleuchten und mich in zweifacher Hinsicht mit seiner Mystizismuskritik sowie der zeitgenössischen Forschung zur Ideenassoziation befassen.
M y s t i z i s m us -K r i t i k : f a l s c h e V e r k n üp fu n g Der Mystiker stellt für Nordau den Typus des modernen Entarteten schlechthin dar. Im zweiten Teil des ersten Bandes von Entartung liefert er eine allgemeine Beschreibung, der eine Reihe von Einzelkritiken folgen, die sich nicht nur mit einigen Exponenten der Moderne, sondern auch mit einer mystischen Textur befassen. Der Mystiker löst die festen Umrisse der Erscheinungen, er breitet Schleier über sie und hüllt sie in blauen Dunst. Er trübt das Klare und macht das Durchsichtige blind wie der Tintenfisch die Wasser des Ozeans. Wer also die Welt durch die Augen des Mystikers sieht, starrt in eine schwarze, wogende Masse, in der er alles finden kann, was er will, obwohl und gerade weil er thatsächlich gar nichts wahrnimmt. Den Schwachköpfen ist Alles platt, was hell, fest umrissen und deshalb streng eindeutig ist. Tief ist ihnen Alles, was keinen Sinn hat und sich deshalb beliebig deuten läßt. Mathematische Analyse ist ihnen platt, Theologie und Metaphysik tief. Platt ist das römische Recht, tief das Traumbuch und die Prophezeiung des Mönchs von Lehnin. Die Figuren, die beim Bleigießen in der Sylvesternacht zum Vorschein kommen, wären die richtigen Sinnbilder ihrer Tiefe. (Nordau 1896: 110)
Mit Hilfe jener aufklärerischen Metaphorik, die sich selbst und die voranzutreibende aufgeklärte Erkenntnis mit Licht identifizierte, stellt Nordau den Mystiker als radikalen Gegensatz zur Klarheit und Durchsichtigkeit dar.12 Kein ›fester Umriss‹ hat vor ihm bestand, al12 Zur rhetorischen Tradition siehe etwa Ueding 1992: Sp. 1190: »›Aufklären‹ ist an eine bestimmte Schreib- und Redeweise gebunden, die 97
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les wird ihm zur Chiffre einer tiefer liegenden Bedeutung, die hier mit Dunkelheit, Auflösung und Blindheit korreliert wird. Nicht nur, dass er den ›alten‹ metaphysischen Spekulationen nachhängt, wenn er auf »Theologie und Metaphysik«, statt auf Mathematik setzt, nicht nur dass seine Wahrnehmung grundsätzlich gestört erscheint, ihm ist alles »platt, was hell, fest umrissen und deshalb streng eindeutig« ist. In Nordaus Sicht sind die Deutungen des Mystikers gekennzeichnet durch Beliebigkeit: Wohin er starrt, da kann er alles finden; was er betrachtet, hat keinen Sinn und steht eben deshalb unendlich vielen Spekulationen offen. Dabei, so steht es für Nordau fest, kann der Mystiker gar nicht anders, als die Welt so zu betrachten, wie er es tut. Die Verzerrungen und die Beliebigkeit seiner Weltwahrnehmung beruht auf organischen Missbildungen. Mystiker sind Kranke, Entartete. Dem Mystiker stellen sich alle Erscheinungen der Welt und des Lebens anders dar wie dem gesunden Menschen. Das einfachste Wort, das vor ihm ausgesprochen wird, scheint ihm eine Anspielung auf etwas Verborgenes; in den gewöhnlichsten und natürlichsten Bewegungen sieht er versteckte Winke; alle Dinge haben für ihn tiefe Hintergründe; sie werfen weitreichende Schatten in Nachbargebiete hinüber; sie senden ausgedehnte Wurzeln in entlegene Unterschichten. Jedes Bild, das in seinem Geiste auftaucht, […] veranlaßt ihn, Vorstellungen zu verknüpfen, zwischen denen Andere keinerlei Zusammenhang erkennen. (Nordau 1896: 86f)
Die Art und Weise, in der der Mystiker »Vorstellungen« verknüpft, unterscheidet sich von jener, in der »Andere« – wer auch immer diese Anderen, dieses »wir« sein mögen – Zusammenhang herstellen. Der Modus der Assoziation steht hier infrage und Nordau lässt keinen Zweifel daran, dass man einen ›gesunden‹ von einem ›kranken‹ Modus eindeutig unterscheiden könne. Anders ausgedrückt: Der Mystiker vermutet nicht nur überall verborgene Beziehungen, er assoziiert auch fehlerhaft. Er gestaltet Beziehungen zwischen
Klarheit verbreitet, so daß sich A[ufklärung] mit der rhetorischen Tugend der perspicuitas verbindet, der neben aptum/decorum (Angemessenheit) und latinas (Sprachrichtigkeit) dritten grundlegenden Qualität rhetorischen Sprechens. Sie verlangt vom Redner und seiner Rede Klarheit und Deutlichkeit und ist in allen Produktionsstadien maßgebend, besonders freilich im Bereich der elocutio, bei der Formulierung der Gedanken in wirksamen Worten.« 98
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Vorstellungen aus, die ›gewöhnlich‹ nicht als bedeutsam anerkannt würden. Oder schlicht: er überinterpretiert. In seinen kritischen Publikationen, die sich mit dem ›Problem der Überinterpretation‹ befassen, hat Umberto Eco eine semiotische Analyse überinterpretativer Verfahren vorgelegt, die sich in einigen Punkten mit Nordaus Mystizimuskritik berührt. Als einen »Grundfehler der hermetischen Semiose«, die ihm paradigmatisch für die »Verfahren der Überinterpretation« zu sein scheint, bestimmt er die Assoziation nach Ähnlichkeitskriterien: Unbestreitbar ist, daß Menschen (auch) im Sinne von Identität und Ähnlichkeit denken. Doch im Alltag kennen wir meist die faktischen Unterschiede zwischen relevanten, bedeutsamen und zufälligen oder trügerischen Ähnlichkeiten. […] Das geschieht, weil wir alle eine unbestreitbare Tatsache verinnerlicht haben: Aus einem bestimmten Blickwinkel ist alles mit jedem analog, ähnlich oder vergleichbar. Man kann diese Aussage ins Extrem treiben und behaupten, zwischen dem Adverb ›während‹ und dem Substantiv ›Krokodil‹ bestehe eine Beziehung, nur weil sie beide in diesem Satz vorkommen. Aber eine vernünftige Interpretation unterscheidet sich dadurch von einer paranoiden, daß man erkennt, wie unbedeutend diese Beziehung ist, statt sie extrem zu strapazieren. Paranoid ist nicht, wer bemerkt, daß ›während‹ und ›Krokodil‹ seltsamerweise im selben Kontext auftreten, sondern wer über meine mysteriösen Motive staunt, die beiden Wörter zu verbinden. Der Paranoide argwöhnt hinter meinem Beispiel eine geheimnisvolle Anspielung. (Eco 1996: 55f )13
Auch für den Semiotiker Eco erscheint es nahe liegend, die hermetische Semiose mit den Kriterien der Psychopathologie zu beschreiben. Wer eine »Beziehung« zwischen »›während‹« und »›Krokodil‹« vermutet, »nur weil sie beide in diesem Satz vorkommen«, läuft Gefahr, zwar nicht als entartet, jedoch als paranoid betrachtet zu werden. Entscheidend ist an dieser Stelle für Eco, dass der »Alltag« lehrt, zwischen welchen Elementen einer Aussage Verknüp13 Im weiteren Verlauf stellt Eco heraus, dass Misstrauen gleichermaßen den paranoiden Interpretationstypus wie auch denjenigen von Detektiven und Wissenschaftlern präge: »Um sowohl der Welt als auch Texten zu mißtrauen, muß man ziemlich obsessiv verfahren. Mißtrauen ist an sich keineswegs pathologisch: Der Detektiv wie auch der Wissenschaftler unterstellt im Grunde, daß bestimmte Elemente – die evident, aber scheinbar unwichtig sind – etwas anderes beweisen können, das nicht evident ist.« 99
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fungen sinnvoll sind oder nicht, welche bedeutsam sind und welche »unbedeutend«.14 In Hinblick auf meine einleitenden Bemerkungen, stellt sich hier natürlich die Frage, wie weit diese Festlegung zwischen sinnvollen und relevanten Aussagen auf der einen und sinnlosen und ›bloß zufälligen‹ auf der anderen Seite geht. Wer legt die möglichen Kontextualisierungen und die angemessen Modi der Verknüpfung fest? Und auf welcher Grundlage? Nordaus Argumentation zufolge mutet zunächst die biologische Ebene als die entscheidende an (und hier trifft sich Nordau sicherlich mit einigen Positionen der Neuro- und Kognitionswissenschaften15). Die Verknüpfung einzelner Vorstellungen wird anhand von »Nervenreizen« und mechanisch erzeugten Verbindungslinien zwischen einzelnen Vorstellungs- respektive Nervenarealen konzipiert. »So bildet sich für den Verlauf einer Reizwelle ein bestimmter Weg, eine Marsch-Gewohnheit heraus, es sind immer dieselben Nervenzellen, welche einander gegenseitig ihre Reize zusenden, eine Vorstellung weckt immer diese[] Gefolgs-Vorstellungen und erscheint immer von ihnen begleitet im Bewußtsein.16 Dieser Vorgang heißt Ideen-Assoziation.« (Nordau 1896: 91) 14 Dagegen betont Jonathan Culler die Offenheit der Kontextbildung, die gerade dazu beitragen kann, Elemente, die ›vor‹ der Etablierung des Kontextes unsinnig erschienen, nun als sinnvoll zu betrachten. Siehe Culler 1999: 138: »Die Bedeutung wird vom Kontext determiniert, und aus eben diesem Grunde ist sie für Veränderungen offen, wenn andere Möglichkeiten einbezogen werden. Der Kontext ist auch in einem anderen Sinne nicht beherrschbar: Jeder Versuch zur Kodifizierung des Kontexts kann auf den Kontext, den er beschreiben will, aufgepfropft werden und so einen neuen Kontext schaffen, der sich der vorherigen Formulierung entzieht. Versuche, Grenzen zu beschreiben, ermöglichen immer eine Verschiebung dieser Grenzen; so hat Wittgensteins Ausführung, daß man nicht ›Bububu‹ sagen und damit ›Wenn es nicht regnet, gehe ich spazieren‹ meinen kann, paradoxerweise die Möglichkeit geschaffen, genau dies zu tun.« 15 Gerade in den Neurowissenschaften hat das Konzept, demzufolge Gedächtnis- und Assoziationsspuren in Form von Engrammen in Hirnareale eingetragen werden, Konjunktur, siehe etwa klassische Positionen wie die von Searle, Chalmers, Turing sowie aktuelle Beiträge von Singer, Crick & Koch; sowie die Publikation von Budde/Meuth 2003, und Emrich 2001. 16 Nordaus Ansatz steht in einer langen Reihe von Theorien darüber, wie sich der Zusammenhang von Bewusstsein einerseits und hirnmorphologischer Grundlage andererseits denken lässt. Man denke etwa an die 100
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Unter dem Stichwort »Ideenassoziation« wird somit eine Speicherfunktion der Nervenzellen beschrieben, in der alle Verknüpfungen einzelner Vorstellungen archiviert werden und abrufbar sind. Dabei entscheidet die Häufigkeit, mit der eine bestimmte Verbindung hergestellt wird, darüber, wie deutlich sie sich in den Nervensträngen manifestiert. Im organischen Substrat wird der basale Verknüpfungsmodus verortet, der dem Bewusstsein das Material liefert, mit Hilfe dessen überhaupt richtige und falsche Interpretationen von Welt möglich werden. Darüber hinaus bedarf es jedoch noch eines spezifischen Vermögens, damit die Gedächtnisfunktion der Nervenzellen für die ›gesunde‹ »Funktion in der Hirnthätigkeit« nützlich sein kann: der Aufmerksamkeit, die erst eine Fokussierung in der Masse der gespeicherten Assoziationsbahnen erlaubt, oder, wie Nordau es ausdrückt, »die Ordnung ins Chaos der durch die Ideen-Assoziation wachgerufenen Vorstellungen bringt und sie der Erkenntnis und dem Urtheil nutzbar macht.« (Nordau 1896: 97) Nicht die gewohnheitsmäßige Verbindung einzelner Vorstellungen qua Bahnung zwischen einzelnen Nervenbündeln, sondern erst die Selektion aus der Masse der möglichen Verknüpfungen sichert das gesunde Denken. Bleibt die fokussierende und selektierende Arbeit der Aufmerksamkeit aus, ist man also allein auf die Ideenassoziation gestellt, dann bewegt man sich im Umfeld der Degeneration: Die Hirnthätigkeit der Degenerierten und Hysteriker, nicht überwacht und gezügelt von der Aufmerksamkeit, ist eine willkürliche, plan- und ziellose. Die Vorstellungen werden durch das Spiel der uneingeschränkten Ideen-Assoziation ins Bewußtsein gerufen und können sich darin frei tummeln. Sie erwachen und erlöschen automatisch und der Wille greift nicht ein, um sie zu verstärken oder zu unterdrücken. Neben einander erscheinen Vorstellungen, die einander fremd sind oder einander ausschließen. […] Das Fehlen oder die Schwäche der Aufmerksamkeit führt also zunächst zu falschen Urteilen über die Welterscheinung, über die Eigenschaften der Dinge und ihre Beziehung zu einander. Das Bewußtsein erlangt ein verzerrtes und verschwommenes Bild der Außenwelt. Aber es Auseinandersetzungen zur Leib-Seele-Problematik im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, um deutlich zu sehen, wie sehr sich Nordau um eine strikt materialistische Konzeption bemüht. Siehe beispielsweise für den Zeitraum vom 17. bis zum 19. Jahrhundert Hagner 1997 sowie zur Auseinandersetzung zwischen Immanuel Kant und dem Anatomen Samuel Thomas Soemmerring: Kaiser 1999. 101
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tritt noch eine zweite Folge ein. Der chaotische Verlauf der Reize die Bahnen der Ideen-Assoziation und der anatomischen Nachbarschaft entlang weckt die Thätigkeit naher, ferner und fernster Zellengruppen, die sich selbst überlassen bleiben und nur so lange und so stark oder schwach arbeiten, wie es dem Stärkegrade des Reizes entspricht, der sie getroffen hat. (Nordau 1896: 104)
Die Freiheit, ja Freizügigkeit der ungezügelten Ideenassoziation, die Absenz von Willenskraft und Aufmerksamkeit haben erhebliche Konsequenzen: Mit ihnen geht die Fähigkeit zu korrekten Urteilen abhanden. Die Gesetzmäßigkeit der Ideenassoziation ist für Nordau jedoch nicht ausreichend und das impliziert, dass die durch Gewohnheit und Assoziationsgesetze gebildeten Vorstellungsketten die Referenz unserer Weltinterpretationen nicht sicherstellen können. Erst die sittlich konnotierten Momente17 der Willenskraft und Aufmerksamkeit erzeugen die eigentliche Ordnung der Dinge, oder wie Nordau es ausdrückt: die »Eigenschaften der Dinge und ihre Beziehung zu einander«. Dagegen zeigt sich jedoch, dass Nordaus Bild von einer mechanischen Überschwemmung einzelner Nervenareale durch die Einwirkung innerer oder äußerer Reize mit seiner Darstellung des Mystikers korrespondiert: Wie hier die fernen und fernsten Zellengruppen mit den nächsten in eine chaotische Beziehung treten, so griffen die Wort- und Weltdeutungen des Mystikers über »in Nachbargebiete« und »in entlegene Unterschichten«, die dem geordneten Denken des »Gesunden« gänzlich abwegig erschienen (Nordau 1896: 86). 17 Siehe beispielsweise: »Was allen Entarteten fehlt, das ist der Sinn für Sittlichkeit und Recht. Für sie gibt es kein Gesetz, keinen Anstand, keine Schamhaftigkeit. […] Die beiden psychologischen Wurzeln des moralischen Irrsinns in allen Entwickelungsgraden sind einmal eine ungeheuerliche Selbstsucht und zweitens die Impulsivität, das heißt das Unvermögen, irgend einem plötzlichen innern Antrieb zu einer Handlung zu widerstehen, welche auch die vornehmsten geistigen Stigmate der Entarteten bilden. […] Ein anderes geistiges Stigma der Entarteten ist ihre Emotivität. Morel hat aus dieser Eigenschaft sogar ihr Haupt-Kennzeichen machen wollen, doch, wie mir scheint, mit Unrecht, denn sie kommt in demselben Maße auch den Hysterikern zu, ja sie findet sich bei ganz gesunden Menschen, die durch irgend eine vorübergehende Ursache, durch Krankheit, Erschöpfung, eine starke seelische Erschütterung, zeitweilig geschwächt sind. Immerhin ist sie eine Erscheinung, die beim Degenerierten selten fehlen wird.« (Nordau 1896: 35-37). 102
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Ja, diese ›chaotische‹ Verknüpfung von Elementen und Vorstellungsinhalten hat eine nahezu bedrohliche Dimension: Wenn die Ideenassoziation »die Thätigkeit naher, ferner und fernster Zellengruppen [weckt], die sich selbst überlassen bleiben« herrscht gedankliche Anarchie. Oder, in den Worten eines anderen Psychopathologen: Der Ideenflüchtige zeigt den höchsten Grad von Unbeständigkeit: Jedes Auftauchende – summarisch ausgedrückt – bemächtigt sich der Aufmerksamkeit! Brüderlichkeit und Gleichheit herrscht unter den Vorstellungen – quoad Aufmerksamkeit. Und zwar erhält nicht jede gleich wenig Aufmerksamkeit, sondern jeder wird eine erhebliche psychische Energie zugewendet, die, welche im gesunden Denken nur dem »Wellengipfel« zu Teil wird. Jede setzt sich auf den Thron. Keine Rangordnung, sondern Anarchie! Und zwar eine besondere Form der Anarchie, in der Jeder auf kurze Zeit die höchste Macht an sich reisst, die Macht, welche im gesunden Denken immer nur wenige Bevorzugte geniessen! (Liepmann 1904: 82)
Die nicht durch die Zensur der Aufmerksamkeit selektierten Vorstellungen ergreifen unnachgiebig die Macht, errichten ihre »Theilherrschaften« (Nordau 1896: 11) – wenngleich nur auf kurze Zeit. Mit der Ordnung im Denken ist zugleich die gesellschaftliche Ordnung infrage gestellt.18 Ohne die selektierende Kraft der Aufmerksamkeit ist eine ›wahre‹ Abbildung von Welt im Bewusstsein unmöglich, obwohl selbst die Verknüpfungsleistung der ›Degenerierten‹ nach Regeln erfolgt. Dass durch die Ideenassoziation selbst ›fremde‹ Vorstellungen zueinander in Beziehung gesetzt werden, die ›nichts‹ miteinander zu tun haben oder sich sogar ausschließen mögen, ist dabei zunächst erstaunlich. Doch die Erregung der Nervenzellen, die bei jedem 18 Siehe hierzu Kapitel 2: Vor dem Gesetz. Diese Analogiebildung zwischen einer Ordnung im Denken und einer Gesellschaftsform hat eine Tradition, die (mindestens) ins 18. Jahrhundert zurückgeht. Siehe hierzu Schott 1998: 197: »In einer interessanten Bemerkung vergleicht Reil das Cerebral-System mit dem Königtum, dessen Thron durch eine innere Superiorität gesichert sei (das Gehirn als ›vollkommenste Vereinigung des Ganzen in einem Punkt‹ […]), das GanglienSystem dagegen mit einer ›republikanischen Verfassung, in welcher kein einzelnes Glied sich zum König aufwerfen darf‹: ›ohne Centrum‹ […].« 103
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Stimulus erfolgt, pflanzt sich – je nach Stärkegrad – immer weiter fort und tangiert dabei alle jene »Zellengruppen« die in irgendeiner Art benachbart sind. ›Nachbarschaft‹ ist nun aber nicht das Kriterium, welches in der Moderne (und besonders für Nordau und Eco) Relevanz besitzt. Ob räumlich als Zellgruppierung oder semiotisch als Analogie: »Unter irgend einem Gesichtspunkt sind die heterogensten Dinge verwandt19, der Elefant mit der Gurke.« (Liepmann 1904: 28) Da alles mit jedem verwandt, alles mit jedem benachbart ist, hat dieser Modus der Verknüpfung seit dem ›klassischen Zeitalter‹ keinen Anspruch mehr darauf, die ›Ordnung der Dinge‹ adäquat abzubilden.20 19 Bei Jung findet sich der Hinweis, dass Wilhelm Wundt Assoziationsverhältnisse als Verwandtschaftsverhältnisse aufgefasst habe: »Wir fassen im übrigen mit WUNDT die assoziative Verwandtschaft als das Prinzip der inneren und die Übung als das Prinzip der äußeren Assoziationen auf …« (Jung 1995a: 24). 20 Foucault hat in seiner Ordnung der Dinge gezeigt, dass sich die epistemischen Modelle seit dem 16. Jahrhundert grundlegend gewandelt haben. Während zunächst ein Erkenntnismodell vorherrschte, das in Analogien strukturiert war, d.h., das die Welt als Gabe Gottes in einen Mikro- und einen Makrokosmos gliederte, in welchen jedwedes Ding in einer unendlichen Kette von Ähnlichen eingereiht war und deren Zeichen die Signaturen des Ähnlichen in den Dingen waren, eigens dazu »angebracht«, dass auch der Mensch die prästabilisierte Ordnung zu erfassen imstande sei, ändert sich dieses Epistem im klassischen Zeitalter, das z.B. mit der Logik von Port-Royale verbunden wird. Das nunmehr bis ins neunzehnte Jahrhundert vorherrschende Erkenntnismodell verabschiedet sich sehr grundlegend vom analogen Denken und etabliert eine klassifikatorische Ordnung, die nicht so sehr das Verbindende, sondern vielmehr das die Dinge Differenzierende in den Vordergrund ihrer Taxinomien stellt. »Die fundamentalste Eigenheit der Zeichen für die episteme der Klassik ist indessen bis jetzt nicht ausführlich besprochen worden. In der Tat, daß das Zeichen mehr oder weniger wahrscheinlich, mehr oder weniger von dem von ihm Bezeichneten entfernt, natürlich oder abiträr sein kann, ohne daß seine Natur oder sein Zeichenwert davon berührt werden mag – all das zeigt wohl, daß die Beziehung des Zeichens zu seinem Inhalt nicht in der Ordnung der Dinge selbst gesichert wird. Die Beziehung des Bezeichnenden zum Bezeichneten stellt sich jetzt in einen Raum, in dem keine vermittelnde Gestalt ihr Zusammentreffen mehr sichert: sie ist im Innern der Erkenntnis die zwischen der Vorstellung (idée) einer Sache und der Vorstellung einer anderen hergestellte Verbindung.« (Foucault 1971: 98). Seit Beginn des neunzehnten Jahrhunderts hat sich dieses klassische Modell von Erkenntnis wiederum grundlegend geändert. Waren die Zeichen zuvor transparent, sind sie 104
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Nicht nur für eine psychologisch-psychiatrische Betrachtungsweise ergibt sich somit eine Doppelstruktur, da die Modi der Verknüpfung zwar beschrieben und untersucht werden können, doch die so eruierten Gesetze der Ideenassoziation kein hinreichendes Kriterium mehr für die Unterscheidung von relevanten und zufälligen, von gesunden und kranken Assoziationsfolgen abgeben. Nordau votiert an diesem Punkt – in Übereinstimmung mit dem Großteil der zeitgenössischen psychiatrischen Literatur – für die Vermögen der Aufmerksamkeit und, damit einhergehend, der Willenskraft.21 Doch auf welche Weise werden um 1900 die Verknüpfungsleistungen beobachtet und systematisiert? Wie sieht das Modell des gesunden, wie das des kranken Assoziierens aus? An welcher Stelle und wie wird ein externes psychisches Vermögen eingesetzt, das die wilden, planlosen Outputs der Ideenassoziation überwacht und zügelt?
G e s e t z e d er I d ee n a s s o z ia t i o n Nordau beruft sich in erster Linie auf die für die psychologische Literatur maßgebliche Einteilung der »Gesetze der Ideenassoziation« von Wilhelm Wundt. Demnach werden Ideen nach vier Gesichtspunkten miteinander verknüpft: (1) durch Gleichzeitigkeit der Eindrücke, (2) durch Ähnlichkeit, (3) Gegensätzlichkeit und (4) durch ihr Auftreten im selben Raum (Nordau 1896: 93f). Diese Aufteilung ist nicht sehr überraschend, da bereits David Hume, der der Assoziationstheorie in der Philosophie des 18. Jahrnun auf spezifische Weise dunkel. »Die nun entstehende sog. Tiefenepistemologie der Moderne ist charakterisiert durch eine tiefe Zweiteilung. In einer völligen Umkehr der klassischen Ordnung verlieren die Zeichen ihre Transparenz. An der Oberfläche der Dinge angesiedelt, werden sie dunkel, ihre Bedeutung erscheint rätselhaft. Zugleich wirken in der Tiefe der Dinge metaphysische dynamische Kräfte, die sich aller Beobachtung entziehen und den verborgenen Grund des Seins bezeichnen.« (Kablitz 1998, 160f). 21 Jonathan Crarys These, dass das Vermögen der Aufmerksamkeit geradezu eine Erfindung der psychiatrischen und avantgardistischen Diskurse um 1900 sei, scheint mir überzogen. Crary (2002: 21-69) liefert jedoch eine interessante Zusammenschau der Aufmerksamkeitstheorien des 19. Jahrhunderts und korreliert sie mit ästhetischen Produktionen etwa von Edouard Manet, Georges Seurat und Paul Cézanne. 105
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hunderts eine wichtige Rolle zumaß, zwischen den Hauptkriterien: »Ähnlichkeit, Berührung in Zeit oder Raum, und Ursache und Wirkung« (Hume 1984: 25) unterschieden hatte. Der Status der Assoziationsforschung ist dabei nicht gering zu veranschlagen: er beerbt die Kantische Epistemologie in empirischer Hinsicht. Assoziationen werden somit nicht als Abbilder von Wirklichkeit gedacht, sondern es wird die Rolle der psychischen Operationen bei der Herstellung von Wirklichkeit betont. Bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert war die Theorie der Ideenassoziation Teilbereich der Erkenntnistheorie und teilweise auch im Aufgabenbereich der Pädagogik (Herbart) angesiedelt.22 Dies ändert sich um 1900 mit der Umstrukturierung der Psychologie, die sich aus ihrem ›Schattendasein‹ als Teildisziplin der Philosophie zu einer an den naturwissenschaftlichen, medizinischen Fächern orientierten Wissenschaft entwickelte. Die ›neue‹ psychologische Wissenschaft ging das Problem der Ideenassoziation empirisch an und erforschte in experimentellen Studien die Parameter, unter welchen die Assoziation von Vorstellungen vonstatten geht. Sir Francis Galton setzte 1879 mit seinen Psychometric Experiments Akzente, da er die Reaktionszeit als Beurteilungskriterium in das psychologische Experiment einführte.23 Mit einem an den pathologischen Grenzphänomenen der Ideenassoziation geschärften Blick versuchte man in der Folgezeit die verschiedenen Ebenen der Assoziation empirisch zu erforschen, zu beschreiben und als hierarchisches System zu entfalten. Mit anderen Worten: der Versuch einer ›Anthropologie in pragmatischer Hinsicht‹ wurde in Form von Experimentalreihen und psychopathologischer Forschung durchgeführt.
22 Siehe hierzu eine frühe Studie von Walter Nowack, die die Geschichte der Ideenassoziation bis ins 19. Jahrhundert rekonstruiert (Nowack 1925). 23 Galton 1879: 149: »PSYCHOMETRY, it is hardly to say, means the art of imposing measurement and number upon operations of the mind, as in the practice of determining the reaction-time of different people.« Dort findet sich bereits eine Unterscheidung zwischen der ›bloßen Assoziation‹ und ihrer ›Fixierung‹ durch Aufmerksamkeit: »The processes of thought fall into two main categories: in the first of these, ideas present themselves by association either with some object newly perceived by the senses or with previous ideas; in the second process, such of the associated ideas are fixed and vivified by the attention, as happen to be germane to the topic on which the mind it set.« 106
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Eine der umfangreichsten Experimentalstudien hat C.G. Jung gemeinsam mit Franz Riklin um 1900 als Assistent von Eugen Bleuler am Züricher Burghölzli durchgeführt und in den bereits erwähnten Experimentellen Untersuchungen über Assoziationen Gesunder dokumentiert. Die Notwendigkeit einer empiriegestützten Untersuchung der ›normalen‹ Assoziationswege hatte sich gerade durch die Arbeit mit jenen Patienten ergeben, deren Assoziationsverhalten in irgendeiner Hinsicht auffällig war. Um die krankhafte Abweichung adäquat erfassen zu können, so stellte man fest, musste überhaupt erst eine hinreichend fundierte Analyse dessen erfolgen, was als ein ›normales‹ Assoziationsverhalten zu betrachten sei.24 Dabei ergaben sich von vornherein Schwierigkeiten, – insbesondere in den gebildeten Schichten – eine Anzahl ›normaler‹ Probanden zu finden.25 Eine weitere, systematische Schwierigkeit lag in der Natur der Experimente, die so aufgebaut waren, dass der Versuchsperson ein Reizwort zugerufen wurde und diese unmittelbar mit einem Wort reagieren sollte, wobei die Reaktionszeit gemessen wurde. Fraglich war in diesem Zusammenhang, inwiefern man die untersuchten Reaktionen als Assoziationen auffassen könnte, da es sich hier um sprachliche Reaktionen und nicht um direkte Abbilder des zugrunde liegenden psychischen Mechanismus handelte. Die Reaktion des Probanden sei zwar »ein Symptom psychischer Vorgänge, 24 Jung 1995a: 13: »Schon seit längerer Zeit wird an der hiesigen Klinik dem Assoziationsvorgang eine größere Aufmerksamkeit geschenkt. Um in dieser Hinsicht ein wissenschaftlich verwertbares Material zu schaffen, hat mein verehrter Chef Herr Prof. BLEULER, ein Formular von 156 Reizwörtern zusammengestellt und damit Versuche bei allen möglichen Psychosen gemacht. Bei diesen Versuchen ergab sich aber bald eine ganz bedeutende Schwierigkeit. Es war kein Mittel vorhanden, die Assoziationen kranker sicher und zahlenmäßig vom Typus des normalen abzutrennen. Es gab nirgends Material, das über die Schwankungen in der Breite des Normalen unterrichtete und die scheinbar wilde Zufälligkeit der Assoziationen in bestimmte Gesetze faßte. Diesem Mangel einigermaßen abzuhelfen, und dadurch der experimentellen Erforschung pathologischer Assoziationen den Weg zu ebnen, habe ich den Plan gefaßt, ein größeres Material über gesunde Assoziationen zu sammeln und zugleich deren Hauptbedingungen zu studieren.« 25 Jung 1995a: 15: »Es wurde darauf geachtet, möglichst normale Individuen zu den Versuchen zu benutzen, was aber besonders bei den Gebildeten auf unerwartete Schwierigkeiten stieß, indem gerade auf dieser Stufe der Begriff des Durchschnittlich-Normalen recht dehnbar sein muß.« 107
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über deren Natur wir uns eines unmittelbaren Urteils enthalten«, aber von »Assoziationen im strengen Sinne« könne nicht die Rede sein. Diese Einschränkung beruht darauf, dass Jung zwischen »sprachlicher Reaktion« und »den außerordentlich komplizierten Vorgängen« der Assoziation unterscheiden will (Jung 1995a: 19f). Letztere sind »reine intrapsychische« Vorgänge, die »nicht zum Objekt eines anderen Bewußtseins werden ohne Umsetzung in die geläufige Symbolik der Sprache«. (Jung 1995a: 21) Was galt also als eine »Assoziation«? Jung bezieht sich auf seinen Lehrer Eugen Bleuler. Dieser definiert in seinem Lehrbuch der Psychiatrie die Assoziation, welche als synonym mit »Denken« aufgefasst wird, ganz allgemein – und das heißt im »normalen«, gesunden Zustand – als eine »Verbindung der Psychismen«, die durch »zeitliche Zusammenhänge« »gestiftet« und in Form von »Engrammen« gespeichert wird.26 »Ein neues Ereignis ekphoriert die Engramme von Erinnerungsbildern, die irgendeinen Zusammenhang (zeitlich, ähnlich) mit ihm haben.« Bleuler ist wichtig, die Assoziationen einerseits als »Zustand« der Verknüpfung zwischen Engrammen aufzufassen, der jedoch zugleich ein »Vorgang« sei, in dem die »Auslösung einer Vorstellung durch eine andere,« das »Denken« und die »Beeinflussung eines Psychismus durch einen anderen« vonstatten geht (Bleuler 1947: 8). Jung stellt seinen Experimentellen Untersuchungen eine Synopsis der einschlägigen Forschungsliteratur voran, um anhand dieser Literaturdiskussion die Untersuchungsparameter zu klären. In weitgehender Übereinstimmung mit der Fachliteratur (und insbesondere den Arbeiten von Kraepelin und Aschaffenburg) unterscheiden Jung/Riklin zwischen I: Inneren Assoziationen (d.i. Koordination,27 prädikative Beziehung28 und Kausalabhängigkeit, wie wenn etwa 26 Zur näheren Definition der »Engramme« siehe Bleuler 1947: 13. Bleulers Theorie der Engramme besitzt eine augenfällige Nähe zu Sigmund Freuds Wunderblock-Metapher, siehe hierzu: Freud 1999m. 27 Jung 1995a: 24: »Wir teilen unter diese Bezeichnung alle Assoziationen ein, die irgend nach Bei-, Über-, Unterordnung oder Kontrast verbunden sind.« 28 Jung 1995a: 30: »Die in erster Linie hierhergehörigen Urteile lassen sich bekanntlich nach KANT in analytische und synthetische teilen. Dieses logische Einteilungsprinzip ist für uns nur insofern von Wert, als im analytischen Urteil nur ein Begriffsteil, das heißt ein Prädikat produziert wird, das mit dem Begriff notwendig schon mit vorgestellt ist. Es wird also bloß das gegeben, was implizite schon vorhanden ist. 108
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»Schmerz« mit »Tränen« beantwortet wird), II: Äußeren Assoziationen (d.i. Koexistenz29, Identität30, sprachlich-motorische Form31), III: Klangassoziationen, worunter auch alle eingeübten sprachlichen Verbindungen fallen, wie sie beispielsweise in stehenden Redewendungen, Zitaten und Sprichwörtern vorliegen, Wortergänzungen, Klang und Reim, und IV: einer Restgruppe, in die mittelbare Reaktionen, sinnlose Reaktionen, Fehler und Wiederholungen des Reizwortes eingeordnet werden (Jung 1995a: 47-50). Wie unschwer zu erkennen ist, impliziert diese Systematik eine Wertigkeit der Assoziationstypen in absteigender Linie. Was als Klangassoziation firmiert, wird als ›nur noch‹ sprachliche Reaktion betrachtet. Je müder ein Proband wird, d.h. je weiter seine Aufmerksamkeit schwindet, desto häufiger finden sich mechanische Reaktionen und Klangassoziationen.32
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Im synthetischen Urteil aber wird etwas zum Begriff hinzugefügt, das nicht notwendig mit dem Begriff schon gedacht ist. Bezüglich assoziativer Leistung steht also cum grano salis das synthetische Urteil über dem analytischen. Treten wir diese Frage praktisch näher, so finden wir (soweit dieser Einteilungsmodus in praxi überhaupt verwendbar ist!), daß bei einfachen Urteilsreaktionen das analytische Urteil hauptsächlich in der Bezeichnung einer koexistenten, sinnlich evidenten Eigenschaft besteht, während das synthetische Urteil meist ein Werturteil mit mehr oder weniger starker Ichbeziehung ist.« Jung 1995a: 35: »Der Zusammenhang der Koexistenz ist die Kontiguität oder Simultaneität, das heißt, die Verknüpfung der beiden Vorstellungen ist nicht ausschließlich durch Ähnlichkeit oder Verwandtschaft bewirkt, sondern durch ein zeitliches Beisammen- oder unmittelbares Nacheinandersein.« Jung 1995a: 35: »Die Reaktion bedeutet keine Verschiebung oder Weiterentwicklung des Sinnes, sondern ist ein mehr oder weniger synonymer Ausdruck für das Reizwort.« Hierunter fassen Jung und Riklin eine Reihe von Phänomenen, die in der zeitgenössischen Literatur unter verschiedenen Begriffen diskutiert wurden: »ZIEHEN: ›Assoziative Wortergänzung‹ und ›geläufige Wortverbindungen‹. KRAEPELIN-ASCHAFFENBURG: ›Sprachliche Reminiscencen‹. TRAUTSCHOLDT: ›Wortassociation‹. In dieser Untergruppe der äußeren Assoziationen fassen wir alle Vorstellungsverbindungen zusammen, welche durch die sprachliche Einübung mehr oder weniger mechanisiert worden sind, obschon sie vielleicht logisch und historisch eine andere Bedeutung haben […].« (Jung 1995a: 36). An dieser Stelle sei auf den jüngst erschienen Sammelband von Steigerwald/Watzke 2003 hingewiesen. In einer Reihe einschlägiger Artikel wird hier die frühere experimentelle Forschung zur Aufmerksam109
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Jung, der sich einige Jahrzehnte später außerordentlich an jenen Verknüpfungen interessiert zeigte, die durch Synchronizität hervorgerufen werden,33 teilt in seinen frühen Experimentalstudien die allgemeine Tendenz, innere über äußere Assoziationen zu stellen und somit seiner Systematik der Assoziationen eine inhärente Wertung mit einzuschreiben. Während die Assoziation anhand von eingeübten oder klanglich determinierten Sprachelementen als eine Art Schwundstufe erscheint, kommt der kausalen resp. der prädikativen Assoziation ein höherer Grad von Komplexität zu. Letzteren wird eine größere psychische Energieleistung zugesprochen, dieweil erstere als ›bloße‹ sprachliche Automatismen betrachtet werden. Diese Hierarchisierung spiegelt sich in den Experimentalstudien, die zeigen, dass die Anzahl der sprachlich gesteuerten Assoziationen mit zunehmender Ermüdung der Probanden gleichfalls zunehmen.34 Der Übergang vom ›normalen‹ Assoziieren zum ›kranken‹ ist ein fließender: die normalen Erschöpfungszustände werden in der psychiatrischen Forschung mit den klinischen Krankheitsbildern korreliert. keitssteuerung und Normalisierung untersucht (siehe besonders die Artikel von Jörn Steigerwald, Barbara Thums, Holger Wille und Gabriele Ribémont). 33 Jung 2001. Zur Verknüpfung aufgrund von Synchronizität haben Richard Klein und William Warner einen sehr interessanten Aufsatz verfasst, der den Absturz der Korean Airline 007 und die sich um diesen Flugzeugabsturz rankenden Deutungen zum Ausgangspunkt nimmt, um die Frage, auf welche Weise sich tendenziell paranoide Deutungssysteme herstellen, zu diskutieren. Siehe Klein/Warner 1986. 34 Jung 1995b: 4f: »Fruchtbar und praktisch interessant wurde das Experiment erst, als die Psychiater die Sache in die Hand nahmen. Dieser Fortschritt knüpft sich an drei bekannte Namen: Kraepelin, Sommer und Ziehen. […] Wie jeder Laie sich vorstellen kann, sind der Möglichkeit, auf Reizwörter zu reagieren, anscheinend unzählig viele. Es erscheint darum als grosses Verdienst, dass der Nachweis für das Vorhandensein beschränkender Regeln geführt werden konnte. Dieser Nachweis ist der hervorragenden Arbeit Aschaffenburg’s, eines Schülers Kraepelin’s, gelungen. Er konnte nämlich durch eben so interessante als mühevolle Versuche zeigen, dass die geistige und körperliche Ermüdung einen ganz bestimmten Einfluss auf die Assoziationen hat, der sich übrigens auch statistisch klar darstellen lässt. Es zeigte sich, dass unter dem Einfluss der Ermüdung namentlich die sogenannten Klangassoziationen zunahmen. (Also Verbindungen wie Tisch – Fisch, rot – Brot, Wald – bald etc.) Auf dieser wichtigen Tatsache baute Aschaffenburg weiter und zeigte nun auch, dass bei einer Geistesstörung, der Manie, in ähnlicher Weise assoziiert wird.« 110
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Dass auch diese Untersuchungsparameter kein Mittel an die Hand geben, ›gesund‹ und ›krank‹ kategorial zu trennen, da die verschiedenen Verknüpfungsmodi auch bei ›normalen‹ Probanden auftreten, sondern lediglich eine quantitative Auswertung ermöglichen, mag in mancher Hinsicht nicht befriedigen. Auch eine prädikative Assoziationsreihe oder eine, die sich an den Kriterien von Gattung und Art orientiert, muss unter Umständen der pathologischen Ideenflucht zugeordnet werden.35 In der psychopathologischen Literatur werden daher auch Konzepte diskutiert, die anhand einer zentralen Instanz oder eines Kriteriums die Frage beantworten, wann eine assoziative Reihenbildung ›normal‹ sei. Wie bereits bei Nordau gesehen hat sich Ende des 19. Jahrhunderts – im deutlichen Kontrast zur philosophischen Fragestellung – die Annahme durchgesetzt, dass den Affekten eine zentrale Rolle für die Ordnung des Denkens einzuräumen sei. Die Frage, auf welche Weise wir Worte mit Worten assoziieren, hängt somit von der Frage ab, mit welcher emotionalen Intensität diese für uns ausgestattet sind. Diese Sichtweise verbindet so unterschiedliche Positionen wie die der Psychoanalyse und der psychologisch-psychia– trischen Forschung.36 35 Siehe beispielsweise: »›Meine Eltern, Grosseltern, Urgrosseltern, alle Geschwister und sämtliche Verwandte, sowie alle deren nähere und, dies ganz besonders hauptsächlich meine näheren Freunde und Freundinnen, Bekannte und Bekanntinnen, sowie fremde Leute, mit denen ich teils während der Schulzeit, teils auch während meiner späteren Jahre, sowohl beim Militär, also auch im Beamten-, Zivil- und kaufmännischen Geschäftsverhältnis verkehrte, haben mich auf das allergemeinste belogen, hintergangen, beschimpft, verachtet, verspottet, ausgelacht, verhöhnt, entehrt, misshandelt, durchgehauen, durchgeprügelt‹ usw.« (Liepmann 1904: 76). 36 In diesem Sinne hatte Eugen Bleuler die Bedeutung der Affekte für die Zielrichtung des Denkens hervorgehoben: »Das Hauptziel des Denkens wird durch die Triebe, die Affekte bestimmt […]. Dadurch [durch die Beeinflussung des Denkens durch Affekte, C.K.] kommt es alltäglich zu Störungen, ja zu direkten Fälschungen der Logik, in geringerem Grad beim Gesunden, in stärkerem beim Geisteskranken […]« (Bleuler 1947: 10). Und Freud machte die affektive Besetzung von Assoziationen bekanntermaßen zum Ausgangspunkt seiner psychoanalytischen Theorie. »[Das] Wort bezeichnet die Mobilität selbst (die Verschiebung), die von nun an wie ein gebahnter Weg codiert ist. Man sollte hierbei nicht vergessen, daß Freud sein gesamtes Werk hindurch ständig als typisches Beispiel gebundener Energie das angeführt hat, was er ›Denkprozeß‹ nannte […] – ein Prozeß, der ihm zu111
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Die affektive Besetzung einer Assoziation lässt sich nicht in gleicher Weise in Form von Gesetzen formulieren, wie dies für die ›reine‹ Mechanik der Ideenassoziation möglich schien. Das Assoziationsverhalten bekommt somit eine individuelle Seite, auf welche psychiatrisch-psychologische Forschung reagieren muss. C.G. Jung, der sich im Zusammenhang mit seinen Assoziationsstudien für die Freudsche Psychoanalyse zu interessieren begann, schloss sich in diesem Sinne der Auffassung an, dass auch die individuelle Ausprägung der Assoziationen determiniert sei: Als ein zweites Resultat [von Jungs eigenen experimentellen Untersuchungen] ergab sich, daß der Inhalt der geäusserten Reaktionen kein bloss zufälliger, sondern ein notwendiger ist; das heißt das, was den Versuchspersonen einfiel, war nicht ein gleichgültiges und zufälliges Material, sondern gesetzmäßig determiniert durch den individuellen Vorstellungsinhalt der Versuchsperson. (Jung 1995b: 340)
Ordnung kommt ins ›Chaos‹ der individuellen Assoziation somit (wie bei Freud ausführlich in der Traumdeutung dargestellt) durch die Geschichte der »individuellen Vorstellungsinhalte«, die sich partiell analysieren lässt. Eine affektiv aufgeladene Assoziation besitzt im Sinne der Psychoanalyse eine energetische Qualität, die auch als »Erregung«, »Energie«, »Ladung«, »Besetzung« etc. bezeichnet wird. (Metz 2000: 115; siehe hierzu auch Kapitel 2, Detektive und Untersuchungsrichter). Eine Position, die sich nicht auf die (Re-)Konstruktion des individuellen Vorstellungslebens einlassen will, muss andere Maßstäbe anlegen. Für die psychiatrische Forschung um 1900 ist Hugo Liepmanns Konzept der Leitvorstellung zu nennen, auf welches sich folge zwei notwendige Bedingungen zur Voraussetzung hat: ein erhöhtes Niveau dauerhafter Besetzung im psychischen Apparat, was etwa dem Phänomen der Aufmerksamkeit entspricht, und die Verschiebung geringerer Erregungsquantitäten, die beim Übergang von der einen Vorstellung zur nächsten kontrolliert werden (andernfalls handelt es sich um eine unvermittelte Assoziation und im Extremfall um die Halluzination, die, wie man weiß, die ›Wahrnehmungsidentität‹ und nicht mehr die ›Denkidentität‹ sucht […]). So bezeichnet die Verschiebung für Freud, wenngleich er vor allem deren primäre Varianten erforschte – oder man vor allem auf diese eingegangen ist –, die psychische Mobilität in ihrer Allgemeinheit; es ist dies das energetische Modell selbst, das ökonomische Modell der Psychoanalyse.« (Metz 2000: 115). 112
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zahlreiche Autoren beriefen. Liepmann verfolgt dabei ebenfalls die grundsätzliche Fragestellung: »was heisst ›Zusammenhang‹ im Denken?« (Liepmann 1904: 80) und unterscheidet zwischen dem Assoziieren auf der einen und »dem Zusammenhang« auf der anderen Seite. Ja, ebenso wie Nordau argumentiert er, dass das Assoziieren überhaupt nicht für eine Ordnung im Denken Sorge trage: Wir sehen also […], dass entweder überhaupt nicht ein Glied das folgende nach irgend einem assoziativen Prinzip emporhebt, sondern zusammen mit den anderen Gliedern durch eine übergeordnete Vorstellung von einem grösseren Realzusammenhange bestimmt wird, oder aber, dass, wo die einander benachbarten Glieder in Verknüpfung stehen, diese Verknüpfung in dem durch die übergeordnete Vorstellung gegebenen Realzusammenhange enthalten ist. (Liepmann 1904: 32)
Die »übergeordnete Vorstellung« ist für ihn das entscheidende Kriterium. Das Gegenteil von »Ideenflucht«, ein Sammelbegriff für unterschiedliche Formen des ›kranken‹ Assoziierens, ist die Fähigkeit, einer »Zielvorstellung« entsprechend die Assoziationen anzuordnen. Das Fehlen oder der Mangel an Zielvorstellungen sind somit, wie bei Emil Kraepelin, das Kriterium, mit Hilfe dessen man eine ideenflüchtige Assoziationskette erkennen kann (vgl. Liepmann 1904: 12-14). Dadurch wird anhand des geäußerten oder auch geschriebenen Textes erkennbar, inwiefern eine leitende Vorstellung die assoziierten Bestandteile strukturiert hat oder nicht. Auch Erwin Stransky äußert in seiner Arbeit Über krankhafte Ideen die Gewissheit, dass eine Analyse schriftlicher Quellen Aufschluss über Gesundheit und Krankheit ihres Verfassers geben und Ideenflucht somit sicher diagnostiziert werden könne. »Ich wies schon darauf hin, dass wir ein schriftliches Produkt eines Menschen als ideenflüchtig oder nicht ideenflüchtig erkennen können, ohne dass uns anderweitig kund geworden ist, wie es in der Seele desselben aussieht. Die produzierte Vorstellungsreihe selbst muss doch also die Kennzeichen der einen oder der anderen Art an sich tragen.« (Stransky 1914: 17) Stransky liefert in diesem Sinne Jahrzehnte nach Nordau eine wissenschaftliche Legitimation für Nordaus kritisches Projekt, in welchem er die Entartungsdiagnose aus der Textur der modernen Schriftsteller ableiten will. Doch was für eine Art Zusammenhang
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im Denken wird hier beobachtet? Wie wird die ›Zielvorstellung‹ im psychiatrischen Diskurs definiert? »Eine Zielvorstellung haben, heisst ein gewolltes Zukünftiges in der Vorstellung antizipieren.« (Liepmann 1904: 15) Mit anderen Worten: Durch eine Zielvorstellung wird eine Einheit des Sinns antizipiert, die dem eigenen Diskurs eine verbindliche Struktur verleiht. Sie leistet damit für das Denken des Einzelnen, was der Konsens im idealen Diskurs für die Sprechergemeinschaft stiften soll: Ein »gewolltes Zukünftiges« wird im Prozess des Vorstellens so ›antizipiert‹, dass eine Bedeutung favorisiert und abweichende ›Nebenvorstellungen‹ ausgeschlossen werden. Um die Zielvorstellung zu etablieren, bedarf es eines Vermögens, das über die assoziative Denkbewegung hinausgeht und die Zielvorstellung zum einen etabliert, zum anderen dafür Sorge trägt, dass sie für die Assoziationskette verbindlich bleibt. »Man könnte sagen, in der Ideenflucht verhalten wir uns mehr passiv, die Vorstellungen reihen sich nach Verwandtschaftsverhältnissen aneinander, während im gesunden Vorstellen der ›Wille‹ den Verlauf bestimmt.« (Liepmann 1904: 16) Aufmerksamkeit und Willenskraft werden somit als die entscheidenden Instanzen behauptet, um eine Zielvorstellung assoziativ auszugestalten und den ›freien Fluss‹ der Assoziationen zu kontrollieren und in ›geordnete Bahnen‹ zu lenken. Während der Mensch im einen Falle als passiv geschildert wird, ist die Willenskraft Zeichen für ein aktives Subjekt und ›gesundes Vorstellen‹. Die Irritation, die dadurch auftritt, dass sich das gesunde, ›geordnete Denken‹ nicht kategorial vom kranken trennen lässt, wird somit durch die Implementierung einer (jeweils antizipierten) Zensurinstanz wieder eingedämmt.37 Auch Liepmann spricht hier von 37 Bzw. sie wird dadurch konterkariert, dass man zwischen den Gesetzen des gesunden und des kranken Denkens unterscheidet, um somit der Psychopathologie wieder ein ›eigenes‹ Aufgabenfeld zuzuweisen: »Zu den Gemeinplätzen der Psychopathologie zählt der Satz, daß es eine schärfere Grenzlinie zwischen gesund und krank nicht gibt. Dieser Satz, der für das praktische Leben und insonderheit für die Psychiatrie von fundamentaler Bedeutung ist, darf nun natürlich nicht etwa gleich dahin mißverstanden werden, als wäre die Psychopathologie nichts anderes als ein Anhang der Psychologie, als ließen sich die Gesetze krankhaften psychischen Geschehens samt und sonders mühelos und zwanglos aus jenen des gesunden Seelenlebens herleiten.« (Stransky 1914: 1). Für gesundes und krankes Seelenleben gibt es demnach zweierlei Gesetze, was grundsätzliche Fragen nach der Normativität aufwirft, auf die Stransky nicht näher eingeht. 114
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einer »Polizei«, die je nach Disposition des Einzelnen, mal mehr, mal weniger effektiv für die Ordnung im Denken Vorsorge trifft: Man könnte daran Anstoss nehmen, dass alle die Assoziationen, die beim Manischen auftreten, als überhaupt in das Bewusstsein des Gesunden getreten angesehen werden, und erst vom Aufmerksamkeitsfelde ferngehalten. Man könnte vielmehr sagen, dass im geordneten Denken diese Assoziationen zum Teil nicht nur vom Aufmerksamkeitsfelde, sondern schon vom Bewusstseinsfelde ferngehalten werden, also unter der Schwelle bleiben. Man hätte dann, bildlich gesprochen, im geordneten Denken eine Polizei, die nicht nur den Zutritt aus dem Bewusstseins- ins Aufmerksamkeitsfeld, sondern aus der Latenz ins Bewusstseinsfeld verwehrte. (Liepmann 1904: 68)
Die Aufgabe der ›Polizei‹ ist also zum einen eine Sicherung der Grenzen, zum anderen aber auch Selektion durchzuführen: die »Schwelle« zwischen Bewusstsein und Aufmerksamkeit muss ebenso gehütet werden wie die zwischen dem Unbewussten und dem Bewussten. Welche Vorstellungen die Schwelle passieren dürfen, wird folglich von dieser Polizei entschieden. Sie regelt den Übergang von einer in die andere Sphäre und muss somit als die exekutive psychische Macht angesehen werden, die der gedanklichen Norm und der antizipierten Leitvorstellung Geltung verschafft.
Lek t ür e n Nicht jede Abweichung vom Schema der Leitvorstellung ist dabei schon ein Indiz einer zugrunde liegenden Pathologie: Was ich also im Folgenden als geordneten Gedankengang analysiere, ist nicht etwas, was jederzeit im Leben des Gesunden realisiert ist. Es findet sich am vollkommensten in planmässig entworfener Rede, in systematischer Gedankenentwicklung, etwa in einem Vortrage, Predigt, einem Aufsatz, oder in den Überlegungen dazu, in Diskussionen ernster Art. […] Dass nun dieser so verstandene, geordnete Gedankengang ein einfaches Spiel der Assoziationsgesetze sei, ist eine vollkommene Fabel. (Liepmann 1904: 20)
Der »Fabel« von der ordnenden Kraft der Gesetze der Ideenassoziation stellt Liepmann eine andere, nicht minder narrative Form ge115
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genüber. Die ›Ordnung im Denken‹ wird als eine rhetorische erklärt. Anders formuliert: Als Norm erhoben wird hier jene Redeform, die der Aristotelischen Poetik am ehesten entspricht, die Anfang und Ende ebenso markiert, wie einen (argumentativen) Höhepunkt, die »planmässig« und systematisch erscheint, also »ein Ganzes« ist: Ein Ganzes ist, was Anfang, Mitte und Ende hat. Ein Anfang ist, was selbst nicht mit Notwendigkeit auf etwas anderes folgt, nach dem jedoch natürlicherweise etwas anderes eintritt oder entsteht. Ein Ende ist umgekehrt, was selbst natürlicherweise oder in der Regel, während nach ihm nichts anderes mehr eintritt. Eine Mitte ist, was sowohl selbst auf etwas anders folgt als auch etwas anderes nach sich zieht. Demzufolge dürfen Handlungen, wenn sie gut zusammengefügt sein sollen, nicht an beliebiger Stelle einsetzen noch an beliebiger Stelle enden, sondern sie müssen sich an die genannten Grundsätze halten. (Aristoteles 1994: 25)
Eine Rede, die Anfang, Mitte und Ende nicht hinreichend markiert, erscheint als ›einfache‹ Aneinanderreihung von Assoziationen und entbehrt der Struktur.38 Ein Beispiel für den Mangel narrativer Strukturmuster zeigt die Antwort eines Patienten auf die Frage des Arztes, wie es denn ginge? »›Es geht, wie’s steht. In welchem Regiment haben Sie gestanden? Herr Oberst ist zu Hause. In meinem Hause, in meiner Klause! Haben Sie Dr. Klaus gesehen? Kennen Sie Koch, kennen Sie Virchow? Sie haben wohl Pest oder Cholera? Ach die schöne Uhrkette, wie spät ist es?‹« (Liepmann 1904: 21). Die lineare Verkettung, in welcher eine Assoziation an die nächste gebunden wird, ohne dabei ein ›Thema‹ näher auszubuchstabieren, ist Ideenflucht. Um es noch einmal zugespitzt zu formulieren: Das Schema der ›gesunden‹ Rede, die von einer normativen In38 Liepmanns ›Paraphrase‹ des Aristotelischen Diktums lautet denn auch: »Welches ist nun aber der Zusammenhang, der sich darüber hinaus im geordneten Denken findet, der in der Ideenflucht fehlt? Wir kamen […] zu dem bemerkenswerten Ergebnis, dass es überhaupt ein fruchtloses Bemühen ist, das geordnete Denken mit Hilfe von Assoziationsprinzipien zu charakterisieren, mögen es nun jene grossen ›Assoziationsgesetze‹ sein, oder irgend welche der von verschiedenen Autoren durch Einteilung aus jenen gewonnenen Arten. Wenn wir ein Dutzend oder Hundert Vorstellungen nach irgend welchen Assoziationsprinzipien einfach aneinanderreihen, so resultiert nie ein geordneter Gedanke, sondern immer nur – Ideenflucht!« (Liepmann 1904: 24). 116
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stanz und einer antizipierten Leitvorstellung geregelt wird, »beruht […] auf der Logik von Geschichten, also auf der Art, in der eine Geschichte zeigt, wie es zu einem bestimmten Ereignis kommt, indem sie Ausgangssituation, Entwicklung und Ergebnis sinnvoll verknüpft.« (Culler 2002: 32) Um deutlich zu machen, dass das Modell geordneten Denkens und Sprechens nicht den Einteilungen in ›innere‹ vs. ›äußere‹ Assoziationen (siehe oben) gehorcht, greift Liepmann auf die ›historische Narration‹39 zurück: Umgekehrt fehlen in jeder einfachen Erzählung die »begrifflichen« Assoziationen und doch ist sie nicht ideenflüchtig. Ich wähle einen beliebigen Satz aus Weber´s »Weltgeschichte«: »Nachdem sich Hannibal den Durchgang durch Südgallien und den Übergang über die Rhone (Rhodanus) erstritten hatte, wo ihm eine römische Heerabteilung vergeblich den Weg zu verlegen gesucht hatte, trat er den ewig denkwürdigen Zug über die Alpen an«. Hier herrscht fast durchweg, wie in jeder Erzählung, das Prinzip zeitlicher Berührung. Also ein sogen. »äusseres« Assoziationsprinzip. Also der Versuch, das geordnete und das ideenflüchtige Vorstellen nach dem Rang der Assoziationsprinzipien zu unterscheiden (dort innere begriffliche, hier äussere) ist vergeblich. (Liepmann 1904: 23)
So, wie sich Hannibal einen Weg von Südgallien in die Alpen bahnt, folgt die ›einfache‹, aber geordnete Erzählung den assoziativen Bahnen einer Leitvorstellung, in welcher nicht nur eine Assoziation ›gesetzmäßig‹ an die nächste anschließt, sondern auch ein Zusammenhang, der die einzelnen Glieder der Assoziationskette verbindet, erkennbar wird. Während Liepmann und andere auf narrative Muster zurückgreifen, um dem ›Chaos‹ der Assoziationen eine Ordnung im Denken entgegenzustellen, geht Max Nordau einen Schritt weiter und beurteilt literarische und insbesondere lyrische Texte unter den Prämissen der Psychopathologie. Exemplarisch für seine Literaturkritik ist seine Auseinandersetzung mit Dante Gabriel Rossetti, den er im Rahmen seiner Mystizismuskritik als wichtigen Vertreter der Präraffaeliten in den Blick nimmt. Rossetti war Maler und Schriftsteller und vor allem seine literarischen Arbeiten sind Gegenstand von Nordaus Kritik. Dabei
39 Zum narrativen Charakter der Historiographie des 19. Jahrhunderts siehe White 1991: 15-62. 117
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nimmt er im Falle Rossetti dessen Vornamen zum Anlass einer ersten Thesenbildung: Sein Vater gab ihm den Namen des großen Dichters ins Leben mit und dieser ausdrucksvolle Taufname wurde zu einer Dante-Suggestion, die Rossetti auch gefühlt und vielleicht nur halb bewußt, anerkannt hat. Er ist das lehrreichste Beispiel zur oft ausgeführten Behauptung Balzacs vom bestimmenden Einfluß eines Namens auf die Entwickelung und Geschicke seines Trägers. (Nordau 1896: 158)
Soviel Glauben an die Wirkung des Namens, der in diesem Falle als eine väterliche Suggestion, eine Art Lebensmission, aufgefasst wird, ist vor dem Hintergrund unserer Lektüre der Widmungsepistel (siehe Kapitel 1) zwar nicht mehr überraschend, jedoch bemerkenswert in Hinblick darauf, wie sich Nordau Rossetti annähert. Der biographische Hintergrund (eines Dante-Gelehrten als Vater, siehe hierzu auch Kapitel 5) macht zwar verständlich, warum »Rossettis ganze dichterische Empfindung« »in Dante« »wurzelt« (Nordau 1896: 158), doch eine Dante-Suggestion erzeugt noch keinen ›Dante‹. Allerdings wirft die suggestive Kraft des Namens die Frage nach der Wirkung von sprachlichen Ausdrücken überhaupt auf. In Dante Gabriel Rossettis Poem The blassed damozel fahndet Nordau nach Wirkungen, die von Namen und Worten ausgehen. Die Frage, die ihn in seiner Auseinandersetzung mit der mystischen Textur bewegt, ist die nach den durch diese Textur ausgelösten Assoziationen, den Nachwirkungen, die ein Wort im Bewusstsein seines Lesers hervorruft. Bereits der Titel erregt Nordaus Aufmerksamkeit, insbesondere das Wort »damozel«: Er bezeichnet die Geliebte mit dem anglo-normännischen Worte »damozel«. Dadurch macht er die scharfen Umrisse der Vorstellung eines Mädchens oder Fräuleins künstlich verschwommen und hüllt das klare Bild in Wolkenschleier. Bei dem Worte »Mädchen« würde man eben nur an ein Mädchen denken und an sonst nichts. Bei »damozel« erwachen im Bewußtsein des englischen Lesers dunkle Vorstellungen von schlanken Edelfräulein auf verschossenen alten Tapeten, von hochmüthigen normännischen Panzerrittern, von etwas Entferntem, Uraltem, Halbvergessenem; »damozel« rückt die zeitgenössische Geliebte in die geheimnisvollen Tiefen des Mittelalters zurück und vergeistigt sie zu einer Zaubergestalt der Ballade. Dieses eine Wort erweckt alle die Dämmerstimmungen, welche die Gesammtheit der romantischen Dichter und Schriftsteller in 118
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der Seele des zeitgenössischen Lesers als Niederschlag zurückgelassen hat. (Nordau 1896: 158f)
Während das Wort »Mädchen« eine klar umgrenzte Bedeutung besitzt, bei der man getrost »nur an ein Mädchen denken« muss und beruhigender Weise »an sonst nichts«, scheint Rossettis »damozel« ein überaus beunruhigender künstlerischer Glücksgriff zu sein. Durch diese Wortwahl »erwachen im Bewußtsein des englischen Lesers« eine Vielzahl von Konnotationen, die zugleich eine Vorstellung von der Zeit des Geschehens, den literarischen Bezügen, der Stimmung und des Kontextes beinhalten. Wenn man statt von »Mädchen«, die sich von selbst verstehen, von einer »damozel« spricht, die nur durch die »Dämmmerstimmungen«, welche durch die romantische Literatur »in der Seele des zeitgenössischen Lesers als Niederschlag zurückgelassen« worden sind, verständlich sei, dann wählt man nicht nur die ›falsche‹ Bezugsgröße (Romantik vs. Klassik40). Man spekuliert vielmehr mit dem dunklen »Niederschlag«, mit den »Dämmerstimmungen«, kurz: mit jenem Fundus ›dunkler‹ Vorstellungen und der ›schwarzen, wogenden Masse‹, die nicht strikt eindeutig, sondern vielmehr beliebig deutbar sind (vgl. Nordau 1896: 110). Dabei wird Nordaus Deutung zum beredten Zeugnis, wie überaus produktiv Rossettis Wortwahl ist. Seine Deutungen sind ein Beweis reger Einbildungskraft, denn bei »damozel« an schlanke Figuren »auf verschossenen alten Tapeten« denken zu müssen, lässt sich nicht mehr mit historisch-kritischem Wissen, sondern allenfalls anhand von ›entfernten, uralten, halbvergessenen‹ Assoziationen des Lesers motivieren. Doch kann ein literarischer Text jemals anders auf einen Leser wirken, als dass er in diesem Assoziationen hervorruft? Diese (erwartbare) Kritik nimmt Nordau vorweg: Nicht die Tatsache, dass Rossettis Dichtung Assoziationen weckt, ist sein Punkt, sondern dass es sich hierbei um ›dunkle‹ Assoziationen handelt, ist entscheidend. Seine eigene Lektüre lässt sich zwar als Beleg dafür lesen, dass die ›dunklen‹ Effekte des Wortes »damozel« so dunkel und unbegrenzbar nicht sind, wie Nordau glauben machen 40 Anz 1989: 34: »Es war Goethe, der durch seine berühmt-berüchtigte und oft mißverstandene Identifikation des Klassischen mit dem Gesunden und des Romantischen mit dem Kranken zur außerordentlichen Beliebtheit dieses Begriffspaares in den ästhetischen und literaturkritischen Diskursen der Folgezeit entscheidend beigetragen hat.« 119
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will. Doch Nordau meint, zwischen gesunden und kranken Effekten lyrischer Sprache ebenso unterscheiden zu können wie zwischen gesunden und kranken Autoren: Man sage nicht, daß meine Kritik der Mittel, mit welchen Rossetti seine eigenen traumhaften Geisteszustände auszudrücken und im Leser ähnliche hervorzurufen sucht, sich eigentlich gegen alle Lyrik und die Dichtung überhaupt wende und daß ich diese verurtheile, wenn ich jene als Ausfluß mystischer Geistesschwäche hinstelle. Gewiß ist es eine Besonderheit aller Dichtung, Worte zu gebrauchen, die neben den in ihnen enthaltenen bestimmten Vorstellungen auch Emotionen wecken und in das Bewußtsein hereinklingen machen sollen. Aber das Verfahren eines gesunden Dichters ist von dem eines mystischen Geistesschwachen doch gänzlich verschieden. (Nordau 1896: 159)
Nordaus Suchbewegung richtet sich immer in zwei Richtungen: Zum einen betrachtet er die mehr oder minder gefährlichen Effekte der Rede, zum anderen bindet er diese jeweils an eine Autorintention zurück, die es zu erraten und in ihrer Kohärenz zu überprüfen gilt. Mit ›Dunkelheit‹ verbindet Nordau somit eine Schreibweise, die Emotionen beim Leser erzeugt und in diesem Vorstellungen anklingen lässt, die im ›geordneten Denken‹ durch eine Polizei an der Schwelle zum Bewusstsein abgewiesen werden. Der ›mystische Geistesschwache‹ durchbräche mit seiner mäanderndern Textur die Zensur, die beim Gesunden in der Regel funktioniere, und übertrage auf diese Weise die Dunkelheit seiner Vorstellungswelt, welche der Verfasser selbst empfindet oder intentional hervorrufen will, auf den Leser. Die Literatur des Mystikers wirft den ›gesunden Leser‹ quasi auf einen Punkt zurück, den er ansonsten mit Hilfe von Willen und Aufmerksamkeit hinter sich lassen könnte. Mehr noch: Die Wirkungen, welche der mystische Text hervorruft, lassen die fragile Grundlage des Gesunden wieder aufscheinen. Sie machen deutlich, dass sich die ›Norm‹ nicht daraus ableitet, dass sie der ›normale‹ (i.S.v. gewöhnliche, vorherrschende) Zustand des Denkens ist.41 41 Nordau 1896: 123: »Der Mysticismus ist der gewöhnliche Zustand der Menschen und keineswegs eine außerordentliche Verfassung ihres Geistes. Ein kräftiges Gehirn, das jede Vorstellung zu voller Schärfe ausarbeitet, ein starker Wille, der die mühselige Aufmerksamkeit aufrecht hält, sind seltene Gaben. Das Dämmern und Träumen, das freie Schweifen der in den mäandrischen Bahnen der Idee-Assoziation sich grillenhaft tummelnden Einbildungskraft erfordern weniger Anstren120
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Doch wenn Nordau betont, mit seiner Kritik der emotionalen Effekte literarischer Sprache sei noch nicht das letzte Wort über die wahre, ›gesunde‹ Kunst gesprochen, stellt sich die Frage, wie er sich eine ›gesunde‹ literarische Produktion eigentlich vorstellt? Wie werden gesunde von kranken Assoziationen bei Autor und Leser unterschieden? Wie lassen sich die Effekte der literarischen, lyrischen Rede kalkulieren oder begrenzen? Nordau liefert nur wenige Beispiele für eine ›gesunde‹ Form der Dichtkunst. Eines davon ist Uhlands Gedicht Lob des Frühlings. In seinem Loblied auf Uhland heißt es: Das beziehungsvolle Wort, das jener anwendet, hat an sich einen verständigen Sinn; es ist ferner geeignet, in jedem gesunden Menschen Emotionen zu erregen; die erregten Emotionen beziehen sich endlich auf den Gegenstand des Gedichtes. Ein Beispiel wird dies klar machen. Uhland singt das »Lob des Frühlings« mit diesen Worten: »Saatengrün, Veilchenduft, Lerchenwirbel, Amselschlag, Sonnenregen, linde Luft. Wenn ich solche Worte singe, Braucht es dann noch große Dinge, Dich zu preisen, Frühlingstag?« (Nordau 1896: 159f)
Was unterscheidet nun diese Verse von jenen, die Nordau als krank gebrandmarkt hatte? Uhlands Gedicht ließe sich etwa so beschreiben, dass in den ersten drei Versen einige Konnotationen des im sechsten Vers genannten Denotates »Frühlingstag«, lediglich durch Kommata verbunden, aufgelistet werden. Vers 1 bis 3 könnten in einem virtuellen Lexikon um 1900 unter diesem Stichwort genannt werden. Nordau kommentiert die Verse wie folgt: »Jedes Wort der ersten drei Verszeilen schließt eine sachliche Vorstellung in sich. Jedes von ihnen erweckt in einem natürlich empfindenden Menschen Frohgefühle. Diese Gefühle zusammen geben die Stimmung, mit welcher das Erwachen des Frühlings die Seele erfüllt, und sie zu erwecken, war gerade die Absicht des Dichters.« (Nordau 1896: 160) Nordau hält fest, dass dasjenige, was durch die Nomen »Saatengrün« oder »Amselschlag« bezeichnet würde, eine ›stabile‹, eine gung und werden deshalb der harten Arbeit des Beobachtens und verständigen Urtheilens weit vorgezogen.« 121
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»sachliche« Bedeutung besäße. »Das beziehungsvolle Wort, das jener anwendet, hat an sich einen verständigen Sinn«, heißt es einleitend. Nicht nur, dass sich im Lob des Frühlings demnach alles von selbst versteht, ›an sich‹ verständig ist, die einzelnen Worte sind auch ›beziehungsvoll‹. »Frühlingstag« erscheint als Leitvorstellung, die durch eine Reihe von Assoziationen im Gedicht ausgearbeitet wird. Doch die Verständlichkeit der Leitvorstellung gilt nicht nur für Uhland und einzelne glückliche Leser, sie ist vielmehr gemeinsamer Besitz jener Leser, die zur Gruppe der »natürlich empfindenden Menschen« gehören. Diese teilen miteinander nicht nur Signifikant und Signifikat des »Frühlingstages«, sie reagieren darüber hinaus auch mit denselben Assoziationen und Emotionen. Wenn Uhland in der Machart einsprachiger Wörterbücher einen Vorstellungskreis aufruft, wenn er eine Reihe von Begriffen, die metonymisch mit dem abschließenden Denotat »Frühlingstag« verbunden sind, aneinanderreiht, dann ist das für Nordau Garant nicht nur der Gesundheit der Textur, sondern ebenso ihrer Wirkung. Im Gegensatz zu Rossettis Gedicht arbeitet Uhlands Gedicht sukzessive auf das Denotat hin, dies erscheint als Fluchtpunkt des Textes, der zugleich durch den Titel schon angekündigt wird. Die Konnotationen, die nur durch Kommata getrennt, nebeneinander gesetzt sind, erscheinen somit als perfekt abgestimmte Reihe von Synonymen, während die »damozel« bei Rossetti auf das konnotative und assoziative Vermögen des Lesers setzt und nicht nur deutlich offener gestaltet, sondern auch in der Begriffswahl mehrdeutig angelegt ist.42 Ein »natürlich empfindende[r] Mensch[]« wird – scheinbar automatisch – durch Uhlands Reihenbildung in frühlingshafte, fröhliche Stimmungen versetzt. Die totale Union von Lesern und Signifikanten wird durch eine weitere Instanz zementiert: Die Wirkung des Gedichtes ist Produkt einer »Absicht des Dichters«. Ursache = Autor(-absicht), Medium = Text und Wirkung = Emotionen des Lesers fallen, so suggeriert Nordau, in diesem glücklichen Fall in eins zusammen. Kein Rest, keine Störung. Müßig zu erwähnen, dass Nordau für diese glückliche, weil totale Lösung seines Problems, zwei entscheidende Kniffe anwendet: zum einen liest er die ersten drei Verse nicht als Form, zum anderen unterschlägt er die letzten drei Verse als Bestandteil des Gedichtes in seiner Kommentierung. 42 Zur Problematik von Mehrdeutigkeit und Erzählweise siehe auch die Arbeit von Berthold 1993. 122
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Vielmehr trennt er die zwei Teile des Poems an eben jener Stelle, wo sie selbstreferentiell werden, um diesen Teil nicht mehr als Form, sondern vielmehr als autoritativen Kommentar des Verfassers lesen zu können. Die Identifikation von »ich« mit »Uhland« gewährleistet die folgenden Aussagen über die »Absicht des Dichters«. Dabei wäre gerade der zweite Teil geeignet gewesen, Nordaus These brüchig werden zu lassen: Die Frage, die das lyrisch Ich aufwirft, lässt sich ironisch lesen. Das Loblied auf den Frühlingstag, das aus einer Reihe von Substantiven besteht, wird flankiert von der Frage, ob »es dann noch große Dinge« bräuchte, um den »Frühlingstag« »zu preisen«, »wenn ich solche Worte singe«? Mit anderen Worten, das lyrische Ich thematisiert eben jenen Vorgang, in dem Worte so metonymisch verbunden werden, dass sie das Wort Frühlingstag hervorrufen müssen. Aus rhetorischer Sicht wäre die Assoziation von »Amselschlag« und »Frühlingstag« Ergebnis einer metonymischen Verbindung. Christian Metz hat zwei rhetorische Formen der Assoziation beschrieben:43 diejenige, die sich der Figur der Metapher, und diejenige, die sich der Figur der Metonymie verdankt. Hinter der Auswahl, die ein sprachlicher Code trifft, steht ein metonymischer Akt, in dem aus einer Vielzahl möglicher Bezugnahmen, eine ausgewählt und prämiert wird. Wie Metz am Beispiel des Wortes »Bordeaux« ausführt, bei dem sich der Name einer Stadt zum Namen eines Weines metonymisch verschoben hat, ist die einmal etablierte Auswahl im Rückblick immer ›plausibel‹. Man sagt sich: »Na klar!«, doch geahnt hätte man es nie. Die diachronische Semantik macht uns plausibel, daß dieses Wort von jenem »herkommt« oder jenes diesem den Namen »gegeben« hat; auf diese Weise bezeichnet sie semantische Bahnen die selten zwangsläufig sind – jede Bahn hat andere eliminiert, die ebenfalls plausibel gewesen wären; der Akt der Wahl ist in sich selbst, niemals wirklich »logisch«. (Metz 2000: 114f)
43 Freilich ist dies eine ›klassische‹ Unterscheidung, die nicht von Metz in die Diskussion eingeführt wurde und etwa auch für Freuds psychoanalytische Theorie, auf die sich Metz ebenso ausführlich bezieht, wie auf die umfangreichen Diskussion im Kontext der Dekonstruktion, höchst bedeutsam ist. 123
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Mit anderen Worten: Dass sich eine Anzahl von assoziativen Verbindungen ›von selbst verstehen‹ und nicht nur plausibel, sondern ›logisch‹ wirken, verdankt sich nicht einer der Wortbildung inhärenten ›Logik‹. Ist der metonymische Akt einmal Bestandteil des sprachlichen Codes geworden, wird der konstitutive Akt selbst ›unsichtbar‹ und kann so den Eindruck des Selbstverständlichen hervorrufen. Wenn Nordau also Uhlands Gedicht als Paradefall eines ›gesunden‹ Textes feiert, so hat das zwei Seiten: Zunächst beruht das »beziehungsvolle Wort« auf »semantische[n] Bahnen die selten zwangsläufig sind«, jedoch genau so erscheinen, da der metonymische Akt, der das ›beziehungsvolle Wort‹ im sprachlichen Code konstituiert hat, nicht mehr als solcher ansichtig wird. Darüber hinaus macht Nordaus Uhland-Lektüre deutlich, dass für ihn ausschließlich solche assoziativen Verknüpfungen als ›gesund‹ gelten, die dem ›etablierten‹ sprachlichen Code angehören. In diesem Sinne verdammt er nicht nur jede Form ästhetisch-literarischer Innovation und Experimente, sondern setzt den Status quo der sprachlichen Konventionen und Bedeutungen absolut. Während der Konsens der Bedeutungen, der für eine verständige Kommunikation als notwendige Voraussetzung angesehen wird, ein in der Zukunft zu erreichendes Ideal ist, reduziert Nordau den Spielraum auf die Jetztzeit. Während etwa Liepmann die Leitvorstellung der Rede als »ein gewolltes Zukünftiges«, das »in der Vorstellung antizipier[t]« wird, konzipiert (Liepmann 1904: 15), setzt Nordau auf eine ›Polizeiordnung des gesitteten Denkens‹, die alle Abweichungen vom geltenden Common sense erbittert verfolgt. Die zeitgenössischen Theorien und Forschungen zum Feld der Ideenassoziation kreisen um die Fragen, auf welche Weise eine ›Ordnung des Denkens‹ zustande kommt, welche Geltung die Gesetze der Ideenassoziation letztlich haben und wie man mit der Anarchie der Assoziationen, die einem nicht nur beim Patienten unter klinischer Beobachtung, sondern ebenso beim ›Gesunden‹ begegnet, und der Unumgänglichkeit von Normen umgehen kann. Das Vertrauen in eine Schematik der Geisteskrankheiten, wie sie Kant entworfen hatte, ist erschüttert. Die Gesetzmäßigkeiten der Verstandestätigkeit können nicht mehr zum Ausgangspunkt einer Beschreibung jener Abweichungen vom ›Normalen‹ gemacht werden und die dichotomische Unterscheidung von gesund und krank ist fragwürdig geworden. Um die ›wilden Horden‹ der Affekte kontrollier124
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bar zu machen, wird auf die Errichtung einer zentralen Instanz gesetzt, die für die ›Polizeiordnung im Denken‹ Sorge trägt und die freien Assoziationen in gebahnte Wege leitet. So heterogene Richtungen wie die konventionelle Psychiatrie und die Psychoanalyse unternehmen eine Vielzahl von Anstrengungen, um die Determinanten psychischen Geschehens, des Denkprozesses und seiner affektiven Tönung, zu formulieren und Bewertungskriterien zu entwickeln, mit Hilfe derer assoziative Prozesse beurteilbar werden. Nordau, der in ›den Entarteten‹ immer wieder ideenflüchtige Emotive sieht, macht von diesen normativen Konzepten Gebrauch und wendet sie auf die literarischen Produkte der Moderne an. Wogegen richtet sich Nordaus Zensur? Was ist das Ziel seiner Polizeiordnung? Und welches ist das dahinter stehende Ideal? Einerseits setzt Nordau mit kaum zu überbietender Vehemenz auf das aufklärerische Ideal der perspicuitas: Auch die künstlerische Produktion wird dem Redeideal verpflichtet, das für eine maximale Transparenz und Verständlichkeit Sorge trägt. Andererseits geht es darum, den Bereich des Sagbaren strikt von dem des Unsagbaren zu trennen, diejenigen zu brandmarken, die den sprachlichen Konventionen des Common sense nicht folgen und sie nicht nur als krank, sondern darüber hinaus für die Gemeinschaft als gefährlich zu kennzeichnen. Es fragt sich, woraus dies gefährliche Potential abgleitet wird? Was macht die »damozel« so bedrohlich? Zum einen geht es hier um die Affekte, die von einer literarischen Sprache ausgelöst werden und sich nur begrenzt steuern oder kontrollieren lassen. Es ist daher, wie Andrea Kottow zu Recht bemerkt hat, eine logische Konsequenz, dass Nordaus Ideal über Uhland hinaus in dem Ende der Kunst überhaupt anzusiedeln ist (Kottow 2004: 41). Erst der ›Tod der Kunst‹ gewährleistet eine Normativität des Sprechens, die zugleich die totale Herrschaft des Common sense und der Gemeinschaft der Gesunden einleitet. Bis dieses ›neue Reich‹ ins Leben tritt, ist es die Aufgabe einer literarischen Zensur, unnachgiebig all jene aus dem literarischen und gesellschaftlichen Diskurs auszuschließen, die das Projekt einer totalen Aufklärung mit und durch Sprache infrage stellen. Immer dort, wo Überdetermination lauert, ist einzuschreiten und die Einheit des Sinns ebenso wie die Legitimität bestimmter Bedeutungen zu verteidigen. Die Bedrohung, die von der Textur der Modernen ausgeht, wird von Nordau immer wieder beschworen. Die ›dunklen‹ Affekte und 125
RHETORIK DER ENTARTUNG
Vorstellungen, die sie hervorruft, scheinen in sich bereits eine Gefahr darzustellen. Eine Gefahr, die sich zum Teil daraus ableiten dürfte, dass sie gleichermaßen die Brüchigkeit der Norm vorführt und die der Souveränität eines von der Willenskraft gesteuerten Subjektes erfahrbar macht. Der moderne Ton in der Literatur ist ansteckend und breitet sich aus wie eine Seuche, die die Gemeinschaft der Gesunden bedroht. Dieser epidemiologischen Metaphorik möchte ich im nächsten Kapitel nachgehen.
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4 ANSTECKUNGSGEFAHR
Nordau beschwört in Entartung immer wieder die Gefahren, die von den ›entarteten‹ Künstlern und ihrer »Jüngerschaft« ausgehen. Die Masse, welche die ›Marktbudenschreier‹ für ihre ›Dogmen‹ begeistern können, wird als lebensbedrohlich stilisiert: Und diese Menge macht, weil sie von Krankheit, Eigennutz und Eitelkeit getrieben ist, sehr viel mehr Lärm und Getümmel als eine weit größere Anzahl gesunder Menschen, die sich ruhig und ohne selbstsüchtige Nebenabsicht an den Werken gesunder Talente erfreuen und sich nicht verpflichtet fühlen, ihre Schätzung auf der Straße auszubrüllen und harmlose Entgegenkommende, die in ihr Gejohl nicht einstimmen wollen, mit Todtschlag zu bedrohen. (Nordau 1896: 62)
›Wilde Horden‹1 ziehen durch die ›Straßen‹, konfrontieren die »weit größere Anzahl gesunder Menschen« öffentlich mit dem »Lärm« ihrer (ästhetischen) Anschauungen. Während letztere »sich ruhig und ohne selbstsüchtige Nebenabsichten an den Werken gesunder Talente erfreuen«, okkupieren jene einen Raum, der für alle offen steht und alle ansprechbar werden lässt. Man ist versucht, zum ›ruhigen‹ und selbstgenügsamen Kunstgenuss des ›Gesunden‹ »das bürgerliche Intérieur des neunzehnten Jahrhunderts« (Adorno 1962: 75) zu assoziieren, dessen Verhältnis zur Außenwelt durch den »Spion« der Eingangstür sinnfällig wird, durch den »die endlose Straßenlinie [der] Mietshäuser in den abgeschlossenen bürgerlichen Wohnraum [hineinprojiziert]« wird (Adorno 1962: 78). Ohne an dieser Stelle eine Verbindung zwischen Kierkegaard und Nordau überstrapazieren zu wollen, scheint mir das Gefahrenpotential, welches für Nordau vom »Gejohle« der Straße ausgeht, etwas mit jenem ›Innenraum‹ zu tun zu haben, in dem »alles wirkliche Außen […] sich zum Punkt zusammengezogen [hat].« (Adorno 1962: 82) Anders 1
Die marodierende Masse erinnert an jene Beschreibung der Emotionen als »wilden Horde«, die dem Bewusstsein entzogen, aus den ›Tiefen der Eingeweide‹ hervordrängt, siehe Kapitel 3: Polizeiordnung. 127
RHETORIK DER ENTARTUNG
gesagt: Die neuen Kunstformen üben nicht nur eine gewisse Anziehungskraft aus, die, wie Nordau mit genauer Kenntnis der Lokalitäten berichtet, allerdings in bestimmten Caféhäusern etc. und nicht ›auf der Straße‹ Raum greifen. Sie sind nicht nur ein soziales Phänomen der Zusammenrottung und Absonderung.2 Sie machen etwas sichtbar, was im Sinne einer ›gesunden‹ Selbstgenügsamkeit besser nicht sichtbar werden sollte. Ihr bedrohliches Potential beruht vorderhand auf jener ›Unnachgiebigkeit‹, mit der die Modernen ihre Dogmen verkünden und der Vehemenz, mit der sie sich anschicken, dem unbescholtenen Bürger gegenüber ihre Anschauungen »auszubrüllen«. Das Bild, das Nordau entwirft, geht über eine öffentliche Ruhestörung hinaus: die marodierenden Horden der Mystiker und Ästhetizisten bedrohen die Majorität mit »Todtschlag«, sie stellen eine existentielle Gefahr dar, stellen den ›Kern‹ jener bürgerlichen Subjektivität infrage, den Nordau mit allen Mitteln verteidigen will. Wie die einleitend zitierte Stelle demonstriert, tangiert die ›grassierende Entartung‹ die Innen-Außen-Differenz, die für die Aufrechterhaltung der ›inneren Sicherheit‹ notwendig zu sein scheint. Schon Nordaus Wortwahl ist ein Indiz für jene »(phantastische) Überdeterminierung«, die Judith Butler in Hinblick auf die Homosexualitätsdebatte im US-amerikanischen Militär analysiert hat (Butler 1998: 149-179). Kundgebungen und Proklamationen der modernen ›ästhetischen Schulen‹, überhaupt jede Form programmatischer Äußerung werden zu einem »Gejohl« »auf der Straße« transformiert. Der Akt der programmatischen Selbstbeschreibung (als ›Dekadenter‹, ›Symbolist‹ etc.) wird nicht nur zu einer direkten Anrede, sondern darüber hinaus zu einer aggressiven Überwältigung der ›gesunden‹ Majorität. Die Äußerung wird somit »zum diskursiven Träger des Begehrens, das sie angeblich überträgt« (Butler 1998: 162f), sie erscheint zugleich als eine Handlung, ein Verhalten und Begehren, welches den imaginierten Adressaten bedroht. Oder wie Thomas Anz formuliert hat: »Gegen ›das gesellschaftsfeindliche Ungeziefer‹ […], gegen die ›Verbrechen mit der Feder und dem Stifte‹ […] muß die Gesellschaft sich verteidigen. Denn die entarte2
Siehe auch Nordau 1896: 61: »Ist die Sekte erst so weit ausgebaut, daß sie außer dem Stifter und den Tempelpriestern, den bezahlten Sakristantanen und Chorknaben auch eine Gemeinde, Umzüge mit Fahnen und Gesängen und weithin schallende Glocken hat, dann schließen sich ihr außer den Hysterikern, die sich den neuen Glauben suggerieren ließen, auch andere Bekenner an.« 128
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ten Künstler der Moderne sind nicht nur unnütz und schädlich, sondern ansteckend obendrein.« (Anz 1989: 45) Von außen, von der Straße aus wird der ›Normale‹ überwältigt und tödlich infiziert. In der Metaphorik der Ansteckung kommt eine paranoische Übersteigerung und Projektion zum Tragen. Sigmund Freud hat die Paranoia grundsätzlich als einen Projektionsmechanismus beschrieben, in welchem das eigene Begehren nach Außen, auf den Anderen übertragen wird, so dass dieses projizierte Begehren nunmehr vom Anderen kommend, auf einen selbst bezogen erscheint. Die Ablehnung oder Unmöglichkeit des eigenen (etwa homosexuellen) Begehrens wird transformiert in die Formulierung, dass Er, Sie oder Es mich begehrt, verfolgt etc. Die paranoide Begehrensstruktur begegnet als Bedrohung von außen:3 »Nach der Vorstellungswelt der Paranoia geht das Begehren, das im Sprechen erscheint, ganz und ohne Aufforderung aus dem Sprecher hervor. Das Begehren kommt von außen, als ein Angriff oder eine Krankheit, und wird als Verletzung und/oder Ansteckung aufgenommen.« (Butler 1998: 177f)
Ü b e r tr ag u n g Um die lebensbedrohliche Dimension der modernen Kunstrichtungen zu untermauern, greift Nordau auf eine epidemiologische Metaphorik4 zurück. »Wir stehen nun mitten in einer schweren geistigen Volkskrankheit, in einer Art schwarzer Pest von Entartung und Hysterie und es ist natürlich, daß man allseitig ängstlich fragt: ›Was soll weiter werden?‹« (Nordau 1893: 470) – heißt es im abschließenden Teil des zweiten Bandes. Und Nordau, der sich als Arzt von dieser selbstgestellten Frage unmittelbar angesprochen fühlt, gibt nicht nur Auskunft über Wesen und Ursprung der »schwarzen Pest«, sondern entwirft auch eine Prognose, in welcher Weise die »Seuche« weiter um sich greifen wird. Dabei betont er, dass es Entartete und Hysteriker schon immer gegeben habe, ebenso wie der »Erreger« einer Seuche latent vor-
3 Siehe hierzu Freud 1999f: 239-320 (der berühmte Fall Schreber) und Freud 1999h. 4 Zum Verhältnis von Epidemien und Metaphorik siehe Sontag 2003: 75-149, wo sie unter anderem auch der Frage nach der moralischtheologischen Dimension der Krankheitsvorstellungen nachgeht. 129
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handen sein kann, ohne dass es darum zu einer Pandemie kommen muss: Erst die tiefe Ermüdung, welche das Geschlecht erfuhr, an das die Fülle der jäh über es hereinbrechenden Erfindungen und Neuerungen unerschwingliche organische Anforderungen stellte, schuf die günstigen Bedingungen, unter welchen jene Siechthümer sich ungeheuer ausbreiten und zu einer Gefahr für die Gesittung werden konnten. Gewisse Kleinlebewesen, welche tödliche Krankheiten erregen, z.B. der Cholera=Ba– zillus, sind wohl auch immer vorhanden gewesen, Seuchen verursachen sie aber erst, wenn Umstände eintreten, welche ihrer Vermehrung stark Vorschub leisten. […] So wird das Ungeziefer der Nachäffer in Kunst und Schriftthum erst gefährlich, wenn eigenartige, Sonderwege wandelnde Wahnsinnige den durch Ermüdung geschwächten Zeitgeist vorher vergiftet und widerstandsunfähig gemacht haben. (Nordau 1893: 470f )
In einem argumentativen Looping stellt Nordau hier zunächst die »tiefe Ermüdung« als den vorherrschenden Zustand seiner Zeitgenossen fest, um sogleich die Allgegenwart der ›gefährlichen Erreger‹ zu betonen. Diese stellen jedoch normalerweise keine unmittelbare Seuchengefahr dar. So wie der »Cholera=Bazillus« vorhanden sein kann, ohne zu en- oder pandemischen Infektionen zu führen, bedarf es der Veränderung der Rahmenbedingungen, damit aus der latenten Gefahr eine manifeste wird. Schlussendlich erscheinen in seiner Analogiebildung jedoch gerade die modernen Parasiten (das »Ungeziefer«) der »Nachäffer in Kunst und Schriftthum« und die Erreger als die Quelle der Gefahren – nicht die spezifischen Bedingungen des modernen Lebens unter Zeit- und Innovationsdruck, sondern diese »Sonderwege wandelnde[n] Wahnsinnige[n]« haben den »Zeitgeist« »vorher vergiftet und widerstandsunfähig gemacht«. Nordaus Argument ist zirkulär: Den Rahmenbedingungen kommt letztlich eine untergeordnete Bedeutung zu, entscheidend ist das Verhältnis zwischen »Nachäffern« und »wandelnden Wahnsinnigen«, das sich quasi selbst den idealen Nährboden zur Vermehrung schafft. Diese kausale Invertierung sollte man im Auge behalten, denn die zivilisationskritischen Argumente, welche Nordau zur Erklärung der ›organischen Überforderung‹ seiner Zeitgenossen anführt, scheinen mir anders als Anz nicht die eigentliche Pointe von Nordaus Epidemiologie der Moderne zu sein.
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Anz hat herausgestrichen, dass Nordau ein »frühes Beispiel für psychiatrisch-epidemiologische Fragestellungen und Methoden« liefere. Im Unterschied zu früheren zivilisationskritischen Positionen der Medizin seien »Nordaus Versuche, Entartung und Hysterie, die er wiederholt mit epidemischen Infektionskrankheiten vergleicht, als Zivilisationskrankheiten nachzuweisen,« durch den Rückgriff auf statistische Erhebungen geprägt: Neuartig und zukunftsweisend an ihnen ist vor allem, daß sie im Rahmen des an den ›exakten Wissenschaften‹ orientierten Paradigmas der Psychiatrie den ätiologischen Blick auf den Zusammenhang von sozialgeschichtlichen Entwicklungsprozessen und Krankheitserscheinungen richten, »die gemessen und gezählt werden können, also einer wirklich wissenschaftlichen Fragestellung zugänglich sind.« […] Nordau korreliert nämlich auf der Basis statistischen Datenmaterials das Wachstum der Städte und der Bevölkerungszahl, den Ausbau des Eisenbahn-, Schiffsund Postverkehrs, die Expansion des Handels, der Arbeitsproduktivität und der von Zeitungen täglich vermittelten Informationsmenge mit »der beständigen Zunahme der Verbrechen, des Wahnsinns und der Selbstmorde«. (Anz 1989: 42f)
Zweifellos entwickelt Nordau diese Argumente und gleicht neuere Statistiken mit Morels ätiologischen Annahmen zur Verursachung von Entartung ab und auch Nordaus Methode ist alles andere als obsolet, wie Anz mit Blick auf eine Studie der WHO zu Fragen der psychiatrischen Epidemiologie betont. Doch scheint es mir durchaus kein Zufall zu sein, dass Nordaus »›Ätiologie‹-Kapitel« »knapp« gehalten ist (Anz 1989: 42). Die rasanten Fortschritte werden zwar als Ursache für die »Erschöpfung« derjenigen Generation behauptet, die von den technischen und medialen Entwicklungen überrascht wurde und keine Zeit hatte, sich auf den veränderten Rhythmus des Lebens einzustellen. Und Nordau suggeriert, dass es eben diese Erschöpfung sei, die den idealen Nährboden für jene Erkrankungen bereitete, die in Hysterie, Neurasthenie und Entartung ihre Spitze fänden. Doch die Argumente, welche Nordau aus der Statistik ableitet, betreffen nicht den eigentlichen Kern der Zeitkrankheit. Entartung wird von Nordau als »eine krankhafte Abweichung von einem ursprünglichen Typus« vorgestellt. Diese Abweichung, auch wenn sie anfänglich noch so einfach wäre, schließt übertragbare Elemente von solcher Beschaffenheit in sich, daß 131
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derjenige, der ihren Keim in sich trägt, immer mehr und mehr unfähig wird, seine Aufgabe in der Menschheit zu erfüllen, und daß der geistige Fortschritt, der schon in seiner Person gehemmt ist, sich auch bei seinen Nachkommen bedroht findet. (Nordau 1896: 32)
Der kranke »Keim« befindet sich ›in‹ demjenigen, der den Anforderungen des modernen Lebens nicht mehr gewachsen ist, sich nicht genügend anpassen kann und mit Abweichung reagiert. Im weiteren Verlauf wird er »immer mehr und mehr unfähig«, »seine Aufgabe in der Menschheit zu erfüllen«, der Keim entfaltet seine unheilvolle Wirkung und diese Entwicklungshemmung überträgt er auf seine »Nachkommen«. In diesem Punkte ganz Lamarckist, postuliert Nordau somit zunächst die Übertragung erworbener Eigenschaften von einer Generation auf die nächste.5 Wie Jürgen Link mit Blick auf die Degenerationstheorie im Anschluss an Morel konstatiert, gibt es einen engen Zusammenhang zwischen einer »Denormalisierungsangst« und Modellen der Ansteckung: [Die] Denormalisierungsangst [richtete sich] insbesondere auf den Punkt der ursprünglichen Abweichung von der Normalität, des ersten Haarrisses der ersten Vergiftung bzw. Ansteckung, von dem aus die fatale Proliferation ihren Gang nimmt. […] Schon die Vorstellung der Vergiftung (etwa durch Alkohol) mußte allerdings symbolisch pränormalistische Fremdkörper-Vorstellungen […] stärken. In die gleiche Richtung mußte noch stärker die Entdeckung Pasteurs wirken: Durch die Symbolik der Bazillen nahm ein Teil des Protonormalismus eine entschieden substanzialistische und dualistische Wendung […]. (Link 1997: 236f)
Die epidemiologische Metaphorik macht deutlich, dass es bei dieser Übertragungsform nicht bleibt: Der »Keim« überträgt die Krankheit nicht nur auf die Nachkommen, er wirkt sich auch ansteckend auf die Zeitgenossen aus. Die Abweichung wird zum Massenphänomen. Wie findet hier »Übertragung« statt? Was macht aus einem Einzelfall ein Massenphänomen? Nordau greift an diesem Punkt einerseits auf die Charcotsche Konzeption der Hysterie zurück und andererseits der Vorstellung der Masse voraus, die 1895 Gustave Le Bon entwirft (Le Bon 1938). Beide Positionen verbindet das Interesse an 5
Zur Bedeutung des Lamarckismus in Medizin und Literatur des ausgehenden 19. Jahrhunderts siehe Otis 1994 sowie Anderson 1996: 128f. 132
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der zeitgenössischen Hypnoseforschung, die im einen Fall für die Ätiologie und Therapie der Hysterie, im anderen Fall für Genese und Art von Massenphänomenen adaptiert wird. Charcot hatte, wie bereits erwähnt, die Suggestibilität und Fähigkeit zur Hypnose zum Krankheitsmerkmal der Hysterie erklärt und auch in der Therapie – neben der berühmten Ovarienkompression – von den suggestiven Möglichkeiten der Hypnose Gebrauch gemacht.6 Zugleich wurde bereits in der Salpêtrière deutlich, dass sich jene Merkmale, die für den hysterischen Anfall als typisch herausgestellt worden waren, auf seltsame Weise von Patientin zu Patientin übertrugen.7 Die Klinik wurde somit zu einem Ausgangspunkt jener »Hystorien«, die wie Elaine Showalter untersucht hat, das moderne Medienzeitalter nachhaltig prägen sollten. Nachahmungssucht und Suggestibilität sind für die frühe Hysterieforschung jene Merkmale, die das Bild der Hysterie entscheidend beeinflussen.8 Nicht nur Nordau, sondern auch Le Bon ›überträgt‹ die Ergebnisse der Hysterie- und Hypnoseforschung auf das gesellschaftliche Feld. Die Dichotomie von Führer und Masse, die uns bereits in den apokalyptischen Szenarien von Nordaus Entartung begegnet ist, ist dabei ebenso zentral wie eine religiöse Metaphorik.9 6
Die Macht der Suggestion war bekanntlich ein wesentlicher Punkt für Sigmund Freud, der bei Charcot studiert hatte, seine Theorie der Hysterie zu überprüfen und im Laufe der Studien über Hysterie Abschied vom hypnotischen Verfahren zu nehmen. 7 Siehe Kapitel 2: Vor dem Gericht, Symptome & Stigmata. 8 Mit Blick auf Nordau hebt Elaine Showalter hervor: »Zu der Zeit, als Freud hysterische Erzählungen in Form seiner Fallstudien schrieb, assoziierte der Leser mit diesem Krankheitsbild bereits Verweichlichung, Verweiblichung und Verstellung. In Entartung greift Nordau die phantastischen Elemente der zeitgenössischen Literatur an: ›Der Hysteriker lügt nicht bewußt. Er glaubt an die Wahrheit seiner tollsten Erfindungen. Die krankhafte Beweglichkeit seines Geistes, die übertrieben leichte Erregbarkeit seiner Einbildungskraft führt seinem Bewußtsein allerlei wunderliche und unsinnige Vorstellungen zu […]. Eine Folge der Empfänglichkeit des Hysterikers für die Suggestion ist seine unwiderstehliche Nachahmungssucht und der Eifer, mit welchem er auf alle Eingebungen von Schriftstellern und Künstlern eingeht.‹ In Nordaus Gefolge vertraten dann viele Kritiker die Theorie, daß Hysterie eine Geisteskrankheit sei, die für jedes literarische Experiment verantwortlich zeichnete.« (Showalter 1997: 124). 9 Der Rolle des ›Führers‹ in der Masse widmet er ein eigenes Kapitel: »Die Führer der Masse und ihre Überzeugungsmittel« (Le Bon 1938: 97-120). 133
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Während das Denken der Masse durch Zusammenhanglosigkeit und eine Vorliebe für das Wundersame geprägt scheint (vgl. Le Bon 1938: 44-54), naturalisiert Le Bon ein ›Führerprinzip‹,10 in welchem dem Führer die zentrale, meinungsbildende Macht zugesprochen wird. Auch Cesare Lombroso, eine Bezugsgröße für Nordau und Le Bon, liefert in diesem Sinne Hinweise auf eine epidemiologische Lesart des Wahnsinns. Er zeigt, auf welche Weise in früheren Zeiten bei wilden oder ungebildeten Völkern so viele Fälle epidemischen Wahnsinns sich zutrugen, und so viele historische Begebenheiten durch den Irrwahn eines Einzigen oder Weniger hervorgerufen werden konnten, wie zum Beispiel die Wiedertäufer, die Geißeler, die Hexen, die Revolutionen der Taiping. Der Wahnsinn erregt bei einigen absonderliche, aber allemal riesenhafte Vorstellungen, und einen Irrwahn, der mehr bewirkt als eine einzelne Überzeugung, sodaß es ihnen glückt, die schwache Menge nachzuziehen […]. (Lombroso 1887: 251)
Die »Fälle epidemischen Wahnsinns« lassen sich auf Einzelne oder kleine Gruppen zurückführen, von denen der »Irrwahn« ausgeht. Le Bons Vokabular, mit Hilfe dessen er die Beeinflussung der Massen durch ihre Führer beschreibt, entspricht dem von Max Nordau. So wie Nordau hervorhebt, dass der »Träger einer Zwangsvorstellung […] ein unvergleichlicher Apostel« (Nordau 1896: 57) sei, schreibt Le Bon: »Sehr oft war der Führer zuerst ein Geführter, der selbst von der Idee hypnotisiert war, deren Apostel er später wurde.« (Le Bon 1938: 98) Selbst unter der Herrschaft einer Idee stehend, gibt der ›Apostel‹ diese an die Masse weiter. Le Bon unterscheidet drei Arten, in denen die Verbreitung von Ideen vonstatten geht: »Handelt es sich jedoch darum, der Massenseele Ideen und Glaubenssätze langsam einzuflößen, z. B. die modernen sozialen Lehren, so wenden die Führer verschiedene Verfahren an. Sie benutzen hauptsächlich drei bestimmte Arten: die Behauptung, die Wiederholung und die Übertragung, Ansteckung (contagion).« (Le Bon 1938: 104) Die Übertragung von Vorstellungen wird somit – wie bei Nordau – in der epidemiologischen Metaphorik vorgestellt. Die neue 10 Siehe Le Bon 1938: 98: »Sobald eine gewisse Anzahl lebender Wesen vereinigt ist, einerlei, ob eine Herde Tiere oder eine Menschenmenge, unterstellen sie sich unwillkürlich einem Oberhaupt d.h. einem Führer.« 134
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Wissenschaft der Bakteriologie gibt das Paradigma vor, innerhalb dessen soziale und kulturelle Phänomene beobachtet werden. Die Rede vom »contagion« ist aufschlussreich: Vor allem der bakteriologische Ansatz, der sich Ende des 19. Jahrhunderts etablieren kann, beruht auf der Annahme eines Erregers, der in den Körper eindringt und sich innerhalb des Körpers weiter vermehrt. Die Vorstellung eines Kontagions, d.h. einer Ansteckung durch bestimmte Keime oder direkten Kontakt, fand 1892, im Erscheinungsjahr des ersten Bandes von Entartung, im spektakulären Streit über die Ursachen der Choleraepidemie in Hamburg zwischen Max von Pettenkofer und Robert Koch eine enorme Popularität. Bereits in den 1880er Jahren war Koch der Nachweis des Cholerabakteriums gelungen, doch die endgültige Durchsetzung der bakteriologischen, kontagionistischen Sicht gegen die verbreitete – und von Pettenkofer prominent vertretene – Miasmentheorie11 fällt in die Entstehungszeit von Entartung und Le Bons Psychologie der Massen. Im Unterschied zum Miasma, das als krankmachende Ausdünstung etwa des Bodens gedacht wird, ruft die Kontagienlehre Assoziationen von feindlichen, aber unsichtbaren Lebewesen hervor, die aggressiv die Körpergrenzen überschreiten und vom Körper Besitz ergreifen.12 Der Feind, der zunächst unsichtbar von Außen kommt, dringt nach Innen ein und zeigt nunmehr die Symptome seiner unheilvollen Anwesenheit. Der medizinische Paradigmenwechsel von Miasmenzu Kontagienlehre, der gerade auch vor dem Hintergrund des zeitgenössischen Kolonialismus und Imperialismus gesehen werden
11 Die Miasmentheorie, die über Jahrhunderte für die Erklärung epidemischer Krankheiten herangezogen wurde, geht davon aus, dass schädliche bzw. ungünstige Ausdünstungen der Erde, des Wassers oder – wie beim ›Pesthauch‹ – der Luft Ursachen der Erkrankungen seien. Siehe etwa bei Eckart 1989: 274-283. 12 Siehe etwa Rothschuh 1978 und Wieland 1975: 104f: »Krankheiten sind hier nach der Art von Dämonen verstanden, die ihre eigene Persönlichkeit haben und mit denen man sich mit Hilfe der von der jeweiligen Kultur für solche Fälle zur Verfügung gestellten Praktiken wie mit einem Feind auseinanderzusetzen hat. […] Rationalisiert man solche Vorstellungen, dann kommt man zu einer Deutung, auf Grund derer die Krankheit als eine parasitäre Existenz oder auch als deren Wirkungen verstanden wird. Das ist eine Vorstellung, die sich vor allem bei der Deutung der Infektionskrankheiten als ungemein fruchtbar erwiesen hatte, nachdem sich im vorigen Jahrhundert die Bakteriologie als selbständiger Forschungszweig zu etablieren vermocht hatte.« 135
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muss,13 führt zur Etablierung eines Denkschemas, in welchem der Bedrohung von außen durch unsichtbare, aber höchst infektiöse Mikroorganismen eine zentrale Bedeutung zukommt. Die Idee des Kontagions begünstigt eine Vorstellung von ubiquitärer Bedrohung, die insbesondere vom direkten Kontakt zwischen Infiziertem und Nichtinfiziertem ausgeht. Die ›Außenwelt‹ wird zu einer feindlichen Zone allgegenwärtiger Todesgefahr. Eine Pestepidemie […] hat eine kumulative Wirkung, erst werden nur wenige von ihr ergriffen, dann vermehren sich die Fälle. […] Aber der Feind ist geheim, er ist nirgends zu sehen; ihn kann man nicht treffen. Man wartet nur darauf, von ihm getroffen zu werden. […] [So] lebt man in einer Gleichheit schrecklicher Erwartung, neben der alle üblichen Bindungen der Menschen sich lösen. (Canetti 1998: 323ff)
Während Canetti davon ausgeht, dass die Massenbildung, welche durch Epidemien erzeugt wird, lediglich die Toten erfasst, wird in der kulturkritischen Übertragung der Epidemiologie auf Gesellschafts- und Kommunikationsstrukturen die Masse selbst mit Infektionsgefahr gleichgesetzt. Le Bon spricht etwa vom massenmedialen Einfluss der Zeitungen (Le Bon 1938: 105), mit Hilfe derer ›Ideen‹ nicht nur verbreitet werden, sondern auch ihre suggestive Kraft auf ›das Volk‹ entfalten. Der Übertragungsvorgang wird als »mächtige[r] Mechanismus der Ansteckung« gedacht: »Unter den Massen übertragen sich Ideen, Gefühle, Erregungen, Glaubenslehren mit ebenso starker Ansteckungskraft wie Mikroben.« (Le Bon 1938: 106) Einerseits erscheint bei Le Bon die Massenbildung selbst als der ideale Nährboden für alle Arten von Kontagien, da die Masse per definitionem nach einer Führerfigur und damit nach einer leitenden Idee Ausschau hält, andererseits ist sie ohne eine verbindende (und sei es auch nur für kurze Zeit) »Glaubenslehre[]« bereits keine Masse mehr, sondern lediglich eine verstreute Menge versprengter Einzelner. Erst durch eine Führergestalt und die leitenden Ideen erhält die Menge eine definierte Form, den Charakter einer Masse.14 13 Siehe Gradmann 1996; Gradmann 1995 und Gradmann/Schlich 1999. 14 Hier ist nochmals auf Elias Canettis Masse und Macht hinzuweisen, wo Canetti nicht nur (wie bereits Le Bon) eine Typologie unterschiedlicher Massen und Meuten entwirft, sondern auch auf den Zusammenhang von Massenbildung und Paranoia (Canetti 1998: 516-549) eingegangen ist. 136
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Die Masse ist im Sinne Le Bons weit entfernt davon, eine kritische Öffentlichkeit zu bilden, sie ist vielmehr durch unklare Begriffe und einen Mangel an Wissen bestens für Suggestionen geeignet, die durch bloßes Behaupten von Tatsachen, die häufige Wiederholung dieser Behauptungen und schließlich einen ›mechanischen‹ Übertragungsvorgang herbeigeführt werden. Letzterer scheint Le Bon der entscheidende Punkt und die Ursache für nachahmendes Verhalten zu sein.15 Worin die Mechanik der Übertragung besteht, bleibt unklar. Dass sie funktioniert, wird für Le Bon schon durch den Vergleich mit Paniken in Tierherden deutlich, wo ein Impuls von einem Tier auf andere ›überspringt‹. Bei Menschen ist das entsprechende Pendant der »Wahnsinn«: »Die Übertragung der Gefühle erklärt die plötzlichen Paniken. Gehirnstörungen, wie der Wahnsinn, verbreiten sich gleichfalls durch Übertragung.« (Le Bon 1938: 106) Wie kann man sich diese Form der Übertragung vorstellen?
M i t t e n u nt er un s Im Folgenden möchte ich die Frage nach der Art und Weise, wie die Ansteckung in der Masse zu denken ist, in zwei Schritten diskutieren: Zunächst gehe ich der Frage, wie Masse und Übertragung miteinander in Beziehung zu setzen sind, in einem Exkurs zu Fritz Langs Film M aus dem Jahre 1931 nach, um schließlich auf Nordau und Le Bon zurückzukommen. In M wird meines Erachtens die Darstellung von Masse in ihrer medialen Dimension ausgeleuchtet und etwas erkennbar, was auch die Struktur von Nordaus und Le Bons Argumentation zu erhellen hilft. In seinem Buch Von Caligari zu Hitler hat Siegfried Kracauer verschiedene Modi der filmischen Massendarstellung unterschieden. In den frühen Filmen von Fritz Lang kritisiert er vor allem eine ornamentale Darstellung von Massen (hier ist z.B. an die berühmte Szene gedacht, in welcher in Metropolis die Arbeiter in die Aufzüge zur Unterstadt einmarschieren). Ornamentalisierung von Massen wird von Kracauer definiert als eine Ästhetisierung, die – wie in der späteren Massendarstellung des Dritten Reiches – dadurch absolute »Autorität behauptet […], daß sie die ihr unterworfenen Menschen 15 Le Bon 1938: 107: »Die Nachahmung, der man so großen Einfluß auf die sozialen Erscheinungen zugeschrieben hat, ist in Wahrheit nur eine einfache Wirkung der Übertragung.« 137
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zu gefälligen Mustern anordnet. […] Wann immer Hitler sich an das Volk wandte, glitt sein Blick weniger über Hunderttausende von Hörern hinweg als über ein Riesenornament, das aus hunderttausend Einzelteilen bestand.« (Kracauer 1993: 103) Demgegenüber attestiert Kracauer dem frühen Ernst Lubitsch, Maßstäbe in Sachen Massendarstellung gesetzt zu haben. Hier denkt Kraucauer an (Historien-) Filme wie Anna Boleyn (1920) oder Madame Dubarry (1919), in denen die Masse in Form »dynamischer Einheiten« gezeigt wird, die nicht nur »durch weitgespannte Räume stürmten«, sondern auch ein »Grundmuster[]« lieferten, »das allen Nachkriegsdeutschen vertraut war: der Gegensatz zwischen dem Einzelnen in der Menge und der Menge als geschlossener Masse.«16 In Fritz Langs erstem Tonfilm, M, lässt sich eine andere Variante der Massendarstellung beobachten. Dabei ist gerade das Verhältnis von Ton und Bild, mit dem Lang vor allem in der Montage experimentiert, für unseren Zusammenhang sehr aufschlussreich. M erzählt die Geschichte eines Kindermörders (gespielt von Peter Lorre), der nach dem Vorbild des Peter Kürten in einer deutschen Großstadt (Berlin) sein Unwesen treibt, und nach dem eifrig gesucht wird.17 Während die erste Sequenz des Filmes das Verschwinden und die Ermordung der Elsie Beckmann zeigt, was durch die raffinierte Montage von Bild- und Tonspur in Szene gesetzt wird,18 beginnt die 16 Kracauer 1993 61: »›[…] Niemand zuvor hatte seine Flächen so gefüllt und entleert mit der wogenden Masse, aus jeder Ecke Figuren strömen lassen, um das Bildfeld auszufüllen, sie wieder wie ein Wirbelwind zerstreut und eine einzelne Figur unbeweglich in die Mitte eines leeren Platzes gestellt.‹ Die für Lubitsch - Filme typische Massenszene löste die Volksmenge auf, um eine einzelne Figur als ihren Kern herauszustellen, die nach Auflösung der Menge allein im Leeren zurückblieb, so erschien das Individuum als verlorene Kreatur in einer von Massenherrschaft bedrohten Welt.« 17 »M beginnt mit Elsies Fall, einem Schulmädchen, das verschwindet und später ermordet im Wald aufgefunden wird. Da diesem Mord ähnliche Verbrechen vorausgingen und ähnliche folgten, durchlebt die Stadt einen wahren Alptraum. Die Polizei arbeitet fieberhaft, um dem Mörder auf die Spur zu kommen, aber es gelingt ihr nur, die Unterwelt aufzuscheuchen. Die führenden Verbrecher der Stadt entscheiden sich dafür, das Monster selbst aufzustöbern; hierin macht sie ihre Interessen zu denen des Gesetzes.« (Kracauer 1993: 229). 18 Kracauer 1993: 230: »Langs erfindungsreicher Einsatz des Tons, um Grauen und Schrecken herauszuheben, ist in der Geschichte des Tonfilms unerreicht. Elsies Mutter tritt, nachdem sie stundenlang gewartet 138
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zweite Sequenz mit einer seriellen Massendarstellung. Noël Burch hat in seiner Strukturanalyse diese Sequenz in vier Episoden unterteilt und wie folgt paraphrasiert: [Ein] Mann liest mit lauter Stimme ein Fahndungsplakat, vor dem sich eine Menschenmenge versammelt hat; der gleiche Text wird zunächst in Form einer Radiobekanntmachung fortgesetzt, dann in einem Café, das den Rahmen für die folgende Einstellung liefert, mit lauter Stimme aus einer Zeitung vorgelesen... erregte Cafébesucher werden schließlich handgreiflich, als gerade das Opfer seinen Angreifer der ›Ehrabschneidung‹ beschuldigt. Dieser Satz, der die Szene unterbricht, entspricht dem ›Verleumder!‹, ausgerufen von einem Mann, dessen Wohnung von der Polizei aufgrund eines anonymen Briefes durchsucht wird; und schließlich, als dieser zu Unrecht verdächtigte Mann behauptet, jeder beliebige Mensch auf der Straße könne der Mörder sein, leitet diese Antwort die vierte Episode der Serie ein: ein Unbekannter wird aufgrund eines tragikomischen Mißverständnisses von der Menge grob behandelt. (Burch 1973: 235f; Übersetzung C.K.)
Die Tonspur ist also das verbindende Element, das die einzelnen Bilderfolgen miteinander verwebt, mal in Form der Identität der Stimme, mal als Echo des einen auf den anderen Satz oder Ausruf. Die verschiedenen Räume der Stadt (Straße, Café, Wohnungsinneres), die konventioneller Weise als Kulissen getrennter und unabhängiger Sphären etabliert werden, verschmelzen miteinander zu einem einzigen Kommunikationsraum. Mit dieser die einzelnen Räume der Stadt übergreifenden Struktur wird die Vorstellung einer Masse evoziert: Alle Episoden verbinden sich zum Bild einer fieberhaften und chaotischen, impulsiven Suche nach dem Mörder, in der jeder den anderen verdächtigt und zugleich jeder verdächtig erscheint. Die Montage erfolgt gewissermaßen nach dem Modell des hat, aus ihrer Wohnung ins Treppenhaus und ruft verzweifelt den Namen des Kindes. Während ihr ›Elsie!‹ ertönt, ziehen folgende Bilder über die Leinwand: das leere Treppenhaus […], die leere Dachkammer, Elsies unbenutzter Teller auf dem Küchentisch, ein abgelegenes Rasenstück mit ihrem Ball und ein Luftballon, der sich in Telegrafendrähten verfängt – derselbe Ballon, den der Mörder dem blinden Bettler abgekauft hatte, um das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. Wie ein Orgelpunkt liegt der Ruf ›Elsie‹ unter den an sich beziehungslosen Einstellungen und verschmilzt sie zu einem düsteren Handlungsabschnitt.« 139
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Kontagions: Ein Element des einen Bildes resp. Tons wird zum Anschlusspunkt des nächsten, so dass die gesamte Sequenz hindurch jeweils immer ein ›ansteckendes‹ Moment ausfindig gemacht werden kann, das die Transgression der Räume herbeiführt. Ohne eine einzige klassische Massendarstellung wird die Vorstellung einer Metropole, die von einem einzigen Sprechakt durchdrungen ist, hervorgerufen. Im Kontrast zur Montage der ersten Sequenzen wird im weiteren Verlauf des Filmes auf derartige Massendarstellungen verzichtet. Im Anschluss an die zweite Sequenz rücken die polizeilichen Ermittlungen, die Suche nach dem Mörder ins Zentrum des Geschehens. Diese laufen allerdings alle ins Leere und sind eher geeignet, die gesamte Unterwelt Berlins aufzuscheuchen als den gesuchten Täter zu finden. Die polizeilichen Maßnahmen stören die Arbeit der »Organisierten« in solchem Ausmaße, dass diese sich entschließen, selbst Gegenmaßnahmen zu ergreifen. In einer rasanten Sequenz werden zwei Konferenzen parallel montiert: einmal die Sitzung der Verbrecherbosse der Ringorganisationen und zum anderen die Konferenz der Polizei. Die Verbrechersyndikate beschließen, sich selbst auf die Suche nach dem Mörder zu begeben, um wieder ungestört ihren Geschäften nachgehen zu können. Zu diesem Zweck kontrollieren sie die gesamte Stadt mit Hilfe eines ›unsichtbaren‹ Heeres: Die Organisation der Bettler wird mobilisiert, und jedem Bettler wird ein Straßenabschnitt zur Kontrolle zugeordnet. Schließlich gelingt es den Verbrechern, kurz bevor die Polizei des Mörders habhaft werden kann, diesen aufzustöbern, mit dem Buchstaben M zu markieren und ihn dingfest zu machen. Die letzte Sequenz zeigt zwei Gerichtsverhandlungen, zuerst das Gericht der Unterwelt, vor dem der Mörder seine pathologischen Antriebe gesteht, und zuletzt das bürgerliche Gericht. Diese Bilder zeigen meiner Meinung nach sehr schön die Art der Vorgehensweisen: man versucht die Stadt komplett durchzuorganisieren. Dabei werden Polizei und Unterwelt als parallele Organisationsformen in den Blick genommen, ihre Verfahren sind im Wesentlichen gleich und zielen auf die Wiederherstellung von Ordnung ab. Auch die Sphäre der Verbrecher gehorcht, genauso wie die der bürgerlichen Welt und die der Bettler, den Gesetzen der Ökonomie. Man kann sagen, dass beide Seiten mit allen Mitteln gewillt sind, die Irritation, die von M ausgeht, still zu stellen, sie wörtlich oder bildlich in den Griff zu bekommen. 140
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M – das kann dabei nicht nur Mörder heißen, sondern auch Monstrum, der- oder dasjenige, was diesen Ökonomien zuwiderläuft, was keiner Ordnung gehorcht außer seiner eigenen Triebökonomie, die ihn um des Mordens selbst willen morden lässt. M kann aber auch einfach Masse heißen. Der Mörder – und d. i. ein wesentlicher Punkt –, der die ganze Stadt in Aufruhr versetzt, hat ein Allerweltsgesicht. Das Monster ist aufgrund seiner Erscheinung nicht unterscheidbar von der Masse. Der Arbeitstitel von Fritz Lang hieß »Mörder unter uns«19 und spiegelte damit die beängstigende Möglichkeit, dass nicht nur jeder das Opfer, sondern auch jeder der Täter sein kann. M taucht unter in der Masse, die er zugleich mit seinem Massengesicht und seinem Massenleben verkörpert. Demgegenüber sind die Massen der Bettler – frei nach Canetti – äußerst gezähmte Massen. Diese Bettler sind nach Art deutscher Vereinsmentalität organisiert, haben sogar Seriennummern und werden mit kleinen Quittungszettelchen versehen zu ihren Beobachtungsposten in der ganzen Stadt geschickt. Während auf der einen Seite Versuche dominieren, die Großstadt unter Kontrolle zu bekommen, wird über M und die allgemeine Angst vor ihm das Unkontrollierbare der Masse dargestellt. Das Moment der Grenz- bzw. Schwellenüberschreitung, das Elias Canetti als ein Kennzeichen von Massen beschrieben hat, lässt sich anhand der zweiten Sequenz als eine rein formale Operation zur
19 Dieser Arbeitstitel hat selbst wiederum eine Geschichte, die Siegfried Kracauer aus den Produktionsanfängen zu »M« kolportiert: »Fritz Lang erzählte mir, daß 1930 kurz vor Beginn der Dreharbeiten zu M eine kurze Pressenotiz den Arbeitstitel seines neuen Films ›Mörder unter uns‹ veröffentlichte. Bald erhielt er zahlreiche Drohbriefe und, was schlimmer war, ihm wurde die Erlaubnis verwehrt, seinen Film in Studio Staaken zu drehen. ›Aber woher diese unverständliche Verschwörung gegen einen Film über den Düsseldorfer Kindermörder Kürten?‹ fragte er voller Verzweiflung den Produktionschef. ›Ach so, ich verstehe‹, sagte der Produktionschef.« Und die Anekdote endet: »›Mörder unter uns‹: die Partei fürchtete, sie sei gemeint. An jenem Tag, schloß Lang, wurde er politisch mündig.« (Kracauer 1993: 229) Man beachte, dass auch hier die Pressenotiz als eine unpersönliche Nachricht eingeführt wird, welche mehr oder minder anonyme Reaktionen hervorruft, die sich im Nachhinein wie eine Parallelstelle zur zweiten Sequenz, in welcher das Gerücht vom Mörder kursiert, lesen lassen. 141
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Darstellung von Menschenmassen und Massenkommunikation20 betrachten. Um eine Metapher hierfür zu bemühen: Das Gerücht erscheint in Form eines Lauffeuers – einem der Massensymbole, die Canetti beschrieben hat –, dessen rasante und alles/alle verschlingende Ausbreitung es mit der Massenbildung gemein hat. Nicht durch das Auftreten gewaltiger Statistenmengen, sondern durch diese schrankenlose und anonyme aber zugleich alle Bereiche des städtischen Lebens durchdringende Zirkulation des einen Themas, der Suche nach dem Mörder, wird Masse in M dargestellt. Bezeichnenderweise beginnt die Sequenz mit einer Stimme aus dem Off, die also nicht näher an einen einzelnen Sprecher gebunden erscheint, praktisch anonym bleibt. Diese merkwürdige Anonymität durchzieht die ganze Sequenz: Ist die Stimme im Film durch die Bilder einmal bestimmten Personen zurechenbar, so wird sie durch die fließenden Übergänge zur nächsten Episode wieder zu einer allgemeinen. Gilles Deleuze hat die hier vorhandene Strukturanalogie zum Gerücht gesehen und die Szene folgendermaßen kommentiert: Man bemerkt, an diesem Beispiel von Lang wie an vielen anderen, daß das Geschriebene (das Fahndungsplakat, die Zeitung) der stimmlichen Verlautbarung dient, von bestimmten Sprechakten übernommen wird, welche die Szenen verbinden. Was zur Folge hat, daß in der Tat ein einziger unbestimmter Sprechakt (das Gerücht) zirkuliert und sich verbreitet, während lebendige Interaktionen zwischen unabhängigen Figuren und entfernt liegenden Plätzen sichtbar werden. Je autonomer der Sprechakt wird, indem er über bestimmte Personen hinausgreift, desto problematischer erweist sich das von ihm eröffnete Feld der visuellen Wahrnehmung […]. (Deleuze 1990: 292f)
Ob man, wie Jean-Noël Kapferer, das Gerücht als »das älteste Massenmedium der Welt« sehen kann, mag offen bleiben (Kapferer 1997: 10). Gleichwohl ist es geeignet, die Gleichheit in der Masse und durch das Gerücht die Masse selbst darzustellen. Hans-Joachim Neubauer hat diese paradoxe Qualität des Gerüchtes, zugleich »Öffentlichkeit« herzustellen und sie zu »repräsentieren« gesehen (Neu20 Selbstredend kann hier nicht von Massenkommunikation schlechthin die Rede sein. Es fehlt der zentrale Sender, wie er bei Broadcastingsystemen (Radio, Fernsehen) implementiert ist. Stattdessen ist hier von einer vernetzten Informationsvermittlung auszugehen. Zur Unterscheidung von broadcasting und network bei Massenmedien siehe: Flusser 1996: 76. 142
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bauer 1998: 13). Dabei ist die Anonymität des Sprechers, die Ungewissheit des Ursprungs des Gerüchts ein konstitutives Merkmal. [Das] ›Gerücht‹ [ist] eine aktuell in einer Gruppe kursierende Information im Medium des Hörensagens oder verwandter Formen der Kommunikation; was alle sagen, ist noch kein Gerücht, sondern das, von dem man sagt, daß es alle sagen. Gerüchte sind Zitate mit einer Lücke. Unbestimmt bleibt, wen sie zitieren; wer in ihnen spricht, weiß niemand. (Neubauer 1998: 13)
Über diese anonyme und ursprungslose Massenkommunikation hinaus entfaltet das Gerücht eine ganz eigene Dynamik.21 Die Massendarstellung in M scheint mir viel mit dem Übertragungsmodell zu tun zu haben, welches bei Le Bon und Nordau entworfen wird. Auch bei letzteren geht es in der Beschwörung der Masse nicht um Massen, die sich als immense Menschenmenge in einem Raum bewegen (also in Kracauers Diktion: nicht um eine dynamische, aber auch nicht um eine ornamental gruppierte Masse), sondern um die Transgression verschiedener Räume. Massenbildung als Ansteckung funktioniert als Übertragung von etwas (einem Keim, Erreger, einer Rede etc.) von einem Raum in den nächsten. So wie bei Nordau die »wilden Horden« die Straße erobern, berichtet Le Bon von sozialistischen Agitatoren, die von Kneipe zu Kneipe ziehen, um ihre Ideen zu verbreiten. Die Trennung der Sphären, die als Garant bürgerlicher Ordnung aufgebaut wird, ist gefährdet. Dabei verschleiert das Insistieren auf eine zentrale Führergestalt die eigentliche Struktur des zirkulierenden Sprechaktes: Der Charakter des Gerüchts lässt sich im Anschluss an Neubauer als Zitathaftigkeit beschreiben, deren Ursprung letztlich unklar bleibt. Die 21 Elaine Showalter hat das Muster dieses Zirkulierens in ihren Hystorien auf eine Weise beschrieben, die an Le Bons Beispiel der Panik im Tierreich erinnert: »Massenhysterien treten in Gemeinschaften auf. Sie werden oft durch Nichtigkeiten ausgelöst – jemand fällt wegen erstickender Hitze in Ohnmacht oder gerät aus irgendeinem Grund in Panik. Normalerweise nehmen Augenzeugen davon kaum Notiz, aber wenn sich die Gruppe bereits in einem angespannten Zustand befindet, entsteht leicht ein Gerücht des Typs: ›Wir werden vergiftet‹. Wenn ein solches Gerücht einer größeren Gruppe plausibel erscheint, breitet es sich rasend schnell aus. Wird dann noch ein zweiter ohnmächtig oder bricht zusammen, dann beschleunigt das die Ausbreitung der Panik; die sozialen Netzwerke tragen sie weiter.« (Showalter 1997: 39). 143
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Frage, wer hinter einem Gerücht steckt,22 wer der Sender der Kommunikation ist, lässt sich gerade nicht beantworten. Die Rückführung auf eine zentrale, womöglich charismatische Führergestalt ist nicht möglich. Der Ursprung der Massenbildung entzieht sich der Beobachtung und die Suche nach ihm gerät, wie die Suche nach dem Mörder in M, zu einer phantasmatischen Übersteigerung des Gesuchten und löst immense Ängste und Irritationen aus. Die dezentrierende Kraft des Sprechaktes in M verweist somit auf jene Form der Intertextualität, die Elaine Showalter näher untersucht hat. Der Zusammenhang, den Nordau in seiner Kulturkritik zwischen der Fin-de-Siècle-Stimmung, allgemeiner Hysterie und Neurasthenie und den Texturen der Moderne herstellt, wird von Showalter in ihrer literaturwissenschaftlichen Studie – wenngleich unter anderen Vorzeichen – wieder aufgegriffen. Showalter behauptet ebenfalls eine enge Korrelation zwischen Texturen, Symptomen und medizinischen Konzepten auf der einen und einer spezifischen, apokalyptischen Stimmung auf der anderen Seite. Wie bereits ihr Titel Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien anzeigt, greift sie auf ein epidemiologisches Modell zurück, um die Verbreitung hysterischer Erzählungen und paranoischer Verschwörungstheorien zu beschreiben. In diesem Sinne bezieht sie sich unter anderem auf Norman Cohn, dessen Charakteristik apokalyptischer Massenbewegungen eine irritierende Nähe zu Nordaus Modernekritik aufweist: Erscheinen hysterische Syndrome im Zusammenhang mit sozialen Krisen und werden entsprechende Theorien über die modernen Kommunikations-Netzwerke verbreitet, kann es zu regelrechten Epidemien und paranoischen Ängsten und Schuldzuweisungen kommen. Von solchen apokalyptischen Gefühlen »werden vor allem solche Menschen […] angezogen«, schreibt der Historiker Norman Cohn, »die eine Rechtfertigung für seelische Bedürfnisse suchen, die aus eigenen unbewußten Konflikten herrühren. Es ist, als würden bis dahin in der Bevölkerung verstreute paranoische Einheiten sich plötzlich neu formieren und verbinden: zu einem kollektiven paranoiden Fanatismus. Diese ursprünglichen Anhänger verleihen jedoch, gerade weil sie wahre Gläubige sind, ihrer neuen Bewegung so viel Selbstvertrauen, Energie und Skrupellosigkeit, daß sie Heerscharen von Menschen in ihren Bann ziehen, die keineswegs paranoid 22 So titelt eine Sammlung verschwörungstheoretischer Gerüchte: Roth/ Sokolowsky 1998. 144
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sind, sondern ganz einfach zermürbt, hungrig oder verängstigt.« Wenn eine solche paranoide Massenbewegung zur politischen Macht wird, warnt Cohn, sei die Katastrophe absehbar. (Showalter 1997: 13)
Auch wenn Showalter diese Form von »Epidemien« literatur- und medientheoretisch reformuliert,23 fragt sich doch, in welcher Weise ›Ansteckung‹ hier gedacht wird und welche Effekte die epidemiologische Metaphorik hervorbringt. Ist die massenhafte Verbreitung von Narrationen Ergebnis einer krisenhaften sozialen Realität, die in paranoischen Angst- und Weltuntergangsvisionen zum Ausdruck kommt? Oder lässt eine solche symptomatische Lektüre die Problematik der ansteckenden Rede vorschnell zum Ende kommen, indem sie sie auf eine nicht weiter zu analysierende Ebene sozialer Wirklichkeit appliziert?24 Ist die Metaphorik der Ansteckung das zwangsläufige Pendant einer massenmedial geprägten Wirklichkeit? Welcher performative Stellenwert ist ihr zuzuweisen? Und verbirgt sich in der epidemiologischen Auffassung der Narrationen eine bestimmte Vorstellung von der sprachlichen Übertragbarkeit eines Begehrens, einer affektiven Gestimmtheit?25 23 Showalter 1997: 16: »In der Literaturwissenschaft hat man natürlich oft genug die Erfahrung gemacht, daß Ähnlichkeiten zwischen zwei Geschichten keineswegs bedeuten, daß beiden eine gemeinsame Realität zugrunde liegt oder die Autoren auch nur den Text des jeweils anderen gelesen haben. Wie alle Texte haben auch Hystorien eigene Konventionen, Stereotypen und Strukturen. Schriftsteller finden gemeinsame Themen vor, ›erben‹ Kompositionstechniken, Charaktere und Bilder; diese gemeinsamen Elemente bilden als eine Form der Überschneidung die Intertextualität.« 24 Jonathan Culler hat dieses Verfahren schlichtweg mit dem der Cultural Studies überhaupt identifiziert. Seine Kritik scheint mir jedoch mit Blick auf Showalters Arbeit sehr treffend zu sein: »Freed from the principle that has long governed literary studies – that the main point of interest is the distinctive complexity of individual works – cultural studies could easily become a kind of non-quantitative sociology, treating works as instances or symptoms of something else rather than of interest in themselves, and succumbing to other temptations. Chief among these is the lure of ›totality‹, the notion that there is a social totality of which cultural forms are the expression or the symptom, so that to analyze them is to relate them to the social totality from which they derive.« (Culler 1997: 51). 25 Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf Judith Butlers Analyse der Homosexualitätsdebatte im US-amerikanischen Militär hinweisen, in der sie der Frage nachgeht, in welcher Weise Selbstbeschreibungen 145
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Für Nordau hat die Rede von der Ansteckungsgefahr vorrangig die Funktion, den Ursprung der zirkulierenden ›Entartung‹ dingfest wie »Ich bin homosexuell« als direkter Ausdruck eines sexuellen Begehrens gelesen werden, das potentiell Jeden als Adressat dieses Begehrens in Augenschein nimmt. »Dennoch muß man sicher die Behauptung ernst nehmen, daß das Coming out gerade als ansteckendes Beispiel beabsichtigt ist, daß es einen Präzedenzfall schaffen und zu ähnlich strukturierten Handlungen im öffentlichen Diskurs herausfordern soll. Die Armeeführung reagiert vielleicht gerade auf die geglückten perlokutionären Wirkungen des Coming out, auf die Flut der Coming outs, die das erste Beispiel in der öffentlichen Sphäre ausgelöst hat, indem es sich selbst vervielfältigte, als ob es eine ansteckende Sprachkrankheit wäre. Freilich soll diese ansteckende Krankheit vermutlich zum Teil der Macht einer anderen ansteckenden Krankheit entgegenwirken, nämlich AIDS. Worin besteht dann der Unterschied zwischen der Logik, die die Grundsatzverordnung des Militärs beherrscht, und der Logik, die den schwulen und lesbischen Aktivismus leitet? Dieser Unterschied läßt sich vielleicht verstehen, wenn man betrachtet, wie die paranoide militärische Wahrnehmung durchgängig die Kluft zwischen dem Aussprechen eines Begehrens und den ausgesprochenen Begehren schließt. Bei einer Verführung scheint das erste das letztere direkt zu vermitteln […]. Nach der Vorstellungswelt der Paranoia geht das Begehren, das im Sprechen erscheint, ganz und ohne Aufforderung aus dem Sprecher hervor. Das Begehren kommt von außen, als ein Angriff oder eine Krankheit, und wird als Verletzung und/oder Ansteckung aufgenommen. Daher wird das Begehren schon als Angriff oder Krankheit figuriert und kann in der einen oder der anderen Form (oder in beiden) konzipiert werden.« (Butler 1998: 177f) Butler zitiert zum Kontext der Ansteckung Freuds Totem und Tabu (Freud 1999g): »Tabu ist ein […] Verbot, von außen (von einer Autorität) aufgedrängt und gegen die stärksten Gelüste der Menschen gerichtet. Die Lust, es zu übertreten, besteht in deren Unbewußten fort; die Menschen, die dem Tabu gehorchen, haben eine ambivalente Einstellung gegen das vom Tabu Betroffene. Die dem Tabu zugeschriebene Zauberkraft führt sich auf die Fähigkeit zurück, die Menschen in Versuchung zu führen, sie benimmt sich wie eine Ansteckung, weil das Beispiel ansteckend ist und weil sich das verbotene Gelüste im Unbewußten auf anderes verschiebt.« Und sie kommentiert: »Mit dieser letzten Bemerkung macht Freud deutlich, daß das verbotene Begehren sich im Unbewußten von einem Gegenstand auf den nächsten verschiebt, daß das Begehren selbst sich unkontrollierbar überträgt und einer metonymischen Logik gehorcht, die noch nicht vom Gesetz eingeschränkt ist. Tatsächlich ist es die unendliche Übertragbarkeit des Begehrens, die durch das Tabu freigesetzt wird und die die Logik der Ansteckung steuert, durch die das tabuisierte Begehren als eine höchst kommunizierbare Bezeichnung in den Diskurs eintritt.« (Butler 1998: 164). 146
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machen zu wollen. Die Metaphorik von Keim und Erreger suggeriert, dass es einen klaren Absender der dezentrierten Aussagen gäbe, den man einfärben, isolieren und mikroskopisch beobachten kann, um sich sodann besser gegen ihn schützen zu können. Die Stigmatisierung der ›Führer‹ verspricht deren gesellschaftliche Isolierung voranzutreiben. Doch wie zeigt sich der ›entartete Keim‹ in der Sprache?
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Ich möchte im Folgenden zwei Aspekte von Nordaus Modernekritik herausgreifen, die mir für die Konstruktion einer un-/sichtbaren Gefahr wesentlich zu sein scheinen. Die Frage ist, was durch die Texturen der Modernen zum Vorschein kommt? Was ist es, das ihre Sprache und ihr Denken so überaus ansteckend und lebensbedrohlich werden lässt? In zwei Anläufen, die sich zum einen mit dem Mystiker und zum anderen mit einer Untergruppe der Mystiker, den Graphomanen, befassen, gilt es, das bedrohliche Potential der Modernen näher in den Blick zu nehmen.
M y s t i z i s m us Der Mystiker, mit dessen Tendenz zur fehlerhaften Ideenassoziation wir uns bereits beschäftigt haben, zeichnet sich durch eine spezifische Deutungsökonomie aus. Er stellt nicht nur Verbindungen zwischen Ideen her, zwischen denen ›andere keinen Zusammenhang sehen‹, er argwöhnt auch, gleichgültig wohin er schaut, ein tiefer liegendes Geheimnis. Betrachten wir erneut die zentrale Definition des Mystikers: Dem Mystiker stellen sich alle Erscheinungen der Welt und des Lebens anders dar wie dem gesunden Menschen. Das einfachste Wort, das vor ihm ausgesprochen wird, scheint ihm eine Anspielung auf etwas Verborgenes; in den gewöhnlichsten und natürlichsten Bewegungen sieht er versteckte Winke; alle Dinge haben für ihn tiefe Hintergründe; sie werfen weitreichende Schatten in Nachbargebiete hinüber; sie senden ausgedehnte Wurzeln in entlegene Unterschichten. Jedes Bild, das in seinem Geiste auftaucht, weist geheimnißvoll verschwiegen, doch mit vielsagendem Blick und Finger auf andere, deutliche oder schattenhafte Bilder hin und veranlaßt ihn, Vorstellungen zu verknüpfen, zwischen denen Andere keinerlei Zusammenhang erkennen. In Folge dieser Eigenthümlichkeit seines Denkens lebt der Mystiker wie von unheimlichen Masken umgeben, hin-
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ter deren Larven räthselhafte Augen hervorblicken und die er mit beständigem Grauen betrachtet, da er nie sicher ist, die Gestalten zu erkennen, die sich unter der Verkleidung um ihn drängen. »Die Dinge sind nicht, was sie scheinen« ist die bezeichnende Aeußerung, die man vom Mystiker häufig zu hören bekommt. (Nordau 1896: 86f)
Die Leitunterscheidung wird im ersten Satz markiert: Dem Mystiker erscheinen alle Dinge auf grundsätzlich andere Weise als dem ›normalen‹, dem »gesunden Menschen«. All das, was normalerweise als einfach und gewöhnlich, ja nebensächlich bewertet und insofern keiner näheren Betrachtung würdig befunden wird, erhält für den Mystiker eine andere Bedeutung. Anstelle von Nebensächlichkeit und Zusammenhanglosigkeit setzt er auf Bedeutungs- und Beziehungsreichtum, sieht, wohin er schaut, Geheimnisse und Anspielungen auf andere Bedeutungsebenen als die profane Alltagssicht sie bereitstellt. Unter ›Mysticismus‹ versteht Nordau eine spezifische psychische Disposition, die nicht nur eine affektive Grundstimmung, sondern auch wesentliche Teile der Selbst- und Fremdwahrnehmung steuert. Rings um ihn herum erscheint dem Mystiker alles geheimnisvoll und rätselhaft; alle Wahrnehmungsdaten geraten ihm zu »Sinnbilder[n]«. Er leidet sozusagen an einer Rätselsucht, die ihn dazu treibt, die manifeste Ebene der Phänomene notorisch zu transzendieren. Was ist unter diesem etwas unbestimmten Ausdrucke »Mysticismus« eigentlich zu verstehen? Das Wort bezeichnet einen Geisteszustand, in welchem man unbekannte und unerklärliche Beziehungen zwischen den Erscheinungen wahrzunehmen oder zu ahnen glaubt, in den Dingen einen Hinweis auf Geheimnisse erkennt und sie als Sinnbilder betrachtet, durch welche eine dunkle Gewalt allerlei Wunderbares zu enthüllen oder doch anzudeuten sucht, das man sich, meist vergebens, zu errathen bemüht. Dieser Geisteszustand ist stets mit starken Gemüthserregungen verbunden, die das Bewußtsein als eine Folge seiner Ahnungen auffaßt, obgleich umgekehrt jene Emotionen das Vorbestehende, die Ahnungen aber von ihnen veranlaßt sind und auch ihre besondere Richtung und Farbe von ihnen erhalten. (Nordau 1896: 85f)
Mystizismus ist in diesem Sinne eine besondere Lektürehaltung, die unentwegt deutet und stets »unbekannte und unerklärliche Bezie-
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hungen zwischen den Erscheinungen« postuliert, deren Ursprung jedoch in einer bestimmten Emotion zu suchen ist. Man könnte Nordaus Mystizismuskritik als frühen Beitrag zu jener Debatte lesen, die sich in den 1990er Jahren um das Problem der Überinterpretation drehte, denn der Mystiker ist der Prototyp des Modernen, der seine Deutungswut ungezügelt auslebt.1 Auch hundert Jahre später spielt dieser Deutungstyp eine wichtige Rolle in Umberto Ecos Typologie der Überinterpretation, in der er, »die westliche Ideengeschichte zum Problem ›geheimer‹ Bedeutungen, die sich in ihrer sprachlichen Verschlüsselung nur wenigen Eingeweihten erschließen«, untersucht. Je esoterischer ein bestimmtes Wissen erscheint, desto höher ist es zu bewerten. Jede freigelegte Schicht, jedes gelöste Rätsel erwies sich nur als Vorform einer noch viel kunstvoller getarnten Wahrheit. Solche Deutungstraditionen sind psychologisch durch die Bereitschaft geprägt, jeden offenkundigen Sinn anzuzweifeln oder zu verwerfen. Für die Anhänger des Schleiers ist alles, was leicht zugänglich erscheint oder mit dem common sense übereinstimmt, zur Nichtigkeit verdammt. (Collini 1996: 14f)
Ecos Position nimmt sich – nicht nur in ihrer Zusammenfassung durch Collini – als aktuelles Pendant zu Nordaus Mystizismuskritik aus. Wie erwähnt spielt auch für Eco eine Hermeneutik des Verdachts eine Schlüsselrolle, wenn es darum geht, überinterpretative Verfahren zu erklären (vgl. Kapitel 3: Polizeiordnung, Mystizismus, falsche Verknüpfung). Auch Eco argumentiert zum Teil psychologisch und orientiert sein Plädoyer für eine gemäßigte Interpretationspraxis am Common sense. Doch was Nordau beschreibt, könnte man bereits als eine Steigerung, als die Etablierung einer Hermeneutik des Grauens umschreiben. Wenn hinter allem und jedem verborgene Kräfte rätselhaft und unheimlich aktiv sind, dann kann man dies als Phantasma eines fremden, kalten Blicks, der aus dem Irgendwo beobachtet, reformulieren. Dieser fremde, nicht zuzuordnende Blick könnte mit dem Konzept der Naht in Zusammenhang diskutiert werden. Slavoj iek hat
1 Siehe hierzu etwa die einleitend zitierte Passage in Kapitel 2: Vor dem Gericht, und entsprechend bei Nordau 1896: 12. 151
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in seinem Kieslowski-Buch das Konzept der Naht folgendermaßen beschrieben: Im Auge behalten sollte man die grundlegende ideologische Operation, die hier vollzogen wird: Das bedrohliche Eindringen des dezentrierenden Anderen, die abwesende Ursache, wird »mit Hilfe einer ›Naht‹ geschlossen«. Der Trick besteht darin, daß die Lücke, die zwei völlig verschiedene Ebenen voneinander trennt – die des ausgesagten Inhalts (die narrative Fiktion) und die des dezentrierten Prozesses des Aussagens –, überspielt wird: Das Aussagen wird auf eines der Elemente in einer Serie reduziert, die die ausgesagte Fiktion konstituieren, d.h. das Element, das als Platzhalter für die abwesende Ursache des Prozesses fungiert, erscheint als eines der Elemente innerhalb des Prozesses. (iek 2001: 13f)
Wenn der dezentrierende Prozess des Aussagens als Element der Aussage sozusagen wieder eintritt, führt dies zu unheimlichen und verstörenden Effekten. Wird eine Perspektive etabliert, die »nicht eindeutig der Sicht eines bestimmten Protagonisten zugeschrieben [werden kann] und so das Gespenst eines frei herumschwebenden Blicks ohne dazugehöriges Subjekt [heraufbeschworen]« (iek 2001: 14), erscheint dies als ultimative Bedrohung. Oder, wie es in ieks Referenzstelle bei Jacques Lacan heißt: Ich kann mich von jemandem angeblickt fühlen, von dem ich nicht einmal die Augen und nicht einmal die Erscheinung sehe. Es genügt, daß etwas mir anzeigt, daß der andere da sein kann. Dieses Fenster, wenn es ein wenig dunkel ist und wenn ich Gründe habe anzunehmen, daß jemand dahinter ist, ist immer schon ein Blick. (Lacan 1999: 272 / iek 2001: 15f)
Ist es nicht genau dieses Gefühl, aus dem Irgendwo einen Blick zu empfangen, der mit dem beständigen Grauen, von dem der Mystiker berichtet, den Larven, aus denen rätselhafte Augen hervorblicken, gemeint ist? 1898 beginnt ein Roman mit den Sätzen: Niemand hätte in den letzten Jahren des XIX. Jahrhunderts geglaubt, daß unser menschliches Tun und Lassen beobachtet werden könnte […]. Es kam höchstens vor, daß Erdenbewohner sich einbildeten, es könnten Wesen auf dem Mars leben, minderwertige vielleicht, jedenfalls aber solche, die eine irdische Forschungsreise freudig begrüßen würden. Aber jenseits des gähnenden Weltraums blickten Geister, uns überlegen wie wir den 152
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Tieren, ungeheure, kalte und unheimliche Geister, mit neidischen Augen auf unsere Erde. Bedächtig und sicher schmiedeten sie ihre Pläne gegen uns. (Wells 1974: 7)
Diese ersten Sätze des Invasionsromans Krieg der Welten von H.G. Wells beschreiben genau das, was iek anhand von Hitchcock und Kieslowsky ausarbeitet: »Hitchcock ist immer dort am unheimlichsten und verstörendsten, wo er uns direkt mit der subjektiven Einstellung dieses externen phantasmatischen Blicks konfrontiert.« (iek 2001: 16) Wenn Nordau den Mystiker als Prototyp des modernen Entarteten kritisiert, so trifft seine Kritik zunächst dessen ›metaphysischen Wunsch‹, hinter den ›Erscheinungsformen‹ der Welt eine tiefere und wahrhaftigere Ebene aufdecken zu wollen. Dabei weist das Verhalten des Mystikers Ähnlichkeiten zu Nordaus eigener Textur auf: Seine an der Epidemiologie orientierte Sprache evoziert gleichfalls den Verdacht, dass es eine Bedrohung aus dem Außen gibt, die das Diesseits infizieren und gefährden könne. Die Charakteristik des Mystikers, der »wie von unheimlichen Masken umgeben« lebt, »hinter deren Larven räthselhafte Augen hervorblicken und die er mit beständigem Grauen betrachtet, da er nie sicher ist, die Gestalten zu erkennen, die sich unter der Verkleidung um ihn drängen«, entspricht zum Teil seiner eigenen Haltung vis-à-vis der Moderne. In seiner Beschreibung jener Symptome,2 die die entarteten Modernen kennzeichnen, bedient er sich derselben Metaphern, die für den Deutungsmodus des Mystikers kennzeichnend sind: Man hat den Eindruck, auf einem Maskenfeste zu sein, auf dem Jeder in einer Verkleidung und mit einem Charakter-Kopf erschienen ist. Bei manchen Gelegenheiten, […] kann sich dieser Eindruck so unheimlich steigern, daß man glaubt, unter Larven zu wandeln, die in einer fabelhaften Leichenkammer aus zerstückten Körpern aufs Gerathewohl zusammengeflickt wurden […]. (Nordau 1896: 18f)
Und im Schlussplädoyer von Entartung wird diese Maskenmetaphorik wieder aufgegriffen: »Mit dem Nachweise, daß Mystik, Ichsucht und Realisten-Pessimismus Formen der Geistesstörung sind, ist es aber nicht gethan. Man muß diesen Richtungen auch alle bestechenden Masken abreißen, in denen sie auftreten, und ihr wirkli2 Siehe Kapitel 2: Vor dem Gericht, Symptome & Stigmata. 153
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ches Antlitz in seiner grinsenden Nacktheit zeigen.« (Nordau 1893: 496) Die »(phantastische) Überdeterminierung« (Butler) ist sowohl dem Mystiker, als auch Nordaus eigenem Blick auf die ›Entarteten‹ zueigen. Dass jene überall Masken einer dahinter liegenden wahren Ebene wahrnehmen, führt – so könnte man festhalten – dazu, dass sie selbst zu Chiffren einer tiefer liegenden Wahrheit werden. Ihr Insistieren auf einer Innen-Außen-Differenz steckt an: Ihre »Verkleidung« wird »unheimlich«. Wie im klassischen Horrorfilm, der die Invasion einer fremden, feindlichen Macht erzählt (man denke an die verschiedenen Versionen von ›Body snatchers‹), verwandeln sich Menschen in Larven und werden willenlose Marionetten der Aliens. Wenn »man glaubt, unter Larven zu wandeln,« wird der Glaube an die Souveränität des Subjektes, an eine Innerlichkeit, die als Zentrum des Subjektes fungiert, erschüttert. Dadurch, dass Nordau versucht, diese beiden Ebenen, deren Differenz er auch in seiner Mystizismuskritik immer wieder thematisiert, zu annullieren, erhält seine Rede den hermetischen und totalitären Effekt einer Hermeneutik des Verdachtes. Anders formuliert: Nordau versucht eine »ideologische Operation« zu vollziehen, die darin besteht, »›mit Hilfe einer Naht‹« das »bedrohliche Eindringen des dezentrierenden Anderen, die abwesende Ursache« auszuschließen (iek 2001: 13f). Der Mystiker, so könnte man resümieren, ist dadurch charakterisiert, dass er diesen phantasmatischen Blick empfängt, sich stets aus einem Außen betrachtet fühlt, jene geheimnisvolle Invasion antizipierend, für die der dem Common sense verpflichtete ›Normalbürger‹ keinen Sinn hat. Im Gegensatz zum letzteren, der sich eine Begegnung mit dem Anderen lediglich als weiteres Kapitel jenes westlichen Imperialismus, der die Kolonialherrschaft genauso prägt wie die Rassenanthropologie, denken kann, eine Begegnung also, in der ihm selbst die Position des souveränen Subjektes zukommt, ist der Vertreter einer Hermeneutik des Grauens empfänglich für eine Invertierung der kolonialen Phantasien. Im undefinierten Außen (des Alls, der Welt, jedes einzelnen Wortes) lauert eine tiefere Dimension, eine potentielle Gefahr, die verstörend wirkt. Auf diese Weise macht der Mystiker immer wieder auf eine Kluft aufmerksam, die dem Vertreter des Common senses verborgen bleibt bzw. verborgen bleiben soll. Sein ganzes Denken und Deuten basiert auf einer Verweisstruktur, die ›hinter‹ den Erscheinungen eine weitere, wahrhaftigere Ebene vermutet. 154
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Wie Boris Groys an einer Stelle beschrieben hat, ist diese Hermeneutik des Verdachts, die hinter der manifesten Ebene der Erscheinungen eine weitere aufsucht, konstitutiv für die Moderne.3 Paradigmatisch ist für ihn »die mediale Zeichenoberfläche des Archivs«, die ihren Betrachter in ein »notwendigerweise paranoides Verhältnis« zum »medialen Träger dahinter« bringt: Da sich dieser »submediale« Träger konstitutiv der Betrachtung entzieht, erzeugt dies »beim Betrachter [den] Wunsch zu erfahren, was sich hinter der medialen Zeichenoberfläche ›in Wahrheit‹ verbirgt – ein medientheoretischer, ontologischer, metaphysischer Wunsch« (Groys 2000: 19f). Der »submediale Raum« entspricht der »dunkle[n] Gewalt« bei Nordau, jenen geheimnisumwitterten »Sinnbilder[n]«, die »allerlei Wunderbares zu enthüllen oder doch anzudeuten« scheinen (Nordau 1896: 85f). Wie Groys betont, entzieht sich diese Dimension des Zeichens einem direkten Zugriff: Der submediale Raum muss für uns deswegen der dunkle Raum des Verdachts, der Vermutungen, der Befürchtungen bleiben – aber auch der plötzlichen Offenbarungen und zwingenden Einsichten. Hinter der Zeichenoberfläche der öffentlichen Archive und Medien vermuten wir in der Tat unweigerlich Manipulation, Verschwörung und Intrige. (Groys 2000: 21)
Der »dunkle Raum« ist somit Anlass für Spekulationen, die eine unhintergehbare Kontingenz in die Zuschreibung von Absicht transformieren. Das Transzendieren der »Zeichenoberfläche« führt zu 3
Groys 2000: 24f: »Vor allem die westliche Moderne wird traditionell als Epoche des Verdachts beschrieben, die alle alten Werte, Traditionen und Evidenzen untergräbt – weswegen man auch immer wieder versucht hat, diese alten Werte vor dem Verdacht zu schützen und ihnen eine ›feste Grundlage‹ zu geben. Aber die Epoche der Moderne ist nicht zufällig auch die Epoche der Archivierung par excellence. Wenn die Moderne einerseits alle alten Grundlagen zerstört hat, weil sie sich allesamt als zu endlich, zu unstabil, zu fragil erwiesen haben, so hat die Moderne den kulturellen Werten andererseits eine neue, viel stabilere Grundlage gegeben – den Verdacht selbst. Der Verdacht kann nämlich niemals entkräftet, abgeschafft oder untergraben werden, denn der Verdacht ist für die Betrachtung der medialen Oberfläche konstitutiv: Alles, was sich zeigt, macht sich automatisch verdächtig – und der Verdacht trägt, indem er vermuten lässt, dass sich hinter allem Sichtbaren etwas Unsichtbares verbirgt, das als Medium dieses Sichtbaren fungiert.« 155
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Modellen der »Manipulation, Verschwörung und Intrige«, also zu Denkmodellen, die eine intentionale Steuerung der Phänomene voraussetzen.
G r a p ho m a ne n Die Leitdifferenzen von Innen vs. Außen und sichtbar vs. unsichtbar steuern auch Nordaus Auseinandersetzung mit einer Untergruppe der Mystiker: den Graphomanen. Als prominentes Beispiel für Graphomanie diskutiert er ›den Fall Richard Wagner‹, in dessen Person sich alle »Stigmate« der Entartung mit einer ›ans Unheimliche grenzenden Vollständigkeit‹ versammeln (vgl. Le Rider 1996: 69-77). Nordau zählt auf: »Verfolgungswahnsinn, Größenwahn und Mysticismus, in seinen Trieben verschwommene Menschenliebe, Anarchismus, Auflehnungs- und Widerspruchssucht, in seinen Schriften alle Merkmale der Graphomanie« (Nordau 1896: 307). Neben der gesellschaftlichen Bedeutung dieses ›falschen Messias‹ ist für Nordau der Charakter von Wagners Schriften von besonderem Interesse. Denn an Wagners Beispiel zeigt sich der Mystizismus nicht nur in Form von Gedankenflucht, falschen Ideenverknüpfungen und Geheimniskrämerei, sondern die Form seiner Texte selbst wird Gegenstand der psychopathologischen Beobachtung. Nicht blos der Inhalt seiner Schriften, sondern schon deren äußere Form kennzeichnet Wagner als Graphomanen. Der Leser hat an den Anführungen bemerken können, welchen Mißbrauch Wagner mit dem Unterstreichen von Worten treibt. Manchmal läßt er halbe Seiten mit gesperrter Schrift setzen. Diese Erscheinung wird von Lombroso bei Graphomanen ausdrücklich festgestellt. Sie erklärt sich zur Genüge aus der hier oft auseinandergesetzten Eigenthümlichkeit des mystischen Denkens. Keine sprachliche Form, die der mystische Entartete seinen Gedankenschemen geben kann, vermag ihn zu befriedigen, er hat immer das Bewußtsein, daß die Sätze, die er niederschreibt, die wirren Vorgänge in seinem Gehirn nicht ausdrücken, und da er es aufgeben muß, diese in Worte zu fassen, so sucht er durch Ausrufungszeichen, Gedankenstriche, Punkte und Durchschuß-Linien in seine Schrift mehr hineinzugeheimnissen, als deren Worte sagen können. (Nordau 1896: 325)
Gemeinsames Merkmal zwischen dem ›klassischen‹ Mystiker und dem Graphomanen ist die Produktion eines Überschusses, doch die156
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ser Überschuss hat zwei verschiedene Richtungen. Während der Mystiker als derjenige Typus eingeführt wird, der exzessiv deutet, also Geheimnisse in den Erscheinungen der Welt wie in Schriften und Reden wittert, liegt beim Graphomanen der Überschuss in der Produktion von Text selbst begründet. Die Art und Weise, in der der Graphomane »in seine Schrift mehr hineinzugeheimnissen« versucht, als dem ›normalen‹ Leser verständlich wird, deutet zugleich auf ein Zuviel und ein Zuwenig: Ein Überschuss entsteht durch das Bedürfnis, mehr in seinen Sätzen auszudrücken, etwas zu dokumentieren, was »die Sätze« »nicht ausdrücken« können. Doch dieser Überschuss, dieses Zuviel an Bedeutung, verweist zugleich auf einen Mangel: den Mangel an Klarheit der Gedanken und den Mangel sprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten. Graphomanie, so könnte man sagen, ist die schriftliche Form jener konstitutiven Asymmetrie, jener Unausgewogenheit, die als Entartung definiert wird. Die Bezeichnung »Graphomanie« hat Max Nordau von Cesare Lombroso entlehnt. In seiner Schrift Genie und Irrsinn widmet Lombroso den »Graphomanen« ein eigenes Kapitel und versucht einige hervorstechende Merkmale dieses »Krankheitsbildes« näher zu bestimmen. In Lombrosos Charakteristik bekommt der Mangel an gedanklicher Präzision und an Ausdrucksvermögen eine zentrale Bedeutung: In den meisten [Fällen, C.K.] begegnet man mehr einem Mangel als dem Überströmen an genialer Begeisterung und Inspiration. Sie füllen Bände ohne einen vernünftigen Gedanken, ohne ein kräftiges Wort ans Licht zu fördern. Wo die Gedanken, der Ausdruck sie im Stich lassen und ihr unruhiger Ehrgeiz kein Mittel findet, sich Luft zu machen, da helfen sie sich mit den Ausrufungs- oder Fragezeichen, mit fortwährendem Unterstreichen von Worten und Sätzen, mit eigens von ihnen erfundenen Wörtern, worin sie ganz den Monomanen gleichen. (Lombroso 1887: 229)
Anstelle von »vernünftigen Gedanken« wird in den Schriften der Graphomanen etwas anderes sichtbar: »Ausrufungs- und Fragezeichen«, gehäufte Unterstreichungen »von Worten und Sätzen«, »erfundene[] Wörter[]« dienen der Repräsentation von Etwas, das sich nicht diskursivieren lässt. Als Chiffren des Unsagbaren markieren sie die Grenzen des Sagbaren. Mit Lombroso als Gewährsmann arbeitet sich Nordau an der druckbuchstäblichen Gestaltung Wagnerscher Texte ab (Nordau
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1896: 325). Neben den Unterstreichungen und Satzzeichen gilt ein gehäufter Einsatz von graphischen Mitteln wie Sperrungen und »Durchschuß-Linien«, ein ›Überschuss‹ auf Seiten der Paratexte (Fußnoten und Titelblätter), die Verwendung von Zeichnungen als Ergänzung des Textes, wie auch alle möglichen Formen von Wortspielen und -erfindungen als Kennzeichen einer graphomanischen Textur.4 Lombroso nennt Beispiele aus seiner offenkundig umfangreichen Sammlung: Alle Werke dieser Graphomanen zeichnen sich durch überfüllte Titelblätter aus. Ich besitze ein solches Titelblatt, welches nicht weniger als achtzehn Zeilen und außerdem sich, wie zum Beispiel bei Passante, durch Unterstreichen von den übrigen auszeichnet. Wieder andere schreiben in getrennten fast biblischen Strophen und Versen, oder unterbrechen den Fluß des Satzes nach allen drei oder vier Worten durch Punkte oder Gedankenstriche, was zum Beispiel im Manuskripte eines gewissen Bellone, das sich in meinem Besitze befindet, der Fall ist. – Großen Mißbrauch üben die Graphomanen mit den Klammern, welche sie Rückhaltlos ineinander schieben, wie Madrolle und andere. Sie häufen Anmerkung auf Anmerkung und setzen solche sogar bis auf das Titelblatt des Buches, wie Caf… und La…. Letzterer, ein Universitätsprofessor, schrieb ein Werk von zwölf Seiten, von welchen neun allein mit Anmerkungen gefüllt waren. (Lombroso 1887: 233f )
Die graphomanische Textur erzeugt vor allem eines: Sie unterbricht »den Fluß des Satzes« und verweist auf die druckgraphische Di4
Lombroso 1887: 229f: »Schon Menke […] erzählt, daß einige narrenhafte Graphomanen seiner Zeit die Worte derapti felisan erfunden hatten. – Berbiguier schuf die Worte ferfaderisser und ferfaderisme. Ein Monomane, mit Namen Le Bardier, schrieb ein Dominutmosphère betiteltes Werk, in welchem er die Landleute lehren wollte, eine doppelte Ernte zu erzielen, und den Matrosen das Mittel, den Winden aus dem Wege zu gehen, an die Hand gegeben zu haben wähnte […]. Cianchettini erfand den Ausdruck travaso dell’ idea (Umwandlung des Gedankens), Pari die cafungaia und den morbozoo, Waltuk die Alitrologie und Anthropomopnotologie, Gem… die Ledepidermocrinia und die Glossostomotopathie. Sehr oft begegnet man auch in den Schriften der Graphomanen sonderbaren Buchstabenformen mit senkrechten von horizontalen durchschnittenen Linien, und in denen sich sogar noch andere Schriftzüge vorfinden; […]. Nicht selten auch fügen sie der Schrift die Zeichnung bei, gleichsam um die Wirkung des Satzes zu verstärken.« 158
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mension des Textes. Statt auf die Fülle der Gedanken setzt sie auf die Schriftlichkeit der Schrift. In diesem Sinne gilt Nordaus und Lombrosos Kritik der Fokussierung einer materiellen, nichtsemantischen Seite des Wortes. Diese andere, buchstäbliche Seite des Wortes gilt es abzublenden, auszuschalten, auszumerzen. Sie ist der Parasit des Gedankens. Beseelt von dem Wunsch, dieser parasitären Logik des Signifikanten (deren Ökonomie Jacques Derrida in seiner Kritik des Logozentrismus nachgegangen ist) nicht nur Herr zu werden, sondern sie radikal auszuschließen, geht Nordau daran, jene Literatur zu brandmarken, die sich durch einen spielerischen Umgang, eine die Buchstäblichkeit des Buchstabens betonende Praxis auszeichnet. Entsprechend seiner allgemeinen Vorgehensweise pathologisiert Nordau all jene Autoren, die in ihren Texten eine Textur erkennbar werden lassen, welche von Elementen geprägt ist, die sich nur als lautliche oder schriftliche Gestalt vermitteln. Als signifikant erscheint in diesem Sinne alles, was über den semantischen Gehalt der Wörter hinausgeht. Als pathologisch hingegen derjenige, der seine Aufmerksamkeit auf die Seite des Zeichens lenkt, die über das ›Reich des Logos‹ hinausweist. Dass Nordau mit seinem Bestreben, den Buchstaben aus der Literatur auszutreiben, nicht alleine steht, sondern geradezu den Finger auf eine Problemzone legt, die um 1900 die Geister umtreibt, lässt sich in einer Fülle psychopathologischer Texte nachzeichnen. Linguisten und Psychopathologen beschäftigen sich mit Fällen, in denen die den Sinn transzendierenden Elemente in den Vordergrund treten. Diese Fälle demonstrieren eindrücklich das, was etwa Aleida Assmann mit dem Ausdruck »semiotischer Trieb« beschrieben hat: Von der semiotischen Normalitätserwartung aus gesehen handelt es sich um exotische, obsolete, pathologische Verfahren, die deshalb unter dem Sammelbegriff der wilden Semiose zusammengefaßt werden. Wilde Semiose bringt die Grundpfeiler der etablierten Zeichenordnung zum Einsturz, indem sie auf die Materialität des Zeichens adaptiert und die Präsenz der Welt wiederherstellt. In jedem Fall erzeugt sie Unordnung im bestehenden Beziehungssystem der Konventionen und Assoziationen, sie stellt neue, unmittelbare Bedeutung her, sie verzerrt, vervielfältigt, sprengt bestehenden Sinn. (Assmann 1988: 239)
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Der »semiotische Trieb« suspendiert die »semiotische Normalitätserwartung«, macht die Brüchigkeit eben dieser Normalität sinnfällig.5 Er zeigt sich insbesondere in jenen Fällen, in welchen Worte neu gebildet oder mit der anagrammatischen Ebene der Sprache gespielt wird. Das Spiel mit der »Präsenz der Welt«, die durch die Bezugnahme auf die »Materialität des Zeichens« heraufbeschworen wird, die Adaptation auf jenen »dunklen Raum«, den Boris Groys als ständige, wenngleich unsichtbare Bezugsgröße der Moderne herausgestrichen hat, wird in einem Beispiel deutlich, das Cesare Lombroso wiedergibt: »Hepain wähnt eine physiologische Sprache zu erfinden, die im Grunde genommen nur aus der Umkehrung der Buchstaben unseres Alphabets, oder in der Ersetzung einiger durch Ziffern besteht. Stat 5 nq facto zum Beispiel würde bedeuten: votre présence (Ihre Gegenwart).« (Lombroso 1887: 234) Die Präsenz, mit der hier gespielt wird, zeigt sich nicht nur in einer ›physiologischen‹ Räubersprache, sondern vor allem dort, wo mit dem druck5
Dass diese »Normalitätserwartung« kein Relikt der vorletzten Jahrhundertwende ist, zeigt ein Blick auf kognitionswissenschaftlich inspirierte Leseforschung. Siehe etwa Gross 1994: 22f: »Wie wirksam die beschriebenen Strategien sind, zeigt sich daran, daß sie nur in Ausnahmefällen zusammenbrechen. Eben das bedeutet ›automatisch‹: nicht vom Bewußtsein gesteuert, so daß kein Aufwand, keine Aufmerksamkeit für ihre erfolgreiche Anwendung notwendig ist. Lesestrategien, geistige Modelle und Erwartungen sind auf Wahrscheinlichkeiten berechnet: es sind heuristische, approximative, nicht mathematisch genaue Strategien, die davon ausgehen, was erfahrungsgemäß erwartbar und typisch ist. Sie beruhen auf einer Rationalität, die keine ideale Vollkommenheit anstrebt und gerade dadurch eine ›optimale Verwendung begrenzter Ressourcen‹ darstellt. […] Für nicht-literarische Texte sind diese Lesemechanismen – und die Verwandlung von Mehrdeutigkeit in Eindeutigkeit – angemessen. Der Ideal-Text in der Alltagskommunikation ist transparent und heteroreferentiell, das heißt, er bezieht sich in unproblematischer Weise auf Erfahrungen und Außenwelt. Alltagssprache und das Lesen von Informationstexten sind pragmatisch und kommunikationsorientiert: letztere sollen in der Regel verständlich sein, denn schließlich werden sie von LeserInnen auf Informationsgehalt und mögliche Handlungsziele hin gelesen. Deshalb ist es zweckmäßig, daß der gesamte Prozeß automatisch und unterhalb der Bewußtseinsschwelle abläuft und das Medium nicht als Ablenkung wirkt. Zwischen den Kommunikationspartnern wird dabei ein unausgesprochener ›Vertrag‹ geschlossen, der festlegt, daß Mitteilungen sinnvoll und relevant zu sein haben – und in dieser Absicht werden sie vom Mitteilenden angeboten, mit dieser Erwartung vom Rezipienten angenommen und entschlüsselt.« 160
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graphischen Erscheinungsbild oder der Klangqualität von Sprache gearbeitet wird. Lombroso berichtet von einem »gewisse[n] Jasnò«, der »unter andern beweisen« wollte, daß die verschiedenen Armglieder mit denen der Hand, die geführt wird, ein Ganzes bilden. Er sagt daher la main se mène (die Hand wird geführt) und kommt dann auf semène gleichklingend mit semaine (Woche) zu reden, weist auf die Woche hin, während welcher Gott die Welt erschuf und fährt fort, mit den gleichklingenden und gleichaussehenden Wörtern se mène, semaine, main (Hand) zu spielen. (Lombroso 1887: 234f)
Homophone Wörter werden miteinander verbunden, die Klangassoziation zur Stiftung von Zusammenhang genutzt. Verbindungen dieser Art, die in der rhetorischen Tradition zum Kanon rhetorischer Mittel gehörten,6 werden im Zuge assoziationspsychologischer Experimente als prekäre Schwundstufe des Sinns aufgefasst. Wie Friedrich A. Kittler gezeigt hat, stellt das Feld der Klangassoziationen um 1900 einen Schwerpunkt psychophysischer Experimente dar. Die Grenze zwischen Sinn und Unsinn erweist sich als instabil und wird im »Aufschreibesystem von 1900« medial erprobt.7 6
»Die traditionelle Rhetorik hatte in der Tat mehrere Figuren definiert, die den Signifikanten direkt ins Spiel bringen. So etwa die […] erwähnte Alliteration, eine phonematische Wiederholung, meist konsonantisch, mit in einem kurzen Segment angenäherten Intervallen; oder die Apophonie: dieselbe Definition, nur daß sie sich auf den Klang stützt (›Il pleure dans mon coeur comme il pleut sur la ville‹). An diesen Beispielen sieht man aber, daß die Figuren dieser Gattung gerade jene sind, die sich am schwierigsten der Metapher oder Metonymie zuschlagen lassen […]. Und tatsächlich war die Anbindung unmöglich, nicht aufgrund irgendeines sekundären oder verzögerten Hindernisses, sondern weil diese Figuren von vornherein indifferent gegenüber dem Referenten sind, während Metapher und Metonymie sich in bezug auf ihn definieren.« (Metz 2000: 223). 7 Siehe Kittler 1995: 259-333. Kittler zitiert u.a. Hermann Ebbinghaus’ Assoziationsexperimente, siehe: Ebbinghaus 1911: 677f: »Damit die Einprägung solcher Silben unter möglichst gleichen Bedingungen stattfinde, pflegt man den Versuchspersonen einzuschärfen, sich aller Erleichterungen des Lernens durch Gedächtnishilfen jeder Art zu enthalten, die Silben als bloße Buchstabenkombinationen aufzufassen und sie rein mechanisch […] auswendig zu lernen. […] Ohne daß sie sich Mühe geben oder es auch nur wollen, fliegen ihnen fortwährend von einzelnen Silben allerlei Nebenvorstellungen an. Es fällt ihnen dabei etwas ein, und zwar bunt durcheinander das Allerverschiedens161
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In seiner schon mehrfach erwähnten Studie zum Assoziationsverhalten Gesunder hebt C.G. Jung den mechanischen Charakter von Klangassoziationen hervor: Nach unserer Auffassung sind Klangassoziationen die primitivsten Ähnlichkeitsassoziationen, die nur wenig über dem bloßen Nachsprechen stehen. Sie sind seit der frühesten Jugend nicht mehr eingeübt, aber beim Sprechakt immer leise angeregt, drängen sie sich hervor, sobald irgendeine Störung die nächsthöheren Assoziationsstufen wegnimmt (Versprechen, Verhören). Sie sind wegen ihrer Unzweckmäßigkeit für den normalen Denkakt beständig verdrängt und existieren für gewöhnlich außerhalb des Bewußtseins. (Jung 1995a: 54)
Klangassoziationen gehören also ins Reich des Unbewussten, aus dem sie gelegentlich hervordrängen, um die gewohnte Sprachlogik zu stören. Sie sind Relikte des Spracherwerbs, kommen aus »der frühesten Jugend«, in der beim »Nachsprechen«, der Einübung ins Sprechen die lautliche Gestalt der Sprache im Vordergrund stand. Sie sind somit die sprachlichsten der sprachlichen Reaktionen, die Jung und Riklin in ihren Experimenten abtasten. Ihr Wiederauftreten ist erklärlich nur durch »Störung[en]«, die wie jene Phänomene einer Psychopathologie des Alltagslebens (siehe den Abschnitt »Verräterische Assoziationen«) nicht nur ›unzweckmäßig‹ sind, sondern auch »den normalen Denkakt« irritieren. Im Gegensatz zu Freuds Auffassung (vgl. Freud 1999b, Freud 1999d) wird hier der Klangqualität der Worte keine Erkenntnis fördernde Kraft zugesprochen. Wer sich in Wortwitzen ergeht, die Koinzidenz von Gleichklängen zum sinnstiftenden Merkmal erhebt, übergeht deren »Unzweckmäßigkeit für den normalen Denkakt« oder fällt – wie Nordau betont – schlicht auf einen »witzelnden
te: ein Gleichklang von Silben, Beziehungen von Buchstaben zueinander, ähnlich lautende sinnvolle Worte oder Namen von Personen, Tieren u.a., Bedeutungen in einer fremden Sprache usw. […] So wird z.B. pek zu Peking ergänzt, kin zu Kind; sep erinnert an Josef, neis an das englische nice, schuk an das französische choucroute. […] Die Silben faak neit weckten z.B. bei einer Versuchsperson die Vorstellung Fahrenheit, jas dum bei einer anderen (durch Vermittlung des französischen jaser) die Vorstellung dummes Geschwätz; die Silbenfolge dosch päm feur lot wurde einmal zu dem Sätzchen verbunden: das Brot Feuer löscht.« 162
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Schwachsinnigen« herein.8 Sinnlosigkeit und die Mechanik des Spracherwerbs sind hier aufs engste verbunden. Der ›Nachäffer‹ wird zum Papagei, wie Nordau mit Blick auf eine Studie von Dugas herausstreicht: »In dieser guten Studie beschäftigt sich der Verfasser ausführlich mit der Erscheinung, daß die meisten Menschen die gehörten Worte nur wie Papageien (Psittacus, daher ›Psittacismus‹) mechanisch nachsprechen, ohne jedoch mit dem Laut oder Buchstabenbilde eine bestimmte Vorstellung zu verbinden.« (Nordau 1896: 124) Doch die sinnfreie Verknüpfung von Buchstaben, das rein mechanische Nachsprechen von Lauten hat seine Tücken. Wie Kittler mit Ebbinghaus zeigt, ist es unmöglich, Unsinn mit Unsinn zu beantworten; zwangsläufig wird Sinn aus ihm produziert. Allerlei »Nebenvorstellungen« heften sich an die Unsinnssilben, die den Probanden zugerufen werden, und setzen somit ein Vermögen ein, dass nach Freud insbesondere die Traumarbeit kennzeichnet: die Fähigkeit zu Verdichtung und Verschiebung wird hier unter umgekehrten Vorzeichen eingeführt. Anders formuliert: Primär- und Sekundärprozess heften sich an die Lautkombinationen. Doch diese Untersuchungen experimenteller Art sind nicht nur für Hofmannsthal und Nietzsche verstörend.9 Die buchstäbliche Dimension der Schrift erweist sich auch für diejenigen, die sich eingehender mit ihr befassen, als Schwindel erregend. Lombroso er8
Nordau 1896: 120: »Der Unkundige ist geneigt, den reimenden und wortspielenden Schwachsinnigen witzig zu nennen, und er bedenkt nicht, daß diese Art des Verknüpfens der Vorstellungen nach dem Klange der Worte den Zweck des Denkens vereitelt, da sie die Erkenntnis des wirklichen Zusammenhanges der Erscheinungen nicht fördert, sondern von ihr entfernt. Keine Witzelei hat jemals die Entdeckung einer Wahrheit erleichtert und wer einmal den Versuch gemacht hat, mit einem witzelnden Schwachsinnigen ein ernstes Gespräch zu führen, der wird die Unmöglichkeit erkannt haben, ihn bei der Stange zu halten, von ihm einen folgerichtigen Schluß zu erlangen, ihm eine Thatsache oder ein Causalverhältnis begreiflich zu machen.« 9 Siehe Kittler 1995: 274f: »Aphasie, Alexie, Agraphie, Agnosie, Asymbolie – in dieser langen Liste von Ausfällen wird das Rauschen vor jedem Diskurs Thema und Methode zugleich. Die bei Versuchspersonen konstatierten Sprachzersetzungsprodukte sind genausogut als Vorgaben der Versuchsleitung verwendbar. Was Nietzsche entsetzt und Chandos als wundersame Fremde entdeckt, kann auch gesendet werden. So weit gehen im Aufschreibesystem von 1900 die diskursiven Handgreiflichkeiten.« 163
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wähnt den Fall eines Psychiaters, der selbst in den Sog der Anagramme gezogen wird: Hier ist auch der Ort, von Hecart zu reden, welcher gesagt, daß der Irrsinnige nur unnütze Dinge unternimmt, und die Lebensbeschreibung der zu Valenciennes befindlichen Irrsinnigen schrieb. Derselbe verfaßte auch ein Buch, welches den Titel Anagrammena, Gedicht in sieben Gesängen führt. Auf dem Titelblatte erscheinen schon bei der ersten Ausgabe die Worte: XCVe édition revue, corrigé et augmentée. A Anagrammatopolis l’an XIV de l’ère anagrammatique (fünfundneunzigste durchgesehene, vermehrte Auflage. Anagrammatopolis im fünfzehnten Jahre der anagrammatischen Ära). (Lombroso 1887: 234f)
Der Schluss, dass der Impuls zu einem Werk der »anagrammatischen Ära« just aus der Beschäftigung mit den Biographien »der zu Valenciennes befindlichen Irrsingen« entsprungen sei, wird zwar nicht gezogen, doch nahe gelegt. Die psychopathologische Bewertung Hecarts kann dabei auch auf dessen eigene, »am Rande eines Exemplars der Anagrammena« notierte Anmerkung verweisen: »›Das Anagramm ist eine der größten Schwächen des Menschengeistes; wer daran Vergnügen findet, muß verrückt sein, und noch schlimmer muß es mit demjenigen aussehen, der sich hinreißen läßt, Anagramme zu schreiben.‹« So lautet denn auch Lombrosos lakonischer Kommentar: »Er schrieb seine eigene Diagnosis.« (Lombroso 1887: 235f) Im »Vergnügen« am Anagramm lauert ein Deutungswahn, vor dem man sich nur mit Hilfe einer Diätetik des Lesens (und im Falle Hecarts: des Schreibens) wappnen kann. Lust und Gefahren der anagrammatischen Neugier hatte um 1900 auch Ferdinand de Saussure erlebt. Als er sich beim Studium antiker Texte mit der Suche nach Gesetzmäßigkeiten der Metrik des Saturniers zuwendet, kann er sich nicht lange bei den Überlegungen aufhalten, die die vorwiegende Funktion entweder des Akzentes oder der Quantität betreffen. Er sucht überdies andere Regeln – und diejenigen, die ihm erscheinen, waren im strengen Sinne Regeln des InsWerk-Setzens, der Umverteilung eines anfänglichen Materials. Zunächst entdeckte er das Gesetz der »Paarbildung«, nach welchem in jedem Vers der Gebrauch jedes Vokals und jedes Konsonanten, die ein erstes Mal aufgetaucht sind, verdoppelt wird. Die Alliteration hört auf, ein zufälliges
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Echo zu sein; sie beruht auf einer bewußten und berechneten Verdopplung. (Starobinski 1980: 14)
Was Saussure in umfangreichen Notizen und einzelnen Briefen dokumentiert, ist die Suche nach einem Strukturmuster, welches zu erklären vermag, wie es im Saturnier zu einer signifikanten Häufung von Alliterationen kommt. Eine ›zufällige‹ Beobachtung wird zum Motor ausgedehnter Untersuchungen, in deren Verlauf Saussure versucht, Ordnung ins Chaos der Klangähnlichkeiten zu bringen, Gesetze zu formulieren und zu modifizieren, die aus einer zufälligen Begegnung von Lauten eine höchst artifizielle Anordnung machen.10 Dabei ist für Saussure der artifizielle Charakter der Anagramme höchst bedeutsam, sind sie doch in seinen Augen nicht »ein zufälliges Echo«, sondern Ergebnis einer, wenngleich nicht belegbaren, Intention der antiken Autoren: Sowohl das traditionelle wie das argotische Anagramm sind in ihrer Entstehungsphase als bewußte Konstruktionen eines Individuums (oder einer Gruppe) anzusehen […]. Dieser gewollte Charakter gilt auch für Saussures Anagramm. Obwohl er die Technik der Anagrammatisierung bei keinem Theoretiker nachweisen kann, obwohl sich bei keinem Dichter ein Hinweis in dieser Richtung findet, steht für ihn fest, daß es sich um eine bewußte Technik, einen gewollten Effekt handeln muß; so spricht er hinsichtlich der Anagramme bei Vergil von einer »intention poétique« […]. Nur ein in seiner Entstehungsphase gewolltes Anagramm ist also für Saussure ein wirkliches Anagramm; sollte sich erweisen, daß diese Effekte nicht gesucht sind, sondern zufällig entstehen, würde er auf seine Theorie verzichten. (Wunderli 1972: 14f)
Und genau dieser, sich im Laufe der Studien einschleichende Verdacht ist es auch, der Saussure dazu bewegen wird, seine Analysen der Anagramme zu beenden.11 Dabei ist es gerade nicht sein Insis10 Johannes Fehr hat am umfangreichsten Auszüge aus Saussures Ana– grammstudien publiziert und kommentiert. Siehe: Fehr 1997: 436-477 und im einleitenden Kommentar vor allem XI. Wer spricht?, 213-226. 11 Wiedergegeben bei Starobinski 1980: 124f: »Wie ich schon sagte, genügen diese Beispiele, obwohl sie aus einer großen Menge ausgewählt sind. Es gibt etwas Trügerisches in dem Problem, das sie stellen, denn die Anzahl der Beispiele kann nicht zur Verifizierung der Absicht dienen, welche die Angelegenheit beherrscht haben mag. Im Gegenteil, je beträchtlicher die Anzahl der Beispiele wird, desto mehr gibt es 165
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tieren darauf, dass die Untersuchung der anagrammatischen Struktur der Texte nur dann sinnvoll sei, wenn sie auf eine dahinter stehende Intention beziehbar ist, die ihn vor Deutungswahn schützt. Gerade die Unterstellung von Intentionalität findet sich auch in jenen klinischen Fällen wieder, die Sérieux und Capgras untersucht haben. In ihren Folies raisonnantes berichten sie ausführlich über den Fall der Madame X., der sich dadurch auszeichnet, dass die Patientin alle paratextuellen Markierungen und Wortgrenzen überschreitend feindliche Intentionen aufspürt.12 Was sich in der mehr oder weniger obsessiven Beobachtung von Anagrammen zeigt, ist der Charakterzug von Sprache und Schriftlichkeit, der sich den intentionalen Limitierungen entzieht. In der Druckbuchstäblichkeit der Schrift wird sinnfällig, dass Sprache sich in keiner Hinsicht abschließend kontrollieren lässt, dass sie sowohl als überindividuelles, geschichtlich entwickeltes Gebilde, als auch auf der Ebene der Materialität der Zeichen die Möglichkeiten des Sprechers übersteigt, Bedeutung zu limitieren und in der Intentionalität des Aussageaktes abschließend zu lokalisieren. Während die Anagramm-Studien für Derridas Sprachphilosophie ein wichtiger Anschlusspunkt sind,13 stellt die Fokussierung auf die Schriftlichkeit der Schrift für Lombroso ein Symptom der Graphomanie dar. Nordau, der Lombroso an Schärfe der Kritik weit übertrifft, ahndet in Mystizismus und Graphomanie die Produktion von Überschuss, der Grund für die Vorstellung, daß es ein natürliches Spiel der Chancen mit den 24 Buchstaben des Alphabets ist, welches diese Übereinstimmungen gleichsam regelmäßig produzieren muß.« 12 Sérieux/Capgras 1909: 21: »Mme X… étudie minutieusement les lettres qu’elle reçoit. Les signes de ponctation, les fautes d’ortho– graphe donnent lieu à de nombreuses interprétations. Son frère lui écrit: ›nous désirons ta guérison‹. Elle fait remarquer que le point terminal est d’une grosseur inusitée: il faut donc lire: ›nous ne désirons point ta guérison‹.« Und auf 23f: »Un journal, qu’elle lit et commente avec attention, est au courant de son affaire et publie chaque jour des notes destinées à faire chanter ses ennemis. Par exemple, on lit dans une colonne la phrase : ›un scandale vient d’éclater‹ ; à la colonne suivante, dans un autre article : ›nous le savons et nous le ferons connaître‹. C’est une allusion à son affaire qu’elle compare d’ailleurs à l’affaire Dreyfus […]. […] Une lettre de sa mère se termine par les mots : ›Pour le moment‹ suivies de la formule : ›Je t’embrasse‹. Ce qui donne : ›Je mens‹ et signifie que sa mère a menti tout au long de la lettre.« 13 Derrida 1976. Kritisch dagegen Abrams 1988: 268f. 166
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sich parasitär an die Gedanken heftet. In beiden Phänomenen wird etwas sichtbar, dass im Sinne einer Polizeiordnung des gesitteten Denkens unsichtbar bleiben muss. Anders formuliert: Nordaus totalitärer Anspruch gestattet nicht, dass »etwas draußen ist«,14 was die Souveränität des Sprechers infrage stellen könnte.
14 Siehe Horkheimer/Adorno 1988: 22: »Aufklärung ist die radikal gewordene, mythische Angst. Die reine Immanenz des Positivismus, ihr letztes Produkt, ist nichts anderes als ein gleichsam universales Tabu. Es darf überhaupt nichts mehr draußen sein, weil die bloße Vorstellung des Draußen Quelle der Angst ist.« Siehe auch Schulte 1997: 213. 167
6 I C H -S U C H T
Ich habe hier von mir selbst gesprochen, eigentlich zum erstenmal in meinem Leben. Ein wissenschaftlich denkender Mensch spricht lieber von sachlichen Problemen. Ein geschichtlich beobachtender Forscher sieht sich selbst im Rahmen und in den Wellen geschichtlicher Kräfte und Mächte, in Kirche, Staat, Partei, Klasse, Beruf und Generation. Ein Jurist, der sich selbst und viele andere zur Objektivität erzogen hat, geht psychologischen Selbstbespiegelungen aus dem Wege. Die Neigung zu literarischen Beichten und Bekenntnissen ist mir durch häßliche Beispiele wie Jean Jacques Rousseau und den armen August Strindberg verleidet. (Schmitt 1950: 76)
Der Irritation, die von der anderen Seite des Zeichens und ganz allgemein vom Außen ausgeht, stellt Nordau immer wieder eine allgemeinverbindliche Norm gegenüber, die er mit Gesundheit gleichsetzt. Wie anhand seines Versuches, die »wilden Horden« der Ideenassoziationen durch Aufmerksamkeit und Willenskraft zu bändigen, spiegelt sich die gesunde Norm der Verknüpfung nicht einfach in der Befolgung der Assoziationsgesetze, sondern verweist auf eine exekutive Instanz, die ›Ordnung in das Chaos‹ bringt. Dass diese Ordnung fragiler zu sein scheint, als Nordau lieb ist, zeigt nicht nur die Metaphorik der Ansteckung, die seinen Text an zentralen Stellen steuert, sondern auch die Notwendigkeit, eine ›Polizei des gesitteten Denkens‹ zu installieren, die über die Einhaltung der hygienischen Maßnahmen wacht. Worauf also kann sich der normative Charakter des Denkens und Deutens berufen, auf den jene Maßnahmen zielen? Wie wird das kollektive Moment von Nordau eingeführt? Und: Wirft die Frage nach der Norm nicht ganz zwangsläufig auch Fragen nach dem Verhältnis von Ich und Du, Du und Wir, Ich und Wir – kurz: nach einer Ethik auf? 169
RHETORIK DER ENTARTUNG
Die pathologisierende Rhetorik Nordaus lässt keinen Raum für eine (etwa kulturvergleichende) Relativierung ethischer Prämissen. ›Sittenlosigkeit‹ und die Abkehr vom Common sense werden als Krankheitsmerkmale der Entartung gelesen, die sich in Texten und Körpern manifestieren. Auf welche Weise er sich den Zusammenhang von Biologie und Ethik denkt, führt Nordau vor allem im dritten Teil von Entartung vor, der den Titel »Ich-Sucht« trägt. Auf über dreihundertfünfzig Seiten verhandelt er neben einer einführenden »Psychologie der Ich-Sucht« moderne Positionen und Kunstrichtungen wie die der »Parnassier und Diaboliker«, der »Decadenten und Aestheten«, von Ibsen und Nietzsche. Ich-Sucht, so bemerkt er einleitend, stelle neben dem Mystizismus die zweite Unterform der Entartung dar (Nordau 1893: 6f). Nordau zitiert Seitenweise etwa aus den Gedichten Baudelaires und Huysmans, um deren Vorliebe für das Ekelhafte und Sittenlose vorzuführen. Die Kapitel, in denen er von den »Parnassiern« bis zu Nietzsche1 die Ich-Sucht verhandelt, sind überhaupt gekennzeichnet von einer wahren Flut von Zitaten, die, wenn überhaupt, dann nur kurz kommentiert werden. Auf eine etwas ausführlichere Analyse der Ich-Sucht, die Nordau anhand eines Textes durchführt, möchte ich im Folgenden näher eingehen. Sie findet sich in seiner Kritik von Catulle Mendés’ Gedicht Récapitulation (Wiederholung). Mendés wird als »Anbeter des Wortes« verhandelt (Nordau 1893: 45). Nordau zitiert zunächst: »Rose, Emmeline, Margueridette, Odette, Alix, Aline. Paule, Hippolyte, Lucy, Lucile, Cécile, Daphne, Mélite. Artémidore, Myrrha, Myrrhine, Périne, Nais, Endore.« 1
Zu Nordaus Auseinandersetzung mit Nietzsche siehe Aschheim 1996 und Aschheim 1993. 170
ICH-SUCHT
Um sogleich zu kommentieren: So folgen elf weitere Strophen von ganz derselben Mache, deren Anführung ich mir natürlich erspare, und dann diese Schlußstrophe: »Zulma, Zélie, Régine, Reine, Irène! … Et j‹en oublie.« »Und ich vergesse noch welche.« Das ist die einzige von den sechzig Zeilen des »Gedichtes«, die einen Sinn hat, während die übrigen 59 blos aus Frauennamen bestehen. (Nordau 1893: 46f)
Dieses Votum überrascht, denkt man etwa an Nordaus Begeisterung für Uhlands Gedicht Frühlingstag, das doch ebenfalls im Wesentlichen aus einer Liste von Wörtern in Versform bestand (siehe Teil 3, Polizeiordnung). Auch im Falle Mendés’ fällt Nordau die Interpretation der Verse nicht eben schwer: Was Catulle Mendés beabsichtigt, ist ja klar genug. Er will den Geisteszustand eines Lüstlings zeigen, der in der Erinnerung an alle die Frauen schwelgt, die er geliebt oder mit denen er geliebelt hat. Die Aufzählung ihrer Namen soll im Leser üppige Vorstellungen einer Schaar von Mädchen, die der Lust dienen, Bilder eines Harems oder des Mahomedschen Paradieses erwecken. Aber abgesehen von der Länge des Verzeichnisses, die dieses unausstehlich langweilig und erkältend macht, erreicht Mendés die beabsichtigte Wirkung auch aus einem zweiten Grunde nicht: weil er durch seine Künstelei dem ersten Blick die tiefe Unwahrheit seiner angeblichen Regung verräth. Wenn vor dem innern Auge des Frauenknechts die Gestalten der Gefährtinnen seiner Schäferstunden aufsteigen und er wirklich den Drang empfindet ihre Namen zärtlich vor sich hin zu murmeln, dann denkt er gewiß nicht daran, diese Namen auch noch zu Wortspielen zu ordnen (»Alix-Aline«, »Lucy-Lucile«, »Myrrha-Myrrhine« u.s.w.). Ist er kaltblütig genug, diese trockene Schreibtisch-Arbeit zu machen, so kann er sich unmöglich in der geilen Verzückung befinden, welche das »Gedicht« ausdrücken und dem Leser mittheilen soll. Diese Emotion, so unsittlich und gemein, weil prahlerisch, sie auch ist, hätte wie jede echte Erregung allenfalls ein Recht, lyrisch ausgedrückt zu werden. Eine ausgeklügelte, nach dem Gleichklange geordnete Liste von bedeutungslosen Namen dagegen heißt gar nichts. (Nordau 1893: 46f)
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Die Wirkungsabsicht, die Nordau Mendés unterstellt, ist so wirkungslos nicht, wie er behauptet. Trotz Langeweile evoziert die bloße Aneinanderreihung von Frauennamen recht konkrete Assoziationen beim Leser Nordau, zumal von einem »Harem« oder dem »Mahomedschen Paradiese« in den zitierten Passagen keine Rede ist. Der Titel des Gedichtes, Récapitulation, führt nicht nur auf die Fährte einer zusammenfassenden Wiederholung all jener Frauen eines »Lüstlings«, »die er geliebt oder mit denen er geliebelt hat«. Er verweist ebenso auf das formale Strukturprinzip der Reihung, das sich durch die wiederholenden Klangähnlichkeiten der Namen selbst auszeichnet.
Wi ed er ho lu n g / E c ho l a l i e In der anstößigen Wiederholung zeigt sich ein Mechanismus, der paradoxer Weise nicht Fülle, sondern Leere demonstriert.2 Mit Blick auf Wagner heißt es bei Nordau: Schon dieses rastlose Wiederholen einer und derselben Gedankenfolge ist in hohem Grade bezeichnend. Der klare, geistig gesunde Schriftsteller, der sich gedrängt fühlt, etwas zu sagen, wird sich einmal so deutlich und eindringlich, wie es ihm möglich ist, aussprechen und sich damit genug gethan haben. Er mag vielleicht auf den Gegenstand zurückkommen, um Mißverständnisse aufzuklären, Angriffe zurückzuweisen und Lücken zu ergänzen, aber er wird niemals sein Buch ganz oder theilweise mit wenig verschiedenen Worten ein zweites oder drittes Mal schreiben wollen […]. (Nordau 1896: 309)
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Die Leere der Wiederholung verweist auf die Wertigkeiten der Genieästhetik zurück: »Es gibt in jedem gesitteten Volk mit entwickelter Kunst und Literatur zahlreiche Geisteseunuchen, die zwar nicht fähig sind, aus eigener Kraft eine lebende Geistesthat hervorzubringen, die aber ganz gut die Gesten des Schaffens nachzuahmen vermögen. Diese Krüppel bilden leider die große Mehrheit der berufsmäßigen Schriftsteller und Künstler und ihre ungezieferhaft wimmelnde Menge erdrückt oft genug das wahre, ursprüngliche Talent.« (Nordau 1896: 59) Ein zentraler historischer Referenztext, in dem die Unterscheidung zwischen wahrem Talent und bloßer Nachahmung eingeführt wurde, ist Young 1977. 172
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Kommunikation von Sinn findet demnach als einmaliger Akt statt, während Wiederholung »derselben Gedankenfolge« mit Rastlosigund Zwanghaftigkeit verbunden scheint. So wie Mendés Frauennamen »gar nichts [heißen]«, leer, bedeutungslos bleiben, zeichnet sich das Produkt des »klare[n], geistig gesunde[n] Schriftsteller[s]« durch eine singuläre Präsenz aus. Die Differenzen von Fülle und Leere, von Sinn und Echolalie, von Referenz und Referenzlosigkeit sind hier relevant. Diese Differenzen spielen bezeichnender Weise auch in der Literaturwissenschaft eine zentrale Rolle für das Selbstverständnis des literaturwissenschaftlichen Kommentars und hat sich insbesondere in der Diskussion um die Verfahrensweisen der Dekonstruktion zu einem wichtigen Streitpunkt entwickelt. Im Wesentlichen geht es um die Frage, in welcher Weise Leser und Text miteinander in Beziehung zu setzen sind, um die Frage nach einer Ethik des Lesens. Wiederholung ist ein Schlüsselbegriff für die Frage, wie eine Lektüre ihren Fremdbezug organisiert. Dabei ist die Problematik der Wiederholung durchaus nicht neu: Der hermeneutische Zirkel, jenes Grunddispositiv des Verstehens spätestens seit Schleiermacher, beruht, wie Friedrich A. Kittler gezeigt hat, auf Wiederholung: Wer einfach und einmal einer Folge von Lettern folgt, hat noch kein Verstehen, sondern nur Voraussetzungen des Verstehens erlangt. Nur wer seine vergeßliche Lektüre so gut es geht behält und wiederholt, wird in den Geheimbund ›Wissenschaft‹ aufgenommen. Ein Buch verstehen heißt demnach: es mindestens zweimal gelesen haben, das erstemal in ›kursorischer Lesung‹ aufs Ganze hin, die anderen Male vom Ganzen auf die einzelnen Teile hin. (Kittler 1979: 205)
Dass diese Hierarchisierung des Lesehabitus eine Nachwirkung der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts ist, hat Georg Stanitzek in seinem Artikel »0/1«, »einmal/zweimal« – der Kanon in der Kommunikation gezeigt. Wie er darlegt, macht gelehrte Kommunikation durch eine Reglementierung von Lektüreprozessen den Versuch, wilde Semiose und andere Effekte von Autodidaktentum einzudämmen und somit das Geschäft der Interpretation vor zufälligen Einfällen und Beliebigkeit der Deutungen zu schützen (Stanitzek 1992: 115). Dabei löst sich jene Doppelbewegung auf, die einerseits eine Entgegensetzung von Texttypen liefert und andererseits eine
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Differenzierung von Lesehaltungen meint. Während die Faustregel adäquater Literaturaneignung lautet: Lese einmal kursorisch und ein zweites Mal statarisch,3 so lautet die tautologisch anmutende Konsequenz für die Textwertung: ein Text, der kanonisch ist, ist es wert, zweimal gelesen zu werden (Stanitzek 1992: 122). Diese Parameter dominieren nach wie vor die literaturwissenschaftliche Deutungspraxis. Wenn Roland Barthes darauf insistiert, dass man zwischen einem konsumierenden Lesen und einem kritischen Lesen differenzieren muss, geht es um nichts weniger als das kritische Potential der Literaturwissenschaft. Barthes folgt letztlich der klassischen hermeneutischen Faustregel, dass eine einmalige Lektüre den Leser lediglich auf seine eigenen Vorurteile zurückwirft, während die mehrmalige Lektüre eines Textes nicht nur den professionellen Status des Lesens sichert, sondern auch die kritischen Potentiale des Lesers aktiviert. Eine wiederholte Lektüre – eine Operation, die den kommerziellen und ideologischen Gewohnheiten unserer Gesellschaft zuwiderläuft, die es gerade nahelegt, die Geschichte »wegzuwerfen«, sobald sie konsumiert (»verschlungen«) worden ist, damit man dann zu einer anderen Geschichte greifen, ein anderes Buch kaufen könne, und die nur bei bestimmten Randgruppen von Lesern toleriert wird (Kinder, Greise und Lehrer), wird hier gleich zu Beginn vorgeschlagen, denn sie allein bewahrt den Text vor der Wiederholung (wer es vernachlässigt, wiederholt zu lesen, ergibt sich dem Zwang, überall die gleiche Geschichte zu lesen), vervielfältigt ihn in seiner Verschiedenheit und in seinem Pluralen […]. (Barthes 1987: 20)
Und in ihrer kritischen Lektüre von Barthes greift Barbara Johnson diese Formulierung wieder auf, wenn sie davon spricht, dass man »[…] die Literaturwissenschaft überhaupt als Kunst des Wiederlesens bezeichnen [könnte].« Die Unterscheidung von einmaliger Lektüre als unkritischer, subjektiv-beliebiger (in welcher man nur sieht was »schon in uns, nicht in ihm ist« – »Lesen wir einen Text 3
Stanitzek 1992: 126: »Der Kanon ist das Gedächtnis der Literatur. Es hat seinen ›Ort‹ im Topos der wiederholten Lektüre, der in der Kommunikation realisiert wird als Applikation des Arguments, ein Text sei einmal (das heißt soviel wie keinmal) oder zweimal zu lesen. Der nicht an der Kanonkommunikation beteiligte ›Einmal Leser‹ wiederholt (sich), ohne daß die Wiederholung einem Gedächtnis dienstbar gemacht würde; er liest immer wieder neue Texte und Autoren, ohne daß diese wirklich Neues böten.« 174
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nur einmal, können wir in ihm nur das sehen, was wir bereits zuvor zu sehen gelernt haben«) und wiederholter = kritischer Lektüre wird von ihr bestätigt (»während die erneute Lektüre des Gleichen das hervorbringt, was Barthes ›die Differenz des Textes‹ nennt«) (Johnson 1996: 142f). In der Betonung des Differenz bildenden Aspekts der Wiederholung verweist Johnson dabei auf das DifferanceKonzept von Jacques Derrida, in welchem eine prozessierende Wiederholung zum Ausgangspunkt der dekonstruktiven Kritik wird. Derrida hat in seiner Lesart der Sprechakttheorie gerade die Wiederholbarkeit von Aussagen zum Ausgangspunkt dafür genommen, die Konzeption der Intentionalität von Austin und Searle zu kritisieren. Nicht die Intentionen der Sprecher sichern das Gelingen eines Sprechaktes, sondern der Schriftcharakter der Sprache, der diese wiederholbar macht. Das Signieren eines Textes durch seinen Autor ist zwar ein sprachlicher Akt, doch die Tragweite dieses Aktes ist fraglich. Sie kann eine Begrenzung der textuellen Kontexte weder genuin hervorbringen noch abschließend sichern (Derrida 1993: 76-113; Derrida 1976). Der Akt der Aussage ist in diesem Sinne nicht zu verwechseln mit dem Ursprung der Aussage. Dem Aussagenden entzieht sich zum einen der Ursprung der sprachlichen Handlung, wie sich seinem Bewusstsein die unbewussten Anteile seines Sprechens entziehen. Somit können weder die (bewussten) Intentionen der Sprecher, noch der Aussagevorgang selbst als eindeutige Limitierung der Signifikation dienen. Oder, wie Culler die Kontroverse zusammenfasst: Es geht nicht darum zu leugnen, daß Unterzeichner Intentionen haben, sondern darum, diese Intentionen zu situieren. Man könnte das zum Beispiel tun, indem man das Unbewußte, wie Vincent Descombes dargelegt hat, »nicht als ein Phänomen des Willens, sondern als ein Phänomen des Aussagevorgangs (énonciation) ansieht« […]. Die These vom Unbewußten »ist nur sinnvoll in bezug auf das Subjekt des Aussagevorgangs: es weiß nicht, was es sagt« […]. Das Unbewußte ist die Weise, in der das, was man sagt, das, was man weiß, bzw. das, was man sagt, das, was man sagen will, überschreitet. Entweder besteht die Intention des Sprechers in dem im Moment der Äußerung dem Bewußtsein präsenten Inhalt, dann ist sie variabel und unvollständig und für die illokutionäre Rolle der Äußerung nicht verantwortlich; oder sie ist zugleich umfassend und gespalten – zugleich bewußt und unbewußt –, eine strukturale Intentionalität, die niemals irgendwo präsent ist und die Implikationen hat, die mir niemals, wie man so sagt, in den Sinn kamen. Eine solche Intention, die von dem, 175
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was Derrida eine wesentliche Spaltung oder Teilung nennt, gezeichnet ist, ist im Grunde der Normalfall. […] Meine Intention ist die Summe nachträglicher Erklärungen, die ich vielleicht abgebe, wenn ich über irgendeinen Punkt befragt werde, und somit weniger der Ursprung, sondern ein Produkt, weniger ein abgegrenzter Inhalt als vielmehr eine offene Menge diskursiver Möglichkeiten, die mit den Wirkungen iterierbarer Akte und den Kontexten, die bestimmte Fragen über die Akte ermöglichen, in Zusammenhang stehen. (Culler 1999: 141f)
Es geht um eine Differenz innerhalb der Intentionen und die Frage nach der Präsenz. Dass hier die Rede auf Enunziation kommt, ist keinesfalls zufällig. Doch, »was ist die Enunziation überhaupt?« (Metz 1997: 11). In der Definition, die Christian Metz für den Film vorlegt, ist Enunziation – verkürzt gesagt – der Punkt des Zusammentreffens von Produktion und Produkt im ›Text‹ selber. »Die Enunziation ist der semiologische Akt, durch den bestimmte Teile eines Textes uns diesen als Akt erscheinen lassen.«4 In den Worten Cullers: sie ist eine strukturale Intentionalität, sozusagen der Widerhall jener produzierenden Intention im Produkt. Einmal im Reich von Sprache und Schriftlichkeit angelangt, geht der Aussageakt über in die »offene Menge diskursiver Möglichkeiten«, wird wiederholbar und lässt sich in eine offene Menge von Kontexten einreihen. Kritikern der Dekonstruktion wie M.H. Abrams erscheint jedoch gerade dieser offene Prozess der Wiederholungen und Signifikationen als Kennzeichen einer leeren Echolalie: »For Derrida’s chamber of texts is a sealed echo-chamber in which meanings are reduced to a ceaseless echolalia, a vertical and lateral reverbation from sign of ghostly non-presences emanating from no voice, intended by no one, referring to nothing, bombinating in a void.« (Abrams 1988: 270) Die Auflösung einer stabilen Referenz, die Abrams als Stimme und Intention eines Sprechers denkt, evoziert ein Unbehagen: Übrig zu bleiben scheint eine geisterhafte Leere, ein Nichts, eine endlose Echolalie von Lauten und Bedeutungen. Die Idee, dass Sprache 4
Metz 1997: 11. Dort auch die sehr schöne metaphorische Umschreibung: »Sie ist nicht immer und notwendigerweise ein ›ICH-HIERJETZT‹, sondern ganz allgemein die Fähigkeit vieler Enunziate, sich stellenweise zu fälteln, hier und da als Relief zu erscheinen, sich kleine Häutchen abzuschuppen, in die einige Indikationen einer anderen Natur […] eingraviert sind und die sich auf die Produktion und nicht auf das Produkt beziehen bzw. die – wenn wir es so formulieren wollen – in das Produkt von der anderen Seite hineingewoben sind.« 176
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durch eine konstitutive Wiederholbarkeit charakterisiert ist, konfligiert nicht nur mit ›klassischen‹ Positionen der Literaturwissenschaft, die im literarischen Werk diese Stimme ihres Autors aufzusuchen bestrebt sind, sondern auch mit jenen traditionellen sprachpsychologischen Auffassungen, die auf Präsenz setzen und eine wortwörtliche Wiederholung mit ›niederen‹ Sprachfunktionen verbinden. Ein Beispiel hierfür ist Stranskys Versuchsreihe zum Assoziationsverhalten unter Suspension von Aufmerksamkeit, welche C.G. Jung wie folgt referiert: STRANSKY untersuchte nun, wie fortlaufende sprachliche Assoziationsreihen unter dem Einfluß der Aufmerksamkeitsentspannung ausfallen. Seine Versuchspersonen mußten je eine Minute lang in einen Phonographen »drauflos«-reden, was und wie es ihnen gerade einfiel. Dabei durften sie ihre Aufmerksamkeit dem Gesprochenen nicht zuwenden. Als Ausgangspunkt wurde ein Reizwort gegeben. (In der Hälfte der Versuche wurde auch eine äußere Ablenkung gemacht.) Diese Versuche förderten interessante Resultate zutage: Die Wort- und Satzfolgen erinnerten sofort an die Reden (und auch die Schriftstücke) der Dementia praecox! Eine bestimmte Richtung des Redens war durch die Versuchsanordnung ausgeschlossen, das Reizwort wirkte höchstens eine Zeitlang als mehr oder weniger unbestimmtes »Thema«. Oberflächliche Bindungselemente traten auffallend stark hervor (dem entspricht der Zerfall logischer Zusammenhänge), massenhafte Perseverationen traten auf (beziehungsweise Wiederholungen des vorangegangenen Wortes, was ungefähr dem Wiederholen des Reizwortes unserer Versuche entspricht), ferner finden sich zahlreiche Kontaminationen, und im engsten Zusammenhange damit Neologismen, Wortneubildungen. (Jung 1995c: 24f)
Friedrich A. Kittler, den die medialen Implikationen solcher Experimentalreihen interessierten, hat den Konnex zwischen moderner, literarischer Schreibpraxis und jenen Forschungen, die eine Aufhebung derjenigen Obervorstellungen anstreben (siehe auch Teil 3, Polizeiordnung), die die Aufmerksamkeit steuern, betont. »Écriture automatique generiert Sätze wie ›Rose is a rose is a rose‹. Stranskys Phonograph speichert die Wortfolge ›Hoffnung, grüner Glaube, grün, grün, grün, grün ist ein Smaragd, ein Smaragd ist grün, ein Saphir ist grün, ein – ein Saphir ist grün, grün ist, das ist nicht richtig‹ usw.« (Kittler 1995: 301) Die Freiheit der Assoziationen produziert eine Kette von Wiederholungen, sie erzeugt eine »ceaseless echolalia, a vertical and lateral reverbation« (Abrams 1988: 270). 177
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Dass solche Verkettungen, die durch das ungehemmte und nicht durch die Zensur der Aufmerksamkeit selektierte ›freie Assoziieren‹ wahre »Originalschriftsteller« hervorbringt, hat schon Fritz Wittels in seiner Freud Biographie notiert. Ich war lange Zeit der Meinung, daß die Verwendung der freien Assoziationen Freuds Eigenstes sei, und bin es eigentlich noch heute. 1920 verwies ein Budapester Herr auf einen Aufsatz von Ludwig Börne, betitelt: ›Die Kunst, in drei Tagen ein Originalschriftsteller zu werden.‹ Der Aufsatz schließt: ›Nehmt einige Bogen Papier und schreibt drei Tage hintereinander ohne Falsch und Heuchelei alles nieder, was euch durch den Kopf geht. Schreibt, was ihr denkt von euch selbst, von eueren Weibern, von dem Türkenkrieg, von Goethe, … vom jüngsten Gericht, von eueren Vorgesetzten – und nach Verlauf der drei Tage werdet ihr vor Verwunderung was ihr für neue Gedanken gehabt, ganz außer euch kommen.‹ (Wittels 1924: 75f)
Derartige Regieanweisungen verbieten sich für eine an der Psychopathologie ausgerichtete Perspektive, wie Nordau sie vertritt. Dass die Bedeutungslosigkeit der mechanisch in den Phonographen geplapperten oder nach dem Modell der Écriture automatique notierten Assoziationsreihen zu einer Bedeutung zweiter Ordnung erhoben wird, wird für ihn zum Skandal. Nur »Idioten« wiederholen sich: »›Die Idioten,‹ sagt er [Paul Auguste Sollier], ›schieben Worte ein, die gar keinen Zusammenhang mit dem Gegenstande haben.‹ Und weiterhin: ›Beim Idioten wird das Wiederholen‹ (la rabâchage) ›zu einem wahren Tic.‹« (Nordau 1896: 168) Dabei, so George Bernhard Shaw in seiner polemisierenden Replik auf Nordaus Entartung, ist Nordaus Text selbst wiederum von schier endlosen Wiederholungen gekennzeichnet: »Wenn Sie ein Beispiel für Echolalie brauchen, können Sie ein treffenderes finden als diesen Herrn«5? 5
»[…] warum sollte ich nicht Herrn Nordau selbst auffordern vorzutreten und uns offen zu sagen, ob er, selbst in den Aufzählungen seiner ›Psychiatristen‹ und Irrenärzte, einen Verrückten ausfindig machen könne, der hoffnungsloser als er selbst von einer einzigen Idee besessen wäre. Wenn Sie ein Beispiel für Echolalie brauchen, können Sie ein treffenderes finden als diesen Herrn, der wenn Sie ›manie‹ sagen, sofort herunterzuleiern beginnt: Egomanie, Graphomanie, Megalomanie, Onomatomanie, Pyromanie, Kleptomanie, Dipsomanie, Erotomanie, Arithmomanie, Oniomanie, und der bei dem Ausdruck ›phobie‹, wie von einem Peitschenhieb getroffen, in die Worte Agoraphobie, 178
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O r a n g -U t a n- P r ä s enz Wiederholung und Produktionsformen, die sich im Stile der Écriture automatique im Aneinanderreihen zwar sinnloser, doch klangvoller Worte ergehen, sind für Nordau prägnante Varianten der Ich-Sucht. Während die Thematisierung ›unsittlicher Vorgänge‹ in anderen Fällen Hinweis genug für die ich-süchtige Entartung der Verfasser ist, überrascht Nordau in seiner Méndes-Lektüre mit dem Hinweis, dass auch eine »geile Verzückung« legitimer Weise Gegenstand von Poesie sein kann. Mendés’ Problem sei vielmehr die ›Verkünstelung‹ des Affektes, die auf den »ersten Blick die tiefe Unwahrheit seiner angeblichen Regung verräth.« (Nordau 1893: 46f) Die Inkongruenz von dargestelltem Affekt und seiner Wirkung entsteht durch die formale Ausgestaltung, die der Form selbst eine eigenständige Bedeutung zumisst. Hochschätzung der Form ist für Nordau identisch mit einer Überschätzung der eigenen Tätigkeit als Schriftsteller, also mit »Selbstüberhebung« (Nordau 1893: 50), mit einer »wahnwitzigen Ueberschätzung des Werthes der äußerlichen Form für die Dichtung und der Reimerei für die Menschheit« (Nordau 1893: 51). Verfährt man in der Weise, wie Ludwig Börne empfiehlt, um ein ›Originalschriftsteller‹ zu werden, dann rückt man in die (gefährliche) Nähe von Baudelaire und Theodore de Banville, dessen Programmatik Nordau wiedergibt: »Ich befehle euch«, ruft er angehenden Dichtern zu, »möglichst viel Wörterbücher, Enzyklopädien, Fachschriften über alle Handwerke und Sonder-Wissenschaften, Buchhändler- und Versteigerungs-Verzeichnisse, Museums-Kataloge, kurz alle Bücher zu lesen, die euern Wortschatz vermehren können … Ist euer Kopf erst auf diese Weise vollgepfropft, so
Klaustrophobie, Rupophobie, Jophobie, Nosophobie, Aichmophobie, Belenophobie, Cremnophobie und Trionophobie ausbricht? Hinterher bemerkt er plötzlich: ›Das ist einfach eine philologisch-medizinische Spielerei‹, eine Bemerkung, die wie zurückkehrende Gesundheit aussieht, bis er im weiteren Verlauf, seine Schläfen nach echter Tollhäuslerart umklammernd, beklagt, daß ›die Irrenheilkunde mit einer Menge unnötiger und verwirrender Bezeichnungen vollgekramt werde‹, wohingegen die Psychiater, wenn sie nur auf ihn hören wollten, sehen würden, daß es nur eine phobie und eine manie gibt: nämliche ›Entartung‹.« (George Bernard Shaw, Wie Shaw den Nordau demolierte, in: März. Halbmonatsschrift für deutsche Kultur, 4 (1907) 16-20, 149160, 230-240, 301-313, hier: 307, zitiert nach Zudrell 1998: 455). 179
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werdet ihr zum Reimfang gut bewaffnet sein.« Auf den Reimfang allein kommt es nach Banville beim Dichten an. Wenn man über irgend einen Gegenstand ein Gedicht machen will, belehrt er die Jünger, »so muß man zunächst alle Reime dieses Gegenstandes suchen. Hat man sie gefunden, so reiht man sie an einander und stopft die Löcher mit Künstlerhand. Diejenigen, die uns rathen, die Lückenbüßer zu vermeiden, würden mir Vergnügen machen, wenn sie blos mit Hilfe des Gedankens zwei Bretter an einander befestigen wollten.« Der Dichter, so faßt Banville seine Lehre zusammen, hat keine Gedanken im Gehirn; er hat nur Töne, Reime, Wortspiele. (Nordau 1893: 47f)
So offen vertreten ist die »Reimjagd« nicht Kunst, sondern Makel. Statt »zu denken« verpflichtet Banville die Dichter der Zukunft darauf, Worte nicht nach ihrem Sinn zu ordnen. Der Blick auf die Lautfolge und vor allem den möglichen Reim ist selbstredend gefährlich für die »Jünger« der ästhetischen Glaubenssätze. Ein Autorhirn, das nur noch »Töne, Reime, Wortspiele« beherbergt, entspricht etwa dem »ohnmächtige[n] Brodeln[] denkunfähiger Schleim- und Gallert-Gehirne« (Nordau 1896: 210). Guyaus Kritik an Banville erscheint Nordau daher zu moderat: »Die bis zum äußersten getriebene Reimjagd führt dazu, daß der Dichter sich entwöhnt, die Gedanken folgerichtig zu verknüpfen, das heißt im Grunde: zu denken; denn denken ist, wie Kant gesagt hat, vereinen und verbinden. Reimen dagegen heißt, Worte, die nothwendigerweise unzusammenhängend sind, nebeneinander stellen… Die Anbetung des Reimes um des Reimes willen führt allmälig in das Gehirn des Dichters selbst eine Art Unordnung und dauernden Wust ein: alle üblichen Gesetze der Gedanken-Verknüpfung, alle Folgerichtigkeit des Denkens, sind zerstört, um durch den Zufall der Begegnung von Tönen ersetzt zu werden… Umschreibung und Gleichniß sind das einzige Mittel, um gut zu reimen… Die Unmöglichkeit, einfach zu bleiben, wenn man reiche Reime sucht, zieht einen gewissen Mangel an Aufrichtigkeit nach sich. Die Frische und Unmittelbarkeit des Gefühls verschwinden beim allzu vollkommenen Wortkünstler; er verliert die Achtung vor dem Gedanken selbst, welche die erste Eigenschaft des Schriftstellers sein muß.« (Nordau 1893: 48f )
Der offenkundig werdende »Zufall der Begegnung von Tönen« hat jedoch den Effekt, einen »gewissen Mangel an Aufrichtigkeit« zu zeigen, der durch die ›blinde Anbetung‹ von Worten als Worten erzeugt wird. Wortkünstler können nicht mehr »Frische und Unmit180
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telbarkeit des Gefühls« zeigen; sie können nicht mehr »einfach« bleiben. Wie schon bei Mendés‹ Récapitulation zeigt sich eine gefühllose Künstelei am Werk, die nicht nur die Authentizität der literarischen Produktion infragestellt, sondern auch auf eine Verherrlichung der ›sinnlosen‹ Klangassoziationen hinweist. Guyau und Nordau zäumen das Pferd von der anderen Seite auf: Eifrige Wortanbetung führt dort, wo vorher Ordnung war, einen »Wust« ein, suspendiert die Klarheit der Gedanken, die normalerweise vorherrscht. Die Fokussierung auf die Form wird nicht nur als parasitär apostrophiert, da sie dem Sinn, der sich in der Kommunikation zwischen Dichter und Leser entfalten soll, ein Drittes hinzufügt (vgl. Serres 1987). Das im Sinne eines ›gesunden‹ Diskurses ausgeschlossene Dritte speist ein eigenes Begehren, das in der Sprache der Psychopathologie »Delir der Standeserhöhung« heißt. Dichter und Patienten bedienen sich einer ›gekünstelten‹ Sprache, die nicht dazu taugt, die innere oder äußere Ordnung der Dinge abzubilden. Der kalten Künstlichkeit bei Nordau entspricht die Geziertheit in einigen Fällen, die C.G. Jung untersucht: Die Krankheit nimmt in diesem Fall den Mechanismus aus dem Normalen, beziehungsweise aus der Karikatur des Normalen, der Hysterie, herüber, ohne daß dabei die Geziertheit an sich etwas Spezifisches erhielte. Derartige Fälle haben eine besondere Neigung zu Neologismen, welche dann meist als gelehrte oder sonstwie distinguiert klingende termini technici verwendet werden. Eine meiner Patientinnen zum Beispiel nennt sie »Machtwörter« und verrät ein besonderes Gefallen an möglichst absonderlichen, ihr aber offenbar prägnant erscheinenden Ausdrücken. Die »Machtwörter« dienen mit dazu, die Persönlichkeit so imposant wie möglich hervorzuheben und zu schmücken. Die nachdrückliche Betonung der »Machtwörter« akzentuiert den Wert der Persönlichkeit gegenüber Zweifel und Anfeindung, weshalb sie bei Frühdementen nicht selten auch als Abwehr- und Beschwörungsformeln gebraucht werden. Ein Frühdementer meiner Beobachtung bedrohte die Ärzte, wenn sie ihm etwas nicht gestatten wollten, jeweils mit den Worten: »Ich, Großfürst Mephisto, werde Sie mit Blutrache behandeln lassen wegen Orang-Utan-Repräsen– tanz«. Andere gebrauchen die »Machtwörter« zur Beschwörung der Stimmen. (Jung 1995c: 84)
Dabei sind es bekanntlich gerade psychoanalytische Verfahren, denen Jung sich zu dieser Zeit noch enger verbunden fühlt, die ihre 181
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Therapeutik auf die Macht der Wörter gründen. »Machtwörter« gegen »Orang-Utan-Repräsentanz« ist in diesem Sinne lediglich die Umkehrung der therapeutischen Interventionslogik, insbesondere wenn sie sich (auch nur auf Reste der) Suggestionstherapie stützt. Fehlt den Machtwörtern jedoch die (institutionell verankerte) Macht ihrer Sprecher, fallen sie als hilflose Versuche der Geisterbeschwörung auf, werden als »Geziertheit« kenntlich gemacht. Neben der Vorliebe zur Neubildung von Worten, die bereits Stransky festgestellt und Lombroso als Kennzeichen der Graphomanie hervorgehoben hat, führt Nordau die inflationäre Verwendung von Fremdwörtern an (Nordau 1893: 101f). Das Interesse an Innovationen der Form, an sprachlichen Grenzerkundungen,6 stößt bei Nordau auf tiefes Unverständnis. Das »Gewäsch von Gautier und Baudelaire« diene lediglich der Vertuschung ihrer wahren »Geistesverfassung«, der der Entartung. »Um diesen Seelenzustand auszudrücken, muß man allerdings eine neue, unerhörte Sprache erfinden, da es für Vorstellungen, die in Wirklichkeit keine sind, in keiner gebräuchlichen Sprache deckende Bezeichnungen geben kann.« (Nordau 1893: 93) Die Prämierung und Naturalisierung eines als normal und gebräuchlich apostrophierten Sinnes lässt die antike Unterscheidung zwischen einer eigentlichen und einer übertragenen Rede aufschei-
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Er zitiert zu diesem Punkt ausführlich Théophile Gautiers Geleitwort zu den Blumen des Bösen von Baudelaire, Nordau 1893: 91: »›Der Stil des Verfalls (décadence),‹ sagt Gautier, ›ist nichts Anderes als die zu einem Punkt äußerster Reife gelangte Kunst, welche die alternden Gesittungen mit ihren schrägen Sonnen (!) hervorbringen: ein geschickter, verwickelter, gelehrter Stil, voll Abstufungen und Gesuchtheiten, der die Grenzen der Sprache immer weiter hinausrückt, der bei allen Fachwörterbüchern Anleihen macht, der von allen Paletten Farben und von allen Tastwerken Töne nimmt, der sich anstrengt, das Unaussprechlichste des Gedankens und die unbestimmtesten und fliehendsten Umrisse der Form wiederzugeben, der, um sie auszudrücken, auf die spitzfindigen Bekenntnisse der Nevrose, auf die Geständnisse der alternden und verderbenden Begierde und auf die seltsamen Sinnestäuschungen der in Wahnsinn übergehenden fixen Idee horcht. Dieser Stil ist die höchste Leistung des Wortes, dem befohlen wird, Alles darzustellen, und das bis zur äußersten Uebertreibung gehetzt ist. […] Er ist übrigens nicht leicht, dieser von den Schulfüchsen verachtete Stil, denn er drückt neue Gedanken mit neuen Formen und Worten aus, die man noch nicht gehört hat.‹« 182
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nen.7 Jede Form von Ästhetizismus steht somit im Verdacht, direkter Ausdruck einer pathologischen Verzerrung der Wahrnehmung zu sein, die qua Anbetung des Wortes eine abweichende Sprachpraxis zu etablieren versucht. Fokussierung auf Form und die Behauptung einer nicht-artikulierbaren Dimension sind unzulässig und stellen eine latente Bedrohung dar. Nordau steht letztlich auf jenem Standpunkt, der »behauptet, dass ein nichtnarrativierbares Selbst nicht überleben kann und nicht lebensfähig ist.«8 Das »Postulieren des Unerzählbaren«, dass sich in Gautiers Ausführungen unmissverständlich artikuliert, erscheint Nordau als tödliche Bedrohung des Subjekts. Nordau führt die Betonung des Eigenwertes von Sprache auf eine rücksichtslose Selbstüberhöhung der modernen Autoren zurück. Echolalie wird somit als narzisstische Selbstliebe gedeutet, die mit dem Verlust der Referenz zugleich ihr Gegenüber aus den Augen verliert. Bedeutungslosigkeit ist nicht einfach bedeutungslos, sondern verweist auf einen Mangel an Sittlichkeit, die Unfähigkeit des Ichs ein Nicht-Ich zu adressieren und in die Produktion von Sinn zu integrieren. 7
Siehe Barthes 1988: 7-101, etwa S. 87: »Es gibt eine nackte Basis, eine eigentliche Ebene, einen Normalzustand der Kommunikation, von dem ausgehend man einen komplizierten, geschmückten Ausdruck entwickeln kann, der mehr oder weniger Distanz zum ursprünglichen Fundament besitzt.« Und S. 90f.: »Wie wir sahen, beruht das gesamte Gebäude der ›Figuren‹ auf der Vorstellung, daß es zwei Sprachsysteme gibt – ein eigentliches und ein übertragenes – und daß die Rhetorik in ihrem elokutorischem Teil eine Aufstellung der sprachlichen Abweichung ist. Diese Ansicht wird durch die zahllosen metarhetorischen Ausdrücke seit der Antike bezeugt: In der elocutio (Bereich der Figuren) werden die Wörter aus ihrer normalen, vertrauten Umgebung ›weggebracht‹, ›verschleppt‹, ›entfernt‹. Aristoteles sieht darin eine Vorliebe für die Exotik: ›Man muß sich von den gemeinen Wendungen entfernen […].‹ Es besteht also eine Beziehung der Fremdheit zwischen den ›gängigen Wörtern‹, die jeder von uns verwendet (aber wer ist dieses ›wir‹?) und den ›auffallenden Wörtern‹, ›Barbarismen‹ (Wörter der barbarischen Völker), Neologismen, Metaphern usw.« 8 »Schließlich darf man den Standpunkt nicht vergessen, den Standpunkt gegen das Unbewusste, der schließlich behauptet, dass ein nichtnarrativierbares Selbst nicht überleben kann und nicht lebensfähig ist. Einem solchen Standpunkt scheint in der Tat die Lebbarkeit des Subjekts selbst in seiner Erzählbarkeit zu liegen. Und das bedeutet, dass das Postulieren des Unerzählbaren dieses Subjekt bedroht, ja es mit dem Tode bedrohen kann.« (Butler 2003: 89). 183
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Was bestimmt Nordau als Ich-Sucht? In einem ersten Schritt differenziert er zwischen Ich-Sucht und Selbstsucht. Letztere sei zwar eine »Unliebenswürdigkeit, ein Erziehungsfehler, vielleicht ein Charakter-Mangel, ein Beweis ungenügend entwickelter Sittlichkeit«, jedoch – im Unterschied zur Ich-Sucht – »keine Krankheit« (Nordau 1893: 6). Im Gegensatz zur philosophischen Bestimmung von Ich und Nicht-Ich, die er anhand des deutschen Idealismus summarisch darstellt, beruft sich Nordau im nächsten Schritt auf die Psychophysiologie, um die Entwicklung des ›gesunden Ichs‹ und seines Weltbezuges zu klären.9 Während er eine Form von Bewusstsein auch den einfachen Lebensformen zuspricht, ist die Bildung von Ich-Bewusstsein ein Entwicklungsschritt, den nur die am höchsten organisierten Wesen entwickeln. Die Vorstellung eines Nicht-Ichs verdankt sich darüber hinaus einer Operation, die das entwickelte Ich-Bewusstsein aus der eigenen Körpererfahrung ableitet. Während die Tätigkeit der Muskulatur als Ergebnis willkürlicher Impulse erfahren werde und damit ein Denkschema der Ursächlichkeit etabliere, entzögen sich die Ursachen der Nervenerregungen der leiblichen Selbsterfahrung des Ichs. Eine Ursache müssen sie haben. Wo soll diese Ursache liegen? Da sie nicht im Bewußtsein liegen, müssen sie nothwendig irgendwo anders liegen, es muß also außerhalb des Bewußseins noch etwas Anderes geben, 9
Neben Hegel, Fichte, Schelling nennt Nordau vor allem Berkeley als philosophische Bezugsgrößen, um dann die philosophische Fragestellung überhaupt zu verabschieden: »Die Metaphysik konnte keine Antwort auf die Frage finden [wie das Ich dazu kommt, ›das Vorhandensein von irgend Etwas außerhalb seiner selbst, das Bestehen eines Nicht-Ichs aufzunehmen?‹], weil diese so, wie sie von jener gestellt wird, eben nicht zu beantworten ist. Die wissenschaftliche Psychologie, das heißt die Psycho-Physiologie, begegnet nicht denselben Schwierigkeiten. Sie nimmt nicht das fertige, seiner selbst sich klar bewußte Ich des erwachsenen Menschen, das sich als bestimmten Gegensatz zum Nicht-Ich, zur ganzen Außenwelt, fühlt, sondern sie geht auf die Anfänge dieses Ichs zurück, sie untersucht, auf welche Weise es entsteht, und da findet sie denn, daß zu einer Zeit, da die Vorstellung vom Vorhandensein eines Nicht-Ichs wirklich unerklärlich wäre, diese Vorstellung eben in der That gar nicht besteht und daß dann, wenn wir sie antreffen, das Ich bereits solche Erfahrungen erworben hat, welche es durchaus verständlich machen, wie es zur Bildung der Vorstellung eines Nicht-Ichs gelangen konnte und mußte.« (Nordau 1893: 10). 184
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und so kommt das Bewußtsein durch die Gewohnheit des ursächlichen Denkens dazu, das Vorhandensein von irgend Etwas außerhalb seiner selbst, von einem Nicht-Ich, von einer Außenwelt anzunehmen und dahin die Ursache der Erregungen zu verlegen, die es im Nervensystem wahrnimmt. Die Erfahrung lehrt, daß es sich beim Unterscheiden zwischen dem Ich und dem Nicht-Ich thatsächlich nur um eine Denk-Gewohnheit, um ein Denk-Schema, nicht um eine sachliche, sichere Erkenntnis handelt, welche die Kriterien ihrer Richtigkeit und Zuverlässigkeit in sich selbst trägt. (Nordau 1893: 16)
Während dieses Denkschema, dem sich die Wahrnehmung des Nicht-Ichs verdankt, überborden kann und wie im Mystizismus und Spiritismus die Vorstellung einer äußeren Kraft auch dort postuliert, wo sie nach ›gesundem‹ Ermessen fehl am Platze ist (Nordau 1893: 16f), zeichnet sich die Ich-Sucht dagegen durch die vollständige Absehung von all jenem aus, was sich außerhalb der Selbstwahrnehmung des Ichs abspielt. Nordau entfaltet hier ein doppeltes Argument: Einerseits stellen Ich-Bewusstsein und die Vorstellung eines Nicht-Ichs die höchste Entwicklungsstufe menschlichen Bewusstsein dar, andererseits liefert diese Entwicklungslinie nicht die »thatsächlich[e]« Grundlage, sie ist ein »Denk-Schema«, welches zwar die notwendige, jedoch nicht hinreichende Begründung des Zusammenhangs von Ich und Nicht-Ich leistet. Im letzten Grunde ist das Ich-Bewußtsein und namentlich die Gegenüberstellung des Ichs und Nicht-Ichs eine Sinnestäuschung und ein Denkfehler. Jeder Organismus hängt mit der Art und über sie hinaus mit dem Weltganzen zusammen. Er ist die unmittelbare, stoffliche Fortsetzung seiner Eltern, er setzt sich unmittelbar, stofflich in seinen Nachkommen fort. Er besteht aus denselben Stoffen wie die ganze ihn umgebende Welt, diese Stoffe dringen fortwährend in ihn ein, verändern ihn, veranlassen in ihm alle Erscheinungen des Lebens und Bewußtseins. Alle Kraftlinien der Natur verlängern sich in sein Inneres, das der Schauplatz derselben physikalischen und chemischen Vorgänge ist, die im ganzen Weltall ablaufen. Was der Pantheismus ahnt und in unnöthig mystische Worte kleidet, ist nüchterne und klare Thatsache: die Einheit der Natur, in der auch jeder Organismus ein mit dem Ganzen zusammenhängender Theil ist. Manche Theile sind näher zusammengerückt, andere liegen etwas weiter auseinander. Das Bewußtsein nimmt nur die dicht aneinander geknüpften Theile seiner körperlichen Unterlage wahr, die ferner abliegenden nicht. So ge185
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langt es zur Illusion, die nahen Theile als allein zu sich gehörig, die entfernteren als etwas Fremdes zu betrachten und sich als ein »Individuum« zu fühlen, das der Welt als eine besondere Welt, als ein Mikrokosmos, entgegentritt. Es merkt nicht, daß das so schroff hingestellte Ich keine festen Grenzen hat, sondern unter der Bewußtseins-Schwelle mit immer mehr abnehmender Bestimmtheit der Sonderung sich weit hinaus bis in die äußersten Tiefen der Natur fortsetzt, um dort mit allen anderen Bestandtheilen des Weltganzen zu verschwimmen. (Nordau 1893: 17f )
Wie verhält sich dies an Haeckels Anverwandlung des Darwinismus10 gemahnende Bild der Natur, in dem alles mit allem durch Filiation verbunden ist, zur Kritik der Ich-Sucht? Wie sieht Nordaus Biologie der Ethik aus?11 Der Selbsttäuschung des Ichs, welches statt seinem ›Verschwimmen im Weltganzen‹ von stabilen Grenzen ausgeht, steht die phylogenetische Bewusstseinsentwicklung gegenüber, die sich gerade durch die Herausbildung eines Grenzbewusstseins, des Kontrastes von Ich und Nicht-Ich auszeichnet. Nordaus Plädoyer für einen alles umfassenden Weltzusammenhang ist nicht dahingehend zu deuten, dass die »Illusion« von Individualität obsolet wäre. So merkt Christoph Schulte mit Blick auf Nordaus Biologie der Ethik an: »Sittlichkeit ist für Nordau Konvention, Übereinkunft zwischen Menschen, nicht Natur des Menschen; sie ist künstlich, nicht natürlich.« (Schulte 1997: 352) Der künstliche und konventionelle Aspekt der Sittlichkeit macht zwar deutlich, dass es weder ›einfach‹ in der Natur des Menschen liegt, sittlich zu handeln, noch eine im philosophischen Sinne letzte Begründung der Sittlich10 Ernst Haeckel hatte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die darwinistische Theorie popularisiert und insbesondere auf das soziale und kulturelle Feld adaptiert. Seine monistische Weltanschauung beruht auf der Gleichsetzung biologischer und kultureller Phänomene, ein Kurzschluss, den Nordau zweifelsfrei nachvollzieht. Die ethische Relevanz von Haeckels Theorien, die ab 1900 im Monistenbund zentral vertreten wurden, entsprechen denen Nordaus weitestgehend: Was dem Gesamtorganismus nicht zuträglich ist, gilt nicht nur als unnütz, sondern auch als schädlich und kostspielig, so dass nicht nur ›Relikte‹ einer nicht-biologistischen Kulturtheorie, und darunter sind alle Auffassungen zu verstehen, die an metaphysische Systeme und an die Differenz von Natur- und Kulturwissenschaften anschließen, als obsolet und irreführend eingestuft werden, sondern auch aktive Euthanasie legitimierbar scheint. Siehe: Zander 2001. 11 So der Titel einer 1920 bei Elischer auf Deutsch erschienenen Monographie Nordaus. 186
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keit geben kann, doch an ihrer normativen Geltung lässt Nordau keinen Zweifel.12 Wie die Ausbildung eines Ichs, einer sich ihrer Besonderheit deutlich bewußten Individualität die höchste Leistung des lebenden Stoffes ist, so ist die höchste Entwickelungsstufe des Ichs die Aufnahme des Nicht-Ichs in sich, das Begreifen der Welt, die Ueberwindung der Selbstsucht und die Herstellung enger Beziehungen zu anderen Wesen, Dingen und Erscheinungen. Auguste Comte und nach ihm Herbert Spencer haben diese Stufe »Altruismus« genannt, von dem italienischen Worte »altrui«, der Nächste. […] Von Altruismus kann erst die Rede sein, wenn das Individuum sich mit einem andern Wesen aus Mitgefühl oder Neugierde beschäftigt, und nicht, um ein unmittelbares, drängendes Bedürfniß seines Leibes, den augenblicklichen Hunger irgendeines seiner Organe zu befriedigen. (Nordau 1893: 20f)
Entwicklungsphysiologie und Ethik gehen Hand in Hand: Die ›höchste Stufe‹ zu erreichen, entspricht einer wirklich sittlichen Haltung; bleibt man hinter dieser Stufe zurück oder regrediert auf eine frühere, entspricht diese Regression automatisch einem Sittenverfall. Während der ›Gesunde‹ sich – sobald er die entsprechenden Entwicklungsstufen durchlaufen hat – mit Mitgefühl und Interesse dem Anderen zuwendet, ja, seine ganze Wahrnehmung auf die »Bilder[] der Außenwelt« (Nordau 1893: 22) richtet, bleibt der 12 In der erwähnten Schrift von 1920 wiederholt Nordau nicht nur die Verabschiedung der Philosophie als ›Heimatdisziplin‹ der Ethik und distanziert sich, wie bereits mit Blick auf seine restriktive Aufklärungsposition deutlich wurde (siehe Kapitel 3, Polizeiordnung), von der Annahme eines von Natur aus guten Menschen, sondern versucht auch eine biologische Begründung für das ethische Verhalten. Siehe hierzu auch Schulte 1997: 352: »In Wirklichkeit, so Nordau, sei das Wesen der Sittlichkeit ›Zügelung, Hemmung, Überwältigung des Triebes durch die Vernunft‹. Sittlichkeit ist der Sieg der vernünftigen Einsicht über die menschliche ›Triebnatur‹. Hieraus sei aber nicht zu schließen, fährt Nordau fort, daß das Handeln gegen den Trieb, die Triebhemmung aus Vernunftgründen, lustfeindlich sei. Vielmehr diene auch die Hemmung der unmittelbaren Triebbefriedigung dem Eigeninteresse des Menschen, dessen Verfolg dem Menschen wiederum Lust verschaffe: Lustgefühle durch die Verwirklichung anderer Interessen wie Gelderwerb, Ehrgeiz, Freundschaft oder die Durchsetzung eigener und gesellschaftlicher Wertvorstellungen. Letztere sind, entgegen den natürlichen Lustgefühlen bei Triebbefriedigung, das Ziel des sittlichen Handelns.« 187
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›Kranke‹, Ich-Süchtige ganz auf seine Selbstwahrnehmung begrenzt. »In dem Verhältnisse zwischen seinem Ich und dem NichtIch bleibt der Entartete sein ganzes Leben lang ein Kind.« (Nordau 1893: 23) Er ist sich selbst der maßgebliche, wenn nicht einzige Bezugspunkt. Unter Ich-Sucht versteht Nordau nicht nur eine Form der Selbstbezüglichkeit und Selbstüberschätzung, die sich als mangelhafte Wahrnehmungsfähigkeit für Andere, überhaupt für gesellschaftliche und soziale Belange und die Unfähigkeit zu Mitgefühl und Altruismus zeigt. Der Mangel an Beziehungen zur Außenwelt wird ebenso in einer ausgeprägten Unfähigkeit zur Anpassung an die Umwelt gesehen, die letztlich zu Jakobinismus und revolutionären Selbstentwürfen führe, währenddessen die ›gesunden‹ Kritikformen nur dem »Reformer und Neuerer« (Schulte 1997: 234) attestiert werden. Letztere bleiben einer Ziel- oder Leitvorstellung verbunden, welche die anvisierten Veränderungen in bestimmte Bahnen lenken, Veränderung als kontrollierbaren Prozess organisieren soll (vgl. Nordau 1893: 38f). Der Begriff der »Leitvorstellung« ist von einem ähnlichen psychiatrischen Modell abzugrenzen: Wernickes Begriff der ›überwertigen Idee‹. Hierunter werden all jene Vorstellungen subsumiert, die eine erhöhte Bedeutung für den Einzelnen ebenso wie für die Gesellschaft besitzen. Überwertige Ideen aggregieren eine größere affektive Besetzung als andere. Sie finden sich nach Wernicke einerseits in jenen Vorstellungen, die innerhalb der Gesellschaft als besonders bedeutend angesehen werden (also Elemente des allgemeinen Ethos, der gesellschaftlichen Norm sind) – Wernicke zählt hierzu die Vorstellungen von Ehre, Schamhaftigkeit und Reinlichkeit – oder aber einer extrem ausgeprägten subjektiven Vorliebe und affektiven Besetzung entsprechen, und dadurch die Vorstellungsverknüpfung steuern.13 Auch die »überwertigen Ideen« haben dement13 Siehe zur Abgrenzung Liepmann 1904: 51: »Wenn ich gewissen Vorstellungen eine erhöhte Valenz d.h. Wertigkeit zuschreibe, so liegt es nahe an Wernickes überwertige Ideen zu denken. Es besteht aber ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Begriff Wernickes und dem hier aufgestellten. Nach Wernicke besitzen gewisse Vorstellungen, so die der Ehre, der Schamhaftigkeit, der Reinlichkeit etc. auf Grund ihrer Affektbetonung und der Häufigkeit ihres Auftretens ein für allemal eine höhere Wertigkeit im normalen Leben. Es handelt sich um ›einen präformierten Besitz von Rangunterschieden unter den Vorstellungen.‹ […] Hier handelt es sich also um eine Valenz, die bestimm188
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sprechend eine selektierende Funktion, werden jedoch in der psychiatrischen Literatur um 1900 vor allem für die Beschreibung einer pathologischen Überbewertung, einer ›fixen Idee‹ angewendet.14 Fixe oder pathologisch überwertige Ideen steuern die Art, wie Fremdbezüge hergestellt werden in einer Weise, die den allgemeinen Wertigkeiten nicht entsprechen und auf ein subjektives Affektionspotential verweisen. Anders formuliert: Sie verzerren mehr oder minder systematisch die Kommunikation zwischen Ich und NichtIch, indem sie ein Bezugssystem implementieren, das den Austausch radikal vorstrukturiert. Im psychiatrischen Diskurs heißt diese Form der Verzerrung Paranoia.15 Paradigmatisch für die Anziehungskraft einer »überwertigen Idee« ist der Fall von Gabriele Rossetti. So wie Max Nordau seine Kritik des Mystizismus an Dante Gabriele Rossetti entwickelt, nimmt Umberto Eco dessen Vater als herausragendes Beispiel für eine von ›fixen‹ bzw. ›überwertigen‹ Ideen getriebene Überinterpretation aufs Korn. Ausgehend von der Annahme, dass Dante ein »Freimaurer, Templer und Mitglied des Rosenkreuzerordens war«, macht Rossetti die Suche nach möglichen Symbolen der Freimaurer zur Basis seiner ausgedehnten Dante-Studien. »Auf dieser Basis stellte er sich vor, wie ein freimaurerisches Rosenkreuzer-Symbol auszusehen hätte, eine Rose mit dem Kreuz darin und darunter ein Pelikan, der seine Jungen getreu der traditionellen Legende mit dem Fleisch aus seiner eigenen Brust füttert. Rossetti mußte demnach
ten Vorstellungen das ganze Leben hindurch eignet. Pathologischer Weise kann dann nach Wernicke eine sonst nicht überwertige Vorstellung überwertig werden und während der ganzen Dauer der Krankheit, jahrelang oder oft wieder ein Leben hindurch, überwertig bleiben.« 14 Siehe hierzu auch Paul Valérys Auseinandersetzung mit dem Phänomen der »fixen Idee« und der Aufmerksamkeit in: Valéry 1965. 15 In den Literaturwissenschaften der letzten Jahrzehnte spielte der Begriff der Paranoia immer wieder eine große Rolle. Neben der Auseinandersetzung mit berühmten Paranoiafällen, wie dem des Senatspräsidenten Daniel Paul Schreber, die vor allem im Umkreis poststrukturalistischer Theoriebildung stattfand, wird vom Paranoiabegriff immer dann Gebrauch gemacht, wenn es darum geht, ein ›Übermaß‹ an Interpretation zu konstatieren. Siehe hierzu die Debatte zwischen Umberto Eco und Jonathan Culler in: Eco 1996 und Culler 1996: 122f. Zu Schreber siehe etwa: Weber 1973: 5-58; Kittler 1988a; Kazanjian 1993. 189
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beweisen, daß dieses Symbol auch bei Dante vorkommt.« (Eco 1996: 62f) Trotzdem Rossetti das »immense Werk Dantes immer wieder gelesen« (Eco 1996: 61) hat – oder gerade deshalb – lautet Ecos lakonischer Kommentar zu diesem Unterfangen: »Rossettis Tragödie lag darin, daß er bei Dante keine eindeutige Analogie zur Freimaurer-Symbolik fand […]« (Eco 1996: 64). Rossetti wird zum Inbegriff einer exzessiven Deutungspraxis, die jedes ›Augenmaß‹ für die allgemein anerkannten Parameter adäquater Lektüre verloren hat.16 Rossettis Deutungen erscheinen somit als maßlos in einem mehrfachen Sinne: Sie nehmen nicht Maß an Dantes Texten, an historischen Bezügen, und verfahren darüber hinaus in der Weise, wie an den Vorannahmen, die die Interpretation leiten, festgehalten wird, obsessiv. Man könnte Ecos Plädoyer in diesem Sinne in der Tradition der Diätetik verorten, die er freilich semiotisch umformuliert. Denn, wie Barbara Thums gezeigt hat, die Sorge um das ›rechte Maß‹, um eine kontrollierende Aufmerksamkeit, die nicht selbst wieder übersteigert wird, ist bereits für die ästhetische und diätetische Literatur des 18. Jahrhunderts relevant. Man hüte sich vor fixen Ideen: »Jenseits des rechten Maßes lauern mithin die Gefahren der melancholischen idée fixe und des Wahnsinns. Die Verhältnisbestimmung von Aufmerksamkeit und Zerstreuung gehört damit wesentlich zum disziplinüberschreitenden Wissensfeld der Diätetik und ihrer Kunst der Mäßigung.« (Thums 2003: 149) Statt »Mäßigung« praktiziert eine Deutungsweise wie die von Gabriele Rossetti Überschuss und Leere zugleich: die Überaufmerksamkeit, die er auf eine Symbolik der Geheimbünde richtet, bedingt gleichermaßen einen Mangel an Aufmerksamkeit für dasjenige, was in Dantes Texten auffindbar ist. Jonathan Culler hat in diesem Sinne davon gesprochen, dass Rossetti (der Ältere) weniger ein Beispiel für ein Zuviel als vielmehr für ein Zuwenig an Interpretation sei. Das Wörtchen »über«, welches sich sowohl in Überinterpretation, 16 Im Rahmen der Kontroverse, an welcher sich neben Eco auch Richard Rorty und Jonathan Culler beteiligten, hält Culler Ecos RossettiBeispiel entgegen, dass Rossetti nicht etwa zuviel, sondern zuwenig gedeutet hätte, da er nicht das Corpus Dantes, sondern eine These, für die keinerlei Spuren in Dantes Texten sprechen, zum Ausgangspunkt seiner Interpretationen genommen habe. Kriterium für eine gelungene oder instruktive Interpretation sei nicht eine quantitative Bestimmung, sondern vielmehr die Überzeugungskraft, die eine Deutung aus ihrem Materialbezug herstellen kann. Siehe Culler 1996: 122f. 190
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überwertiger Idee und Überaufmerksamkeit findet, dient als Indikator nicht nur für eine methodische, sondern letztlich eine ethische Entgleisung. Der Begriff »Überinterpretation« enthält nicht nur in sich schon eine Wertung, er verfehlt meiner Ansicht nach auch genau jene Probleme, die Eco ansprechen möchte. Man könnte Überinterpretation damit vergleichen, daß sich jemand überfrißt: Es gibt ein gesundes Maß, zu essen oder zu interpretieren, aber manche können es einfach nicht lassen, sie essen oder interpretieren bis zum Erbrechen immer weiter. (Culler 1996: 122)17
Interessant ist, dass Culler hier die diätetische Metaphorik aufgreift. Wer ohne Hunger immer weiter »frißt«, hat jedes »gesunde[] Maß« verloren. Er verhält sich wie ein Süchtiger, der sekundäre Bedürfnisse an die Nahrungsaufnahme koppelt, ebenso wie ein ›Deutungssüchtiger‹ »es einfach nicht lassen« kann, immer weiter zu interpretieren. Das Interpretieren um des Interpretierens willen, das exzessive Deuten, verweist darauf, dass die interpretatorische Aneignung nicht primär aus dem Interesse am Gegenstand der Lektüre abgeleitet werden kann, sondern die Interpretation sich verselbständigt, zum Selbstzweck wird. Ausgehend von den aktuellen literaturwissenschaftlichen Debatten mag es überraschen, dass Nordau, der doch bereits in seiner Analyse des Fin de Siècle die Deutungswut der Apokalyptiker ächtet (siehe Kapitel 2: Vor dem Gericht), die Ich-Sucht von jenen Formen der Monomanie18 abgrenzt, die sich aus fixen Ideen und paranoischen Wahrnehmungsmustern ableiten. Der Ich-Süchtige muß nothwendig seine eigene Wichtigkeit und die Bedeutung seines ganzen Thuns außerordentlich überschätzen, denn er ist nur von sich und wenig oder gar nicht vom Weltbild erfüllt und darum nicht im Stande, sein Verhältnis zu den anderen Menschen und zur Welt 17 Dies Bild erinnert an eine ›Illustration‹ der sieben Todsünden in dem Film »Se7en«, in der die Maßlosigkeit durch die Inszenierung des buchstäblichen »Sich-zu-Tode-Fressens« demonstriert wird. Da der Film die Jagd nach dem Serienkiller als überaus raffinierten und durchreflektierten Wettlauf der Interpretationen zwischen dem Mörder und seinen beiden Detectives erzählt, lässt sich diese Darstellung ebenfalls als Warnung vor Überinterpretation lesen. 18 Nordau erklärt den Begriff der Monomanie für obsolet, siehe Nordau 1893: 4. 191
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zu begreifen und die Rolle seiner Thätigkeit in den Gesammt-Verrichtungen der Gesellschaft richtig zu würdigen. Man wäre nun vielleicht geneigt, die Ich-Sucht mit dem Größenwahn zu verwechseln. Zwischen beiden Zuständen besteht aber ein bezeichnender Unterschied. Allerdings ist der Größenwahn, ganz wie seine klinische Ergänzung, der Verfolgungswahn, durch krankhafte Vorgänge im Innern des Organismus veranlaßt, die das Bewußtsein zwingen, seine Aufmerksamkeit unausgesetzt dem eigenen leiblichen Ich zu widmen; und zwar gibt unnatürlich gesteigerte biochemische Thätigkeit der Organe die angenehm über-schwenglichen Vorstellungen des Größenwahnes, verlangsamte oder krankhaft zweckwidrige dagegen die peinlichen des Verfolgungswahns. Allein im Größen- wie im Verfolgungswahn bekümmert sich der Kranke fortwährend um Welt und Menschen, in der Ich-Sucht dagegen sieht er von ihnen nahezu vollständig ab. (Nordau 1893: 28f)
Während also Nordau dem Monomanen einen echten Außenbezug zu »Welt und Menschen« attestiert, bleibt der Ich-Süchtige ganz dem Wahrnehmungsfeld des eigenen Ichs verhaftet. Nordaus Auffassung der paranoiden Wahnformen orientiert sich stark an der Richtung, welche die Wahninhalte annehmen: was man im Sinne der psychoanalytischen Konzeption als Projektion libidinöser Fixierungen nach Außen beschreiben könnte, wird von Nordau als echte Beziehung zwischen Ich und Umwelt gedeutet. Im Unterschied zu den Konzeptionen der Paranoia, die um 1900 diskutiert werden, korreliert er Größen- und Verfolgungswahn eindimensional mit einer »überschwenglichen« oder aber »verlangsamte[n]« »biochemische[n] Thätigkeit der Organe«, also mit einer somatoformen Ätiologie. Für Nordau ist somit die Innen-/Außendifferenz entscheidend: Da beim Ich-Süchtigen das Körper-Ich vorherrscht, bleibt der IchSüchtige ganz in den Grenzen seines Körpers verhaftet, wohingegen sich die Wahrnehmungsökonomie des Gesunden durch eine Vorherrschaft des Nicht-Ichs auszeichnet, also maßgeblich durch das Geschehen außerhalb seines Körpers affiziert wird. Der »IchSüchtige ist ein geistiger Robinson-Crusoe« (Nordau 1893: 31). Wie Huysmans Held des Esseintes zieht er die Einsamkeit der Geselligkeit vor.19 Er kultiviert also seine Selbstbezüglichkeit, die sich von Selbstliebe bis hin zur Selbstvergottung20 erstrecken kann. 19 Diese Figur, deren Geschichte Nordau ausführlich wiedergibt und mit zahllosen Zitaten aus Huysmans A rebours ausstaffiert, entspricht ex192
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Im Zentrum des Teiles, der sich mit der ›Ich-Sucht‹ befasst, steht ein Verbot: das Verbot der Absonderung und Selbstbezüglichkeit. Dabei ist es Nordau wichtig, herauszustellen, dass es sich hierbei nicht um eine Form des Narzissmus handelt, der die Zuwendung zum Nicht-Ich ›einfach‹ ablehnt. Die ich-süchtige Absonderung bewegt sich nicht mehr in der Sphäre des ethischen Handelns, sie ist nicht das Produkt einer freien, wenngleich asozialen Willensentscheidung. Durch die psychophysiologische Dimension in Nordaus Rekonstruktion der Genese des Ichs wird die Selbstbezüglichkeit zum Entartungsmerkmal erklärt; der Ich-Süchtige steht nicht vor der Wahl, sich dem Anderen zuzuwenden oder nicht, er ist auf eine frühere Entwicklungsstufe zurückgefallen bzw. hat diese niemals überschritten. Diese Regression enthebt ihn nicht nur der freien Verantwortung, sie schließt ihn zugleich aus der Gemeinschaft derjenigen aus, denen Handlungen überhaupt zugerechnet werden können. Kurz gesagt: Dieser Andere ist kein Nicht-Ich, sondern Abfall, ein Parasit, dem kein Mitgefühl geschuldet wird. Gegen die ›Parasiten der Sprache‹21 setzt Nordau auf eine Amalgamierung von Biologie, Ethik und Ästhetik. In Paul Bourget findet er einen Gewährsmann wider Willen, um die Biologisierung von Ästhetik und Ethik zu untermauern: Bourget ist ehrlicher, wenn er auf die schwindelhafte Anführung der lateinischen Verfalls-Schriftsteller verzichtet und die »Dekadenz«, unabhängig von seinen parnassischen Meistern, so umschreibt: »Man bezeichnet mit diesem Worte den Zustand einer Gesellschaft, die eine zu große Anzahl von Individuen hervorbringt, welche zu den Arbeiten des gewöhnlichen Lebens ungeeignet sind. Eine Gesellschaft muß einem Lebewesen gleichgestellt werden. Wie ein solches ist sie ein Bund untergeordneter Wesen, die selbst wieder einen Bund von Zellen darstellen. Der Einzelmensch ist die Zelle der Gesellschaft. Damit das ganze Lebewesen sich kräftig bethätige, müssen die Wesen, aus denen es zusammengesetzt ist, mit Kraft, aber mit einer sich unterordnenden Kraft, sich bethätigen. Und damit die untergeordneten Wesen selbst sich mit Kraft bethätigen, müssen die Zellen, aus denen sie zusammengesetzt sind, sich mit Kraft, aber mit einer sich unterordnenden Kraft, bethätigen. Wenn die Kraft der emplarisch dem gesellschaftsfeindlichen Typus, den Nordau vorführen will. Siehe Nordau 1893: 96-108. 20 Wenn sie »ihr faules Ich als ihren Gott ausrufen«, Nordau 1893: 496. 21 Siehe Nordaus Kritik an Gautiers und Baudelaires Verklärung des »Lateins der späten Verfallszeit« (Nordau 1893: 94). 193
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Zellen unabhängig wird, hören die Wesen, die das ganze Lebewesen bilden, ebenfalls auf, ihre Kraft der Gesammtkraft unterzuordnen, und die Anarchie, die dann eintritt, stellt die Dekadenz der Gesammtheit dar.« (Nordau 1893: 95)
Und Nordau kommentiert kurz und knapp: »Ganz richtig.« Denn die Metaphorik der Zelle, auf die Bourget hier – ganz im Geiste der Biologisierung des Sozialen im ausgehenden 19. Jahrhundert22 – zurückgreift, ist auch für Nordaus Definition der Ich-Sucht maßgeblich. Die Kultivierung der Absonderung, die ästhetische Ausgestaltung eines Habitus, der sich um den ›Zellenverbund‹ nicht schert, erregt Nordaus Zorn. Obgleich er die krankhafte Seite so sehr betont, die von einer willentlichen Entscheidung des Dekadenten nichts wissen will, tritt Nordau nicht als empathischer Arzt ans Krankenbett. Die Zellenmetaphorik zeigt ihre unbarmherzige Seite: Der Ich-Süchtige kennt und begreift […] die Welt-Erscheinungen nicht. Die Folge davon ist Mangel an Theilnahme und Mitgefühl (Sympathie) und Unfähigkeit, sich an Natur und Menschheit anzupassen. Die Gefühllosigkeit und Anpassungs-Unfähigkeit, häufig von Verirrung der Triebe und Zwangs-Antrieben begleitet, macht aus dem Ich-Süchtigen ein gesellschaftsfeindliches Wesen. Er ist ein sittlich Irrsinniger, ein Verbrecher, ein Pessimist, ein Anarchist, ein Hasser der Menschheit, und zwar all das entweder blos in seinen Gedanken und Empfindungen oder auch in seinen Thaten. Der Kampf gegen den gesellschaftsfeindlichen IchSüchtigen, seine Ausscheidung aus dem Gesellschafts-Körper, ist eine nothwendige Verrichtung des letztern und wenn er dazu nicht im Stande ist, so ist dies ein Anzeichen schwindender Lebenskraft oder schwerer Erkrankung. Duldung oder gar Bewunderung des theoretisierenden oder handelnden Ich-süchtigen beweist, daß gleichsam die Nieren des Gesellschafts-Organismus ihre Schuldigkeit nicht thun, daß die Gesellschaft an der Brightschen Krankheit leidet. (Nordau 1893: 41f)
Die Frage, auf welche Weise Ich und Nicht-Ich zueinander in Beziehung treten, wird verschoben zu der Frage, wann und mit Hilfe welches Objektbezuges ein Ich für den »Gesellschafts-Körper« nützlich sei. Der Ich-Süchtige ist ein »gesellschaftsfeindliches We22 Zum ›biologischen Turn‹ in der Medizin des 19. Jahrhunderts siehe Roelcke 1997. 194
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sen« nicht nur aufgrund einer mehr oder weniger stilisierten Absonderung von der Gemeinschaft, er trägt auch nichts zur Erhaltung der Gemeinschaft bei. Statt seinen Willen und seine Arbeitskraft, wie Bourget betont hatte, dem Gemeinwohl unterzuordnen, entzieht sich der moderne Künstler der allgemeinen Arbeitsökonomie. In Nordaus Vehemenz, mit der er die Loslösung »der oberen Zehntausend«23 aus dem Produktionsprozess als häretische Selbstvergötterung betrachtet, könnte man den Niederschlag eines protestantischen Arbeitsethos sehen, wie es von Max Weber beschrieben (Weber 1996) und von Horkheimer und Adorno mit Blick auf die Verabsolutierung der Aufklärung analysiert worden ist.24 Die Orientierung am Arbeitsbegriff, die auch in der literaturwissenschaftlichen Selbstbeschreibung eine große Rolle spielt,25 verspricht die Organisation eines Austausches zwischen Ich und NichtIch, die einen Mehrwert erzeugt, statt im Objektbezug lediglich Leere, Echolalie, Wiederholung und Selbstbezüglichkeit zu reproduzieren. Bei Nordau kippt die Orientierung am Arbeitsbegriff jedoch in eine moralistische Ethik: Wer Form als Form feiert, macht sich nicht nur zum Parasiten der Sprache und des Sinnes, er ist zugleich ein unnützes und »gesellschaftsfeindliches Wesen«, welches mit allen Mitteln bekämpft werden muss. Der universale Zusammenhang des Weltganzen dient in diesem Sinne der Begründung eines rigoro23 Nordau 1896: 5 und Nordau 1893: 469: »die obere Schichte der Großstadt-Bevölkerung«. 24 Horkheimer/Adorno 1988: etwa 9-50. »Noch die deduktive Form der Wissenschaft spiegelt Hierarchie und Zwang. Wie die ersten Kategorien den organisierten Stamm und seine Macht über den Einzelnen repräsentieren, gründet die gesamte logische Ordnung, Abhängigkeit, Verkettung, Umgreifen und Zusammenschluß der Begriffe in den entsprechenden Verhältnissen der sozialen Wirklichkeit, der Arbeitsteilung. […] Die Herrschaft tritt dem Einzelnen als das Allgemeine gegenüber, als die Vernunft in der Wirklichkeit. Die Macht aller Mitglieder der Gesellschaft, denen als solchen kein anderer Ausweg offen ist, summiert sich durch die ihnen auferlegte Arbeitsteilung immer von neuem zur Realisierung des Ganzen, dessen Rationalität dadurch wiederum vervielfacht wird. Was allen durch die Wenigen geschieht, vollzieht sich stets als Überwältigung Einzelner durch Viele: stets trägt die Unterdrückung der Gesellschaft zugleich die Züge der Unterdrückung durch ein Kollektiv.« (Horkheimer/Adorno 1988: 27f). 25 Ein Beispiel hierfür ist die bereits zitierte Textpassage aus Barthes 1987: 20. 195
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sen Ausschlusses all jener, die sich nicht nahtlos in ihn einfügen können oder wollen. Ist der »Gesellschafts-Körper« nicht in der Lage, diese »gesellschaftsfeindlichen Ich-Süchtigen« auszuscheiden, dann droht eine Krise des Ganzen einzutreten. Nordau will »Niere« sein. Er schreitet verbal zur Tat.
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7 »M A C H T E R G R E I F U N G «
There’s a Man going around and taking names And he decides who to free and who to blame (Johnny Cash)
Entartung endet mit einem Teil, der unter dem Titel »Das zwanzigste Jahrhundert« sowohl eine »Prognose« als auch eine »Therapie« der ,grassierenden Entartung‹ annonciert. Nordau »vollendet« die »lange und leidvolle Wanderung durch das Krankenhaus, als das wir, wenn nicht die ganze gesittete Menschheit, so doch die obere Schicht der Großstadt-Bevölkerung kennen gelernt haben« (Nordau 1893: 469). Er greift jene Erzählhaltung wieder auf, die bereits seine Ausführungen über die »Symptome« der Entartung gekennzeichnet hatte: Die Perspektive eines allwissenden Erzählers, der sein Publikum nun, nachdem der Aussichtspunkt erreicht und der ›Rundgang‹ durch die moderne Kunst beendet ist, wieder direkt adressiert. Nach Zusammenfassendem und Visionärem, nach Beschwörung der Gefahren, die von den ›Entarteten‹ ausgehen, und Hoffnungen, die sich auf die ›Gesunden‹ richten, wird Nordaus Rede programmatisch, politisch und theologisch zugleich. Am Ende der Vollendung steht eine Erfüllung: Wir haben nichts mit ihnen gemein. Sie wollen Schwelgerei, wir wollen Arbeit. Sie wollen das Bewußtsein im Unbewußten ersäufen, wir wollen das Bewußtsein stärken und bereichern. Sie wollen Gedankenflucht und Faselei, wir wollen Aufmerksamkeit, Beobachtung und Erkenntnis. Daran mag Jeder die echten Modernen erkennen und von den Schwindlern, die sich Moderne nennen, sicher unterscheiden: wer ihm Zuchtlosigkeit predigt, der ist ein Feind des Fortschrittes, und wer sein Ich anbetet, der ist ein Feind der Gesellschaft. Diese hat Nächstenliebe und Opferfähigkeit zur ersten Voraussetzung und der Fortschritt ist die Wirkung immer härterer Bezwingung des Thiers im Menschen, immer strafferer Selbstzügelung, immer feinern Pflicht- und Verantwortlichkeitsgefühls. Die Emanzipation, für die wir wirken, ist die des Urtheils, nicht die der Begierden.
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RHETORIK DER ENTARTUNG
Um es mit einem tiefdröhnenden Worte der Schrift zu sagen (Matth. 5,17): »Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen bin, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen.« Ende. (Nordau 1893: 506)
Der erste Satz markiert eine radikale Dichotomie, die in den Personalpronomen zum Ausdruck kommt: Es spricht nunmehr ein »wir«, eine Gemeinschaft, und dieses »wir« hat ein Gegenüber, das als »sie« nicht mehr an-, sondern besprochen wird. »Wir« hat mit »sie«, mit »ihnen« nichts »gemein« – nicht ›nichts mehr‹, sondern schlicht ›nichts‹. »Sie«, das ist die andere Seite des »wir«, das, was nie zum »wir« gehörte und nie zu ihm gehören wird. Das, was als Kehrseite des »wir« die Gemeinschaft des »wir« überhaupt näher bestimmt: »Sie«, das ist Schwelgerei, das Ersäufen des Bewussten im Unbewussten, »Gedankenflucht und Faselei«. »Wir«, das ist »Arbeit«, Stärkung und Bereicherung des Bewusstseins, »Aufmerksamkeit, Beobachtung und Erkenntnis«1. Die Rede ist nicht mehr von Ich und Nicht-Ich, von Ich und Du, sondern von »Wir« und »Sie«. Nordau bedient sich hierbei eines »sprachliche[n] Code[s]«, der, wie Adriana Cavarero im Zusammenhang einer Ethik des »Du« formuliert hat, »auf der inneren Moral der Pronomen beruht«: »Das ›Du‹ kommt vor dem Wir, vor dem Ihr und vor dem Sie (im Plural). Symptomatischerweise ist das ›Du‹ kein Begriff, der in modernen und zeitgenössischen Entwicklungen der Ethik und Politik vertraut ist. Das ›Du‹ wird in individualistisch angelegten Lehren ignoriert, die sich zu sehr darauf konzentrieren, die Rechte des Ich zu preisen, und das ›Du‹ wird durch eine Kantische Form der Ethik maskiert, die lediglich von einem Ich ausgehen kann. Das ›Du‹ findet auch kein Zuhause in jenen Denkschulen, gegen die sich der Individualismus wendet – an diesen Schulen zeigt sich meist eine moralistische Untugend, die die Nachbarschaft des Du meidet, um der Dekadenz des Ich zu entgehen, und die statt dessen Kollektivpronomen, Pluralpronomen den Vorzug gibt. Tatsächlich scheint vielen revolutionären Bewegungen (vom traditionellen Kommunismus bis hin zur feministischen Schwesternschaft) ein merkwürdiger sprachlicher Code gemeinsam, der auf der inneren Moral der Pronomen 1
Womit zugleich deutlich wird, dass die Idealvorstellung des Wissenschaftlers, und d.i. des Naturwissenschaftlers, nicht nur eine entschieden hagiographische Komponente besitzt (siehe Kapitel 1: Eine Widmung), sondern das naturwissenschaftliche Erkenntnismodell überhaupt ethisch nobilitiert wird. 198
»MACHTERGREIFUNG«
basiert. Das Wir ist immer positiv, das Ihr ist ein möglicher Verbündeter, das Sie (im Plural) hat das Gesicht des Gegners, das Ich ist ungehörig, und das Du ist natürlich überflüssig.«2
Die Dekadenz des Ichs, die Nordau als Ich-Sucht ins Visier genommen hatte, gilt es abzuwehren. Gegen das ›ungehörige‹ Ich setzt er auf die Schlagkraft eines »Wir«, um mit Hilfe des Kollektivpronomens den Ausschluss eines Individualismus durchzusetzen, der ihm als parasitäre Wucherung erscheint. Die Kategorie des »Du«, von der Cavarero und Butler sprechen, bleibt demgegenüber blass und unbedeutend. Das Nicht-Ich, das in seiner Naturgeschichte der Entwicklungspsychophysiologie als entscheidende Bezugsgröße für die Herausbildung einer ›reifen‹ und der Welt zugewandten Haltung des Ichs propagiert wurde, entspringt einem »Denkfehler«. Anders formuliert: Nordau führt zwar einerseits aus, dass das Ich sich aus seiner leeren Selbstbezüglichkeit nur herauslösen kann, wenn es einen mitfühlenden, empathischen Bezug zum Anderen aufbaut und diesem Bezugspunkt mehr Beachtung schenkt, als seinen eigenen Regungen und Trieben, andererseits ist diese Form von Altruismus weder Ausgangspunkt noch Ziel seiner Ethik. »Ich« und »Du« finden ihre ›letzte‹ Begründung in jener Metaphorik des Zellenverbandes, die zwar die allgemeine Verbundenheit und Abhängigkeit aller mit allen veranschaulicht, den einzelnen Elementen jedoch nur eine »untergeordnete« Stellung zuspricht. Ethische Bewertung erfolgt nach Maßgabe der mehr oder minder gelungenen Ein- und Unterordnung unter das Gesamtziel, oder (wie bereits in der Einleitung zitiert): »Thue Alles, was das Wol der Menschheit fördert; unterlasse Alles, was der Menschheit Schaden oder Schmerz zufügt« (Nordau 1884: 417f). Entgegen seiner Betonung der Bedeutung des Nicht-Ichs für die Herausbildung des Ichs, für jenen Altruismus und jene mitleidige Zuwendung, die Grundlage von Sozialität und Verantwortung sind, hat Nordau eine Ethik des »Du« also nicht im Sinn. Der ›Entartete‹ kommt als Nicht-Ich, als »Du« nicht ins Spiel, wie Nordaus Verwendung der Kollektivpronomen signalisiert. Die Dichotomie von gesund und krank steuert die Unterscheidung zwischen Wir und Sie. Obgleich Nordau wenige Seiten vor der zitierten Passage hervorhebt: »Zwischen Krankheit und Gesundheit besteht 2
Adriana Cavarero, Relating Narratives, London 1997, 90f; zitiert nach Butler 2003: 44. 199
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kein Wesens-, sondern nur ein Mengen-Unterschied. Es gibt nur eine Art von Lebensthätigkeit der Zellen und Zellensysteme oder Organe. Sie ist dieselbe in Krankheit und Gesundheit« (Nordau 1893: 494f), steuert eben diese Dichotomie seine Rhetorik. Der gemeinsame Nenner, als der hier »Zellen und Zellensysteme« bei Kranken und Gesunden erscheinen, hält Nordaus moralistischen Attacken gegen ›die Modernen‹ nicht stand. »Sie« sind die Art von Anderen, mit denen Gemeinsamkeiten nicht gesucht werden können und sollen, »das Sie (im Plural) hat das Gesicht des Gegners«. Mit diesem Gegner kann und darf der Diskurs nicht fortgesetzt werden.3 Wer von den für das Kollektiv geltenden und »als ›vernünftig‹ definierten Normen: Fortschritt, Evolution, Wissenschaftlichkeit, Modernität, Arbeit und Gesittung« abweicht, wird im »Namen einer autoritär gewordenen Vernunft denunziert« (Schulte 1997: 213). Gegen das als Seuche der Entartung charakterisierte »Sie« ist das von Nordau propagierte Heilmittel […] eine Rechtfertigung seines eigenen Unternehmens, es heißt: Aufklärung als »wissenschaftliche Kritik« (II, S. 546). Sie wird zu einer nachgerade sakralen Mission, die den Teufel in allen Gestalten der Unvernunft jenen austreiben will, denen er überhaupt noch auszutreiben ist. Die Presse und die medizinischen Experten vor allem haben die »heilige Pflicht« (II, S. 554), die Geistesgesunden und die noch nicht zu tief Erkrankten »davon abzuhalten, sich den Entartungs-Richtungen anzuschließen« (II, S. 558) und damit diejenigen, die den Kern der kranken Moderne bilden, zu isolieren. »Das ist die Behandlung der Zeitkrankheit, die ich für wirksam halte: Kennzeichnung der führenden Entarteten und Hysteriker als Kranke, Entlarvung und Brandmarkung der Nachäffer als Gesellschaftsfeinde, Warnung des Publikums vor den Lügen der Schmarotzer.« (Anz 1989: 46)
Während also der Adressat der Nordauschen Rede ein »möglicher Verbündeter« im Kampf gegen die ›Entartung‹ ist, sind ›die Anderen‹ nur noch zu ›kennzeichnen‹, zu ›entlarven‹ und zu ›brandmarken‹. Wer einmal als »Feind des Fortschritts« oder als »Feind der Gesellschaft« erkannt ist, ›dem ist nicht mehr zu helfen‹. Isolation ist die ultima ratio im Seuchengebiet.
3
»Der ästhetische Diskurs über die Kunst des ›fin de siècle‹ und mit ihren Repräsentanten muß abgebrochen und in einen psychopathologischen überführt werden.« (Anz 1989: 35). 200
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Davon, »Urteile aufzuschieben« oder auf die Mittel der »Verdammung«, der »Anprangerung« oder der »vernichtende[n] Kritik« zu verzichten, hält Nordau nichts. Sein moralistischer Rigorismus zielt vielmehr darauf ab, »sehr rasch eine ontologische Differenz zwischen Urteilendem und Beurteiltem herzustellen, ja, sich selbst vom Anderen zu reinigen.« »Lau« zu sein, bedeutet demgegenüber, dem allgemeinen Verfall zu assistieren.4 Die Verurteilung »dient […] dazu, den Anderen zum Nichtanerkennbaren zu machen.« (Butler 2003: 61) Dabei legitimiert Nordau seine ethische Gewalt immer wieder mit der Bedrohung und Gewaltbereitschaft, die von seinen Gegnern ausgeht. ›Entartete‹ sind nicht nur ansteckend und verderben Sitten, Kunst und Jugend, sie sind ebenfalls (verhinderte) Verbrecher und fordern rigoros das Ende des status quo. »Diaboliker und Decadenten unterscheiden sich von den Verbrechern lediglich darin, daß jene blos träumen und Worte machen, diese aber die Entschlossenheit und die Kraft haben, Thaten zu thun.« (Nordau 1893: 33) Ein Beispiel für die anmaßende und ebenso egozentrische wie aggressive ›Gewaltbereitschaft‹ der ›Entarteten‹ ist Baudelaire. Schon den einen Dummkopf zu nennen, der auf sinnloses Reimgeklingel und Stränge angeblich schöner Eigennamen nichts gibt, ist eine alberne Selbstüberhebung, über die man lachen muß. Aber Baudelaire spricht sogar von »Unnöthigen«! Man hat kein Recht, zu leben, wenn man dem, was er »dichterische Genüsse« nennt, das heißt blödsinniger Echolalie, unzugänglich ist! Weil er mit kindischem Ernst Wortspielerei treibt, muß jeder Andere seinem Säugling-Treiben dieselbe Wichtigkeit beimessen wie er und wer dies nicht thut, der ist nicht etwa blos ein Philister oder ein untergeordnetes Wesen ohne Empfänglichkeit und Feinsinn, nein, er ist ein Unnöthiger! Hätte der Tropf die Macht dazu, so würde er ohne Zweifel seinen Gedanken bis ans Ende verfolgen und die »Unnöthigen« aus der Reihe der Lebenden fegen, wie Nero diejenigen tödten ließ, die seinem Spiel im Theater nicht Beifall klatschten. Kann sich die ungeheuerliche Ich-Sucht eines Gestörten rücksichtsloser äußern als in dieser Bemerkung Baudelaires? (Nordau 1893: 50f) 4
Siehe Fohrmann 2004: 136: »Wer sich trotz der knappen Zeit nicht auf die eine oder andere Seite schlagen mag, ist – in Luthers Übersetzung – ›lau‹. ›Lau‹ sein hieße dann nicht nur, sich nicht entscheiden zu können, sondern hieße auch, sich im Entscheiden, d.h. im noch Unentschiedensein, zu viel Zeit zu lassen, den Zeitpunkt irreversibel und auf immer zu verpassen.« 201
RHETORIK DER ENTARTUNG
Statt zu ›lachen‹ schreibt Nordau eine zweibändige »Generalabrechnung« (Schulte 1997: 251), in welcher er den Nachweis erbringen will, dass »sinnloses Reimgeklingel«, »blödsinnige[] Echolalie«, »Wortspielerei« allesamt nicht nur eine »alberne Selbstüberhebung«, sondern Anzeichen einer gefährlichen Erkrankung des ›Gesellschafts-Körpers‹ sind. Baudelaire betritt als verhinderter Nero die Bühne, der sich anmaßt, all jene, »die seinem Spiel im Theater nicht Beifall klatschen«, als ›unnötige‹ Existenzen zu verfolgen. Nun könnte man bissig anmerken, dass Nordau eine erstaunliche Sensibilität für die verbalen Attacken und Diffamierungen anderer zeigt. Doch man kann die Empörung über die »ungeheuerliche IchSucht eines Gestörten«, der sich zum »Herrenmenschen«5 aufwirft, um all jene, die sich ›der Avantgarde‹ nicht anschließen, als »Unnöthige« zu bezeichnen, auch ernster nehmen. Die »wilden Horden«, die sich mit ›lärmendem Gejohle‹ bemerkbar machen, werden von Nordau gleich in welcher Form als Aggressoren, die den ›Normalbürger‹ in seiner Existenz infrage stellen, dargestellt. Im Unterschied zu Christoph Schulte lese ich Nordaus Entartung nicht in erster Linie als »Problemanzeige« der »modernen Entwicklung der Kunst und des Kunstverständnisses in ihren Entstehungsjahren, in denen unter den Augen ihres Kritikers die Autonomie der nicht mehr schönen Künste verwirklicht wird« und dieser Autonomisierungsprozess »für das bürgerlich-aufgeklärte Normalbewußtsein seiner Zeit« eine »Zumutung« gewesen sei (Schulte 1997: 252). Die Verve, mit der sich Nordau gegen die moderne Kunst aufwirft, geht über ›Zumutungen‹ oder Irritationen des bürgerlichen »Normalbewußtsein[s]« hinaus. Wie Andrea Kottow bemerkt hat, zeigt sich in Nordaus Panoptikum der Moderne eine beachtliche Energieleistung: »Er kennt das, was er als Krankheit abstempelt, sehr genau […]. […] Es scheint ihn der Drang zu bewegen, das, was er als gesellschaftsfeindlich markieren möchte, so genau zu kennen, dass er jedes Detail als Resultat einer Krankheit erkennen und beschreiben kann.« (Kottow 2004: 42) So wie sich Nordaus Versuch, den Ausschluss der Modernen aus der Gesellschaft zu bewirken, rhetorisch aus dem aggressiven 5
Nordau setzt sich ausführlich mit Nietzsches Herren-Metaphorik auseinander, siehe Nordau 1893: 272-357, insbesondere 281ff, wo sich Nordau eingehender mit der Rolle ›Israels‹ in Nietzsches Herren- und Sklavenmoral beschäftigt. 202
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und feindseligen Potential der ›Entarteten‹ ableitet, so intensiv ist zugleich seine Auseinandersetzung mit ›dem Feind‹. Souveränität und Infragestellung von Souveränität werden gekoppelt mit Verletzung und Verletzbarkeit und auf diese Weise zum eigentlichen ›drive‹ des Nordauschen Schreibens, welches die ›Gegenseite‹ aufs Genaueste zu analysieren beansprucht. Dabei ist es weniger die Exaktheit seiner Analyse oder seine Sachkompetenz, sondern vielmehr der ›Ton‹, welcher sich in die Argumentation einschleicht, der Hinweise auf Nordaus »Drang« liefert, »das, was er als gesellschaftsfeindlich« ansieht, genauer unter die Lupe zu nehmen. So sehr Nordau die ›Emotivität‹ der Modernen als Stigma ihrer Entartung anprangert, sein eigenes Sprechen ist allenthalben affektiv aufgeladen. Diese Affektivität seines Diskurses über den affektiven Diskurs der Modernen ist gekennzeichnet von einer abwertenden, verwerfenden Metaphorik und zahllosen Wiederholungen. Obgleich er mit Blick auf Wagner und andere betont hatte, dass Wiederholung ein Anzeichen zwanghafter Rastlosigkeit sei: Er selbst wird, wie Shaw hervorgehoben hatte, nicht müde, die im Wesentlichen immer gleichen Stigmata der Entartung zu suchen und zu finden,6 Beispiele an Beispiele zu reihen, Zitate an Zitate, die als Nachweis krankhafter Psyche und Textur dienen sollen. Während das Publikum und die Anhängerschaft der ›Entarteten‹ mal als Hysteriker und Neurastheniker, mal als »Dutzendmenschen«, als »Gaffer«, die »schulgerecht nachzwitscherten, was Andere ihnen vorsangen« (Nordau 1893: 44), erklärt werden, sind ihre ›Anführer‹ Entartete, deren »Lallen, Faseln, Irrereden und Fadenverlieren, greisenhaft ihr unvermögendes Lüsteln und ihre Gier« demonstrieren (Nordau 1893: 496). Zur pathologisierenden Sprache gesellen sich allenthalben verbale Schmähungen, die das Objekt der Rede als Parasiten, Tagediebe, Selbstverliebte, die »ihr faules Ich
6
Was Martin Ray veranlasst, Entartung mehr als symptomatische denn als diagnostische Beschreibung der angeführten Phänomene zu betrachten: »Conrad is in fact making clear what is present already in Degeneration, albeit unconsciously, for the book is ironically suffering from the very disease which Nordau unfailingly perceives in everyone else; in its pathological obsession with degeneracy and its astonishingly confident diagnosis of deviancy, Nordau’s work seems to be a victim of the higher forms of degeneracy as it describes them, most notably ego-mania. Degeneration is symptomatic rather than diagnostic.« (Ray 1984: 127). 203
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als ihren Gott ausrufen« (Nordau 1893: 496), Idioten, Lüstlinge, zumindest potentielle Verbrecher usw. titulieren. In gleicher Weise gilt für die ›emotiven‹ Modernen wie für Nordaus eigene Rede: »Das ›erregte‹, ›unzurechnungsfähige‹ Sprechen ist der zugleich gewollte wie ungewollte Effekt eines Sprechens.« (Butler 1998: 61) Den Verlust an Kontrolle, die für Nordau an die Vermögen der Aufmerksamkeit und Willenskraft gekoppelt ist, versucht er für sein eigenes Sprechen wieder einzuholen. Er bemüht sich darum, die eigenen Affekte gegen die modernen Anführer und Gefolgsleute zu rationalisieren und moralisch zu begründen.7 Im Teil über die Ich-Sucht entwickelt er eine »Naturgeschichte der Lust- und Unlustgefühle«, die für die Legitimation des moralischen Affektes von zentraler Bedeutung ist. »Die Sittlichkeit, nicht die äußerlich angelernte, sondern die von uns als innerer Drang empfundene, ist im Laufe der Tausende von Geschlechtsfolgen zu einem organisirten Triebe geworden.« (Nordau 1893: 31) Wenn »Sittlichkeit« in dieser Weise als »innerer Drang« konzipiert wird, der im Laufe der Evolution zu einem »organisirten Triebe geworden« sei, dann wird Ethik naturalisiert. Sittlichkeit wird als eine Reaktion aufgefasst, in welcher sich unwillkürlich Affekte äußern, die nicht »angelernt«, sondern ererbt sind. Die organisirte Erberfahrung der Gattung belehrt ihn über die Schädlichkeit der Einwirkungen, denen er häufig ausgesetzt ist. Seine Vorposten gegen die feindlichen Naturkräfte sind seine Sinne. Geschmack und Geruch geben ihm von chemotaktisch abstoßenden Stoffen den Eindruck von Ekel und Gestank, die verschiedenen Arten von Hautempfindung bringen ihm durch Schmerz, Hitze- und Kältegefühl zum Bewußtsein, daß eine gegebene Berührung für ihn störend ist, Auge und Ohr warnen ihn durch die Empfindung des Grellen, des Gellenden, des Mißklanges vor
7
Davon, wie wenig sich Nordau den eigenen, affektiven Ton zuzugestehen oder gar zu analysieren bereit ist, zeugt ein Brief, den er anlässlich seiner Auseinandersetzungen mit Karl Bleibtreu schrieb: »Sie [wissen ja], gegen welch schwere Beleidigung ich meine Ehre zu vertheidigen habe. / Sie, der sie mich kennen, wissen, daß ›Animosität‹ und ›wilder Haß‹ im Register meiner Gefühle – leider! – völlig fehlen. Ich wäre mehr gefürchtet und müßte mich weniger wehren, wenn ich besser hassen könnte. Ich bin mir bewußt, Niemand zu hassen und am allerwenigsten Hrn. Bleibtreu, obschon er mich seit etwa 14 Jahren unausgesetzt verfolgt.« (Nordau an Maximilian Bern, 20.12.1900, zitiert nach: Zudrell 2003: 121). 204
»MACHTERGREIFUNG«
den mechanischen Wirkungen gewisser physikalischer Erscheinungen und die höheren Hirnzentren antworten auf ihre Vorstellung mit der ebenfalls zusammengesetzten Gegenwirkung der Unlust in ihren verschiedenen Heftigkeitsgraden vom bloßen Unbehagen bis zum Abscheu, zur Entrüstung, zum Entsetzen oder zur Wuth. (Nordau 1893: 67)
Nordau parallelisiert in schnellem Wurf die physikalische Vorstellung von Anziehung und Abstoßung mit der sinnlichen Wahrnehmung angenehmer oder unangenehmer Reize, um diese sodann mit sittlich-moralischen Urteilen zu korrelieren. So wie man eine Anziehungskraft zwischen kleinsten Teilchen und ein sinnliches Wohlempfinden bei angenehmen Umweltreizen beobachten kann, »belehrt« die »organisirte Erberfahrung der Gattung« als eine Form organischen Gedächtnisses über jene Verhaltensformen, die für die Interessen der Gattung förderlich sind.8 Ebenso automatisch warnt nicht nur die sinnliche, sondern auch die sittliche Unlust vor möglichen Gefährdungen. Diese besitzt verschiedene »Heftigkeitsgrade[]«, in welchen sich die Ablehnung kundtut: Sie reichen von »Unbehagen«, »Abscheu«, »Entrüstung«, »Entsetzen« zur »Wuth«. Analog zu schädlichen Umwelteinflüssen, vor denen die »verschiedenen Arten von Hautempfindung« wie auch »Schmerz, Hitze- und 8
Nordau geht soweit, den Darwinismus dahingehend zu modifizieren, dass nicht nur eine Verbindung zum Lamarckismus, sondern auch zur willentlichen Modifikation der Evolution denkbar sein soll. Siehe Nordau 1893: 34-36: »Der Darwinismus erklärt die Anpassung blos als Ergebniß des Kampfes ums Dasein und der Zuchtwahl, welche eine Form jenes Kampfes ist. In einem Einzelwesen tritt zufällig eine Eigenschaft auf, die es zur Selbsterhaltung und Besiegung der Feinde geschickter macht als die Individuen, welche ohne jene Eigenschaft geboren werden. Es findet günstigere Lebensbedingungen, hinterläßt zahlreichere Nachkommen, welche die vorteilhafte Eigenschaft erben, und durch das Ueberleben der Tüchtigsten und das Verschwinden der minder Tauglichen wird schließlich die ganze Gattung Besitzerin der vortheilhaften Eigenschaft. […] Ich denke mir den Vorgang der Anpassung ganz anders […]. Für mich ist […] die Anpassung meistens kein Ergebniß zufällig erlangter Eigenschaften, sondern eine Willenshandlung. Ihre Voraussetzung ist deutliche Wahrnehmung und Vorstellung der äußeren Ursachen von Unlustgefühlen und der starke Wunsch, diesen Unlustgefühlen zu entgehen, oder auch das Verlangen, sich Lustgefühle zu verschaffen, also ein organischer Appetit. […] Man hat Unrecht gehabt, Lamarck zu verspotten, als er lehrte, daß die Giraffe einen langen Hals habe, weil sie ihn fortwährend reckte, um die Kronen hochstämmiger Bäume zu erreichen […].« 205
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Kältegefühl« warnen, alarmiert der moralische Affekt vor den »Verirrungen«, den »Perversion[en]«, denen die allgemeine Sittlichkeit ausgesetzt ist. [Die Perversion] hat die Wirkung, daß ein Organ oder der ganze Organismus seinen normalen Aufgaben und seinen natürlichen Gesetzen zuwider arbeitet und nicht anders arbeiten kann. In der Verirrung des Geschmacks sucht der Kranke mit Gier Alles zu verschlingen, was sonst den tieffsten Ekel erregt, das heißt triebhaft als schädlich empfunden und darum zurückgestoßen wird, also verwesende organische Stoffe, Unrath, Eiter, Husten-Auswurf u. dgl. […]. Der Ich-Süchtige dieser Gattung steht dem Guten und Bösen nicht mehr blos unempfindlich und ohne Unterscheidungs-Fähigkeit gegenüber, sondern er hat eine entschiedene Vorliebe für das Böse, schätzt es bei Anderen, thut es selbst jedesmal, wenn er nach Neigung handeln kann, und erkennt ihm die eigene Schönheit zu, die der gesunde Mensch am Guten findet. (Nordau 1893: 31f)
Von einer Indifferenz oder willentlich-bewussten Abkehr von der absolut gesetzten Norm des Schönen und Guten kann demnach keine Rede mehr sein. »Diaboliker und Decadenten« sind wie »HustenAuswurf«, das ›gesunde Wir‹, das sich aus der Filiation der Gattung herleitet, kann auf beides nur mit automatischem9 Ekel reagieren. Ekel, Abscheu, Wut sind Affekte der Abwehr und Verwerfung, die ihrem Objekt einen bestimmten Ort zuweisen. Wie bei »Unrath, Eiter, Husten-Auswurf« wird auch beim Entarteten etwas sichtbar, das 9
Nordau 1893: 68: »[Dem Unbewußten] ist denn auch die Abwehr der einfachen, häufig vorkommenden Schädlichkeiten überlassen und der Ekel gegen unzuträgliche Geschmacks-, der Widerwille gegen solche Geruchs-Eindrücke, das Entsetzen vor gefährlichen Thieren, NaturErscheinungen u. s. w. ist in ihm zum Triebe geworden, dem der Organismus sich ohne Nachdenken, das heißt ohne Dazwischenkunft des Bewußtseins, überläßt. Aber nicht nur was ihm selbst unmittelbar schädlich ist lernt der menschliche Organismus unterscheiden und scheuen, sondern auch das, was ihn nicht als Individuum, sondern als Gattungswesen, als Mitglied einer gefügten Gesellschaft bedroht; auch die Abneigung gegen Einwirkungen, die den Bestand oder das Gedeihen der Gesellschaft schädigen, wird bei ihm zum Triebe. Doch stellt diese Bereicherung der organisierten Erkenntniß des Unbewußten einen hohen Grad von Entwickelung dar, den viele Menschen nicht erreichen. Die gesellschaftlichen Triebe sind vom Menschen am spätesten erworben worden und dem bekannten Gesetze gemäß verliert er sie zuerst, wenn er in seiner organischen Entwickelung zurückgeht.« 206
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mehr ist als ein bloßer Rest oder ein Abfallprodukt: Wer oder was die Emotionen der Abwehr hervorruft, muss beseitigt, aus dem Blickfeld des ›gesunden Volksempfindens‹ gerückt werden. Es fragt sich, wie diese affektive Ökonomie näher beschrieben werden kann und ob – und wenn ja, in welcher Weise – Nordaus »Naturgeschichte der Lust- und Unlustgefühle« auch seine »Generalabrechnung« mit den Modernen vorstrukturiert. Mit Hilfe der psychoanalytischen Theorie ließen sich verschiedene Modelle für die von Nordau vorgeführte Abwehrstruktur diskutieren. Zunächst wäre an den Begriff der Verdrängung zu denken, der ganz allgemein eine Verbannung von Trieben aus dem Bewussten in das Unbewusste meint.10 Für diese allgemeine Formulierung spricht etwa auch Nordaus einleitend zitierte Schlusspassage von Entartung, in welcher er »Sie« mit dem Unbewussten, das »Wir« jedoch mit der Stärkung des Bewusstseins identifiziert. Doch die von Nordau hervorgehobenen Affekte von Unbehagen, »Wuth«, Abscheu, Entrüstung, Entsetzen und Ekel stellen mehr dar als eine Verbannung ihrer Objekte ins Reich des Unbewussten: das Objekt der Emotion wird von ihnen (zunehmend radikal) verworfen. Der Begriff der Verwerfung ist in der Psychoanalyse unterschiedlich definiert worden. Bei Lacan wird er vor allem für die Erklärung eines »Mechanismus, der dem psychotischen Geschehen zugrunde liegt«, verwendet, um eine terminologische Abgrenzung vom allgemeinen Begriff der »Verdrängung« vorzunehmen. Im Vorgang der Verwerfung wird das zu verdrängende Element (bei Lacan: ein Signifikant) nicht ins Unbewusste integriert, und kommt – statt wie in der Verdrängung aus dem Unbewussten – nunmehr aus dem »Realen«, von Außen wieder zurück.11 Sigmund Freud hat den Begriff der Verwerfung verschiedentlich verwendet. Wie die Rückkehr des Verworfenen aus dem Außen gedacht wird, macht Freud etwa in einer Analyse der Paranoia deutlich. Interessanter Weise geht Freud an dieser Stelle von den Weltuntergangsvisionen des Senatspräsidenten Schreber aus:
10 Da es sich hier um einen Grundbegriff der Freudschen Psychoanalyse handelt, findet er sich praktisch überall in seinen Schriften wieder. Hier sei nur auf die kurze Schrift von 1915: Freud 1999i, hingewiesen. 11 Siehe den Kurzabriss der psychoanalytischen Begriffsgeschichte in: Laplanche/Pontalis 1998: 608. 207
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Der Kranke hat den Personen seiner Umgebung und der Außenwelt überhaupt die Libidobesetzung entzogen, die ihnen bisher zugewendet war […]. Der Weltuntergang ist die Projektion dieser innerlichen Katastrophe; seine subjektive Welt ist untergegangen, seitdem er ihr seine Liebe entzogen hat. […] Und der Paranoiker baut sie wieder auf, nicht prächtiger zwar, aber wenigstens so, daß er wieder in ihr leben kann. […] Was wir für die Krankheitsproduktion halten, die Wahnbildung ist in Wirklichkeit der Heilungsversuch, die Rekonstruktion. Diese gelingt nach der Katastrophe mehr oder minder gut, […] [aber] der Mensch hat eine Beziehung zu den Personen und Dingen der Welt wiedergewonnen, oft eine sehr intensive, wenn sie auch feindlich sein mag, die früher erwartungsvoll zärtlich war. […] Was sich uns lärmend bemerkbar macht, das ist der Heilungsvorgang, der die Verdrängung rückgängig macht und die Libido wieder zu den von ihr verlassenen Personen zurückführt. Er vollzieht sich bei der Paranoia auf dem Wege der Projektion. Es war nicht richtig zu sagen, die innerlich unterdrückte Empfindung werde nach außen projiziert; wir sehen vielmehr ein, daß das innerlich Aufgehobene von außen wiederkehrt. (Freud 1999f: 307f)
Die Wiederkehr des Verdrängten von Außen, die sich »uns lärmend bemerkbar macht«, ist ein Strukturmoment, das für Nordaus Entartung an mehreren Stellen signifikant ist. Wir haben diese affektive Ökonomie sowohl im Kontext der apokalyptischen Situierung des Entartungsprojektes als auch in der Beschwörung der Gefahren, die von ungebahnter Ideenassoziation und Graphomanie ausgehen und schlussendlich in der epidemiologischen Metaphorik beobachtet. Immer dann, wenn die andere Seite des Sinns und der Sprache, der Souveränität und willentlichen Kontrolle der Affekte sichtbar wird, löst diese nicht nur Irritationen, sondern feindselige, abwehrende Gefühle aus. Der abwehrende ›Ton‹ findet seinen letzten Kulminationspunkt in Nordaus Schlussplädoyer, wo er seinem Publikum erklärt: »[Wer] ihm Zuchtlosigkeit predigt, der ist ein Feind des Fortschrittes, und wer sein Ich anbetet, der ist ein Feind der Gesellschaft.« Nordaus Entartungsrhetorik trägt zweifellos Züge einer verwerfenden Ökonomie12 – und ich möchte an dieser Stelle ausdrücklich betonen, dass es mir hier nicht um eine psychopathologische Einordnung von »Max Nordau«, sondern um die Analyse der
12 Walter Gartler hat diese Ökonomie aus psychoanalytischer Sicht am Beispiel von Fichte untersucht, Gartler 1992. 208
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Ökonomie der Sprechakte geht, die Entartung an zentralen Stellen steuern. Freud hat jedoch noch einen weiteren Begriff geprägt, der für die Form der Verneinung der ›Entarteten‹ in Nordaus Text aufschlussreich ist: An mehreren Stellen spricht er von der »Verurteilung« bzw. der »Urteilsverwerfung«. In einer »Stufenfolge«, die gewisse Ähnlichkeiten zu Nordaus Konzept der ›Naturgeschichte der Lust- und Unlustgefühle‹ aufweist, nimmt die Urteilsverwerfung den »höchst organisierten« Platz ein.13 In seinem Text über Die Verneinung von 1925 beschreibt Freud die Urteilsverwerfung14 als intellektuelle Variante des Verdrängungsvorganges: Mit Hilfe der Verneinung wird nur die eine Folge des Verdrängungsvorganges rückgängig gemacht, daß dessen Vorstellungsinhalt nicht zum Bewußtsein gelangt. […] Etwas im Urteil verneinen, heißt im Grunde: das ist etwas, was ich am liebsten verdrängen möchte. Die Verurteilung ist der intellektuelle Ersatz der Verdrängung, ihr Nein ein Merkzeichen derselben, ein Ursprungszertifikat etwa wie das ›made in Germany‹. (Freud 1999n: 12)
Die Analyse des Abgewehrten im Urteil eröffnet also eine bewusste Auseinandersetzung, die jedoch den verwerfenden Charakter der Urteilshandlung nicht aufhebt, sondern im Terrain des bewussten Erlebens austrägt. Auch in Nordaus ›Naturgeschichte der Lust- und Unlustgefühle‹ spielt die Bewusstseinsebene eine Rolle. Immer dann, wenn der automatische, sittliche Affekt außer Kraft gesetzt ist, ist es die Aufgabe des Bewusstseins, Abweichungen von der Norm und Gefahrenpotentiale zu markieren:
13 Laplanche/Pontalis 1998: 606: »Die Urteilsverwerfung gehört für ihn in eine Stufenfolge der Abwehr, die von der elementarsten bis zur höchst organisierten reicht: Abwehrreflex durch die Flucht (äußere Gefahr), Verdrängung (innere Gefahr), Urteilsverwerfung.« 14 Laplanche und Pontalis definieren den Begriff als: »Operation oder Verhaltensweise, durch die das Subjekt in dem Augenblick, in dem es sich eines Wunsches bewußt wird, sich hauptsächlich aus moralischen oder Gründen der Zweckmäßigkeit dessen Erfüllung versagt. Freud sieht darin eine Abwehrform, die verarbeiteter und angepaßter ist als die Verdrängung.« (Laplanche/Pontalis 1998: 606). 209
RHETORIK DER ENTARTUNG
Das Bewußtsein hat nur dann Anlaß, die Gefährlichkeit von Erscheinungen festzustellen und den Organismus gegen sie zu schützen, wenn diese Erscheinungen entweder ganz neue oder sehr seltene sind, so daß sie nicht erblich bekannt und gefürchtet sein können, oder wenn sie sehr viele verschiedenartige Bestandtheile in sich schließen, auch nicht unmittelbar, sondern erst in näherer oder entfernterer Folge wirken, so daß ihre Erkenntniß eine verwickelte Vorstellungs- und Urtheils-Thätigkeit erfordert. (Nordau 1893: 68)
Man geht wohl nicht zu weit, hierin eine Selbstbeschreibung Nordaus zu lesen. Sein Entartungsprojekt tritt mit dem Anspruch auf, den Anforderungen einer »verwickelte[n] Vorstellungs- und Urtheils-Thätigkeit« entsprechend, »ganz neue«, gefährliche »Erscheinungen« »festzustellen« und die Gemeinschaft des »Wir« vor diesen neuen Gefahren zu »schützen«. Wo die »organisirte Erberfahrung der Gattung« nicht mehr ausreicht, den ›GesellschaftsKörper‹ intuitiv zu schützen, beginnt die Aufgabe der Mediziner und wahren Propheten, die über das notwendige Bewusstsein und das Know-how für angemessene Urteile verfügen. Die »UrtheilsThätigkeit«, die in Entartung am Werk ist, trägt somit alle Züge einer Urteilsverwerfung, da der Akt der Verurteilung der Abwehr dient und der Verneinung dessen gilt, was mindestens als unzweckmäßig betrachtet wird. Wie bereits anhand der apokalyptischen Metaphorik gesehen, wirft sich Nordau zum Warner und Mahner vor dem Jüngsten Gericht auf. Er spricht im Dienste einer höheren Wahrheit und ergreift die Position des wahren Propheten, der die Heilsbotschaft vermitteln will. Die religiöse Metaphorik durchzieht die zwei Bände von Entartung, doch in der oben zitierten abschließenden Passage erreicht sie einen letzten Höhepunkt. Nordau, der auch »eine Posaune des Gerichts« (Rüttenauer 1895: 137-170; vgl. Zudrell 2003: 81) genannt wurde, schreibt sich ein in einen der »schwierigsten« Verse »im Evangelium«,15 in Matthäus 5,17. Er schreibt sich ein in die Bergpredigt. Er predigt. Und unterscheidet zwischen den wahren und den falschen Propheten, 15 Luz 1985: 230. Und ich möchte an dieser Stelle betonen, dass ich in meiner Analyse dieser Passage den verwickelten theologischen Auseinandersetzungen um die Deutung dieser Bibelstelle nicht folgen kann und werde. Meine Deutung der Passage ist ganz auf den Ort ihrer Zitation, bei Nordau bezogen. 210
»MACHTERGREIFUNG«
vielmehr er übernimmt die Position des wahren Propheten, indem er ihn zitiert. Das »tiefdröhnende Wort«, das er zitiert, spricht von der Auflösung der Propheten und des Gesetzes, die es nicht will, und der Erfüllung, die es will. Das Wort ist Erfüllung, vielmehr er verheißt Erfüllung, drückt den Wunsch, das Begehren aus, Erfüllung zu sein. Was Nordau mit Hilfe des Zitates deutlich macht, ist, dass es hier nicht um einen Wettstreit der Geltungsansprüche geht, sondern um eine finale Überbietung. Zu überbieten sind sowohl konkurrierende als auch jene Geltungsansprüche, aus denen sich der Sprecher herleitet. So wie sich Matthäus’ Rede aus Jesus, leitet sich Jesus’ Wahrheitsanspruch aus dem Vater-Sohn-Verhältnis zu Gott ab, und auch Nordau generiert ein mehrfaches Feld der Filiationen, in deren Nachfolge er spricht. Hierbei denke ich nicht nur an die komplexe Filiationslinie, die er in Widmung und Widmungsepistel zu Cesare Lombroso herstellt. Auch sein biologistisches Weltbild ist geprägt von Filiationsmustern, in denen sich die körperliche wie die sittliche Verfassung der Nachkommen von ihren Eltern und Vorfahren ableiten. »Meinet nicht, ich sei gekommen, das Gesetz oder die Propheten aufzulösen. Ich bin nicht gekommen aufzulösen, sondern zu erfüllen.« Die Jerusalemer Bibel kommentiert: »erfüllen D.h. vollenden. Jesus spricht nicht von einer materiellen Befolgung des ganzen alten Gesetzes, sondern von der neuen und endgültigen Form, die das Gesetz dadurch erhält, daß es vom Geist des Evangeliums überhöht und überboten wird.« (Bibel 1968: 1373) So wie in der Bergpredigt dieser Ankündigung eine Reihe von Überbietungen des Gesetzes folgen, die dem syntaktischen Muster: »Ihr habt gehört, daß…. Ich aber sage euch: …« (Mt 5, 20-43; Bibel 1968: 1374f) gehorchen, stellt auch Nordaus Fortschreibung des Alten, auf das er sich in der apokalyptischen Inszenierung seines Sprechens beruft, nicht eine einfache Bestätigung desselben dar. Die Überbietung in der Bergpredigt funktioniert, indem sie perspektivisch für das Jüngste Gericht und die Etablierung des neuen Reiches spricht. Nordaus Argumentation, die aus den starken Geltungsansprüchen der Medizin des ausgehenden 19. Jahrhunderts entstammt, ist zugleich durchzogen von einer apokalyptischen Redeform, die keinen Zweifel an der Geltung des eigenen ›Wahrheitsregimes‹ aufkommen lässt. Das Alte, auf das sich Nordau bezieht, wird in mehrfacher Hinsicht überboten. So, wie er sich als Reformer gegenüber 211
RHETORIK DER ENTARTUNG
dem Revolutionär positioniert, geht es ihm nicht um die ›Auflösung‹ des Alten, sondern um dessen überbietende ›Erfüllung‹. Er will die »versumpfende, leidende Menschheit« in ein »neues Kanaan« führen: Der Ich-Süchtige ist durch seine organische Beschaffenheit dazu verurtheilt, ein Pessimist und ein Jakobiner zu sein. Aber die Umwälzungen, die er wünscht, predigt und vielleicht thatsächlich macht, sind für den Fortschritt unfruchtbar. Er ist als Revolutionär, was eine Überschwemmung oder ein Wirbelsturm als Straßenkehrer wäre. Er ist kein zielbewußter Aufräumer, sondern ein blinder Zerstörer. Das unterscheidet ihn von dem geistesklaren Neuerer, von dem wirklichen Revolutionär, der ein Reformer ist und die versumpfende, leidende Menschheit von Zeit zu Zeit auf mühseligen Pfaden in ein neues Kanaan führt. Der Reformer wirft, wenn nöthig, mit rücksichtsloser Gewalt, störend gewordenes Getrümmer nieder, um Platz für zweckmäßige Bauten zu schaffen; der Ich-Süchtige rast gegen Alles, was aufrecht steht, es sei brauchbar oder unnütz, und denkt nicht daran, nach der Verwüstung den Baugrund zu säubern; seine Freude ist es, unkrautüberwucherte Schutthaufen zu sehen, wo früher Mauern und Giebel ragten. (Nordau 1893: 38f)
Nordau ist ein »zielbewußter Aufräumer«, der im Dienste höherer Zwecke »rücksichtslose[] Gewalt« in Kauf nimmt und »nach der Verwüstung den Baugrund« ›säubert‹. Um nicht »blos zu träumen und Worte [zu] machen«, sondern auch »Thaten zu thun« (Nordau 1893: 33), greift Nordau – zum »tiefdröhnenden Worte«. Nordaus Versuch der Selbstermächtigung mündet in einem Zitat. Die bewusste Inszenierung der Zitation folgt somit dem Muster der Filiation, der Einschreibung in einen Diskurs, der den eigenen Diskurs legitimieren soll. Einerseits stellt die Zitation dieses Filiationsverhältnis aus; das Zitat dient der Absicherung der Sprecherposition des Zitierenden. Andererseits zeigt auch die Art und Weise, wie Nordau in Entartung zitiert, eine gewisse Affinität zur Urteilsstruktur. In aller Regel zitiert Nordau wörtlich längere Passagen aus den kritisierten Werken, ohne diese Zitate in Form eines eingehenderen Kommentars zu lesen. Die Textpassagen, die er etwa im Fall Huysmanns seitenlang wiedergibt, werden als Evidenzbeweise für Nordaus Entartungsverdikt inszeniert. Wie Sibylle Benninghoff-Lühl in ihrer Arbeit über Figuren des Zitats zeigt, bedeutet »zitieren« zum einen ein Zitat anzuführen, 212
»MACHTERGREIFUNG«
zum anderen jedoch auch »jemanden [vorzuladen], um ihn zur Rechenschaft zu ziehen.« (Benninghoff-Lühl 1998: 92) Wahre Bedeutungsfluchten öffnen sich, wenn man unter Zitieren nachschlägt. Neben der Bedeutung des Anführens stellt sich unmittelbar die des Herbeirufens und Herbeizitierens im Sinne einer Vorladung vor Gericht: Die Zitation. abstrakt: das vorladen vor gericht, konkret: das schreiben, das die vorladung enthält. […] auszerhalb des rechtsbereiches im erweiterten sinne das herbeirufen kraft gesellschaftlicher macht oder autorität […]. (Benninghoff-Lühl 1998: 91)
Nordaus Zitationsverfahren assistiert somit gewissermaßen dem seiner Entartungsrhetorik innewohnenden juridischen und apokalyptischen Ton.16 Im Sinne Butlers wäre zu fragen, »inwieweit der Diskurs seine Autorität, das Benannte hervorzurufen, daraus bezieht, daß er autoritative sprachliche Konventionen zitiert, die selbst ein Vermächtnis von Zitaten sind?« (Butler 1998: 77) Butler legt nahe, die Frage nach der Wirkung einer Sprachhandlung als Frage nach der Art und Weise, wie bestimmte »sprachliche Konventionen« zitiert werden, zu reformulieren. Mit anderen Worten: Woher kommt die Macht zu erfüllen?
16 Zugleich zeigt sich in der Rezeption von Entartung, dass die Praxis des Zitierens als ›Herbeizitieren‹ und Evidenzbeweis auch eine andere Konsequenz ermöglicht. Die umfangreichen, nur pauschal kommentierten Textpassagen, die Nordau in seinem Text abdruckte, eröffneten auch eine gegenteilige Lesestrategie. So berichtet Georg Lukács, dass er erst über Entartung einen eingehenderen Eindruck von den Texturen der Modernen gewonnen hätte. »Als liberaler Leser der Neuen Freien Presse besaß mein Vater in der Privatbibliothek zufällig Max Nordaus Entartung. Ich las das Buch, und mir wurde dadurch klar, was äußerste Dekadenz bei Ibsen, Tolstoi, Baudelaire, Swinburne usw. usw. war. Zum Glück zitierte Nordau die Gedichte von Baudelaire, Swinburne und anderen wörtlich. Ich war vollkommen hingerissen und akzeptierte natürlich sofort die bei uns zu Hause geschmähten Tolstoi und Ibsen. Ich besorgte mir ihre Werke in Reclamausgaben und gelangte dadurch im Alter von fünfzehn Jahren zu einem damals extremen westlichen modernen Standpunkt.« (Georg Lukács, Gelebtes Denken: Eine Autobiographie im Dialog, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1981, zitiert nach Zudrell 2003: 70f). 213
RHETORIK DER ENTARTUNG
Dem Postulat zufolge, daß das Subjekt kausaler Ursprung der performativen Äußerung ist – offenkundig eine theologische Konstruktion –, läßt die Äußerung das entstehen, was sie benennt. Für dieses mit göttlicher Macht ausgestattete Subjekt ist die Benennung selbst schöpferisch. In der biblischen Fassung der performativen Äußerung – »Es werde Licht« – ist es scheinbar die Macht oder der Wille eines Subjekts, die ein Phänomen durch den Namen ins Leben ruft. (Butler 1998: 77)
Der Akt der Benennung, sei diese nun ›neutraler‹ oder verletzender, diffamierender, pathologisierender Art, bezieht im Sinne Butlers seine performative Kraft nicht aus der ›schöpferischen‹ Qualität von Autorsubjekten. Die Eigenschaft von Sprache, ein Handeln sein zu können, leitet Butler (im Anschluss an Derrida und andere poststrukturalistische Theoretiker) vielmehr aus sprachlichen Konventionen ab, die in jeder Sprachhandlung wieder aufgegriffen, zitiert und transformiert werden. Während Nordau den Traum von der Allmacht des Willens träumt, demonstriert Entartung Macht und Ohnmacht der diffamierenden Rede. Während er den diskursiven Ausschluss aus dem (aufklärerischen) Diskurs praktiziert, entfaltet er ein komplexes Feld der Filiationen und Zitationen, das allenthalben zeigt, das sich die Macht der Sprachhandlung eben nicht kausal aus der Macht und Kontrolle des Subjektes ableitet.
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DAS
I S T N I C H T D AS
ENDE
Ich kann die Geschichte nicht geradlinig erzählen, ich verliere den Faden und fange noch einmal an und habe etwas Wichtiges vergessen, das sich so schwer noch einfügen lässt, ich komme ins Grübeln und denke nach, ich denke, dass es einen begrifflichen roten Faden geben muss, aus dem sich eine Erzählung spinnen lässt, ein verlorenes Zwischenglied, eine mögliche Chronologie […]. Das erzählende ›Ich‹ stellt fest, dass es seiner Erzählung keine Richtung geben kann, dass es keine Rechenschaft von seiner Unfähigkeit zu erzählen geben kann, dass es nicht erklären kann, weshalb seine Erzählung sich auflöst, und so erfährt es sich schließlich selbst, oder es erfährt sich vielmehr erneut als radikal, wo nicht uneinholbar unwissend in der Frage, wer es eigentlich ist. (Butler 2003: 83)
Ein abschließender Blick auf die zeitgenössischen Reaktionen auf Nordaus Werke und insbesondere Entartung zeigt, dass die Art und Weise, wie die Rhetorik der Entartung ihr Ziel trifft und Handlungsund Kommunikationsspielräume zugleich limitiert und eröffnet, für die Adressaten von Nordaus Rede höchst relevant war. Entartung wurde zu einem Bestseller, der, in zahlreiche Sprachen übersetzt, ein breites Publikum fand. Nordau erntete Zustimmung, etwa von Hugo Ganz, der in einer Hommage an Nordau bereitwillig die Rhetorik der Entartung aufgriff: Je früher die cariöse Schicht der großstädtischen Entarteten von dem Volksorganismus abgestoßen wird, desto besser. Wenn der Proceß sich etwas rascher vollzieht, als wir noch vor wenigen Jahren gehofft, dürfen wir dem kundigen Arzte Nordau dafür dankbar sein, der sowol in seiner ›Entartung‹ wie in dem neuen Buche ›Zeitgenössische Franzosen‹ ganze
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RHETORIK DER ENTARTUNG
Fetzen aus dem faulen Fleische herausgeschnitten hat. […] Einen so positiven, starken Geist wie ihn widern die effeminirten Gecken der Decadence, die koketten Unsittlichkeitsprotzen und Nachtreter der großen Entgleisten des Jahrhunderts aufs tiefste an; er hat eine unfehlbare Witterung für den Sitz und die Art ihrer Krankheit, und mit wenigen Meisterschnitten legt er den Sitz des Uebels bloß.1
Aber es regte sich auch deutlicher Widerspruch. Prominent und pointiert griff Karl Kraus in seiner Fackel Nordaus und auch Ganz’ Dekadenzkritik auf, um sie mit Hilfe der Nordau so verhassten Wortspiele blosszustellen. Kraus sprach mit Blick auf Nordau, dem »literarische[n] Metzger«2, von einer »Orgie des gesunden Menschenverstandes« (Kraus 1968: 22) und zitierte Ganz’ Loblied auf den »Manne mit dem Eisenpanzer des berechtigten Selbstbewusstseins und der Keule der unwiderstehlichen Dialektik« (Kraus 1968: 23). Überhaupt, so Kraus in einer seiner zahlreichen Kritiken der Neuen Freien Presse, heische diese sich an, ihren Nordau zu toppen: »Herr Nordau genügt ihr nicht mehr; sie muß auch jemanden haben, der ihn übernordaut.« (Kraus 1968: 11) George Bernhard Shaw nahm die Schmähungen Nordaus zum Anlass, diesem als »Degenerate«3 zu antworten und damit die stigmatisierende Titulierung als Sprecherposition wieder einzuführen. Er arbeitet in seinen Repliken mit einer Ironisierung der pathologisierenden Sprache, die Entartung prägt. Die eingangs angeführten Briefe an Nordau, die im Central Zionist Archive in Jerusalem unter der Rubrik »Nordau´s Work as a 1
Hugo Ganz, Die Modernitätsmode, in: Neue Freie Presse, Nr. 13165 (20.04.1901), 1-4, zitiert nach: Zudrell 1998: 445. 2 Kraus 1968: 21f: »Der literarische Metzger hat wieder einmal das Bedürfnis gefühlt, seine tiefinnerliche Kunstfremdheit mit medicinischen Floskeln zu verbrämen, und die Wiener Börseaner diesmal vor der Lectüre der Maupassant, Edmond de Goncourt und Baudelaire gewarnt. Er empfielt uns dafür einen Essayisten, namens Lhomme, der in Paris plötzlich aufgetaucht ist und von Herrn Nordau den grobschlächtigsten Stil, die Oberflächlichkeit und pathologische Gier gelernt zu haben scheint. […] [Die Selbstachtung der ›Neuen Freien Presse‹ geht nicht soweit], dass sie Herrn Nordau für seine epileptischen Anfälle, die er angesichts jedes Dichters pünktlich bekommt, die feuilletonistische Gelegenheit überhaupt verweigert.« 3 So titelte George Bernard Shaw 1895 in der amerikanischen Zeitschrift Liberty: A Degenerate’s View of Nordau. Die ausführlichere Auseinandersetzung findet sich in Shaw 1948. 216
DAS IST NICHT DAS ENDE
physician. Letters form various people concerning medical matters 1891-1918« eingeordnet sind und den Ausgangspunkt dieser Untersuchungen bildeten, geben der Frage nach den Effekten einer Rhetorik der Entartung eine andere Richtung. Auf welche Weise gehen sie mit der Stigmatisierung um? Und: Wen adressieren sie letztendlich? Den Arzt, den Kulturkritiker, den Zionisten? Alle zusammen oder nacheinander? In den Briefen lässt sich ein dramaturgischer Zugriff auf die Anrufung erkennen. Stellt sich der eine Absender zunächst als kundiger Leser von Nordaus Schriften dar, der den postalischen Weg der Kommunikation nur zu wählen wagt, da Nordau über die Post, wie er sagt, in seinen Konventionellen Lügen kein kritisches Wort verloren hat, dann adressiert er somit zunächst den Schriftsteller und Kulturkritiker. Im nächsten Schritt geht er über zu einer detaillierten Darstellung seiner Leidensgeschichte und wendet sich somit an den Arzt Nordau. Schlussendlich, und das ist beiden erwähnten Briefen gemeinsam, wird der Zionist Max Nordau angesprochen. Einerseits stellen die Briefe eine extreme Identifikation her, die sozusagen die traumatisierende Stigmatisierung aufgreift und wiederholt. Andererseits verbinden sie mit dieser Wiederholung die Hoffnung, sich nun, in der postalischen Kommunikation, von dem Trauma der Stigmatisierung befreien zu können. Anders gesagt: Aus dem »Sie« versuchen sie in die Kategorie des »Wir« zu wechseln, indem sie (implizit) auf die Vorstellung einer Regeneration des Judentums rekurrieren. Ob dieser Versuch gelingt, ob Nordau auf die Briefe geantwortet hat und wenn ja, auf welche Weise, muss hier offenbleiben. Das Archiv gibt in dieser Hinsicht keine näheren Anhaltspunkte. Allerdings erscheint es durchaus möglich, dass die Reformulierung der Stigmatisierung erfolgreich war. Vor diesem Hintergrund ist es wichtig zu sehen, dass, wie George L. Mosse feststellt, sich der zionistische Nordau in seinen grundlegenden Anschauungen und Prämissen nicht wesentlich vom Nordau der vorzionistischen Schriften unterscheidet:4 In beiden Fällen ist er Exponent einer an Virilität, Souveränität und Wehrhaftigkeit orientierten Biopolitik. Nordaus Plädoyer für die zionistische Bewegung hat, wie Mosse be4
So konstatiert Mosse als vorherrschende Tendenz von Nordaus Schriften »his fear of degeneration. There was no real division in his thought between his Zionism and the world view he outlined in his non-Zionist and earlier writings.« (Mosse 1992: 567). 217
RHETORIK DER ENTARTUNG
tont, auch eine »brutale« und »militante« Seite.5 Die Rhetorik der Entartung prägt auch die zionistische Seite. Der ›jüdische Körper‹ ist durch Leibeserziehung – Nordau ist nicht nur Initiator des Gedankens, der Zionismus müsse ein neues Muskeljudentum bilden, sondern auch Mitbegründer des weit verbreiteten jüdischen Turnvereins Bar Kochba – von seiner moralischen, neurasthenischen Zerrüttung zu befreien.6 Dass dies überhaupt im Zusammenhang mit einem strikten Entartungskonzept möglich ist, verdankt sich der weniger pessimistischen Sicht Nordaus, die, wie bereits ausgeführt, den Degenerationsgedanken nicht mit einer schlechthin kulturpessimistischen Perspektive verband. Somit erscheint die Verbindung einer Krankenbeichte, die sich an den Arzt Nordau wendet, mit der Einschreibung in den jüdischen Kollektivkörper als eine Möglichkeit, aus der extremen Fremd- und Selbststigmatisierung wieder in eine Sprecherposition einzurücken.7 Diese wiederholt zwar die einschlägigen Stigmatisierungen und damit die These der moralischen und biologischen Minderwertigkeit, macht jedoch die Krankenrolle zum Ausgangspunkt einer politischen Partizipation am Projekt der ›Renaissance des jüdischen Volkskörpers‹.
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Siehe etwa Mosse 1992: 571: »The image of the new Jew seems a militant one, at times Nordau even praised a certain brutality. And indeed, for most European nationalisms the image of a new man, such as the ›new German‹, did entail the praise of force, a soldierly ideal, a fighting spirit directed against internal and external enemies.« Mosse 1992: 568: »Woman were not the issue here. […] The new Jew must exemplify all the social virtues. Nordau summed up this manly ideal, and in doing so, gave a perfect example of middle-class standards of masculinity as a response to degeneration […]. The description of the human body is important here; it emphasizes the constant juxtaposition of weak bodies and weak minds which runs throughout Degeneration. The Jew must acquire a solid stomach and hard muscles, not just to overcome his stereotype – though this was important for Nordau – but also to compete, to find his place in the world.« Inwiefern man allerdings behaupten kann, dass in der Emphase für Männlichkeit das Weibliche schlichtweg unerheblich ist, ist fragwürdig; siehe hierzu speziell Kapitel 1: Eine Widmung. Diese Bewegungen sind sehr genau ablesbar in der Jüdischen Turnzeitung, in welcher sich zahlreiche Artikel mit der von Nordau prophezeiten Renaissance des Judentums und deren politischen Dimensionen auseinandersetzen. Siehe etwa Auerbach 1903b: 138ff und Auerbach 1903a: 153-156 sowie Besser 1904: 1, 3-7 und 2, 26-30. 218
DAS IST NICHT DAS ENDE
Dieser Handlungsspielraum steht jedoch nicht allen ›Entarteten‹ frei. Die von Nordau in erster Linie angesprochenen Künstler der Moderne gehen zum Teil andere Wege, um mit der Stigmatisierung umzugehen. Prominent ist in diesem Sinne der Fall von Karl Bleibtreu, welchen Nordau im Kontext seiner Kritik an den »Jungdeutschen Nachäffern« als Paradefall eines degenerierten Realismus vorgeführt hatte. Bleibtreu wandte sich an das Sühnegericht des Deutschen Schriftstellerverbandes, um Nordau auf diesem Wege zu einer Zurücknahme seiner verletzenden Aussagen über sein Werk und seine Person zu bewegen. Der Schiedsspruch des Sühnegerichts vom 05.11.1893 stellte fest: Der Schriftsteller Dr. Max Nordau ist in seinem ›Die Entartung‹ betitelten Werke an einzelnen Stellen über das Maass der sachlichen Kritik in Bezug auf den Schriftsteller Karl Bleibtreu hinausgegangen, hat denselben persönlich in beleidigender Weise angegriffen und ist nach der Ansicht des Sühnegerichts verpflichtet, ihm dieserhalb in einer der schriftstellerischen Ehre entsprechenden Form Genugthuung zu gewähren. (Zudrell 2003: 119)
Nordau kam diesen Forderungen nach und modifizierte die entsprechenden Passagen ab der dritten Auflage von Entartung, die Auseinandersetzung mit Bleibtreu hatte jedoch noch ein Nachspiel. Bleibtreu, der sich nicht hinreichend rehabilitiert sah, polemisierte nun seinerseits aufs heftigste gegen Nordau, der die – deutlich antisemitisch gefärbten – Anwürfe Bleibtreus ebenfalls juridisch klären lassen wollte. Schlüsselbegriffe dieser Auseinandersetzung waren Ehre, »Genugthuung« und Satisfaktionsfähigkeit8. Beide Positionen betonen den verletzenden Aspekt der Rede des anderen, doch Nordau weist den Vorwurf, er würde Bleibtreu mit ›wildem Haß‹ verfolgen, weit von sich. »Hat Herr Bleibtreu Ihnen die Stelle seiner Broschüre gezeigt, um derentwillen ich Strafantrag stelle?« fragt er den vermittelnden Maximilian Bern. Wenn ja, dann wissen Sie, gegen welch schwere Beleidigung ich meine Ehre zu vertheidigen habe. Sie, der sie mich kennen, wissen, daß ›Animosität‹ und ›wilder Haß‹ im Register meiner Gefühle – leider! – völlig feh8
Zur Bedeutung des »Satisfaktionsfähigkeit« im Kontext des modernen, insbesondere zionistischen Judentums siehe den Aufsatz von Gelber 1996. 219
RHETORIK DER ENTARTUNG
len. Ich wäre mehr gefürchtet und müßte mich weniger wehren, wenn ich besser hassen könnte. Ich bin mir bewußt, Niemand zu hassen und am allerwenigsten Hrn. Bleibtreu, obschon er mich seit etwa 14 Jahren unausgesetzt verfolgt. […] Ich habe aus eigenem Antrieb versprochen in meinem Buche jedes Wort über Hrn. Bleibtreu zu unterdrücken, worüber er sich billig beschweren darf, und ich habe mein Versprechen gehalten. Er kann, wenn er das Geringste von meinem Leben weiß, keinen Zweifel daran hegen, daß ich immer bereit war und bin, für Alles, was ich sage und thue, mit der Klinge einzustehen.9
Die Satisfaktionsfähigkeit, mit welcher sich Nordau auch an anderer Stelle (in seinem 1898 erschienenen Drama Doktor Kohn) intensiv auseinandersetzte, stellt gewissermaßen die Spitze der Anrufung einer juridischen Instanz im Sinne Butlers dar. Wenn Nordau »für Alles«, was er sagt und tut, bereit ist »mit der Klinge einzustehen«, wird die Zurechnung der verletzenden Rede an ein souveränes Subjekt zudem als Kult der Virilität vorgeführt.10 Doch die Auseinandersetzung mit Bleibtreu spielt sich zudem vor einem spezifischen politischen Hintergrund ab: Der Dreyfusaffaire, die zu einem Schlüsselereignis der zionistischen Bewegung werden sollte. Bleibtreu bezieht sich in seiner Polemik gegen Nordau mehrfach auf die antisemitischen Diskriminierungen in Frankreich und greift Nordau als Exponent der »Dreyfußpresse« an.11 Die verletzende Sprache, die sich Bleibtreu und Nordau wechselseitig vorhalten, geht in diesem Sinne weit über die Protagonisten der Kontroverse hinaus und macht die Komplexität der Diskriminierungen und verletzenden Aussagen ebenso deutlich wie ihre politische Dimension. Die antisemitische Anrufung führe, so Nordau in seiner späteren Schrift Ein Tempelstreit, in welcher er sich mit den Anschauungen 9
Max Nordau an Maximilian Bern, 20.12.1900, zitiert nach: Zudrell 2003: 121. 10 Siehe auch Mosse 1992: 573: »Dr Kohn felt that he had to fight the duel, otherwise all Jews would be called cowards. Perhaps here we can see Nordau’s devotion to manly behaviour once again, at a time when manly honor was still an important concept in certain influential bourgeois circles, one which had to be defended by a duel if necessary.« 11 Karl Bleibtreu, Der große Dreyfuß-Schwindel: Ein Beitrag zur Psychologie des Pansemitismus, Berlin: C.A. Schwetschke & Sohn 1899, S. 98; zitiert nach Zudrell 2003: 120f. 220
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und Kritiken des Oberrabiners von Wien, Güdemann, auseinandersetzt, überhaupt erst zu einer politisch definierten Gruppenidentität des ›jüdischen Volkes‹.12 Das Projekt des Zionismus sei es dementsprechend die Diskriminierung nunmehr im Sinne des politischen Zionismus aufzugreifen und anders und neu zu füllen. In diesem Kontext hebt Nordau – ganz im Sinne seiner Naturgeschichte der Emotionen – hervor, dass Wut und Zorn Affekte seien, die eine unerlässliche Komponente des Selbsterhaltungstriebes und notwendige Schutzmaßnahmen des Einzel- wie Kollektivorganismus’ gegenüber feindseligen Vorstößen darstellten.13 Hate Speech erzeugt wiederum Hate speech. Festzuhalten ist, dass Nordau weit über die Anrufung einer juridischen Instanz hinausgeht und auch das Projekt einer Selbstermächtigung des souveränen Subjektes, wie es in der Inszenierung seiner Rede in Entartung erscheint, entscheidend modifiziert. Die diskriminierende Anrede, die Erfahrung der Verletzbarkeit wird zum Motor einer politischen Bewegung, die nicht nur eine Umdeutung der antisemitischen Zuschreibung vornimmt, sondern auch für die Neubildung eines institutionellen und staatlichen Gebildes eintritt. Die angeführten Reaktionen auf Entartung, die von blanker Affirmation zu einer Umfunktionalisierung von Zitaten und wortspie12 Nordau 1909b: 7f: »Herr Dr. Güdemann versichert, daß die Juden kein Volk sind. Nun denn: er begebe sich in eine Berliner Antisemitenversammlung, er trete in Wien auf die Straße hinaus, wenn die weißen Nelken von ihr Besitz ergriffen haben; dann wird er ja sehen, ob die Antisemiten auch nur einen Augenblick lang zögern werden, in ihm den Vertreter eines sehr bestimmten, von dem ihrigen verschiedenen Volksstammes zu erkennen und ihn dieser Erkenntnis entsprechend zu behandeln.« 13 Nordau 1909b: 7: »Aber Herr Dr. Güdemann bekämpft nicht nur den Gedanken der Aufrichtung eines Zionsreiches, er leugnet auch, daß die Juden ein Volk sind. Nur aus ›Entrüstung und Trotz‹ fühlen sie sich jetzt als besonderes Volk ihren antisemitischen Verfolgern gegenüber. Und wenn das wäre? Eine Erscheinung wird doch dadurch nicht aus der Wirklichkeit gestrichen, daß man ihre Ursachen aufdeckt! Die Feststellung ihrer Ursachen ist im Gegenteil eine Anerkennung der Erscheinung. Entrüstung und Trotz sind gute Gefühle. Ich beklage den Waschlappen, der ihrer nicht fähig ist. Sie sind eine gesunde Reaktion gegen Herausforderung und Bosheit. Die Lebenskraft eines Organismus mißt sich nach der Stärke seiner Reaktionen gegen feindliche Reize. Trotz und Entrüstung wurzeln in Selbstachtung, in Ehrgefühl, in Kraftbewußtsein.« 221
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lerischen Differenzbildungen, über die Anrufung einer juridischen Instanz bis hin zu einer politisierten Ein- und Umschreibung der diffamierenden und verletzenden Rede reichen, machen sichtbar, dass keine noch so totalisierende und verwerfende Rede den Ausschluss des Anderen dingfest machen kann. Die Tatsache, dass einige derer, die von Nordau als Entartete stigmatisiert wurden, Wege und Möglichkeiten fanden, eine Sprecherposition einzunehmen und die Rhetorik der Entartung zu transformieren, sollte jedoch nicht dazu verleiten, die verletzende Kraft der Stigmatisierung gering zu schätzen oder gar auszublenden. Was Nordaus Entartung meines Erachtens sehr deutlich zeigt, ist, dass die Verteilung von Opfer- und Täterrollen, die Judith Butler im Kontext der amerikanischen Diskriminierungsdebatten kritisch kommentiert hat, alles andere als eindeutig vorzunehmen ist. Es zeigt sich ebenfalls, dass Nordaus Souveränitätsmodell, das auf Verletzbarkeit und Kontrollverlust mit normativen und verwerfenden Selbstvergewisserungen reagiert, eine ethische Gewalt inthronisiert, die das diskursive Feld nicht nur nicht befriedet, sondern die verletzende Sprache radikalisiert. In diesem Sinne sehe ich in der Verabschiedung von Souveränitätsmodellen – gerade auch im Zusammenhang mit Fragen zur Hate Speech – einen wesentlichen Schritt. Wie Butler gezeigt hat, blendet eine solche Verabschiedung des souveränen Sprechersubjektes, welches sich seines ›Ursprungs‹ und seiner identitätsstiftenden Narration vergewissern will, die verletzende Kraft der Sprache nicht aus, sondern muss sie vielmehr konstitutiv einbeziehen. Die Verletzbarkeit des Subjektes ist in diesem Sinne eine zentrale anthropologische, ethische und politische Bestimmung des Subjektes.
Ende Wie auch andere Leser von Entartung hat mich dieser kolossale Text merkwürdig berührt. Erschreckend und rührend, ebenso beeindruckend wie abstoßend in seiner Gewaltsamkeit und Redundanz und dem gleichermaßen aggressiven wie hilflosen Versuch, die Souveränität des Subjektes hermetisch und nahtlos abzuriegeln, alles Missliebige zu verwerfen und auszuschließen, ist Entartung für mich ein Faszinosum gewesen. Wenngleich Nordaus wissenschaftliche, ästhetische und ethische Anschauungen vorwiegend von his222
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torischem Interesse sind, die Verve, mit der er sie vorbringt, der Ton, der seine Textur prägt, hat an Aktualität nicht verloren. Ich habe versucht, mich diesem Ton und der Gewaltsamkeit seiner Rhetorik in verschiedenen Lektüren anzunähern, ihre Struktur durchzuarbeiten. Ich habe mich Entartung von verschiedenen Seiten genähert, historische Spuren ebenso wie textuelle verfolgt und theoretische Fragen an den Text herangetragen, die ihren Ort in aktuellen Auseinandersetzungen um Political Correctness, Hate Speech und Biopolitik haben. In jede dieser Richtungen lassen sich die Fäden der Analyse weiterspinnen, Kongruenzen und Brüche herausarbeiten. Doch: »Ich habe nicht die Absicht zu behaupten, daß die Analyse überhaupt eine Arbeit ohne Abschluß ist. Wie immer man sich theoretisch zu dieser Frage stellen mag, die Beendigung einer Analyse ist, meine ich, eine Angelegenheit der Praxis.« (Freud 1999q: 96)
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LITERATUR
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Lettre Monika Ehlers Grenzwahrnehmungen Poetiken des Übergangs in der Literatur des 19. Jahrhunderts. Kleist – Stifter – Poe Oktober 2007, ca. 240 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 978-3-89942-760-8
Stefan Tigges, Anne Monfort (Hg.) Dramatische Transformationen Zu gegenwärtigen Schreibund Aufführungsstrategien im deutschsprachigen Theater Oktober 2007, ca. 328 Seiten, kart., ca. 30,80 €, ISBN: 978-3-89942-512-3
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Michael C. Frank Kulturelle Einflussangst Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts
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Petra Gropp Szenen der Schrift Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945 2006, 450 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 978-3-89942-404-1
Heide Volkening Am Rand der Autobiographie Ghostwriting – Signatur – Geschlecht 2006, 262 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-375-4
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