Religionsgeschichtliche Studien zum östlichen Europa: Festschrift für Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag 3515117687, 9783515117685

Die wissenschaftlichen Leistungen des Osteuropahistorikers Ludwig Steindorff entsprechen seinen breit gefächerten Intere

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German Pages 364 [366] Year 2017

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INHALT
Martina Thomsen:
Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag
Neven Budak:
Über die Anfänge der slawischen Liturgie und der glagolitischen
Schrift in Dalmatien und Kroatien
Irena Benyovsky Latin: Notes on the Urban Elite, Churches, and Ecclesiastical Immovables in Early Medieval Dubrovnik
Günter Prinzing:
Byzanz, Altrussland und die sogenannte „Familie der Könige“
Darja Mihelič:
Über das wenig bekannte Leben der istrischen Priesterschaft
im Mittelalter. Das Beispiel des Pfarrers Iohannes aus Piran
Dubravko Lovrenović (†):
Das mittelalterliche Bosnien:
Eine politische Bühne des „Mikrochristentums“
Aleksandr I. Filjuškin:
Das ethnogenetische Konzept der Bibel und die Auffassungen
des altrussischen Chronisten von der Entstehung der Rus’
Maike Sach:
„Häretiker“ im orthodoxen Gottesdienst. Religion, Diplomatie
und diplomatisches Zeremoniell im Moskauer Staat
an der Schwelle zur Frühen Neuzeit
Aleksej I. Alekseev:
Ein weiterer Beitrag zur Polemik der Iosifljane und der Nestjažateli
Jennifer B. Spock:
Identifying Pre-Petrine Pilgrimage in Monastic Archival Records.
Solovki as a Case Study for Categorizing Visitors and Monies
Michail M. Krom:
Die Kirche und der Klientelismus in der Moskauer Rusʼ
des 16. und 17. Jahrhunderts
Dennis Hormuth:
Memoria vor dem Kirchengericht. Der Streit um die Grabstätte
des Rigaer Reformators Andreas Knopkens
Aleksandr S. Lavrov:
Eine komplizierte Begegnung: Erzpriester Avvakum und seine
nicht-altgläubigen Leser im 18. Jahrhundert
Tatjana Trautmann:
Die Säkularisierung des klösterlichen Landbesitzes
unter Zar Peter III. im Spiegel diplomatischer Berichte
Jan Kusber:
„Ein Kleid schneidern, das für alle passt“?
Katharina II. und die Religionen des Russländischen Imperiums
in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts
Jörn Happel:
Die Trommel des Schamanen.
Über den Anfang und das Ende sibirischer Religionsstudien
Michael Düring:
Der Prophet im lyrischen Schaffen A. S. Puškins
und M. Ju. Lermontovs
Julia Röttjer:
Gab es eine „religiöse Neue Ökonomische Politik“
in der frühen Sowjetunion? Die Antireligiöse Kommission
des Zentralkomitees und die russisch-orthodoxe Kirche
Gulʼžauchar K. Kokebaeva / Ajgul M. Sadykova:
Das Verhältnis der Sowjetmacht zum Islam und zu den Muslimen
in Kasachstan in den 1920er und 1930er Jahren
Andrej I. Savin: „Aus Sibirien nach Sibirien gebracht“: Geschichte einer Stalinschen Deportation von gläubigen Christen
Oliver Jens Schmitt:
Das „rumänische Lourdes“: Der gute Hirte von Maglavit
zwischen Medialisierung und Politisierung
Frank Golczewski:
Die deutsch geförderte Ukrainisierung der polnischen
Orthodoxie 1939–1941
Andreas Fülberth:
Nationale, städtische und kirchlich-religiöse Erinnerungsorte.
Unterscheidungsversuche im Geiste Pierre Noras am Beispiel
der baltischen Großstädte Riga und Tartu
Danijel Kežić:
Die Berichterstattung des Kirchenblatts Pravoslavlje über die
Volksanleihe für die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar
Andreas Müller:
Die Finanzierung des orthodoxen Klerus in Rumänien
und Griechenland aus historischer Perspektive
PERSONENREGISTER
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Religionsgeschichtliche Studien zum östlichen Europa: Festschrift für Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag
 3515117687, 9783515117685

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Religionsgeschichtliche Studien zum östlichen Europa Festschrift für Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag

Geschichte

Martina Thomsen (Hg.)

Franz Steiner Verlag Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa Herausgegeben vom Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V.

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Martina Thomsen (Hg.) Religionsgeschichtliche Studien zum östlichen Europa

quellen und studien zur geschichte des östlichen europa Begründet von Manfred Hellmann, weitergeführt von Erwin Oberländer, Helmut Altrichter, Dittmar Dahlmann, Ludwig Steindorff und Jan Kusber, in Verbindung mit dem Vorstand des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker e.V. herausgegeben von Julia Obertreis

Band 85

Martina Thomsen (Hg.)

Religionsgeschichtliche Studien zum östlichen Europa Festschrift für Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag

Franz Steiner Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Universitätsstiftung, der Philosophischen Fakultät und des Historischen Seminars der CAU, Prof. Dr. Jürgen Miethkes sowie der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein.

Umschlagabbildung: Tafelkreuz aus Holz, 12. oder 13. Jahrhundert, im Besitz des Klosters Sv. Frane in Zadar (Kroatien). Abgebildet sind der lebende Christus, Maria, Johannes der Evangelist und der Erzengel Michael. © akg-images / André Held Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: AZ Druck und Datentechnik, Kempten Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11768-5 (Print) ISBN 978-3-515-11772-2 (E-Book)

INHALT Martina Thomsen Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag ................................................................... 9 Neven Budak Über die Anfänge der slawischen Liturgie und der glagolitischen Schrift in Dalmatien und Kroatien ......................................................................... 15 Irena Benyovsky Latin Notes on the Urban Elite, Churches, and Ecclesiastical Immovables in Early Medieval Dubrovnik ................................................................................ 23 Günter Prinzing Byzanz, Altrussland und die sogenannte „Familie der Könige“ ........................... 43 Darja Mihelič Über das wenig bekannte Leben der istrischen Priesterschaft im Mittelalter. Das Beispiel des Pfarrers Iohannes aus Piran ................................ 57 Dubravko Lovrenović (†) Das mittelalterliche Bosnien: Eine politische Bühne des „Mikrochristentums“ ................................................... 69 Aleksandr I. Filjuškin Das ethnogenetische Konzept der Bibel und die Auffassungen des altrussischen Chronisten von der Entstehung der Rus’ ................................... 87 Maike Sach „Häretiker“ im orthodoxen Gottesdienst. Religion, Diplomatie und diplomatisches Zeremoniell im Moskauer Staat an der Schwelle zur Frühen Neuzeit ...................................................................... 95 Aleksej I. Alekseev Ein weiterer Beitrag zur Polemik der Iosifljane und der Nestjažateli ................. 113 Jennifer B. Spock Identifying Pre-Petrine Pilgrimage in Monastic Archival Records. Solovki as a Case Study for Categorizing Visitors and Monies .......................... 121

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Inhaltsverzeichnis

Michail M. Krom Die Kirche und der Klientelismus in der Moskauer Rusʼ des 16. und 17. Jahrhunderts ................................................................................ 133 Dennis Hormuth Memoria vor dem Kirchengericht. Der Streit um die Grabstätte des Rigaer Reformators Andreas Knopkens ........................................................ 145 Aleksandr S. Lavrov Eine komplizierte Begegnung: Erzpriester Avvakum und seine nicht-altgläubigen Leser im 18. Jahrhundert ....................................................... 159 Tatjana Trautmann Die Säkularisierung des klösterlichen Landbesitzes unter Zar Peter III. im Spiegel diplomatischer Berichte ...................................... 173 Jan Kusber „Ein Kleid schneidern, das für alle passt“? Katharina II. und die Religionen des Russländischen Imperiums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts .......................................................... 187 Jörn Happel Die Trommel des Schamanen. Über den Anfang und das Ende sibirischer Religionsstudien.............................. 199 Michael Düring Der Prophet im lyrischen Schaffen A. S. Puškins und M. Ju. Lermontovs ........................................................................................ 213 Julia Röttjer Gab es eine „religiöse Neue Ökonomische Politik“ in der frühen Sowjetunion? Die Antireligiöse Kommission des Zentralkomitees und die russisch-orthodoxe Kirche ..................................... 225 Gulʼžauchar K. Kokebaeva / Ajgul M. Sadykova Das Verhältnis der Sowjetmacht zum Islam und zu den Muslimen in Kasachstan in den 1920er und 1930er Jahren .................................................. 241 Andrej I. Savin „Aus Sibirien nach Sibirien gebracht“: Geschichte einer Stalinschen Deportation von gläubigen Christen ..................... 253 Oliver Jens Schmitt Das „rumänische Lourdes“: Der gute Hirte von Maglavit zwischen Medialisierung und Politisierung ......................................................... 263

Inhaltsverzeichnis

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Frank Golczewski Die deutsch geförderte Ukrainisierung der polnischen Orthodoxie 1939–1941 ........................................................................................ 281 Andreas Fülberth Nationale, städtische und kirchlich-religiöse Erinnerungsorte. Unterscheidungsversuche im Geiste Pierre Noras am Beispiel der baltischen Großstädte Riga und Tartu ........................................................... 307 Danijel Kežić Die Berichterstattung des Kirchenblatts Pravoslavlje über die Volksanleihe für die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar ...................... 323 Andreas Müller Die Finanzierung des orthodoxen Klerus in Rumänien und Griechenland aus historischer Perspektive ................................................... 335 Personenregister ................................................................................................... 359

LUDWIG STEINDORFF ZUM 65. GEBURTSTAG Martina Thomsen Ludwig Steindorff feierte am 7. Februar 2017 seinen 65. Geburtstag. Aus diesem Anlass möchten ihm etliche Osteuropahistoriker/innen aus dem In- und Ausland, langjährige Weggefährt/innen sowie Schüler/innen diese Festschrift überreichen, um ihm ihren Dank, ihre Verbundenheit und ihre Anerkennung für seine wissenschaftlichen Leistungen, sein Engagement in der Lehre und seine Kollegialität auszudrücken. Manche durften von seiner Gastfreundschaft und seiner über die Jahrzehnte gewachsenen starken Vernetzung mit Kolleg/innen im östlichen Europa profitieren, andere haben ihn in seiner Zeit als Vorsitzender des Verbandes der Osteuropahistorikerinnen und -historiker, der sich mit viel Engagement für den Erhalt der Osteuropäischen Geschichte als Universitätsfach eingesetzt hat, kennen und schätzen gelernt. Das große Interesse Ludwig Steindorffs an der Geschichte, der Kultur und den Sprachen des östlichen Europa, vor allem Kroatiens – mit dem ihn auch Familiäres verbindet – und Russlands, hat die Auswahl der Autor/innen und die inhaltliche Ausrichtung der Festschrift wesentlich beeinflusst. Die enorme Spannweite der ihn interessierenden Regionen und Epochen hat sich schon im Laufe seines Studiums an der Universität Heidelberg sowie während seiner Qualifikationsphasen gezeigt und ist bis heute unverändert geblieben: Nachdem er 1978 das Erste Staatsexamen abgelegt hatte, begann Ludwig Steindorff ein Promotionsstudium bei Frank Kämpfer in Heidelberg, das er nach einem mehrjährigen Forschungsaufenthalt in Zagreb 1981 mit einer Arbeit über die politische und gesellschaftliche Entwicklung dalmatinischer Städte im 12. Jahrhundert abschloss.1 Im gleichen Jahr wechselte er an die Universität Münster, an der er bis zur Habilitation 1990 als Wissenschaftlicher Assistent von Frank Kämpfer tätig gewesen ist. Dieser Ortswechsel ging mit einer Veränderung des regionalen Schwerpunktes einher: Ludwig Steindorff beschäftigte sich fortan in erster Linie mit russischer Geschichte und erforschte in seiner Habilitationsschrift Formen des Totengedenkens in Altrussland.2 Im Jahr 1997, nun schon als außerplanmäßiger Professor, intensivierte er im Rahmen eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten 1

2

Die dalmatinischen Städte im 12. Jahrhundert. Studien zu ihrer politischen Stellung und gesellschaftlichen Entwicklung (Städteforschung, A 20), Köln/Wien 1984. Im Folgenden werden nur einige ausgewählte Publikationen aufgeführt; das vollständige, nach Regionen und Epochen unterteilte Publikationsverzeichnis von Ludwig Steindorff ist abrufbar unter der URL: https://www.histsem.uni-kiel.de/de/abteilungen/osteuropaeische-geschichte-1/publikationen-1 (Zugriff 10.04.2017). Memoria in Altrußland. Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 38), Stuttgart 1994.

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Martina Thomsen

Projekts über „Die bolschewistische Kirchenpolitik der Jahre 1922–1929 im Spiegel der Protokolle der Antireligiösen Kommission“ seine Beschäftigung mit der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Das Jahr 2000 führte den gebürtigen Hamburger zurück in den Norden, an seine jetzige Wirkungsstätte: Er erhielt einen Ruf auf die C4-Professur für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Ludwig Steindorff kann auf nunmehr fast zwei Jahrzehnte zurückblicken, in denen er in Kiel gelehrt und geforscht, den Bologna-Prozess erlebt und aktiv mitgestaltet, schließlich auch die Erweiterung des Anforderungsprofils eines Universitätsprofessors vom Forscher und Lehrer zum (Selbst-)Verwalter erfahren hat. Der Begeisterung für seine hauptsächliche Aufgabe, das Lehren, taten diese strukturellen Veränderungen keinen Abbruch; in seinen Lehrveranstaltungen hat er sein breit gefächertes Wissen über historische Zusammenhänge, kulturelle Traditionen und deren Jahrhunderte langes Nachwirken sowie über sprachliche Abhängigkeiten und Besonderheiten im östlichen Europa ungebrochen an zahlreiche Studierende weitergegeben. Besonders hohen Zuspruchs erfreuten sich die von ihm durchgeführten Exkursionen, die unter anderem in die klösterliche Abgeschiedenheit Nordrusslands, mit der Eisenbahn von Serbien (Belgrad) nach Montenegro (Bar) oder in die russische Exklave Kaliningrad führten. Ludwig Steindorff hat seine Schüler/innen beständig ermutigt, sich in ihrer Themenwahl nicht so sehr von äußeren Faktoren beeinflussen zu lassen, sondern ihren Neigungen nachzugeben. Er förderte und begleitete – dies zeichnet ihn als Lehrer des Faches Osteuropäische Geschichte besonders aus – deswegen auch viele Qualifikationsarbeiten, die historische Ereignisse und Entwicklungen des Mittelalters oder der Frühen Neuzeit thematisierten. Sein in jedem Semester veranstaltetes, gern besuchtes Kolloquium bot Bachelor- und Masterkandidat/innen wie auch Doktorand/innen in jedem Stadium ihrer Arbeit die Möglichkeit, in angenehmer und kollegialer Atmosphäre Anregungen und Hilfestellungen ihres akademischen Lehrers zu erfahren. Während seiner gesamten Kieler Lehrtätigkeit war es Ludwig Steindorff ein besonderes Anliegen, Studierende frühzeitig an das Studium fremdsprachiger Quellen heranzuführen. Deshalb bildeten Lektürekurse, in denen er gemeinsam mit Studierenden mit großer Begeisterung vorzugsweise Quellen der mittelalterlichen Geschichte Russlands und Dalmatiens übersetzt hat, einen festen Bestandteil seines Curriculums. Die lesenswerten Ergebnisse dieser Lektürekurse, wie zum Beispiel Auszüge aus der Historia Salonitana des Thomas Archidiaconus aus Split, kann jeder Interessierte im Internet abrufen.3 Die Breite seiner regionalen und epochalen Schwerpunkte in der Lehre basierte auf den verschiedenen Themenfeldern, denen sich Ludwig Steindorff als Forscher zugewandt hat. Einem größeren, nichtakademischen Publikum ist er als Autor der vielbeachteten Gesamtdarstellung „Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart“ bekannt, die 2007 in zweiter Auflage erschienen und mittlerweile ins Kroatische,

3

Mit einem Überblick: URL: https://www.histsem.uni-kiel.de/de/abteilungen/osteuropaeischegeschichte-1/uebersetzte-quellentexte (Zugriff 10.04.2017).

Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag

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Bulgarische und Italienische übersetzt worden ist.4 Als vorzüglicher Kenner der Geschichte Südosteuropas hat er diverse Handbuchartikel und Beiträge zur Geschichte einzelner Länder und Regionen verfasst. Ein erkennbarer Schwerpunkt lag in der Beschäftigung mit dem Zerfall Jugoslawiens und den jugoslawischen Nachfolgekriegen in den 1990er Jahren. Ludwig Steindorff hat sich überdies einen Namen als Städteforscher gemacht: Ausgehend von seinem Dissertationsprojekt hat er sich intensiv mit den politischen, gesellschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen südosteuropäischer Städte vor allem im Mittelalter beschäftigt und vor einigen Jahren gemeinsam mit Fachkolleg/innen der Kieler Partneruniversität in Kaliningrad ein Forschungsprojekt ins Leben gerufen, das die Umbenennungen in der Kaliningradskaja oblastʼ seit 1945 untersucht. Ein weiteres Forschungsfeld entwickelte sich aus der Mitarbeit am Kieler Graduiertenkolleg „Imaginatio Borealis – Perzeption, Rezeption und Konstruktion des Nordens“ und ist den Diskursen frühneuzeitlicher Gesellschaften über das östliche Europa und Westeuropa gewidmet. Die einigende Klammer, die Ludwig Steindorffs Interesse an Südosteuropa und Russland einerseits sowie an den älteren Epochen und der Zeitgeschichte andererseits verbindet, stellen indes seine Forschungen zu religiösen Themen dar. Mit seiner Habilitationsschrift über das Totengedenken in Altrussland, in der er insbesondere für das Moskauer Russland unterschiedliche, bis in die Gegenwart wirkende Memorialpraktiken nachweisen konnte, hat er zu einem Zeitpunkt, als die Beschäftigung mit Memorialkultur(en) unter Historiker/innen noch ein Schattendasein fristete, Neuland beschritten. In seiner vielzitierten Studie hat er gezeigt, dass die von ihm analysierten Quellen über die eigentlichen Praktiken des Gedenkens hinaus zudem Anhaltspunkte für die Attraktivität bestimmter Klöster, über ihre Einkünfte sowie über die Zusammensetzung des Kreises der Stifter/innen und Kommemorierten geben können. Memoria waren, das hat Ludwig Steindorff in späteren Publikationen ebenfalls immer wieder betont, nicht nur für das Seelenheil der Verstorbenen unerlässlich, sondern sie entwickelten sich auch für die Lebenden zu einem prägenden Element ihres Alltags. Es gehört zu den Verdiensten des Jubilars, dass er das Totengedenken nicht allein als Trauerritual für verstorbene Familienmitglieder oder als liturgische Pflicht der Mönche interpretierte, sondern zusätzlich dessen gesellschaftlich integrative Wirkung auf verschiedene Stifterkreise aufdeckte. Den in erster Linie an Westeuropa interessierten Fachkreisen präsentierte er bis dahin unbekannte Quellen, wie zum Beispiel den „Ewigen Sinodik“ und die täglichen Listen, deren ständige Ergänzung die Verbreitung der Schriftlichkeit in Altrussland förderte. Seine Forschungsergebnisse sind nicht nur für Religionshistoriker/innen von Interesse; sie ermöglichen darüber hinaus Erkenntnisgewinn für sozial- und mentalitätsgeschichtliche sowie kunst- und wirtschaftshistorische Fragestellungen. Eine für das Totengedenken erstrangige Quelle, ein aus dem 16. Jahrhundert stammendes Speisungsbuch des Iosif-Klosters bei Volokolamsk (nahe Moskau), machte unser Jubilar einige Jahre nach seiner Habilitationsschrift einem größeren Publikum

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Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 2. Aufl., Regensburg 2007 [1. Aufl. Regensburg 2001].

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Martina Thomsen

auf Deutsch und Russisch zugänglich. Es enthält sämtliche Speisungen für Personen, die an ihrem Todes- oder Namenstag stattzufinden hatten, und vermittelt einen unverfälschten Eindruck von der Praxis des Totengedenkens, seiner Organisation sowie der sozialen Herkunft der Stifter/innen.5 Da die Totensorge in Russland eine vorrangige Aufgabe der Klöster und ihrer Insassen gewesen ist, widmete sich Ludwig Steindorff auch der Erforschung des Alltagslebens in altrussischen Klöstern. In jüngeren Publikationen untersuchte er unter anderem die soziale Herkunft von Mönchen sowie Stifter/innen und fragte nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen männlichen und weiblichen Stiftern.6 Der deutschen Historikerzunft hat Ludwig Steindorff stets zu vermitteln versucht, dass das Stiftungswesen und dessen Organisation im vorpetrinischen Russland etliche Parallelen zum westlichen Europa in Mittelalter und Früher Neuzeit aufwiesen.7 Bezogen auf das 20. Jahrhundert fiel Ludwig Steindorffs Blick auf die Situation der Kirche(n) im Sozialismus. Er beschäftigte sich mit dem Spannungsverhältnis zwischen den (protestantischen) Kirchen und der sozialistischen Regierung Jugoslawiens seit 1945 und trug Wesentliches zur Erforschung der Religionspolitik der Bolʼševiki in der Sowjetunion in den 1920er Jahren bei, indem er die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim Zentralkomitee der Bolʼševiki auf Deutsch veröffentlichte.8 Die Herausgabe der Protokolle wirft ein helles Licht auf die Politik der Bolʼševiki nicht nur gegenüber der orthodoxen Kirche, sondern auch gegenüber anderen Religionsgemeinschaften und schließt eine lange Zeit bestehende Forschungslücke. Die Edition der Protokolle der Antireligiösen Kommission fehlt infolgedessen in keiner Synthese zur Geschichte der Sowjetunion seit 1917. Ludwig Steindorff ist Religion und die Beschäftigung mit ihr im Beruflichen wie im Privaten wichtig. Die inhaltliche Eingrenzung der Festschrift auf religionshistorische Aspekte des östlichen Europa war daher naheliegend – gleichwohl hätten auch andere Schwerpunkte, denen sich Ludwig Steindorff als Forscher gewidmet hat, den Rahmen einer Festschrift bilden können. Ausgewählte Kolleg/innen, 5

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Das Speisungsbuch von Volokolamsk. Eine Quelle zur Sozialgeschichte russischer Klöster im 16. Jahrhundert (Bausteine zur Slavischen Philologie und Kulturgeschichte, Reihe B: Editionen, NF 12), hrsg. und übers. von Ludwig STEINDORFF, unter Mitarbeit von Rüdiger KOKE, Elena KONDRAŠKINA, Ulrich LANG und Nadja POHLMANN, Köln/Weimar/Wien 1998. Zuletzt: Equality under Reserve. Men and Women in Donations and Commemoration in Muscovite Russia, in: Canadian-American Slavic Studies 49 (2015), S. 193–210; vgl. auch seinen Kommentar in: Monastische Kultur als transkonfessionelles Phänomen. Beiträge einer deutschrussischen interdisziplinären Tagung in Vladimir und Suzdalʼ (Veröffentlichungen des Deutschen Historischen Instituts Moskau, 4), hrsg. von Ludwig STEINDORFF und Oliver AUGE, Berlin/Boston 2016, S. 287–292. Einen entsprechenden Beitrag veröffentlichte er in einem von ihm selbst herausgegebenen Tagungsband: Religion und Integration im Moskauer Russland. Konzepte und Praktiken, Potentiale und Grenzen, 14.–17. Jahrhundert (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 76), Wiesbaden 2010, S. 477–498. Partei und Kirchen im frühen Sowjetstaat. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei (Bolʼseviki) 1922–1929 (Geschichte – Forschung und Wissenschaft, 11), hrsg. von Ludwig STEINDORFF, in Verbindung mit Günther SCHULZ, unter Mitarbeit von Matthias HEEKE, Julia RÖTTJER und Andrej SAVIN, Münster 2007.

Ludwig Steindorff zum 65. Geburtstag

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langjährige Weggefährt/innen sowie Schüler/innen aus dem deutschsprachigen Raum, Russland, Südosteuropa, Zentralasien und dem angelsächsischen Raum wurden gebeten, einen Beitrag zur Geschichte des östlichen Europa zu verfassen, der im weitesten Sinne ein religiöses Thema behandeln sollte: Manche schöpften aus dem Reservoir ihrer Jahrzehnte langen Forschungen, andere präsentierten erste Ergebnisse aktueller Forschungen, insbesondere jüngere Schüler/innen setzten sich überhaupt das erste Mal mit Religion und ihrer Geschichte auseinander. Herausgekommen ist – sinnbildlich – ein „bunter Strauß“ an Beiträgen, der die Zeit von der Spätantike bis zur Gegenwart und einen Raum vom Baltikum im Norden bis nach Griechenland im Süden abdeckt. Die thematische Bandbreite erstreckt sich von der Bedeutung der Bibel für die russische Chronistik über die Entwicklung eigenständiger Glaubensgemeinschaften im mittelalterlichen Bosnien und die Religionspolitik Katharinas der Großen bis hin zur Instrumentalisierung von orthodoxen und autokephalen Kirchen während des Zweiten Weltkriegs oder zur Finanzierung des Klerus in Rumänien und Griechenland nach 1945. Die Autor/innen erhielten nur geringe Vorgaben, so dass sich die Beiträge stilistisch und inhaltlich durchaus voneinander unterscheiden. Die Anordnung der Beiträge erfolgte nach chronologischen Gesichtspunkten. Wir, die Autor/innen und die zahlreichen Mitglieder des Redaktionsteams, hoffen, dass die hier präsentierten Beiträge das Interesse des Jubilars hervorrufen und ihn zu weiteren Forschungen anregen werden. Wir wünschen Ludwig Steindorff, dass er nach seiner Pensionierung – obwohl er noch einige Jahre als Wissenschaftlicher Leiter der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft aktiv sein wird – die Zeit finden wird, um langgehegte Wünsche und lange geplante Forschungsvorhaben verwirklichen zu können! * Eine Festschrift kann nicht ohne das Zutun vieler, dem Jubilar zugeneigter Personen entstehen. Als Erstes möchte ich den zahlreichen Autor/innen danken, die sich die Zeit nahmen, um einen Beitrag für die Festschrift zu verfassen. Den Übersetzer/innen Prof. Dr. Michael Düring, Lara Hedžić M.A., Dr. Friedrich Hübner, Kyrill Kobsar M.A., Paul Scherer und Dr. Marina Schumann gebührt großer Dank, weil sie die Übersetzung der russischen und kroatischen Beiträge ins Deutsche und Englische sehr sorgfältig und professionell vornahmen. Mein Dank gilt ferner Dipl.Slawistin Renata Steindorff, die die Beiträge mit kroatisch-bosnisch-serbischer Literatur gewissenhaft prüfte, und Dr. Alastair Walker, der sich im Speziellen der englischsprachigen Texte annahm. Den Hilfskräften Stefanie Grümmer und Jana Siegert, die die Fußnoten der einzelnen Beiträge einer genauen Prüfung unterzogen, die Grafiken optimierten, das Personenregister erstellten und rasch für Abhilfe sorgten, wenn es etwas zu ergänzen galt, sei ebenfalls gedankt. Dem Verband der Osteuropahistorikerinnen und -historiker, namentlich der derzeitigen Vorsitzenden Prof. Dr. Julia Obertreis, sowie dem Franz Steiner Verlag danke ich für die Aufnahme der Festschrift in die Reihe „Quellen und Studien zur

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Martina Thomsen

Geschichte des östlichen Europa“. Den Druck der Festschrift ermöglichten die großzügigen Zuschüsse und Spenden der Sparkassenstiftung Schleswig-Holstein, des ehemaligen Präsidenten der Schleswig-Holsteinischen Universitätsgesellschaft Prof. Dr. Jürgen Miethke, der Universitätsstiftung, des Historischen Seminars sowie des Dekanats der Philosophischen Fakultät. Auch ihnen sei an dieser Stelle herzlich für ihre finanzielle Unterstützung gedankt. Das letzte Stück des Weges, das wegen des beständig näher rückenden Abgabetermins bekanntlich das schwierigste ist, haben mich Dr. Eckhard Hübner, der eine letzte, sehr intensive Durchsicht aller Beiträge vorgenommen und wesentlich zu deren Vereinheitlichung beigetragen hat, sowie Evelin Graupe M.A. begleitet, in deren Händen der Satz, die Bildbearbeitung und der Abschluss des Personenregisters lagen. Ihnen gilt mein ganz besonderer Dank!

ÜBER DIE ANFÄNGE DER SLAWISCHEN LITURGIE UND DER GLAGOLITISCHEN SCHRIFT IN DALMATIEN UND KROATIEN Neven Budak Über die Verbreitung der slawischen Liturgie und der glagolitischen Schrift, insbesondere im südslawischen Raum, wurde schon viel geschrieben.1 Manches hat darüber auch unser Jubilar veröffentlicht.2 Abgesehen von der Entwicklung der Schrift selbst und der Analyse von liturgischen und anderen Texten waren die Wege und die Zeit der Verbreitung der glagoljica von besonderem Interesse. Schon vor mehreren Jahrzehnten erkannte man zwei Wege, über welche angeblich die erste slawische Schrift die Gebiete entlang der ostadriatischen Küste erreichte: Der eine (südliche) verband das Obere Dalmatien mit den bulgarischen/mazedonischen Ländern, der andere (nördliche) das Untere Dalmatien mit dem pannonischen/ mährischen Bereich.3 Man dachte, dass beide Wege durch die Entdeckung epigraphischer Texte aus dem 11. oder 12. Jahrhundert bestätigt worden seien.4 Als Erklärung für den südlichen Weg dienten der politische Einfluss des Byzantinischen 1

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Zuletzt: ŽAGAR, Mateo, Glagoljica u hrvatskoj srednjovjekovnoj kulturi, in: Povijest hrvatskoga jezika, Bd. 1: Srednji vijek, hrsg. von Stjepan DAMJANOVIĆ, Zagreb 2009, S. 146–187. Abgesehen von den Thesen der Verfasser als aktueller Überblick mit umfangreichen Literaturverzeichnissen: GARZANITI, Marcello, Ohrid, Split i pitanje slavenskoga jezika u bogoslužju u X. i XI. stoljeću, in: Slovo 60 (2010), S. 307–334; PENTKOVSKI, Aleksej M., Slavjanskoe bogosluženije v arhiepiskopii svjatitelia Metodia, Sveti Ćirilo i Metodije i slovensko pisano nasleđe (863–2013), Belgrad 2014, S. 25–102. STEINDORFF, Ludwig, Die Synode auf der Planities Dalmae. Reichseinteilung und Kirchenorganisation im Bild der Chronik des Priesters von Dioclea, in: Mitteilungen des Instituts für österreichische Geschichtsforschung 93 (1985), S. 279–324; DERS., „Liber Methodius“. Überlegungen zur kyrillomethodianischen Tradition beim Priester von Dioclea, in: Mitteilungen des Bulgarischen Forschungsinstitutes in Österreich 8 (1986), S. 157–172; DERS., Der Istrische Landschied (Istarski razvod). Ein spätmittelalterliches Zeugnis kroatisch-lateinischdeutscher Begegnung, in: Von Menschen, Ländern, Meeren. Festschrift für Thomas Riis zum 65. Geburtstag, hrsg. von Gerhard FOUQUET, Mareike HANSEN, Carsten JAHNKE und Jan SCHLÜRMANN, Uelvesbüll 2006, S. 165–184; DERS., Die Christianisierung des östlichen Europa. Ein Schritt zur Integration, in: Geschichte und Geschichtsvermittlung. Festschrift für Karl Heinrich Pohl, hrsg. von Olaf HARTUNG und Katja KÖHR, Bielefeld 2008, S. 35–37. FUČIĆ, Branko, Glagoljski natpisi, Zagreb 1982; BUDAK, Neven, Prilog valorizaciji humskodukljanskog kulturnog područja u prvim fazama njegova razvitka (do 12. st.), in: Starohrvatska prosvjeta 16 (1986), S. 125–139. Während der nördliche Weg durch mehrere Inschriften bestätigt ist, dokumentieren den südlichen nur zwei Inschriften aus der Nähe von Dubrovnik: FUČIĆ, Glagoljski natpisi, S. 2f.;

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Neven Budak

Reiches und die Missionstätigkeit der süddalmatinischen Bischöfe unter den Slawen im Hinterland ihrer Städte, während man für den nördlichen Weg die Schüler Methods verantwortlich machte, die nach dem Tod ihres Lehrers von byzantinischen Offizialen in Venedig als Sklaven abgekauft und auf den Kvarner Inseln untergebracht wurden.5 Žagar ist der Meinung, dass die Einführung der glagoljica mehr als nur eine Folge des zufälligen Kontakts zwischen den Kroaten und Methods Schülern oder den Heiligen Brüdern während ihrer Reise durch Kroatien gewesen sei.6 Wer hinter diesem Projekt gestanden hat, bleibt aber bis heute unklar. Die erste Nachricht vom Gebrauch der slawischen Liturgie in Dalmatien ist zwar in einem Manuskript aus dem 16. Jahrhundert erhalten, stammt aber – so die Meinung der meisten Forscher – aus einem Brief von Papst Johannes X. aus dem Jahr 925.7 Der Papst verlangte von den dalmatinischen Bischöfen, die sich auf einer Synode in Split versammelten, die Methodii doctrina aufzugeben. Es handelte sich offensichtlich nicht um einen „ketzerischen“ Irrtum, sondern um das Misstrauen des Papstes gegenüber einer Sprache und Schrift, die er nicht lesen und verstehen konnte.8 Aus der Analyse der Dokumente, die im Zusammenhang mit der Synode von Split stehen, folgt, dass sich die slawische Liturgie damals in den süddalmatinischen Diözesen Kotor, Dubrovnik und Ston verbreitete.9 Trotzdem ist es eine Tatsache, dass alle bisher entdeckten glagolitischen Inschriften (das heißt die ältesten Texte überhaupt) erst aus dem 11. Jahrhundert stammen, also mindestens ein Jahrhundert später als wir von der glagolitischen Schrift in (Süd-)Dalmatien erfahren haben.

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ČUNČIĆ, Marica/PERKIĆ, Marta, Hrvatski glagoljski natpis Župe Dubrovačke iz 11. stoljeća, in: Slovo 59 (2009), S. 77–122. ŠTEFANIĆ, Vjekoslav, Tisuću i sto godina od moravske misije, in: Slovo 13 (1963), S. 5–42. ŽAGAR, Glagoljica u hrvatskoj srednjovjekovnoj kulturi, S. 147. KLAIĆ, Nada, Historia Salonitana maior, Belgrad 1967, S. 95. Es gibt immer noch Mutmaßungen, dass dieses Manuskript eine Fälschung aus dem 16. Jahrhundert sei. Wenn das der Fall wäre, dann gäbe es bis zur zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts überhaupt keinen direkten Beweis für den Gebrauch der slawischen Schrift entlang der östlichen Adriaküste. Dies würde bedeuten, dass die Verbreitung der Schriftlichkeit gleichzeitig im Süden und im Norden durch Inschriften und andere Quellen bewiesen wäre. Zur Entstehung der Historia Salonitana maior siehe BUDAK, Neven, Historia Salonitana and Historia Salonitana Maior. A Contribution to the Debate about the Relation of the Two Texts, in: Summer School in the Study of Historical Manuscripts, hrsg. von Mirna WILLER und Marijana TOMIĆ, Zadar 2013, S. 101–131. KATIČIĆ, Radoslav, Litterarum studia. Književnost i naobrazba ranoga hrvatskog srednjovjekovlja, Zagreb 1998, S. 392–397. Katičić macht darauf aufmerksam, dass schon Johannes VIII. befürchtete, dass Method mittels der slawischen Liturgie eine falsche Lehre verbreitete. Eine ähnliche Anklage findet man auch in De conversio Bagoariorum at Carantanorum: „usque dum quidam Grecus Methodius nomine noviter inventis Sclavinis litteris linguam Latinam doctrinamque Romanam atque litteras auctorales Latinas philosophice superducens vilescere fecit cuncto populo ex parte missas et evangelia ecclesiasticumque officium illorum, qui hoc Latine celebraverunt.“ Vgl. WOLFRAM, Herwig, Conversio Bagoariorum et Carantanorum. Das Weißbuch der Salzburger Kirche über die erfolgreiche Mission in Karantanien und Pannonien mit Zusätzen und Ergänzungen, Laibach 2012, S. 78. BARADA, Miho, Episcopus Chroatensis, in: Croatia sacra 1/2 (1931), S. 211–214; BUDAK, Prilog valorizaciji, S. 126f.

Über die Anfänge der slawischen Liturgie

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Die Anfänge der frühmittelalterlichen Schriftlichkeit bei den Kroaten sowie den Dalmatinern in den Küstenstädten sind mit der lateinischen Schrift und Sprache verbunden. Die ältesten dalmatinischen Steininschriften stammen aus dem späten 8. Jahrhundert, während die bisher älteste bekannte Inschrift aus Kroatien den Namen des Fürsten Trpimir (reg. um 845–864) erwähnt.10 In beiden Fällen kann man die Praxis, Texte in Stein einzugravieren, als einen Versuch deuten, Identitäten zu kreieren.11 Beide Beispiele nähren die Vermutung, dass Sprache und Schrift ein Ausdruck der Bemühungen waren, die eigene Identität mit der römischen zu verbinden. In Dalmatien waren vermutlich die noch vorhandenen antiken Inschriften ein Vorbild, während man für die kroatische Epigraphik karolingischen Einfluss und Bezüge zur Idee der renovatio imperii annehmen kann. Die Eliten beider Länder suchten ihre Legitimierung in der romanitas, daher stellt sich die Frage, wer die Verbreitung der slawischen Schrift und Liturgie förderte? Der Gebrauch der glagoljica lässt sich nicht einfach mit praktischen Gründen erklären. Dass es schon sehr früh möglich war, die slawische Sprache mit lateinischen Buchstaben zu schreiben, wissen wir aus den Freisinger Fragmenten12 sowie aus lateinischen Inschriften in Kroatien, in denen sich Buchstaben finden lassen, die der slawischen Aussprache angepasst waren.13 Letztendlich hat Fürst Rastislav Kyrill und Method nicht nur deshalb eingeladen, weil seine Untertanen überwiegend noch Heiden waren, sondern es ging ihm auch darum, den Einfluss des deutschen Klerus und damit die Politik Ludwigs des Deutschen zu schwächen oder zu beseitigen. Der mährische Fürst benötigte hierfür ein Werkzeug, um eine eigene, von der deutsch-lateinischen klar getrennte Identität zu entwickeln – eine eigene liturgische Sprache mit einer neuen, angepassten Schrift war dafür bestens geeignet. Gab es einen solchen Bedarf ebenfalls in der ehemaligen Provinz Dalmatien? In den dalmatinischen Städten mit einer überwiegend romanisch-sprachigen, christianisierten Bevölkerung offensichtlich nicht. Die kroatischen Herrscher sowie die Kirche strebten eher eine Verschmelzung mit dem byzantinischen Dalmatien und dessen Diözesen in einem einheitlichen Königreich und einer vereinten Kirchenprovinz an. Mehrere „offizielle“ Sprachen und Liturgien wären ein unnötiges Hindernis gewesen. Deswegen ist es denkbar, dass nur die zwei Großmächte Byzanz

10 DELONGA, Vedrana, Latinski epigrafički spomenici u ranosrednjovjekovnoj Hrvatskoj, Split 1996, S. 128. Zur kroatischen Epigraphik: STEINDORFF, Ludwig, Das mittelalterliche epigraphische Erbe Kroatiens, in: Kroatien. Kultur – Sprache – Literatur (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Philologisch-Historische Klasse, Folge 3, 271), hrsg. von Reinhard LAUER, Göttingen 2005, S. 15–29. 11 CONANT, Jonathan, Staying Roman. Conquest and Identity in Africa and the Mediterranean, 439–700, Cambridge/New York 2012, S. 7. 12 MLINAR, Anton, Brižinski spomeniki v kontekstu srednjeevropskega krščanstva v zgodnjem srednjem veku s posebnim poudarkom na zgodovinskem razvoju zakramenta sprave, in: Zbornik Brižinski spomeniki, hrsg. von Janko KOS, Franc JAKOPIN und Jože FAGANEL, Laibach 1996, S. 103–111. 13 DELONGA, Latinski epigrafički spomenici, S. 93, 209f. In zwei Inschriften aus Kaštel Stari und Nin findet sich das kroatische „č“ als beneventanisches „z“ bzw. griechisches „ξ“.

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und Bulgarien Interesse an einer Reduzierung der Einflüsse Roms auf die Kirchenzentren in Dubrovnik, Kotor und Ston haben konnten. Die in der Umgebung dieser Städte entwickelten Sklavinien (Bosnien, Zahumlje, Travunien, Serbien und Dioklien) standen zwar unter der Kirche Roms, politisch jedoch unter byzantinischem und teilweise auch unter bulgarischem Einfluss. Beide Großmächte hatten Grund genug, sich mithilfe der slawischen Liturgie dem Papst zu widersetzen.14 In den Beschlüssen der Synode von 925 steht, dass sich die drei Bischöfe an die richtige Lehre der Kirche halten müssten; dies bedeutet allerdings nicht, dass sie persönlich mit der Verbreitung der slawischen Liturgie einverstanden waren. Interessanter ist ein Blick auf die Entwicklung in ihren Diözesen.15 Für Kroatien kann man nicht mit Sicherheit sagen, wann die slawische Liturgie im Lande Fuß gefasst hat. Vor der Mitte des 11. Jahrhunderts gab es weder Spuren der slawischen Liturgie, noch der glagolitischen Schrift. Die erste Nachricht stammt aus den Jahren 1061/62, als auf einer in Split abgehaltenen Synode, die den Ideen des Reformpapsttums gewidmet war, beschlossen wurde, dass niemand, der sich nur der slawischen Sprache bediente, ad sacros zugelassen werden konnte.16 Offensichtlich war es bisher Praxis gewesen, auch Priester ohne ausreichende Lateinkenntnisse zu weihen – seit wann es diese Praxis gab, wissen wir nicht. Es gibt keinen Beweis für die These, dass dies eine direkte Folge der Tätigkeit von Methods Schülern war. Gemäß eines wenig glaubhaften Berichts von Thomas Archidiaconus von Split (um 1200–1268) wurden viele Kirchen wegen des oben genannten Synodalbeschlusses geschlossen und das Land zerfiel in zwei Parteien.17 Der Historiograph aus Split berichtet die Geschichte von einem gewissen Cededa, Bischof von Krk, der Latein weder sprechen noch verstehen konnte und der mit Hilfe eines Priesters namens Wulfo (Wolfgang) gewaltsam den Bischofssitz übernommen habe. Obwohl ihn der päpstliche Gesandte exkommunizierte, verweigerte Cededa einen Rückzug, 14 ŠUFFLAY, Milan, Hrvati u sredovječnom svjetskom viru, in: Sveslavenski zbornik. Spomenica o tisućgodišnjici hrvatskog kraljevstva, Zagreb 1930, S. 228f. Šufflay war der Meinung, dass Dyrrachium besonders nach der Kirchenspaltung im Jahr 1054 eine wichtige Rolle in der Propaganda und Politik gegen Rom zufiel und dass aus diesem Zentrum auch die slawische Liturgie unterstützt wurde. Man kann vermuten, dass diese wichtige Küstenstadt bereits früher eine wichtige Funktion einnahm. 15 Nicht nur Miho Barada, sondern auch Nada Klaić vertritt die Meinung, dass die eigentlichen Unterstützer der glagolitischen Schrift in den Reihen der dalmatinischen Bischöfe zu suchen sind, weil sie erstens byzantinische Untertanen waren und zweitens die slawische Liturgie für die Christianisierung der slawischen Bevölkerung ihrer Diözesen benötigten. KLAIĆ, Nada, Historijska podloga hrvatskoga glagoljaštva, in: Jugoslavenski historijski časopis 4 (1965), S. 3–15; DIES., Historijska podloga hrvatskoga glagoljaštva u X i XI stoljeću, in: Slovo 15/16 (1965), S. 225–281. 16 Codex diplomaticus regni Croatiae, Dalmatiae et Slavoniae, hrsg. von Jakov STIPIŠIĆ und Miljen ŠAMŠALOVIĆ, Zagreb 1967, S. 96. 17 Archdeacon Thomas of Split, History of the Bishops of Salona and Split/Thomae archidiaconi Spalatensis Historia Salonitanorum atque Spalatinorum pontificum, hrsg. von Olga PERIĆ, Damir KARBIĆ, Mirjana MATIJEVIĆ SOKOL und James Ross SWEENEY, Budapest/New York 2006, S. 81–85.

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bis er schließlich einen schrecklichen Tod starb.18 Mit dieser Geschichte wollte Thomas vor der Gefahr des Schismas, wie er die Verwendung der slawischen Liturgie bezeichnete, warnen. In seinen Augen war Method ein Häretiker, der in slawischer Sprache und mit „gotischen“ Buchstaben gegen den katholischen Glauben agitierte.19 Wenn Thomas Archidiaconus von Häresie berichtet und Method als Häretiker bezeichnet, so ist das seine eigene Meinung und vielleicht auch die Ansicht des Spliter Klerus in der Mitte des 13. Jahrhunderts. In anderen Quellen, die zwischen dem 11. und dem 13. Jahrhundert in Dalmatien entstanden sind, finden sich keine derartigen Anklagen. Vielmehr geht es darum, dass alle Priester Latein sprechen sollen, was selbstverständlich war hinsichtlich der Bemühungen der damaligen westlichen Kirche um Einigung. In den Beschlüssen der Synode von 1061/62 steht lediglich: „Sclavos, nisi Latinas litteras didicerint, ad sacros ordines promoveri […] prohibemus“.20 Ein Verbot der slawischen Liturgie ist nur implizit enthalten. Man kann bezweifeln, dass dieser Beschluss etwas mit der Geschichte von Cededa zu tun hat. Wahrscheinlicher ist die These von Nada Klaić, die vermutet, dass Cededa ein Angehöriger des Gegenpapstes Honorius II. gewesen sei.21 Anders wäre kaum zu verstehen, wieso Cededa von einem deutschen Priester (Wulfo, Wolfgang) unterstützt wurde, da die Kirche im Heiligen Römischen Reich weniger Sympathie für die slawische Liturgie als Rom selbst hatte. Im Unterschied zu den kroatischen Zentralgebieten zwischen den Flüssen Zrmanja und Cetina sind in der Region zwischen Labin/Albona und Zrmanja, inklusive der Gebirgsregion von Lika und dem heutigen Gorski Kotar, keine Steininschriften aus dem 9. und 10. Jahrhundert erhalten. Die Annahme, dass die meisten Bauten damals aus Holz errichtet wurden, liefert nur eine unzureichende Erklärung. Plausibler erscheint die Annahme, dass es dort im Gegensatz zum Kerngebiet des Königreiches keine Elite gegeben hat, die sich durch solche Inschriften verwirklichen wollte. Auch auf den Kvarner Inseln waren Steininschriften nahezu unbekannt.22 Eine andere Situation herrschte in Istrien, wo die Herstellung solcher Inschriften nie unterbrochen wurde. Leider ist die frühmittelalterliche istrianische Epigraphik bislang nicht systematisch erforscht worden.23 Die Entstehung von glagolitischen Inschriften in diesem Gebiet ist nicht leicht zu erklären. Politisch gehörten die Kvarner Inseln nach dem Feldzug des Dogen Pietro Orseolo kurz vor dem Jahr 1000 zu Venedig, und unter dessen Oberhoheit

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Archdeacon Thomas, History, S. 80–87. Ebd., S. 78f. Codex diplomaticus regni Croatiae, Dalmatiae et Slavoniae, S. 96. KLAIĆ, Nada, Povijest Hrvata u ranom srednjem vijeku, Zagreb 1971, S. 372f. Eine Ausnahme war die Inschrift auf der Insel Rab an der Kirche des Apostels Johannes, vermutlich aus dem 9. Jahrhundert; vgl. MLACOVIĆ, Dušan, The Nobility and the Island. The Fall and Rise of the Rab Nobility, Zagreb 2012, S. 187–189. 23 CUSCITO, Giuseppe, Epigrafia medievale in Friuli e in Istria (secc. VI–XIII). Per un corpus delle epigrafi medievali dellʼAlto Adriatico, in: Atti e memorie della Società istriana di archeologia e storia patria 106 (2006), S. 9–71.

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blieben sie einige Jahrzehnte. Der spätere Machtwechsel ist kaum zu rekonstruieren: In den Jahren 1063/64 bemächtigte sich der istrianische Markgraf Ulrich des Gebietes, wurde aber nach seinem Tod 1070 von dem kroatischen Ban Zvonimir mit Hilfe von Verwandten aus der ungarischen Arpadendynastie verdrängt.24 Die byzantinischen Kaiser blieben theoretisch Souveräne, bis sich Anfang des 12. Jahrhunderts der ungarische König Koloman der zwischenzeitlich selbstständigen Inseln wieder bemächtigte.25 Mit der gegenüberliegenden Küste und dem Hinterland war es anders. Nach dem Intermezzo unter Markgraf Ulrich blieb das Gebiet eine Zeit lang kroatisch. Leider sind keine Quellen erhalten, die Auskunft über die kirchlichen und gesellschaftlichen Strukturen in diesen Gebieten geben könnten. Dass das Schweigen der Quellen über die slawische Liturgie nicht als Beweis ex sillentio verstanden werden kann, zeigen zwei Entscheidungen des Papstes. Innozenz IV. erlaubte zuerst dem Bischof von Senj (1248) und anschließend den Benediktinern in Omišalj auf der Insel Krk (1252), die slawische Schrift und Sprache in der Liturgie zu verwenden.26 In diesem Zusammenhang akzeptierte er die Erklärung des Bischofs, die slawische Schrift sei von dem Heiligen Hieronymus selbst entwickelt worden. Diese „slawische“ Interpretation diente der Rechtfertigung des Gebrauchs der glagoljica und entkräftete den damaligen, bei Thomas Archidiaconus erwähnten „dalmatinischen“ Vorwurf, die Schrift stamme vom Häretiker Method ab. Man sollte jedoch nicht vergessen, dass Innozenz III. schon auf dem Konzil in Lateran 1215 die Bischöfe verpflichtet hatte, auch Christen, die andere Sprachen als Latein im Gottesdienst gebrauchten, diese Praxis zu ermöglichen.27 Diese Bewilligungen bedeuten, dass die slawische Liturgie in Senj und auf der Insel Krk eine längere Tradition hatte, was mit der Entstehung der glagolitischen Inschriften im 11. Jahrhundert in Senj, Baška (auf der Insel Krk) und Valun (auf der Insel Cres) übereinstimmt. Wie aus der Bewilligung von 1248 folgt, war der Träger der slawischen Liturgie in Senj der Diözesanklerus, auf der Insel Krk wurde diese Rolle von den Benediktinern übernommen. Die Tafel von Baška28 sowie die Fragmente einer anderen Tafel (Fragmente von Jurandvor)29 gehörten der dortigen Abtei und spätestens um 1200 (aber vermutlich wesentlich früher) wurde die Abtei in Omišalj glagolitisch. Die Inschrift von Valun war ein zweisprachiges Epitaph (lateinisch und slawisch), 24 STEINDORFF, Ludwig, Die dalmatinischen Städte im 12. Jahrhundert. Studien zu ihrer politischen Stellung und gesellschaftlichen Entwicklung (Städteforschung, Reihe A, Darstellungen, 20), Köln/Wien 1984, S. 45. 25 Ebd., S. 46–48. 26 JELIĆ, Luka, Fontes historici liturgiae glagolitico-romanae a XIII ad XIX saeculum, Veglae 1906, S. 9f. 27 Ebd., S. 5. 28 FUČIĆ, Glagoljski natpisi, S. 44–60. Die Tafel von Baška informiert über Zvonimirs Schenkung eines Grundstücks an die Abtei und nennt dabei Zeugen. Den Verweigerern dieser Schenkung wird Verdammnis angedroht. Im zweiten Teil schreibt Abt Dobrovid über den Bau der Kirche. 29 Ebd., S. 62–65. In den erhaltenen Fragmenten kann man den Namen Zvonimir lesen und „vatsk“, wahrscheinlich „hrvatski“, als Teil des Titels kralj hrvatski (König von Kroatien). Dies ist identisch mit dem Titel an der Tafel von Baška.

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von welchem wir keine weiteren Kenntnisse haben, das aber Bezug zur lokalen Kirche haben sollte. Außerhalb dieses Gebietes entstand eine frühe glagolitische Inschrift in Grdoselo (Istrien). Wahrscheinlich memoriert sie die Widmung eines Altars in der Pfarrkirche, die damals dem Patriarchen von Aquileia unterstellt war.30 Obwohl uns nur sehr spärliche Quellen zu Verfügung stehen, können wir vermuten, dass die slawische Liturgie eine Achse zwischen Senj und Krk bildete, wobei die Benediktiner die Rolle der Vermittler übernahmen (möglicherweise gehörte auch die Inschrift von Senj einer Benediktinerkirche31). Der Gebrauch der glagoljica erstreckte sich bis nach Cres und Istrien. Senj und Baška sind nicht nur durch den Gebrauch der glagoljica verbunden. Beide Ortschaften waren auch im Besitz der Könige von Kroatien und Dalmatien. Der Beweis dafür sind die königlichen Schenkungen an die Abtei in Baška sowie der Stadt Senj an die Templaren (1184).32 Interessant ist, dass nur in diesen zwei Orten Altartafeln (beziehungsweise Fragmente) mit glagolitischem Text gefunden worden sind. Der Brauch, Texte auf Altartafeln anzubringen, besonders mit solchen Inhalten, die eher zu einem Kopiar passen würden, ist im Westen unbekannt. Vergleichbare Beispiele findet man aber im Osten Europas.33 In vielen griechischen, bulgarischen und serbischen Kirchen des 11.–14. Jahrhunderts sind Inschriften erhalten, welche über Donationen, Gründungen oder Inventare informieren. Trotz der wenigen Quellen, die uns zur Verfügung stehen, dürfen wir annehmen, dass die Entstehung der glagolitischen Inschriften einerseits mit den Benediktinern, anderseits mit den Einflüssen aus Byzanz in Verbindung stehen. Dies ist eine widersprüchliche Erklärung, darüber hinaus lassen sich die Einflüsse des östlichen Imperiums auf den Kvarner Inseln im 11. Jahrhundert kaum erklären. Wie schon erwähnt, ist Nada Klaić der Meinung, man solle die Verbreitung der slawischen Liturgie im 11. Jahrhundert auf dem Kvarner der Politik des Gegenpapstes Honorius II. zuschreiben, dem Markgraf Ulrich II. von Weimar-Orlamünde durch die Gründung der dalmatinisch-kroatischen Mark 1064 Unterstützung zusicherte. Nachdem der kroatische Ban Zvonimir mithilfe seiner Verwandten aus der Arpadendynastie wahrscheinlich nach Ulrichs Tod 1070 den größten Teil der Mark für Kroatien zurückgewonnen hatte, konnte er es sich nicht leisten, seine Untertanen gegen sich aufzubringen, indem er ihnen die slawische Liturgie verweigerte – obwohl er einige Jahre später ausgerechnet vom Reformpapst Gregor VII. zum König

30 Ebd., S. 168f. Aus dieser Zeit existiert auch eine sehr kurze Inschrift aus Plomin (Istrien); vgl. ebd., S. 282–284. 31 Mit Sicherheit befanden sich in Senj und der näheren Umgebung im 14. Jahrhundert drei Benediktinerabteien, aber wir wissen nicht, ob sie schon im 11. oder 12. Jahrhundert bestanden haben. Es ist bemerkenswert, dass im Zusammenhang mit der Abtei des Heiligen Kreuzes das Fest des Heiligen Kyrill besonders gekennzeichnet war; vgl. OSTOJIĆ, Ivan, Benediktinci u Hrvatskoj, Bd. 2, Split 1964, S. 209. 32 DOBRONIĆ, Lelja, Templari u Senju, in: Senjski zbornik 30 (2003), S. 191–200. 33 KAMLOPISSI-VERTI, Sophia, Church Inscriptions as Documents. Chrysobulls – Ecclesiastical Acts – Inventories – Donations – Wills, in: Deltion tes Christianikes Archaiologikes Hetaireias 24 (2003), S. 79–88.

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von Kroatien und Dalmatien gekrönt wurde.34 Klaićs These erklärt tatsächlich, wieso es überhaupt möglich war, dass sich nach der Kirchenspaltung im Jahr 1054 in einem begrenzten Gebiet der westlichen Kirche auch die slawische Liturgiesprache verbreiten konnte. Honorius erlaubte die slawische Sprache, um einen Teil der Kirche in Norddalmatien (vielleicht unter der Führung des Bischofs von Krk) auf seine Seite zu ziehen, und Zvonimir setzte diese Politik aus ähnlichen Gründen fort. Die stärkere Präsenz der königlichen Macht nach Zvonimirs Rückeroberung war eine Vorbedingung für die Herstellung glagolitischer Inschriften, weil sich, wie es scheint, erst durch die Politik des Herrschers eine kirchliche Elite bilden konnte, die ein Bedürfnis nach Legitimation hatte. Es bleibt jedoch die Frage, wie die byzantinische Praxis der Herstellung von Inschriften mit rechtlichen Inhalten nach Krk und Senj übertragen wurde. Ich kann hier nur die Hypothese äußern, dass die östliche Kirche nach der Kirchenspaltung vielleicht versucht hat, auf den norddalmatinischen Inseln, die theoretisch politisch unter der kaiserlichen Oberhoheit standen, Fuß zu fassen. Obwohl solche Spuren mehr als spärlich sind und nur auf einzelne glagolitische Inschriften begrenzt bleiben, sehe ich keine andere Erklärung für solche Inschriften, wie man sie auf der Tafel von Baška und wahrscheinlich auch in Senj finden kann. Es sollte nicht vergessen werden, dass die erste Nachricht über Priester in Dalmatien, die nur Slawisch kannten, erst aus der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts stammt. Die drei bislang bekannten Inschriften dieses Typs bedeuten, was man auch aus anderen Quellen schließen kann,35 dass die Kontakte zu Byzanz nur kurzzeitig und ohne weitere Folgen gewesen waren. Ich glaube keineswegs, diese These bewiesen zu haben, hoffe jedoch, auf eine alternative Perspektive in Bezug auf die Anfänge des Glagolismus in Dalmatien/Kroatien aufmerksam gemacht zu haben.

34 STEINDORFF, Ludwig, Kroatien. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Regensburg/München 2001, S. 36f. 35 STEINDORFF, Die dalmatinischen Städte, S. 36.

NOTES ON THE URBAN ELITE, CHURCHES, AND ECCLESIASTICAL IMMOVABLES IN EARLY MEDIEVAL DUBROVNIK1 Irena Benyovsky Latin It is an established fact that there was a series of sacral buildings within early medieval Dubrovnik. But the circumstances in which they were founded, demolished, and reconstructed are not well known, as there are only sporadic records preserved before the emergence of the notariate in the 1270s2 (and, furthermore, the descriptions in narrative sources are unreliable).3 Dubrovnik’s urban area was subject to many changes, which cannot always be reconstructed4, regarding the terrain on 1 2

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This work has been fully supported by the Croatian Science Foundation under the project “Towns and Cities of the Croatian Middle Ages: Urban Elites and Urban Space”, no. IP–2014– 09–7235. Spisi dubrovačke kancelarije: Zapisi notara Tomazina da Savere (1278–1282) (Monumenta historica Ragusina, I) [hereafter: MHR, Vol. I], ed. by Gregor ČREMOŠNIK, Zagreb 1951; Spisi dubrovačke kancelarije: Zapisi notara Tomazina da Savere (1282–1284). Diversa cancellariae I (1282–1284). Testamenta I (1282–1284) (Monumenta historica Ragusina, II) [hereafter: MHR, Vol. II], ed. by Josip LUČIĆ, Zagreb 1984; Spisi dubrovačke kancelarije: Zapisi notara Tomazina da Savere (1284–1286). Diversa cancellariae II (1284–1286). Zapiski notara Aca de Titullo (1295–1297). Diversa cancellariae III (1295–1297) (Monumenta historica Ragusina, III) [hereafter: MHR, Vol. III], ed. by Josip LUČIĆ, Zagreb 1988; Spisi dubrovačke kancelarije: Zapisi notara Andrije Beneše (1295–1301). Praecepta rectoris II (1299–1301). Testamenta II (1295–1301) (Monumenta historica Ragusina, IV) [hereafter: MHR, Vol. IV], ed. by Josip LUČIĆ, Zagreb 1993. Knjige nekretnina Dubrovačke općine (13–18. st.). Libri domorum et terrenorum communis Ragusii deliberatis ad affictum (saecc. XIII–XVIII), Vol. 1, ed. by Irena BENYOVSKY LATIN and Danko ZELIĆ, Zagreb/Dubrovnik 2007. KATIČIĆ, Radoslav, Aedificaverunt Ragusium et habitaverunt in eo. Tragom najstarijih dubrovačkih zapisa, in: Uz početke hrvatskih početaka: filološke studije o našem najranijem srednjovjekovlju, Split 1993, pp. 131–160; MATTEI, Gian-Maria, Zibaldone (Storia Ragusina), Vol. I–III (Library of the Franciscan Monastery in Dubrovnik, no. 433–435); CERVA, Serafin Maria, Sacra Metropolis Ragusina, sive ragusinae provinciae pontificum series variis ecclesiarum monumentis atque historicis, chronologicis, criticis commentariis, Vol. I, Dubrovnik 1744, original preserved at the Library of the Dominican monastery in Dubrovnik (Sign. 36–IV–14); State Archives of Dubrovnik [hereafter: SAD], Opera pia, ser. 92; NAPOLI, Vincenzo di, Spoglio delle scritture di Lacroma, Vol. 1–2 (Rukopis u Arhivu HAZU, sign. I, c. 15); SPINOLA, Giuseppe, Registro nel quale si contengono tutte le annue rendite e pesi del monistero e badia di Santa Maria e San Benedetto dellʼIsola di Lacroma, Dubrovnik, 1783 (manuscript preserved at the Library of the Dominican monastery in Dubrovnik, sign. 36–IV–5). The lack of material and documentary evidence is due to the massive destructions of the later centuries, especially the great earthquake of 1667 and the resulting fire, which destroyed most of the city.

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which the city was built and its geopolitical position at the intersection of different interests.5 It is certain that Ragusium was Christianized before the 6th century and coexisted with Epidaurus.6 As early as the late antique period, there were churches within the walls in the oldest part of the city (such as a Byzantine basilica, in which location the Romanesque cathedral was built from the 12th century).7 There are also traces of early churches in the areas beyond the borders of late antique and early medieval Dubrovnik. Thus, an early Christian cemetery has been discovered near All Saints (Domino)8 next to the old west gate.9 Traces of a late antique sacral building have also been found under the pre-Romanesque floor of the church of the Transfiguration of Christ (Sigurata)10 on the slopes of St Sergius’ hill11 (in its western part).12 The 7th century brought change owing to the demographic influx. However, beside the gradual infiltration of Slavs from the hinterland, there was a segment of population from the late Roman period that had been living in the city continuously. It is now believed that the core of the original elite consisted of the surviving families from Epidaurus. Eventually, the urban elite encompassed “the surviving progeny of ancient families and the new dignitaries, established by means of wealth or public service”.13 In the narrative sources, “data” is found on the transferral of 5

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FISKOVIĆ, Cvito, Starokršćanski ulomci iz Dubrovnika, in: Starinar 9/10 (1958/59), pp. 53–57; ŽILE, Ivica, Naselje prije Grada, in: Dubrovnik 4 (1997), pp. 97–119; FISKOVIĆ, Cvito, Crkvica sv. Kuzme i Damjana u središtu Dubrovnika, in: Dubrovnik 4 (1997), pp. 261–275, here pp. 261–273; NIČETIĆ, Antun, Pretpostavke o nastanku luke i grada Dubrovnika s obzirom na brodsku i plovidbenu tehnologiju, in: Luke istočnog Jadrana, ed. by Mithad KOZLIČIĆ, Stanko PIPLOVIĆ and Danka RADIĆ, Orebić 2006, pp. 23–51. JANEKOVIĆ RÖMER, Zdenka, Dubrovnik and its First Shepherd through the Changes of Citizenship in the Middle Ages, in: Hortus Artium Medievalium 12 (2006), pp. 187–192; DUSA, Joan, The Medieval Dalmatian Episcopal Cities. Development and Transformation, New York 1991. The basilica was built within a separate late antique castellum; cf. ZELIĆ, Danko, Arhitektura starih katedrala, in: Katedrala Gospe Velike u Dubrovniku, ed. by Katarina HORVAT-LEVAJ and Miho DEMOVIĆ, Zagreb/Dubrovnik 2014, pp. 31–69, here p. 41. Map no. 6. ŽILE, Ivica, Rezultati arheoloških istraživanja u Domu Marina Držića u Dubrovniku, in: Radovi IPU 12/13 (1988/89), pp. 49–57. Map no. 5. FISKOVIĆ, Starokršćanski, pp. 53–57; PRELOG, Milan, Tekstovi o Dubrovniku, Zagreb 2003, pp. 60–62; PLANIĆ-LONČARIĆ, Marija, Ceste, ulice i trgovi srednjovjekovnog Dubrovnika, in: Prilozi povijesi umjetnosti u Dalmaciji 29 (1990), pp. 157–167, here p. 165. PEKOVIĆ, Željko/ŽILE, Ivica, Ranosrednjovjekovna crkva Sigurata na Prijekome u Dubrovniku, Split 1999. According to some researchers, there had been an older antique church in the locality of St Peter (Major), which was reconstructed during the later period. FISKOVIĆ, Igor, Srednjovjekovna preuređenja ranokršćanskih svetišta u dubrovačkom kraju, in: Arheološka istraživanja u Dubrovniku i dubrovačkom području, Vol. 12, ed. by Željko RAPANIĆ, Zagreb 1988, pp. 189–208, here p. 203. However, recent research states that the church on this site was not built before the 10th century. MARASOVIĆ, Tomislav, Dalmatia praeromanica. Ranosrednjovjekovno graditeljstvo u Dalmaciji, Vol. 4: Korpus arhitekture (južna Dalmacija, Bosna i Hercegovina, Crna Gora), Split/Zagreb 2013, p. 90. JANEKOVIĆ RÖMER, Zdenka, The Frame of Freedom. The Nobility of Dubrovnik between the Middle Ages and Humanism, Zagreb/Dubrovnik 2015, p. 81. Regardless of the unreliable data

Notes on the Urban Elite, Churches, and Ecclesiastical Immovables

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saintly cults into the city or the acknowledgment of domicile patron saints.14 These legends also reflect the tradition about the city as a refuge for all Christians,15 which confirms that Dubrovnik was not only an important economic and political centre, but also the focus of Christianization for the surrounding areas.16 In the course of time, the city suffered many devastating events, ranging from warfare to various disasters.17 Despite that, some of the late antique buildings survived,18 as it is attested by the later use of these sacral sites.19 Subsequent alterations were linked to the derelict state of the buildings, as well as changes in liturgy or different aesthetic needs.20 There were large-scale reconstructions of the existing churches and new ones were constructed during the pre-Romanesque period.21 For

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in narrative sources, it may be presumed that the arrival of wealthy newcomers from the hinterland may have caused social differentiation among the citizens. In other words, newcomers may have influenced the later social structures of Dubrovnik. Their process would have played a decisive role in the process, resulting in social stratification. For instance, the Pecorario lineage, who alegedly arrived in the 8th century (according to the narrative sources), seems to have been prominent among these newcomers; cf. VEKARIĆ, Nenad, Vlastela grada Dubrovnika, Vol. 1: Korijeni, struktura i razvoj dubrovačkog plemstva, Zagreb/Dubrovnik 2011, p. 17. According to the chronicler Ranjina, for example, the custom that each family should have their own patron saint had come to Dubrovnik with the newcomers from the hinterland: ogni fameglia teneva el suo santo, chi Genobio, chi s. Nicolò, chi s. Gregorio, chi questo santo e chi quell'altro; cf. Annales Ragusini Anonymi item Nicolai de Ragnina [hereafter: Annales], ed. by Natko NODILO, Zagreb 1893, pp. 5–8, 177–180; Monumenta spectantia historiam Slavorum Meridionalium, Vol. 25 [hereafter: Resti], ed. by Natko NODILO, Zagreb 1893, pp. 18, 592; JANEKOVIĆ RÖMER, The Frame, p. 491. Resti, pp. 17–19; Annales, pp. 10–11; LUČIĆ, Josip, Povijest Dubrovnika. Od VII stoljeća do godine 1205, Zagreb 1973, pp. 35–44, 84. Prlender argues that a crucial event for the Dubrovnik Church was the loss of papal jurisdiction over Illyricum, Prevalitana, and Dalmatia in the 8th century; cf. PRLENDER, Ivica, Crkva i država u srednjovjekovnom Dubrovniku, unpublished dissertation, Zagreb 1998, p. 13. The sea level was also constantly changing, which meant that the terrain had to be systematically adapted and new buildings constructed (a fact which has remained preserved in urban memory). More on the ecclesiastical situation in: PRLENDER, Crkva i država. FISKOVIC, Igor, Apport des reconstructions dʼéglises de l'antiquité tardive dans la formation du premier art roman sur le litttoral croate, in: Hortus artium Medievalium 1 (1995), pp. 14–27. FISKOVIC, Igor, Prilog proučavanju porijekla preromaničke arhitekture na južnom Jadranu, in: Starohrvatska prosvjeta 15 (1985), pp. 133–163. FISKOVIC, Igor, Srednjovjekovna preuređenja ranokršćanskih svetišta u dubrovačkom kraju, in: Arheološka istraživanja u Dubrovniku i dubrovačkom području (1988), pp. 189–208, here p. 203; FISKOVIC, Cvito, Crkvica sv. Kuzme i Damjana u središtu Dubrovnika, in: Dubrovnik 4 (1997), pp. 261–275. During the 10th c. Dubrovnik’s church was organized as part of the Split Archbishopric. LUČIĆ, Josip, Dubrovačke teme, Zagreb 1991, p. 20.

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instance, the single-nave church of St John22 in Pustijerna was built in the pre-Romanesque period and rebuilt around the 10th–11th centuries.23 The church of St Stephen,24 likewise in Pustijerna, was also built around the 9th century, and reconstructed and renewed around the 10th–11th century over an older pre-Romanesque church.25 At the southern edge of Pustijerna, at the site of the late antique bulwark, a small church dedicated to St Cosmas and Damian26 was built in the 10th century as a private foundation.27 In the area of the later district of Castello, the church of St Peter (Major) was built around the 10th–11th centuries.28 Narrative sources also tell of a small church dedicated to St Sergius and Bacchus.29 (Its lateral part has probably remained preserved, reconstructed as a chapel, next to the later Benedictine church of St Mary de Castello).30 The pre-Romanesque church of All Saints (Domino)31 was built during the same period in front of the western city gate32, while somewhat more to the north narrative sources mention “the first church of St Blasius”33 as having been built in the 10th century. The pre-Romanesque church of St Nicholas34 was reconstructed in the eastern part of the later district of Prijeko35, and the small church of the Transfiguration of Christ (Sigurata) was rebuilt in the western part of the Prijeko district36 during the pre-Romanesque period. Medieval and early modern narative sources link the foundation of St Stephen to the newcomers or to the local noble families and the preservation of precious relics. The church is mentioned in De administrando imperio (10th century) as the 22 Map no. 10. 23 MARASOVIĆ, Dalmatia, 127. 24 Map no. 4. The pre-Romanesque church obtained a narthex in the early Romanesque period, but it continued to function in its basic form. The early medieval church of St Stephen was radically reconstructed in the Romanesque period; cf. PEKOVIĆ, Željko, Crkva sv. Stjepana u Pustijerni, in: Minuscula in honorem Željko Rapanić, ed. by Miljenko JURKOVIĆ and Ante MILOŠEVIĆ, Zagreb/Motovun/Split 2012, pp. 341–376, here pp. 356–357, 360. 25 MARASOVIĆ, Dalmatia, p. 107; PEKOVIĆ, Crkva sv. Stjepana, pp. 356–357, 360. 26 Map no. 3. 27 FISKOVIĆ, Crkvica, pp. 261–273. 28 KRAJCAR BRONIĆ, Ines/TOPIĆ, Nikolina/RADIĆ, Ivana/PEKOVIĆ, Željko/SIRONIĆ, Andreja, Radiocabon Dating of St Stephen’s in Pustijerna Church in Dubrovnik, Croatia, in: The Unknown Face of the Artwork, ed. by Roxana RADVAN, Sevim AKZUY and Monica SIMILEANU, Istanbul 2012, pp. 27–34; PEKOVIĆ, Željko, Crkva sv. Petra Velikog Dubrovačka predromanička katedrala i njezina skulptura, Dubrovnik/Split 2010. 29 Map no. 36. PEKOVIĆ, Željko, Dubrovnik. Nastanak i razvoj srednjovjekovnoga grada, Split 1998, p. 45. 30 Map no. 8. Archivio Segreto Vaticano, Congregazione vescovi e regolari: Visite apostoliche Ragusa, 28, fol. 867. ŽILE, Rezultati arheoloških, pp. 49–57. 31 Map no. 6. 32 ŽILE, Rezultati arheoloških, pp. 49–57. 33 Map no. 13. BERITIĆ, Lukša, Ubikacija nestalih građevinskih spomenika u Dubrovniku (Prilozi povijesti umjetnosti u Dalmaciji, 10), Split 1956, pp. 67–68. 34 Map no. 12. 35 PEKOVIĆ, Željko, Crkva sv. Nikole na Prijekom, in: Starohrvatska prosvjeta 21 (1995), pp. 159– 170. 36 FISKOVIĆ, Starokršćanski, pp. 53–57; ŽILE, Naselje, p. 108.

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church in the centre of the city.37 According to Milecij, it were the “founders of the city” to have deposited the relics of St Nereus und Achilleus, Domitilla, and Petronilla in this church. In these descriptions, the newcomers linked to the church were of Roman origin, which was supposed to corroborate the legends on the Roman foundation of the city. However, narrative sources from a later period associate the construction of St Stephen with the local noble families, as well as with Slavic rulers from the hinterland.38 Although these legends are inconsistent in terms of content and chronology, they obviously seek to establish a connection between the Slavic and Roman elements in the history of the city, and links to the Slavic rulers may also “explain” the way in which Dubrovnik expanded its territory.39 Legends on the church of St Blasius, the city patron, in the 10th century would have legitimized the city’s autonomy from the earliest period.40

37 BENYOVSKY LATIN, Irena, Grad i zaleđe u narativnim vrelima: konstruiranje tradicije o ranosrednjovjekovnim doseljenjima u Dubrovnik iz slavenskog zaleđa, in: Acta Historiae [in press]. Chronicler Cerva even notes that the church of St Stephen the Protomartyr was built around 930 and restored in 1050, and that it was “the ancient seat of the bishop, that is, the cathedral.” CERVA, Serafin Maria, Prolegomena in sacram metropolim Ragusinam, editio princeps (Monumenta historica Ragusina, 8), ed. by Relja SEFEROVIĆ, Zagreb/Dubrovnik 2008, p. 448. The 10th century in urban memory is associated with the arrival of numerous noble families. 38 There is a famous story of Queen Mary (Margaret) of Dubrovnik origins, wife to a Slavic ruler. Territorial expansion was often incorporated in a story on donations by Slavic rulers from the hinterland, and linked to offering the shelter to a member of the ruling family; cf. Annales, pp. 16–17; LUČIĆ, Josip, Dubrovačko povijesno iverje, Matica hrvatska, Dubrovnik 1997, pp. 41– 43. 39 Narrative sources describe the alleged expansion of the city to the suburbs in the 10th century as a consequence of the new wave of exiles; cf. Chronica Ragusina, p. 26; Annales, p. 20. The City was again described as a refuge, not only economic and political, but also religious. As early as the 14th century – which certainly had an impact on the chronicles of Dubrovnik – the rhetoric of the city as the centre of Christianity (= Roman Christianity) would have been used; KUNČEVIĆ, Lovro, Civic and Ethnic Discourses of Identity in a City-state Context: The Case of Renaissance Ragusa, in: Whose Love of Which Country? Composite States, National Histories and Patriotic Discourses in Early Modern East Central Europe, ed. by Balázs TRENCSÉNYI and Márton ZÁSZKALICZKY, Leiden 2010, pp. 149–177; KUNČEVIĆ, Lovro, Discourses on Liberty in Early Modern Ragusa, in: Freedom and the Construction of Europe, Vol. 1: Religious and Condtitutional Liberties, ed. by Quentin SKINNER and Martin VAN GELDEREN, Cambridge 2013, pp. 195–214, here p. 181. 40 Thus, the narrative sources mention that the (earliest) church dedicated to the city’s patron saint, St Blasius (fig. 13), would have been built on the site of the later church of St Clare “in memory of the successful defence of the city against the Venetians”; cf. KUNČEVIĆ, Lovro, Dubrovačka slika Venecije i venecijanska slika Dubrovnika u ranom novom vijeku, in: Anali Zavoda za povijesne znanosti Hrvatske akademije znanosti i umjetnosti u Dubrovniku, 50 (2012), pp. 9–37, here p. 11; CERVA, Prolegomena, pp. 307–308; CERVA, Sacra, Vol. I, pp. 272–273.

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At the turn of the 11th century, the situation of the Dubrovnik Church was very complex owing to various political41 and ecclesiastical circumstances.42 Following some chroniclers in Dubrovnik, the Archbishopric was founded after 990.43 In a bull from 1022, Pope Benedict conferred the pallium on Archbishop Vital (possibly from the Dubrovnik lineage of Pecorario), whose brother was Lampredij, the city’s prior. It is at this time, in the mid-10th or the 11th century, that the Byzantine basilica was reconstructed,44 which some scholars have linked to its transformation into the city’s cathedral. (However, the exact location of the earliest episcopal church is not known, and neither is that of the episcopal palace.)45 The rule of Archbishop Vital was the period when the important Benedictine abbey on the island of Lokrum was constructed.46 In accordance with a charter from 1023, a monk called Petar from St Mary’s in Tremiti (possibly also a member of the Pecorario lineage) founded the abbey with the support of the commune (that is, Vital and his brother, prior Lampredij).47 Allegedly members of the nobility were buried there until the late 13th 41 During the 11th century, the Venetian and the Byzantine rule alternated in the city, which also briefly acknowledged Norman sovereignty. LUČIĆ, Josip, Dubrovčani na jadranskom prostoru od VII stoljeća do godine 1205, in: Rad JAZU 17 (1975), pp. 29–30; HARRIS, Robin, Dubrovnik. A History, Zagreb 2006, p. 32; FORETIĆ, Vinko, Povijest Dubrovnika do 1808, Vol. 1, Zagreb 1980, p. 27; LUČIĆ, Povijest, p. 55; The mid-century brought an increased threat from the hinterland, especially after the death of the Byzantine emperor Basil II in 1025. In the 11th century, the neighbouring Duklja became an important political factor in the context of Dubrovnik’s ecclesiastical jurisdiction; cf. PRLENDER, Ivica, Rimska kurija prema rubnim prostorima Zapada na istočnojadranskoj obali tijekom XI. i XII. stoljeća, in: Historijski zbornik 62 (2011), pp. 1–27, here p. 4. 42 The Archbishop of Dubrovnik had jurisdiction over Zahumlje, Serbia, and Travunia as well as the cities of Kotor, Bar and Ulcinj; cf. PRLENDER, Rimska kurija, p. 3. 43 The only remaining document is a bull of Pope Benedict VIII from 1022 stating that the Archbishopric was founded by a bull of Pope Gregory (probably Gregory V). Cerva mentions that Archbishop John as the first archbishop of Dubrovnik, who allegedly fled there “from Diocleia, which was demolished”, had his see presso al Castello a SS. Apostoli (St. Peter’s), where other episcopal estates were also located. This tradition was perhaps to be of use in the dispute with the Archbishopric of Bar, to preserve the connections with Epidaurus, and to isolate Dubrovnik from the Archbishopric of Split; cf. CERVA, Sacra, Vol. I, pp. 2–3; Annales, pp. 23, 202; KATIČIĆ, Aedificaverunt, p. 52. 44 ZELIĆ, Arhitektura, p. 38. Chronicler Milecius calls it St Mary’s and says that the relics of St Zenobius and Zenobia were transferred there in 1012; cf. Annales, p. 208. Cerva mentions Nikofor from Dubrovnik as the second archbishop and describes the transfer of the relics of St Zenobius and Zenobia ad Divae Mariae templum as having occurred in 1016; cf. CERVA, Sacra,Vol. I, p. 6, 8–9; FARLATI, Daniele, Illyrici sacri, Vol. VI, Venetiis 1800, p. VI. 45 BERITIĆ, Ubikacija, p. 81. According to the chronicler Milecij, transfer of the relics of Dubrovnik’s patron saint, St Blasius, took place in 1026, but other chroniclers have dated this event very differently. BELAMARIĆ, Joško, Sveti Vlaho i dubrovačka obitelj svetaca zaštitnika, in: Tisuću godina uspostave dubrovačke (nad)biskupije, ed. by Želimir PULJIĆ and Nediljko A. ANČIĆ, Dubrovnik 2001, pp. 703–731, here p. 703. 46 Ibid., passim. 47 LUČIĆ, Josip, Dubrovačko povijesno iverje, Matica hrvatska, Dubrovnik 1997, p. 151; Diplomatički zbornik Kraljevine Hrvatske, Dalmacije i Slavonije, Vol. 1, ed. by M. KOSTRENČIĆ, Zagreb 1967, pp. 62–65; FARLATI, Illyrici sacri, Vol. VI, pp. 44–45, 164, Vol. V, pp. 66–67.

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century.48 In the early medieval period, the urban elite consisted of local ecclesiastical authorities – the archbishop, members of the chapter, the abbots of various monasteries, and wealthy citizens.49 The mid-11th century saw a new phase in the construction and reconstruction of the city.50 The first suburbs, which possibly emerged as early as the 11th century in the area in front of the Lion’s Gate and east of the western city gate, next to the church of All Saints,51 were related to immigrations during the 11th and 12th centuries.52 Pustijerna was reorganized according to an earlier plan, preceding the regulations of the late 13th century.53 The abbot of Lokrum had his seat there. As early as 104454 a monk called Dominik assigned to the abbey in his last will the small church of St Cosmas and Damian (together with the surrounding houses, as mentioned in a dispute from 1050–1055.55 (Petar Slaba, Dubrovnik’s prior at the time,

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After the 10th century, the island was allegedly inhabited by hermits. OSTOJIĆ, Ivan, Benediktinci u Hrvatskoj i ostalim našim krajevima, Vol. 1, Tkon 1963, p. 120; NAPOLI, Spoglio, fol. 1–192; ŽILE, Ivica, Predromanička skulptura s otoka Lokruma, Rožata i Komolca u Rijeci dubrovačkoj, in: Starohrvatska posvjeta 3/21 (1991), pp. 145–158; LUČIĆ, Josip, Prošlost otoka Lokruma, in: Otok Lokrum: Zbornik radova sa Simpozija održanog od 8.–11.9.1987. u Dubrovniku, ed. by Milan MEŠTOROV, Zagreb 1989, pp. 183–197; NIČETIĆ, Antun, O otoku Lokrumu sjedištu benediktinske Opatije svete Marije, in: Benediktinci na području Dubrovačke nadbiskupije, ed. by Želimir PULJIĆ and Marijan SIVRIĆ, Dubrovnik 2010, pp. 339–363. Cerva describes Vitalis’ tombstone, including a drawing; cf. CERVA, Sacra, Vol. I, p. 48. The nobility of Dubrovnik allegedly buried their dead there, but today no traces of graves can be seen; cf. OSTOJIĆ, Benediktinci, pp. 117–118. The monastery enjoyed a certain degree of autonomy and immunity with regard to the municipal administration; The relationship between the authorities and the abbot of Lokrum was regulated by the Statute of 1272; Statut grada Dubrovnika, Vol. I, ed. and transl. by Ante ŠOLJIĆ, Zdravko ŠUNDRICA and Ivo VESELIĆ, Dubrovnik 2002, p. XXI. ZELIĆ, Danko, Public and Private Space in a Medieval Dalmatian Town, in: Mittelalterliche Häuser und Straßen in Mitteleuropa (Varia Archaeologica Hungarica, 9), ed. by Marta FONT and Maria SÁNDOR, Budapest 2000, pp. 139–148, here p. 141. According to the chronicler Cerva, this was a result of the fire of 1023 and the Saracen incursions of 1032/33; cf. CERVA, Sacra, Vol. I, pp. 29–30. PLANIĆ-LONČARIĆ, Marija, Planirana izgradnja na području Dubrovačke Republike, Zagreb 1980, pp. 12–13, 18–19. These first suburbs may have been interconnected by means of a street running from east to west (a remnant of which is the present-day Gučetića Street) and their decline has been associated with the cathedral’s reconstruction; cf. PLANIĆ-LONČARIĆ, Ceste, pp. 164–165. GRUJIĆ, Nada, Kuća u gradu, Dubrovnik 2013, p. 67; GRUJIĆ, Nada, Dubrovnik-Pustijerna. Istraživanja jednog dijela povijesnog tkiva grada, in: Radovi Instituta za povijest umjetnosti 10 (1986), pp. 7–39. In 1044 the list includes a donation to the church of St Cosimas and Damian; NAPOLI, Spoglio, fol. 1 (regesta); Cerva’s work includes a transcription of the document from 1044; CERVA, Sacra,Vol. I, pp. 38–40. OSTOJIĆ, Benediktinci, p. 120; FISKOVIĆ, Crkvica, p. 273. His parents had bought them from a man called Balsam. Diplomatički zbornik Kraljevine Hrvatske, Dalmacije i Slavonije [hereafter: CD], Vol. I, ed. by Mirko KOSTRENČIĆ, Zagreb 1967, pp. 80–81; CD, Vol. I, doc. 59, p. 79; DE GIORGI, Luigi, L’isola di Lacroma ossia notizie geografiche e storiche su detta isola,

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wanted to use the church for the communal pretorium as it was very favourably situated.)56 In this period, the Benedictine nunnery of St Simon57 was built in the area of the Castello district. It is not mentioned in the documents until 1108 when Dominik, archbishop of Dubrovnik, ordered that the church of St Simon should remain in the hands of the Benedictine nuns. Heirs to the monastery’s founder are mentioned here, but only with their initials: A. and L.58 Narrative sources link the foundation of the monastery to Archbishop Vital and the tradition of the arrival of the relic of the Holy Tunic to the church of St Vitus in 1030. After its demolition, the relic was allegedly transferred to St Simon’s.59 Cerva mentions Vital’s sister, a nun from the abbey of St Simon and Jude (sic), where the relic was transferred around 1140.60 J. Belamarić considers it possible that the nun from St Simon was Vital’s sister, just like the city’s prior could be his brother and the monk participating in the foundation of Lokrum’s monastery his relative Peter, indicating that similar “nepotism” can be observed at the time in other eastern Adriatic cities.61 According to the chronicler Cerva, Archbishop Andrea (from 1141) founded the Benedictine monastery of St Mary de Castello in 1150.62 In this period, another Benedictine nunnery is mentioned in the area west of Castello: St Bartholomew,63 which may have been founded before the 12th century.64 The Benedictine nunnery of St Thomas, mentioned in Pustijerna only from 1234, was probably also founded earlier.65 Nunneries played a crucial role not only in expressing personal piety, but also in solving the problem of “unprotected” women (unmarried and widows, especially

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Vienna 1860, pp. 15–16; JIREČEK, Konstantin, Die Romanen in den Städten Dalmatiens während des Mittelalters, Vol. 1 (Denkschriften der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Classe, 48,3), Wien 1901, p. 46. According to a document from 1199, widow Bonda donated St Stephen to the monastery. NAPOLI, Spoglio, fol. 114; Codex diplomaticus regni Croatiae, Dalmatiae et Slavoniae, ed. by Ivan KUKULJEVIĆ SAKCINSKI, Zagreb 1875, p. 221; four forged documents have been preserved, dated to 1100–1115; LUČIĆ, Josip, Prošlost dubrovačke Astareje: Župe, Šumeta, Rijeke, Zatona, Gruža i okolice, Dubrovnik 1970, p. 39; CD, Vol. I, doc. 278, p. 294. Map no. 15. CD, Vol. II, doc. 17, p. 20. BELAMARIĆ, Sveti Vlaho, p. 710. CERVA, Sacra, Vol. I, pp. 17–18, 34. BELAMARIĆ, Sveti Vlaho, p. 717. In 1023, the term nobiles was first recorded on Dubrovnik, but this is not a reliable fact as the document has not been preserved in the original; cf. JANEKOVIĆ RÖMER, The Frame, p. 80. CERVA, Sacra, Vol. I, p. 90. Map no. 16. OSTOJIĆ, Benediktinci, p. 179. Its neighbour to the south was the Benedictine monastery of St Andrew de Castello, see map no. 11. East of St Mary’s, there was a small Benedictine monastery of St Peter Minor; MHR, Vol. IV, doc. 281a, p. 83, doc. 53, p. 31. It was demolished in 1667; cf. OSTOJIĆ, Benediktinci, p. 178. In 1296, the abbot of St Thomas’ raised charges against Šimun de Chalicha because of some reconstructions; MHR, Vol. III, doc. 675, p. 247.

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noblewomen).66 From the late 13th century onwards, this role was also taken over by the Poor Clares67 and later by the Dominican nunneries.68 Also, in the period between the 12th and 14th centuries, other forms of religious communities developed – recluses (bizzoche) or tertiaries, often affiliated with one of the mendicant orders.69 Many Ragusan recluses were women of a higher social status, as there were not enough nunneries to meet the social or spiritual demands of the elite.70 Monasteries were financially supported by bishops and abbots, but also by Ragusan laymen.71 Until the early 13th century, there was a trend to donate estates to the ecclesiastical institutions.72 Thus, Bona, wife of Petar, son of magister Micha, left her inheritance (a house and a vineyard) to the monastery of St Mary de Castello (1204).73 Even though the monastery of Lokrum had most of its immovables outside 66 The nobility characteristically observed an outspokenly endogamous policy, which played a crucial role in marriage strategies. Taking into account the generally small number of inhabitants, an extremely large dowry prescribed by the law, and the probable clan allegiance, there were relatively few girls (among the nobility) who could “satisfy” all the conditions at a particular point in time and many remained unwed. Monasteries in the old part of the city were a kind of female shelters where single (noble) women could participate in devotions and socialize with each other. Noblewomen were to be controlled within marriage and the family, or – if unmarried – in the monastery; cf. MOSHER STUARD, Susan, Dowry Increase and Increments in Wealth in Medieval Ragusa (Dubrovnik), in: The Journal of Economic History 41 (1981), pp. 795–811; JANEKOVIĆ RÖMER, Zdenka, Noble Women in Fifteenth-Century Ragusa, in: Women and Power in East Central Europe – Medieval and Modern, ed. by Marianne SÁGHY, Los Angeles 1996, pp. 141–170, here pp. 154–155, 165–167. 67 Map no. 21. As from the late 13th century, there were plans to found a monastery of the Poor Clares next to the Pile Gate, but the construction would last for decades. In the 18th century, Serafino Cerva mentions the monastery of the Poor Clares; cf. CERVA, Sacra, Vol. I, p. 62. One enlargement is mentioned in 1312: “in hedificatione palacii pulcellarum et reparacione duorum furnorum et unius domus de lignamine dicti monasterii”; MATTEI, Zibaldone, Vol. III, p. 561. 68 JANEKOVIĆ RÖMER, Noble Women, pp. 165–167. 69 Map no. 7. In the block west of St Thomas, there was St Theodore, with recluses living next to it. CERVA, Serafin Maria, Bibliotheca Ragusina: in qua Ragusini scriptores eorumque gesta et scripta recensentur [hereafter: Scriptores], Vol. II, ed. by Stephan KRASIĆ, Zagreb 1977, p. 235: “De pizochis et aliis religiosis”. In the 16th century, a hospice for women was established next to this church; MATTEI, Zibaldone, Vol. II, pp. 94–95. In the late 13th century, an estate of the Crossio family was located north of this church; MHR, Vol. III, doc. 789, p. 272; MHR, Vol. IV, doc. 1299, p. 281, doc. 1337, p. 301. 70 One of the first houses for the recluses within the city was the one of St Martin near the Benedictine monastery of St Andrew, and near the church of St Theodore. MHR, Vol. I, p. 68; MATTEI, Zibaldone, Vol. II, pp. 94–95. More in: BENYOVSKY LATIN, Irena, Female Piety and Gendered Spaces in Renaissance Dubrovnik. Women’s Hospitals in the City, in: Integration and Segregation in the History of Hospitals [in press]. 71 Thus, the extra-urban Benedictine monastery of St Andrew de Pelago was founded by the Cereva family. LISIČAR, V., Tri dubrovačka otočića: Daksa, sv. Andrija i Ruda, Dubrovnik 1935, p. 84; MANKHEN, Dubrovački, p. 459. 72 Even though a statutary decree forbade assigning real estate to ecclesiastical institutions only from the 14th century onwards, the practice can be observed from the late 13th century, same as in other Dalmatian towns. 73 CD, Vol. III, doc. 39, p. 42; MATTEI, Zibaldone, Vol. III, p. 9; OSTOJIĆ, Benediktinci, p. 175. Late 13th century notarial documents mention the immovables of St Mary in Castello; MHR,

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the city, it had several houses in the districts of Pustijerna.74 According to a document from the monastic archive, its house sita à Castello was obtained in 1209 from Kesa, daughter of Guglielmo.75 Another extra-urban Benedictine monastery – that of St John in Višnjica (near Dubrovnik) – had houses in Pustijerna (its founder was Ivan, son of Miha de Gondula). In 1222, he appointed his descendants as the defensores of the monastery to which he and his wife Dobroslava (née Manana) left a house with a mill in Pustijerna.76 This was confirmed in 1234, when they also donated the house of Dobroslava’s father, located super viam quae descendit ad magnum mercatum (possibly next to the house of Mihovil Mauressia, Dobroslava’s brother, near the cathedral).77 In accordance with the notarial documents of the late 13th century, Benedictine monasteries owned not only immovables within the old city walls,78 but also estates in the burgus of Dubrovnik.79 In the second half of the 13th century, many of their estates were sold or given in lease, especially in the suburbia.80 They were often transferred to members of the lay elite.81 The 13th century saw a steep demographic

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Vol. I, doc. 83, p. 23. In 1274, a dispute arose between Fusko de Binzola and St Mary in Castello concerning a street/square (Fusko, son of Jakov Binzola) had a casale south of the church of All Saints; MATTEI, Zibaldone,Vol. III, p. 7. In 1279, the same Fusko Binzola bought a house from Ilija de Arbisino, which bordered on the reclusarium of St Martin to the north and a house owned by the Benedictine nuns of St Andrew’s to the south; MHR, Vol. I, doc. 68, p. 19. Members of the Sorgo family rented the estate belonging to St Mary in Castello for a prolonged period of time; MHR, Vol. IV, doc. 532, p. 140, doc. 86, pp. 38–39; MATTEI, Zibaldone, Vol. II, p. 250; MHR, Vol. II, doc. 812, p. 186. According to some 13th century documents, two houses owned by the abbot of the Lokrum monastery were located in the area of present-day Držićeva Poljana; MHR, Vol. II, doc. 1142, p. 282; ibid., doc. 1278, p. 322; ibid., doc. 1279, p. 323. For the 15th century, see: GRUJIĆ, Nada/ZELIĆ, Danko, The Palace of Duke Sandalj Hranić in Dubrovnik, in: Dubrovnik Annals 15 (2011), pp. 7–66; cf. GRUJIĆ, Kuća, p. 81. NAPOLI, Spoglio, fol. 115. After his wife Snega’s death, Georgius Giminianus donated the house to the monastery (1218), but the location is uncertain; CD, Vol. III, doc. 140, p. 166. CD, Vol. III, doc. 190, p. 216. The house that belonged to the monastery of St John was located at the southern wall of Pustijerna; cf. GRUJIĆ, Kuća, p. 71. CD, Vol. V, doc. 636, p. 127, doc. 637, p. 128. A house owned by St Peter Major is mentioned east of the house bought in 1280 by Vito Proculo; MHR, Vol. I, doc. 192, p. 52. In the 13th century, the monastery of St Andrew de Pelago owned a domus monasterii in the city’s district of Pustijerna; cf. GRUJIĆ, Kuća, p. 72. In the early 13th century, St Simon had a large estate in the central burgus, which is documented in a dispute between the monastery and the newcomer Vukas Ivanić (from the Volcassio lineage); cf. BENYOVSKY LATIN, Irena/LEDIĆ, Stipe, The Estate of the Volcassio Family in Medieval Dubrovnik, in: Dubrovnik Annals 18 (2014), pp. 7–45. In the period from 11–13th centuries, the extra-urban territory gradually transformed into suburbs and were then, at the turn of the 14th century, incorporated into the medieval city; cf. BENYOVSKY LATIN, Irena, Dubrovnik’s Burgus of St Blasius in the 13th Century, in: Towns and Cities of the Croatian Middle Ages. Authority and Property, ed. by Irena BENYOVSKY LATIN and Zrinka PEŠORDA VARDIĆ, Zagreb 2014, pp. 295–326, here p. 310. For instance, in 1273, Vukas Ivanić bought an estate “outside the walls of the old city”; MHR, Vol. I, doc. 1119, p. 335. Sons of Vukas Ivanić, Pasko and Damijan Volcassio, bought a number of land plots from the monastery of St Simon; BENYOVSKY LATIN/LEDIĆ, Estate, passim. In

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increase and created the need for new housing space.82 It is possible that some properties in the old town were given in “permanent” or long-term lease after being demolished in the fire of 1296 for the purpose of their maintenance and for income.83 According to the narrative sources, the Mendicants came to Dubrovnik early in the 13th century, but their first monastery was not built until the 14th century84 and their first communities were located outside the city.85 Chronicler Mattei mentions that the Dominicans had allegedly obtained the right to use the church of St Jacob86 in 1225, and obtained a house with a garden in 1228 from the Palmota family, patrons of St Jacob.87 However, the family name of Palmota does not appear until the mid-13th century.88 Also, the Dominicans built a monastery in the vicinity only in 1306. Following the narrative sources, the small church of St Luke89 is also linked to the Dominicans. Its patrons, mentioned in 1245, were allegedly from the de Vulpetto family. According to chronicler Cerva, the church became the Dominicans property, but a dispute arose with Ivan and Vital, sons of the founder, Stjepan Vulpetto.90

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1295, the monastery of St Bartholomew sold its estates in burgus and some of them were bought in 1295 by Tripo Georgio, son of a wealthy newcomer; MHR, Vol. IV, doc. 1301, p. 283. Chroniclers mention that a multitude of wealthy newcomers arrived in the city in 1277 from the hinterland, and that the “gardens” in the suburbia were now transformed into building plots for houses; Cronica Ragusina Junii Restii (ab origine urbis usque ad annum 1451), Scriptores, Vol. II, pp. 101–102; CERVA, Sacra, Vol. I, p. 261. We know that St Simon had a house in the Pustijerna district in the 13th century – it was sold to Sergius Chamas in order to gain money to rebuild the monastery after the fire of 1296; MHR, Vol. III, doc. 784, pp. 270–271. In 1300, the monastery of St Simon gave a casale in Castello in permanent lease to Marko (who had to do all the woodwork and stonework on the house at his own expense); MHR, Vol. IV. doc. 152, pp. 52–53. Nikola the stonemason, son of Dominik, rented in 1301 the casale from the monastery of St Peter Major for a period of five generations; MHR, Vol. IV, doc. 428, pp. 115–116; see also: MHR, Vol. II, doc. 1049, p. 256; MHR, Vol. IV, doc. 86, pp. 38–39. In 1299 Paulus, the abbot of Lokrum, gave a house complex, possibly in Castello, in permanent lease; ibid., doc. 113, pp. 44, 281–282. In the 14th century, the monastery of Lokrum also had a house next to St Fosca; SAD, Venditiones, fol. 54v. CERVA, Sacra, Vol. I, p. 157; BADURINA, Anđelko, Uloga franjevačkih samostana u urbanizaciji dubrovačkog područja, Zagreb 1990, p. 49. Annales, p. 220. Map no. 25. MATTEI, Zibaldone, Vol. III, p. 554 (Alcune Memorie della congregatione de frari predicatori di s. Domenico di Ragusa); the family name came from that of Palma from the Balislava lineage – who allegedly came to the city in the 12th century. VOJNOVIĆ, Kosta, Crkva i država u Dubrovačkoj republici, Rad JAZU no. 119 (1894), pp. 25–26. VEKARIĆ, Nenad, Vlastela grada Dubrovnika, Vol. 2: Vlasteoski rodovi (A-L), Zagreb/Dubrovnik 2012, pp. 73, 77. Map no. 23. CERVA, Sacra, Vol. I, pp. 191, 203–204.

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The practice of bequeathing real estate to ecclesiastical institutions diminished by the end of the 13th century.91 Those who wanted to endow their property to ecclesiastical institutions could establish a perpetual trust based on rent-producing real holdings (the task of collecting and distributing the trust was assigned to the treasurers of St Mary). The real estate destined by the citizens of Dubrovnik ad pias causas, namely to be donated to church institutions, first had to be sold.92 The institution of Treasurers evolved in order to ensure the proper execution of last wills.93 Immovables could also be given in permanent lease in order to gain income from the rent.94 For instance, in 1272, Filip Picinego decreed in his will that the money from the sale of his estate ad et extra portam Paludi should be given to the treasurers of St Mary’s95 (and a part to the monastery of Lokrum).96 Lay patronage over churches and monasteries had an important meaning for the urban elite’s memory and was one of the first cohesive elements that distinguished the elite.97 Some families were patrons of several churches owing to their mutual ties and inheritance.98 In the 12th century, the church of All Saints was under the

91 Documents on the disputes over some houses donated by the members of the elite to those of the Chapter have been preserved. Thus, a dispute documented from 1255 between Count Mario Baduari and the city nobility on the one hand against Archbishop Jacob, the clergy, and the canons of St Mary on the other, concerned a house; CD, Supplementa, Vol. I, doc. 84, p. 122. 92 CD, Vol. VI, doc. 384, pp. 459–460. 93 LONZA, Nella, Za spas duša, na dobrobit države: dubrovački rizničari i vremenita dobra za vječnu nabožnu svrhu (13–15. stoljeće), in: Knjiga rizničarskih najmova/Liber affictuum thesaurarie (1428–1547) [hereafter: Knjiga rizničarskih], ed. by Danko ZELIĆ, Zagreb/Dubrovnik 2012, pp. 9–24, here p. 17; Codex diplomaticus, Supplementa, Vol. I, doc. 231, pp. 291–292; Knjiga rizničarskih, pp. 70–71. 94 Knjiga rizničarskih, pp. 43–69; MHR, Vol. I, doc. 672, p. 210; MHR, Vol. II, doc. 1129, p. 277–278; MHR, Vol. IV, doc. 1280, p. 267, doc. 1296, p. 278–280; MATTEI, Zibaldone, Vol. III, pp. 429–430. The construction and financing of the cathedral were also controlled by the commune: the institution of operaria was managed by secular procurators on behalf of the commune; ZELIĆ, Arhitektura, p. 46. 95 MATTEI, Zibaldone, Vol. III, pp. 429–430. 96 NAPOLI, Spoglio, fol. 115. Also, in 1295, Desica, daughter of Roman de Pisino, gave a house in permanent lease to the monastery of Lokrum (bordering on the monastery’s furnace), in which priest Mihovil de Paualio was to live (probably in the district of Castello); MHR, Vol. IV, doc. 1269, p. 26; MHR, Vol. II, doc. 1049, p. 256. Furnum lacromone is also mentioned south of the complex that belonged to the monastery of St Peter Major; MHR, Vol. IV, doc. 281, p. 82. 97 JANEKOVIĆ RÖMER, The Frame, p. 492. The 12th century was a period of changes in the canon law, which aimed at limiting the impact of laity on spiritual endowments and the election of priests. LANDAU, Peter, Jus Patronatus. Studien zur Entwicklung des Patronats im Dekretalenrecht und der Kanonistik des 12. und 13. Jahrhunderts (Forschungen zur kirchlichen Rechtsgeschichte und zum Kirchenrecht, 12), Köln 1975, pp. 195–198; cf. WOOD, Susan, The Proprietary Church in the Medieval West, Oxford 2006. 98 Thus, the members of the Picinego family were hereditarii s. Salvatoris de Palude, the Stilo were patrons of the Holy Saviour and All Saints, and illorum de Nicholica of the Holy Saviour and St Peter Major; MANKHEN, Dubrovački, pp. 204, 288, 304.

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patronage right of several elite families – mostly newcomers.99 For newcomers, patronage over churches was an important element of their social status, besides capital. In 1186, the patrons’ heirs (deacon Matej Pisino, Grubeša Stilo and his brother, vicar Mihoč Stilo, Rado, son of Teodor, Lampredij, son of Matej, and Marin, son of Gervazije) handed over the church inventory to deacon Matej Pisino, member of the family.100 The right of managing the benefice included the right to manage the real estate by means of lease and sale. In 1193, sons of Stjepan Predana and the count of Dubrovnik elected Matej Lampredij, son of Lampredij Matej, as the abbot of All Saints. Even though they were the patron’s heirs, it was emphasized that he was not appointed according to the succession law, and should therefore obtain the archbishop’s confirmation.101 In the 13th century, families retained their estates near the church of their patronage.102 For instance, in the mid-13th century, the church of All Saints owned some land in the area of the western burgus.103 An estate of Bogdan de Pisino, patron of All Saints, was located in the vicinity, south of the church,104 while to the north there was an estate of the Scocilica family (the Stilo branch), who were likewise its patrons.

99 ŽILE, Rezultati, pp. 49–57; MATTEI, Zibaldone, Vol. II, p. 670; FARLATI, Illyrici sacri, Vol. VI, p. 108. In the 12th century, a new group of wealthy newcomers came to Dubrovnik. The chroniclers mention 1157 and 1172 as the years when several families arrived who would later become the prominent noble families of Dubrovnik, mostly from the hinterland (Matessa, Muto, Niculi, Pisino, Škarića Gleda, Balislava, Gerduso, Proculo, Bocinolo, Zamagno, Stilo, etc.); VEKARIĆ, Vlastela grada Dubrovnika, Vol. 1, pp. 25–26. 100 According to the chroniclers, the families of Stilo and Pisino moved to Dubrovnik in the 12th century, a consequence to the religious situation and unstable political circumstances in the hinterland. During the 12th century, Dubrovnik nominally acknowledged Byzantine sovereignty, but was increasingly entering Venice’s sphere of interest; FORETIĆ, Povijest, Vol. 1, pp. 28–31. There was also a constant threat from the hinterland. At the turn of the 12th century, Dubrovnik was in the focus of interest of Duklja’s rulers because of their ambitions to expand their territory and also because of the ecclesiastical hierarchy; LUPIS, Vinicije, Pregled povijesti Stonske biskupije od osnutka do 1541. godine, in: Tisuću godina uspostave dubrovačke (nad)biskupije, ed. by Želimir PULJIĆ and Nediljko A. ANČIĆ, Dubrovnik 2001, pp. 197–217, here p. 203. In 1185, Stephen Nemanja besieged the city and “broke through the defence“. After 1150, Desa Nemanjić came to power in Zeta and soon annexed Travunia and Zahumlje; cf. PRLENDER, Rimska kurija, p. 17. 101 It should be noted that one of the oldest confraternities of Dubrovnik, that of the Flagellants, was founded in the church of All Saints (Domino); VOJNOVIĆ, Kosta, Bratovštine i obrtne korporacije u Republici Dubrovačkoj od XIII do konca XVIII vijeka, Zagreb 1900, p. 4. 102 Members of the family were entitled to appoint ministers and govern the estates; JANEKOVIĆ RÖMER, The Frame, p. 492. 103 In the suburbium, a garden of the church is mentioned in 1255 north of the church of All Saints; cf. CD, Vol. IV, doc. 518, pp. 600–601. This area may have been incorporated within the new city walls as early as late 1260; BENYOVSKY LATIN, Irena, Murus versus montem. Construction of the Dubrovnik Fortifications around the Suburbs up to the End of the Thirteenth Century, in: Review of Croatian History 8 (2012), pp. 7–36. In the early 1280s, the garden and the estate were inherited by Andrija Pacasuco as an heir of the patrons by division; MHR, Vol. I, doc. 593, pp. 186–187. 104 Benyovsky Latin/Ledić, Estate, p. 43.

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The church of the Holy Saviour,105 located in the eastern burgus,106 was also under the patronage of laymen in the 13th century: members of the most distinguished families in the late 12th and early 13th centuries.107 Some of these families had their estates in the vicinity of the church of their patronage as well.108 Thus, in 1283, Antonije de Galiopa, priest and patron of the Holy Saviour de paludo, gave a plot of land with a house and a shop in lease until the third generation to Vital de Gayislavo from the Crossio lineage (another patron of the church).109 The patronage also had territorial meaning.110 A document from 1281 preserves a carta from 1206, which lists the hereditarii of the church of St Peter Major.111 Members of the urban elite were also patrons of chapels built on their estates, which played an important role in social and political life. Thus, brothers Pasko and Damijan Volcassio, wealthy merchants, founded two chapels – Pasko a chapel dedicated to the Holy Trinity112 and Damijan a chapel dedicated to the Annunciation.113 In the pre-communal period, the archbishop played an important role in the life of the city, along with the secular urban elite.114 As stated earlier, the exact location of the earliest episcopal church is not known, and neither is that of the episcopal

105 Map no. 27. 106 Beritić located the church of the Holy Saviour de palude somewhere “in front of the Palace”; BERITIĆ, Ubikacija, p. 61. 107 Rusin Teodorov Crossio was among its founders (next to the members of the Galiopa, Stilo, Gleda, Mauressia, de Suseno, Cimidoto, and Ragnana families, as well as the Nicholiça, Slabe, and Stepacije families as hereditarii (ex parte); VEKARIĆ, Nenad, Vlastela grada Dubrovnika, Vol. 3: Vlasteoski rodovi (M-Z), Zagreb/Dubrovnik 2012, p. 216; MANKHEN, Dubrovački, p. 204. 108 Crossio (a branch, Rosso, Dabranica, Spavaldo), Gleda, Galiopa. 109 MHR, Vol. II, doc. 1257, p. 315. 110 JANEKOVIĆ RÖMER, The Frame, p. 491. 111 The hereditarii of St Peter Major were the abbot of the church, priest Matej Ballislaua, Miho Vulpis, Valius de Doimo, Vital Barraba, Velcius Stephani and his grandson Marino, Lampredij Yuacie, Lukar, son of the late Count Nikola, Parveša Pesane, and Vital Navmeri. Some of these families also had estates in the vicinity of the church of St Peter Major; CD, Supplementa, Vol. I, doc. 23, p. 5; ČREMOŠNIK, Gregor, Nekoliko dubrovačkih listina iz 12. i 13 stoljeća, in: Glasnik Zemaljskog muzeja u Bosni i Hercegovini 43/2 (1931), pp. 25–54, here pp. 38–39. Later on, in the 14th century (1363), the priestly confraternity of St Peter in Cathedra was founded at the church of St Peter Major. According to its Matricula, during the 14th and 15th centuries its members were ecclesiastical dignitaries (archbishops, canons, abbots, and nuns), as well as secular ones (councillors, members of the families of ecclesiastical dignitaries (as well as their “friends” and concubines); MATTEI, Zibaldone, Vol. II, pp. 629–630 (Ex Matricula confr. Sacredotum s. Petri 1391). See also Dubrovnik State Archive, Chiese e monasteri, Vol. 14, fol. 15–17v. 112 In 1282, he gave it to the treasurers of St Mary’s to manage; Knjiga rizničarskih, p. CCVIII; BERITIĆ, Ubikacija, p. 76; MHR, Vol. I, doc. 672, p. 210. 113 In 1296, he left it to the friars to manage (through the treasurers); MHR, Vol. IV, doc. 1296, pp. 278–280. 114 JANEKOVIĆ RÖMER, The Frame, p. 306.

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palace. According to the unreliable narrative sources, the church of St Vitus de Arcula was demolished in the 11th century115 and the new archiepiscopal palace was built in 1039.116 The choice of the locality was allegedly a result of an agreement between Archbishop Vital and his brother, prior Lampredij. Chronicler Cerva stated that the exact location of the palace was unknown to him, but that it was cum sacra of St Mary Major.117 In the first half of the 12th century,118 the construction of the Romanesque cathedral of St Mary Major began, at a considerably higher level than that of the older church. According to some researchers, the construction started after 1132, the year in which Archbishop Gerard was buried in the old church (as attested by a grave with an epitaph) and before 1158, when Andrea from Lucca was buried in the new Romanesque cathedral. Apparently, the new cathedral was built immediately next

115 According to the chronicler Cerva, this was a result of the fire of 1023 and the Saracen incursions of 1032–1033; CERVA, Sacra, Vol. I, pp. 29–30. 116 It is not quite clear where the church of St Vitus was located (next to which the new palace was allegedly built) or how many churches were dedicated to that saint in Dubrovnik; cf. GYUG, Richard, The Church of Dubrovnik and the Pannicullus of Christ. Relicts between East and West (and Men and Women) in Medieval Dalmatia, in: Medieval Cultures in Contact, ed. by Richard GYUG, New York 2003, pp. 59–84, here p. 68. Some scholars are of the opinion that Vital’s new palace was located in Pustijerna, near the new cathedral; cf. PEKOVIĆ, Nastanak i razvoj, Tisuću godina, p. 525. Belamarić has argued that building a palace linked to the cathedral may be an indicator of the simultaneous construction of the cathedral and the bishopric; cf. BELAMARIĆ, Sveti Vlaho, p. 706, no. 8. SKURLA, Stjepan., Moćnik stolne crkve u Dubrovniku, Dubrovnik 1868, p. 123; MATTEI, Zibaldone, Vol. II, pp. 541–542; cf. CERVA, Sacra, Vol. I, pp. 31–32; Annales, pp. 197–198; Resti, p. 21; SKURLA, Moćnik, p. 123; BERITIĆ, Ubikacija, p. 81. 117 Cerva notes that the cathedral was not built at the time and that Vital’s palace may have been in use until the Great Earthquake (17th c.). When the cathedral was built, the Archbishop resided in a house “next to its threshold”; cf. CERVA, Sacra, Vol. I, pp. 31–32. Elsewhere he mentions that the construction of a new palace started in 1333 as the old one had “burnt down 37 years before” (referring to the fire of 1296) and that stone from the old palace was used in construction; ibid., pp. 287–288. The chronicler Mattei also mentions that the old palace was demolished in the fire of 1296 and that in 1333, the archiepiscopal palace was built prope fronte et ad latus australe cathedralis ecclesiae S. Mariae Maoris ad palude; MATTEI, Zibaldone, Vol. III, p. 9; SKURLA, Moćnik, p. 143. Beritić has used this information as reliable; cf. BERITIĆ, Ubikacija, pp. 80–81. In 1342, Archbishop Ilija Saraca ordered galleries for the new Archiepiscopal Palace; FISKOVIĆ, Cvito, Prvi poznati dubrovački graditelji, Dubrovnik 1955, p. 78. 118 At the turn of the 12th century, Dubrovnik’s metropolitan see was insecure as a result of the circumstances: papal reforms and the relationship between the archbishops. Vital I was followed by Tribun (1057–1066), of whom little is known. In 1120, Pope Calisto acknowledged the jurisdiction of Dubrovnik’s metropolitan see over the area of the former Adriatic Sclavinias. The same, however, cannot be said of his successor, Vital II (1066–1073). Even though a synod took place in Dubrovnik in 1072, Vital II was not present, and he was also accused of living with a concubine and according to the Eastern rite, which brought him into conflict with the prior; CERVA, Sacra, Vol. I, pp. 54–57. According to the chronicles, the new archbishop, Petar Antibarensis (1074–1101), was amenable to both the secular authorities and the neighbouring states (as a former archbishop of Bar); ibid., p. 8; PRLENDER, Rimska kurija, pp. 5, 8; PRLENDER, Ivica, Totius gentis metropolim, in: Historijski zbornik 51 (1998), pp. 1–16.

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to the older basilica, which continued to function until the first decades of the 12th century.119 What is certain is that the Archiepiscopal Palace (archiepiscopatum) was a representative building in the 12th and the early 13th century: administrative and political affairs were conducted there.120 As late as the Statute of 1272, the time of the count’s investiture, the Archiepiscopal Palace was a meeting place of the city’s administration. Grujić has argued that there was no suitable alternative within Castello at the time, and according to the preserved documents, the district was transformed into a central economic and political seat in the early 1280s.121 During the 13th century, the development of the communal system and the limitation of the Archbishop’s jurisdiction were two parallel processes.122 The Archiepiscopal Palace is mentioned in the notarial records until the early 1280s. There is a preserved document, which speaks of a meeting between the Archbishop and the canons in palacio archiepiscopali in 1282,123 on which occasion he decided to sell the domum ipsius archiepiscopatus located near the houses of Pasko Volcassio, west of the Cathedral, to the said nobleman.124 The document also states the reasons for this transaction: pro maiori et euidenti utilitate dicti archiepiscopatus, videlicet pro reficienda et aptanda domo dicti archiepiscopatus, que est in capite sale dicti archiepiscopatus ex parte orientis.125 In 1283, it is remarked that the Chapter met in archiepiscopali palacio and gave domum nostram 119 STOŠIĆ, Prikaz, p. 30–32; ZELIĆ, Arhitektura, p. 44. According to Cerva, an archbishop was buried in the new cathedral before Andrea of Lucca. It was Salvius Romanus, and Cerva also quotes the inscription from his tombstone. However, other chroniclers do not even mention this archbishop; cf. CERVA, Sacra, Vol. I, pp. 88–89. 120 In 1149, the abbot of Lokrum obtained in the palace the privilege of mitra from the Roman Curia and thus became the first prelate in Dubrovnik. Contracts with the Venetians mention it as a potential residence for the Doge. It was also the site of signing various trade contracts with Italian cities and the peace treaty with the Nemanjids; cf. OSTOJIĆ, Benediktinci, p. 121; BERITIĆ, Ubikacija, pp. 80–81. As late as 1259, a document was written down in archiepiscopali palatio; CD, Vol. V, doc. 637, p. 127. 121 GRUJIĆ, Nada, Knežev dvor u Dubrovniku prije 1435, in: Prilozi za povijest umjetnosti u Dalmaciji 40 (2003/04), pp. 149–170, here p. 153. It was only in the 14th century that Dubrovnik’s castellum was referred to as a “communal palace” – palatium or pallazzo magior; Monumenta Ragusina, Vol. V, p. 239; FISKOVIĆ, Kuzma, p. 269. 122 JANEKOVIĆ RÖMER, The Frame, p. 306. The 13th century marked the beginning of the Venetian rule in Dubrovnik (1205–1358). At that time, Leonardus Venetus was the Archbishop of Dubrovnik (from 1202), and from 1217 it was Arengerius Romanus. 123 Residential buildings of value – be it for their size, price, or the social status of their owner – were referred to by the generic term of palacium. In the Dalmatian towns and cities of the 13th century, only the episcopal or communal palace was usually called by this name. It is very rarely that private houses bear this name, e.g. in Zadar or Dubrovnik; CD, Vol. VI, doc. 170, p. 157; ibid., doc. 351, p. 295; MHR, Vol. III, doc. 114, p. 46. 124 Domum archiepiscopatus bordered on the domus operis and the territorio operis of the church of St Mary the Great. 125 MHR, Vol. II, doc. 877, p. 202. The main portal of the cathedral was part of its western facade, another faced the Pred Dvorom Square and Placa to the north, and the southern one, facing the Archiepiscopal Palace, led to the sanctuary; cf. ZELIĆ, Arhitektura, p. 45.

Notes on the Urban Elite, Churches, and Ecclesiastical Immovables

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Sanctisie in lease to Marko Capuyn the Venetian.126 The notarial documents also mention the furnus archiepiscopatus Ragusii:127 ad Sanctum Stephanum in 1279,128 and ad Laue de campo in 1283.129 The Archbishop also owned some land in the western burgus (in the territory of Pile) – at the time of the Statute of 1272, this was the location of viridarium archiepiscopatus. It was incorporated within the walls only at that time, and with the regulation of streets in 1296 its function changed to a residential one.130 The fire that devastated the suburbs in 1296, destroyed a large part of the burgus as well as the archiepiscopal land (later known as Garište)131, at the same time making it possible to plan the city in a modern way.132 New streets were to be traced according to the new statute regulation.133 Consistent with the regulation, ten communal houses were to be built in the northern part of the “archiepiscopal territory”, overlooking the main street, whereas four new streets ought to be created between them, extending from north to south, in the direction of the street leading to the church of All Saints.134 The land intended for housing in the “archiepiscopal territory” was divided into plots. It is only after these modifications in the notarial records that one comes across plots given in lease for residential purposes in the archiepiscopal land. For instance, in 1300, Nikola, a stonemason from Šibenik, bought a house in the archiepiscopal territory from the priest Matija Ragnina.135 Some notarial documents

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MHR, Vol. II, doc. 1241, p. 311. Furnus denoted an oven or hearth, as well as a house (similar to domus). MHR, Vol. I, doc. 104, p. 27. Ibid.; MHR, Vol. II, doc. 454, p. 104. Laue de campo refers to the cliffs facing the land, and Lape maris to those facing the sea; cf. JIREČEK, Die Romanen, Vol. 1, pp. 60, 90. In 1296, the furnum archiepiscopatus Ragusii was located east of the house bordering on illorum de Drincas to the north, with the house presbiterorum sancti Andree to the west, and with lape maris to the south (all in Pustijerna); MHR, Vol. III, doc. 768, p. 264. According to Ranina, it was only in 1296 that the suburbium from the church of All Saints to the western city wall (borgo dello archiepiscopato) was joined to the city. Meaning a site of fire or scorched land. PLANIĆ-LONČARIĆ, Planirana, pp. 12–14. Statut grada Dubrovnika, L. VIII, c. 57. However, things did not always go in accordance with the plan. In 1318, a legal dispute took place between Šimun Benessa and other persons whose cottages were situated on the land through which the (future) public roads were to run – more exactly, two of the four roads were to be built between the house of Tripo Georgio and the archiepiscopal territory. The verdict was that those cottages that stood in the way were to be demolished; SAD, Diversa notariae, 1318, Vol. III, fol. 3. Several noblemen had wooden houses there (Ghetaldo, Tupsa, Ranina, Crosio), but most wooden cottages were rented by commoners, craftsmen, and servants (who had the right of property over them); MHR, Vol. IV, doc. 271, p. 80, doc. 400, p. 110, doc. 1406, p. 338; MHR, Vol. I, doc. 128, p. 239; MHR, Vol. IV, doc. 558, p. 145, doc. 382, p. 106, doc. 557, p. 145, doc. 89, 90, p. 39, doc. 97, p. 41, doc. 100, pp. 41–42, doc. 50, p. 30, doc. 217, p. 69, doc. 306, p. 88, doc. 217, p. 69, doc. 316, p. 90, doc. 347, p. 98, doc. 436, p. 117. MHR, Vol. IV, doc. 332, p. 94.

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refer to this area after 1296 as territorium archiepiscopatus, territorium domini archiepiscopi, and occasionally as territorium que fuit domini archiepiscopi.136 A document from 1300 mentions a wooden house on the land plot in territorio comunis et archiepiscopatus.137 The canons lived in the old part of the city, near the Archiepiscopal Palace.138 Referring to the transcript of a document from 1230, Teodor Crosio and his wife Miraslava donated a house in Castello to deacon Juraj de Bacco.139 In 1266, the Chapter acquired a house in the area of Castello, assigned by Dabrena, widow of Radoš de Talinega, in her last will from 1266.140 In the area supra Lavem, a house is mentioned that Biloje de Crieva left to the Chapter in the first half of the 13th century141, and in 1255, there was a house in the neighbourhood where canon Teofil lived, donated to the Chapter by Filarija, daughter of the late Lampredij.142 In 1259, the Archbishop assigned this house for the use of the nuns of St Mary de Castello.143 (At that time, its locality was described as south of the cathedral,144 that is possibly next to the Archiepiscopal Palace).145 In the late 13th century, a domus canonicorum sancte Marie was located in 1295 in contrata s. Stephani146 and in contrata sancti Theodori (both in Pustijerna).147 Some houses owned by the Chapter were used by the canons to live there, others were given in lease according to the current needs.148 Not much is known of the complex relationship between Dubrovnik’s elite and the city’s ecclesiastical institutions: the questions of who founded or renovated 136 Ibid., doc. 263, p. 79. In 1312, another annex is mentioned: “in hedificatione palacii pulcellarum et reparacione duorum furnorum et unius domus de lignamine dicti monasterii.” That same year, the monastery sold a vineyard and invested the money in hedificatione palacii pulcellarum et reparatione duorum furnorum et unius domus de lignamine dicti monasterii; MATTEI, Zibaldone, Vol. III, pp. 179, 561. 137 MHR, Vol. IV, doc. 146, p. 51. 138 Cerva mentions that “the canons used to live together with the bishop, as attested by old church documents”; CERVA, Prolegomena, p. 393. 139 MATTEI, Zibaldone, Vol. II, p. 243. 140 CD, Supplementa, Vol. I, doc. 222, pp. 283–284. 141 CD, Supplementa, Vol. II, doc. 84, p. 122. 142 CD, Vol. V, doc. 637, p. 128. 143 Apparently, there were canons’ houses nearby even in 1300 (near Juda’s house). A house belonging to the Chapter of Dubrovnik is mentioned that same year north of Juda’s estate (curia de Juda); MHR, Vol. IV, doc. 365, p. 103. Another house is mentioned in 1297 south of Juda; MHR, Vol. III, doc. 804, pp. 277–278. 144 In Palude iuxta ecclesiam maiorem sancte Marie versus montem and near the houses of Mihovil and his brother or cousin Nikola Mauressa; CD, Vol. V, doc. 636, 637, pp. 127–128; see also: MHR, Vol. IV, doc. 365, p. 103; MHR, Vol. III, doc. 804, pp. 277–278. 145 The late antique wall separating the cathedral land from Pustijerna had long lost its function (the church of St Bartholomew was built in place of a tower as early as the 10th century). 146 MHR, Vol. III, doc. 763, p. 262; MHR, Vol. I, doc. 356, p. 97. 147 MHR, Vol. I, doc. 478, p. 142; MHR, Vol. III, doc. 796, p. 274; MHR, Vol. IV, doc. 1277, p. 265. 148 Thus, in 1280, the Chapter gave a house in lease to cobbler Ilija de Arbisina, who obliged himself to pay a small annual sum to the Chapter pro affictu; MHR, Vol. I, doc. 358, p. 98; cf. also ibid., doc. 357, p. 98.

Notes on the Urban Elite, Churches, and Ecclesiastical Immovables

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churches in the earliest period, who promoted the monastic movement, and many more, remain open. This paper is a note to the complex topic of the relationship between the urban elite and Dubrovnik’s ecclesiastical institutions, viewed from the aspect of their real estate in the early medieval period. Ecclesiastical institutions in the early Middle Ages could serve as the repository of family property and identity. The ecclesiastical, political and social circumstances of that period resulted in major changes in the structure, appearance, and layout of the city, which was not only a specificity of medieval Dubrovnik. Ecclesiastical property was neither homogeneous nor unchangeable; instead, it varied with regard to the provenance and the time period, links to particular families, locality, (dis)continuity, importance, and purpose (pious purposes or income). Evolution of the commune in the 12th and 13th centuries implied a gradual disempowerment of the Archbishop and the clergy, as well as the emergence of new administrative bodies.149 (Übersetzung aus dem Kroatischen: Marina Schumann)

149 Cf. STEINDORFF, Ludwig, Die dalmatinischen Städte im 12. Jahrhundert. Studien zu ihrer politischen Stellung und gesellschaftlichen Entwicklung (Städteforschung, Reihe A, Darstellungen, 20), Köln/Weimar/Wien 1984.

35. 36. 37. 38.

29. 30. 31. 32. 33. 34.

6. 7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28.

2. 3. 4. 5.

1.

Byzantine basilica (later cathedral St Mary the Great) St Thomas St Cosmas and Damian St Stephen Transfiguration of Christ (Sigurata) All Saints (Domino) St Theodore St Mary de Castello St Peter Major St John St Andrew de Castello St Nicholas de platea St Blasius (the first church) St Vitus St Simon St Bartholomew (St Mark) St Peter the Minor St Martin St Michael (St Lucy) St Vitus (at Pile gate)? The Poor Clares (St Clare) St Francis St Luke St Dominic St Jacob at Peline Annunciation chapel Holy Saviour de palude Holy Trinity Chapel (St Michael the Archangel) St Blasius (the first church) Baptistry St Margaret Holy Cross (St Helen) St Barbara St Peter, Lawrence and Andrew St Jacob de puteis St Sergius and Bacchus St Nicholas monialium Holy Saviour (in Pustijerna)

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BYZANZ, ALTRUSSLAND UND DIE SOGENANNTE „FAMILIE DER KÖNIGE“ Günter Prinzing Das Schlagwort von der „Familie der Könige“1 (oder „Familie der Fürsten und Völker“2) geht auf zwei Artikel des Byzantinisten Franz Dölger3 zurück. Ihm zufolge war diese „Familie“ ein „Gedankenkomplex“, der uns beweise, dass im Mittelalter „nicht nur die Auffassung von einer Art mystischer Verwandtschaft aller regierenden Fürsten untereinander bestand, sondern daß dieser damals auch die Bedeutung einer politischen Institution zukam“, an die man „u.U. […] staatsrechtliche Folgerungen geknüpft“ habe.4 Er betonte, „daß die offizielle Benennung des Verwandtschaftsgrades zum byzantinischen Kaiser“ keine reine „Metapher, sondern ein ernst zu nehmender Titel ist, der […] nicht selten die Rolle eines anspruchsvollen Rechtstitels angenommen hat.“ Dölger wollte daher „für Byzanz, welches in der Durchbildung und Verbreitung der Institution die führende Rolle spielt“, herausfinden, „aus welchen Gedankenkreisen diese merkwürdige Einrichtung einer vielgliedrigen künstlichen Königsfamilie“ sich herleite. Hierbei sei man mangels „theoretischer Ausführungen über den Bestand der Familie der Könige“ fast gänzlich „auf den protokollarischen Gebrauch der Verwandtschaftsbezeichnungen in den Briefen der Fürsten angewiesen“.5 Doch gebe es die Adressenliste für die Korrespondenz im Zeremonienbuch Kaiser Konstantins VII. (Mitte des 10. Jahrhunderts): Ihr könne man die „Auffassung der Byzantiner von dem ranglichen Verhältnis“ auswärtiger 1

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DÖLGER, Franz, Die „Familie der Könige“ im Mittelalter, in: Historisches Jahrbuch 60 (1940), S. 397–420 [ND: DERS., Byzanz und die europäische Staatenwelt. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, 2. Aufl., Darmstadt 1964 (mit Ergänzungen/Berichtigungen), S. 34–69]; vgl. auch TREITINGER, Otto, Vom oströmischen Staats- und Reichsgedanken, in: DERS., Die oströmische Kaiser- und Reichsidee nach ihrer Gestaltung im höfischen Zeremoniell, 2. Aufl., Darmstadt 1956, S. 249–274, hier S. 270f.; DÖLGER, Franz, Brüderlichkeit der Fürsten, in: Reallexikon für Antike und Christentum, hrsg. von Theodor KLAUSER, Bd. 2, Stuttgart 1954, Sp. 641–646. DÖLGER, Franz, Die mittelalterliche „Familie der Fürsten und Völker“ und der Bulgarenherrscher, in: DERS., Byzanz und die europäische Staatenwelt. Ausgewählte Vorträge und Aufsätze, 2. Aufl., Darmstadt 1964, S. 159–182 [Erstpublikation 1943 auf Bulgarisch]. Vgl. zu ihm HOSE, Martin, Franz Dölger (1891–1968). Ein Leben für die byzantinische Diplomatik, in: Denker, Forscher und Entdecker. Eine Geschichte der Bayerischen Akademie der Wissenschaften in historischen Porträts, hrsg. von Dietmar WILLOWEIT, München 2009, S. 307–321; speziell zur Rolle Dölgers in der NS-Zeit: BRANDES, Wolfram, Die „Familie der Könige“ im Mittelalter. Ein Diskussionsbeitrag zur Kritik eines vermeintlichen Erkenntnismodells, in: Rechtsgeschichte 21 (2013), S. 262–284, hier S. 275–279. DÖLGER, Die „Familie der Könige“, S. 35. Ebd., S. 36f. (mit den Zitaten); diverse Quellenbelege dazu folgen auf S. 43–51.

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Fürsten zum Kaiser entnehmen, speziell über die ihnen zugewiesenen „künstlichen Verwandtschaftsbezeichnungen.“ Dölger ging somit von derselben Schlüsselquelle aus,6 die zuvor Georg Ostrogorsky für seinen wegweisenden Artikel über die Staatenhierarchie herangezogen hatte.7 Nach Dölger thront, gemäß der Liste, der Kaiser „an der Spitze der Oikumene […], der Vater der Fürsten- und Völkerfamilie.“ Diesem „verwandtschaftlich am nächsten“ stünden selbstständige „christliche Herrscher in der Nachbarschaft des Reiches, wie der Armenier-, der Alanen- und der Bulgarenherrscher.“ Als „geistliche Kinder“ bezeichnet, seien sie „dem Kaiser […] durch besondere Gehorsamspflicht verbunden.“ Hierauf kämen „die christlichen Herrscher der Deutschen und der Franzosen“, die „in einem […] nahen, doch weniger herzlichen Verhältnis zum Kaiser stehen“ und als „(geistliche) Brüder“ zur Familie zählten. Dann gebe es „einige Freunde“, mithin „solche selbständigen Fürsten und Völker, welche diesen Titel durch besondere Übereinkunft erhalten haben.“ Ihnen nachgeordnet seien christliche und nichtchristliche Fürsten ohne den Freundestitel oder einen Verwandtschaftsgrad, die nur „durch andere Besonderheiten der Anrede und des Protokolls gruppiert“ seien. Dies gelte auch für „Teilfürsten“, die aus Sicht der Kaiser Untertanen waren, „so die Teilfürsten von Armenien, Serbien, Unteritalien usw.“ Hierin sah Dölger „nicht etwa willkürliche Einfälle der […] Kaiserkanzlei, sondern den […] verwickelt abgestuften Aufbau einer Weltfamilie der Könige“, die auf den Kaiser als „Vater“ „mit der patria potestas“ ausgerichtet sei.8 6

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8

Ebd., S. 37 (mit den Zitaten), von wo an bis S. 42 die Auflistung der Status-Kategorien und Adressaten der Liste folgt. Zu ihrer Edition vgl. Constantini Porphyrogeniti imperatoris De cerimoniis aulae Byzantinae, Bd. 1, hrsg. von Johann Jacob REISKE, Bonn 1829, Kap. 48, S. 686–692; Übersetzung: Constantine Porphyrogennetos, The Book of Ceremonies (Byzantina Australiensia, 18), 2 Vol., übers. von Ann MOFFATT und Maxeme TALL, Canberra 2012, S. 686–692. Vgl. zu dieser Quelle FERLUGA, Jadran, Die Adressenliste für auswärtige Herrscher aus dem Zeremonienbuch Konstantin Porphyrogennetosʼ, in: Byzantium on the Balkans. Studies on the Byzantine Administration and the Southern Slavs from the VIIth to the XIIth Centuries, hrsg. von DEMS., Amsterdam 1976, S. 261–290; NERLICH, Daniel, Diplomatische Gesandtschaften zwischen Ost- und Westkaisern 756–1002 (Geist und Werk der Zeiten, 92), Zürich 1999, S. 69–73; DAGRON, Gilbert, Byzance et ses voisins. Études sur certains passages du Livre des cérémonies II, 15, 46–48; DERS.: Introduction, in: Travaux et Mémoires 13 (2000), S. 353–357, hier S. 356. Darauf folgen vier kommentierende Spezialarbeiten zu Teilen der Adressenliste: zu den Herrschern der Kaukasusregionen (von Bernadette MARTIN-HISARD, S. 359–530, bzw. Constantin ZUCKERMAN, S. 531–594, 647–672), zu den Fürsten der Südslawen (von Élisabeth MALAMUT, S. 595–615) und zu den Machthabern im christlichen Okzident (von Jean-Marie MARTIN, S. 617–646). Dazu auch KOMATINA, Predrag, The “king of Francia” in De ceremoniis II, 48, in: Byzantinische Zeitschrift 108 (2015), S. 157–168. Vgl. DÖLGER, Die „Familie der Könige“, S. 36, Anm. 2, und OSTROGORSKY, Georg, Die byzantinische Staatenhierarchie, in: Seminarium Kondakovianum 8 (1936), S. 41–61, bes. S. 49– 53; DERS., The Byzantine Emperor and the Hierarchical World Order, in: The Slavonic and East European Review 35 (1956), S. 1–14, hier S.11; auch serbisch in: OSTROGORSKY Georg, O verovanjima i schvatanjima Vizantinaca (Sabrana dela Georgija Ostrogorskog, 5), Belgrad 1970, S. 238–277; zum Autor vgl. MAKSIMOVIĆ, Ljubomir, George Ostrogorsky, St. Petersburg, 19 January 1902 – Belgrade, 24 October 1976, in: Authority in Byzantium (Centre for Hellenic Studies, Publications, 14), hrsg. von Pamela ARMSTRONG, Farnham/Surrey 2013, S. 327–335. DÖLGER, Die „Familie der Könige“, S. 42 (mit den Zitaten).

Byzanz, Altrussland und die sogenannte „Familie der Könige“

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Er war überzeugt, die Existenz der „Familie der Könige, in der sich die einzelnen Fürsten gegenseitig als Brüder betrachten, der […] Kaiser aber die Fiktion einer Vaterschaft gegenüber einer Reihe von benachbarten christlichen Fürsten aufrecht erhält und die übrigen in Brüder, Freunde und Untertanen gliedert“, bewiesen zu haben.9 Wie erwähnt hat Dölger mit weiteren Quellenbelegen sein Konstrukt untermauert. Wegen seiner Komplexität wurde das Konstrukt oft verkürzt wiedergegeben, so zum Beispiel 1993 von Marie Theres Fögen, die vom „Konzept“ einer „Hilfskonstruktion im Umgang mit den christlichen Herrschern des Westens“10 sprach, ohne die in der Adressenliste angeführten Herrscher Osteuropas und des kleinasiatisch-kaukasischen Raumes mit einzubeziehen.11 Doch in welcher Form auch immer: Das Konstrukt Dölgers wurde (ähnlich wie Ostrogorskys) breit rezipiert (unter anderem von diesem),12 so auch im Zusammenhang mit der Taufe des 9

Ebd., S. 51–53, stellt er zu den davor erwähnten „ideellen Wurzeln diese[r] Institution“ fest, die „Familie der Könige“ beruhe „auf der […] metaphorischen Übertragung eines Verwandtschaftsverhältnisses auf ein intimes Treueverhältnis“, ginge aber „auf ganz bestimmte Wurzeln institutioneller Art“ zurück; hierbei verweist er auf einige formale Beobachtungen zur Stellung, Funktion und Verwendung von Verwandtschaftsbegriffen in „Fürstenbriefen“ und vermutet, „die Titel frater, filius bzw. pater“ in den Belegen würden „ein ganz bestimmtes, auf Abkommen bzw. Verleihung beruhendes staatsrechtliches Verhältnis aus[drücken]“. 10 FÖGEN, Marie Theres, Das politische Denken der Byzantiner, in: Pipers Handbuch der politischen Ideen, hrsg. von Iring FETSCHER und Herfried MÜNKLER, Bd. 2, München 1993, S. 41– 85, hier S. 50. 11 Vgl. zu diesen Herrschern die in Anm. 6 genannten Arbeiten im Anhang zu DAGRON, Byzance et ses voisins. 12 Vgl. OSTROGORSKY, The Byzantine Emperor, S. 11 (hier mit dem bestätigenden Hinweis auf Dölgers Selbst-Korrektur [DÖLGER, Die mittelalterliche „Familie der Fürsten und Völker“, S. 167 (zum höheren Rang des geistlichen Bruders gegenüber dem geistlichen Sohn)], 14; sodann etwa BECK, Hans-Georg, Reichsidee und nationale Politik im spätbyzantinischen Staat, in: Byzantinische Zeitschrift 53 (1960), S. 86–94, hier S. 86; ALEXANDER, Paul J., The Strength of Empire and Capital as Seen Through Byzantine Eyes, in: Speculum 37 (1962), S. 339–357, ND 1 in: DERS., Religious and Political History and Thought in the Byzantine Empire, London 1978, Art. 3, und ND 2 in: The Expansion of Orthodox Europe. Byzantium, the Balkans and Russia, hrsg. von Jonathan SHEPARD, Aldershot 2007, S. 9–27; OBOLENSKY, Dimitri, The Byzantine Commonwealth. Eastern Europe, 500–1453, London 1971, S. 189f. (in Zusammenhang mit der Taufe der russischen Fürstin Ol’ga, der Großmutter Vladimirs des Heiligen; vgl. zu ihr den Artikel „Olga“, in: Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit. Zweite Abteilung (867– 1025), hrsg. von Ralph-Johannes LILIE u.a., Bd. 5, Berlin/Boston 2013, S. 231–235); TINNEFELD, Franz, Byzantinisch-russische Kirchenpolitik im 14. Jahrhundert, in: Byzantinische Zeitschrift 67 (1974), S. 359–384, hier S. 366; AHRWEILER, Hélène, L’idéologie politique de l’empire byzantin, Paris 1975, S. 40, 47; HUNGER, Herbert, Einleitung, in: Das byzantinische Herrscherbild (Wege der Forschung, 341), hrsg. von DEMS., Darmstadt 1975, S. 2f.; BECK, HansGeorg, Das byzantinische Jahrtausend, München 1978, S. 77; MANGO, Cyril, Byzantium. The Empire of New Rome, London 1980, S. 220; LOUNGHIS, Télémachos C., Les ambassades byzantines en Occident depuis la fondation des états barbares jusqu’ aux crosisades (407–1096), Athen 1980, S. 261–271; MATSCHKE, Klaus-Peter, Die Schlacht bei Ankara und das Schicksal von Byzanz. Studien zur spätbyzantinischen Geschichte zwischen 1402 und 1422 (Forschungen zur mittelalterlichen Geschichte, 29), Weimar 1981, S. 51–56; MEYENDORFF, John, Byzantium and the Rise of Russia. A Study of Byzantino-Russian Relations in the Fourteenth Century, Cambridge 1981, S. 15; KÄMPFER, Frank, Moskau das Dritte Rom, in: 1000 Jahre

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Kiever Fürsten Vladimir I. durch byzantinische Kleriker im Jahr 988.13 Allerdings fehlen Quellenbelege dafür, dass Kaiser Basileios II. (976–1025) die (gemäß Dölger) an sich zu erwartende geistliche Patenschaft für Vladimir übernommen hat. christliches Rußland. Zur Geschichte der Russisch-Orthodoxen Kirche (Kleine Schriften des Historischen Museums Frankfurt, 40), hrsg. von Thomas MEYER, Recklinghausen 1988, S. 45– 56, hier S. 45; MCCORMICK, Michael, States, Hierarchy of, in: The Oxford Dictionary of Byzantium, Bd. 3, Oxford/New York 1991, S. 1945; MEDVEDEV, Igor P., The Role of Byzantium in the Medieval Christian World with Particular Reference to the Christianization of Rus’, in: The Legacy of Saints Cyril and Methodius to Kiev and Moscow, hrsg. von Anthony-Emil TACHIAOS, Thessaloniki 1992, S. 349–357, hier S. 351f.; NICOL, Donald M., The Last Centuries of Byzantium, 1261–1453, 2. Aufl., Cambridge 1993, S. 72f.; MOYSEIDU, Giasmina, Το Βυζάντιο και οι βόρειοι γείτονες το τον 10ο αιώνα / MOYSIDOU, Jasmine, Byzantium and its Northern Neighbours during the 10th Century (Historical Monographs, 15), Athen 1995, S. 51– 63, 75, 106 (Summary S. 407–409); NERLICH, Diplomatische Gesandtschaften, S. 66–68; BIBIKOV, Michail V., Vizantijskie istočniki po istorii drevnej Rusi i Kavkaza, St. Petersburg 1999, S. 136f.; CARILE, Antonio, Immagine e realtà nel mondo bizantino (Collana medievistica, 9), Bologna 2000, S. 36, 60f., 164f.; KUZENKOV, P. V., Vizantija i Rusʼ, in: Pravoslavnaja Ėncyklopedija 8 (2004), S. 219–232, hier S. 224, 228; GRÜNBART, Michael, Formen der Anrede im byzantinischen Brief vom 6. bis zum 12. Jahrhundert (Wiener byzantinistische Studien, 25), Wien 2005, S. 52f., 123f., 148–150; Le monde byzantin, Bd. 2: L’Empire byzantin 641–1204, hrsg. von Jean-Claude CHEYNET, Paris 2006, S. 76f. (unbelegte Anspielung; Verf.: Cheynet); CAMERON, Averil, The Byzantines, Oxford u.a. 2006, S. 174 (indirekte Rezeption); LILIE, Ralph-Johannes, Einführung in die byzantinische Geschichte, Stuttgart 2007, S. 144– 146; SHEPARD, Jonathan, Introduction. Tides of Byzantium: The Many Forms of Expansion and Contraction, in: The Expansion of Orthodox Europe. Byzantium, the Balkans and Russia, hrsg. von DEMS., Aldershot 2007, S. XXV–LV, hier S. XXXII (mit Bezug auf Kap. 1: GRABAR, André, God and the ‘Family of Princesʼ Presided Over by the Byzantine Emperor, in: Harvard Slavic Studies 2 (1954), S. 117–123); SCHREINER, Peter, Byzanz 565–1453 (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, 22), 4. Aufl., München 2011, S. 82, 162f. 13 Vgl. etwa GRABAR, God and the ‘Family of Princesʼ, ND 1 in: DERS., L’art de la fin de l’Antiquité et du Moyen Âge, Bd. 1, Paris 1968, S. 115–119, hier S. 116, und ND 2 in: The Expansion, Kap. 1, S. 1–7, hier S. 3; OBOLENSKY, Dimitri, The Relations between Byzantium and Russia (Eleventh to Fifteenth Century), in: XIIIth International Congress of Historical Sciences, Moskau 1970, S. 1–13, ND in: DERS., The Byzantine Inheritance of Eastern Europe (Variorum, CS 156), London 1982, Art. 5, S. 6; RÜSS, Hartmut, Das Reich von Kiev, in: Handbuch der Geschichte Russlands, Bd. 1/1: Bis 1613. Von der Kiever Reichsbildung bis zum Moskauer Zartum, hrsg. von Manfred HELLMANN, Stuttgart 1981, S. 199–430, hier S. 311 (ohne Erwähnung des Taufnamens); PODSKALSKY, Gerhard, Christentum und theologische Literatur in der Kiever Rusʼ (988–1237), München 1982, S. 22, 42, 119, und die verbesserte, ergänzte Übersetzung: PODSKAL’SKI, Gerchard, Christianstvo i bogoslovskaja literatura v Kievskoj Rusi (988–1237) (Subsidia Byzantinorossica, 1), St. Petersburg 1996, S. 37, 203; VODOFF, Vladimir, Naissance de la chrétienté russe. La conversion du prince Vladimir de Kiev (988) et ses conséquences (XIe–XIIIe siècles), Paris 1988, S. 78, 101f.; ANGENENDT, Arnold, Mission zwischen Ost und West, in: Millennium Russiae Christianae. Tausend Jahre christliches Rußland 988–1988 (Schriften des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der Slawischen Studien, 16), hrsg. von Gerhard BIRKFELLNER, Köln 1993, S. 3–23, hier S. 5, 7; SCHREINER, Peter, Zum Bild der Russen in der byzantinischen Literatur, in: The Legacy of Saints Cyril and Methodius to Kiev and Moscow, hrsg. von Anthony-Emil TACHIAOS, Thessaloniki 1992, S. 417–425, hier S. 424, ND in: DERS., Byzantinische Kultur. Eine Aufsatzsammlung, Bd. 4: Die Ausstrahlung (Opuscula collecta 9), hrsg. von Silvia RONCHEY und

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Ein lediglich indirektes Indiz dafür bietet die Lobrede auf Vladimir, die der gebürtige Russe Ilarion (1051–1054 Metropolit von Kiev) verfasste: Sie bezeugt, dass Vladimir bei der Taufe den Namen Vasilij erhielt,14 mithin den Namen, den auch Kaiser Basileios [Vasilios] II.15 trug. Dass diese Koinzidenz sicherlich kein Zufall war, sondern indirekt, aber deutlich genug diesen Kaiser als den geistlichen „Vater“, also Taufpaten Vladimirs ausweist (was indirekt das Patronat des heiligen Kirchenvaters Basileios16 einschließt), ergibt sich fast zwingend aus dem historischen Kontext der Taufe. Denn der Kaiser hatte zuvor, von aufständischen Generälen schwer bedrängt, Vladimir um militärische Hilfe ersucht, was diesem die Chance gab, seine Hilfszusage mit der Forderung zu verknüpfen, der Kaiser solle ihm seine Schwester Anna zur Frau geben. Am Ende stimmte der Kaiser unter der Bedingung

Raimondo TOCCI, Rom 2013, Art. 13; NAZARENKO, Aleksandr V., Vladimir (Vasilij) Svjatoslavič, in: Pravoslavnaja Ėncyklopedija 8 (1997), S. 690–703, hier S. 697, 699f.; SHEPARD, Jonathan, Spreading the Word: Byzantine Mission, in: The Oxford History of Byzantium, hrsg. von Cyril MANGO, Oxford 2002, S. 230–247 (ND in: SHEPARD, Jonathan, Emergent Elites and Byzantium in the Balkans and East-Central Europe [Variorum, CS 953], Farnham 2011, S. 1– 17, hier S. 2f.); DERS., The Coming of Christianity to Rus. Authorized and Unauthorized Versions, in: Conversion to Christianity from Late Antiquity to the Modern Age. Considering the Process in Europe, Asia and the Americas, hrsg. von Calvin B. KENDALL u.a., Minneapolis 2009, S. 185–222, hier S. 210; POPPE, Andrzej, The Christianization and Ecclesiastical Structure of Kyivan Rusʼ to 1300, in: Christian Russia in the Making (Variorum, CS 867), hrsg. von DEMS., Aldershot 2007, Art. 5, S. 311–392, hier S. 326, 331, 333; Artikel „Vladimir I. (von Kiew)“, in: Prosopographie der mittelbyzyntinischen Zeit, Bd. 6, S. 694–699, bes. S. 694, 696. 14 Vgl. Des Metropoliten Ilarion Lobrede auf Vladimir den Heiligen und Glaubensbekenntnis (Slavistische Studienbücher, 2), nach der Erstausgabe von 1844 neu hrsg., eingel. und erläut. von Ludolf MÜLLER, Wiesbaden 1962, S. 104, slovo 39, Zeile 16–20: V Christa krestivsja, v Christa oblečesja, i izyde ot kupěli běloobrazujasja, […], imja priim věčno, […]: Vasilij, iže napisasja v knigi životnyja, [...].“; vgl. MÜLLER, Ludolf, Die Taufe Rußlands. Die Frühgeschichte des russischen Christentums bis zum Jahre 988 (Quellen und Studien zur russischen Geistesgeschichte, 6), München 1987, S. 94–96, 102–104, hier S. 103: „Auf Christus getauft, zog er Christus an und stieg heraus aus dem Bade in weißer Gestalt […], und hatte einen Namen empfangen, der ewig ist […]: Wassilij, mit dem er eingeschrieben ist in die Bücher des Lebens, […].“; hierzu den Kommentar in: Des Metropoliten Ilarion Lobrede, S. 163, zu 13,19; aber vgl. unten Anm. 16. Zu Ilarion vgl. PODSKALSKY, S. 84–86, und den Index, S. 285 (Verzeichnis der Metropoliten, verfasst von Andrzej POPPE). 15 Zu Basileios II. vgl. den Artikel „Basileios II.“, in: Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit, Bd. 1, S. 537–551. 16 Vgl. zu ihm KANNENGIESSER, Charles, Basilius von Caesarea (der Große), in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 2, 3. Aufl., Freiburg 1994, Sp. 67–69, und MURAV’EV, A. V./TURILOV, A. A., Vasilij Velikij. Počitanie u.a., in: Pravoslavnaja Ėncyklopedija 7 (2004), S. 185–188. Da STEINDORFF, Ludwig, Memoria in Altrussland. Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 38), Stuttgart 1994, S. 35 und speziell S. 50, Anm. 50, als Grund für die Annahme des neuen Namens Vasilij neben der „Kenntlichmachung der Christlichkeit“ nur die „Gewinnung eines Schutzheiligen“ anführt, bleibt die mögliche Gewinnung eines (mächtigen, hochrangigen) geistlichen Paten, die zugleich dessen eigenen Schutzheiligen einschlösse, (absichtlich?) außer Betracht.

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zu, dass Vladimir sich taufen ließe.17 Soweit, stark gerafft, der Befund, aus dem man zumeist die Aufnahme Vladimirs in die „Familie der Könige“ abgeleitet hat. Ob nun aber diese Verknüpfung dem aktuellen Forschungsstand noch gerecht wird, ist die Frage, doch eine Überprüfung des gesamten Konstrukts würde den Rahmen dieses Beitrags sprengen. Daher geht es hier nur um den Versuch, anhand eines kritischen Überblicks über den Forschungsstand zu einer themabezogenen Klärung beziehungsweise partiellen Antwort zu gelangen, um so auch zu weiterer Diskussion anzuregen. Seit dem magistralen Werk Dimitri Obolenskys über das „Byzantinische Commonwealth“ (1971)18 wurde zunehmend Kritik an Dölgers Konstrukt geübt, und zwar in den Arbeiten von Simon Franklin19 (indirekt), Evangelos Chrysos20, Giasmina Moyseidu (Schülerin von Chrysos)21, Johannes Preiser-Kapeller22, Peter Schreiner23 und Wolfram Brandes24. Im Folgenden seien diesbezüglich jeweils Ansatz und Inhalt dieser Arbeiten kritisch dargelegt. Obolensky sieht eine Hauptschwäche des Dölgerschen Konstrukts in der einseitigen Betonung byzantinischer Überlegenheit und in der Vernachlässigung der

17 Vgl. die Literatur in Anm. 13 und 15, ergänzend OBOLENSKY, Dimitri, Cherson and the Conversion of Rusʼ. An Anti-revisionist View, in: Byzantine and Modern Greek Studies 13 (1989), S. 244–256; FRANKLIN, Simon/SHEPARD, Jonathan, The Emergence of Rus 750–1200, London 1996, S. 161–163; DIES., Načalo Rusi 750–1200, St. Petersburg 2000, S. 238–242. 18 OBOLENSKY, Byzantine Commonwealth, S. 3, 272f., 277; vgl. meine Rezension in: Byzantinische Zeitschrift 71 (1978), S. 101–104, bes. S. 104. 19 FRANKLIN, Simon, The Empire of the Rhomaioi as Viewed from Kievan Russia. Aspects of Byzantino-Russian Cultural Relations, in: Byzantion 53 (1983), S. 507–537, hier S. 508–512. 20 CHRYSOS, Evangelos, Legal Concepts and Patterns for the Barbarians’ Settlement on Roman Soil, in: Das Reich und die Barbaren (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 29), hrsg. von DEMS. und Andreas SCHWARCZ, Wien 1989, S. 13–23; CHRYSOS, Evangelos, Byzantine diplomacy, A.D. 300–800. Means and Ends, in: Byzantine Diplomacy, hrsg. von Jonathan SHEPARD und Simon FRANKLIN, Aldershot 1995, S. 25–39, hier S. 37; CHRYSOS, Evangelos, Was Old Russia a Vassal State of Byzantium?, in: The Legacy of Saints Cyril and Methodius to Kiev and Moscow, hrsg. von Anthony-Emil TACHIAOS, Thessaloniki 1992, S. 233–245. 21 MOYSEIDU, Byzantium and its Northern Neighbours, S. 63–71 (zu Fragestellung, Ziel, Methode und Ergebnissen); vgl. auch S. 407–421. 22 PREISER-KAPELLER, Johannes, Eine „Familie der Könige“? Anrede und Bezeichnung „ausländischer“ Machthaber in den Urkunden des Patriarchatsregisters von Konstantinopel im 14. Jahrhundert, in: The Register of the Patriarchate of Constantinople. An Essential Source for the History and Church of Late Byzantium (Veröffentlichungen zur Byzanzforschung, 32), hrsg. von Christian GASTGEBER, Ekaterina MITSIOU and Johannes PREISER-KAPELLER, Wien 2013, S. 257–289, bes. S. 258f. 23 SCHREINER, Byzanz, S. 82, 162; DERS., Die kaiserliche Familie. Ideologie und Praxis im Rahmen der internationalen Beziehungen in Byzanz. Mit einem Anhang: Liste der dynastischen Eheverbindungen und -projekte, in: Le Relazioni Internazionali nellʼ Alto Medioevo, Spoleto, 8–12 aprile 2010 (Settimane di studio della Fondazione Centro Italiano di studi sullʼ Alto Medioevo, 58), hrsg. von der FONDAZIONE CENTRO ITALIANO DI STUDI SULL’ ALTO MEDIOEVO, Spoleto 2011, S. 735–773 (ND in: DERS., Byzantinische Kultur, Art. 1). 24 BRANDES, Die „Familie der Könige“, bes. S. 262–275.

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kulturellen Bande, welche die Beziehungen ‒ trotz wechselhafter politischer Konstellationen ‒ zwischen Byzanz und den osteuropäischen Nachbarn stark beeinflusst hätten.25 Ihm zufolge wird wohl bei „jedem Versuch, mit rechtlichen Begriffen diese Beziehungen genau zu umreißen, deren wahre Natur zu sehr vereinfacht und verzerrt.“ Bemüht um ein Erklärungsmodell für das Problem, wie man „die politische Unabhängigkeit der […] Völker Osteuropas mit deren Anerkennung des Vorrangs des Kaisers vereinbaren könnte“, schlägt er daher vor, ihre (das heißt der Völker) „Verbindungen mit dem Reich […] im Kontext des Byzantine Commonwealth“ zu betrachten.26 Dieses definiert er als „supranationale christliche Staatengemeinschaft, deren Zentrum Konstantinopel und [deren] Randgebiet Osteuropa war“.27 So beruht aus seiner Sicht die Zugehörigkeit eines Landes zu dieser Staatengemeinschaft auf zwei Voraussetzungen: der „Anerkennung des byzantinischen Christentums durch den Herrscher und dadurch implizit: der Anerkennung der Oberherrschaft des Kaisers“ in lockerer Form.28 Doch Franklin hegt größte Skepsis gegenüber der Ansicht, in der Kiever Rusʼ habe man wegen der Annahme des orthodoxen Christentums auch die Suprematie des Kaisers (indirekt also auch dessen Spitzenstellung in der „Familie der Könige“) gewissermaßen anerkannt. Seiner Ansicht nach müsse man soziokulturell differenzieren und im Hinblick auf die Einwohner Altrusslands die Frage stellen, inwieweit deren Wahrnehmungs- und Verstehensweise im Zuge der Rezeption byzantinischer

25 OBOLENSKY, Byzantine Commonwealth, S. 3. 26 Ebd., S. 277 (mit den Zitaten); vgl. auch S. 201 und bes. S. 223 mit dem Hinweis, die „Beziehungen zwischen den Fürsten Russlands und den Kaisern von Byzanz waren (und konnten) nicht Beziehungen zwischen Gleichen sein. Auf der ideellen, ‚meta-politischen‘ Ebene fuhren die russischen Fürsten […] fort, die Spitzenposition des byzantinischen Kaisers in der Christenheit anzuerkennen, die Vladimir nach seiner Taufe zumindest stillschweigend anerkannt hatte.“ Vgl. DERS., Late Byzantine Culture and the Slavs. A Study in Acculturation, in: XVe Congrès International d’Études Byzantines, Athènes, Athen 1976, S. 3–26, bes. Kap. 2: “Ecclesiastical Politics in Eastern Europe”, S. 13–16. 27 OBOLENSKY, Byzantine Commonwealth, S. 277. Kritisch dazu (neben FRANKLIN, The Empire): ARNASON, John P., Byzantium and Historical Sociology, in: The Byzantine World, hrsg. von Paul STEPHENSON, London 2010, S. 491–504, hier S. 502f., der u.a. die Analogie zum British Commonwealth partiell für irreführend hält; (übertrieben scharf) KALDELLIS, Anthony, Hellenism in Byzantium. The Transformation of Greek Identity and the Reception of the Classical Tradition, Cambridge 2007, S. 109f. Weiterführende Überlegungen zu Obolenskys Modell bei HÖSCH, Edgar, Byzanz und die Kultur Altrußlands. Kritische Anmerkungen zum Stand der Forschungsdiskussion, in: Zwischen Polis, Provinz und Peripherie. Beiträge zur byzantinischen Geschichte und Kultur (Mainzer Veröffentlichungen zur Byzantinistik, 7), hrsg. von Lars M. HOFFMANN, Wiesbaden 2005, S. 515–530, bes. S. 519f., 527; SHEPARD, Jonathan, The Byzantine Commonwealth, 1000–1550, in: The Cambridge History of Christianity, Bd. 5: Eastern Christianity, hrsg. von Michael ANGOLD, Cambridge 2006, S. 3–52; MUREŞAN, Dan, Introduction, in: Le patriarcat oecuménique de Constantinople et Byzance hors frontières (1204–1568) (Dossiers byzantins, 15), hrsg. von Marie-Hélène BLANCHET, Marie-Hélène CONGOURDEAU und Dan MUREŞAN, Paris 2014, S. 7–21, hier S. 13f., 15f. 28 OBOLENSKY, The Relations, S. 6, modifizierend S. 8.

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Texte spezifisch, je nach Tätigkeitsfeld und Bildungsvoraussetzung der Rezipienten, gefiltert worden sei; er untermauert dies mit mehreren Belegen.29 Zu diesen gehört aber auch das berühmte Mahnschreiben Patriarch Antoniosʼ IV. vom September 1389 an Großfürst Vasilij I. (gest. 1425) von Moskau, das indirekt Vasilij I. ausgelöst hatte, weil er dem Metropoliten Kiprian von „Kiev und ganz Russland“ die Fürbitte für den Kaiser untersagt hatte.30 Die Kernpassage des Briefes mit dem Hinweis auf die erwähnte Anweisung lautet: Du hältst ja, wie es heißt, den Metropoliten davon ab, des göttlichen Namens des Kaisers in der Liturgie zu gedenken (ein unmöglicher Vorgang), und zwar mit der Begründung: ‚Wir haben eine Kirche, einen Kaiser aber nicht, auch ziehen wir keinen in Erwägung.‘ Doch dies ist keinesfalls gut! Der heilige Kaiser nimmt eine bedeutende Stellung in der Kirche ein: Es ist bei ihm nicht wie sonst bei Fürsten und Herrschern. Denn die Kaiser waren es, die von Anfang an auf der ganzen Welt die Frömmigkeit gestützt und gehalten haben. […] Es ist also nicht gut, mein Sohn, wenn Du sagst, wir haben eine Kirche, einen Kaiser nicht. Es ist bei den Christen unmöglich, eine Kirche zu haben, aber keinen Kaiser. Denn das Kaisertum und die Kirche bilden eine starke Einheit und Gemeinschaft; eine Trennung voneinander ist unmöglich.31

Bezüglich der Kontroverse um die russische Haltung zum Kaiser ist nun mit John Meyendorff und zuletzt Petre Guran festzuhalten, dass erstmals Kiprian die Nen-

29 Vgl. FRANKLIN, The Empire, S. 512–514, 518–537. 30 Ebd., S. 508, 536. 31 Acta et diplomata graeca medii aevi sacra et profana, Bd. 2, hrsg. von Franz MIKLOSICH und Joseph MÜLLER, Wien 1862, S. 188–192, Nr. 447, hier S. 190f.: „ἐμποδίζεις γὰρ, ὡς λέγουσι, τὸν μητροπολίτην ἵνα μνημονεύῃ τοῦ θείου ὀνόματος τοῦ βασιλέως ἐν τοῖς διπτύχοις, πρᾶγμα γενέσθαι ποτὲ ἀδύνατον, καὶ ὅτι λέγεις ὅτι ἐκκλησίαν ἔχομεν ἡμεῖς, βασιλέα δὲ οὔτε ἔχομεν, οὔτε λογιζόμεθα, καὶ οὐδὲν ἔνι ταῦτα καλά. ὁ βασιλεὺς ὁ ἅγιος πολὺν τόπον ἔχει εἰς τὴν ἐκκλησίαν, οὐδὲ γὰρ ἔνι καθὼς οἱ ἄλλοι ἄρχοντες καὶ αὐθένται τόπων, οὕτω καὶ ὁ βασιλεὺς, διότι ἀπ’ ἀρχῆς οἱ βασιλεῖς ἐστήριξαν καὶ ἐβεβαίωσαν τὴν εὐσέβειαν εἰς πᾶσαν τὴν οἰκουμένην, […]. / […] οὐδὲν oὖν ἔνι καλὸν, υἱέ μου, ἵνα λέγῃς, ὅτι ἐκκλησίαν ἔχομεν, οὐχὶ βασιλέα, οὐκ ἔνι δυνατὸν εἰς τοὺς χριστιανούς, ἐκκλησίαν ἔχειν καὶ βασιλέα οὐκ ἔχειν. ἡ γὰρ βασιλεία καὶ ἡ ἐκκλησία πολλὴν ἕνωσιν καὶ κοινωνίαν ἔχει, καὶ οὐκ ἔνι δυνατὸν, ἀπ’ ἀλλήλλων διαιρεθῆναι.” Eine deutsche, teils lückenhafte Übersetzung liegt vor in: Byzantinisches Lesebuch, hrsg. von Hans-Georg BECK, München 1982, S. 227–230; ihr folgt das von mir modifizierte Zitat (S. 229). Die Neuedition dieses Schreibens aus dem Patriarchatsregister wird im Rahmen des Wiener Projekts (vgl. dazu unten Anm. 40) vorbereitet. Vgl. DARROUZES, Jean, Les Regestes des actes du patriarcat de Constantinople, Bd. 1, Les Actes des patriarches, fasc. 6: Les regestes de 1377 à 1410, Paris 1979, Nr. 2931; OSTROGORSKY, Georg, Geschichte des byzantinischen Staates, 3. Aufl., München 1963, S. 457f.; TINNEFELD, Byzantinisch-russische Kirchenpolitik, S. 380 (mit Bekräftigung des Datums 1389); OBOLENSKY, The Relations, S. 264–266; MEYENDORFF, Byzantinum, S. 103, 254–256, 264; MOYSIDU, Byzantium and its Northern Neighbours, S. 139–143; DAGRON, Gilbert, Emperor and Priest. The Imperial Office in Byzantium, Cambridge 2003, S. 311f.; BRYER, Anthony, The Roman Orthodox World (1393–1492), in: The Cambridge History of the Byzantine Empire, c. 500–1492, hrsg. von Jonathan SHEPARD, Cambridge 2008, S. 852–880, hier S. 852f.; MUREŞAN, Introduction, S. 14, 19; GURAN, Petre, Frontières géographiques et liturgiques dans la lettre d’Antoine IV au Grand prince de Moscou, in: Le patriarcat oecuménique de Constantinople et Byzance hors frontières (1204–1568) (Dossiers byzantins, 15), hrsg. von Marie-Hélène BLANCHET, Marie-Hélène CONGOURDEAU und Dan MUREŞAN, Paris 2014, S. 81–97.

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nung des Kaisers anstelle des Fürsten durchgesetzt hatte. Vasilij I. hatte sich dagegen verwahrt, doch nach Erhalt des Schreibens von Antonios akzeptierte er dies, wobei unklar ist, wo und wie lange man noch den neuen Usus praktizierte.32 In der vom Großfürsten verfügten Zulassung der liturgischen Erwähnung des Kaisers sieht Franklin keinen Anlass zur Revision seiner erwähnten Skepsis. Immerhin beantwortet er noch für sich selbst die Frage, ob die Kiever die „meta-politische Autorität des Byzantinischen Kaisers“ anerkannt oder abgelehnt hätten, sibyllinisch mit „neither“ (keines von beiden).33 Bezieht man aber auch bei dieser Frage den Zeitraum bis 1453 mit ein, so sprechen meines Erachtens die kirchlichen und monastischen Verbindungen zwischen Russland und Byzanz doch eher für die (modifizierte) Position Obolenskys.34 Nun zu Chrysos: Im ersten Artikel konstatiert er mit Bezug auf die Spätantike und das Mittelalter, dass in offizieller Korrespondenz die als Anrede gebrauchten Verwandtschaftsbegriffe die gleiche Funktion hatten wie die Begriffe „Bruder“ und „Freund“ im heutigen politischen und diplomatischen Vokabular. Zwar habe es „diplomatische Formeln gegeben, die strikt einzuhalten waren, doch niemals […] eine politische Institution wie die ‚Familie der Fürsten und Staaten‘ oder die ‚hierarchische Welt-Ordnung‘.“35 Zudem weist er mit Bezug auf Verträge auf einige Schwächen der Theorie Dölgers hin.36 Im zweiten Artikel, der von den byzantinisch-russischen Beziehungen handelt, vertritt er fast nur anhand von Sekundärliteratur korrekt die These, Byzanz habe nie Gebiete jenseits der Krim beansprucht und Altrussland sei kein Vasall von Byzanz gewesen, das nach Norden hin politisch 32 Vgl. Anm. 31 für die genannten Autoren. 33 Vgl. FRANKLIN, The Empire, S. 534. Die Frage spielt auf das Obolensky-Zitat oben in Anm. 26 an. 34 Vgl. auch TINNEFELD, Byzantinisch-russische Kirchenpolitik, S. 382f.; MEYENDORFF, Byzantium and the Rise of Russia, S. 103, 107, 111, 116–118; HÖSCH, Byzanz und die Kultur Altrußlands, S. 519–529; THOMSON, Francis, Communications orales et écrites entre Grecs et Russes (IXe–XIIIe siècles). Russes à Byzance, Grecs en Russie. Connaissance et méconnaissance de la langue de l‘autre, in: Voyages et voyageurs à Byzance et en Occident du VIe aux XIe siècle. Actes du colloque international organisé par la Section d’Histoire de l’Université Libre de Bruxelles en collaboration avec le Départment des Sciences Historiques de l’Université de Liège (5–7 mai 1994) (Bibliothèque de la Faculté de Philosophie et Lettres de l’Université de Liège, 278), hrsg. von Alain DIERKENS und Jean-Marie SANSTERRE, Genf 2000, S. 113–163; bes. wichtig (für die positive Modifikation des Obolensky-Konzepts): SHEPARD, The Byzantine Commonwealth, S. 3–11, 28–33, 41–46, 50–52; VETOCHNIKOV, Konstantinos, Le pouvoir de l’empereur byzantin sur l’Église Russe (d’après les actes patriarcaux), in: Byzantium as a Bridge between West and East (Veröffentlichungen zur Byzanzforschung, 36), hrsg. von Christian GASTGEBER und Falko DAIM, Wien 2015, S. 131–155, hier S. 154f.; TACHIAOS, AnthonyEmil, Osnovnye punkty vlijanija Vizantii na russkuju kul’turu, in: Spicilegium Byzantino-Rossicum. Sbornik statej k 80-letiju člena-korrespondenta RAN I. P. Medvedeva, hrsg. von L. A. GERD, Moskau 2015, S. 283–297. 35 CHRYSOS, Evangelos, Legal Concepts and Patterns for the Barbariansʼ Settlement on Roman Soil, in: Das Reich und die Barbaren (Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 29), hrsg. von DEMS. und Andreas SCHWARCZ, Wien 1989, S. 13–23, hier S. 16. 36 Ebd., S. 17–21.

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meist defensiv agiert habe. Also sei zu fragen, was diese Politik – eine Art „defensiver Imperialismus“ − für die „sog. politische oder metapolitische Doktrin der byzantinischen Staatenhierarchie“ bedeute. Seine Antwort: Das im Mittelalter vorhandene, auf Konstantinopel fokussierte, vom Kaiser verkörperte Zusammengehörigkeitsgefühl der orthodoxen Christen Ost-/Südosteuropas rechtfertige es, „in diesem Sinne“ von einem Byzantine Commonwealth zu sprechen.37 Daher bekräftigte er das oben referierte Statement zu Dölgers und Ostrogorskys Konstrukten. Anreden wie „Bruder“, „Sohn“, „Neffe“ (des Kaisers) in den Adressen offizieller Schreiben der Kaiserkanzlei seien protokollbedingt und stünden in der Tradition diplomatischen Sprachgebrauchs. Der Kaiserhof habe diesen Usus des Protokolls um die christlich konzipierte spirituelle Verwandtschaft ergänzt. Doch dies habe sich auf „die rechtlichen und politischen Beziehungen des Reiches zu seinen Nachbarn substanziell“ nicht ausgewirkt. Eine Hierarchie der Begrifflichkeit fehle und nirgends sei belegt, dass „Brüder“ oder „Söhne“ des Kaisers sich untereinander so angeredet und analog etwa auch „Brüder“ des Kaisers als „Onkel“ betrachtet hätten.38 Fazit: Man sollte die byzantino-russischen Beziehungen unbeeinflusst von der universalistischen Ideologie erforschen. Moyseidu untermauert, bekräftigt und ergänzt in ihrer Dissertation ausführlich die von Chrysos skizzierten Kritikpunkte, auch im Hinblick auf die Anrede der Herrscher in der Adressenliste des Zeremonienbuches. Doch relevante neue Gesichtspunkte treten kaum hervor, auch nicht in Kapitel 2, das anfangs von der Unabhängigkeit des russischen „Archon“ handelt und dann der Frage nachgeht, ob durch die Christianisierung beziehungsweise den Eintritt in die „Familie des byzantinischen Kaisers“ der russische Herrscher ein Vasall des Kaisers geworden sei.39 Preiser-Kapeller untersucht die Verwendung von Verwandtschaftsbegriffen in den Adress- und Anredeformeln der im Patriarchatsregister des 14. Jahrhunderts überlieferten Briefe und Urkunden an auswärtige christliche (oder muslimische) Machthaber.40 Zudem vergleicht er die diesbezügliche Praxis der Patriarchatskanzlei mit entsprechenden Formeln aus der Ekthesis nea von 1386, einer handbuchartigen Zusammenstellung von Musteradressen für Schreiben an kirchliche und weltliche Herren inner- und außerhalb „des byzantinischen Machtbereichs […], z.T. sogar mit der konkreten (namentlichen) Angabe“ des Adressaten. Methodisch wichtig 37 38 39 40

CHRYSOS, Was Old Russia, S. 243 (mit den Zitaten). Ebd., S. 244 (mit den Zitaten). MOYSEIDU, Byzantium and its Northern Neighbours, S. 131–173, bes. S. 166–173. PREISER-KAPELLER, Eine „Familie der Könige“, S. 258–289. Zum Patriarchatsregister vgl. Acta et diplomata, Bde. 1–2, Wien 1860–1862. Von der Neuedition liegen vor: Das Register des Patriarchats von Konstantinopel (Corpus fontium historiae Byzantinae, 19, 1–3), Tl. 1: Edition und Übersetzung der Urkunden aus den Jahren 1315–1331, hrsg. von Herbert HUNGER und Otto KRESTEN, Wien 1981; Tl. 2: Edition und Übersetzung der Urkunden aus den Jahren 1337– 1350, hrsg. von Herbert HUNGER, Otto KRESTEN, Ewald KISLINGER und Carolina CUPANE, Wien 1995; Tl. 3: Edition und Übersetzung der Urkunden aus den Jahren 1350–1363, hrsg. von Johannes KODER, Martin HINTERBERGER und Otto KRESTEN, Wien 2001 [Bde. IV und V im Druck]. Vgl. GASTGEBER, Christian, Das Patriarchatsregister von Konstantinopel der Österreichischen Nationalbibliothek, in: Historicum. Zeitschrift für Geschichte 26 (Frühjahr–Sommer 2007), S. 9–19.

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ist sein Hinweis, man könne aus dem Material der Ekthesis nea nicht, wie einst Dölger anhand der Adressenliste, auf ein „feststehendes Regelsystem“ schließen, um daraus eine „durchkonzipierte außenpolitische ‚Doktrin‘ im Sinne des […] Phantoms der […] ‚Familie der Könige‘ abzuleiten.“ Denn mehr als „bestimmte Gepflogenheiten“ oder „Leitlinien“ seien diesem Formularbuch nicht zu entnehmen. Vielmehr müsse man die „Gestaltung der Anrede“ eines Schreibens und „ihre Bedeutung“ für das „Verhältnis“ der Korrespondenzpartner zueinander jeweils eigens bestimmen.41 So gelangt er anhand seines im Appendix aufgelisteten Materials zu der nur angedeuteten Erkenntnis, die „Familie der Könige“ im strikten Sinn Dölgers lasse sich hier nicht nachweisen. Dennoch kommt Preiser-Kapeller nicht umhin festzustellen, die Verwendung „geistlich fiktiver Verwandtschaftsbeziehungen“ in den Adress- und Anredepassagen sei „allgegenwärtig“.42 Das gilt in der Tat durchweg auch für die patriarchale und die (seltener belegte) kaiserliche Korrespondenz mit den russischen (Groß-)Fürsten: Darin werden Letztere zumeist als (geistliche) „Söhne“ und nur zweimal als „Neffen“ des Patriarchen/Kaisers bezeichnet, wobei die Wahl der Epitheta protokollarisch den Grad der Wertschätzung nuanciert.43 Nicht nur dieser Befund ist bemerkenswert für die Persistenz des Familien-Gedankens, sondern auch die Tatsache, dass sich in dieser Korrespondenz Patriarch Antonios IV. zum Beispiel als Mahner und Lehrer „wie ein von Gott eingesetzter geistlicher Vater [Hervorhebung G. P.] und Herr aller Christen der Oikumene“44 und damit auch ihrer jeweiligen (sc. christlichen) Herrscher bezeichnete: Dies belegt exemplarisch die auf uns realitätsfern wirkende, übersteigerte Selbstsicht der damaligen Hierarchie. Doch die Patriarchen leiteten diese Selbstsicht – ungeachtet der Zwangslage des territorial reduzierten Reiches – ab vom nominellen Umfang ihres Sprengels, von ihrem Amt und der (bis 1453) unvermindert engen Bindung an den byzantinischen „Kaiser und Autokrator der Römer, und das heißt aller Christen“.45 41 PREISER-KAPELLER, Eine „Familie der Könige“, S. 258 (mit den Zitaten). Die kritische Edition der erwähnten Formelsammlung besorgte DARROUZÈS, Jean, Ekthésis néa. Manuel des pittakia du XIVe siècle, in: Revue des études byzantines 27 (1969), S. 5–127. 42 Vgl. PREISER-KAPELLER, Eine „Familie der Könige“, S. 259 (mit dem Zitat), und S. 273–289 für den „Appendix: Verzeichnis der […] erwähnten nichtbyzantinischen Machthaber (mit Vergleichsbeispielen)“ mit den (in sich regional gegliederten) Rubriken „1.1 Orthodoxe Machthaber im Sprengel von Konstantinopel“, darunter 1.1.8 solche in Russland, aufgeteilt nach: Großfürsten; sonstige russ. Fürsten; Novgorod; „1.2. Orthodoxe Machthaber außerhalb des Sprengels […]; 2. Nicht-orthodoxe christliche Machthaber“; ferner 3. und 4. heidnische und muslimische Machthaber. Zur Auswertung vgl. S. 260–272. 43 Ebd., S. 260–265, 276–281; vgl. ergänzend KUZENKOV, Vizantija, S. 228. 44 Acta et diplomata, Bd. 2, Nr. 446, S. 181–187, hier S. 182: „διδάσκων, ὡς πατὴρ καῖ δεσπότης πνευματικὸς παρὰ θεοῦ καταστὰς τῶν ἁπανταχοῦ τῆς οἰκουμένης χριστιανῶν […].“ Vgl. DARROUZÈS, Les Regestes, Nr. 2929. Im oben (Anm. 31) zit. Brief bezeichnete Antonios IV. Vasilij sogar als „γνήσιον ὑιόν [...] καὶ φίλον“, also als seinen „leiblichen Sohn und Freund“; vgl. auch Byzantinisches Lesebuch, S. 228. 45 Vgl. BECK, Reichsidee; DERS, Geschichte der orthodoxen Kirche im byzantinischen Reich (Die Kirche in ihrer Geschichte, D 1/1), Göttingen 1980, S. 238f., MEYENDORFF, Byzantium and the Rise of Russia, S. 116–118, und SHEPARD, The Byzantine Commonwealth, S. 50; für das Zitat

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Schreiner wies im Hinblick auf Dölgers Konstrukt auf die oft mangelnde Übereinstimmung zwischen „Ideal und Wirklichkeit“ hin und erwähnte zustimmend die von Chrysos „am Beispiel der Russen“ vorgebrachte Kritik.46 Im Artikel zur kaiserlichen Familie kommt er nur kurz auf die „Familie der Könige“ zu sprechen, um das Fehlen jeglicher Auslandsreisen der Kaiser vor 1365 zu erklären: Der Hauptgrund dafür liege in der „Ideologie der Superiorität des byzantinischen Reiches, die im Konstrukt der ‚Familie der Könige‘ ihren Ausdruck findet.“ Ergänzend merkt er zu Recht an: „Das Begriffsfeld der Familie der Könige muss grundsätzlich neu überdacht werden“.47 Das Konstrukt nun erstmals einer rechtlich und historisch systematischen Kritik unterzogen zu haben, ist das Verdienst Brandesʼ. Historisch konzentriert er sich auf die Widerlegung von Dölgers Interpretation früh- und (frühmittel-)byzantinischer Belege. Dabei ist seine Argumentation im Detail unterschiedlich stichhaltig, doch fehlt eben (sieht man von seinen mageren, teils zu skeptischen Bemerkungen zur Adressenliste ab) die Ausdehnung der Verifizierung seiner Kritik am Quellenmaterial etwa vom 9. Jahrhundert ab bis in die Spätzeit. Brandesʼ rechtshistorische Einwände treffen im Wesentlichen zu: Die „Familie der Könige“ besaß niemals die Qualität eines „Rechtstitels“ und stellte auch keine rechtlich verbindliche „Institution“ dar.48 Hier indes ist auch kurz auf Brandesʼ Artikel über die Taufe einzugehen, der leider den Taufakt Vladimirs nur knapp streift und die Frage der Taufpatenschaft des Kaisers völlig ausblendet.49 Ebenda, nur wenig später, widmet er noch folgenden Passus der Bedeutung der Taufe Vladimirs beziehungsweise Russlands:

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im Kontext den (in Anm. 31) zit. Brief Antonios IV., in: Acta et diplomata, Bd. 2, Nr. 447, S. 190: „εἰ γὰρ καὶ, συγχωρήσει θεοῦ, τὰ ἔθνη περικύκλωσαν τὴν ἀρχὴν τοῦ βασιλέως καὶ τὸν τὸπον, ἀλλὰ μέχρι τὴν σήμερον τὴν αὐτὴν χειροτονίαν ἔχει ὁ βασιλεὺς παρὰ τῆς ἐκκλησίας καὶ τὴν αὐτὴν τάξιν καὶ τὰς αὐτὰς εὐχὰς καὶ τῷ μεγάλῳ χρίεται μύρῳ καὶ χειρο[το]νεῖται βασιλεὺς καὶ αὐτοκράτωρ τῶν Ῥωμαίων, πάντων δηλαδὴ τῶν χριστιανῶν […].“; deutsch in: Byzantinisches Lesebuch, S. 229: „Mögen auch die Heiden durch Gottes Zulassung den kaiserlichen Machtbereich mitsamt der Kaiserstadt in der Zange haben, so bleibt dem Kaiser trotzdem und bis auf den heutigen Tag dieselbe kirchliche Weihe und derselbe Vorrang; ihm gelten dieselben Gebete, und er wird immer noch mit dem großen Myron gesalbt und zum Kaiser und Autokrator der Römer, und das heißt aller Christen, geweiht […].“ SCHREINER, Byzanz, S. 162; die dort folgende, unkritische Befürwortung der von T. Lounghis beschriebenen Doktrin der „begrenzten Oikumene“, die Byzanz unter der Makedonischen Dynastie entwickelt habe, um die Abkehr von der „römischen Weltherrschaftsidee“ zu vollziehen, steht hier nicht zur Debatte. SCHREINER, Die kaiserliche Familie, S. 747, mit Verweis auf: CHRYSOS, Legal Concepts. In Schreiners oben (Anm. 23) angeführtem Nachdruck des Artikels findet sich in den „Addenda et Corrigenda“ zu S. 747, Anm. 50, folgender Zusatz: „Die von Franz Dölger 1940 erfundene ‚Familie der Könige‘ ist von der Forschung nur zu gerne und oft wenig reflektiert aufgegriffen worden, so dass eine Revision längst nötig war.“ Dafür ist jetzt ein neuer Ausgangspunkt geschaffen worden von PREISER-KAPELLER, Eine „Familie der Könige“. BRANDES, Die „Familie der Könige“, S. 262–264. Die Bemerkungen zur Adressenliste ignorieren u.a. die oben in Anm. 6 erwähnten Beiträge von DAGRONS und seinen Mitautoren. BRANDES, Wolfram, Taufe und soziale/politische Inklusion und Exklusion in Byzanz, in: Rechtsgeschichte 21 (2013), S. 75–88, hier S. 82.

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„Vielleicht noch wichtiger [sc. als der zuvor von B. erwähnte byzantinische Missionserfolg in Bulgarien] war die ‚Taufe Russlands‘ im Jahre 988. Dadurch wurde ein kultureller und auch politischer Vorrang in beiden Staaten konstituiert und durch die ‚Taufe eine beginnende geistige [sic] Verwandtschaft‘ geschaffen“.50 Hierin, und zwar im zweiten Satz (samt dem Zitat), beruft er sich jedoch zu Unrecht auf Podskalsky51, bei dem es heißt: „Der byzantinische Vorrang in der Staatenfamilie war durch die in der Taufpatenschaft begründete geistliche Verwandtschaft des Kaisers mit den neubekehrten Fürsten/Königen und deren Nachfolgern festgelegt. Freilich war dies zunächst nur die einseitige byzantinische Sicht der Beziehungen, deren Rezeption in den russischen Geschichtsquellen nirgends bestätigt wird“.52 Da Brandes vom Vorrang „in beiden Staaten“ spricht, hat er offenbar mit an Bulgarien gedacht, obwohl sich der Kontext hier nur auf Russland bezieht. Doch wichtiger ist, dass er Podskalsky ungenau (auch ohne den Nachsatz) zitiert, die Patenschaftsproblematik ausblendet und mit dem Hinweis auf den (angeblich) konstituierten politischen Vorrang (sc. der Byzantiner) dem Konstrukt Dölgers (unversehens, wenn auch ungewollt) so nahekommt, dass er sich damit konträr zu dem oben dargelegten Forschungsstand positioniert. Tatsächlich scheint also Dölgers striktes Konstrukt in verschiedener Hinsicht, aber doch nicht komplett, ein „Phantom“ zu sein, nicht zuletzt, weil er selbst verschiedene Elemente als fiktiv ansieht und die Sichtweise der auswärtigen „Familien-Mitglieder“ übergeht. Doch die Allgegenwart von Verwandtschaftsbegriffen in Adress- und Anredeformeln der (hier kaum einbezogenen) auswärtigen Korrespondenz des Hofes53 sowie der des Patriarchats belegt die durchgehende Virulenz patriarchalischen Denkens der Byzantiner bei der Strukturierung ihrer Beziehungen ins Ausland und zur Peripherie des Reiches. Unleugbar sahen sich Kaiser und (zunehmend) Patriarch bis ans Ende des Reiches an der Spitze einer ideellen familiär und „ranglich“ differenzierten Struktur, deren Variabilität es ihnen erlaubte, auf Veränderungen der (kirchen-)politischen Verhältnisse flexibel zu reagieren. Doch zurück zur Frage, ob vor dem Hintergrund des aktuellen Forschungsstandes die häufig vorgenommene Verknüpfung der Taufe Vladimirs mit seiner Aufnahme in die „Familie der Könige“ noch zu halten sei. Sie beruht auf Vladimirs überliefertem Taufnamen Vasilij und der aus ihm abgeleiteten, gleichwohl historisch wahrscheinlichen, geistlichen Patenschaft Kaiser Basileiosʼ II. für seinen neugetauften Schwager.54 Da aber seitens der Byzantiner und Russen ein klarer Beleg für Vladimirs Status als geistlicher Sohn des Kaisers ebenso fehlt wie jegliches

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Ebd., S. 83, hier mit Anm. 111. PODSKAL’SKI, Christianstvo, S. 41. Ebd., S. 69. Sie müsste bei einer umfassenden Untersuchung systematisch berücksichtigt werden. Die von SCHMALZBAUER, Gudrun, Zur byzantinischen Herrscheronomastik, in: Byzantinoslavica 50 (1989), S. 215–222, hier S. 217, geäußerte Ansicht, eine (geistliche) Patenschaft Basileiosʼ II. sei im Falle Vladimirs kirchenrechtlich auszuschließen, weil seine Braut Anna eine Schwester des Kaisers war, ist nicht stichhaltig: Aus Staatsräson konnte der Kaiser gegen die Norm verstoßen.

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Selbstzeugnis von ihm für das Führen des Namens Vasilij, ist – trotz des sogenannten Byzantinismus Vladimirs55 – Vorsicht geboten. Nach diesem Befund ist Dölgers Konstrukt zwar nicht völlig, aber doch weitgehend ungeeignet, das (kirchen-)politische Beziehungsgeflecht zwischen Byzanz und seinen nahen und entfernten Nachbarn adäquat zu erfassen. Es wäre also angemessener, in Verbindung mit der Taufe Vladimirs nicht mehr das Bild von seiner Aufnahme in die „Familie der Könige“ zu verwenden, sondern in Anlehnung an Obolensky nur festzuhalten, Vladimir sei durch den Taufakt politisch in eine Art Byzantine Commonwealth aufgenommen worden, genauer: in die Gruppe orthodox geprägter selbstständiger Herrschaftsgebiete, in welcher der byzantinische Kaiser zwar das traditionell höchste Ansehen besaß, aber realpolitisch über keine direkte Gestaltungsmacht verfügte.56 Da aber die Taufe Vladimirs auch die breite Christianisierung der Kiever Rusʼ eingeleitet und zur Errichtung der kirchlichen Strukturen der Metropolie Kiev geführt hatte, wurde Altrussland kirchlich ein integraler Bestandteil des ökumenischen Patriarchats von Konstantinopel.57 So verblieb es noch bis zur Erlangung der von Großfürst Vasilij II. gewollten Autokephalie 144858 relativ stark im Einflussbereich der Patriarchen, aber eben nicht (oder nur sehr bedingt) in dem des byzantinischen Kaisers. Den Schlusspunkt dieser Entwicklung setzte die auch vom ökumenischen Patriarchen akzeptierte Errichtung des Moskauer Patriarchats im Jahr 1589.59

55 Vgl. KÄMPFER, Frank, Von heidnischer Bildwelt zur christlichen Kunst. Die Bedeutung von Anna Porphyrogenneta für die Initialzündung der altrussischen Kultur, in: Millennium Russiae Christianae. Tausend Jahre christliches Rußland 988–1988 (Schriften des Komitees der Bundesrepublik Deutschland zur Förderung der Slawischen Studien, 16), hrsg. von Gerhard BIRKFELLNER, Köln 1993, S. 109–135, hier S. 126–135 (auch zu Vladimirs Selbstzeugnissen). Später verehrte man ihn auch nur als Heiligen Vladimir, nicht Vasilij; dazu POPPE, Andrzej, The Sainthood of Vladimir the Great. Veneration in-the-making, in: DERS., Christian Russia in the Making (Variorum, CS 867), Aldershot u.a. 2007, S. 1–52, hier S. 48f. 56 KÄMPFER, Frank, Das russische Herrscherbild. Von den Anfängen bis zu Peter dem Großen. Studien zur Entwicklung politischer Ikonographie im byzantinischen Kulturkreis (Beiträge zur Kunst des christlichen Ostens, 8), Recklinghausen 1978, konstatierte auf S. 115 zu Recht: „Die zahlreichen byzantinistischen Beiträge zur ‚Familie der Könige‘ etc. sehen sich, nicht nur in Altrußland, mit dem Phänomen konfrontiert, daß lokale Herrscher sich um den Anspruch des ökumenischen Kaisers wenig kümmerten.“ Das Epitheton „ökumenisch“ für den byzantinischen Kaiser ist freilich unhistorisch. 57 Auch nachdem sich Moskau ab 1328 endgültig als neuer Sitz des Metropoliten herauskristallisiert hatte, blieben die Metropoliten (bis 1441) noch die von „Kiev und ganz Russlands“. Detailliert zu ihrem Titel: VETOCHNIKOV, Konstantinos, Le titre officiel des métropolites russes au Moyen Âge, in: Le patriarcat oecuménique de Constantinople et Byzance hors frontières (1204–1568) (Dossiers byzantins, 15), hrsg. von Marie-Hélène BLANCHET, Marie-Hélène CONGOURDEAU und Dan MURESAN, Paris 2014, S. 273–307. 58 Zur Errichtung der Autokephalie vgl. ABELENCEVA, O. A., Mitropolit Iona i ustanovlenie avtokefalii Russkoj Cerkvi, Moskau/St. Petersburg 2009. 59 Vgl. PREISER-KAPELLER, Johannes, Das Patriarchat von Konstantinopel und die russischen Kirchen vom 13. bis zum 15. Jahrhundert. Ein Überblick zur Kirchenpolitik auf der Grundlage des Patriarchatsregisters, in: Historicum. Zeitschrift für Geschichte 26 (Frühling–Sommer 2007), S. 71–77, hier S. 76.

ÜBER DAS WENIG BEKANNTE LEBEN DER ISTRISCHEN PRIESTERSCHAFT IM MITTELALTER Das Beispiel des Pfarrers Iohannes aus Piran Darja Mihelič Religion, Glaube und Aberglaube sind Bereiche, die das Bewusstsein der Menschen des christlichen Europas im Mittelalter intensiv berührten.1 Seit den reformatorischen religiösen Bewegungen des 10. und 11. Jahrhunderts war die Kirche bemüht, unter Beachtung der Regeln des Benediktinerordens eine kirchliche Hierarchie aufzubauen, Übersicht und Autorität über ihre Institutionen zu erlangen sowie eine einheitliche römische Liturgie durchzusetzen, bei gleichzeitiger Verfolgung und Ausrottung des Heidentums. Die Reformatoren setzten sich unter anderem für den Zölibat ein und forderten die Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit der Priester, da sie die Ehe als etwas Unsauberes betrachteten.2 Etwa acht Jahrhunderte, nachdem das Konzil von Nicaea (325) Bischöfen, Priestern und Diakonen das Zusammenleben mit einer Frau untersagte,3 und fünf Jahrhunderte, nachdem 623 der große Denker Isidor von Sevilla in seinem Werk Etymologiae das Wort caelebs (unverheiratet, ledig) im Sinne von caelo beatus (selig im Himmel) gedeutet hatte,4 fixierte das zweite Lateran-Konzil (1139) die Ehelosigkeit der Priester.5 Sie setzte sich jedoch

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Vgl. z.B. VAUCHEZ, André, La spiritualità dellʼOccidente medioevale (Cultura e storia, 9), 2. Aufl., Mailand 1993. U.a. DENZLER, Georg, Die Geschichte des Zölibats, Freiburg i.Br. 1993. Conciliorum oecumenicorum generaliumque decreta, Editio critica I, The Oecumenical Councils, From Nicaea I to Nicaea II (325–787), hrsg. von Giuseppe ALBERIGO u.a., Turnhout 2013, S. 1–34, hier S. 21: „III Quae mulieres cum sacerdotibus commorentur. Interdixit per omnia magna synodus, nec episcopo, nec presbitero nec diacono nec alicui prorsus, qui est in clero, licere subintroductam habere mulierem, nisi forte matrem aut sororem aut amitam vel eas tantum personas quae suspiciones effugiunt“. Isidori Hispalensis episcopi Etymologiarum sive originum libri XX, hrsg. von Wallace Martin LINDSAY, Oxonii 1911, Lib. X, 34: „Caelebs, conubii expers, qualia sunt numina in caelo, quae absque coniugiis sunt. Et caelebs dictus quasi caelo beatus“. Conciliorum oecumenicorum generaliumque decreta, Editio critica II/1, The General Councils of Latin Christendom, From Constantinople IV to Pavia-Siena (869–1424), hrsg. von Antonio GARCÍA Y GARCÍA u.a., Turnhout 2013, S. 95–113, hier S. 106: „Decernimus etiam ut ii, qui in ordine subdiaconatus et supra uxores duxerint aut concubinas habuerint, officio atque ecclesiastico beneficio careant. Cum enim ipsi templum Dei, vasa Domini, sacrarium Spiritus sancti debeant esse et dici, indignum est eos cubilibus et immunditiis deservire“.

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noch lange nicht durch. Erst das Konzil von Trient (1545–1563)6 versetzte der Priesterehe den entscheidenden Schlag. Nach wie vor fanden sich jedoch unter der Geistlichkeit Priester, die die Vorschrift der sexuellen Enthaltsamkeit missachteten. Das gesellschaftliche Umfeld verhielt sich ihnen gegenüber mehr oder weniger nachsichtig. Im Jahr 1920 veröffentlichte der slowenische Schriftsteller Ivan Pregelj7 den historischen Roman Plebanus Joannes.8 Zeitlich verlagerte er das Geschehen an die Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert. In seinem Roman zeichnete er den damaligen Vikar von Tolmin (Tolmein in Oberkrain) – die historische Person hieß Janez Potrebujež – als den umstrittenen Pfarrer Joannes nach. Dieser soll – in der Romanphantasie des Schriftstellers – nach außen die religiösen Prinzipien der Enthaltsamkeit vehement vertreten haben, in seinem Inneren aber von fleischlichen Gelüsten gegenüber seinem verwaisten Mündel aufgewühlt gewesen sein. Dieses war die Tochter seines priesterlichen (sic) Kollegen. Um sein Begehren zu stillen, fand er für das Mädchen einen Bräutigam. Der Plan misslang jedoch. Sein Schützling und Neffe, Sohn seiner verstorbenen Schwester, der nach dem Willen des Onkels für den Priesterberuf (sic) bestimmt war, ließ sich mit dem Mündel ein und schwängerte es. Das weitere Schicksal aller Beteiligten verlief tragisch, wobei auch die Spannungen unter den Trägern kirchlicher Funktionen eine Rolle spielten.9 DIE DREI GESICHTER DES PFARRERS IOHANNES VON PIRAN Eine herausfordernde Parallele zum Roman Pregeljs könnte bei etwas lebhafterer Phantasie dominus Iohannes plebanus ecclesie Sancti Georgii de Pirano darstellen. Diese Kirche wird schon 1203 als plebs et baptismalis ecclesia erwähnt.10 Dominus 6

U.a. JEDIN, Hubert, Geschichte des Konzils von Trient, Bde. 1–4, Freiburg i.Br. 1949–1975; Conciliorum oecumenicorum generaliumque decreta, Editio critica III, The Oecumenical Councils of the Roman Catholic Church, From Trent to Vatican II (1545–1965), hrsg. von Klaus GANZER, Giuseppe ALBERIGO und Alberto MELLONI, Turnhout 2010, S. 1–178. 7 Slovenski biografski leksikon, Bd. 2, Ljubljana 1952, S. 481–486. 8 PREGELJ, Ivan, Plebanus Joannes, in: Dom in svet 33 (1920), Nr. 3/4, S. 55–64; Nr. 5/6, S. 106– 117; Nr. 7/8, S. 160–170; Nr. 9/10, S. 218–226; Nr. 11/12, S. 273–284. 9 Pregelj war kein Historiker; nach drei Monaten trat er aus dem Priesterseminar aus und studierte später in Wien Germanistik und Slawistik. Seine romanhafte Erzählung ist fachhistorisch deshalb weitgehend irrelevant. Man könnte sie einer historischen Kritik unterwerfen, was aber nicht sinnvoll wäre, da sie durch die licentia poetica geschützt ist. Allerdings wirft der Roman Pregeljs Fragen auf, die – wie im Falle dieser Untersuchung – auch Historiker dazu verleiten, sich damit zu beschäftigen. 10 Im 10. Jahrhundert (2. April 974) wird die Pfarre von Piran in den bekannten Quellen mit der Bezeichnung plebes Piriani zum ersten Mal erwähnt, in: Monumenta Germaniae Historica, Diplomata regum et imperatorum Germaniae II/I, Ottonis II. diplomata, hrsg. von Theodor SICKEL, München 1980, Nr. 71. Zweihundert Jahre später, am 16. Januar 1173, erschien das Dokument, das die Kirche des Heiligen Georg in Piran mit Pfarrer und Brüdern erwähnt, die in dieser Kirche dem Herrn dienen („Dominicus Pyrianensis plebanus […] ac fratres in pretaxata ecclesia Sancti Georgii Domino famulantes“), in: FRANCESCHI, Camillo de, Chartularium Piranense, Raccolta dei documenti medievali di Pirano, I: 1062–1300 (Atti e memorie della

Über das wenig bekannte Leben der istrischen Priesterschaft

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Iohannes wirkte nachweislich in den letzten zwei Jahrzehnten des 13. Jahrhunderts. Die mittelalterlichen Quellen, die diesem Artikel zugrunde liegen,11 sind leider kurzgefasst, aber konkret; sie würden zwar auch eine pikante, spekulative Deutung erlauben, die jedoch in diesem Text vermieden werden soll. Pfarrer Iohannes trat in drei Rollen in Erscheinung: in der Rolle des primus inter pares im fünfköpfigen Kapitel von Piran, das die Kirche von Piran gegenüber der (seit 1177)12 übergeordneten Diözese von Koper und gegenüber dem Patriarchen von Aquileia vertrat. Darüber hinaus lernen wir ihn als einen einfachen Piranenser Geschäftsmann kennen, der häufig als glaubwürdiger Zeuge genannt wird, seltener auch als Bürge bei Geschäften. Als Gläubiger begegnet er ebenso wie als Schuldner. Er war im Besitz von Immobilien – von Häusern, Öfen, Grundstücken, einem Weinberg, einem Olivenhain und Gärten. Er kaufte und verkaufte, im Rahmen von Kreditvereinbarungen bei Handelsgeschäften versetzte er seine Besitztümer zuweilen, er hinterließ sie als Erbe. Bei seinen Geschäften kam es manchmal zu Konflikten, die Gegenstand von Prozessen wurden, bei denen er hin und wieder einen Vertreter brauchte. Er taucht sogar als Beschuldigter auf, der einer angesehenen Pfarrangehörigen unberechtigt eingenommenes Geld (male ablata) zurückerstatten muss. Seine dritte aus den Quellen bekannte Seite betrifft aber seine Familie. Die meisten Angaben befinden sich in seinen zwei (sic) Testamenten, die einige Jahre vor seinem Tod erstellt wurden. In den beiden Testamenten werden ein Bruder und zwei Schwestern erwähnt, während eine dritte Schwester aus anderen Quellen bekannt ist. Bezugnehmend auf die Gedanken in der Einleitung und die Anspielung auf den Roman von Pregelj überrascht die Erwähnung dreier Kinder, denen der Pfarrer Erbteile vermachte. PFARRER IOHANNES ALS PRIMICERIUS DER KIRCHE DES HEILIGEN GEORG IN PIRAN Am 30. März 1279 beklagte sich in Koper presbyter Iohannes plebanus plebis Piranensis in seinem eigenen und im Namen des Kapitels von Piran gegenüber dem Dekan und dem Archidiakon der Diözese Koper. Diesem war seitens des Heiligen Stuhls die Verpflichtung aufgetragen worden, drei librae venezianischer Währung

Società istriana di archeologia e storia patria, 36) [im Folgenden: CP I], Parenzo 1924, Nr. 3. Zu Beginn des 13. Jahrhunderts (1203) erwähnt das Dokument ausdrücklich auch die Kirche von Piran als Pfarr- und Taufkirche („plebs et baptismalis ecclesia“), in: CP I, Nr. 44. 11 Es handelt sich um veröffentlichtes sowie um bisher unveröffentlichtes Material des Regionalarchivs Koper, Außenstelle Piran [im Folgenden: SI PAK PI]. 12 MIHELIČ, Darja, Revizija kronologije cerkvenih dostojanstvenikov na Primorskem, in: Zgodovinski časopis 59 (2005), Nr. 1/2, S. 23–44.

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(librae denariorum grossorum)13 zu entrichten. Die Diözese stellte ein Zehntel dieser Summe (6 soldi grossorum) dem Kapitel von Piran in Rechnung,14 welches den ihm vorgeschriebenen Anteil vorzeitig bezahlte. Dadurch wurde die Diözese offensichtlich ermutigt, vom Kapitel eine weitere Zahlung in der Höhe eines Fünfzehntels der Gesamtsumme zu verlangen, die sie selbst dem Heiligen Stuhl schuldete (4 soldi grossorum).15 Piran sollte demnach insgesamt 10 soldi grossorum oder ein Sechstel der Verpflichtung von Koper entrichten. Der Pfarrer von Piran bat die Diözese, von dieser Zusatzzahlung Abstand zu nehmen, und drohte, wenn nötig, sich auch beim Papst zu beschweren.16 In dieser Quelle wird Pfarrer Iohannes zum ersten Mal erwähnt. Das Kapitel von Piran trat am 15. März 1285 in Faenza in Erscheinung, wobei aber Pfarrer Iohannes nicht aktiv hervortrat. Der Bischof von Porto intervenierte auf persönliche Bitten von Osmundus, einem der Kanoniker der Kirche des Heiligen Georg in Piran, schriftlich beim Patriarchen von Aquileia, das Interdikt über die Kirche von Piran zu widerrufen.17 Dabei wurden auch Mitbrüder von Osmundus erwähnt – concanonici, der scolasticus Petrus und zwei Priester – presbiteri, Facina und „unser“ Iohannes, sowie ein Subdiakon – der subdiaconus Marcuardus. Hier handelte es sich um ein typisches Beispiel einer Bitte um Intervention oder Mediation durch eine angesehene dritte Person, die erfolgreich verlief. Man berief sich auf die Krankheit des Priesters Facina. Zwei Wochen später, am 27. März 1285, widerrief der Patriarch von Aquileia, Raymundus (Raimondo della Torre, reg. 1273–1299), in Aquileia die Exkommunikation.18 Es wird in diesem Fall nicht von Interdikt, sondern von Exkommunikation gesprochen. Ein Grund für den Kirchenbann wird nicht genannt. Im Kapitel von Piran führte Pfarrer Iohannes das Hauptwort. Am 18. August 1286 beauftragte er seinen Mitbruder, den Priester Iohannes Dives, dem kirchlichen

13 Das geltende Währungssystem: 1 libra = 20 sol(i)di = 240 denarii; 1 denarius grossus = 32 denarii parvi. Die Rechnung betrug demnach 60 soldi grossorum. 14 „[…] ego presbiter Iohannes plebanus plebis Piranensis propono et dico nomine meo et nomine capituli ecclesie prelibate, quod cum vobis et clero Iustinopolitano per venerabilem fratrem Latinum dei gratia Ostiensem et Veletrensem espiscopum ac eciam apostolice sedis legatum tres libras venetorum grossorum imposite fuerint, vos habita deliberazione ecclesiarum episcopatus Iustinopolitani, de ipsius tribus libris grossorum mihi et capitulo ecclesie Piranensis sex soldos grossorum imposueritis“, in: CP I, Nr. 158. 15 „Vos autem non adtendentes penuriam ecclesie Piranensis ad Deum postponentes, iterato de novo iam sepedicte ecclesie quattuor soldos grossorum pro vestre libito voluntatis contra Deum et iusticiam et in maximum gravamen ipsius ecclesie imposuistis“, in: ebd., Nr. 158. 16 „Quare suplico dominacionibus vestris, nomine meo et nomine capituli ecclesie Piranensis, instancia qua possumus, quatenus vobis placeat ab huiusmodi gravamine desistere. Et quia non vultis desistere, ex hoc sentiens me et capitulum Piranensem gravatum, appello ad venerabiles vices dominos Albertum cantorem et Iohannem canonicos Aquilegenses colectores et impositores dicte colecte et ad dominum legatum et ad dominum papam, si necesse fuerit“, in: ebd., Nr. 158. 17 Ebd., Nr. 182. 18 Ebd., Nr. 183.

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Kellermeister (Marquardinus) bis Allerheiligen tesenario19 uno oder diesen Wert in der Höhe von 4 soldi grossorum zu zahlen.20 Unmittelbar davor befahl der Podestà von Piran dem Schuster Iacobinus, bis Allerheiligen dem Pretus vere und dem Marquardinus, Kleriker von Piran und Kellermeister in der Kirche des Heiligen Georg von Piran („Marquardino clerico ecclesiae Pirani et nunc caniparii dicte ecclesiae Pirani“), 4 soldi grossorum oder tesenario uno zu zahlen.21 Ein inhaltlicher Zusammenhang beider Einträge ist nicht ersichtlich. Im Namen der Kirche von Piran verhandelte Pfarrer Iohannes am 3. Februar 1294 in Piran mit dem Kloster der Heiligen Maria bei Aquileia bezüglich der Pacht der Kirche S. Basso in Strunjan bei Piran.22 Am 4. März 1298 überließ derselbe Pfarrer in Piran im Namen des Kapitels (in dem neben Iohannes die Priester Iohannes Richo,23 Asmundus, Petrus und der Subdiakon Marcoardus vertreten waren) die Verwaltung dieses Besitzes dem Prior der Kirche S. Basso.24 Das ist zugleich die letzte Notiz über die Tätigkeit von Pfarrer Iohannes. PFARRER IOHANNES ALS PROFANER GESCHÄFTSMANN Neben seiner Tätigkeit für die Kirche von Piran trat Pfarrer Iohannes auch im alltäglichen Geschäftsleben auf. Er fungierte als vertrauenswürdiger Zeuge bei Geschäften von Privatpersonen, etwa am 11. Juni 1285 beim Ankauf von Wein auf Kredit25 oder am 7. April 1286 beim Ankauf von Tuch (fustagnum);26 am 11. Januar 1290 war er beim Verkauf eines Weingartens in Sečovlje bei Piran anwesend27 und 19 Die genaue Bedeutung ist nicht bekannt. 20 „Dominus presbyter Iohannes plebanus ecclesie Pirani precepi presbytero Iohanne Diues, ut det in manibus caniparii tesenario uno vel soldos denariorum grossorum IIIIor in eodem termino Omnium Sanctorum venturo“, in: Piranska notarska knjiga, Bd. 2: 1284–1288 = Quaderno notarile di Pirano, Fasc. 2: 1284–1288 (Viri za zgodovino Slovencev = Fontes rerum Slovenicarum, 9) [im Folgenden: NB 2], hrsg. von Darja MIHELIČ, Ljubljana 1986, Nr. 480. 21 Ebd., Nr. 479. 22 CP I, Nr. 215. 23 Iohannes Dives oder Richo ersetzte im Kapitel von Piran den Priester Facina, der am 1. Februar 1287 jedoch noch am Leben war. Gemeinsam mit seinem Sohn (sic) Tadeus verschuldete er sich und verpfändete ihren Weingarten in Paderno neben Piran; vgl. NB 2, Nr. 549. 24 „Nos presbiter Iohannes plebanus ecclesie Sancti Georgii de Pirano una cum canonicis nostris et capitulo eiusdem ecclesie, scilicet presbiter Iohannes Richo, presbiter Asmundus, presbiter Petrus et subdiaconus Marcoardus, canonici dicte ecclesie concedimus fratri Margarito priori ecclesie sancti Bassi de Pirano facultatem inpignandi et obligandi de terris et possessionibus et de bonis tam mobilibus quam inmobilibus a certo termino et pro certo termino dicte ecclesie sancti Bassi prout sibi melius videbitur expedire et accipere usque ad sumam solidorum viginti denariorum grossorum et de ipsis emi boves et bestias ad utilitatem ipsius ecclesie sancti Bassi“, in: CP I, Nr. 223. 25 NB 2, Nr. 187. 26 Ebd., Nr. 403. 27 Piranska notarska knjiga, Bd. 3: 1289–1292 = The Notary Book from Piran, Vol. 3: 1289–1292 (Thesaurus memoriae, Fontes, 1) [im Folgenden: NB 6], hrsg. von Darja MIHELIČ, Ljubljana 2002, Nr. 87.

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Ende Januar bei der Schenkung eines Gartens im val Meraga (Stadtteil von Piran).28 Am 2. Februar des folgenden Jahres (1291) war er Zeuge eines Ehevertrags und der Inventarisierung der Mitgift der Braut.29 Am 7. März 1292 war er bei einer Kreditaufnahme für den Ankauf von Wein zugegen,30 am 6. September 1293 Zeuge einer Erklärung des Abtes vom Kloster in Beligna bei Aquileia, in der dieser zwei Personen aus Piran bestätigte, alle Einnahmen vom Weinbau und von dem zum Kloster in Beligna gehörenden Grund erhalten zu haben.31 Am 21. April 1295 bezeugte er die Unterzeichnung eines Testamentes,32 am 18. Februar 1293 bürgte er für einen Schuldner, der Getreide auf Kredit kaufte; er war bereit, einen eventuellen Schaden bei diesem Geschäft zu begleichen.33 Zuweilen beteiligte sich Pfarrer Iohannes auch aktiv am Geschäftsleben. Vor dem 28. Mai 1281 kaufte er von dem damals bekannten Getreidehändler Martinus Lugnanus aus Caorle Getreide auf Kredit.34 Am 14. Januar 1286 erwarb er auf Kredit Tuch von einem aus der Toskana zugezogenen Geschäftsmann namens Gratius und versetzte dafür ein Grundstück auf dem Plateau des Heiligen Martin bei Piran.35 Am 5. März desselben Jahres kaufte er auf Kredit Getreide von Lapo (einem Sohn des verstorbenen Rainerius, dem Bruder des erwähnten Verkäufers aus der Toskana) und gab ihm dafür als Pfand einen Garten in Marçana (Stadtteil von Piran).36 Die Schuld zahlte er nicht zurück, das Pfand verfiel. Am 1. Dezember 1286, am Sonntag vor den beiden Messen, verkündete der Ausrufer Precacinus im Auftrag des Podestà von Piran, Marcus Curnario, dass der Garten in Marçana dem erwähnten toskanischen Gläubiger verkauft worden sei.37 Von den in seinem Besitz befindlichen Grundstücken verkaufte Pfarrer Iohannes am 17. Juni 1285 ein Viertel eines Grundstücks im Ort Loce auf der Halbinsel Savudrija (in Carse), das sich seinerzeit im Besitz seines Großvaters befunden hatte.38 Iohannes war außerdem im Besitz eines Weinberges, auf dem ein mit einem Kreuz gekennzeichneter Birnbaum stand, der am 19. Oktober 1285 bei Verhandlungen über Grenzunklarheiten zwischen den Gebieten von Piran und Izola die

28 Piranske notarske knjige – fragmenti, Bd. 5: 1289–1305 = The Notary Books from Piran – Fragments, Vol. 5: 1289–1305 (Thesaurus memoriae, Fontes, 7) [im Folgenden: NB – Fragmente], hrsg. von Darja MIHELIČ, Ljubljana 2009, Nr. 144, S. 77. 29 SI PAK PI, Notarska knjiga 10 [im Folgenden: NB 10], fol. 6v. 30 Ebd., fol. 13v. 31 Ebd., fol. 21v. 32 Ebd., fol. 23v. 33 Ebd., fol. 19v. 34 Najstarejša piranska notarska knjiga (1281–1287/89) = II più vecchio libro notarile di Pirano (1281–1287/89) (Viri za zgodovino Slovencev = Fontes rerum Slovenicarum, 7) [im Folgenden: NB 1], hrsg. von Darja MIHELIČ, Ljubljana 1984, Nr. 3. 35 NB 2, Nr. 340. 36 Ebd., Nr. 382. 37 Ebd., Nr. 508; vgl. ebd., Nr. 382. 38 Ebd., Nr. 139.

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Grenze markierte.39 Am 15. und 20. April 1292 wird Pfarrer Iohannes als Besitzer eines Gartens in Carara maiora (Stadtteil von Piran) erwähnt.40 Einige Male trat Pfarrer Iohannes auch als Beteiligter in geschäftlichen Streitigkeiten auf. Am 2. Oktober 1290 wurde seiner gegnerischen Partei eine achttägige Frist verordnet, um sich mit Iohannes bezüglich eines strittigen Grundstücks in Fizine bei Piran zu einigen.41 Am 2. März 1291 forderte der Podestà eine bei Iohannes verschuldete Person auf, binnen fünfzehn Tagen die Schuld zurückzuzahlen.42 Sofern die unangemessene Geschäftstätigkeit des Pfarrers Schwierigkeiten bereitete, oblag das Urteil seinem Mitbruder, dem scolasticus Petrus. So setzte dieser am 30. Januar 1291 Iohannes eine Frist für den Vergleich mit Almerigota, der angesehenen Witwe des Henricus Taglacoçius, bezüglich einer hohen Summe an unberechtigt eingenommenem Geld.43 Die Zahlungsaufforderung, mit der die Witwe ihren Anspruch geltend gemacht hatte, folgte noch am selben Tag.44 Scolasticus Petrus setzte Pfarrer Iohannes auch am 6. Februar 1291 im Prozess mit Andalus, dem Sohn des erwähnten Verstorbenen, eine Frist für einen Vergleich.45 Am 13. März beauftragte Pfarrer Iohannes den Priester Adalgerius als Vertreter seiner Interessen im Prozess mit der Witwe und ihren Kindern.46 Am 24. März kam es zur Gegenüberstellung der Parteien vor Priester Petrus. Andalus brachte die Übereinkunft und ein Urteil des Richters von Umag mit. Petrus trat bei dieser Gelegenheit zurück und erklärte seine Unzuständigkeit für ein Urteil in dieser Sache.47

39 „Pirus cruce signatus que est in vinea presbiteri Iohannis plebani sancti Georgii de Pirano“, in: CP I, Nr. 185. 40 NB – Fragmente, Nr. 39, S. 133f.; Nr. 43, S. 135. 41 NB 6, Nr. 263. 42 Ebd., Nr. 355. 43 „[…] dominus presbyterus Petrus scolastico de ecclesia Pirani locauit terminum dominum plebanum respondere domina Almerigota vxor condam Henrici de libris L, quod ei petit pro male ablat(is), hinc ad VIII dies proximi venturi“, in: ebd., Nr. 311. 44 „[…] domina Almerigota vxor condam Henrici Taglacoçii coram domino presbytero Petro scolastico petit in ratione domino plebano libras L, quas ei acepit iniuste pro male ablati nomine et ocas(ione) de libris C, quod dictus plebanus acepit viro suo Henrico de grosi Veneti, medietatem“, in: ebd., Nr. 312. 45 Ebd., Nr. 317. 46 Ebd., Nr. 380. 47 „Cum Andalo condam Henrici Taglacoçi veniset coram domino presbytero Petro scolastico ecclesie Sancti Georgii de Pirano petente rationem supra dominum presbyterum Iohanem plebanum dicte ecclesie cum vno compromiso et cum vna sententia dapta per dominum plebanum Vmagi iudes domini alegati, qui dominus scolasticus respondit et dixit, quod de dicta questione non potuit se inbrigare nec facere rationem, quia eum non pertinet facere dicta ratione“, in: ebd., Nr. 400.

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DIE FAMILIÄREN VERBINDUNGEN VON PFARRER IOHANNES Testamente sind Quellen, die einen hervorragenden Einblick in eine Familie ermöglichen. Iohannes ließ zwei anfertigen, am 6.48 und am 7. August 129149 (die Abschriften beinhalten alle Besonderheiten und Unzulänglichkeiten des Originals). Nach der Ausfertigung des Testamentes lebte er noch mindestens bis März 1298. In beiden Quellen unterscheiden sich sowohl die angeführten Zeugen als auch die 48 „Anno Domini MCCLXXXXI, indicione IIII, die VI intrante Agusti, presentibus dominis Nicola Pica, Anoe Apelonii, Garofulo, Petro Bello, Dominico Çaneti et Çugno et aliis. Cum dominus Iohanes plebanus ecclesie Sancti Georgii de Pirano iacent infirmo in suo leto, sua sana mente tale condidit suum testamentum: In primis dimisit laborerio Sancti Georgii soldos X, supra corpus soldos XX, ad susidium Terre Sancte grosi II. Item dimisit (VI) terra suam cum auliuariis in Fixine dimisit filii sui Prodeçano et Almerico pro anima sua. Item dimisit filia sua Pauçolina sua domus, quod est pistrino, cum dicto pistrino pro anima sua. Item dimisit medietate vnius domus, quod est apud corte, cum meça corte ad Prodeçano et Almerico pro anima sua. Item dimisit alia sua medietatem. Item dimisit aliam suam medietate domus cum corte ad filii Çacarie et filii Maladrini. Item omnes sui vaselame ad Pauçolina et ad Almerico et ad Prodeçani et omnes sui feri eidem. Item dimisit vnum lectum ad Pauçolina, quod fuit matre sua. Item dimito suum lectum coreatum, quod fuit patre suo, ad Iacomina. Item sua arçela noua ad Iacomina. Et omnia alia sua masaria dimisit ad filii sui Almerico et Pauçolina et Prodeçano. Taliter si vnus decidiset sine etatem, veniad in altri. Et si omnes decidiset sine etatem, veniad in sui plus propinquis. Item dimisit omnia alia sua(m) bona mobila et in non mobila dimisit filii sui Almerico et Prodeçano et Pauçolina. Item adsoluit filii Henrici Taglacoçi de (totum illud, quod ipse vlutur ab eo) de vno instrumento confeto manu mei notarii de regreso. Item dimisit soldos XXII minus denarios IIII ad Simono Prodeçano. Item fuit confesus, quod vna caldera, quod ipse habet, est totum de domino presbytero Iohane Diuide. Item dimisit vnum chalixe, quod est ecclesia Sancte Marie Rose, quod est in pigno, ad scodere cum sui bonis et soldos XX plus. Item grosi VII ad Dominico Çaneti. Item dimisit suum fidelem comisarium dominum presbyterum Adalgerum“, in: ebd., Nr. 561. 49 „C Die VII intrante Agosti, presentibus domino presbytero Adalgerio, Adalperrio Vigle, Çugno, Garofulo, Çacaria notario, domino presbytero Leçario Iustino et aliis. Testamentum domini presbyteri Iohanis plebani: In primis dimisit laborerio Sancti Georgii soldos XX, supra corpus soldos XX, ad susidium Terre Sancte soldos X, suo presbytero penitentie soldos V. Item dimisit libras X sororibus suis Gardose et (Aldig) Ricarde ad prouidendum de anima sua, sicut eis melius videbitur. Item soldos XXX Romice Sancti Blasii Iustini. Item dimisit filia sua Paucolina domus, quod est pistrino, cum dicto pistrino et I lectum coreatum, quod fuit matre sua, et I chasela ante parte pro anima sua. Item dimisit Iacomine vnum letum (coreatum), quod fuit patre suo, et vna arçela noua et V (clamidem, quam ipsa habet). Item dimisit sua chota noua domino presbytero Leçario Iustino. Item dimisit sua chota uetera ecclesia Sancti Stefani ad seruire ad corpus Domini. Item dimisit libras VIII ad scodere claliçe, quod Petrus Broglaloso habet in pigno, quod est ecclesia Sancte Marie Rose. Et si non peterit habere, tunc dimito dicta ecclesia libras VIIII pro dicto caliçe. Item dimito emere I canpana ecclesia Sancti Iacobi de libris IIII. Et omnia alia sua bona mobila et in non mobila dimisit filia sua Pauçolina et filii sui Almerico et Prodeçano pro anima sua. Taliter si vnus decidiset sine etatem, tunc veniad in altri. Et si omnes decidiset sine etatem, tunc veniad in meis pluris propinquis. Item dimisit vnum regreso, quod ipse habet supra bona condam Henrici Taglacoçi, (ad) in manibus sorori filie Gardose ad facere, sicud ei melius uidebitur. Confeto manu mei notarii. Item dimisit filii sui cum bonis in totoria fratri sui Andree. Item dimisit suum fidelem comisarium fratrem suum Andrea ad dispensadum omnia antedicta pro anima sua. Item dimisit sorori sue Ricarde vnum suum clamidem ipre“, in: ebd., Nr. 562; CP I, Nr. 209.

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Höhe und die Adressaten der Legate, ja sogar die Testamentsvollstrecker. Die Höhe der Legate für fromme Zwecke variiert ein wenig, im zweiten Testament wird eine Bezahlung für den Beichtvater (presbyter penitentie) festgehalten, die im ersten fehlt. Beide Testamente nennen als Legate einen Olivenhain in Fizine bei Piran, ein Haus mit einem Backofen, Haus und Hof sowie folgende Inneneinrichtung: zwei Betten, Fässer, Gegenstände aus Eisen, Truhe und Kessel und daneben auch Geldgeschenke. In beiden Quellen tauchen drei Kinder von Iohannes auf, die Söhne Prodeçanus und Almericus sowie die Tochter Pauçolina. Im zweiten Testament werden unter den Erben zwei Schwestern von Iohannes, Gardosa und Ricarda, aufgeführt, die im ersten Testament fehlen. Als Testamentsvollstrecker wird im zweiten Testament Bruder Andreas bestimmt, während diese Rolle in der ersten Version Priester Adalgerus zukam. In beiden Versionen vermisst man die Schwester Beatrice, die aus anderen Quellen („Beatrice plebani, soror plebani, soror domini plebani“) bekannt ist: Am 23. Februar, 9. Mai, 23. Juni und 18. Dezember 1285 kaufte sie auf Kredit Getreide.50 Vermutlich weilte sie zur Zeit der Testamentserstellung nicht mehr unter den Lebenden, da Iohannes sie sonst gewiss bedacht hätte. Die Testamente erwähnen keine Frau von Iohannes, wohl aber vermachte Iohannes Bett und Truhe einer gewissen Iacomina. Es ist nicht bekannt, welche Rolle sie in seinem Leben spielte. Iohannes hatte sicherlich eine Ehe hinter sich, da in den Quellen ein Schwager erwähnt wird – der Bruder seiner Frau, Petrus aus Buje („cugnatus de plebano, cugnatus domini plebani de Pirano“), als Schuldner in Schuldscheinen vom 21. Juli,51 28. Dezember 129152 und 24. Juni 129253 angeführt. In den Quellen wird nicht überliefert, wie diese Ehe endete. DIE NACHFOLGE DES IOHANNES UND DIE TRADITION DER (NICHT-)ENTHALTSAMKEIT UNTER DEN KIRCHLICHEN WÜRDENTRÄGERN IN PIRAN Dass Priester Kinder hatten, war im Piran des 13. Jahrhunderts nicht unüblich. Auch Facina, Mitglied des Kapitels, hatte einen Sohn, Tadeus, den er erfolgreich in das Geschäftsleben einführte. Mit ihm gemeinsam nahm er am 1. Februar 1287 einen Kredit auf und versetzte dafür den gemeinsamen Weingarten in Paderno bei Piran.54 Anscheinend übernahm für kurze Zeit plebanus Alger(i)us oder Adelgerus die frühere Funktion von Iohannes als Erster im Kapitel. Im untersuchten Material wird Priester (presbiter) Adalgerius aus Piran am 21. Dezember 1279 zum ersten Mal erwähnt, als er in Koper Vertretern der Diözese einen Teil des Zehnts übergab, den die Kirche von Piran der Diözese schuldete.55 In einer ähnlichen Funktion wird er 50 51 52 53 54 55

NB 1, Nr. 754, 920, 946; NB 2, Nr. 304. SI PAK PI, NB 10, fol. 8v. NB – Fragmente, Nr. 4, S. 125f. Ebd., Nr. 51, S. 138. NB 2, Nr. 549. CP I, Nr. 160.

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auch am 24. Dezember 1290 erwähnt.56 Dass er mit Pfarrer Iohannes ein enges Verhältnis pflegte, geht daraus hervor, dass ihn Iohannes als Vertreter seiner Interessen im Prozess mit Almerigota und ihren Kindern beauftragte. In seinem ersten Testament bestimmte Iohannes ihn zum Vollstrecker seines letzten Willens, während Adalgerius im zweiten Testament als Zeuge anwesend war. Auch er hielt sich nicht an das Gebot der Enthaltsamkeit. Am 13. Juli 1301 wird sein Sohn (E)ricus, in dessen Haus es zur Absprache gekommen war, als einer der Schiedsrichter bei der Teilung eines Weinberges erwähnt. Er war der Sohn des (damals) schon verstorbenen Pfarrers A(da)lger(i)us („Ricus condam Adalgeri plebani, Ericus condam Algerii plebano“).57 Drei Jahre später, am 1. Mai 1304, fungierte Rigo, der Sohn des verstorbenen Pfarrers Algerus („Rigo condam Algero plebano“) als (Mit-)Gläubiger für einen Ochsen.58 Derselbe Henricus („Henricus filius condam domini Adalgerii plebani“) wird auch als Zeuge in einem Testament vom 17. Oktober 1308 angeführt.59 Auf Adalgerius folgte Marquardus als Erster im Kapitel. Am 15. März 128560 und am 4. März 129861 wird Marcuardus beziehungsweise Marcoardus als Subdiakon und Kanoniker der Kirche des Heiligen Georg in Piran erwähnt. Am 18. August 1286 war er kirchlicher Kellermeister („Marquardinus clericus ecclesie Pirani nunc caniparius dicte ecclesie“).62 Am 18. März 1303 findet presbyter Marquardus, marichalus der Kirche des Heiligen Georg in Piran als Zeuge auf einem Schuldschein Erwähnung.63 Zehn Tage später (am 28. März) war dominus Marquardus diaconus et primocerius der Kirche des Heiligen Georg in Piran Gläubiger für einen älteren Schuldschein vom 13. Juli 1290.64 Wir begegnen presbiter Maquado (sic) Apollonio auch am 1. Juni 1303: Er besaß einen Weinberg in Kaštinjol.65 Der Geistliche Marquardus, plebanus ecclesie Sancti Georgii de Pirano wird des Weiteren am 30. Juni 1319 erwähnt. In der Quelle sind ferner der damalige Kanoniker des Kapitels, Petrus Corbo, Facina und Berardus, der Kämmerer des Kapitels, verzeichnet.66 Offensichtlich lebten in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts etliche Priester in Piran nicht nach den Regeln des Zölibats. Es sieht nicht danach aus, als hätte das jemanden gestört – schon gar nicht sie selbst oder ihre Umgebung, aber auch die

56 Ebd., Nr. 202. 57 Piranska notarska knjiga, Bd. 4: 1298–1317 = The Notary Book from Piran, Vol. 4: 1289–1292 (Thesaurus memoriae, Fontes, 4) [im Folgenden: NB 13], hrsg. von Darja MIHELIČ, Ljubljana 2006, Nr. 416. 58 Ebd., Nr. 193. 59 SI PAK PI, NB 15, fol. 13v. 60 CP I, Nr. 182 (Marcuardus). 61 Ebd., Nr. 223 (Marcoardus). 62 NB 2, Nr. 479. 63 SI PAK PI, NB 11, fol. 17. 64 Ebd., fol. 18. 65 NB 13, Nr. 153. 66 SI PAK PI, NB 14, fol. 5.

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übergeordnete Diözese Koper bekämpfte, soweit bekannt, das Familienleben der Priester nicht. Die Praxis des nicht enthaltsamen Lebenswandels wurde bis zum Konzil von Trient und darüber hinaus angewandt. Der Bischof von Verona, Agostino Valier (1565–1599),67 den Papst Gregor XIII. (1572–1585) zum apostolischen Visitator der Diözesen in Dalmatien und Istrien ernannt hatte, traf bei der Visitation der Diözese Koper 1580 auf einige Priester, die das Prinzip der Enthaltsamkeit missachteten. Ein Beispiel ist der Fall des Pfarrers der Kirche des Heiligen Michael in Krkavče, Ioannes Carpan, der bereits erwachsene und verheiratete Kinder, einen Sohn und eine Tochter, hatte, aber während seiner Tätigkeit als Pfarrer von Krkavče enthaltsam lebte.68 Der Pfarrer der Kirche des Heiligen Saba in Kaštel, Andreas, lebte mit Catharina, einer Witwe und Tochter eines gewissen Thomas zusammen, mit der er eine Tochter von etwa drei Jahren hatte. Er soll nicht besonders gewissenhaft gewesen sein und zog es vor, Verpflichtungen zu vernachlässigen. Zwei Säuglinge verstarben deshalb ohne Sakrament ebenso wie drei Frauen ohne Beichte.69 Der Pfarrer der Kirche des Heiligen Antonius in Dvori (Korte) oberhalb von Izola hatte zwei Söhne, jedoch nicht in seinem Haus; der jüngere war zwanzig Jahre alt, der ältere lebte in Venedig.70 Auch der Pfarrer der Kirche zum Heiligen Florian in Kubed hatte einige Tage lang eine Konkubine bei sich.71 Der Visitationsbericht gibt ausführlich Auskunft über die Untersuchung des unmoralischen Lebenswandels des attraktiven jüngeren Priesters Iohannes Dominicus de Cleris, eines Priesters in Izola, der den Freuden des weltlichen Lebens – Frauen, Alkohol und Glücksspiel – nicht entsagen wollte. Er begann eine Beziehung mit zwei verheirateten Frauen, mit Catharina, der Frau von Giouanino della Boa, und mit Flosnouella, der Frau von Thomasinus de Andriolis. Dieser ertappte den Priester mit seiner Frau hinter verschlossenen Türen bei sich zu Hause. Der Priester sprang aus Angst durch das Fenster und flüchtete in das Kloster der Heiligen Katharina. Bei der Flucht verlor er seinen Überzieher. Mit diesem eklatanten Beweis strengte Thomasinus vor dem Bischof von Koper eine Klage gegen Pfarrer Iohannes Dominicus an. Da in der Diözese gerade eine Visitation durchgeführt wurde, übergab der Bischof die ganze Angelegenheit dem Schiedsgericht des Visitators, vor dem zahlreiche Personen verhört wurden. Der Vernehmende, Kanonikus Taffellus de Tafellis aus Verona, bestrafte den Priester von Izola mit zehnjähriger Verbannung aus Istrien. Sollte er trotzdem innerhalb des istrischen Gebietes ertappt werden, müsste er jener Person, die ihn erwischt hatte, 50 librae zahlen, danach sollte er für einen Monat gefangengesetzt, nach dem Verbüßen der Strafe jedoch erneut verbannt werden.72

67 Vizitacijsko poročilo Agostina Valiera o koprski škofiji iz leta 1579 = Istriae visitatio apostolica 1579, Visitatio iustinopolitana Augustini Valerii, hrsg. von Ana LAVRIC, Ljubljana 1986. 68 Ebd., S. 101. 69 Ebd., S. 106f. 70 Ebd., S. 110. 71 Ebd., S. 122. 72 Ebd., S. 156–169.

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Darja Mihelič

SCHLUSSBETRACHTUNG Welche Schlüsse können aus den behandelten Aspekten hinsichtlich des Lebens der Priester in Piran im späten 13. Jahrhundert gezogen werden? Offensichtlich waren die Priester nicht nur dem geistlichen Leben und der Religion ergeben, sondern sie lebten ein ziemlich alltägliches weltliches Leben. Sie besaßen viele private weltliche Güter. Sie betrieben verschiedene Geschäfte. Gegenüber ihren Mitbürgern waren sie nicht immer korrekt, manchmal verlangten sie unberechtigt von ihnen Geld. Viele Geistliche bekamen Nachwuchs, es ist jedoch nicht bekannt, ob aus ehelichen oder unehelichen Partnerschaften. Das erregte damals keinen Anstoß, weder in der weltlichen Umgebung noch bei der Kirche. Diese Realität wurde am Beispiel eines Falles aus Piran dargestellt, das ein Archiv mit sehr reichhaltigen Quellen aus dem Mittelalter besitzt. Obwohl hier nur ein Priester im Mittelpunkt stand, nennen die Archivalien viele ähnliche Beispiele. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass Piran im Hinblick auf das Leben seiner Geistlichkeit im 13. Jahrhundert anders war als die übrigen istrischen Städte. Im Gegenteil: Sehr wahrscheinlich gab es eine analoge Praxis auch in anderen Orten des venezianischen Istriens. Da sich die Lebensgewohnheiten nicht über Nacht ändern, können diese Besonderheiten in dem hier dargestellten kurzen Zeitraum wohl auch für frühere und spätere Zeiten angenommen werden. Das Konzil von Trient machte eheliche Gemeinschaften von Priestern unmöglich, die menschlichen Triebe konnten jedoch nicht ausgerottet werden. Nach dem Konzil gab es zwar keine Eheschließungen von Priestern mehr. Doch das nicht selten auftretende Phänomen des Lebens von Klerikern in einer eheähnlichen, wenngleich informellen Gemeinschaft kehrt in der Kirchengeschichte immer wieder. Kirchliche Visitationen registrierten solche Fälle und versuchten, sie abzustellen.

DAS MITTELALTERLICHE BOSNIEN: EINE POLITISCHE BÜHNE DES „MIKROCHRISTENTUMS“ Dubravko Lovrenović DIE TRANSLATIO SEDIS UND DIE ENTSTEHUNG DER BOSNISCHEN RELIGION In der historischen Forschung wandelte sich die Perspektive von der Kirchen- zur Religionsgeschichte, da diese Entwicklungen auch unter verschiedenen Gruppen nachweisen kann, die sprachlich, ethnisch und religiös als relativ nah betrachtet werden müssen. In diesem Sinne können wir auch die „Mikrochristentümer“ des frühen Mittelalters analysieren, die sich einerseits zwar ähnelten, andererseits jedoch ziemlich unterschiedlich waren.1 Das mittelalterliche Bosnien mit seiner interkonfessionellen, durch Grabdenkmäler (stećci) gekennzeichneten Landschaft stellt einen geeigneten Schauplatz solcher „Mikrochristentümer“ dar, das heißt des Katholizismus, der Orthodoxie und der schismatischen bosnischen Religion. Diese Dreiteilung entwickelte sich zunächst infolge der Einmischung des Papstes in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts2 und infolge der territorialen Ausdehnung Bosniens auf die umliegenden, unter der Jurisdiktion der katholischen und der orthodoxen Kirche stehenden Gebiete im Laufe des 14. Jahrhunderts.3 So kam es zur Abweichung von der üblichen Regel – cuius regio, eius religio –, weil die Herrscher und der Adel zwischen der katholischen, der orthodoxen und der bosnischen Konfession lavierten.4 Hier werde ich den Fokus auf die politische Dimension des Problems legen und die katholische und die schismatische bosnische Konfession betrachten, die in der bosnischen Öffentlichkeit des 14. und 15. Jahrhunderts dominierten. Mehr oder weniger bekannte Umstände sorgten dafür, dass das mittelalterliche Bosnien Mitte des 13. Jahrhunderts seines katholischen Bistums beraubt wurde. 1

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MOSTERT, Marco, New Perspectives for the Study of East Central European Christianization? Christian Behaviour in Utrecht Hagiography, in: Early Christianity in Central and East Europe (Christianity in East Central Europe and its Relations with the West and the East, 1), hrsg. von Przemysław URBAŃCZYK, Warschau 1997, S. 175–186, hier S. 175. LOVRENOVIĆ, Dubravko, Translatio sedis i uspostava novog konfesionalnog identiteta u srednjovjekovnoj Bosni (Neke istraživačke pretpostavke), in: Franjevački samostan u Gučoj Gori, hrsg. von Velimir VALJAN und Ivan LOVRENOVIĆ, Guča Gora/Sarajevo 2010, S. 113– 125. ĆIRKOVIĆ, M. Sima, Istorija srednjovekovne bosanske države, Belgrad 1964, S. 108–112. DŽAJA, M. Srećko/LOVRENOVIĆ, Dubravko, Srednjovjekovna crkva bosanska, in: Svjetlo riječi, Januar 2007, S. 3–14, hier S. 10.

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Dessen Sitz wurde nach Đakovo auf das unter der Souveränität des Königreichs Ungarn stehende Territorium verlegt.5 Dies führte zur Entkatholisierung beziehungsweise zu Konversionen vom katholischen Glauben zum Schisma, das aus den Dubrovniker Quellen als die „Bosnische Religion“ (la fede Bosignana) bekannt ist.6 Möglich war dies, weil der Bischof in Đakovo dauerhaft von Bosnien getrennt blieb und keine Befehle außerhalb seiner Diözese geben konnte.7 Neben der Verlegung des Bistums von Bosnien nach Đakovo existierte ein weitaus größeres Problem: nämlich einen geeigneten Zeitpunkt festzulegen, an dem der katholische Bischof durch den Djed (Eparch), ein neues, schismatisch orientiertes Amt in der bosnischen Kirche, ersetzt werden sollte. Dies wirft die Frage auf, ob die translatio sedis eine neue religiöse Ordnung und eine neue Konfession schuf oder ob die neue Konfession die Verlegung des Bischofssitzes verursacht hat. Um zwischen der theologischen und der ideologischen Dimension des Problems zu unterscheiden, ist es notwendig, auch der folgenden Frage nachzugehen: Handelte es sich bei der Entstehung der bosnischen Kirche um eine politische Wende mit Folgen für die konfessionelle Landschaft oder um eine konfessionelle Wende mit Konsequenzen für die Politik?8 Laut Jaroslav Šidak hängt der Beginn der bosnischen Kirche mit der unter Papst Gregor IX. im Jahr 1233 stattgefundenen Absetzung des bosnischen Bischofs zusammen.9 Die Beseitigung des im Dienst der Slawen stehenden Bischofs und der Abbruch der Beziehungen zwischen dem Erzbistum von Dubrovnik und dem bosnischen Bistum hatte weitreichende Folgen, weil die bosnischen Bischöfe keine zentrale Rolle mehr für die Priesterweihe spielten, wodurch sie zunächst in die Isolation und anschließend zum Schisma gedrängt wurden.10 Mit diesem Akt verabschiedeten sich die Ragusaner von den jahrhundertelangen Bestrebungen, ihre Stadt zu einem Erzbistum zu erheben, das auch weite Gebiete im Landesinnern umfassen sollte.11 Wenn man die institutionellen Veränderungen genauer betrachtet, deutet alles darauf hin, dass die aus den Quellen des 14. und 15. Jahrhunderts bekannte bosnische Kirche „organisch aus der [katholischen] ecclesiae bosnenis“ erwachsen ist.12 Darüber hinaus gibt es Anzeichen dafür, dass sich das slawische Priestertum des 5

ŠIDAK, Jaroslav, „Ecclesia Sclavoniae“ i misija dominikanaca u Bosni, in: DERS., Studije o „Crkvi bosanskoj“ i bogumilstvu, Zagreb 1975, S. 177–209. 6 GELCICH, József/THALLÓCZY, Lajos, Diplomatarium relationum Reipublicae Ragusanae cum regno Hungariae, Budapest 1887, S. 153. 7 ULLMANN, Walter, A History of Political Thought. The Middle Ages, Harmondsmouth 1965, S. 196. 8 DŽAJA/LOVRENOVIĆ, Srednjovjekovna crkva bosanska, S. 6. 9 ŠIDAK, „Ecclesia Sclavoniae“, S. 207f., Anm. 135f. 10 DŽAJA/LOVRENOVIĆ, Srednjovjekovna crkva bosanska, S. 7. 11 PRLENDER, Ivica, Crkva i država u srednjovjekovnom Dubrovniku, in: Tisuću godina dubrovačke (nad)biskupije, hrsg. von Želimir PULJIĆ und Nediljko A. ANČIĆ, Dubrovnik 2001, S. 325–338, hier S. 334f. 12 ĆIRKOVIĆ, M. Sima, Bosanska crkva u bosanskoj državi, in: Prilozi za istoriju BiH, Bd. 1: Društvo i privreda srednjovjekovne bosanske države (Odjeljenje društvenih nauka, 17), Sarajevo 1987, S. 191–254, hier S. 205f., und ältere Literatur.

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katholischen Bistums in Bosnien für eine andere Konfession und einen auf der Religion des Heiligen Basilius basierenden Ordenstypus entschied.13 Mit einer ähnlichen Situation wie in Bosnien hatte der griechische Klerus zu kämpfen, der nach dem Fall von Konstantinopel im vierten Kreuzzug 1204 die lateinische Herrschaft ablehnte und sich für das Exil entschied.14 In Bosnien wurde die Trennung auf rechtlicher Ebene durchgeführt, so dass sich die bosnische Kirche als eine Kirche sui iuris gründete. Die Entstehung der bosnischen Kirche war also primär das Ergebnis eines politischen Umsturzes mit Auswirkungen auf die Religion. Vereinfacht gesagt: So wie das frühe Christentum eine Sekte des Judaismus gewesen war, galt nun auch das schismatische bosnische Christentum als eine Sekte innerhalb des Katholizismus. Dieser Prozess war mit der Auflösung der alten und der Entstehung einer neuen kirchlichen Institution verbunden, dem Djed der bosnischen Kirche, dessen erstes Erscheinen John Fine und Sima Ćirković in das dritte Viertel des 13. Jahrhunderts einordnen.15 Eine solche Datierung wird durch das Verzeichnis der bosnischen Kirchenoberhäupter ermöglicht, das 1393 in das Evangelium des bosnischen Adeligen Batalo Šantić Eingang fand. Dieses Verzeichnis findet sich unter dem Titel „Untersuchungen über Häresie“ in einem Werk des Dominikaners Anselmo von Alessandria wieder. Es enthält Angaben über die Ernennung eines neuen Bischofs in Bosnien.16 Etwa ein halbes Jahrhundert später wurde der „Eparch Radoslav“ neben anderen bedeutenden Mitgliedern der bosnischen Kirche in einer 1326/29 in Moštre bei Visoko ausgestellten Urkunde des Bans Stjepan II. Kotromanić erwähnt.17 Dabei trat der Herrscher selbst als Anhänger der bosnischen Kirche auf. In der bosnischen Öffentlichkeit entstand „die östliche Basis im westlichen Milieu“.18 Die Phase des schismatischen bosnischen „Mikrochristentums“ war ein neuer kultureller Zustand. Den Grundstein legte die bosnische Kirche, die sich an der Grenze zwischen der katholischen und der orthodoxen Kirche befand und – von beiden abgelehnt – ein Ausdruck der „gesellschaftlichen Individualität des mittelalterlichen Bosniens“ war.19 Zusätzlich zum katholischen und orthodoxen bildete sich mit dem schismatischen bosnischen ein dritter religiöser Raum heraus. Dem 13 MILETIĆ, Maja, I „krstjani“ di Bosnia alla luce dei loro monumenti di pietra (Orientalia Christiana Analecta, 149), Rom 1957, S. 55f., 119–121, 131f., Tab. VII, S. 179–185. 14 RUNCIMAN, Steven, The Eastern Schism. A Study of the Papacy and the Eastern Churches during the XIth and XIIth centuries, London 1955, S. 152f. 15 FINE, John V. A., Aristodios and Rastudije, in: Godišnjak društva istoričara Bosne i Hercegovine 16 (1965), S. 223–229, hier S. 227f.; ĆIRKOVIĆ, Bosanska crkva, S. 202, Anm. 22. 16 „Dann kamen“, sagt Anselmo, „einige Menschen aus Slawonien, d.h. aus dem Land, das sich Bosnien nennt, in Handelsangelegenheiten nach Konstantinopel. Als sie in ihr Land zurückkehrten, predigten sie (die falschgläubige Lehre) und als die Anzahl ihrer Anhänger stieg, ernannten sie einen Bischof, der sich als Bischof von Slawonien oder Bosnien bezeichnete.“; vgl. ŠANJEK, Franjo, Bosansko-humski krstjani u povijesnim vrelima (13.–15. st.), Zagreb 2003, S. 136f. 17 THALLÓCZY, Lajos, Istraživanja o postanku bosanske banovine sa naročitim obzirom na povelje körmendskog arkiva, in: Glasnik Zemaljskog muzeja 18 (1906), S. 401–444, hier S. 404f. 18 RAUKAR, Tomislav, Hrvatsko srednjovjekovlje – prostor, ljudi, ideje, Zagreb 1997, S. 282. 19 Ebd., S. 263f., 282.

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bisherigen Schlagabtausch zwischen Katholizismus und Orthodoxie20 wurde nun eine weitere Komponente hinzugefügt. Das Ereignis, an dem die Einheit der Kirche im mittelalterlichen Bosnien zerbrach, war irreversibel, da das Land sein Bistum auf Dauer verloren hatte. Es fügte sich jedoch in den Kontext der Entwicklung der Kirchen im östlichen Mitteleuropa während des 12. und 13. Jahrhunderts ein: Im südlichen Teil des ostadriatischen Raums kam es zu einem dauerhaften Wechsel von Vor- und Rückwärtsbewegungen des Katholizismus und der Orthodoxie, zur Auflösung und Wiedergründung von (Erz-)Bistümern und Eparchien, zum Wandel der religiösen Identität infolge von Konversionen vom katholischen zum orthodoxen Glauben und umgekehrt sowie zu militärischen Konflikten. DIE POLITISCHE UND KONFESSIONELLE DIMENSION DER KONVERSION VOM KATHOLISCHEN ZUM SCHISMATISCHEN BOSNIEN Der Adel akzeptierte die bosnische Kirche als institutionellen Rahmen für einen neuen christlichen Glauben, der aus den Quellen als der „bosnische Glaube“, die „wahre Religion“, der „wahre apostolische Glauben“ oder „unser Gesetz“21 bekannt ist. Der Rückzug des Dominikanerbischofs Ponsa aus Bosnien und die Wahl des schismatischen bosnischen Eparchen beseitigten die traditionelle Einmischung des Bischofs in das Sakrament der Taufe und der Konfirmation und verursachten die Stagnation des religiösen Lebens sowie einen Rückgang der Zahl der Gläubigen. Diese Situation beschreiben zum Beispiel die Quellen zum bosnischen Sklavenhandel vom Ende des 13. Jahrhunderts, die von „Patarenern“ und nicht getauften Personen berichten.22 Den neuen „Zustand der Seelen“ bezeugt ein Schriftstück mit dem Titel Dubia ecclesiastica („Kirchliche Unklarheiten“) aus den Jahren 1372/73, das eine Antwort eines päpstlichen Ausschusses unter Gregor XI. auf die Fragen des bosnischen Vikars Bartol Alvernski ist: „Wegen des Mangels an den bereits genannten Brüdern, die es nicht schaffen können, eine so große Menschenmenge zu taufen“, befänden sich die Franziskaner in einem Dilemma. Fra Bartolommeo war sich offensichtlich nicht darüber im Klaren, wie er bei den kirchlichen Riten, Taufen, Hochzeiten, der Sündenvergebung usw. verfahren sollte.23 Auch dreißig Jahre nach der Gründung des Vikariats standen der katholischen Kirche in Bosnien offenbar zahlreiche Hindernisse im Weg. Der neue Zustand spiegelt sich im Übergang der kirchlichen Bauwerke in das Privateigentum des Adels sowie in der Einrichtung des Laienpatronats in den Kir-

20 RUNCIMAN, Eastern Schism, S. 157f.; RAUKAR, Hrvatsko srednjovjekovlje, S. 263. 21 DŽAJA/LOVRENOVIĆ, Srednjovjekovna crkva bosanska, S. 10. 22 TENŠEK, Tomislav, Krstjani i trgovina robljem na sredozemlju između 13. i 15. stoljeća, in: Fenomen „krstjani“ u srednjovjekovnoj Bosni i Humu, Sarajevo/Zagreb 2005, S. 309–334, hier S. 322, 326–328, 331f. 23 ŠANJEK, Bosansko-humski krstjani, S. 266–281.

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chen wider. Bosnien reagierte auf das ungarische Patronatsrecht mit dem Patronatsrecht des Adels, der bei der Entkatholisierung des Landes eine Schlüsselrolle spielte. Ein Indiz für diese Entwicklung ist insbesondere die Verehrung des Patrons der Dynastie, Gregor des Wundertäters, seit dem Anfang des 14. Jahrhunderts.24 Dieses schismatische bosnische, durch den Adel „privatisierte“ Christentum beschnitt die päpstlichen Reformen aus dem 11. Jahrhundert, die Simonie und die Kontrolle des Patronats durch Laien – die zwei mächtigsten Einflussmöglichkeiten auf die klerikale Gesellschaft – außer Kraft gesetzt hatten.25 Wenn man bedenkt, dass sich der Katholizismus im mittelalterlichen Bosnien nie wieder als eine klassische feudale Kirche mit einem Fürstbischof an der Spitze etablieren konnte, dann lassen sich die laizistischen Merkmale der bosnischen Gesellschaft besser verstehen. Das Ergebnis dieser Entwicklung zeigt etwa das Patronat der bosnischen Adelsfamilie Pavlović, das dem adeligen Patron das Beerdigungsrecht zugestand.26 Auf die Übermacht des schismatischen bosnischen Christentums antwortete das Papsttum mit einem „liberaleren“, in den Dubia ecclesiastica enthaltenen Programm, nach welchem die Franziskaner zusammen mit den „ausgestoßenen Häretikern und Ketzern [...] an Gottesdiensten, Gesprächen, Mahlzeiten und Sonstigem“27 teilnehmen durften. Eine solche Herangehensweise der päpstlichen Theologen an eine dermaßen empfindliche Angelegenheit, wie beispielsweise die gemeinsame Durchführung von Gottesdiensten mit Nichtkatholiken, lässt erahnen, dass ein Fundament in der Gesellschaft und im politischen Milieu des mittelalterlichen Bosnien existierte, das Interkonfessionalität ermöglichte. Es gab allerdings einen wesentlichen Unterschied zwischen der bosnischen und der serbisch-orthodoxen Kirche: Während der Papst die bosnische Kirche nie anerkannt hat, wurde die serbisch24 LOVRENOVIĆ, Dubravko, Sv. Grgur Čudotvorac. Zaštitnik Kotromanića i srednjovjekovne Bosne, in: Bosanska kvadratura kruga, hrsg. von DEMS., Sarajevo/Zagreb 2012, S. 15–35. 25 BROOKE, L. N. C., Gregorian Reform in Action. Clerical Marriage in England 1050–1200, in: Change in Medieval Society. Europe North of the Alps, 1050–1500, hrsg. von Sylvia L. THRUPP, New York 1964, S. 49–71, hier S. 49. 26 LOVRENOVIĆ, Dubravko, Stećci – bosansko i humsko mramorje srednjeg vijeka, Sarajevo 2010, S. 300–308. Das schließt die Möglichkeit nicht aus, dass einige Kirchenbauten in Bosnien und in Hum, vielleicht sogar die meisten von ihnen, vor der Verlegung des Bischofssitzes Privateigentum gewesen waren. Diese Erscheinung geht auf die Christianisierung Südosteuropas zurück, als die meisten neuen Kirchen vom Adel gestiftet worden waren. Hierbei handelte es sich um „Privatkirchen“, deren Stifter die Verwaltung ausübten; vgl. CURTA, Florin, Southeastern Europe in the Middle Ages, 500–1250, Cambridge 2006, S. 431. Ein ähnliches Modell fand sich in Kiev, wo Fürst Vladimir (978–1015) und sein Sohn Jaroslav für den Staat bedeutende private, unter ihrem Patronat stehende Kirchen und Klöster gegründet hatten; vgl. GUZENKO, Svitlana, The Development of Kiev as Religious Centre (5th c.–1240), in: Early Christianity in Central and East Europe (Christianity in East Central Europe and its Relations with the West and the East, 1), hrsg. von Przemysław URBAŃCZYK, Warschau 1997, S. 137– 140, hier S. 139. Ein Familienkloster war die natürliche Fortsetzung des adligen Hauses und geeignet, die einheimische mit der eingeführten römischen Kultur zu verbinden, wie beispielsweise die Christianisierung der Germanen zeigt; vgl. BLAIR, John, Britain, Ireland and Gaul, 600–1000. A North-West European Context for the Christianisation of East-Central Europe, in: ebd., S. 23–30, hier S. 25. 27 ŠANJEK, Bosansko-humski krstjani, S. 275.

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orthodoxe Kirche vom orthodoxen Patriarchen in Konstantinopel toleriert, ja sogar anerkannt.28 Dennoch existieren Gegenbeispiele: Als der Venezianer Thomas Morosini nach dem vierten Kreuzzug 1204 in Konstantinopel zum lateinischen Patriarchen ernannt wurde, erkannte Papst Innozenz III. diese Wahl zunächst nicht an, weil er sie nicht kanonisiert hatte.29 Es wird immer deutlicher, dass es in Bosnien um eine Abspaltung von der Tradition und von der römischen Vormundschaft ging, die sich durch die Einheit des Ritus, Gehorsamkeit, die institutionelle Praxis und Loyalität auszeichnete. Dieser Prozess spielte sich vor dem Hintergrund der Trennung zwischen der östlichen und der westlichen Kirche samt dem Papst ab, der sich schrittweise der Stellung eines Autokraten näherte und die alleinige Rechtsquelle verkörperte.30 Als Nachfolger Petris, dem Christus zwei Schwerter als Mittel der geistlichen und der weltlichen Macht verliehen hatte, fühlten sich die Päpste seit Gregor VII. alleine Gott verpflichtet, der ihnen vollständige Macht über alle Christen verlieh.31 Dieses Selbstverständnis basierte auf einer Einheit von Glauben und Handeln. Es wurde durch die Krönung von Tvrtko I. Kotromanić im Jahr 1377, der das Oberhaupt der bosnischen Kirche unterstützte, nachhaltig gestört.32 Seit dem 9. Jahrhundert waren die Krönungen ein Vorrecht des Episkopats gewesen.33 Aus diesem Grund stellte die Krönung aus dem Jahr 1377 einen endgültigen Bruch zwischen Bosnien und Rom dar, der 1233 mit der Ablösung des slawischen Bischofs in Bosnien und der Gründung der bosnischen Kirche begonnen hatte. Anfang und Ende dieses langen Prozesses wurden zunächst durch die katholischen, später durch die schismatischen bosnischen Bischöfe beeinflusst. Während Rom den Geist einer imperialen Kirche verkörperte, trat der die bosnische Kirche für die staatliche Souveränität ein.34 Man darf wohl annehmen, dass die Mehrheit des bosnischen Adels zur Zeit der Krönung Tvrtkos der bosnischen Kirche folgte. Die Quellen über die Krönung berichten, dass der König die Aufgabe habe, zwischen Gott und dem Volk zu vermitteln. Darüber hinaus dokumentieren sie, dass die Bischöfe den König gewählt hatten.35

28 WENZEL, Marian, Bosanski stil na stećcima i metalu – Bosnian Style on Tombstones and Metal, Sarajevo 1999, S. 131. 29 RUNCIMAN, Eastern Schism, S. 151, Anm. 2. 30 Ebd., S. 9. 31 JAMES, Arthur Walter, The Christian in Politics, London/New York 1962, S. 46. 32 LOVRENOVIĆ, Dubravko, Proglašenje Bosne kraljevstvom 1377. (Pokušaj revalorizacije), in: Forum Bosnae 3/4 (1999), S. 227–287. 33 ULLMANN, History of Political Thought, S. 86. 34 Ebd., S. 198–201. 35 Ebd., S. 133, 135.

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DIE BOSNISCHE KIRCHE ALS BASIS DER OSTKIRCHE IM WESTLICHEN MILIEU Das mittelalterliche Bosnien war ein Schauplatz der Konversionen sowie einer schismatisch orientierten Kirche, die die politische Rolle von der römisch-katholischen Kirche übernahm. In Europa trafen das zentralistisch und monarchisch gestaltete Papsttum sowie die eher dezentral und demokratisch strukturierte östliche Kirche36 aufeinander. Die bosnische Kirche richtete sich nach dem im Osten konzipierten Modell. Eine solche historische Erfahrung kannte der katholische, nach Rom blickende Teil des mittelalterlichen Europa nicht. Die bosnische Kirche, die quasi eine Insel im jurisdiktionellen Grenzbereich der katholischen Kirche bildete, war eine Institution mit hierarchischen Strukturen, die den Machtverhältnissen entsprach.37 Allein diese Tatsache steht der gängigen Meinung von ihrem angeblichen asketischen Charakter entgegen.38 Es war jedoch umgekehrt: Das Ansehen, das die Krstjani in Bosnien genossen, entsprang nicht ihrem vermeintlichen Heiligenschein, sondern war das Ergebnis einer engen Verbindung zur politischen Elite und einer Integration in das adelige Establishment.39 Die Krstjani waren angesehene Mitglieder der Gemeinschaft, in der sie verantwortungsvolle Positionen innehatten. Ohne diese wäre ihre Existenz (insbesondere nach der Ankunft der Franziskaner im Jahr 1340) undenkbar gewesen.40 Die bosnische Kirche erlebte ihren Höhepunkt mit der Rolle des Djed, der als Koronator der bosnischen Könige fungierte. In der Auseinandersetzung um die Abhaltung des Gottesdienstes in der Landessprache und die kirchliche Selbstständigkeit folgte Bosnien einer Entwicklung, die für das östliche Mitteleuropa kennzeichnend war und die sich am Aufstieg des Großmährischen Reiches und an der Mission der Brüder Kyrill und Method aus Saloniki orientierte.41 Kulturell betrachtet hinterließ die Tätigkeit der Slawenapostel in Bosnien und in Hum (Cholm) tiefe, Jahrhunderte währende Spuren: (1) biblische Texte, (2) den ostkirchlichen Ritus, (3) die Liturgie und die Alphabetisierung der Volkssprache, (4) die kyrillische Schrift glagoljica, (5) den Ordenscharakter der bosnischen Kirche sowie (6) die Heiligenkulte von Gregor von Nazianz und von Gregor dem Wundertäter.42

36 DAHM, P. Chrysostomus, Die griechisch-orthodoxe Kirche (Die Kirche im Osten, 1), Offenburg 1964, S. 214. 37 Zur Organisation der bosnischen Kirche siehe ĆOŠKOVIĆ, Pejo, Crkva bosanska u XV stoljeću, Sarajevo 2005, S. 217–442. 38 ŠANJEK, Franjo, Bosansko-humski krstjani i katarsko-dualistički pokret u srednjem vijeku, Zagreb 1975, S. 113; DŽAJA/LOVRENOVIĆ, Srednjovjekovna crkva bosanska, S. 13. 39 DŽAJA/LOVRENOVIĆ, Srednjovjekovna crkva bosanska, S. 10. 40 ŠANJEK, Bosansko-humski krstjani, S. 114, 119f. 41 Vgl. DVORNIK, Francis, The Slavs in European History and Civilization, New Brunswick/New Jersey 1962, S. 3. 42 HADŽIJAHIĆ, Muhamed, Povijest Bosne u IX i X stoljeću, Sarajevo 2004, S. 240–257; LOVRENOVIĆ, Sv. Grgur Čudotvorac, S. 15–35.

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Mit den in ihrem Schoß entstandenen Skriptorien und Bibelkodices auf hohem künstlerischen Niveau43 bewirkte die bosnische Kirche die Alphabetisierung des mittelalterlichen Bosniens. Sie sah sich nicht als Opposition zum Christentum im Allgemeinen, sondern zu den offiziellen Kirchen, beispielsweise der römischen Kirche. Quellen einheimischer Provenienz, insbesondere die kyrillischen Urkunden, belegen, dass sich die bosnische Kirche durch eine andere Ekklesiologie und nicht etwa durch eine gesonderte Christologie oder gar durch die Akzeptanz des Dualismus auszeichnete.44 Diese Kirche bezeichnete sich weder als häretisch noch als schismatisch, sondern als Trägerin der „wahren apostolischen Religion“. Große Kirchen betrachtete sie hingegen als häretisch, da sie selbst zumindest proklamativ, wenn nicht sogar normativ eine strengere Form des Christentums vertrat.45 Dies war das Ergebnis einer (vor allem politischen) Pluralisierung des Christentums sowie einer engen Verbundenheit von Religion und Staat. Ein monolithisches Christentum hätte dem politischen Pluralismus des Mittelalters widersprochen. Daher kam es zur Ausprägung verschiedener konfessioneller Identitäten und zur Entstehung institutionalisierter Konfessionskirchen, schließlich zur Weiterentwicklung von Konfessionen zu Religionen und zu kulturellen Systemen, die sich in ihrer Doktrin, Geistlichkeit, den Riten und der Alltagskultur unterschieden.46 Im Unterschied zu einigen heterodoxen Bewegungen, zu deren Beseitigung die katholische Kirche Gewalt anwendete, nahm sie für die bosnischen Krstjani eine Rückkehr zur christlichen Einheit an. In diesem Sinne ist das Konzil von Basel (1431–1449) zu verstehen, das die Krstjani zusammen mit Griechen, Armeniern, Jakobiten, Maroniten, Etipäern und anderen alten Völkern erwähnte.47 MITTELALTERLICHE BOSNIER (BOŠNJANI) DUALER KONFESSIONELLER IDENTITÄT UND DER REKATHOLISIERUNGSPROZESS Wenn man nach den Pavlovićs, den treuen Anhängern der bosnischen Kirche, urteilen müsste, dann hatte die neue Religion im bosnischen Adel tiefe Wurzeln geschlagen. Die Erosion der einen bedeutete die Stärkung der anderen Konfession, 43 ŠIDAK, Jaroslav, Kopitarovo bosansko evanđelje u sklopu pitanja „Crkve bosanske“ in: Slovo 4/5 (1955), S. 47–63; DERS.: Marginalija uz jedan rukopis „Crkve bosanske“ u mletačkoj Marciani, in: Slovo 6–8 (1957), S. 134–153; DERS.: Dva priloga o minijaturama u rukopisima „Crkve bosanske“, in: Slovo 9/10 (1960), S. 201–206; DERS.: Bosanski rukopisi u Gosudarstvenoj Publičnoj Biblioteci u Lenjingradu, in: Slovo 17 (1967), S. 113–124. 44 DŽAJA/LOVRENOVIĆ, Srednjovjekovna crkva bosanska, S. 12f.; LOVRENOVIĆ, Dubravko, Profani teror – sveta retorika (Kako je bosanski vojvoda Radosav Pavlović postao opaki pataren, bič katoličke vjere), in: Bosanska kvadratura kruga, hrsg. von DEMS., Sarajevo/Zagreb 2012, S. 36–108, hier S. 107f. 45 DŽAJA/LOVRENOVIĆ, Srednjovjekovna crkva bosanska, S. 5. 46 Ebd., S. 10. 47 Ebd., S. 13.

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und gerade ein solches Bild bieten die Quellen aus der zweiten Hälfte des 13. und der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts.48 Selbst der Ban Stjepan II. Kotromanić war nach Meinung des Benediktinermönchs Mavro Orbini vor der Ankunft der Franziskaner „dem griechischen Ritus treu und stand nicht unter dem Einfluss des Papstes“.49 Davon erfahren wir auch im Zusammenhang mit der Rekatholisierung, die nach der Konversion des bosnischen Königs Tomaš im Jahr 1445 unter dem bosnischen Adel Oberhand gewonnen hatte.50 Tomaš war der erste König, der gemeinsam mit seiner Ehefrau Katharina in der Rolle des Stifters (ktitor) der katholischen Kirche auftrat.51 Die Konversion war zu diesem Zeitpunkt jedoch keine Einbahnstraße, wie das Beispiel der Familie Hrvatinić zeigt. Nach ihrem Übertritt zum katholischen Glauben verdrängte sie die bosnische Kirche nicht von ihren Besitztümern. Diese hatte noch immer viele Anhänger unter dem Kleinadel, darunter auch einige Familienmitglieder der Hrvatinićs. Einzelne Personen gehörten darüber hinaus anderen Kirchen an.52 Indem sie zwischen den Konfessionen lavierten, nutzten sowohl die Herrscher als auch die Adeligen ihren politischen Spielraum innerhalb der bosnischen Gesellschaft aus.53 Da die Krönung und die sakrale Legitimierung der Königsherrschaft zu den Privilegien der bosnischen Kirche zählten, nahmen die bosnischen Herrscher diese Konfession an. In Zentralbosnien, das der Herrschaft des Königs unterstellt war, befand sich der Sitz des Djed der bosnischen Kirche.54 Die räumliche Überlappung ihrer Territorien bedeutete sowohl im wahren als auch im symbolischen Sinne die Überschneidung ihrer politischen und kirchlichen Zuständigkeiten. Solange sie die Unterstützung durch die Obrigkeit genoss, hatte die bosnische Kirche eine gesicherte Zukunft. Einzelne bosnische Herrscher und ein Teil der Adeligen – mit Ausnahme derer, die dem Pfad der bosnischen Kirche fest gefolgt waren – strebten nach einem konfessionellen Gleichgewicht, einem Kompromiss, vielleicht sogar nach einer Verbindung. Die Ursachen dieser Einstellung sind sicherlich politischer Natur gewesen. Die Beispiele von König Tvrtko I. Kotromanić, Herzog Hrvoje Vukčić-Hrvatinić, König Stjepan Tomaš und Herzog Stjepan Vukčić-Kosača sind symptomatisch für das Lavieren zwischen der katholischen und der bosnischen Religion sowie für die Existenz doppelter konfessioneller Identitäten, wie sie in einigen Ländern Südosteuropas häufiger vorkamen.55 König Tvrtko I. beispielsweise wurde 1374 durch

48 49 50 51 52 53 54 55

LOVRENOVIĆ, Stećci, S. 296–299, 304–306. DŽAJA/LOVRENOVIĆ, Srednjovjekovna crkva bosanska, S. 13. ĆOŠKOVIĆ, Crkva bosanska, S. 211f. KOVAČEVIĆ-KOJIĆ, Desanka, Gradska naselja srednjovekovne bosanske države, Sarajevo 1978, S. 292. ĆOŠKOVIĆ, Crkva bosanska, S. 206f., 211. RAUKAR, Hrvatsko srednjovjekovlje, S. 288. ĆOŠKOVIĆ, Crkva bosanska, S. 200. LOVRENOVIĆ, Dubravko, Vitez, herceg i pataren (Ideološki stereotipi i životna stvarnost), in: Forum Bosnae 7/8 (2000), S. 257–294; DERS., Krist i donator. Kotromanići između vjere

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den Bischof von Đakovo mit der orthodoxen bulgarischen Prinzessin Dorothea getraut, seine Krönung drei Jahre später hingegen vollzog der Djed der bosnischen Kirche. Für diese Praktiken gab es offenbar politische Gründe. Im Unterschied zum kroatischen Mittelalter, das durch die Herrschaft der kroatischen und europäischen katholischen Dynastien gekennzeichnet ist, und dem serbischen Mittelalter, das die orthodoxe Dynastie der Nemanjić prägte, kennt Bosnien seit dem 14. Jahrhundert keinen dynastischen oder religiösen Puritanismus mehr. Monoreligiöse Strukturen lassen sich für diese Epoche lediglich in der Kirchenorganisation außerhalb der Jurisdiktion der großen Zentren im Osten und Westen finden. Keiner der bosnischen Könige, nicht einmal der Gründer des Königreichs, Tvrtko I. Kotromanić, erlangte eine vergleichbare ehrwürdige Stellung in der Tradition ihres Reiches, wie sie den theokratischen Figuren des Heiligen Stephan in Ungarn oder des Heiligen Simeon in Serbien gewährt wurde.56 Die Heiligkeit der bosnischen Könige und des Adels leitete sich allein von der bosnischen Kirche ab.57 EINE INITIATIVE DES PAPSTES: DIE EINFÜHRUNG DES NICHTETABLIERTEN CHRISTENTUMS DURCH DAS BOSNISCHE FRANZISKANERVIKARIAT Der gescheiterte Versuch einer Reform des bosnischen Bistums und die Verlegung des Bistumssitzes verweisen darauf, dass die „Etablierung des Katholizismus im mittelalterlichen Bosnien auf zahlreiche Hindernisse stieß und [dass diese] mehr als ein Projekt denn als eine Verwirklichung des römischen Establishments betrachtet werden kann“.58 Deshalb war es rechtens, die Einführung nicht-etablierter Formen des Christentums vorzunehmen. In Krisenzeiten, während des sogenannten Avignonesischen Papsttums und des Zusammenbruchs der universalen Kirche, wurde diese Rolle dem Franziskanerorden zuteil. Im Unterschied zu einzelnen päpstlichen Gesandten und Dominikanern, die nicht dauerhaft in Bosnien blieben, entwickelte sich das Handeln der Franziskaner zum wesentlichen „Bestandteil des hiesigen Gebiets“.59 Mit den Dominikanern und den Franziskanern wird eine eher humanistische und populäre Interpretation des Christentums verbunden. Sie siedelten sich nicht wie die Benediktiner und die Zisterzienser in einer ländlichen Umgebung an, sondern in den Städten, wo ihre Mission – ein neues Phänomen in der Entwicklung

56 57 58 59

rimske i vjere bosanske, Tl. 1: Konfesionalne posljedice jednog lokalnog crkvenog raskola, in: Fenomen krstjani u srednjovjekovnoj Bosni i Humu, Sarajevo/Zagreb 2005, S. 193–237. MARJANOVIĆ-DUŠANIĆ, Smilja, Vladarske insignije i državna simbolika u Srbiji od XIII do XV veka, Belgrad 1997, S. 274–278. LOVRENOVIĆ, Profani teror – sveta retorika, S. 63f. DŽAJA, M. Srećko, Od bana Kulina do austro-ugarske okupacije, in: Katoličanstvo u Bosni i Hercegovini, hrsg. von Snejžana VASILJ, Srećko M. DŽAJA, Marko KARAMATIĆ und Tomo VUKŠIĆ, Sarajevo 1993, S. 37–78, hier S. 45. RAUKAR, Hrvatsko srednjovjekovlje, S. 287.

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des religiösen Lebens – eng mit der Bürgerschaft verknüpft war.60 Obwohl die Franziskaner seit 1233 Erfahrungen in der Inquisition und der Bekämpfung der Häresie in Westeuropa gesammelt hatten, kamen sie nicht als klassische Inquisitoren nach Bosnien.61 Der Franziskanermission lag keine Initiative aus Bosnien zugrunde, sondern sie erfolgte auf Anordnung des Papstes. Den gordischen Knoten, den ein Jahrhundert zuvor die römische Kurie verursacht hatte, begann nun die Kurie in Avignon zu zerschlagen: Die flexibleren „Nationalisten“ beseitigten, was die Universalisten verursacht hatten. Die veränderte Haltung des Papstes schlug sich auch auf die allgemeine Einstellung nieder: Der Absolutismus in Rom war in vielerlei Hinsicht der Wegbereiter des Totalitarismus aller westeuropäischen religiös-politischen sowie antiklerikalen Parteien. Gleichzeitig ist die päpstliche Kirche auch die Mutter der europäischen Demokratie, weil sie die Menschen zum ersten Mal um den Begriff „Freiheit“ versammelt hat.62 Kurz gefasst: Das römische Papsttum hat sich die Deutungshoheit der vermeintlichen religiösen und politischen Wahrheit angeeignet. Früher gesammelte Erfahrungen in einem unterschiedlich geprägten kirchlichpolitischen Klima beeinflussten die Methoden dieses Vorgehens, zumal dem bosnischen Ban Stjepan II. Kotromanić von Beginn an eine aktive Rolle und koordiniertes Handeln mit dem ungarischen Hof zugedacht war. Die päpstliche Kurie in Avignon mit Papst Johannes XXII. an der Spitze wurde zur Zentrale, von wo aus über Ungarn neue kirchlich-politische Richtlinien nach Bosnien gelangten. Die alte Koalition änderte ihre Sprache, die Ära der Unnachgiebigkeit und des Diktats wurde zugunsten einer Periode der Diplomatie ersetzt. Dreifache Unterstützung sicherte die Stellung der Franziskaner in Bosnien: durch den Papst, den ungarischen König und den bosnischen Ban. Sogar unter diesen Umständen dauerte es 14 Jahre – seit dem am 5. Juni 1325 Stjepan II. Kotromanić und König Karl Robert vom Papst zugesandten Brief bis zur Ankunft von Fra Gerald Odonis in Bosnien 1339/40 –, bis ein bosnischer König den Franziskanern die Pforten seines Landes geöffnet hat.63 Damals musste der bosnische Herrscher, wie aus dem Briefwechsel zwischen ihm, dem Papst und dem ungarischen König Anfang 1340 hervorgeht, auf die bosnische Kirche Rücksicht nehmen, um nicht ihre bereits etablierte Stellung in Frage zu stellen.64 Der Grund für das taktische Vorgehen des Bans lag in der Sensibilität gegenüber der politischen Lage in Bosnien. Auf der einen Seite gab es positive Entwicklungen, wie zum Beispiel die Vergrößerung des Territoriums, die Stärkung der

60 DVORNIK, Slavs in European History, S. 17. 61 JAMES, Christian in Politics, S. 53f. 62 HEER, Friedrich, Mittelalter, Bd. 1: Vom Jahr 1000 bis 1350 (Kindlers Kulturgeschichte des Abendlandes, 9), München 1977, S. 123. 63 LOVRENOVIĆ, Dubravko, Utjecaj Ugarske na odnos crkve i države u srednjovjekovnoj Bosni, in: Sedam stoljeća bosanskih franjevaca (1291–1991), hrsg. von Marko KARAMATIĆ, Samobor 1994, S. 37–93, hier S. 59f. 64 PEROJEVIĆ, Marko, Stjepan II. Kotromanić, in: Povijest Bosne i Hercegovine od najstarijih vremena do godine 1463, Bd. 1, 3. Aufl., Sarajevo 1998, S. 250–285, hier S. 264f.

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Wirtschaft, die Etablierung des Hofs des Bans und die Entstehung einer neuen bosnischen staatlichen Kirche, auf der anderen Seite galt es, sich neuen Herausforderungen zu stellen. Der offizielle Beginn der Franziskanermission in Bosnien fällt auf das Jahr 1340, als beim Generalkapitel der Franziskaner in Assisi das bosnische Vikariat gegründet wurde.65 Mit diesem Akt begann nicht nur eine spezifische Phase des bosnischen Christentums, sondern bekam auch das gesamte kirchlich-politische, konfessionelle und kulturelle Umfeld eine neue Komponente, deren Auswirkungen sich bis in die heutige Zeit erstrecken und die diesen Raum mit den geistigen Strömungen Westeuropas und des östlichen Mitteleuropa verbanden. Wegen der Verwendung der lateinischen Sprache in Westeuropa war diese religiöse Kultur international.66 Mit der Ankunft der Franziskaner erhielt auch das mittelalterliche Bosnien eine neue, lateinische Komponente. Diese hatte ihr Pendant in dem Einfluss von Kyrill und Method auf die ostkirchliche klerikale Kultur. Unter „klerikaler Kultur“ wird ein spezifischer Lebensstil des Klerus verstanden, der Institutionen, Werte, Glauben, Gebräuche, Gebrauchsgegenstände sowie materielles Leben umfasst.67 Im Unterschied zu den Dominikanern, die sich für die Latinisierung des bosnischen Bistums einsetzten, agierten die Franziskaner wesentlich subtiler. Sie konnten bald Erfolge vorweisen, denn sie knüpften an die Traditionen der einheimischen Kirche an, „vor allem die Volkssprache“ übernahmen sie, „und ihre Stellung als Bilinguisten (Latein und Slawisch) [stärkte ihre Position] sowohl in Bosnien als auch in Rom“.68 Als rhetorisches Mittel war die Predigt in der Volkssprache der beste Weg zur Verkündung der Religion.69 Die Wahl der Sprache bestimmte, ob und wie die Franziskaner nicht nur vom Volk, sondern auch vom bosnischen Adel akzeptiert wurden. Der Gottesdienst wurde in Bosnien von alters her auf Kirchenslawisch abgehalten, so dass die Franziskaner-Glagoliten, die aus den Klöstern an der Küste kamen, ohne Schwierigkeiten ihre Pastorentätigkeit fortsetzen konnten.70 Ohne Kenntnisse der einheimischen Sprache hätte die Franziskanermission keine dauerhafte Perspektive gehabt.71 Nur den in Bosnien angesiedelten Ragusanern und 65 ZIRDUM, Andrija, Povijest kršćanstva u Bosni i Hercegovini, Plehan 2007, S. 202f. Seither widmet die bosnische Religionsgeschichte den Franziskanern großes Interesse; vgl. DŽAJA, M. Srećko, Konfesionalnost i nacionalnost Bosne i Hercegovine. Predemancipacijsko razdoblje 1463–1804, Mostar 1999, S. 193. 66 BERTÉNYI, Iván, Hungarian Culture in the Middle Ages, in: A Cultural History of Hungary, Bd. 1: From the Beginnings to the Eighteenth Century, hrsg. von László KÓSA, Budapest 1999, S. 60–153, hier S. 122. 67 MILLER C. Maureen, The Bishopʼs Palace. Architecture and Authority in Medieval Italy, New York 2000, S. 4. 68 DŽAJA, M. Srećko, Fineova interpretacija bosanske srednjovjekovne konfesionalne povijesti, in: Povijesno-teološki simpozij u povodu 500. obljetnice smrti bosanske kraljice Katarine, hrsg. von Andrija ZIRDUM, Sarajevo 1979, S. 52–59, hier S. 59. 69 MOSTERT, New Perspectives, S. 182. 70 ZIRDUM, Povijest kršćanstva, S. 216. 71 DŽAMBO, Jozo, Die Franziskaner im mittelalterlichen Bosnien (Franziskanische Forschungen, 35), Werl 1991, S. 135.

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Sachsen gegenüber mussten die Franziskaner diese Strategie nicht anwenden, da sie im liturgischen Sinne „Lateiner“ waren.72 Dicht an der bosnischen Residenz in Mili bei Visoko erbauten die Franziskaner ihr erstes Kloster und die St. Nikolauskirche als Sitz ihres Vikariats. Es folgten weitere.73 Während die bosnische Kirche allem Anschein nach außerhalb der unmittelbaren Reichweite der städtischen Siedlungen blieb, sprossen die ersten Franziskanerklöster in Bosnien insbesondere in den Orten, die als kirchlich-politische Zentren sowie als Zentren des Bergbaus und des Handels galten, wie zum Beispiel Mili, Sutjeska und Olovo. Hier lebten katholische Fremde, sächsische Bergleute und dalmatinische Händler; dies war für die Franziskaner ein ideales Umfeld, um zu predigen und die Zahl ihrer Anhänger zu vergrößern.74 Mitte des 15. Jahrhunderts entstanden Franziskanerklöster vornehmlich in Zentralbosnien und in ZentralPodrinje, das heißt in Städten mit bedeutenden Kolonien der Ragusaner. Durch deren finanzielle Unterstützung entwickelten sich die Franziskaner zu einem mächtigen Motor der Urbanisierung Bosniens.75 Schon zu Beginn errichteten die Franziskaner einen „Stützpunkt“ am Hof des Bans. Sie waren der Auffassung, dass Veränderungen des Konfessionsstandes im Land, wie die jahrhundertealten Erfahrungen zeigten, an der Spitze der Gesellschaft beginnen mussten. Aufgrund seiner regen politischen Aktivitäten und der ihm oft erwiesenen Ehrungen im Ausland wurde der erste bosnische Vikar, Fra Peregrin der Sachse, mit dem bosnischen „Außenminister“ gleichgestellt, während das Franziskanerkloster den gleichen Rang wie der Hof des Bans erhielt.76 Das religiöse Umfeld in Bosnien änderte sich sehr bald: Während sich die Herrscher direkt oder indirekt über die Franziskaner Rom annäherten, blieb der Adel der bosnischen Kirche verbunden.77 Ein Ziel Roms war die Verdrängung dieser Kirche vom Hof der Familie Kotromanić, wozu die Gründung eines Vikariats beitragen sollte. Um dieses Ziel sorgten sich die Franziskaner dauerhaft. Die Kotromanićs hingegen sahen sich der Schwierigkeit ausgesetzt, zwischen zwei kirchlichen Organisationen und zwei Konfessionen balancieren zu müssen. In der Praxis herrschte zwischen den Krstjani und den Franziskanern friedliche Koexistenz, modern gesagt: religiöse Toleranz. Diese Situation unterschied sich stark von der Lage Europas während der Reformation, als zum Beispiel in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches

72 DRAGANOVIĆ, Krunoslav, Katolička crkva u sredovječnoj Bosni, in: Povijest Bosne i Hercegovine od najstarijih vremena do godine 1463, Bd. 1, 3. Aufl., Sarajevo 1998, S. 685–766, hier S. 694. 73 ANČIĆ, Mladen, Gdje je bio podignut prvi franjevački samostan u srednjovjekovnoj Bosni, in: Prilozi 21 (1985), S. 95–114; ZIRDUM, Povijest kršćanstva, S. 208. 74 DŽAJA/LOVRENOVIĆ, Srednjovjekovna crkva bosanska, S. 13. 75 KOVAČEVIĆ-KOJIĆ, Gradska naselja, S. 285–289. 76 BATINIĆ, Mijo, Utjecaj franjevaca na političke prilike u Bosni, in: Glasnik bosanskih i hercegovačkih franjevaca 1/2 (1887), S. 21–27, hier S. 24, 26. 77 ZIRDUM, Povijest kršćanstva, S. 207.

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Deutscher Nation gesetzliche Regelungen für Katholiken unter der Obhut protestantischer Fürsten und für Protestanten unter der Herrschaft katholischer Fürsten festgelegt wurden.78 Quellen unterschiedlicher Provenienz aus dem 14. und 15. Jahrhundert schildern Erfolge der Franziskaner79 in dieser (zweiten) Phase der Christianisierung, das heißt während der Rekatholisierung des mittelalterlichen Bosniens. Ein Grund hierfür waren die Sonderbefugnisse der Franziskaner, etwa die Vollmacht zur Durchführung von Taufen (facultas baptizandi), das Recht zur Weihe neuer Priester und zur Spendung des Firmungssakramentes an die Neophyten. Diese Befugnisse werden aus den Akten von Papst Johannes XXII. (1316–1334) und Eugen IV. (1431– 1447) ersichtlich.80 Das Papsttum versuchte, diese Mission zu unterstützen: In einer dem Franziskanervikariat am 22. Dezember 1378 erteilten Bulle versprach Papst Urban V. den Gläubigen die Vergebung ihrer Sünden, wenn sie eine Stein- oder Holzkirche bauten.81 Die Frage, wie erfolgreich die Rekatholisierung bis zum Jahr 1463, als Bosnien an die Osmanen fiel, verlaufen ist, kann nicht beantwortet werden. Der Papst behauptete noch 1373, dass „fast die ganze Bevölkerung“ in Bosnien „Schismatiker und Häretiker“ wären, mit Ausnahme derer, die durch die Franziskaner bekehrt worden seien.82 Der päpstliche Legat in Bosnien, der Hvarer Bischof Toma Tommassini, schrieb am 19. Februar 1451 an Johann Kapistran: „In den von den Häretikern besiedelten Orten verschwinden die Häretiker beim Erscheinen der Brüder [der Franziskaner] so prompt wie das Wachs vor dem Feuer“.83 Nur zehn Jahre später (1461) führte König Stjepan Tomašević in einer Papst Pius II. zugesandten Nachricht aus, dass sein Vater (Stjepan Tomaš) die Manichäer („Patarener“) noch nicht aus seinem Königreich verbannt habe.84 ZWEI ERFOLGLOSE VERSUCHE DER EINFÜHRUNG EINES ETABLIERTEN CHRISTENTUMS Parallel zur Einführung des Franziskanervikariats gab es in Bosnien zwei Versuche, eine etablierte Form des Christentums einzuführen. Ban Stjepan II. Kotromanić 78 BUTLER, Jon, Awash in a Sea of Faith. Christianizing the American People, Cambridge 1990, S. 11. 79 ZIRDUM, Povijest kršćanstva, S. 218–221. 80 NERALIĆ, Jadranka, Srednjovjekovna Bosna u diplomatičkim spisima rimske kurije, in: Fenomen „krstjani“ u srednjovjekovnoj Bosni i Humu, Sarajevo/Zagreb 2005, S. 371–386, hier S. 383. 81 ČREMOŠNIK, Gregor, Ostaci arhiva bosanske franjevačke vikarije, in: Radovi Naučnog društva BiH, Nr. 3, Sarajevo 1955, S. 21–24. 82 ŠIDAK, Jaroslav, Franjevačka „Dubia“ iz 1372/73. kao izvor za povijest Bosne, in: DERS., Studije o „Crkvi bosanskoj“ i bogumilstvu, Zagreb 1975, S. 225–248, hier S. 235. 83 PETROVIĆ, Leon, Kršćani bosanske crkve („Krʼstiani crʼkve bosʼnske“), Sarajevo/Mostar 1999, S. 151. 84 KLAIĆ, Vjekoslav, Poviest Bosne do propasti kraljevstva, Sarajevo 1990 [ND der Ausgabe 1882], S. 323.

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ahnte, dass sich diese beiden Maßnahmen gegenseitig behindern konnten, und versuchte, dies zu verhindern, indem er die Stadt Venedig bei der päpstlichen Kurie in Avignon um Vermittlung bat. Er erreichte, dass auf Beschluss Papst Clemensʼ VI. am 28. Januar 1349 Fra Peregrin der Sachse als erster bosnischer Vikar zum Bischof von Đakovo ernannt wurde.85 Kotromanić zielte also auf das Bistum in Đakovo ab, das dem Titel seines Bischofs nach bosnisch und der Organisation sowie dem politischen Territorium nach ungarisch war. Weder den Titel, die Organisation noch das Territorium konnte der Ban nach hundert Jahren eigenmächtig ändern; es gelang ihm aber, an der Spitze des Bistums – wenn auch nur kurzzeitig – einen „Vertrauensmann“ zu positionieren. Er nutzte hierbei den Umstand, dass die Mission der Franziskaner in Bosnien zu dieser Zeit noch nicht weit fortgeschritten war.86 Der zweite Versuch, ein etabliertes Christentum in Bosnien einzuführen, geschah im Auftrag des römischen Establishments in Folge der bei dem Konzil von Konstanz (1414–1418) gefassten Beschlüsse, die ein Ende des westlichen, 1378 begonnenen Schismas herbeiführen sollten. Trotz der Bemühungen der Kirche, ihre schwindende Autorität wieder zu stärken, setzte sich das am 19. September 1417 von der Kardinalsversammlung in Konstanz erzwungene Patronatsrecht König Sigismunds durch, das ihm und seinen Nachfolgern ermöglichte, im Königreich Ungarn eine Person seiner beziehungsweise ihrer Wahl an die Spitze der Metropolitan-, Kathedral- und Klosterkirchen zu setzen. In Bosnien kam es aufgrund dieser Stellenpolitik in den folgenden Jahrzehnten zu einem Auseinanderdriften der römischen Kurie und der ungarischen Krone.87 Gleich nach dem Ende des Konstanzer Konzils ergriff die römische Kurie die Initiative, indem das bosnische Königreich am 21. Juli 1419 im Protokoll des Gerichts der Kurie als nullius diocesis bezeichnet wurde, was zu bedeuten hatte, dass Bosnien kirchenrechtlich unter die Rechtsprechung Roms fiel und nicht länger dem Bistum von Kalocsa untergeordnet war. Als nächstes folgte zwischen 1421/22 und 1424/25 die Gründung eines neuen Bistums in Bosnien. Dieses Bistum wird in der Historiographie als das „Bistum von Visoko und Srebrenica“ bezeichnet, ohne den Zusatz „bosnisch“, weil dieser dem Bistum in Đakovo vorbehalten blieb. Seine Bischöfe waren Franziskaner und dem Ragusaner Metropoliten untergeordnet.88 Einer ihrer Bischöfe, Fra Toma Matić, firmte 1441 in Bosnien in der Volkssprache.89 Die Gründung dieses Bistums war nicht nur ein erneuter Versuch, zu der vor dem bosnischen Schisma geltenden Grundauffassung zurückzukehren, sondern sollte auch zur Loslösung der Franziskaner vom bosnischen Bischof in Đakovo beitragen. Der lückenhafte Ablauf der Ereignisse endete am 30. September 1446 beziehungsweise am 18. Juni 1447, als das bosnische Königreich abermals als nullius

85 LOVRENOVIĆ, Utjecaj Ugarske na odnos crkve, S. 62–65. 86 DŽAMBO, Franziskaner, S. 116. 87 LOVRENOVIĆ, Dubravko, Na klizištu povijesti (Sveta kruna ugarska i Sveta kruna bosanska 1387–1463), Zagreb/Sarajevo 2006, S. 221f. 88 Ebd., S. 223f. 89 ZIRDUM, Povijest kršćanstva, S. 216.

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diocesis bezeichnet wurde. Die neue kirchenrechtliche Stellung Bosniens fiel zeitlich mit dem gescheiterten Versuch zusammen, König Stjepan Tomaš 1446 zum Papst zu krönen. In der Folge setzte sich das Patronatsrecht der ungarischen Könige durch und die von Rom initiierte Einführung der Kirchenhierarchie scheiterte. Ungarische Könige machten ihr Patronatsrecht geltend, indem sie die Gründung von Bistümern und die Zusendung der Papstkrone verhinderten, die die Bosnier laut eines am 7. Juni 1460 von Papst Pius II. an den ungarischen König Matthias Corvinus gerichteten Schreibens „mehrmals von unseren Vorgängern verlangt“ hatten.90 Die Krönung des letzten bosnischen Königs, Stjepan Tomašević, mit der Papstkrone im November 1461 in Jajce bedeutete den politischen und konfessionellen Sieg der römischen Kurie in Bosnien, war aber, wie schon Mitte des 13. Jahrhunderts, nur ein Pyrrhussieg. Zwischen Ungarn und dem Osmanischen Reich eingekeilt, sah der König keinen Ausweg mehr; er wurde im Sommer 1463 mit dem Sultansschwert enthauptet. Der päpstliche Legat, Bischof Nikola von Modruš, versuchte, die zerstörerische Politik der römischen Kurie in Bosnien zu vertuschen, indem er den angeblichen Verrat der Manichäer als Hauptgrund für den schnellen Fall Bosniens nannte.91 POLITISCHE MOTIVE FÜR DIE BESEITIGUNG DER BOSNISCHEN KIRCHE Die bosnische Kirche war unzertrennlich mit dem Schicksal des Staates verbunden. Ihre Eliminierung ging daher dem Untergang des Staates voraus. Dies geschah unmittelbar nachdem die serbische Residenzstadt Smederevo 1459 in die Hände der Osmanen gefallen war: Der bosnische König Stjepan Tomaš, der vom Westen Europas für den Fall Konstantinopels im Jahr 1453 verantwortlich gemacht wurde, verweigerte ihr die Unterstützung, um das Vertrauen des Westens wieder zu erlangen. Danach wandte sich ein großer Teil der bosnischen Krstjani vom katholischen Glauben ab, und nur eine kleine Gruppe blieb der alten Religion treu.92 Dies war das erste und das letzte Mal, dass ein bosnischer Herrscher mit brachialer Gewalt gegen die Krstjani vorging. Es gab keinen Platz mehr für sie, weil die bosnische Kirche die Königswürde nicht als rechtmäßig anerkannte. Die Tage des politischen, länger als ein halbes Jahrtausend währenden Erbes von Kyrill und Method in Bosnien waren gezählt, als in Rom bereits die Krone für den letzten bosnischen König geschmiedet wurde. Eines der Hauptmerkmale des neuen, theokratischen Königreichs war die Umwandlung der „Gottesgnade“ zum „Gottesrecht“.93 Dieses Gottesrecht fiel dem lateinischen Gott zu. Allerdings war 90 DŽAJA, M. Srećko, Bosansko srednjovjekovlje kroz prizmu bosanske krune, grba i biskupije, in: Jukić 15 (1985), S. 81–101, hier S. 95f., 98. 91 DŽAJA, M. Srećko, Ideološki i politološki aspekti propasti bosanskoga kraljevstva 1463. godine, in: Croatica Christiana Periodica 18 (1986), S. 206–214, hier S. 209. 92 ĆOŠKOVIĆ, Crkva bosanska, S. 212f. 93 ULLMANN, History of Political Thought, S. 130.

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dieser Zustand nicht von Dauer, da ihm mit einem neuen, islamischen Gott ein Rivale erwuchs. Bosnien blieb auch als Teil des Osmanischen Reichs im Fokus der Missionierung. Bereits vor dem Aufkommen des Islam endete die Koexistenz der beiden „Mikrochristentümer“, deren Einführung primär aus politischen Gründen geschehen war. Nun wurde eines der beiden aus ebensolchen Motiven eliminiert: „Es war wirklich tragisch, dass das Gewand Christi zerstückelt wurde“.94 FAZIT Die Koexistenz der „Mikrochristentümer“ – der katholischen und der bosnischen Religion – im mittelalterlichen Bosnien (13.–15. Jahrhundert) wurde hier als ein politisches Problem analysiert. Die Konfessionslandschaft in Bosnien änderte sich zunächst im Laufe der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts infolge der Einmischung des Papstes und im 14. Jahrhundert infolge der territorialen Ausdehnung auf die umliegenden Gebiete zusehends. Die mit der translatio sedis in Verbindung stehenden Ereignisse führten zu einer neuen religiösen Ordnung, einer neuen Religion und einer neuen Kirche – der bosnischen Kirche –, die die Trennung vom Papsttum und die Verteidigung der Eigenstaatlichkeit symbolisierte. Die Übernahme des Krönungsrechtes durch den Eparchen der bosnischen Kirche 1377 war vor allem rechtlich-politisch motiviert und bestätigte die führende Rolle dieser Kirche im politischen Leben des Landes. Zusätzlicher Einfluss wurde durch die Franziskaner ausgeübt, die 1340 auf Initiative des Papstes in Bosnien ein Vikariat gründeten. Ihre Rekatholisierungsbemühungen schlossen die Verdrängung der bosnischen Kirche vom Hof der Kotromanićs sowie allgemein aus dem öffentlichen Leben ein. Ihr flexibler Umgang mit der Liturgie führte zu Veränderungen in der bosnischen Konfessionslandschaft. Mit anderen Worten: Während die Herrscher sich über die Franziskaner Rom gegenüber öffneten, blieb der bosnische Adel der bosnischen Kirche verbunden. Die Vermischung von Kirchengemeinschaften der Krstjani und Franziskanerklöstern, insbesondere in Zentralbosnien („Land des Königs“), bezeugt die friedliche Koexistenz dieser beiden Konfessionen. Die Versuche, in Bosnien ein etabliertes Christentum einzuführen, blieben ergebnislos. Sowohl der Ban Stjepan Kotromanić als auch die römische Kurie scheiterten mit ihren Plänen. Nach der Wiederherstellung der Einheit der westlichen Kirche auf dem Konzil in Konstanz blieb Bosnien weiterhin zwischen der römischen Kurie und den ungarischen Königen umkämpft, die ihr Patronatsrecht geltend machten, indem sie die Gründung von Bistümern und die Zusendung der Papstkrone verhinderten. Die Krönung des letzten bosnischen Königs, Stjepan Tomašević, mit der Papstkrone in Jajce im November 1461 war zwar ein Sieg der römischen Kurie, allerdings kein dauerhafter. Denn nur zwei Jahre zuvor hatte König Stjepan Tomaš die bosnische Kirche entmachtet. Die katholische Kirche, die diese

94 RUNCIMAN, Eastern Schism, S. 158.

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Dubravko Lovrenović

Ereignisse aus der Ferne verfolgte, musste anerkennen, dass sie ihre Zentralisierungsbestrebungen in Bosnien nicht umsetzen konnte. (Übersetzung aus dem Kroatischen: Lara Hedžić)

DAS ETHNOGENETISCHE KONZEPT DER BIBEL UND DIE AUFFASSUNGEN DES ALTRUSSISCHEN CHRONISTEN VON DER ENTSTEHUNG DER RUS’1 Aleksandr I. Filjuškin Riccardo Picchio hat die Perspektiven der Methode der biblischen thematischen Schlüssel auf altrussische Texte aufgezeigt.2 Infolge seiner Arbeiten wurde die Idee populär, dass der Inhalt des altrussischen Narrativs weniger durch die historische Realität als vielmehr durch biblische und literarische Diskurse sowie Stereotype beeinflusst worden sei. Die größte Entwicklung erfuhr diese Idee in den letzten Monographien von I. N. Danilevskij3 und T. L. Vilkul4. Die Richtigkeit dieser Methode anerkennend, wollen wir dennoch die Frage aufwerfen: Was genau entnahm ein altrussischer Chronist der Bibel? Inwieweit schufen diese thematischen Entlehnungen und Analogien ein System, eine semantische Matrix, die auf reale Ereignisse der russischen Geschichte aufgelegt wurde und sie interpretierte? Oder hatten die Entlehnungen und Analogien einen Zufallscharakter, waren sie situativ und hingen sie vom konkreten Sujet ab? Mit anderen Worten: Waren die ersten von den mittelalterlichen Autoren Russlands unternommenen Schritte zur Schaffung eines Bildes von der eigenen Geschichte, von der eigenen historischen Identität auf der Erzählung der Bibel begründet? Oder waren für die altrussischen Chronisten die byzantinischen Chroniken und historischen Werke als Genrevorbild einflussreicher, während die Bibel lediglich in Einzelfällen herangezogen wurde? Am wichtigsten ist für unsere Überlegungen der Text der „Nestorchronik“. Auf ihren Seiten wird der erste Versuch in der mittelalterlichen russischen Historiographie unternommen, die Entstehung der Rus’ zu erklären. Das russische Schrifttum entstand bekanntlich nicht vor dem 9. Jahrhundert und die ersten historischen Werke, die nur hypothetisch rekonstruiert werden können, lassen sich frühestens 1

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Die Arbeit wurde im Rahmen des Projekts „Vostočnye slavjane v poiskach novych nadregional’nych identičnostej (konec XV – ser. XVIII v.) v kontekste zaroždenija modernogo instituta nacij“/„Die Ostslawen auf der Suche nach neuen supraregionalen Identitäten (Ende des 15. bis Mitte des 18. Jahrhunderts) im Kontext der Entstehung des modernen Instituts der Nationen“ ausgeführt, das eine finanzielle Unterstützung durch das Deutsche Historische Institut Moskau erhielt. PICCHIO, Riccardo, The Function of Biblical Thematic Clues in the Literary Code of Slavia Orthodoxa, in: Slavica Hierosolymitana 1 (1977), S. 1–31. DANILEVSKIJ, I. N., Povestʼ vremennych let. Germenevtičeskie osnovy izučenija letopisnych tekstov, Moskau 2004. VILKUL, T. L., „Ljudi“ i knjazʼ v konstrukcijach letopiscev XI–XIII vv., Kiev 2007.

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auf das 10. Jahrhundert datieren. Daher hatte die Rus’ kein traditionelles Verständnis von der eigenen Identität. Alle Folkloretexte der altrussischen Periode müssen rekonstruiert werden und können keinesfalls als historische Quellen dienen. Der Chronist konnte nur zwei Bezugspunkte haben: das biblische Geschichtskonzept oder die griechisch-römische Tradition, zu welcher der Zugang über Kontakte nach Byzanz lief. Der Chronist musste ein Konzept entwickeln, das Entstehung, Herkunft und Daseinsberechtigung der Rus’ erklären konnte. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, was man unter der Rus’ verstand? Natürlich dachte der Chronist nicht in heutigen Kategorien von Staat, Land, Volk oder Nation. Das semantische Korpus der Begriffe schöpfte er aus der Bibel. In dieser sind die Völker ursprünglich „Sprachen“ oder „Zungen“, getrennt nach linguistischen Merkmalen („Von diesen sind ausgebreitet die Inseln der Heiden in ihren Ländern, jegliche nach ihren Sprachen, Geschlechtern und Leuten.“, Gen. 10, 5; „dass der Herr daselbst verwirrt hatte aller Länder Sprache und sie zerstreut von dort in alle Länder.“, Gen. 11, 9). Der Sinn und das Ziel der Existenz der Völker beziehungsweise der „Sprachen“ besteht darin, zu Gott zu gelangen und unter seiner Herrschaft eins zu werden („dass ich sammle alle Heiden und Zungen, dass sie kommen und sehen meine Herrlichkeit.“, Jes. 66, 18; „Der gab ihm Gewalt, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker, Leute und Zungen dienen sollten.“, Dan. 7, 14). Dabei sind die Völker laut der Offenbarung des Johannes Wasser, auf denen die Hure Babylon sitzt („Und er sprach zu mir: Die Wasser, die du gesehen hast, da die Hure sitzt, sind Völker und Scharen und Heiden und Sprachen.“, Offb. 17, 15). Mit anderen Worten: Ein Volk kann Gott oder aber den Teufel wählen und Dienst für ihn tun. Ein Volk ist ungeformtes Wasser, in dessen Tiefen verschiedene Kräfte verborgen sind; was aus den Tiefen des Wassers auftauchen wird, ist ungewiss. Das Alte Testament sieht das Ziel eines jeden Volkes darin, von Gott erwählt zu werden. In der jüdischen Bibel werden hierfür verschiedene Wörter verwendet: ’am für das gotterwählte Volk und goyim für die ungläubigen, die heidnischen Völker. In der Septuaginta wird das erwählte Volk als demos bezeichnet und die Heiden sind die ethne, die Ethnien. In der kirchenslawischen Übersetzung sind dies narod (Volk) und jazyki oder jazyci (Sprachen). Israel ist von Gott erwählt, „[d]enn du bist ein heiliges Volk dem Herrn, deinem Gott, Dich hat der Herr, dein Gott erwählt zum Volk des Eigentums aus allen Völkern, die auf Erden sind“ (Dtn. 7, 6). Die Erwählung durch Gott ist zwar kein nationaler, sondern ein religiöser Begriff; sie einigt das Volk, da es sich durch den von den Vorfahren, den Volksvätern, geschlossenen Bund mit Gott als etwas Geeintes versteht. Folglich bedarf ein Volk notwendigerweise der gemeinsamen Abstammung von einem Vorfahren, einem Stammvater, im Falle der Juden von Abraham. Das erwählte Volk erhält von Gott das Gelobte Land – im Falle der Juden Kanaan –, das man allerdings zunächst den ungläubigen Völkern abtrotzen muss. Sehr wichtig ist die Sprache, welche das erwählte Volk spricht, denn dies ist die Sprache, mit der man mit Gott sprechen kann. Gott versteht die zahlreichen Sprachen der Heiden nicht. Was verstand der altrussische Chronist hiervon, was adaptierte er? Bereits A. A. Šachmatov vermutete, dass eine der ersten Versionen der „Nestorchronik“, eine

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in den 1090er Jahren verfasste Urchronik, Vremennik, kak nazyvaetsja letopisanie Russkich knjazej i zemlja Russkaja, i kak izbral Bog stranu našu na poslednee vremja hieß.5 Seine Ansicht wurde von D. S. Lichačev unterstützt.6 I. N. Danilevskij setzte „unser Land“ (našu stranu) der Urchronik mit dem „russischen Land“ (Russkuju zemlju) der „Nestorchronik“ und dem Gelobten Land der Bibel gleich.7 Der Chronist wandte das biblische Schema bei der Interpretation der Entstehungsgeschichte der Rus’ an.8 Vor allem musste er die Abstammung von einem gemeinsamen Vorfahren begründen. Der altrussische Verfasser der Chronik vermochte es allerdings nicht, einen Stammvater des russischen Volkes zu erfinden. Die Legenden über die drei Brüder Rus, Čech und Lech kamen erst viel später, im 16./17. Jahrhundert, auf.9 Anstelle des, wie man meinen könnte, einfachen biblischen Schemas mit einem „Stammvater der Rus’“ schlug der Chronist zwei Legenden vor: die erste über die Herkunft der Slawen und eine zweite über die Ankunft des „Volkes der Rus’“. Nach der Sprachverwirrung infolge des „Turmbaus zu Babel“ und der biblischen Sintflut war das Universum unter den Nachkommen Noahs aufgeteilt – Sem, Ham und Japhet. Die Slawen gerieten ins Land Japhets unter die anderen 72 „Sprachen“ der Länder des Westens und Nordens, also Europas („und Japhets Söhne nahmen den Westen und die nördlichen Länder ein. Von diesen 72 Völkern kam das slovenische Volk; vom Stamme Japhets sind die Noriker, die Slovenen […]“).10 5

ŠACHMATOV, A. A., „Povestʼ vremennych let“ i ee istočniki, in: Trudy Otdela Drevnerusskoj Literatury 4 (1940), S. 9–150. 6 LICHAČEV, D. S., „Povestʼ vremennych let“. Istoriko-literaturnyj očerk, in: Povestʼ vremennych let, hrsg. von DEMS. und V. P. ADRIANOVA-PERETC, Moskau 1996, S. 271–358, hier S. 327. 7 DANILEVSKIJ, Povestʼ vremennych let, S. 143. 8 O. P. Toločko ist der Ansicht, dass dabei das byzantinische historiographische Modell imitiert wurde. TOLOCHKO, O. P., The Primary Chronicle’s ‛Ethnography’ Revisited. Slavs and Varangians in the Middle Dnieper Region and the Origin of the Rus’ State, in: Franks, Northmen, and Slavs. Identities and State Formation in Early Medieval Europe (Cursor Mundi, 5), hrsg. von Ildar H. GARIPZANOV, Patrick GEARY und Przemysław URBAŃCZYK, Turnhout 2008, S. 169–188, hier S. 170. 9 MYL’NIKOV, A. S., Kartina slavjanskogo mira. Vzgljad iz Vostočnoj Evropy. Ėtnogenetičeskie legendy, dogadki, protogipotezy XVI – načala XVIII veka, St. Petersburg 1996, S. 141–204. 10 Polnoe Sobranie Russkich Letopisej [im Folgenden: PSRL], Bd. 1, Moskau 1997, Sp. 5; deutsche Übersetzung in: Die altrussische Nestorchronik. Povestʼ vremennych let, hrsg. und übers. von Reinhold TRAUTMANN, Leipzig 1931, S. 3. Zur Idee der Gleichsetzung der Slawen mit den „Norikern“ (narcy) vgl. VEDJUŠKINA, I. V., „Narcy eže sutʼ slovene“, in: Vostočnaja Evropa v drevnosti i srednevekov’e. Materialy k konferencii. X čtenija k 80-letiju čl.-korr. AN SSSR Vladimira Terent’eviča Pašuto, Moskva, 15–17 apr. 1998 g., Moskau 1998, S. 13–16. I. V. Vedjuškina ist der Ansicht, dass die „Noriker“ als Ahnen der Slawen mit den Einwohnern der römischen Provinz Noricum gleichgesetzt und in die Chronik aus einer separaten „Liste der 72 Völker“ entlehnt wurden. Zur textkritischen Herkunft dieses Fragmentes des Chroniktextes vgl. die Kommentare von ŠACHMATOV, Povestʼ vremennych let i ee istočniki, S. 70–81; LICHAČEV, D. S., Povestʼ vremennych let, Bd. 2, Moskau/Leningrad 1950, S. 204–217; PETRUCHIN, V. Ja., „Rusʼ i vsi jazyci“. Aspekty istoričeskich vzaimosvjazej. Istoriko-archeologičeskie očerki, Moskau 2011, S. 147–160.

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Doch es gibt viele Slawen: Tschechen, Mährer, Weiße Chorvaten, Serben, Ljachen, Liutizen, Masowier, Pomorjanen und dazu noch mit den Poljanen, Derevljanen, Dregovičen usw. die sogenannten Chronikvölker: „Und also breitete sich das slovenische Volk aus“.11 Doch unter den Slawen gab es kein „Volk der Rus’“, man hatte es irgendwie mit den Slawen zu verbinden. Das „Volk der Rus’“ wurde vom Chronisten unter den Warägern gefunden; in der biblischen Interpretation handelte es sich dabei um ein Volk – die Gesamtheit der Stämme. Diese Waräger hießen „Rus’“, so wie die anderen „Schweden“, „Norweger“, „Gotländer“ usw. genannt wurden (es werden also Völker aufgezählt): „Und drei Brüder wurden erwählt samt ihren Sippen, und sie nahmen alle Russen mit sich“.12 Was aber interessant ist: Weder Rjurik noch Sineus noch Truvor, die Häupter der Stämme der „Rus’“, werden im weiteren Verlauf jemals als Stammväter des Volkes der Rus’ erwähnt. Rjurik gilt zwar als der Begründer der Fürstendynastie der Rjurikiden, aber keineswegs als der Begründer der Rus’ und des „russischen Landes“ als des Gelobten Landes eines gotterwählten Volkes. Offensichtlich hat dies damit zu tun, dass Rjurik und seine Waräger Heiden waren. Während Abraham und Moses in der Bibel treue Anhänger Gottes sind, war es unmöglich, dasselbe über Rjurik zu sagen, weswegen er auch nicht für die Rolle des Stammvaters der Rus’ in Frage kam. Japhet mit seinen Slawen aus der Zahl der 72 „Sprachen“ ist eine deutlich passendere Gestalt. Aber man musste ihn irgendwie mit den Warägern und der Rus’ in Verbindung bringen. Sowohl die Rus’ als auch die Waräger werden in der Liste der Völker des „Landes von Japhet“ erwähnt, sie gehören zu seinem „Stamm“: „Zum Stamme Japhets gehören auch Varäger, Schweden, Norweger, Gotländer, Russen, Angeln, Galičanen, Volochen, Römer, Deutsche, Karolinger, Venezianer, Franken und andere“.13 Der Chronist schließt den Kreis mithilfe der Erzählung von der slawischen Schrift, von Kyrill und Method und von der mit deren Hilfe erlangten Sprache des gotterwählten Volkes, mit der man mit Gott sprechen kann. Die slawische Schrift gab der Heilige Geist selbst. Der Lehrer der slawischen Sprache ist der Apostel Paulus, der – während der von den Aposteln wahrgenommenen Mission zur Verkündigung von Gottes Wort unter den heidnischen Völkern – in Illyrien lehrte, und sein Helfer Andronicus, einer von den 70 Jüngern: Darum ist der Apostel Andronikos Lehrer des slovenischen Volkes, nach Mähren kam auch der Apostel Paulos und lehrte hier: dort nämlich ist Illyrien, wohin der Apostel Paulos gelangte; dort aber saßen zuerst die Slovenen. Darum ist auch Paulos Lehrer des slovenischen Volkes, und von diesem Volke sind auch wir Russen; deswegen ist Paulos auch unser, der Russen, Lehrer, weil er das slovenische Volk lehrte und den Andronikos dem slovenischen Volke zum Bischof und zu seinem Nachfolger bestellte. Das slovenische Volk aber und das russische sind

11 PSRL, Bd. 1., Sp. 6; deutsche Übersetzung in: Nestorchronik, S. 3. 12 PSRL, Bd. 1, Sp. 20; deutsche Übersetzung in: Nestorchronik, S. 11. 13 PSRL, Bd. 1, Sp. 4; deutsche Übersetzung in: Nestorchronik, S. 2.

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Eines; denn nach den Varägern nannten sie sich Russen, anfänglich aber waren sie Slovenen; wenn sie auch Poljanen genannt wurden, so war es doch die slovenische Sprache.14

Also tritt der Warägername „Rus’“ bloß als der Name auf, der sich für die Slawen etablierte, welche aus dem Stamm Japhets kommen und vom Heiligen Geist eine Sprache erhielten, mit der man mit Gott sprechen kann. Damit hatte der Chronist die wichtigsten Komponenten des biblischen Konzepts von einem gotterwählten Volk zusammengestellt. Es galt noch, das russische Land als das Gelobte Land zu erringen, es zu erobern und die bedeutendste Mission der Völker auf Erden zu erfüllen, nämlich ein Volk Gottes zu werden. Letzten Endes sind die folgenden Seiten der „Nestorchronik“ exakt diesen Themen gewidmet: der Taufe als dem Bund mit Gott und dem Triumph der Orthodoxie, welche im russischen Land sowie in dessen Fürsten und Heiligen erstrahlte. Die Befreiung von dem Tribut an die Chasaren und die Ankunft in Kiev sind, wie von V. Ja. Petruchin aufgezeigt wurde, mit dem biblischen Exodus vergleichbar.15 Also hatten die ethnogenetischen Konzepte, auf deren Grundlage die Entstehungsgeschichte der Rus’ geschaffen worden ist, ursprünglich eine rein religiöse und keine ethnische Ausrichtung. Bis jetzt sprachen wir über die Aneignung, das Erkennen und das schöpferische Gestalten des alttestamentarischen Modells durch den russischen Chronisten. Aber in der Orthodoxie herrschte das neutestamentarische Modell vor, gemäß welchem ein Volk, das es anstrebt, „Gottes Volk“ zu werden, alle ethnischen Merkmale verliert; diese sind vollkommen unwichtig: „denn du [Christus] bist erwürget und hast uns Gott erkauft mit deinem Blut aus allerlei Geschlecht und Zunge und Volk und Heiden“ (Offb. 5, 9). Für die Universalkirche gilt: „da nicht ist Grieche, Jude, Beschnittener, Unbeschnittener, Ungrieche, Skythe, Knecht, Freier, sondern alles und in allen Christus“ (Kol. 3, 11). Aus diesem Grund verschwinden aus der Chronik nach der Taufe im Jahr 988 rasch alle slawischen Stämme; keine der Gestalten wird vom Chronisten weiterhin als Poljane, Derevljane oder Krivič bezeichnet.16 Es gibt fortan ein geeintes russisches Land als einen besonderen geistlichen Raum, als ein gotterwähltes Land. Die Historiker wissen, dass die alte Rus’ in Wirklichkeit kein geeinter Staat war17 und es erst recht keine vereinte „altrussische Völkerschaft“ gab.18 Aber für den Chronisten war dies unwichtig, da das russische Land in seinen Augen als ein geeintes Land, als das Gelobte Land bestand, von einem vereinten Volk bewohnt, 14 PSRL, Bd. 1, Sp. 28; deutsche Übersetzung in: Nestorchronik, S. 16. 15 PETRUCHIN, Rusʼ i vsi jazyci, S. 42. 16 O. P. Toločko hält die vom Chronisten vorgenommene Einteilung der Ostslawen in Stämme für eine Nachahmung der Bibel, für eine Entlehnung des biblischen Schemas; vgl. TOLOCHKO, The Primary Chronicle’s ‘Ethnography’, S. 170f. Die Historiker haben wiederholt auf Übereinstimmungen mit der Bibel verwiesen, insbes. stimmt die Anzahl der slawischen Stämme offenkundig mit der Zahl der Stämme Israels überein, da es jeweils zwölf sind; vgl. PETRUCHIN, Rusʼ i vsi jazyci, S. 42. 17 Vgl. beispielsweise DANILEVSKIJ, I. N., Drevnjaja Rusʼ glazami sovremennikov i potomkov (IX–XII vv.), Moskau 1998, S. 164–181. 18 JUSOVA, N. N., Genezis koncepcii drevnerusskoj narodnosti v istoričeskoj nauke SSSR, Vinniza 2005.

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das zu Gott ging. Die Existenz irgendwelcher gesonderter Stämme war ebenfalls unbedeutend, denn nach dem Eintritt in die Kirche waren sie ein Teil der Rus’ als eines gotterwählten Volkes, und die noch nicht endgültig beseitigten Heiden beziehungsweise „Zungen“ konnte man vernachlässigen. Vom Standpunkt des Neuen Testamentes aus waren sie unausweichlich dazu verurteilt, entweder den richtigen Glauben anzunehmen oder zu „Wasser“ zu werden, dem Quell für die Kräfte der Hure Babylon, der Dienerin des Teufels. Dies macht deutlich, warum dieses historische Konzept nicht zur ideologischen Grundlage für die Formierung des russischen Ethnos im Mittelalter werden konnte: Seinem Wesen nach negierte es die ethnische, nationale Komponente der frühen russischen Geschichte. Die Rus’, das waren keine „Zungen“, sondern christlichorthodoxe Menschen, die zu ihrem Gott gingen.19 In diesem Konzept fehlt die ethnisch-nationale Komponente. Gerade deswegen blieb die russisch-orthodoxe Kirche während des Zerfalls des altrussischen Staates lange, vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, die wichtigste spirituelle Klammer, welche die Einwohner von Novgorod Velikij, Vilnius, Polock, Kiev, Vladimir und Moskau zusammenhielt. Nicht ohne Grund taucht der Zusatz „von ganz Rus’“ erstmals im Titel des orthodoxen Metropoliten auf, und zwar im 13. Jahrhundert, als man unmöglich von einer politischen Einheit der russischen Länder sprechen konnte.20 Nach der Spaltung der orthodoxen Welt im 15. Jahrhundert in orthodoxe Russen, die in dem aus den Großfürstentümern Vladimir und Moskau entstandenen Staat „von ganz Rus’“ lebten, und in orthodoxe Ruthenen des Großfürstentums Litauen, Ruthenien und Samogitien wandten sich die Intellektuellen des östlichen Europa erneut den ethnogenetischen Konzepten der altrussischen Periode zu, gaben diesen nun aber eine andere Note. In der Moskauer Rus’ gewann das Konzept der Rusʼ/Russlands als ein „Neues Israel“ die Oberhand,21 wobei das altrussische Erbe die Grundlage für die Rus’/Russland bildete. Zu deren Vätern beziehungsweise Begründern erklärte das „Stufenbuch“ aus dem Jahr 1563 den den Aposteln gleichgestellten Fürsten Vladimir den Täufer, die Fürstin Ol’ga und andere altrussische Fürsten und Heilige. Ihre Taten, die allesamt im Namen der Orthodoxie begangen 19 Hier ist die Beobachtung von Lichačev sehr wichtig, dass der Kiever Metropolit Ilarion die Russen in seiner bekannten „Predigt über Recht und Gnade“ aus dem 11. Jahrhundert im Vergleich zu den orthodoxen Griechen, den Byzantinern, als das „neue Volk“ bezeichnete. Das neue Volk nahm die neue christliche Lehre so an, wie neuer Wein in neue Schläuche gefüllt wird; vgl. LICHAČEV, „Povestʼ vremennych let“, Bd. 2, S. 73. Dies ist ein rein religiöses, messianisches Verständnis vom Wesen der Russen und der Rus’. Vgl. die Hypothese von I. N. Danilevskij über den altrussischen Messianismus: DANILEVSKIJ, I. N., Mog li Kiev bytʼ Novym Ierusalimom?, in: DERS., Drevnjaja Rusʼ glazami sovremennikov i potomkov (IX–XII vv.), Moskau 1998, S. 355–368. 20 GORSKIJ, A. A., Russkie zemli v XIII–XIV vekach. Puti političeskogo razvitija, Moskau 1996, S. 45f. 21 DMITRIEV, M. V., Konfessional’nyj faktor v formirovanii predstavlenij o „russkom“ v kul’ture Moskovskoj Rusi, in: Religioznye i ėtničeskie tradicii v formirovanii nacional’nych identičnostej v Evrope. Srednie veka – novoe vremja = Religion et ethnicité dans la formation des identités nationales en Europe. Moyen Age – époque moderne, hrsg. von DEMS., Moskau 2008, S. 218–240.

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worden waren, bildeten die Stufen einer Leiter, welche die Rus’ und das orthodoxe Volk in das Reich Gottes führen sollte. Im Großfürstentum Litauen spielte das altrussische Erbe eine deutlich geringere Rolle. Dort waren andere ethnogenetische Legenden im Umlauf: vom Römer Palemon als dem Gründer des litauischen Staates, von den Chasaren als den Urvätern der ukrainischen Kosaken usw. Natürlich wusste man von der Kiever Periode der altrussischen Geschichte, doch bei der Entwicklung von ethnogenetischen Mythen griff man selten darauf zurück. Erst im 19. und 20. Jahrhundert, als die nationalen Historiker anfingen, nach altrussischen Wurzeln der Ukraine zu suchen und die Polocker Rus’ als die Vorgängerin des heutigen Weißrussland zu beschreiben, gewann die Kiever Periode an Bedeutung. In Russland dagegen entwickelten sich die ethnogenetischen Interpretationen, welche einen Bogen zum altrussischen Erbe schlugen, vom Ende des 15. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts allmählich zu einem Konzept des russischen Volkes mit einer tausendjährigen ethnischen Geschichte und zur primordialistischen Idee einer russischen Nation, deren Wurzeln in uralte Zeiten zurückreichten. Doch dies sind bereits die Interpretationen und Lesarten der Intellektuellen der Neuzeit. Ursprünglich wurde in der alten Rus’ dem ethnogenetischen Suchen des altrussischen Chronisten das biblische Konzept zugrunde gelegt und der Suche ein religiöser Charakter gegeben. (Übersetzung aus dem Russischen: Kyrill Kobsar)

„HÄRETIKER“ IM ORTHODOXEN GOTTESDIENST Religion, Diplomatie und diplomatisches Zeremoniell im Moskauer Staat an der Schwelle zur Frühen Neuzeit Maike Sach Seit Russland in Gestalt des Moskauer Staates im ausgehenden 15. Jahrhundert wieder in den Blick der Menschen in Westeuropa geriet, wuchs das Interesse an verlässlichen Informationen aus dieser Region, die allerdings nicht leicht zu bekommen waren.1 Angesichts der Kritik an der katholischen Kirche, dem Aufkommen von Reformation und Gegenreformation war auch das Interesse an religiösen Themen allgemein und speziell an der orthodoxen Kirche in Russland und dem dortigen Verhältnis von Kirche und Staat sehr groß.2 Infolgedessen finden sich in frühneuzeitlichen Reiseberichten immer wieder entsprechende Ausführungen zur Religion. Orthodoxe Kirchen weckten dabei die besondere Neugierde westlicher Besucher als Orte, an denen man sich Antworten auf verschiedene Fragen zu Lehre und Praxis der russischen Orthodoxie versprechen durfte. Allerdings hielten Russen, in de-

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Zusammenfassend zur Wiederentdeckung Russlands durch westliche Beobachter POE, Marshall T., “A People Born to Slavery.” Russia in Early Modern European Ethnography, 1476– 1748, Ithaca/London 2000; MUND, Stéphane, Orbis russiarum. Genèse et développement de la représentation du monde „russe“ en Occident à la Renaissance (Traveaux d’Humanisme et Renaissance, 382), Genf 2003; mit Betonung der Wahrnehmung aus konfessioneller Perspektive LIECHTENHAN, Francine-Dominique, Les trois christianismes et la Russie. Les voyageurs occidentaux face à l’Èglise orthodoxe russe XVe–XVIIIe siècle, Paris 2002; exemplarisch problematisiert unter imagologischen Vorzeichen durch KAPPELER, Andreas, Ivan Groznyj im Spiegel der ausländischen Druckschriften seiner Zeit. Ein Beitrag zur Geschichte des westlichen Russlandbildes (Geist und Werk der Zeiten, 33), Bern/Frankfurt a.M. 1972; immer noch von wissenschaftlichem Wert ist die Zusammenstellung von Berichten und ihren Ausgaben bei ADELUNG, Friedrich von, Kritisch-literärische Übersicht der Reisenden in Rußland bis 1700, deren Berichte bekannt sind, 2 Bde., St. Petersburg/Leipzig 1846 [ND Amsterdam 1960]. Als frühes Zeugnis für dieses Interesse mag hier gelten FABRI, Johannes, Ad Serenissimum Principem Ferdinandum Archiducem Austriae, Moscovitarum iuxta mare glaciale religio, in: Rossija v pervoj polovine XVI v. Vzgljad iz Evropy, hrsg. von O. F. KUDRJAVCEV, Moskau 1997, S. 143–196; dazu KÄMPFER, Frank, Herbersteins nicht eingestandene Abhängigkeit von Johann Fabri aus Leutkirch, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44 (1996), S. 1–27; ADELUNG, Kritisch-literärische Übersicht, Bd. 1, S. 184–186; ferner KAPPELER, Ivan Groznyj, S. 25.

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ren Städten sowie in bestimmten Regionen des Landes auch Gruppen unterschiedlicher Religionen und Konfessionen geduldet wurden,3 die Türen ihrer Gotteshäuser für Andersgläubige lieber geschlossen. Dies galt auch für lateinische Christen, wie beispielsweise für den holsteinischen Gelehrten Adam Olearius, der als Sekretär einer Gesandtschaft des Gottorfer Herzogs nach Persien diesen Umstand bereits 1634 auf seiner Durchreise durch den Moskauer Staat beobachtete.4 Als 1636 ein Teilnehmer einer zweiten holsteinischen Gesandtschaft an den Schah plötzlich in Moskau verunglückte, konnte der Gottesdienst für den Verstorbenen, einem gebürtigen Pfälzer „reformirter Religion“, wie Olearius schrieb, in einer calvinistischen Kirche abgehalten werden. Die Beerdigung fand schließlich auf dem örtlichen deutschen Friedhof statt.5 Die Hintergründe für das russische Verhalten hat Gabriele Scheidegger mit dem Verweis auf unterschiedliche kulturelle Werte und Normen erklärt: Lateinische Christen galten Orthodoxen als unrein, Lateinern war der Zutritt zu orthodoxen Gotteshäusern infolgedessen nach Möglichkeit zu verwehren, damit das Heilige nicht verunreinigt würde.6 Als Gewährsleute für dieses Bestreben führt Scheidegger eine ganze Reihe Reisender des 17. Jahrhunderts an.7 Sei doch einmal ein Lateiner in eine orthodoxe Kirche geraten, so hätte nach dem Zeugnis Johann Danckaerts8, einem Holländer im Gefolge des schwedischen Heerführers Jakob Pontus de la Gar-

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KAPPELER, Andreas, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung, Geschichte, Zerfall, 2. Aufl., München 1993, S. 21–23, 33f.; NOLTE, Hans-Heinrich, Verständnis und Bedeutung der religiösen Toleranz in Rußland 1600–1725, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 17 (1969), S. 494–530, hier S. 494f.; HAMBURG, Gary M., Religious Toleration in Russian Thought, 1520– 1825, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 13 (2012), S. 515–559, hier S. 522–525; FILJUŠKIN, Aleksandr I., Religioznyj faktor v russkoj vnešnej politike XVI veka: Ksenofobija, tolerantnost’ ili pragmatizm?, in: Religion und Integration im Moskauer Russland. Konzepte und Praktiken, Potentiale und Grenzen. 14.–17. Jahrhundert (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 76), hrsg. von Ludwig STEINDORFF, Wiesbaden 2010, S. 145–179, hier S. 173f.; BUSHKOVITCH, Paul, Orthodoxy and Islam in Russia 988–1725, in: ebd., S. 117– 143, hier S. 137–141. OLEARIUS, Adam, Vermehrte Newe Beschreibung Der Muscowitischen vnd Persischen Reyse, So durch gelegenheit einer Holsteinischen Gesandschafft an den Russischen Zaar vnd König in Persien geschehen […], Schleswig 1656, URL: http://www.mdz-nbn-resolving.de/urn/ resolver.pl?urn=urn:nbn:de:bvb:12-bsb10901829-1 (Zugriff 01.11.2015), S. 45; zu Person und Werk siehe ADELUNG, Kritisch-literärischer Übersicht, Bd. 2, S. 299–306; ferner LISZKOWSKI, Uwe, Adam Oleariusʼ Beschreibung des Moskauer Reiches, in: Russen und Rußland aus deutscher Sicht. 9.–17. Jahrhundert (West-östliche Spiegelungen, Reihe A, 1), hrsg. von Mechthild KELLER, München 1985, S. 223–263. OLEARIUS, Vermehrte Newe Beschreibung, S. 132. SCHEIDEGGER, Gabriele, Perverses Abendland – barbarisches Rußland. Begegnungen des 16. und 17. Jahrhunderts im Schatten kultureller Missverständnisse, Zürich 1993, S. 63. Ebd., S. 64. ADELUNG, Kritisch-literärische Übersicht, Bd. 2, S. 292f.

„Häretiker“ im orthodoxen Gottesdienst

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die, des mehrfachen Amsterdamer Bürgermeisters, holländischen Gesandtschaftsteilnehmers und Geographen Nicolaas Witsen9 und Samuel Collinsʼ10, des englischen Arztes des Zaren Aleksej Michailovič, manchmal sogar Tod oder Zwangstaufe gedroht. Zumindest aber seien anschließend Rituale der Reinigung der als verunreinigt angesehenen Kirchenräume zu vollziehen gewesen.11 Dabei kamen Weihwasser und Weihrauch zum Einsatz, die Reinigung konnte allerdings auch profan in Wischen und Putzen bestehen, nachdem Lateiner aus der unerlaubt betretenen orthodoxen Kirche hinausgeführt worden seien, wie Olearius zu berichten weiß.12 Nach Scheidegger sei die Situation im 16. Jahrhundert allerdings noch eine andere gewesen, man habe „die Lateiner keineswegs so schroff aus den russischen Kirchen gewiesen“: Herberstein erhielt auf Reisen, 1517 wie 1526, die Erlaubnis, einen Gottesdienst zu besuchen. Raffaello Barberini war gleichfalls zweimal in einer orthodoxen Kirche. Auch Antonio Possevino, der Gesandte des Papstes, hätte auf Anweisung Ivans IV. zugelassen werden sollen, doch hoheitsvoll lehnte der Jesuit ab. Guy Miège und seine Reisegefährten durften sogar noch in den 60er Jahren des 17. Jahrhunderts in Ustjug eine orthodoxe Kirche betreten. In Moskau hätte man ihnen dies aus Angst vor Verunreinigung niemals gestattet, schreibt er.13

Fügt sich das Beispiel des Guy Miège aus dem 17. Jahrhundert in das eingangs für diese Zeit als typisch erwähnte Muster und stellt dies im Wesentlichen nicht in Frage, so verdienen die von Scheidegger als Belege für eine größere Offenheit angeführten drei Reisenden eine genauere Betrachtung. In der Tat sind hier Besuche von orthodoxen Kirchen wie teilweise auch der Besuch von Gottesdiensten belegt. Doch waren es vielleicht vielmehr die Umstände der jeweiligen Reisen und ein gewisses Maß an politischem Pragmatismus auf russischer Seite, die die von Scheidegger anhand dieser Beispiele korrekt beobachtete Offenheit bedingten? Führt vielleicht gerade die Auswahl der angeführten Gewährsleute – die mit diplomatischen Aufträgen in Moskau erschienen und damit einem speziellen Personenkreis entstammten, der qua Amt über seine Tätigkeiten und Erlebnisse berichtete – zu diesem Ergebnis? Zum ersten Zeugen, der von Gabriele Scheidegger aufgerufen wurde: Sigismund von Herberstein (1486–1566) war ein Humanist und vielbeschäftigter Diplomat, der zahlreiche Missionen im Rahmen der weitgespannten Bündnispolitik der habsburgischen Herrscher Maximilian I., Karl V. und Ferdinand I. an die Höfe Europas übernahm. Unter dem Vorzeichen einer gegen die im östlichen Europa konkurrierende Dynastie der Jagiellonen gerichtete Politik begab er sich auch nach Moskau (1517/18 und 1526/27).14 Heute ist er vor allem als Autor der berühmten, 9 10 11 12 13 14

Ebd., S. 338–340; DAHLMANN, Dittmar, Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn 2009, S. 106f.; LIECHTENHAN, Les trois christianismes, S. 74–77. ADELUNG, Kritisch-literärische Übersicht, Bd. 2, S. 342–344; LIECHTENHAN, Les trois christianismes, S. 90–92. SCHEIDEGGER, Perverses Abendland, S. 64; dazu auch POE, People, S. 46f. OLEARIUS, Vermehrte Newe Beschreibung, S. 303. SCHEIDEGGER, Perverses Abendland, S. 64. Zu den Kontakten zwischen den Habsburgern und Moskau während der Herrschaft Vasilijs III.: ZIMIN, Aleksandr A., Rossija na poroge novogo vremeni. Očerki političeskoj istorii pervoj treti

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erstmals 1549 in einer lateinischen Fassung veröffentlichten Rerum Moscoviticarum Commentarii bekannt.15 In seinem wirkmächtigen, vielfach wieder aufgelegten und übersetzten Russlandbuch hat er Informationen verarbeitet, die er als kaiserlicher Gesandter sammeln konnte.16 In dieser Funktion hatte er nicht nur politische Aufträge erhalten, sondern sollte auf Wunsch Ferdinands I. sowie des Salzburger Erzbischofs und Kardinals Matthäus Lang von Wellenburg17, eines alten Beraters Maximilians I. und Gegners der Reformation, ausdrücklich auch religiöse Fragen erkunden,18 die er infolgedessen ausführlich in mehreren Kapiteln behandelt hat.19 Über seine bereits eingangs erwähnten Gottesdienstbesuche schreibt Herberstein seine Eindrücke zusammenfassend, hier in der letzten von ihm selbst durchgesehenen deutschen Fassung seiner Rerum Moscoviticarum Commentarii: Damit ich jren Gotsdienst sehen möchte / hab ich an zwaien unser Frauen tagen der schiedung [15. August, Mariä Himmelfahrt] / als ich zu zwaien malln dort gewest bin / erlangt / das ich in die oberste Khirch bin gelassen worden [… / S. 167:] Der Fürst stund neben der Thür / durch

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XVI v., Moskau 1972, S. 169–207; CHOROŠKEVIČ, Anna L., Russkoe gosudarstvo v sisteme meždunarodnych otnošenij konca XV – načala XVI v., Moskau 1980, S. 123–161. Hier wird nach folgender Ausgabe zitiert: HERBERSTEIN, Sigismund von, Rerum Moscoviticarum Commentarii. Synoptische Edition der lateinischen und der deutschen Fassung letzter Hand Basel 1556 und Wien 1557, unter der Leitung von Frank KÄMPFER erstellt von Eva MAURER und Andreas FÜLBERTH, hrsg. von Hermann BEYER-THOMA, Regensburg 2007, URL: http://www.dokumente.ios-regensburg.de/publikationen/Herberstein_gesamt.pdf (Zugriff 29. 10.2015). Zu Leben und Werk siehe STÖKL, Günther, Herbersteiniana, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 15 (1967), S. 423–432; Siegmund von Herberstein. Kaiserlicher Gesandter und Begründer der Rußlandkunde und die europäische Diplomatie (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchives, 17), hrsg. von Gerhard PFERSCHY, Graz 1989; 450 Jahre Sigismund von Herbersteins „Rerum Moscoviticarum Commentarii“, 1549–1999. Jubiläumsvorträge (Schriften zur Geistesgeschichte des östlichen Europa, 24), hrsg. von Frank KÄMPFER und Reinhard FRÖTSCHNER, Wiesbaden 2002. CHOROŠKEVIČ, Anna L., Die Quellen Herbersteins und die Moscovia als Quelle zur politischen, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Rusʼ im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts, in: Siegmund von Herberstein. Kaiserlicher Gesandter und Begründer der Rußlandkunde, S. 179–243. Zur Rezeption siehe BARON, Samuel H., Herberstein’s Image of Russia and its Transmission through Later Writers, in: ebd., S. 245–273; GRALA, Hieronim, Die Rezeption der „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ des Sigismund von Herberstein in Polen-Litauen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: 450 Jahre Sigismund von Herbersteins „Rerum Moscoviticarum Commentarii“, S. 317–326; LEITSCH, Walter, Zu einer frühen Übersetzung ins Englische von Teilen der „Moscovia“ Herbersteins, in: ebd., S. 327–349; DUKES, Paul, The Humanist and Diplomat Sigismund of Herbersteins’s “Rerum Moscoviticarum Commentarii” in the Context of the Foreign Descriptions of Moscovy in the Sixteenth Century. Hakluyt and the Reception of Herberstein in Great Britain, in: ebd., S. 351–360; GERONIMI, Valérie, Vlijanie „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ Sigismunda Gerberštejna na tvorčestvo Jurija Križaniča, in: ebd., S. 361–381. SCHINDLING, Anton, Matthäus Lang von Wellenburg, in: Neue Deutsche Biographie 16 (1990), S. 394–397; URL: http://www.deutsche-biographie.de/pnd119442620.html (Zugriff 31.10. 2015). HERBERSTEIN, Rerum Moscoviticarum Commentarii, S. 17, 20. KÄMPFER, Frank, Siegmund von Herbersteins „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ als religionsgeschichtliche Quelle, in: Siegmund von Herberstein. Kaiserlicher Gesandter und Begründer der Rußlandkunde, S. 147–177; LIECHTENHAN, Les trois christianismes, S. 32–38.

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die er in die Khirchen gehet / und laint sich mit dem rukhen an die wendt / und vorn an den stab Possoch / sein huet kholpackh hielt ainer der vor sein stund / also das derselb sein ermel für die hand und finger zohe und steckht die handt gleich als ain stumpf in das hüetl / seine Rätte stunden vasst in mitten der Khirchen an den saillen / daselbstn hin ich auch gestelt ward.20

Neben der eigentlichen Beschreibung des Beobachteten, die seiner Schilderung in seiner „Selbstbiographie“ entspricht,21 erwähnt Herberstein hier sein explizites Ersuchen zur Zulassung zum Gottesdienst, mit dem er den erwähnten Aufträgen seines Herrschers sowie des Salzburger Erzbischofs zur Informationsbeschaffung nachkam, sowie die Anwesenheit des Großfürsten. Neben dem Ablauf des Gottesdienstes ist der Großfürst, der vor der Folie der Verhaltensnormen westeuropäischer Fürsten wahrgenommen wird, Gegenstand der Beobachtung: Gemäß Frank Kämpfer handelt es sich bei dieser Textstelle um die Darstellung „gläubiger Demut“ des andernorts im Werk Herbersteins wegen seiner Machtfülle eher als Tyrannen geschilderten Monarchen sowie um ein Beispiel der auf byzantinische Muster zurückgehenden symphonia zwischen Kirche und Staat.22 Den Zutritt zu einem Gottesdienst im Beisein des Großfürsten kann man allerdings auch als eine besondere Ehrung des Gesandten verstehen: Kurze Zeit vor Herberstein hatte Dietrich von Schönberg, Gesandter Albrechts von Brandenburg-Ansbach, des letzten Hochmeisters des Deutschen Ordens in Preußen, Moskau besucht, um dort ein Bündnis gegen Polen-Litauen zu verhandeln.23 Für den Hochmeister eines katholischen Ritterordens war die Allianz mit dem orthodoxen Großfürsten gegen den katholischen König von Polen eine heikle Angelegenheit und so wurde, um den Kontakten einen anderen Anstrich zu verleihen, gegenüber Vertretern der Kurie, die ihrerseits traditionelle Adressatin der Klagen über den Orden aus PolenLitauen war, die Möglichkeit angedeutet, mit der russisch-orthodoxen Kirche eine

20 HERBERSTEIN, Rerum Moscoviticarum Commentarii, S. 166f. 21 HERBERSTEIN, Sigmund von, Selbstbiographie, MCCCCLXXXVI bis MDLIII, hrsg. von Theodor Georg von KARAJAN, in: Fontes rerum Austriacarum. Scriptores, Bd. 1, Wien 1855, S. 67–396, hier S. 127f. In seiner Autobiographie schildert Herberstein auch, wie er auf der Hinreise an den Moskauer Hof, die im Frühjahr 1517 stattfand, in Vyšnij Voločëk zusammen mit seinen russischen Begleitern am Ostersonntag zu einer Kirche zog. Es findet sich keine Beschreibung der Osterliturgie, so dass man annehmen darf, dass er keine Gelegenheit hatte, diese zu beobachten und er „nur“ die erwähnten beiden Male in Moskau einen Gottesdienst besuchen konnte. Er vermerkt lediglich: „Sy [die Russen] haben Ir geweichtes in der Khirchen geessen [sic], steenndt nach dem Ambt.“; ebd., S. 119. 22 KÄMPFER, Siegmund von Herbersteins „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ als religionsgeschichtliche Quelle, S. 157f., allgemein zur symphonia und der Beziehung zwischen Kirche und fürstlicher Herrschaft in der Rusʼ und im Moskauer Staat siehe BREMER, Thomas, Kreuz und Kreml. Kleine Geschichte der orthodoxen Kirche in Russland, Freiburg/Basel/Wien 2007, S. 112–119. 23 CHOROŠKEVIČ, Russkoe gosudarstvo, S. 153–161; FORSTREUTER, Kurt, Preußen und Rußland von den Anfängen des Deutschen Ordens bis zu Peter dem Großen (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, 23), Göttingen/Berlin/Frankfurt a.M. 1955, S. 75–100; SACH, Maike, Hochmeister und Großfürst. Die Beziehungen zwischen dem Deutschen Orden in Preußen und dem Moskauer Staat um die Wende zur Neuzeit (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 62), Stuttgart 2002.

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Kirchenunion zu verhandeln.24 Die Union mit zumindest einer der orthodoxen Kirchen auf der Basis der erfolglosen Union von Florenz (1439) war wiederum ein besonders wichtiges Projekt der Kurie und wurde unter anderem als ein wünschenswerter erster Schritt zu einer noch zu schmiedenden europäischen Koalition gegen das Osmanische Reich gesehen, in die der Moskauer Staat einbezogen werden sollte.25 Vor diesem Hintergrund schien es aus der Perspektive des Deutschen Ordens sinnvoll, sich über die religiösen Verhältnisse in Moskau zu informieren. Folglich bat der hochmeisterliche Gesandte bereits bei seiner ersten Reise nach Moskau im Frühjahr 1517 um die Erlaubnis, die Uspenskij-Kathedrale im Kreml besuchen zu dürfen. In den diplomatischen Akten des posol’skij prikaz, dem Gesandtschaftsamt, wurde dieses Gesuch unter dem Datum des 1. März 1517 knapp vermerkt, ebenso wie die positive Reaktion darauf.26 Ebenfalls sehr knapp wurde in der betreffenden posol’skaja kniga notiert, dass auch der Großfürst anwesend gewesen sei.27 Ein Gottesdienst wird nicht ausdrücklich erwähnt, liegt aber nahe, da es sich bei dem erwähnten Tag um den ersten Sonntag der Fastenzeit vor Ostern handelte. Die Präsenz Vasilijs III., die explizit in den russischen diplomatischen Quellen festgehalten wird, erscheint in diesem Kontext als ehrende Geste, ebenso wie andere Zeichen von Ehrerweisungen gegenüber Gesandten fremder Herrscher, wie beispielsweise die Zahl und die Art von Geschenken, die überreicht oder empfangen wurden.28 Anders gesagt: Kirchenbesuche sowohl im Falle Herbersteins als auch Schönbergs erscheinen hier nicht nur als Teil symbolischer Kommunikation im Sinne eines zeremoniellen Ausdrucks der Ordnung der symphonia, sondern besitzen auch eine Funktion im Rahmen des diplomatischen Zeremoniells, welches Herrschafts-, Ordnungs- und Hierarchieverhältnisse beziehungsweise die herrschenden Vorstellungen über wechselseitig zu erweisende Ehren in ein entsprechendes Zeichensystem

24 FORSTREUTER, Preußen und Rußland, S. 88–91; SACH, Hochmeister und Großfürst, S. 325– 361. 25 Allgemein HÖSCH, Edgar, Die Stellung Moskoviens in den Kreuzzugsplänen des Abendlandes. Bemerkungen zur griechischen Emigration im Moskau des ausgehenden 15. und 16. Jahrhunderts, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 15 (1967), S. 321–340, speziell zur Situation im zweiten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts ebd., S. 322, Anm. 7; SACH, Hochmeister und Großfürst, S. 328f. 26 Pamjatniki diplomatičeskich snošenij moskovskago gosudarstva s nĕmeckim ordenom v Prussii, 1516–1520 g. (Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva, 53) [im Folgenden: SIRIO, Bd. 53], hrsg. von Gennadij F. KARPOV, St. Petersburg 1887, S. 10f.; zu diesem Quellentypus eingehend ROGOŽIN, Nikolaj M., Posol’skie knigi Rossii konca XV – načala XVII vv., Moskau 1994. 27 SIRIO, Bd. 53, S. 11. 28 Zur Geschenkpraxis: JUZEFOVIČ, Leonid A., Putʼ posla. Russkij posol’skij obyčaj, obichod, ėtiket, ceremonial, St. Petersburg 2007, S. 116–132.

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für die symbolische Kommunikation in Außenbeziehungen übersetzt.29 Die hier unbestreitbare Offenheit gegenüber heterodoxen Ausländern in orthodoxen Kirchen erscheint damit nicht nur als Ergebnis religiöser Toleranz, sondern auch als Zeichen von Wertschätzung, die politisch motiviert sein und sehr pragmatischen Zwecken und Zielen folgen konnte. Hinweise auf die Haltung des orthodoxen Klerus zu dieser Frage während der Herrschaft Vasilijs III. scheinen keinen Eingang in die Akten gefunden zu haben, die sich im Zusammenhang mit den Gesandtschaften Herbersteins und Schönbergs erhalten haben. Allerdings wird die Formulierung der Idee von „Moskau als dem Dritten Rom“30 unter anderem unter Rückgriff auf die alttestamentarische Vier-Reiche-Lehre (Dan. 2, 7) gerade in die Zeit des um Kontakte zum Westen bemühten Vasilijs III. verortet und im Kontext der erwähnten Verhandlungen mit dem Deutschen Orden und dem von westlicher Seite vorgetragenen Wunsch nach einer Kirchenunion als dringende Ermahnung interpretiert, dem orthodoxen Glauben unbedingt treu zu bleiben und seine Reinheit zu bewahren.31 Der orthodoxe Klerus durfte 29 GARNIER, Claudia, „Wer meinen Herrn ehrt, den ehre ich billig auch“. Symbolische Kommunikationsformen bei Gesandtenempfängen am Moskauer Hof im 16. und 17. Jahrhundert, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 7 (2005), S. 27–51; DIES., Die Macht der Zeichen – die Zeichen der Macht. Zur Bedeutung symbolischer Kommunikation in der Politik des Großfürstentums Moskau im ausgehenden 15. und 16. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 55 (2007), S. 331–356; DIES., How to Petition the Ruler: Communication and Ritual at the Moscow Court in the Sixteenth and Seventeenth Centuries from the Perspective of Religious Preconditions, in: Religion und Integration im Moskauer Russland. Konzepte und Praktiken, Potentiale und Grenzen. 14.–17. Jahrhundert (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 76), hrsg. von Ludwig STEINDORFF, Wiesbaden 2010, S. 227–245. 30 Die Formel geht zurück auf eine Passage im berühmten Sendschreiben des Mönches Filofej von Pskov an den Moskauer Kanzleibeamten Michail G. Misurʼ-Munechin, abgedruckt in der in diesem Zusammenhang immer noch wichtigen Arbeit von MALININ, Vasilij N., Starec Eleazarova monastyrija Filofej i ego poslanija. Istoriko-literaturnoe izslĕdovanie, Kiev 1901 [ND Westmead/Farnborough 1970], Anhang VII, S. 45; deutsche Übersetzung bei SCHAEDER, Hildegard, Moskau, das dritte Rom. Studien zur Geschichte der politischen Theorien in der slawischen Welt, 2. Aufl., Darmstadt 1957, Anlage I, S. 204; neu untersucht und ediert bei SINICYNA, Nina V., Tretij Rim. Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XV–XVI vv.), Moskau 1998, Beilage I, S. 345; siehe insbes. zur letztgenannten Arbeit den Diskussionsbeitrag von KÄMPFER, Frank, Nina V. Sinicyna, Tretij Rim. Istoki i ėvoljucija russkoj srednevekovoj koncepcii (XV–XVI vv.), Moskau 1998, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49 (2003), S. 435–438. 31 Mit Bezug zu den Schönberg-Missionen v.a. SINICYNA, Nina V., Les conditions historiques où s’est formée l’idée de „Troisième Rome“, et son sens initial, in: Populi e spazio romano tra diritto e profezia (Da Roma alla Terza Roma, Documenti e studi, Studi, 3), hrsg. von Pierangelo CATALANO und Paolo SINISCALCO, Neapel 1986, S. 497–519, hier S. 508. Allgemein siehe NITSCHE, Peter, Moskau – das Dritte Rom?, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 42 (1991), S. 341–354, hier S. 351–353; DERS., „Nicht an die Griechen glaube ich, sondern an Christus.“ Russen und Griechen im Selbstverständnis des Moskauer Staates an der Schwelle zur Neuzeit (Studia humaniora, Series minor, 4), Düsseldorf 1991, S. 92–95; HÖSCH, Edgar, Die Rezeption der Rom-Idee im Rußland des 16. Jahrhunderts, in: Werner Philipp zum 70. Geburtstag (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 25), hrsg. von Hans-Joachim TORKE, Wiesbaden 1978, S. 136–145. Die Idee von „Moskau als dem Dritten Rom“ veränderte

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beruhigt sein: Vasilij III. war zwar an guten Beziehungen zur Kurie durchaus interessiert, eine Union der Kirchen stand aber zu keinem Zeitpunkt zur Debatte und wurde abgelehnt.32 Zugang zur Kirche und damit Eintritt in das Allerheiligste war zur gleichen Zeit für die Vertreter des lateinischen Klerus ebenfalls ein sensibles Thema, dessen Angehörige russische „Schismatiker“ nicht zum Gottesdienst zulassen wollten, wie auch Gabriele Scheidegger zutreffend bemerkt hat.33 So heißt es in Herbersteins Autobiographie über die Rückreise an den Hof Maximilians I., die er 1518 zusammen mit den russischen Gesandten unternahm: Nach Vernemung der werbung an dem Palmabennt [27. März 1518] het der Khaiser die Potschafft gern zw khirchen gehabt, damit sy die Ceremonien gesehen hetten. Aber der Bischoff zw Brychssen, ainer von Schrouenstain, dazumal zw Innsprugg, khundt das bey sich vnnd seinen Räten nit finden, das die alls Scismaticj in die khirchen sollen gelassen werden. Darumb zohe der Khaiser geen Hall, vnnd beuahlch mir die Potschafften auch dahin zubringen. Damit die in seiner Maj. Capellen bey dem Gottsdiennst wärn. Die Cantrey sanng mit halber Stimb, des Inen ganntz angenämb was zuhören.34

Anders als Vasilij III. war Maximilian I. auf den Widerstand eines Kirchenfürsten gestoßen und musste auf einen anderen Ort ausweichen, um im Rahmen symbolischer Kommunikation äquivalent auf das zu reagieren, was seinem eigenen Gesandten vorher vom Moskauer Großfürsten als Gewährung einer Bitte und gleichzeitig als Ehrerweisung zuteilgeworden war. Der oben als zweiter Gewährsmann für größere religiöse Offenheit im Moskau des 16. Jahrhunderts aufgeführte Raffaello Barberini gehörte einer ursprünglich aus der Toskana stammenden, kleinadeligen Kaufmannsfamilie an. Er war Onkel des Matteo Barberini, des späteren Papstes Urban VIII. Raffaello selbst war in einer Zweigniederlassung in Antwerpen beschäftigt, im Jahre 1564 reiste er quasi als Privatmann nach Moskau.35 Für diese Reise hatte er ein Empfehlungsschreiben von Elisabeth I. von England erhalten, das ihm auch Zugang zum Hof Ivans IV. Groznyj

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ihren Sinn in den nachfolgenden Zeiten, einen Überblick über die Transformation und Instrumentalisierungsversuche bieten POE, Marshall T., Moscow, the Third Rome. The Origins and Transformations of a ‟Pivotal Moment”, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49 (2003), S. 412–429; KÄMPFER, Frank, Die Lehre vom Dritten Rom – pivotal moment, historiographische Folklore?, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 49 (2003), S. 430–441; ROLL, Christine, Drittes Rom, in: Europäische Erinnerungsorte, Bd. 2: Das Haus Europa, hrsg. von Pim DEN BOER, Heinz DUCHHARDT, Georg KREIS und Wolfgang SCHMALE, München 2012, S. 291– 298. SIRIO, Bd. 53, S. 118; SACH, Hochmeister und Großfürst, S. 356f. SCHEIDEGGER, Perverses Abendland, S. 65. HERBERSTEIN, Selbstbiographie, S. 132. ADELUNG, Kritisch-literärische Übersicht, Bd. 1, S. 233f.; MUND, Orbis Russiarum, S. 174, Anm. 10; LIECHTENHAN, Les trois christianismes, S. 55.

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eröffnen sollte.36 Zur Sicherheit hatte sich Barberini offenbar zusätzlich ein Empfehlungsschreiben von Philipp II. von Spanien verschafft, dessen Reich sich im scharfen Gegensatz zu England befand.37 Barberinis Motiv für seine Reise bestand in der Erlangung von Handelsprivilegien im Moskauer Reich, die ihn in Konkurrenz zu den englischen, in der Muscovy Company organisierten Kaufleuten bringen musste: Es waren englische Kaufleute unter der Führung von Richard Chancellor gewesen, die 1553 auf der Suche nach der Nordostpassage nach China eher zufällig einen Weg durch das Weiße Meer nach Russland gefunden hatten. Nach diesen ersten Kontakten hatten sich im Gefolge des rasch zunehmenden und durch Privilegien geförderten Handels auch diplomatische Beziehungen zwischen den Herrschern der beiden Reiche entwickelt.38 Besonderes Vertrauen schenkte Ivan IV. dabei Anthony Jenkinson, der mehrfach diplomatische Missionen am Moskauer Hof erfüllt und allein über seine erste Reise (1557) einen knappen Bericht hinterlassen hat. In diesen Aufzeichnungen charakterisierte er die Liturgie in den russischen Kirchen als „griechisch“, wobei nicht völlig ersichtlich ist, ob er auch selbst an einem Gottesdienst teilgenommen hat.39 Mit eigenen Augen hat Jenkinson, der hinreichend Gelegenheit hatte, das Zeremoniell am Hofe zu studieren, offenbar die Prozession an die Moskva zur Weihe des neuen Weih- und Taufwassers an Epiphanias beobachtet.40

36 Das Empfehlungsschreiben Elisabeths erwähnt Barberini selbst in seinem auf den 16. Oktober 1565 datierten Bericht, von dem zwei Fassungen in der berühmten Bibliothek der Familie Barberini überliefert sind, deren Bestände seit 1902 Teil der Sammlungen der Vatikanischen Bibliothek sind. Für die Veröffentlichung dieses Berichts anlässlich einer italienischen OleariusÜbersetzung aus dem 17. Jahrhundert, in deren Anhang der andernorts nirgends überlieferte Text erscheint, sorgte vermutlich ein Großneffe des Autors: BARBERINI, Raffaello, Relatione di Moscovia, in: OLEARIUS, Adam, Viaggi di Moscovia de gli anni 1633, 1634, 1635 e 1636, Viterbo 1658, S. 191–222, oben erwähnter Beleg: S. 214. Zur Überlieferungs- und Editionsgeschichte: ADELUNG, Kritisch-literärische Übersicht, Bd. 1, S. 234f.; MUND, Orbis Russiarum, S. 174, Anm. 10. 37 LIECHTENHAN, Les trois christianismes, S. 55; KAPPELER, Druckschriften, S. 94. 38 Einen allgemeinen Überblick vermitteln PÄFFGEN, Thomas, Englisch-russische Wirtschaftsbeziehungen in der 2. Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 22 (1974), S. 12–34, zu den Voraussetzungen siehe S. 13–15; RUFFMANN, Karl-Heinz, Das Rußlandbild im England Shakespeares (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, 6), Göttingen 1952, S. 11–19; BUSHKOVITCH, Paul/JANSSON, Maja, Introduction, in: England and the North: The Russian Embassy of 1613–1614 (Memoirs of the American Philosophical Society, 210), hrsg. von Maja JANSSON und Nikolaj ROGOZHIN, Philadelphia 1994, S. 1–71, hier S. 8f.; Chancellor hat einen Bericht über die abenteuerliche Reise hinterlassen: CHANCELLOR, Richard, The First Voyage to Russia, in: Rude & Barbarous Kingdom. Russia in the Accounts of Sixteenth-Century English Voyagers, hrsg. von Lloyd BERRY und Robert O. CRUMMEY, Madison/London 2012, S. 9–41; siehe auch CHOROŠKEVIČ, Anna L., Rossija v sisteme meždunarodnych otnošenij serediny XVI veka, Moskau 2003, S. 145f. 39 JENKINSON, Anthony, A Voyage to Russia in 1557, in: Rude & Barbarous Kingdom. Russia in the Accounts of Sixteenth-Century English Voyagers, hrsg. von Lloyd BERRY und Robert O. CRUMMEY, Madison/London 2012, S. 46–58, hier S. 56. 40 Ebd., S. 55.

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Seine Absichten scheint Barberini vor Elisabeth I. wohlweislich verschleiert zu haben, als er um ein Empfehlungsschreiben wegen der angeblichen Verfolgung von Schuldnern bat. Als die Königin dessen gewahr wurde, reagierte sie mit Verärgerung und ließ den Sachverhalt durch Jenkinson in Moskau bei nächster Gelegenheit klarstellen.41 Zu diesem Zeitpunkt hatte Barberini aber bereits von diesem Schreiben Gebrauch gemacht, welches ihm den Zutritt an den Hof des Zaren erheblich erleichtert haben dürfte: Der italienische Kaufmann wurde von Ivan IV. freundlich empfangen und durfte an einem Gastmahl teilnehmen.42 Lebhaft interessiert zeigte sich Barberini auch an religiösen Themen und orthodoxen Gotteshäusern: Nachdem er in seinem Bericht den Unwillen der Russen, Ausländer in orthodoxe Kirchen zu lassen, und die Praxis des Umtaufens vermerkt hatte, erwähnte er, dennoch zweimal durch Überredung und Geldzahlungen („con parole, e con danari“) in eine orthodoxe Kirche gelangt zu sein.43 Ob Barberini in dieser Form auf eine vorher vielleicht formulierte, aber abgelehnte Bitte um Zugang reagierte, muss offenbleiben. Sein Zeugnis kann die Beobachtung, zu deren Beleg es eigentlich von Scheidegger ursprünglich herangezogen worden war, bei genauerem Hinsehen allerdings nicht stützen, denn er scheint sich den Zutritt eher erschmeichelt und erkauft zu haben als dass er ihm offiziell gewährt worden wäre. Waren die bisher erwähnten Reisenden und Diplomaten bestrebt gewesen, in eine orthodoxe Kirche zu gelangen, um dabei auch Beobachtungen zur Liturgie und zum Ablauf eines Gottesdienstes zu machen, so stellte sich die Lage für den päpstlichen Legaten Antonio Possevino deutlich komplizierter dar als für seine weltlichen Vorgänger. Der Jesuitenpater Possevino44, der seine Berichte über seine Mis-

41 Pervyja sorok lět snošenij meždu Rossieju i Anglieju, 1553–1593, hrsg. von Jurij V. TOLSTOJ, St. Petersburg 1875 [ND New York (o.J.)], Nr. 7: Instruktion für Jenkinson vom April 1566, englisches Original, S. 24–26, Nr. 8: Lateinischer Brief Elisabeths I. an Ivan IV. vom 20. April 1566, S. 28; CHOROŠKEVIČ, Rossija v sisteme meždunarodnych otnošenij serediny XVI veka, S. 458. 42 BARBERINI, Relatione, S. 207–209. Dazu ferner D’AMATO, Dž., Gorod Moskva v vosprijatii ital’janskogo čitatelja XV–XVI vekov, in: Archeografičeskij ežegodnik za 1997 god, Moskau 1997, S. 103–106, hier S. 104. 43 BARBERINI, Relatione, S. 200f. 44 Possevinos Wirken hat seit vielen Jahren Beachtung erfahren, immer noch wichtig, gerade auch durch reichhaltige Dokumentenanhänge: PIERLING, Paul, Bathory et Possevino. Documents inédit sur les rapports du Saint-Siège avec les slaves, Paris 1887; DERS., La Russie et le SaintSiège. Études diplomatiques, Bd. 2: Arbitrage pontifical. Projects militaires de Bathory contre Moscou. Le tsar Fedor et Boris Godunov, Paris 1897; einen Forschungsbericht über die bis ca. 1960 erschienenen Arbeiten bietet STÖKL, Günther, Posseviniana, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 11 (1963), S. 223–236. Viel Raum hat Stökl dabei auf die kritische Auseinandersetzung mit der in der Tat nicht immer zuverlässigen Arbeit von DELIUS, Walter, Antonio Possevino S. J. und Ivan Groznyj. Ein Beitrag zur Geschichte der kirchlichen Union und der Gegenreformation des 16. Jahrhunderts (Kirche im Osten, Bh. 3), Stuttgart 1962, verwandt. Diese verbirgt sich zusammen mit Übersetzungen einiger der Schriften Possevinos hinter dem Band von KURUKIN, Igor V., Ivan Groznyj i iezuity. Missia Antonio Possevino v Moskve. Sbornik, Moskau 2005. Materialreich: POLČIN, Stanislas, Une tentative d’Union au XVIe siècle: La mission religieuse du père Antoine Possevin S. J. en Moscovie (1581–1582) (Orien-

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sion später zu seiner berühmten Moscovia zusammenfasste,45 war von Papst Gregor XIII. 1581 mit einer Friedensvermittlung beauftragt worden, um die Ivan IV. Kaiser und Papst gebeten hatte.46 Die Feldzüge, die Stephan Báthory, der Herrscher von Polen-Litauen, seit 1579 gegen den Zaren und sein durch innere Krisen geschwächtes Reich geführt hatte, drohten in die endgültige Niederlage zu münden.47 Neben der Vermittlung eines Friedens oder zumindest eines Waffenstillstandes sollte der päpstliche Legat allerdings auch über eine Kirchenunion verhandeln.48 In seinem

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talia christiana analecta, 150), Rom 1957; überblickshaft zu Possevinos Mission und ihren Rahmenbedingungen: POE, People, S. 42–47; LIECHTENHAN, Les trois christianismes, S. 44–52; SANTICH, Jan Joseph, Missio Moscovitica. The Role of the Jesuits in the Westernization of Russia, 1582–1689 (American University Studies, Series IX, History, 178), New York/ Washington 1995, S. 85–111; MUND, Stéphane, La mission diplomatique du père Antonio Possevino (S. J.) chez Ivan le Terrible en 1581–1582 et les premiers écrits jésuites sur la Russie moscovite à la fin du XVIe siècle, in: Cahiers du monde russe 45 (2004), S. 407–439; zuletzt erschien der Sammelband Antonio Possevino SJ (1533–1611). Życie i dzieło na tle epoki, hrsg. von Danuta QUIRINI-POPŁAWSKA, Krakau 2012. Im Druck: SACH, Maike, ‚Griechischen‘ Glaubens und Erbe von Byzanz? Fehleinschätzungen, kulturelle Missverständnisse und konfligierende Konzepte über das Selbstverständnis in den Gesprächen zwischen Zar Ivan IV. und dem päpstlichen Legaten Antonio Possevino im Jahre 1582, in: Byzanz und der Westen: Politische Interdependenz und kulturelle Missverständnisse, hrsg. von Filippo CARLÁ, Ludger KÖRNTGEN, Jan KUSBER und Johannes PAHLITZSCH (Byzanz zwischen Orient und Okzident, Veröffentlichungen des Leibniz-WissenschaftsCampus Mainz). POSSEVINO, Antonio, Moscovia. Eiusdem novissima descriptio, Antwerpen 1587; eine ausführliche Beschreibung der Ausgaben bei ADELUNG, Kritisch-literärische Übersicht, Bd. 1, S. 324– 349; KAPPELER, Druckschriften, S. 82–85; MUND, Orbis Russiarum, S. 217–220; DERS., La mission diplomatique, S. 417–428. Die in der Moscovia zusammengefassten Berichte, die ursprünglich für Adressaten an der Kurie abgefasst worden waren, sind teilweise im Vatikanischen Archiv überliefert. Sie zeichnen sich an einigen Stellen durch variierende Formulierungen aus, die im Ton durchweg schärfer gehalten sind als die jeweilige gedruckte Fassung. Diese Berichtsversionen sind veröffentlicht in: Supplementum ad Historia Russiæ monumenta, ex archivis ac bibliothecis extraneis deprompta et a collegio archaeographico edita [im Folgenden: HRM Suppl.], hrsg. von Joannes GRIGOROWICZ, St. Petersburg 1848. Zu den Gründen, die Possevino bewogen haben, die Berichte zu veröffentlichen, siehe ROUËT DE JOURNEL, M. J., Une lettre inédite de Possevino à Zamojski à propos de l’édition de la „Moscovia“, in: Recherches de sciences religieuses 8 (1918), S. 401–414. Pamjatniki diplomatičeskich snošenij s papskim dvorom i s italjaniskimi gosudarstvami (s 1580 po 1699) (Pamjatniki Diplomatičeskich Snošenij Drevnej Rossii s Deržavami Inostrannymi, 10) [im Folgenden: PDS 10], St. Petersburg 1871, Sp. 5–12. Zu den entsprechenden Kontakten zu Rudolf II., der die Anfrage des Zaren höflich ablehnte, Pamjatniki dilopmatičeskich snošenij s Imperieju Rimskoju (s 1488 po 1594) (Pamjatniki diplomatičeskich snošenij drevnej Rossii s deržavami inostrannymi, 1) [im Folgenden: PDS 1], St. Petersburg 1851, Sp. 785–906. CHOROŠKEVIČ, Rossija v sisteme meždunarodnych otnošenij serediny XVI veka, S. 508–558; FROST, Robert I., The Northern Wars: War, State and Society in Northeastern Europe, 1558– 1721, Harlow 2000, S. 44f. Zu den verschiedenen Aufträgen, mit denen Possevino aus Rom abgefertigt wurde, siehe die geheime Instruktion, die dem Legaten Ende März 1581 vom Kardinalstaatssekretär ausgehändigt wurde: Scripta varia a secreto Archivo Vaticano et aliis Archivis et bibliothecis Romanis excerpta continens, inde ab anno MLXXV ad annum MDLXXXIV (Historica Russiae monumenta ex antiquis exterarum gentium archivis et bibliothecis deprompta, 1) [im Folgenden: HRM 1], hrsg. von Aleksandr I. TURGENEV, St. Petersburg 1841, Nr. 212, S. 299–301.

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Schreiben an den Papst hatte Ivan IV., der sich stärker als sein Vater Vasilij III. für religiöse Themen interessierte und sich als Hüter der Orthodoxie verstand,49 eine mögliche Kirchenunion allerdings mit keinem Wort erwähnt. Dies war an der Kurie durchaus bemerkt worden, allerdings wollte man sich die vermeintlich gute Gelegenheit keineswegs entgehen lassen,50 hatte der Zar nach Abschluss eines Friedens doch immerhin die Möglichkeit einer Beteiligung Moskaus an einem Kreuzzug gegen das Osmanische Reich angedeutet,51 der im 16. Jahrhundert für die Kurie ein weiteres wichtiges Projekt darstellte.52 Als Überbringer des zarischen Schreibens hatte ein einfacher Kurier fungiert, Istoma Ševrigin.53 Zusammen mit Possevino und den übrigen Mitgliedern der päpstlichen Gesandtschaft trat er die Rückreise an, trennte sich auf dem Weg von seinen Reisegenossen und traf vor ihnen am Hofe Ivans IV. ein.54 Dort stattete er umgehend Bericht über seinen Aufenthalt in Rom ab, wo man ihn sehr zuvorkommend – mehr als einen Gesandten denn als einen einfachen Kurier – empfangen hatte. Er hatte sich in der Stadt frei bewegen können, Possevino hatte ihm die wichtigsten Kirchen gezeigt und man hatte Ševrigin die Möglichkeit gewährt, einen Gottesdienst zu besuchen, den der Papst selbst zelebriert hatte.55 Gemäß dem Zeugnis

49 DVORKIN, Alexander, Ivan the Terrible as a Religious Type. A Study of the Background, Genesis and Development of the Theocratic Idea of the First Russian Tsar and his Attempts to Establish ‟Free Autocracy” in Russia (Oikonomia, Quellen und Studien zur orthodoxen Theologie, 31), Erlangen 1992; Ivan IV. interessierte sich auch für den Protestantismus und disputierte nicht nur mit Possevino, sondern auch mit Jan Rokyta, einem Geistlichen der Böhmischen Brüder: MÜLLER, Ludolf, Die Kritik des Protestantismus in der russischen Theologie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert (Akademie der Wissenschaften und der Literatur, Abhandlungen der geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse, 1951/1), Wiesbaden 1951, S. 23–31; ferner: CHUMICHEVA, Olga, Ivan der Schreckliche und Jan Rokyta. Der Zusammenstoß zweier Kulturen, in: Historisches Jahrbuch 124 (2004), S. 77–96. 50 Dies wird deutlich in den Einträgen im päpstlichen Diarium (HRM 1, Nr. 251, S. 389) sowie in einem Brief des Kardinalstaatssekretärs Ptolomeo Galli, dem Kardinal von Como, an Andrea Caligari, den Bischof von Bertinoro und päpstlichen Nuntius in Polen, hier zit. nach PIERLING, La Russie et le Saint-Siège, Bd. 2, S. 20; LIECHTENHAN, Les trois christianismes, S. 56f. 51 PDS 10, Sp. 11. 52 HÖSCH, Stellung Moskoviens, S. 322f.; allgemein MERTENS, Dieter, Europäischer Friede und Türkenkrieg im Spätmittelalter, in: Zwischenstaatliche Friedenswahrung in Mittelalter und Früher Neuzeit (Münstersche Historische Forschungen, 1), hrsg. von Heinz DUCHHARDT, Köln/Wien 1991, S. 45–90. 53 Siehe hier den Vermerk im offiziellen päpstlichen Diarium: HRM 1, Nr. 251, S. 388. Zuvor war der Kurier auch in Venedig empfangen worden, siehe PIERLING, Bathory et Possevino, Nr. 2–4; ausführlich zu Ševrigins Mission: PIERLING, La Russie et le Saint-Siège, Bd. 2, S. 5–29. 54 PDS 10, Sp. 17; zur Reise siehe auch QUIRINI-POPŁAWSKA, Danuta, O. Antonio Possevino w podróży w latach 1581–1583 pomiędzy Italią, Polską a Moską, in: Antonio Possevino SJ (1533–1611). Życie i dzieło na tle epoki, hrsg. von DERS., Krakau 2012, S. 237–268, hier S. 248f. 55 PDS 10, Sp. 23–26.

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des Jesuitenpaters Giovanni Paolo Campana, der Possevino auf seiner Mission begleitete, hatte dieser die betont gute Behandlung wie auch die Kirchenbesuche selbst veranlasst, um orthodoxe Gläubige für das Papsttum zu gewinnen.56 Ivan reagierte auf die Ehren, die Ševrigin in Rom erwiesen worden waren: Er ließ seinerseits für den Empfang des päpstlichen Legaten umfangreiche Vorbereitungen treffen und ordnete ein prestigeträchtiges Protokoll an, wie es gewöhnlich für einen „großen litauischen Gesandten“ zur Anwendung kam.57 Da es sich in diesem Fall allerdings um einen Abgesandten des Papstes handelte, wurden noch weitere Maßnahmen im Vorfeld der Ankunft Possevinos getroffen: Den dem Legaten zugeteilten russischen Begleitern, den pristavy, wurde ausdrücklich verboten, sich in ein Gespräch über Religion ziehen zu lassen. Ihnen wurde befohlen, bei einer solchen Gelegenheit zu sagen, sie hätten weder lesen noch schreiben gelernt, anschließend sollten sie einfach schweigen.58 Die Vorkehrungen für den Kontakt mit orthodoxen Geistlichen und für den etwaigen Zutritt zu geweihten Orten sahen folgendermaßen aus: Possevino sollte nach Wunsch des Zaren auf seiner Reise an seinen Hof nicht daran gehindert werden, die Kathedralen und Klöster zu betreten. Diese sollten ausdrücklich in einem ordentlichen Zustand sein, wie Ivan den Smolensker Bischof Sil’vestr am 27. Juli 1581 anwies. Possevino dürfe einen Gottesdienst, der vom Bischof geleitet würde, besuchen, allerdings solle ihm der Zutritt zum Altar, dem heiligsten Bereich, ebenso verwehrt werden wie eine Segnung durch den Bischof. Einen Handkuss von Seiten Possevinos dürfe Sil’vestr allerdings gern entgegennehmen.59 Einen Tag nach dieser Order bemühte sich Ivan IV. nachträglich um theologische Absicherung des längst Beschlossenen: Am 28. Juli 1581 erging an Dionisij, den Metropoliten von Moskau, die Aufforderung, eine Synode abzuhalten, um die Frage zu klären, ob Possevino Kirchen und Klöster überhaupt betreten und Gast des Smolensker Bischofs sein könne. Gleichzeitig wollte der Zar wissen, ob dies ebenfalls für Moskauer Gotteshäuser und Gottesdienste möglich sei, bei denen er selbst anwesend sei.60 Wenige Tage später erhielt Ivan die gewünschte Antwort: Zunächst rekapitulierte der Metropolit relevante Grundsatzentscheidungen einer Reihe von Konzilien und begründete ausführlich, warum Lateiner als Häretiker keinesfalls zusammen mit orthodoxen Christen beten könnten. Liege allerdings eine besondere Erlaubnis des Zaren vor, so Dionisij weiter, könne eine Ausnahme von der strengen Regel gemacht werden.61 56 Ioannis Pauli Campani S. I. Relatio de itiniere moscovitico, hrsg. von Albert M. AMMANN, in: Antemurale 6 (1960/61), S. 1–85, hier S. 17. 57 PDS 10, Sp. 39; vgl. dazu die Schilderung des Empfangs bei POSSEVINO, Moscovia, S. 32–40, sowie JUZEFOVIČ, Putʼ posla, S. 75–94, 108–115. 58 PDS 10, Sp. 43; vgl. dazu auch SCHEIDEGGER, Perverses Abendland, S. 17. 59 PDS 10, Sp. 52–54; LICHAČEV, Nikolaj P., Dĕlo o priĕzdĕ Antonia Possevina, in: Lětopis’ zanjatij Archeografičeskoj komisij 11 (1888/1894), St. Petersburg 1903, S. 136–280, S. I–CIX, sowie otd. III, S. 1–231, hier otd. III, S. 3. 60 LICHAČEV, Dĕlo o priĕzdĕ, hier Abschnitt mit römischer Paginierung, S. VIf. 61 Die Antwort ist abgedruckt bei LICHAČEV, Dĕlo o priĕzdĕ, hier Abschnitt mit römischer Paginierung, S. VIIf.; dazu ferner POLČIN, Une tentative, S. 12f.

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Dem Legaten war zwar in der Geheimen Instruktion aufgetragen worden, sich über Unterschiede zwischen den beiden Kirchen in Liturgie und Dogma zu unterrichten,62 auch hatte Possevino – wie Campana berichtet – zusammen mit seinen Reisegenossen auf dem Weg an den Hof des Zaren Klöster und Kirchen besichtigt und war dabei mit Mönchen ins Gespräch gekommen.63 Doch die Teilnahme an einem Gottesdienst schied für Possevino aus prinzipiellen Erwägungen aus, die er dem Zaren später bei einer entsprechenden Begegnung am 4. März 1582 direkt mitteilte: Solange das Schisma bestünde und der Moskauer Metropolit nicht vom Papst eingesetzt würde, könnten er und seine Glaubensbrüder nicht an einem orthodoxen Gottesdienst teilnehmen.64 Unter umgekehrten Vorzeichen war dieser Gedankengang den orthodoxen Hierarchen keineswegs fremd, wie die bereits zitierte Antwort der kleinen Synode unter Leitung des Metropoliten zeigt. Ivan IV. dürfte allerdings mit dem Gottesdienstbesuch, zu dem er Possevino bewegen wollte, vermutlich beabsichtigt haben, dem päpstlichen Legaten Gesten der Anerkennung abzutrotzen, wie die ebenfalls zitierte Anweisung an den Smolensker Bischof nahelegt, einen Handkuss von Seiten des Jesuitenpaters entgegennehmen zu dürfen, ihm aber nicht einen Segen zu erteilen. Um ein solches Zeichen zu vermeiden, versuchte Possevino, sich Gottesdiensten nach Möglichkeit zu entziehen.65 Ivan IV. selbst versuchte wiederum, die immer wieder vom Legaten am Rande der diplomatischen Verhandlungen angemahnten und gemäß der Instruktion des Legaten prioritär zu behandelnden Gespräche über Religion und eine Kirchenunion möglichst zu vermeiden oder erst nach Friedensschluss stattfinden zu lassen, um die von ihm gewünschte Vermittlung nicht zu gefährden. Diese sehr unterschiedlichen Zielsetzungen führten zusammen mit differenten Normen und Wahrnehmungen zu kulturell bedingten Missverständnissen, die schließlich auch in dem im vorliegenden Artikel nicht weiter behandelten öffentlichen Colloquium über religiöse Fragen zwischen Possevino und dem Zaren greifbar werden sollten.66 Bischof Sil’vestr von Smolensk hatte die Anweisung des Zaren offenbar so verstanden, dass er auf jeden Fall mit den Gästen einen Gottesdienst durchzuführen habe. Da die Legation von ihren litauischen Dolmetschern getrennt worden war, standen für die Kommunikation mit den örtlichen Geistlichen nur zwei weitere Legationsmitglieder mit tschechischen und kroatischen Sprachkenntnissen zur Verfügung.67 Dies blieb nicht ohne Folgen: Erst vor der Kathedrale schien Possevino be-

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HRM 1, Nr. 212, S. 303. CAMPANA, Relatio, S. 26. POSSEVINO, Moscovia, S. 154; HRM Suppl., Nr. 35, S. 109. So argumentierte Possevino auch später in einem Bericht an den General des Jesuitenordens, siehe HRM Suppl., Nr. 162, S. 392f. 66 Dazu POLČIN, Une tentative, S. 36–52; LIECHTENHAN, Les trois christianismes, S. 49f.; NITSCHE, „Nicht an die Griechen glaube ich, sondern an Christus“, S. 13–18; demnächst SACH, ‚Griechischen‘ Glaubens. 67 CAMPANA, Relatio, S. 16, 22. Über diese Episode ist nur ein Bericht von Campana überliefert, eine russische Version existiert offenbar nicht.

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merkt zu haben, dass er nicht zum Mittagessen (obed), sondern zum Mittagsgottesdienst (obednja) geladen worden war, und man auf ihn, der im Quartier seine eigene Messe gelesen hatte, extra gewartet hatte.68 Vor der Kathedrale bat nun der Bischof mehrfach um den von Ivan IV. vorab genehmigten Handkuss, stellte aber auch einen eigentlich untersagten Segen in Aussicht, um den Legaten offenbar zum Eintritt in die Kathedrale und zum Besuch des Gottesdienstes zu bewegen.69 Welche Rolle bei diesem Detail vielleicht übersetzungsbedingte Missverständnisse gespielt haben, muss offen bleiben. Possevino versuchte noch, sich der Situation durch den Hinweis zu entziehen, dass es nicht seine Gepflogenheit sei, einen Gottesdienst zu stören. Es fand sich zu guter Letzt ein Kompromiss, der es dem Bischof ermöglichte, die obednja in Anwesenheit des Legaten zu feiern, ohne dass dieser sich als Teil des Geschehens verstehen musste, dem er aus diplomatischen Gründen nun meinte – in gewisser Distanz und auf einem ehrenvollen Platz – beiwohnen zu müssen: Cupiebat [i.e. Possevino] – quod t(ame)n sine offendiculo simplicis populi ne ad primum ingressum nostrum statim alienaretur a nobis fieri posset – inde se subducere; sed responsum est neminem nisi sacro absoluto citra offendiculum posse secedere. Proximum tamen sacellum nobis apertum fuit, quo episcopus officii quasi gr(ati)a sellam suae persimilem cum sericeo pulvinari misit ad patrem […].70

Die bereits weiter oben angeführte prinzipielle Begründung Possevinos an die Adresse Ivans IV., warum es für ihn als Katholiken unmöglich sei, an einem orthodoxen Gottesdienst teilzunehmen, hat Gabriele Scheidegger als „huldvolle Ablehnung“ interpretiert. Der Intention Possevinos dürfte diese Deutung sogar sehr nahekommen. Über des Zaren Einladung zum Gottesdienst am 4. März 1582, dem 1. Fastensonntag, in die Uspenskij-Kathedrale im Kreml und Possevinos Ablehnung gibt es neben dem Bericht des Legaten in der Moscovia71 den im Wesentlichen gleichlautenden Rapport an die Kurie72 sowie Aufzeichnungen über die Ereignisse, die sich in den Akten des posol’skij prikaz erhalten haben.73 Ein Vergleich der Berichte weist große Unterschiede auf, nur einige Informationen stimmen überein: Der Legat nahm gemäß aller Zeugnisse nicht am Gottesdienst teil, die (politischen) Verhandlungen wurden fortgesetzt. In einigen Punkten widersprechen sich die Aussagen, so zum Beispiel in der Frage, ob Possevino am Gottesdienst teilnehmen wollte, wie das russische Protokoll suggeriert,74 oder ob dies nicht der Fall gewesen sei, wie es bei Possevino heißt.75 Die Ereignisse werden im Bericht Possevinos an die Kurie (und damit auch in der Moscovia) anders motiviert als in den Aufzeichnungen 68 69 70 71 72 73 74 75

Ebd., S. 17, 21f. Ebd., S. 21f. Ebd., S. 22. POSSEVINO, Moscovia, S. 152–158. HRM Suppl., Nr. 35, S. 108–110. PDS 10, Sp. 322–326. Ebd., Sp. 324. POSSEVINO, Moscovia, S. 153f.; HRM Suppl., Nr. 35, S. 108.

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des posol’skij prikaz, was auf unterschiedliche Wahrnehmungen und Deutungen des Handelns aufgrund unterschiedlicher kultureller Normen zurückzuführen ist. Gleichwohl wird in den Texten beider Seiten deutlich, dass dem Gottesdienstbesuch eine hohe symbolische Bedeutung zukam.76 Possevino hat seinem Bericht über diese Begegnung mit Ivan IV. einen Verweis auf die Tageslesung aus dem Lukas-Evangelium, jedoch mit den Worten aus dem Matthäus-Evangelium (Matth. 4, 1) über die Versuchung Jesu in der Wüste durch den Teufel voran- und ihn damit gleichzeitig in einen für ihn und seine Wahrnehmung des Geschehens naheliegenden allegorischen Deutungszusammenhang gestellt. Seine Darstellung schließt nahtlos daran an und weist Charakteristika von Erbauungsliteratur auf, die sich in der Komposition des Textes zeigen: So wird das Erlebte als eine erfolgreich ablegte Glaubensprüfung eines auf ein Martyrium gefassten und bereiten Geistlichen präsentiert. Aus der Perspektive des Zaren, der sich als Verteidiger der Orthodoxie verstand, besaß bereits der Termin eine andere Bedeutung als für Possevino und bot sich daher für die Einladung des Legaten zu einem Gottesdienst förmlich an: War der 4. März 1582 nach lateinischer Tradition der Sonntag Invocavit, so handelte es sich in der orthodoxen Kirche um den Termin für das symbolträchtige Fest der Orthodoxie in Erinnerung an den Sieg der Bilderverehrer über die Ikonoklasten.77 Zum Festgottesdienst gehörten neben einer Prozession mit Ikonen eine Lesung aus Abschnitten des Matthäus-Evangeliums (Matth. 18, 10–18) und der Apostelgeschichte (Apg. 16, 17–20) sowie ein Gebet mit der Bitte um Umkehr der vom rechten Glauben Abgefallenen.78 Für Ivan IV. wäre es in seinem Selbstverständnis als Herrscher und Hüter der Orthodoxie unter diesen Umständen von hoher Symbolkraft gewesen, hätte sich Possevino als Legat des Papstes mit dem eigenen Anspruch, die reine Lehre zu vertreten, zu einem Besuch gerade dieses Festgottesdienstes bewegen lassen. Ob Possevino von der besonderen Bedeutung des ersten Fastensonntags für die Orthodoxie gewusst hat, ist unklar: In den Notizen über die abweichenden Feste der russischen Kirche, die sich in seiner nur auszugsweise veröffentlichten Autobiographie befinden, findet sich kein Eintrag zu diesem Termin.79 Eine genauere Durchsicht der Beispiele, die die größere Offenheit der Russen gegenüber heterodoxen Ausländern belegen sollen, mahnt zur genaueren Differenzierung und eingehenderen Berücksichtigung der jeweiligen Umstände: Für Vasilij III. wie auch für seinen Sohn Ivan IV. schien es in bestimmten Kontexten politisch sinnvoll, Ausländern den Zutritt zu Kirchen zu gestatten. Bei Vasilij III. scheint vor allem die Auszeichnung eines Gesandten als Beleg der wechselseitigen Ehrerweisungen im diplomatischen Zeremoniell im Kontakt mit westlichen Fürsten ebenso

76 Detailliert dazu SACH, ‚Griechischen‘ Glaubens. 77 ONASCH, Konrad, Kirchenjahr, in: DERS., Kunst und Liturgie der Ostkirche in Stichworten unter Berücksichtigung der alten Kirche, Wien 1981, S. 204. 78 DERS., Sonntag der Orthodoxie, in: ebd., S. 335f.; POLČIN, Une tentative, S. 50. 79 POSSEVINO, Antonio, Autobiographia, in: POLČIN, Une tentative, S. 121–135, hier S. 125–127.

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eine Rolle gespielt zu haben wie die Akzentuierung der sakralen Seite seiner Herrschaft. Das Beispiel Barberinis fällt ein wenig aus dem Rahmen: Echte religiöse Offenheit bedarf keiner Überredung und vor allem keines „Eintrittsgeldes“, welches der italienische Kaufmann, der sich mit dem unter falschen Angaben erwirkten Empfehlungsschreiben Elisabeths I. auch den Zutritt zum Moskauer Hof eher erschlichen hatte, offenbar zahlte. Besonders sensibel für die symbolischen Dimensionen des Gottesdienstbesuches – gerade im diplomatischen Verkehr mit einem Abgesandten der Kurie – zeigte sich Ivan IV., um echte Offenheit mag es sich hier bei der Demonstration seiner Rechtgläubigkeit, in deren Rahmen auch ein „Sieg“ über die Häretiker inszeniert werden sollte, wohl eher nicht handeln. Die Ergebnisse der erwähnten Synode unter der Leitung des Metropoliten Dionisij geben dabei die Haltung des Klerus zur Frage der Zulassung von heterodoxen Ausländern wieder, sie zeugen gerade nicht von der postulierten Offenheit. So scheint ein gewisses Maß an Pragmatismus seitens der Herrscher im Kontakt mit dem Ausland ebenso wie auch ihre Position gegenüber der Kirche im eigenen Reich ausschlaggebend für die Gewährung des Zutritts zu Gottesdiensten gewesen zu sein. Die Position des Klerus scheint sich dann im 17. Jahrhundert – nach der Errichtung des Moskauer Patriarchats80 – stärker Geltung verschafft zu haben; auch Gesandte von Herrschern, an denen der Zar politisch interessiert war, kamen nicht unbedingt in Gottesdienste und damit in den Nahbereich des Allerheiligsten, wie Gabriele Scheidegger korrekt beobachtet hat. Um Gesandte trotzdem durch die Zulassung zu religiösem Geschehen auszeichnen zu können, mussten die Zaren neue Wege unter Aussparung des geweihten sakralen Raums suchen. Sie fanden diese Möglichkeiten in der Einladung zu Prozessionen, die in der Regel außerhalb der Kirche und damit außerhalb des sakralen Raums stattfanden: Olearius berichtet, dass er einmal zusammen mit dem persischen Gesandten an der Feier zum Palmsonntag teilgenommen habe.81 Mit der Beschreibung der Prozession, die sich nach dem Gottesdienst mit dem Patriarchen, dem Zaren und den Fürsten in Bewegung setzte, ließ sich den auswärtigen Gästen weiterhin ein Bild der symphonia wie auch der weltlichen Ordnung des Reiches – diesmal im profanen Raum – präsentieren.

80 Zu diesem Prozess siehe SCHELIHA, Wolfram von, Russland und die orthodoxe Universalkirche in der Patriarchatsperiode 1589–1721 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 62), Wiesbaden 2004, S. 23–26. 81 OLEARIUS, Vermehrte Newe Beschreibung, S. 132f.

EIN WEITERER BEITRAG ZUR POLEMIK DER IOSIFLJANE UND DER NESTJAŽATELI Aleksej I. Alekseev Auf der Moskauer Synode des Jahres 1503 sprachen sich die Starzen der „jenseits der Wolga gelegenen Klöster“ gegen die klösterliche Verwaltung von Land aus. Sie wiesen darauf hin, dass der Besitz von Siedlungen im Widerspruch zu den Idealen des Evangeliums stehe. Die Initiative der Starzen wurde durch den Moskauer Großfürsten Ivan III. (1440–1505) unterstützt, der ein erstes Projekt zur Säkularisierung von Kirchengütern durchzusetzen versuchte. Der Versuch endete mit einem Misserfolg, denn die Klöster verteidigten ihr Anrecht auf den Besitz von Ländereien. Dieser Säkularisierungsversuch in der Moskauer Rusʼ ereignete sich früher als die Konfiszierung der Kirchengüter in anderen europäischen Ländern, die die Reformation erlebten. Daher wertete man in der Historiographie der Sowjetunion diese Faktenlage als Beweis dafür, dass sich Russland bereits Anfang des 16. Jahrhunderts an der „Schwelle zu einer neuen Zeit“ befunden habe. An der Richtigkeit dieser These existieren jedoch begründete Zweifel, denn bei dem Versuch, die Ergebnisse der Synode von 1503 zu erklären, kamen manche Forscher zu dem Schluss, dass die Kunde von den Säkularisierungsversuchen der Synode eine Fälschung sein müsse, weil die darauf bezogene Polemik der Iosifljane und der Nestjažateli nicht von 1503, sondern aus den 1550er Jahren stamme. Die Erforschung der Polemik wird von etlichen Unklarheiten begleitet. Die historiographische Diskussion befindet sich nämlich auf einem deutlich höheren Niveau als die Erforschung der Quellen. So wurde in der traditionellen Historiographie angenommen, dass die Iosifljane und die Nestjažateli in zweierlei Angelegenheiten gegensätzliche Meinungen vertraten: Die erste Angelegenheit war die Beziehung zu den häretischen Judaisierenden, die zweite betraf die unterschiedlichen Standpunkte zur Problematik des klösterlichen Grundbesitzes.1 Beide Punkte waren Gegenstand der Forschung Ja. S. Lurʼes2, der sie einer grundlegenden Revision unterzog. Diese Problemfelder werden nacheinander behandelt. 1

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Zu einer historiographischen Übersicht des Themas siehe KURUKIN, I. V., Zametki o „nestjažatel’stve“ i „iosifljanstve“. Istoriografičeskaja tradicija i istočniki, in: Voprosy istočnikovedenija i istoriografii istorii SSSR. Dooktjabr’skij period, Moskau 1981, S. 60–83; PLIGUZOV, A. I., Polemika v russkoj cerkvi pervoj treti XVI stoletija, Moskau 2002, S. 20–46; ALEKSEEV, A. I., Religioznye dviženija na Rusi poslednej treti XIV – načala XVI v., Moskau 2012, S. 215– 250. Zur bis heute wichtigsten zusammenfassenden Arbeit der Beziehung zwischen den Iosifljane und den Nestjažateli siehe LUR’E, Ja. S., Ideologičeskaja bor’ba v russkoj publicistike konca

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Aleksej I. Alekseev

Die Position Iosif Volockijs (1439/40–1515), welcher sich für die organisierte Verfolgung von Häretikern einsetzte und auch nicht von der Todesstrafe absah, tritt in sieben seiner antihäretischen Schriften und in dem Kniga na eretikov, welches im 17. Jahrhundert den Titel Prosvetitelʼ bekam, deutlich zu Tage.3 Die Abhandlungen Nil Sorskijs (1433–1508), in denen er seinen Einwand gegenüber Iosif Volockij schilderte, sind nicht bekannt. Es wurde angenommen, dass Nil Sorskij und seine Schüler die Häresie verurteilten, sich jedoch gegen die Verfolgung von Häretikern aussprachen und die Todesstrafe kategorisch ablehnten. Über die Sichtweise des Asketen Sorskij urteilte man auf Basis der polemischen Schriften seines Schülers, des Fürsten und Mönchs Vassian Patrikeev.4 Ja. S. Lurʼe legte Wert auf die Darstellung, dass sich Nil Sorskij und Iosif Volockij in der Zeit des Kampfes gegen die Häresie als Gleichgesinnte verstanden und aktiv kooperiert hätten.5 Bereits in einem seiner frühen Aufsätze kam Lurʼe zu dem Schluss: „Die uns bekannten Fakten der Biographie Nil Sorskijs (vor allem bezogen auf das Ende des 15. Jahrhunderts) geben uns demnach keinen Hinweis, der auf eine Opposition zu Iosif Volockij und den Iosifljane schließen lässt“.6 Jede Information aus den Quellen, die auf das Judaisieren der Häretiker hinwies, lehnte er entschieden ab.7 In seiner letzten Monographie näherte Ja. S. Lurʼe die Positionen Iosif Volockijs und Nil Sorskijs bis zur vollständigen Unkenntlichkeit einander an, indem er alle vorhandenen Informationen zu dem von Nil Sorskij ausgehenden Protest gegen die Hinrichtung von Häretikern und zu seinem Auftreten gegen die klösterliche Grundherrschaft als Legende bezeichnete. Dabei bewahrte er auch die Charakteristik der Häresie als freidenkerische Bewegung.8 Lurʼe kam zu dem Ergebnis, dass die Spekulationen über die Freigeisterei Nil Sorskijs von den im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts agierenden Vertretern der liberalen Historiographie ausgingen.

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XV – načala XVI veka. Moskau/Leningrad 1960. Von Interesse sind darüber hinaus die Beiträge Lurʼes, die auch in englischer Sprache veröffentlicht wurden: DERS., Izbrannye stat’i i pis’ma, St. Petersburg 2011. Die antihäretischen Schriften Iosif Volockijs und einige Teile des Prosvetitelʼ sind erschienen in: Istočniki po istorii eretičeskich dviženij konca XIV – načala XVI. v., in: Antifeodal’nye eretičeskie dviženija na Rusi XIV – načala XVI v. [im Folgenden: Istočniki], hrsg. von N. A. KAZAKOVA und Ja. S. LUR’E, Moskau/Leningrad 1955, S. 227–526; Poslanija Iosifa Volockogo [im Folgenden: PIV], hrsg. von A. A. ZIMIN und Ja. S. LUR’E, Moskau/Leningrad 1959; KOBRIN, V. B., Poslanie Iosifa Volockogo archimandritu Evfimiju, in: Zapiski Otdela rukopisej, Bd. 28, Moskau 1966, S. 227–239. Siehe KAZAKOVA, N. A., Vassian Patrikeev i ego sočinenija, Leningrad 1960. LURʼE, Ja. S., Kratkaja redakcija „Ustava“ Iosifa Volockogo – pamjatnik ideologii rannego iosifljanstva, in: Trudy Otdela Drevnerusskoj Literatury [im Folgenden: TODRL] 12 (1956), S. 116–140; DERS., K voprosu ob ideologii Nila Sorskogo, in: TODRL 13 (1957), S. 182–213; DERS., Bor’ba cerkvi s velikoknjažeskoj vlast’ju v konce 70-ch – pervoj polovine 80-ch godov XV v., in: TODRL 14 (1958), S. 219–228. LURʼE, K voprosu ob ideologii, S. 194. LURʼE, Borʼba cerkvi, S. 221f. LURʼE, Ja. S., Dve istorii Rusi XV veka. Rannie i pozdnie nezavisimye i oficial’nye letopisi ob obrazovanii Moskovskogo gosudarstva (Collection historique de lʼInstitut dʼÉtudes Slaves, 35), St. Petersburg 1994, S. 7–9.

Ein weiterer Beitrag zur Polemik der Iosifljane und der Nestjažateli

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Nachdem K. M. Prochorov und B. M. Kloss festgestellt hatten, dass eine der frühesten Versionen des Prosvetitelʼ von einem Schüler Nil Sorskijs, Nil Polev, in der Handschrift RNB (Russkaja Nacionalʼnaja Biblioteka) Soloveckij-Kloster 326/346 (im Folgenden: Solov. 326/346) verfasst worden war, schien es, als wären unwiderlegbare Beweise für die Auslegung der schriftlichen Kooperation zwischen den Iosifljane und den Nestjažateli gegen die Häresie der Judaisierenden aufgetaucht.9 Lurʼe nahm an, dass Nil Sorskij bis zum Jahr 1503 keine ausdrückliche Meinung bezüglich der klösterlichen Grundherrschaft gehabt habe. Ebenso vermutete er, dass auch Iosif Volockij keine Ansicht zum klösterlichen Grund- und Immobilienbesitz vertrat, die sich in irgendeiner Weise von der im kirchlichen Milieu geläufigen unterschied.10 Diese These – wenn sie denn bewiesen wäre – entzöge der Vorstellung von tiefen Gegensätzen, die die beiden Anführer der zwei innerkirchlichen Gruppierungen laut der traditionellen Historiographie entzweiten, ihre Grundlage. Der amerikanische Forscher Donald Ostrowski wandte sich in den 1970er Jahren der Geschichte der Polemik zwischen den Iosifljane und den Nestjažateli zu. Nachdem er das Quellenkorpus über die Synode von 1503 untersucht hatte, die, wie man traditionell angenommen hatte, als Startschuss für den polemischen Wettstreit zwischen den beiden Richtungen innerhalb des russischen Klosterlebens galt, kam Ostrowski zu dem Ergebnis, dass unsere Informationen über den Versuch der Säkularisierung auf der Kirchensynode 1503 unzuverlässig seien.11 Seiner Meinung nach war die Absicht des Moskauer Großfürsten Ivan III., den Grundbesitz der Klöster zu beschlagnahmen, ausschließlich Gegenstand von polemischen Quellen, die erst einige Jahrzehnte nach der Synode von 1503 zusammengestellt worden waren. Da diese Quellen des Öfteren widersprüchliche, unpräzise bis unglaubwürdige Informationen enthielten, konnten sie aus seiner Sicht nicht als vertrauenswürdig eingestuft werden. Ostrowski konstatierte, dass eine solche Kontroverse in der historischen Wirklichkeit nicht stattgefunden habe, da offizielle Dokumente der Synode, wie zum Beispiel Synodaldekrete und Chroniken, nichts von einem Streit 9

KLOSS, B. M., Nil Sorskij i Nil Polev – „spisateli knig“, in: Drevnerusskoe iskusstvo. Rukopisnaja kniga, Bd. 2, Moskau 1974, S. 150–167; PROCHOROV, G. M., Poslanija Nila Sorskogo, in: TODRL 29 (1974), S. 125–143; DERS., Avtografy Nila Sorskogo, in: Pamjatniki Kul’tury. Novye otkrytija, Moskau 1975, S. 37–54. 10 LUR’E, Ideologičeskaja bor’ba, S. 427f. 11 OSTROWSKI, Donald, “Fontological” Investigation of the Muscovite Church Council of 1503, Pennsylvania State University 1977. In die Dissertation Ostrowskis konnte ich 1992 dank meines Lehrers, Professor Ruslan Grigorʼevič Skrynnikov, Einsicht nehmen. Zur weiteren Entwicklung seiner Hypothese zur Falsifizierung der polemischen Quellen der Iosifljane und der Nestjažateli siehe OSTROWSKI, Donald, Church Polemics and Monastic Land Acquisition in Sixteenth-Century Muscovy, in: Slavonic and East European Review 64 (1986), S. 357–379. Eine erneuerte, neuere Literatur berücksichtigende Version der Dissertation: DERS., The Muscovite Church Council of 1503. A Study of the Evidence, URL: http://hudce7.harvard.edu/~ ostrowski/council/index.html (Zugriff 18.03.2016). Siehe auch DERS., Council of 1503, Orthodox Church, in: The Modern Encyclopedia of Religions in Russia and the Soviet Union, Bd. 5, hrsg. von Paul D. STEEVES, Gulf Breeze 1993, S. 226–232.

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über die kirchlichen Grundbesitztümer berichteten. Um seine Hypothese zu stützen, verwies er auf zwei Umstände: Erstens waren die staatlichen Institutionen Anfang des 16. Jahrhunderts noch nicht so weit entwickelt, dass sie sich erlauben konnten, Ansprüche auf den kirchlichen beziehungsweise klösterlichen Grundbesitz zu stellen. Ostrowski führte an, dass der Großfürst keine Konfiszierung der klösterlichen Ländereien fordern konnte, da er selbst den Klöstern große Ländereien zur Verfügung gestellt hatte.12 Zweitens durften sich Nil Sorskij und seine Anhänger innerhalb des russischen Mönchtums nicht in politische Angelegenheiten einmischen, da dies dem Ideal der asketischen Lebensweise der Eremiten widersprochen hätte, denn ihnen war die Entsagung von allem Weltlichen vorgeschrieben.13 1978 traf sich Ostrowski mit dem jungen Forscher A. I. Pliguzov, dem er seine Ansichten näherbrachte. Pliguzov nahm die Grundidee Ostrowskis auf, dass die Quellen über den Versuch einer Enteignung klösterlicher Ländereien, gestützt auf Nil Sorskij und seine Anhänger, in den 1560er Jahren gefälscht worden seien und daher die politische Realität der Epoche der Hundertköpfigen Synode (1551) widerspiegelten. A. I. Pliguzov machte in den 1980er Jahren als gestandener Forscher von sich reden, als er seine Dissertation verteidigte (1986) und Aufsätze in einigen Publikationen veröffentlichte, die sich der literarischen Auseinandersetzung zwischen den Iosifljane und den Nestjažateli widmeten. Vierzehn seiner Beiträge, die für die zu erforschende Thematik Bedeutung hatten, wurden 2002 in Form einer Monographie erneut herausgegeben.14 In seinen Arbeiten griff Pliguzov das skeptische Pathos Ostrowskis auf. Die quellenkundlichen Beobachtungen Pliguzovs riefen großes Interesse an der Erforschung der innerkirchlichen Polemik im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts hervor; in den 1990er Jahren fanden einige Ergebnisse des Forschers Zuspruch in der geschichtswissenschaftlichen Publizistik. Die Auffassung Ja. S. Lurʼes darüber, dass Iosif Volockij und Nil Sorskij kooperierten und gegenüber den Häretikern eine feindliche Haltung vertraten, basierte auf der Annahme, dass die Kurzfassung des Prosvetitelʼ die ursprüngliche Fassung gewesen sei. Diese Sichtweise stützte Lurʼe durch zwei Argumente: Erstens nahm er an, dass die Skazanija o novojavivšejsja eresi lediglich Annotationen zu elf Kapiteln des Prosvetitelʼ beinhalteten; zweitens erschien es ihm einleuchtend, dass die ursprünglichste Form der erstmaligen Redaktion des Prosvetitelʼ in der Schrift Solov. 326/346 enthalten war. Das erste Argument erübrigt sich durch eine simple Beobachtung: Das Lesen der Texte offenbart, dass dort ebenfalls die Annotationen des zwölften und dreizehnten Kapitels enthalten sind.15 Aber auch das zweite Argument hält einer Prüfung nicht stand: Eine vergleichende Untersuchung der ältesten Fassungen der 12 OSTROWSKI, Church Polemics, S. 372f. 13 OSTROWSKI, Lowling Silence and Avoiding Pleasant Conversations. The Political Views of Nil Sorskii, in: Harvard Ukrainian Studies 19 (1995), S. 476–496. 14 PLIGUZOV, Polemika. 15 Anm. zum zwölften slovo: „яко не подобает осужати ни еретика ни отступника, глаголаше же и се, яко аще и еретик будет святитель или священник, и аще кого отлучить или не благословить, последуеть божественный егу суду“, sowie Anm. zum dreizehnten slovo:

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Kurz- und Langredaktion des Prosvetitelʼ lässt den Rückschluss zu, dass die Langfassung GIM (Gosudarstvennyj Istoričeskij Muzej) Eparchiale Sammlung 340 früher als die älteste Version der Kurzfassung entstanden sein muss.16 Auf diese Weise ergaben sich zwingende Gründe für eine Revision der in der traditionellen Historiographie vorherrschenden Sichtweise über die Wechselbeziehung zwischen den Episteln Iosif Volockijs und dem Prosvetitelʼ. Von den verifizierten Fakten ausgehend kann behauptet werden, dass Nil Sorskij um das Jahr 1500 einen Einblick in die antihäretischen Sichtweisen Iosif Volockijs gewann, die aus den ersten 13 Kapiteln des Kniga na eretikov ersichtlich waren. Zu den elf ersten, allgemein die Häresie verurteilenden Kapiteln äußerte er Zustimmung, die Positionen, die in den Kapiteln 12 und 13 formuliert worden waren, lehnte er jedoch entschieden ab. Das Verzeichnis der Solovki-Ausgabe des Kniga na eretikov, welches ohne die Kapitel 12 und 13 auskommen musste, dient als Beweis für die grundsätzlich unterschiedlichen Positionen Nil Sorskijs und Iosif Volockijs gegenüber der Häresie. Ich wage sogar zu behaupten, dass sich der Asket Sorskij am wenigsten von humanistischen Idealen leiten ließ. Wie wir im Folgenden sehen werden, war das Gegenteil der Fall, denn Nil Sorskij und seine Anhänger wurden von einfachsten Bedürfnissen geleitet, die mit dem Kampf gegen die Häresie in den Jahren 1503/04 zusammenhingen. Erinnern wir uns, dass das zwölfte Kapitel die These stützte, dass es als unabdingbar erachtet wurde, häretische kirchliche Würdenträger zu entlarven und zu verdammen. Unserer Meinung nach galt der am Hof des Kirillo-Belozerskij-Klosters am Weißen See lebende ehemalige Metropolit Zosima als ein solcher. Der dortige Aufenthalt des als Ergebnis einer Ermittlung durch Vassian Sanin, den Bruder Iosif Volockijs, der Häresie überführten Hierarchen führte zu einer Situation, die von größter Gefahr für die einflussreiche klösterliche Gesellschaft war. Nach kanonischem Recht drohte jedem, der in Kontakt mit Häretikern stand, die Amtsenthebung und die Verbannung aus der Kirche. Laut dem 10., 11., 45. und 70. apostolischen Gesetz sowie dem zwölften Gesetz des Apostels Paulus war jeder von Amtsenthebung und Kirchenbann bedroht, der mit Häretikern betete, Gottesdienste abhielt, feierte oder fastete.17 Aus diesem Grund zogen die Anschuldigungen durch „яко не токмо осужати подобаеть еретиковь и отступниковь, но и проклинати, и не точью проклинати, но и казнем лютым предатии“, in: Istočniki, S. 474. 16 Siehe ALEKSEEV, A. I., Sočinenija Iosifa Volockogo v kontekste polemiki 1480–1510-ch gg., St. Petersburg 2010, S. 213–219. 17 Auf all diese Gesetze stützte sich Erzbischof Gennadij in seinen Botschaften an den Metropoliten Zosima und die Synode; vgl. Istočniki, S. 375f., 381. Hier ein Verweis auf die kormčii des 15. Jahrhunderts, das 10. Gesetz der Apostel: „Правило 10. Толк. Аще кто молиться съ еретики въ церкви или в дому съ отлученым от церкве, сам такоже отлучен будет.“ Das 11. Gesetz der Apostel lautet: „Пр. 11. Толк. Аще кто молится рекше, аще презвитер служит вь церкви с презьвитером его же епископ изверьже от сана изьвержен будет сам с таковым.“; vgl. RNB, Ja. II. 49, L. 8ob, Kormčaja načala XV v. Das 70. Gesetz der Apostel lautet wie folgt: „Рече бо аще который епископ или прозвитор или диакон или всяк священнического чину постится со июдеи или празднует с ними или приимет от них праздника их честь, рекше опреснокы или ино что таковых да извержется, мирский же человек да отлучится.“; vgl. RNB, Sol. 477\496 kon. XV v., L. 322ob. Und das 12. Gesetz des Apostels Paulus: „Еленьскым баснем последующе и жидовьским обычаем, аще не

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Iosif Volockij eine ernstzunehmende Welle an Verbannungen nach sich, die hauptsächlich die Geistlichkeit der Hauptstadt traf. Für die Starzen und Klosterbrüder des Kirillo-Belozerskij-Klosters stellten diese Sanktionen eine wirkliche Gefahr dar. Deshalb vertraten sie die Auffassung, dass auch ein der Häresie überführter Metropolit vor solchen Anschuldigungen durch seine Amtswürde geschützt sein müsse. Denn sein Amt gab ihm die Macht, seine Autorität zu wahren und seinem Umfeld den Kirchenbann anzudrohen. Die Starzen und die Klosterbrüder hingegen waren alleine der Einhaltung der kirchlichen Disziplin verpflichtet und hatten daher keine Verantwortung für den Verkehr mit Häretikern zu tragen. Das 13. Kapitel des Kniga na eretikov behandelt die Notwendigkeit, Häretiker zu entlarven und zu überführen, ebenso wie die Pflicht, sie zu verfolgen und zum Tode zu verurteilen. Diese These konnte unter den Starzen und den Klosterbrüdern des Kirillo-Belozerskij-Klosters keine Unterstützer finden. Die der Häresie beschuldigten Ältesten des Kirillo-Belozerskij-Klosters nutzten verwandtschaftliche Bande zu Repräsentanten aus Moskauer Regierungskreisen, um die Repressionen gegen die vermeintlichen Häretiker lediglich auf den kleinen Kreis der bereits Überführten zu beschränken. Dies betraf beispielsweise den leiblichen Bruder des ehrwürdigen Ältesten Nil, den großfürstlichen Diakon Andrej Majko, der viele Jahre zusammen mit den der Häresie überführten Diakonen Ivan und Fëdor Kuricyn am Moskauer Hof gedient hatte. Die Untersuchungen drohten, den Kreis der Verdächtigen zu erweitern und bargen eine Gefahr für Verwandte oder Bekannte. Mit Blick auf die oben genannten Darstellungen nehmen wir an, dass Iosif Volockij nicht früher als im Frühling/Sommer 1502 öffentlich gegen die häretischen Judaisierenden aufgetreten ist. Die Verfolgung der Häretiker mit dem Ziel, Beweise für die Diskreditierung des Umfelds von Metropolit Zosima und seinem Enkel Dmitrij zu finden, begann mit der Ernennung von Vassian Sanin, dem Bruder Iosifs, zum Archimandriten des Simonov-Klosters. Die ersten Schriften dieser Auseinandersetzung waren zwei Botschaften an den Bruder Vassian Sanins, eine Botschaft an Bischof Nifont von Suzdalʼ sowie je eine Botschaft an den Archimandriten Evfimij und an den Archimandriten Mitrofan.18 Alle wurden im Zeitraum zwischen 1502–1504 verfasst. Zu dieser Zeit hatte Iosif den Text des Prosvetitelʼ in einer dreizehn Kapitel beinhaltenden Fassung vor sich. 1504 ergänzte er ihn im Zusammenhang mit der mit den Nestjažateli begonnenen Polemik durch einen 14.19

отступят того, да извергнуться.“; vgl. RNB, F. II. 119, L. 149. Wir verweisen ebenfalls auf die besondere Auswahl dieser Gesetze im Sobranie titlov, dem Inhaltsverzeichnis der kormčaja: „Грань 13 Глава 15. О правоверных приемлющих упражнятися и о молящихся в монастырех еретичьских апостол святых 65, 70 правила; собора Лаодикикийского канон 29, 32.“; vgl. RNB, OSRK, F. II. 80, L. 24. 18 Meinungen bzgl. der Datierung der Botschaften bei: LUR’E, Ja. S., Iosif Volockij, in: Slovar’ knižnikov i knižnosti Drevnej Rusi, Bd. 2, Tl. 1, hrsg. von D. S. LICHČEV, Leningrad 1988, S. 434–439, hier S. 434; PLIGUZOV, A. I., O chronologii poslanij Iosifa Volockogo, in: Russkij feodal’nyj archiv XIV – pervoj treti XVI veka, hrsg. von DEMS., Moskau 1992, S. 1043–1061. 19 Zu Beweisen und textimmanenten Argumenten für diese Annahme siehe ALEKSEEV, Sočinenija Iosifa Volockogo, S. 219–310.

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Welche Bedeutung nahm in dieser Polemik die Frage über die klösterlichen Siedlungen ein? War sie das gemeinsame Resultat beider klösterlicher Richtungen oder lediglich eine eingeschleuste und oberflächliche, weltliche Einmischung? Was waren die Motive des Großfürsten, als er der Synode vorschlug, auf den kirchlichen Grundbesitz zu verzichten und im Gegenzug festgesetzte Geldbeträge und eine bestimmte Menge Getreide zu akzeptieren? Sollte man Ivan III. als den ersten europäischen Monarchen betrachten, der bereits zwanzig, dreißig Jahre vor der Reformation den Entschluss fasste, kirchlichen Grundbesitz zu säkularisieren? Die traditionellen Erklärungen kann man nicht als befriedigend bezeichnen, da ihre Urheber mit äußerst vagen Theorien operieren. Wenn man die These befürwortet, dass Russland Renaissance und Reformation ausgelassen habe, könnte man von einer Vor-Renaissance oder Proto-Renaissance sprechen, von gewissen Ansätzen, die auf eine religiöse Reformation hinausliefen.20 Diese Mutmaßungen erübrigen sich bei einer skeptischen Herangehensweise an die Quellen, wie es etwa in den Arbeiten Ostrowskis und Pliguzovs demonstriert wird. Die Konfiszierungen kirchlichen Grundbesitzes in Novgorod sind in diesem Falle nicht Gegenstand säkularisierender Handlungen, die von den Siegern nach dem erfolgreichen Ausgang der 1478 geführten Kampagne gegen die Novgoroder veče-Republik vollzogen wurden. Die Synode des Jahres 1503 hingegen war lediglich disziplinarischen Fragen gewidmet, und Informationen der Quellen über Streitigkeiten um klösterlichen Grundbesitz sind Erfindungen der Polemiker zur Zeit der Hundertköpfigen Synode. Wie eine Reihe von Arbeiten überzeugend darlegen kann, wurden in diesem Zusammenhang die eigentlichen Quelleninhalte ignoriert und quellenkundliche Beobachtungen vorschnell als Ergebnisse interpretiert. Die Motive der mythischen Fälscher, die sich ein halbes Jahrhundert nach der Synode bemühten, die Beziehungsgeschichte zwischen Staat und Kirche neu zu schreiben, bleiben ungeklärt. Als größtes Manko der Konzeption von Ostrowski und Pliguzov kann jedoch die Unschlüssigkeit der Ausgangsthese gelten, auf der die gesamte Argumentation beruht: Wenn Russland während der Regierungszeit Ivans III. nicht an der Schwelle zur Reformation stand und nicht als Staat einer neuen Zeit galt, dann heißt dies nicht, dass es zwischen weltlicher Macht und der Kirche keine Konflikte um Territorien gegeben hat. In der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts kam es zu vielfachen Eingriffen weltlicher Herrscher in klösterliche Güter. Die mächtigen Lehnsfürsten waren nicht

20 Eine solche, äußerst vorsichtige Äußerung ist z.B. bei LUR’E, Ja. S., Russkie sovremenniki vozroždenija, Moskau 1988, S. 3, zu finden: „Споры о Возрождении, о его границах, о возможности распространения его на всю Европу и неевропейские страны в значительной степени возникают из-за отсутствия однозначного определения этого понятия.“ Mit Blick auf die Aussage A. Ju. Grigorenkos formulierte er: „И здесь же отметим, что древнерусская культура развивалась в контексте общеевропейской, отмеченной предреформационными волнениями.“ Vgl. „Vizantijskoe bogoslovie i religiozno-filosofskaja mysl’ Rossii“ (Al’manach centra izučenija srednevekovoj kul’tury, 3), hrsg. von O. Ė. DUŠIN und I. I. EVLAMPIEV, St. Petersburg 2000, URL: http://philosophy.spbu.ru/48 (Zugriff 18.03.2016). Ich empfehle, die Qualität dieser Aussage unter Aspekten der Logik zu bewerten.

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bereit, sich mit dem Sonderstatus der klösterlichen Güter abzufinden, ganz der Leitlinie folgend: „Der Herr sei in seinen Klöstern frei, wenn er will, begünstigt er, wenn er will, raubt er aus“.21 Der für den Großfürsten von Moskau ungünstige Ausgang der Synode im Jahr 1503 zeigte jedoch, dass die Klöster dermaßen erstarkt waren, dass sie den Begehrlichkeiten der weltlichen Macht hinsichtlich ihrer Ländereien eine Abfuhr erteilen konnten. Die wirtschaftliche Kraft und die geistliche Autorität der Klöster waren das Resultat wichtiger gesellschaftlicher Veränderungen im 15. Jahrhundert. Diese Veränderungen waren dermaßen tiefgreifend, dass sich der Status der klösterlichen Güter veränderte und die Klöster Einfluss auf die gesamte Bandbreite der kirchlich-weltlichen Beziehungen nehmen konnten.22 Sie wurden zwar von den Zeitgenossen bemerkt, entzogen sich jedoch größtenteils der Aufmerksamkeit späterer Forscher. Tatsächlich entstanden im 14. und 15. Jahrhundert in der Rusʼ die Memorialpraktiken. Dieser Prozess erstreckte sich auf den geistlichen, sozioökonomischen und sogar politischen Bereich des Lebens. Die Erforschung der klösterlichen Quellen wie Totengedenk-, Stiftungs- und Speisungsbücher erlaubte es, die Formierung der Erinnerungspraxis in das 15. und 16. Jahrhundert zurückzuverfolgen. Typologisch war dieser Prozess nah an der Entwicklung in Westeuropa Anfang des 11. Jahrhunderts.23 In diesem Sinne ist es angebracht, das Iosif-Volokolamskij-Kloster mit dem Kloster von Cluny zu vergleichen. Die Klöster wurden zu Orten des Gedenkens an die Entschlafenen, übten einen stetig wachsenden Einfluss auf die Gesellschaft aus und wurden zu gleichberechtigten Partnern von Stiftern aus dem Adel. Durch den Einfluss der Memorialpraxis etablierte sich die Lehre über die Nicht-Entfremdung klösterlicher Güter. Infolge der Krise der traditionellen Beziehungen zwischen Stiftern und Patronat entstanden Streitigkeiten über das klösterliche Recht zur Verfügung über die Dörfer. Diese Entwicklung beeinflusste die wohlbekannte Polemik zwischen Iosifljane und Nestjažateli, die an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert den Kampf gegen die Häresie der Judaisierenden unterstützten. Ungeachtet der Meinung der Anhänger Ostrowskis und Pliguzovs war diese Polemik nicht nur ein Mythos, der auf Bestreben von Publizisten zur Zeit der Hundertköpfigen Synode geschaffen wurde und lediglich in den Köpfen der Forscher existierte, die keine kritische Analyse und Bewertung vornehmen konnten. Tatsächlich zeugt sie von einer Kontroverse, die die tiefen Gegensätze zwischen der neuen Rolle der Klöster und der traditionellen Aufgabe des Patronats widerspiegelt. (Übersetzung aus dem Russischen: Paul Scherer und Michael Düring) 21 PIV, S. 220. 22 B. N. Florja bemerkte hierzu: „возниковение церковного землевладения и у восточных, и у западных славян не привело к кризису раннефеодальной модели государства и общества. Кризис начался тогда, когда Церковь вступила в борьбу за хозяйственную и политическую самостоятельность.“; vgl. FLORJA, B. N., Issledovanija po istorii cerkvi. Drevnerusskoe i slavjanskoe srednevekov’e, Moskau 2007, S. 72. 23 Siehe WOLLASCH, Joachim, Totengedenken im Reformmönchtum, in: Monastische Reformen im 9. und 10. Jahrhundert (Vorträge und Forschungen, 38), hrsg. von Raymund KOTTJE und Helmut MAURER, Sigmaringen 1989, S. 147–166.

IDENTIFYING PRE-PETRINE PILGRIMAGE IN MONASTIC ARCHIVAL RECORDS Solovki as a Case Study for Categorizing Visitors and Monies1 Jennifer B. Spock Pilgrimage holds a sacred place in the history of Christianity. The act of physically journeying to a location to participate in the spiritual power of that space has long been practiced in both the eastern and western traditions. Pilgrimage entails the process of the journey, arrival at a destination or destinations, actions and rituals fulfilled upon arrival, and, ideally, a correct spiritual condition embracing humility, love of God and the saints, and charity. Studies of pilgrimage abound for medieval Catholic Europe, for Byzantium, and for the Holy Land, but scholarly research on pilgrimage in pre-Petrine Russia is less plentiful. Most scholarly work for the prePetrine era focuses on khozhdeniia (travelogues) of pilgrims to Constantinople or the Holy Land,2 or explores the pilgrimage patterns of the Muscovite royal family and court figures.3 Such studies are invaluable, but they do not give us a broader view of pilgrimage within Russia itself, especially regarding non-elite, regional pilgrimage. This paper is the second stage of my efforts to explore pilgrimage before the 1680s to a major religious site, the Transfiguration Monastery, popularly named 1

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Research for this article was supported in part by a grant from the International Research & Exchanges Board (IREX), with funds provided by the National Endowment for the Humanities, the United States Information Agency, and the U. S. Department of State. Also contributing was a grant from the Joint Committee on the Soviet Union and its Successor States of the Social Science Research Council and the American Council of Learned Societies with funds provided by the State Department under the Russian, Eurasian, and East European Training Program (Title VIII). None of these organizations is responsible for the views expressed. Other funding was provided by: the Henry Rice Scholarship, Center for International and Area Studies, Yale University; John F. Enders Research Assistance Grant, Yale University; and the Hilandar Research Library and the Resource Center for Medieval Slavic Studies, The Ohio State University. See for an overview ZHITENËV, S. Iu., Istoriia russkogo pravoslavnogo palomnichestva v X– XVII vekakh, Moscow 2007. A specific article is KOLLMANN, Nancy S., Pilgrimage, Procession and Symbolic Space in Sixteenth-Century Russian Politics, in: Medieval Russian Culture (California Slavic Studies, 19), Vol. 2, ed. by Michael S. FLIER and Daniel ROWLAND, Berkeley 1994, pp. 163–181. Two books that include discussions of royal patronage and pilgrimage are THYRÊT, Isolde, Between God and Tsar, DeKalb 2001; MILLER, David B., Saint Sergius of Radonezh, His Trinity Monastery, and the Formation of the Russian Identity, DeKalb 2010.

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Solovki after the island in the White Sea on which it is located. My earlier work examined miracle tales of Solovki including their evidence for pilgrim activity and motivations.4 However, because miracle tales and lives of saints (zhitiia) have a pedagogical intent in addition to their spiritual witness, they must be critically analyzed to glean reliable information about pilgrimage. Literature of saints’ lives and their appended miracles is extensive for pre-Petrine Russia, but requires a level of source-critical interpretation that forces us to acknowledge that they have limitations as evidentiary sources. References in Solovki’s treasury books confirm that pilgrimage to Solovki occurred and increased over time. Pilgrim activity, like commercial activity, was seasonal, for ice floes inhibited travel on the White Sea between November and April. Treasury records reflect this seasonality. Yet, information on pilgrimage in the treasury books is so intertwined with records for trade and commemorative donation that extracting purely pilgrim activity is arduous. This article asks the following question: what can we discern about pilgrimage to Solovki based upon the treasury books of the monastery’s main compound (dvor)? I address some of the promises and problems inherent in studying pilgrimage based on such empirical sources, and argue that pilgrimage was as integral to the monastery’s interaction with the community as care of the dead and that Solovki merged those two devotional practices in specific ways. Among his many research interests, Ludwig Steindorff has become a major scholar of commemorative prayer in pre-Petrine Russia. His work has examined the development of commemoration in Muscovy, its comparison with western traditions, and its social, political, and administrative roles in Muscovite culture.5 His work has informed my own to a great extent. My aim here is to integrate our mutual interest in commemorative donation patterns with the growing scholarly interest in the culture of pilgrimage in Russia in general, by focusing on Solovki as a case study. This article encompasses the period from 1581 to 1645: the initial decades for which we have archival evidence of veneration at Solovki’s saints’ tombs. In 1581, for the first time, we find evidence in Solovki’s income books (prikhodnye knigi) of monies left at the tombs of Zosima and Savatii. By 1645, when Tsar Aleksei ascended the throne, and soon after ushered in a new chapter in the history of the Russian Church, pilgrimage to Solovki had burgeoned and become integrated with the collection of donations for annual commemorative prayers. For most Orthodox believers of the period, probably no clear distinction existed between engaging with Solovki for trade or pilgrimage. While this investigation demonstrates the complexity (and possibly the error) of trying to untangle pilgrim 4 5

SPOCK, Jennifer Baylee, The Solovki Monastery 1460–1645: Piety and Patronage in the Early Modern Russian North, Ph.D. diss., Yale University 1999, Chapter 7. STEINDORFF, Ludwig, Memoria in Altrußland. Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 38), Stuttgart 1994; Das Speisungsbuch von Volokolamsk. Eine Quelle zur Sozialgeschichte russischer Klöster im 16. Jahrhundert: Kormovaia kniga Iosifo-Volokolamskogo monastyria (Bausteine zur slavischen Philologie und Kulturgeschichte, Reihe B, Editionen, NF 12), prep. and transl. by Ludwig STEINDORFF, Köln 1998.

Identifying Pre-Petrine Pilgrimage in Monastic Archival Records

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activity from arranging commemorative prayer or engaging in commercial enterprise, it also demonstrates the systems the monks developed to categorize, record, and deal with visitors’ increasing numbers, gifts, and devotions. Solovki presents an interesting study for saints’ cults and pilgrimage because it housed the corpserelics of four holy men: Zosima and Savatii, founders of the cloister; St. Filipp [Kolychev], Metropolitan of Moscow and former Solovki hegumen; and St. German of Solovki, companion to the two founders. Savatii and Zosima never met in the temporal world. Starting sometime between 1429 and 1436, Savatii lived a semi-heremitic life on the island with German. After his death, Zosima joined German on Solovki Island and later, from the mid1460s until his death (1478), he served as a spiritual and administrative leader (igumen, hegumen) to the developing monastic community. Savatii’s remains were transferred to Solovki Monastery and a tomb for him was constructed during Zosima’s lifetime.6 We cannot be sure when the veneration of Zosima began. His miracle cycle tells us that a tomb was built for him three years after his death, but that icons of the saint, although drawn by “believing people”, were not crafted by the monks until 30 years later.7 In 1566 the monks consecrated a stone church dedicated to Savatii and Zosima, and transferred their relics to it.8 Fifteen years later, the treasury books indicate that monies were left on the tombs of the saints and soon after, vessels to collect coins were placed on the tombs. Eventually, huge sums were gathered at the tombs and the church. On November 25, 1644, at the close of the pilgrimage season, the treasury received a little over 761 rubles for various prayers, including commemoration from Zosima’s and Savatii’s collection vessel: “is krushen molebenykh i ponakhidnykh i sinanichnykh deneg”.9 On November 20, 1645, an entry for moleben and senanik donations totaling more than 797 rubles was recorded at their tombs.10 The total of a little over 1.558 rubles in small gifts over two traveling seasons was considerable. The remains of St. Filipp had been translated to Solovki in 1591, but the treasury did not erect a vessel on his shrine until 1616. Despite support for Filipp’s cult by monastery officials (until Nikon translated his remains to Moscow in 1652), based on the relative sums of coinage left at his shrine Filipp received relatively little attention from the cloister’s community or its visitors. Almost 30 years after a vessel for coins was placed at his tomb, treasury records for the two seasons ending in November 1644 and November 1645 show only a little over 22 rubles in total.11 A church in honor of St. Filipp was not raised until the late eighteenth century.12

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“Zhitie i podvizi i otchasti chiudes prepodobnago otsa nasheo Zosimy [...]”; cf. Velikii Mineichetʼi, Sobrannye Vserossiiskim Patriarkhom Makariem [hereafter: VMCh], Vol. 8, Part 2, April 8–21, Moscow 1912, pp. 533–535. 7 Ibid., pp. 546, 549. 8 SKOPIN, V. V., Na Solovetskikh ostrovakh, Moscow 1990, p. 48. 9 Russian State Archive of Ancient Acts [hereafter: RGADA], F. 1201, Op. 1, No. 242, L. 3. 10 Ibid., No. 245, 2ob. 11 Ibid., No. 242, L. 2ob; No. 245, L. 2. 12 SKOPIN, pp. 81–82.

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St. German had been companion to both Savatii and Zosima in turn, but did not have a shrine at Solovki until 1620/21, and like Filipp, despite his contributions to the early years of the monastery, inspired only a modest following. He usually received only a few more rubles than St. Filipp each year – for the two pilgrimage seasons ending in November 1644 and November 1645 combined, German’s tomb received a bit over 24 rubles.13 We can hypothesize regarding the relative popularity of the saints by examining the value of coinage collected annually at their shrines, but attempting to discover more about their veneration, before 1645 requires careful perusal of the treasury records. Starting in autumn 1589, the income books suggest that hegumens directed monies for various types of prayers to the vessels atop the shrines of Solovki’s saints rather than collecting the gifts themselves, and after 1626 the tombs’ vessels included gifts for annual commemorative prayers (senanichye den’gi). Thus, while we can still aver that the two founders remained the more popular patron saints, the relative sums left at their tombs compared to those collected at the shrines of Filipp and German may also represent a change and an increase in the recording and collection of particular types of donations. THE SOURCES The most useful sources for discovering pious activity by visitors are Solovki’s income books (prikhod or prikhodnye knigii) and disbursement books (roskhod or ros[ras]khodnye knigi) along with the monastery’s donation books for daily commemorative prayer (vkladnye knigi). The treasury paired income and disbursement books for the same time periods coinciding with the tenure of a treasurer. The books are organized chronologically, and many are extant, housed in the Russian State Archive of Ancient Acts (RGADA). The donation books recorded commemorative gifts for the more expensive daily prayers sung for the deceased during the lit’ia service. The fee required one ruble per desired year of daily prayer.14 The books were organized based on social group, size of gift, and regional affiliations, and covered many decades. Unfortunately, before the 1620s the scribes rarely noted dates of gifts. Solovki has two extant donation books, one compiled in 1563 based on earlier gifts and maintaining records to 1603. The other extended from 1605 into the eighteenth century. The disbursement books provide much information on goods entering the monastery, and the sums paid out for goods or services. The disbursement books listed specific names – sellers who brought goods to the monastery for trade, or monks and servants who received cash for specific duties – as well as regions of origin, 13 RGADA, F. 1201, Op. 1, No. 242, L. 2ob; No. 245, L. 2. 14 Ludwig Steindorff has demonstrated that Solovki and other cloisters patterned themselves after the Iosifo-Volokolamsk Monastery in expecting one ruble per year for daily lit’ia prayers, and 50 rubles for such prayers in perpetuity (“as long as the monastery stands”); cf. STEINDORFF, Ludwig, Commemoration and Administrative Techniques in Muscovite Monasteries, in: Russian History 22 (1995), pp. 433–454.

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and occasionally occupation of the parties involved. Names, patronymics, occupations, and hometowns listed in the disbursement books allow us to crosscheck the same information in the income books. The latter noted who gave cash or goods as gifts, rents, payments for debts, or purchases of goods, and provided the same types of information about them as the disbursement books. On occasion, income books mention corporate gifts given by groups of individuals or villages. The income books also recorded from which area of the monastery money was collected – from the hegumen, a workshop, or one of the churches. Scribes dated the first folio of each income and disbursement book, but end dates and dates or months for specific transactions were only occasionally noted. Certain categories of cash totals that related to pilgrim activity were recorded annually, usually in autumn at the end of the traveling season. The prikhodnye knigi crossed the line between the church and the treasury for they contain some of the entries of gifts (vklady) for expensive daily lit’ia prayers. More frequently, the prikhodnye knigi had been the main place for recording individual donations for the less expensive annual commemorative prayers that were entered in the senanik (comparable to the vechnyi sinodik of the Iosifo-Volokolamsk Monastery).15 Senanichnye den’gi entailed 5 altyns (5/33 of a Novgorod ruble) per name for annual prayers in perpetuity. Income books also recorded gifts for the forty-day prayers (sorokoust) that immediately followed a funeral (20 altyns). We find in the income books donations for molebeny – prayers of supplication or thanksgiving and the services that perform them – and zavetnye den’gi or testament funds, for bequests or future arrangements. Finally, the monks also recorded gifts for kut’ia – the wheat and honey dish served as part of memorial services (7 to 20 altyns). THE VISITORS: IDENTIFYING AND CATEGORIZING GUESTS AT SOLOVKI Identifying pilgrims using these sources is not easily accomplished, and cannot be done with complete assurance, but it is theoretically possible to determine who interacted with Solovki for purely pious reasons in any one time period. One can identify guests whose recorded activity is only related to pious activity, and guests whose aims were ostensibly secular; but to distinguish between spiritual and temporal motives for visitors may create a rift that did not exist. The financial rewards for selling goods to the cloister may well have been the means for supporting a pilgrimage to honor its saints. Additionally, it is unlikely that travelers who crossed the White Sea to engage in trade with Solovki would not visit the shrines of Zosima 15 Ibid.; STEINDORFF, Ludwig, Donations and Commemoration in the Muscovite Realm – a Medieval or Early Modern Phenomenon?, in: Religion und Integration im Moskauer Russland. Konzepte und Praktiken, Potentiale und Grenzen. 14.–17. Jahrhundert (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 76), hrsg. von DEMS., Wiesbaden 2010, pp. 477–498, here pp. 488– 490.

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and Savatii, patron saints for northern inhabitants in general, and for northern sailors, traders, and merchants specifically (along with St. Nicholas).16 One can identify some of the individuals who engaged in both commemorative prayer arrangements and interacted with the monastery’s more secular economic activity, and separate them from visitors who appear in the records for only one or the other purpose. The process is painstaking, and requires huge databases for Solovki with its thousands of record entries. However, the process for categorizing visitors is described below, as it may prove useful to scholars, and it provides some insight into Solovki’s management of visitors, visitors’ transactions, and their motivations for traveling to the cloister. I provide a brief example here of the promises and pitfalls of categorizing visitors. Because income and disbursement books coincided by period, it can be possible to identify an individual and to ascertain if that person is a visitor, if he or she only engaged in business at the monastery or conversely paid for prayers or devotional items. To determine the interaction by any one person with Solovki, one must examine all the entries for any one income and disbursement book pairing, and compare the names in the two books to determine if any of the actors mentioned in the raskhod in summer of 1581 for example, selling goods or services to the monks, also showed up in the prikhod for that same period buying goods or giving a gift for prayers. That would theoretically suggest whether an imaginary Ivan Ivanov had visited for commercial reasons alone or purely for pious devotions, or both. Unfortunately, because the donation books rarely provide dates before the 1620s, to compare names in the vkladnye knigi with the other record books requires a certain amount of perseverance, and a dose of luck that the scribes entered sufficient identifying information for each name. Few individuals appear that both sell to Solovki in the disbursement books and purchase devotional counter gifts or acquire devotional objects in the income and disbursement books for the same time period. However, that does not mean individuals who engaged in sales of products to Solovki never engaged the monks to provide spiritual prayers; it only means that they did not necessarily merge the two purposes during any one visit to the cloister. It is easier to figure out who visited the cloister for purely pious reasons, as those names do not show up in the disbursement books as sellers, or in the income books for sales, purchases, rents, or debts. To take as a small sample, the first 14 folia of the 1589 income and disbursement books respectively (28 folia in total) indicate 91 individuals in the former who do not appear to be inhabitants of the cloister, and 55 visitors in the latter. These 146 names represent a miniscule portion of the many thousands listed in the records for 1579 to 1645. From these folia it is possible to identify individuals such as Vasilii the shoemaker (sapozhnyi master) who sold venison worth 16 altyns to the monks in summer 1579,17 and also donated a vklad of 5 rubles for five years of daily prayers for his relatives.18 The vklad is not listed in a dated prikhod, so we cannot 16 SPOCK, Solovki Monastery, Chapter 7. 17 RGADA, F. 1201, Op. 1, No. 209, L. 71. 18 Institut Russkoj Istorii, St. Petersburg [hereafter: IRI], Coll. 2, No. 125, L. 108ob.

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tell if the two transactions were made in the same visit: there is no date for his commemorative donation in the vkladnaia kniga that predates 1603. Moreover, northern Russia probably was home to more than one shoemaker named Vasilii alive and visiting Solovki between 1579 and 1603. A better example is Ushak Popov from the region of Suma, who sold cloth and items of clothing to Solovki in 1579,19 and also provided 5,5 rubles-worth of cloth to Solovki that was recorded in the vkladnaia kniga maintained before 1603.20 In this instance, the name is more unique, and the mention of cloth in both records helps us make a reasonable identification. But the two transactions could have occurred at different times, and so pilgrimage activity by Ushak Popov cannot be proven from these entries – he may have sent his lit’ia gift through an intermediary. Then there are more ambiguous entries: Is Fedor the silversmith (serebrianin) from Suma, whom we see selling 900 ells of cloth to Solovki in 1579,21 the same as Fedor Shunzanin, the silversmith from Suma who donated 1 ruble 7 altyns for lit’ia prayers listed in the donation book for the pre-1603 period?22 Perhaps he is the same person, but perhaps not. I have listed here only three examples from one year, from 28 folios of a 140-folio manuscript book and compared names between those brief prikhod and roskhod records with entries for non-elite laymen from an extensive donation book. The same method is necessary for the process of elimination to discern who may have come to Solovki for purely devotional purposes to arrange commemorative prayer (an entry in an income book or donation book only). One might conclude that the other 143 individuals listed in 28 folia were visiting Solovki only for business or only for religious reasons, but such a conclusion would be premature. We can presume that those who only appear in the records engaged in pious activity, and do not appear to have sold or purchased any items to the monks, and were not listed as denizens of the cloister (not servants, not strel’tsy, not d’iaki, not monks) probably visited Solovki for the purpose of pious activity alone. Such individuals probably engaged in what we might consider “classic” pilgrimage – the journey to a holy site for prayer, veneration, and other forms of pious devotion. This, I feel, is a fairly safe assumption, but not one that can be made using the donation books alone: they verify commemoration, not a visit to the shrine. Trying to count the thousands of names, and by process of elimination identify those not engaged in commercial or financial activity, is probably not a useful project. Thousands visited Solovki for spiritual succor: enough said. It might be interesting to determine pious visitors from different regions. I have already examined this issue using the gifts in the donation books. Whether commercial or pious, most guest activity came from northern inhabitants around the White Sea region with a much smaller portion from more distant places such as Moscow or Tver. A relatively

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RGADA, F. 1201, Op. 1, No. 209, L. 76ob. IRI, Coll. 2, No. 125, L. 242. RGADA, F. 1201, Op. 1, No. 209, L. 76. IRI, Coll. 2, No. 125, L. 239.

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small number of Moscow elites gave large donations for commemoration starting in 1547, but did not themselves travel to Solovki to make those gifts.23 Complete accuracy regarding visitors, their pious actions, and their origins is nearly impossible, however, since a perusal of the income books shows that many gifts were donated to Solovki without individual entries in the treasury books at all. The income books have notations referencing Solovki’s priests and leading officers. The hegumen and cellarer were linked to pilgrimage for they deposited in the treasury lump sums collected for inexpensive prayers with no names attached in the income books. These records both supplement and undercut any knowledge we acquire from comparing names in the treasury books. It is logical to surmise that in the sixteenth and seventeenth centuries individuals, almost exclusively men, who made the effort to sail across the White Sea to the Solovki archipelago for trade purposes, made it a point to offer prayers to the saints. It seems improbable that traders visited the island of Solovki for secular purposes only and omitted to visit the shrines: the miracle stories of Zosima and Savatii have numerous accounts of traders, merchants, and fishermen who prayed to the saints for preservation or thanksgiving related to their passage over the waters.24 The amount of coinage left at the shrines of the saints suggests that those who sailed to the island must have donated to the saints, but the monies were not necessarily logged by name in the treasury books. To discern how pilgrimage income was handled at Solovki and why disentangling its web is so difficult, we must follow the money donated for pious countergifts. THE MONEY Solovki’s income books provide insight into probable pilgrimage activity in three main ways. First, they indicate when, and how much, money was collected from atop the shrines of saints and deposited in the main treasury. This custom first appears sometime between January and April 1581 during the time of year when movement between the island and the mainland was restricted by ice: Hegumen Varfolomei and the council elders (sobornye startsy) “vziali u chiudotvortsa u Zosimy na rake [tomb] 20 rublei”.25 No purpose for the monies was noted. Henceforth, a vessel (kuvshin) was placed on the tomb of each saint, and in October or November each year, the monies “received from the wonderworkers Zosima and Savatii […] from the receptacle” (“vziato u chiudotvortsov Zosimy i Savateia […] iz kuvshin” or “is krushek”) were recorded in the income books of the main treasury. In late summer 1587 an income book noted that 26 rubles, 24 altyns and 1 den’ga (1/7 of an altyn) were collected at the tomb of Zosima “chto khristoliubtsy kladut”, indicating that indeed pious visitors were leaving coins for prayer at the 23 SPOCK, Solovki Monastery, Chapters 1–4. For a geographical breakdown of gifts from nonelite inhabitants of the northern territories see pp. 230–235. 24 Ibid., Chapter 7, esp. pp. 399–401, 406, 412–413. 25 RGADA, F. 1201, Op. 1, No. 209, L. 129.

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saints’ tombs. Although prikhod and roskhod entries included winter months, those pages were sparser than for spring and summer. Most of the activity in the treasury books occurred between April and October when travel on the White Sea was easiest. Second, the income books note when the hegumens or other officers of the monastery deposited lump sums gathered for moleben, for kut’ia and for senanik prayers as well as for “candle money” (svechnye den’gi) and offerings for prosfora. Hegumens also deposited composite sums of zavetnye den’gi. The moleben and senanik prayers had a relatively modest cost of about 5 altyns, so a composite sum of 41 rubles, for example, shows evidence of arrangements for approximately 240 names to receive such prayers.26 On November 17, 1583 the treasury received from Hegumen Iakov 52 rubles for bequests, lit’ia prayers, and senanik entries: “da u igumena Iakova vzato zavetnykh deneg i po roditelekh liteinykh i senanichnykh chto khristoliubtsy davali 7091 godu”.27 So we have gifts including commemorative prayers that were not recorded singly by name of donor in the income books, but as lump sums collected over the course of the travel season and recorded in late fall. This suggests pilgrimage activity by people visiting the saints and leaving money for commemoration, supplicatory prayers, or prayers of thanks. In fact, we begin to see arrangements for these prayers mentioned in conjunction with the vessels on the tombs. Third, we find occasional entries of individuals who were not monks, monastery servants, or members of the monastery’s garrison, and presumably, therefore, were visitors, paying for a cross, an icon, or a copy of the lives of the saints.28 When either a cross or an icon was involved, the monks did not record the transaction as a purchase (“kupil […]”) but rather as an exchange (“promenil […]”) indicating that devotional objects were officially treated as different from commodities. Interestingly, in 1593/94 we also see merchants (gosti) “exchanging” icons in large batches. One bought nine hand-sized images of Zosima and Savatii at an exchange rate totaling 1 ruble, 11 altyns and 4 den’gas (about 4 altyns and 6 den’gas per icon).29 In a later entry from 1603/04: “promenili iz kazny priezzhim gostem 26 obrazov chiudotvortsykh nakraskeno 5 altyn obraz deneg vziato 3 rubli 30 altyn”.30 Clearly, such exchanges, while not made for the personal devotions of the recipient in the exchange, are evidence that the cult of Zosima and Savatii spread far and wide, and icons of the saints were considered a good investment for exchange in other communities. Between 1581 and 1645 we see changes, not only in levels of activity and the numbers of transactions on a yearly basis but also in the monastery’s establishment 26 See for example Nov. 17, 1582, Hegumen Iakov deposited “molebennykh deneg za leto 7091” 41 rubles 16 altyns 4 den’gas (for the period of Sept.-Aug. 1582–1583); ibid., No. 211, L. 28ob. 27 Ibid. 28 For example, in spring 1595 Onisim, a cobbler, bought a silver cross for 2 altyns; ibid., No. 213, L. 18ob. Not long after, Iev, a tailor from Moscow bought a silver cross for 8 den’gas. 29 Ibid., No. 213, L. 17. 30 Ibid., No. 214, L. 49ob.

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of methods for recording the activity, as processes for collecting pilgrims’ donations developed. Hegumen Iakov continued to gather, and record annually, lump sums for moleben and zavet until 1593.31 Not long before, and continuing after, the monies left at the tombs of Zosima and Savatii became categorized by type: 60 rubles, 19 altyns and 2 den’gas gathered at their shrines in October 1589 were categorized as arrangements for moleben and zavet.32 After 1593 we see that combined sums for molebeny and testamentary requests were collected at the tombs of the saints, where the numbers jump dramatically, probably as a result of the consolidation of collection in those central locations and an increase in visitation. September 1595 saw more than 74 rubles of molebennye and zavetnye den’gi collected at the tombs of Zosima and Savatii33; by fall 1603 the sum from both saints was over 217 rubles,34 and by November 2, 1621 we find more than 462 rubles deposited for such prayers. That same year 9 rubles, 16 altyns and 4 den’gas were left at the tomb of St. Filipp and 9 rubles 26 altyns left on St. German’s tomb, also for moleben and zavet donations.35 So soon after the establishment of collection boxes at the tombs of Filipp and German, a considerable disparity between donations at their shrines and at those of Zosima and Savatii is not surprising. Nine years later in the autumn of 1630, Zosima and Savatii received 859 rubles, Filipp received about 16,5 rubles, and German received a little over 17 rubles. The disparities were becoming greater. On July 7, 1620 Hegumen Irinarkh deposited 300 rubles of senanichnye den’gi in the treasury (annual commemorative prayers for more than 1.800 names), and so hegumens continued to receive monies for commemorative entries in the senanik.36 Individual entries for annual memorial entries in the senanik continued to be recorded in the income books, but in far smaller numbers, and since visitors often gave money for multiple family members, we cannot use the composite sums to hypothesize a number of donors. As time went by, the income books contained fewer and fewer individual entries for the less expensive prayers. In the income book for January 1579 to June 1581, covering two and a half years that included two and a half pilgrimage seasons, I found a total of 152 discrete entries for gifts of prayer, most of them for senanik entries, and most of them from individuals not residing in the cloister, for an average of 60 to 61 gifts per year. The numbers include gifts from monks and monastery servants, but the great majority came from outside.37 The income book for April 1581 to January 1582, which covered a full season of travel to the island, had 63 gifts for the less expensive prayers – a comparable amount.38 However, by May 1587 to January 1588, covering a full travel season, there were only 10 such entries in the income records, most of them from monks, servants, hospital patients, or for sorokoust prayers. Other entries in the 31 32 33 34 35 36 37 38

Ibid., No. 213, L. 16–16ob. Ibid., No. 5, L. 2ob. Ibid., No. 213, L. 34ob. Ibid., No. 214, L. 29ob. Ibid., No. 224, L. 67ob. Ibid., No. 224, L. 29. Ibid., No. 209. Ibid., No. 422.

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same prikhod note both the hegumen and the cellarer depositing composite monies for moleben, senanik, and zavet arrangements.39 By 1626 there were almost no small gifts for prayers other than sorokoust requests, and most of those smaller donations came from Solovki itself (35 out of 37).40 In the same year, lump sums for moleben and zavet prayers at the tombs of Zosima and Savatii totaled 444 rubles, 13 altyns, 2 den’gas, and importantly, another 143 rubles, 22 altyns and 4 den’gas left at their tombs for lit’ia and senanik prayers.41 This shows a distinct shift from the collection of the annual commemorative prayers by the treasury or the hegumen to the introduction of a custom by which both visitors and dependents of the monastery left donations for such gifts at the tombs of the saints and even included the occasional lit’ia prayers. There were no further large sums gathered by the hegumens from visitors or dependents for the less-expensive prayers: those went to the tombs of the saints. Donations for fortyday prayers, on the other hand, increasingly appeared in the income books.42 The smaller gifts for prayer including annual commemorative prayers overwhelmingly went to the tombs of Zosima and Savatii rather than to Filipp or German, and that choice of patron saints remained consistent through 1645 as demonstrated at the start of this article. We see, therefore, that Solovki merged the growing veneration of its saints with the increasingly numerous donations for annual commemorative prayers, testamentary arrangements, and prayers of supplication and thanksgiving. Pilgrimage to Solovki changed in other ways as well, as visitors began to collect icons and the written lives of saints. By 1621 the records show exchanges for copies of the Life of Zosima and Savatii. Two texts were sold in 1620 to 1621.43 More popularly, large numbers (157 in one entry) of icons of Zosima and Savatii were exchanged with “arriving people” or “merchants” from Dvina and Vologda and other towns.44 By 1640, Filipp had acquired a bit of popularity as we see five icons of the saint in one exchange, although the previous folio logged an exchange for 50 icons of Zosima and Savatii.45 Clearly, pilgrim activity had not only increased, but had expanded to the acquisition of devotional items and expensive zhitiia.46

39 Ibid., No. 424, see esp. L. 5ob, 9–9ob, 25, 48. 40 Ibid., No. 227, L. 3–27 (7134 [1626] June 21, to 7135 [1627] Aug. 31). This pattern had held for a number of years: the income book for September 1619 to January 1622 had a total of 44 smaller gifts for prayers, and of those, 43 originated from Solovki, almost all for forty-day prayers. 41 Ibid., No. 227, L. 14ob. 42 I found only one other composite sum for molebeny (3 rubles, 21 altyns) collected by Hegumen Antonii in 1640 (ibid., No. 41, L. 22ob), a much smaller sum than previous amounts gathered by hegumens when they were primary collectors of such donations. 43 Ibid., No. 224, L. 49ob–50, 56ob. The only earlier instance I have found so far is the sale of a copy of the zhitie of Zosima and Savatii to a monk in autumn 1607; ibid., No. 214, L. 109ob. 44 Ibid., No. 224, L. 41–41ob, 68ob. 45 Ibid., No. 41, L. 24–24ob. 46 There are sales of icons to outsiders earlier, for example, in 1603/04 and again in the summer of 1606; ibid., No. 214, L. 49ob, 89–89ob.

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BRIEF CONCLUSION What can we determine from this brief overview of source records, documentation, donations, and trends? First, in the late sixteenth and first half of the seventeenth centuries, many individuals came to Solovki for purely devotional and pious purposes to arrange commemorative prayer and simultaneously to venerate the saints at their tombs. Second, while many traders also made commemorative gifts that were formally entered in the donation books for the more expensive lit’ia prayers or as single entries in the income books, most probably arranged commemoration by placing smaller, untracked sums for annual prayers with the hegumens or at the tombs of the patron saints. The names would have been entered into the senanik, but not in the treasury books. While more work is needed, this initial assessment indicates that the number of entries for annual commemoration decreased in the income books deliberately as the amounts of money listed at the tombs of the saints increased steadily, and the phrase “senanichnykh den’gi” became associated with the sums collected at the tombs. Finally, while the cloister was clearly promoting cults for St. Filipp and St. German by erecting tombs, leaving vessels for coins at their shrines, and constructing zhitiia,47 they also directed pilgrims, and the monastery’s faithful, to deposit their donations for annual commemoration and other prayers at the tombs of saints. Yet, it seems that the donors, whether visitors or not, continued to choose the saints they desired as patrons as they decided where to leave their smaller gifts: the overwhelming choice was at the church and the tombs of the founders, Zosima and Savatii.

47 SPOCK, Solovki Monastery, Chapter 6.

DIE KIRCHE UND DER KLIENTELISMUS IN DER MOSKAUER RUSʼ DES 16. UND 17. JAHRHUNDERTS1 Michail M. Krom Der Klientelismus bildete einen nicht wegzudenkenden Bestandteil des sozialen und politischen Lebens in Europa zu Beginn der Neuzeit,2 und das Moskauer Reich des 16. und 17. Jahrhunderts stellte in dieser Beziehung keineswegs eine Ausnahme dar. Allerdings wurde die Aufmerksamkeit der Forscher bislang hauptsächlich auf die Beziehungen zwischen Patron und Klientel innerhalb der russischen Hofaristokratie3 und in geringerem Maße auch im Milieu des Provinzadels4 gelenkt, wobei ähnliche Erscheinungen in anderen Schichten der russischen Gesellschaft bisher

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Dieser Beitrag setzt die Erforschung des Patronageinstituts im Moskauer Reich des 16.–17. Jahrhunderts fort, welche ich 2007–2008 an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel mit Unterstützung durch die Konrad-Adenauer-Stiftung und unter der Betreuung von Prof. Dr. Ludwig Steindorff begonnen habe. Ich danke herzlichst sowohl der Stiftung als auch Prof. Dr. Steindorff. Ich danke darüber hinaus meinen Kollegen, mit denen ich die Idee dieses Beitrages besprach, für ihre Ratschläge, insbes. P. V. Sedov (Geschichtsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg), O. E. Košeleva (Institut der Allgemeinen Geschichte der Russischen Akademie der Wissenschaften) und M. M. Dadykina (Hochschule für Wirtschaft, St. Petersburg). Mein besonderer Dank gilt N. V. Bašnin (Geschichtsinstitut der Russischen Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg) für den Hinweis auf eine Reihe wertvoller Dokumente und für die Hilfe bei deren Einsichtnahme. Die Literatur zur Patronage und clientela im Europa der Frühen Neuzeit ist nahezu unüberschaubar. Man kann die bekannten Werke von Sharon Kettering und William Beik über dieses Phänomen im Frankreich des 17. Jahrhunderts hervorheben, ferner die Bücher von Linda Levy Peck und Ronald G. Asch über England im 17. Jahrhundert, von Wolfgang Reinhard und seinen Schülern über die Patronage im Kirchenstaat während des ersten Viertels des 17. Jahrhunderts, von Woiciech Tygielski und Urszula Augustyniak über die clientela der Magnaten in PolenLitauen usw. Bis heute sehr bedeutend: Klientelsysteme im Europa der Frühen Neuzeit (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 9), hrsg. von Antoni MĄCZAK, München 1988. Zur allgemeinen Einführung empfiehlt sich: DERS., Ungleiche Freundschaft. Klientelbeziehungen von der Antike bis zur Gegenwart (Klio in Polen, 7), Osnabrück 2005. CRUMMEY, Robert O., Aristocrats and Servitors. The Boyar Elite in Russia, 1613–1689, Princeton 1983, S. 103–106; SEDOV, P. V., Zakat Moskovskogo carstva. Carskij dvor konca XVII veka, St. Petersburg 2006, S. 100–108; KROM, Mikhail, Private Service and Patronage in Sixteenth-Century Russia, in: Russian History 35 (2008), S. 309–320; DERS., Formen der Patronage im Russland des 16. und 17. Jahrhunderts: Perspektiven der vergleichenden Forschung im europäischen Kontext, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 57 (2009), S. 321–345. KIVELSON, Valerie A., Autocracy in the Provinces. The Muscovite Gentry and Political Culture in the Seventeenth Century, Stanford 1996, insbes. Kap. 5, S. 154–180.

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unbeachtet blieben. Das Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, die Spezifik der Patronagebeziehungen aufzuzeigen, die im kirchlichen Milieu existierten und die Laien mit den von ihnen verehrten Klöstern verbanden. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich an dieser Stelle betonen, dass ich das sogenannte Kirchenpatronat, unter welchem man im katholischen Europa die Beziehungen zwischen dem Kirchen- oder Klosterstifter und den auf seine Kosten und auf seinem Land errichteten Kircheneinrichtungen verstand, nicht behandeln werde. In der Moskauer Rusʼ gab es keinerlei Analogie zum ius patronatus, doch im Privatbesitz befindliche Kirchen waren dort, wie P. S. Stefanovič gezeigt hat, durchaus weit verbreitet.5 Es ist unschwer zu erkennen, dass sich der Terminus „Patronage“ kaum dazu eignet, die Beziehungen zu beschreiben, welche zwischen dem Herrn einer votčina (Allod) und der von ihm abhängigen, in seiner Haus- oder Gutskirche tätigen Geistlichkeit bestanden: Es ist kaum angebracht, von einer „Schirmherrschaft“, sondern vielmehr von einer absoluten und nahezu aufsichtslosen Machtausübung des Herrn zu sprechen. Daher stellen der oben genannte, dem mittelalterlichen kanonischen Recht entstammende Begriff und der in den heutigen Sozialwissenschaften vertretene, die Institution der Patronage beschreibende Terminus, der von den Prinzipien der Freiwilligkeit und Gegenseitigkeit in den Beziehungen zwischen den Patronen und den Klienten ausgeht,6 lediglich Homonyme dar. Eigenkirchen werden aus diesem Grund aus unserer Untersuchung ausgespart. Wenn man nun aber von der Hauptmasse der Kirchen und Klöster spricht, die dem Metropoliten und später dem Patriarchen von Moskau unterstanden, so ist es unbestreitbar, dass unter den Laien der Stifter die Schlüsselfigur war, die die Obhut ausübte und für „ihre“ Kircheneinrichtung verschiedene Dienste leistete. Die Stifter hatten einen großen Einfluss auf ihre Klöster, welche nicht selten auch als Orte für ihre Familiengräber fungierten; in der Fachliteratur sind Beispiele für eine direkte Einmischung der Stifter in die Verwaltung des einen oder anderen Klosters genannt.7 Dennoch verfügte selbst ein sehr mächtiger Klosterstifter im Gegensatz zu einem votčina-Herrn oder einem Gutsherrn über keine unmittelbare Macht über die

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STEFANOVIČ, P. S., Prichod i prichodskoe duchovenstvo v Rossii v XVI–XVII vekach, Moskau 2002, S. 33–108. EISENSTADT, Samuel N./RONIGER, Luis, Patrons, Clients and Friends. Interpersonal Relations and the Structure of Trust in Society, Cambridge 1984, S. 48. So führte T. V. Sazonova an, dass 1628 die Stifter des Kirill-Novoezerskij-Klosters, der stol’nik (Mundschenk) Aleksej Nikitič Godunov „mit seinen Kameraden“ („с товарищи“), in einem Klosterstreit auf der Seite des Kellermeisters auftraten und dem Zaren Michail Fedorovič eine Bittschrift mit ihrer Kritik an den Mängeln in der Klosterleitung übergaben; vgl. SAZONOVA, T. V., Kirillo-Novoezerskij monastyrʼ. Opyt izučenija malych i srednich monastyrej Rossii XVI–XVII vv., Moskau/St. Petersburg 2011, S. 223. Solch eine Aktivität war nicht nur für die Hofaristokraten charakteristisch: Gemäß den Angaben von N. V. Bašnin mischte sich der reiche Moskauer Händler Feodosij Bulgakov mit dem Beinamen Bachtejar, der ein Stifter des Glušica-Klosters war, Anfang der 1630er Jahre in einen inneren Streit dieses Klosters ein, indem er eine Bittschrift an den Vologdaer Erzbischof Varlaam verfasste (ich danke N. V. Bašnin dafür, dass er mich mit dem Manuskript eines noch nicht veröffentlichten Beitrages über den sinodik des Dionisij-Glušica-Klosters vertraut machte).

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Klosterbrüderschaft. Daher ist es in diesem Fall zutreffender, von Obhut und Schutzherrschaft zu sprechen. Von einem besonderen Interesse für unser Thema sind Fälle, in denen die Stifter ihre Stellung am Zarenhof nutzten, um Gerichtsurteile oder andere materielle Vorteile zugunsten ihres Klosters zu erwirken. Es gibt Gründe für die Annahme, dass solch eine Praxis bereits in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts existierte, allerdings ist eine detaillierte Erforschung nur über aus dem 17. Jahrhundert erhaltene Quellen möglich. Am 12. November 1543 stellten die Schatzmeister Ivan Ivanovič Tret’jakov und Ivan Petrovič Golovin dem Archimandriten Savva, dem Vorsteher des Moskauer Simonov-Klosters, auf dessen Bittgesuch einen großfürstlichen Gnadenbrief aus, der die Frist für die Erfüllung der jamskaja povinnost’ (Postpflicht) durch die Klosterbauern auf zwei Wochen im Jahr beschränkte.8 Man könnte dieser Tatsache keine Bedeutung beimessen, wenn man nicht wüsste, dass das Geschlecht ChovrinGolovin, dem beide Schatzmeister angehörten, mit dem Simonov-Kloster, das von Vertretern dieser Familie großzügige Stiftungen erhielt, seit langem eng verbunden war.9 Insgesamt war I. I. Tret’jakov in seiner Zeit als Schatzmeister an der Ausstellung von vier Gnadenbriefen für das Simonov-Kloster beteiligt.10 Im Juli 1543 wurde ihm die Gerichtssache um einen zwischen dem Simonov- und dem NikolausUgreša-Kloster ausgefochtenen Streit um Landbesitz vorgetragen; es besteht mit Blick auf das oben Dargelegte Anlass dazu, die Unvoreingenommenheit des Schatzmeisters anzuzweifeln, da er eine Entscheidung zugunsten seines Klosters fällte, das dadurch den Fall gewann.11 Die Schirmherrschaft der Höflinge über die von ihnen verehrten Klöster, die man nach dem Studium der Quellen aus dem 16. Jahrhundert nur vermuten kann, zeigte sich im 17. Jahrhundert in ihrer ganzen Offensichtlichkeit. So nimmt T. V. Sazonova nicht ohne Grund an, dass das Kirill-Novoezerskij-Kloster in den 1650er Jahren eine Reihe von Gnadenbriefen des Zaren, welche seine Einkünfte steigerten, durch die Schirmherrschaft des Bojaren Boris Ivanovič Morozov erhielt, der für das Kloster Stiftungen vornahm.12 P. V. Sedov führte etliche anschauliche Beispiele für die Schirmherrschaft einflussreicher Stifter über ihre Klöster an: die der Fürsten Prozorovskij über das Tichvin-Uspenskij-Kloster, des Fürsten I. B. Repnin und S. I. Zaborovskij über das Pafnutij-Borovskij-Kloster.13 Derselbe Forscher erzählte eine lehrreiche Anekdote darüber, wie seit Januar 1681 in den Moskauer prikazy (Ämtern) über zwei Jahre lang die Sache um den zwischen zwei Tichviner Klöstern – dem männlichen Uspenskij- und dem weiblichen Vvedenskij-Kloster – ausgetragenen Streit um Landbesitz verhandelt wurde. Auf jeder der beiden Seiten waren 8 9 10 11 12 13

Akty feodal’nogo zemlevladenija i chozjajstva, Akty Moskovskogo Simonova Monastyrja [im Folgenden: AMSM], hrsg. von L. I. IVINA, Leningrad 1983, Nr. 74, S. 87f. IVINA, L. I., Krupnaja votčina Severo-Vostočnoj Rusi konca XIV – pervoj poloviny XVI v., Leningrad 1979, S. 38, 75, 136, 146. AMSM, Nr. 57, 74, 82f., S. 62f., 87f., 95–97. Ebd., Nr. 72, S. 82–86. SAZONOVA, Kirillo-Novoezerskij monastyrʼ, S. 188. SEDOV, Zakat Moskovskogo carstva, S. 94–96, 306, 383, 418.

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die Stifter beziehungsweise die Schutzherren aktiv: Fürst P. I. Prozorovskij auf der Seite des Uspenskij-Klosters, Fürst I. I. Daškov auf der des Vvedenskij-Klosters. Ihr Interesse an diesem Streitfall ließen viele am Hof einflussreiche Personen, darunter auch die Zarentöchter, auftreten und als Ergebnis wurde das Urteil mehrmals revidiert.14 Viele Wesenszüge verbinden die Beziehungen zwischen den Klöstern und ihren hohen Schirmherren mit jenen zwischen Patron und Klient, die unter den Laien jener Epoche herrschten. Ähnlich wie bei der clientela waren diese Beziehungen freiwillig, dauerhaft – sie wurden manchmal einige Jahrzehnte lang gepflegt – oder informell und sie sahen, was sehr wichtig war, einen gegenseitigen Austausch von Dienstleistungen vor: Die klösterliche Führungsriege trug nicht nur die Namen der Stifter in die sinodiki beziehungsweise in die Listen der Personen, derer es posthum zu gedenken galt, ein, sondern hielt es auch für notwendig, den einflussreichsten unter den Schirmherren als Ehrenbeweis (v počestʼ) Fisch oder andere Lebensmittel zu schicken und Speisungen für die Menschen aus dem Umkreis eines vornehmen Stifters durchzuführen.15 Diese Beziehungen waren natürlich ungleich: Die erhaltene Korrespondenz lässt daran keinen Zweifel. Als Beispiel kann der Brief des Archimandriten Iona, des Vorstehers des Spasskij-Priluki-Klosters, an den Bojaren Fürst Ivan Alekseevič fungieren, der zwischen 1654 und 1671 verfasst worden ist.16 Der Nachname des Adressaten ist nicht erwähnt, doch die Kombination des Namens und des Vatersnamens mit der Bojarenwürde erlaubt es, ihn zu ermitteln: Es handelt sich hierbei zweifelsohne um den Bojaren Fürst Ivan Alekseevič Vorotynskij, den damals reichsten Großgrundbesitzer in Russland.17 Der Brief ist in einem ehrerbietigen Ton gehalten, die damals übliche Etikette ist eingehalten. Sich an „den Herrn Bojaren Fürsten Ivan Alekseevič“ wendend, „schlagen vielfach mit der Stirn“ der Archimandrit Iona und der Kellermeister Sil’vestr „mit der Brüderschaft“. Genauso demütig ist auch die Bitte formuliert: wir bitten [im Manuskript ist die anschließende Anrede „dich“ durchgestrichen], Herr Fürst Ivan Alekseevič, um Gnade: Herr, erteile das, worum unser Diener, der Page Marčko, an deine Gnade herantreten wird, versorge mit deiner Barmherzigkeit das Haus des Wundertäters, wir aber müssen Gott um deine jahrelange Gesundheit in Zusammenkunft und in der Zelle bitten.18

14 Ebd., S. 418–420. 15 T. V. Sazonova erwähnt die Speisung, welche 1659 von den Mönchen des Kirill-NovoezerskijKlosters während ihres Aufenthaltes in Moskau für die pod’jačie (Untersekretäre) einiger Hauptstädter prikazy und die „prikazy-Leute“ des Bojaren B. I. Morozov veranstaltet wurde; vgl. SAZONOVA, Kirillo-Novoezerskij monastyrʼ, S. 188. 16 Vgl. STROEV, P. M., Spiski ierarchov i nastojatelej monastyrej Rossijskoj cerkvi, St. Petersburg 1877, Sp. 738. 17 Vgl. dazu Pravjaščaja ėlita Moskovskogo gosudarstva IX – načala XVIII vv. Očerki istorii, hrsg. von A. P. PAVLOV, St. Petersburg 2006, S. 448. 18 Naučno-Istoričeskij Archiv Sankt-Peterburgskogo Instituta Istorii RAN [im Folgenden: NIA SPb II], F. 271, O. 1, D. 670: „государю боярину князю Ивану Алексеевичу“, „по премногу челом бьют“, „з братьею“, „милости, государь, просим […] князь Иван Алексеевич: о чем придет к твоей милости слушка наш стряпчей Марчко, пожалуй, государь, для дома

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Der Komposition und der Sprache nach unterscheidet sich dieses Schreiben der Mönche an ihren Schirmherrn aus der Hauptstadt kaum von dutzenden ähnlichen Briefen, welche die Klienten an ihre Patrone im Moskauer Reich des 17. Jahrhunderts schrieben: Hier findet sich das in der Einleitung unumgängliche „Schlagen mit der Stirn“, die Bitte um „Gnade“ für den Bittsteller und das Versprechen, Gott um die Gesundheit des Wohltäters zu bitten.19 Wie es sich versteht, hatten die Beziehungen zwischen den Stiftern und den von ihnen verehrten Klöstern ihre Spezifik; dies war ein besonderer Patronagetyp. Während die Mönche, wenn sie sich an einen vornehmen Schirmherrn wandten, wie die Mehrzahl der Klienten nach einem materiellen Vorteil suchten, erbaute der Bojar, auf eine Belohnung im Jenseits hoffend, durch seine Fürsorge für das eine oder andere Kloster seine Seele. Dabei wurde in der Korrespondenz immer wieder betont, dass man alle Wohltaten um der himmlischen Beschützer willen – im Falle des Spasskij-Priluki-Klosters der Wundertäter Dmitrij und Ignatij – leistete, die Mönche fungierten dabei lediglich als Vermittler. Bedenkt man, dass ein Bojar oder ein anderer Ratshöfling, wenn er seinem Kloster einen Gnadenbrief des Zaren verschaffte, für seinen Klienten letztlich auch Vermittlungsdienste leistete, so muss man zu dem Schluss gelangen, dass auf beiden Seiten eine „Maklertätigkeit“ praktiziert wurde. Irdische und himmlische Patronage verbanden sich im Klosteralltag zu einer Kette. Neben den Beziehungen zu den Stiftern war die Geistlichkeit auch in andere Patronagetypen involviert. Insbesondere gilt dies für den Episkopat – die Erzbischöfe und Metropoliten –, die ihrer Position entsprechend dem Hofadel deutlich näherstanden als die Vorsteher vieler Klöster, vor allem derjenigen in der Provinz. Die früheste erhalten gebliebene Erwähnung einer Beziehung zwischen Patron und Klient im kirchlichen Milieu wird auf den Beginn der 1540er Jahre datiert und bezieht sich auf einen Vertreter des Episkopats, nämlich den Novgoroder Erzbischof Feodosij. Feodosij war berühmt für seine Beredsamkeit; Beispiele seiner Botschaften wurden kopiert und zu Sammlungen zusammengefügt. In der Regel wurden dabei die Namen der Adressaten durch das unpersönliche imjarek („Soundso“) ersetzt, doch in einer Abschrift der uns interessierenden Botschaft blieb ein Hinweis auf das Hofamt sowie den Namen und Vatersnamen des Korrespondenten von Feodosij erhalten: der Bojar Vasilij Grigorʼevič20; dem Kontext nach handelte es sich hierbei um V. G. Morozov. Da in dem Schreiben die glückliche Heimkehr des Bojaren von чюдотворцева призри своим милосердием, а мы должны Бога молить о твоем многолетнем здравии соборне и келейне.“ 19 Charakteristische Beispiele für die Urkunden der Klienten (vskormlenniki, i.e. die „Aufgezogenen“, wie sie sich selbst nannten) an ihre Patrone kann man in der Korrespondenz des Fürsten V. V. Golicyn, der Familienkorrespondenz der Fürsten Chovanskij sowie im Archiv des stol’nik A. I. Bezobrazov finden. Zur Analyse der Sprache der Patronage siehe KROM, Formen der Patronage, S. 325–327. 20 Rossijskaja Nacional’naja Biblioteka [im Folgenden: RNB], Otdel rukopisej, Q. XVII. 50, L. 129. Diese Botschaft ist nach einer anderen Abschrift ediert, in welcher der Name des Bojaren fehlt; vgl. NOVIKOV, N. I., Drevnjaja Rossijskaja Vivliofika […], 2. Aufl., Moskau 1790, S. 240–244.

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einer diplomatischen Reise nach Polen-Litauen zu König Sigismund dem Alten und dessen Sohn Sigismund II. August erwähnt wird und aus der Chronik bekannt ist, dass die Gesandtschaft von V. G. Morozov im Oktober 154221 nach Moskau zurückkehrte, kann Feodosijs Brief auf das Ende des besagten Jahres datiert werden. Am Ende der Botschaft antwortet der Erzbischof von Novgorod auf die Bitte seines Korrespondenten: Herr, du hattest uns bezüglich deines Priesters Grigorij geschrieben, dass wir ihn in der Kathedrale bei der Heiligen Sophia, der unaussprechlichen Weisheit Gottes, unterbringen; doch nun, Herr, gibt es in der Sophienkathedrale keine freie Stelle. Sobald aber eine Kirchenstelle, wenn Gott sie gibt, da sein wird, werde ich, Herr, ihn gemäß deinem Wort in der Sophienkathedrale eigenmächtig unterbringen.22

Der in der Botschaft erwähnte Priester Grigorij diente möglicherweise in der Hauskirche von V. G. Morozov. Nachdem Feodosij versprochen hatte, diesen in der Sophienkathedrale „unterzubringen“, sobald es dort ein vakantes Amt gebe, erinnerte er den Bojaren Vasilij Grigorʼevič seinerseits an eine wichtige Angelegenheit, um die sich zu kümmern ihn der Erzbischof früher gebeten hatte: Herr, du hattest uns bezüglich der Popen in Cholmogory geschrieben, dass Šeršen’ jene Urkunde leugnete, die Urkunde des Herrn Großfürsten, von welcher sie sprachen, dass sie bei ihnen sei. Und du, Herr, versprachst es, für uns eine Urkunde des Herrn Großfürsten bezüglich unserer kirchlichen Abgabe durch jene Popen in Cholmogory zu besorgen. Und du, großer Herr, hülfest damit um Gottes willen der Heiligen Sophia, der unaussprechlichen Weisheit Gottes, und tätest uns deine große Gefälligkeit, wie Gott es dir anzeigen wird.23

Obwohl uns die Details dieser Geschichte nicht bekannt sind, ist das Bild im Großen und Ganzen klar. Offensichtlich wurde der Erzbischof, zu dessen Eparchie die Stadt Cholmogory gehörte, mit der Weigerung der dortigen Priester konfrontiert, ihm die Kirchenabgabe zu zahlen; dabei beriefen sie sich auf eine großfürstliche Urkunde, welche sie von dieser Abgabe vermutlich befreite. Auf Feodosijs Bitte führte der Bojar Morozov in Moskau eine Untersuchung durch, doch der d’jak (Sekretär) Šeršen’ (anscheinend Bilibin) 24 lehnte es ab, die Ausstellung der besagten Urkunde zu bestätigen; entsprechend kann man den Ausdruck „и тое грамоты Шершень запрелся“ interpretieren. Danach versprach Vasilij Grigor’evič, sich um eine neue 21 Polnoe Sobranie Russkich Letopisej, Bd. 29, Moskau 1965, S. 44. 22 RNB, Q. XVII. 50, L. 131: „Да писал еси, господине, к нам о своем священнице о Григории, чтоб нам его устроити в соборе у святыя Софии неизреченной Премудрости Божии; и ныне, господине, в Софейском соборе места порожжего нет. А как, оже даст Бог, место церковное будет, и яз, господине, твоего для слова его в Софейском соборе однолично устрою.“ 23 Ebd.: „Да писал еси, господине, к нам о колмогорских попех, что которую они у собя государя великого князя грамоту сказывали, и тое грамоты Шершень запрелся. И ты, господине, рекся взяти нам на тех колмогорских попов в нашей церковной дани государя великого князя грамоту. И ты б, господин великий, Бога ради тем святей Софеи неизреченней Премудрости Божии послужил и нам то свое великое жалованье совершил, как тебе о том Бог известит.“ 24 Zum Sekretär Šeršen’ Bilibin siehe KROM, M. M., Vdovstvujuščee carstvo. Političeskij krizis v Rossii 30–40-ch godov XVI veka, Moskau 2010, S. 816f.

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Urkunde des Herrschers zu bemühen, welche die Priester in Cholmogory dazu verpflichtet hätte, die Abgabe an den Erzbischof zu entrichten. Feodosij bat ihn nun, das Versprechen einzulösen und auf diese Art und Weise dem Haus der Heiligen Sophia beziehungsweise der Kathedrale von Novgorod einen Dienst zu erweisen. Wie wir sehen, bestanden enge Beziehungen zwischen dem Episkopat und den Bojaren bereits in den 40er Jahren des 16. Jahrhunderts: Sie tauschten nicht nur Briefe und Neuigkeiten, sondern auch wichtige Dienste aus, wobei in diesen Tausch Kirchenämter, großfürstliche Gnadenbriefe usw. einbezogen waren. Über die Entwicklung der Vertrauensnetzwerke des Episkopats am Zarenhof im 17. Jahrhundert kann man insbesondere auf der Grundlage des relativ gut erhalten gebliebenen Archivs des Episkopalhauses von Vologda urteilen. So hielt es der Vologdaer Erzbischof Markell, der dieses Amt von 1645 bis 1663 innehatte,25 für seine Pflicht, die Moskauer Bojaren und den Patriarchen mit Fisch zu beschenken: Es ist bekannt, dass er im Februar 1653 dem Bojaren Vasilij Vasil’evič Buturlin frischen Lachs, Hechte und Brassen schickte (eine Begleiturkunde mit dem unumgänglichen „Schlagen mit der Stirn“ und anderen zum Procedere der Ehrerweisung gehörigen Bekundungen ist bis in unsere Zeit erhalten geblieben26). Gleichzeitig wurden Geschenke in Form von Frischfisch auch an den Patriarchen Nikon gesandt.27 Es muss bemerkt werden, dass dies eine übliche Praxis in jener Zeit war: Nach den Beobachtungen von P. V. Sedov beschenkte der Novgoroder Metropolit Pitirim mehr als zehn der einflussreichsten Moskauer Bojaren alljährlich mit Fisch.28 Für welche praktischen Zwecke solche Kontakte in die Hauptstadt genutzt werden konnten, belegt ein im Februar 1652 verfasster Brief (otpiska) des Erzbischofs Markell an den Bojaren Il’ja Danilovič Miloslavskij, in welchem der Vologdaer Würdenträger den Schwiegervater des Zaren bat, ihn in seinem Konflikt mit dem mächtigen Bojaren Saltykov zu unterstützen und zu beschützen. Laut Markell wurde Ivaška Kuzemec, der Verwalter der bei Moskau gelegenen votčina des Episkopalhauses in Vologda, von dem Bojaren Michail Michajlovič Saltykov und dessen Sohn, dem kravčij (Mundschenk) Petr Michajlovič, „der Entehrung und der Körperverletzung und der Beraubung“ ihrer Untergebenen angeklagt. Ivaška erhielt wegen der „Entehrung“ der Saltykovs Schläge mit der Knute und starb im Arrest (za pristavy). Mehr noch, es erging der Befehl, den erzbischöflichen strjapčij (Pagen) dafür bürgen zu lassen, „dass ich, der herrschaftliche Gottesanbeter“, schrieb der empörte Markell, „von nun an keine diebischen Verwalter in die votčina bei Moskau schicken soll […]. Doch ich, der herrschaftliche Gottesanbeter“, fuhr der beleidigte Erzbischof fort, „schickte auch zuvor keine Diebe und ich habe keine Diebe bei mir“. Die Botschaft endete mit der Bitte: „Ich bitte dich,

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STROEV, Spiski ierarchov i nastojatelej, Sp. 731. NIA SPb II, kollekcija 117 (Savvaitova), O. 1, D. 276. Ebd., D. 277. SEDOV, Zakat Moskovskogo carstva, S. 58.

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Herr Bojar Il’ja Danilovič, um Gnade: Stelle dich vor das Haus der Reinen Gottesmutter und vor mich, den armen herrschaftlichen Gottesanbeter“.29 Aus einer Notiz auf der Rückseite der Urkunde erfahren wir, dass sie ihren Adressaten fand: „Diese Urkunde hörte sich der Bojar an und gab sie Afonasij Samojlovič und Ofonasij [sic] gab sie Ortemij und diese Urkunde wurde in das Haus getragen“.30 Doch es bleibt ungewiss, wie die Sache ausging. Ein Vierteljahrhundert später, von 1684 bis 1707, stand Erzbischof Gavriil der Eparchie Vologda vor.31 Dieser Würdenträger beherrschte die Schreibkunst meisterhaft und die von ihm verfassten Urkunden, welche als Rohkopien erhalten geblieben sind, beleuchten die Patronage im Milieu der hohen Geistlichkeit am Ende des 17. Jahrhunderts. In der am 30. November 1686 geschriebenen Botschaft an Illarion, den Metropoliten von Suzdal’ und Jur’ev, bedankt sich Gavriil in gezierten Ausdrücken für die erteilten Wohltaten: Herr, großer Bischof, ich schlage mit der Stirn für deine vorausgehende vielfache spirituelle bischöfliche Liebe und für die in Abwesenheit erteilte Wohltat: Der Vergelter wird für dich, meinen Wohltäter, Christus sein. Und wenn es mir vergönnt sein wird, dein sehr helles bischöfliches32 [...] Gesicht leibhaftig zu sehen, so werde ich für die Gnade und die Liebe33 mit der Stirn schlagen.34

Danach folgte die Bitte: Auf die Gnade deiner Barmherzigkeit hoffend, bitte ich deine Bischöflichkeit: geruhe, Herr, sei gnädig dem Ivan Kičigin, dem Osip Dudin, und wir vertrauen auf deine vielfache bischöfliche Gnade.35

Zum Schluss bat Gavriil den Metropoliten, seiner während des Gottesdienstes im Gebet zu gedenken.36 Wer Ivan Kičigin und Osip Dudin waren, wissen wir nicht; vermutlich gehörten sie zum Kreis um den Erzbischof von Vologda und so stellte er sie nun seinem wohltätigen Patron, dem Vladimirer Metropoliten Illarion, vor. 29 NIA SPb II, kollekcija 117, O. 1, D. 243. Entwurf der Urkunde: „в бесчестье, и в увечье, и в грабеже“, „бесчестье“, „што мне, богомольцу государеву […] впредь в подмосковную вотчину прикащиков-воров не посылати [...] А я, богомолец государев […] преж сего воров не посылывал, и воров у меня нет“, „Милости у тебя, государь боярин Илья Данилович, прошу: заступи дом Пречистые Богородицы и меня, нищаго богомольца государева“. 30 Ebd.: „Такову отписку боярин слушал и отдал Афонасью Самойловичу, а Офонасей отдал Ортемью; и та отписка принесена на дом“. 31 STROEV, Spiski ierarchov i nastojatelej, Sp. 732. 32 Das nächste Wort ist unleserlich. 33 Dieses Wort ist eine Vermutung. 34 NIA SPb II, kollekcija 117, O. 1, D. 1709, L. 3: „Челом бью, господин великий архиерей, за премногую твою святительскую духовную прежнюю любовь и за заочное благодеяние: воздатель тебе, благодетелю моему, Христос. Аще сподоблюся пресветлое твое святительское [...] лице существительне созерцати, буду за милость и любовь бити челом.“ 35 Ebd., L. 4: „Вознадеяхся на милость благоутробия твоего, прошу твоего архиерейства: пожалуй, государь, буди милостив к Ивану Кичигину, к Осипу Дудину, а мы на твою святительскую премногую милость надежны.“ 36 Ebd., L. 4–5.

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Wenn man die Kirchenrhetorik beiseitelässt, so erinnert das zitierte Fragment der Urkunde von Gavriil sehr stark an jene „Empfehlungsbriefe“, welche der Fürst Vasilij Vasil’evič Golicyn 1677 während des Zuges nach Čigirin von seinen Verwandten und Bekannten erhielt: In diesen klang ebenfalls ständig die Bitte „sei diesem oder jenem gnädig“ an.37 Doch Erzbischof Gavriil suchte Schirmherren nicht nur unter der hohen Geistlichkeit, sondern auch unter den einflussreichen Laien: Im Archiv des Episkopalhauses von Vologda ist der Entwurf einer Urkunde an einen gewissen Emel’jan Ignat’evič vom 27. Februar 1687 erhalten geblieben. Der Adressat ist leicht zu identifizieren: Es handelt sich hierbei um Emel’jan Ignat’evič Ukraincev, den dumnyj d’jak (Dumasekretär) des posol’skij prikaz, das heißt des Außenamtes, und einen der Lenker der Außenpolitik Russlands in jener Zeit.38 Nach der etikettenhaften Begrüßung „Zu meinem Wohltäter Emel’jan Ignat’evič schlägt Gavriil, seine Eminenz der Erzbischof von Vologda, mit der Stirn und bittet Gott um deine, mein Wohltäter, langjährige Gesundheit“ geht der Autor zu seiner Bitte über. Es stellt sich heraus, dass der stol’nik Dmitrij Neelov, der in den Zarendienst gefahren ist, der Sohn von Ivan, „für uns, die Demütigen, aber“, wie Gavriil erklärte, „ein verschwägerter Mensch“ ist.39 Diese Schwägerschaft erklärt sich aus anderen Dokumenten desselben Archivs: D. I. Neelov war der Ehemann von Domna Grigor’evna, der Tochter von Gavriil, und damit dessen Schwiegersohn.40 Nun bat der Erzbischof also den Dumasekretär um Hilfe: E. I. Ukraincev wurde zum tovarišč (Assistenten) des Fürsten V. V. Golicyn, des voevoda beziehungsweise Anführers des Großregimentes in dem damals in Vorbereitung befindlichen Kriegszug auf die Krim, ernannt41 und Gavriils Sorge um seinen Schwiegersohn war allem Anschein nach in erster Linie mit dieser Militäraktion verbunden. Der erhalten gebliebene Entwurf der Urkunde enthält zahlreiche Streichungen und Korrekturen – es ist offensichtlich, dass der Erzbischof die Worte sorgfältig auswählte, um den Weg zum Herzen seines Schirmherrn zu finden: Stille um unserer42 Bitte willen die Bedürfnisse, um welche er, der Dmitrej [sic], zu dir auf der Suche nach Beistand mit der Stirn schlagen wird, erteile, mein Wohltäter, Gnade: Sei ihm, dem Dmitrej, gnädig und erweise ihm jegliche Hilfe. Und wir, die Demütigen, sind für deine in Abwesenheit erteilte Gnade verpflichtet, Gott anzubeten. Und wenn der Herr Gott gewogen

37 Zur Analyse dieser Briefe siehe KROM, Formen der Patronage, S. 331f. 38 Zur Karriere von E. I. Ukraincev siehe BELOKUROV, S. A., O posol’skom prikaze, Moskau 1906, S. 114. 39 NIA SPb II, kollekcija 117, O. 1, D. 1753: „Благодетелю моему Емельяну Игнатьевичу Гавриил, преосвященный архиепископ вологодский, о твоем, благодетеля моего, многолетнем здравии Бога моля, челом бьет“, „а нам смиренным […] свойственной человек“. 40 Ebd., D. 1754, 1757. 41 Vgl. LAVROV, A. S., Regentstvo carevny Sof’i Alekseevny. Služiloe obščestvo i bor’ba za vlastʼ v verchach Russkogo gosudarstva v 1682–1689 gg., Moskau 1999, S. 141. 42 Von hier bis zum Wort „чини“ / „erweise“ ist der Text durchgestrichen und über der Zeile steht geschrieben: „Какова будет ево нужда, или о чем станет милости твоей просити, ради нашего прошения не презри“ / „Wie auch immer sein Bedürfnis sein wird oder worum auch immer er anfangen wird, um deine Gnade zu bitten: verschmähe es unserer Bitte willen nicht“.

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Michail M. Krom sein wird, dass wir, die Demütigen, deine Augen sehen, dann werden wir zu dir, dem Herrn, mit der Stirn schlagen.43

Seine Bitte bekräftigte Gavriil mit einem Geschenk, einem „Gefäßlein“ mit Vologdaer Reizkern (Pilzen): „und dass du geruhen mögest“, bittet er den Sekretär in den Schlussworten seiner Urkunde, „jene von uns geschickten Reizkerchen anzunehmen und zu deiner Gesundheit zu essen“.44 Wie das oben präsentierte Material zeigt, bestanden im kirchlichen Milieu der Moskauer Rus’ des 16. und 17. Jahrhunderts verschiedene Formen der Beziehungen zwischen Patron und Klient. Ein besonderer, nur für die kirchliche Organisation charakteristischer Typ der Schirmherrschaft waren die Beziehungen zwischen den Stiftern und ihren Klöstern: Die Sorge um die Seele ließ die Patrone sich um ganz irdische Interessen der von ihnen betreuten Klöster kümmern. Eine Besonderheit des kirchlichen Klientelismus war der Umstand, dass die Klostervorsteher oder die Vertreter des Episkopats auf der Suche nach einem Schirmherrn die Bojaren oder Sekretäre kontaktierten, dabei aber nicht den persönlichen Vorteil, sondern die Interessen der von ihnen angeführten kirchlichen Körperschaften verfolgten. Offensichtlich haben wir es in diesem Fall mit dem sogenannten corporate clientelism zu tun, dessen unterschiedliche Formen von den Forschern über traditionelle Gesellschaften beschrieben wurden.45 Allerdings war den Geistlichen, wie die oben zitierten Briefe des Vologdaer Erzbischofs Gavriil zeigen, auch nichts Menschliches fremd: Sie hatten Angehörige, Vertraute und Verwandte, und die Sorge um diese unterschied sich in keiner Weise von den Patron-Klient-Beziehungen unter den Laien. Die Sprache der Patronage war universell und gleichermaßen auf beiden Seiten der Klostermauern verständlich. Natürlich ist es unmöglich, im Rahmen eines kleinen Aufsatzes alle Aspekte des aufgeworfenen Problems zu beleuchten. Viele Fragen erfordern weitere Untersuchungen. Insbesondere bleibt das Ausmaß der dargelegten Erscheinung unklar: Wie weit verbreitet war der Klientelismus im kirchlichen Milieu? Trifft es zu, dass der Grad der Partizipation an den Patron-Klient-Beziehungen von dem Platz innerhalb der kirchlichen Hierarchie, dem Reichtum und der Nähe zum Zarenhof abhing? Außerdem ist bislang nahezu nichts über den Einfluss der Patronage auf die

43 NIA SPb II, kollekcija 117, O. 1, D. 1753: „Пожалуй, ради нашего прошения, о каких он, Дмитрей, нуждицах своих будет тебе о заступлении бити челом, сотвори, благодетель мой, милость: буди к нему, Дмитрею, милостив и всякое вспоможение ему чини. А мы, смиреннии, за заочную твою милость долженствуем Бога молить. А аще благоволит Господь Бог нам смиренным видети очи твои, тогда тебе, государю, будем бити челом.“ 44 Ebd.: „сосудцем“, „и тебе б пожаловать“, bittet er den Sekretär in den Schlussworten seiner Urkunde, „те посланные от нас рыжички принять и во здравие кушать“. 45 Vgl. LANDE, Carl H., Introduction. The Dyadic Basis of Clientelism, in: Friends, Followers, and Factions. A Reader in Political Clientelism, hrsg. von Stephen W. SCHMIDT, Laura GUASTI, Carl H. LANDÉ und James C. SCOTT, Berkeley/Los Angeles/London 1977, S. XIII–XXXVIII, hier S. XXX–XXXII.

Die Kirche und der Klientelismus in der Moskauer Rusʼ

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Vergabe von Kirchenämtern, die Weihe usw. bekannt. Die Beschäftigung mit diesem großen Thema hat gerade erst begonnen und der vorliegende Aufsatz umreißt mögliche Wege zu seiner Untersuchung. (Übersetzung aus dem Russischen: Kyrill Kobsar)

MEMORIA VOR DEM KIRCHENGERICHT Der Streit um die Grabstätte des Rigaer Reformators Andreas Knopkens Dennis Hormuth Erinnerung kann als zentrale Kategorie nicht nur des christlichen Glaubens gesehen werden. So verwies Jacques Le Goff darauf, dass „göttliche Akte des Heils, die in der Vergangenheit liegen, den wesentlichen Inhalt des Glaubens und den Gegenstand des Kultus ausmachen“.1 Die christlichen Gläubigen der späteren Antike und des Mittelalters in Ost- und Westkirche übertrugen die religiöse Dimension der Erinnerung auch auf die menschliche Ebene: Die Erinnerung an die in ihren nahezu zahllosen Viten aufgezeichneten Lebenstaten der Heiligen machten diese als Fürbitter für die Lebenden interessant, gleichzeitig fungierten die Lebenden als Fürbitter der Toten, indem sie für Verwandte und Freunde, für Stifter und karitative Gönner beteten. Der zweite Aspekt mündete in der liturgischen Verankerung der Memoria; Memoria im Sinne des christlichen Totengedenkens ist somit eine Form des religiösen Erinnerns. „Die Grundkonzeptionen der Memoria [sind] den Bereichen von Ost- und Westkirche gemeinsam [...]“.2 Sie ist als der „Selbstvergewisserung einer sozialen Gruppe dienende Erinnerung“3 zu bezeichnen. Anders aber als im ostkirchlichen Bereich, wie ihn Ludwig Steindorff in seiner hier zitierten Habilitationsschrift so eingängig und detailliert beschrieben hat, erlebte der westkirchliche Bereich mit der Reformation einen zentralen Einschnitt hinsichtlich des amtskirchlichen Totengedenkens. Nach der neuen Doktrin sollte Errettung allein durch Reue möglich sein. So konnte kein Gebet, keine Messe, keine Gabe, kein Ablass mehr die Lebenden mit den Toten verbinden. Anstelle des Totengedenkens in Form der Gemeinschaft der Lebenden mit den Heiligen und den Toten im Fürbittengebet forderten die Reformatoren das Konzept einer christlichen Gemeinschaft, die sich durch rechten Glauben in der Welt verwirklichen sollte, um das ewige Leben zu erhalten. Dem entsprach die Abschaffung aller Formen liturgischen Totengedenkens und des Sakraments der Letzten Ölung.4 1 2 3 4

LE GOFF, Jacques, Geschichte und Gedächtnis (Historische Studien, 6), Frankfurt a.M./New York 1992, S. 102f. STEINDORFF, Ludwig, Memoria in Altrußland. Untersuchungen zu den Formen christlicher Totensorge (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 38), Stuttgart 1994, S. 11. Ebd., S. 34. DORNHEIM, Stefan, Der Pfarrer als Arbeiter am Gedächtnis. Lutherische Erinnerungskultur in der Frühen Neuzeit zwischen Religion und sozialer Kohäsion (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde, 40), Leipzig 2013, S. 43.

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Dennis Hormuth

Davon war aber nur der liturgische Bereich betroffen, andere Formen christlicher Totensorge fanden auch im protestantischen Bereich weiterhin im kirchlichen Raum statt.5 Begräbnisplätze im Inneren von Kirchen waren heißbegehrt,6 und Epitaphien riefen als weiteres innenräumliches Gestaltungsmerkmal den Besuchern der Kirchen die Verstorbenen ins Gedächtnis, so dass das „Phänomen der Gegenwart der Toten im Kirchenraum nahezu unbeeinträchtigt“7 blieb. Heide Wunder hob in einer Untersuchung zu Bildteppichen, Epitaphien und Leichenpredigten vom 15. bis ins 17. Jahrhundert jedoch einen zentralen Aspekt der Veränderung in der protestantischen Memoria hervor: Zusehends traten die Lebenden in den Fokus der Darstellung, auf den Epitaphien die Kinder der Verstorbenen und in den Leichenpredigten gar die Kindeskinder und deren Kinder.8 Dies habe eine deutliche Aufwertung des Familiengedächtnisses durch die Verknüpfung von Memoria und Familiengeschichte bedeutet. Die Aufwertung der familiären Memoria führte in Verbindung mit dem knappen Angebot von Begräbnisplätzen im Kirchenraum dazu, dass der Besitz von Gräbern zu einem Zeichen des sozialen Ranges wurde, der in der Regel einem kleinen Kreis von wohlhabenden Bürgern, den oberen sozialen Schichten der jeweiligen Stadt, vorbehalten blieb.9 So spielten Repräsentationsbedürfnis und Sozialprestige

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Einen kurzen, aber informativen Abriss zur christlichen Tradition des Begräbnisses im Kircheninnern von der Antike bis in die Frühe Neuzeit bietet ZAJIC, Andreas, „Zu ewiger gedächtnis aufgericht“. Grabdenkmäler als Quelle für Memoria und Repräsentation von Adel und Bürgertum im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit. Das Beispiel Niederösterreichs (Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 45), Wien/München 2004, S. 92– 101. Zur großen Nachfrage nach Begräbnisstätten im kirchlichen Raum und zum knappen Angebot an ebendiesen vgl. die Kirchengerichtsprotokolle aus Riga: Dokumentesammlung des HerderInstituts Marburg [im Folgenden: DSHI] 120 Kirchengerichte Riga; vgl. auch zwei Beiträge zur Hamburger Kirchengeschichte: DREILING, Semjon Aron, Tod und Aufklärung in Hamburg, in: Hamburg. Eine Metropolregion zwischen früher Neuzeit und Aufklärung, hrsg. von Johann Anselm STEIGER und Sandra RICHTER, Berlin 2012, S. 743–754, hier bes. die Zeichnung auf S. 747, sowie STRÖBL, Andreas/VICK, Dana, Die Bestattungen im Gruftgewölbe der Hamburger Hauptkirche St. Michaelis, in: ebd., S. 755–762. DORNHEIM, Der Pfarrer als Arbeiter, S. 50. Vgl. WUNDER, Heide, „Gewirkte Geschichte“: Gedenken und „Handarbeit“. Überlegungen zum Tradieren von Geschichte im Mittelalter und zu seinem Wandel am Beginn der Neuzeit, in: Modernes Mittelalter. Neun Bilder einer populären Epoche, hrsg. von Joachim HEINZLE, Frankfurt a.M. 1999, S. 324–354. Vgl. hierzu stellvertretend VALENTINITSCH, Helfried, Grabinschriften und Grabmäler als Ausdruck sozialen Aufstiegs im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Epigraphik 1988. Fachtagung für mittelalterliche und neuzeitliche Epigraphik, Graz 10.–14. Mai 1988 (Veröffentlichungen der Kommission für die Herausgabe der Inschriften des deutschen Mittelalters, 2), hrsg. von Walter KOCH, Wien 1990, S. 15–26, hier S. 17, 24; ANDERSSON, Gudrun, Der Tod als Statusbekräftigung. Epitaphien und Gräber einer schwedischen Stadtelite 1650–1770, in: Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Mark HENGERER, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 47–70; KOHN, Renate, Zwischen

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der Lebenden eine große Rolle bei der Frage des Orts und der Gestaltung von Gräbern: „Teilhabe am System der Kommemoration war für die Elite [nicht nur] des Moskauer Staates gleichermaßen religiöses Anliegen und Mittel zur Sicherung von Prestige“.10 Im vorliegenden Beitrag steht der Aspekt der Memoria an einem evangelischlutherischen Beispiel im nordosteuropäischen Riga im Mittelpunkt. 1687 klagte hier der Pastor der Pfarrkirche St. Petri, Andreas von Diepenbrock, vor dem Kirchengericht gegen die Miteigentümer des Grabes eines seiner Vorfahren mütterlicherseits.11 Streitigkeiten um Begräbnisse, so der in den Kirchengerichtsprotokollen genutzte übliche Quellenbegriff für Grabstätten, waren im 17. Jahrhundert nicht unüblich, insbesondere dann nicht, wenn es sich um solche im geteilten Besitz handelte. Die Verhandlung von Streitigkeiten und die Verwaltung der Begräbnisse im Innenraum von St. Petri gehörten zu den häufigsten Aufgaben des Kirchengerichts dieser Rigaer Pfarrkirche, das aus den beiden von der Großen Gilde gestellten Kirchenvorstehern und dem aus dem Rat stammenden Kircheninspektor bestand.12 Das, was diesen Vorgang aus der Masse der seriellen Vorgänge heraushebt, ist die historische Bedeutung der ersten Leiche, die in das Begräbnis gelegt wurde: Der Vorfahre Andreas von Diepenbrocks, Andreas Knopken, gilt als der Reformator Rigas. Sein Grab nahm damit auch im Jahr 1687 im öffentlichen Bewusstsein und im kollektiven Gedächtnis der lutherischen Stadtgemeinde dieser nordosteuropäischen Metropole eine Sonderstellung ein. An dieser Klage kann das Zusammenwirken der oben angesprochenen Aspekte betrachtet werden: soziales Prestige, familiäre Memoria und Totengedenken im kirchlichen Raum außerhalb des liturgischen Rahmens. Andreas von Diepenbrock wurde 1624 in Riga als Sohn Werner von Diepenbrocks und Katharina Baumanns geboren, die in direkter Linie von Andreas Knopken abstammte. Nach dem Studium in Marburg und Gießen kam er wieder nach Riga zurück und übernahm geistliche Ämter am Dom und in St. Petri. Als er seine standesgemäßem Repräsentationsbedürfnis und Sorge um das Seelenheil. Die Entwicklung des frühneuzeitlichen Grabdenkmals, in: ebd., S. 19–46; ZAJIC, „Zu ewiger gedächtnis aufgericht“. 10 STEINDORFF, Ludwig, Wer sind die Meinen? Individuum und Memorialkultur im frühneuzeitlichen Rußland, in: Das Individuum und die Seinen. Individualität in der okzidentalen und in der russischen Kultur in Mittelalter und früher Neuzeit (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für Geschichte, 163), hrsg. von Yuri L. BESSMERTNY und Otto Gerhard OEXLE, Göttingen 2001, S. 231–258, hier S. 234. 11 DSHI 120 Kirchengerichte Riga 7, S. 508–511. Das Protokoll des Verfahrens befindet sich ediert im Anhang dieses Beitrags. 12 Vgl. hierzu die Reihe der Kirchengerichtsprotokolle von 1614–1813, in: DSHI 120 Kirchengerichte Riga. Weitere Zuständigkeiten des Kirchengerichts, das in Riga auch Kirchenkollegium genannt wurde, waren v.a. Bausachen und die Inneneinrichtung der Kirche; vgl. allgemein VON GUTZEIT, Wilhelm, Wörterschatz der Deutschen Sprache Livlands, Bd. 2, Riga 1874, S. 35; zu dem parallel organisierten Kirchengericht am Rigaer Dom vgl. PĒTERSONE, Pārsla, Rīgas Doma baznīcas tiesas protokolu grāmatas – Vēstures avots, in: Latvijas Arhīvi 2001, H. 4, S. 19–39.

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Beschwerde vor das Kirchengericht St. Petri brachte, war er Oberwochenprediger an derselben Kirche und Assessor des Stadtkonsistoriums, gehörte also gesellschaftlich zur städtischen Oberschicht.13 Von Diepenbrock stellt zu Beginn seiner am 12. April 1687 vorgebrachten Beschwerde seine erblichen Besitzrechte an dem Begräbnis vor, wobei er auch die Besitzrechte der Gegenpartei erwähnt und anerkennt.14 Nun aber sei das Grab mit Leichen bereits sehr voll, denn die Gegenpartei habe mehr Leichen hineingelegt als er. Auch das ficht er nicht an, erwähnt sogar, dass er dies selbst zugelassen habe. Jetzt aber wolle die Gegenseite noch eine weitere Leiche hineinlegen, was er wegen Überfüllung des Begräbnisses als Gefährdung seines Rechts auf die eigene Beisetzung ansieht. Auch die andere Streitpartei erkennt das Besitzrecht von Diepenbrocks an. Ihren Hinweis, dass auch seine Seite ihre Verstorbenen ins Grab eingelegt habe, kontert er mit dem Stand der Verwesung der betreffenden Leichen, diese seien mittlerweile verfault. Es ginge ihm um das Jetzt: Die anstehende Beerdigung würde die fünfte Leiche der Gegenpartei in frischem und unverwestem Zustand ins Grab bringen. Im Anschluss bringt er einen Vergleich ins Spiel: Die Gegenseite tritt ihm ihr Recht an der Hälfte zweier Bodenfliesen ab, die Grabplatte würde etwas nach unten versetzt werden und er vergrößert dann seinen Anteil durch zusätzlichen Ankauf von Seiten der Kirche näher zum Altar hin. Dem konnten die Beklagten zustimmen, wenn er dafür sein Anrecht an dem Grabstein aufgebe, was von Diepenbrock wiederum nicht akzeptierte. Andreas Knopken als sein Vorfahr mütterlicherseits, so sein Argument, habe schließlich das Licht des Evangeliums zuerst nach Riga gebracht und zudem lägen seine Verwandten hier begraben. Als Kompensation bot er dann jedoch an, die andere Seite dürfe so viele Leichen ins Grab legen, wie bei ihnen anfallen würden, er aber wolle niemanden ins Begräbnis einlegen lassen ohne Vorwissen und Zustimmung der anderen Partei. Dies wurde schließlich akzeptiert und fand gleichsam als Beschluss des Kirchengerichts Eingang ins Kirchengerichtsprotokoll. Die im weiteren Verlauf des vorliegenden Beitrags relevanten Teile des Verfahrens betreffen vor allem die Argumentation von Diepenbrocks, bei der auf zwei Elemente zu fokussieren ist: Die Person Andreas Knopken und der Aspekt der familiären Memoria. Die Person Andreas Knopken spielt in der Stadtgeschichte Rigas eine große Rolle. In seiner öffentlichkeitswirksamen Disputation am 12. Juni 1522 im Chor von St. Petri ist eines der zentralen Schlüsselereignisse der Reformation zu sehen, so dass er im kollektiven Gedächtnis Rigas als der Reformator der Stadt einen festen Platz hat.15 In seinen 24 Disputationsthesen hob er insbesondere

13 Vgl. OTTOW, Martin, Die evangelischen Prediger Livlands bis 1918, Köln 1977, S. 205f. 14 Vgl. hierzu und zum Folgenden DSHI 120 Kirchengerichte Riga 7, S. 508–511, bzw. den Anhang des vorliegenden Beitrags. 15 Zur Stadtreformation Rigas vgl. v.a. PABST, Martin, Die Typologisierbarkeit von Städtereformation und die Stadt Riga als Beispiel (Kieler Werkstücke, Reihe G: Beiträge zur Frühen Neuzeit, 7), Frankfurt a.M./Bern/Wien 2015; vgl. weiter ARBUSOW, Leonid, Die Einführung der

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das sola-fide-Prinzip hervor, stellte den Heiligen- und Bilderkult als Götzendienst dar und wandte sich entschieden gegen die Ablasspraxis.16 Theologisch stützte er sich hauptsächlich auf den Römerbrief, über den er zuvor bereits mehrere Vorträge im privaten Kreis gehalten hatte.17 Die Grabplatte Knopkens, von der hier die Rede ist, misst 2,63 x 2,19 m18 und zeigt in den Ecken die Zeichen der vier Evangelisten. In ihrer Mitte befindet sich mit der Auferstehung Christi ein christliches Motiv, das als ein dezidiert evangelisches Element der Kultur von Grabplattengestaltungen zu werten ist.19 Auf die Person Knopkens verweisen das Wappen, das seine Initialen A. K. sowie drei Knöpfe zeigt und das unter den Füßen Christi platziert ist, sowie die Umschrift, die den Stein in zwei Zeilen umgibt: Anno 1539 die 18 februarii obiit venerabilis Divini verbi concionator dominus Andreas Knopke huius ecclesiae pastor cuius lateri accumbit cara uxor Anna defuncta anno 1538 14 die aprilis quorum animae conquiescant in Christo Domino nostro. Amen.20

Der kurze Text weist Knopken als „Verkünder des göttlichen Wortes“ aus. Das ist höchstwahrscheinlich als einer der üblichen Verweise auf sein Amt als Prediger in St. Petri zu deuten, vor dem Hintergrund seiner Lebensgeschichte aber ist die Stelle potentiell zweideutig und kann von Menschen mit entsprechendem Hintergrundwissen als historische Reminiszenz aufgefasst werden. Deutlicher wurde der reformatorischen Rolle Knopkens an einer anderen Stelle in der Kirche gedacht. Am vierten linken Pfeiler des Altarchors hing ein Epitaph, das ihm gewidmet war und ihn als denjenigen pries, der das Licht des Evangeliums zuerst nach Livland getragen und hier die evangelische Lehre trotz Widerständen etabliert habe: D.O.M. Epitaphion Domini Andreae Knopii, Pastoris hujus templi, qui obiit extremum diem Ao. Domini MDXXXIX die XVIII Mensis Februarii. Primus evangelii lucem qui spassit in oram Livonicam, Andreas Knopius iste fuit.

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Reformation in Liv-, Est- und Kurland (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte, 3), Leipzig 1921, und SCHMIDT, Christoph, Auf Felsen gesät. Die Reformation in Polen und Livland, Göttingen 2000. KNOPKEN, Andreas, 24 Disputationsthesen, in: Reformationsgeschichte Livlands (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 145), hrsg. von Otto POHRT, Leipzig 1928, S. 115– 124. PABST, Typologisierbarkeit, S. 214f. Angabe bei POELCHAU, Arthur, Führer durch die St. Petri-Kirche zu Riga, Riga 1901, S. 92f. Vgl. STAECKER, Jörn, Ein protestantischer Habitus. Die dänischen Grabplatten des 16. Jahrhunderts als Ausdruck einer Mentalitätsveränderung, in: Gräber im Kirchenraum. 6. Archäologisch-historisches Forum (MittelalterStudien des Instituts zur Interdisziplinären Erforschung des Mittelalters und seines Nachwirkens, Paderborn, 26), hrsg. von Jörn JARNUT, Martin KROKER, Stephan MÜLLER und Matthias WEMHOFF, Paderborn 2015, S. 195–228, hier S. 211. Eine Zeichnung der Grabplatte ist abgedruckt in: METTIG, Constantin, Geschichte der Stadt Riga. Mit Ansichten und Plänen, sowie Abbildungen im Text, Riga 1897, S. 202.

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Dennis Hormuth Qui, quamvis magno docuit discrimine vitae Deterrere tamen non potuere mali. Istius hoc terrae redivivum conditus antro Corpus, sed certo spiritus astra colit. Credentes et enim defuncti munere vitae In regno vivunt, optium Christe, tuo. Mors certa est, incerta dies, hora agnita nulli, Extremani quare quamlibet esse para.21

Mit seiner Lage direkt am Altar nahm das Grab Knopkens eine besondere Ehrenstellung im Ensemble des durch Epitaphien und Grabstätten topographisch strukturierten Totengedenkens im kirchlichen Raum ein. Während des Gottesdienstes stand der Pastor vermutlich mehrmals auf dessen Grab und bezog es auf diese Weise vor den Augen der gesamten Gemeinde in die sakralen Handlungen ein. Knopken bildete somit auch visuell das Fundament für den evangelischen Gottesdienst. Den Anwesenden war währenddessen klar, wer aktuell der oder die Besitzer des Grabes waren. Der eindeutige Nachweis für die Memorierung Knopkens im Jahr 1687 in seiner religionsgeschichtlich relevanten Rolle in Kombination mit einer familiären Memoria gelingt noch deutlicher über das oben paraphrasierte Kirchengerichtsprotokoll und die Verneinung des Angebots der Gegenseite, ihr das Recht an der Grabplatte und damit auch an dem Grab darunter abzutreten. Der Hinweis auf die reformatorische Rolle Knopkens reichte aus, um den Vorschlag abzuwehren. Von Diepenbrock musste den Zusammenhang nicht weiter erläutern oder darlegen, warum denn dies eine Aufgabe seiner Ansprüche unmöglich machen würde. Jeder der an der Verhandlung Beteiligten konnte nachvollziehen, dass es eine zu große Zumutung bedeuten würde, einen zu großen Verlust an Ehrenstellung in der Kirche und einen zu großen Verlust an Sozialprestige. Das Gedenken an einen herausragenden Verwandten machte die Aufgabe des Grabes unmöglich, obgleich – und hier ist das Besondere vom Üblichen zu unterscheiden – der Verkauf oder die Weitergabe von Begräbnissen üblich war.22 Gerade im 17. Jahrhundert, so Klaus Krüger mit Blick auf den Hanseraum, nahm die Praxis zu, Grabmäler als Investitionsobjekte zu sehen und zu nutzen.23 Gregor Rohmann verweist vor dem Hintergrund der Begräbniskultur in Hamburg darauf, dass bei einer Neubelegung des Grabes oft die Grabplatte weiterverwendet wurde, und das nicht nur bei einer Weitergabe des Grabes unter Verwandten: „Man

21 POELCHAU, Führer, S. 57. 22 Vgl. als Beispiele für den Verkauf von Begräbnissen DSHI 120 Kirchengerichte Riga 2, S. 21, 61; DSHI 120 Kirchengerichte Riga 3, S. 86; DSHI 120 Kirchengerichte Riga 4, S. 97 und öfter. 23 KRÜGER, Klaus, Selbstdarstellung im Grabmal. Zur Repräsentation städtischer und kirchlicher Führungsgruppen im Hanseraum, in: Regionale Aspekte der Grabmalforschung, hrsg. von Wolfgang SCHMID, Trier 2000, S. 77–94, hier S. 79.

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wollte also einerseits unbedingt in der Kirche bestattet sein, nahm dafür aber andererseits in Kauf, daß das Grab Späteren gar nicht mehr kenntlich sein würde!“24 Das Grab habe vor allem am Tag des Gebrauches eine Rolle gespielt. Auch Gudrun Andersson weist unter Bezugnahme auf die häufigen Verkaufsvorgänge darauf hin, dass die Gräber im Kircheninnenraum weniger als Familiengräber zu sehen seien. Denn – so ihre weitere Argumentation – auch fremde, nicht verwandte Menschen wurden gelegentlich in die Gräber eingelegt. Diese dienten somit einer Demonstration von Macht, denn der Besitzer habe das Recht zu entscheiden, wer in das Grab eingelegt werden dürfe. Zudem sei dieses Entscheidungsrecht oft dazu benutzt worden, um gute Beziehungen zu Geschäftspartnern etc. zu zeigen, zu untermauern oder zu festigen.25 Deutlich tritt der Zusammenhang von Sozialprestige und Begräbnisbesitz in den Vordergrund im Sinne einer politischen Ikonographie für das städtische Gemeinwesen im öffentlichen Kirchenraum.26 Die Nähe zum Altar des strittigen Grabes Knopkens in der Rigaer St. Petri-Kirche markiert in dem Ensemble aus Gräbern und Epitaphien eine besondere Ehrenstellung. Das sozial wirksame, repräsentative Totengedenken an den Verstorbenen wirkte im frühneuzeitlichen evangelischen Kirchenraum eher über die Epitaphien mit ihren ausgeprägten Bild- und Textprogrammen als über die Gräber mit ihren Grabplatten, die häufiger den Besitzer wechselten. In der Rigaer St. Petri-Kirche wurde an Knopken durch beides erinnert, durch das Grabmal an den Menschen und durch das Epitaph an den Reformator. Dennoch: Die Hinweise auf die persönliche Rolle Knopkens durch von Diepenbrock und die bewusste Inszenierung einer Familienmemoria mit eindeutigem Bezug auf das Grab ist Fakt. Es ist unter den angeführten Aspekten als eine Besonderheit zu interpretieren. Allerdings scheint sowohl bei von Diepenbrock als auch bei seiner Gegenpartei ein emotionales Bewusstsein für die gemeinsame Familienherkunft und damit für die gegenseitige Verwandtschaft zu fehlen. Immerhin, ein intellektuelles Bewusstsein muss vorhanden gewesen sein, erkannten doch beide Seiten die familiäre Herkunft des jeweils Anderen von Knopken her an. Beide Seiten aber trennten in der Argumentation ihre Toten von denen der Gegenseite, so haben die „vorfahren [von Diepenbrocks] die ihrigen gehabt, so gestorben und hineingeleget worden“.27 148 Jahre nach dem Tod des letzten gemeinsamen Verwandten in direkter Linie ist das zwar nicht weiter verwunderlich, aber wenn die familiäre Memoria tatsächlich den großen Stellenwert hatte, der durch die klare Bezugnahme zu den bisherigen in das Grab eingelegten Toten28 und den Hinweis auf Knopken als eine Art Stammvater 24 ROHMANN, Gregor, Joachim Moller gründet ein Geschlecht. Erinnerungsräume im Hamburg des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Macht und Memoria. Begräbniskultur europäischer Oberschichten in der Frühen Neuzeit, hrsg. von Mark HENGERER, Köln/Weimar/Wien 2005, S. 91– 130, hier S. 100. 25 Vgl. ANDERSSON, Der Tod als Statusbekräftigung, bes. S. 62–64. 26 Vgl. z.B. DORNHEIM, Der Pfarrer als Arbeiter, S. 51. 27 DSHI Kirchengerichte Riga 7, S. 509. 28 Von Diepenbrock verweist noch einmal explizit auf „die seinigen[, die] drinnen liegen“; vgl. DSHI 120 Kirchengerichte Riga 7, S. 511.

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zumindest angedeutet wird, wäre auch eine stärkere Besinnung auf das Verbindende zwischen beiden Streitparteien denkbar gewesen. Von Diepenbrock fügte die eigene Person in die auf Knopken zurückgehende Reihe seiner verstorbenen Ahnen ein und sicherte gleichzeitig den hierfür relevanten Ort durch Erhalt und Vergrößerung des Grabes für die Nachkommen. So hob er an dem sozial herausgehobenen Ort am Altar der Rigaer Pfarrkirche St. Petri durch demonstrative Repräsentation den familiären Gedanken auf die Ebene einer Dynastie, die nach einer weiten Definition als die Verschränkung eines „Familienverband[es] verstorbener, gegenwärtiger und künftiger Mitglieder“29 verstanden wird. Er ging gleich in zwei Rollen auf den Reformator der Stadt zurück: als Pastor in St. Petri und als Familienmensch. Insgesamt kann man sich des Eindrucks nur schwer erwehren, dass in unserem Fall die Rolle des Begräbnisses als Familiengrab und die des Knopkenschen Totengedenkens lediglich eine Argumentationsstruktur zur Kaschierung anderer Ziele sind. Das Ergebnis der Auseinandersetzung ist schließlich die Erweiterung der Grabstätte auf Kosten der Kirche St. Petri, die zwar finanziell entschädigt wurde, aber prinzipiell an Grundeigentum im Innenraum verlor und das direkt am Altar. Dies wird umso mehr deutlich, als von Diepenbrock am 14. April 1687, bereits zwei Tage nach der Einigung, abermals vor dem Kirchengericht erschien und den Preis für sein Begräbnis aushandeln wollte. 100 fl. hatte er bereits für den Erwerb der Grabstätte zu zahlen. Nun wurde sich noch einmal auf 25 rtl. für die Genehmigung der Maurerarbeiten geeinigt.30 Wegen einer befürchteten Gefährdung des Altars durften die Arbeiten nur unter Aufsicht des Stadtmaurers Hinrich Henicke durchgeführt werden, der bereits den Bau des Kirchturmes ausführte.31 Bereits am 7. September 1683 hatte Andreas von Diepenbrock auf Entscheidung des Stadtrates hin die Erweiterung seiner Grabstätte durchsetzen können.32 Vier Jahre lang war aber in dieser Angelegenheit offenbar nichts geschehen. Nun brachte er seinen Begräbniskauf wieder ins Spiel und ließ ihn als Kompromisslösung in einem Besitzstreit erscheinen, womit er das Kirchengericht, dessen Aufgabe es war, Streitigkeiten um Besitzrechte an Begräbnissen zu schlichten, unter Zug-

29 KNÖFEL, Anne-Simone, Dynastie und Prestige, Die Heiratspolitik der Wettiner (Dresdner Historische Studien, 9), Köln/Weimar/Wien 2009, S. 33. Vgl. weiter KELLNER, Beate, Zur Konstruktion von Kontinuität durch Genealogie. Herleitung aus Troja am Beispiel von Heinrichs von Veldeke ‚Eneasroman‘, in: Gründungsmythen. Genealogien. Memorialzeichen. Beiträge zur institutionellen Konstruktion von Kontinuität, hrsg. von Gert MELVILLE, Köln/Weimar/Wien 2004, S. 37–59, hier S. 43. 30 DSHI 120 Kirchengerichte Riga 7, S. 513f. 31 Vgl. NEUMANN, Wilhelm, Das mittelalterliche Riga. Ein Beitrag zur Geschichte der norddeutschen Baukunst, Hannover-Döhren 1977, S. 36. 32 Vgl. das Ratsprotokoll zu diesem Tag, in: DSHI 510 Riga, Publica 27, S. 479, ediert im Anhang.

Memoria vor dem Kirchengericht

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zwang setzte. Aufgrund der nachweisbaren Entscheidung des Rates, der gleichzeitig Appellationsinstanz für das Kirchengericht war,33 konnte sich das Kirchengericht diesem durch von Diepenbrock vorgebrachten Vergleich von Amts wegen nicht verweigern. Das gilt auch in diesem Fall, in dem 1683 zwar niemand an den Rat appelliert hatte. Dennoch hatte der damalige Inspektor der St. Petri-Kirche, Johann von Öttingen, in diesem schwierigen Fall, wegen einer möglichen Beschädigung des Altars durch die Bauarbeiten, die Entscheidungsverantwortung an die übergeordnete Instanz abgegeben.34 Eine Verweigerung des Kompromisses durch das Kirchengericht hätte somit eine Ehrverletzung des Rates bedeutet und dessen Stellung als übergeordnete Behörde verletzt. Der Beschwerdeweg beim Kirchengericht war demnach ein kluger Schachzug von Diepenbrocks, der einen aktuellen Trauerfall für seine Zwecke zu instrumentalisieren wusste. Die Argumentation bezüglich der Überfüllung des Grabes ist in rechtlicher Hinsicht überzeugend. Auch hier hatte das Kirchengericht den Kläger in seinen Rechten an der persönlichen Bestattung im Grab zu schützen. Ob das Grab mit fünf „frischen“ Leichen physisch tatsächlich überfüllt war, ist heute kaum noch stichhaltig zu überprüfen. Immerhin wurde dieser Umstand von der Gegenseite nicht direkt bestritten, sondern lediglich darauf verwiesen, dass von Diepenbrocks Seite auch ihre Leichen hineingelegt habe. War die Beschwerde vor dem Kirchengericht gegen die Miteigentümer des Begräbnisses somit nur eine Farce, um seinen erblichen Besitz im Kircheninneren zu vergrößern und räumlich noch weiter auf die prestigeträchtige Position unter dem Altar zu verschieben? Auch wenn die Argumentation über Memoria und Familienzusammengehörigkeit nur vorgeschoben war, um ein anderes Ziel als das Vorgebrachte zu erreichen, musste die Argumentation stichhaltig und für die Beteiligten nachvollziehbar sein, denn ansonsten wäre von Diepenbrock Gefahr gelaufen, sein Ziel zu verfehlen. Auch ist eine Nutzung des Memoriagedankens lediglich als argumentatives Werkzeug kein Beleg gegen die Existenz desselben. Der Verweis auf die Erinnerung an Andreas Knopken und dessen stadtgeschichtlich relevante Sonderstellung musste stimmig sein. Im Klageweg liegt ein argumentativer Umweg vor, denn die Erweiterung der Grabstätte hin zum Altar wäre nur schwer mit der Person Knopkens begründbar gewesen. Die Notwendigkeit des Besitzes des Grabes auch für die Zukunft hingegen war über diesen Weg nachvollziehbar zu begründen. Gemeinsam mit der tatsächlichen oder auch nur vorgebrachten Überfüllung des Begräbnisses und der Notwendigkeit für das Kirchengericht, angesichts eines frisch Verstorbenen eine Lösung in dem durch von Diepenbrock angestoßenen Verfahren herbeizuführen, führten die Argumente letztlich zu einem Erfolg für den Kläger. Knopken spielte in der gemeindlichen Memoria von St. Petri wie im familiären Totengedenken der von Diepenbrocks eine zentrale Rolle. Zumindest im letzteren

33 Zur Organisation des Gerichtswesens in Riga im 17. Jahrhundert vgl. VON BUNGE, Friedrich Georg, Geschichte des Gerichtswesens und Gerichtsverfahrens in Liv-, Est- und Curland, Reval 1874, S. 259–277. 34 DSHI 510 Riga, Publica 27, S. 479, ediert im Anhang.

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Fall aber handelte es sich nicht mehr um eine Totensorge in dem Sinne einer christlichen Fürbittetradition, sondern um einen historischen, um einen identifikatorischen Bezugspunkt, der die eigene Familie aus der Masse der anderen Familien Rigas hervortreten ließ und – zusammen mit der exponierten Lage des Grabes – das Sozialprestige der auf Knopken zurückgeführten Pastorenfamilie von Diepenbrock erhöhte. Diese Variante der Memoria war auf die Lebenden und das Hier und Jetzt ausgerichtet und trug durch die Einbindung auch der zukünftigen Generation, für die das Grab zu sichern war, zudem Züge einer dynastischen Denkweise. Memoria hat hier die Funktion einer der „Selbstvergewisserung einer sozialen Gruppe dienende[n] Erinnerung“.35 Es wurde herausgearbeitet, dass die auf die Grabstätte bezogene Knopken-Memoria eine Besonderheit darstellte, die man nur mit der historischen Persönlichkeit Knopkens erklären kann. Insofern ist der hier vorgestellte Vorgang auch ein zeitlich früher Beleg für die These, „Memoria als Gedächtniskultur konzentrier[e] sich in den modernen Gesellschaften vor allem auf ‚große‘ Personen und herausragende Ereignisse“.36

35 So ein Teil der Memoria-Definition nach STEINDORFF, Memoria, S. 24. 36 STEINDORFF, Wer sind die Meinen?, S. 256.

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Editionsteil Prozess um das Begräbnis des Andreas Knöpken vor dem Kirchengericht St. Petri in Riga am 12. April 1687 (DSHI 120 Kirchengerichte Riga 7, S. 508–511). [S. 508] Herr Magister Andreas von Diepenbrock contra Domini Henricium von Middendorff und Baltzer Hintelman Herr citans brachte bey, waß maßen ein von sehligen herrn pastor Andreas Knöpcken herrührendes begräbniß alhie in St. Peters Kirchen, vor dem altar belegen, wovon das eine halbe theil Baumans erben, als der ein Knöpckens tochter zur ehe gehabt und die andere helffte Philip Mittendorffs erben, welcher die andere tochter des Knöpckens gehabt, zukäme, zu welchem begräbniß er mit gehöre, weilen er von [S. 509] dem geschlechte entsproßen und seine mutter eine Baumannin gewesen, wie er solches sein recht ex abundanti mit sehligen Baumans hand vnd37 buche folii 377 und 379 darthate: Nun weren von gegentheils seite drey, er aber allein, und were durch Gottes schickung geschehen, daß jene mehr leichen alß er drein geleget, so er auch zugelaßen, und wolte noch anitzo sehligen herrn assessor Richterfelds frau wittibe ihres sehligen mannes leichnam auch38 hinein legen. Wann aber das begräbniß bereits schon erfüllet und er oder die seinen so bald sterben könten alß sie, und er39 solcher gestalt, ohnggeacht40 er den grösten theil des begräbnißes hette, leicht gefähret werden könte41; alß wolte er gebethen haben, nicht eher das begräbniß eröffnen zu laßen biß sie sich in der güte desfalls mit ihm verglichen; in entstehung deßen bliebe er dabey, daß er von gegenseite keinen toden mehr einlegen laßen würde biß er auch so viel toden alß sie hinein geleget. Citirtes theil sagte, daß die helffte des begräbnißes dem herrn magister Diepenbrock zugehöre und sie ihm solches nicht anstritten allein42 sie von ihrer seiten, alß auch kein mensch, könten43 Gottes schickung leicht44 aufhalten könte, allermaßen auch herrn citantis vorfahren die ihrigen gehabt, so gestorben und hineingeleget worden.

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„hand vnd“ Nachtrag über der Zeile. „auch“ Nachtrag über der Zeile. „er“ Nachtrag über der Zeile. „ohnggeacht“ Nachtrag über der Zeile. Gemeint ist, dass er trotz eindeutiger Besitzrechte Gefahr [= gefähret] laufen könnte, für sich selbst oder seine nahen Verwandten keinen Platz mehr in dem Begräbnis zu erhalten. 42 „die helffte des begräbnißes dem herrn magister Diepenbrock zugehöre und sie ihm solches nicht anstritten allein“ Nachtrag neben der Zeile. 43 „könten“ Nachtrag über der Zeile. 44 „leicht“ Nachtrag über der Zeile.

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Albrecht Hackelman nomine der frau [S. 510] assessorin Richterfeldschen sich ihres rechtens an dem begräbniß bewahret. Herr Magister Diepenbrock: Von alten were nicht zu reden, alß welche schon verfaulet, allein nun lägen von gegentheils seiten schon viere unter den stein und der sehlige assessor were also45 der fünffte, so noch frisch und unverfaulet. Dannenhero thäte er den vorschlag, daß weiln er den altarfuß von der kirchen zum begräbniß abzuhandeln gesonnen, citati ihm die beiden untersten fliesen, so bey den großen stein lägen und ihm ohne das auf die helffte zukämen, vor ihn allein erb- und eigenthümlich überlaßen möchten, dergestalt daß der stein unten geschoben und dagegen die fliesen oben bey dem fuß des altars geleget würden, damit er dadurch ein fein begräbniß, so er von der kirche zu erhandeln [...]lte46 durch die fliesen kommen könnte; dagegen wolte er citatis ihre toden unstreitig unter den stein legen laßen, dabey aber auch das recht zu dem übrigen, was ihm noch über die beiden fliesen, welche sie ja nicht für die helffte angeben könten, von dem stein zukäme, sich vorbehalten und zu verschreiben gebethen haben. Citati: Nachdem sie einen abtrit, umb [S. 511] sich zu bereden genommen, und wieder eingetreten, erkläreten sich, daß sie dem herrn magister die beiden fliesen überlaßen wolten, bathen aber dabeneben, daß derselbe sein übriges recht an dem stein ihnen vor ein stück geldes verkauffen und also den großen stein oder begräbniß ihnen47 allein überlaßen möchte. Herr magister Diepenbrock: Er wolte sein recht, so viel ihm noch auf seinen halben theil, außer den fliesen, an dem stein noch zukommen möchte, keines weges verkauffen, sondern in respect des sehligen herrn pastor Knöpkens, der das licht des Evangelii zuerst herein gebracht und von dem er herrühre, indem derselbe sein vorfahrer von mutterseiten her were, alß auch weiln er die seinigen drinnen liegen hette, beybehalten, doch mit der bescheidenheit, daß denen Mittendorffschen erben ihre leichen nach ihrem belieben, so viel sie dann hetten, nach ihrem belieben wie vor alß nach dreinzubringen frey stehen solte, er aber vor seine person keine todten weder frembden noch anverwandten ohne ihr vorwißen und willen dreinlegen laßen wolte. Citati waren damit friedlich und bathen, es zu verschreiben. Ein ehrbares gericht diesen vergleich ratihabiret und zu verschreiben verstattet.

45 „also“ Nachtrag über der Zeile. 46 Unleserlicher Nachtrag über einer unleserlichen Streichung. 47 „ihnen“ Nachtrag über der Zeile.

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Vergleich zwischen dem Kirchengericht und Andreas Diepenbrock am 14. April 1687 (DSHI 120 Kirchengerichte Riga 7, S. 513). Herr magister Diepenbrock abermahl vor ein ehrbares kirchengericht erschienen und sich auf eines ehrbaren rahts bescheide von 2. und 7. Septembris anno 1683 beruffen, inhalt welcher er wegen des desiderierten begräbnißes unter dem altar über die 100 fl. vor die freyheit zu mauren sich aparte mit der kirchen abfinden soll; alß diesem nach48 wolte er vernommen haben, was man vor daßelbe begehre, mit bitte, nach getroffenen accord ihm das begräbniß erb- und eigenthümlich zuzuschreiben. Ein ehrbares kirchengericht nach geschehener deigung und unterredung dem herrn magister Andrea[s] von Diepenbrock obberührtes begräbniß unter dem fuße des altars vor 25 rtl. alberti gelaßen: gestalt dann solches ihm und seinen erben erb- und eigenthümlich zu besitzen und zu genißen hiemit zugeschrieben wird, und stehet ihm, wann er sothane 25 rtl. alß auch die 100 fl. wegen des maurers der kirchen erleget, sothans begräbniß mauren zu laßen frey, jedoch dergestalt, daß er der kirchen hiedurch keinen schaden zufügen möge, weßfalß [S. 514] dem oberkunstmeister Hinrich Honecken49 hierüber aufsicht zu haben committiret wird.

Auszug aus dem Ratsprotokoll vom 7. September 1683 (DSHI 510 Riga, Publica 27, S. 479). Herr Offeney als inspector der St. Peters Kirchen proponierte, es hette der herr magister Tieffenbrock umb die freiheit, ein begräbniß unter den altar zu machen, angehalten, alß hetten sie meister Heinrich50 selbige stelle besehen vnd in augenschein nehmen lassen, welcher dan befunden darthut, dz es ohne einigen schaden der pfeiler des altars geschehen könte undt dz dz begräbniß ungefähr 13te fuß lang vnd 7te fuß breit werden würde, asidenirte also hierher, ehe sie mit ihm accordirten, eines ehrbahren rahtß consens, worüber man sich zu bereden. Ein ehrbarer raht consentiret dz der herr magister Tieffenbrock sein begräbniß unter dem altar mauern, jedoch dz er den pfeilern keinen schaden hiedurch zufügen vndt sich deßfalß mit der kirchen gebührlich abfinde.

48 „diesem nach“ Nachtrag über der Zeile. 49 Heinrich Henicke war der Stadtmaurer und führte bereits die Turmbauarbeiten in St. Petri aus; vgl. NEUMANN, Das mittelalterliche Riga, S. 36. 50 Hinrich Henicke; vgl. ebd.

EINE KOMPLIZIERTE BEGEGNUNG: ERZPRIESTER AVVAKUM UND SEINE NICHTALTGLÄUBIGEN LESER IM 18. JAHRHUNDERT Aleksandr S. Lavrov Zu den interessanten Begegnungen der Frühen Neuzeit gehört diejenige der weißrussischen und ukrainischen Theologen mit den russischen Altgläubigen. Schon die ausgebildeten Theologen, die im 17. Jahrhundert nach Moskau gekommen waren, wie Epifanij Slavineckij und Simeon von Polock, bekamen den Auftrag, die Ansichten der Altgläubigen zu kritisieren. Diese Bewegung ist viel breiter geworden, seitdem Peter der Große die Ernennung der ukrainischen Kirchenmänner auf russische Bischofsitze lancierte. So wurden zum Beispiel Stefan Javor’skyj zum Metropoliten von Rjazanʼ und Dmytro Tuptalo zum Metropoliten von Rostov ernannt. Für die ukrainischen Theologen war das Altgläubigentum ein durchaus fremdes Phänomen. Sie kannten die Altgläubigen, die aus russischen Gebieten in die Ukraine geflohen waren, aber insgesamt fand der „alte Glaube“ bei den Ukrainern kein Echo. Es ist kein Zufall, dass Dmytro Tuptalo in seinem polemischen Werk das Altgläubigentum in die Nähe zum ukrainisch-russischen Grenzgebiet von Brjansk rückt. Der Theologe spricht vom „Brynsker Glauben“ (Brynskaja vera), weil sich die Altgläubigen in den Wäldern um Brjansk versteckten. Die ukrainischen Kirchenmänner betrachteten das Altgläubigentum mit Distanz. Hinter ihrer Kritik und ihren Auslegungen konnte man deutlich das Gefühl der intellektuellen Überlegenheit spüren. Erzpriester Avvakum (1620–1682), der nie eine Bruderschaftsschule betreten hatte und sich gerne in seine theologischen Traktate flüchtete, hätte in der Ukraine niemals einen Anspruch auf Führung einer religiösen Bewegung erheben können. Die ukrainischen Theologen konnten auf die eher lockeren Strukturen der russischen Bistümer hinweisen, die die Ausbreitung des Altgläubigentums nicht verhinderten, und hoben auch den Analphabetismus der Gläubigen hervor. Alle diese Argumente waren allerdings nicht ungefährlich, weil die ukrainisch-russischen Beziehungen nach dem Seitenwechsel des Hetʼmans Ivan Mazepa angespannt blieben. Eine Betonung der Schwächen des Moskauer Kirchenlebens konnte in dieser Zeit als ein Versuch verstanden werden, sich gegenüber den Anschuldigungen des Verrats zu revanchieren. Deswegen war es klüger, auf der theologischen Ebene zu agieren. Um 1707 wandte sich Metropolit Dimitrij von Rostov (Dmytro Tuptalo) von seinem bevorzugten hagiographischen Werk („Lesemenäen“) ab und beschloss,

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ohne einen entsprechenden Auftrag „ein besonderes Büchlein gegen die schismatischen Lehrer […] zu schreiben“.1 Er dachte, dass „Gott mir die Vorwürfe nicht wegen der Chronik machen wird, sondern weil ich im Angesicht der Schismatiker schweigen werde“, schrieb er in einem Brief. Der Metropolit benötigte für sein Vorhaben Quellen. Er bestellte bei seinem Moskauer Kollegen Feolog die altgläubigen Schriften, insbesondere das „Ewige Evangelium“, das angeblich Avvakum geschrieben hatte.2 Sein Briefpartner konnte diese Schrift allerdings nicht besorgen und schickte nur die Rollen mit den anderen altgläubigen Schriften (svitki raskolʼničeskija), die Dimitrij ihm 1709 dankend zurücksandte.3 Die Intention des Metropoliten war ziemlich eindeutig. Die Tatsache, dass das Werk eines zeitgenössischen altgläubigen Schriftstellers denselben Status beanspruchte, der nur dem Alten und dem Neuen Testament gebührte, nährte den Vorwurf des Bruchs mit den Grundprinzipien des Christentums. Auf dieselbe Weise würde ein heutiger orthodoxer Theologe die Nichtzugehörigkeit der Mormonen zum Christentum belegen: Er würde argumentieren, dass die Mormonen nicht, wie alle Christen, nur zwei göttlich inspirierte Bücher haben (nämlich das Alte und Neue Testament), sondern drei (zusätzlich das „Buch der Mormonen“). Im April 1709 beendete Dimitrij sein Werk, ohne das „Ewige Evangelium“ erhalten zu haben. Anschließend schickte er seine „Untersuchung über den Brynsker Glauben“4 nach Moskau, wo sie jedoch keine Druckerlaubnis bekam. Dies ist nicht verwunderlich, denn statt einer theologischen Arbeit hatte Dimitrij ein ziemlich düsteres Fresko über die mühsame Modernisierung des bäuerlichen Landes geschaffen. Lediglich eine Broschüre über das unter religiösen Aspekten zulässige Bartrasieren, die aus diesem Text herausgeschnitten wurde, fand während der Regierungszeit Peters des Großen den Weg in die Öffentlichkeit. Der vollständige Text der „Untersuchung über den Brynsker Glauben“ gelangte erst 1745 in den 1

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„[…] писать особою книжицу противу раскольнических учителей, помыслив о себе, яко Бог о летописании мене не истяжет, а о сем, аще молчать противу раскольников буду, истяжет“; Brief an Feolog, vor dem 07.03.1709, in: FEDOTOVA, M. A., Ėpistoljarnoe nasledie Dimitrija Rostovskogo. Issledovanie i teksty, Moskau 2005, S. 103. „Где б мне взять ‚Евангелия вечноя‘, кое Аввакум распопа писал? Не возможно ли где в Москве сыскать, прошу“; Brief an Feolog, vor dem 07.03.1709, in: ebd., S. 103. Noch einmal kehrte der Metropolit Dimitrij zu diesem Thema in einem späteren Brief zurück: „Ich wünsche mir sehr, das Evangelium von Avvakum kennenzulernen, und alles, was darin steht. Wer gibt es mir?“ („И евангелия Аввакумова мне зело желается ведать, что в сем писано. Кто ми даст его?“); Brief an Feolog, Anfang 1709, in: ebd., S. 107. Metropolit Dimitrij von Rostov an Feolog, 1709, in: ebd., S. 112f. Einmal erwähnt Dimitrij die „schismatische Rolle, voll von ihren ketzerischen Lügen und Beschimpfungen“ („свиток раскольнический, еретическия лжи, их хулений преисполненный“), die er Feolog zurückschickte, zusammen mit zwei anderen kleinen Rollen („другия два малыя при нем“), in: ebd., S. 113. Das Datum der Beendigung der „Untersuchung über den Brynsker Glauben“ wird durch einen Brief an Feolog belegt, der vor dem 24. April 1709 geschrieben wurde; vgl. ebd., S. 109. Der Hinweis, dass das „Ewige Evangelium“ von Avvakum dem Autor nicht zugänglich gewesen sei, findet sich auch im veröffentlichten Text der „Untersuchung über den Brynsker Glauben“; vgl. ROSTOVSKIJ, Dimitrij, Rozysk o raskol’ničeskoj brynskoj vere, Moskau 1824, S. 77.

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Druck – fast gleichzeitig mit der Heiligsprechung des Autors durch die russischorthodoxe Kirche (1757). Die fünf Texte, denen mein Beitrag gewidmet ist, wurden mit der „Untersuchung über den Brynsker Glauben“ nur einmal in Verbindung gebracht. Diese Texte – es sind Exzerpte aus den Werken des Erzpriesters Avvakum und seiner Nachfolger, die von zeitgenössischen Lesern zusammengestellt wurden – blieben der Forschung zwar nicht unbekannt, haben aber nie ein größeres Interesse hervorgerufen. Die Forscher, die sie durchblätterten, suchten in ihnen meistens Fragmente der Schriften Avvakums, die anderweitig nicht erhalten geblieben sind. Die Frage nach der konfessionellen Herkunft dieser Texte wurde hingegen nie gestellt. 1880 veröffentlichte L. I. Lileev die Beschreibung der Handschriften des Geistlichen Seminars in Černyhov, darunter befanden sich auch zwei Handschriften, die Exzerpte aus den Werken Avvakums beinhalteten. Die erste Handschrift (Nr. 135) fing mit Exzerpten an, danach folgte eine besondere Redaktion des Schreibens von Diakon Fedor an seinen Sohn Maxim. Die zweite Handschrift enthielt einen Text, der den Exzerpten ähnlich war, aber augenscheinlich nicht als Block, sondern zerstückelt und mit theologischen Gegenargumenten vermischt wiedergegeben wurde. Besonders wichtig ist die Tatsache, dass beide Texte datiert sind: Das Datum (28. November 1708) verweist auf das altgläubige Konzil, das einige Schriften Avvakums als Glaubensquellen ablehnte. Der Verweis auf das Konzil sowie die Zusammenstellung der Sammelbände sind ein eindeutiger Beleg für den altgläubigen Charakter der beiden Sammelbände.5 Die Beschreibung von Lileev blieb von A. Borozdin nicht unbemerkt, der gerade an einer Biographie über Avvakum arbeitete. Borozdin veröffentlichte die Exzerpte nach der Handschrift Nr. 135 als Beilage zu dieser Biographie. Die Exzerpte sollten die Aussagen des Autors über den theologischen Analphabetismus Avvakums bekräftigen. Diese Publikation hat im Hinblick auf die Exzerpte den Charakter einer editio princeps, auch deswegen, weil die Handschriften von Černyhov nicht mehr zugänglich sind.6 Ein Vergleich dieser Publikation mit der Beschreibung Lileevs wirft allerdings Fragen auf. Erstens lässt sich feststellen, dass Borozdin dem Text einen neuen Titel gab, dabei aber das Datum und den Hinweis auf das Konzil aus dem Titel entfernte; erwähnt hat er diese Änderungen nicht. Damit war die konfessionelle Herkunft der Exzerpte, die man mit der Beschreibung Lileevs einfach entziffern konnte, nicht mehr erkennbar. Zweitens wollte Borozdin die zweite Handschrift (Nr. 136) nicht einbeziehen. Diese Entscheidung ist verständlich, denn die erste Handschrift bietet ein intaktes Textkorpus, die zweite ist ein zerstreutes Puzzle aus dem gleichen Text. Borozdin sparte sich die überflüssige Arbeit und fügte die Varianten der zweiten Handschrift nicht hinzu. 5

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LILEEV, L. I., Opisanie rukopisej, chranjaščichsja v biblioteke Černigovskoj duchovnoj seminarii, St. Petersburg 1880, S. 141–146. Die Handschriften des Černyhover Seminars galten als verschollen. Aus diesem Grund blieben viele wichtige Fragen unbeantwortet. Ich möchte nicht spekulieren, aber es wäre z.B. interessant zu erfahren, ob die Handschriften vielleicht aus der benachbarten altgläubigen Siedlung Vetka stammten. BOROZDIN, A. K., Protopop Avvakum. Očerk iz istorii umstvennoj žizni russkago obščestva v XVII veke, 2-e izd., St. Petersburg 1900, Priloženija, S. 119–123.

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Die nächste, entscheidende Phase der Erforschung der Texte (es handelt sich bei den Exzerpten nicht um einen, sondern um mehrere Texte) ist mit Pavel Smirnov verbunden. Zusammen mit Jakov Barskov veröffentlichte Smirnov 1927 den ersten Band seiner Avvakum-Ausgabe, die trotz ungünstiger Bedingungen zu einem Referenzwerk werden sollte. Nur der erste Band erschien gedruckt, danach wurde die Zensur in der Sowjetunion aufmerksam und der zweite Band, in dem die Exzerpte erscheinen sollten, blieb unveröffentlicht. Allerdings steht uns die ursprüngliche Einleitung aus dem ersten Band zur Verfügung, die sich auf alle Texte und Handschriften Avvakums bezog, auch auf die Exzerpte. Smirnov behauptete, Exzerpte seien in vier Handschriften vorhanden: in einer nicht identifizierten Handschrift, die Dimitrij von Rostov benutzte, in der Černyhover Handschrift Nr. 135 und in den Handschriften 1256 und 1576 aus der Sammlung Pogodin der Öffentlichen Bibliothek in St. Petersburg. Er machte einige Bemerkungen über den Inhalt und bestätigte, dass die Exzerpte die uns unbekannten Texte Avvakums zitieren.7 Die großen Quellenforscher machen manchmal Fehler, die aber in der Regel die weitere Forschung nicht behindern, sondern befruchten. Dies ist auch der Fall bei Smirnov. Man könnte ihm seine Ungenauigkeiten vorhalten. Erklären lassen sie sich damit, dass ihm zum Zeitpunkt der Abfassung der Einleitung noch nicht alle Handschriften zur Verfügung standen. Darüber hinaus hätte er bemerken müssen, dass diese Handschriften nicht einen einzelnen Text oder verschiedene Redaktionen eines Textes, sondern mehrere Texte beinhalteten. Smirnov erkannte nicht, dass die beiden Handschriften aus der Sammlung Pogodin zwei unterschiedliche Versionen der Exzerpte enthielten. Im Jahr 2003 bereitete Ljubovʼ V. Titova eine kritische Ausgabe des Schreibens von Diakon Fedor Ivanov an seinen Sohn Maxim vor. Da Fedor in seinem Brief ausführlich auf die Geschichte seines theologischen Disputs mit Avvakum eingeht, wollte die Forscherin alle Quellen von dieser Auseinandersetzung einbeziehen. Sie veröffentlichte daher die Exzerpte als Beilage der Handschrift Pogodin 1256. Allerdings vermied sie einen Hinweis auf die Arbeit von Smirnov, der diese

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Pamjatniki istorii staroobrjadčestva XVII v. (Russkaja istoričeskaja biblioteka, 39), Kn. 1, Vyp. 1, hrsg. von Ja. BARSKOVA und P. S. SMIRNOVA, Leningrad 1927, S. LXXXVIIf. Alle Texte Avvakums, die man zu einem Vergleich mit den Exzerpten benötigt, werden im Folgenden nach dieser Ausgabe zitiert. Deswegen ist es notwendig, einige Informationen über diese Ausgabe hinzuzufügen. Die Ausgabe von 1927 bleibt ein Meisterwerk, das trotz der sowjetischen Zensur und einer allgemeinen Marginalisierung der Religionsgeschichte entstanden ist. Die Herausgeber waren sich wohl bewusst, dass die Authentizität mehrerer Schriften, die Avvakum zugeschrieben wurden, in Frage gestellt werden könnte. Daher haben sie eine mutige Entscheidung getroffen, denn sie haben auch Werke, deren Urheberschaft nicht endgültig geklärt war, und Fälschungen aufgenommen. Obwohl in der sowjetischen Zeit viele neue Handschriften mit Texten von Avvakum gefunden worden sind, gab es keinen Versuch, eine umfassende Edition der Werke Avvakums zu erstellen, auch nicht in der postsowjetischen Zeit. Die Ausgabe von 1927, die für mehrere Schriften die editio princeps darstellt, bleibt deshalb unübertroffen.

Eine komplizierte Begegnung

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Handschrift bereits erwähnte.8 Die Forscherin übersah ebenfalls, dass in derselben Handschrift eine andere Fassung der Exzerpte vorhanden war. Meiner Meinung nach findet man insgesamt sieben verschiedene Variationen der Exzerpte: 1. „In den Schriften des Erzpriesters Avvakum finden sich folgende Reden und die Irrlehre über den Glauben, auch über den Fedor“ (V pisanijach protopopa Avvakuma obretajutsja takovyja reči i mudrovanie ego o vere, na Feodora inde). Dieser Text der Exzerpte ist Bestandteil der Handschrift aus der Sammlung von M. P. Pogodin ([im Folgenden: Pogod. 1256], Bll. 303–305v), die der Russischen Nationalbibliothek, das heißt der ehemaligen Öffentlichen Bibliothek, gehört. Er wurde durch L. V. Titova veröffentlicht. 2. Exzerpte ohne Titel, die in der gleichen Handschrift (Pogod. 1256, Bll. 17v– 18v) enthalten sind. Dieser Text, den Smirnov und Titova übersehen haben, ist eine verkürzte Fassung des ersten Textes („In den Schriften…“). Deswegen scheint diese Schrift für uns wenig Bedeutung zu haben. 3. „Artikel der falschen Briefe Avvakums“ (Stat’i ložnych pisem Avvakuma). Dieser Text ist in der Handschrift des Geistlichen Seminars in Černyhov (Nr. 135) vorhanden und wurde durch A. K. Borozdin veröffentlicht. Die „Artikel…“ bilden eine Reihe (16 Punkte) von Exzerpten aus Avvakums „Buch der Beschuldigungen“ (Kniga obličenij) (oder aus dem „Ewigen Evangelium“) und aus seinen anderen Werken. Es ist nicht zu übersehen, dass die „Artikel der falschen Briefe Avvakums“ in dieser Handschrift nach dem Brief von Fedor verfasst worden sind. Das sorgfältige Lesen der Handschrift Pogod. 1256 gibt Anlass zu der Vermutung, dass der erste und zweite Teil den Handschriften Nr. 135 und Nr. 136 aus Černyhov sehr ähnlich sind. Dies bedeutet jedoch nicht, dass die Černyhover Handschriften Nr. 135 und Nr. 136 zusammen genommen die Handschrift Pogod. 1256 bilden, denn letztendlich enthalten die beiden Handschriften unterschiedliche Fassungen der Exzerpte. Offenbar gibt es keine vergleichbare Schrift zu Pogod. 1256. Man hat den Eindruck, dass die Kopisten die Untertitel und das Inhaltverzeichnis manipulierten, um den altgläubigen Sammelband als ein unschuldiges Florilegium darzustellen. Das Format der Pogod. 1256 ist ungewöhnlich groß, und dies zeigt noch einmal, dass es sich nicht um eine geheime Schrift handelte, die verborgen bleiben sollte. Ohne eine genaue paläographische Untersuchung der beiden Handschriften aus Černyhov bleibt diese Vermutung aber eine Hypothese. 4. „Sinnlose Irrlehre der Kapitonanhänger über die Göttlichkeit“ (in 16 Punkten) (Bezumnoe umstvovanie kapitonov o Božestvě; im Folgenden: Pogod. 1576) aus der Handschrift der Russischen Nationalbibliothek.9 Dieses Werk ist nur in einer Handschrift erhalten, in der der „Sinnlosen Irrlehre…“ zwei kurze Werke 8 9

TITOVA, L. V., Poslanie d’jakona Fedora synu Maksimu – literaturnyj i polemičeskij pamjatnik rannego staroobrjadčestva, Novosibirsk 2003, S. 242–245. Sammlung von M. P. Pogodin: Russkaja Nacionalʼnaja Biblioteka [im Folgenden: RNB], Pogod. 1576, Bll. 79–80v. Diese Handschrift, die zuerst dem Historiker Pavel Stroev und danach

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folgen, die mit der gleichen Handschrift und auf ähnlichem Papier geschrieben wurden, sowie ein Schreiben zum gleichen Thema. 5. „Schismatische Irrlehre. So ist der Glaube von Erofej Andreev mit seinen Mitdenkenden“ (Umstvovanie raskolničeskoe. Sija vera Erofeja Andreeva s edinomyslenniki svoimi).10 Dieser Text ist mit der gleichen Schrift geschrieben wie die „Sinnlose Irrlehre…“, inhaltlich allerdings von ihr unabhängig. Er stellt die Weltanschauung des Altgläubigen Erofej Andreev dar. 6. „Schismatische Irrlehre. Aus den Briefen Avvakums“ (Umstvovanie raskolničeskoe. Ot pisem avvakumovych).11 Dieser Text, der in der gleichen Handschrift geschrieben ist wie die zwei vorherigen, beinhaltet ein Exzerpt aus der „Fünften Bittschrift“ Avvakums sowie Exzerpte aus anderen, teilweise unbekannten Werken des Schriftstellers.12 7. „Kopie aus dem schismatischen Büchlein, von einem gewissen Erzpriester Avvakum geschrieben, den die Schismatiker als neuen Märtyrer nennen“ (Vypisano s knižki raskolničeskoj nekoego protopopa Avvakuma ego že novym strastoterpcem raskolniki nazyvajut).13 Diesen Text hat Smirnov übersehen. Die „Kopie…“ enthält einige Zitate aus dem „Buch der Homilien“ (Kniga besed) und aus anderen Schriften des Erzpriesters, die auf ein Blatt passten. Es entsteht der Eindruck, dass die Person, der das Heft mit der „Sinnlosen Irrlehre…“, der „Schismatischen Irrlehre. Aus den Briefen Avvakuums“ und den ebendort vorhandenen Exzerpten gehörte, ein leer gebliebenes Blatt für eigene Bemerkungen verwendete und anschließend eigene Exzerpte aus Avvakums Schriften hinzufügte. Die „Kopie aus dem schismatischen Büchlein“ ist in einer anderen Handschrift geschrieben als die drei vorherigen Werke. Genau diese Schrift ist meiner Meinung nach der Schlüssel zu dieser Geschichte – hierzu jedoch später. In welcher Verbindung stehen alle diese Texte miteinander? Am einfachsten lässt sich die Frage nach der Relation zwischen den Exzerpten aus den „Schriften des Erzpriesters Avvakum“ (Pogod. 1256) und den Exzerpten ohne Titel aus der gleichen Handschrift beantworten. Wir haben es hier mit der eher seltenen Situation zu tun, dass der zweite Text nicht nur von dem ersten abhängig ist, sondern offensichtlich direkt aus der uns zugänglichen Handschrift abgeschrieben wurde. Dies ist ein Indiz für den Fehler des Schreibers. In den Exzerpten aus den „Schriften des Erzpriesters Avvakum“ stand (an dieser Stelle werden die Zeilen der Handschrift wiedergegeben):

10 11 12 13

M. P. Pogodin gehörte, wurde bei BYČKOV, A. F., Opisanie cerkovno-slavjanskich i russkich rukopisnych sbornikov Imperatorskoj Publičnoj Biblioteki, Bd. 1, St. Petersburg 1882, S. 6– 12, beschrieben. Das Problem ist, dass dieser Sammelband, wie auch andere Sammelbände aus der Sammlung Stroevs, im 19. Jahrhundert aus Heften zusammengefügt wurde, die aus unterschiedlichen altrussischen Florilegien stammten. Die Zusammenstellung der ursprünglichen Handschrift ist also unbekannt. RNB, Pogod. 1576, Bll. 81–82v. Ebd., Bll. 83–84v. Pamjatniki istorii staroobrjadčestva XVII v., S. 763f. RNB, Pogod. 1576, Bl. 85.

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Eine komplizierte Begegnung Якоже бо слово от души раждается, и паки в человека не возвращается, тако и сын от отца родися, а во чрево отчее паки не воз вратися.14

Der Schreiber des ersten Teils der Pogod. 1256 kopierte sorgfältig die ersten vier Zeilen, danach vermischte er den Text aus der dritten und fünften Zeile, schließlich kopierte er noch einmal die fünfte Zeile (hier kursiv hervorgehoben): тако и сын от отца родися, а во чрево отчее не возвращался, тако и сын от отца родися [...].

Später strich er den gesamten Textabschnitt, der bei uns kursiv steht, und kopierte ganz korrekt die letzten Zeilen: а во чрево отчее не возвратися.15

Die Exzerpte aus den „Schriften des Erzpriesters Avvakum“ und die „Artikel der falschen Briefe Avvakums“ stehen in einer sehr engen Relation zueinander. Man könnte sagen, dass es sich um die gleichen Puzzlestücke handelt, mit denen zunächst ein Bild und anschließend ein zweites Bild gemacht wurde. Zwar sind die „Artikel der falschen Briefe Avakuums“ kürzer als die Exzerpte, jedoch findet man in den Exzerpten, anders als in den „Artikeln…“, Stellen, die sich eng an den ursprünglichen Text Avvakums anlehnen. „Buch der Beschuldigungen“:

„In den Schriften…“:

„Artikel…“:

[...] соловянин Игнатий. И веруй трисущную Троицу, несекомую секи по равенству, небось, едино на три существа, тожде естества, и образы трое равны.16

Зри, Игнатей Соловьянин, и веруй трисущную Троицу; несекомую секи, не бойсь, едино на три существа, тожде и естества; и образы три равны.17

Зри, Игнатий Соловьянин, и веруй трисущную Троицу, существо едино на трое разделяй [...] Несекомую секи, небось, по равеньству, едино на три существа и естества. Образы три равны.18

14 RNB, Pogod. 1256, Bl. 303v; deutsche Übersetzung: „Genauso wie das Wort, das aus der Seele kommt und nicht zum Sagenden zurückkehrt, wurde der Sohn vom Vater geboren und kehrte nicht zum Leib des Vaters zurück“. 15 Ebd., Bl. 17v. 16 Pamjatniki istorii staroobrjadčestva XVII v., S. 625; deutsche Übersetzung: „Sieh, Ignatij von Solovki, und glaub. Teil die Dreifaltigkeit in drei Wesen, auf die gleichen Wesen, und hab keine Angst. Sie ist einig in drei Wesen, und in drei Naturen und drei Arten und Weisen, und sie alle sind gleich“. Zur Terminologie Avvakums vgl. HAUPTMANN, Peter, Altrussischer Glaube. Der Kampf des Protopopen Avvakum gegen die Kirchenreformen des 17. Jahrhunderts (Kirche im Osten, Monographien, 4), Göttingen 1963, S. 97f. 17 TITOVA, Poslanie, S. 343. 18 BOROZDIN, Protopop Avvakum, S. 119; deutsche Übersetzung: „Sieh, Ignatij von Solovki, und glaub an die Dreifaltigkeit in drei Wesen. Teil das einige Wesen auf drei. Teil das nicht Teilbare

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Dies gibt Anlass zu der Vermutung, dass die Exzerpte aus den „Schriften des Erzpriesters Avvakum“ die Quelle der „Artikel der falschen Briefe Avvakums“ gewesen sein könnten. Diese Vermutung ist allerdings falsch, denn auch in den „Artikeln…“ findet man Stellen, die dem ursprünglichen Text Avvakums korrekt entnommen wurden, wie zum Beispiel: „Buch der Beschuldigungen“:

„In den Schriften…“:

„Artikel…“:

яко ангел некий, чистейший дух – душа, но и плотьна есть, единовидна и единосоставна, а не трисоставна. Прежде ума и слова сотворена [...]19

ангел некий чистейший душа, но и плотна есть, единовидна, а не трисоставна […]20

ангел некий, чистейший дух – душа, но и плотна есть, единовидна и единосоставна, а не трисоставна, прежде ума и слова сотворена […]21

Man kann sagen, dass weder der erste noch der zweite Text als Quelle für den jeweils anderen gedient hat. Die Exzerpte aus den „Schriften des Erzpriesters Avvakum“ und die „Artikel der falschen Briefe Avvakums“ hatten eher einen gemeinsamen Archetyp (protograf). Die Frage nach der Relation zwischen der „Sinnlosen Irrlehre…“ und den Exzerpten aus den „Schriften des Erzpriesters Avvakum“ ist ebenfalls nicht leicht zu beantworten. An einigen Stellen der „Sinnlosen Irrlehre…“ werden Zitate aus den „Artikeln…“ wiederholt, die in den Exzerpten fehlen, beispielsweise über die Inkarnation in Artikel 12. Indes sind einige Zitate aus den „Artikeln…“, die in den Exzerpten fehlen, in der „Sinnlosen Irrlehre…“ präsent. Auch der Anfang der „Sinnlosen Irrlehre…“ sowie die gesamte Struktur des Textes (etwa die Einteilung in Punkte) sind den „Artikeln…“ sehr ähnlich. Während die Verfasser der „Artikel der falschen Briefe Avvakums“ und der Exzerpte die Zitate von Avvakum einfach hintereinander aufführten, bevorzugt der Autor der „Sinnlosen Irrlehre…“ eine kritische Zusammenfassung der häretischen Sprüche. Dies macht die Erforschung der Quellen nicht leichter. Man könnte mutmaßen, dass die „Sinnlose Irrlehre…“ auf den Archetyp der beiden Texte verweist oder – dies scheint am wahrscheinlichsten zu sein – dass der Autor der „Sinnlosen Irrlehre…“ diese beiden Quellen in der Hand gehabt hatte. Die „Schismatische Irrlehre. Aus den Briefen Avvakums“ und die „Kopie aus dem schismatischen Büchlein“ beinhalten Exzerpte aus anderen Schriften Avvakums, weshalb man sie nicht in das folgende Schaubild22 einbeziehen kann.

19

20 21 22

auf die gleichen Teile, auf drei Wesen und drei Naturen. Drei Gestalten sind miteinander gleich“; vgl. HAUPTMANN, Altrussischer Glaube, S. 97f. Pamjatniki istorii staroobrjadčestva XVII v., S. 585; deutsche Übersetzung: „Die Seele, eine Art Engel, ein reinster Geist, sie ist auch stofflich, eingestaltig und als Einheit gebildet, aber nicht dreifach zusammengesetzt. Sie wurde geschaffen vor der Vernunft und vor dem Wort“; vgl. HAUPTMANN, Altrussischer Glaube, S. 97f. TITOVA, Poslanie, S. 242. BORODZIN, Protopop Avvakum, S. 123. Schaubild A. L.

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Archetypus

„In den Schriften des Erzpriesters Avvakum“ RNB, Pogod. 1256 „Artikel der falschen Briefe Avvakums“

„Sinnlose Irrlehre...“ RNB, Pogod. 1576 Exzerpte ohne Titel RNB, Pogod. 1256

Nachdem die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Exzerpten erläutert worden sind, können wir uns dem wichtigsten Punkt zuwenden – nämlich der konfessionellen Identität der Autoren. Die Intention des Titels des ersten Textes („In den Schriften des Erzpriesters Avvakum finden sich solche Reden und die Irrlehre über den Glauben, auch über den Fedor“) ist eindeutig – obwohl die Theologie Avvakums für den Autor eine „Irrlehre“ darstellt, gesteht er ihm doch die Bezeichnung „Erzpriester“ zu. Der Text wurde offenkundig von Altgläubigen geschrieben oder kopiert. Die „Artikel der falschen Briefe Avvakums“ sind, wie man dem Titel entnehmen kann, hingegen konfessionsneutral. Man könnte die These vertreten, dass es sich um Exzerpte aus Werken handelt, die Avvakum nicht eindeutig zugeordnet werden konnten. Sie wurden von den altgläubigen Lesern zusammengestellt und später auch im orthodoxen Milieu gelesen. Der Titel der „Sinnlosen Irrlehre der Kapitonanhänger über die Göttlichkeit“ wiederum ist ein deutlicher Beleg dafür, dass dieser Text von den Anhängern des Moskauer Patriarchats geschrieben wurde. Man nannte die Altgläubigen polemisch „Kapitonanhänger“ – nach dem Namen eines umstrittenen Asketen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Die „Schismatische Irrlehre. Aus den Briefen Avvakums“ und die „Kopie aus dem schismatischen Büchlein“ sprechen für sich selbst – ihre Urheber disqualifizierten die Altgläubigen als „Schismatiker“. Die konfessionelle Identität des Autors der „Kopie aus dem schismatischen Büchlein“ kann zusätzlich durch seine Handschrift bestätigt werden, denn es handelt sich um den Autographen des Metropoliten Dimitrij von Rostov.23 Die Tatsache, dass der Besitzer des Kodex, zu dem die „Sinnlose Irrlehre…“, die „Schismatische Irrlehre. So ist der Glaube…“ und die in der

23 Der Vergleich der Schriftarten wurde mit dem Autographen des Metropoliten Dimitrij von Rostov durchgeführt; vgl. FEDOTOVA, Ėpistoljarnoe, Abb. 26–27.

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„Schismatischen Irrlehre. Aus den Briefen Avvakums“ enthaltenen Exzerpte gehören, gleichzeitig der Verfasser der „Kopie aus dem schismatischen Büchlein“ war, nämlich Dimitrij von Rostov, der wichtigste orthodoxe Polemiker der petrinischen Zeit, gibt Anlass, die erwähnten Texte genauer zu betrachten. Die „Sinnlose Irrlehre…“ scheint nicht nur die wichtigste Quelle für den Metropoliten Dimitrij gewesen zu sein, ihre Struktur findet sich auch im Buch wieder.24 Auch die anderen drei Texte haben ihre Spuren in der „Untersuchung über den Brynsker Glauben“ hinterlassen und erlauben uns einen Einblick in die Werkstätte des Polemikers.25 Zusammenfassend lässt sich sagen: Die ersten Varianten der Exzerpte wurden von Altgläubigen geschrieben, die einige theologische Konzeptionen Avvakums mit Skepsis betrachteten. Doch sehr bald überschritten die Texte die unsichtbare konfessionelle Grenze und verbreiteten sich auch im orthodoxen Milieu. Die altgläubigen Autoren und die Verfasser, die zum Moskauer Patriarchat gehörten, stießen in den Schriften des Erzpriesters auf dieselben theologischen Fehler.26 In gewisser Weise teilten sie (noch) die gleiche religiöse Kultur. Man sollte dieses Ergebnis allerdings nicht überbewerten oder verallgemeinern. Von Interesse ist ein Vergleich, der den Umgang Dimitrijs mit den altgläubigen Texten und mit den hagiographischen Quellen, die er für sein Lebenswerk benötigte, in den Blick nimmt. Dimitrij sammelte akribisch die Schriften der Altgläubigen, er gelangte an die wichtigen Werke Avvakums, darunter auch an die „Fünfte Bittschrift“ und an das „Buch der Homilien“; der Originaltext des „Ewigen Evangeliums“ blieb ihm dagegen verborgen. Sofern Dimitrij die Werke von Avvakum 24 ROSTOVSKIJ, Rozysk, S. 51 (Art. 1), S. 52 (Art. 2), S. 53 (Art. 3), S. 54 (Art. 4), S. 56 (Art. 6), S. 57 (Art. 5), S. 59 (Art. 7), S. 62 (Art. 8), S. 66 (Art. 9), S. 77 (Art. 15), S. 78 (Art. 16); RNB, Pogod. 1576, Bll. 79–80. 25 ROSTOVSKIJ, Rozysk, S. 59f., 73, 387; vgl. RNB, Pogod. 1576, Bll. 81–82 („Schismatische Irrlehre. So ist der Glaube von Erofej Andreev mit seinen Mitdenkenden“); ROSTOVSKIJ, Rozysk, S. 79, 387; vgl. RNB, Pogod. 1576, Bll. 83–83v („Schismatische Irrlehre. Aus den Briefen Avvakums“); ROSTOVSKIJ, Rozysk, S. 487, 613; vgl. RNB, Pogod. 1576, Bl. 85 („Kopie aus dem schismatischen Büchlein, von einem gewissen Erzpriester Avvakum geschrieben, den die Schismatiker als neuen Märtyrer nennen“). 26 Man sollte an dieser Stelle einmal zu der Frage der theologischen „Inkompetenz“ des Erzpriesters Avvakum Stellung nehmen. Die fehlende theologische Ausbildung und seine Unkenntnis des Griechischen sind offensichtlich. Man sollte sich allerdings auch fragen, ob die Probleme, mit denen Avvakum konfrontiert wurde, überhaupt von einem Einzelnen bewältigt werden konnten. Die Religion stellte im Moskauer Reich ein polyzentrisches System dar, in dem Heiligenkulte eine große Rolle spielten. Die Tätigkeit Avvakums fiel zusammen mit dem Übergang zu einem christozentrischen religiösen Wertesystem. Eine ähnliche Entwicklung erlebten die westlichen Kulturen mit der devotio moderna (in diesem Zusammenhang ist die Imitatio Christi von Thomas von Kempen eine gute Referenz). Die Besonderheit der kulturellen Situation im Moskauer Reich ist nicht etwa die verspätete Entwicklung, sondern die Tatsache, dass sie die offiziellen wie die anderen religiösen Gruppen zugleich betraf. – Um diesen Gedanken zu erklären, bediene ich mich einer anachronistischen Metapher: Man stelle sich ein technologisches Problem vor, z.B. die Jahrtausendwende, das normalerweise durch die Leistung aller Abteilungen in einem Unternehmen gelöst werden sollte und nicht durch einen einzelnen Mitarbeiter, der an Silvester alleine an mehreren Geräten hoffnungslos versucht, das sich nähernde Chaos zu stoppen.

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zitierte, tat er dies sehr präzise und unterließ jede Hinzufügung. Ein tendenziöses Eingreifen seinerseits in den zitierten Text lässt sich nicht bemerken, lediglich einige stilistische Verbesserungen sind vorhanden. Allerdings wurden die Seitennummern und die Paragraphen nicht notiert, Dimitrij erwähnt nur selten die Titel der von ihm zitierten Werke. Dies ist jedoch nicht weiter verwunderlich, denn der Metropolit führte keinen Dialog mit den Altgläubigen, sondern verwendete die Zitate gegen sie.27 Man könnte sagen, dass Avvakums Texte nicht nur Beweise der Häresie für ihn waren, sondern auch kulturelle Artefakte – wenn auch nur zweiter Klasse. Eine Untersuchung der Genealogie der unterschiedlichen Texte eröffnet einige Möglichkeiten, zum Beispiel könnte man versuchen, die verstreuten Zitate aus den nicht mehr vorhandenen Werken Avvakums zu inventarisieren. Wichtiger erscheint mir aber die, wenn auch schon etwas ältere, Frage nach der Authentizität der Werke. Dieses Problem wurde im Buch von Gabriele Scheidegger neu aufgegriffen. Scheideggers Ergebnis ist von den Spezialisten bisher weder akzeptiert noch kritisiert worden. Die Verfasserin erkennt Avvakum nur als Autor bei den Werken an, die unabhängig von der altgläubigen handschriftlichen Tradition erhalten geblieben sind (also insgesamt für sechzehn Texte), und stellt die Authentizität der anderen Texte, darunter auch die Autobiographie, in Frage.28 Scheidegger ist besonders kritisch gegenüber den späteren Sammelbänden, die Avvakum angeblich in der Zeit seiner Verbannung geschrieben haben soll. Dies gilt vor allem für das „Buch der Homilien“ und das „Buch der Beschuldigungen“. Scheidegger behauptet, dass diese Sammlungen ein Produkt von Fälschern seien und dass das „Buch der Homilien“ in seinem heutigen Zustand das Resultat der Arbeit der Herausgeber an der Edition von 1927 gewesen sei. Im Hinblick auf das „Buch der Beschuldigungen“ schließt sich Scheidegger der Meinung Smirnovs an, demzufolge die ursprüngliche Struktur dieses Sammelbandes unbekannt sei.29 27 Dimitrij selbst war eher pessimistisch angesichts der Resultate seiner Predigten: „Die Wörter fliegen eher mit dem Wind davon als in die Herzen der Zuhörer“; Brief an Feolog, vor dem 07.03.1709, in: FEDOTOVA, Ėpistoljarnoe, S. 103. 28 SCHEIDEGGER, Gabriele, Endzeit. Russland am Ende des 17. Jahrhunderts (Slavica Helvetica, 63), Bern 1999. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, die ganze Konzeption von Scheidegger sowie meine Gegenargumente anzuführen. Die Fragen, die Scheidegger gestellt hat, sind seriös und können nicht einfach ignoriert werden. Man sollte sie von den Antworten trennen, die die Historikerin gab. Scheidegger ging es um Kriterien für die Ergänzungen und um Spielregeln, die für alle ähnlichen Probleme gelten sollen. Obwohl die Authentizität des Nachlasses Avvakums meiner Meinung nach bewiesen ist, können die provozierenden Behauptungen Scheideggers durchaus als ein Stimulus zur weiteren Forschung dienen. 29 SCHEIDEGGER, Endzeit, S. 129, 131. Die Meinung Smirnovs und Scheideggers teile ich nicht. Schon ein Blick in die einzige Handschrift des „Buches der Beschuldigungen“ zeigt, dass sie von einer Person geschrieben worden ist. Darüber hinaus besteht die Handschrift aus nummerierten Heften, die ordentlich miteinander verbunden sind. Die paläographische Untersuchung ergibt keinen Hinweis auf eine Manipulation des ursprünglichen Textes. Es handelt sich hierbei um eine durchaus ordentliche Kopie des nicht mehr vorhandenen Originals. Alle Vermutungen über eine ursprünglich andere Struktur des Sammelbandes sollten nur mit inhaltlichen Argumenten untermauert werden.

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Scheidegger beschäftigt sich auch mit den Avvakum-Zitaten bei Dimitrij von Rostov. In der älteren Forschung galt es als selbstverständlich, dass die Schriften des Erzpriesters Avvakum von Metropolit Dimitrij in seinem zwischen 1707 und 1709 geschriebenen Werk zitiert wurden. Diese Reihenfolge wird aber von Gabriele Scheidegger in Frage gestellt: Ihrer Meinung nach seien diese Zitate den Fälschungen entnommen worden, weshalb man den Zeitpunkt der Entstehung dieser Fälschungen besser bestimmen könne. „Dass diese Texte relativ früh entstanden sein müssen […] beweist unter anderem die Tatsache, dass einige von ihnen dem Metropoliten Dimitrj von Rostov 1709 bereits vorlagen“, schreibt Scheidegger zu einem Absatz über Selbstverbrennungen aus der achten Homilie Avvakums.30 Die Zitate Avvakums stammen also nicht aus einem fertigen Text oder Buch, sondern haben einen anderen Ursprung, und die uns bekannten Texte kommen nur später hinzu. Die oben vorgestellten Ergebnisse erlauben es, diese Interpretation anzuzweifeln. Der Vergleich zwischen den „Artikeln…“ und dem „Buch der Beschuldigungen“ (dem „Ewigen Evangelium“) zeigt, dass dem anonymen Autor der Exzerpte offenbar der gleiche Sammelband zur Verfügung gestanden haben musste, der uns durch die Ausgabe von 1927 bekannt ist. Besonders interessant ist in dieser Hinsicht ein Vergleich zwischen den „Artikeln…“ und dem „Buch der Beschuldigungen“. „Artikel…“: Punkt 1 Punkt 2 Punkt 5 Punkt 9 Punkt 13 Punkt 16

„Buch der Beschuldigungen“: S. 627f. S. 625 S. 625 S. 629 S. 637, 641 S. 578, 585

Es entsteht der Eindruck, dass der anonyme Verfasser der „Artikel…“ das „Buch der Beschuldigungen“ vom Anfang bis zum Ende gelesen und nebenbei Exzerpte gemacht hat, so dass die Struktur des Buches wiederholt wird. Die Tatsache, dass ein langes Zitat, das am Anfang des Sammelbandes steht, in den „Artikeln…“ am Ende aufgeführt wird, kann unterschiedlich interpretiert werden. Diese Ausnahme widerspricht nicht der Regel: Die „Artikel…“ wurden nicht aus irgendwelchen Handschriften abgeschrieben, sondern aus den Sammelbänden mit der gut bekannten Struktur. Scheidegger zufolge spürten „die gebildeten Verteidiger der Reformen“, wie zum Beispiel Dimitrij von Rostov, einige „Ungenauigkeiten und [...] Fälschungen“ bei den Altgläubigen auf.31 Die Forscherin bekräftigt ihre Argumente, indem sie andeutet, dass Dimitrij die gleichen Zweifel hatte wie sie selbst. Diese Behauptung beruht allerdings auf einem Zitat aus einer altgläubigen Schrift. Meiner Meinung nach war die Einstellung des Metropoliten Dimitrij, seiner Korrespondenten und seiner Mitarbeiter, die zu den jüngeren Zeitgenossen Avvakums gehörten, eine ganz 30 SCHEIDEGGER, Endzeit, S. 129. 31 Ebd., S. 103f.

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andere. Sie scheinen keine Gerüchte über die Echtheit von Avvakums Schriften gehört zu haben. Zweifel an der Authentizität dieser Werke kamen bei ihnen offenbar nicht auf – obwohl die Möglichkeit, Avvakums Texte als eine Ansammlung von Apokryphen und Fälschungen darzustellen, ihnen sicherlich gelegen gekommen wäre. Eine andere Deutung wäre natürlich auch möglich: Man könnte mutmaßen, dass die ukrainischen Theologen an einer Prüfung der Authentizität der Avvakum zugeschriebenen Texte nicht interessiert waren, weil sie befürchteten, auf diese Weise den einen oder anderen besonders angreifbaren Text zu verlieren. Aber der letztgenannte Ansatz überzeugt mich nicht: Wir kennen nicht nur die „Untersuchung über den Brynsker Glauben“, die für die Öffentlichkeit geschrieben worden war, sondern auch den internen Meinungsaustausch, der dem breiten Publikum vorenthalten bleiben sollte. Dennoch zweifelte niemand an der Authentizität der Schriften Avvakums. Im Hinblick auf diese Auseinandersetzung könnte man sagen: Dimitrij versuchte, das Altgläubigentum mit seinen eigenen Waffen zu bekämpfen – mit dem wortgetreuen Zitieren der Urquellen. Dieser Kammerton der Polemik – spöttisch, aber ehrlich – ging leider nach dem Tod von Dimitrij (1709) verloren. Die orthodoxen Polemiker griffen danach zu einer Fälschung: zur erfundenen mittelalterlichen „Akte über den Häretiker Mönch Martin“. Diese Fälschung wurde durch die altgläubigen Theologen Andrej und Semen Denisov entlarvt, die sich als echte Nachfolger Mabillons erwiesen. Dies war die Geburtsstunde der russischen Paläographie. Eine solche intellektuelle Niederlage wäre zu Lebzeiten Dimitrijs unmöglich gewesen. Dennoch blieb die Polemik gegen die Altgläubigen das einzige Medium, das die Einheit der russischen Kultur zu bewahren versuchte. Mit der Säkularisierung der russischen Gesellschaft verlor diese Polemik ihre Relevanz und zwei kulturelle Welten drifteten auseinander.

DIE SÄKULARISIERUNG DES KLÖSTERLICHEN LANDBESITZES UNTER ZAR PETER III. IM SPIEGEL DIPLOMATISCHER BERICHTE Tatjana Trautmann Obwohl Peter III. (1728–1762) Russland nur ein halbes Jahr1 regierte, wurden während seiner Regierungszeit viele Reformen angestoßen, die die Entwicklung Russlands förderten.2 Eine dieser Reformen, die Säkularisierung des klösterlichen Landbesitzes, möchte ich im Folgenden näher beleuchten und dabei auch die Frage erörtern, inwieweit sie zu seinem Sturz beigetragen hat. Für eine neue Perspektive auf diese Thematik werde ich ergänzend die Berichte der zu dieser Zeit am russischen Hof anwesenden ausländischen Diplomaten als Quelle betrachten. Obwohl der Fokus der diplomatischen Berichterstattung nicht auf der Innenpolitik lag, finden sich in den Briefen des englischen Bevollmächtigten Robert Murray Keith (ca. 1697– 1774), des französischen Ministers Louis Auguste Le Tonnelier de Breteuil (1730– 1807) und des österreichischen Botschafters Florimond Claude von Mercy-Argenteau (1727–1794) Berichte zu dieser Reform. Die Reform, die mehrfach als Beleg für Peters Sympathien gegenüber den Lutheranern gewertet wurde,3 hatte ihre wahren Wurzeln in fiskalischen Überlegungen seit dem 15. Jahrhundert. Schon im 15. und 16. Jahrhundert gab es Debatten darüber, ob das Land der orthodoxen Kirche an den Staat zurückfallen sollte. Zunächst blieben die kirchlichen Besitzrechte am Land bestehen, obwohl ein Amortisationsgesetz eingeführt wurde, das die Kirche am weiteren Erwerb von Landbesitz hindern sollte.4 Seit der Mitte des 17. Jahrhunderts nahm die Macht der Kirche ab. Im 1649 herausgegebenen Sobornoe uloženie5 wurde der steuerfreie Status der Kirchenländereien abgeschafft, dadurch sanken die Einkünfte der Kirche aus Land und Mühlen. Die Einrichtung eines Klosteramts ermöglichte die Überwachung der Sammlung von Abgaben für die Mönche.6 1 2 3 4 5 6

Er folgte am 25. Dezember 1761 seiner Tante Elisabeth auf den Thron und wurde am 28. Juni 1762 gestürzt. Sämtliche Daten entsprechen, sofern nicht anders angegeben, dem julianischen Kalender. Vgl. RAEFF, Marc, Peter III., in: Die russischen Zaren 1547–1917, hrsg. von Hans-Joachim TORKE, München 1995, S. 218–231, hier S. 223. Vgl. LEONARD, Carol S., Reform and Regicide. The Reign of Peter III of Russia, Bloomington 1993, S. 23. Ebd., S. 74f. Eine Gesetzessammlung. Vgl. LEONARD, Reform, S. 75.

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Tatjana Trautmann

Zar Peter I. (1672–1725) leitete seit dem Ende des 17. Jahrhunderts eine neue Phase von Reformen ein, die zu einem zunehmenden Machtverlust der Kirche führten. Zunächst wurden Einkünfte der Klöster konfisziert. Eine Teilsumme war für die Gehälter des Klerus und anderen Personals vorgesehen, aber der Großteil fiel an den Staat. Anschließend wurde ein Teil der Klöster besteuert und überwacht, dazu gehörten 70 der größten Klöster und elf Bistümer. Die Überwachung der Klöster lag in der Hand einer neu geschaffenen Behörde, des Ökonomiekollegiums. Die Ungleichmäßigkeit des Systems führte zu Konflikten zwischen kirchlichen und weltlichen Instanzen, wobei die kirchlichen im Vorteil waren, weil der Staat nicht genügend Personal erübrigen konnte, um zentrale Beschlüsse durchzusetzen. Unter Peter I. begann man außerdem damit, ein Inventar aller steuerpflichtigen Klöster anzulegen. Peter I. begründete seine Maßnahmen formal damit, dass er die Unordnung in den Finanzangelegenheiten der orthodoxen Kirche beseitigen wolle. In erster Linie dienten sie jedoch den praktischen Interessen des Staates und sollten vor allem Einkünfte zur Finanzierung von Peters I. militärischen Kampagnen generieren.7 Auf die Wurzeln der Idee in der Zeit Peters I. verweisen auch der französische Minister Breteuil und der österreichische Botschafter Mercy-Argenteau in ihren Berichten über die Säkularisierung des klösterlichen Landbesitzes unter Peter III.8 Breteuil betont dabei die finanziellen Absichten Peters I.9 Allerdings habe Peter I. die Umsetzung dieser Idee „niemalen gewaget“,10 politische Erwägungen hätten ihn von einem „arrangement aussi dangereux“11 abgehalten. Peters I. unmittelbare Nachfolger konnten seine Teilsäkularisierung der Kirchenländereien nicht komplettieren. Sie setzten seine Bemühungen fort, den Kirchenbesitz zu überprüfen und Erhebungen zu überwachen, um höhere Zahlungen der Kirche zu erzielen. Bis 1744 existierte die petrinische Überwachungsbehörde, das Ökonomiekollegium, weiter, führte Bestandsaufnahmen des Besitzes durch und achtete auf die Einnahmen des Staates. Das Ökonomiekollegium war allerdings nicht bevollmächtigt, Zwang auszuüben, daher kam die Kirche den Aufforderungen zur Erstellung von Inventaren und Steuerzahlungen an den Staat nur sporadisch nach. Von Beginn an nahm die Kirche eine abwehrende Haltung ein und widersetzte sich den Beamten. Ein Hauptstreitpunkt waren die Inventarverzeichnisse (opisi). Die weltlichen Beamten hingegen versuchten, ihre Zuständigkeiten auszudehnen und zusätzliches Eigentum zu säkularisieren beziehungsweise zu konfiszieren, worüber sich die Kirchenleitung mehrfach beschwerte. Aufgrund der energischen Gegenwehr der Kirche blieben nach dem Tod Peters I. nur wenige Konfiszierungen in

7 8

Vgl. ebd., S. 75f., 178, Fn. 24. Vgl. Schreiben des Barons de Breteuil, 15.03.1762 (N.S.), in: Archives des Affaires étrangères: Correspondance Politique Russie [im Folgenden: CPR], Bd. 68, Bl. 327, und Schreiben des Grafen von Mercy-Argenteau, 09.03.1762 (N.S.), in: Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva [im Folgenden: SIRIO], Bd. 18, St. Petersburg 1876, Nr. 45, S. 210. 9 Vgl. Breteuil, 15.03.1762 (N.S.), in: CPR, Bd. 68, Bl. 327. 10 Mercy-Argenteau, 09.03.1762 (N.S.), in: SIRIO, Bd. 18, Nr. 45, S. 210. 11 Breteuil, 15.03.1762 (N.S.), in: CPR, Bd. 68, Bl. 327.

Die Säkularisierung des klösterlichen Landbesitzes unter Zar Peter III.

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Kraft. Insgesamt fielen in den frühen 1760er Jahren lediglich 16 Prozent der Kirchenbauern unter den weltlichen Einflussbereich.12 Unter der Kaiserin Elisabeth (1709–1761) wurden die Bemühungen, Inventarverzeichnisse zu erstellen, aufgegeben.13 Elisabeth stützte sich hauptsächlich auf außerordentliche Einnahmen, vor allem Notfallsubsidien des Synods.14 In den Kriegsjahren der 1740er Jahre griff sie insbesondere auf metallische Abwertung und direkte Transfers vom Synod in die Staatskasse zurück. Diese irregulären Einkommensarten führten zwar manchmal zu einer Unterversorgung der Armee, brachten sie aber nicht in Konflikt mit der Kirche.15 Diese Situation hielt auch während des Siebenjährigen Krieges an, der allerdings die Staatskasse weitaus stärker belastete. Die Wiedererweckung der Idee, auf kirchliche Einkünfte zurückzugreifen, kam nicht von Elisabeth, sondern von ihrer Konferenz am kaiserlichen Hof, die für die Finanzierung des Krieges zuständig war. Einer ihrer ersten Vorschläge war die Reform des kirchlichen Grundbesitzes, unter anderem sollten die Klostergüter eine neue Verwaltung erhalten.16 Eine diesbezügliche Reform wurde per Dekret am 6. Oktober 1757 verkündet. Kirchenbauern sollten statt Arbeitsdiensten und Sachleistungen nur noch geldliche Abgaben leisten. Die Reform zielte darauf ab, die Einziehung von Abgaben zu überwachen, um zu verhindern, dass den Bauern von den Mönchen überhöhte Verpflichtungen auferlegt wurden und sie deswegen nicht mehr ihre Abgaben an den Staat leisten konnten. Als weltliche Aufseher sollten pensionierte Offiziere und Beamte dienen, die bereits auf den Kirchengütern lebten. Diese Aufseher sollten nicht nur die Abgaben einsammeln, sondern auch die Ausgaben verwalten. Die Klöster mussten dem Staat eine Summe zahlen, die ihren bisher aufgelaufenen Rückständen entsprach, und eine Strafe, falls die Mönche sich weigerten, Invaliden zu versorgen. Da die Menge an Geldern, die die Kirche an den Staat übertragen musste, überschaubar blieb, verzichtete man auf die Einrichtung einer Zentralbehörde.17 Begründet wurde die Reform unter anderem damit, dass der Klerus von seinen weltlichen Sorgen befreit werden müsse. Man berief sich auf petrinisches Recht und kameralistische Prinzipien. Es finden sich in der Einleitung antiklerikale Äußerungen. Unter den antiklerikalen Strömungen, die in den 1740er Jahren in russischen Regierungskreisen zunahmen, hatten vor allem die juristischen Schriften der Kameralisten einen starken Einfluss. Die preußische kameralistische Tradition sah Kleriker als Staatsbeamte an und wandte sich gegen das Konzept einer Doppelherrschaft von Kirche und Staat. Die Säkularisierung entsprach nicht nur praktischen 12 Vgl. LEONARD, Reform, S. 73–76. 13 Ebd., S. 73. 14 Heiligster dirigierender Synod: Geistliches Kollegium, an der Spitze der russisch-orthodoxen Kirche seit Einführung im Jahr 1721, siehe: Die Orthodoxe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte (860–1980), hrsg. von Peter HAUPTMANN und Gerd STRICKER, Göttingen 1988, S. 388–391. 15 Vgl. LEONARD, Reform, S. 78. 16 Vgl. MYLNIKOW, Alexander S., Die falschen Zaren. Peter III. und seine Doppelgänger in Rußland und Osteuropa (Eutiner Forschungen, 3), Eutin 1994, S. 74. 17 Vgl. LEONARD, Reform, S. 78f.

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Bedürfnissen, das heißt der Steigerung der staatlichen Einnahmen, sondern sie fand im 18. Jahrhundert auch weitreichende Unterstützung durch die Aufklärer, die kirchlichen Landbesitz als ein Beispiel für den Machtmissbrauch der Kirche anprangerten.18 Obwohl dieser Reformvorschlag 1757 als Gesetz verkündet wurde, trat er nicht in Kraft. Sein Scheitern wird vor allem Elisabeth zugeschrieben, die vom Synod erhebliche persönliche Schenkungen erhielt, um ihre Ausgaben zu decken. Zahlreiche Beschwerden über synodale und kirchliche Dienststellen, die sich in den Aufzeichnungen der staatlichen Institutionen finden, zeigen, dass die meisten Berater Elisabeths und ihre Beamten eine andere Ansicht vertraten als sie. Nach dem Scheitern des Vorschlags wurden weitere bürokratische Initiativen angestoßen, vor allem aus dem Umfeld des Senats, ohne allerdings die Zustimmung der Kaiserin zu finden.19 Zu Beginn der 1760er Jahre tauchte die Frage der Säkularisierung wieder auf. Die Kodifikationskommission des Senats schlug ein Gesetz über kirchlichen Landbesitz vor. Dieser Vorschlag ist der erste Fall in Russland im 18. Jahrhundert, in dem der Anspruch der Kirche auf Landbesitz ausdrücklich zurückgewiesen wurde. Dieses Recht sollte ein exklusives Vorrecht des Adels und des Staates sein. Konfrontiert mit der Opposition des Heiligen Synods schlug der Senat diesem vor, gemeinsam einen Entschluss zu fassen. Die Verhandlungen kamen jedoch zu keinem Ergebnis und wurden Ende Juli 1760 aufgegeben.20 Bis zum Tod der Kaiserin kam es zu keinen tragfähigen Gesetzen über den kirchlichen Landbesitz.21 Grund dafür war zum einen der Widerwille des Senats und der Kaiserin, die Opposition des Klerus zu überwinden. Zum anderen hatte zwar der Siebenjährige Krieg die Säkularisierung attraktiver gemacht, aber er führte zugleich zu Einschränkungen bei der Ausführung einer solchen Maßnahme, da das Offizierskorps nicht zur Verfügung stand, um ein solches Gesetz auf dem Land durchzusetzen.22 In den ersten Wochen seiner Herrschaft wurde Peter III. über den Stand der Dinge in Bezug auf die russischen Staatsfinanzen informiert. Alternativen zur Erhöhung der Einnahmen gab es kaum, da die Salzsteuer schon zu hoch war und die Regierung vor einer Anhebung der Kopfsteuer zurückschreckte, aus Angst vor möglichen Bauernunruhen. Die Subsidienangebote der Kirche, mit denen sie frühere Herrscher beruhigt hatte, waren nicht ausreichend. Aleksej S. Kozlovskij (1707–1776), Prokurator im Synod, schlug weitreichende Maßnahmen, zuallererst die Umsetzung des Projekts von 1757, vor.23 Peter III. präsentierte den Reformvorschlag von 1757 am 17. Januar 1762 dem Senat. Zu Beginn schien er einen Kompromiss anstreben zu wollen. Er verkündete 18 19 20 21 22 23

Ebd., S. 74–79. Ebd., S. 79f. Ebd., S. 80. Vgl. RAEFF, Peter III., S. 226. Vgl. LEONARD, Reform, S. 80. Ebd., S. 74–81.

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zwar, dass er das Projekt vollenden wolle, dass zuvor jedoch ein gemeinsames Treffen des Senats und des Synods stattfinden solle. Der Senat traf sich noch im Januar mit dem Synod und beide einigten sich auf eine Teilung der Einkünfte: Von jedem Rubel sollte eine Hälfte dem Staat, die andere Hälfte den Klöstern zugutekommen.24 Peter III. war unzufrieden mit dieser Übereinkunft und erließ daher am 16. Februar einen ersten Ukas zur Säkularisierung. In diesem Ukas legt Peter III. dar, dass er wegen der Wichtigkeit dieser Angelegenheit und um Verzögerungen aufgrund ergebnisloser Beratungen mit dem Synod zu vermeiden, angeordnet habe, den 1757 gefassten Beschluss ohne Ausnahmen in Kraft zu setzen.25 Bereits seine Tante habe das Ziel verfolgt, die Mönche von den weltlichen Bürden zu befreien, dazu gehöre etwa der Einzug von Einkünften. Er nannte kirchlichen Landbesitz einen Missbrauch und Schaden für den Glauben.26 Der Senat richtete sich nach Peters Anweisungen und formulierte am 19. Februar einen ersten Reformentwurf. Dieser verfestigte die Reformbestimmungen von 1757, stellte den Status der Bauern klar und konstruierte einen Verwaltungsapparat, um die Umsetzung der Reform zu lenken. Es sollte eine strikt säkulare Verwaltung eingeführt werden. Pensionierte Offiziere sollten das Land verwalten sowie Katasterkarten und Inventare erstellen. Um diese Ziele zu erreichen, wurde das Ökonomiekollegium wiederhergestellt. Ganz neu waren Regelungen für die Bauern, die das Land in ihren Besitz überführten. Laut Leonard war die Formulierung, dass das Land an die Bauern gegeben werden solle, ein einmaliges Experiment im 18. Jahrhundert. In den späteren Bestimmungen Katharinas II. (1729–1796) aus dem Jahr 1764 wurde diese heikle Formel entfernt, da sie Anlass zu Bauernunruhen gegeben hatte.27 Häufig wird die Reform der Säkularisierung dem neuen Generalprokurator des Senats unter Peter III., Aleksandr I. Glebov (1722–1790), zugeschrieben. Sein wichtigster Beitrag war das Element der Agrarreform innerhalb der Säkularisierung,28 aber er war keineswegs der Einzige, der an dem Reformentwurf mitarbeitete. Auch die ehemaligen Generalprokuratoren des Senats, Nikita Ju. Trubeckoj (1699–1767) und Jakov P. Šachovskoj (1705–1777), Kozlovskij und der Sekretär der Konferenz am kaiserlichen Hof, Dmitrij V. Volkov (1718–1785), haben am Entwurf mitgewirkt.29 Ebenso beteiligte sich Peter III. persönlich an der Erarbeitung. So soll er den Plan seines Vorgängers Peters des Großen über die „Einziehung der Klostergüter und die Einrichtung eines speziellen Ökonomie-Kollegiums für ihre Verwaltung“30 studiert, die Gesetzesentwürfe gelesen und bearbeitet haben.31

24 25 26 27 28 29 30 31

Ebd., S. 80f. Vgl. MYLNIKOW, Die falschen Zaren, S. 74f. Vgl. LEONARD, Reform, S. 81. Ebd., S. 81f. Ebd., S. 31. Ebd., S. 81. Zit. nach MYLNIKOW, Die falschen Zaren, S. 75. Ebd., S. 75.

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Man konnte sich dabei offenbar auf lange bürokratische Planungen stützen, wie der mit Präzedenzfällen gespickte Text der Verordnung erkennen lässt.32 Anscheinend wurde in dem Entwurf bereits festgelegt, dass der Klerus als Ersatz finanzielle Zuwendungen erhalten sollte, dies lässt sich zumindest den diplomatischen Berichten der folgenden Tage über das Säkularisierungsprojekt entnehmen. Mercy-Argenteau berichtet am 26. Februar, dass der Kaiser beschlossen habe, „der sämmtlichen Geistlichkeit die Güter und Unterthanen abzunehmen“,33 das heißt der Entschluss betraf nicht nur die Ländereien, sondern auch die darauf lebenden Bauern, etwa anderthalb Millionen34 Menschen. Mercy-Argenteau spricht von einer Entschädigung der Geistlichen, ihnen sollten „die genossenen Einkünfte à proportion in Geld ersetzet werden“.35 Keith berichtet in seinem Schreiben vom 26. Februar, dass durch den Ukas sämtliche klösterliche Ländereien im gesamten Russischen Reich von der Krone annektiert worden seien und stattdessen eine gewisse Summe für den Unterhalt der Mönche bereitgestellt werde und die Erzbischöfe, Bischöfe und Äbte „certain fixed Pensions“36 erhalten sollten. Mercy-Argenteau berichtet von zwei Ukasen,37 er bezieht sich dabei vermutlich auf Peters Ukas vom 16. Februar und den Entwurf des Senats vom 19. Februar 1762. Peter III. unterschrieb die Vorschläge am 6. März und verkündete den Ukas offiziell am 21. März.38 Zur konkreten Umsetzung wurde das Ökonomiekollegium in Moskau wieder eingerichtet, und zu seinem Leiter ernannte Peter III. den Moskauer Senator Fürst Vasilij E. Obolenskij (ca. 1700 – nach 1769). Aufgabe des Kollegiums war die Konzeption von Anweisungen für die Offiziere, die sich um die Aktivitäten der Bauern und die Übergabe der Erträge kümmern sollten. Nur geeignete und leistungsfähige Offiziere kamen für diese Aufgabe in Betracht. Ihnen wurde Lohn gezahlt und Ration gestellt, um Lasten für die Bauernschaft zu vermeiden. Diese Offiziere sollten zu Verantwortungsträgern eines neuen Steuersystems ausgebildet werden. Es war vorgesehen, in jeder Provinz einen Stabsoffizier einzusetzen und einen ständigen Offizier in jeder Stadt, in der es mindestens 1.000 Bauern gab.39 Gemäß den Bestimmungen des Ukases wurde fortan von den ehemaligen Kirchenbauern, die jetzt den Status von „Ökonomiebauern“, das heißt Staatsbauern, erhielten, eine Geldabgabe erhoben. Sie wurden nun jährlich mit einem Rubel pro Seele besteuert.40 Die Steuer sollte von Beamten des Ökonomiekollegiums eingetrieben werden.41 Von diesen Reformen waren laut Berechnungen 910.866 Bauern

32 33 34 35 36 37 38 39 40 41

Vgl. LEONARD, Reform, S. 19. Mercy-Argenteau, 09.03.1762 (N.S.), in: SIRIO, Bd. 18, Nr. 45, S. 210. Schreiben des Grafen von Mercy-Argenteau, 19.03.1762 (N.S.), in: ebd., Nr. 51, S. 249. Ebd. Schreiben von Robert Keith, 26.02./09.03.1762, in: Public Record Office [im Folgenden: PRO]: State papers foreign, 1577–1782: SP 91 (Russia), SP 91/69: Robert Keith, Bl. 134. Vgl. Mercy-Argenteau, 19.03.1762 (N.S.), in: SIRIO, Bd. 18, Nr. 51, S. 249. Vgl. LEONARD, Reform, S. 81f. Ebd., S. 82f. Vgl. RAEFF, Peter III., S. 226. Vgl. LEONARD, Reform, S. 19.

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männlichen Geschlechts betroffen.42 Auch sollten überhöhte Zahlungen, die die Klosterbediensteten von den Bauern konfisziert hatten, an die Bauern zurückgegeben werden. Der Beschluss des Senats zeigt, dass man sich über die Stellung der Bauern Gedanken machte, dabei spielte vor allem das physiokratische Interesse, dass jeder Bauernhaushalt zahlungsfähig sein müsse, eine Rolle.43 Hier, wie auch anderswo, spiegelten sich die Einflüsse neuer französischer physiokratischer Theorien auf die Reformen Peters III. wider. Die Verordnung förderte Impulse in der Landwirtschaft, während sie gleichzeitig einen rationalistischen Angriff auf die Kirche in Gang setzte. Außerdem trieb sie die Landvermessung voran, die seit den 1750er Jahren durch die Frage des Kirchenbesitzes blockiert worden war. Eines der wesentlichen Merkmale der Politik Peters III. war sein Bemühen um eine Erhöhung der staatlichen Einkünfte. Die Säkularisierung des klösterlichen Landbesitzes und die Reduzierung der Arbeitsdienste dienten dem Ziel, dass die ehemaligen kirchlichen Bauern höhere Abgaben an den Staat zahlen konnten.44 Peters III. Entwurf für die Säkularisierung zeigte eine dezidiert säkulare Denkweise, die eine enorme Veränderung im Gegensatz zur Vergangenheit war:45 Er wies das Recht der Kirche auf Leibeigene und umfangreiche Ländereien vollständig zurück und gab sich nicht damit zufrieden, die Notfallmaßnahmen Peters des Großen zu imitieren, sondern meldete juristische Ansprüche auf das Land der Kirche an.46 Laut Mylnikow war die „Verstaatlichung der Kirche und ihre Unterstellung unter die Kontrolle des Monarchen“47 ein wesentlicher Bestandteil des aufgeklärten Absolutismus, den Peter III. vertrat. Er verband seinen Angriff auf den kirchlichen Landbesitz mit weiteren, ebenfalls nicht ganz neuen Maßnahmen gegen Kirchspielschulen, private Kapellen und die ausufernde Verbreitung von Ikonen. Zudem erließ er am 29. Januar 1762 ein Toleranzedikt für die Altgläubigen.48 Die Finanzpolitik musste eine Lösung für das Defizit bei den Steuereinkünften finden, denn der Betrag, den die Kirche bereit war abzugeben, wurde als unzureichend angesehen. Trotzdem hätte der Kirche vermutlich befohlen werden können, höhere Subsidien bereitzustellen, und ihr erlaubt werden können, das Land zu behalten. Die Ukase zur Säkularisierung waren das Produkt von komplexen und ineinander greifenden steuerlichen, wirtschaftlichen und politischen Absichten. Sie waren das erste Beispiel im 18. Jahrhundert für ein wirkliches Interesse an Agrarreformen.49 Die Umsetzung der Reform verlief recht durcheinander50 und ihre Bekanntmachung im Russischen Reich dauerte sehr lange, so erfuhr man in der sibirischen Gouvernementskanzlei erst Mitte Mai von den Ukasen über die Säkularisierung. 42 43 44 45 46 47 48 49 50

MYLNIKOW, Die falschen Zaren, S. 181. Vgl. LEONARD, Reform, S. 82. Ebd., S. 17–19. Ebd., S. 153. Ebd., S. 19. MYLNIKOW, Die falschen Zaren, S. 103. Vgl. LEONARD, Reform, S. 74. Ebd., S. 84f. Vgl. RAEFF, Peter III., S. 226.

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Das Tobolsker Konsistorium gab die Anordnungen dann Ende Mai weiter, allerdings mit der Änderung, dass die Gelder nicht ab Erscheinungsdatum des Ukases, sondern erst ab September 1762 eingezogen werden sollten. In einigen sibirischen Städten dauerte das Bekanntwerden der Ukase sogar bis Juli 1762.51 Das wiedereingeführte Ökonomiekollegium besaß die Kontrolle über die Einkünfte, alle Kompetenzen lagen bei ihm. Es brachte den Verwaltungsprozess in Gang, legte Steuerkategorien fest und begann mit Bestandsaufnahmen von Kirchenbesitz, einschließlich nicht landwirtschaftlich genutztem Vieh, Getreidereserven und anderen Objekten. Außerdem überführte das Kollegium die kirchlichen Beamten auf die staatlichen Gehaltslistenverzeichnisse. Die Lohnskalen, die es dafür nutzte, stammten aus dem Jahr 1724. Ebenso alt waren die bestehenden Inventare. Nach Abschluss der neuen Bestandsaufnahmen sollten diese überprüft und gegebenenfalls revidiert werden. Bischöfe bekamen gesonderte Gehälter. Klöster wurden in drei Klassen eingeteilt und erhielten Gelder abhängig von der Zahl dort lebender Mönche.52 Die Ökonomiekanzlei des Synods gab ihre Kontrolle über die kirchlichen Einkünfte allerdings erst im späten Frühling auf. Am 27. April forderte der Senat die 1.358 Offiziere, die in Klöstern ansässig waren, dazu auf, mit der Umsetzung der Reform zu beginnen. Weitere Offiziere sollten sie unterstützen. Im Mai und Juni sandte der Senat Offiziere in Gruppen von 20 Personen in verschiedene Provinzen, um die Reform einzuleiten. Den Bauern wurden Mühlen, Salzminen, Werkstätten, Produktionsstätten, Fischzuchten, Getreide, Holz und Land übergeben. Pferde beschlagnahmte man sofort für die Armee. Am 24. Mai übermittelte das Ökonomiekollegium Fragebögen an die Klöster, in denen die Bestandsaufnahmen begannen. Die Fragebögen umfassten zum einen die bäuerliche Bevölkerung (Abgaben, Qualität des Bodens, Zustand der Gebäude) und zum anderen militärische Bewohner (Anzahl, Bildung, Besoldung, Angehörige). Sechs Beamte des Ökonomiekollegiums trafen sich täglich für jeweils sechs Stunden und befassten sich mit Anträgen und den Antworten auf die Fragebögen. Bis zu Peters Sturz waren Katasterverzeichnisse aus Tverʼ, Belgorod, Kursk, Jaroslavlʼ und Teilen Moskaus eingetroffen.53 Die größte Schwierigkeit bei der Umsetzung der Reform war der Widerstand des Klerus. Einige Bistümer und Klöster verheimlichten ihre Vermögenswerte. Da zu wenig Personal vorhanden war, um ihn zu unterdrücken, breitete sich der geistliche Widerstand aus. Klöster verhinderten das Sammeln von Informationen durch Staatsbedienstete und zogen manchmal weiter Abgaben von den Bauern ein oder verlangten von ihnen Arbeitsdienste, so zum Beispiel in St. Petersburg und Pskov. Am 1. Juni stoppte der Senat alle Geldeintreibungen von den Bauern bis zum Ende des Jahres. Ohne die Demobilisierung der Armee war eine schnelle Umsetzung der

51 Vgl. MYLNIKOW, Die falschen Zaren, S. 196f. 52 Vgl. LEONARD, Reform, S. 83. 53 Ebd.

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Reform nicht möglich.54 Peter III. leitete zwar die Demobilisierung vom Siebenjährigen Krieg ein, aber seine geplante Kampagne für Holstein blockierte diesen Prozess, da die Offiziere nicht von der Front heimkehren konnten.55 Zum Ende von Peters Herrschaft hin führten doppelte Machtstrukturen und Besteuerungen zu einigen Bauernunruhen. Ursache für weitere Aufstände war zudem die neue Ungleichheit zwischen den Ökonomiebauern und den Leibeigenen. Viele Leibeigene wollten nicht mehr ihren Herren unterstehen, sondern unter staatliche Kontrolle gelangen, da dann die Abgaben niedriger seien. Entsprechende Forderungen formulierten zum Beispiel über 2.000 Bauern bei einer Revolte in Tverʼ und Klin Ende Mai 1762.56 Der Haupteffekt der Säkularisierung auf kurze Sicht war die Steigerung der staatlichen Einnahmen. Auf diesen Nutzen wies auch Breteuil hin, er schätzte im März 1762, dass durch die Maßnahmen die jährlichen Einnahmen der Krone um 1,5 Millionen Rubel steigen würden.57 Langfristige Effekte waren die Verbesserung der Wirtschaft des ehemaligen kirchlichen Sektors durch die Förderung einer stärker marktorientierten Landwirtschaft sowie die Ausdehnung und Stärkung der Zentralgewalt auf Kosten der Kirche.58 Peter I. habe die Umsetzung der Säkularisierung „niemalen gewaget“59, politische Erwägungen hätten ihn von einem „arrangement aussi dangereux“60 abgehalten. In dieser Einschätzung der Diplomaten klingt schon an, dass gewisse Gefahren mit der Umsetzung der Reform verbunden sein könnten. Mercy-Argenteau spricht in diesem Zusammenhang, etwas vage, von den Folgen, „welche aus diesem Unternehmen für jetzigen Kayser [Peter III.] entspringen können“.61 Die Kirchenhierarchie war verärgert wegen der Säkularisierung des klösterlichen Landbesitzes und anderer religiöser Maßnahmen Peters III.62 Dies hatte Mercy-Argenteau in Bezug auf die hohe Geistlichkeit bereits im März vorausgesehen: Er stellt fest, dass durch die Reform „Bischöfe und Erzbischöfe sehr zu Schaden kommen werden“.63 Breteuil sieht mehrere Faktoren als Gefahr für Peter III. an. Er spricht davon, dass die Säkularisierung und andere Maßnahmen zusammen mit der Unzufriedenheit über Peters III. Verhalten gegenüber seinen Verbündeten im Siebenjährigen Krieg „pouroient avec le tems et lʼaide de lʼImperatrice, avoir leur effet“.64

54 55 56 57 58 59 60 61 62 63 64

Ebd. Ebd., S. 150. Ebd., S. 83f. Vgl. Breteuil, 15.03.1762 (N.S.), in: CPR, Bd. 68, Bl. 327. Vgl. LEONARD, Reform, S. 19. Mercy-Argenteau, 09.03.1762 (N.S.), in: SIRIO, Bd. 18, Nr. 45, S. 210. Breteuil, 15.03.1762 (N.S.), in: CPR, Bd. 68, Bl. 327. Mercy-Argenteau, 09.03.1762 (N.S.), in: SIRIO, Bd. 18, Nr. 45, S. 210. Vgl. RAEFF, Peter III., S. 226. Mercy-Argenteau, 19.03.1762 (N.S.), in: SIRIO, Bd. 18, Nr. 51, S. 249. Breteuil, 15.03.1762 (N.S.), in: CPR, Bd. 68, Bl. 327.

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Breteuils Voraussage vom März sollte sich im Sommer bewahrheiten: Peter III. wurde in einem Staatsstreich zu Fall gebracht. Etliche Mitglieder des Klerus beteiligten sich an diesem Staatsstreich,65 aber die Kirchenhierarchie war nicht die treibende Kraft beim Sturz Peters III., dafür hatte sie schon zu viel von ihrer Macht und Autorität eingebüßt.66 Nicht allein die Säkularisierung, sondern eine Vielzahl sich bündelnder Faktoren führte zur Absetzung des Zaren. Er hatte durch die Säkularisierung des Kirchenbesitzes nicht nur den Zorn der orthodoxen Kirche auf sich gezogen, sondern insgesamt eine Politik betrieben, die wenig Akzeptanz fand, auch weil es ihm nicht gelang, „sich mit den führenden Kräften in Armee und Verwaltung zu arrangieren“.67 Die Diplomaten nannten ebenfalls mehrere Faktoren, darunter auch die Säkularisierung, als Grund für Peters Sturz. Robert Keith führt diesen zum Beispiel darauf zurück, dass er der Kirche ihre Ländereien weggenommen und den Klerus vernachlässigt habe, und zwar in einer Situation, nachdem er gerade die russischen Eroberungen aus dem Siebenjährigen Krieg geopfert hatte und einen neuen Feldzug gegen Dänemark wegen des für Russland unbedeutenden Herzogtums Schleswig plante.68 Der französische Geschäftsträger Laurent Bérenger (1726/28–1795) führt aus, dass Peter sich nicht damit begnügte, der Religion seines Thrones abzuschwören, sondern er habe darüber hinaus seine Untertanen dazu gezwungen, an Zeremonien eines fremden Kultes teilzunehmen. Er bezieht sich dabei auf die Weihe einer protestantischen Kapelle in Oranienbaum.69 Mercy-Argenteau berichtet schon vor Peters Entmachtung von einem Konflikt zwischen Peter und dem Novgoroder Erzbischof wegen der geplanten protestantischen Kapelle in Oranienbaum,70 und nach seinem Sturz meint er, dass Peter verhasst gewesen sei, weil er „die geistlichen Güter eingezogen“71 habe. Als weitere Gründe für den Sturz führt er die Reorganisation der Armee, Peters Verhalten gegenüber Katharina und sein „unordentliches Leben“72 auf. In ihrem ersten Thronbesteigungsmanifest vom 28. Juni 1762 begründete Katharina II. den Staatsstreich mit der Gefahr für den griechisch-orthodoxen Glauben

65 Vgl. LEONARD, Reform, S. 84. 66 Vgl. RAEFF, Peter III., S. 226f. 67 HÜBNER, Eckhard, Zar Peter III., in: Kiel, Eutin, St. Petersburg. Die Verbindung zwischen dem Haus Holstein-Gottorf und dem russischen Zarenhaus im 18. Jahrhundert. Politik und Kultur. Ausstellung zum 150jährigen Bestehen der Kreisbibliothek Eutin (Schriften der SchleswigHolsteinischen Landesbibliothek, 2), hrsg. von Dieter LOHMEIER, Heide 1987, S. 49–53, hier S. 50. 68 Vgl. Schreiben von Robert Keith, 01./12.07.1762, in: PRO: SP 91/70, Bll. 41f. 69 Vgl. Schreiben von Laurent Bérenger, 02./13.07.1762, in: SIRIO, Bd. 140, St. Petersburg 1912, Nr. 1, S. 1. 70 Vgl. Schreiben des Grafen von Mercy-Argenteau, 18.06.1762 (N.S.), in: SIRIO, Bd. 18, Nr. 72, S. 391f. 71 Schreiben des Grafen von Mercy-Argenteau, 24.07.1762 (N.S.), in: ebd., Nr. 93, S. 465. 72 Ebd.

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und dem Schaden für den Ruf Russlands durch den Frieden mit Preußen.73 In ihrem späteren Manifest vom 6. Juli verlagerte Katharina die Begründung für den Staatsstreich mehr auf den Krieg mit Dänemark, den Peter geplant hatte, und auf seine persönliche Verachtung der Landestraditionen. Diese Veränderung war notwendig, da Katharina größtenteils seine Außen- und Innenpolitik beibehielt.74 Laut Leonard ist der Erfolg der Säkularisierung des klösterlichen Landbesitzes daran abzulesen, dass das folgende Regime entschlossen war, diese aufrechtzuerhalten.75 Als Katharina an die Macht kam, widerrief sie die Säkularisierung nicht sofort, sondern unternahm über einen Monat nichts. Inhaltlich sympathisierte Katharina mit den Reformern. Am 24. Juli hörte sie sich in einer gemeinsamen Sitzung von Senat und Synod die Argumente beider Seiten an. Am 12. August verkündete sie dann die Schließung des Ökonomiekollegiums und die Rückgabe des Grundbesitzes. Allerdings kündigte sie gleichzeitig die Einrichtung einer Kommission aus säkularen und klerikalen Mitgliedern an, die die Angelegenheit der Besteuerung zu einem Abschluss bringen sollte. Katharinas Anordnungen bedeuteten eine Rückkehr zu der doppelten Autorität der 1740er Jahre, als sowohl säkulare als auch kirchliche Dienststellen von den Bauern Abgaben verlangten. Dagegen regte sich Protest und Widerstand der Bauern, es kam zu zahlreichen Bauernunruhen, die sich im Jahr 1763 fortsetzten. Die von Katharina II. angekündigte Kommission wurde am 29. November 1762 eingesetzt und sollte unter anderem weitere Fragebögen verschicken, um die Inventare zu vervollständigen. Mitglieder der Kommission waren ein Erzbischof und vier Beamte. Das Ökonomiekollegium wurde im Mai 1763 wieder eingeführt. Bestimmte Güter wurden in diesem Jahr besteuert, auf ihnen lebten ca. 160.000 Bauern. Erst nach der Komplettierung der Inventare im Jahr 1764 unternahm Katharina weitere Aktionen.76 Die Säkularisierung des Kirchenbesitzes wurde 1764 von Katharina vollendet. Am 16. Februar 1764 erließ die Zarin eine Verordnung, die die Bestimmungen von Peters Ukas übernahm. Allerdings waren die Gehälter der Geistlichen angehoben worden und die Klöster durften einen Teil des Landes behalten, der in den meisten Fällen ausreichte, ihre Ausgaben abzudecken. Darüber hinaus wurde die Kirchenhierarchie in ihrer Position bestätigt. Daher gab es von Seiten des Klerus nur wenig Widerstand gegen die Säkularisierung. Auch pensionierte Offiziere wurden gut versorgt, man richtete für sie spezielle Hospitäler und Häuser ein. Mit Blick auf die Bauern und ihr Land wurde der Wortlaut dahingehend geändert, dass das Land nicht an die Bauern gehen, sondern vom Ökonomiekollegium übernommen werden sollte. Anfangs unterschied man eindeutig zwischen Ökonomiebauern und Staats-

73 Manifest „O vstuplenii na Prestol Imperatricy Ekateriny II“, 28.06.1762, in: Zakonodatelʼstvo Imperatora Petra III, 1761–1762 gody/Zakonodatelʼstvo Imperatricy Ekateriny II, 1762–1782 gody, hrsg. von Vladimir A. TOMSINOV, Moskau 2011, S. 21. 74 Vgl. LEONARD, Reform, S. 138. 75 Ebd., S. 19. 76 Ebd., S. 85f.

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bauern, da erstere unter Aufsicht des Ökonomiekollegiums stehen sollten. Katharina erließ Vorschriften zur Verwaltung von Ökonomiegütern, aber das Experiment endete 1784, als das Kollegium geschlossen wurde.77 Die Geldabgabe der Bauern wurde um 50 Prozent auf 1,5 Rubel pro Kopf erhöht. Dies brachte jährliche Einkünfte von 1.366.000 Rubel und, nach Abzug von Gehältern und anderen Ausgaben, einen Nettogewinn von 903.430 Rubel. Die Landzuweisungen für die Bauern verbesserten sich durch die Säkularisierung deutlich. Vorher hatten sie zwischen 0,6 und zwei Desjatiny78, nun hatten Bauern auf Ökonomiegütern durchschnittlich zwischen 5 und 34 Desjatiny (je nach ihrem Anteil an Waldgebieten) zur Verfügung. Das entsprach in etwa den Landzuweisungen an die Leibeigenen.79 Auch wenn Katharina II. jeden Bezug zu Peter III. explizit vermied – in ihrem Ukas wurden als historische Begründung ihre Vorgänger Aleksej, Peter I., Katharina I., Anna und Elisabeth genannt, aber nicht Peter III.80 –, so haben die Maßnahmen unter seiner Regierung dennoch den grundlegenden Rahmen abgesteckt. Die Reform konnte nach seinem Sturz nicht mehr gestoppt werden, da es einen breiten Konsens darüber am Hof gab und die Bauern erheblichen Widerstand leisteten. Die beiden Ukase unterschieden sich kaum voneinander, außer bei der Verteilung von Geldern.81 Die Säkularisierung in Russland war größtenteils eine bürokratische Reform, von der vor allem der Staat und weniger der Adel profitierte. Der steuerliche Zweck der Reform machte die private Ausbeutung der Ökonomiebauern unmöglich. Die Motive für die Reform waren Antiklerikalismus und ein ungewöhnlich hoher Finanzbedarf. Die endgültige Verordnung durchlief drei Revisionen: durch die Konferenz und den Senat Elisabeths, dann durch den Senat und die Synodalkanzlei unter Peter III. und schließlich durch die Kommission über Kirchengüter unter Katharina II. Der erste Vorschlag spiegelte den Reformelan innerhalb der Bürokratie wider, in dessen Rahmen physiokratische Ideen in Verbindung mit zahlreichen Projekten zur Reform der Steuern diskutiert wurden. Die zweite Phase unter Peter III. führte zu konkreten Reformmaßnahmen, dem Beschluss vom 16. Februar, bekräftigt durch den Ukas vom 21. März 1762. Die dritte Phase begann mit einem Widerruf, endete dann aber mit Katharinas eigenem Ukas vom 16. Februar 1764.82 Warum dauerte es so lange, bis die Säkularisierung umgesetzt wurde, obwohl es dafür in Regierungskreisen seit den 1750er Jahren eine eindeutige Mehrheit gab? Die Hauptgründe hierfür waren Elisabeths Mangel an Führungsstärke und Durchsetzungsvermögen, der Krieg, der innerstaatliche Angelegenheiten behinderte, und 77 78 79 80

Ebd., S. 86f. Altes russisches Flächenmaß, etwas mehr als ein Hektar. Vgl. LEONARD, Reform, S. 87. Vgl. KATHARINA II., Erlaß über die Säkularisierung des Klosterbesitzes, in: Die Orthodoxe Kirche in Rußland, S. 445–448. 81 Vgl. LEONARD, Reform, S. 88. 82 Ebd., S. 88f.

Die Säkularisierung des klösterlichen Landbesitzes unter Zar Peter III.

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der Konflikt zwischen der Hauptstadt und dem ländlichen Raum, in dem die kirchliche Autorität sehr stark war. Insofern trug die Säkularisierung auch zur Ausweitung und Stärkung der zivilen, lokalen Verwaltung bei.83 Für Carol Leonard ist die Reform von 1762 ein „landmark in Russian political history“.84 Auch wenn russische Herrscher bereits seit dem 15. Jahrhundert darüber nachdachten, die weltliche Kontrolle über kirchliche Ländereien einzuführen, bekam die Säkularisierung erst unter Peter III. und Katharina II. eine umfassendere Bedeutung. Sie führte zur Veränderung des Eigentumsrechts und zur Umstrukturierung des gesellschaftlichen Wohlstandes.85 Sie markierte einen entscheidenden Wandel, der wichtige Hemmnisse für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung aufhob. So gab die Lösung der jahrhundertelangen Auseinandersetzung über das kirchliche Eigentumsrecht einem großen Teil der Bauern neue ökonomische Anreize und legte die Basis für ein stärkeres Netzwerk von lokalen Märkten.86 Diese langfristige Bedeutung sahen die zeitgenössischen Diplomaten in ihren Berichten über die Säkularisierung noch nicht. Sie konzentrierten sich stattdessen in ihren Berichten vor allem auf die Wurzeln der Reform, auf die kurzfristigen Folgen für die russischen Staatsfinanzen und auf mögliche problematische Konsequenzen für Peter III.

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Ebd., S. 89. Ebd., S. 88. Ebd., S. 88f. Ebd., S. 39.

„EIN KLEID SCHNEIDERN, DAS FÜR ALLE PASST“? KATHARINA II. UND DIE RELIGIONEN DES RUSSLÄNDISCHEN IMPERIUMS IN DER ZWEITEN HÄLFTE DES 18. JAHRHUNDERTS1 Jan Kusber Im Sommer 1767 begab sich Katharina II. an die mittlere Wolga. Aus Kazanʼ schrieb sie an ihren Briefpartner Voltaire: Ich bin nun also in Asien; ich wollte es einmal mit eigenen Augen sehen. In dieser Stadt gibt es zwanzig verschiedene Völker, die sich überhaupt nicht ähnlich sind. Und doch muss man ihnen ein Kleid schneidern, das für alle passt. Allgemeine Grundsätze lassen sich leicht aufstellen. Aber im Detail steckt der Teufel. Und um welche Details geht es hier? Es gilt, fast eine Welt zu schaffen, zu vereinen und zu bewahren. Damit komme ich nie zu einem Ende, es gibt einfach zu viele Schnittmuster.2

Dieses Zitat enthält durchaus Grundsätzliches zum politischen Programm dieser aufgeklärten Herrscherin. Aufgeklärte Politikplanung auf Basis von Kenntnissen über ihre Untertanen war ihr Ziel. Die Reise nach Kazanʼ steht ebenso in diesem Kontext wie jene auf die Krim zwanzig Jahre später. Nachdem 1783 der letzte Nachfolgestaat der Goldenen Horde nach einem erfolgreichen Türkenkrieg ohne nennenswerten Widerstand der Osmanen kurzerhand annektiert worden war, zog die Zarin in Bachčisaraj, dem Sitz der Krimkhane, glanzvoll ein.3 Was Katharina auf ihrer Reise an die Wolga und auf die Krim interessierte, war nicht vorrangig der Islam. Sie wollte ihre neuen Untertanen kennenlernen und zwar in ihren spezifischen lebensweltlichen Kontexten. „Ein Kleid schneidern, das für alle passt“, hatte sie an Voltaire geschrieben. Das meinte Zentralisierung durch Vereinheitlichung der Verwaltung und Abgabenarten sowie Bildung des Einzelnen zu einem sich individuell weiterentwickelnden Staatsbürger, der wiederum dem Ganzen dienen sollte. Die Religion war hierbei ein 1 2

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Dieser Aufsatz, Ludwig Steindorff in Erinnerung an Kieler Jahre herzlich zugeeignet, ist eine Vorstudie im Zusammenhang einer entstehenden Biografie Katharinas II. von Russland, über deren Ansichten zur Armut Ludwig Steindorff in seiner Kieler Antrittsvorlesung sprach. Katharina an Voltaire aus Kazanʼ, 29.05./09.06.1767, in: Katharina die Große – Voltaire, Monsieur – Madame. Der Briefwechsel zwischen der Zarin und dem Philosophen, hrsg. von Hans SCHUMANN, Zürich 1991, S. 54f.; Sbornik Imperatorskogo Russkogo Istoričeskogo Obščestva [im Folgenden: SIRIO], Bd. 19, St. Petersburg 1876, S. 204; ähnlich auch aus Kazan’ an Nikita Panin (31.05.1767), in: SIRIO, Bd. 10, St. Petersburg 1872, S. 206. GRIFFITHS, David M., Catherine II discovers the Crimea, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 56 (2008), S. 339–348.

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Mittel der Politik, das diesem „Kleid“ eine gewisse Bequemlichkeit geben sollte. In eben jenem Jahr 1767 ließ die Kaiserin ihre „Große Instruktion“ für die Gesetzbuchkommission zum Druck bringen. Darin formulierte sie, dass die Bequemlichkeit des „Kleides“ in einem gewissen Maß an Toleranz bestehe: In einem Staat wie dem unseren, in dem die Herrschaft über so viele unterschiedliche Nationen ausgeübt wird, es zu verbieten oder nicht zu erlauben, sich auf verschiedene Weisen der Religion zu bekennen, würde sehr stark den Frieden und die Sicherheit der Untertanen gefährden […]. Es ist deshalb sinnvoll, eine zuversichtliche Tolerierung anderer Religionen zu unternehmen, die nicht unserer Autokratie, der orthodoxen Religion und Politik entgegenstehen.4

Betrachtet man dieses Dokument als eine Art Regierungserklärung der Kaiserin, so war Toleranz die Elle, an der Katharina ihre Politik gegenüber den Religionen gemessen wissen wollte. Schließlich ließ sie diese Instruktion nicht nur in Russland unter denen verbreiten, die über das neue Gesetzbuch für das Zarenreich beraten sollten, sondern zugleich auch mehrsprachig innerhalb Europas. In dem folgenden Beitrag möchte ich Katharinas Verhältnis zu den Religionen des Russischen Reiches diskutieren. Damit meine ich nicht zuvorderst Katharinas eigene Religiosität und die oft aufgeworfene Frage, ob ihre ostentative Befolgung des orthodoxen Kirchenkalenders – zumindest im ersten Jahrzehnt ihrer Herrschaft − aus innerem Glauben heraus erfolgte oder aus Gründen der Absicherung ihrer eigenen Position – zunächst als Großfürstin am Hofe der Kaiserin Elisabeth und dann als Usurpatorin auf dem Thron. Erich Bryners Feststellung, dass die Achtung der Orthodoxie in diesem Sinne „ein Gebot staatspolitischer Klugheit“ war, ist nach wie vor zutreffend.5 Ein bewusster Konfessionswechsel war ihr nicht fremd und sie hatte eine Vorstellung davon, was dies persönlich bedeuten konnte. Ihr Vater hatte ihr, als sie nach Russland aufbrach, um den russischen Thronfolger zu heiraten, das Luthertum ans Herz gelegt und versuchte, noch während sie sich 1744 auf die Konversion vom Luthertum zur Orthodoxie vorbereitete, auch schriftlich weiterhin auf sie einzuwirken, ihren lutherischen Glauben zu bewahren.6 Ich frage auch nicht, ob die Betonung der Toleranz gegenüber Andersglaubenden und Andersdenkenden zu einer Schere zwischen Anspruch und Realpolitik führte, wie es in der älteren Forschung gemacht wurde. Diese Frage ist natürlich zu bejahen, auch wenn das Spiel

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Zit. nach Documents of Catherine the Great. The Correspondence with Voltaire and the Instruction of 1767 in the English Text of 1768, hrsg. von William F. REDDAWAY, Cambridge 1931, S. 289. B RYNER, Erich, „Respecter la religion, mais ne la faire entrer pour rien dans les affaires dʼ Etat“. Die orthodoxe Kirche als staatstragendes Element unter Katharina II., in: Rußland zur Zeit Katharinas II. Aufklärung – Absolutismus − Pragmatismus (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 26), hrsg. von Eckhard HÜBNER, Jan KUSBER und Peter N ITSCHE, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 151–167, hier S. 152. Zumindest in der Rückschau bezeichnete Katharina in ihren Memoiren den lutherischen Glauben als „den strengsten und am wenigsten toleranten, den es gibt“; vgl. Memoiren der Kaiserin Katharina II., hrsg. von Erich B OEHME, Frankfurt a.M. 1996, S. 67.

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mit den Gedankenwelten der Aufklärung den Abgleich mit den imperialen Lebenswelten von der Ostsee bis zum Pazifik besonders scharf kontrastiert.7 Mir geht es vielmehr um die Funktion, die ihre Religionspolitik in den mehr als drei Dekaden ihrer Herrschaft hatte. Natürlich mögen bei ihrer Religionspolitik auch Fragen des Glaubens und der Religiosität eine Rolle gespielt haben, auf die ich zurückkommen werde. Die These dieses Beitrages ist aber für dieses ebenso wie für andere Politikfelder, dass Katharinas Politikverständnis ein politisch-pragmatisches war und dass für sie der Umgang mit den Religionen und Konfessionen in das Feld der Gestaltung von Staat-Untertan-Beziehungen gehörte. In ihrer berühmten Instruktion wurde an verschiedenen Stellen Respekt vor der Orthodoxie eingefordert. Einerseits sollte das die Geistlichkeit beruhigen, die bei Fragen der Politik gegenüber anderen Konfessionen und Religionen, wie notabene auch bei der Konzeption von Bildungseinrichtungen, während der ganzen katharinäischen Epoche nur am Rande beteiligt wurde und mehrheitlich der Rezeption der Aufklärung skeptisch gegenüberstand. Andererseits hatte Katharina selbst ihre Thronbesteigung auch mit dem „Respekt vor der Orthodoxie“ begründet.8 Die wiederholte Erwähnung diente damit ebenso der eigenen Herrschaftslegitimation wie der Festigung der staatlichen Strukturen durch die Betonung traditioneller Elemente. Die Gesetzbuchkommission, die wenige Monate später in Moskau zusammentrat, war auch ein Kaleidoskop der Religionen und Konfessionen. Die Delegierten, die gewählt worden waren, spiegelten die religiöse und konfessionelle Vielfalt des Imperiums wider. Eine orthodoxe Dominanz schien nicht aufzutreten: Die orthodoxe Geistlichkeit war dort nur über die Behörde des Heiligen Synods vertreten. Ihre Stellung war nicht die eines separaten Standes innerhalb des viel diskutierten imperialen soslovie-Systems. Die Geistlichen wurden von Katharina als Staatsdiener betrachtet, die ja seit den Tagen Peters des Großen einen Untertaneneid zu leisten hatten, der sie zur Loyalität gegenüber dem Staat verpflichtete.9 Von den über 400 Delegierten waren etwa 55 islamischen Glaubens, und so verwundert es nicht, dass es in der Gesetzbuchkommission zu einer Debatte über die Frage kam, ob man islamische Moscheen erlauben solle oder nicht. Viele Delegierte gratulierten Katharina zu einer Politik, die eine gewaltsame Konversion islamischer Untertanen verbieten sollte und somit einen Bruch mit der Zwangspolitik ihrer Vorgängerinnen

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Zur andauernden Diskussion im europäischen Kontext: Der aufgeklärte Absolutismus, hrsg. von Karl Otmar Freiherr VON ARETIN, Köln 1974; Enlightened Absolutism. Reform and Reformers in Later Eighteenth-Century Europe, hrsg. von Hamish M. SCOTT, Ann Arbor 1990; Der aufgeklärte Absolutismus im europäischen Vergleich, hrsg. von Helmut REINALTER und Harm K LUETING, Wien 2002. Vgl. das Manifest aus Anlass ihrer Thronbesteigung vom 18.06.1762, in: Polnoe Sobranie Zakonov Rossijskoj Imperii. Sobranie Pervoe [im Folgenden: PSZ], Bd. 16, St. Petersburg 1830, Nr. 11.582, S. 1f. Neuabdruck in: Put’ k tronu. Istorija dvorcovogo perevorota 28 ijunja 1762 goda (Russkie memnary, 1), hrsg. von Gajra A. VESELAJA, Moskau 1997, S. 490f. PSZ, Bd. 6, St. Petersburg 1830, Nr. 4012 (17.05.1722), S. 685–689.

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− insbesondere mit jener der Kaiserin Elisabeth10 − markierte. Auch lobte man ihre Toleranzpolitik gegenüber den Altgläubigen. Dass sie diese Toleranz nutzte, um ihr Land zu peuplieren, wurde bereits aus ihren in Deutschland und andernorts teils unter der Hand verbreiteten Anwerbungsmanifesten der Jahre 1762 und 1763 deutlich. Unabhängig von deren Bekenntnissen lud sie Menschen nach Russland ein und wandte sich de facto vor allem an Protestanten und Reformierte.11 Das Baltikum erschien ihr in diesem Kontext als ein Experimentierfeld des Zusammenlebens von Konfessionen und Religionen, das an bestimmte rechtliche Rahmenbedingungen gebunden war, die seit der Eroberung der baltischen Provinzen im Frieden von Nystad (1721) fixiert waren.12 Aber ihre Religionspolitik war nicht frei von Ambivalenzen und keineswegs so konsistent und tolerant, wie sie sie selbst wahrgenommen haben wollte. Zwar versuchte sie 1762 in der Tat, den Bruch zwischen der orthodoxen Staatskirche und den Altgläubigen zu verhindern, indem sie den Altgläubigen erlaubte, ihren Glauben auch in der Öffentlichkeit ohne Einschränkung zu leben.13 Dies war jedoch, in anderer Weise als bei den Anwerbungsmanifesten, funktional gedacht. Über diese frühe Betonung der Toleranz plante sie perspektivisch, die Altgläubigen in die Staatskirche zurückzuholen, weil sie es nicht dulden wollte, dass sich diese große Gruppe letztlich der staatlichen Kontrolle entzog. Bei Verweigerung konnte sie auch zu drastischen Maßnahmen greifen. Als die Altgläubigen sich in den folgenden Jahren ihrem Ansinnen verweigerten, ließ sie 20.000 von ihnen nach Sibirien verbannen. Mehr als zwanzig Jahre später jedoch hatte Katharina ihre Haltung wiederum geändert. Altgläubigen wurde in der Gnadenurkunde für die Städte von 1785 erlaubt, für Wahlämter zu kandidieren.14 Nach der Französischen Revolution stellte sie freilich die Altgläubigen unter besondere Beobachtung und ließ einige ihrer führenden Geistlichen verfolgen,15 wobei sie den Altgläubigen weniger vorwarf, gegen die Orthodoxie zu opponieren, als mehr gegen den Staat. Auch in Bezug auf den Islam lässt sich festhalten, dass die Herstellung von Kontrolle Vorrang vor Toleranz hatte. Im ersten Jahrzehnt ihrer Herrschaft hatte 10 Siehe Elisabeths Ukas in: PSZ, Bd. 11, St. Petersburg 1830, Nr. 8664 (18.11.1742), S. 719f. 11 Erst im Zuge der Kriege gegen das Osmanische Reich und der Annexion der Krim gerieten auch „Balkanchristen“ und Armenier als Siedler in den Blick; vgl. B ARTLETT, Roger P., Human Capital. The Settlement of Foreigners in Russia 1762–1804, Cambridge u.a. 1979, S. 109– 142. 12 Schon 1710 war einerseits den Orthodoxen freie Religionsausübung zugesagt, andererseits auch die Garantie der Augsburger Konfession und der landeskirchlichen Rechte gegeben worden; vgl. NOLTE, Hans-Heinrich, Religiöse Toleranz in Rußland 1600–1725 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft, 41), Göttingen 1969, S. 105f. Als notabene Ivan IV. im Livländischen Krieg danach trachtete, das Baltikum zu erobern, garantierte er 1558 Katholiken und Protestanten in Narwa und Dorpat freie Religionsausübung; vgl. ANGERMANN, Norbert, Studien zur Livlandpolitik Ivan Groznyjs (Marburger Ostforschungen, 32), Marburg 1972, S. 53–65. Livland, Estland und in geringerem Maße auch Kurland waren interessante Zielorte der Migration für Altgläubige. 13 R AEFF, Marc, Catherine the Great. A Profile, New York 1972, S. 294. 14 HOSKING, Geoffrey, Russia: People and Empire 1552–1917, Harvard 1997, S. 237. 15 DE MADARIAGA, Isabel, Russia in the Age of Catherine the Great, London 1981, S. 110–121.

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Katharina es für eine Strategie gehalten, den muslimischen Adligen − etwa jenen der Wolgaregion − zu verbieten, orthodoxe Bauern als Leibeigene zu besitzen. Und sie hatte Geldanreize dafür geboten, wenn die muslimischen Großen zur Orthodoxie zu konvertieren bereit waren.16 Dies war durchaus eine gewaltfreie Verlängerung der Politiklinie Elisabeths und auch wenn die muslimischen Deputierten der Gesetzbuchkommission in dieser Frage Gleichberechtigung einforderten und sich darüber hinaus andere Deputierte für eine Tolerierung des Islam ausgesprochen hatten, änderte sich an der Praxis der Bauern, Moscheen anzugreifen, um ihre muslimischen Grundherren zu treffen, nur wenig. Im Jahre 1773 erließ der Synod das in der Forschung sogenannte „Toleranzedikt“, das eben jene Leitlinie der „Großen Instruktion“ aufgriff. In ihm stellte der Synod fest, dass die Frage der Toleranz insbesondere durch die muslimische Reaktion gegen bestehende Restriktionen beim Bau von Moscheen aufgeworfen worden war. Da, wie das Edikt feststellte, Gott alle Glaubensrichtungen, alle Religionen auf Erden toleriert, ist es der Wille Ihrer kaiserlichen Majestät, auch allen Bekenntnissen […] zu erlauben [nach ihren Wünschen zu leben], dass alle Ihre Untertanen in Harmonie leben.17

Solche Edikte lagen im Zuge der Zeit. Auch Katharinas Peer Group der Fürsten und Monarchen – man denke an Joseph II., mit dem sie sich verglich – beschäftigte sich mit Fragen solcher Art. Im imperialen Kontext ging es zuvorderst um die Tolerierung des Islam, zu der vor allem die orthodoxe Geistlichkeit instruiert wurde. Sie wurde angehalten, den Widerstand gegen den Bau von Moscheen aufzugeben und sich „nicht in muslimische Fragen oder in den Bau ihrer Gotteshäuser einzumischen.“ Auch das Verbot von Pilgerfahrten nach Mekka, die insbesondere ein Wunsch der wohlhabenden muslimischen Oberschicht waren, wurde aufgehoben. Es gab also nach diesem Edikt von 1773 eine Abkehr von der aktiven Mission der Orthodoxie; es wurden aber ebenso die muslimischen Mullahs daran erinnert, dass Proselytenmacherei nach dem Gesetzbuch von 1649 bei Todesstrafe verboten war.18 Das Edikt von 1773 markierte den Beginn einer neuen Periode von Beziehungen − nicht zwischen der orthodoxen Kirche und dem Islam, sondern zwischen dem Staat und dem Islam in Form einer „friedlichen Koexistenz“, solange die Loyalität zum Staat und zur Autokratie gegeben war. Islam und Orthodoxie wurden nach den Plänen Katharinas in den Siedlungsgebieten der Tataren, später auch auf der Krim, unter dem gleichen Rechtsstatus verhandelt. Im Jahre 1785 genehmigte Katharina in diesem Sinne eine finanzielle Unterstützung für den Bau neuer Moscheen und neuer urbaner Siedlungen. Hierbei handelte es sich um einen weiteren Versuch, die alte und neue Peripherie im Süden ihres Reiches in das staatliche System mit einzubeziehen und zu kontrollieren. Muslimische Gruppierungen, die nomadisierten, 16 F ISHER, Alan W., Enlightened Despotism and Islam under Catherine II, in: Slavic Review 27 (1968), S. 542–553, hier S. 543f. 17 PSZ, Bd. 19, St. Petersburg 1830, Nr. 13.996 (17.06.1773), S. 775f. 18 F ISHER, Enlightened Despotism, S. 547.

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sollten sesshaft werden und, dies war physiokratisch gedacht, als Bauern zur Entwicklung der Landwirtschaft beitragen.19 Und wie Peter der Große durch die Einrichtung des Synods beabsichtigt hatte, der orthodoxen Kirche die institutionelle Selbstständigkeit zu entziehen, so ging es seiner ideellen Erbin, wie sie sich selbst sah,20 um eine ähnliche Einbeziehung der muslimischen Geistlichkeit. 1788 ließ sie die „Muselmanische geistliche Versammlung“ in Orenburg gründen, die die spirituelle, aber in manchen Bereichen auch rechtliche Kontrolle über den Islam in Sibirien, in der Wolga-Uralregion und in Teilen Zentralasiens inklusive der Kasachensteppe haben sollte. Ihre Mitglieder wurden vom Staat bezahlt und von der Intention her damit so etwas wie staatliche Amtsträger.21 Das hinderte jedoch den Mufti und obersten Geistlichen Muchammed-žan Chusainov nicht daran, eine eigene politische Rolle für sich und seine Institution zu beanspruchen. Mehrfach traf er Katharina in St. Petersburg und leitete hieraus seine regionale Autorität ab. Die lokale russische Administration begann sich jedoch, an Katharinas Großkanzler Aleksandr Bezborodko mit der Bitte zu wenden, den Einfluss des Mufti zu begrenzen,22 und so hatte er sich auf die Wahrnehmung seiner geistlichen Aufgaben zu beschränken. Rechtlich wurde er jedoch eingeordnet wie ein Metropolit und er behielt seinen Posten bis zu seinem Tode im Jahre 1824. Schon in der katharinäischen Epoche arbeitete er mit der Versammlung daran, die islamischen Schulen in das säkulare Schulwesen zu integrieren, welches Katharina II. mit dem Schulstatut von 1786 zu schaffen gedachte.23 Auch dies war ein weiterer Schritt zum Vordringen des Staates in der Fläche und zur Heranziehung loyaler muslimischer Untertanen. Toleranz bedeutete nicht reziproke Gleichheit vor dem Gesetz, schon gar nicht bezüglich der Handlungsmöglichkeiten der jeweiligen religiösen Gruppe. Dies mussten, mehr noch als die Altgläubigen, die Juden im Imperium erfahren. War das Zarenreich vor 1772, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ein Fallbeispiel für eine tiefe Judenfeindschaft ohne Juden,24 so erhielt es mit den Teilungen Polen-Litauens

19 CONERMANN, Stephan, Expansionspolitik im Zeichen des Aufgeklärten Absolutismus? Katharina II. und die Krimtataren, in: Rußland zur Zeit Katharinas II. Absolutismus – Aufklärung – Pragmatismus (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 26), hrsg. von Eckhard HÜBNER, Jan KUS BER und Peter N ITSCHE , Köln/Weimar/Wien 1998, S. 337–359, hier S. 339. 20 D IXON, Simon, Catherine the Great. Profiles in Power, London 2001, S. 46. 21 F ISHER, Enlightened Despotism, S. 546; CREWS, Robert D., For Prophet and Tsar. Islam and Empire in Russia and Central Asia, Harvard 2009, S. 23, 93f. 22 AZAMATOV, Danil D., The Muftis of the Orenburg Spiritual Assembly in the 18th and 19th Centuries. The Struggle for Power in Russiaʼs Muslim Institution, in: Muslim culture in Russia and Central Asia from the 18th to the early 20th centuries, Vol. 2: Inter-Regional and InterEthnic Relations, hrsg. von Anke von K UGELGEN, Michael KEMPER und Allen J. FRANK, Berlin 1998, S. 355–384, hier S. 356f. 23 DE MADARIAGA, Russia in the Age, S. 508–511. 24 HECKER, Hans, Juden im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Polen und Russland. Versuch eines Vergleiches, in: Zwischen Christianisierung und Europäisierung (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 51), hrsg. von Eckhard HÜBNER, Ekkehard K LUG und Jan KUSBER, Stuttgart 1998, S. 251–267, hier S. 261–265.

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eine zunächst etwa 400.000 Personen starke jüdische Bevölkerungsgruppe.25 Katharina war aus jenen Gründen, die das Denken der „Großen Instruktion“ sowie des „Toleranzediktes“ gegenüber den Muslimen geleitet hatten, bereit, den Juden freie Religionsausübung und auch ökonomische Betätigung zu gewähren − auch wenn sie gelegentlich äußerte, dass die russischen Kaufleute den jüdischen an Geschäftssinn unterlegen seien und damit ein gängiges Stereotyp reproduzierte.26 Als Pächter und Schankwirte nahmen Juden in den annektierten Territorien eine wichtige Position ein. 1764 hatte Katharina in den Formulierungen verdeckt, aber erkennbar auch die Juden eingeladen, im Süden Russlands zu siedeln.27 1780 gewährte sie den jüdischen Kaufleuten bei entsprechendem Steueraufkommen, sich in die Kaufmannsgilden einschreiben zu lassen, und mit der Gnadenurkunde für die Städte wurden sie innerhalb der Stadt den Stadtbürgern gleichgestellt. Mit den Teilungen PolenLitauens aber gab sie den Argumenten von Adel und Kaufleuten nach, die eine wirtschaftliche Konkurrenz fürchteten.28 Einerseits versicherte sie nach der zweiten und dritten Teilung auch den Juden freie Religionsausübung,29 dazu gehörte beispielsweise die Beibehaltung der jüdischen Selbstverwaltung in rechtlichen und religiösen Angelegenheiten. Andererseits erhöhte sie die Steuern für jüdische Kaufleute und begann, die Freizügigkeit fallweise zu unterbinden. So gingen auf ihre späte Regierungszeit die Überlegungen zur Festlegung eines Ansiedlungsrayons zurück, ebenso Restriktionen bezüglich Berufswahl und Bildung. Nach 1794 wurden die Juden damit auf jene Siedlungsgebiete festgelegt, die sie bereits zuvor gehabt hatten.30 Eine Migration in die Metropolen des Reiches, St. Petersburg und Moskau, wurde damit ebenso unterbunden wie in die russischen Schwarzerde-Gouvernements. Freilich erhielten sie ein attraktives Betätigungsfeld in Odessa, der 1793 gegründeten Hafenstadt am Schwarzen Meer, die im 19. Jahrhundert zur Metropole des Südens werden sollte. Gegenüber den anderen christlichen Bekenntnissen blieb es bei der Regierungsmaxime, Toleranz zu üben. Dies galt umso mehr für die durch die erste Teilung Polen-Litauens 1772 hinzugekommenen Gebiete. Katharinas Reformpolitik zielte auf eine Homogenisierung von Verwaltungsstrukturen; im Gegenzug bot sie religiöse Toleranz an. Die neuen Gebiete des Imperiums stellten in diesem Sinne eine Herausforderung dar. Als Beispiel seien die Feierlichkeiten zur Eröffnung der

25 LISZKOWSKI, Uwe, Aufgeklärter Pragmatismus am Beispiel der Judenpolitik Katharinas II., in: Rußland zur Zeit Katharinas II. Absolutismus – Aufklärung – Pragmatismus (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, 26), hrsg. von Eckhard HÜBNER, Jan KUSBER und Peter NITSCHE, Köln/Weimar/Wien 1998, S. 315–336, hier S. 319. 26 O sostojanii Rossii pri Ekateriny Velikoj. Voprosy Diderota i otvety Ekateriny, in: Russkij Archiv 18 (1880), 3, S. 1–15, S. 3. 27 LISZKOWSKI, Aufgeklärter Pragmatismus, S. 320. 28 Vielleicht war dies eines der Politikfelder, auf denen die konsensorientierte Kaiserin den stärksten Widerstand antraf: K LIER, John Doyle, Russia gathers her Jews. The Origins of the “Jewish Question” in Russia, 1772–1825, DeKalb 1986, S. 53–80. 29 SIRIO, Bd. 13, St. Petersburg 1874, S. 245. 30 LISZKOWSKI, Aufgeklärter Pragmatismus, S. 333–335.

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Hauptvolksschule in Mogilëv am 28. März 1789 genannt.31 Sie wiesen insofern eine Variante auf, als dass bei dem einleitenden Gottesdienst auf die religiös-konfessionelle Situation im Gouvernement Rücksicht genommen wurde. Wohl um dem Eindruck entgegenzutreten, dass mit der Einführung eines nach russischem Modell geformten Schulwesens eine Russifizierung eingeleitet werden sollte, fand nach einem getrennt zelebrierten orthodoxen und katholischen Gottesdienst ein gemeinsamer Umzug zum Schulgebäude statt, der von Generalgouverneur Pëtr Bogdanovič Passek, dem orthodoxen Bischof Georgij sowie dem katholischen Bischof Stanislav Sestrencevič angeführt wurde,32 wobei Sestrencevič im Schulgebäude nochmals ein Gebet sprach. Sodann hielt der Direktor der Schule, Samson Cvetkovskij, eine Rede, in der er vom Nutzen der Schule für den Staat sprach, aber auch von der Unteilbarkeit der Aufklärung, die dem Einzelnen zu einem neuen Leben verhelfe. Der Appell, die Schule nicht in etwaige nationale Auseinandersetzungen geraten zu lassen, war unüberhörbar. Am Abend folgten das obligatorische Bankett und ein Feuerwerk. Nach der Aufhebung des Jesuitenordens 1773 befanden sich die Jesuiten in der eigentümlichen Situation, dass ihre Position in diesen Gebieten von staatlichen und päpstlichen Angriffen zunächst unbeeinträchtigt blieb.33 Der erwähnte Bischof Stanislav Sestrencevič, der sowohl den Jesuiten als auch den auf weißrussischem Gebiet und in der Ukraine aktiven Mönchsorden der Piaristen und der Basilianer skeptisch gegenüberstand,34 war nach einer Visitation sämtlicher Bildungsinstitutionen in den Gouvernements Polock und Mogilëv nicht umhin gekommen, der Schulkommission zu empfehlen, die vorhandenen katholischen Einrichtungen und das Potential der gut ausgebildeten Geistlichen zu nutzen.35 Dieser Vorschlag stieß in der Kommission zwar auf Skepsis, Katharina akzeptierte jedoch die Koexistenz der bestehenden Schulen mit den Schulen neuen Typs, erwartete allerdings, dass die Zu-

31 Schilderung in: Sbornik materialov dlja istorii prosveščenija v Rossii, Bd. 1: Učebnye zavedenija v zapadnych gubernijach do učreždenija Vilenskogo učebnogo okruga, St. Petersburg 1893, S. 43–47. 32 Zu seiner Person: KEMP, John Arthur, The Jesuits in White Russia under Stanislaus Siestrzencewicz, in: Thought 15 (1940), S. 469–486, hier S. 473–481. Katharina II. hatte ihn notabene 1773 ohne Zustimmung des Papstes ernannt. 33 SCHARF, Claus, Konfessionelle Vielfalt und orthodoxe Autokratie im frühneuzeitlichen Russland, in: Deutschland und Europa in der Neuzeit. Festschrift für Karl Otmar Freiherr von Aretin zum 65. Geburtstag, Bd. 1 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, 134/1), hrsg. von Ralph MELVILLE, Claus SCHARF und Martin VOGT, Stuttgart 1988, S. 179–192, hier S. 190. 34 KEMP, The Jesuits, S. 476, bezeichnet ihn als „involuntary protector of the Jesuits“; zur Rolle der Jesuiten siehe auch F LYNN, James T., The Role of the Jesuits in the Politics of Russian Education, in: The Catholic Historical Revue 56 (1970), S. 249–265, hier S. 249–251. 35 EVSEEV, Konstantin E., Sud’ byškolʼnogo prosveščenija v severo-zapadnoj krae. Lekcija, Vitebsk 1908, S. 29. Evseev beschreibt dies v.a. anhand des Kollegiums in Polock; vgl. auch SEIDLER, Grzegorz Leopold, The Reform of the Polish School System in the Era of Enlightenment, in: Facets of Education in the Eighteenth Century (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, 167), hrsg. von James A. LEITH, Oxford 1977, S. 337–358, hier S. 339f., 345f.

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gehörigkeit zum imperialen Verband nicht in Zweifel gezogen würde. Differenzierter hingegen ist die Politik Katharinas gegenüber den Unierten in den erworbenen Teilungsgebieten zu betrachten. Die Hierarchen der orthodoxen Kirche betrachteten jene als eigentlich orthodox; eine Auseinandersetzung um Integration fand also im ausgehenden 18. Jahrhundert vor allem mit ihnen und weniger mit den Katholiken statt. Katharina selbst folgte hier den orthodoxen Vorstellungen, als sie 1794 die Konversion von Unierten per Ukas guthieß.36 Wie verbunden war Katharina aber nun der Orthodoxie, die sie seit den Thronmanifesten als Stütze ihrer Herrschaft propagierte? Tatsächlich erging es der orthodoxen Kirche in ihrer Herrschaftszeit kaum besser als anderen Religionen. Die Kaiserin begann schon in den ersten Jahren ihrer Regierung das fortzusetzen, was Peter III. begonnen hatte: Sie schloss 1764 die Säkularisierung des Kirchenlandes ab und betrieb damit eine Politik, die in Europa im Zuge der Zeit lag. Die Finanzen von Klöstern und Eparchien wurden dem Ökonomiekollegium unterstellt.37 Sie hatten damit zum Ertrag des Staates beizutragen, der in der katharinäischen Epoche einerseits von guten Konjunkturdaten profitierte, andererseits durch Kriege und die Hofhaltung für einen enormen Finanzbedarf sorgte. Nach einem Bericht des Synods vom 1. Januar 1762, also wenige Monate vor Katharinas Herrschaftsantritt, waren in Russland 954 Klöster mit über 11.000 Nonnen und Mönchen gezählt worden. Mit der Säkularisierung der Kirchengüter wurden 418 zügig geschlossen, die verbliebenen Klöster unterteilte man in zwei Kategorien: die etatisierten und die nichtetatisierten (štatnye und sverštatnye). Katharina reduzierte die Zahl der Klöster, die auf staatliche Zuschüsse rechnen durften, von 225 auf 161.38 Die staatlichen Zuschüsse fielen niedriger als die vorherigen, eigenen Einkünfte aus dem eigenen Landbesitz aus. Von den Klöstern, die auf Spenden angewiesen waren, mussten in den Dekaden nach 1764 weitere schließen.39 Folgt man ihren Selbstaussagen, so glaubte Katharina an Gott. Jedenfalls berief sie sich in ihrer Rhetorik auf Gott und die göttliche Vorsehung, etwa in Anbetracht der Pest, die 1771 in ihrem Reich wütete, oder in ihrem Briefwechsel mit Voltaire während ihres ersten Krieges gegen das Osmanische Reich. In solchen Situationen brachte sie Gott mit der Sache des Vaterlandes in Verbindung. Und sie befleißigte sich bei der Befolgung religiöser Riten und Gebote einer Ironisierung. So jedenfalls interpretiert es Simon Dixon: Als Katharina 1763 eine Wallfahrt zum Neu-Jerusalemkloster unternahm, ging sie nachmittags auf die Jagd.40 Als sie 1774 das Aleksandr-Nevskij-Kloster am Tag des Patrons besuchte, meinte sie, sie habe sinnlos herumgestanden wie ein Hund41 – und stellte nach 1782 ihre Besuche ganz ein. Ob es zutrifft, wie Isabel de Madriaga meinte, dass die Kaiserin Agnostikerin gewesen 36 S KINNER, Barbara J., The Western Front of the Eastern Church. Uniate and Orthodox Conflict in Eighteenth-Century Poland, Ukraine, Belarus, and Russia, DeKalb 2009, S. 3, 196–225. 37 R AEFF, Catherine the Great, S. 293. 38 P IPES, Richard, Russia under the Old Regime, London 1974, S. 242. 39 SMOLITSCH, Igor, Russisches Mönchtum. Entstehung, Entwicklung und Wesen 988–1917 (Östliches Christentum, NF 10/11), Würzburg 1953, S. 412. 40 D IXON, Catherine the Great, S. 117. 41 Brief an Grimm vom 14.09.1775, in: SIRIO, Bd. 23, St. Petersburg 1878, S. 34.

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sei?42 Hier muss man immer auch in Betracht ziehen, wem gegenüber sich Katharina zu Fragen der Religion und ihres eigenen Glaubens äußerte. Katharina inszenierte sich für ihre aufgeklärten Briefpartner in Europa sicher anders als gegenüber ihren Untertanen. Dixon jedenfalls will, und dies scheint überzeugend, ihre protestantische Sozialisation stark gemacht wissen. Sie war eine strikte Gegnerin jeder monastischen Tradition, ob orthodox oder katholisch. So betrachtete sie 1784 die Nonnen als eine aussterbende Spezies und war der Auffassung, dass die Mehrheit von ihnen älter als Herodes sei. Sie schätzte, dass es zu diesem Zeitpunkt kaum mehr als 2.000 Mönche und Nonnen gegeben habe,43 und sie unterschätzte zugleich die Selbstorganisation von nicht registrierten geistlichen Gemeinschaften, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert Konjunktur haben sollten. Gleichzeitig war sich Katharina der Bedeutung der Geistlichkeit für das Funktionieren des Staates bewusst. Während ihrer Herrschaftszeit wuchsen die Aufgaben der Priester, da sie auf dem Lande diejenige Gruppe repräsentierten, die lesen und schreiben konnte. In den Gottesdiensten wurde bekanntermaßen nicht nur zum Gehorsam gegenüber der Obrigkeit angehalten. Es war die Pflicht der Priester, Befehle der Kaiserin zu verlesen, etwa zur Pockenimpfung oder bei Neufestsetzung von Abgaben oder Salzpreisen. Unmittelbare politische Bedeutung gewann diese Funktion bei Unruhen, wie etwa dem Pugačev-Aufstand. 1773 schrieb Katharina II. an den Erzbischof von Kazanʼ: [Wir befehlen Euer Exzellenz, Ermahnungen an die Geistlichen sämtlicher Gemeinden der Eparchie zu schicken,] damit die Priester ihren Gemeinden diese Ermahnung vorlesen und sie dadurch davon abhalten können, sich mit dem Samosvanecʼ zu vereinigen, indem sie ihnen klar machen, ein wie schlimmes Verbrechen vor Gott und der Welt der Bruch des Eides, den sie vor ihrem Herrscher geschworen haben, ist, und daß unsere heilige Kirche solche Verbrechen der ewigen Verdammnis immer anheim gegeben hat und anheimgibt.44

Dass die Priester als Vertreter des Staates ähnlich wie die Adligen gesehen wurden, kann man an der Zahl der Opfer ablesen, die der Aufstand unter ihnen forderte. Knapp 250 Geistliche fanden an der mittleren Wolga aus eben jenem Grund den Tod.45 Auch wenn Katharina sich über die Servilität der Kirchenhierarchen lustig machte und die mangelnde Bildung einzelner Geistlicher beklagte, so konnte und wollte sie auf die Geistlichkeit als Funktionsträger nicht verzichten. Sie unterstützte Kirchenhierarchen, die ihrer politischen Auffassung folgten und die Aufklärung mit

42 DE MADARIAGA, Russia in the Age, S. 503. 43 Briefe vom 08.05.1784 und 07.06.1784, in: SIRIO, Bd. 23, S. 303, 316. 44 Zit. nach P ETERS, Dorothee, Politische und gesellschaftliche Vorstellungen in der Aufstandsbewegung unter Pugačev 1773–1775 (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte, 17), Wiesbaden 1973, S. 192. 45 SCHARF, Claus, Adliger Grundbesitz und lokale Verwaltung in der Gouvernementsreform Katharinas II. Argumente von der Wolga, in: Katharina II., Russland und Europa. Beiträge zur internationalen Forschung (Veröffentlichung des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Bh. 45), hrsg. von DEMS., Mainz 2001, S. 421–456, hier S. 428f.

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Orthodoxie vereinen wollten, wie zum Beispiel den Metropoliten Platon (Levšin).46 Er versuchte durch seine gedruckten Predigten, die Geistlichkeit und damit auch das Kirchenvolk zu erreichen. Er beriet die Kaiserin bei der Durchsicht des Lehrmaterials für die geistlichen Schulen. Trotz aller Kritik stellten diese Schulen gemeinsam mit den geistlichen Schulen das einzig funktionierende System dar, das Russland in der Fläche besaß. Als Katharina 1786 ihr lange vorbereitetes säkulares Schulsystem einrichtete und in den Gouvernements ein zweistufiges koedukatives Schulsystem etablieren ließ, kam sie ohne Studenten der geistlichen Akademien in der Praxis nicht aus. Und das von Theodor Jankovic de Mirievo eingeführte und von Katharina durchgesehene Unterrichtswerk „Von den Rechten und Pflichten des Menschen und Bürgers“, das für die nächsten Jahrzehnte die Grundlage des Elementarunterrichts abgab, vermittelte den Schülerinnen und Schülern eine göttliche Ordnung, als deren Verkörperung die Autokratie galt.47 Gottesfurcht und die Befolgung der göttlichen Gebote sollten auf das alltägliche Leben wirken. Insofern war die Religion keineswegs aus den neuen Schulen verbannt worden, auch wenn die Geistlichkeit als Gruppe keine herausgehobene Rolle spielte. Hier lässt sich durchaus eine Kontinuität im katharinäischen Denken von der Gesetzbuchkommission bis zur Gestaltung des Schulsystems sehen. Katharinas II. Herrschaft war eine, in der über Dekaden funktional gedacht und gehandelt wurde. Die Kaiserin betrachtete unter diesen Maßstäben auch die Religionen. Sie selbst berief sich immer wieder auf die göttliche Vorsehung und auf Gott, dies führte jedoch nicht zu einer Überbetonung der Orthodoxie und damit stand sie in deutlichem Kontrast zu Kaiserin Elisabeth. Sie nutzte Religionen und ihre Amtsträger, um Ordnung herzustellen und aufrechtzuerhalten, etwa unter den islamischen Untertanen, bei denen sie zwar den Nomadismus als nachteilig ansah, nicht aber deren Glauben. Sie wollte das Potential der neuen jüdischen Bevölkerung nutzen, orientierte sich aber bei Widerstand am Elitenkonsens. Sie brach die institutionelle, vor allem aber die ökonomische Macht der Kirche, nutzte jedoch deren Amtsträger bei ihrer Bildungsoffensive für das Imperium oder als Transmissionsriemen zur Mitteilung ihres herrscherlichen Willens. Diese programmatisch grundierte Politik des „aufgeklärten Pragmatismus“ entsprach durchaus dem Zeitgeist. Dieser aber veränderte sich im Umfeld der Französischen Revolution sowie der Teilungen Polen-Litauens. Katharina versuchte, bei den Eliten des Imperiums Akzeptanz durch Betonung der Orthodoxie und des Großrussischen zu schaffen. Sie nutzte also in ihren letzten Jahren verstärkt die Orthodoxie und das Russische, um über protonationale russische Affekte Loyalität gegenüber der Autokratie herzustellen. Dies hatte weniger Konsequenzen für den Islam, der in diesem Zusammen-

46 Zu seiner Person: W IRTSCHAFTER, Elise K., Religion and Enlightenment in Catherinian Russia. The Teachings of Metropolitan Platon, DeKalb 2013. 47 O dolžnostjach čeloveka i graždanina. Kniga k čteniju opredelennaja v narodnych gorodskich učiliščach rossijskoj imperii, i zdannaja po vysočajšemu poveleniju Carstvujuščej Imperatricy Ekateriny Vtoryja, St. Petersburg 1783.

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hang als nicht bedrohlich wahrgenommen wurde, sondern eher für die neuen jüdischen und katholischen Bevölkerungsgruppen im Imperium. Orthodoxie und Patriotismus sollten gegen Unruhe und Revolution immunisieren. Dass sie sich darin täuschte, sollte Katharina II. nicht mehr erleben.

DIE TROMMEL DES SCHAMANEN Über den Anfang und das Ende sibirischer Religionsstudien Jörn Happel Am 21. Juli 1928 beschloss die Antireligiöse Kommission des Zentralkomitees der Bolʼševiki, den Schamanen, „die dem geistlichen Rang entsagen“, das Wahlrecht zu gewähren. Vor der „gleichzeitigen Beschlagnahmung religiöser Gegenstände“ bei der mongolischen Volksgruppe der Oiraten warnte die Kommission die Parteiorgane.1 Unter den Gegenständen der Schamanen wird sich auch eine Trommel befunden haben. Offenbar war es zunächst wünschenswert, die als heilig verehrten Glaubensutensilien zu verschonen und den Völkern nicht zu entreißen. Trotz allem hatte das Schamanentum in der Sowjetunion keine Zukunft. Wenige Jahre später erklärte der bedeutende Ethnologe Innokentij M. Suslov (1893–1972) den Schamanismus in zwei Artikeln zu einem sozialen Übel. Man müsse die „Massen Sibiriens“ von ihren religiösen Wahnvorstellungen befreien und den Schamanismus als „eine Art des Kulakentums liquidieren“.2 Der gleiche Suslov war einer jener Ethnologen gewesen, die sich mit ihrer Arbeit noch Anfang der 1920er Jahre um die Erforschung des Schamanismus verdient gemacht hatten.3 Selbst ein Experte für die Tungusen genannten Ewenken, deren Sprache er als einer der wenigen Europäer beherrschte, war er nun an der Zerstörung dieser Kultur beteiligt.4 Vielleicht weil er sich während des aufziehenden Stalinismus so von seiner Herkunft aus einer orthodoxen Missionarsfamilie absetzen wollte?

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Protokoll Nr. 108, 21.07.1928, in: Partei und Kirchen im frühen Sowjetstaat. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei (Bol’ševiki) 1922–1929 (Geschichte – Forschung und Wissenschaft, 11), hrsg. von Ludwig STEINDORFF, in Verbindung mit Günther SCHULZ, unter Mitarbeit von Matthias HEEKE, Julia RÖTTJER und Andrej SAVIN, Berlin 2007, S. 315–318, hier S. 316. SUSLOV, Innokentij M., Šamanstvo i bor’ba s nim, in: Sovetskij Sever 3–4 (1931), S. 89–152; vgl. MÜLLER, Klaus E., Schamanismus. Heiler, Geister, Rituale, 4. Aufl., München 2010, S. 121f. Materialien zum Schamanismus der Ewenki-Tungusen an der mittleren und unteren Tunguska, gesammelt und aufgezeichnet von I. M. Suslov (Studies in Oriental Religions, 8), hrsg. von Karl H. MENGES, Wiesbaden 1983. Vgl. ERMOLOVA, N. V., Ėvenkijskij šaman kak ličnost’ (po materialam I. M. Suslova), in: Radlovskij sbornik: naučnye issledovanija i musejnye proekty MAĖ RAN v 2008 g., hrsg. von Ju. K. ČISTOV und M. A. RUBCOVA, St. Petersburg 2009, S. 267–273.

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Der Kampf gegen das Schamanentum war erfolgreich. Etliche Schamanen gaben bei den örtlichen Dorfsowjets ihre Trommeln ab.5 Forschungen zu den Schamanen Sibiriens gab es in der Sowjetunion ab den 1930er Jahren deswegen kaum noch.6 Und das sowjetische Standardlexikon von 1978 hielt zufrieden fest: „Bei den Völkern der UdSSR ist der Schamanismus nahezu vollständig verschwunden“.7 Jahrhundertelang faszinierten schamanistische Bräuche der sibirischen Völker die Reisenden aus West und Ost. Die Blüte des „Schamanen-Tourismus“ fand im 18. Jahrhundert statt, als Sibirien von internationalen Gelehrten wissenschaftlich erkundet wurde. Die Wissenschaftler wollten die Berichte der mittelalterlichen Reisenden ebenso überprüfen wie die Schamanen-Erfahrungen des Kaufmanns Eberhard Isbrand Ides (1657–1708) vom Ende des 17. Jahrhunderts. Oft genug hatten sich die indigenen Völker den Fremden gegenüber geöffnet und ihnen die Möglichkeit gegeben, ihre Schamanen kennenzulernen, deren Gewänder zu tragen und sogar die Trommeln zu schlagen. Wahrlich verstanden wurden die religiösen Bräuche aber nur von wenigen Wissenschaftlern und Kaufleuten. Im Zeitalter der Aufklärung interessierte die Fremdheit des Glaubens, doch als eine Religion wurde das Schamanentum nicht angesehen, sondern als „Priestertrug“, als „heidnischer Irrglaube“ und als „Blendwerk der Schamane und Zauberer“ interpretiert.8 Woher kam die Faszination, woher die Abneigung? In diesem Artikel konzentriere ich mich auf den Anfang der westlichen Schamanen-Berichte im Mittelalter und – nach einer langen Pause – am Ende des 17. Jahrhunderts. Eine besondere Rolle spielten dabei immer wieder die Beschreibungen der Schamanentrommeln.9 In diesen Berichten war die Rede von einer einzigartigen Glaubenswelt, die 230 Jahre später während des Stalinismus endgültig unterging. Ich analysiere somit den Anfang und das Ende sibirischer Religionsstudien. Die Frage, ob der Schamanismus eine Religion ist oder nur eine religiöse Praktik darstellt, wird viel diskutiert. Streng genommen gilt der Schamanismus in den Religionswissenschaften nicht als Religion, sondern als „ein Ganzes von ekstatischen und therapeutischen Methoden, die das Ziel verfolgen, den Kontakt herzustellen zu jenem anderen parallel existierenden, jedoch unsichtbaren Universum der Geister, um deren Unterstützung für die Besorgung der menschlichen Belange zu

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MÜLLER, Schamanismus, S. 122. MENGES, Karl H., Vorwort, in: Materialien zum Schamanismus, S. VII–XV, hier S. VIIIf. VAJNŠTEJN, S. I., Šamanstvo, in: Bol’šaja Sovetskaja Ėnciklopedija, Bd. 29, Moskau 1978, S. 278. Zitate aus: OSTERHAMMEL, Jürgen, Die Entzauberung Asiens. Europa und die asiatischen Reiche im 18. Jahrhundert, München 1998, S. 256. Vgl. mit weiterführender Literatur FUNK, Dmitrij A., Die Zeichnung auf der Trommel des Schamanen Šonču nach Feldmaterialien von P. I. Karal’kin, in: „Roter Altai, gib dein Echo!“ Festschrift für Erika Taube zum 65. Geburtstag, hrsg. von Anett C. OELSCHLÄGEL, Ingo NENTWIG und Jakob TAUBE, Leipzig 2005, S. 120–129.

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erwirken“.10 Der Schamanismus ist folglich ein Heilritual. Er ordnet sich ein in einen Komplex von Vorstellungen des viel umfassenderen Animismus, bei dem die Natur und ihre Kräfte von Geistern beseelt sind.11 Wenn der Schamanismus jedoch als Religion aufgefasst wird, dann muss das gesamte religiöse Denken und Handeln der Gläubigen vom Schamanismus bestimmt sein und sich von anderen Religionen abgrenzen. Der Schamane ist in diesem Fall der wesentliche Funktionsträger in der Mitte der Gesellschaft. Wenn man den Schamanismus als religiöse Praktik versteht, dann ist er nur ein Teil einer anderen Religion und dem Schamanen kommt eine Rolle neben anderen Funktionsträgern zu. Für beide Sichtweisen finden sich Belege in den hier diskutierten Quellen; es ist schwer, diese Bereiche eindeutig voneinander zu trennen. Dennoch ist in den sibirischen Gesellschaften der Schamanismus vor allem als Religion anzusehen, denn der Schamane vermittelt nicht nur in Trance zwischen der menschlichen und nichtmenschlichen Welt, sondern er nimmt auch im „Normalzustand“ eine religiöse und soziale Funktion ein: Er ist Priester, Seher, Medizinmann und Zauberer zugleich.12 Schamanen sind Spezialisten im Umgang mit der Geisterwelt. Ihr Handeln zielt darauf ab, die Welt so zu deuten, dass die Gemeinschaft mit ihren Werten fortbestehen und sich weiter entwickeln kann.13 Die besondere Begabung des Schamanen oder der Schamanin – beide Geschlechter sind grundsätzlich als Mittler zwischen der hiesigen Welt und der der Götter vertreten – liegt in der Fähigkeit, den Kontakt zu nichtmenschlichen Wesen herzustellen, um der Gemeinschaft zu nützen – sowohl in der Gegenwart als auch durch den Erhalt der Seelen der Menschen in der Zukunft. Dabei ist in allen Lebewesen potentiell ein Gott, Dämon und Ahne zu sehen, mit dem man in Kontakt treten kann.14 Gleichzeitig vermag der Schamane, sich in Trance in einen der Götter zu verwandeln oder die Götter durch sich sprechen zu lassen. Die Geister nutzen dann den Schamanen als ihr Werkzeug und statten ihn mit wundersamen Fähigkeiten aus, um die Zukunft zu offenbaren oder um Kranke zu heilen.15

10 ELIADE, Mircea/COULIANO, Ioan P., Handbuch der Religionen, Zürich/München 1991, S. 176. Vgl. DAHLMANN, Dittmar, Sibirien. Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart, Paderborn/München/Wien/Zürich 2009, S. 45f.; DERS., Von Kalmücken, Tataren und Itelmenen: Forschungsreisen in Sibirien im 18. Jahrhundert, in: „Barbaren“ und „Weisse Teufel“. Kulturkonflikte und Imperialismus in Asien vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. von Eva-Maria AUCH und Stig FÖRSTER, Paderborn 1997, S. 19–44. 11 Vgl. MÜLLER, Claudius C., Die Religion der Mongolen, in: Die Mongolen und ihr Weltreich, hrsg. von Arne EGGEBRECHT, Mainz 1989, S. 169–183, hier S. 169. 12 SAGASTER, Klaus, Schamanismus, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 30, Berlin/New York 1999, S. 72–76, hier S. 73. Vgl. ROUX, Jean-Paul, La religion des Turcs et des Mongols, Paris 1984, S. 59–98. 13 PAUL, Jürgen, Zentralasien (Neue Fischer Weltgeschichte, 10), Frankfurt a.M. 2012, S. 113f. 14 Vgl. FINDEISEN, Hans, Das Tier als Gott, Dämon und Ahne. Eine Untersuchung über das Erleben des Tieres in der Altmenschheit, Stuttgart 1956. 15 HARVA, Uno, Die religiösen Vorstellungen der Altaischen Völker, Helsinki 1938, S. 463.

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Die Tätigkeit des Schamanen ist physisch und psychisch höchst anstrengend. Die Trancezustände wurden mittels psychischer Konzentration oder durch Hilfsmittel wie Pilze herbeigeführt.16 Anschließend begannen oft stundenlange, manchmal mehrere Nächte dauernde Séancen, bei denen die Schamanen an die Grenzen ihrer Belastbarkeit kamen. Für ihre Reise zu den Göttern, Dämonen und Ahnen dienen den Schamanen die Trommel und der Schlägel – Trommel und Stab sind gleichsam ihr Reittier und ihre Peitsche.17 In den Sagen der Jakuten wird die Trommel dementsprechend „Pferd des Schamanen“ genannt und auch die Burjaten sprechen über die Trommel als von einem Reitpferd, das der Schamane auf seiner Reise besteige.18 Schamanen kannten alle sibirischen Völker.19 Die Ewenken (historisch: Tungusen) nutzen das heute zumeist als Typusbezeichnung verwendete Wort saman/ šaman20, während andere Ethnien in ihren Sprachen andere Ausdrücke besitzen: Die Sacha (Jakuten) nennen ihre Schamanen ojluun, die Nenzen (historisch: Samojeden) tadebej, die Burjaten boo21, die Tschuwaschen yramašč, die Keten (historisch: Jenissej-Ostjaken) senin/séeneŋ22, die „Eskimovölker“ angakok/ėnenylin und die Altaier kam. Neben der aus dem Ewenkischen stammenden Bezeichnung Schamane ist das turksprachige Wort kam/qam und das davon entlehnte russische Hauptwort kamlanie für die schamanistischen Handlungen beziehungsweise den Auftrag des Schamanen das am häufigsten genutzte.23 Dass wir weltweit vom Schamanen, 16 17 18 19 20 21

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Vgl. MÜLLER, Schamanismus, S. 80f., 83, 85. SAGASTER, Schamanismus, S. 74. HARVA, Vorstellungen, S. 536. Vgl. VAJNŠTEJN, Šamanstvo, S. 278. Vgl. RADLOFF, Wilhelm, Aus Sibirien. Lose Blätter aus meinem Tagebuche, Bd. 2, 2. Aufl., Leipzig 1893, S. 1. Vgl. JANHUNEN, Juha, Siberian Shamanistic Terminology, in: Suomalais-ugrilaisen Seuran toimituksia/Mémoires de la Société finno-ougrienne 194 (1986), S. 97–117, hier S. 97f.; Materialien zum Schamanismus, S. 121. Vgl. die Spezifizierung des Ausdrucks böö für den allgemeinen Terminus, utkun für Schamaninnen und caarin für Schamanen: D’JAKONOVA, Vera P., Das Schamanentum bei den SüdTuwinern, in: „Roter Altai, gib dein Echo!“ Festschrift für Erika Taube zum 65. Geburtstag, hrsg. von Anett C. OELSCHLÄGEL, Ingo NENTWIG und Jakob TAUBE, Leipzig 2005, S. 67–77, hier S. 68. Von den sechs Jenissej-Völkern, auf die die hier zitierten Reisenden stießen, überlebten seit dem 19. und 20. Jahrhundert einzig die Keten mit einer heutigen Sprecherzahl von etwa 200 Menschen. Zu den Schamanen-Bezeichnungen vgl. WERNER, Heinrich, Die Jenissej-Sprachen des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica, 67), Wiesbaden 2005, S. 47, 51, 320; DERS., M. A. Castrén und die Jenissejistik. Die Jenissej-Sprachen des 19. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica, 62), Wiesbaden 2003, S. 5–16. Das älteste uigurische Werk, Kudatku bilik (1069), nannte den Zauberer der Uiguren kam. Das Werk verweist auf die Heilkraft des Schamanen; auch im übertragenen Sinne konnte der Begriff Verwendung finden; vgl. „Heile sie durch Deine Verfügungen, sei ihnen ein Schaman!“ Das Kudatku Bilik des Jusuf Chass-Hadschib aus Bälasagun, Theil 2, Text und Übersetzung nach den Handschriften von Wien und Kairo, hrsg. von Wilhelm RADLOFF, St. Petersburg 1910, S. 33, 97, 181, 330, 372, 442. Die persische Ğayhānī-Tradition kennt kam ebenfalls als Schamanen-Bezeichnung bei den Turkvölkern; vgl. GÖCKENJAN, Hansgerd/ZIMONYI, István,

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nicht von einem kam sprechen, verdanken wir jedoch zwei Kaufleuten, die Ende des 17. Jahrhunderts die Blüte des Schamanen-Tourismus einläuteten. Der Holsteiner Eberhard Isbrand Ides war durch und durch ein Geschäftsmann.24 Mehrfach verlor er sein Vermögen und schuf sich anschließend ein neues. Geschickt verstand er es, einen neuen Markt zu erschließen: China. Sein Vertrauter Zar Peter der Große beauftragte ihn mit einer offiziellen russischen Mission an den Hof des chinesischen Kaisers. Doch Ides war nicht nur am Profit interessiert. Auf seiner dreijährigen Reise von 1692 bis 1695 wurde er in Sibirien zu einem frühen ethnologischen Beobachter. Ides und sein Begleiter Adam Brand (gest. 1746) führten jeweils Reisetagebücher, die späterhin beide berühmt machten. Hierin erwähnen sie ausgiebig ihr Zusammentreffen mit den Tungusen (Ewenken/Evenki), deren „Zauberer“ sie beobachteten und dessen Bezeichnung „Schaman“ sie erstmals zu Papier brachten.25 Hätten die Kaufleute Ides und Brand die Berichte ihrer Vorgänger wie den des Franziskanermönchs Wilhelm von Rubruk (gest. um 1270) gelesen, der im 13. Jahrhundert bereits das Wort kam für mongolische Schamanen verwendete, wäre wohl šaman niemals so populär geworden. Der Ausdruck kam war bereits mit den Hunnen nach Europa gelangt; im Ungarischen hielt sich der Begriff kám sogar als Bezeichnung für einen Wahrsager/Seher.26 Doch fiel dieses Wissen in den Bereich der Gelehrten, nicht in den der Händler. So wurde der von Ides und Brand überlieferte tungusische Ausdruck durch russische Forscher, die den Schamanismus in Sibirien kennenlernten, weiter verbreitet.27 Damit machte nicht nur eine Bezeichnung weltweit Karriere, auch die Tätigkeiten des Schamanen wollten fortan erkundet und verstanden werden. Reisen nach Sibirien kamen jetzt immer auch Reisen zu den Schamanen gleich. Zuvor hatte erstmals der erwähnte Franziskanermönch Wilhelm von Rubruk einer „westlichen“ Leserschaft über den Schamanismus ausführlich berichtet. König Ludwig der Heilige hatte ihn nach dem Mongolensturm nach Karakorum an den Sitz des Großkhans der Mongolen entsandt. Nach seiner Rückkehr schrieb der Mönch einen sehr genauen und heute noch faszinierenden Reisebericht, der – ganz im Sinne der Scholastik verfasst – das Wissen über die fremden Völker im Osten

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Orientalische Berichte über Völker Osteuropas und Zentralasiens im Mittelalter. Die ĞayhānīTradition (Veröffentlichungen der Societas Uralo-Altaica, 54), Wiesbaden 2001, S. 127, 206, 222, 247. Ides, 1657 im dänischen Glückstadt geboren, stammte aus einer niederländischen Familie. Ab 1677 handelte er von Amsterdam und Hamburg aus mit Russland. Zwischen 1687 und 1690 ließ er sich in Moskau nieder; vgl. HUNDT, Michael, Einleitung, in: Beschreibung der dreijährigen Chinesischen Reise. Die russische Gesandtschaft von Moskau nach Peking 1692 bis 1695 in den Darstellungen von Eberhard Isbrand Ides und Adam Brand (Quellen und Studien zur Geschichte des östlichen Europa, 53), hrsg. von DEMS., Stuttgart 1999, S. 1–102, hier S. 2f. Vgl. HARVA, Vorstellungen, S. 449. MÜLLER, Schamanismus, S. 35. SAGASTER, Schamanismus, S. 73.

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vermehren wollte.28 Als Geistlicher war er an den schamanistischen Handlungen besonders interessiert. Der Franziskaner reiste zwischen 1253 und 1255 durch den Süden des heutigen Russlands und durch Sibirien an den Hof Möngke-Khans. Das christliche Abendland stand noch immer unter dem Schock des Mongolensturms, der bis zum Jahre 1241 Ostmitteleuropa verwüstet hatte. Konnte man den Großkhan der Mongolen missionieren, um den Frieden zu sichern? Rubruk musste zunächst lernen, wer das Sagen bei diesem fremden Volk hatte. Er vermischte die Bezeichnung des Schamanen mit dem des Herrschers und doch verweist dies bereits darauf, wie einflussreich ein Schamane am Hofe des Khans sein konnte: „Denn alle ihre Wahrsager nennen sie Cham [kam]. Daher heißen ihre Fürsten Cham [Khan], weil die Regierung des Volkes sich bei ihnen vermittelst der Wahrsagekunst vollzieht“.29 Ohnehin hielten sich die Schamanen mit ihren Jurten stets in der Nähe der Jurte des Khans auf.30 Rubruk erkannte die Stellung des Schamanismus als eine Art Staatsreligion.31 Dementsprechend betonte der Mönch: „Die Wahrsager also sind, […], ihre Priester, und was sie verfügen, das wird ungesäumt vollzogen.“ Der Franziskaner respektierte die Männer, die von der Astronomie einiges verstünden (Sonnen- und Mondfinsternis): „Wenn die Verfinsterung eintritt, so lassen sie Trommeln und andere Musikinstrumente ertönen und machen einen mächtigen Lärm und ein großes Getöse“.32 Rubruk erlebte die Formen der Libation, wenn die Schamanen den Erdboden oder andere Dinge mit Kumys besprengten,33 ohne dass der Europäer den rituell-heiligen Sinn dahinter verstand. Beeindruckt zeigte er sich jedoch von einer Séance: Sie legen dann gekochtes Fleisch mitten in die Jurte, und der Chan [kam], der gerade die Beschwörung vornimmt, hebt seinen Zauberspruch an. In der Hand hält er dabei eine Trommel, die er kräftig auf den Boden schlägt. Endlich gerät er in Raserei und läßt sich nun fesseln.

28 Vgl. TOMASEK, Tomas/WALTHER, Helmut G., Gens consilio et sciencia caret ita, ut non eos racionabiles extimem. Überlegenheitsgefühl als Grundlage politischer Konzepte und literarischer Strategien der Abendländer bei der Auseinandersetzung mit der Welt des Orients, in: Die Begegnung des Westens mit dem Osten, hrsg. von Odilo ENGELS und Peter SCHREINER, Sigmaringen 1993, S. 243–272, hier S. 250; SCHMIEDER, Felicitas, Europa und die Fremden. Die Mongolen im Urteil des Abendlandes vom 13. bis in das 15. Jahrhundert (Beiträge zur Geschichte und Quellenkunde des Mittelalters, 16), Sigmaringen 1994, S. 76f.; FRIED, Johannes, Auf der Suche nach der Wirklichkeit. Die Mongolen und die europäische Erfahrungswissenschaft im 13. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 243 (1986), S. 287–332. 29 RUBRUK, Wilhelm von, Reise zu den Mongolen 1253–1255, hrsg. von Friedrich RISCH, Leipzig 1934, S. 109. Vgl. CARPINI, Johann de Plano, Geschichte der Mongolen und Reisebericht 1245–1247, hrsg. von Friedrich RISCH, Leipzig 1930, S. 244. 30 RUBRUK, Reise, S. 161. 31 Vgl. MÜLLER, Die Religion, S. 169. 32 RUBRUK, Reise, S. 279f. 33 Ebd., S. 282.

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Alsdann erscheint der Dämon in der Dunkelheit, und er gibt ihm das Fleisch zu essen, worauf dann der Dämon die Antworten erteilt.34

Rubruk erkannte, dass die Schamanentrommel für die Beschwörung der Geister Kraft besaß.35 Seine Beschreibung ist kurz, lässt aber die kamlanie nachvollziehen. Das gekochte oder gebratene Fleisch sollte durch seinen Duft die Ahnengeister anlocken. Wahrscheinlich sollte sich ihre segenswirkende Kraft auf das gesamte Fleisch eines erlegten Tieres übertragen.36 Insofern beobachtete Rubruk wohl die Anrufung der Ahnen zur Unterstützung eines Jagderfolgs. Jedoch ist es ferner möglich, dass er der Opferung eines Tieres beiwohnte, wodurch die Ahnen über die Zukunft befragt werden sollten. Wenn beide Sichtweisen heute möglich erscheinen, blieb das Ritual für den Franziskaner in Gänze ein Teufelswerk. In den folgenden Jahrhunderten wurde es still um die Beschreibung von Schamanentänzen und ihren Trommelschlägen. Eine erneute Gefahr ging von den Mongolen für Westeuropa nicht aus und auch Reisen nach Sibirien fanden nicht statt. Das Erstaunen war deshalb sehr groß, als Ides und Brand die Tungusen/Ewenken beobachteten – bei den Herren selbst als auch bei den Lehnstuhlreisenden in Europa, die sich nun wieder vom Schamanismus fasziniert zeigten.37 Adam Brand notierte: Wo fünf oder sechs Tungusen bey einander wohnen […] halten sie einen Schaman, welcher auf ihre Art einen Pfaffen oder Zauberer bedeutet; So oft sie nun bey selbigem zusammen kommen / ziehet er ein Kleid an / auf welchen mehr denn fünff Pude, (ist 200. Pfund) Eisenwerck hanget / mit allerhand Teuffels=Larven / Bären / Löwen / Schlangen / Drachen und anderen ausgeschmückt. Diese Kleid haben wir mit grosser Verwunderung beschauet und betastet; Wenn sich nun selbiger Schaman in solcher Kleidung ausstaffiret siehet / nimmt er eine lange Trommel zur Hand und schläget Schlag auf Schlag darauff / daß gar kein angenehmer Thon erklinget / bey solchen Trommelschläger schreyen und Heulen sie / als die Hunde erbärmlich / […]; Indessen fällt der Pfaffe ohne Verstand danieder / welcher denn alsbald von ihnen als ein Heiliger geehret und gelobet wird.38

Für Brand war der Schamane zugleich Pfarrer und Zauberer, dessen Umhang er befühlen durfte. Als zentrales Element der Séance machte er zu Recht die Trommel aus. Isbrand Ides ergänzte diese Beobachtungen und konzentrierte sich vor allem auf die Gerätschaften des Schamanen. Dabei gab der Gesandte Peters des Großen auch Hinweise zu seinen (ethnologischen) Interessen:

34 35 36 37

Ebd., S. 289f. Vgl. RADLOFF, Sibirien, S. 18. PAUL, Zentralasien, S. 114. Zur Wahrnehmung der Reiseberichte siehe OSTERHAMMEL, Jürgen, Distanzerfahrung. Darstellungsweisen des Fremden im 18. Jahrhundert, in: Der europäische Beobachter außereuropäischer Kulturen. Zur Problematik der Wirklichkeitswahrnehmung (Zeitschrift für historische Forschung, Bh. 7), hrsg. von Hans-Joachim KÖNIG, Wolfgang REINHARD und Reinhard WENDT, Berlin 1989, S. 9–42; HAPPEL, Jörn, Unter Ungeziefer und „Wilden“. Sibirien-Reisende im 18. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 61 (2013), S. 1–25. 38 Beschreibung der dreijährigen Chinesischen Reise, S. 141f.

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Jörn Happel Einige meilen von hier auffwarts wohnen viele Tunguzen / worunter auch ihr berühmter Schaman oder teuffels=beschwerer und schwartzkünstler. Das gerüchte von diesem betrüger machte mich begierig / denselben zu sehen. Meiner neugierigkeit ein genügen zu thun / fuhr ich dahin / umb ihn in seiner wohnung zu besuchen. […] Er ließ mich sein zauber=kleid sehen / benebst seinen andern werckzeugen / die er dabey gebrauchte. Zuerst besahe ich seinen rock / der vor lauter eisen=werck zusammen hieng / und an einander gefügt war / bestehend in allerley bildnüssen der vögel / fischen / raben / eulen und dergleichen / wie dann auch von vielerley thier= und vogel=klauen / deßgleichen beile / äxten / sägen / hammern / messern / säbeln / auch einige figuren der thiere und dergleichen; so daß diß teuffels=kleid glied=weise an einander gehefftet und also überall beweglich war. Uber seine schienbeine hatte er etwas als strümpffe / auch von eisen gemacht / gleichwie der rock / und dergleichen überall über seine füsse / wie dann auch zwey grosse eiserne bären=klauen über seine hände. Auf seinem kopff hatte er viele dergleichen eiserne bilder / und vornen auff dem haupt zwey eiserne reh=hörner. Wann er nun zaubern wollte / nahm er eine nach ihrer art gemachte drommel in seine lincke hand / und ein mit bergmäusen=fell überzogenes glattes steckgen in seine rechte hand / und also sprang er mit einem fuß über den andern in die höhe / so daß er zugleich den leib schüttelte / welcher dann wegen des anhabenden eisenwercks ein grosses geraß= und geprassel macht; Er schlug auch auf seiner drommel / mit auffwarts=sehenden / verkehrten augen / und machte mit starck brüllender bären=stimme ein greuliches getöse. […] / springt und rufft so lange / biß daß sich auf seine hütte (welche zu ausziehung des rauchs oben offen ist) ein schwartzer vogel setzet. So bald als er diesen ansichtig wird / so fällt er auf die erde in schwindel und entzückung / und den augenblick verschwindet der vogel wieder. Wann er nun also als todt und ohne verstand etwa eine viertel=stunde gelegen / so kommt er wieder zu sich selbst / und sagt alsdann dem der ihn raths gefragt / […] was er sonsten zu wissen begehrt; und da soll dann auch alles / wie sie sagen / nach dem wort des Zauberers eintreffen. Das kleid war so schwer / daß ich es mit einer hand kaum aufheben konnte.39

Die Tätigkeiten des Schamanen verblüfften die in die Rituale uneingeweihten Europäer. Ihre Vorstellungskraft reichte vielfach nicht aus, um sie zu verstehen. Ides und Brand lieferten jedoch eine sehr genaue Beschreibung der Séance. Was wie Exotik wirkt und die Leser in den europäischen Gelehrtenstuben verwunderte, war keineswegs Teufelswerk, sondern jahrhundertealter Glauben. Offenbar waren Ides und Brand aber nicht zufällig Gast einer Séance geworden. Sie suchten bewusst den Schamanen auf und es scheint, als ob dieser den Fremden eine Aufführung darbot. Denn oft genug waren Uneingeweihte bei „richtigen“ Schamanenritualen ungewollt.40 Haben die Europäer die Tungusen dazu gedrängt? Dies ist nicht auszuschließen. Dennoch sind die Beschreibung einer Trance und Weissagung in ihrer frühen Abfassung und Genauigkeit einmalig. Sie stehen am Beginn einer neuen Schamanismusforschung. Isbrand Ides und Adam Brand wurden von einem Schamanen in dessen Jurte begrüßt. Dort erlebten sie seine „Zauberei“. Dies deutet bereits auf die Wertigkeit der Séance hin. Für jedes größere Schamanisieren war bei den Tungusen ein besonderes Schamanenzelt notwendig, das nymganžak heißt. Dorthin wären die Europäer niemals eingeladen worden. Das große Schamanisieren war zum Austreiben böser

39 Ebd., S. 229–233. 40 RUBRUK, Reise, S. 290.

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Geister aus einem Kranken oder für die Weihe einer neuen Schamanentrommel notwendig. Das gewöhnliche, alltägliche Schamanisieren wie das Wahrsagen, die Bitte um Jagdglück oder die Vorhersage der Zukunft fand in gewöhnlichen Jurten statt.41 Dies hatten die beiden Reisenden offenbar hier erlebt. Dass es sich um eine Art Vorführung handelte, spricht aus dem Dokument. Normalerweise hätte der Schamane sein Schamanisieren mit weiteren rituellen Handlungen begonnen. Aufgrund ihrer sonstigen Ausführlichkeit wäre dies Ides und Brand nicht entgangen; das Fehlen deutet darauf hin, dass der Tunguse den Europäern nicht das „volle Programm“ zeigen wollte. Sein Handeln hätte nämlich bereits vor der Jurte begonnen, im Aufstellen eines heiligen Baums (turu42), an dessen Wipfeln sechs Vorfahren-Idole (haňakān) befestigt sind und ein weißes Rentier (orōn-arbāut) angebunden wird. Im Innenraum der Jurte werden an den Zeltstangen vier silberne Ringe (oŋaŋāldu) angebracht. Alle Anwesenden stecken sich dann gewöhnlich ihre Pfeifen an. Der Gehilfe des Schamanen, der ilan, trocknet derweil die Schamanentrommel über dem Feuer. Nun erst legt der Schamane seinen Ornat an und stöhnt laut. Mit dem Ausruf bējwa (Oh weh!) beginnt die Beschwörung.43 Auch wenn es sich um eine eigens eingerichtete Séance gehandelt haben mag, bleibt bemerkenswert, dass die Europäer die Werkzeuge des Schamanen sogar berühren durften. Zudem erhielten sie offenbar Erläuterungen, was auf den Masken dargestellt wurde und wie der Umhang hergestellt worden war.44 Bestimmt blieben vielerlei Aspekte unbenannt, was die Europäer nicht merken konnten, denn manche Bereiche waren von den Tungusen mit Tabuwörtern belegt.45 Den schweren, mit zahlreichen Masken verzierten Umhang haben beide Herren zu heben versucht. Durch die sehr detaillierte Beschreibung des Kleids, der Trommel und des Trommelschlägels entsteht ein beinahe exaktes Bildnis des tungusischen Schamanen. Besonders Ides legte große wissenschaftliche Akribie an den Tag. Leider konzentrierte er sich aber nicht so sehr auf die zentralen Kultgegenstände – Trommel und Schlägel – wenngleich er erkannte, dass der Trommel für die Trance eine entscheidende Rolle zukommt. Was sich hinter einer „nach ihrer art gemachte drommel“ und „ein mit bergmäusen=fell überzogenes glattes steckgen“ verbarg, bleibt offen. 70 Jahre nach Ides ergänzte der Geograph, Botaniker und Sibirien-Reisende Johann Gottlieb

41 Materialien zum Schamanismus, S. 38. 42 Der Schamanenbaum turu konnte auch aus dem Rauchloch herausragen oder wurde über das Zelt gelegt und deckte dann das Loch zu. Turu war zugleich Schutzgeist des Zeltes als auch die Leiter des Schamanen in die Oberwelt. Vgl. Materialien zum Schamanismus, S. 120. 43 Drei Schamanengesänge der Ewenki-Tungusen Nord-Sibiriens. Aufgezeichnet von Konstantin Mixajlovič Ryčkov in den Jahren 1905/1909 (Abhandlungen der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, 89), hrsg. von Karl H. MENGES, Opladen 1993, S. 59. Bei anderen Anlässen des Schamanisierens konnten die Rituale abweichen, doch bleiben etwa das Rauchen, das späte Anlegen des Umhangs und die Reinigung der Trommel zentrale Bestandteile. Vgl. RADLOFF, Sibirien, S. 21f. 44 Vgl. HARVA, Vorstellungen, S. 499–526. 45 KNÜPPEL, Michael, Sprachtabus in tungusischen Sprachen und Dialekten. Am Beispiel von S. M. Širokogorovs „Tungus Dictionary“ (Tunguso-Sibirica, 33), Wiesbaden 2012, S. 68–70.

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Georgi (1729–1802) die Beschreibung einer tungusischen Trommel, die uņtuun genannt wird (der Schlägel heißt giššu), in ihrer ovalen Form äußerst zutreffend. Nur von denselben [Birken und Weiden] müssen die Zaubertrommeln und Götzen verfertigt werden. Die Trommel ist eyförmig, 3. Fuß lang, halb so breit, der Rand weniger als eine Spanne hoch, und nur an einer Seite mit einem Trommelfell überspannet. Dieses ist bisweilen einem Stern gleich, bisweilen mit Vögeln, Thieren und Schlangen bemahlen. Die andere Seite ist offen. In der Trommel befindet sich eine Handhabe, und ausser der ein Paar eiserne Stäbe, an welchen Blechgötzen hangen, die bey dem Trommeln an einander schlagen, und also klingeln. Der Trommelstock (Gisch) ist mit Hasenfell überzogen, platt einem kleinen Waschholz gleich, und an einem Ende mit zwey eisernen Spitzen, die Schwäne vorstellen sollen.46

Noch im 20. Jahrhundert wurde der Trommelschlägel mit einem „Waschbleuel“ verglichen, um ihn den unwissenden Lesern zu veranschaulichen.47 Er ist ebenso wie der Trommelring aus einem besonderen Holz geschnitzt, oft mit Tiersymbolen – der Schwan (gax) wurde als ein heiliges Tier verehrt und findet sich deswegen oft auf den Schlägeln48 – versehen und mit dem Schenkelfell von Rentieren, Hasen oder anderen Tieren umhüllt.49 Während Ides und Brand fasziniert von den Tätigkeiten des Schamanen waren und sich von dessen Geschrei abschrecken ließen, suchte Georgi nach den Hintergründen des schamanistischen Verhaltens. „Bey den Religionsübungen der Tungusen läuft alles auf die Aussöhnung beleidigter Gottheiten, auch derer, die sie Böse nennen, hinaus“, glaubte der deutsche Geograph in russischen Diensten. Für die Schamanen hatte er nichts übrig: Sie „kleiden alles in so viele Gauckeleyen ein, daß es einem Narrenspiel sehr ähnlich wird“.50 Hier unterscheiden sich die nüchternen Bestandsaufnahmen der europäischen Reisenden. Zwar nannte Ides das schamanistische Treiben eine heidnische Tätigkeit, doch erfasste er im bloßen Beschreiben den Kern des Kontakts zwischen Schamanen und Göttern, indem er erkannte, wie der sich auf das Zeltdach setzende Vogel mit der Séance in Verbindung stand. Sowohl Brand als auch Ides vermerkten, das Geschrei sei scheußlich gewesen. Angesichts der Anrufung des Vogels dürften der Schamane und die anderen Anwesenden vielleicht folgenden Vogelruf nachgeahmt haben. „Kēk, kēk, kēk! Kā, kā, kā! Kul’uk, kul’uk, kul’uk! Kustik, kustik, kustik! Kiŕǖk, kiŕǖk, kiŕǖk! Kēk, kēk, kēk! Kā, kā, kā!“51 Mit den Trommeltönen macht der Schamane zugleich das Flügelrauschen von Vögeln nach. Immer stärker springt er sodann umher, grimassiert, tobt und kommt in den Zustand äußerster Ekstase, wobei er von zwei Männern an

46 GEORGI, Johann Gottlieb, Bemerkungen einer Reise im Rußischen Reich im Jahre 1772, St. Petersburg 1775, S. 281. Vgl. zu Holzarten und Bespannung der Trommel HARVA, Vorstellungen, S. 526f. 47 So bei HARVA, Vorstellungen, S. 534. 48 Vgl. ebd., S. 467f. 49 Oft wurde der Trommelstab aus Bärenknochen hergestellt; vgl. JANHUNEN, Juha, Tracing the Bear Myth in Northeast Asia, in: Acta Slavica Iaponica 20 (2003), S. 1–24, hier S. 8. 50 GEORGI, Bemerkungen, S. 281. 51 Drei Schamanengesänge, S. 65f. Hier mit weiteren Vogelrufen.

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Riemen gehalten wird – Rubruk wies auf die Fesselung hin – und fällt dann erschöpft zu Boden.52 Was Ides über den schwarzen Vogel schreibt, lässt zudem aufmerken. Ob sich tatsächlich ein Rabe oder ein ähnlich aussehender Vogel auf den Rauchfang gesetzt hat, wissen wir nicht. Unwahrscheinlich ist dies nicht, denn die Vögel wurden bewusst angelockt, um den Kontakt zur jenseitigen Welt herzustellen. Gleichzeitig kann diese Passage auch als Metapher gelesen werden. Dies würde bedeuten, Ides verstand das Schamanisieren. Viele Vögel waren Geisterwesen und in der Lumme, einem arktischen Meeresvogel, lebten etwa die Geister der verstorbenen tungusischen Schamanen weiter.53 Dass Ides einen Raben als Schamanen-Vogel erkannte,54 zeigt, wie sehr die Europäer die Sibirjaken ausfragten. In der Vorstellung des Schamanismus stellte der Vogel entweder einen helfenden Geist dar, der sich auf dem Jurtendach zeigte, oder der Schamane verwandelte sich in dem Moment, da sich der Vogel niederließ, in diesen, während sein menschlicher Körper gleichzeitig in Trance bewusstlos auf den Boden sank; nun konnte der Geist des Schamanen als Vogel zu den Göttern reisen. So detailliert wie Isbrand Ides hatte zuvor niemand einen Schamanen beschrieben. Nach Ides und Brand mussten sich nun alle nach Sibirien reisenden Gelehrten an deren Vorlage messen lassen. Mit ihrem faszinierenden Einblick in den Schamanismus setzte jetzt der „Schamanen-Tourismus“ ein, dessen Teilnehmer auch der zitierte Georgi war. Die Tungusen wurden ein Forschungsfeld für alle Sibirien-Expeditionen. Wie ihr Schamanismus interessierten ihr Leben und die besondere Art ihres Eid-Schlusses.55 Die Reisenden wollten selbst Teil der schamanistischen Séancen werden und manchen gelang dies auch. Der deutsche Arzt und Naturforscher Georg Wilhelm Steller (1709–1746) traf 1740 während seiner Teilnahme an der Großen Nordischen Expedition auf einen jakutischen Schamanen und ließ sich von ihm sogar die Zukunft voraussagen: ich sahe zum ersten mahl die Schamanerey mit Trommel, observirte dass der Schaman sich 3mahl stellete / als ob er ohnmächtig wäre, und uber seinem Kopf feuer schlagen lies / auch

52 Ebd., S. 80. 53 HARVA, Vorstellungen, S. 475. 54 Dem Raben kam bei den Tungusen v.a. bei der Bärenjagd eine entscheidende Rolle zu; ebd., S. 431f.; PAPROTH, Hans-Joachim, Bärenjagdriten und Bärenfeste bei den tungusischen Völkern, Uppsala 1976, S. 156–158. 55 Der „Hundeeid“ – bei der Opferung des Tieres schwören beide Seiten – war wie der Schamanismus seit den Kreuzzügen bekannt; vgl. GÖCKENJAN, Hansgerd, Eid und Vertrag bei den altaischen Völkern, in: Ural-Altaische Jahrbücher 16 (1999/2000), S. 11–31, hier S. 20–31. Vgl. GMELIN, Johann Georg, Expedition ins unbekannte Sibirien (Fremde Kulturen in alten Berichten, 7), hrsg. von Dittmar DAHLMANN, Sigmaringen 1999, S. 208–210. Im Türkeitürkischen ist noch heute die Redensart ant içmek („den Eid trinken“) für schwören/einen Eid leisten gebräuchlich.

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Jörn Happel sich guguk entgegen schreyen lies um dadurch sich so forten / wieder Zu errinnern er prophezeyte mir, wieder meinen vor / stellungen.56

Andere Forschende wie der nüchtern beschreibende russische Admiral Ferdinand von Wrangel (1796/97–1870), der von 1820 bis 1827 Nordostsibirien erkundete, waren trotz der „Wildheit“ der Schamanen stets von ihnen fasziniert: Ein echter Schamane ist gewiß eine höchst merkwürdige psychologische Erscheinung. So oft ich hier und an anderen Orten operierende Schamanen sah, ließen sie immer einen lange dauernden, düstern Eindruck in mir zurück. Der wilde Blick, die blutrünstigen Augen, die heisere Stimme, […], die unnatürlich, krampfhafte Verzerrung des Gesichtes und des ganzen Körpers, das emporgesträubte Haar, ja selbst der hohle Ton der Zaubertrommel – alles das gibt der Szene etwas Grauenvolles, Mysteriöses, das mich jedesmal ganz ergriffen hat.57

Während der Schamanismus noch unter zarischer Herrschaft geduldet und weiter intensiv erforscht worden war, schlugen in der sowjetischen Zeit zum letzten Male die Zaubertrommeln für eine Himmelsreise. In der Trance machten sowjetische Ethnologen in den 1930er Jahren Scharlatanerie aus; sie entlarvten die Tricks der Schamaninnen und Schamanen (etwa die Bauchrednerkunst) oder stuften ihre Handlungen als „Hysterie“ ein.58 Die Sprachen und Völker und ihre Kulturen wurden nach und nach zurückgedrängt.59 Und mit dem Schamanismus verschwanden nationale Sitten, Bräuche und Zeremonien. Damit gingen Lieder, Sagen und Märchen der indigenen Bevölkerung Sibiriens für immer verloren.60 Der Kampf gegen den Schamanismus machte deutlich, dass die sowjetische Politik in ihm eine Religion sah. Vladimir Germanovič Bogoraz (1865–1936), einer der besten Kenner der Čukčen-Halbinsel und ihrer Bewohner, hielt unmissverständlich fest: „Der Schamanismus ist eine Religionsform, die durch die Auslese nervlich höchst instabiler Menschen geschaffen wurde“.61 Bogoraz wusste aus seiner vorrevolutionären Tätigkeit und seinem enormen Kenntnisstand über die Lebenswelten der Nordvölker, dass Schamanen keine gewöhnlichen Menschen waren, sondern eine Art Doppelnatur darstellten – dem Diesseits und dem Jenseits verpflichtet.62

56 STELLER, Georg Wilhelm/KRAŠENINNIKOV, Stepan/FISCHER, Johann Eberhard, Reisetagebücher 1735 bis 1743 (Quellen zur Geschichte Sibiriens und Alaskas aus russischen Archiven, 2), bearb. von Wieland HINTZSCHE, Halle 2000, S. 112. Vgl. NENTWIG, Ingo, Der Schamanismus, in: Die Grosse Nordische Expedition. Georg Wilhelm Steller (1709–1746). Ein Lutheraner erforscht Sibirien und Alaska, hrsg. von Wieland HINTZSCHE und Thomas NICKOL, Gotha 1996, S. 174–177. 57 Zit. nach MÜLLER, Schamanismus, S. 90f. 58 Ebd., S. 86f., 102f., 109, 121f.; HARVA, Vorstellungen, S. 450f. 59 Vgl. JANHUNEN, Juha, Ethnic Death and Survival in the Soviet North, in: Journal de la Société Finno-Ougrienne 83 (1991), S. 111–122. 60 Vgl. WERNER, M. A. Castrén, S. 12; MÜLLER, Schamanismus, S. 98f. 61 Zit. nach MÜLLER, Schamanismus, S. 102. 62 Vgl. BOGORAZ, Vladimir G., Trudy po jazyku i fol’klory. Obrazcy materialov po izučeniju čukotskogo jazyka i fol’klora, in: Izvestija Akademii Nauk, Bd. 10/3, St. Petersburg 1899.

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Nervlich höchst instabil konnten diese Menschen deshalb nicht sein.63 Die von Bogoraz gewählte Formulierung entsprach vielmehr dem Kampf gegen die Religionen während des Stalinismus. In das Positive gewendet, mag sie auch aussagen: Nicht jeder Mensch kann ein Schamane werden und die Tätigkeit als eben solcher ist nervlich höchst belastend. Kurz: Die Trommel des Schamanen kann nicht jeder schlagen – was einfach aussehe, so Bogoraz über die Čukčen vor der Revolution, erfordere „große Erfahrung und Kunst“.64 Doch die Trommel des Schamanen hatte nun zu schweigen. Was im Mittelalter bekannt wurde, um 1700 einen richtiggehenden „Schamanen-Tourismus“ auslöste, verstummte im Laufe des letzten Jahrhunderts fast vollständig.

63 Vielleicht spielte er auf die in Reiseberichten seit dem Mittelalter betonte Ähnlichkeit der Schamanentänze zur Epilepsie an; vgl. HARVA, Vorstellungen, S. 450f. 64 BOGORAZ, Vladimir G., Čukči. Avtorizovannyj perevod s anglijskogo, Čast’ II: Religija, Leningrad 1939, S. 113. Zuerst leicht verändert auf Englisch erschienen: DERS., The Chukchee, II: Religion, Leiden 1907.

DER PROPHET IM LYRISCHEN SCHAFFEN A. S. PUŠKINS UND M. JU. LERMONTOVS Michael Düring Als Aleksandr Sergeevič Puškin (1799–1837) in der Hochphase der russischen Romantik im Jahre 1826 sein Gedicht Prorok („Der Prophet“) verfasste und damit das Motiv1 der Inspiration des Dichter-Propheten durch eine göttliche Instanz verbildlichte – И он мне грудь рассек мечом, И сердце трепетное вынул, И угль, пылающий огнем, Во грудь отверстую водвинул. Как труп в пустыне я лежал, И бога глас ко мне воззвал: „Восстань, пророк, и виждь, и внемли, Исполнись волею моей, И, обходя моря и земли, Глаголом жги сердца людей“ (21–30)2 –,

konnte er nicht ahnen, dass Michail Jurʼevič Lermontov (1814–1841), vielleicht der romantischste russische Dichter überhaupt, dieses Motiv fünfzehn Jahre später in einem Gedicht mit dem gleichen Titel noch einmal aufgreifen würde, um eine andere Interpretation vorzunehmen. Können wir im Gedicht Puškins einen auch durch die archaisierende Sprache des lyrischen Ichs gekennzeichneten feierlichen Inspirationsmoment erleben – „бога глас“ (Vers 26), „Исполнись волею моей“ (Vers 28) –, so „erdet“ Lermontov die nun veränderte Situation durch den Gebrauch einfacher Sprache in der direkten Rede, etwa im Wort „Глупец“ (Vers 23), doch knüpft er durch die Verwendung von Kirchenslawismen, wie im Verb „гласит“ erkennbar, auch direkt an Puškin an: Смотрите: вот пример для вас! Он горд был, не ужился с нами: Глупец, хотел уверить нас, Что бог гласит его устами! Смотрите ж, дети, на него: Как он угрюм, и худ, и бледен! 1 2

Motiv wird hier im Sinne Frenzels verstanden; vgl. FRENZEL, Elisabeth, Vorwort, in: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte, hrsg. von DERS., 2. Aufl., Stuttgart 1980, S. V–XVI, hier S. VI–VII. PUŠKIN, A. S., Sočinenija v trech tomach, Bd. 1: Stichotvorenija, skazki, Ruslan i Ljudmila, Moskau 1985, S. 385f. Die in Klammern angegebenen Zahlen bezeichnen die zitierten Verse.

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Michael Düring Смотрите, как он наг и беден, Как презирают все его! (21–28)3

Damit verändert sich innerhalb von fünfzehn Jahren das Motiv vom göttlich inspirierten Dichter-Propheten hin zur vom Pöbel, von der Menge verachteten Spottfigur. Der Zeitraum 1826 bis 1841 umfasst zu großen Teilen eine Epoche der russischen Literatur, die in der einschlägigen Forschung übereinstimmend als Romantik bezeichnet wird.4 A. S. Puškin ist, wenn auch nicht als deren Begründer, so doch als derjenige Künstler anzusehen, der dank seiner Fähigkeiten die zur damaligen Zeit prägenden künstlerisch-ästhetischen Entwicklungen synthetisierte und damit das sogenannte „Goldene Zeitalter“5 der russischen Literatur einläutete. M. Ju. Lermontovs Spätwerk indes steht am Ende der Epoche, seine Skizze Kavkazec (1841) etwa markiert bereits den Übergang zur in der russischen Literaturgeschichtsschreibung gemeinhin als natural’naja škola (natürliche Schule) bezeichneten Übergangsetappe hin zum Realismus des späteren 19. Jahrhunderts.6 Daher verwundert es nicht, wenn die Prophetenfiguren der beiden Dichter sich in ihrer Selbst- und Fremdwahrnehmung unterscheiden (müssen), steht der eine doch am Anfang einer Epoche, die dem Dichter-Propheten eine bestimmte Funktion innerhalb des romantischen Codes7 zuspricht, während der andere ganz offenbar die Gegenrolle zugewiesen bekommt, weil sich in der „literarischen Landschaft“ etwas verändert hat. Handelt es sich bezüglich der beiden zuvor zitierten Gedichte vor allem um einen Dichter-Dialog im Sinne intertextuellen Lesens, so ist im Kontext des vorliegenden Beitrags die Frage zu stellen, wie sich die im lyrischen Schaffen Puškins und Lermontovs doch mehrfach auftretenden Prophetenfiguren entwickeln und in welcher Weise sich das damit assoziierte romantische Motiv im Laufe der Jahre 1826–1841 auch in kreativer Auseinandersetzung mit ästhetischen Entwicklungen verändert, sowie welches Spektrum an Wahrnehmungen eines Propheten sich entfaltet hat. A. S. PUŠKIN UND SEINE PROPHETEN In seinem Gedicht an den Poeten Nikolaj Michajlovič Jazykov (1803–1846) (K Jazykovu – „An Jazykov“) aus dem Jahr 1826 greift Puškin, wie im oben zitierten Prorok, ebenfalls auf das Motiv des Propheten zurück. Berichtet das lyrische Ich 3 4 5 6 7

LERMONTOV, M. Ju., Sočinenija, Bd. 1, Moskau 1988, S. 224f. Vgl. TSCHIŽEWSKIJ, Dmitrij, Russische Literaturgeschichte des 19. Jahrhunderts, Bd. 1: Die Romantik (Forum Slavicum, 1), München 1964. So die allgemein akzeptierte Bezeichnung für diesen Zeitraum in der Entwicklung der russischen Literatur; vgl. exemplarisch LAUER, Reinhard, Geschichte der russischen Literatur. Von 1700 bis zur Gegenwart, München 2000, S. 151–153, 180–186. Vgl. ebd., S. 284–289. Vgl. LOTMAN, Ju. M., Die Struktur literarischer Texte, 3. Aufl., München 1989, S. 43–54 (zur Pluralität der künstlerischen Codes und der Größe der Entropie in den künstlerischen Sprachen).

Der Prophet im lyrischen Schaffen A. S. Puškins und M. Ju. Lermontovs

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im Prorok-Gedicht allerdings noch von der Inspiration des Propheten durch göttliche Einwirkung – „И он мне грудь рассек мечом / И сердце трепетное вынул“ (Verse 21–22) –, ohne dass damit eindeutig zu klären wäre, ob der Prophet hier allegorisch für eine bestimmte Dichterfigur der Zeit steht, so wird dies in dem Gedicht K Jazykovu aus folgenden Versen doch eindeutig ersichtlich: Я жду тебя. Тебя со мною Обнимет в сельском шалаше Мой брат по крови, по душе, Шалун, замеченный тобою; И муз возвышенный пророк, Наш Дельвиг все для нас оставит. (34–39)8

In den zitierten Versen geht es also um eine andere, namentlich ausdrücklich genannte Dichterpersönlichkeit, vom lyrischen Ich als „И муз возвышенный пророк“ („erhabener Prophet der Musen“) (Vers 38) benannt, Anton Antonovič Del’vig (1798–1831). Er ist als unmittelbarer Zeitgenosse Puškins damit ein konkret fassbarer Dichter-Prophet, der, ganz im Geiste der Romantik, als „Liebling“ der Musen auftritt und deswegen ein traditionelles, den Bereich der Literatur nicht transzendierendes Motiv darstellt. Anders verhält es sich mit Puškins Gedichtzyklus Podražanie Koranu („Nachahmung des Koran“, 1826), der, wie der Titel erhellt, zumindest auf den ersten Blick in einen religiös konnotierten Bereich wechselt: О, жены чистые пророка, От всех вы жен отличены: Страшна для вас и тень порока. Под сладкой сенью тишины Живите скромно: вам пристало Безбрачной девы покрывало. Храните верные сердца Для нег законных и стыдливых, Да взор лукавый нечестивых Не узрит вашего лица! (17–26) А вы, о гости Магомета, Стекаясь к вечери его, Брегитесь суетами света Смутить пророка моего. В паренье дум благочестивых, Не любит он велеречивых И слов нескромных и пустых: Почтите пир его смиреньем, И целомудренным склоненьем Его невольниц молодых. (27–36)9

8 9

PUŠKIN, Sočinenija v trech tomach, Bd. 1, S. 310f. Ebd., S. 321f.

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Hingewiesen wird hier in der ersten Strophe zunächst auf die mit der Welt des Propheten Mohammed stets assoziierten Jungfrauen („жены чистые“)10, die in ihrer Reinheit nicht durch Blicke von außen beschmutzt werden dürfen: Храните верные сердца Для нег законных и стыдливых, Да взор лукавый нечестивых Не узрит вашего лица! (23–26)11

In der zweiten oben zitierten Strophe werden Fremde sodann darauf verwiesen, sich in der Nähe des Propheten angemessen zu verhalten und die beschriebene Atmosphäre des Friedens und der Ruhe nicht zu stören: А вы, о гости Магомета, Стекаясь к вечери его, Брегитесь суетами света Смутить пророка моего. (27–30)12

Damit ist zwar deutlich ein religiöser Kontext alludiert, doch obgleich das Gedicht den Titel Podražanie Koranu trägt, ist damit dennoch keine Übertragung eines religiösen Textes im engeren Sinne gemeint. Folglich ist im vorliegenden Fall die Transposition der Eigenschaften der Figur des Propheten aus dem Bereich des Religiösen in den weltlichen Bereich der Dichtung möglich. Damit aber wären Bedingungen des Dichtens und Wesenszüge des Dichters zugleich genannt: Stille und Reinheit, Bescheidenheit und die Fähigkeit zu schweigen sowie die Affinität zur Weisheit. All diese Eigenschaften finden – wenn auch nur implizit – Erwähnung in einem weiteren Gedicht, das wie oben einem Puškinschen zeitgenössischen Autor gewidmet ist, Gnediču („An Gnedič“, 1832). Der darin apostrophierte Dichter, Nikolaj Ivanovič Gnedič (1784–1833), schwebt hier in für den gewöhnlichen Menschen unerreichbaren Höhen und wird zu einer Art neuem Moses, der seinen „unsinnigen Kindern“ („бессмысленныe дети“, Vers 11) die (Gesetzes-)Tafeln der Dichtung vom Olymp hinunterbringt, was sich auf formaler Ebene im Wechsel vierhebiger Jamben und feierlicher Alexandriner spiegelt: И что ж? ты нас обрел в пустыне под шатром, В безумстве суетного пира, Поющих буйну песнь и скачущих кругом От нас созданного кумира. Смутились мы, твоих чуждаяся лучей. В порыве гнева и печали

10 Jungfrauen sind in der Vorstellung des Islam Bewohnerinnen des Paradieses. Auf sie wurde in jüngster Zeit auch in Karikaturen Bezug genommen; vgl. dazu etwa die Karikatur von Jens Julius, auf der Prophet Mohammed und islamistische Attentäter zu sehen sind, die ins Paradies wollen, in dem es aber keine Jungfrauen mehr gibt; der Text zum Bild lautet: “Stop, Stop, We have run out of Virgins!” 11 PUŠKIN, Sočinenija v trech tomach, Bd. 1, S. 321. 12 Ebd.

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Ты проклял ли, пророк, бессмысленных детей, Разбил ли ты свои скрижали? (5–12)13

Erneut wird hier der Dichter mit einem Propheten gleichgesetzt, der im vorliegenden Kontext aber keine religiöse Offenbarungsfunktion übernimmt, sondern künstlerische Inspiration bringt. Von einem „gestürzten“ Propheten berichtet schließlich noch das Gedicht Francuzskich rifmačej surovyj sudija („Der finstre Richter französischer Reimerlinge“, 1833), in dem das lyrische Ich unmittelbar den französischen Verfasser einer Regelpoetik, Nicolas Boileau Despreaux (1636–1711), apostrophiert, um den Verfall der zeitgenössischen Dichtung zu beklagen: Французских рифмачей суровый судия, О классик Депрео, к тебе взываю я: Хотя, постигнутый неумолимым роком, В своем отечестве престал ты быть пророком, Хоть дерзких умников простерлася рука На лавры твоего густого парика; [...] (1–6)14

Besonders mit Vers 4 („В своем отечестве престал ты быть пророком“ / „In deinem Heimatland bist längst du kein Prophet mehr“) spielt das lyrische Ich zwar direkt auf den Verfall des Ansehens Boileaus an, der von einem der wichtigsten Dichter des 17. Jahrhunderts zu einem der vergessenen Autoren des 19. Jahrhunderts geworden ist und der, wenn überhaupt, nur noch als Verfasser einer Regelpoetik wahrgenommen wird. Damit ist aber im Sinne eines pars pro toto, wie oben bereits angedeutet, natürlich der Verfall der französischen Dichtung insgesamt Thema des Gedichts. Darüber hinaus zeigen diese Verse aber, dass das Motiv des Propheten den Bereich der Kunst hier noch nicht transzendiert. Demgegenüber eröffnet das Gedicht Talisman (1827) mit der darin erzählten Geschichte eines Geschenks, eben jenes Talismans, einer liebenden Frau an das lyrische Ich eine andere Deutungsebene. Es enthält die Aufzählung dessen, wovor ein Talisman schützt und wovor nicht. Er schützt etwa vor den verführerischen Blicken einer anderen Frau und deren Küssen, er schützt vor Verbrechen, Herzenswunden, Verrat und Vergessen: Но когда коварны очи Очаруют вдруг тебя, Иль уста во мраке ночи Поцелуют не любя ‒ Милый друг! от преступленья, От сердечных новых ран, От измены, от забвенья Сохранит мой талисман! (25–32)15

13 Ebd., S. 507f. 14 Ebd., S. 524f. 15 Ebd., S. 409f.

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Bemerkenswert ist nun, dass der Talisman aus einer östlichen, exotischen Kultur stammt, die eindeutig als islamisch gekennzeichnet ist und in der eine „волшебница“ („Zauberin“) ihn mit besonderen Fähigkeiten ausstattet: Где, в гаремах наслаждаясь, Дни проводит мусульман, Там волшебница, ласкаясь, Мне вручила талисман [...] (5–8)16

Damit aber eröffnet dieses Gedicht keine allegorische Übertragung des Prophetenbegriffs auf die Ebene der Kunst oder der Dichtung mehr, sondern impliziert, wie die folgenden Verse zeigen, die kämpferische Auseinandersetzung zwischen Vertretern verschiedener Glaubensrichtungen: И богатствами Востока Он тебя не одарит, И поклонников пророка Он тебе не покорит; [...] (17–20)17

Der Talisman, hier im Personalpronomen „on“ apostrophiert, wird dem lyrischen Ich demnach nicht „die Reichtümer des Ostens bescheren“ (vgl. Verse 17–18) und schon gar nicht dazu beitragen, dass sich die Anhänger des Propheten Mohammed dem lyrischen Ich, das ganz offenbar einer christlichen Religion angehört, unterwerfen. Doch der Talisman hilft auch nicht bei der Bewältigung der Sehnsucht nach der Heimat – „край родной“ – (Vers 23): И тебя на лоно друга, От печальных чуждых стран, В край родной на север с юга Не умчит мой талисман [...] (21–24)18

Auf den hier angedeuteten Gegensatz zwischen den Religionen verweist abschließend auch das Gedicht Stambul gjaury nynče slavjat („Heute ehren die Giaoure Stambul“, 1830), dessen erster Vers den Räuber der Byronschen Dichtung in all seiner Ambivalenz assoziiert19 und Istanbul in den weiteren Versen in Gefahr geraten lässt, vom Westen „verdorben“ zu werden – eine derzeit ja durchaus aktuelle Diskussion: Стамбул отрекся от пророка; В нем правду древнего Востока Лукавый Запад омрачил – [...] (6–8)20

16 17 18 19

Ebd., S. 409. Ebd., S. 410. Ebd. Vgl. BERNHARD-JACKSON, Emily A., The Development of Byron’s Philosophy of Knowledge. Certain in Uncertainty, Basingstoke 2010, S. 57–80 (“Plenitude and the Loss of Knowledge in The Giaour”, bes. S. 58f.). 20 PUŠKIN, Sočinenija v trech tomach, Bd. 1, S. 483f.

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Das Motiv des „Propheten“ ist hier somit erneut eindeutig nicht mehr der dichterischen Sphäre zuzuordnen, sondern markiert ganz ausdrücklich einen religiös-politischen Kontext, der Widersprüche zwischen Weltanschauungen erkennbar werden lässt. Damit lassen sich in der Dichtung Puškins zwei zentrale Verständnisbereiche für das Motiv des „Propheten“ identifizieren. Im ersten verwendet Puškin es im für die russische Romantik typischen allegorischen Sinne, das heißt der Prophet steht im Text für eine Dichterpersönlichkeit, die dank göttlicher Inspiration und aufgrund ihrer Fähigkeiten besonders geeignet scheint, existentielle dichterische Wahrheiten zu verkünden, und die dazu von Puškin mehrfach mit zeitgenössischen Dichterfreunden gleichgesetzt wird. Der zweite hier behandelte Bereich eröffnet mit dem religiösen Kontext eine weitere, konkretere Deutungsmöglichkeit, denn der Prophet ist hier nicht mehr Allegorie für einen Dichter, sondern politisch-religiös, insofern der Prophet des Islam, Mohammed, assoziiert wird, der eine dem Christentum entgegengesetzte, fremde religiöse Weltsicht vertritt. Diese wird aber nicht explizit als Quelle von Konflikten gesehen, sondern vielmehr – und auch dies ist Teil des romantischen Codes – als Repräsentanz des Exotischen. M. JU. LERMONTOV UND SEINE PROPHETEN Sowohl die auch heute noch maßgebliche Studie von Boris Michajlovič Ėjchenbaum21 als auch die Lermontovskaja Ėnciklopedija22 unterteilen das Schaffen M. Ju. Lermontovs in zwei zentrale Schaffensphasen – in die Jahre 1828–1837 sowie in die Jahre 1837–1841. Die erste wird als Jugendphase, die zweite als Reifephase bezeichnet, die Grenze zwischen beiden markiert der Tod Puškins, auf den Lermontov ja sein Gedicht Smertʼ poėta („Der Tod des Dichters“) verfasste.23 Aus dieser Einteilung lässt sich nun über die zuvor zum Werk Puškins formulierten Fragen hinaus das Erkenntnisinteresse herleiten, ob die literarische Darstellung der Figur eines Propheten im Schaffen Lermontovs sich entsprechend dieser zwei Phasen entwickelt. Gibt es also einen Propheten der Jugendphase und einen der reifen Periode und wie unterscheidet sich diese Figur von der im Werk Puškins? Schaffensphase 1828–1837 In der ersten Schaffensphase M. Ju. Lermontovs gibt es indes nur einen Text, in dem das Motiv des Propheten verwendet wird. Es handelt sich dabei um ein autobiographisch anmutendes Jugendgedicht mit dem Titel 1831-go ijunja 11 dnja („11. Juni 1831“). Darin wird in romantischer Selbststilisierung das Bild des einsamen, 21 Vgl. ĖJCHENBAUM, Boris M., Lermontov (Slavische Propyläen, 35), München 1967, S. 63–77. 22 Vgl. ANDRONIKOV, I., Obraz Lermontova, in: Lermontovskaja Ėnciklopedija, hrsg. von V. A. MANUJLOV, Moskau 1981, S. 12–22. 23 Vgl. LERMONTOV, Sočinenija, Bd. 1, S. 157–159.

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aufrührerischen Poeten evoziert – Lermontov ist hier 17 Jahre alt –, dessen Leben von „Qualen“ und „Träumen“ geprägt ist: И те мгновенья были мук полны, И населял таинственные сны Я этими мгновеньями. (5–7)24

Zudem aber ist das lyrische Ich inspiriert von „erhabenen Leidenschaften“ – „Пыл страстей / Возвышенных я чувствую“ (19–20)25 –, womit ein weiterer Topos romantischen Dichtens evoziert wird. Überhaupt erscheint dieses Jugendgedicht Lermontovs wie eine plagiierende Aufzählung romantischer Topoi und Motive, denn der an den zuvor zitierten anschließende Topos ist ebenfalls einschlägig bekannt, akzentuiert er doch die Einsamkeit des Dichters: И я влачу мучительные дни Без цели, оклеветан, одинок; Но верю им! ‒ неведомый пророк Мне обещал бессмертье, и, живой, Я смерти отдал все, что дар земной. (27–31)26

Auffallend sind hier stereotype Topoi und Motive wie Qual, Ziellosigkeit, Einsamkeit, Unsterblichkeit sowie Todessehnsucht. Doch jenseits der Auflistung dieser Stereotypen wird deutlich – die Inspiration des lyrischen Ich erfolgt durch einen „unbekannten Propheten“ („неведомый пророк“, Vers 29), der hier also aus der künstlerischen Sphäre stammt und ganz im Geiste der Puškinschen Dichtung stehen dürfte.27 24 25 26 27

Ebd., S. 72–80, hier S. 72. Ebd. Ebd., S. 73. Vgl. auch LERMONTOV, Ju. M., Maskarad, Moskau 1985: Арбенин: (идет задумчив): Кто этот злой пророк [...] / Он должен знать меня [...] и вряд ли это шутка (I, 7, vi). // Арбенин (вздрогнув): Пророков не люблю – и выйти вас / Прошу немедленно. Я говорю серьезно. (IV, 1, viii). Arbenin, Held des frühen Stückes Lermontovs mit dem Titel Maskarad, wird im Verlauf des Stückes mit verschiedenen Personen konfrontiert, u.a. mit einem Fürsten (knjazʼ) und einem Unbekannten (neznakomyj), deren Handlungen sich ihm nicht erschließen und die er daher als „злые пророки“ / „schlechte Propheten“ respektive „пророков не люблю“ / „Propheten, die man nicht mag“ beschreibt. Hier wird im Unterschied zum oben zitierten Gedicht also weder auf die dichterische noch auf die religiöse Sphäre angespielt, sondern der Begriff des Propheten dient lediglich der Beschreibung einer Person, die Unbehagen hervorruft. Religiös konnotiert ist die Figur des Propheten allerdings in einem früheren Dramenfragment mit dem Titel Ispancy (1830); vgl. dazu LERMONTOV, M. Ju., Ispancy [URL: http://www.lib.ru/ LITRA/LERMONTOW/ispancy.txt (Zugriff 15.10. 2015)], dessen Handlung sich unter Juden in Kastilien wohl zur Zeit der Inquisition abspielt. Wird hier also auf einen Propheten hingewiesen, handelt es sich dabei um eine religiöse Figur. So äußert sich Noėmi, Tochter des Juden Mojsej: „Наш род древней испанского ‒ и их / Пророк рожден в Ерусалиме! / Смешно! они хотят, чтоб мы / Их приняли закон ‒ но для чего?“ (I, 2). Auf den brennenden Dornbusch (vgl. Buch Ex. 3, 2) spielt zudem die dritte Strophe eines jüdischen Lieds an, das in Akt III, Szene 2 des Dramas gesungen wird: „Изгнанное пеплом посыпь те чело / И молитесь вы ночью при хладной луне, / Чтоб стенанье израильтян тронуть могло / Того, кто явился к пророку в огне! […].

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Schaffensphase 1837–1841 In der reifen Phase seiner Dichtung greift Lermontov in insgesamt drei Gedichten auf das Motiv des Propheten zurück. Dabei signalisiert der Titel des ersten Gedichts, Poėt (1839), die Eingrenzung der Figur des Propheten auf die Person eines Dichters, der in diesem Text allegorisch zunächst mit einem Dolch gleichgesetzt wird – einem Dolch allerdings, der in Vergessenheit geraten ist wie ein Dichter früherer Zeiten: Его не чистит, не ласкает, И надписи его, молясь перед зарей, Никто с усердьем не читает [...] В наш век изнеженный не так ли ты, поэт, Свое утратил назначенье, […] (22–26)28

Wir erfahren also von einer Dichterfigur, die in einem „век изнеженный“ („verweichlichten Jahrhundert“) ihre Bedeutung verloren, vormals aber Götter beeindruckt und den Menschen zu stummer Ehrfurcht geführt hat. Die im Folgenden zitierte rhetorische Frage am Ende des Gedichts richtet sich demnach nicht mehr und nicht weniger darauf, ob der Dichter wieder zu alter Kraft zurückfindet oder ob – im Sinne der Allegorie des Dolches – die verrostete Klinge in der Scheide bleibt: Проснешься ль ты опять, осмеянный пророк! Иль никогда, на голос мщенья, Из золотых ножон не вырвешь свой клинок, Покрытый ржавчиной презренья? [...] (42–44)29

Zu Beginn des vorliegenden Beitrags wurde in den beiden Prorok-Gedichten Puškins und Lermontovs erkennbar, wie sich das Bild des Dichter-Propheten verändert. Doch diese Veränderung zeigt sich bereits in Lermontovs Gedicht Poėt von 1839, denn wenn der Dolch mit dem „Rost der Verachtung“ (vgl. Vers 44) überzogen ist, dann antizipiert dieser Vers, zusammen mit Vers 42, „Проснешься ль ты опять, осмеянный пророк“ („wirst du noch einmal erwachen, verspotteter Prophet“), bereits das aus der Kontrafaktur Lermontovs von 1841 bekannte Bild. Anders verhält es sich nun mit dem Gedicht Tri palʼmy (1839), in dem eine Wüstenszenerie entworfen wird, die ganz die Sehnsucht der Romantik(er) nach dem Exotischen abzubilden scheint.30 Dadurch aber ist zugleich ein durch den Islam bestimmter religiöser Raum konnotiert. Während es in dem Gedicht Poėt also autothematisch und selbstreflexiv in Form der Dichtung um Fragen des Dichtens geht, steht im Mittelpunkt von Tri pal’my ganz anschaulich eine Karawane, deren Reiter in einer Oase drei Palmen fällen und zu Feuerholz verarbeiten. Damit ist, um eine aktuelle Debatte aufzugreifen, nun nicht nur ein ökologischer Frevel angedeutet, sondern auch das Problem, dass die versandende Oase für nachfolgende Karawanen

28 LERMONTOV, Sočinenija, Bd. 1, S. 172–174, hier S. 172. 29 Ebd., S. 173. 30 Vgl. auch das Gedicht Vetka palestiny von 1836. Ebd., S. 159.

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kein Wasser mehr spenden wird. Und an dieser Stelle kommt der Prophet, hier wohl Mohammed, ins Spiel: И ныне все дико и пусто кругом ‒ Не шепчутся листья с гремучим ключом: Напрасно пророка о тени он [karawan] просит ‒ Его лишь песок раскаленный заносит Да коршун хохлатый, степной нелюдим, Добычу терзает и щиплет над ним. (55–60)31

Die hier dominierende Lexik des „Wilden“ und „Leeren“ (vgl. Vers 55) macht deutlich, dass die nächste Karawane sich nicht mehr im Schatten der Palmen ausruhen und ihre Trinkwasserflaschen auffüllen kann, selbst die Bitte an den „Propheten um Schatten“ (vgl. Vers 57) kann nicht mehr erfüllt werden. In diesem Gedicht wird das Motiv des Propheten demnach im religiösen Sinne aktualisiert. Religiös konnotiert ist darüber hinaus aber auch die Prophetenfigur aus dem längeren Gedicht Valerik (1840), in dem das lyrische Ich seine aus einer unglücklichen Liebe resultierende Lebensmelancholie beschreibt und in diesem Zusammenhang über die historisch überlieferte Schlacht am Fluss Valerik in Tschetschenien berichtet, an der Lermontov, wie wir aus der Forschungsliteratur wissen, selbst beteiligt war32: Чу ‒ дальний выстрел! Прожужжала Шальная пуля [...] славный звук [...] Вот крик ‒ и снова все вокруг Затихло [...] (81–84)33

Die Topographie des Kaukasus als Topos des Exotischen ruft hier erneut den religiösen Raum des Islam auf. Wenn das lyrische Ich im Folgenden also vom „Propheten“ spricht, dann wird wohl wieder Mohammed alludiert: Не все ль одно. Я жизнь постиг; Судьбе как турок иль татарин За все я ровно благодарен; У бога счастья не прошу И молча зло переношу. Быть может, небеса Востока Меня с ученьем их пророка Невольно сблизили. (40–47)34

Damit ist Lermontov in diesem Gedicht weder allegorisch noch überträgt er die Prophetenfigur in den Bereich der Kunst, sondern belässt sie in einer religiösen Sphäre, der sich das lyrische Ich, wie im letzten hier zitierten Vers angedeutet, „unfreiwillig“, vielleicht aber auch „unwillkürlich“, annähert. Grundsätzlich gilt wohl: Eine Entwicklung des Motivs des Propheten in der Lyrik Lermontovs, die sich nach den Schaffensperioden richtet, kann nicht festgestellt werden. Wohl aber fällt, wie 31 32 33 34

Ebd., S. 179. Vgl. ebd., S. 689. Ebd., S. 201f. Ebd., S. 201.

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bei Puškin, die „Verteilung“ des Motivs auf zwei Seinsbereiche auf, den der dichterischen Allegorie sowie die konkrete Verwendung des Prophetenbegriffs in einer religiös konnotierten Sphäre. RESÜMEE Der direkte Vergleich lyrischer Texte der beiden russischen Dichter A. S. Puškin und M. Ju. Lermontov zeigt einen durchaus überschaubaren Gebrauch des Motivs respektive der Figur des Propheten. Dies überrascht, denn die Bedeutung des Motivs des Propheten im Sinne dichterischer Inspiration oder der Welterklärung ist für die Romantik weithin bekannt und ausführlich erläutert.35 Erkennbar wird aber auch, dass die oben zitierten Gedichte zwei Seinsbereiche konstituieren, in denen das Motiv respektive die Figur Sinn stiftet. Es handelt sich dabei einmal um das Motiv des Propheten, der hier allegorisch oder vergleichend Inspiration und Weitsicht des romantischen Dichtertypus verkörpert. Im Schaffen A. S. Puškins ist er derjenige, der den Menschen nach göttlicher Inspiration die Wahrheit bringt, die sich auch in anderen Dichterfiguren manifestiert. Bei M. Ju. Lermontov indes hat der Prophet diese Funktion bereits verloren, er ist, so scheint es, nunmehr eine desillusionierte Spottfigur, die, ebenso wie ein verrosteter Dolch, zu nichts mehr zu gebrauchen ist und sich damit deutlicher auf der Motivebene des romantischen Codes bewegt als die Propheten Puškins. Verlassen die Dichter aber den allegorisch-literarischen Bereich, dann wird die Figur des Propheten „materialisiert“ zu einem religiösen Propheten, mithin zum Repräsentanten einer Weltreligion, der im Kontext des Exotischen der russischen Romantik eindeutig als der Prophet Mohammed zu identifizieren ist.36 Mohammed nun ist Vertreter einer östlichen Religion, die der eigenen, orthodoxen zwar grundsätzlich antagonistisch gegenübersteht, die man aus der exotischen romantischen Kaukasusbewunderung heraus aber doch als Teil einer fremden Welt in die eigene transferiert. Damit aber ist Prophet nicht gleich Prophet, vor allem aber ist er nicht unbedingt ein Feind des Eigenen.

35 Vgl. etwa TSCHIŽEWSKIJ, Russische Literaturgeschichte, Bd. 1, S. 69–72. 36 Als Teil der Konstruktion und Wahrnehmung der Exotik des Orients rückt der Islam in der russischen Romantik in das Blickfeld Intellektueller und Schriftsteller. Vielleicht liegt darin eine mögliche Antwort auf die berechtigte Frage, warum der Prophet Jesus Christus in der Lyrik Puškins und Lermontovs keine herausragende Rolle zu spielen scheint; vgl. dazu exemplarisch das Gedicht Christos voskres A. S. Puškins, in dem das lyrische Ich seine Bereitschaft bekundet, aus Liebe zu einem jüdischen Mädchen vom orthodoxen zum jüdischen Glauben zu konvertieren.

GAB ES EINE „RELIGIÖSE NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK“ IN DER FRÜHEN SOWJETUNION? Die Antireligiöse Kommission des Zentralkomitees und die russisch-orthodoxe Kirche Julia Röttjer Das Dekret „Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“1, welches der Rat der Volkskommissare 1918 erließ, legte das Fundament für eine völlig neuartige rechtliche Basis der Kirche und der Religionsausübung in der Sowjetunion. Auf dieser Grundlage wurde Ende 1922 die Antireligiöse Kommission beim Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei formell gegründet: Der Anspruch einer revolutionären Religionspolitik konnte nur sein, das Verhältnis von Kirche und Staat von Grund auf zu verändern. Die Antireligiöse Kommission befasste sich mit prinzipiellen wie alltäglichen Bereichen des religiösen Lebens – etwa Recht, Dogma, Kultausübung, religiöse Unterweisung, Literatur – bis hin zu religiösen Feiertagen und kirchlicher Musik. Anhand der angesprochenen Interessenkomplexe stellt sich die Frage, ob in der Arbeit der Antireligiösen Kommission generelle Zielsetzungen der bolschewistischen Ideologie thematisiert und welche Methoden der antireligiösen Propaganda berücksichtigt wurden. Das in der Forschung omnipräsente Dilemma der Unterscheidung von theoretischem Anspruch der Bekämpfung von Kirche und Religion auf der einen Seite und ihrer praktischen Umsetzung auf der anderen Seite, welches durch das Problem der Selbststilisierung der Bol’ševiki verstärkt wurde, kann anhand der „allwöchentlichen“ Kommissionsarbeit, in der gerade nicht die theoretischen Hintergründe zur Lehre des Sozialismus und die umfassenden Kulturentwürfe zur Schaffung des „Neuen Menschen“ hervortraten, erhellt werden. Dies ermöglicht eine kritische Einordnung der Religionspolitik in einen Rahmen politischer Handlungsweisen und -strategien, der für die 1920er Jahre unter dem Signum der Neuen Ökonomischen Politik (Novaja Ėkonomičeskaja Politika – NĖP)2 gefasst 1

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Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche. Dekret des Rats der Volkskommissare (23.01.1918), in: Die Orthodoxe Kirche in Rußland. Dokumente ihrer Geschichte (860–1980), hrsg. von Peter HAUPTMANN und Gerd STRICKER, Göttingen 1988, Nr. 217 [Edition: Sobranie uzakonenij i rasporjaženij, 1918, Nr. 18, Art. 263], S. 648f. Vgl. etwa Russia in the Era of NEP. Explorations in Soviet Society and Culture, hrsg. von Sheila FITZPATRICK, Alexander RABINOWITCH und Richard STITES, Bloomington 1991; BEICHLER, Eckehart, „Kriegskommunismus“ und „Neue Ökonomische Politik“ in ihren Auswirkungen auf die bolschewistische Religionspolitik. Von der Religionskritik der marxistischen Klassiker zur religionspolitischen Praxis im bolschewistischen Russland der Jahre 1917

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worden ist, hinter dem sich bei näherer Betrachtung jedoch disparate Entwicklungen verbergen können. Die Ausgestaltung der politischen Felder unterschied sich von den radikaleren Phasen des vorhergehenden Bürgerkrieges und des folgenden forcierten Aufbaus des Sozialismus durch die flexibleren Methoden, mit denen die etappenweise Umsetzung der kommunistischen Fernziele erreicht werden sollte. Welche Auswirkungen hatte diese Politik der machthabenden Partei auf die Religions- und Kirchenpolitik und damit auch auf die Antireligiöse Kommission? Die Protokolle der von 1922 bis 1929 bestehenden Antireligiösen Kommission sind 2007 in deutscher Übersetzung erschienen, eine russische Edition liegt seit 2014 vor.3 Ludwig Steindorff, der die deutsche Ausgabe der Protokolle betreute, verstand diese in Vernetzung mit anderen, bereits publizierten Quellen als „Spiegel der Politik gegenüber den Glaubensgemeinschaften [...]. Sie lassen sich zudem als ein Paradigma für das Funktionieren de[s] sowjetischen Systems, des Zusammenwirkens von Partei und Staat, in den zwanziger Jahren auswerten“.4

Am 17. Oktober 1922 wurde die „Kommission zur Durchführung der Trennung der Kirche vom Staat“ durch einen Beschluss des Organisationsbüros des Zentralkomitees der Russischen Kommunistischen Partei der Bol’ševiki (Orgbüro)5 offiziell ins

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bis 1928, Göttingen 1980; NĖP. Ėkonomičeskie, političeskie i sociokul’turnye aspekty, hrsg. von Aleksandr S. SENJAVSKIJ, Moskau 2006; NĖP v kontekste istoričeskogo razvitija Rossii XX veka, hrsg. von Andrej K. SOKOLOV, Moskau 2001; FITZPATRICK, Sheila, On Stalin’s Team. The Years of Living Dangerously in Soviet Politics, Princeton 2015; seit 2007 erscheint die Zeitschrift The NEP Era: Soviet Russia 1921–1928. Die deutsche Edition wurde als DFG-Projekt von Ludwig Steindorff (Kiel) und Günther Schulz (Münster) geleitet: Partei und Kirchen im frühen Sowjetstaat. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei (Bolʼševiki) 1922– 1929 (Geschichte – Forschung und Wissenschaft, 11), hrsg. von Ludwig STEINDORFF, in Verbindung mit Günther SCHULZ, unter Mitarbeit von Matthias HEEKE, Julia RÖTTJER und Andrej SAVIN, Münster 2007 [im Folgenden: Protokolle, gefolgt von Nummer und Datum der Sitzung; Archivsignatur nur in Ausnahmen]. Russische Edition: Protokoly Komissii po provedeniju otdelenija cerkvi ot gosudarstva pri CK RKP(b)-VKP(b) (Antireligioznoj komissii) 1922–1929 gg., hrsg. von V. V. LOBANOV, Moskau 2014. Die Verfasserin arbeitete an der deutschen Edition der Protokolle mit und hatte das Archivmaterial in Kopie vorliegen. Aufgrund der Auswertung der Originaldokumente entstand die (unveröffentlichte) Magisterarbeit: RÖTTJER, Julia, Die Antireligiöse Kommission beim Zentralkomitee und die Russisch-orthodoxe Kirche 1922–1929, Kiel 2004. STEINDORFF, Ludwig, Zwischen Bürokratie und Ideologie. Die Antireligiöse Kommission beim Zentralkomitee als Koordinator bolschewistischer Religionspolitik in den zwanziger Jahren, in: Kirchliche Zeitgeschichte 12 (1999), S. 106–142, hier S. 107. Das Orgbüro unter der Leitung Stalins war das ausführende Organ des Zentralkomitees; vgl. das Protokoll der Gründungssitzung, in: Politbjuro i cerkov’, 1922–1925 gg., hrsg. von N. N. POKROVSKIJ und S. G. PETROV (Archivy Kremlja), 2 Bde., Novosibirsk/Moskau 1997–1998, hier Bd. 1, Nr. 12–14, S. 324f., hier S. 324.

Gab es eine „religiöse Neue Ökonomische Politik“ in der frühen Sowjetunion?

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Leben gerufen.6 Der Vorsitzende Emelʼjan M. Jaroslavskij7 sowie sein Stellvertreter Nikolaj Popov kamen aus dem zentralen Parteiapparat, zu dem die Antireligiöse Kommission gehörte: Diese war ein dem Zentralkomitee zugeordnetes Gremium und in Entscheidungsfragen auf die drei Organe Sekretariat, Politbüro und Orgbüro angewiesen. Sie machte für jene Vorschläge und Entwürfe, entsandte Referent/innen, bezog Stellung zu religiösen Themen und bat um Beschlussfassungen zu bestimmten Fragen oder um die Ausführung eigener Entscheidungen.8 Andere Mitglieder der Antireligiösen Kommission standen für staatliche Organe: Evgenij Tučkov als Leiter der VI. Sektion (für Kirchenangelegenheiten) der Geheimabteilung der Staatssicherheit (GPU, seit Ende 1923: OGPU [Obedinennoe Gosudarstvennoe Političeskoe Upravlenie – Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung]) wurde zum Sekretär der Antireligiösen Kommission bestimmt, Vjačeslav Menžinskij vertrat ranghoch ebenfalls die Staatssicherheit, Petr Krasikov das Volkskommissariat der Justiz, Petr Smidovič das Allrussische Zentrale Exekutivkomitee. Die Kommission war also nach einem Konzept besetzt, das die mit Fragen der Religion befassten Institutionen koordinieren sollte und „zur Sicherung des Primates des Parteiapparates als Entscheidungsträger [diente]“.9 Die Religionsgemeinschaften kommunizierten nicht mit Parteigremien, sondern mit den staatlichen Organen. Dort reichten sie Anträge ein und von dort bekamen sie auch die Bescheide mitgeteilt. Dass mancher Vorgang unter Umständen eine „Reise“ in den zentralen Parteiapparat hinter sich hatte, in dem die entsprechende Entscheidung gefallen war, erschien für sie nicht erkennbar. Der innerparteiliche Schriftverkehr der konspirativ arbeitenden Kommission durfte dabei nicht in die Akten der Sowjetorgane gelangen. Die Kommission gab selbst keine Anweisungen an untergeordnete Behörden, sondern beauftragte nur ihre Mitglieder, in den von ihnen repräsentierten Institutionen, besonders in der Staatssicherheit und dem Volkskommissariat für Justiz, die Entscheidungen an untergeordnete Organe weiterzugeben. Allerdings gelangten nur einige Vorgänge, welche die Kirche und die Religion betrafen, überhaupt in diese zentrale Kommission; die meisten Fragen wurden, auch unter Beteiligung lokaler Parteistellen, innerhalb der Sowjetinstanzen vor Ort entschieden.10 Es gab kein organisiertes Netz von antireligiösen Kommissionen, die etwa von jener in der Zentrale systematische Anweisungen erhielten.

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Ebd., S. 325f. Zur Gründung siehe STEINDORFF, Bürokratie und Ideologie, sowie DERS., Einleitung, in: Protokolle, S. 11–33. Vgl. LUUKKANEN, Arto, The Party of Unbelief. The Religious Policy of the Bolshevik Party, 1917–1929 (Studia Historica, 48), Helsinki 1994, S. 126–128; KURLJANDSKIJ, Igorʼ A., Stalin, vlast’, religija, Moskau 2011, S. 168–191. 7 Vgl. die differenzierte Analyse dieses Akteurs durch DAHLKE, Sandra, Individuum und Herrschaft im Stalinismus. Emelʼjan Jaroslavskij (1878–1943) (Ordnungssysteme, 29), München 2010. Kurzbiographien für alle in diesem Aufsatz angegeben Personen in: Protokolle, S. 369– 403. 8 Etwa Protokolle, Nr. 71 vom 06.03.1926, Nr. 22 vom 22.05.1923. 9 STEINDORFF, Bürokratie und Ideologie, S. 116. 10 Ebd., S. 115–118.

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Wahrscheinlich ist, dass sich bei einigen Parteikomitees in der Provinz solche Gremien bildeten, doch sie wurden in keine koordinierte Struktur überführt.11 Sachgemäß lag einer der thematischen Schwerpunkte der Arbeit der Antireligiösen Kommission auf dem Verhältnis von Partei und Staat zur russisch-orthodoxen Kirche.12 Das Gremium befasste sich ebenfalls mit Muslimen, Katholiken, Protestanten13, Buddhisten, Juden sowie sogenannten „Sekten“.14 Dazu zählten in erster Linie Baptisten, Evangelisten und Mennoniten, aber auch die Zeugen Jehovas, russisch-orthodoxe „Altgläubige“ und andere genuin russische sowie sowjetische Glaubensgemeinschaften.15 Die Kommissionsarbeit zur antireligiösen Propaganda gestaltete sich religionsübergreifend mit einem besonderen Augenmerk auf der Bekämpfung der russischorthodoxen Kirche. Im Zentrum der Tätigkeit standen Veröffentlichungen antireligiöser Periodika, Aktivitäten des Komsomol im Zusammenhang mit orthodoxen Feiertagen16, Diskussionen um ein antireligiöses Museum, um antireligiöse Dispute sowie um den „Verband der Gottlosen“, dessen Leiter der Kommissionsvorsitzende Jaroslavskij war. Über den gesamten Zeitraum hinweg betraf über ein Drittel der Tagesordnungspunkte allein die russisch-orthodoxe Kirche. Dazu kamen weitere russisch-orthodoxe „Anteile“ an antireligiöser Propaganda, legislativen Maßnahmen und den unter „Sonstiges“ gesammelten Themen. Der Prozentsatz der ausschließlichen Beschäftigung der Antireligiösen Kommission mit der russisch-orthodoxen Kirche sank im Vergleich zur ersten Hälfte des Arbeitszeitraumes in der zweiten. 11 Kurz bevor die Antireligiöse Kommission selbst das letzte Mal tagte, plante sie, eine Konferenz vor Ort gebildeter Kommissionen einzuberufen; vgl. Protokolle, Nr. 44 vom 13.02.1924, Nr. 111 vom 22.03.1929, Nr. 117 vom 28.09.1929. 12 Für die Bezeichnung der in der Kirche aktiven Laien und Geistlichen wird in den Protokollen der Sammelbegriff cerkovniki („Kirchenleute“) verwendet. Die Attribute hierzu sind vielfältig und konnten nicht in einen pejorativen Kontext mit einer bestimmten Tendenz eingeordnet werden, wie es für andere Quellenbestände etwa geleistet wird von YOUNG, Glennys, Power and the Sacred in Revolutionary Russia. Religious Activists in the Village, University Park 1997, S. 253–258. 13 Vgl. die Analysen von SAVIN, Andrej, Antireligioznaja komissija pri CK RKP(b) – VKP(b) i evangel’skie cerkvi, in: Gosudarstvo i ličnostʼ v istorii Rossii, Novosibirsk 2004, S. 83–105; DERS., Sovetskoe gosudarstvo i evangelʼskie cerkvi Sibiri v 1920–1941 gg., Novosibirsk 2004; DERS., Ėtnokonfessija v sovetskom gosudarstve. Mennonity Sibiri v 1920–1930-e gody. Ėmigracija i repressii. Dokumenty i materialy, Novosibirsk 2009. 14 Für einen Themenüberblick bis hauptsächlich 1925 vgl. STEINDORFF, Bürokratie und Ideologie, S. 126–133. 15 Darunter galten etwa Molokanen und Duchoboren als russische „Sekten“, die krasnodrakonovcy (abgeleitet von „Roter Drachen“ als abschreckendes Bild der Sowjetmacht) als sowjetische. PUTINCEV, Fedor M., Političeskaja rol’ i taktika sekt, Moskau 1935, S. 447–477. Vgl. KRAPIVIN, M. Ju./LEJKIN, A. Ja./DALGATOV, A. G., Sudʼby christianskogo sektantstva v sovetskoj Rossii (1917 – konec 1930-ch godov), St. Petersburg 2003. 16 Die Parodie-Veranstaltungen zu Weihnachten und Ostern, für die der Komsomol die Verantwortung trug, sorgten durch ihre eindimensional provokative Art bes. in der Saison 1922/23 nicht nur in der Antireligiösen Kommission für Diskussionen; vgl. etwa Protokolle, Nr. 11 vom 30.01.1923, Nr. 12 vom 06.02.1923, Nr. 16 vom 20.03.1923.

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Von der Reorganisation, die bei der Neugründung der zentralen Antireligiösen Kommission vorgenommen wurde, waren mehrere Gremien betroffen, deren grundsätzliche Aufgaben unberührt blieben, womit ein prinzipielles Konkurrenzfeld im Bereich der Kirchen- und Religionspolitik erhalten blieb.17 Das Spektrum unterschiedlicher Strategien, das sich innerhalb der bolschewistischen Partei zur Überwindung der Religion ausprägte, spannte sich zwischen zwei Polen unterschiedlicher Herangehensweisen. Man kann sie einerseits reduzieren auf die Grundannahme, dass jegliche Religion ausschließlich ausbeuterischen Charakters auf schnellstmögliche Weise durch restriktive Gesetze und administrative Verfolgung beseitigt werden könne und auch müsse. Propaganda könne umso erfolgreicher sein, je reaktionärer die zu bekämpfende Religion sei. Der entgegengesetzte Pol gründete sich auf der Annahme, dass der fortschreitende Sozialismus die kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen schaffen würde, unter denen die Religion obsolet erschiene. Die Propaganda solle diesen Prozess durch eine aufklärerische Funktion unterstützen und sich dabei auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Geschichte und Ethik berufen. Bei der Behandlung der Religionsgemeinschaften sei zwischen Gruppen, die sich der Sowjetmacht gegenüber loyal verhielten, und solchen, die ihr feindlich gesinnt waren, zu differenzieren. Beide Positionen konnten sich auf Lenin als Gewährsmann berufen, da seine Schriften zu antireligiösen Methoden eine Vielzahl an Interpretationen zuließen.18 Wie aus den Äußerungen Emel’jan Jaroslavskijs vor antireligiösen Agitatoren deutlich wurde, vertrat er das theoretische Konzept einer allmählichen Eliminierung der Religion im Kontext des gesellschaftlichen Wandels und im Zusammengehen mit aufklärerischer Propaganda. Für die Antireligiöse Kommission selbst gab es kein Statut oder Programm, in dem sie sich zu dieser Frage äußerte. Anhand ihrer Arbeit aber zeigt sich, dass sie dem Taktieren mit verschiedenen kirchlichen Gruppen große Bedeutung beimaß und dass sie damit eine langfristige Strategie zur Religionsbekämpfung unterstützte. Es gab auch in diesem Gremium abweichende Ansichten darüber, wie etwa beim Kommissionsmitglied Ivan Skvorcov-Stepanov, der

17 Die Antireligiöse Kommission beim Agitprop, die Kommission für die kirchliche Bewegung, die Kommission für Sektenfragen und die Kommission für Kirchenschätze; vgl. STEINDORFF, Bürokratie und Ideologie, S. 111f. 18 Vgl. BOCIURKIW, Bohdan R., The Shaping of Soviet Religious Policy, in: Problems of Communism 22 (1973), H. 3, S. 37–51; DELANEY, Joan, The Origins of Soviet Antireligious Organizations, in: Aspects of Religion in the Soviet Union, 1917–1967, hrsg. von Richard H. MARSHALL Jr., Thomas E. BIRD und Andrew Q. BLANE, Chicago/London 1971, S. 103–128; SIEGELBAUM, Lewis H., Soviet State and Society between Revolutions, 1918–1929, Cambridge 1992, S. 160f.; PERIS, Daniel, Storming the Heavens. The Soviet League of the Militant Godless, Ithaca 1998, S. 19–27; GABEL, Paul, And God Created Lenin. Marxism vs. Religion in Russia, 1917–1929, Amherst 2005; DAHLKE, Sandra, „An der antireligiösen Front”. Der Verband der Gottlosen in der Sowjetunion der zwanziger Jahre (Hamburger Beiträge zur Geschichte des östlichen Europa, 4), Hamburg 1998, S. 46–55.

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in seinen Thesen über die antireligiöse Presse eine Zusammenarbeit mit kirchlichen Gruppen ablehnte.19 In den Jahren 1922/23 war die Vorbereitung eines Gerichtsprozesses gegen den russisch-orthodoxen Patriarchen Tichon und weitere Angeklagte ein Hauptanliegen der Antireligiösen Kommission.20 Trotz einiger nicht umzusetzender Ideen hatte das Gremium die Richtung, welche die Angelegenheit Tichon schließlich nahm, insgesamt entscheidend mitbestimmen können: Durch eine von der Kommission beziehungsweise dem Vorsitzenden Jaroslavskij konzipierte Reue-Erklärung des Patriarchen wurde, nach ersten Einschätzungen der GPU, ein für die Religionspolitik der Bol’ševiki äußerst wünschenswerter Effekt in alle Richtungen erzielt. Diese Auswirkungen auf Patriarchats- wie Auslandskirche, auf die der Sowjetmacht loyal gegenüberstehende kirchliche Bewegung der „Erneuerer“ sowie Kritiker der Sowjetmacht im In- und Ausland waren den Zielen der Partei dienlicher, als es ein polarisierendes Tribunal womöglich hätte werden können. Die drei entscheidenden Erklärungen Tichons, die den weiteren Weg von patriarchatstreuen und reformistischen Gruppen der russisch-orthodoxen Kirche bestimmen sollten, wurden von der Antireligiösen Kommission vorgeplant und entworfen, teils im Wortlaut. Allerdings lässt sich nicht feststellen, dass den Personen oder Belangen der Kommission für die Zeit vom Oktober 1922 bis zum Juni 1923 von Seiten des Politbüros eine hohe Priorität eingeräumt worden21 oder dass ihr Ansehen nachhaltig gestiegen sei. Vielmehr führte die Nähe, welche die Kommission in diesem Zeitraum zu den Interna der religiösen Gruppierungen entwickelte, zum Ersinnen eines nützlichen Plans für eine Zeit, in der das Politbüro Unruhen im Innern und Äußern bei der 19 Vgl. ebd.; STEINDORFF, Bürokratie und Ideologie, S. 125–138; Protokolle, Nr. 2 vom 31.10.1922. Skvorcov-Stepanovs Thesen in: Politbjuro i cerkovʼ, Bd. 1, Nr. 12–17, S. 327– 331. 20 Die antireligiöse Politik dieser Zeit und der Tichon-Prozess sind in der historischen Forschung ausführlich behandelt worden. Auch die Publikationen, in denen die Protokolle der Antireligiösen Kommission berücksichtigt werden, konzentrieren sich z.T. auf diese Jahre, wie z.B. SAVEL’EV, Sergej, Bog i Komissary (k istorii komissii po provedeniju otdelenija cerkvi ot gosudarstva pri CK VKP (b) – Antireligioznoj komissii), in: Religija i demokratija. Na puti k svobode sovesti, Bd. 2, hrsg. von S. B. FILATOV und D. E. FURMAN, Moskau 1993, S. 164– 216; Politbjuro i cerkovʼ; ROSLOF, Edward E., Red Priests. Renovationism, Russian Orthodoxy, and Revolution, 1905–1946, Bloomington 2002; LOBANOV, Vjačeslav V., Patriarch Tichon i sovetskaja vlastʼ (1917–1925 gg.), Moskau 2008; ŠKURIN, Aleksandr V., Antireligioznaja komissija pri CK RKP(b)-VKP(b) i eë dejatelʼnostʼ po relizacii politiki politbjuro po otnošeniju k Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi v 1922–1929 gg., Diss., Moskau 2005. Vgl. RÖTTJER, Antireligiöse Kommission, S. 25–42. Zum Forschungsstand (2007) siehe STEINDORFF, Einleitung. 21 Vgl. den stockenden Informationsfluss bei der Terminfrage, die Priorität von Dzeržinskijs Eingabe zur Verschiebung des Prozesses über alle anderen Argumentationsbemühungen, die verzögerte Reaktion auf Jaroslavskijs Notizen an das Politbüro, die prophylaktische Nichtnominierung Popovs für die „Prozess-Kommission“, die Beschwerde Jaroslavskijs darüber, dass die Kommission übergangen werde, oder das Verfahren gegenüber den Mitangeklagten Tichons: Politbjuro i cerkov’, Bd. 1, Nr. 25:22, S. 274, Nr. 25:24, S. 275f.; PETROV, Stanislav G., Dokumenty deloproizvodstva politbjuro CK RKP (b) kak istočnik po istorii russkoj cerkvi (1921– 1925), Moskau 2004, S. 289–291. Vgl. RÖTTJER, Antireligiöse Kommission, S. 30–42.

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Durchführung eines Prozesses fürchten musste. Durch das teils von der Kommission bestimmte Taktieren Tučkovs und seiner GPU-Mitarbeiter war der Patriarch zu Zugeständnissen bereit, um seinen Einfluss nicht völlig zu verlieren und noch größeren Schaden von der Kirche abzuwenden. In dieser Situation gelang es Jaroslavskij gemeinsam mit Tučkov, den Plan der drei Erklärungen vom Politbüro sanktionieren zu lassen. Nachdem die Antireligiöse Kommission bei der Freilassung Tichons und seinen Aufrufen das Verhältnis zur Sowjetmacht betreffend eine lenkende Position in der Kirchenpolitik eingenommen hatte, konzentrierte sie sich auf das Verhältnis des zurückgekehrten Patriarchen zu den größten Reformkräften der Orthodoxie, den der Sowjetmacht gegenüber loyalen Erneuerern. Von ihrem Entstehungsbeginn an hatte sich die Kommission mit den Aktivitäten dieser Bewegung befasst. Dabei erhielt sie nahezu alle Informationen zu dieser von Tučkov, der bereits mit den Maßnahmen vertraut gewesen war, welche zur Institutionalisierung der Erneuererbewegung geführt hatten, bevor die Antireligiöse Kommission das erste Mal zusammentrat. Tučkov war es, der die „Lebendige Kirche“ als Werkzeug der Staatssicherheit im Kampf gegen die tichontreue Geistlichkeit einführte und die Oberste Kirchenleitung der Erneuerer als Instrument präsentierte, das zur Spaltung der Kirche eingesetzt werden sollte.22 Nach der Haftentlassung des Patriarchen Mitte 1923 versuchte die Kommission vor allem, Koalitionsbemühungen zwischen beiden Seiten zu initiieren, mit denen letztlich eine Schwächung aller Fraktionen erreicht werden sollte. So wurde neben der Kirchenleitung der Erneuerer wieder mit dem Aufbau einer tichontreuen Verwaltung begonnen. Nach dem vorläufigen Scheitern der Koalition Tichons mit den Erneuerern im Juni 1924 wurden in der Antireligiösen Kommission neue Vorlagen Tučkovs diskutiert: Das Ziel war die Förderung einer rechten Strömung gegen den Patriarchen.23 Der Tod Tichons am 7. April 1925 beendete die Vereinigungsversuche zwischen den Erneuerern und dem Patriarchat. Für die Kommission und die Staatssicherheit konnte der Tod des Patriarchen eine Entscheidungsmöglichkeit bedeuten, ob besser ein loyaler Nachfolger zur Kontrolle der Kirche zu installieren sei, oder ob mehrere Gruppen ohne eindeutige hierarchische Abstufung zu bevorzugen seien. Innerhalb der Antireligiösen Kommission rief der Tod des Patriarchen, um dessen Rolle sie so viel taktiert hatte, allerdings keinerlei strategische Änderung ihrer Position hervor. In den auf dieses Ereignis folgenden Sitzungen im Mai und Juni wurde das Ableben des Patriarchen überhaupt nicht angesprochen. Dies ist umso erstaunlicher, weil ein sogenanntes „Testament“ Tichons existierte, über das innerhalb der Kirche heftig gestritten wurde.24 Die Kommission tagte zwischen Ende 22 RÖTTJER, Antireligiöse Kommission, S. 60–94. 23 Protokolle, Nr. 55 vom 03.09.1924, Nr. 64 vom 14.02.1925. 24 Akty svjatejšego Tichona, Patriarcha Moskovskogo i vseja Rossii, pozdnejšie dokumenty i perepiska o kanoničeskom preemstve vysšej cerkovnoj vlasti 1917–1943, hrsg. von Michail E. GUBONIN, Moskau 1994, S. 361–363. Vgl. ŠKAROVSKIJ, Michail V., Obnovlenčeskoe dviženie v russkoj pravoslavnoj cerkvi XX veka, St. Petersburg 1999, S. 38; KRIVOVA, Natal’ja A.,

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Juni und dem 11. November gar nicht. Dann erst hieß es auf der Tagesordnung: „Weitere Kirchenpolitik im Zusammenhang mit dem Tod Tichons“.25 In der Zwischenzeit hatte sich unter den sogenannten „Tichonianern“ eine Spaltung abzuzeichnen begonnen und Tučkov wurde mit der Beschleunigung dieses Prozesses beauftragt.26 Die Spaltung der Patriarchatskirche seit 1926/27 in verschiedene Lager fand in der Antireligiösen Kommission kaum mehr Beachtung. Nach der Diskussion darüber, wie mit dem Patriarchatsverweser Petr zu verfahren sei, wurde in der Antireligiösen Kommission nur noch selten über Machtkämpfe oder Spaltungserscheinungen unter den höchsten kirchlichen Hierarchen oder über die zentrale Verwaltung der Orthodoxie debattiert. Es existieren lediglich kurze Notizen über den Provisorischen Obersten Kirchenrat mit Erzbischof Grigorij an der Spitze und über die gegnerische Gruppe um Metropolit Sergij. Nachdem aber die Erneuererbewegung zahlenmäßig so stark zurückgegangen war,27 dass sie gegen das wiedererstarkende Patriarchat nicht mehr wirksam als deren hauptsächlicher Gegenspieler eingesetzt werden konnte, befasste sich die Antireligiöse Kommission immer weniger mit der zentralen Organisationsstruktur dieser Bewegung. Den Erneuerern kam von Seiten der Antireligiösen Kommission und der OGPU nur noch die Aufgabe der Sektenbekämpfung und der Kontrolle des Kirchenvermögens im Ausland zu. Ihre Bevorzugung war immer taktischer und niemals inhaltlicher Art gewesen – doch spätestens mit dem Einsetzen der Kulturrevolution wurden theologische Ansätze zur Verbindung von Christentum und Kommunismus sowie isomorphistische Elemente der Bewegung in Bezug auf die Partei der Bol’ševiki von dieser als besonders gefährliche Doppelzüngigkeit angeprangert.28 Ab 1926 behandelte die Antireligiöse Kommission kaum noch Anliegen, die speziell die Erneuerer betrafen. Wenn Versammlungen der Erneuerer stattfanden, so war dies wohl schon eine Routineaufgabe für die OGPU, bei der es keiner zentralen Besprechung mehr bedurfte.29

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Vlast’ i cerkovʼ v 1922–1925 gg. Politbjuro i GPU v bor’be za cerkovnye cennosti i političeskoe podčinenie duchovenstva, Moskau 1997, S. 210–212. Protokolle, Nr. 66 [B] vom 11.11.1925. Ebd. ROSLOF, Red Priests, S. 129, geht nach Angaben des Zentralorgans des Heiligen Synods (Vestnik Svjaščennogo Sinoda Russkoj Pravoslavnoj Cerkvi 1928, Nr. 2 [25], S. 8) für den Oktober 1927 von 5.181 Gemeinden im Bereich der RSFSR aus. Die zentralen Verwaltungsorgane blieben für die Erneuerer bestehen, freilich mit einem geringeren Einflussbereich als Mitte der 1920er Jahre. Mit der Unterstützungszusage Stalins im Jahr 1943 und der folgenden Einberufung eines Landeskonzils mit der Wahl Sergij Stragorodskijs zum Patriarchen verschwanden die letzten organisierten Strukturen der Erneuererbewegung; vgl. LEMEŠEVSKIJ, Manuil, Lexikon russischer Erneuerer-Hierarchen (Das östliche Christentum, NF 49), Würzburg 2000, S. 13–15, 27f. ROSLOF, Red Priests, S. 169–177. Zum Umschwung in der Religionspolitik siehe ODINCOV, Michail I., Gosudarstvo i cerkov’. Istorija vzaimootnošenij, 1917–1938 gg., Moskau 1991, S. 33–37. Protokolle, Nr. 66 [A] vom 27.06.1925.

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Die Auswertung der Kommissionsprotokolle für den Zeitraum nach dem Tod des Patriarchen Tichon zeigt, dass die Beschäftigung mit der russisch-orthodoxen Kirche insgesamt abnahm. Anfangs wurde noch in zentrale Machtkämpfe eingegriffen, etwa bei der direkten Nachfolge Tichons und dem Ringen um einen anerkannten und kanonisch akzeptablen, mit der nötigen Autorität versehenen Patriarchatsverweser. Doch auch hier wurde deutlich, dass die OGPU und Tučkovs Abteilung komplexe Vorgänge nach ihrer eigenen Maßgabe entschieden, ohne den Rat oder die Anweisung der Antireligiösen Kommission zu benötigen. Die Linie hingegen schien die gleiche zu bleiben: Wo immer sich eine beginnende Spaltung in Gruppen zeigte, wurde diese unterstützt – falls es keinen solchen Ansatz gab, trugen die Verhaftung von Schlüsselfiguren und die so in die Hierarchie gerissenen empfindlichen Lücken dazu bei. Doch die Antireligiöse Kommission war daran kaum mehr beteiligt. Gegenüber den vorhandenen Fraktionen aber, denen zwischenzeitlich vom Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten in unterschiedlichem Maß Hoffnungen auf eine offizielle Anerkennung ihrer Verwaltung gemacht worden waren, blieb die Politik gleich: Beiden Richtungen wurde ein gewisser Aktionsrahmen zugebilligt, für den beim Zentralkomitee offenbar erst um Verständnis geworben werden musste. Allerdings war der Maßstab nun viel kleiner: Konnte die Antireligiöse Kommission die Erneuererbewegung und die Patriarchatskirche noch mit zentralen Presseorganen und Lehranstalten gegeneinander ausspielen und so die eigene Politik umsetzen, so gab es jetzt als Mittel zur Förderung der Rivalität nur noch die Genehmigung zu Versammlungen, kirchlichen Mitteilungen und Kalendern.30 Die sinkende Relevanz der Antireligiösen Kommission und der Übergang der Kirchenpolitik an andere Akteure lässt sich noch eindrucksvoller an jenen zentralen Ereignissen ablesen, die von der Kommission überhaupt nicht berücksichtigt wurden: Die Aufzeichnungen der Kommission vermitteln das Bild von zwei unterschiedlichen Richtungen innerhalb der „alten Kirche“, die in relativ gleichmäßiger Konjunktur, ohne spektakuläre Interventionen von staatlicher Seite oder andere Zwischenfälle, ihrer Verwaltungsarbeit nachgingen: Sergijs Gruppe mit mehr, die Fraktion von Grigorij dagegen mit weniger Anhängern. Doch das für die Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche und ihr Verhältnis zum Sowjetstaat zentrale Ereignis dieser Zeit fand keinerlei Vorbereitung, ja nicht einmal eine Reaktion oder Diskussion innerhalb der Antireligiösen Kommission: Kurz nach seiner Entlassung aus der Haft berief Sergij im Mai 1927 eine Bischofskonferenz ein und bildete einen Provisorischen Patriarchats-Synod, der vom Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten genehmigt und damit legalisiert wurde. Am 29. Juli veröffentlichte er eine Deklaration, die als „Loyalitätserklärung“ gegenüber dem Sowjetstaat die weitere Geschichte der russisch-orthodoxen Kirche bestimmen sollte; als maßgeblicher Scheidepunkt für die unterschiedlichen Auffassungen, besonders in der Auslandskirche der Orthodoxie, hat sie ihre Bedeutung bis heute nicht verloren. Das Dokument vermied jede Abgrenzung gegenüber dem Staat und wurde als 30 Protokolle, Nr. 81 vom 15.01.1927, Nr. 92 vom 01.10.1927, Nr. 94 vom 08.01.1928, Nr. 95 vom 15.02.1928, Nr. 96 vom 28.02.1928, Nr. 109 vom 02.03.1929.

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Kapitulation und Auslieferung gegenüber der Sowjetmacht aufgefasst. Es rief beträchtlichen Widerstand innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche hervor,31 doch ein Großteil der Hierarchie in den Diözesen und der Gläubigen in den Pfarreien akzeptierte die Haltung Sergijs als eine Notwendigkeit. Die Legalisierung von Organen der kirchlichen Verwaltung und die Einsetzung von Bischöfen geschah nur noch unter strenger Aufsicht der OGPU. Keine der Planungen zu einer landesweiten Kirchenversammlung konnte letztlich umgesetzt werden.32 Ab 1926 wurden in der Antireligiösen Kommission, neben dem kirchlichen Kalender33, religiöse Bereiche reguliert, in denen die Partei vorher keine detaillierten Normen gesetzt hatte. Musik und geistliche Konzerte, Spielplätze und andere Angebote für Kinder gerieten in den Fokus, besonders aber die Glockennutzung: Die Kommission bereitete eine Regulierung des Geläuts vor, musste die Kampagne zur Glockenabnahme jedoch zwecks gründlicherer Planung zunächst verschieben.34 Ende 1929 schließlich legte sie auf der Grundlage einer neuen Gesetzgebung detaillierte Anweisungen zur Nutzung und Einziehung bestimmter Glocken in verschiedenen Regionen fest. Der Kommission ging es in erster Linie um die Beschlagnahmung von Metall für die Industrie.35 Die Einschränkung des Glockengeläuts, das als öffentliche Vollziehung des orthodoxen Kultus und als Demonstration der Religiosität galt und zudem als Alarmsignal bei drohender Gefahr diente,36 kam erst als legitimatorischer Aspekt hinzu.37

31 Eine Fraktion, die eine Anhängerschaft um sich versammeln konnte und der auch Agafangel zeitweilig angehörte, war die sogenannte Iosifljanstvo um den Metropoliten Iosif Petrovych. Sie wandte sich Anfang 1928 von Sergij ab; vgl. dazu ŠKAROVSKIJ, Michail V., Iosifljanstvo. Tečenie v russkoj pravoslavnoj cerkvi, St. Petersburg 1999. 32 Vgl. RÖSSLER, Roman, Vom Tode Patriarch Tichons bis zur „Deklaration“ des Metropoliten Sergij 1927, in: Die orthodoxe Kirche in Russland. Dokumente ihrer Geschichte (860–1980), hrsg. von Peter HAUPTMANN, Göttingen 1998, S. 712–733, hier S. 712f.; CURTISS, John Shelton, Die Kirche in der Sowjetunion, 1917–1956, München 1957, S. 177f.; LEMEŠEVSKIJ, Lexikon russischer Erneuerer-Hierarchen, S. 11f.; SPINKA, Matthew, The Church in Soviet Russia, New York 1956, S. 65–71; ODINCOV, Michail I., Deklaracija Mitropolita Sergija ot 29 ijulja 1927 g. i bor’ba vokrug nee, in: Otečestvennaja istorija 1992, H. 6, S. 123–141. Vgl. Akty svjatejšego Tichona, S. 509–552; Die orthodoxe Kirche in Russland, Nr. 264, S. 726–730. 33 Die Frage der Einführung des gregorianischen Kalenders nahm für die Antireligiöse Kommission unter den kirchlichen Reformen einen erhöhten Stellenwert ein; vgl. RÖTTJER, Antireligiöse Kommission, S. 50–60. 34 Protokolle, Nr. 71 vom 06.03.1926, Nr. 74 vom 06.06.1926, Nr. 82 vom 29.01.1927, Nr. 102 vom 27.06.1928, Nr. 109 vom 02.03.1929. 35 Ebd., Nr. 113 vom 29.05.1929. 36 WYNOT, Jennifer Jean, Keeping the Faith. Russian Orthodox Monasticism in the Soviet Union, 1917–1939, College Station 2004, S. 106, beschreibt, wie die Mönche des Kiever Höhlenklosters mittels Glockenläuten genug Gläubige als Schutzschild zusammenriefen, um die konkrete Gefahr einer Schließung abzuwenden – eine Methode, die in den 1920er Jahren häufig angewandt wurde. Die angedrohte Entfernung der Glocken wiederum habe so großen Widerstand hervorgerufen, dass sie verschoben werden musste; vgl. ebd., S. 122. 37 Protokolle, Nr. 118 vom 04.11.1929.

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Nicht nur die Feiertage und der Arbeitsalltag wurden im Rahmen einer neuen, 1928 und 1929 erlassenen Gesetzgebung zur Kultur- und Religionspolitik neu geordnet: Die programmatischen Dekrete über religiöse Vereinigungen vom 10. Juni 1928 und 8. April 192938 enthielten rigorose Einzelbestimmungen, die über das Trennungsdekret von 1918 weit hinausgingen.39 Die für die Registrierung zuständigen Behörden konnten nunmehr einzelnen Personen verbieten, sich in die Leitung von religiösen Vereinigungen wählen zu lassen. Besonders schwer wog das Verbot, Gesangsgruppen, literarische Zirkel, Arbeitsgruppen oder gesonderte Kinder-, Jugend- und Frauenkreise zu unterhalten. Das traditionelle Gemeindeleben wurde zerstört, die Gemeinden mussten sich auf die Kultausübung beschränken.40 Das Gesetz war eine Kompilation der grundlegenden Ausführungsbestimmungen zum Trennungsdekret von 1918, welche im Laufe der 1920er Jahre erlassen worden waren. Darüber hinaus wurden Lücken in der Aufsicht und Kontrolle der religiösen Vereinigungen geschlossen.41 Gegen Geistliche und Gläubige wurden gezielt physische Verfolgungen eingesetzt und in den Jahren danach erfolgte die Schließung der überwiegenden Mehrheit der Kirchen.42 Man weitete die antireligiöse Propaganda massiv aus und organisierte sie nach dem Vorbild der Fünfjahrpläne.43 Die extensive Anwendung administrativer Repressionen in Form von Kirchenund Klosterschließungen, die mit der neuen Gesetzgebung einherging, lässt sich in der Arbeit der Antireligiösen Kommission klar nachvollziehen: Bis Ende 1925 mahnte die Kommission die örtlichen Behörden stets zur Vorsicht, um Ausschreitungen zu verhindern. Dieser Grundsatz stammte schon aus der Zeit vor der Gründung der Antireligiösen Kommission: Nach der Einführung der Neuen Ökonomischen Politik 1921 hatte das Zentralkomitee in einem Zirkular darauf hingewiesen, dass die antireligiöse Propaganda nicht übermäßig intensiv vorangetrieben werden könne, solange sich die Partei noch auf die NĖP einzustellen hatte. Exzesse würden

38 Deutsche Übersetzung (mit Kürzungen) in: Die orthodoxe Kirche in Russland, Nr. 267 [Edition: Sobranie uzakonenij i rasporjaženij, 1929, Nr. 35, Pos. 353], S. 735–738. 39 BEICHLER, „Kriegskommunismus“, S. 564–570. 40 LUCHTERHANDT, Otto, Der Sowjetstaat und die Russisch-Orthodoxe Kirche. Eine rechtshistorische und rechtssystematische Untersuchung (Abhandlungen des Bundesinstituts für Ostwissenschaftliche und Internationale Studien, 30), Köln 1976, S. 76–78. 41 Ebd., S. 78–83. Luchterhandt weist auf die häufig widersprüchliche und ungenaue Deutung, die das Dekret in der Forschungsliteratur erfahren habe, hin – sei es im Sinne von deutlichen Erleichterungen für die Kirche oder ihrer Abdrängung in die Illegalität. Beide Interpretationen verfehlten den kodifikatorischen Charakter dieser „Sammlung“ von Bestimmungen. 42 BEICHLER, „Kriegskommunismus“, S. 565, nennt beispielhafte Zahlen: 1937, am Ende der Periode des sozialistischen Aufbaus, seien von 54.174 vor der Revolution existierenden Kirchen nur noch 1.500 übrig gewesen, in Moskau lediglich 20 von zuvor 1.624. Vgl. HUSBAND, William B., “Godless Communists”. Atheism and Society in Soviet Russia, 1917–1932, DeKalb 2000, S. 136f. 43 DAHLKE, „An der antireligiösen Front“, S. 111–114, konstatiert als direkte Folge einer forcierten Ausweitung des „Verbandes der Gottlosen“ mit steil ansteigenden Mitgliederzahlen und wachsendem Erfolgsdruck den „Verlust seiner atheistischen Identität“ (S. 111). Vgl. LUCHTERHANDT, Sowjetstaat, S. 76.

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nur Verbitterung und Ablehnung hervorrufen.44 Im Regelfall seien Schließungen ganz zu vermeiden und würden als unzulässige Abweichungen von der Norm betrachtet.45 Nachdem die Kommission seit 1926 in einzelnen Fällen die Schließung, Umwandlung oder den Abriss von Kirchen gebilligt hatte, erließ sie im Mai 1928 genaue Regeln zur Schließung,46 rief jedoch abermals zur Zurückhaltung auf: Die in einigen Gebieten durch den Widerstand der Gläubigen hervorgerufenen Exzesse hätten negativen Einfluss auf die Getreideanbaukampagnen gezeitigt. Da Letztere absolut vorrangig waren, sei in jedem Fall äußerste Vorsicht geboten und bei einem erhöhten Risiko von Ausschreitungen auf die Schließung von Kirchen zu verzichten.47 Ein leitender Grundsatz für die Arbeit der Kommission, neben der Instrumentalisierung rivalisierender Gruppen, war das Prinzip gewesen, die religiösen Gefühle der Gläubigen nicht zu verletzen, um Exzesse zu vermeiden, die als kontraproduktiv für die antireligiöse Arbeit selbst wie auch für den Aufbau des Sozialismus angesehen wurden. Obgleich die Kommission diese Argumentation weiterhin hervorhob, hatte sich ihre Haltung gegenüber radikalen administrativen Maßnahmen dennoch geändert. In den Augen der Kommission war die Auflösung von Klöstern ebenfalls nicht nur vom ideologischen Standpunkt aus – des Klassenkampfes mit dem nicht-werktätigen Element – oder von der Umgestaltung der Landwirtschaft motiviert.48 Im Juni 1928 wurde der Sinn deutlich formuliert: „Die weitere Liquidierung von Klöstern zu Zwecken der antireligiösen Propaganda wird für notwendig erklärt“.49 Auch bei den Klosterschließungen sei auf die Beteiligung möglichst vieler Parteiloser zu achten. Mit der Planung beauftragte die Kommission den „Verband der Gottlosen“: Er solle eine Bestandsaufnahme aller Klöster machen und sie auf ihre mögliche Umwandlung „in Herdstätten der sowjetischen Kultur, in 44 Vgl. LUUKKANEN, Party of Unbelief, S. 100. 45 Vgl. Protokolle, Nr. 11 vom 30.01.1923, Nr. 21 vom 15.05.1923, Nr. 22 vom 22.05.1923, Nr. 29 vom 10.07.1923, Nr. 51 vom 22.05.1924, Nr. 52 vom 17.06.1924, Nr. 53/54 vom 02.07.1924, Nr. 60 vom 28.11.1924, Nr. 64 vom 14.02.1925. Vgl. die Kritik am Vorgehen der örtlichen Behörden im Bericht an das Politbüro vom September 1923, in: Politbjuro i cerkovʼ, Bd. 1, Nr. 12:58, S. 419–430. 46 Vgl. Protokolle, Nr. 71 vom 06.03.1926, Nr. 79 vom 11.12.1926, Nr. 90 vom 25.06.1927, Nr. 101 vom 13.06.1928, Nr. 103 vom 21.07.1928, Nr. 108 vom 02.02.1929, Nr. 118 vom 04.11.1929. Vgl. WYNOT, Keeping the Faith, S. 69. 47 Protokolle, Nr. 112 vom 18.05.1929. 48 Siehe etwa WYNOT, Keeping the Faith, S. 114–118, für die Repressalien gegen die Kirche zugleich gegen die sogenannten „Kulaken“, besser gestellte Bauern, gerichtet waren – mit dem doppelten Effekt der Beseitigung kirchlicher Opposition und der Beschleunigung des Kollektivierungsprozesses. Vgl. YOUNG, Power and the Sacred, S. 259–265. 49 Protokolle, Nr. 101 vom 13.06.1928. WYNOT, Keeping the Faith, S. 119f., zitiert einen Beschluss des Politbüros, der in Teilen identisch mit dem Beschluss der Antireligiösen Kommission ist – leider ohne ein genaues Datum anzugeben. Da der Referent dieses Tagesordnungspunktes in der Antireligiösen Kommission, Petr G. Smidovič, nicht aus dem Politbüro stammte, sondern das Sekretariat für Kultfragen beim Präsidium des VCIK (Vserossijskij Central’nyj Ispolnitel’nyj Komitet – Allrussisches Zentrales Exekutivkomitee) leitete, liegt es nahe, dass der Beschluss zuerst die Antireligiöse Kommission passierte und dann im Politbüro sanktioniert wurde.

Gab es eine „religiöse Neue Ökonomische Politik“ in der frühen Sowjetunion?

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Musterkolchosen, Werkstätten, Kinderheime, Sanatorien, Arbeiterwohnheime usw.“50 hin untersuchen. Während des Bürgerkriegs und der Neuen Ökonomischen Politik hatten viele Klöster mit Duldung oder gar Ermutigung der lokalen Behörden als landwirtschaftliche Kooperativen bestehen bleiben können, da auf ihr erfolgreiches Wirtschaften nicht verzichtet werden konnte. Am Ende der 1920er Jahre aber gab es für derlei Kompromisse bei der Kollektivierung der Landwirtschaft keinen Platz mehr. Am Anfang der 1930er Jahre waren bis auf das Pskover Höhlenkloster alle anderen Klöster in der Sowjetunion „liquidiert“ worden.51 Aus den Akten der Antireligiösen Kommission geht schließlich hervor, dass der von Emel’jan Jaroslavskij geleitete „Verband der Gottlosen“ bei den Schließungen von Kirchen und Klöstern eine maßgebliche Rolle hinsichtlich der Mobilisierung der Bevölkerung spielen sollte und dies am Ende der 1920er Jahre bereits tat. Immer häufiger wurde der Verband als direkter Auftragnehmer der Kommission in diesen und anderen Angelegenheiten genannt.52 Daran wird zum einen die angesprochene Ausweitung der antireligiösen Propaganda insgesamt deutlich, zum anderen nutzte Jaroslavskij die Antireligiöse Kommission zur Festigung des „Verbandes der Gottlosen“, der – wie alle Freiwilligenverbände – einem hohen Erfolgs- und Legitimationsdruck53 ausgesetzt war.54 Dass diese in Teilen erfolgte Instrumentalisierung der Kommission durch ihren Vorsitzenden wiederum auf Dauer zu ihrer eigenen Legitimation beigetragen hat, lässt sich indes nicht konstatieren: Die letzte Sitzung der Antireligiösen Kommission fand am 4. November 1929 statt. In diesem Protokoll und den vorhergehenden Aufzeichnungen finden sich keine Hinweise auf ein bevorstehendes Ende der Kommission. Es wurden auch, wie üblich, Vorträge für die nächste Sitzung festgelegt. Die Kommission rechnete also nicht mit ihrer Auflösung, die am 30. November vom Politbüro beschlossen wurde. Die Entscheidung war offenbar machtpolitisch motiviert und diente wohl dazu, die Kontrolle der antireligiösen Arbeit noch unmittelbarer an die im Zentralkomitee vertretenen Personen zu binden.55 50 Protokolle, Nr. 116 vom 10.08.1929. 51 WYNOT, Keeping the Faith, S. 118–121. 52 Protokolle, Nr. 112 vom 18.05.1929. Die Freiwilligenverbände wie der „Verband der Gottlosen“ übernahmen die Funktion von Transmissionsriemen für die Partei; vgl. LUCHTERHANDT, Sowjetstaat, S. 76; STEINDORFF, Bürokratie und Ideologie, S. 124; PLAGGENBORG, Stefan, Volksreligiosität und antireligiöse Propaganda in der frühen Sowjetunion, in: Archiv für Sozialgeschichte 32 (1992), S. 95–130, hier S. 126. 53 DAHLKE, „An der antireligiösen Front“, S. 41–46; vgl. STEINDORFF, Bürokratie und Ideologie, S. 139. 54 Vgl. Protokolle, Nr. 72 vom 24.04.1926, Nr. 81 vom 15.01.1927, Nr. 85 vom 15.04.1927, Nr. 94 vom 08.01.1928, Nr. 99 vom 15.05.1928, Nr. 108 vom 02.02.1929, Nr. 118 vom 04.11.1929. 55 KURLJANDSKIJ, Stalin, S. 391–400. Protokolle, Nr. 118 vom 04.11.1929; zit. nach Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Socialʼno-Političeskoj Istorii [im Folgenden: RGASPI], F. 17, Op. 113, D. 871, L. 47–50; vgl. die Anm. zu TOP 5, die den Auflösungsbeschluss angibt: RGASPI, F. 17, Op. 3, D. 767, L. 110, TOP 60. Zum zwar thematisch nachfolgenden, aber zum Staatsapparat gehörenden Gremium, der „Zentralen Ständigen Kommission für Kultangelegenheiten beim Präsidium des VCIK“, vgl. LUUKKANEN, Arto, The Religious Policy of the Stalinist State. A Case Study: The Central Standing Commission on Religious Questions, 1929–1938 (Studia

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Während ihres siebenjährigen Bestehens hat die Antireligiöse Kommission bei der Befassung mit der russisch-orthodoxen Kirche am engsten mit der OGPU und besonders mit Evgenij Tučkov, zugleich Sekretär der Kommission, zusammengearbeitet. In der ersten Zeit orientierte sich die Kommissionsarbeit direkt an den Ereignissen, welche die zentrale Verwaltung und überregionalen Entwicklungen der Kirche betrafen und mit denen die Staatssicherheit bereits vertraut war: Die Konfiskation der Kirchenschätze, die Formierung der „Lebendigen Kirche“, die Vorbereitung des Verfahrens gegen Tichon und dessen Freilassung, das erste Konzil der Erneuerer – dies waren komplexe Themengebiete, in denen die Kommission in gewissem Rahmen Steuerungs- und Kontrollfunktionen ausübte. Doch insgesamt konnte die Antireligiöse Kommission, obwohl sie ein direkt beim Zentralkomitee der Partei angesiedeltes Gremium war, ihrer Rolle als Koordinator der Religionspolitik nicht gerecht werden. Sie führte Teile dieser Politik aus und regelte die Kommunikation zwischen einzelnen Stellen, eine übergreifende Steuerung übernahm sie allerdings nicht. Ein ideologisch verbindliches Vorgehen der Partei der Bol’ševiki für dieses Feld der Politik und für die antireligiöse Propaganda gab es noch nicht. Das Fernziel des religionsfreien Sozialismus stand fest, doch eine feste Linie für dessen Verwirklichung sollte die Partei erst noch entwickeln: Wie in anderen Politikbereichen auch, dehnten die Bol’ševiki im Laufe der 1920er Jahre ihre Normen auch auf dieses Feld aus.56 Die Mitglieder der Kommission waren an der Festsetzung dieser Normen beteiligt und unterstützten diese, doch in ihrer praktischen Arbeit selbst konnte, etwa durch die antireligiöse Konferenz beim Agitprop 1926,57 keine Zäsur festgestellt werden. Die sich dort verfestigenden antireligiösen Taktiken waren bereits von Beginn an Teil der Arbeitsgrundlage der Antireligiösen Kommission gewesen. Die politischen und theoretischen Konzepte, auf welche Weise gegen die Kirche und die Religion vorzugehen sei, sind von Zeitgenossen wie von Historikern in eine Beziehung zur Neuen Ökonomischen Politik gesetzt worden. Angelehnt an Husband58 ließe sich die Zeit von der Oktoberrevolution bis zur Gründung der Antireligiösen Kommission in drei Phasen einteilen: Auf die normativen ersten Schritte folgte die physische Vernichtung der materiellen Grundlagen der Kirche und von Teilen ihrer Hierarchie; mit der Kommissionsgründung setzte das Bemühen der Partei um Leitlinien für eine antireligiöse Politik ein. Jaroslavskij selbst verkündete im August 1923 vor einer Versammlung Moskauer Parteiaktivisten die

Historica, 57), Helsinki 1997; STEINDORFF, Bürokratie und Ideologie, S. 138–140; LUCHTERHANDT, Sowjetstaat, S. 85–90. 56 Vgl. DAHLKE, „An der antireligiösen Front“, S. 46–60; DELANEY, The Origins. 57 Im April 1926 war beim Agitprop eine antireligiöse Konferenz einberufen worden, welche die strittigen Fragen der antireligiösen Propaganda für die Partei klären sollte. Es wurden verbindliche Thesen über Aufgaben und Methoden antireligiöser Propaganda beschlossen, welche der Linie Jaroslavskijs folgten und damit bereits früher fester Bestandteil der Arbeit der Antireligiösen Kommission waren; vgl. DAHLKE, „An der antireligiösen Front“, S. 57–60; Protokolle, Nr. 66 [B] vom 11.11.1925, Nr. 73 vom 15.05.1926. 58 HUSBAND, “Godless Communists”, S. 46.

Gab es eine „religiöse Neue Ökonomische Politik“ in der frühen Sowjetunion?

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„religiöse NĖP“.59 Ein systematischer Gebrauch lässt sich allerdings nicht nachweisen. Mit Blick auf die Einordnung der Arbeit der Antireligiösen Kommission im Verhältnis zur russisch-orthodoxen Kirche und als analytische Kategorie hat dieser historische Begriff nur eine begrenzte Tragweite. Fragt man nach Wendepunkten in der Arbeit der Antireligiösen Kommission, kann man vielmehr konstatieren, dass sich in Bezug auf die russisch-orthodoxe Kirche innerkirchliche Entwicklungen stärker auswirkten als innerparteiliche. Die Freilassung des Patriarchen stellte solch ein Ereignis dar. Die Veränderung, die damit eintrat, betraf aber weder Methoden noch zugrundeliegende Strategien der antireligiösen Arbeit. Deshalb hilft eine Reduzierung auf den Terminus „religiöse NĖP“ hier nicht weiter. Valerij Alekseev analysierte zu Beginn der 1990er Jahre anhand von Parteiprogrammen, Zirkularen und Äußerungen bolschewistischer Führer Inhalte und Ziele antireligiöser Politik in den Jahren 1921/22. Doch statt der von ihm beabsichtigten Freilegung eines Paradigmenwechsels zeigte sich eher die Offenheit des antireligiösen Programms.60 Edward Roslof sah 2002 die Freilassung Tichons als den Beginn einer religiösen NĖP, mit der Begründung, dass dieses Ereignis die Politik der Bol’ševiki gegenüber den Erneuerern komplett geändert habe. Die Parallele der bolschewistischen Politik gegenüber der russisch-orthodoxen Kirche zu jener gegenüber anderen Institutionen aus dem ökonomischen und sozialen Bereich suchte er in einer Aufwertung der Pfarreien und der strengen Kontrolle des Zentrums durch die GPU und damit in einer Tendenz, deren normative und praktische Grundlagen allerdings bereits 1918, also Jahre vor der Einführung der NĖP, gelegt worden waren.61 Igorʼ Kurljandskij analysierte 2011 in einer kenntnisreichen und quellengesättigten Studie das Verhältnis von Stalin zur Religion. Er geht von einer „Wende“62 zu einer religiösen NĖP in der ersten Jahreshälfte 1923 aus: Aufgrund der Reaktionen der Gläubigen auf die Kirchenschließungen und Repressionen, insbesondere auf dem Land, sei ein vorsichtigerer Umgang mit antireligiösen Maßnahmen von 59 ALEKSEEV, Valerij A., Illjuzii i dogmy, Moskau 1991, S. 264: „Obstanovka vynuždala, podčerkival Jaroslavskij, perejti k ‚religioznomu nėpu’“. Vgl. ROSLOF, Red Priests, S. 110, der, sich auf dasselbe Dokument (RGASPI, F. 89, Op. 4, D. 9, L. 12) berufend, zwar den Inhalt identisch wiedergibt, aber schreibt, Jaroslavskij habe den Begriff selbst nicht verwendet. KURLJANDSKIJ, Stalin, S. 226, folgt Alekseev. Vgl. ŠKAROVSKIJ, Michail V., Die russische Kirche unter Stalin in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, in: Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 43), hrsg. von Manfred HILDERMEIER, München 1998, S. 233–253, hier S. 239. Vgl. TROCKIJ, Lev, Literatura i revoljucija, Moskau 1923 [Reprint 1991], S. 43f., der verächtlich mit dem Begriff einer „kirchlichen NĖP“ spielt. 60 ALEKSEEV, Illjuzii i dogmy, S. 264–277, kannte die Antireligiöse Kommission noch nicht. SAVEL’EV, Bog i komissary, der die Protokolle ausführlich behandelt, entzieht sich bei entscheidenden Punkten einer Stellungnahme. 61 ROSLOF, Red Priests, S. 111–118. LUUKKANEN, Party of Unbelief, etwa S. 99, 126, 128, 131, 230, möchte mit der Fragestellung seiner Studie auch Zäsuren der Religionspolitik analysieren, aber die Auswertung der in Fülle genutzten Dokumente bleibt häufig an der Oberfläche, so dass gerade in Bezug auf die Antireligiöse Kommission Missverständnisse nicht ausbleiben. 62 Zu povorot siehe KURLJANDSKIJ, Stalin, S. 203.

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Stalin und anderen propagiert worden. Da sich an der grundsätzlichen Strategie aber nichts geändert habe, attestierte auch er dieser religiösen NĖP eine Widersprüchlichkeit, die nicht mit einer „weichen“ Linie gegenüber den Religionsgemeinschaften verwechselt werden dürfe. Seit 1926 sei diese Politik wiederum schrittweise eingeschränkt beziehungsweise abgebaut worden.63 Sucht man nach Anknüpfungspunkten der Arbeit der Partei innerhalb der Antireligiösen Kommission zu anderen Politikfeldern, so kann eher auf die Art der allwöchentlichen Tätigkeit – auf das Feld der politischen Kultur – verwiesen werden, als auf jene politischen Taktiken, welche mit der Neuen Ökonomischen Politik in der historischen Forschung gemeinhin verbunden werden. Auch Kommissionsmitglied Petr G. Smidovič hatte bereits die bürokratische Arbeitsweise der Kommission bemängelt.64 Die Installation von rivalisierenden Kirchengruppen wurde weiter betrieben, auch wenn die Antireligiöse Kommission die Erneuererbewegung aus ihrem Fokus verloren hatte. In dieser Hinsicht ergaben sich durch den Tod des Patriarchen noch einmal völlig neue Möglichkeiten. Das Zentrum der Kirche und ihrer Hierarchie war bis zu einem gewissen Grad zu diesem Zeitpunkt erfolgreich zerstört. Doch die unübersichtlich gewordene Lage bedeutete auch, dass die Kommission weniger Kontrolle ausübte. Die Staatssicherheit übernahm die Verantwortung für die weitere Steuerung zentraler Aktivitäten. Die Koordinations- und Kontrollmöglichkeiten der Antireligiösen Kommission waren spätestens seit 1927 stark eingeschränkt und wurden für die zentrale Kirchenpolitik nicht mehr benötigt. Die Abspaltung einiger einflussreicher orthodoxer Gruppen oder die Konfrontationen zwischen den verschiedenen in der Ukraine agierenden Kirchen gelangten der Kommission offensichtlich nicht einmal zur Kenntnis. Die Antireligiöse Kommission konzentrierte sich ab 1925/26 mehr auf dezentrale Aspekte der orthodoxen Religion, in welchen es noch schwieriger war, als zentrale Stelle eine Kontrollfunktion zu übernehmen. Gleichzeitig traten auch andere Religionsgemeinschaften und die „Sekten“ stärker in den Vordergrund. Man kann also eher eine Entwicklung im inhaltlichen Programm der Antireligiösen Kommission ausmachen als in den antireligiösen Taktiken. Als Initiator für diesen Wandel ist nicht eine veränderte Ideologie zu sehen, sondern die fortschreitende Vernichtung zentraler Strukturen innerhalb der russisch-orthodoxen Kirche. Die Agenda der Antireligiösen Kommission wandelte sich von einem Schwerpunkt auf der russisch-orthodoxen Kirche zu einer ansteigenden Berücksichtigung der anderen Religionsgemeinschaften, von einer Beschäftigung mit zentraler Hierarchie zu einer Steuerung dezentraler Komplexe vor Ort, oder anders gesagt, von Kirchenpolitik zu Religionspolitik. 63 Ebd., S. 233–431. Einen ähnlichen Kernzeitraum setzte 2005 auch ŠKURIN, Antireligioznaja komissija, an. 64 Vgl. STEINDORFF, Bürokratie und Ideologie, sowie, zum Konzept des retreat to bureaucracy, ROSENBERG, William G., Conclusion. Understanding NEP Society and Culture in the Light of New Research, in: Russia in the Era of NEP. Explorations in Soviet Society and Culture, hrsg. von Sheila FITZPATRICK, Alexander RABINOWITCH und Richard STITES, Bloomington 1991, S. 310–320.

DAS VERHÄLTNIS DER SOWJETMACHT ZUM ISLAM UND ZU DEN MUSLIMEN IN KASACHSTAN IN DEN 1920ER UND 1930ER JAHREN Gulʼžauchar K. Kokebaeva / Ajgul M. Sadykova Nach der Etablierung der Sowjetmacht in Kasachstan kam es in den Beziehungen zwischen Religion und Staat zu grundlegenden Veränderungen. Die Bemühungen um eine neue, sowjetische Organisation des Staates, um den Aufbau einer sozialistischen Gesellschaft und um die Erziehung eines Menschen neuen, „sowjetischen“ Typs wurden begleitet von einem radikalen Bruch mit den jahrhundertealten Lebensformen der Bevölkerung und von der Etablierung einer neuen „wissenschaftlichen Weltanschauung“. Eines der Postulate der sowjetischen ideologischen Doktrin war die Leugnung irgendwelcher positiver Inhalte dessen, was mit der Religion in Beziehung stand. Religion wurde zum „Opium“ für das Volk erklärt. Gegen diese antiwissenschaftliche Theorie, gegen religiöse Institutionen und gegen religiöses Bewusstsein führte die sowjetische Regierung einen erbitterten Kampf. Um die Religion aus allen Lebensbereichen der Gesellschaft zu verdrängen, förderte der Staat die Bildung atheistischer Organisationen, die eine antireligiöse Propaganda betrieben. In den unterschiedlichen Regionen des Landes nahm die antireligiöse Politik der Sowjetmacht jeweils spezifische Formen an. In Regionen mit muslimischer Bevölkerung wurde sie mit der besonderen „Zählebigkeit“ des Islams konfrontiert, der hier eng mit Volkstraditionen und mit der nationalen Kultur verflochten war. Allerdings wurde diese Besonderheit der muslimischen Kultur von der Sowjetmacht ignoriert. Die nun entstehende sowjetische Wissenschaft und die Literatur stellten den Islam als ein Relikt der Vergangenheit im Bewusstsein der Menschen und als ein Merkmal für die Rückständigkeit der muslimischen Bevölkerung im Russischen Kaiserreich dar. Dennoch gelang es der Sowjetmacht, die Religion aus dem sozialen Leben der Gesellschaft zu verdrängen und die entstehende Nische mit kommunistischer Ideologie auszufüllen. Nach dem Zerfall der UdSSR vollzog sich ein gegenläufiger Prozess: In den postsowjetischen Staaten des Ostens, darunter auch in Kasachstan, wurde das durch die Ablehnung der offiziellen Sowjetideologie entstandene Vakuum durch die Religion besetzt. In Kasachstan bildete sich rasch eine konfessionelle Vielfalt heraus, in der außer den traditionellen Religionen auch eine Fülle von neuen, zuvor im Lande nicht vorhandenen religiösen Bewegungen vertreten waren. Es entwickelten sich auch politisch-religiöse Organisationen, die dem Eindringen von religiös motiviertem Extremismus förderlich war. Die unter dem sowjetischen Atheismus aufgewachsene Generation bildete für derartige pseudore-

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ligiöse Lehren einen ausgezeichneten Nährboden. Die heutige Situation im religiösen Bereich ist in den postsowjetischen Staaten insofern direkt mit der sowjetischen atheistischen Vergangenheit verknüpft. In der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der antireligiösen Politik der Sowjetmacht in Kasachstan lassen sich unter diesen Gesichtspunkten zwei Perioden unterscheiden, die sowjetische und die postsowjetische. In der ersten Periode beschränkte sich die Untersuchung der Wechselbeziehung zwischen Sowjetmacht und Islam im Wesentlichen auf eine Kritik des Islam. Der überwiegende Teil der Publikationen der postsowjetischen Periode hingegen befasst sich mit den Ergebnissen der sowjetischen Anti-Islam-Politik in den muslimischen Regionen des Wolgagebiets und Transkaukasiens. In Kasachstan sind zu diesem Problem mehrere Dissertationen erschienen. Sie liefern eine Kritik am sowjetischen Atheismus und betonen die Rolle des Islam in der geistigen Kultur und im gesellschaftlichen Leben der Bevölkerung. Es fehlen jedoch bislang Arbeiten, die eine Analyse der antiislamischen Politik der Sowjetmacht im Kontext des allgemeinen Säkularisierungsprozesses liefern. Ausländische Autoren haben schon vor längerer Zeit begonnen, die antireligiöse Politik der Sowjetunion zu untersuchen, und setzen diese Arbeit auch in der Gegenwart erfolgreich fort. In diesem Zusammenhang sind unbedingt die Untersuchungen Ludwig Steindorffs zu nennen, die das Wesen des sowjetischen Säkularisierungsmodells unter sämtlichen Aspekten analysieren.1 Äußerst verdienstvoll ist auch Steindorffs deutschsprachige Publikation der Protokolle der Antireligiösen Kommission aus den Archiven der Russischen Föderation.2 Unter den neueren Arbeiten zur antireligiösen Politik in der Sowjetunion sind die Untersuchungen von William B. Husband, Yaacov Roʼi, Adeeb Khalid und Stephen S. Schwartz zu nennen.3 W. B. Husband analysiert das gegen die russisch-orthodoxe Kirche gerichtete Handeln der sowjetischen Regierung und die Geschichte des sowjetischen Atheismus. Bei seiner Analyse der veröffentlichten russischen Archivalien kommt er zu dem Ergebnis, dass keine der streitenden Parteien, weder die Sowjetmacht noch die

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STEINDORFF, Ludwig, Die orthodoxe Kirche in der Sowjetunion 1921–1939 im Spiegel des britischen Confidential Print, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 39 (1991), S. 533–549; DERS., Zwischen Bürokratie und Ideologie. Die Antireligiöse Kommission beim Zentralkomitee als Koordinator bolschewistischer Religionspolitik in den zwanziger Jahren, in: Kirchliche Zeitgeschichte 12 (1999), S. 106–142; DERS., Secularization in Soviet Russia. A Comparative Analysis, in: Mesto Rossii v Evrazii. The Place of Russia in Eurasia, hrsg. von Gyula SZVÁK, Budapest 2001, S. 330–337. Partei und Kirchen im frühen Sowjetstaat. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei (Bolʼševiki) 1922–1929 (Geschichte – Forschung und Wissenschaft, 11), hrsg. von Ludwig STEINDORFF in Verbindung mit Günther SCHULZ, unter Mitarbeit von Matthias HEEKE, Julia RÖTTJER und Andrej SAVIN, Münster 2007. HUSBAND, William, Godless Communists. Atheism and Society in Soviet Russia, 1917–1932, DeKalb 2000; ROʼI, Yaacov, Islam in the Soviet Union. From World War II to Gorbachev, New York 2000; KHALID, Adeeb, Islam after Communism. Religion and Politics in Central Asia, Berkeley 2007; SCHWARTZ, Stephen S., Islam and Communism in the 20th Century. An Historical Survey, Washington 2009.

Das Verhältnis der Sowjetmacht zum Islam

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orthodoxe Kirche, einen vollständigen Sieg errungen habe: Die Mehrheit der Bevölkerung Russlands beteiligte sich nicht an der antireligiösen Kampagne, leistete aber der atheistischen Propaganda keinen Widerstand. Y. Roʼi hält fest, dass ungeachtet der feindseligen Haltung der Sowjetmacht sowohl offiziell akzeptierte Moscheen und ihre Geistlichkeit als auch nicht registrierte Moscheen und Mullahs erhalten blieben. Nach Ansicht A. Khalids führte die antireligiöse Politik der Sowjetmacht zu einer Vernichtung des eigentlichen Kerns der islamischen Lehre. Seine Position behielt der Islam nur in der Sphäre des Brauchtums und der Traditionen, weshalb sich die Rückkehr zum Islam in der postsowjetischen Periode als eine Erneuerung der unter dem Kommunismus zerstörten Traditionen vollzog. S. S. Schwartz zeigt in seiner Analyse des Verhältnisses der Sowjetunion zu den verschiedenen Religionen, wie und weshalb der Islam unter dem sowjetischen System überleben konnte. Die Grundlinien der sowjetischen Politik gegenüber Religion und Geistlichkeit waren schon in dem „Dekret über Grund und Boden“ von 1917 zu erkennen, durch das die kirchlichen und klösterlichen Ländereien mit sämtlichem Inventar, Gebäuden und sonstigem Zubehör der Verfügungsgewalt der regionalen Bodenkomitees und der Bauernräte übergeben wurden. Dieses Dekret war in erster Linie ein Schlag gegen die russisch-orthodoxen geistlichen Institutionen, der traditionelle Status des Islam in Turkestan hingegen war bereits nach der Eroberung des mittelasiatischen Territoriums durch das Russische Reich einschneidend verändert worden. Der Vakuf-Besitz (Ländereien, deren Erträge ausschließlich religiösen Einrichtungen zu Gute kamen) und die aus ihm erzielten Einkünfte waren schon damals staatlicher Aufsicht unterstellt worden und wurden nicht selten zweckentfremdet zugunsten des Staates genutzt. Die muslimischen religiösen Behörden im Generalgouvernement Turkestan unterstanden der russischen Kolonialverwaltung. Nach Vorstellung der Bolʼševiki sollte die vom Zarenregime unterdrückte muslimische Bevölkerung die Aufhebung aller nationalen und national-religiösen Privilegien und Restriktionen durch die „Deklaration der Rechte der Völker Russlands“ vom 15. November 19174 freudig und dankbar begrüßen. Auch die Aufhebung national-religiöser Privilegien war jedoch für die Bevölkerung des Russischen Reiches nichts Neues, da die Provisorische Regierung schon am 20. März 1917 die Verordnung „Über die Aufhebung religiöser und nationaler Beschränkungen“ verabschiedet hatte. Bei der Volkszählung von 1897 nahmen die Muslime unter 15 konfessionellen Gruppen nach den orthodoxen Christen den zweiten Platz ein: Diese stellten 69,4 Prozent der Gesamtbevölkerung, die Muslime 11,1 Prozent.5 Die Bolʼševiki waren bemüht, die muslimische Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen, indem sie sich ihre antikolonialen Stimmungen und ihre national-religiösen Gefühle zu Nutze machten. Am 20. November 1917 wandten sich der Vorsitzende des Rats der Volkskommissare, Vladimir I. Lenin, und der Volkskommissar für Nationalitätenfragen, Iosif 4 5

Dekrety Sovetskoj vlasti, Bd. 1: 25 oktjabrja 1917 g. – 16 marta 1918 g., hrsg. von G. D. OBIČKIN, Moskau 1957, S. 17–20, 39f. KAZ’MINA, O. E., Vopros o religioznoj prinadležnosti v perepisjach naselenija Rossij i SSSR, in: Ėtnografičeskoe obozrenie 5 (1997), S. 156–161, hier S. 156.

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V. Stalin, mit einem Aufruf „An alle werktätigen Muslime Russlands und des Ostens“: Muslime Russlands, Tataren des Wolgagebiets und der Krim, Kirgisen6 und Sarten Sibiriens und Turkestans, Türken und Tataren Transkaukasiens, Tschetschenen und Bergbewohner des Kaukasus, alle, deren Moscheen und Gebetshäuser zerstört wurden, deren Glaubensregeln und Gebräuche von den Zaren und Unterdrückern Russlands mit Füßen getreten wurden! Von nun an sind eure Glaubensregeln und Gebräuche, eure nationalen und kulturellen Institutionen für frei und unantastbar erklärt. Organisiert euer nationales Leben frei und ungehindert. Ihr habt ein Recht dazu. Wisst, dass eure Rechte, wie die Rechte aller Völker Russlands, von der gesamten Macht der Revolution und ihrer Organe, den Arbeiterräten, den Soldaten- und BauernDeputierten, bewahrt werden. Unterstützt also diese Revolution und die von ihr bevollmächtigte Regierung!7

Die Bolʼševiki waren bestrebt, die in diesem Dokument deklarierte Prinzipientreue zu demonstrieren. Am 1. Dezember 1917 wandte sich der muslimische Gebietskongress des Petrograder Nationalen Bezirks an das Volkskommissariat für Nationale Fragen mit der Bitte um Restitution einer uralten Reliquie der muslimischen Welt, des „Heiligen Korans Osmans“. Diese muslimische Reliquie hatten die kolonialen Behörden aus Samarkand nach St. Petersburg in die Öffentliche Staatsbibliothek verbracht. Bereits am 6. Dezember 1917 verfügte der Rat der Volkskommissare per Erlass die Übergabe dieser uralten Reliquie an den muslimischen Gebietskongress.8 In den folgenden Monaten erließ der Rat eine ganze Reihe von Verordnungen zur Einschränkung der Rolle von Religion und Geistlichkeit im öffentlichen Leben. Im Dezember 1917 wurden die Dekrete „Über die Zivilehe, die Kinder und die Führung von Personenstandsregistern“ und „Über die Annullierung der Ehe“ verabschiedet, die dazu dienen sollten, die dominante Rolle der Religion im Familienrecht und im familiären Zusammenleben zu untergraben. Die Institution der Zivilehe war bekanntlich im vorrevolutionären Russland und seinen Grenzgebieten so gut wie nicht vorhanden. Gemäß den Dekreten der Sowjetmacht gab es nun keine Rechtsgrundlage mehr für eine kirchliche Eheschließung oder Scheidung, die daher auch keine gegenseitigen Verpflichtungen der Ehepartner mehr nach sich zogen. Als legal galten eheliche Beziehungen erst nach der Registrierung der Zivilehe vor den lokalen Behörden. Alle geistlichen und administrativen Institutionen, die zuvor mit der Registrierung von Ehen, Geburten und Sterbefällen nach den Vorschriften von Glaubensgemeinschaften befasst waren, hatten jetzt ihre Registrationsbücher an die zuständigen Behörden der Städte, Kreise und Amtsbezirke zu überstellen. Am 24. Dezember 1917 wurde die Verordnung „Über die Übertragung von Erziehungs- und Bildungsangelegenheiten von geistlichen Behörden in die Kompetenz des Volkskommissariats für Aufklärung“ erlassen. Diese Übertragung betraf sämtliche kirchlichen Pfarrschulen, geistlichen Schulen und Seminare, bischöflichen Mädchen-Bildungsstätten, Missionsschulen, Akademien und alle Institutionen 6 7 8

Im vorrevolutionären Russland nannte man die Kasachen „Kirgisen“. Istorija Sovetskoj Konstitucii (v dokumentach), 1917–1956, hrsg. von A. A. LIPATOV, Moskau 1957, S. 66f. Dekrety Sovetskoj vlasti, Bd. 1, S. 195f.

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der geistlichen Behörden.9 Sämtliche Lehranstalten, die früher der Kirche unterstanden hatten, wurden in weltliche umgewandelt. Am 20. Januar 1918 wurde das Dekret „Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“ veröffentlicht.10 Die Deklaration der Trennung von Kirche und Staat unterstrich den weltlichen Charakter des Staates. Religiöse Riten und Zeremonien beim Vollzug staatlicher oder öffentlich-rechtlicher gesellschaftlicher Handlungen wurden verboten, der Vermerk der Religionszugehörigkeit von Bürgern in offiziellen Dokumenten aufgehoben. Gleichzeitig beließ das Dekret den Bürgern jedoch das Recht, sich zu jeder beliebigen oder auch zu keiner Religion zu bekennen. Für alle kirchlichen und religiösen Vereinigungen galten die allgemeinen Bestimmungen über private Vereinigungen und Organisationen. Diese grundsätzlichen Regelungen des Dekrets wurden in die erste sowjetische Verfassung übernommen, die Verfassung der Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik (RSFSR) von 1918, und zur verfassungsrechtlichen Norm erhoben. In der Verfassung wurde betont, dass zur Sicherstellung der tatsächlichen Gewissensfreiheit der Werktätigen die Kirche vom Staat und die Schule von der Kirche getrennt und die Freiheit religiöser und antireligiöser Propaganda allen Bürgern zugestanden werden müsse.11 In Übereinstimmung mit dem Dekret wurden die offizielle Kuratel religiöser Institutionen über Schulen beendet, konfessionelle Schulen geschlossen sowie der Religionsunterricht in Lehranstalten und die Herausgabe entsprechender Lehrbücher eingestellt. Das Dekret trennte die Schule von der Kirche, räumte den Bürgern jedoch das Recht auf religiöse Bildung in privater Form ein. Seine ersten Passagen ermöglichten im Grunde einen Prozess der Säkularisierung, der bereits vor der sowjetischen Zeit in Russland begonnen hatte. Bekanntlich nahm die Säkularisierung im vorsowjetischen Russland wie auch in anderen europäischen Staaten die Form eines Prozesses an, in dem die religiösen Institutionen eine Reihe sozialer Funktionen einbüßten, Kulthandlungen eingeschränkt, religiöse Vorstellungen durch weltliche Ansichten ersetzt und das areligiöse Element im gesellschaftlichen und individuellen Bewusstsein sanktioniert wurde. Die moderne westliche Zivilisation ist eine direkte Folgeerscheinung dieser Säkularisierung in den unterschiedlichsten Sphären, vom System der Staatsgewalt und den rechtlichen Normen bis hin zu Wissenschaft und Kunst. Im sowjetischen Staat wurde der mit der Trennung von Kirche und Staat, von Schule und Kirche eingeleitete Prozess in der Folgezeit in eine breite repressive Kampagne gegen religiöse Institutionen und gegen die Geistlichkeit umgewandelt. Beim Volkskommissariat für Justiz entstand am 8. Mai 1918 eine besondere 8. Abteilung („Liquidationskommission“) zur Umsetzung des Dekrets „Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“. Auf der ersten Sitzung wurden ihre Aufgaben festgelegt. Ihre wichtigste Funktion bestand in „der

9 Sobranie uzakonenij i rasporjaženij pravitelʼstva za 1917–1918 gg., Moskau 1942, S. 129. 10 Ebd. 11 Pervaja sovetskaja konstitucija. Konstitucija RSFSR 1918 goda, hrsg. von A. Ja. VYŠINSKIJ, Moskau 1938, S. 426.

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Erarbeitung von Dokumenten, die die Bestimmungen des Dekrets über die Trennung der Kirche vom Staat ergänzten und erläuterten“ sowie „in der Hilfe bei der Lösung unterschiedlicher strittiger Fälle, die im Zuge der Durchführung der Kirchenreform vor Ort auftraten“. Die von P. A. Krasikov geleitete Kommission erarbeitete zahlreiche Erläuterungen und Anordnungen für die Umsetzung der wichtigsten Bestimmungen des Dekrets. Ende September 1922 wurde die Kommission für antireligiöse Propaganda bei der Abteilung für Agitation und Propaganda des Zentralkomitees der RKP(b) (Rossijskaja Kommunističeskaja Partija [bol’ševikov] – Russländische kommunistische Partei der Bolʼševiki) gebildet. Entsprechende antireligiöse Kommissionen existierten auch in unterschiedlichen Regierungsbehörden. Ende Oktober 1922 löste man sämtliche Kommissionen auf, die mit kirchlichen Problemen und antireligiöser Tätigkeit befasst waren. An ihre Stelle trat eine staatliche Behörde: die Kommission zur Durchführung der Trennung von Kirche und Staat beim Zentralkomitee der RKP(b). Vorläufiger Vorsitzender wurde P. A. Krasikov, der Leiter der 5. (ehemals 8.) Abteilung des Volkskommissariats für Justiz, die für religiöse Fragen zuständig war. In der Folgezeit beschloss das Politbüro, N. N. Popov aus dem Apparat des Zentralkomitees mit dem Vorsitz zu betrauen. Seit dem 13. Juni 1928 hieß die Kommission zur Durchführung von Aktionen zur Trennung der Kirche vom Staat „Antireligiöse Kommission“. Sie fasste bis zu ihrer Auflösung Ende 1929 die endgültigen Beschlüsse, die die Politik gegenüber religiösen Vereinigungen betrafen. Nur in besonders wichtigen Fällen lag die Beschlussfassung beim Politbüro, das seinerseits die vorbereitenden Beschlüsse der Kommission zur Kenntnis nahm. Von 1922–1929 fanden ungefähr 120 Sitzungen der Kommission statt.12 Die überwiegende Zahl der postsowjetischen russischen Forscher ist der Ansicht, dass die Einstellung der Sowjetmacht zu den Muslimen von Anfang an loyal war, obwohl allerdings die Islam-Politik der Bolʼševiki einen komplexen, zweideutigen Charakter trug. Einerseits galt das „Dekret über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“ auch in Regionen mit überwiegend muslimischer Bevölkerung. Von 1918–1931 wurden in Kasachstan 1.630 Gebetshäuser geschlossen, davon 782 Moscheen.13 Die Schließung der Moscheen war von Repressionen gegen die muslimische Geistlichkeit begleitet. So wurden im Kreis Džambejty im Gouvernement Bukeevsk (heute: Uralʼskaja oblastʼ) allein im ersten Quartal 1924 neun Moscheen geschlossen und die Mullahs dem Gericht übergeben. Im Kreis Čilik (Gebiet Almaty) war von ehemals 94 Gebäuden (1913) der muslimischen Glaubensgemeinschaft 1929 kein einziges übriggeblieben, und die Zahl der Gläubigen verringerte sich von 26.000 auf 6.000. Im Kreis Balchaš (Gebiet Džezkazgan) gab es 1933 keine einzige Moschee mehr. Die Schließung von Moscheen, Kirchen und Gebetshäusern setzte sich auch in den folgenden Jahren fort, sogar noch während des Krieges. In Kasachstan gab es daher 1948 nur noch 29 offiziell geöffnete Moscheen.14 Im Zuge der Umsetzung des Dekrets „Über die 12 STEINDORFF, Zwischen Bürokratie, S. 106–142. 13 MUCHAROVA, Galija, Islam v sovetskom Kazachstane (1917–1991), Uralʼsk 2007, S. 162. 14 Centralʼnyj Gosudarstvennyj Archiv Respubliki Kazachstan, F. 789, Op. 1, D. 13, L. 28; F. 1711, Op. 1, D. 21, L. 16.

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Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“ verfügte das Volkskommissariat für kulturelle Bildung, dass alle lokalen nachgeordneten Behörden Maßnahmen zu ergreifen hätten, um den Vollzug religiöser Handlungen und religiöse Unterweisung in Schulräumen zu unterbinden. Der Gebietssowjet Semipalatinsk bestimmte in einem Erlass vom 4. April 1918: „Der Religionsunterricht in den staatlichen Lehreinrichtungen sämtlicher Zuständigkeitsbereiche und Ebenen wird eingestellt“; als Zugeständnis räumte man allerdings die Möglichkeit ein, dass „die Eltern der Lernenden auf Wunsch und bei gegenseitigem Einverständnis Persönlichkeiten zur religiösen Unterweisung einladen können“.15 Diese Abschwächung der politischen Anordnungen zum Religionsunterricht in muslimischen Schulen wurde jedoch als Verstoß betrachtet und streng unterbunden. 1919 gingen die Kreisbehörden für Volksbildung in sämtlichen von den „Weißen“ befreiten Gebieten Kasachstans zur Umsetzung der „Verordnung über die Entlassung von geistlichen Personen und ihrer Ersetzung durch Lehrer“ über. Allerdings begriff die bolschewistische Führung, dass sie einstweilen noch nicht über die notwendigen Ansatzpunkte verfügte, um ihren Einfluss auf das gesellschaftliche Bewusstsein der muslimischen Bevölkerung zu vergrößern, und dass sie kein für diese Aufgabe vorbereitetes Personal in der Hinterhand hatte. Die große Entfernung zwischen dem Zentrum und den Regionen mit muslimischer Bevölkerung ermöglichte keine flächendeckende Kontrolle durch Partei und Staat. Am 17. Januar 1918 wurde beim Volkskommissariat für Nationale Angelegenheiten ein Kommissariat für muslimische Angelegenheiten eingerichtet. Diese neue Struktur sollte sich mit der Regulierung des religiösen Lebens der Muslime beschäftigen, übte jedoch in Wirklichkeit eine Kontrollfunktion aus. Im Juni 1918 verabschiedete der Rat der Volkskommissare einen Erlass „Über die Organisation muslimischer Kommissariate“ vor Ort. In Kasachstan wurden sie in Semipalatinsk und in Vernyj (heute: Almaty) eingerichtet. Zu Anfang der 1920er Jahre sahen sich die Bolʼševiki genötigt, eine Reihe von Kompromissen mit der muslimischen Bevölkerung einzugehen. Am 5. März 1921 verabschiedeten das Kasachische Gebietskomitee und das Zentrale Exekutivkomitee den Erlass über „Muslimische Feiertage und arbeitsfreie Tage“, in dem verfügt wurde, dass in den Gebieten der Republik mit kasachischer und anderer muslimischer Bevölkerung nicht der Sonntag, sondern der Freitag als arbeitsfreier Tag zu gelten habe. Oraza-ajt (muslim. Fastenbrechen), Kurban-ajt (muslim. Opferfest) und Nauryz (kasach. Fest der „Geburt des Frühlings“) wurden zu religiösen Feiertagen erklärt.16 Ein Erlass des Zentralen Exekutivkomitees des Rates der Volkskommissare vom Oktober 1923 regelte: Mit Rücksichtnahme auf die kulturelle und wirtschaftliche Rückständigkeit der Muslime beschließen Präsidium des Zentralen Exekutivkomitees und Rat der Volkskommissare der UdSSR zu Art. 9 des Dekrets des Rates der Volkskommissare „Über die Trennung der Kirche vom Staat und der Schule von der Kirche“: 1. In der Turkestanischen und in der Kirgisischen Republik sowie in den Autonomen Einheiten des Kaukasus [...] wird die Eröffnung privater

15 NURGALIEVA, Agila, Očerki po istorii islama v Kazachstane, Almaty 2006, S. 160. 16 Dekrety i postanovlenija CIK, SNK i Soveta truda i oborony Kirgizskoj ASSR, Orenburg 1921, S. 67.

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Gulʼžauchar K. Kokebaeva / Ajgul M. Sadykova Schulen zum Unterricht des muslimischen Glaubens für Personen, die nach der Scharia volljährig sind, zugelassen [...] 3. Der nach den vorherigen Punkten vorgesehene Unterricht darf nicht zu Zeiten stattfinden, die gewöhnlich für den Unterricht an allgemeinbildenden Schulen genutzt werden.17

Im Informationsbericht des kirgisischen Gebietskomitees für das 1. Quartal 1925 ist festgehalten: 1924 haben wir in allen kirgisischen Gebieten der KSSR (Kirgisischen Sozialistischen Sowjetrepublik) hunderte von Religionsschulen mit Teilnehmerzahlen von einigen tausend Menschen gehabt [...] In den Nomadengebieten Kirgisiens (unter anderem Adaevskij rajon [heute: Usbekistan], Turgajskij rajon [heute: Kasachstan]) hat die Bevölkerung während des ganzen Jahres 1924 Gebäude für Religionsschulen, Häuser für Mullahs und neue Moscheen gebaut [...].18

Die Tätigkeit des Kommissariats für muslimische Angelegenheiten war auf eine Verbreitung sozialistischer Ideen unter den Muslimen ausgerichtet. Dabei waren die Bolʼševiki bestrebt, sich islamischer Autoritäten zu bedienen, die vor Ort ihre Loyalität gegenüber den Repräsentanten der neuen Macht demonstrierten. Was die muslimische Geistlichkeit anbetraf, so bemühte sich ein gewisser Teil von ihr um Zusammenarbeit. Die nationalen Kommunisten, unter denen es in den ersten Jahren auch Mullahs gab, bemühten sich, überzeugend darzulegen, dass muslimische Kultur und Lebensweise einerseits und der Marxismus andererseits ideologisch nicht unvereinbar seien. Einige von ihnen waren ehrlich davon überzeugt, dass gerade die Sowjetmacht Möglichkeiten für ein Erwachen der muslimischen Völker eröffne. Der Geistliche Fachretdin Kamaletdinov richtete am 20. Januar 1920 einen Brief an das Gebiets-Exekutivkomitee von Semirečensk in Alma-Ata mit einem Vorschlag zur Zusammenarbeit: An die Regierenden, von den muslimischen Genossen. BITTE. Freiheit, Brüderlichkeit, Gleichheit! Die Worte der Scharia und der Bolschewismus im Vergleich: ihre Bemühungen und ihr Ziel sind eins. Gesetz und Ideen der Türken: 1. Gottes Gesetz erfüllen; 2. Gerechtigkeit der Regierenden; 3. das ganze Volk soll sich in fester Verbindung zusammenschließen. Wie verstehen das die Regierenden? Ich weiß es nicht, und trotzdem bringt mich das Nachdenken zu Folgendem: die oben beschriebenen – Bolschewismus und Scharia – führen zu einem Ziel und die Losung ist eine. Warum aber erhöhen die Genossen, die an der Macht sind, den Bolschewismus und die Heilige Schrift (Kalam Šarif) lassen sie beiseite? Ich meine, wenn man beide zusammenbrächte, gäbe es keine Zweifel und Ängste, die Muslime würden ihre Nation unterstützen, sich zu Hunderten und Tausenden in festen Reihen zusammenschließen. Dafür übernehme ich die Verantwortung. Wenn von Eurer Seite Unterstützung kommt, bin ich bereit, mich unter Anspannung aller Energie ans Werk zu machen.19

Seitens der muslimischen Geistlichkeit Kasachstans und kasachischer Politiker gab es keine scharfe Kritik und keine Abneigung gegenüber der Politik der Sowjetmacht 17 NURGALIEVA, Očerki, S. 168f. 18 Preodolevaja religioznoe vlijanie islama (Iz opyta Kommunističeskoj partii Kazachstana), 1917 – načalo 1930-ch godov, Alma-Ata 1990, S. 89. 19 Ebd., S. 32.

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im Bereich der Religion. Der bekannte Politiker Turar Ryskulov war der Ansicht, die antireligiöse Kampagne solle sich nur auf den Kampf gegen die konservativsten Elemente der Geistlichkeit und auf eine Entlarvung überholter Gebräuche beschränken, die im Laufe der Zeit die ursprüngliche Reinheit des demokratischen Islam entstellt hätten.20 Ungeachtet der Loyalität der muslimischen Geistlichkeit führte die Sowjetmacht jedoch mit verdeckten Methoden einen Kampf gegen den Islam. 1923 wurde bei der OGPU eine spezielle Unterabteilung für Information eingerichtet, die Ost-Abteilung. Nach den Materialien dieser Abteilung zu urteilen, war die Islam-Politik durchaus nicht so duldsam, wie der Kompromiss vermuten ließe, der von den Bolʼševiki öffentlich deklariert wurde. Die Mitarbeiter der Ost-Abteilung befassten sich mit der Situation in den muslimischen Republiken und hatten auch ein Augenmerk auf die religiösen Organisationen. Sie beobachteten, observierten und legten ihre Informationen monatlich der Regierung vor – laufende Berichte und zusammenfassende Überblicke mit Analysen der Lage in den muslimischen Bezirken. Kämpfte die Sowjetmacht in den 1920er Jahren im Wesentlichen gegen die orthodoxe Kirche, bemühte sie sich, deren materielle Basis zu untergraben und schloss überall Kirchen und Klöster, so versuchte man in den 1930er Jahren, die Religion überhaupt auszurotten, anstelle von religiösen Bekenntnissen eine materialistische Weltsicht zu etablieren und eine Generation von Atheisten zu „erziehen“. Die Religionspolitik der Sowjetmacht fußte auf den Ideen des wissenschaftlichen Sozialismus, das heißt die Idee des Sozialismus wurde als wissenschaftliche Theorie betrachtet und die Religion als eine antiwissenschaftliche. Die bolschewistischen Lenker verknüpften die antireligiöse Tätigkeit direkt mit der Idee der Verschärfung des Klassenkampfes auf dem Weg zum Sozialismus. I. V. Stalin sagte: Die Partei kann sich nicht neutral gegenüber den religiösen Vorurteilen verhalten und sie wird den propagandistischen Kampf gegen diese Vorurteile deshalb führen, weil dies eines der zuverlässigen Mittel ist, um den Einfluss der reaktionären Geistlichkeit zu untergraben, die die Ausbeuterklassen unterstützt und die Unterwerfung unter diese Klassen predigt.21

Am 5. September 1926 wurde die Antireligiöse Kommission beim Kasachischen Gebietskomitee der VKP(b) ins Leben gerufen. Man erarbeitete einen ganzen Komplex antireligiöser Propagandamaßnahmen: den Aufbau atheistischer gesellschaftlicher Organisationen, die Schulung professioneller Mitarbeiter, die Durchführung atheistischer Tagungen und Seminare, den Einsatz von Massenmedien für die Propagandaarbeit und die Gestaltung antireligiöser Feiertage. In beschlagnahmten Gotteshäusern wurden antireligiöse Museen aufgebaut.22 Am 8. April 1929 wurden mit der Verordnung „Über religiöse Vereinigungen“ des Allunions-Exekutivkomitees und des Rates der Volkskommissare Grenzen für die Durchführung gottesdienstlicher Versammlungen gesetzt; Kirchen und Moscheen wurden Organisationen für

20 RYSKULOV, Turar, Revoljucija i korennoe naselenie Turkestana. Sbornik glavnejšich statej, dokladov, rečej i tezisov, Taškent 1925, S. 195. 21 STALIN, Iosif, Voprosy leninizma, Moskau 1933, S. 289. 22 Archiv Prezidenta Respubliki Kazachstan, F. 141, Op. 1, D. 492, L. 12–19.

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Kultur- und Bildungsarbeit zur Verfügung gestellt. Am 21. April 1929 verordnete das kasachische Gebietskomitee die Schließung sämtlicher Religionsschulen. Eine große Rolle in der antireligiösen Propaganda spielte der 1925 gegründete „Bund der Atheisten“, dessen Tätigkeit von den Parteiorganen kontrolliert wurde. Auf dem II. Allunions-Kongress der Atheisten im Juli 1929 wurde die Organisation umbenannt in „Bund militanter Atheisten“. In sämtlichen Unternehmen, Kolchosen und Schulen entstanden Zellen dieser Organisation, die sich rasch vergrößerten. Eine riesige Anzahl von Menschen – Arbeiter, Bauern, Schüler, Studenten und andere – wurde in erzwungener Freiwilligkeit zum Eintritt in den „Bund der Atheisten“ genötigt. Von 1926 an gründeten sich in Kasachstan Zellen und Arbeitskreise, später Stadt- und Gebietsräte der Atheisten. Im Gebiet Semipalatinsk zum Beispiel arbeiteten am 1. Januar 1940 204 Zellen des „Bundes militanter Atheisten“ mit insgesamt 11.772 Mitgliedern; im September waren es 304, und die Zahl der Mitglieder war auf 13.935 angewachsen.23 Die Republikräte des Bundes organisierten Tagungen, veröffentlichten methodische Handreichungen, übersetzten antireligiöse Literatur aus dem Russischen in die Sprachen der lokalen Bevölkerung und schlossen Übereinkünfte zum sozialistischen Wettbewerb bei der Planerfüllung in der antireligiösen Arbeit.24 Der mit dem Machtantritt der Bolʼševiki begonnene Kampf gegen die Religion und die mit ihr einher gehende Kampagne zur Abschaffung der Kirchen wurde in den 1930er Jahren und später aktiv fortgeführt. Der Säkularisierungsprozess der 1920er Jahre verlief vor allem in den Städten intensiv. In den 1930er Jahren erfasste er auch die ländlichen Regionen.25 Ungeachtet der aktiven antireligiösen Propaganda und der Repressionen vermochte es die sowjetische Regierung jedoch nicht, die Religiosität der Bevölkerung gänzlich zu beseitigen. Nach den Angaben der Allunions-Volkszählung von 1937 bezeichneten sich etwa ein Drittel der städtischen und zwei Drittel der ländlichen Bevölkerung offen als Religionsanhänger. Während des Zweiten Weltkriegs flaute die antireligiöse Propaganda ein wenig ab, und dieses Phänomen brachte in der postsowjetischen Geschichtsschreibung eine Vielzahl von Publikationen hervor, in denen von einer „grundlegenden Wende“ in der Religionspolitik der Sowjetmacht die Rede ist. Einen Umbruch in der sowjetischen Religionspolitik stellte das Jahr 1939 dar. Die Territorien der Westukraine und des westlichen Weißrusslands wurden der UdSSR angeschlossen. Dort gab es eine friedliche Koexistenz von Kirche und Religion mit dem Staat, und die Geistlichkeit war keinen Repressionen durch die staatliche Macht ausgesetzt. Am 28. November 1943 erließ der Rat der Volkskommissare die Verordnung „Über das Verfahren bei der Eröffnung von Kirchen“: Gesuche von Gläubigen wurden von den örtlichen Behörden geprüft und im Falle einer Befürwortung an den Rat für Angelegenheiten der russisch-orthodoxen Kirche weitergeleitet, nach dessen vorläufiger Entscheidung dem Rat der Volkskommissare vorgelegt und wiederum an den Rat für kirchliche Angelegenheiten überwiesen. Diese Prozedur diente dem 23 Ebd., F. 708, Op. 4/1, D. 860, L. 25. 24 Centralʼnyj Gosudarstvennyj Archiv Respubliki Kazachstan, F. P–1648, Op. 1, D. 5, L. 7–8. 25 STEINDORFF, Secularization, S. 336.

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Zweck, die Eröffnung neuer Kirchen und Gotteshäuser zu dosieren. Zum Oktober 1944 fanden in etwa 200 Gotteshäusern wieder Gottesdienste statt; die meisten von ihnen befanden sich in der Ukraine.26 Diese Milderung in der Religionspolitik ist mit der verstärkten antisowjetischen Propaganda der Nationalsozialisten in den besetzten Gebieten der UdSSR zu erklären. Inhalt dieser propagandistischen Arbeit waren insbesondere die Schwachstellen des sowjetischen Systems gewesen: die Kolchosen, die bolschewistischen Lösungen der landwirtschaftlichen, nationalen und religiösen Fragen, die Repressionen sowie die Arbeits- und Lebensbedingungen der breiten Bevölkerungsschichten. Sehr große Sorgfalt hatte man auf die Inhalte von Agitationsmaterial verwendet, für dessen Erstellung Fachleute auf dem Gebiet der sowjetischen Wirtschaft, der Geschichte, der Kultur und des geistigen Lebens der Völker der UdSSR hinzugezogen worden waren. Am 5. Dezember 1941 hatten die Mitarbeiter der Politischen Abteilung des deutschen Außenministeriums Dokumente mit der Überschrift „Direktiven für die Propaganda im Kaukasus“ und „Direktiven für die Propaganda unter Turkvölkern“ vorgelegt. Letztere bestanden aus vier Punkten: 1. Die Stunde der Befreiung von der jahrhundertelangen Unterdrückung durch Moskau ist gekommen. Moskau und der Bolschewismus, die euch eure besten Ländereien und Nutzflächen nahmen und eure kulturelle und wirtschaftliche Entwicklung mit allen Mitteln behinderten, sind dabei zusammenzubrechen. Helft bei der Befreiung eurer Heimat! 2. Die deutsche Armee bringt den Turkvölkern die freie Entwicklung ihrer eigenen Kultur und Sprache, ihrer Religion und ihrer Schulen. 3. Man wird Formen der Bodennutzung, des Eigentums und des Handels einführen, die den Wünschen der verschiedenen Völker entsprechen. 4. Das Deutsche Reich steht allen Muslimen freundlich und wohlwollend gegenüber. Glaubt nicht der bolschewistischen Propaganda, die behauptet, man werde die Muslime verspotten und sie erschießen.27

Die sowjetischen Abmilderungen betrafen ebenso geistliche Einrichtungen der Muslime. In einigen Städten Kasachstans begann man, die Moscheen zu öffnen.28 Die sowjetische Führung wollte jedoch nur einen Anschein positiver Veränderungen in der religiösen Frage erwecken. In Wirklichkeit blieben die religiösen Einrichtungen unter der strengen Kontrolle staatlicher Instanzen. Es wurde ein Rat für Angelegenheiten der russisch-orthodoxen Kirche bei der Regierung der UdSSR unter der Leitung von G. G. Karpov ins Leben gerufen, dem ehemaligen Leiter der Abteilung für antireligiöse Politik. Eine interne Anweisung lautete, die Frage von Kirchenöffnungen (und auch von Moscheen) zu verschleppen und Öffnungen nur bei hartnäckigen Aktionen der Antragsteller vorzunehmen. So wurde im März 1945 die Bitte der Bevölkerung von Almaty um Öffnung einer Moschee zwar vom Rat der Angelegenheiten religiöser Kulte beim Rat der Volkskommissare der UdSSR positiv entschieden, aber die Freimachung des Gebäudes der ehemaligen Moschee 26 LYSENKO, Aleksandr, Religija i cerkovʼ na Ukraine nakanune i v gody vtoroj mirovoj vojny, in: Voprosy istorii 1998, Heft 4, S. 42–57, hier S. 52. 27 Politisches Archiv des Auswärtigen Amts (Berlin), R 105168, Bd. 4. 28 Centralʼnyj Gosudarstvennyj Archiv Respubliki Kazachstan, F. 1709, Op. 1, D. 1, L. 16; F. 1711, Op. 1, D. 4, L. 16.

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zog sich viele Monate hin. Im November wandten sich die Muslime mit einer Beschwerde an den Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, M. I. Kalinin, aber auch dann dauerte es bis zur Rückgabe des Gebäudes noch einige Zeit.29 Auch die Einrichtung geistlicher Behörden der Muslime in Ufa, Baku und Taschkent zog keine Einrichtung entsprechender Behörden in Kasachstan nach sich. Hier gab es während der Sowjetperiode kein eigenes Muftiat. Die Entwicklung der Politik der Sowjetmacht gegenüber dem Islam hat einen langen Weg beschritten, auf dem Phasen der Verhärtung und der Milderung einander abwechselten. Ausrichtung und Inhalt der Religionspolitik der Sowjetmacht waren mit Veränderungen der Ziele und Aufgaben beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft verknüpft. Im ersten nachrevolutionären Jahrzehnt verlangte die Notwendigkeit der Verbreitung und Festigung kommunistischer Überzeugungen eine Verdrängung des religiösen Glaubens. In Verbindung damit führte die Sowjetmacht einen erbitterten Kampf gegen die Religion. In den Kriegsjahren musste sie sich nationalen patriotischen Traditionen zuwenden und nahm im Namen einer Einheit von Gläubigen und Atheisten gegen den gemeinsamen Feind den Dialog auf. In den 1950er Jahren ging das Land zu einer neuen Etappe des Aufbaus des Sozialismus in der UdSSR über. In diesem Kontext speiste sich die Konsolidierung der Gesellschaft aus der sogenannten marxistisch-leninistischen Idee vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“. Und dies machte eine Auseinandersetzung mit Andersdenkenden erforderlich, unter anderem auch mit der Religion, weshalb zu diesem Zeitpunkt wieder eine Verhärtung der Religionspolitik begann. (Übersetzung aus dem Russischen: Friedrich Hübner)

29

Ebd., F. 1711, Op. 1, D. 4, L. 17–19.

„AUS SIBIRIEN NACH SIBIRIEN GEBRACHT“: GESCHICHTE EINER STALINSCHEN DEPORTATION VON GLÄUBIGEN CHRISTEN1 Andrej I. Savin Im Januar 1934 fand in Moskau der 17. Parteitag der VKP(b) (Vsesojuznaja Kommunističeskaja Partija [Bolʼševikov] – Kommunistische Allunions-Partei der Bolʼševiki) statt, den die Stalinsche Propaganda der sowjetischen Gesellschaft als den „Parteitag der Sieger“ präsentierte. Die Elite von Partei und Staat hatte auf diesem Kongress zahlreiche Anlässe zum Feiern, und der wichtigste von ihnen war zweifellos ihr Sieg über die Bauernschaft. Die vollständige Kollektivierung war im Ganzen abgeschlossen, der Widerstand der Bauern gebrochen, und das Jahr 1933, eines der dramatischsten in der Geschichte der Stalinschen „Revolution von oben“, war überstanden. Der „Parteitag der Sieger“ ist auch als eines der wenigen bolschewistischen Foren in die Geschichte eingegangen, auf denen der Kampf gegen die Religion praktisch gar nicht diskutiert wurde. Der einzige größere und zusammenhängende Beitrag zu diesem Thema war die Rede Emelʼjan Jaroslavskijs. Dieser hielt in traditioneller Weise die von Partei, Komsomol und dem „Bund militanter Atheisten der UdSSR“ erreichten großen Errungenschaften fest und wandte sich dann scharf gegen die weit verbreitete Meinung, dass „der Kampf mit der Religion schon beendet“ sei. Unter Berufung auf I. V. Stalin stemmte sich der Ober-„Atheist“ gegen „kälberhaftes Triumphgebrüll und sorglose Gelassenheit“ und erklärte: „Religion und religiöse Organisationen sind bis heute ein Bremsklotz für das Vorwärtsschreiten der Arbeiterklasse und der Bauernschaft“, sie böten einer ganzen Reihe konterrevolutionärer Organisationen Deckung und seien ein Ausdruck ihrer Ideologie.2 Jaroslavskij wusste genau, wovon er sprach, als er seine Parteigenossen kritisierte: Die meisten Organisationen der VKP(b) betrachteten in dieser Endphase der Massenkollektivierung den Kampf gegen die Religion als eine bereits überwundene Etappe. Der „Sturm und Drang“ war durch eine administrative Routine des „Verdrängens“ der wenigen noch legal existierenden religiösen Gemeinden, ihrer Kirchen und Gebetshäuser, abgelöst worden. Der „Bund militanter Atheisten der UdSSR“ und seine lokalen Abteilungen führten ein ziemlich klägliches Dasein. Man war der Meinung, dass die Organe der politischen Polizei durchaus die nötige

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Zitat aus Vladimir Vysockijs Lied Banʼka po-belomu über das Schicksal eines Lagerhäftlings. XVII sʼezd VKP(b), 26 janvarja – 10 fevralja 1934. Stenografičeskij otčet, Moskau 1934, S. 203.

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Kraft besaßen, die noch verbliebenen Aktivitäten von Gläubigen im „Zuge ihrer normalen Arbeit“ zu eliminieren. Umso wertvoller sind für den Historiker Dokumente jeglicher Art, die die Möglichkeit bieten, die Politik des sowjetischen Staates gegenüber Glaubensgemeinschaften und das Verhältnis des „Führers der Völker“ persönlich zu religiösen Organisationen in dieser Periode einer scheinbaren Beruhigung an der „religiösen Front“ zu charakterisieren. Im vorliegenden Artikel, einer mikrohistorischen Studie, geht es um einen Erlass des Politbüros der VKP(b) vom 23. April 1935, der die Deportation von 157 Gläubigen, Bewohnern des Dorfes Pleškovo3, zur Folge hatte. Die Untersuchung dieser Deportation ermöglicht es, Formen und Methoden des Kampfes der Stalinschen Staatsgewalt gegen religiöse Organisationen während der Zeit unmittelbar vor dem Großen Terror zu studieren, ferner die Lebenswelten von Gläubigen in einem Dorf mit Kolchos zu verstehen und zu charakterisieren – die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Adaptation an die neuen sozialen, politischen und ökonomischen Realien. Die Spezifik des konkreten Falls, der hier zu untersuchen ist, besteht nicht nur in der Beharrlichkeit und dem lange andauernden Versuch einer großen bäuerlichen Gruppe, sich gegen die Maßnahmen der Staatsgewalt zu stellen, sondern auch darin, dass dessen Beendigung die persönliche Einmischung von Stalin und Mitgliedern des Politbüros des Zentralkomitees der VKP(b) erforderlich machte. Da der Erlass des Politbüros des ZK der VKP(b) vom 23. April 1935 sowie das sie auslösende Telegramm der Parteileitung der Westsibirischen Region vom 21. April 1935 für den vorliegenden Beitrag von ausschlaggebender Bedeutung sind, seien beide hier vollständig wiedergegeben. Das Telegramm des Sekretärs des Westsibirischen Regionalkomitees der VKP(b), Robert Ejche, das er am 21. April 1935 um 19.40 Uhr chiffriert aus Novosibirsk abschickte, lautete: [Anschrift:] Moskau, ZK der VKP(b), an die Genossen Stalin und Molotov. – Im Dorfsowjet Pleškovo, Bezirk Bijsk, lebt eine Gruppe von über hundert Baptistenfamilien4, die es demonstrativ ablehnt, die Maßnahmen der Sowjetmacht umzusetzen, sie vielmehr seit einer Reihe von Jahren offen sabotiert und keinerlei staatlichen Verpflichtungen nachkommt, wodurch sie die Bevölkerung ihrer Umgebung zersetzt und Empörung unter dem besten Teil der Kolchosbauern hervorruft. Die Hälfte der Gruppe wurde in den letzten 2–3 Jahren wegen konterrevolutionärer 3

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Zum Zeitpunkt des Geschehens: Pleškovo, Dorfsowjet Pleškovo, Bezirk Bijsk, Westsibirische Region. Heute: Pleškovo, Zonaler Bezirk der Altaj-Region, Zentrum des Dorfsowjets Pleškovo, ungefähr 1.300 Einwohner. Gegründet 1777 unter der Führung von Anika (zu: Anikita) Pleškov, nach ihm benannt, am Ufer des Sees Itkulʼ. Eine der größten AltgläubigenSiedlungen des Altaj. Mitte der 1930er Jahre gab es im Dorf etwa 1.000 Bauernhöfe. R. I. Ejche, der sich auf Daten von Mitarbeitern des NKVD (Narodnyj Komissariat Vnutrennych Delʼ –Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten) und der lokalen Behörden stützte, hat sich wohl bei der Bestimmung der Konfessionszugehörigkeit der „Saboteur“-Gruppe aus Pleškovo geirrt. Ohne die Zugehörigkeit von Baptisten zur Gruppe auszuschließen, lassen die Untersuchungsakten des NKVD vermuten, dass es sich im Wesentlichen um orthodoxe Gläubige handelte, die der „Wahren Orthodoxen Kirche“ nahestanden (Istinno-Pravoslavnaja Cerkovʼ – eine Abspaltung, die die deklarierte Loyalität der russisch-orthodoxen Kirche, das Sergianstvo sowie den Übergang zum gregorianischen Kalender ablehnte).

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Auftritte abgeurteilt. Im Augenblick haben diese Bauern die Aussaat verweigert.5 Anfragen von Regierungsvertretern und Ermittlungsorganen werden nicht beantwortet. Über ihr Verhalten wurde während des Aufenthalts der Genossen Molotov und Kaganovič in der Region berichtet.6 Ich halte es für politisch unumgänglich, die verbliebenen 55 Familien auf dem Verwaltungswege durch Organe des NKVD in den Bezirk Narym auszuweisen. Wir bitten, diese Maßnahme zu sanktionieren.7

Zwei Tage später, am 23. April 1935, wurde das „Problem der Baptisten, die Maßnahmen der Sowjetmacht sabotierten (Telegramm von Gen. Ejche)“ im Politbüro des ZK der VKP(b) erörtert. Für die Ausweisung sprachen sich I. V. Stalin, L. M. Kaganovič, K. E. Vorošilov, A. I. Mikojan, G. K. Ordžonikidze, M. I. Kalinin und V. Ja. Čubarʼ aus. Am 26. April 1935 wurde diese Entscheidung als Erlass des Politbüros ausgefertigt (Sitzungsprotokoll Nr. 24, Punkt 190): „Das NKVD wird beauftragt, auf administrativem Wege 55 Baptistenfamilien, die Maßnahmen der Sowjetmacht sabotieren, aus dem Bezirk Bijsk / Region West-Sibirien in den Bezirk Narym auszuweisen“.8 Entsprechende Protokollauszüge wurden an Robert Ejche und an den Volkskommissar der UdSSR für Inneres, Genrich Jagoda, geschickt. Es ist zu vermerken, dass das Politbüro des ZK der VKP(b) fast gleichzeitig mit dem Beschluss der Ausweisung der „Saboteure von Pleškovo“ noch zwei gleich gelagerte Entscheidungen zur Deportation von religiösen Gruppen fällte, die sich schon seit mehreren Jahren weigerten, Abgaben zu bezahlen. Am gleichen Tag, am 26. April 1935, genehmigte das Politbüro des ZK der VKP(b) die komplette Ausweisung einer aus 78 Familien (323 Personen) bestehenden Mennonitenkolonie in Ak-Mečetʼ, Bezirk Chiva, Gebiet Chorezm, die seit mehreren Jahren die Leistung von landwirtschaftlichen Abgaben, die Lieferung von Fleisch und Baumwolle, „sa-

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Im Einklang mit der Verordnung der III. Sitzungsperiode des Zentralen Exekutivkomitees der UdSSR über Einzelbauern (1933) wurden die Inhaber von Betrieben, die die für sie vorgesehenen Aussaat-Pläne sabotierten und sich beharrlich weigerten, ihr Land zu bearbeiten, zu strafrechtlicher Verantwortung gezogen, gingen des Hoflandes verlustig und wurden in Einzelfällen aus ihrem Wohnort ausgewiesen; siehe Kollektivizacija selʼskogo chozjajstva. Važnejšie rešenija Kommunističeskoj partii i sovetskogo pravitelʼstva, 1927–1935, Moskau 1957, S. 486. V. M. Molotov bereiste die wichtigsten Getreide produzierenden Bezirke des Altajs und WestSibiriens vom 6.–19. September 1934, L. M. Kaganovič besuchte sie in der zweiten Dekade des Oktobers 1934. Näheres zu Reisen hochgestellter Stalinscher Abgesandter nach Sibirien bei PAPKOV, S. A., Kaganovič v Sibiri. Pogromnye akcii 1929–1936 gg., in: Kniga pamjati žertv političeskich repressij v Novosibirskoj oblasti, 2. Aufl., Novosibirsk 2008, S. 589–596. Archiv des Präsidenten der Russischen Föderation [im Folgenden: APRF], F. 30, Op. 30, D. 197, L. 50. Das Dokument ist, von uns kommentiert, publiziert in: Politbjuro i krestʼjanstvo. Vysylka, specposelenie, 1930–1940, 2 Bde., hrsg von N. N. POKROVSKIJ, Moskau 2005, hier Bd. 1, S. 667, 839f. APRF, F. 30, Op. 30, D. 197, L. 49. Politbjuro i krestʼjanstvo, Bd. 1, S. 669f. Den Beschluss des Politbüros, aus dem Bezirk Bijsk 55 Baptistenfamilien auszuweisen, erwähnt auch O. B. Mozochin; vgl. MOZOCHIN, O. B., Pravo na repressii. Vnesudebnye polnomočija organov gosudarstvennoj bezopasnosti (1918–1953), Moskau 2006, S. 142.

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botierte“ und ebenfalls „durch ihre Arbeit die umliegenden Kolchosen und Einzelbauern desorganisierte“,9 in die „Sondersiedlungen von Vachšstroj“.10 Am 1. Juni 1935 genehmigte das Politbüro das Gesuch des Gebietskomitees Voronež der VKP(b) um Aussiedlung von 16 Familien (84 Personen) aus der Sekte der „Schweiger“ (eigentlich: Mönche, die das Gelöbnis des Schweigens abgelegt haben), die in den Jahren 1934–1935 die Erfüllung staatlicher Verpflichtungen und jegliche Kontakte mit Vertretern der Staatsgewalt verweigert hatten, aus dem Bezirk Morščansk in das Gebiet Narym.11 Diese Beschlüsse des Politbüros des ZK der VKP(b) setzten eine Tradition fort, die bereits von der Antireligiösen Kommission beim ZK der VKP(b) begründet worden war. Diese hatte am 6. Juli 1929 den Beschluss gefasst, etwa hundert landwirtschaftliche Betriebe von sogenannten Krasnodrakonovcy („Rotdrachenleute“) wegen Widerstandes gegen Maßnahmen der Sowjetmacht in „abgelegene Gegenden“ auszuweisen.12 In den Deportationen von Gläubigen nach dem Muster von 1935 und in den Sanktionen des Politbüros tritt der scharfe Konflikt zutage, der sich im kollektivierten Dorf zwischen der Staatsgewalt und den Einzelbauern entzündet hatte, der Gruppe von Bauern, die den Eintritt in die Kolchosen hartnäckig verweigerte. Anfang des Jahres 1934 war etwa ein Drittel der bäuerlichen Betriebe immer noch in privater Hand. Der wesentliche Teil der Kolchosbauern hatte sich inzwischen mit der Lage, in die er unfreiwillig geraten war, abgefunden und passte sich an die neuen Bedingungen an, unter anderem durch intensivere Nutzung des privaten Hoflandes, durch Saisonarbeit in der Stadt, durch systematische Vermeidung von Arbeit im Kolchos oder schlampiges Arbeiten. Die Einzelbauern ihrerseits waren mit aller Kraft bemüht, ihre Selbstständigkeit zu erhalten. Diesen letzteren Umstand betrachtete die Führung des Landes als die Hauptursache für die Verlangsamung des Tempos auf dem Weg in die totale Kollektivierung. Dies führte zu einem Kurswechsel in der Politik auf dem Lande. Seit der Mitte des Jahres 1934 begann die Stalinsche Staatsmacht, den politischen Kurs einer totalen Liquidation der Einzelbauern als sozialer Gruppe einzuschlagen. Als wichtigster Ansatzpunkt diente ihr hierbei eine nicht zu verkraftende steuerliche Belastung dieser Bauern, die den Charakter von Requisitionen annahm. 9 Politbjuro i krestʼjanstvo, Bd. 1, S. 668, 671f., 840f. 10 Es handelt sich um die Baustelle des Haupt-Ableitungskanals für die Bewässerung des VachšTales. 11 Politbjuro i krestʼjannstvo, Bd. 1, S. 670–673. 12 Siehe Partei und Kirchen im frühen Sowjetstaat. Die Protokolle der Antireligiösen Kommission beim Zentralkomitee der Russischen Kommunistischen Partei (Bolʼševiki), 1922–1929 (Geschichte – Forschung und Wissenschaft, 11), hrsg. von Ludwig STEINDORFF, in Verbindung mit Günther SCHULZ, unter Mitarbeit von Matthias HEEKE, Julia RÖTTJER und Andrej SAVIN, Berlin 2007, S. 350f. – Der Name Krasnodrakonovcy wurde von Vertretern der Sowjetmacht verwendet, da diese Gläubigen die Sowjetmacht mit dem apokalyptischen Drachen verglichen. Sich selbst bezeichneten die Mitglieder dieser um 1923 im Zentralen Schwarzerde-Gebiet entstandenen orthodoxen religiösen Strömung als Fёdorovcy. Die Fёdorovcy beteiligten sich nicht mehr an der Kornbeschaffung, verweigerten die staatlichen Abgaben und riefen die Bevölkerung zur Verweigerung der Zeichnung von Anleihen auf. Die Prozesse gegen den aktiven Kern der Fёdorovcy fanden im Herbst 1929 und Herbst 1930 in Voronež statt.

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Die steuerliche Belastung durch den Staat führte zwangsläufig zum Widerstand der Einzelbauern, der sich in erster Linie in der Weigerung artikulierte, die Steuern zu zahlen und die staatlichen Abgaben an Naturalien zu erfüllen. Eine Besonderheit des Widerstands war auch, dass an der Spitze der bäuerlichen „Saboteure“ häufig gläubige Christen standen, in erster Linie Angehörige orthodoxer oder protestantischer „Sekten“. In ihrem Milieu bildeten sich Gruppen heraus, die sich besonders kompromisslos gegen die ruinöse Steuerbelastung wandten, und zwar unter Berufung auf christliche Normen und Gebote. Die Tätigkeit dieser „Sektierer“, die sich dem Eintritt in die Kolchosbetriebe widersetzten und für eine Verweigerung der Steuerzahlungen sowie gegen eine Erfüllung der staatlichen Verpflichtungen agitierten, führte zu ernstlicher Beunruhigung in den lokalen Behörden und in der Führungsspitze von Staat und Partei. Besonders beunruhigend war die Fähigkeit der „Sektierer“, Verbindungen unter den Einzelbauern zu stiften und die Bildung stabiler Gruppen zu fördern, die dann über Jahre hinweg den lokalen Behörden ihren Gehorsam verweigerten. Stalin und seine Mitstreiter verstanden sich als Marxisten, denen der Gedanke, dass im Mittelalter der soziale Protest der Bauern in religiösem Gewand aufgetreten war, äußerst gegenwärtig erschien. Ihre Aufgabe sahen sie nun darin, diesen Protest zu unterbinden. Die Vorgeschichte der Deportation der „Saboteure“ von Pleškovo zeigt, dass die Staatsmacht erst dann zu der außerordentlichen Maßnahme einer Ausweisung griff, als das gesamte Arsenal der üblichen repressiven Methoden erschöpft war. Die ersten Verhaftungen von Gläubigen, die systematisch die Erfüllung staatlicher Pflichten und den Kontakt mit Vertretern der Staatsmacht verweigert hatten, gab es in Pleškovo bereits im Dezember 1930. Damals wurden sieben Anführer der Gruppe verhaftet und verurteilt.13 Wie jedoch die Čekisten bemerkten, „brach nach der Ausschaltung der sieben Anführerpersonen der Gruppierung deren Arbeit im Dorf Pleškovo nicht ab, sondern die Zurückgebliebenen [...] hielten an dem Komplott fest, sich keinerlei Anordnungen der Vertreter des Staats unterzuordnen“.14 Die Einzelbauern weigerten sich unter Berufung auf das Evangelium kategorisch, mit Angehörigen des Dorfsowjets zu reden; wenn Vertreter des Staates sich an sie wandten, formten sie schweigend ihre Arme zu einem Kreuz. Im Sommer 1931 nahmen die Čekisten eine weitere „Ausschaltung“ von zwölf Gruppenangehörigen vor.15 Wegen der Ablehnung, staatliche Auflagen zu erfüllen, und wegen der Weigerung, zur Holzbeschaffung zu fahren, ferner wegen Sabotage von Maßnahmen der Sowjetmacht wurden 1932 die nächsten 30 Einwohner von Pleškovo verurteilt. Die Verhaftung einer ersten Gruppe von 25 „Baptisten-Sektierern“, darunter auch zweier orthodoxer Geistlicher und zweier Nonnen, erfolgte am 25. März 1932; alle

13 Gosudarstvennyj Archiv Novosibirskoj Oblasti [im Folgenden: GANO], F. P. 3, Op. 3, D. 142, L. 268. – Otdel Specialʼnoj Dokumentacii Gosudarstvennogo Archiva Altajskogo Kraja [im Folgenden: OSD GAAK], F. R. 2, Op. 7, D. 6144, L. 1–42. 14 OSD GAAK, F. R. 2, Op. 7, D. 19842, L. 131. 15 Ebd., D. 18655, L. 78–87.

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wurden am 13. Juni 1932 durch die Besondere Trojka der Bevollmächtigten Repräsentanz (Polnomočnyj Predstavitelʼ – PP) der OGPU (Obedinennoe Gosudarstvennoe Političeskoe Upravlenie – Vereinigte staatliche politische Verwaltung) für das Gebiet Westsibirien nach dem zu trauriger Berühmtheit gelangten Artikel 58 des Strafgesetzbuchs der RSFSR zu drei- bis fünfjähriger Lagerhaft verurteilt. Außer den üblichen Beschuldigungen, wie der Nichterfüllung staatlicher Auflagen und der Vereitelung einer Durchführung von Maßnahmen der Partei und der Sowjetmacht im Dorf, legte man ihnen die Anfertigung von handgeschriebenen antisowjetischen Flugblättern zur Last. Eines von ihnen lautete: „Ihr Laien, die ihr an Gott glaubt, gebt dem Antichristen kein Korn und kein Vieh. Gott wird uns gegen sie helfen. Bald wird es keine Bolʼševiki mehr geben, habt Geduld“.16 Unter den Bauern war die Autorität der „Saboteure“ so groß, dass es dem Dorfsowjet im November 1931 nicht einmal binnen fünf Tagen gelang, eine allgemeine Bürgerversammlung zur Verabschiedung des Plans für die Kornbeschaffung einzuberufen, so dass diese erst nach einer vorübergehenden Verhaftung von 13 Personen durch die Miliz stattfinden konnte. Am 14. September 1932 wurden, ebenfalls an einem Tag, die (restlichen) fünf Angehörigen der zweiten Gruppe verhaftet und nach zwei Monaten zu Haftstrafen zwischen drei und zehn Jahren verurteilt.17 Während der Kampagne zur Kornbeschaffung von 1933 kam es zu einem neuen heftigen Konflikt zwischen religiösen Nonkonformisten und den örtlichen Behörden. Bestand die „Baptistengruppe“ im Frühjahr 1933 nur aus zehn bis zwölf Betrieben, so erhöhte sich deren Zahl zum September bereits auf 50; in Pleškovo wurden die Kampagnen zur Aussaat, zur Ernte und zur Fleischbeschaffung vereitelt und die Kornbeschaffung war bedroht. Diesmal entschlossen sich die lokalen Behörden dazu, an die Autorität des sibirischen Zentrums zu appellieren, womit man indirekt die eigene Unfähigkeit einräumte, mit der Situation fertig zu werden. Am 4. September 1933 erörterte das Bezirkskomitee Bijsk der VKP(b) das Problem der Sabotageakte der 53 Privatbetriebe gegenüber dem Dorfsowjet Pleškovo und beschloss, beim Westsibirischen Gebietskomittee der VKP(b) um eine Zwangsmaßnahme zur Beseitigung der Anführer und Organisatoren „durch die OGPU“ nachzusuchen.18 Zwei Tage später, am 6. September 1933, verhafteten Čekisten in Pleškovo 20 Einzelbauern. Nach Berechnung der Behörden hatten die Gläubigen von 1929 bis einschließlich Oktober 1933 insgesamt 27.924 Rubel an unterschiedlichen Abgaben nicht bezahlt.19 Bei den Verhören traten die Verhafteten selbstbewusst auf. Einer von ihnen, Kondratij Chodyrev, erklärte seine grundsätzliche Weigerung, Steuern zu bezahlen, auf folgende Art: Wenn wir keine Steuern zahlen, hat die Sowjetmacht nichts, womit sie ihre Schulden bei den Ausländern bezahlen kann, und wenn keine Schulden bezahlt werden, dann gibt es Krieg, und

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Ebd., D. 19842, L. 237–238. Ebd., D. 18655, L. 78–87. Ebd., D. 18731, L. 103. Ebd., L. 185–196.

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den Krieg werden natürlich die Ausländer gewinnen, schon deshalb, weil es im Augenblick so viele Leute gibt, die mit dem jetzigen System unzufrieden sind.20

Aber selbst wenn Chodyrev und seine Gefährten wirklich an diese von einem namenlosen Dorfphilosophen entwickelte Theorie glaubten: Zum bedingungslosen Widerstand wurden sie letztlich durch die erfahrenen Kränkungen und durch den Hass gegen die Staatsgewalt getrieben, die sie nicht nur zu einem Leben nach unverständlichen grausamen Gesetzen zwang, sondern darüber hinaus ihnen und ihren Angehörigen nur Kummer und Leid zugefügt hatte. Wie Jörg Baberowski richtig bemerkt, bestand das Dilemma der bolschewistischen Gewaltanwendung darin, dass sie mit zwingender Notwendigkeit immer neue „Erniedrigte und Beleidigte“ hervorbrachte, die mit der Zeit zu echten Feinden der Staatsgewalt wurden, was wiederum von Neuem die Spirale der Gewalt in Gang setzte.21 Durch die Verurteilung der 20 besonders aktiven Mitglieder der Gruppe gelang es der Staatsgewalt offenbar, das Dorf für einige Zeit zu befrieden. Jedenfalls verfügen wir über keine Anhaltspunkte für Verhaftungen im Dorf während des Jahres 1934. Erst am 4. April 1935 wurde eine weitere Gruppe von „Saboteuren aus Pleškovo“, nämlich sechs Personen, inhaftiert, zwei Wochen, bevor R. I. Ejche sein Telegramm absandte. Anlass dieser Verhaftung war ein Beschluss des Dorfsowjets Pleškovo vom 2. April 1935, in dem die „Ermittlungsbehörden des Bezirks“ aufgefordert wurden, „eine Personengruppe“ zur gerichtlichen Verantwortung zu ziehen, „die seit einer Reihe von Jahren dem Staat gegenüber ihre Verpflichtungen nicht erfüllt, offene Sabotage verübt und sich im laufenden Jahr kategorisch weigert, den Plan zur Aussaat zu akzeptieren“.22 Zwei der sechs Inhaftierten wurden zum Tod durch Erschießen verurteilt, die übrigen zu Lagerhaft von fünf bis zehn Jahren. Die „Operation Ausweisung von 4523 wohlhabenden Kulakenbetrieben aus Pleškovo, Bezirk Bijsk“, die den Beschluss des Politbüros des ZK der VKP(b) umsetzte, wurde am 11. Mai 1935 von Mitarbeitern der Leitung des NKVD (Upravlenie Narodnogo Komissariata Vnutrennich Delʼ – UNKVD) für das Gebiet Westsibiriens durchgeführt. Insgesamt waren 163 Personen von der „Ausweisung“ betroffen: 24 Männer, 58 Frauen und 81 Kinder. Von den Čekisten konnten 157 Personen „ausgewiesen“ werden, weitere sechs sollten zusätzlich festgehalten werden. In einer besonderen Mitteilung der Geheim-Politischen Abteilung der Hauptverwaltung 20 21 22 23

Ebd., L. 186. BABEROWSKI, Jörg, Der rote Terror. Die Geschichte des Stalinismus, München 2003, S. 115. OSD GAAK, F. R. 2, Op. 7, D. 22315, L. 2, 179–184. Im Erlass des Politbüros war die Rede von 55 Familien. In den Dokumenten zur Durchführung der Strafaktion ist in einem Fall von 45, im anderen von 46 Familien die Rede. Offenkundig wurde die Anzahl der auszuweisenden Familien von den Organen des NKVD in Abstimmung mit der Leitung des Bezirkskomitees der VKP(b) nach unten korrigiert. In einer Auskunft des NKVD der UdSSR vom 15. Juli 1935 über die Aussiedlung der Kulakenschaft und antisowjetischer Elemente während der ersten Hälfte des Jahres 1935 wird die Ausweisung von 46 Familien von „Einzelbauern/Sektierern“, insgesamt 163 Personen, aus Pleškovo mitgeteilt; vgl. Tragedija sovetskoj derevni. Kollektivizacija i raskulačivanie. Dokumenty i materialy v 5 tomach: 1927–1939, hier Bd. 4: 1934–1936, hrsg. von Viktor P. DANILOV u.a., Moskau 2002, S. 551.

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für Staatssicherheit (Specialʼnyj Političeskij Otdel, Glavnoe Upravlenie Gosudarstvennoj Bezopasnosti – SPO GUGB) des NKVD vom 22. Mai 1935 „Über die Ausweisung antisowjetischer Kulakenelemente aus dem Bezirk Bijsk, Gebiet Westsibirien“, die an Genrich Jagoda, Jakov Agranov und Georgij Prokofʼev gerichtet war, heißt es: „Unter den Ausgesonderten befinden sich nur sechs Familienoberhäupter, die übrigen Oberhäupter wurden schon früher verurteilt und verbüßen ihre Strafe.“ Am 14. Mai 1935 wurden die Ausgewiesenen in Bijsk auf einen Lastkahn verbracht und „in die Arbeitslager des Bezirks Narym überstellt“.24 Als der Autor der „besonderen Mitteilung“, Golubev, Stellvertreter des Chefs der 5. Abteilung der Hauptverwaltung Staatssicherheit des NKVD, darauf hinwies, dass „es bei der Ausweisung keine Exzesse gab“, schönte er offenkundig den Sachverhalt oder er verfügte nicht über sämtliche Informationen. Wie aus der besonderen Mitteilung des UNKVD des Gebiets Westsibirien vom 25. Mai 1935 hervorgeht, weigerten sich die Ausgewiesenen in Bijsk, ihr Gepäck zu nehmen und auf den Lastkahn zu laden, so dass schließlich hinzugezogene Milizionäre und Čekisten genötigt waren, das Gepäck zu verladen. Am 13. Mai 1935 weigerten sich die Gläubigen schon vor der Beladung am Ufer, bei der Brotausgabe ihre Familiennamen zu nennen und Fragen zu beantworten. Die Mitarbeiter des NKVD verhafteten daraufhin den „Rädelsführer“ dieses passiven Widerstandes, und erst danach „trat“ in der Stimmung der Ausgewiesenen „ein Umschwung ein“. Sie begannen, auf Fragen zu antworten, trugen das restliche Gepäck auf den Lastkahn und melkten die Kühe, deren Milch für die Kinder vorgesehen war. Außer mit Kühen waren die Ausgewiesenen mit Pferden, Leiterwagen, Pferdegeschirr und landwirtschaftlichem Gerät versehen. Man kann nur ahnen, welches Schicksal sie im „unheilbringenden“ Narym-Gebiet erwartete; die Čekisten stellten fest, dass sie nicht genug Saatgetreide für die Wintersaat besaßen und dass es nur in 19 der 46 Familien arbeitsfähige Männer gab.25 Die besondere Mitteilung über die Durchführung der Ausweisung wurde vom Chef der Geheim-Politischen Abteilung der Hauptverwaltung Staatssicherheit des NKVD, G. A. Molčanov, an Stalins Sekretär A. N. Poskrebyšev gesandt, der die Materialen an I. V. Stalin und an die Sekretäre des ZK der VKP(b), L. M. Kaganovič, A. A. Ždanov und N. I. Ežov, weiterleitete, ferner an den Vorsitzenden des Rats der Volkskommissare der UdSSR, V. M. Molotov, und den Leiter der Landwirtschaftsabteilung des ZK der VKP(b), Ja. A. Jakovlev. Der Gerechtigkeit halber sei angemerkt, dass das lokale Ereignis der Deportation einer Gruppe Gläubiger aus Pleškovo vor dem Hintergrund der Massenaussiedlung von Einzelbauern, die „die Aussaat sabotierten“, aus den Dörfern und Siedlungen Westsibiriens nach Norden nur eine Episode war, wenn auch eine durchaus markante. Der entsprechende Erlass, „je 5–10 Betriebe [...] aus Dörfern mit einem hohen Prozentsatz an Einzelbauern auszuweisen“, wurde am 20. Mai 1935 vom Politbüro des ZK der VKP(b) gefasst, auf das Telegramm von Robert Ejche und 24 Centralʼnyj Archiv Federalʼnoj Služby Bezopasnosti [im Folgenden: CA FSB], F. 3, Op. 2, D. 1013, L. 32. Für die Dokumente aus dem CA FSB dankt der Autor Herrn cand. sc. hist. A. G. Tepljakov. 25 Ebd., L. 40–42.

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Fedor Grjadinskij hin.26 Er führte zur Ausweisung von 588 Betrieben oder 2.615 Personen aus 55 Bezirken. Weitere 2.612 Einzelbauern wurden von Organen des NKVD nach den Artikeln 61, 73, 79 und 58 Strafgesetzbuch der RSFSR „wegen Sabotage der Aussaat-Vorbereitung und der Verpflichtung zum Säen“ strafrechtlich zur Verantwortung gezogen. In der UdSSR wurden von Januar bis Mai 1935 insgesamt etwa 21.000 Familien mit ca. 100.000 Menschen aus ihren Heimatdörfern ausgewiesen.27 Die Geschichte der Ausweisung nicht gefügiger Bewohner aus dem Dorf Pleškovo ist auch wichtig für eine angemessene Beurteilung der Massenrepressionen während des Großen Terrors. Noch vor nicht allzu langer Zeit herrschte in der Geschichtsschreibung die Ansicht vor, es habe sich um exzessive, „blinde“ Repressionen gehandelt. Nach dem anschaulichen Bild des amerikanischen „revisionistischen“ Historikers John Archibald Getty (III) handelte der Staat Stalins in den Jahren 1937–1938 wie ein Verrückter, der mit einem Maschinengewehr auf einen Turm gestiegen ist und von dort willkürlich in eine Menschenmenge schießt. Das Selektionsprinzip, das die Organe des NKVD 1937 im Hinblick auf die Einwohner von Pleškovo anwandten, erinnert allerdings nicht an willkürliche Handlungen eines Verrückten. Im Zuge der größten Massenstrafaktion des Großen Terrors, den Einsätzen auf Grund des NKVD-Befehls Nr. 00447 vom 30. Juli 1937, fabrizierten Čekisten aus dem Altaj-Gebiet den Fall „einer konterrevolutionären monarchistischen aufständischen Organisation von Kirchenanhängern in Bijsk und im Dorf Pleškovo“. In den 1950er Jahren machte L. I. Ivanov, der ehemalige NKVD-Chef des Gebietsdezernats Altaj, detaillierte Aussagen darüber, wie die Verhaftungen in Pleškovo 1937 abgelaufen waren: Die Gruppe von Mitarbeitern [...] unter der Leitung des NKVD-Gebietsdezernats Bijsk, zu der auch ich gehörte, hatte den Auftrag, ins Dorf Pleškovo zu fahren, um dort Daten über früher wegen konterrevolutionärer Verbrechen Verurteilter zu sammeln, über Kulaken und Personen, die die staatlichen Abgabepflichten schlecht erfüllten, über Personen, die nicht in die Kolchosen eintraten [kursive Hervorhebung A. S.] und die gegen Kolchosen und die Sowjets gerichtete Gespräche führten. Diesen Auftrag erfüllten wir. Vom Dorfsowjet kriegten wir negative Auskünfte, wir verhörten ein paar Zeugen über einige Fakten zu Aussagen gegen Sowjets und Kolchosen, die es von Seiten dieser Leute gegeben hatte, und alle die Materialien schickten wir dem Chef vom Gebietsdezernat des NKVD. So ungefähr einen Monat später wurde eine operative Brigade gebildet, die in Pleškovo alle die Leute verhaften sollte, über die wir Material geschickt hatten. [...] Ich weiß noch, dass ich bei der ersten Reise nach Pleškovo inoffizielles Material28 zu den in der Angelegenheit Verhafteten gesehen habe, darüber, dass sie gegen die Kollektivierung gerichtetes antisowjetisches Verhalten und großes Lob für die Bodennutzung durch Einzelbauern [kursive Hervorhebung A. S.] dulden.29 26 Siehe Tragedija sovetskoj derevni, Bd. 4, S. 498–502; Politbjuro i krestʼjanstvo, Bd. 1, S. 672f., 841. 27 Tragedija sovetskoj derevni, Bd. 4, S. 24, 550f.; CA FSB, F. 3, Op. 2, D. 1013, L. 54. 28 Hinter diesem Euphemismus verbergen sich Denunziationen von Agenten des NKVD. 29 Das Protokoll des Verhörs von Ivanov ist veröffentlicht in: Massovye repressii v Altajskom kraje 1937–1938. Prikaz Nr. 00447, hrsg. von M. JUNGE, R. BINNER, B. BONVEČ und A. SAVIN, Moskau 2010, S. 519–521.

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Andrej I. Savin

Insgesamt wurden in der Angelegenheit „Organisation von Kirchenanhängern“ im Juli/August 1937 in Pleškovo 52 Personen verhaftet. Auf Beschluss der Trojka beim UNKVD der Region Westsibirien vom 18. August 1937 wurden neun Personen aus Pleškovo zu Lagerhaft verurteilt, die übrigen am 27. August 1937 in Bijsk erschossen. Von den 52 Personen waren 31 bereits früher verurteilt worden, weitere sieben waren entkulakisierte Ausgewiesene, die aus der Verbannung entflohen waren. Die restlichen 14 Personen waren entweder Mitglieder des Kirchenrates, wurden als ehemalige Kulaken charakterisiert oder als Personen „ohne bestimmte Beschäftigung“. Daraus folgt, dass die Čekisten 1937 in Pleškovo eine zielgerichtete, von ihrem Standpunkt aus völlig begründete Selektion von Opfern durchführten und gezielt Personen auswählten, die bereits als Verurteilte, Ausgewiesene, Entkulakisierte und Ähnliche abgestempelt waren. Die einzige größere Fälschung, die sie vornahmen, war die Erfindung einer „monarchistischen kirchlichen Organisation“. Man kann daher festhalten, dass die Weigerung, staatliche Verpflichtungen zu erfüllen, die in den Jahren der NĖP (Novaja Ėkonomičeskaja Politika – Neue Ökonomische Politik) auf dem Land nur eine episodische und zufällige Rolle gespielt hatte, in der ersten Hälfte der 1930er Jahre zu einer der hauptsächlichen Formen des Widerstands von Einzelbauern gegen das Kolchossystem wurde. Der Widerstand dieser lokalen Gruppen nahm besonders hartnäckigen Charakter an, wenn sie aus Gläubigen bestanden, aus „Sektierern“, die verwandtschaftlich untereinander verbunden waren und von Anführern geleitet wurden, die in der eigenen Gruppe ihre Wurzeln hatten sowie über ein ausgeprägtes Empfinden für Gerechtigkeit und eigene Würde verfügten. Der entschlossene Nonkonformismus der Einzelbauern, der sich auf die Autorität der Religion stützte und in seiner Idealform zu einer völligen Abkapselung vom Staat und zu wirtschaftlicher Autarkie tendierte, war im Grunde die Kehrseite der Strategie des „politischen Mimikri“ der Kolchosen-Bauernschaft. In seinen Überlegungen zur Disproportionalität zwischen dem grandiosen Charakter des Kollektivierungsprozesses einerseits und dem geringen Elan bäuerlichen Protestes und besonders der aus seiner Sicht geringen Anzahl bewaffneter Aktionen gegen die Kolchosen andererseits schloss Gábor Rittersporn seinerzeit auf einen hohen Anpassungsgrad der Bauernschaft an die neuen Bedingungen, an die „Gegenkultur“, die man im kollektivierten Dorf entstehen ließ.30 Diese Sichtweise ist allerdings nur teilweise gerechtfertigt. Der echte Elan des passiven bäuerlichen Widerstands während der 1930er Jahre wird in seinen Dimensionen noch nicht angemessen gewürdigt. Welche Gefahr für die Staatsmacht von der „Waffe der Schwachen“ ausging, das bezeugt die Geschichte der gläubigen Bauern des sibirischen Dorfs Pleškovo anschaulich. (Übersetzung aus dem Russischen: Friedrich Hübner)

30 RITTERSPORN, Gábor T., Das kollektivierte Dorf in der bäuerlichen Gegenkultur, in: Stalinismus vor dem Zweiten Weltkrieg. Neue Wege der Forschung (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien, 43), hrsg. von Manfred HILDERMEIER, München 1998, S. 147–167.

DAS „RUMÄNISCHE LOURDES“: DER GUTE HIRTE VON MAGLAVIT ZWISCHEN MEDIALISIERUNG UND POLITISIERUNG Oliver Jens Schmitt Auf der Weltausstellung in Brüssel im Jahre 1935 stellte Rumänien in seinem Pavillon in den Mittelpunkt seiner Präsentation einen Film. Dieser zeigte ein Phänomen, das nur wenige Wochen zuvor aufgetreten war. Zwischen dem 31. Mai 1935 und dem 14. Juni 1935 soll dem Hirten Petrache Lupu nahe dem Dorf Maglavit an der Donau (Kreis Dolj) dreimal Gott in Gestalt eines am ganzen Körper behaarten, weißbärtigen „Alten“ (Moş) erschienen sein (Abb. 1, Anhang). Innerhalb kürzester Zeit strömten – allein am 28. Juli 1935 waren es nach Polizeischätzungen 50.000, am 16. September 1935 nach Medienberichten 100.000 – Pilger aus allen Landesteilen zusammen, um Lupus Botschaft zu hören: Buße und Umkehr, ein christliches Leben.1 1

Die vorliegende Arbeit stützt sich neben Akten der Polizei und Nachrichtendienste auf die zeitgenössische Presse sowie auf ein Korpus von Broschüren, von denen die wichtigsten hier genannt seien: BOBIN, Preot Nicolae, Minunile dela Maglavit. Convorbirile cu Dumnezeu ale Petrache Gh. I. Preda Lupu din comuna, Maglavit-Dolj 1935 (gleichsam offiziöse Broschüre des Maglaviter Dorfpriesters und leitenden Mitglieds des Pilgerkomitees); POPA, Vasile, Minunile dela Maglavit (Dolj). Omul care a vorbit cu Dumnezeu, Focşani 1935; Sfântul Petrache ciobanul dela Maglavit. Cuvânt scris de un pios creştin, Craiova o. J.; CRISTESCU, Preot Demetriu, Scurte lămuriri asupra minunii dela Maglavit. Râmnicu Vâlcea: Tipografia „Episcopul Vartolomeu“ (1935); CAZAN, Ștefan D. M., Reconvertirea dela Maglavit a unui fost sectant, Râmnicu Vâlcea 1935; Maglavit-Dolj (Satul minunilor). Ciobanul Petre Gh. Lupu vorbeşte în mai multe vineri cu Dumnezeu. Minuni ce-au urmat apariţiei Dumnezeeşti. Pelerinajul dela locul sfânt. Apariţia Diavolului. Ce va deveni Maglavitul, hrsg. von N. BADESCU, Călăfat 1935; GHEORGHITǍ, Demostene I., Între minciunǎ şi adevǎr Piatra-Neamţ 1936; ŞTEFAN, C(onstantin), Petrache Lupu Ciobanul. Singurul om care a stat de vorbǎ cu Dumnezeu. Minunea dela Maglavit. Pǎmântul Mântuirii, Bukarest o. J.; Minunile dela Maglavit. Dumnezeu porunceşte oamenilor prin gura ciobanului Petre Lupu, Craiova/Iulie 1935; MARINESCU, Gheorghe, Lourdes şi Maglavit, Bukarest 1936; PARHON, Constantin/PAULIAN, Demetriu/IRIMESCU, Ștefan/ CRISTEA, Ilie, „Minunea“ dela Maglavit, hrsg. von der Liga contra prejudicăţilor (1935). Ein solides Dossier von Behördenberichten findet sich in Direcţia Arhivelor naţionale centrale [im Folgenden: DANIC Bukarest]. Direcţia generală a poliţiei [im Folgenden: DGP] 42/1935, dort auf S. 3 die Zahl; Consiliul naţional pentru studierea arhivelor Securitǎţii [im Folgenden: CNSAS] D 11599, S. 2–7, Bericht des Regionalinspektors der Gendarmerie, Oberstleutnant Leormǎneanu, und des Kommandanten der Gendarmerielegion des Kreises Dolj, Maior Istrati, o. D., mit vorsichtiger Deutung des spirituellen Aspekts, aber klarer Analyse von Geschäftemacherei und krimineller Tätigkeit besonders des Komitees von Maglavit. CNSAS P 0155678,

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Die Religionsgeschichte Rumäniens im 20. Jahrhundert ist ungleichmäßig erforscht.2 Starkes Interesse haben die etablierten Kirchen auf sich gezogen, insbesondere die Konkurrenz von rumänisch-orthodoxer Kirche und der unierten Kirche, in den westlichen Landesteilen auch die Stellung der katholischen und der protestantischen Kirchen.3 Auffallend ist hingegen, dass zwei Massenbewegungen im orthodoxen Milieu fast gänzlich unerforscht sind. Zum einen die sogenannten Stilisten, Altkalenderisten, die den von den Eliten Großrumäniens der Bevölkerung oktroyierten Wechsel zum gregorianischen Kalender nicht nachvollziehen mochten und nicht zuletzt als Reaktion auf massive Behördenrepressionen einen dezentralen, aber massenhaften Widerstand leisteten, der in den dreißiger Jahren in spontanen Rebellionen gipfelte. Diese auf Bessarabien und Teile der Moldau konzentrierte Erscheinung wurde von den Behörden als bolschewisierende Gruppe verfolgt.4 Zum anderen eine starke Entwicklung von Wundererscheinungen und anschließenden Pilgerbewegungen, die in den meisten Fällen örtlich oder regional begrenzt blieben, im Falle Maglavits aber innerhalb von Wochen eine gewaltige nationale Mobilisierung auslösten, regionen- und schichtenübergreifend.5 In beiden Fällen sah sich die rumänisch-orthodoxe Kirche einer ernsthaften Herausforderung gegenüber, einmal, da ihre Autorität als erste Kirche im Staat in Frage gestellt wurde, dann, weil Maglavit das Versagen der Amtskirche bei der Befriedigung elementarer spiritueller Bedürfnisse der Gläubigen in einer Krisenzeit an den Tag brachte. Die vorliegende Arbeit möchte Maglavit als Forschungsfeld umreißen und dabei den von den Zeitgenossen, Anhängern wie Gegnern des „Wunders“, angestell-

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S. 138, Medienberichte mit der Zahl von 100.000 Pilgern. Zur rumänischen Teilnahme an den Weltausstellungen in Paris siehe VLAD, Laurenţiu, Imagini ale identitǎţi naţionale. România la expoziţiile universale şi internaţionale de la Paris (1867–1937), Bukarest 2007. MANER, Hans-Christian, Multikonfessionalität und neue Staatlichkeit. Orthodoxe, griechischkatholische und römisch-katholische Kirche in Siebenbürgen und Altrumänien zwischen den Weltkriegen (1918–1940) (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 29), Stuttgart 2007. Maglavit wird kurz, auf S. 267f., behandelt. BĂNICĂ, Mirel, Biserica ortodoxă română. Stat şi societate în anii ‛30, Iaşi/Bukarest 2007. Dieses Phänomen wird derzeit von Andreea Petruescu im Rahmen des DOC-Programms der Österreichischen Akademie der Wissenschaften erforscht. Die beste Studie zum orthodoxen Pilgerwesen in Rumänien bezieht sich auf gegenwärtige Erscheinungen: BĂNICĂ, Mirel, Nevoia de miracol. Fenomenul pelerinajelor în România contemporană, Iaşi 2014. Zu Maglavit liegen vor: MÜLLER, Florin, Das Wunder von Maglavit, in: Religion im Nationalstaat zwischen den Weltkriegen (Forschungen zur Geschichte und Kultur des östlichen Mitteleuropa, 16), hrsg. von Hans-Christian MANER und Martin SCHULZE WESSEL, Stuttgart 2002, S. 189–198; BĂRBULESCU, Constantin, Minunea dela Maglavit, după 55 de ani, in: Revista de etnografie şi folclor 37/6 (1992), S. 569–573 (ich danke Andreea Petruescu, Wien, für diesen Hinweis); dieser Aufsatz analysiert auch die ersten Medienberichte (S. 570f.). Material zu Maglavit wurde in der populärwissenschaftlichen Zeitungsbeilage Historia veröffentlicht, so z.B. in CARCIGA, Dragoş, Maglavit – miracol sau escrocherie?, URL: http://www.historia.ro/exclusiv_web/general/articol/maglavit-miracol-escrocherie (Zugriff 08. 12.2015).

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ten Vergleich zu Lourdes fruchtbar machen, nicht nur im Sinne einer Nebeneinanderstellung der Phänomene, sondern durch die Analyse der schon von Zeitgenossen beobachteten Verflechtung der Phänomene.6 Als Zeitraum werden die Jahre 1935– 1937 gewählt, also die Anfänge des Pilgerwesens in Maglavit. Die Instrumentalisierung des Phänomens durch die Königsdiktatur, die Militärdiktatur Ion Antonescus, die Unterdrückung durch die Kommunisten und die Neubelebung nach 1989 werden in diesem Rahmen nicht behandelt. Als These dieser Arbeit formuliert werden kann, dass gerade der den Zeitgenossen und Akteuren stets gegenwärtige Vergleich mit Lourdes Handlungsweisen und -muster im Rumänien des Jahres 1935 wesentlich mitbestimmte. Zwei eng verwandte Themenfelder werden in den Mittelpunkt gestellt: Politisierung und eine starke und schnelle Medialisierung von Deutungsmustern, die sich gegenseitig bedingten – und auch zur enormen Beschleunigung des Massenphänomens beitrugen. Zwei Überlegungen sollen dabei vertieft werden: Maglavit war eine Reaktion auf eine sowohl sozioökonomische, politische wie mental-spirituelle Krise. Die äußerst heterogene rumänische Gesellschaft fand hier einen Ort nationaler Gemeinschaft. Maglavit diente den Eliten als Möglichkeit, das Projekt nationaler Homogenisierung voranzutreiben, das bis 1935 nur begrenzte Erfolge gezeitigt hatte.7 Maglavit erlebte aber auch gerade wegen der entscheidenden Rolle moderner Massenmedien und insbesondere der Möglichkeit der raschen Verbreitung von Bildern in Form von Fotoreportagen und Filmen innerhalb weniger Monate eine Entwicklung, die in Lourdes Jahre in Anspruch genommen hatte. Da die Medien in Rumänien einer strengen staatlichen Lenkung durch die Zensur unterstanden, ist die gewaltige mediale Aufmerksamkeit, die Maglavit gewidmet wurde, nicht nur Ausdruck massenmedialer Sensationsorientiertheit – obwohl diesem Aspekt zumindest ganz zu Beginn Gewicht zukam – sondern zunehmend bewusster Steuerung durch politische und kirchliche Eliten. Von der ersten Erscheinung bis zum offiziösen Staatskult dauerte es nicht einmal ein Jahr. Dabei kam der zentralen Akteuren bewussten Verschränkung der Abläufe mit dem großen Vorbild Lourdes eine kaum zu überschätzende Bedeutung zu. Die Geschichte von Maglavit weist aber auch deutliche Unterschiede zu Lourdes auf. Einer sei gleich zu Beginn hervorgehoben. Lourdes war ein eminent weibliches Phänomen. Dies beginnt mit Bernadette Soubirous, der die Muttergottes erschien, und setzt sich in einem Kult fort, in dem Frauen nicht nur als Pilgerinnen hervortraten, sondern als wesentliche Akteurinnen, die Lourdes in dem von ihnen betriebenen Kulturkampf gegen die zunehmend laizistische Republik als Symbol eines katholischen klassenübergreifenden Frankreichs propagierten, als Ort der Heilung nach dem Schock der Pariser Kommune. Der Orden der Assomptionisten, der den Kult um Lourdes trug, wies auch einen weiblichen Zweig auf, die „Sœurs 6 7

Am pointiertesten tat dies der Neurologe MARINESCU, Lourdes şi Maglavit. KÜHRER-WIELACH, Florian, Siebenbürgen ohne Siebenbürger? Zentralstaatliche Integration und politischer Regionalismus nach dem Ersten Weltkrieg (Südosteuropäische Arbeiten, 153), München 2014.

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de lʼAssomption“, aus denen 1872 der „Orden von Notre-Dame du Salut“ hervorging. Lourdes eröffnete Damen der Aristokratie wie sozialen Aufsteigerinnen ein prestigeträchtiges Betätigungsfeld. Die neuere, vor allem amerikanische Forschung unterstreicht auch unter diesem Gesichtspunkt den modernen Charakter der katholischen Bewegung.8 Maglavit hingegen war ein stark männlich geprägtes Phänomen: Dem Hirten erschien Gottvater. Die Gottesmutter spielte keine Rolle. Der Kult wird wie in Lourdes von einem örtlichen Geistlichen (Nicolae Bobin) gefördert (Abb. 2, Anhang). Pilgerwesen und Politisierung liegen ganz in Männerhand, zunächst des geschäftstüchtigen zuständigen Bischofs von Râmnicu Vâlcea, Vartolomeu Stănescu, und lokaler Politiker, dann aber bald des Königs Carol II. und des Patriarchen Miron Cristea.9 Frauen erscheinen nur als Teil der Pilgermasse, nicht aber unter den örtlichen und nationalen Protagonisten des Phänomens. In seiner stark männlichen Ausprägung stellt Maglavit nicht den Regelfall dar. In den auf Maglavit folgenden Erscheinungen in anderen Landesteilen wurde nicht nur von Gottvater, sondern auch von Nachrichten der Gottesmutter berichtet. Im Gegensatz zu Lourdes fing kein Orden das Pilgerphänomen auf, und die 1911 gegründete orthodoxe Frauengesellschaft unter Alexandra Cantacuzino trat nicht in Erscheinung.10 Der von rumänischen Zeitgenossen angestellte Vergleich mit Lourdes ist auf mehreren Ebenen zu betrachten. Die rumänische Elite war zu guten Teilen frankophil – die germanophilen Kreise waren nach 1918 vorübergehend zum Schweigen verurteilt11 – und betrachtete in der Zwischenkriegszeit Frankreich als kulturelles Modell. Oft übersehen wird dabei, dass der innerfranzösische Kulturkampf zwischen laizistischer Linker und katholisch-konservativen beziehungsweise im Extremfall antisemitisch-völkischen Gruppen bei Rumäniens ganz überwiegend nationalkonservativen, auf jeden Fall aber eindeutig antibolschewistischen Eliten Unbehagen auslöste. Sie kannten die Symbole des konservativen Lagers gut und wussten um die Bedeutung von Lourdes als spirituelles Zentrum dieses Milieus, aber auch als eines Ortes, der für gelungene politische Massenmobilisierung stand, die durch Medialisierung und Kommerzialisierung befördert wurde. Wer Maglavit mit Lourdes verglich, erhob auch den Anspruch der Gleichrangigkeit Großrumäniens mit dem Vorbild (des konservativen) Frankreich(s). Dass in Brüssel ein Ausbruch orthodoxer Volksfrömmigkeit als Botschaft des rumänischen Pavillons vermittelt 8

HARRIS, Ruth, Lourdes. Body and Spirit in the Secular Age, New York/London 1999, S. 226– 245; KAUFMAN, Suzanne K., Consuming Visions. Mass Culture and the Lourdes Shrine, Ithaca/London 2005, S. 1–9. 9 OANE, Sorin, Episcopul Râmnicului, Vartolomeu Stănescu, in: Buridava 6 (2008), S. 164–172; ENACHE, Gheorghe, Episcopul Vartolomeu Stănescu, promotor al „creştinismului social“ în România interbelică (T. I), in: Anuarul Institutului de istorie „A.D. Xenopol“ 50 (2013), S. 355–370, und T. II, in: Anuarul Institutului de istorie „A.D. Xenopol“ 51 (2014), S. 275–290; CNSAS D 19733, Bd. 1, S. 17–20; die Stellungnahme des Patriarchen Miron Cristea im Universul vom 15.09.1935; zit. bei MARINESCU, Lourdes, S. 42. 10 MANER, Multikonfessionalität, S. 255f. 11 BOIA, Lucian, „Germanofili“. Elita intelectuală românească în anii primului război mondial, 2. Aufl., Bukarest 2010.

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wurde, ist keineswegs ein Versuch der Selbstexotisierung. Vielmehr beanspruchte das Land damit Europäizität im Anschluss an die kulturelle Leitnation Frankreich. Rumänien sandte insbesondere eine symbolische Botschaft an das konservative Lager in Frankreich aus. Denn nach den schweren Unruhen von 1934 und am Vorabend der Volksfrontregierung konnten die rumänischen Ausstellungsmacher bei der laizistischen Linken Frankreichs kaum auf Verständnis für den Buße predigenden Wunderhirten von der unteren Donau hoffen. Neben Europäizität bot Maglavit auch die Möglichkeit, Latinität und Orthodoxie stärker zusammenzudenken, auch dies mit Blick auf das westeuropäische Ausland, besonders Frankreich, das in der rumänischen Sicherheitspolitik (noch) eine zentrale Rolle spielte. Lourdes erschien den Promotoren von Maglavit aber auch innenpolitisch als mobilisierender und sinnstiftender Verweis, der die Modernität des Phänomens unterstreichen sollte. Nicht ein rückständiger Orient erhob im danubischen Pappelwald Lupus sein Haupt – vielmehr führten Massenmedien und moderne Massentransportmittel die Nation an einem neuen Schrein zusammen, wo sie sich sammeln und finden konnte. So wie das katholische Frankreich nach Lourdes strömte, befördert von der Eisenbahn – dies hatte Émile Zola erfasst, der in seinem reportageartigen Roman „Lourdes“ die Bahnfahrt von Paris nach Lourdes leitmotivisch beschrieb12 – unterstützten die rumänisch-orthodoxe Kirche und die staatlichen Eliten mit allen Mitteln die Pilgerfahrt nach Maglavit. Ohne die Rumänischen Staatsbahnen (CFR) und damit den erklärten Regierungswillen wären in einem autoritären Staat wie Rumänien niemals derartige Massen von Menschen an die äußerste südliche Peripherie des Landes in Bewegung gesetzt worden; ursprünglich bewirkt hatte dies der regionale Senatsabgeordnete beim Transportminister Richard Franasovici.13 Maglavit sollte der Homogenisierung einer erst noch zu schaffenden rumänischen Nation dienen. Der rechtsnationale Politiker und mehrfache Ministerpräsident Alexandru Vaida-Voevod sah gar einen überkonfessionellen Zusammenschluss, da „nicht nur rumänische Orthodoxe und Unierte, sondern auch katholische Schwaben und Ungarn, ja sogar viele Calvinisten und Lutheraner nach Maglavit rannten, mit Sonderzügen, die eine Regierung zur Verfügung stellte, die freudig von dieser Diversion profitierte“.14 Diese Beobachtung ist umso auffallender, als dieser Aspekt in der rumänischen Presse unbeachtet blieb. Er deutet auf jeden Fall darauf hin, dass das sozioökonomische und mentale Krisengefühl die gesamte Bevölkerung Großrumäniens erfasst hatte. Die Vereinigung soziokulturell und politisch äußerst heterogener Landesteile zu einem Staat, das von den Bukarester Eliten – unter weitgehender Verdrängung der habsburgisch beziehungsweise zaristisch sozialisierten rumänischen Regionaleliten – nach 1918 betriebene Großprojekt, war 1935 in eine tiefe Krise geraten, verschärft durch die Folgen der Weltwirtschaftskrise, Massenarmut, massive Korruption und einen weitgehenden Vertrauensverlust in staatliche Institutionen und 12 ZOLA, Émile, Lourdes, hrsg. von Jacques NOIRAY, Paris 1995, S. 32–138. Der Roman beginnt mit den programmatischen Worten „Dans le train en marche“. 13 CARCIGA, Maglavit. 14 VAIDA-VOEVOD, Alexandru, Memorii, Bd. 3, Cluj-Napoca 2006, S. 175.

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das parlamentarische System. Für das konservativ-nationale Spektrum und zentrale Staatsinstitutionen (orthodoxe Kirche, Krone) eröffnete Maglavit eine hervorragende Gelegenheit zur Massenmobilisierung und zu einer emotionalen und spirituellen Lenkung der verarmten ländlichen Bevölkerung sowie zur Entschärfung steigender sozialer Spannungen im Land. Es war kein Zufall, dass als erste Bewegung die „Legionäre des Erzengels Michael“ (Legiunea Arhanghelului Mihail) das Mobilisierungspotential von Maglavit erkannte, also jene Gruppierung, die die nationale Homogenisierung am entschiedensten betrieb. Dies war aber keine einseitige Annäherung. Vielmehr brachte der spiritus rector von Maglavit, der Dorfpriester Nicolae Bobin, seine Begeisterung für die Legion in einem Telegramm zum Ausdruck: Zehntausende christlich-rumänische Gläubiger, versammelt auf dem Felde der göttlichen Erscheinungen, begrüßen begeistert den Beschluss der christlichen Legionäre, durch ihre idealistische Arbeit die Mauern des Klosters der Nation zu errichten.15

In dem von Bobin geleiteten Pilgerkomitee nahm der Bruder des Legionsführers Corneliu Zelea-Codreanu, Horia Zelea-Codreanu, Einsitz.16 Der Chef des parteipolitischen Flügels der „Legion“, der aus hocharistokratischem Geschlecht stammende Kriegsveteran General Gheorghe Cantacuzino-Grănicerul, und Legionsführer Codreanu erwogen, sich am Bau einer Kirche am Pilgerort zu beteiligen.17 Begünstigt wurde dies dadurch, dass Bischof Vartolomeu Stǎnescu einer der entschlossensten Förderer der „Legion“ im hohen Klerus war. Doch schlugen König und Patriarch den legionären Kreisen die politische Waffe sogleich aus der Hand und erhoben Maglavit zu einem Kultort, der unter königliches Patronat gestellt wurde, ausgedrückt auch durch die Schenkung einer Ikone seitens Carols II. und die Patenschaft des Monarchen für Lupus neugeborenen Sohn.18 Hinter der Propagierung des nationalen Schreins standen Kräfte, die sich selbst als modernisierend verstanden. Dies gilt in erster Linie für Bischof Vartolomeu, dessen Unterstützung für die Legionäre sich auch dadurch erklärt, dass diese eine jugendliche Massenbasis für eine gesellschaftliche Umgestaltung des Landes in eine national-orthodoxe Gemeinschaft boten. Vartolomeu gehörte zu jenen Hierarchen, die sozialreformerische Strömungen in der katholischen Kirche genau mitverfolgten und kirchlich-gesellschaftliche Neuerungen nicht in starrem Traditionalismus, sondern in gestalteter Modernisierung erblickten. Sein bischöfliches Priesterseminar und eine eigene Druckerei bildeten das Fundament für ein kirchliches Unternehmen, das Evangelisierung, Nationalisierung der Gläubigen und Kommerz verband. Dabei agierte Vartolomeu wie jene kirchlichen Kreise in Lourdes, die 15 CNSAS Manuscrise, Cantacuzino, Gheorghe, Pachet 31, S. 18. 16 DANIC DGP 42/1935, S. 7, 9; zu ihm siehe SCHMITT, Oliver Jens, Căpitan Codreanu. Aufstieg und Fall des rumänischen Faschistenführers, Wien 2016. 17 CNSAS Manuscrise Cantacuzino-Grănicerul, Pachet 15, S. 18f. 18 CNSAS D 11599, S. 9; zur Verwicklung Vartolomeus, der als Patriarch eines „legionären Staates“ vorgesehen war, siehe SCHMITT, Oliver Jens, Approaching the Social History of Romanian Fascism. The Legionaries of Vâlcea County, in: Fascism 3/2 (2014), S. 117–151, hier S. 128– 130.

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Kommerzialisierung zur Evangelisierung benutzten. Die amerikanische Historikerin Suzanne K. Kaufman hat den lange von Kritikern konstruierten Gegensatz zwischen Religiosität und Kommerz in einer neuen Deutung aufgehoben und die Verschränkung beider Phänomene als gelungene Strategie katholischer Teilhabe an der Moderne gedeutet. Bischof Vartolomeu verhielt sich nicht anders. Er monopolisierte die Verbreitung von Broschüren über Maglavit, die er in seinem eigenen Verlag drucken ließ, und er übernahm die Kontrolle über die gewaltigen Spenden, die er in einer von ihm beherrschten Bank und einer Stiftung (Aşezământul Evanghelic Ciobanul Petrache Lupu) verwaltete.19 Er erließ auch eine „Ordnung zur Vergrößerung des Wunders in Maglavit-Dolj im Jahre 1935“, die sich intensiv mit der Verwaltung der Spenden beschäftigte.20 Ihm kam entgegen, dass der Maglaviter Dorfpriester Bobin als erster Präsident des Komitees eine Vetternwirtschaft aufgebaut hatte. Verwandte Bobins und Lupus bereicherten sich an den Spenden. Zudem verkaufte Bobin in großem Umfang Broschüren, Fotografien, Postkarten und Devotionalien. Die Polizei beobachtete mit wachsender Sorge das chaotische und wohl auch kriminelle Finanzgebaren der Maglaviter Dorfhonoratioren.21 Bischof Vartolomeu konnte diese Missstände ins Feld führen, um seinen Machtanspruch zu untermauern. Ideologisch griffen Kleriker und kirchennahe Kreise Lupus Botschaft – Buße und Umkehr – gerne auf, da sie in ihrer Vagheit die Möglichkeit zu starker Präsenz in der gesellschaftlichen Debatte bot. Einige Kleriker nutzten die Erscheinung zu gezielten Angriffen auf die Wissenschaft, so der Priester Petculescu, der im November 1935 im Stadtsaal von Brăila wissenschaftliche Kritik an Maglavit geißelte und von „einem Augenblick der Moralität in Zeiten der Unehrlichkeit“ sprach.22 In der Zeitung Die Stimme der Mönche (Glasul monahilor) polemisierte der Hieromonach Dionisie Lungu am 6. Oktober 1935 unter dem Titel „Die Gadarener von Maglavit“ gegen Kritiker aus den Reihen der Naturwissenschaften (siehe dazu unten). Der Vergleich ist dabei beinahe brutal, handelt es sich doch um das Wunder Christi bei den Gadarenern, bei dem Dämonen in Schweine fuhren, die sich über einen Abhang in den See von Galiläa stürzten (Mt. 8, 28–24; Mk. 5, 1–10; Lk. 8, 26–39). Die antisemitische Zeitung Porunca vremii legte am 8. November 1935 den Standpunkt der rechtsextremen Intellektuellen dar: In Maglavit ist tatsächlich ein Mann, der ganz und ausschließlich im Herrn lebt, so wie der Herr vollkommen und ausschließlich in ihm lebt […]. Petrache Lupu ist sicher die reinste Seele unter den Menschen, die heute auf dem Erdball leben […]. In Maglavit sind wir Jahrhunderte zurück und erleben die Anfänge der christlichen Religion.

Kleriker aus dem Umkreis des Bischofs Vartolomeu schließlich bemühten sich, die dogmatische Orthodoxie der Erscheinung zu untermauern. Wunderheilungen und die als Wunder angesehene Renaissance des Glaubens belegten dies hinlänglich.

19 20 21 22

Curentul vom 17.02.1936; Zorile vom 20.02.1936; Ordinea vom 08.02.1936. CNSAS P 016678, S. 147, Zeitungsausschnitt ohne Quellenangabe vom 14.09.1935. DANIC DGP 42/1935, S. 69–74. Ebd., S. 92.

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Vom „Ort am Baumstumpf“ gehe Erneuerung aus. Der Glaube an ein Wunder sei Bestandteil der christlichen Religion, da sich im Wunder der Herr den Gläubigen offenbare. Lupus Lehren gingen konform mit den Lehren der Amtskirche. Der Text endet in einer Meditation im Stile des Hesychasmus: Wir glauben, Herr, an Dich und Deine Wunder und mit großer seelischer Erschütterung beschließen wir, ein anderes Leben zu führen, Dir im blitzenden Licht des Weges nach Damaskus zu begegnen, wie einst der große Paulus […], dass wir eiligen Schrittes zum Berg Tabor emporeilen und dort mit dem Geist Dein Leuchten und Deinen Ruhm erblicken […], dass wir Deine grenzenlose wunderbare Macht erblicken.23

Mitte September 1935 bezog schließlich Patriarch Miron Cristea Stellung.24 Er ordnete die Erscheinung in die Tradition orthodoxer Mystik ein, begrüßte sie und forderte die Errichtung eines Klosters und eines Spitals und damit auch die Einfügung des Pilgerphänomens in die organisatorischen und theologischen Strukturen der Staatskirche. Wie wichtig diese rasche Kanalisierung des Phänomens Maglavit durch staatliche und kirchliche Institutionen war, belegt eine auf den 28. September 1935 datierte Denkschrift aus Sicherheitskreisen.25 Diese stellte einen Zusammenhang zwischen mystischen Strömungen im Russland des 19. Jahrhunderts, der Idee der Kollektivierung des Besitzes und dem Bolschewismus her. Ausdrücklich genannt werden die – im Vorkriegsrussland zahlenmäßig wenig bedeutsamen – Duchobory, die als Vorläufer der Bolʼševiki gedeutet wurden, aber auch der Priester Gapon, den der Text als konvertierten Juden darstellt. Verwandte religiöse Agitation sei 1907 im rumänischen Bauernaufstand zu beobachten gewesen. Der Verfasser der Denkschrift sah in Maglavit und in einem unkontrollierten Mystizismus daher die Gefahr einer revolutionären Explosion, einer Bolschewisierung Rumäniens durch die Instrumentalisierung Lupus: Die gewaltige in Maglavit geschaffene mystische Strömung kann abrupt zu revolutionären Zielen umgelenkt werden, und zwar durch Hinweise des Hirten Petre Lupu, zu scheinbar religiösen Idealen, deren sich aber die soziale Revolution bedient. Die Umgebung des Hirten kann diese Änderung bewirken und die volkstümliche Strömung zu einer Revolution umlenken mit der Behauptung, Petre Lupu habe eine bestimmte Richtung oder eine bestimmte Handlung befohlen.26

Umso wichtiger erschien die rasche Einbettung des Phänomens Maglavit in offizielle Strukturen. Mitte September 1935 veranstaltete die Veteranenvereinigung „Verteidiger Großrumäniens“ (Apărători României Mari) eine Kundgebung mit angeblich über 100.000 Teilnehmern, auf der König Carol II. gefeiert wurde.27 Dabei wurden an die Pilger zehntausende Bilder des Königs verteilt. Die Kundgebung

23 24 25 26 27

CRISTESCU, Scurte lǎmuriri, S. 30f. CNSAS P 016678, S. 143, Zeitungsausschnitt ohne Quellenangabe vom 15.09.1935. Ebd., S. 172–175. Ebd., S. 174. Ebd., S. 149, Zeitungsausschnitt ohne Quellenangabe vom 13.09.1935.

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wurde von der Zeitung Curentul gefördert, die Reklame mit Systemloyalität verband. Medialisierung und Verschränkung von Kult und Krone wurden hier sinnhaft zelebriert, ein Königsheil konstruiert, das Lupu und Carol II. verband und das dem Monarchen neue Legitimität verleihen sollte, in einer Zeit, in der Putschgerüchte nicht verstummen wollten. Sinnbildlich steht für diesen Prozess die im Anhang abgebildete volkstümliche Darstellung (Abb. 3, Anhang). Der Patriarch und ein Vertreter des Königs, der die Patenschaft übernahm, stehen an der Wiege von Lupus neugeborenem Sohn. Lupu selbst steht demütig gebeugt am Rande, während links Vertreter der weltlichen Elite, rechts Repräsentanten des Klerus das Bild prägen, vereint in der Taufzeremonie. Bauern erscheinen nur im Hintergrund. Krone, Kirche und Nation – Slogan der nationalen Rechten – finden sich hier vereint in einer bewusst staats- und gesellschaftstragenden Deutung von Maglavit. Mit dem Besuch des Großfürsten Sergej Romanov 1937 und einem dabei erfolgten angeblichen Wunder Lupus wurde Maglavit weiter in einen konterrevolutionären Kontext eingeschrieben.28 Das rumänische Lourdes stand für die kleine Gruppe von Kritikern an Maglavit für ein Staats- und Gesellschaftskonzept, das sie ablehnten. Weniger explizit, doch in den Argumenten deutlich standen sie den Kritikern von Lourdes nahe, wobei Skeptiker aus dem konservativen Lager selten waren. Aus national-orthodoxer Sicht sprach Nicolae Iorga, selbst als „Apostel“ verehrter Deuter und Erschaffer der Nationalgeschichte und kurzfristiger Ministerpräsident, von einer „Häresie“ als Ausdruck von „Anarchie in Kirche und Glauben“. Iorga kritisierte besonders Bischof Vartolomeu, den er als Idealisten und Wundergläubigen ansah, weniger explizit drückte sich Iorga gegenüber dem Patriarchen aus, der Vision und Kult mit Vorbehalten billigte.29 Die meisten Kritiker aber stammten aus dem linken politischen Milieu, wobei die Zeitung Zorile eine führende Stellung einnahm. Am eindeutigsten positionierten sich linksorientierte, der Kommunistischen Partei nahestehende Naturwissenschaftler wie der Iaşer Arzt Constantin Parhon (1874–1969, der nach 1945 eine glänzende politische Laufbahn im Kommunismus antrat, unter anderem als Erster Vorsitzender der sogenannten „Großen Nationalversammlung“ 1947). Parhon trennte Wissenschaft und Religion als „psychosoziale Funktionen“. Die Kleriker verhielten sich dabei nach ihrem eigenen Denksystem. Im menschlichen Geist, so Parhon, bestehe Platz für Religion und Wissenschaft, wobei mal ein allmächtiger Gott, mal das unendliche Unbekannte Fixpunkte darstellten. Maglavit deutete er als Idolatrie und damit als „primitive Form der Religion“. Die Massenhysterie interpretierte er marxistisch als Ausdruck einer tiefen gesellschaftlichen Krise. In dieser Zeit, da Diebstahl, Lüge, Heuchelei und Zynismus die Grundlagen der gesellschaftlichen ‚Moral‘ darstellen, scheint es mir, dass die Pilgerfahrten nach Maglavit als ein Exodus auf der Suche nach dem Ideal Gerechtigkeit und Wahrheit angesehen werden müssen. Doch, oh 28 DANIC DGP 46/1937, undatierte Zeitungsausschnitte ohne Quellenangabe. 29 Curentul vom 22.09.1935 mit Verweis auf Iorgas Zeitung Neamul românesc, in: CNSAS P 016678, S. 124.

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Oliver Jens Schmitt weh! Dieses Ideal wird man dort sicher nicht antreffen. Doch der Durst nach diesem Ideal besteht, und das festzustellen, ist wichtig und auch erbauend.30

Schärfer formulierte die Kritik Parhons Kollege Ștefan Irimescu (1871–1956), der sich führend bei der Bekämpfung von Malaria und Tuberkulose ausgezeichnet hatte und in der sozialistischen Bewegung aktiv war. In der Zeitung Zorile veröffentlichte er am 26. September 1935 einen Aufsatz zum „mittelalterlichen Mystizismus, genährt entweder von krankhafter Phantasie oder von berechnender dreister Lüge“. Irimescu schilderte Auswüchse des Kultes – die Gläubigen sammelten Speicheltropfen Lupus, der Splitter des Baumstrunks verteilte, an dem ihm Gott erschienen sein soll: „Wir befinden uns mitten in Barbarei und Obskurantismus“. Er verwies auf die zahlreichen auf Maglavit folgenden Erscheinungen in Parepa, Paşcani, Galaţi, Timişoara und Iaşi, also in allen Landesteilen, die er als Teil der „Unkultur“ ansah, in der die rumänische Gesellschaft verharrte.31 Er zitierte den Historiker Iorga, der meinte, man könne gleich die Irrenhäuser im ganzen Land öffnen. Irimescu betonte wie Kritiker von Lourdes die hygienischen und gesundheitspolitischen Risiken: Blinde, Gelähmte, Tuberkulosekranke, Krebsleidende strömten in einem Dorf zusammen, in dem die elementarste gesundheitspolitische Infrastruktur fehlte. Er forderte als Reaktion auf Maglavit ein energisches Durchgreifen des Gesundheitsministeriums. Wie schwierig sich dies gestaltete, zeigte aber der Besuch des Akademiemitglieds Gheorghe Marinescu (1863–1938), der diskret eine Untersuchung Lupus durchführen sollte. Linksgerichtete Medien berichteten, Marinescu sei von Popen und Gläubigen massiv bedrängt und zu einem Glaubensbekenntnis zu Maglavit gezwungen worden, nachdem Lupu die aufgebrachten Massen beruhigt hatte.32 Marinescu dementierte dies nach seiner Rückkehr nach Bukarest wortreich. Dem linken Massenblatt Dimineaţa erklärte er am 25. September 1935, er sei nicht nach Maglavit gereist, um therapeutische Wunder zu studieren, sondern um sich von einem Glaubenswunder zu überzeugen. Marinescu hielt in der Folge Vorträge unter anderem an der Universität Iaşi, wo sich Mitglieder der Legionärsbewegung unter die Zuhörerschaft mischten. Dabei deutete er Wunderheilungen als Autosuggestion, die er als bestes Heilmittel bei jenen Krankheiten empfahl, gegen welche die Schulmedizin nichts ausrichten könne.33 Marinescus Haltung zeigt, dass in Rumänien ebenfalls die Reaktion der Ärzteschaft gespalten war. Marinescu schloss sich daher auch nicht der als Reaktion auf Maglavit gegründeten „Liga gegen Vorurteile“ (Liga contra prejudecăţilor) an, in der Parhon, Irimescu und andere eine Broschüre veröffentlichten. Bei dieser „Liga“ handelte es sich um eine Tarnorganisation der illegalen Kommunistischen Partei; welche im Mai 1935 verboten

30 Interview Parhons, Zeitungsausschnitt ohne Quellenangabe, in: CNSAS P 016678, S. 125. Zu Parhon siehe BOIA, Lucian, Capcanale istoriei. Elita intelectuală între 1930 şi 1950, 2. erw. Aufl., Bukarest 2012, s.v. Parhon, Constantin. 31 Ein weiteres Beispiel führte der Curentul am 15.09.1935 an, den Fall eines wundertätigen Kreuzes im Schwarzmeerbezirk Durostor. 32 DANIC DGP 42/1935, S. 53. 33 Ebd., S. 113.

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wurde.34 Die „Liga“ propagierte das Bild eines „guten und fleißigen Volkes“, das durch die „Diversion“ von Maglavit in die Irre geführt und von drängenden sozialen Problemen abgelenkt werden sollte. Lupu selbst, der Nächstenliebe predigte, wurde dabei weniger angegriffen als die hinter ihm stehenden Eliten. Für die rumänischen Marxisten stand Maglavit auf einer Stufe mit dem, was sie als „reaktionären Geist“ anprangerten, der sich im nationalsozialistischen Deutschland als Heidentum, in Rumänien als Mystizismus äußere. Die Verzweiflung der Masse heische nach schnellen Antworten, nach einer Auflösung des Elends im Wunder.35 Die politische Ausrichtung der Kritiker, die einer im Zwischenkriegsrumänien sehr marginalen und zudem im Verdacht des Landesverrats stehenden Gruppe – die Sowjetunion erkannte die rumänische Ostgrenze nicht an – angehörten, erklärt die geringe Resonanz dieser Argumente. Dem gesellschaftlichen Mainstream hingegen sind jene Kritiker zuzuzählen, die sich nicht gegen das Wunder an sich wandten, sondern die Geschäftemacherei des Klerus und besonders des Bischofs Vartolomeu anprangerten. Die Ordinea veröffentlichte am 8. Februar 1936 den Artikel „Statt einem Kloster Wucherei“; Zorile hieb am 20. Februar 1936 in die gleiche Kerbe; der einflussreiche Curentul griff am 17. Februar 1936 den Bischof und dessen Plan einer „Evangelischen Stiftung Hirte Petrache Lupu“ (Fundaţia evanghelică Ciobanul Petrache Lupu) an. Während die Marxisten Lupu dem „guten Volk“ zurechneten, versuchte Gheorghe Marinescu eine wissenschaftliche Erklärung, die die Gläubigen und die interessierten politischen Eliten nicht vor den Kopf stoßen sollte. Lupu sei „normal“, das heißt nicht dement, seine geistige Entwicklung sei aber „retardiert“ aufgrund von mangelnder Bildung und der isolierten Lebensweise eines Hirten. Der Syphilitiker Lupu, so Marinescu, sei nunmehr ein Verkünder und Heiler von Krankheiten – ein Kompromiss, der medizinische Diagnose und Übernatürliches zusammenführen sollte.36 Marinescu unternahm auch den umfassendsten Versuch, Maglavit durch einen konsequenten Vergleich mit Lourdes zu deuten. In seiner Broschüre „Lourdes und Maglavit“, die 1936 im Verlag der einflussreichen Zeitung Universul erschien, machte er aber deutlich, woran er als Wissenschaftler und Gläubiger zugleich litt. Marinescu wusste um die schweren Missstände im großrumänischen Staat: Mit welcher Bitterkeit sehen wir heute, nach der Erfüllung des tausendjährigen Ideals der Rumänen, so viel Verrottetheit in unserer Gesellschaft. Die Werteskala umgeworfen. Verachtung ehrbarer Arbeit, die durch verbrecherische Geschäfte verdrängt wird, die wir jeden Tag erleben. Ein leichtes Leben, voll Genuss bis zum Exzess, ist der Hauptsinn einiger Rumänen oder Fremder, die unsere Naivität ausnützen. Elend und Unwissenheit finden sich im rumänischen Volk. Fehlendes Interesse für die vornehme Beschäftigung mit uneigennütziger Wissenschaft, Kult

34 Zur Liga siehe BURCEA, Mihai/STAN, Marius, Liga contra prejudicăţilor în vizorul Siguranţei, URL: https://www.militiaspirituala.ro/detalii.html?tx_ttnews[tt_news]=431 (Zugriff 30.11. 2015). 35 Parhon/Paulian/Irimescu/Cristea, „Minunea“, S. 3. 36 DANIC DGP 42/1935, S. 63, 113.

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Oliver Jens Schmitt der Lüge und Verachtung des gegebenen Wortes […]. Das ehrliche Spiel, das fair-play, ist nur Tennisspielern bekannt.37

Marinescus Stellungnahme ist emblematisch für die Verschränkung von Lourdes und Maglavit, französischer und rumänischer Debatte. Denn Marinescu war als Neurologe Schüler Jean-Martin Charcots (1825–1893) gewesen, der die erste neurologische Klinik Europas gegründet hatte und zu dessen Schülerschaft auch Sigmund Freud zählte. Marinescu war daher mit den neuesten Ansätzen der Neurologie und Psychoanalyse vertraut und stand unter dem Einfluss der Untersuchungen Charcots, die sich unter anderem mit dem Einsatz von Hypnose beschäftigten. Charcot hatte stark auf die französischen Deutungen von Lourdes gewirkt, so auf Zolas berühmten Reportageroman.38 Marinescu versuchte, die Spannung zwischen Glauben und Wissenschaft nicht als Gegensatz zu deuten, und zitierte dabei von dʼAlembert und Kant bis Auguste Comte abendländische Denker und Wissenschaftler, aber auch mittelasiatische Denksysteme wie das Avesta, wobei er wohl unter dem Einfluss des zeitgenössischen rumänischen Interesses, vertreten vor allem durch Mircea Eliade, für fernöstliche Philosophie stand. Zwar setzte er sich auch mit der neueren psychologischen Forschung auseinander, der Name Freuds aber taucht in seinem Traktat nicht auf. Für Marinescu ist Lupu ein ehrlicher Mensch, dessen viel kritisierte partielle Demenz von gesellschaftlichen Umständen – mangelnde Bildung, geringer Kontakt zu Menschen durch seine Isolierung als Hirte – bedingt ist. Der Bauer von Maglavit […] ist ein Apostel dieser [der christlichen] Moral, denn er wünscht weder Geld noch Ehren und will durch das gesammelte Geld ein Kloster und ein Spital errichten lassen […]. So wird er Religion wie Wissenschaft gedient haben.39

Marinescu rechtfertigte die Notwendigkeit von Religion und die Bedeutung der Mystik, die er mit großem argumentativen Aufwand von Geisteskrankheit abzusetzen und in die Nähe von genialischer Begabung zu rücken versuchte. Unter anderem bezog er sich auf Christian Science und deren Wunderheilungen. Immer wieder bemühte er sich, Wissenschaft und Religion zusammenzuführen, so sei Louis Pasteur gestorben, als er in der einen Hand das Kreuz, in der anderen jene seiner Frau hielt. Auguste Comtes romantische Verehrung seiner verstorbenen Geliebten und die daraus entspringende Inspiration für Comtes Spätwerk dienten Marinescu ebenfalls als Beleg für die Vereinbarkeit beider Sphären. Suggestion und psychologische Methoden zur Heilung Kranker schienen ihm durch Beispiele aus Lourdes erhärtet. In der ausgedehnten Maglavit-Publizistik stellt Marinescus Abhandlung einen Mittelweg zwischen Bobins geschäftstüchtiger Mythenbildung und kommunistisch inspirierter Ablehnung der Transzendenz als sozialem Faktor dar. Seine Stimme hatte Gewicht, nicht zuletzt aufgrund seiner Mitgliedschaft in der Rumänischen Akademie und seines wissenschaftlichen Werks. 37 MARINESCU, Lourdes, S. 7f. 38 Ebd., S. 49f., S. 54. 39 Ebd., S. 52.

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Breitenwirkung erzielten aber weniger die Traktate von Intellektuellen, sondern vielmehr die Wunderbroschüren und die Reportagen der hauptstädtischen Medien.40 Eine undatierte Denkschrift wohl der Polizei analysierte die Bedeutung der Massenmedien recht klarsichtig: Die Angelegenheit wurde von der linken Presse des Sǎrindar aufgebracht, deren religiöse Gefühle man ansonsten nicht erahnen würde. Der ‚Adevǎrul‘, die ‚Dimineaţa‘, die ‚Lupta‘, die ‚Zorile‘ sowie ‚Tempo‘, der ‚Curentul‘ und die ‚Realitatea ilustratǎ‘ haben der Frage gewaltige Ausmaße verliehen, durch Reportagen, Fotografien, begeisterte Beschreibungen und so eine bis anhin in Rumänien in diesen Dimensionen unbekannte Propaganda entfacht […], wie mit einem Zauberstab eines unsichtbaren Orchesterleiters beschleunigt die Presse eine ungeheure Woge des volkstümlichen Mystizismus anhand des Themas Maglavit.41

Die medialen Unterstützer des Maglavit-Kults schufen eine eigene Bildsprache, die in Fotos und Broschüren verbreitet wurde. Besonders auffallend sind die Effekte von Hell-Dunkel. Lupu in Hirtentracht wird vor einer dunklen Menge hervorgehoben. Der Effekt ist aber nicht nur als Konturierung des wundertätigen Mystikers zu verstehen, sondern zumindest bei den Bildern aus dem kirchlichen Umkreis auch als Teil hesychastischer Lichttheologie. Die Sensationspresse betonte zudem den Massencharakter des Phänomens. In das unüberschaubare Meer der Pilger – abgebildet sind fast ausschließlich Männer – eingeschrieben ist ein Medaillon, in dem Petrache Lupu von Priestern eingerahmt in seiner Bauerntracht voranschreitet, als Element der Dynamik vor dem Hintergrund einer statischen Masse. Überragt aber wird er von den Geistlichen, die ihn eng begleiten (Abb. 4, Anhang). So inszenierte die rumänisch-orthodoxe Kirche das, was sie als Aufbruch verstand, als Reaktion auf die tiefe Krise Zwischenkriegsrumäniens. Maglavit gehört zu den kaum erforschten Dimensionen osteuropäischer Geschichte, die einen tiefen Einblick in die mentale Verfasstheit der Gesellschaften der Zwischenkriegszeit vermitteln. Rumänien, das größte freie orthodoxe Land, tritt einem in Maglavit in einem ganz anderen Gewand entgegen als in dem viel propagierten „Paris des Ostens“, als das die Hauptstadt Bukarest gefeiert wurde. Die Untersuchung des Phänomens Maglavit erlaubt eine Analyse Zwischenkriegsrumäniens von einer mehrfachen Peripherie, räumlich, gesellschaftlich, mental, kulturell, religiös, politisch und wirtschaftlich. Maglavit gehört dabei ebenso zur rumänischen Moderne wie die Hauptstadt Bukarest. Es steht repräsentativ für die große Mehrheit der Bevölkerung, zwischen dem Schock der Weltwirtschaftskrise und dem bolschewistischen Krieg gegen die Bauern. Maglavit ist daher auch die letzte große soziokulturelle Manifestation des ländlichen Rumänien, der Roumanie profonde, vor der kommunistischen Machtergreifung, sowohl in der Ausgestaltung durch die Eliten wie durch die agrarischen Massen.42 40 Zum Broschürenverkauf: DANIC DGP 42/1935, S. 64, 100. 41 CNSAS P 016678, S. 172. 42 So auch ein rumän. Dokumentarfilm: https://www.youtube.com/watch?v=Rdw_0OiSxNA (Zugriff 08.12.2015).

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Oliver Jens Schmitt ABBILDUNG 1: „SO HAT DER HIRTE PETRE DEN HERRN GETROFFEN“

Quelle: DANIC DGP 43/1935; Fotografie: Wolfram Nieß. Volkstümliche Darstellung der Erscheinung von Maglavit. Schon Zeitgenossen haben die Ähnlichkeit des „Alten“ mit einem Hirten in einem schweren Hirtenmantel aus Ziegenhaaren hervorgehoben, ein Bild, das aus der Lebenswelt des Schafhirten Petrache Lupu stammte.

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ABBILDUNG 2: PETRACHE LUPU UND DER DORFPRIESTER NICOLAE BOBIN

Quelle: DANIC DGP 43/1935; Fotografie: Wolfram Nieß. Die Machtverhältnisse in den Anfängen von Maglavit als nationalem Schrein kommen sinnbildlich zum Ausdruck.

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Oliver Jens Schmitt ABBILDUNG 3: „DIE TAUFE DES SOHNES VON PETRACHE LUPU“

Quelle: DANIC DGP 46/1937; Fotografie: Wolfram Nieß. Staat und Kirche bemächtigen sich des Kults.

Das „rumänische Lourdes“: Der gute Hirte von Maglavit ABBILDUNG 4: REALITATEA ILUSTRATĂ

Quelle: CNSAS P 016678, S. 195. Illustrierte Zeitschriften zeugen vom Maglavit-Kult.

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DIE DEUTSCH GEFÖRDERTE UKRAINISIERUNG DER POLNISCHEN ORTHODOXIE 1939–1941 Frank Golczewski Einer der wenig beachteten Aspekte deutscher Okkupationspolitik in Osteuropa im Zweiten Weltkrieg ist die Ambivalenz der deutschen Kirchenpolitik. Hier schiebt sich die Verfolgung der Katholiken in Polen in den Vordergrund, die ein integraler Teil der Polenverfolgung war und deren memoriale Verfestigung mit der Heiligsprechung von Maximilian Kolbe und der Seligsprechung von 108 ermordeten polnischen katholischen Geistlichen, Ordensleuten und Nonnen durch Johannes Paul II. im Jahre 1999 einen Höhepunkt erreichte. Aber schon das Verhältnis zu den unierten Kirchen, wie der griechisch-katholischen in der Westukraine, schwankte zwischen Ablehnung und Akzeptanz. Der Metropolit dieser dem römischen Papst jurisdiktionell unterstellten Kirche, Andrij Šeptyc’kyj, begrüßte die Deutschen 1941 als Befreier, ließ in Klöstern Juden retten, kritisierte Morde in einem Hirtenbrief, förderte aber auch die Aufstellung der ukrainischen SS-Division „Galizien“. Neben den islamischen Verbänden war sie die einzige „christliche“ der SS unterstellte Formation, in der Feldgeistliche wirkten. Willigstes Objekt der politischen Manipulation war jedoch die osteuropäische christliche Orthodoxie.1 Während aber die regressive Nutzung der russischen Orthodoxie durch Stalin (von der symbolträchtigen Einbindung in die Finanzierung des Krieges über die propagandistische Nutzung des Heiligen Aleksandr Nevskij bis zur Wiedererrichtung des Patriarchats im Jahre 1943 und zur „Wiedervereinigung“ mit den unierten griechisch-katholischen Ukrainern in Ostgalizien 1946) ein relativ bekannter Aspekt der sowjetischen Kriegs- und Nachkriegspolitik ist, ist das Verhältnis der Deutschen zur (post-)russischen Orthodoxie in den besetzten Gebieten nur wenig bekannt – für den aktuellen polnischen wie ukrainischen Geschichtsdiskurs stellt es ein weitgehend tabuisiertes Feld dar. Die Freigabe der orthodoxen Religionsausübung schien in der sowjetischen Ukraine ab 1941 die einzige konsequente Befreiungstat der deutschen Besetzer zu sein. Dabei waren die Deutschen darauf bedacht, keine Einheitlichkeit entstehen zu lassen, Kirchen gegeneinander auszuspielen und keine überregionalen Zusammenschlüsse zu gestatten. Dennoch riefen die im „Reichskommissariat Ukraine“ (RKU) 1

Hierüber gibt es inzwischen eine gute Monographie, deren Angaben und Wertungen jedoch ergänzt werden können: SHKAROVSKIJ, Michail, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches gegenüber den orthodoxen Kirchen in Osteuropa 1939–1945 (Forum orthodoxe Theologie, 4), Münster 2004. Davor v.a. SZILING, Jan, Kościoły chrześcijańskie w polityce niemieckich władz okupacyjnych w Generalnym Gubernatorstwie (1939–1945), Thorn 1988.

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und den rückwärtigen Heeresgebieten aktiven Kirchen – die (der russischen Orthodoxie angehörende) Autonome Ukrainische Orthodoxe Kirche (AUPC) und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UAPC) – zum Gehorsam gegenüber den Okkupanten auf, befürworteten die freiwillige Meldung zur Arbeit im Reich und wurden dafür mit der Evakuierung der meisten ihrer Hierarchen und vieler Geistlicher vor der Befreiung der Ukraine durch die Rote Armee belohnt. Die UAPC wurde 1990 in der Ukraine wieder installiert, zum Patriarchen wählte man Mstyslav (Stepan Skrypnyk), einen Neffen Symon Petljuras, der im Mai 1942 (einen Monat nach seiner Priesterweihe) im deutsch besetzten Kiev zum Bischof von Perejaslav geweiht worden war. Dies wäre ohne die hier geschilderte Vorgeschichte kanonisch problematisch gewesen. In diesem Beitrag stehen die ersten Jahre des Krieges im Vordergrund, in denen das Schicksal der Orthodoxie im deutsch besetzten Teil Polens zur Disposition stand. Während die im ehemals österreichischen Galizien lebenden Ukrainer mehrheitlich uniert (griechisch-katholisch) waren, waren sie in den im Zuge der Teilungen Polens zu Russland gekommenen ukrainisch besiedelten Gebieten, die bereits 1939 deutsch beherrscht wurden (primär die Umgebung Chełms), orthodox. Im Lemkengebiet im Süden des Generalgouvernements (GG) war außerdem ein Teil der dortigen Unierten aus Gegnerschaft zum Nationalismus der Ukrainer und mit polnischer Unterstützung in der Zwischenkriegszeit zur Orthodoxie übergetreten. Untersucht wird hier, wie Machtfragen, ethnische Ansprüche, aber auch kirchenrechtliche Überlegungen die kirchenpolitischen Aktivitäten in den ersten Kriegsjahren bestimmten. DIE LAGE IM HERBST 1939 Im und nach dem Ersten Weltkrieg war es keiner ukrainischen Kirche gelungen, die Autokephalie zu erwerben. Kirchenrechtlich standen dazu zwei Wege offen: die Freigabe durch die bisherige (russische) Mutterkirche oder die Begründung durch einen Tomos des ökumenischen Patriarchen. Ersteres zu erreichen war illusorisch, der zweite Weg, der von der Ukrainischen Volksrepublik (UNR) Ende 1918 beschritten wurde, scheiterte an der von 1918 bis 1923 andauernden Vakanz des Patriarchats in Konstantinopel – nachdem sie beendet war, gab es den ukrainischen Staat, der für seine Kirche die Autokephalie angestrebt hatte, nicht mehr. Die Orthodoxen im neuentstandenen Polen waren in ihrem Streben nach Unabhängigkeit erfolgreicher. Zwar entließ die Moskauer Kirche auch sie nicht freiwillig aus ihrer Jurisdiktion, aber mit der anderen kirchenrechtlichen Möglichkeit, der Anerkennung durch den ökumenischen Patriarchen, erreichte man sein Ziel. Beeindruckt von der kirchenfeindlichen Haltung in der jungen Sowjetunion gewährte Patriarch Gregor VII. (1850–1924) nur wenige Tage vor seinem Tod – am 13. November 1924 – den polnischen Orthodoxen die Autokephalie, so dass sein Nachfolger Konstantin VI. (1860–1930) bereits aus seinem Athener Exil und noch im Amt (von dem er drei Monate später zurücktrat) am 13. Februar 1925 die Autokephalie der

Die deutsch geförderte Ukrainisierung der polnischen Orthodoxie

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Polnischen Autokephalen Orthodoxen Kirche (PAOK) kirchenrechtlich einwandfrei verkünden konnte.2 Auch in Deutschland bildete sich in der Zwischenkriegszeit eine orthodoxe Kirchenlandschaft heraus. Hatten zuvor vor allem russische Diplomaten, Kurgäste und Studenten Interesse an orthodoxen Kirchen, führte die Emigration nach dem Sieg der Bol’ševiki viele russische Gläubige nach Deutschland, auch wenn die Masse nach dem Ende der Inflation 1923 nach Frankreich und in andere Länder weiterzog. Die meisten russisch-orthodoxen Gemeinden in Deutschland unterstellten sich 1926 der Russisch-orthodoxen Auslandskirche (Russkaja Pravoslavnaja Cerkovʼ Zagranicej – RPCZ) in Sremski Karlovci (Karlowitz) bei Novi Sad und ihrem Bistum für Berlin und Deutschland. Bischof wurde Tichon (Timofej I. Ljaščenko, 1875–1945). Ein Teil der russisch-orthodoxen Gemeinden in Deutschland verweigerte sich jedoch der Auslandskirche und blieb dem Metropoliten Evlogij (Vasilij S. Georgievskij, 1868–1946) treu, der zunächst in Berlin, dann in Paris die Moskauer Patriarchatskirche repräsentierte. Diese war liberaler als die betont rechtskonservativ auftretende Auslandskirche, was sich nicht zuletzt darin äußerte, dass der zu ihr gehörende Archimandrit Ioann (Fürst Dmitrij A. Šachovskoj, 1902–1989) 1934 eine den Rassismus ablehnende Schrift über die Juden in Berlin (sic) publiziert hatte.3 Das Reichsministerium für die kirchlichen Angelegenheiten unter Hans Kerrl (1887–1941), das auch andere Kirchen gleichschaltete, wollte die russische Orthodoxie aus dieser Zersplitterung lösen und instrumentalisieren. Dabei spielte eine Rolle, dass Deutschland Einfluss in Südosteuropa gewinnen wollte und Kerrl mit dem Argument operieren konnte, eine Förderung der Orthodoxie würde das Verhältnis zu Bulgarien, Rumänien und Jugoslawien verbessern.4 1937 gelangte das Reichskirchenministerium zu dem Schluss, dass Bischof Tichon ein Hindernis für den Zusammenschluss der orthodoxen Gemeinden in Deutschland sei, auch die Gestapo äußerte Bedenken gegen ihn.5 Da es zudem innerkirchliche Kritik an ihm gab, entband ihn der Synod am 24. Februar 1938 von der Leitung des Bistums und „schlug ihm vor, seinen Wohnsitz in Jugoslavien zu nehmen“.6 Sein Nachfolger wurde am 2. Juli 1938 der Deutsche Serafim (Karl Georg Albert Lade beziehungsweise Ladde, 1883–1950).7 Lade war wohl als ehemaliger GPU-Agent den Deutschen „ausgelieferter“ als sein Vorgänger. Auch ihm

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Vgl. PAPIERZYŃSKA-TUREK, Mirosława, Między tradycją a rzeczywistością. Państwo wobec prawosławia 1918–1939, Warschau 1989, S. 122f. ŠACHOVSKIJ, Knjaz’ Dmitrij A., Iudejstvo i cerkov’ po učeniju evangelija, Berlin 1934, S. 13– 15. Vgl. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 17. Reichsministerium für die Kirchlichen Angelegenheiten (RMKA), Vermerk, 26.10.1937, Rossijskij Gosudarstvennyj Voennyj Archiv (RGVA), F. 1470 (RMKA), Op. 1, D. 17, Bl. 162; zit. nach SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 19. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 20. Der Protestant Lade war 1904 zur Orthodoxie übergetreten und im Jahr darauf nach Russland ausgewandert, wo er die Kirchenlaufbahn einschlug. In Charkiv lehrte er an der Geistlichen

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gelang es jedoch trotz deutscher Unterstützung nicht, alle Evlogij unterstehenden Gemeinden mit seiner Karlowitzer Diözese zu vereinen. Die deutsche Eparchie expandierte mit den deutschen Eroberungen. Russischorthodoxe Gemeinden in Österreich, Böhmen und Mähren sowie den eingegliederten Gebieten Polens wurden dem Bistum Serafims zugeschlagen. Dabei gab es Probleme mit den Ukrainern russisch-orthodoxer Konfession. 1938 hatte die Synode in Serafims Diözese beschlossen, ein obligatorisches Gedenken an die ermordete russische Romanov-Zarenfamilie einzuführen, wogegen sich die Ukrainer – darunter auch der in Berlin wohnende Het’man Pavlo Skoropads’kyj – aussprachen. Spätestens damit war die Kirche also 1939 auf das ukrainische Problem gestoßen.8 Auf das ukrainische Problem in Polen waren die Deutschen offensichtlich jedoch auch nach den ersten Schwierigkeiten in Berlin nicht vorbereitet. Ihr Plan bestand zunächst einfach darin, die orthodoxen Gemeinden aller unter deutsche Herrschaft gekommenen Gebiete dem gefügigen Berliner Bischof Serafim zu unterstellen. Der Metropolit der PAOK, Dionisij (Konstantin N. Valedinskij, 1879–1960), der die Autokephalie durchgesetzt hatte und ein generell positives Verhältnis zum polnischen Staat pflegte, schien dem zunächst nicht im Wege zu stehen. Da er selber ein Verfechter der russischen Aussprache des Kirchenslawischen war, erfreute er sich bei vielen Nationalukrainern alles andere als großer Beliebtheit, auch wenn er seinerzeit das Zugeständnis gemacht hatte, dass in den Gemeinden, wo die Mehrheit dies wünschte, auch die ukrainische Aussprache praktiziert werden konnte.9 Gegen seine zusätzliche Funktion als Bischof von Wolhynien protestierten Geistliche und ukrainisch-nationale Organisationen, die ein Kirchenkomitee bildeten und seinen Rücktritt forderten.10 Daraufhin hatte Dionisij 1934 auf den wolhynischen Bischofssitz verzichtet, den Oleksij/Aleksij (Oleksandr Hromads’kyj/Aleksandr Gromadskij, 1882–1943) einnahm. Letzterer führte im polnischen Wolhynien für den Schriftverkehr und die Predigten die ukrainische Sprache ein und wurde von den Polen als angeblicher OUN-Sympathisant observiert. Im Unterschied zu seinem Vikar, dem Bischof von Luc’k, Polikarp (Petro Sikors’kyj, 1875–1953), traf dies aber wahrscheinlich nicht zu. Da der östliche Teil Vorkriegspolens, wo die meisten Orthodoxen lebten und die Bischofssitze der PAOK lagen, mit den beiden letztgenannten Bischöfen 1939 an die UdSSR fiel, die sogleich diese Kirchen wieder der russischen Orthodoxie zuführte, hatten es die Deutschen in ihrem Teil Rest-Polens, dem Generalgouver-

Akademie und arbeitete als Deutschlehrer. Dann schloss er sich der prosowjetischen „Lebendigen Kirche“ an, wurde deren Bischof von Zmiïv (1924), dann von Achtyrka (1927). Als 1929 die Sowjets die „Lebendige Kirche“ nicht mehr benötigten, gestatteten sie dem Deutschen Lade die Ausreise nach Deutschland, nicht ohne ihn dabei als GPU-Agenten zu verpflichten. Vor dem Karlowitzer Synod bereute Lade seine Tätigkeit für die „Lebendige Kirche“, ausgerechnet angeleitet durch Bischof Tichon, danach wurde er rehabilitiert und amtierte als Bischof von Tegel (1930) und Wien (1932). 8 Vgl. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 26f. 9 Vgl. PAPIERZYŃSKA-TUREK, Między tradycją a rzeczywistością, S. 208. 10 Vgl. ebd., S. 213–219.

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nement, nur mit zwei PAOK-Bischöfen zu tun. Neben Dionisij war dies der Vikarbischof Timofej (Jerzy Szretter/Georg Schröter, 1901–1962). Timofej war erst 1938 zum Bischof von Lublin und Vikarbischof der Warschauer Diözese geweiht worden. Er war ein eifriger Verfechter der Polonisierung der PAOK und hatte darüber hinaus eine hohe Funktion als Militärgeistlicher inne. Auch Dionisij wurde der Polenfreundlichkeit geziehen, weil er am 1. September 1939 ein Sendschreiben in Umlauf gesetzt hatte, in dem er dazu aufrief, nach dem Vorbild des Het’mans Kostjantyn Ostrozʼkij und Adam Kisiels für die Rzeczpospolita einzutreten: „Die orthodoxen Bürger der Rzeczpospolita werden mit Eifer ihre heilige und ehrenvolle Pflicht erfüllen und werden sich alle in die vordersten Reihen unserer tapferen Armee melden“, hieß es darin.11 Das Verhältnis zum Polentum war offenbar für die Deutschen zunächst das primäre Kriterium für ihre Behandlung der orthodoxen Hierarchen. Da Dionisij (gemäßigt) und Timofej (stark) als polenfreundlich galten, schien es begründet, beide aus der Kirchenführung zu entfernen und die PAOK dem Berliner Serafim zu unterstellen. Im November 1939 wurde Timofej in das St.-Onuphrius-Kloster in Jabłeczna verbannt, in dem er auch zuvor gelebt hatte.12 Dionisij wurde am 27. November 1939 in Otwock, einem Heilbad in der Nähe Warschaus, unter Hausarrest gestellt. Serafim war am 10. November 1939 nach Warschau gekommen, um das dortige Bistum samt seiner Kirche zu übernehmen. Dionisij gab aber nicht auf. Er machte Serafim den Gegenvorschlag, das Berliner Bistum seiner autokephalen Kirche anzuschließen.13 Erst nachdem das Geistliche Konsistorium in Warschau sich für die deutsche Version ausgesprochen hatte, bot Dionisij in einem offiziellen (nicht ganz freiwilligen) Schreiben vom 23. November 1939 die Übernahme der PAOK durch Serafim an. Er argumentierte damit, dass mit dem „Aufhören des Bestehens des unabhängigen polnischen Staates“ auch die PAOK ihre Autokephalie verlieren müsse. In dem Schreiben bat er Serafim (der bereits in Warschau war), nach Warschau zu kommen und die „ehemalige“ PAOK zu übernehmen. Er selber verzichtete im selben Schreiben auf die weitere Führung der Kirche.14

11 Abgedruckt in: SVITIČ, A. K., Pravoslavnaja Cerkov’ v Pol’še i ee avtokefalija, Buenos Aires 1959, Kap. 15; auch http://krotov.info/history/20/1930/svitich2.html (Zugriff 22.01.2014). 12 Die Funktion dieses Klosters in den folgenden Monaten wird unten behandelt. 13 SVITIČ, Cerkovʼ, Kap. 15. 14 „Prekraščenie suščestvovanija nezavisimago Pol’skago Gosudarstva, s suščestvovaniem kotorago bylo svjazano suščestvovanie nezavisimoj Avtokefal’noj Pravoslavnoj Cerkvi v Pol’še, lišaet ėtu Cerkovʼ vozmožnosti dal’nejšago avtokefal’nago suščestvovanija.“; zit. aus Dionisij an Serafim, 23.11.1939 (Abschrift), Bundesarchiv Berlin [im Folgenden: BAB], NS 43, Bd. 32, Bl. 83. Vgl. auch Geschichte der autokephalen orthodoxen Kirche in Polen, 1940, Archiwum Akt Nowych w Warszawie [im Folgenden: AAN], Regierung des GG [im Folgenden: RGG], Bd. 427, Bl. 131.

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DEUTSCH ODER UKRAINISCH? Serafim übernahm damit die Leitung der PAOK. Dies geschah mit deutscher Unterstützung, weil die deutschen Behörden nun die Chance einer neuerlichen Erweiterung der deutschen orthodoxen Kirchenstruktur sahen. Dann kamen jedoch Zweifel auf. Zwar war Serafim Bischof von Berlin, aber er unterstand der in Jugoslawien beheimateten und sich de jure (wenngleich nicht de facto) Moskau zugehörig fühlenden Russisch-orthodoxen Auslandskirche. Die polnische Orthodoxie besaß dagegen ein in den Augen einiger Deutscher interessantes Kapital – die Autokephalie, welche keine andere kirchliche Organisation berechtigte, sich in ihre Angelegenheiten zu drängen. Zunächst dachte man folglich in Berlin daran, aus dieser polnischen Autokephalie eine deutsche zu machen. Dabei waren sich die deutschen Kirchenpolitiker darüber im Klaren, dass sie auf normalem Wege eine deutsche Autokephalie nicht erreichen würden, die kirchenrechtlichen Barrieren schienen zu hoch und die politischen Einflüsse feindlicher Mächte zu stark. Wenn es den Deutschen allerdings gelänge, die PAOK unter den eigenen Einfluss zu bringen, konnte angesichts der „Rechtsnachfolge“, die die Deutschen dann antreten würden, die Autokephalie erhalten und auf Deutschland übertragen werden. In diesem Sinne verfasste Georg Leibbrandt (1899–1982), der aus der Umgebung Odessas stammende, für Ostfragen zuständige Hauptstellenleiter im Außenpolitischen Amt der NSDAP eine Denkschrift. Dabei gingen die Überlegungen in zwei Richtungen: Das Streben nach einer deutschen Autokephalie entsprach der politischen Nationalisierung der Kirchen (wie dies auch bei den „Deutschen Christen“ versucht wurde). Daneben war aber schon 1939 der Gedanke an eine ukrainische Autokephalie im deutschen Diskurs erkennbar. Leibbrandt selber hatte sich bereits länger als vorsichtiger Unterstützer ukrainischer Bestrebungen gezeigt, wobei er den orthodoxen Het’man Skoropads’kyj den unierten OUN-Nationalisten vorzog. Nun schrieb er: Wenn die ukrainische Kirche im ukrainischen Staat autokephil [sic] sein wollte, müsste sie auch eine ähnliche Genehmigung von der Mutterkirche (russischer oder polnischer) erlangen. Aus diesem Grunde ist es wichtig, dass die jetzt autokephile [sic] polnische Kirche ihre Selbständigkeit bis auf weiteres behält.15

Noch wusste er nicht genau, was man mit dieser Autokephalie letztlich anfangen sollte. Aber dass man damit etwas für die Ukrainer tun könnte, war bereits erkennbar. Am 5. November 1939 war in Chełm (Cholm) im Distrikt Lublin des GG ein orthodoxer Kirchenrat zusammengetreten, der die Rückgabe der dortigen katholisierten Bischofskirche verlangte.16 Die Mariä-Geburt-Basilika war im 17. Jahrhundert uniert gewesen. Nach der Beseitigung der Brester Union durch die Russen 1875 war sie russisch-orthodox geworden und 1919 römisch-katholisch (was sie 15 Georg Leibbrandt, Ukrainische Kirche in Polen, 04.12.1939, BAB, NS 43, Bd. 32, Bll. 107– 109, hier Bl. 107. 16 MICIK, Ju. A./BAŽAN, O. G./VLASOV, V. S., Istorija Ukrainy. Navčal’nyj posibnik, Kiev 2008; URL: http://www.ebk.net.ua/Book/history/mitsyk_iu/part20/2001.htm (Zugriff 13.01.2014).

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auch heute wieder ist). Im Gegensatz zu der Förderung der römischen Katholiken durch Polen sei es zweckmässig [sic], jetzt ein orthodoxes Bistum in Cholm einzurichten, einen ukrainischen Bischof in Cholm zu ernennen und die von den Polen genommenen orthodoxen Kirchen wieder an die ukrainischen Orthodoxen im Cholmer Land zurückzugeben,

schrieb Leibbrandt. Die schon angelaufene Unterstellung der orthodoxen Ukrainer im GG unter Serafim und die Russisch-orthodoxe Auslandskirche „würde[…] von den Ukrainern als ein Versuch, sie den russischen Emigranten zu unterstellen, betrachtet werden und größte Beunruhigung hervorrufen“.17 In Konsequenz dessen begab sich Leibbrandt nach Warschau, nahm in der dortigen Distriktführung mit dem Amtschef Heinrich Barth (1900–?), dem Leiter der Abteilung Innere Verwaltung Gauweiler sowie dem SD-Beauftragten Erlinger Kontakt auf und überzeugte diese davon, „daß Seraphim für die Ukrainer unmöglich als Erzbischof eingesetzt werden darf“. Er schlug vor, „einen ukrainischen Erzbischof neben Seraphim“ zu ernennen, „wonach Erzbischof Seraphim als primus interpares [sic] zu gelten hätte“.18 Zunächst geschah jedoch nichts. Dionisij ernannte noch den Pfarrer Ioann Levčuk (Jan Lewczuk) zum Protopresbyter (Erzpriester) mit dem Recht der Segnung mit Dikyrie- und Trikyrie-Kerzen. Levčuk stand an der Spitze des ukrainophilen „Kirchenrats“ in Chełm, den der unierte Jurist Stepan Baran (1879–1953), vor 1939 UNDO-Abgeordneter, beriet, und trat dafür ein, in keinem Falle in die Unterstellung unter die Russisch-orthodoxe Auslandskirche zu geraten. Baran hatte im Sejm gegen die Zerstörung von orthodoxen Kirchen protestiert und sah immer noch in den Deutschen, wie auch Levčuk, die Garanten eines positiven politischen Wandels. In den Krakivs’ki Visti (KV), der Zeitung des Ukrainischen Hauptausschusses in Krakau (UHA), vertrat er den Standpunkt, die Autokephalie der PAOK könne von keiner weltlichen Macht aufgehoben werden und daher bestehe sie unverändert weiter, auch wenn es den polnischen Staat nicht mehr gebe. Ein Zusammengehen mit den deutschen Orthodoxen schloss auch er nicht aus, schrieb allerdings: „Für eine neue Leitung und Organisation, die die gesamte Orthodoxe Kirche auf den Gebieten ausschließlicher deutscher Interessen und Einflüsse umfassen würde, kommt noch die entsprechende Zeit“.19 Dieses Verschieben auf später könnte jedoch auch so interpretiert werden, dass der Politiker Baran schon mit einer Einverleibung der 1940 noch sowjetischen Ukraine-Teile rechnete und dann die polnische Autokephalie als Basis der ukrainischen bewahren wollte, was schließlich auch so eintrat.

17 Leibbrandt, Ukrainische Kirche in Polen, 04.12.1939, Bll. 107f. 18 Georg Leibbrandt, Besprechung mit SS-Obersturmbannführer Erlinger, SD, Warschau, 07.12.1939, BAB, NS 43, Bd. 32, Bl. 4; vgl. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 34. 19 BARAN, Stepan, Avtokefalija Pravoslavnoї Cerkvy u b. Pol’šči, in: Krakivs’ki Visti [im Folgenden: KV] 31/24.05.1940, S. 4.

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Wenige Tage später gelangte das Auswärtige Amt (AA) zu der Erkenntnis, die es dem Kirchenministerium übermittelte, die „ukrainischen Gläubigen [stellten] ein wertvolles Gegengewicht gegen die Polen dar“.20 Also hielt man in Warschau die Angelegenheit zunächst in der Schwebe. Serafim übernahm offiziell die Eparchie von Warschau und Chełm, änderte aber nichts am Rechtsstatus. Die Kirche blieb autokephal, Serafim amtierte als externer Administrator einer autokephalen Diözese, und in den Fürbitten wurde weiterhin Dionisij als Oberhaupt der PAOK genannt. Serafim nahm jedoch einige konservative Veränderungen vor – so verbot er den Geistlichen das Rasieren, welches in der PAOK gestattet worden war. Vor allem erreichte er aber bei den Deutschen die Rückgabe von 75 orthodoxen Kirchen, welche die Polen in den letzten Vorkriegsjahren im Zuge der sogenannten Revindikation katholisiert hatten. In Warschau und in Chełm wurden Bruderschaften gegründet, das Geistliche Konsistorium des Bistums wurde aufgelöst und durch einen dem Bischof direkt unterstellten und als Exekutive fungierenden Eparchialrat ersetzt.21 In Berlin meldete sich Ende Dezember 1939 Het’man Pavlo Skoropads’kyj zu Wort, der die politische Weitsicht der Deutschen einforderte. Auch er wandte sich gegen die bloße Unterstellung der PAOK unter Serafim, weil dessen Russisch-orthodoxe Auslandskirche nur politisch, nicht aber kirchenrechtlich von der Moskauer Orthodoxie getrennt sei. Da es nur um das Verhältnis zu den Bol’ševiki gehe, würde sich diese Kirche, träten „in der UdSSR bestimmte Änderungen ein“, wieder dem Moskauer Patriarchat unterstellen. Nachdem er die Auslandskirche als „Entente-freundlich“, „russisch-monarchistisch“ und „reaktionär“ bezeichnet hatte, riet Skoropads’kyj davon ab, ihren Einfluss zu erweitern. Stattdessen sollte „eine eigene, in autonomer Verwaltung stehende kirchliche Organisation mit eigenen Bischöfen und eigener Geistlichkeit gebildet“ werden. Dafür „müßte man nur die Jurisdikation [sic] der autocephalen Kirche im ehemaligen Polen auf Deutschland und das Protektorat ausdehnen. Darauf müßte der Metropolit Dionisij den Wunsch erklären, sich zur Ruhe zu setzen“. Seinen Sitz sollte dann gemäß den kanonischen Regeln ein Nachfolger übernehmen, hierfür schlug Skoropads’kyj Serafim vor, der sich aber dafür von der Auslandskirche lösen müsste. Diese umstrukturierte Kirche sollte anschließend weitgehend ukrainisiert werden, wobei den Russen – unter Trennung von der Russisch-orthodoxen Auslandskirche – im Rahmen dieser deutschen Autokephalie ein angemessener Spielraum zugestanden werden sollte.22

20 Zit. nach SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 33. Shkarovskij gibt als Datum den 18.12.1939 an, während in einem Schreiben des Amts des Generalgouverneurs an den Vertreter des AA im GG, 05.01.1940, BAB, NS 43, Bd. 32, Bl. 78, von einem „Votum vom 8. Dezember“ die Rede ist. In einem der Fälle kann es sich um einen Übertragungsfehler handeln, der jedoch nicht relevant ist, da das Datum in jedem Falle nach dem Eingang der Leibbrandt-Denkschrift liegt. 21 SVITIČ, Cerkov’, Kap. 15. 22 [Skoropads’kyj, Pavlo], Denkschrift über den Stand der griechisch-orthodoxen Kirche in GroßDeutschland und die notwendigen Änderungen in ihrer Organisation, 20.12.1939, BAB, NS 43, Bd. 32, Bll. 97–102.

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Skoropads’kyjs Vorschläge schienen zunächst auf fruchtbaren Boden gefallen zu sein, wobei man sich schließlich aber darauf verständigte, Serafim ganz aus dem Spiel zu nehmen. Aber wie sollte man weiter verfahren? Gegen Dionisij positionierte sich im Januar 1940 das Russische Nationale Komitee in Warschau.23 Sergej Vojcechovskij schrieb an das Außenpolitische Amt der NSDAP, sein Komitee habe von den ersten Tagen der deutschen Herrschaft an gefordert, Dionisij müsse „von der Leitung der Kirche beseitigt“ und die PAOK mit der „orthodoxen Kirche im Deutschen Reich“ unter Serafim vereinigt werden.24 Vojcechovskij kritisierte, dass die „formale Aufhebung der Selbständigkeit“ der PAOK noch nicht erfolgt sei, durch welche „eines der wesentlichen Souveränitätsrechte der ehemaligen polnischen Republik gestrichen“ würde. Daran hatten die Russen ein Interesse, nicht aber die Ukrainer, die Vojcechovskij ganz richtig als Gegner ihrer Ukrainisierungspläne ausmachten. Deren Widerstand nannte Vojcechovskij „irrtümlich und schädlich“.25 Inzwischen waren aber auch die Deutschen im GG zu dem Schluss gelangt, dass genau diese von den Russen gewünschte Aufhebung der Autokephalie nicht erstrebenswert wäre. Und die Russen belegten mit ihrem Brief, dass sie die Unterstellung unter die Auslandskirche beabsichtigten. Wenn aber die Autokephalie, deren wichtigster Träger Dionisij war, plötzlich einen Wert hatte – dann brauchte man auch wieder Dionisij. Serafim versuchte inzwischen, sich als „pro-ukrainisch“ zu profilieren. Er bot an, „die russischen Beamten des orthodoxen Konsistoriums in Warschau zu entlassen“ und verwies darauf, dass er erste Schritte der Ukrainisierung eingeleitet habe.26 Helfen sollte ihm das allerdings nicht mehr. Am 19. Januar 1940 fand auf Einladung von Dr. Wilhelm Heuber (1898–1957), dem Bevollmächtigten des Generalgouverneurs Hans Frank (1900–1946) in Berlin, eine Konferenz statt, an der neben Werner Haugg für das Kirchenministerium auch Vertreter anderer Reichs- und Parteistellen teilnahmen. Alle waren sich darin einig, dass die „derzeitige Regelung der Kirchenfrage“ nicht wünschenswert sei. Die erkannte Bedeutung der polnischen Autokephalie äußerte sich in dem Protokollsatz: Die Autokephalie der orthodoxen Kirche in Polen ist ein Faktor der deutschen Politik, der nicht durch eine einseitige Kundgebung des Metropoliten Dionysios bezw. des Erzbischofs Seraphim preisgegeben werden sollte.

23 Dieses Russische Nationale Komitee (Russkij Nacional’nyj Komitet) hatte sich nach dem deutschen Einmarsch aus dem Russischen Gesellschaftlichen Komitee (Rossijskij Obščestvennyj Komitet) gebildet und am 1. Oktober 1939 dem Warschauer Stadtkommandanten gegenüber seine prodeutsche Loyalität erklärt. Nach dem Ausschluss der „demokratischen“ Organisationen wählte das Komitee Nikolaj G. Bulanov (1874–1942) und Sergej Lʼvovič Vojcechovskij (1900–1984) zu „Vertretern der nationalrussischen Volksgruppe im Generalgouvernement“; vgl. Wojciechowski an Leibbrandt, 14.01.1940, BAB, NS 43, Bd. 32, Bll. 176–180. 24 Ebd. 25 Ebd. 26 Amt des Generalgouverneurs, Abt. für die kirchlichen Angelegenheiten, an Vertreter des AA im GG, 13.01.1940, BAB, NS 43, Bd. 32, Bl. 78; vgl. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 34f.

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Offenbar legte Franks Vertreter aus nachvollziehbarem Grund großen Wert darauf, das GG vom Reich abzugrenzen und daher keine gemeinsamen Strukturen aufkommen zu lassen. Die Legalität der Berliner Diözese kam den Politikern nun plötzlich fragwürdig vor: Sie fanden, man sollte eine „anerkannte[...] autokephale[...] Kirche“ nicht einer Diözese zuordnen, „deren Legalität bestritten ist“. Daneben wurde bei dieser Sitzung die Ukrainer-Problematik diskutiert: „Politische Bedenken bestehen gegen jede Unterordnung der ansässigen orthodoxen ukrainischen Bevölkerung im Generalgouvernement unter russische Geistliche“, hieß es im Protokollvermerk. Diese Haltung wurde auch begründet: Es gilt, in der bodenständigen ukrainischen Bevölkerung des Generalgouvernements [...] ein Interesse an einer loyalen Zusammenarbeit mit der deutschen Macht zu wecken und ihre Zuneigung zum Deutschen Reich wachzuhalten. [...] Im deutschen Interesse liegt [...] eine Trennung der Sphären der russischen und ukrainischen Orthodoxen. Der Idealzustand wäre, wenn in Polen eine autokephale ukrainische Kirche entstehen könnte.

Man schätzte die Lage als kompliziert ein und nahm sich vor, souverän zu handeln und sich weder von Skoropads’kyj oder den „in Krakau versammelten ukrainischen Politiker[n]“ noch von „Intrigen des russischen Emigrantentums“ beeinflussen zu lassen.27 Tatsächlich haben aber die deutschen Stellen daraufhin die in Krakau erwünschten Anstrengungen zur Ukrainisierung der PAOK eingeleitet. Am 7. Februar 1940 verfasste Frank zwar noch eine Verfügung, welche die orthodoxe Kirche im GG Serafim unterstellte. Diese Verfügung soll jedoch den Passus enthalten haben, der Karlowitzer Metropolit habe sich nicht in die Angelegenheiten der GG-Kirche einzumischen und Serafim solle niemals auf eine etwa erfolgte Abschaffung der Autokephalie hinweisen. Frank soll Serafim sogar aufgefordert haben, seinen Sitz nach Chełm zu verlegen, was jener aber kategorisch ablehnte.28 Zuvor hatten sich die Ukrainer darüber beschwert, dass der Archimandrit Feofan Protasevič (gest. 1944), „weit bekannt wegen seines anti-ukrainischen Zynismus“, Sekretär Serafims geworden sei.29 Um den 18. Februar 1940 wurde dann Dionisij in Otwock aus dem Hausarrest entlassen. Nun fühlte er seine Chancen bei den Deutschen wieder steigen und forderte von Serafim die Rückgabe der Kirchenleitung.30 Serafim ging dilatorisch darauf ein. Danach meldete sich Peter Kleist (1904–1971) vom „Hauptreferat Ost“ der Dienststelle Ribbentrop31 beim Kirchenministerium und betonte, dass die Autokephalie im GG unbedingt zu erhalten sei, da sie „ein Rechtsinstrument [sei], das 27 Schliep (AA) an Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten, 31.01.1940, BAB, NS 43, Bd. 32, Bll. 94f. 28 Informacija z Varšavy, 11.02.1940, BAB, NS 43, Bd. 32, Bl. 84. Die Anweisung Franks liegt nur als Zitat in dem hier genannten Schreiben vor. 29 Abschrift eines Briefs aus Warschau vom 08.02.1940, BAB, NS 43, Bd. 32, Bl. 91. Protasevič hatte das orthodoxe Internat und das orthodoxe Theologische Lyzeum in Warschau organisiert und geleitet und war im Frühjahr 1939 von den Polen abgesetzt worden; vgl. SVITIČ, Cerkov’, Kap. 14. 30 SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 40. 31 Shkarovskij (ebd., S. 35f.) hat Kleist nicht identifiziert, sondern nennt ihn aufgrund seiner Entzifferung der Unterschrift „Kleut“, auch hält er den Brief für eine Äußerung des AA, weil schon

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dem Reich bei der weiteren außenpolitischen Entwicklung in Osteuropa unter Umständen ein nützliches Werkzeug sein“ könne: Die Ukrainisierung der autokephalen orthodoxen Kirche des Generalgouvernements ist neben einer aus verständlichen Gründen begrenzten Kulturautonomie das einzige Mittel, durch das dem Ukrainertum in Polen ein gewisser Raum für die Entwicklung seiner völkischen Belange geschaffen werden kann und durch das es damit an der deutschen Herrschaft interessiert und ihr gegenüber positiv eingestellt wird.

Sollte die Ernennung Serafims nicht rückgängig gemacht werden können, müsste man ihm wenigstens einen ukrainischen „Administrator zur Seite“ stellen, „der das uneingeschränkte Vertrauen des ukrainischen Kirchenvolkes besitzt“.32 Dass sich hier eine Parteistelle und nicht das AA (von Ribbentrop war schließlich auch Außenminister) zu Wort meldete, zeigte den besonderen Charakter der Bemühungen. Dionisij war kein Ukrainer und konnte daher dieser „Administrator“ nicht sein. Von einem nicht genannten Informanten erhielten die deutschen Dienststellen, bei denen dieses Schreiben nun kursierte, Informationen über die Haltung der Ukrainer. Der anonyme Informant stellte Dionisij ein unerwartet positives Zeugnis aus – er sei auf die Ukrainer eingegangen, und man könne daher seine propolnischen und prorussischen Fehlhandlungen korrigieren. Gleichzeitig wurden zwei Kandidaten für die Posten eines ukrainischen Bischofs genannt: der Archimandrit Palladij und Prof. Ivan Ohijenko, wobei der Verfasser Palladij für geeigneter hielt.33 Petro Vidybida-Rudenko (Palladij, 1891–1971) war 1911 wegen seiner Ukrainophilie aus dem Priesterseminar in Tomsk relegiert worden. Er arbeitete anschließend als Genossenschaftsfunktionär und schloss dabei auch seine geistlichen und mathematischen Studien ab. Nach 1917 war er Rada-Abgeordneter, Delegierter zur aufgelösten Russländischen Konstituante und 1919 stellvertretender Finanzminister der UNR. Von 1921 an wirkte er als Geistlicher, zunächst als Pfarrer in Wolhynien, dann in Zentralpolen, dort bald in der Leitung der späteren PAOK, deren Pensionskasse er seit März 1940 verwaltete. 1935 wurde er in Počaїv Mönch und nahm den Namen Palladij an. Im Dezember 1937 wurde ihm als Protoierej die Mitra verliehen, eine Ehrung für verdiente Geistliche, die aber noch nicht den Bischofsrang bedeutete.34 Ivan Ohijenko (1882–1972) war zunächst Feldscher, dann studierte er in Kiev Philologie und ukrainisierte 1917–1918 das ukrainische Hochschulwesen. 1918 wurde er für kurze Zeit Rektor der Universität Kam’janec’-Podil’s’kyj, 1919 war er Bildungsminister, 1919–1920 dann Minister für Glaubensbekenntnisse der UNR. Er lehrte am Lehrerseminar in Lemberg, ab 1924 als Professor für Kirchenslawisch an der Warschauer Universität. 1932 wurde er wegen seiner Bestrebungen, die die Kenntnis der Fortexistenz der Dienststelle Ribbentrop bis 1940 vielfach unbekannt ist. Vgl. LONGERICH, Peter, Hitlers Stellvertreter. Führung der Partei und Kontrolle des Staatsapparates durch den Stab Heß und die Partei-Kanzlei Bormann, München/London/New York/Paris 1992, S. 28. 32 Peter Kleist, Dienststelle Ribbentrop, Hauptreferat Ost, an Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten, 21.02.1940, BAB, NS. 43, Bd. 32, Bll. 81f. 33 Informacija z Varšavy, 11.02.1940, BAB, NS 43, Bd. 32, Bl. 84. 34 Archimandrit Palladius, Lebenslauf, 12.07.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bl. 347.

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PAOK zu ukrainisieren, entlassen und von da an redigierte er die ukrainischen Zeitschriften Ridna Mova („Muttersprache“) und Naša Kul’tura („Unsere Kultur“). Zwar war er in die Kirchenpolitik involviert, bis 1940 empfing er jedoch keine kirchlichen beziehungsweise monastischen Weihen. Da er 1937 zum Witwer geworden war, kam er aber für höhere Kirchenämter in der orthodoxen Kirche in Frage. Da nach den Kanones der orthodoxen Kirche Bischöfe aus dem klösterlichen Klerus zu kommen hatten, musste Ohijenko nun aber schnellstens auch in dieser Hinsicht qualifiziert werden. Serafim verhielt sich abwartend. Er habe seine Gemeinde ermahnt, nicht schlecht über Dionisij zu sprechen, jener sei weiterhin ihr „Erzhirte“ – mit diesem Begriff wird im polnischen Katholizismus der Bischof beschrieben. Von Serafim soll die Anweisung gestammt haben, Dionisij weiterhin in die liturgischen Fürbitten aufzunehmen. Dies war sinnvoll, wenn man seine Weihe weiterhin nutzen wollte. In den Erinnerungen des Warschauer Priesters Lenčevskij steht auch, Serafim sei Deutscher gewesen – und deswegen habe niemand gewagt, ihm zu widersprechen – aber er muss zudem den Eindruck erweckt haben, aus Wolhynien und nicht aus Dresden zu stammen, wohl um sich etwas Autorität unter den slawischen Gläubigen zu sichern.35 DER ERHALT DER PAOK Tatsächlich war die Situation viel komplizierter. Für die ukrainischen Nationalisten ging es um eine ukrainische Nationalkirche im Rahmen der Orthodoxie. National orientierte Ukrainer und dabei auch die eigentlich der nicht-unierten Orthodoxie eher skeptisch gegenüberstehenden Galizier um den UHA in Krakau begannen, sich über die Amtsführung Serafims zu beschweren. Volodymyr Kubijovyč (1900– 1985), der Vorsitzende des UHA, brachte von seiner Inspektionsreise in den Distrikt Lublin, die auch Chełm berührt hatte, sehr konkrete Vorschläge für das „Ord[n]en der ukrainisch-orthodoxen Kirche im Generalgouvernement“ mit: Die Autokephalie solle „als Fortsetzung des bisherigen Rechtszustandes“ beibehalten werden. Drei Bistümer (Chełm, Lemkenland, Warschau) sollten die Kirche bilden. Der Metropolit, der in Chełm residieren sollte, und der Lemken-Bischof sollten „nationalbewusste[…] Ukrainer“ sein – Kandidaten seien Ohijenko und Palladij. Für Warschau schlug Kubijovyč den weißrussischen Archimandriten Afanasij (Anton Martos, 1904–1983) vor, der in einem kleinen Restkloster in Turkowice im Kreis Hrubieszów lebte. Dionisij sollte

35 MATREŃCZYK, Alla, Pod opieką świętego Mikołaja, in: Przegląd Prawosławny 164/2 (1999), S. 9–13, hier S. 10.

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so rasch wie möglich nach Ordination der Bischöfe zurücktreten, weil er a) als Russe die ukrainischen Verhältnisse nicht versteht und unter dem Einflusse der Russen steht, dem zufolge ist er für die orthodoxen Ukrainer als Ordinarius nicht annehmbar, b) zu wenig energisch ist.36

Recht unappetitlich war nun auch das Verhalten Ohijenkos, der plump gegen Serafim intrigierte. Am 29. März 1940 schrieb er (sich selber in der dritten Person anführend) an Leibbrandt: O. teilt mit, dass der Bischof Seraphim zusammen mit dem ukrainischen Komitee in Warschau beabsichtigen, einen Russen vom Ausland als Bischof für die ukrainisch-orthodoxe Kirche in Cholm einzusetzen, obwohl alle ukrainischen Gruppen sich auf einen ukrainischen Kandidaten geeinigt hatten. Es ging so weit, dass Prof. Ohijenko von Ukrainern in Warschau verhindert wurde, einen angesetzten Vortrag zu halten.37

Dann kritisierte Ohijenko, dass die Russische Vertrauensstelle in Berlin und Serafim ihn angeblich beim AA angeschwärzt hätten, „er sei kein Theologe, nicht fromm genug etc.“ Den Russen ginge es vor allem um den Kirchenbesitz (der auch ein zentrales Anliegen der Ukrainer war). Der Intrigant hielt es „für dringend erforderlich, dass die neue Intrige unterbunden wird“, und verlangte, dass „endlich ein Ukrainer für die ukrainische Kirche eingesetzt wird“.38 Wohlgemerkt, eine ukrainische Kirche gab es noch gar nicht. Aber die Maßnahmen der Ukrainer waren zusammen mit den Überlegungen der Deutschen so erfolgreich, dass in den kommenden Monaten eine entstand. Am 29. April 1940 hatte Serafim, den bis dahin offenbar niemand über die deutschen Pläne informiert hatte, genug. Er missbilligte die „zwangsweise und hastige Ukrainisierung des Gottesdienstes im Cholmgebiet“ und schrieb sie dem „Einfluss verschiedener ukrainischer Ausschüsse, in denen die Katholiken39 die Hauptrolle spielen“, zu. Der „Kirchenrat“ in Chełm treffe Personalentscheidungen, ohne ihn zu fragen. „Alle diese und andere Umstände haben mich zur Überzeugung gebracht, dass ich nicht das notwendige Vertrauen seitens der Verwaltung des Generalgouverneurs genieße“.40 So wollten die Deutschen das aber nicht laufen lassen. Sie luden zu einer Sitzung mit Hans Wilden (1906–1967), dem Leiter der Gruppe kirchliche Angelegenheiten der Abteilung Innere Verwaltung der Regierung des GG, ein, um das Verhältnis zu regeln. Als Serafim verlangte, die in dem ihm vorgelegten Entwurf eines

36 KUBIJOVYČ, Volodymyr, Bericht über meinen dienstlichen Aufenthalt im Distrikt Lublin und in Warschau, 15.03.1940, in: Die Korrespondenz des Ukrainischen Hauptausschußes in Krakau-Lemberg mit den deutschen Behörden in den Jahren 1939–1944, hrsg. von Vasylʼ VERYHA, Edmonton/Toronto 2000, S. 77–87, hier S. 82f. 37 Hier spiegelt sich die Rivalität zwischen den Warschauer Ukrainern, von denen einige der UNR nahestanden, und den OUN-Anhängern wider. 38 Abschrift des Briefes von Ohijenko an Außenpolitisches Amt (ApA) vom 29.03.1940, 01.04.1940, BAB, NS 43, Bd. 32, Bll. 210f.; vgl. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 38. 39 Gemeint waren die unierten Ukrainer. 40 Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii [im Folgenden: GARF], F. 6343, Op. 1, D. 226, Bll. 396f.; zit. nach SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 40.

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„Statuts über die vorläufige Kirchenverwaltung im Distrikt Lublin“ enthaltene Bestimmung abzuändern, wonach der Gottesdienst in Kirchenslawisch mit ukrainischer Aussprache stattzufinden habe, verweigerte Wilden dies mit der Begründung, das Statut würde in einem solchen Falle von den Ukrainern nicht anerkannt. Allerdings sollten die Pfarreien einen Brief erhalten, der zusätzlich die russische Aussprache gestattete. Wilden soll auch versprochen haben, die „schädliche Einmischung“ der ukrainischen Ausschüsse in die kirchlichen Angelegenheiten zu beseitigen. Daraufhin erklärte sich Serafim zur Zufriedenheit der Deutschen bereit, die Leitungsfunktion der Warschauer Eparchie vorerst fortzusetzen.41 Am 15. Mai unterzeichnete Serafim das Statut, am 19. Mai taten dies auch die ukrainischen Gemeindevertreter, am 21. Mai 1940 bestätigte es der Generalgouverneur. Nach diesem Statut galt Serafim als Verweser der in Kontinuität zur PAOK fortbestehenden Autokephalen Orthodoxen Kirche im GG. Die Ukrainer durften einen Administrator stellen, und das Ukrainische wurde als kirchliche Amtssprache anerkannt.42 DIE ÜBERGABE DER KATHEDRALE VON CHEŁM Am 19. Mai 1940 wurde die Chełmer Kathedrale feierlich den Ukrainern übergeben. Nach den oben geschilderten Auseinandersetzungen ist verständlich, dass die PAOK keinen Bischof zur Veranstaltung entsandte und auch Serafim der Feierlichkeit fernblieb. Am Vorabend der Feier predigte Mykola Najdjuk aus Hrubieszów über die Untaten der Polen, zu den Feiern selber kam Ivan Levčuk als Repräsentant Dionisijs, der als „Kirchlicher Administrator für Cholm und Podlasien“ bezeichnet wurde.43 Die größte Delegation führte Kubijovyč an, der am dafür errichteten Triumphbogen von dem Kommandanten der ukrainischen Miliz aus Hrubieszów, Kozak, und an der Kirche selber durch Rechtsanwalt Anton Pavljuk (1875 – nach 1944), den Vorsitzenden des lokalen ukrainischen Komitees, begrüßt wurde, welcher Kubijovyč als „Führer [providnyk] aller Ukrainer, die jetzt auf den Gebieten unter deutscher Herrschaft leben“, titulierte.44 Die Feier enthielt kirchliche Elemente, gleichzeitig wurden jedoch auch politische und nationale Zeichen gesetzt. So hielt vom Morgen an „am Eingang zum Kathedralenplatz die ukrainische Miliz aus dem Gebiet Hrubieszów eine bewaffnete Ehrenwache“. Der Glockenturm war ebenso wie der Balkon der Kathedrale mit blau-gelben Flaggen geschmückt.45 Die Predigt bei dem ersten Gottesdienst in ukrainischer Sprache hielt Mykola O. Maljužyns’kyj (1903–1943) über das Thema „Steh auf [...] und wandle“ (Joh. 5, 8). Er gab der Heilung von Bethesda jedoch eine 41 Bericht Serafims an Auslandskirche, GARF, F. 6343, Op. 1, D. 226, Bll. 399f. Zitate und Darstellung nach SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 40f. 42 Ebd., S. 41. 43 Peršyj den’ svjata, in: KV 43/27.05.1940, S. 4. 44 Ebd. 45 Velyčave svjato v Cholmi, in: KV 43/27.05.1940, S. 3.

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spezifische Bedeutung: Das Wichtigste sei der Glaube an Gott und an die Nation als Schöpfung Gottes. Gott habe das ukrainische Volk nicht dafür geschaffen, dass es auf ewig in fremder Unfreiheit lebe. „Wir haben die Bestimmung, das freie Leben eines großen Volkes zu leben. Dafür bedarf es jedoch der Vereinigung aller nationalen Kräfte zu einem Monolithen. Wir müssen nur glauben, den Gläubigen ist alles möglich!“46 Diese Predigt demonstrierte die nationale Bedeutung der Kirchenpolitik und dokumentierte die Verbindung zur OUN-Ideologie der nationalen Einheit.47 Maljužyns’kyj verlas dann auch die Urkunde über die Rückgabe der Kirche. Gegen zehn Uhr traf der Lubliner Gouverneur Ernst Zörner (1895 – ca. 1945) mit einer 30-köpfigen Delegation ein. Begrüßt wurde er von Kubijovyč und Pavljuk sowie von einem zwölfjährigen Mädchen, das auf Deutsch dafür dankte, dass die „heldenhafte deutsche Armee das Chełm-Gebiet aus polnischer Unfreiheit befreit und den Kindern des Chełm-Gebiets und Podlasiens die Möglichkeit geschaffen habe, in einer heimatlichen (ridnoї) ukrainischen Schule zu lernen“. Levčuk dankte dem „Führer“ für die Rückgabe der Kathedrale und beschwor Gott, „den Führer und seine Regierung zu segnen und sie zu einer ruhmreichen Zukunft zu führen“. Zörner versprach den Ukrainern, „künftig werde das ukrainische Volk unter der starken Hand des deutschen Staates seine religiösen Praktiken [...] ausüben können und niemand werde es mehr dabei stören“. Man beachte, dass diese Wendung eine wie auch immer geartete staatliche Selbstständigkeit ausschloss und sich ausschließlich auf die kulturellen Praktiken bezog. Zörner übergab Levčuk anschließend die Schlüssel zur Kirche, die mit blaugelben Bändern umwickelt waren. Nach einem weiteren Gottesdienst und zahlreichen Grußworten ukrainischer Gäste aus Galizien und Berlin sang man die ukrainische Hymne.48 Kubijovyč wies darauf hin, dass nun alles Böse, was hier geschehen sei, ein Ende habe und dass „bessere Zeiten angebrochen seien“ (nadijšly krašči časy). „Dank der tapferen deutschen Armee, dank dem Willen des deutschen Führers“ habe „das Cholmerland die Freiheit wiedererlangt“.49 Levčuk „revanchierte“ sich für die deutsche Hilfe, indem er die große Glocke der Kathedrale „der siegreichen deutschen Armee als Beweis der tiefen Dankbarkeit der Ukrainer“ zum Einschmelzen spendete.50 Kubijovyč nannte diesen Tag der „festlichen Vereinigung aller Ukrainer der westlichen Grenzgebiete“ später den „schönsten in den sechs finsteren Kriegsjahren“, die ihm sonst eigentlich gar nicht so finster vorgekommen waren.51

46 Peršyj den’ svjata, in: KV 43/27.05.1940, S. 4. 47 Maljužyns’kyj wurde am 15. Juli 1943 wegen seiner Verbindungen zur UPA von den Deutschen verhaftet und am 15. Oktober 1943 exekutiert. 48 Peršyj den’ svjata, in: KV 43/27.05.1940, S. 4. 49 Pryvity, in: KV 43/27.05.1940, S. 5. 50 Darunok dlja nimec’koї armiї, in: KV 43/27.05.1940, S. 5. 51 KUBIJOVYČ, Volodymyr, Ukraїnci v Heneral’nij Huberniї 1939–1941, Chicago 1975, S. 305.

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DIE BISCHOFSWEIHE Die Deutschen und die lokalen Ukrainer kooperierten eng. Am 24. Juni 1940 gaben die Ukrainer in der Krakauer Prosvita „zu Ehren des Prof. Dr. Ohienko“ ein Essen, bei dem mit Alfred Bisanz (1890–1951), Hans Wilden, Heinrich Kurtz und Theodor Oberländer (1905–1998) die deutsche GG-Prominenz zusammenkam. Kubijovyč feierte unwidersprochen Ohijenko als Menschen, „der sich [...] die Aufgabe gestellt hat, den Priesterstand [...] in seinem Sektor zu ukrainisieren und als Vertreter der Kirche die kirchlichen Belange vor den deutschen Behörden zu vertreten, wenn er berufen sein wird“. Ohijenko schmeichelte den Deutschen, sie seien die „Befreier des ukrainischen nationalen Lebens“ und hieß, sich als eine Art Hausherr im GG gerierend, „alle Deutschen willkommen“.52 Kubijovyč fühlte sich dann stark genug, Serafim anzugreifen. Er setzte einen Schriftsatz auf, der formal und unhöflich an Serafim gerichtet war („zur Erledigung vorgelegt“), tatsächlich jedoch vor allem die Deutschen beeindrucken sollte. Kubijovyč protestierte gegen die im Februar erfolgte Auflösung des Geistlichen Konsistoriums der PAOK und dessen Ersatz durch einen „Einstweiligen Rat der Bischöfe“ (eine „Einrichtung russischen Typus“). Für das wieder zu errichtende Konsistorium benannte er ukrainische Mitglieder. Die auf über 4.300 Menschen bezifferte ukrainische Gemeinde in Warschau müsse sich „in einer unpassenden Hauskapelle (in einem Judenhaus!) zusammendrängen“, während 2.500 Russen drei Kirchen zur Verfügung hätten. Also verlangte er die Übergabe der Maria-Magdalena-Kirche in Praga Nord an die Ukrainer. Den von den Deutschen eingesetzten Serafim bezichtigte Kubijovyč, er sei „in denationalisierende Umtriebe gegen die Ukrainer verwickelt“, deren „Nationalität fest mit ihrem Glauben verwachsen“ sei, so dass „jede Denationalisierung auch Schwächung ihres Glaubens zur Folge“ habe. Zudem seien die Orthodoxen auch im übrigen GG zum Teil „denationalisierte Ukrainer“, also habe die Kirchensprache der Autokephalen Orthodoxen Kirche im GG (AOKGG) auch in Warschau, Radom und Krakau ukrainisch zu sein, nur für „rein russische Pfarrgemeinden“ war (der unierte!) Kubijovyč bereit, Ausnahmen zuzulassen.53 Mit der Neuschöpfung AOKGG hatte Kubijovyč die PAOK an die neuen politischen Verhältnisse angepasst und damit auch Frank, der ja an der Profilierung „seines“ GG interessiert war, eine eigene Kirchenorganisation beschert. Wenige Tage später fasste Ohijenko das bisherige Ergebnis zusammen: Dionisij, Kubijovyč und er selber hätten zwischen dem 29. Juni und dem 3. Juli vereinbart, dass er (Ohijenko) von Dionisij und Bischof Timofej zum Bischof geweiht und zum Vorsitzenden der Kirche gewählt würde, die „durch den Zerfall Polens 52 Frl. Ehrke, Protokoll der Reden, die bei dem zu Ehren des Prof. Dr. Ohienko gegebenen Essen im Ukrainischen Kulturverein „Prosvita“ am 24.6.1940 gehalten wurden, AAN, RGG, Hauptabteilung Innere Verwaltung, Abt. IV: Bevölkerung und Fürsorge, Referat 2: Ukrainische Volksgruppe, Bd. 429, Bll. 159f. 53 Kubijovyč, Dringende Erfordernisse der Autokephalischen Griechisch-Orthodoxen Ukrainischen Kirche an den Berliner Erzbischof für Deutschland Seraphim, undat. [Ende Juni 1940], AAN, RGG, Bd. 429, Bll. 125–129.

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ihrer Autokephalität nicht verlustig geworden“ sei. Drei Diözesen wurden umrissen und die AOKGG als „Ukrainische Kirche“ markiert.54 Nun musste Kubijovyč das kirchenrechtlich nicht unkomplizierte Verfahren nur noch seinen deutschen Gesprächspartnern nahebringen. Am 10. Juli 1940 traf er sich mit Bisanz und Fritz Arlt (1912–2004) von der Abteilung Bevölkerungswesen und Fürsorge, die in der Regierung des GG für die Ukrainer zuständig waren. Er hetzte nicht nur erneut gegen die Russophilie Serafims, sondern kritisierte auch wieder den „Bischofssowjet“, durch welchen dieser das „Geistliche Konsistorium“ ersetzt habe. Mochten Arlt und Bisanz wenig über die Orthodoxie wissen, diese Wortwahl dürfte allein gewirkt haben. Dieser „Bischofssowjet“ löse für Geld Ehen auf und reiche das Geld dann „russischen Agitatoren“ weiter, „die wiederum die Bevölkerung im Cholmland und Lemkenland aufwiegeln“. Nun kam auch der „gebildete“ Unierte heraus: Das alles sei sehr wichtig, „da die Kirche bei den primitiven Menschen im Cholmland mehr als Schule und Nation“ bedeute. Unerwartet zögerlich, nach einigen Nachfragen stimmten die Deutschen dem Vorhaben zu.55 Auf dieser Grundlage konnte Wilden dann am 11. Juli das weitere Vorgehen umreißen. Er plante nun gemäß dem ukrainischen Vorschlag, drei Bischöfe ernennen zu lassen, wandte sich dabei aber gegen die Ausweisung der AOKGG als eine ukrainische Kirche – man war schließlich auch an den Russen in Polen als V-Leuten interessiert. Dionisij sollte reaktiviert werden, um die anderen Bischöfe zu weihen, dann aber nach längstens drei Monaten wieder in den Ruhestand treten. Gegen dieses Prozedere waren jetzt nur noch einige Berliner Stellen, das Propagandaministerium und der SD, die die polnische Kirche mit der deutschen vereinigen wollten, und das russische Komitee, das ihre Ukrainisierung verhindern wollte und dafür eine Übernahme durch Serafim in Kauf nahm.56 Nur das Propagandaministerium gab noch nicht auf, die Russen beachtete man nicht weiter. Den Ukrainisierern kam Konstantinopel zur Hilfe: Am 9. Juli 1940 beschloss der Heilige Synod des Ökumenischen Patriarchats, dass Dionisij weiterhin das legitime Oberhaupt der PAOK (die nun AOKGG hieß) und dass die Einsetzung Serafims kirchenrechtlich nicht legal erfolgt sei.57 Juristisch war die Antwort verständlich, die Serafim auf seine Anfrage an seine „Vorgesetzten“ hin erhielt, ob er an den Weihen der neuen Bischöfe (die Deutschen hatten ihn dazu eingeladen) teilnehmen könne. Der Synod der Russisch-orthodoxen Auslandskirche erklärte am 27. August 1940:

54 Ohijenko, Kanonische Erneuerung der Heiligen Autokephalischen Griechisch-Orthodoxen Ukrainischen Kirche im Generalgouvernement, 03.07.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bll. 130f. 55 Frl. Ehrke, Besprechung, 10.07.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bl. 180. 56 Nach SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 43. Shkarovskij zufolge war dabei der SD federführend. Bestätigt wird dies durch das Protokoll einer weiteren Besprechung von Kubijovyč mit Arlt und Bisanz: Frl. Ehrke, Besprechung, 08.07.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bl. 181. 57 SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 44. Zuvor hatte Kubijovyč den Deutschen mitgeteilt, dass er „selber vor dem Gericht des Patriarchen steht“. Siehe Frl. Ehrke, Besprechung, 10.07.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bl. 180.

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Frank Golczewski Da die Autokephalie der Orthodoxen Kirche Polens von der Russischen Mutterkirche nicht anerkannt wurde, kann Eure Exzellenz nicht an der Schaffung einer außerkanonischen Hierarchie mitwirken.

Außerdem legte der Synod Serafim nahe, die Amtsgeschäfte der Warschauer Eparchie erneut Dionisij zu übertragen.58 Das tat Serafim dann auch – er sagte die Teilnahme an der Bischofsweihe ab, übertrug Dionisij wieder die Führung der AOKGG und verließ im September 1940 Warschau. Nicht allein zwei deutsche „Parteien“ haben hier also miteinander gestritten. Kubijovyč und Ohijenko haben ihre nationalukrainischen Forderungen mit der Eitelkeit der GG-Behörden kombiniert, die sich nicht von „Russen“ aus Berlin in ihre Kompetenzen hineinreden lassen wollten. Ausschlaggebend war dann aber, dass die ukrainische Seite sich eines kirchenrechtlichen Kunstgriffs bediente und dass sowohl die Auslandskirche als auch das Ökumenische Patriarchat sich – jeder auf der Basis der eigenen Prinzipien – dieser Lesart schließlich anschlossen. Unter diesen Umständen wurde sogar die angebliche Polenfreundlichkeit der PAOK-Bischöfe als sekundär empfunden. Der aus der Perspektive der russischen Kirche verfasste Schriftsatz über die PAOK, der 1940 den Deutschen vorgelegt wurde, hatte daher nicht ganz unrecht, wenn er feststellte, dass Dionisij „die ukrainischen Chauvinisten behilflich waren“.59 Am 23. September 1940 empfing Frank Dionisij, Ohijenko, den Chełmer Geistlichen Mykola Maljužyns’kyj und Kubijovyč und stimmte zu, dass Dionisij wieder als Oberhaupt der zur AOKGG gewordenen PAOK eingesetzt würde. Dionisij versprach dem Generalgouverneur „Treue und Gehorsam“, womit die Weichen für die weitere Entwicklung gestellt waren. Wie geplant wurde bei dieser Gelegenheit die Schaffung dreier Eparchien genehmigt, von denen eine russisch, die beiden anderen aber ukrainisch sein sollten. Am 24. September 1940 nahm Dionisij in Warschau ganz offiziell seine Funktion als Metropolit wieder auf.60 Der Generalgouverneur schrieb ihm daraufhin: Ich erwarte von Ihnen, dass Sie den Aufbau der orthodoxen Kirche der Tatsache des Generalgouvernements und der nationalen Zusammensetzung ihrer Gläubigen entsprechend vollenden. Bei dieser historischen Aufgabe können Sie meines Schutzes gewiss sein.61

Inzwischen hatte sich auch Skoropads’kyj wieder zu Wort gemeldet und einer Ukrainisierung der autokephalen Kirche im GG zugestimmt, die er mit den „Interessen der deutschen Nation“ verknüpfte, „als deren natürliche Verbündete sie [die AOKGG] sich betrachtet“. Natürlich war seine Aussage falsch, es gebe im GG keine Russen, sondern nur Ukrainer. Aber attraktiv war wohl noch, dass der Het’man damit winken konnte, eine Wiederherstellung des ukrainischen Kirchenlebens im 58 Synod der Russischen Auslandskirche an Serafim, 27.08.1940, GARF, F. 6343, Op. 1, D. 283, Bl. 21; zit. nach SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 45. 59 Geschichte der autokephalen orthodoxen Kirche in Polen, 1940, AAN, RGG, Bd. 427, Bl. 137. 60 Ebd.; vgl. KUBIJOVYČ, Ukraїnci, S. 311. 61 HAUGG, Werner, Materialien zur Geschichte der östlich-orthodoxen Kirche in Deutschland, Tl. II, in: Kyrios 6 (1942/43), S. 103–139, hier S. 137f.; vgl. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 45.

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GG würde Deutschland die Sympathie der Ukrainer in den USA und in Kanada einbringen. Auch die Aussage, dass die Russen (die es nun plötzlich doch gab) der Absetzung Dionisijs vor allem deswegen zugestimmt hätten, weil dies eine Aufhebung der Autokephalie bedeutet hätte, entbehrte nicht der argumentativen Logik.62 Einen Widerspruch gab es aber noch. Das zum Propagandaministerium gehörige Institut zum Studium der Judenfrage, zwischen 1939 und 1942 unter „Antisemitische Aktion“ firmierend, protestierte gegen die Wiedereinsetzung Dionisijs.63 Nach seinen Angaben habe es Serafim „bei wichtigen politischen Anlässen eingesetzt“64 und sei auch weiterhin an seinem „Einsatz“ interessiert. Die Deutschen hätten ihn „kurzerhand hinaus[geworfen]“ und sich ihm gegenüber schlimmer als seinerzeit die GPU verhalten. Dionisij sei dagegen eine „polnische Systemgröße“ und deswegen „verhasst“. Seine Rehabilitierung fördere daher nicht das Ansehen der Deutschen, die ihn zuvor entfernt hätten. Durch die Bevorzugung Dionisijs sei nun „eine Reichsdeutsche Stelle [Serafim]“ Dionisij „in der Rangfolge nachgeordnet“. Und die Ukrainer, die diese Revision durchgesetzt hätten, seien „Ukrainer aus der Sowjetukraine oder unierte, d.h. romkatholische Galizier, politische Emigranten, die schon mehrfach politische Bankrotte erlebt haben“. Sie wollten „aus der Kirche ein ausschließlich politisches Instrument machen“. Dann würde in den Kirchen von der „heiligen ukrainischen Erde“ geredet werden, „die eigentlich und rechtmäßig zur ‚Großen Ukraine‘ und nicht […] zum Großdeutschen Reich gehört“. Vor der Gefahr der „Atomisierung“ der Orthodoxie, der ukrainischen Fremdherrschaft, der Verbindung mit dem Katholizismus und gar der „Bolschewisierung“ wurde gewarnt. Da man immerhin einsah, dass man die Wiedereinsetzung Dionisijs nicht rückgängig machen konnte, schlug das Propagandaministerium vor, Dionisij solle „einen gewissen Vorrang Seraphims anerkennen“. Der „Polenknecht Dionysios“ müsse alle Maßnahmen Serafims anerkennen, Serafim bitten, die AOKGG beim Reichskirchenministerium zu vertreten, und ihm dafür auch noch größere Geldbeträge zukommen lassen. Vor allem aber dürften die Ukrainer im GG keine orthodox-theologische Hochschulausbildung einrichten, weil man eine solche für das Reich plane, das damit eine „kulturpolitische Propagandawirkung in allen orthodoxen Ländern“ erzielen könne. Besonders wetterte die „Antisemitische Aktion“ gegen eine führende Rolle Ohijenkos und seinen Empfang durch Frank. Weil sein Vater Kantonist gewesen

62 Skoropads’kyj, Pavlo, Denkschrift über die Gestaltung der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche im Generalgouvernement, 28.08.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bll. 150–158. 63 Shkarovskij schreibt diese Stelle dem Reichskirchenministerium zu, das nachweislich auch dahinterstand, allerdings hat sich Haugg in dem Brief, den auch Shkarovskij kennt, eindeutig zur Denkschrift geäußert, „die der Herr Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda hat dem Amte des Herrn Generalgouverneurs zugehen lassen“ (Haugg an Heuber, 21.10.1940, BAB, NS 43, Bd. 32 [nicht 42, wie bei SHKAROVSKIJ], Bl. 49). 64 Antisemitische Aktion, Bestätigung des früheren Metropoliten […], 04.10.1940, BAB, NS 43, Bd. 42, Bll. 177–187. Genannt wurde die „Zerschlagung der reichsfeindlichen kirchlichen Auslandsfront“ 1937 und 1939 sowie die „Versendung von Propagandamaterial während der Tschechenkrise [1938] an englische Kirchenkreise“.

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sei (also ein Wehrpflichtiger im Russischen Reich) und weil auch Juden als Kantonisten eingezogen wurden, konstruierte man den Vorwurf, Ohijenko sei „Halbjude“ und könne daher nicht Bischof werden. Außerdem wurde aus seiner wissenschaftlichen Arbeit über die „judaisierenden“ Christen in Russland geschlossen, er habe eine Vorliebe für Juden.65 Wie Shkarovskij richtig vermerkt, zeigte die Denkschrift keine positive Wirkung.66 Das Amt des Generalgouverneurs wies sie im Einzelnen zurück und kritisierte fast jede ihrer Formulierungen. Insbesondere verbat man sich die Einmischung in Angelegenheiten des Generalgouvernements. Besonders vehement stritt man ab, dass „ukrainisch-kirchliche“ oder gar „romkatholische“ Kreise hinter der Verdrängung Serafims ständen – tatsächlich waren es eher die unierten ukrainischen Politiker, die sich bei Frank für die Ukrainisierung der PAOK eingesetzt hatten. Es wurde bestritten, dass Dionisij sich für ukrainische Belange eingesetzt hätte, und aus Serafims Zugehörigkeit zur Auslandskirche wurde geschlossen, dass sich „irgendeine volks- und landfremde Emigrantenorganisation in einem fremden Staat, deren Haltung Deutschland gegenüber noch dazu sehr zweifelhaft“ sei, nicht in Dinge einzumischen habe, für die „doch wohl in erster Linie der Generalgouverneur selber zuständig“ sei. Kirchenrechtlich durchaus korrekt wies das GG die Forderung zurück, die autokephale Kirche im GG einem Hierarchen der russischen Orthodoxie zu unterstellen oder „einen bereits abgesetzten Bischof“ zum Vertreter der AOKGG beim Reichskirchenministerium zu ernennen. Das Verbot einer ukrainischen theologischen Hochschule galt dem GG als ausreichender Beweis, „[d]aß man unter keinen Umständen eine ukrainische Führerschicht mit der Geistlichkeit emporsteigen lassen will“. Die Aussagen über Ohijenkos angebliche jüdische Herkunft hielt man für „völlig haltlos“. Lustig wurde es bei der Zurückweisung des Arguments in Bezug auf die „Judaisierenden“, denn hier erklärte das Amt des GG: In Verfolg dieser Beweisführung müsste auch richtig geschlossen werden, dass die Antisemitische Aktion, die sich mit der Judenfrage befasst, ebenso für alles Jüdische eine Vorliebe haben müsse.67

In einer Zusammenfassung der Kritik heißt es weiter: „Die Denkschrift verrät eine durchaus mangelhafte Kenntnis der Verhältnisse im Generalgouvernement in Vergangenheit und Gegenwart“. Sie verrate eine „großrussische Tendenz und den Hass gegenüber einer ukrainischen Führerschicht“. Die Fragen in Bezug auf Ohijenko seien „von der Gestapo untersucht und haben sich als falsch erwiesen.“ Die politische Tendenz der Denkschrift entspricht nicht den deutschen Interessen, sondern geht von einer Einstellung aus, die oft den deutschen Interessen direkt widerspricht.68 65 Ebd. 66 Vgl. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 46. 67 Amt des Generalgouverneurs, Bemerkungen zu der Denkschrift Antisemitische Aktion v. 4.10.40, undat. [Oktober/November 1940], BAB, NS 43, Bd. 32, Bll. 53–62. Auszugsweise auch bei SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 46; dort mit falscher Bandangabe. 68 Amt des Generalgouverneurs, Bemerkungen zu der Denkschrift Antisemitische Aktion v. 4.10.40, undat. [Oktober/November 1940], BAB, NS 43, Bd. 32, Bll. 63f.

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Damit hatte das GG klargestellt, dass alles, was nun folgen würde, den deutschen Interessen entspräche und dass zu diesen Interessen demnach auch eine Förderung der ukrainischen Bewohner und ihrer nationalen Bestrebungen gehörte. Was man bei der Übergabe der Chełmer Kathedrale nur implizit erkennen konnte (hier war der unmittelbare Gegner noch die römisch-katholische Kirche gewesen, der man das Bauwerk genommen hatte), wurde nun ausdrücklich bestätigt: Die Teilukrainisierung der PAOK wurde zum offiziellen deutschen Programm. Bereits zuvor hatte sich die Regierung des GG um eine zügige Umsetzung der Beschlüsse bemüht. Da Ohijenko ja noch kein Geistlicher war, musste er schleunigst die entsprechenden Weihen erhalten. Als einziger Ort, an dem dies kirchenrechtlich einwandfrei geschehen konnte, stand das orthodoxe St.-Onuphrius-Kloster in Jabłeczna am Bug zur Debatte. Der Bug war jedoch dort (wie auch heute) der Grenzfluss. Offenbar befürchtete man, dass die auf der anderen Flussseite gelegene sowjetische Grenzwache, aber auch die Polen der Umgebung sich an der Ukrainisierung der PAOK stören könnten. „Auf direkte Weisung des Generalgouverneurs“ wandte sich die Abteilung Bevölkerungswesen und Fürsorge der Regierung des GG an den Zollgrenzschutz und bat ihn, die „künftigen Streifgänge zwischen das Kloster und den Bug“ zu legen, um eine sowjetische Intervention zu verhindern. An den zuständigen Kreishauptmann von Biała Podlaska, Hubert Kühl (1903– 1942), schrieb die Zentrale, ihm werde „aus der Zeitung bekannt sein, dass in absehbarer Zeit der ukrainische Professor Ohienko zum Bischof in Chelm geweiht“ werde. Er habe zuvor eine „kirchliche Vorbereitung und Fastenzeit“ zu durchlaufen. Der Kreishauptmann wurde nun gebeten, dafür zu sorgen, dass „dieser ukrainische kirchliche Vorbereitungsakt ohne Zwischenfall in vollster Ruhe durchgeführt wird“.69 Vor dem Zweiten Weltkrieg hatte die PAOK fünf Eparchien: Warschau-Chełm, Polesien, Wolhynien, Grodno und Wilna. Nur eine davon, Warschau-Chełm, lag 1939/40 im deutschen Verwaltungsgebiet. Um also die Autokephalie aufrechtzuerhalten, musste eine Maßnahme ergriffen werden, die bereits in der Audienz bei Frank „abgesegnet“ worden war. Da ein Bischofsynod einer selbstständigen (autokephalen oder autonomen) orthodoxen Kirche aus mindestens drei Personen bestehen musste, kam man mit dem einen verbliebenen Bistum und Dionisij nicht aus. In den sowjetisch gewordenen Gebieten waren die Diözesen der russischen Orthodoxie angeschlossen worden. Also teilte man das verbliebene GG-Gebiet in nunmehr drei Bistümer auf: Warschau und Chełm-Pidljaššja wurden Zentren separater Kirchenprovinzen und ein drittes Bistum für Krakau und das Lemkenland wurde geschaffen. Die praktischen Beschlüsse hierfür konnten mangels einer ausreichenden Zahl von verbliebenen Bischöfen nicht ganz einwandfrei getroffen werden. Um wenigstens den Schein zu wahren, wurde noch einmal Timofej „aktiviert“, um gemeinsam

69 Regierung des GG, Bevölkerungswesen und Fürsorge an Kreishauptmann Biała Podlaska, 30.09.1940, Archiwum Państwowe Lublin, Gouverneur des Distrikts Lublin, Bd. 158, Bl. 52.

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mit Dionisij eine Bischofsversammlung (den Begriff Synod konnte man nicht verwenden) abzuhalten, auf der die beiden kirchenlegitimen Hierarchen die neue Gliederung der PAOK/AOKGG beschlossen. Dieser Akt begründete eine Metropolie, zu der drei Eparchien gehörten, wobei das ukrainische Chełm zu einem Erzbistum aufgewertet wurde.70 Ohijenko absolvierte nun seinen „Vorbereitungsakt“. Üblicherweise erfolgte das Durchlaufen der mönchischen Ränge gewollt langsam, um den Kandidaten die Möglichkeit zu geben, über die Tragweite der lebenslang gültigen Gelübde nachzudenken. Bei Ohijenko wurde diese Regel nicht beachtet. Am 30. September 1940 zog er in Jabłeczna ein und wurde wenige Tage später zum Mönch geschoren, wobei er den Namen Ilarion annahm.71 Nicht nur die Berücksichtigung der drei zu durchlaufenden Mönchsränge wurde vernachlässigt, Ohijenko machte auch in Bezug auf andere kirchliche Weihen in wenigen Wochen eine nur politisch zu begründende „Karriere“: Aus dem einfachen Mönch wurde ein Hierodiakonos, wofür die Diakonsweihe erforderlich war, ein Priestermönch (Hieromonachos), wozu er die Priesterweihe erhalten musste, und wenige Tage später ein Archimandrit. Da Ohijenko kein Klostervorsteher war, ist dieser Titel als Ehrentitel zu verstehen, den man sich aber eigentlich auch erst „verdienen“ musste. Da jedoch Bischöfe in der Regel aus dem Kreis von Archimandriten geweiht wurden, musste Ohijenko auch dieser Titel im Eilverfahren verliehen werden. In dem der Regierung des GG vorliegenden Bericht heißt es: „In Cholm sollte er schon als Archimandrit eintreffen, um in den nächsten Tagen die Vorweihe und Weihe zum Bischof zu bekommen“.72 Wieder wurden Triumphbogen errichtet, das Ukrainische Komitee hatte die Gläubigen der Umgebung mobilisiert und eines der Transparente lautete „Slava Ukraїns’koї Pravoslavnoї Cerkvi“, obwohl die Kirche selber nicht als „ukrainisch“ gelten durfte. Als Archimandrit empfing Ilarion am 19. Oktober 1940 in Chełm die Bischofsweihe. Zelebriert wurde sie von Dionisij, Timofej und dem eigens hierfür aus Prag angereisten Bischof Savatij (Antonín J. Vrabec, 1880–1959). Dass man Savatij beteiligte, war ein Politikum. Der orthodoxe Tscheche hatte in Ufa und Kiev studiert, er wirkte vor dem Ersten Weltkrieg als Missionar bei den Tschechen Wolhyniens und war 1920–1921 Rektor des geistlichen Seminars in 70 Vgl. KUBIJOVYČ, Ukraїnci, S. 311. 71 Diese Namenswahl schloss an den erfolglosen Versuch Jaroslav Mudryjs an, im Jahre 1051 einen aus der Rusʼ stammenden Metropoliten an die Spitze der Kirche zu berufen, die für Nationalukrainer eine ukrainische Kirche war; vgl. SCHOLZ, Birgit, Von der Chronistik zur modernen Geschichtswissenschaft. Die Warägerfrage in der russischen, deutschen und schwedischen Historiographie (Forschungen zum Ostseeraum, 5), Wiesbaden 2000, S. 34f. Sie belegt, wie Ilarion dann auch gegenüber Frank ausführte, dass er sich mit deutscher Hilfe als Erneuerer der ukrainischen Kirche nach 255 Jahren verstand (Übersetzung der ukrainischen Rede des Erzbischofs Ilarion, 29.10.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bll. 390f.). 1685/86 war die Kiever Metropolie dem Ökumenischen Patriarchat entzogen und dem Moskauer unterstellt worden, Kiev wurde daraufhin zu einer Eparchie degradiert. Ilarion hatte daher schon bei seiner Mönchsweihe die Bischofsperspektive und die Leitung der Ukrainischen Kirche im Blick. 72 Vorweihung und Chirothonie des Cholmer Bischofs Ilarion, 18.–20.10.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bll. 143–149, hier Bl. 143.

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Chełm gewesen. Offenbar war er damals schon zu „ukrainisch“, denn die Russischorthodoxe Auslandskirche verweigerte ihm die Anerkennung als Bischof der neugegründeten Tschechischen Orthodoxen Gottesdienstgemeinde (Česká náboženská obec pravoslavná). Savatij wandte sich daraufhin an den Ökumenischen Patriarchen in Konstantinopel und wurde von ihm 1923 zum ersten tschechoslowakischen orthodoxen Bischof geweiht. Dies führte in der Tschechoslowakei mit ihrer orthodoxen Bevölkerung in der Ostslowakei und der Karpatho-Ukraine zu einer auch die weltliche Politik (insbesondere die Beziehungen zwischen der ČSR und Jugoslawien) belastenden Rivalität zwischen der Auslandskirche und den Anhängern Savatijs. Nach zahlreichen Rückschlägen unterstützte der griechisch-katholische Ministerpräsident der autonomen Karpatho-Ukraine Avhustyn Vološyn 1938 jedoch Savatij, und nach der Annexion der Karpatho-Ukraine durch Ungarn ging die Jurisdiktion über die dortigen Orthodoxen auf Savatijs Anhänger über, der selber aber in Prag residierte.73 Dass Savatij die Bischofsweihe in Chełm konzelebrierte, war daher nicht nur, wie Shkarovskij schreibt, ein Versuch, die Legitimität der AOKGG über den Patriarchen von Konstantinopel zu bestärken,74 sondern auch eine ausdrückliche Abkehr von der Russisch-orthodoxen Auslandskirche, mit der Savatij in Fehde lag. Das Ende der Serafim/Auslandskirche-Politik wurde als Ukrainisierung wahrgenommen. In einer Ansprache bei der Bischofsweihe sprach folgerichtig auch Kubijovyč davon, dass nun das „ukrainische Volk zum Sieg gelangt“ und aus der polnischen Kirche eine „Ukrainische Orthodoxe Autokephale Kirche“ geworden sei.75 Auch von den anderen ukrainischen Nationalisten wurde, wie es der Mel’nyk-Anhänger Sydir Čučman (1889–1942) drei Tage später in Berlin ausdrückte, die AOKGG als „ukrainische Kirche im Generalgouvernement“ wahrgenommen.76 Tatsächlich war dies aber nicht vollständig der Fall: Der Metropolit und die Warschauer Eparchie blieben russisch – schon um die russischen Emigranten zufriedenzustellen. Die Teilung in einen kleinen russischen und einen großen ukrainischen Teil befürwortete auch der als Ukraine-Kenner um eine Stellungnahme gebetene ukrainophile Journalist Axel Schmidt.77 Während sich die amtlichen Stellen dessen bewusst waren, dass sie sich darum bemühen mussten, nach außen hin die Strukturen zu wahren, die sie von Polen geerbt hatten, waren die beiden neuen Kirchenprovinzen ausdrücklich als Förderung der Ukrainer gemeint. Die ukrainischen

73 Vgl. POP, Ivan, Osobnosti našich dĕjín – Savatij, arcibiskup čs. pravoslávne cirkve; URL: http://www.rusin.sk/index.php?ID=7944&1=sk (Zugriff 10.04.2014). 74 Vgl. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 47. 75 Vgl. Vorweihung und Chirothonie, 18.–20.10.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bll. 148f.; KUBIJOVYČ, Ukraїnci, S. 311f. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 47, nennt den 02.11.1940, dies ist jedoch das Datum von Ilarions Inthronisierung als Erzbischof von Chełm. 76 Georg Leibbrandt, Aktennotiz, Besprechung mit Tschutschmann, 22.10.1940, BAB, NS 43, Bd. 42, Bl. 79. Vgl. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches S. 47. 77 Krupinski und Axel Schmidt, Betrifft Denkschrift Seraphim – Dionysos, 30.10.1940, BAB, NS 43, Bd. 32, Bll. 45–47.

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Funktionäre feierten sie in diesem Sinne, und insbesondere die Einsetzung Ohijenkos in Chełm gilt Nationalukrainern bis heute als gerechte Glanztat. Nachdem er die Bischofsweihe empfangen hatte, bat Ohijenko um das Einverständnis Franks mit seiner Einsetzung als Erzbischof in Chełm. Er verband diese Bitte mit der Forderung nach Rückgabe des von den Polen konfiszierten Kirchenbesitzes, bei dem es um viel Land ging, und wusste auch, wie er seine Forderungen untermauern musste. Mit einem auf die Ukraine umgedichteten Dornröschen-Motiv78 schmeichelte er sich bei Frank und den Deutschen ein: Das „edle deutsche Volk in Gestalt seines Führers“ sei dabei, als „Ritter ohne Furcht und Tadel“ die „schlafende Ukraine“ zu erwecken, und es werde „das verzauberte Schicksal des ukrainischen Volkes befreien“. Ohijenko dankte Frank für die Verleihung der Panagia und versprach: „So lange ich die Panagia auf dem Herzen trage, [werde ich] für den, von welchem ich sie bekommen habe, und für den Führer des Großdeutschen Reiches [...] beten“.79 Damit drückte Ilarion deutlich aus, dass er sich dessen bewusst war, dass er seine Bischofswürde der deutschen Okkupation verdankte. Am 2. November 1940 wurde Ilarion (Ohijenko) als Erzbischof in Chełm inthronisiert. Palladij Vidybida-Rudenko reiste inzwischen in das Lemkengebiet, dessen kirchliche Situation etwas komplizierter war. In den 24 orthodoxen Pfarreien fand er unter den Geistlichen neun „bewusste Ukrainer“ und drei Russophile vor. Einer von ihnen versprach, „mit Rücksicht auf die neue Richtung mit dem Predigen in russischer Sprache auf[zu]hören“. Die andere Hälfte vertrat ihre ruthenische (rusynische) Identität. Sie wollten nun „in der Sprache der örtlichen Bevölkerung, die sich als Ruthenen bezeichnen, predigen“. Der Schriftverkehr der Kirchen wurde „bis jetzt in russischer Sprache verfaßt, von jetzt ab werde er von 9 ukrainischen

78 Da dieses Motiv die romantische Invention of Tradition und das Verhältnis Ilarions zu Hitler illustriert, soll es hier in den Worten Ilarions referiert werden: „Im ukrainischen Volke, das sechs Jahrhunderte lang (IX.–XIV.) ganz unabhängig einen selbständigen Staat bildete, entstand vor langer Zeit eine messianische poetische Legende. Dieser Überlieferung gemäß schaufelten die Feinde Ukrainas nach deren Unterwerfung ein hohes Grab, in dem sie Ukrainas Schicksal begruben. Aus diesem Grabe wuchs ein Schneeballstrauch [Kalyna] empor, der jahraus jahrein blutige Tränentropfen dem ukrainischen Volke nachweint. Ukrainas Schicksal verfiel hier in einen tiefen Schlaf und es konnte niemand, weder Mensch noch Volk diesen Zauberschlaf unterbrechen. Viele Leute versuchten es, aber vermochten nicht, den Zauber zu brechen. Sie hatten keine makellosen Hände und kein reines Gewissen. Die Legende berichtet weiter, es werde solch eine Zeit kommen, daß ein Ritter sonder Furcht und Tadel erscheinen und seine Stimme erheben wird. Auf diesen Klang wird das Schicksal Ukrainas erwachen, und es wird ein Lied anstimmen, so mächtig und klangvoll, daß das ukrainische Volk zu neuem, glücklichem Leben erwachen wird. Eure Exzellenz, ich glaube es, daß zum Ritter sonder Furcht und Tadel das edle deutsche Volk in Gestalt seines Führers bestimmt ist. Es wird das verzauberte Schicksal des ukrainischen Volkes befreien“ (Übersetzung der ukrainischen Rede des Erzbischofs Ilarion, 29.10.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bll. 90f., 390f.). 79 Übersetzung der ukrainischen Rede des Erzbischofs Ilarion, 29.10.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bl. 391. Diese Stelle fehlt in dem Text Bll. 90f. Die Panagia ist eine kleine Ikone der Gottesmutter, die in der orthodoxen Kirche von Bischöfen getragen wird.

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Geistlichen in ukrainischer Sprache und von den restlichen geistlichen in der ‚örtlichen‘ Sprache verfaßt“. Den „gescheiteste[n] von allen 24 orthodoxen Geistlichen“, den Russophilen Pavlyšyn, wollte Palladij eigentlich im Amt belassen, „aber nachdem Dr. Kubijowytsch ihm die Dokumente, die die ukrainischfeindlich[e] Gesinnung des Pawlyschyn beweisen, vorgelegt hatte“, sollte er aus seiner Gemeinde Czarne (Čorna), die 1928 geschlossen von der Union zur Orthodoxie gewechselt war, wegversetzt werden.80 Auch sonst blieb Kubijovyč aktiv und organisierte mit entwaffnender Offenheit das dritte Bistum der AOKGG. Er empfahl der GG-Regierung die Einsetzung Palladijs, obwohl oder gerade weil Palladij den Lemken völlig unbekannt sei; schließlich bestehe „die griechisch-orthodoxe Volksgruppe des Lemkengebietes nur aus Bauern [...], die in nationaler Hinsicht so wenig aufgeklärt ist [sic], dass es ihnen ganz gleichgültig sein dürfte, wer zum Bischof geweiht wird“.81 Am 9. Februar 1941 wurde Palladij schließlich in Warschau zum Bischof der Eparchie Krakau-Lemkenland geweiht. Er blieb in Warschau. Die Bischofskirche in Krakau übernahm ein Dekan – auch er begab sich nicht in die Lemkengebiete.82 AUSBLICK Der eigentliche Autor der partiellen Ukrainisierung der PAOK war der Vorsitzende des UHA, Volodymyr Kubijovyč. Er nutzte seine ausgezeichneten Beziehungen zu den Deutschen und zu den ukrainischen Nationalisten beider OUN-Fraktionen, um am Aufbau eines künftigen ukrainischen Staates zu arbeiten und hierfür – durchaus im Stil der polnischen „organischen Arbeit“ der Teilungszeit – organisatorische, ökonomische und kulturelle Voraussetzungen zu schaffen. Um dieses Ziel zu erreichen, scheute er weder vor antipolnischen noch vor antisemitischen Aussagen und Handlungen zurück – ungeachtet dessen, dass seine Mutter und seine erste Frau Polinnen waren und er auch jüdische Vorfahren hatte. Dennoch ließ das Ergebnis zu wünschen übrig. Vage Versprechen einer deutscherseits anerkannten ukrainischen Staatlichkeit erhielt er erst im März 1945, als es keine Deutschen mehr in der Ukraine gab. Die kanonisch einigermaßen korrekte Begründung einer 1941 im Reichskommissariat Ukraine und den militärisch verwalteten Gebieten aktiven Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche durfte über die AOKGG noch geschehen, danach musste die eigentlich gewünschte Kooperation mit dem Ziel der Schaffung einer orthodoxen Ukrainischen Nationalkirche jedoch eingestellt werden. Dass es im Frühjahr 1944 zu einer Abschwächung der Abgrenzung kam, lag am deutschen Rückzug aus der Ukraine. Nicht zuletzt wegen der hier dargestellten Abläufe, aber auch wegen einer fragwürdigen Anerkennung durch den Patriarchen von 80 Dr. Gyza, Aktenvermerk „Bericht des Archimandrit Palladij über die Inspizierung der griechisch-orthodoxen Pfarrgemeinden im Lemkenlande“, 14.10.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bll. 377f. 81 Kubijovyč an Regierung des GG, 22.11.1940, AAN, RGG, Bd. 429, Bl. 344. 82 Vgl. SHKAROVSKIJ, Die Kirchenpolitik des Dritten Reiches, S. 48.

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Antiochia wurde Ohijenko als kanonisch rechtmäßiger Bischof 1951 zum Metropoliten von Winnipeg und ganz Kanada der jedoch weiterhin (bis 1990) als unkanonisch geltenden Ukrainischen Griechisch-orthodoxen Kirche Kanadas gewählt. Dionisij kehrte 1945 aus Deutschland, wohin er evakuiert worden war, nach Polen zurück, wurde seiner Ämter enthoben und zeitweise unter Hausarrest gestellt, er konnte dann allerdings die Anerkennung der PAOK durch das Moskauer Patriarchat unterstützen und damit deren kanonische Rechtmäßigkeit untermauern. Die PAOK wurde von Timofej geleitet. Serafim wurde 1942 zum Metropoliten von Zentraleuropa „befördert“, zuständig für die deutsch besetzten Gebiete mit Ausnahme Polens. Nach dem Krieg lebte er bei München, wo er 1950 an Verletzungen gestorben ist, die ihm unbekannte Täter zugefügt haben. Die Ostkirchenpolitik war kein zentrales Anliegen der deutschen Nationalsozialisten. Gerade aber, weil den Kirchen eine politische Hilfsfunktion zugesprochen wurde, ist ihr Verhalten angesichts der deutschen Taktiken signifikant. Wie in anderen Bereichen der deutschen Ukrainepolitik reichten scheinbare Zugeständnisse aus, um Kollaborationsverhalten zu begründen.

NATIONALE, STÄDTISCHE UND KIRCHLICH-RELIGIÖSE ERINNERUNGSORTE Unterscheidungsversuche im Geiste Pierre Noras am Beispiel der baltischen Großstädte Riga und Tartu Andreas Fülberth Für den Versuch, das von dem französischen Historiker, Publizisten und Verleger Pierre Nora (geb. 1931) umrissene Konzept der lieux de mémoire von der nationalgeschichtlichen Ebene auf eine stadtgeschichtliche zu überführen,1 bieten sich im Nordosten Europas wohl nur wenige Städte so sehr an wie einerseits Riga und andererseits Tartu, das frühere Dorpat. Dass innerhalb der Grenzen Estlands das traditionelle geistige Zentrum Tartu ein im Vergleich zur Hauptstadt Tallinn lehrreicheres Anschauungsobjekt abzugeben scheint, mutet beinahe wie ein Reflex der Tatsache an, dass auch Noras Verständnis des Wortes lieu de mémoire beziehungsweise „Erinnerungsort“ in vielen Fällen auf Orte in einem übertragenen, rein geistigen Sinne zielt. Freilich dachte Nora, als er das von 1984 an in drei Bänden von ihm herausgegebene Sammelwerk über Erinnerungsorte Frankreichs2 zu erarbeiten begann, daneben gleichermaßen an Orte, die konkret aufgesucht werden können. Vereinzelt zählte er hierzu auch ganze Städte. Würde man sich entsprechend damit begnügen, von Riga und Tartu als einem jeweiligen Erinnerungsort zu sprechen, so wäre das Potenzial, das in Noras Untersuchungsansatz steckt, allerdings nur minimal ausgeschöpft. Selbst in Noras eigenem Werk mit seiner ganz klar nationalen Rahmensetzung begegnen dem Leser, obschon bereits „Paris“ insgesamt darin als Erinnerungsort aufgefasst wird,3 zugleich noch einmal gesondert die Kirchen 1

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Zu einigen mittlerweile unternommenen Übertragungen des Erinnerungsorte-Konzepts auf andere Rezeptionsebenen vgl. mehrere der Aufsätze in einem Sammelband, der anlässlich der aktuell im Rahmen des Projekts „Erinnerungsorte Ruhr“ erfolgenden Übertragung jenes Konzepts auf ein regionales Bezugsfeld erschienen ist, nämlich: Erinnerungsorte. Chancen, Grenzen und Perspektiven eines Erfolgskonzeptes in den Kulturwissenschaften, hrsg. von Stefan BERGER und Joana SEIFFERT, Essen 2014. Eine Bestandsaufnahme hinsichtlich bisheriger Anwendungen des Erinnerungsorte-Konzepts bietet ferner ROBBE, Tilmann, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung. Erinnerungsorte in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft (Formen der Erinnerung, 39), Göttingen 2009. – Wertvolle Anregungen zum Thema des vorliegenden Beitrags steuerte unterdessen auch mein Leipziger Kollege Robert Born bei, dem hierfür herzlich gedankt sei. Les lieux de mémoire, hrsg. von Pierre NORA, 3 Bde. (1: La République, 2: La Nation, 3: Les France; Bd. 2 und 3 in je drei Teilbänden), Paris 1984–1992. AGULHON, Maurice, Paris, in: Les lieux de mémoire, Bd. 3 (3. Teilband), Paris 1992, S. 869– 909.

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Notre-Dame4 und Sacré-Cœur5 sowie der Eiffelturm6. Umso aufmerksamer sollte man folglich, wenn schon der Bezugsrahmen ein städtischer und kein nationalstaatlicher ist, den zahlreichen einzelnen Erinnerungsorten nachspüren, die in den ausgewählten Städten und ihrer Vergangenheit enthalten sind, seien es real erkundbare oder eben allein gedanklich existierende. Zu Übertragungen der Herangehensweise Noras auf andere Anwendungsfälle ist es bisher zumeist in Form von Übertragungen in andere nationale Kontexte gekommen: Durch die Lieux de mémoire inspirierte gleichartige Publikationen lagen alsbald für Dänemark, die Niederlande, Italien, Deutschland und Luxemburg vor,7 gefolgt von Adaptionen des Konzepts auf Deutschland und Polen als Nachbarn mit

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ERLANDE-BRANDENBURG, Alain, Notre-Dame de Paris, in: ebd., S. 359–401. LOYER, François, Le Sacré-Cœur de Montmartre, in: ebd., S. 451–473. LOYRETTE, Henri, La Tour Eiffel, in: ebd., S. 475–503. Dansk identitetshistorie, hrsg. von Ole FELDBÆK, 4 Bde., Kopenhagen 1991–1992; Lieux de mémoire et identités nationales, hrsg. von Pim DEN BOER und Willem FRIJHOFF, Amsterdam 1993; Waar de blanke top der duinen en andere vaderlandse herinneringen, hrsg. von Nicolaas C. F. VAN SAS, Amsterdam 1995; I luoghi della memoria, hrsg. von Mario ISNENGHI, 3 Bde., Rom/Bari 1996–1998; Deutsche Erinnerungsorte, hrsg. von Etienne FRANÇOIS und Hagen SCHULZE, 3 Bde., München 2001; Erinnerungsorte der DDR, hrsg. von Martin SABROW, München 2009; Lieux de mémoire au Luxembourg. Usages du passé et construction nationale/Erinnerungsorte in Luxemburg. Umgang mit der Vergangenheit und Konstruktion der Nation, hrsg. von Sonja KMEC, Benoît MAJERUS, Michel MARGUE und Pit PÉPORTÉ, Luxemburg 2007; Lieux de mémoire au Luxembourg II. Jeux d’échelles/Erinnerungsorte in Luxemburg II. Perspektivenwechsel, hrsg. von Sonja KMEC und Pit PÉPORTÉ, Luxemburg 2012. – Überlegenswert scheint, ob es oben statt „in andere nationale Kontexte“ nicht ebenso gut „in andere staatliche Kontexte“ heißen könnte. Es fällt zudem auf, dass die hier angeführten Publikationen sich mehrheitlich auf Staaten beziehen, die im Laufe der vergleichsweise jungen (nämlich nicht allzu weit ins 19. Jahrhundert zurückreichenden) Geschichte des Begriffs „Nationalstaat“ tendenziell häufig mit diesem belegt worden sind. Den recht selbstverständlichen Zugriff auf das Wort „national“ in der Fachliteratur rund um Erinnerungsorte (die nur selten den umgekehrten Denkansatz reflektiert, wonach das kollektive Besitzen von Erinnerungsorten definitorisch geradezu wesenhaft für eine „Nation“ ist) mag man als symptomatisch für die relative Nähe, die im Französischen (und ähnlich im Englischen) zwischen den Begriffen für „Staat“ und „Nation“ gegeben scheint, deuten. Ein Bemühen, diese Begriffe sauber voneinander zu trennen, bestehe im Deutschen jedenfalls stärker, konstatiert auch ROOBOL, Wim H., Notities over de natiestaat: het woord, het begrip en het ding, in: Theoretische Geschiedenis 25 (1998), S. 370– 381, hier S. 372. Roobols abschließender Empfehlung, den Begriff „Nationalstaat“ und dessen Äquivalente in anderen Sprachen lieber erst gar nicht zu gebrauchen (ebd., S. 378), lässt sich durchaus einiges abgewinnen. Wenn er in unseren Ausführungen sporadisch dennoch vorkommt, so beruht dies auf den soeben genannten Erwägungen und hat nichts mit begrifflicher Beliebigkeit zu tun.

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besonderen wechselseitigen Beziehungen8 sowie darüber hinaus auch auf das gemeinsame Europa.9 Begibt man sich nunmehr an eine Übertragung, bei der Städte die Bezugsgrößen sind, so erhebt sich die Frage, ob die dabei in den Blick geratenden Erinnerungsorte dermaßen klar von der Kategorie des Nationalen abkoppelbar sind, dass tatsächlich von städtischen Erinnerungsorten die Rede sein kann.10 Denn die Art, wie nachfolgend zwei Rigaer Wahrzeichen – das Freiheitsdenkmal und das Schwarzhäupterhaus – fokussiert werden, fordert beinahe zwangsläufig zu dem Einwand heraus, in der entsprechenden Weise definiere sich ihr Erinnerungswert ausschließlich in den Augen eines Letten. Und schon ließe sich fragen: Würde überhaupt jeder heutige Bewohner Rigas sie als „Wahrzeichen“ einstufen? Würde man auf der Basis solcher Überlegungen gegen die Möglichkeit weitgehend anationaler städtischer Erinnerungsorte argumentieren, so bliebe zu bedenken, dass Lettlands Hauptstadt infolge der sie kennzeichnenden Multiethnizität – ob in Form der sehr vielfältigen Bevölkerungszusammensetzung während des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts oder ob in Form des während der Sowjetzeit durch massenhaften Zuzug aus anderen Teilen der UdSSR noch einmal neu entstandenen Nebeneinanders von Letten und Russen – einen Sonderfall darstellt. Die Konsequenz hieraus kann, gewissermaßen im Umkehrschluss, nur lauten, die Möglichkeit substanziell städtischer Erinnerungsorte gerade nicht zu verwerfen, sondern aus dem Gegenbeispiel Riga abzuleiten, dass es sie geben kann, sobald eine Stadt nicht derart multiethnisch strukturiert ist. Mager sähe im Falle Rigas das Ergebnis eines Ausschauens nach „geteilten“ Erinnerungsorten aus, wie Etienne François sie vor einigen Jahren noch einmal in den Mittelpunkt eines Einleitungsaufsatzes zu einem Sammelband gestellt hat.11 Es 8

Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, hrsg. von Hans-Henning HAHN und Robert TRABA, 5 Bde. (1: Geteilt/Gemeinsam, 2: Geteilt/Gemeinsam, 3: Parallelen, 4: Reflexionen, 5: Erinnerung auf Polnisch. Texte zu Theorie und Praxis des sozialen Gedächtnisses), Paderborn 2012–2015. In konzeptioneller Hinsicht für unsere Thematik relevant sind dabei nur die Bde. 1, 2 und 3. 9 Europäische Erinnerungsorte, hrsg. von Pim DEN BOER, Heinz DUCHHARDT, Georg KREIS und Wolfgang SCHMALE, 3 Bde. (1: Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, 2: Das Haus Europa, 3: Europa und die Welt), München 2012. Vgl. darüber hinaus allgemeine Werke zum Konzept „transnationaler“ Erinnerungsorte (ungeachtet des wichtigen Hinweises bei ROBBE, Historische Forschung, S. 174f., dass meist auch etliche der in Sammelbänden über „nationale“ Erinnerungsorte auftauchenden Orte Merkmale des „Transnationalen“ aufweisen) – also etwa: Transnationale Gedächtnisorte in Zentraleuropa, hrsg. von Jacques LE RIDER, Moritz CSÁKY und Monika SOMMER, Innsbruck 2002; Transnationale Erinnerungsorte: Nord- und südeuropäische Perspektiven (The Baltic Sea Region, 10), hrsg. von Bernd HENNINGSEN, Hendriette KLIEMANN-GEISINGER und Stefan TROEBST, Berlin 2009. 10 Dass in den Erinnerungsorten einer Stadt nationale Bezüge geradezu übermächtig sind, dürfte sicherlich eine Seltenheit sein; gleichwohl findet sich auf dem deutschen wissenschaftlichen Buchmarkt eine Publikation, durch die ein entsprechendes Beispiel identifiziert scheint – nämlich: Jena. Ein nationaler Erinnerungsort?, hrsg. von Jürgen JOHN und Justus H. ULBRICHT, Köln/Weimar/Wien 2007. 11 FRANÇOIS, Etienne, Geteilte Erinnerungsorte, europäische Erinnerungsorte, in: Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen 1800 bis 1919/Wizualne konstrukcje historii i pamięci historycznej w Niemczech i w Polsce 1800–1939 (Das Gemeinsame Kulturerbe, 3), hrsg. von Robert BORN, Adam S. LABUDA und Beate STÖRTKUHL,

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geht dabei um Erinnerungsorte, die für verschiedene Nationen mit jeweils unterschiedlichem Symbolgehalt aufgeladen, grundsätzlich jedoch für mehrere Nationen erinnerungsbehaftet sind. Dies lässt sich je nach Einzelfall dahin gehend verstehen, dass Nationen einen Erinnerungsort (miteinander) teilen; ebenso kann allerdings auch gemeint sein, dass dieser zwischen ihnen geteilt ist. Als bedeutendsten geteilten Erinnerungsort im baltischen Raum könnte man die Stadt Vilnius in ihrer Gesamtheit mit ihrem jeweils immensen Stellenwert im litauischen, polnischen und jüdischen historischen Gedächtnis apostrophieren.12 Innerhalb der Stadtlandschaft sticht in Vilnius überdies ein primär zwischen Litauern und Polen geteilter Erinnerungsort hervor, der zugleich ein kirchlich-religiöser ist und den auf dieser Ebene Katholiken sogar mit Orthodoxen und Unierten teilen: Was die Polen dabei als Ostra Brama („Scharfes Tor“) bezeichnen, heißt für die Litauer – möglicherweise als Ergebnis einer lituanisierten Nachahmung des Klangs des Wortes ostra – Aušros vartai („Tor der Morgenröte“). Beide Namen stehen für das im frühen 16. Jahrhundert als Teil der Stadtmauer errichtete Miedniker Tor, an dessen Innenseite später eine Torkapelle für ein seit der Mitte des 17. Jahrhunderts als wundertätig geltendes und in der katholischen Welt vielfach kopiertes Marienbildnis angebracht wurde. Dass diese Wallfahrtsstätte nie sonderlich stark als Sinnbild polnisch-litauischer Gemeinsamkeiten empfunden wurde, dürfte zumindest teilweise mit den recht unterschiedlichen Implikationen der Namen Aušros vartai und Ostra Brama zu tun haben: Ersterer kam nicht ganz zufällig in der Zeit des litauischen nationalen Erwachens um die Wende zum 20. Jahrhundert auf, während bei dem polnischen Namen neben anderen Komponenten, darunter seiner Verewigung in zentralen Werken der polnischen Literatur, auch beispielsweise die Erinnerung an die gegen die deutschen Okkupanten gerichtete „Operation Ostra Brama“ der Armia Krajowa im Juli 1944 mitschwingt.13 Wie schon angedeutet, findet sich beim Blick auf Riga weder für im Sinne des englischen divided noch für im Sinne des englischen shared als „geteilt“ zu bezeichnende Erinnerungsorte irgendein prägnantes Beispiel – es sei denn, man würde Warschau 2006, S. 17–32. Als besonders vielschichtiges Beispiel eines geteilten europäischen Erinnerungsortes gilt dem Autor „Versailles“. 12 Nicht vergessen sei daneben das besondere Prestige dieser Stadt aus belarussischer Sicht, auch wenn laut Volkszählungsergebnis von 1897 nur 4,2 Prozent ihrer damaligen Bewohner Belarussen waren. Vgl. dazu neuerdings TEMPER, Elena, Belarus verbildlichen. Staatssymbolik und Nationsbildung seit 1990 (Visuelle Geschichtskultur, 7), Wien/Köln/Weimar 2012. Zu den prozentualen Anteilen der übrigen Bevölkerungsteile siehe ebd., S. 69. Temper resümiert die Bedeutung, die dem Vilnius des 19. Jahrhunderts als Ort litvinischer Identitätsstiftungsversuche (S. 57f.) sowie früher Strömungen der belarussischen Nationalbewegung zukam, und erinnert an die 1919 formulierte Absicht zur Gründung einer Litauischen und Belarussischen SSR, der Vilnius als Hauptstadt hätte dienen sollen (S. 84). Wichtig erscheinen freilich v.a. die teilweise auch auf Vilnius rekurrierenden geschichtswissenschaftlichen Dispute in Belarus nach 1991 (S. 113f.). 13 Vgl. auch MICKŪNAITĖ, Giedrė: Das Bild der Muttergottes in Wilna, in: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff, hrsg. von Joachim BAHLCKE, Stefan ROHDEWALD und Thomas WÜNSCH, Berlin 2013, S. 377–383.

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davon ausgehen, dass auch eine deutliche Form mentaler Unzugänglichkeit für andere Nationen, die bei einem wichtigen nationalen Erinnerungsort zutage tritt, mit in die Summe der Erinnerungen einfließen mag, die dieser Ort in sich vereinigt: Dem 1935 als Symbol der lettischen Unabhängigkeit eingeweihten Freiheitsdenkmal könnte unter diesem Blickwinkel – passend zu seinem realen Standort innerhalb Rigas – gerade auch in der Gedächtnisstruktur der Stadt ein zentraler Platz zugewiesen werden. Denn wenn es stimmt, dass manche der im Zuge forcierter Zuwanderung während der Sowjetära nach Riga gelangten russischen Arbeiter in der Frauengestalt und den drei Sternen im oberen Teil des Denkmals Russland zu erkennen glaubten, das die drei baltischen Republiken schützend in seinen Händen hält, so spiegelt das Freiheitsdenkmal eben auch wider, wie fremd die verschiedenen Teile der Stadtbevölkerung einander stets waren. Und für russischsprachige Einwohner verbindet sich mit der Fehldeutung von einst indirekt nun einmal die Erinnerung an genau dieses „Einst“ – nämlich an eine Zeit, in der sie oder ihre Vorfahren in Riga leben konnten, ohne mit nationalen Interessen oder Werten der Titularnation jener Sowjetrepublik, in die es sie verschlagen hatte, merklich in Berührung zu kommen. Wollte man weiter nach „geteilten“ oder gar gemeinsamen Erinnerungsorten suchen, so müsste sich der Blick ansonsten wohl von materiellen Zeugnissen der Geschichte abwenden und auf Immaterielles wie beispielsweise die Jahreszahl 1710 richten: Dem Empfinden russischstämmiger Rigenser nach markiert sie den Übergang der Stadt und ihres Umlandes an diejenige Macht, die zur Herrschaft über das Baltikum gleichsam bestimmt schien. Für die nichtrussischen Bevölkerungsteile sind Erwähnungen dieser Jahreszahl weniger emotionsbehaftet, doch bedeutet „1710“ auch für sie retrospektiv den Beginn einer 200-jährigen Periode, in der die Stadt zu keinem Zeitpunkt Kriegsschauplatz war. Unterdessen darf man den von der Sowjetadministration unternommenen Versuch einer Vereinnahmung eines bedeutenden nationalen Denkmals der Letten – des Rigaer Brüderfriedhofs – als misslungen bezeichnen, und das nicht nur, weil die Schädigungen seines ursprünglichen, im Rückblick auf die Jahre 1915–1920 entstandenen Gefüges sich nach 1991 großenteils als reversibel erwiesen. Vollzogen haben diese Schädigungen sich um 1958 sowie während der 1980er Jahre: Dass auf dem Brüderfriedhof einst rote lettische Schützen im Tode vereint neben Letten, die auf der anderen Seite der Front gekämpft hatten, bestattet worden waren, was als ein Vorgang von tiefer Symbolik gelten konnte, hatte Ende der fünfziger Jahre bei den nun Verantwortlichen die Idee reifen lassen, einige hochrangige lettische Rotarmisten umzubetten und diesen Toten hinzuzugesellen. Am Eingangstor der Anlage, wo die Jahreszahlen „1915–1920“ angebracht waren (und heute wieder sind), wurde dazu passend „1920“ gegen „1945“ ausgetauscht. Die Art der ab 1981 getätigten weiteren Eingriffe passte dann nicht einmal mehr zu den Verfremdungspraktiken der 1950er Jahre: Bei denjenigen, die jetzt auf dem Friedhofsareal beigesetzt wurden, handelte es sich um KP-Veteranen und bei den dafür in Anspruch genommenen Flächen um solche, die der räumlichen Konzeption des Brüderfriedhofs nach nie für Gräber vorgesehen gewesen waren. Gegenstand von später rückgängig gemachten Verfremdungen am Eingangstor waren neben den erwähnten

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Jahreszahlen sowie Lettlands Staatswappen, das während der Sowjetzeit selbstverständlich nicht dort prangen konnte, im Übrigen auch zwei Kreuze, mit denen die Schöpfer des Friedhofsensembles betonen wollten, wie sehr zu dessen Gesamtcharakter neben einer staatlich-nationalen auch die sakrale Dimension gehört. Diese glaubte der sowjetische Verwaltungsapparat sodann auf einfachste Weise übertünchen zu können, indem er die beiden Kreuze entfernen ließ. Äußerlich unbeschadet überstand derweil das Freiheitsdenkmal die Sowjetzeit. Und folgt man Nora in seiner Präzision bei der Beschreibung dessen, was einen jeweiligen Erinnerungsort im Einzelnen ausmacht, so mag man sich fragen: Ist wirklich das Freiheitsdenkmal aus sich heraus ein Erinnerungsort oder resultiert der Erinnerungsort von heute nicht vielmehr ganz wesentlich daraus, dass dieses Monument fünf Jahrzehnte Sowjetherrschaft überdauert hat? Letzteres im vorliegenden Fall als das eigentlich Elementare zu begreifen, um das die Erinnerung stets kreist, wäre eine denkbare Annäherung Pierre Noras an diese Stätte. Noras Ansatz fasziniert nun einmal durch die Genauigkeit, mit der analysiert wird, was den entscheidenden Ankerpunkt eines bestimmten Erinnerungsortes bildet – eine berühmte Persönlichkeit oder eher ein mit ihr verbundenes Ereignis beispielsweise. Eine solche Analysegenauigkeit kann hier nun auch in die Unterscheidung zwischen einem Denkmal und dessen Schicksal gelegt werden. Dass die kollektive Erinnerung von Letten sich auf besagtes Schicksal konzentriert, findet seinen Ausdruck unter anderem in der landläufig noch immer kolportierten These, während der Sowjetzeit hätten offizielle Stellen den Beschluss gefasst, das Denkmal zu beseitigen, und eine Ausführung dieses Beschlusses sei allein aus Furcht vor dem absehbaren Massenprotest unterblieben, den ein Abriss ausgelöst hätte.14 Wenden wir uns dem einleitend schon genannten Schwarzhäupterhaus zu und verfolgen auch hierbei die Frage, was genau in Verbindung mit diesem Bauwerk einen Erinnerungsort schafft, so lässt sich zunächst sagen: In den Köpfen derer, die es noch in seinem Originalzustand mit eigenen Augen bewundert hatten, sowie sicher auch vieler, die es erst nach seiner weitgehenden Zerstörung (1941) und der Sprengung seiner Ruine (1948) durch Fotografien kennen lernten, existierte es als Erinnerungsort gerade während jener rund fünf Jahrzehnte, in denen es aus dem Stadtbild verschwunden war, weiter fort. Doch verkörpert heute, nachdem das Schwarzhäupterhaus in den Jahren 1995–1999 originalgetreu wiedererstanden ist, das rekonstruierte Gebäude als solches einen Rigaer Erinnerungsort?

14 Faktisch lässt sich das Überdauern des Denkmals dagegen eher damit erklären, dass der verantwortliche Bildhauer Kārlis Zāle (1888–1942) sowie der beteiligte Architekt Ernests Štālbergs (1883–1958) auch an jeweils von Vertretern der Sowjetmacht initiierten Denkmal-Projektierungen mitgewirkt haben – Zāle um 1919, Štālbergs um 1950. In Fachkreisen kursiert außerdem noch immer die nicht beweisbare, aber plausible Annahme, die Verschonung des Denkmals sei v.a. der in Riga geborenen sowjetischen Bildhauerin Vera Ignat’evna Muchina (1889–1953) zu verdanken, die ihm einen überaus hohen künstlerischen Wert attestiert habe; vgl. APSĪTIS, Vaidelotis, Brīvības piemineklis, Riga 1993, S. 12.

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Kern eines Erinnerungsortes im Sinne Noras könnte schon bald weniger das Haus selbst als vielmehr der Akt seiner Wiedererrichtung sein.15 Hierauf (wie auch auf die vorangehend angesprochene Erinnerungsort-Qualität des Schwarzhäupterhauses speziell während der Zeit seiner physischen Nichtexistenz) ließe sich dann recht treffend eine Aussage aus dem Aufsatz „Entre Histoire et Mémoire“ anwenden, den Nora seinen Lieux de mémoire vorangestellt hat: „Il y a des lieux de mémoire parce qu’il n’y a plus de milieux de mémoire“.16 Dass ein milieu de mémoire bald nicht mehr vorhanden sein wird und an dessen Stelle ein lieu de mémoire tritt, könnte sich bezüglich der Rekonstruktion des Schwarzhäupterhauses insofern bewahrheiten, als den meisten derer, die es sich zu einer Lebensaufgabe gemacht hatten, diese Rekonstruktion in die Tat umzusetzen, erst in vergleichsweise hohem Alter vergönnt war, sich am Ziel zu sehen. Die Erinnerung an den Wiederaufbau des Schwarzhäupterhauses wird daher in nicht allzu ferner Zeit nur noch eine Erinnerung in den Reihen der nachwachsenden Generationen sein und sich nicht mehr durch diejenigen, die ihn betrieben haben, vermitteln. Oder mit anderen Worten: Jene einstigen Wiederaufbau-Verfechter werden kein milieu de mémoire mehr formieren können. Eine auf Riga bezogene Suche nach Erinnerungsorten, die noch etwas eindeutiger als der Brüderfriedhof dem kirchlich-religiösen Bereich zuzuordnen sind, führt unterdessen zu Beispielen für die kurzzeitige oder dauerhafte Verdrängung einer Kirchengemeinde aus ihrem angestammten Gottesdienstraum. Statt auf den weitaus bekannteren „Domstreit“ der frühen 1930er Jahre17 und dessen Rang als deutschbaltischer Erinnerungsort sei hier vor allem auf einen möglichen Erinnerungsort in den Reihen gläubiger Rigaer Russen verwiesen, nämlich die im Januar 1918, rund vier Monate nach der Einnahme Rigas durch deutsche Truppen während des Ersten Weltkriegs, erzwungene Räumung der orthodoxen Christi-Geburt-Kathedrale und deren anschließende Aushändigung an eine protestantische GarnisonGemeinde.18 Bis in den April hinein unternommene Versuche der betroffenen orthodoxen Gemeinde, eine Aufhebung dieser Enteignung zu erreichen, darunter eine 15 Vgl. hierzu FÜLBERTH, Andreas, Rigas 800-Jahr-Feier als Schlüssel zu Gedächtnisorten von Stadt und Nation, in: Gedächtnisorte in Osteuropa. Vergangenheiten auf dem Prüfstand, hrsg. von Rudolf JAWORSKI, Jan KUSBER und Ludwig STEINDORFF (Kieler Werkstücke, Reihe F: Beiträge zur osteuropäischen Geschichte, 6), Frankfurt a.M. u.a. 2003, S. 49–62, hier S. 51f. 16 NORA, Pierre, Entre Mémoire et Histoire. La problématique des lieux, in: Les lieux de mémoire, Bd. 1, S. XV–XLII, hier S. XVII. – In anderen Sammelbänden trifft man mittlerweile auf Übersetzungen dieses Textes; vgl. etwa NORA, Pierre, Između Pamćenja i Historije. Problematika mjestâ, in: Kultura pamćenja i historija, hrsg. von Maja BRKLJAČIĆ und Sandra PRLENDA, Zagreb 2006, S. 21–44. 17 Der auf politischen Druck hin erfolgte Auszug der deutschen Domgemeinde aus ihrem Gotteshaus erregte damals so viel Aufsehen, dass er über Lettlands Grenzen hinaus Rechtswissenschaftler beschäftigte; einer der Belege hierfür ist die bis heute einschlägige Studie von TATARIN-TARNHEYDEN, Edgar, Die Enteignung des deutschen Doms zu Riga im Lichte des modernen Staats-, Verwaltungs- und Völkerrechts unter Berücksichtigung der kirchlichen Grundlagen, Breslau 1932. 18 Vgl. HATLIE, Mark R., Riga at War, 1914–1919. War and Wartime Experience in a Multiethnic Metropolis (Studien zur Ostmitteleuropaforschung, 30), Marburg 2014, S. 304f.

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Petition an Kaiser Wilhelm II., halfen seinerzeit nichts; erst unmittelbar vor der bolschewistischen Machtübernahme am 3. Januar 1919, deren Träger sich bis zum 22. Mai 1919 in Riga behaupten konnten, verschafften die orthodoxen Gläubigen sich die Verfügungsgewalt über ihr im Inneren zwischenzeitlich stark verändertes Gotteshaus zurück. Die Wiederanpassung des Innenraums an ihre Bedürfnisse zog sich danach bis zum Palmsonntag hin. Die ab diesem Zeitpunkt wieder möglich gewesenen sakralen Handlungen in dem Gebäude wurden von den Bolschewisten nicht unterbunden; allerdings machte das Regime, wenn es Örtlichkeiten für politische Versammlungen benötigte, von orthodoxen Rigaer Kirchenbauten wie der Christi-Geburt-Kathedrale ebenso hemmungslos Gebrauch wie von den Kirchen der Lutheraner.19 – Was die Kathedrale anbetrifft, bleibt noch daran zu erinnern, dass das hier geschilderte Intermezzo rückblickend nur wie ein Vorspiel zu dem anmutet, was unter sowjetischer Herrschaft um 1963 mit ihr geschah: Auf die damalige Nutzung ihrer Kuppel als Planetarium und ihre Profanierung zu einem „Haus des Wissens“ sei an dieser Stelle indes nicht mit gleicher Ausführlichkeit eingegangen, da hiervon in aller Regel selbst Tagestouristen während einer Stadtrundfahrt berichtet wird. Beim Blick in die Stadtgeschichte Tartus, der zweiten hier zu betrachtenden Stadt, scheint nicht immer ähnlich viel Akribie erforderlich, um jeweilige „Kristallisationskerne“20 der diversen Erinnerungsorte herauszufiltern. Eher zeichnet Tartu sich dadurch aus, dass es insbesondere immaterielle Erinnerungsorte in einer enormen Vielgestaltigkeit zu besitzen scheint. Auch bei dieser Stadt gibt es außerdem das eine oder andere verlorene Baudenkmal, das während der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ähnlich wie in Riga das Schwarzhäupterhaus seinen festen Platz im Gedächtnis eines Teils der örtlichen Bevölkerung hatte: Zu denken wäre an die im Zweiten Weltkrieg zerstörte Steinbrücke über den Embach (estn. Emajõgi), die Katharina II. der Stadt geschenkt hatte, mindestens ebenso sehr aber auch an Schloss Ratshof (estn. Raadi) – das einstige Herrenhaus der Familie von Liphart, das ab der zweiten Hälfte der 1920er Jahre vom Estnischen Volksmuseum genutzt worden war.21 Im Falle von Ratshof trug zu einer besonderen Erinnerungsintensität noch der Umstand bei, dass das Gelände, auf dem das Gebäude gestanden hatte, später militärisches Sperrgebiet war und erst nach Ende der Sowjetzeit überhaupt wieder 19 Ebd., S. 305. 20 Ein bei Nora und denen, die seinen Ansatz aufgriffen, sehr gebräuchlicher Terminus; verwendet wird er etwa auch bei FRANÇOIS, Geteilte Erinnerungsorte, S. 19. 21 Vgl. zu Ratshof nach wie vor die kleine Studie von THOMSON, Erik, Schloß Ratshof in Estland. Vom Musenhof zum Nationalmuseum (Schriftenreihe Nordost-Archiv, 26). Lüneburg 1985. Einen Überblick zur institutionellen Entwicklung jenes Museums bis in die Gegenwart sowie zu seiner kulturgeschichtlichen und geschichtspolitischen Bedeutung bietet KUUTMA, Kristin, National Museums in Estonia, in: Building National Museums in Europe 1750–2010. Conference Proceedings from EuNaMus, European National Museums: Identity Politics, the Uses of the Past and the European Citizen, Bologna 28–30 April 2011 (EuNaMus Report, 1), hrsg. von Peter ARONSSON und Gabriella ELGENIUS, Linköping 2011, S. 231–259, hier S. 242– 247, URL: http://www.ep.liu.se/ecp_home/index.en.aspx?issue=064 (Zugriff 01.02.2016).

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von jedermann betreten werden konnte. Gedanken an einen eventuellen Wiederaufbau ergaben sich hier sehr stark in den Jahren vor der politischen Wende von 1991.22 Nach der Wende ebbte das Wiederaufbau-Interesse in Bezug auf Ratshof allmählich ab, während es sich in Bezug auf die Steinbrücke anfangs zu steigern schien; allerdings standen hinter den Überlegungen zur Steinbrücke nicht vorrangig örtliche Initiatoren, sondern in erster Linie deutschbaltische Kreise, die zugleich Bereitschaft bekundeten, Mittel zur Finanzierung zu mobilisieren. Dass dieser Vorstoß nicht einhellig begrüßt wurde, durfte schon deswegen kaum überraschen, weil die moderne, nicht sonderlich zum Stadtbild passende, jedoch voll funktionstüchtige Brücke, die den ungleich prächtigeren Brückenbau aus dem 18. Jahrhundert inzwischen ersetzt, zunächst einmal hätte geopfert werden müssen. Hinzu kam, dass ein solcher Schritt als obrigkeitliche Maßnahme zur Ausmerzung eines gefährlichen studentischen Rituals hätte missverstanden werden können; längst zählt nämlich zu den beliebtesten Mutproben in Tartuer Studentenkreisen eine nächtliche Besteigung der Betonbögen, von denen die heutige Brücke flankiert wird. Tartus Bevölkerung scheint derweil geneigt, auch dies bereits als eine Art Tradition zu akzeptieren. Erwähnt sei schließlich noch die beachtliche Aufwertung, die dem Begriff „Steinbrücke“ widerfuhr, als 1998 unter diesem Titel der erste – und bisher einzige – Band einer „estnischen historischen Zeitschrift“ erschien, mit der estnischen Historikern ein Forum zur Veröffentlichung deutschsprachiger wissenschaftlicher Beiträge geboten werden sollte. Ein ehrgeiziges Wiederaufbauvorhaben, das auch realisiert wurde, hat Tartu unterdessen nur in Gestalt der 2005 zu einem vorläufigen Abschluss gebrachten Instandsetzung der im Zweiten Weltkrieg ausgebrannten backsteinernen Johanniskirche vorzuweisen. Bis 1996 beeinflusste diese das Stadtbild dadurch, dass auf ihrem Turm der Helm fehlte, auf eine eher bescheidene, wenn nicht sogar bedrückende Weise. Nachdem in den polnisch-schwedischen Kriegen des 17. Jahrhunderts bereits die mittelalterliche Domkirche dauerhaft zur Ruine geworden war, ganz zu schweigen vom ähnlich ruinösen Zustand der mittelalterlichen Marienkirche während des 18. Jahrhunderts, an deren Stelle ab 1803 das Hauptgebäude der Universität trat, konnte sich spätestens in der Sowjetzeit mithin der Eindruck verfestigen, Tartu sei eine Stadt der Kirchenruinen. Auch hierin mag in gewisser Weise Erinnerungspotenzial liegen, zumal da die Stadt am Embach sich mit einem solchen Etikett fast noch glücklich hätte schätzen müssen: Immerhin waren die Gegebenheiten hier anders gelagert als etwa im litauischen Klaipėda beziehungsweise früheren Memel, wo die Ruinen der Altstadtkirchen wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs komplett eliminiert worden waren. Tartus Johanniskirche blieb ein identisches Schicksal um 1953 nur knapp erspart.23 22 KUUTMA, National Museums, S. 245. 23 Repräsentiert also in Tartu das gut 50-jährige Ruinendasein eines zweiten bedeutenden Kirchenbauwerks zusätzlich zum Dom so etwas wie einen Erinnerungsort, so findet dieser in Klaipėda seine Entsprechung in dem bis heute nicht durch adäquate Neubauten kompensierten Verlust der einstigen Stadtsilhouette, dessen Ausheilung nach dem Wunsch vieler örtlicher Litauer in absehbarer Zeit durch eine Wiedererrichtung auch der dortigen (ebenfalls lutherischen)

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Unter den rein abstrakten Erinnerungsorten einer Stadt befinden sich oftmals, so darf man annehmen, einer oder gar mehrere, die mit deren Ursprüngen zu tun haben. Tartu kann in diesem Zusammenhang die Eigenschaft, älteste Stadt des Landes zu sein, für sich reklamieren, die sich an seiner in das Jahr 1030 weisenden Ersterwähnung in altrussischen Chroniken festmachen lässt. Ob der damalige Eroberungszug des Kiever Großfürsten Jaroslav Mudryj oder vielleicht doch eher die mit dem Vordringen der Deutschen verbundene Ereigniskette um das Jahr 1224, die die Gründung des Bistums Dorpat mit einschloss, gedächtniswirksam erscheint, wird sich in absehbarer Zeit zunehmend klarer zeigen, je näher die Jubiläen rücken, die aus den beiden genannten Anlässen begangen werden können. Für große Feierlichkeiten mag ein 1000-jähriges Jubiläum zunächst einmal prädestinierter sein als ein 800-jähriges, wobei allerdings nicht übersehen werden darf, dass es der Name „Jur’ev“ war, unter dem das nachmalige Dorpat in den russischen Chroniktexten auftaucht – und somit genau jener Stadtname, welcher 1893 auf dem Höhepunkt einer planmäßigen Russifizierungswelle in den bis dahin überwiegend deutsch geprägten und verwalteten russischen Ostseeprovinzen seine Wiederbelebung erfuhr. Da das damalige Dorpat nahezu die einzige große baltische Stadt war, die im Zeichen jener Russifizierungspolitik im späten 19. Jahrhundert, die sich ansonsten hauptsächlich im Schul- und Hochschulwesen auswirkte, eine Änderung ihres offiziellen Namens hinnehmen musste,24 steht der Name „Jurʼev“ insofern auch stellvertretend für die Russifizierung als Erfahrung im Gedächtnis der verschiedenen Nationalitäten des Baltikums. Im Sinne eines Erinnerungsortes hat er sich daher in die Wahrnehmung der Landesgeschichte durch Deutschbalten und in etwas schwächerem Maße auch durch Esten eingebrannt, so dass von einem primär stadtgeschichtsspezifischen Erinnerungsort kurioserweise nicht mehr die Rede sein kann – wenngleich die Aussage, dass außer den Bewohnern und den Bauten nichts so grundlegend zu einer Stadt gehört wie deren Name beziehungsweise Namen, wohl auch im Falle Tartus Gültigkeit beanspruchen darf. Neben dem zwiespältigen Parallelnamen „Jur’ev“ haben sich im Zusammenhang mit Dorpat beziehungsweise Tartu bereits bloße Begriffe zu Erinnerungsorten entwickelt. Dies trifft in gewissem Maße für den Beinamen „Embach-Athen“ zu, mit dem die Stadt im 19. Jahrhundert (offenkundig in Anlehnung an die 1706 erstmals vorgekommene Glorifizierung Berlins als „Spree-Athen“ und ihre spätere Übertragung auf andere deutsche Städte25) gerühmt wurde und zu dem gegen Ende Johanniskirche sowie möglichst sogar der schon im 18. und 19. Jahrhundert Stück für Stück abgetragenen Memelburg des Deutschen Ordens gelingen soll. 24 Zu erwähnen ist daneben das frühere Dünaburg bzw. heutige Daugavpils, das während der Jahre 1893–1920 offiziell „Dvinsk“ hieß, was allerdings eine bloße Slawisierung des Stadtnamens ohne merkliche Veränderung seines Bedeutungsgehalts darstellte und deshalb nicht als so einschneidend wahrgenommen wurde wie die Umbenennung Dorpats. Brisanter wäre im Falle Dünaburgs eine Reaktivierung des Namens „Borisoglebsk“ gewesen, den die Stadt von 1656 an elf Jahre lang getragen hatte. 25 Mag der Beiname „Isar-Athen“ für München noch einigermaßen geläufig sein, so enthält die Aufzählung bei KRIEGK, Georg Ludwig, Schriften zur allgemeinen Erdkunde, Leipzig 1840, S. 118, auch „Ilm-Athen“ für Weimar, „Pleisse-Athen“ (sic) für Leipzig und „Leine-Athen“ für

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des Jahrhunderts oft und gern gegriffen wurde, um den Gebrauch von „Jur’ev“ zu umgehen. Ganz besonders gilt diese Feststellung jedoch in Bezug auf den viel zitierten „Dorpater Geist“ oder, estnisch gesprochen, „Tartu vaim“. Der Umstand des Wiederauflebens dieses Begriffs in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts, als Jaan Tõnisson in der Universitätsstadt lebte und Opposition gegenüber dem autoritären Regime von Konstantin Päts, soweit es sie geben konnte, vornehmlich durch Tõnisson artikuliert wurde, zeigt an, dass schon damals der mit Liberalität im weitesten Sinne konnotierte „Dorpater Geist“ des vorangegangenen Jahrhunderts Wesenszüge eines Erinnerungsortes angenommen hatte. Schriebe man nunmehr aus heutiger Perspektive einen Text im Stile der Lieux de mémoire zu dem Thema „Dorpater Geist“, so wäre darin ebenso sehr die angedeutete Erweiterung, die dieser Erinnerungsort in den 1930er Jahren erfahren hat, von Interesse und längst nicht mehr nur auf seine Ursprünge im 19. Jahrhundert einzugehen. Ein konkreter Einzelbeitrag zu Pierre Noras Lieux de mémoire führt auf die Spur eines Tartuer Erinnerungsortes der noch jüngeren Vergangenheit. Die Thematik jenes Beitrags – der Gegensatz Paris-Provinz – mutet zunächst eigentümlich an, zumal schon Paris für sich allein eigenständig in Noras Werk abgehandelt ist.26 Dass dem Verhältnis zwischen einer Stadt und ihrem Umland oder zwischen einer Stadt und der übrigen Welt jedoch in der Tat Besonderheiten anhaften können, die es rechtfertigen, von diesem Verhältnis als einem Erinnerungsort zu sprechen, zeigt sich am Beispiel Tartus in der negativsten aller nur möglichen Spielarten: „Isolation während der Sowjetzeit“ – so könnte die Überschrift zu einem potenziellen LieuxText lauten, welcher die mit der Nähe militärischer Objekte27 begründeten Einschränkungen während der sowjetischen Okkupation thematisieren sowie die Auswirkungen, die diese Situation für die Stadtbevölkerung respektive aus der Sicht der Universität hatte, nachzeichnen würde. Drei andere Tartuer beziehungsweise Dorpater Erinnerungsorte, die drei verschiedenen Jahrhunderten zuzuordnen sind, belegen im Nachfolgenden, dass eine wesentliche Feststellung bezüglich nationaler beziehungsweise nationalstaatsgebundener Erinnerungsorte analog ebenso im Hinblick auf städtische Erinnerungsorte getroffen werden kann: Auch in stadtgeschichtlichen Erinnerungskulturen lässt sich beobachten, dass identische Phänomene keineswegs an jedem Ort, an dem es sie gibt, gleichermaßen zu Erinnerungsorten werden. Ein herausstechendes Beispiel hierfür ist mit Blick auf Dorpat/Tartu das Korporationswesen. Im Falle Dorpats hätte man es ganz sicher als einen Erinnerungsort zu klassifizieren, für manch andere Universitätsstadt hingegen kaum – obwohl es andernorts ähnlich stark (oder Göttingen. Vgl. SCHÖFFLER, Herbert, Kleine Geographie des deutschen Witzes. Mit einem Nachwort hrsg. von Helmuth PLESSNER, 10. Aufl., Göttingen 1995, S. 91, wo „Embach-Athen“ und das von Schöffler ebenfalls bezeugte „baltische Jena“ in eine Reihe gestellt und beide als „halbironische Namen“ bewertet werden. 26 CORBIN, Alain, Paris-province, in: Les lieux de mémoire, Bd. 3 (1. Teilband), Paris 1992, S. 777–823; vgl. darüber hinaus AGULHON, Maurice, Le centre et la périphérie, in: ebd., S. 825– 849. Zu dem Beitrag über Paris allein vgl. oben Anm. 3. 27 Gemeint ist damit insbes. das Flugfeld, das den ehemaligen Grund und Boden des Gutes Ratshof einnahm.

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eben sogar noch stärker) ausgeprägt gewesen sein mag. Ebenfalls in von Ort zu Ort sehr unterschiedlichem Grad können zu dem, was sich im stadtgeschichtsbezogenen Gedächtnis festsetzt, Brandkatastrophen gehören, denen zum betreffenden Zeitpunkt große Teile der Bausubstanz zum Opfer fielen. Bei Dorpat/Tartu hätte man in dieser Hinsicht an das 18. Jahrhundert, in dessen Verlauf die Stadt mehrfach von Bränden heimgesucht wurde, zu denken und hier insbesondere an den folgenreichen Brand von 1775. Mit ihm assoziiert man gemeinhin den Eindruck einer relativen Einheitlichkeit in Tartus Bebauungsbild, den der frühklassizistische Wiederaufbau der Viertel um den Rathausplatz hat entstehen lassen. Wenn die Jahreszahl 1775 oder das, wofür sie steht, einen Erinnerungsort konstituiert, so konnte dieser sich indes erst im Gefolge des Jahres 1944 in vollem Umfang manifestieren. Denn die Zerstörungen gegen Ende des Zweiten Weltkriegs waren es, die das Stadtzentrum seiner vorherigen baulich-stilistischen Homogenität teilweise wieder beraubten – einer Homogenität übrigens, deren Ausmaß im Nachhinein mitunter überschätzt beziehungsweise verklärend überzeichnet worden sein dürfte. Letzteres wäre im Kontext von Erinnerungsorten eine alles andere als untypische Erscheinung: Vielfach erweisen diese sich geradezu als anfällig, mit irrtümlichen Übertreibungen verknüpft zu werden.28 Zur Vorkriegsbebauung Tartus bliebe zu sagen, dass sie jenseits der in rechtwinklige Häuserviertel unterteilten Innenstadt rasch von Stein- in Holzbauweise überging, wovon einzelne erhaltene Teilareale noch heute zeugen, und dass somit eben nur bestimmte Straßen stilhomogen gewirkt haben können. Allerdings wurde im Zweiten Weltkrieg gerade von den steinernen Straßenzügen aus den Jahren nach 1775 ein Großteil ausgelöscht. Die Schaffung einer Grünanlage im Bereich eines Drittels der vormaligen Innenstadt hat diesen Verlust im weiteren Verlauf augenfällig gemacht; und so wurden spätestens durch den Verzicht auf einen neuerlichen Wiederaufbau jenes südöstlichen Innenstadt-Drittels bewusstere Blicke auf die noch erhaltenen Teile der Bausubstanz gelenkt – mit dem Effekt, dass eine ungefähre Datierung des verheerendsten Stadtbrandes, der sich vor dem 20. Jahrhundert ereignet hat, in Tartu mehr Bürgern spontan möglich sein dürfte als in vielen anderen Städten.29 Als etwas, dem gewiss nicht für jede Stadt, die es betrifft, Erinnerungsort-Charakter zukommt, in Tartu jedoch sehr wohl, kann ferner die stetige Frage, ob es sich 28 Längst ihrerseits zu einem französischen Erinnerungsort geworden, haben die Lieux de mémoire sogar schon selbst die eine oder andere zählebige Fehlannahme gezeitigt. So sah Etienne François sich in einer Anmerkung zum Vorwort eines Bandes, der eine Auswahl deutscher Übersetzungen von Aufsätzen über Erinnerungsorte Frankreichs versammelt, zu der Richtigstellung veranlasst, es seien seinerzeit nicht, wie von Christoph Cornelißen 2003 behauptet, eine Million, sondern etwa 100.000 Exemplare der Originalfassung von Noras Werk verkauft worden. Vgl. FRANÇOIS, Etienne, Pierre Nora und die „Lieux de mémoire“, in: Erinnerungsorte Frankreichs, hrsg. von Pierre NORA, München 2005, S. 7–14; NORA, Pierre, Das Zeitalter des Gedenkens, in: ebd., S. 543–679, hier S. 579, Anm. 6, sowie CORNELIßEN, Christoph, Was heißt Erinnerungskultur? Begriff – Methoden – Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 54 (2003), S. 548–563, hier S. 552, Anm. 31. 29 Dass in der Historiografie rund um Erinnerungsorte die Neigung besteht, Befragungsergebnissen ein erhebliches Gewicht beizumessen, bestätigt sich nicht zuletzt bei FRANÇOIS, Geteilte Erinnerungsorte, S. 25–29.

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bei Estlands zweitgrößter Stadt wirklich – wie nicht zuletzt im Titel des vorliegenden Beitrags postuliert – um eine „Großstadt“ handelt, angesehen werden: Spätestens ein beliebter Denkstein mit einer Kleinkind-Figur hat den Anlass seiner Entstehung – die Überschreitung der 100.000-Einwohner-Marke im Jahre 1977 – fest im Bewusstsein der Einwohner verankert. Die Aufzählung möglicher Erinnerungsorte Tartus ließe sich vielleicht noch fortsetzen; doch schon die bis hierhin genannten genügen, um zu zeigen, dass sich für viele der Gedanken Noras durchaus auch ein kleinräumiger Anwendungsrahmen vom Maßstab einer Stadt als tragfähig erweist. Oder um es markanter auszudrücken: Auch Stadtgeschichte verdichtet sich in Erinnerungsorten. – Was eingangs mit Bezug auf die Schwierigkeit in Riga, städtische von nationaler Erinnerung zu trennen, vermutet wurde, scheint sich nach den Blicken auf Tartu zu bestätigen: Obwohl ebenfalls gemischtnational, lässt eine Bevölkerungszusammensetzung wie die dortige eine Herausbildung von stark an die Stadt gebundenen Erinnerungsorten bereits zu. Das Lebendigbleiben dieser Erinnerungsorte in Tartu begünstigt der Umstand, dass seit jeher die Universität viele spätere Einwohner anzog: Als Umfeld, in dem Erinnerung – auch solche, die sich nicht an das Studentendasein knüpft – tradiert wurde und wird, spielt die Universität zweifelsohne eine Rolle. Umso komplizierter wäre es, ausgerechnet am Beispiel Tartus ergründen zu wollen, welchen Ausmaßes an Bevölkerungskontinuität es in einer Stadt bedarf, damit deren Erinnerungsorte sich, jedenfalls in ihrer großen Mehrzahl, fortdauernd weitervererben können. Dass Tartu für das 20. Jahrhundert eine im innerbaltischen Vergleich kaum überdurchschnittliche Bevölkerungskontinuität verzeichnet, eröffnet einigen künftigen Spielraum für das Entstehen neuer und das Erstarken bisher nachrangiger Erinnerungsorte. Derartiges mag sich – je nachdem, wie geschichtsbewusst heutige russischstämmige Bewohner Anteil an dem schon erwähnten Jubiläum nehmen werden, auf das Tartu zusteuert – etwa bezüglich der Person des Kiever Großfürsten Jaroslav vollziehen; denn erinnert man an die früheste Erwähnung des Stadtnamens „Jur’ev“, so erinnert man an einen Eroberungszug Jaroslavs. Genau dies wiederum hätte Tartus estnische Stadtväter dazu verleiten können, das 21. Jahrhundert ohne eine allzu ambitioniert geplante Tausendjahrfeier verstreichen zu lassen – gleichsam aus Mangel an Interesse, einen so unmittelbar mit der russischen Minderheit geteilten Erinnerungsort zu besitzen. Andererseits dürfte allerdings schon die Art, wie 1980 das 950. Jubiläum der Ersterwähnung inszeniert wurde,30 dazu angetan sein, Gegenimpulse freizusetzen, so dass für 2030 wohl doch mit einer recht aufwendigen Feier zu rechnen ist.31 30 U.a. erschien seinerzeit ein in seiner Charakterisierung der Beziehungen zu Russland tendenziöses Buch über Tartus Stadtgeschichte, das wenig später auch auf Russisch veröffentlicht wurde: Tartu ajalugu, hrsg. von Raimo PULLAT, Tallinn 1980. Vgl. hierzu PIIRIMÄE, Helmut, Wechselvolle Zeiten. Die Entwicklung Dorpats zu einem Zentrum von Wissenschaft und Kultur, in: Zur Geschichte der Deutschen in Dorpat, hrsg. von Helmut PIIRIMÄE und Claus SOMMERHAGE, Tartu 1998, S. 5–37, hier S. 7f. 31 Ein für seine visionären Einfälle bekannter örtlicher Unternehmer lancierte Anfang 2015 sogar den Vorschlag, rechtzeitig zum Stadtjubiläum (ungeachtet der auf Herbst 2016 terminierten

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Dringt damit das nationale Moment auch in das Netz der Erinnerungsorte Tartus? Dass diese mehrheitlich mit Fug und Recht als städtisch beziehungsweise stadtbezogen charakterisiert werden können, verdankt sich jedenfalls noch einem anderen – hier bis jetzt vernachlässigten – Faktor, der im Vorangehenden sogar bei Riga sekundär erscheinen durfte, Riga jedoch umso mehr zu einem gegenläufigen Fallbeispiel macht: Tartu stellt für das Experiment, die Lehren Noras an einer Stadt zu erproben, eben auch deshalb ein so glücklich gewähltes Beispiel dar, weil es nicht die Rolle einer Hauptstadt ausfüllen muss. Dass es sich immerhin in einer Hauptstadtrolle im geistigen Sinne sehen kann, verleiht Tartu als Beispielstadt höchstens zusätzlichen Reiz und vielleicht sogar in mancher Hinsicht Singularität. Die meisten Erinnerungsorte der Hauptstadt eines Staates können sich dagegen einer eher nationalen Einordnung kaum entziehen, und zwar mutmaßlich umso weniger, je länger die betreffende Stadt im Verlaufe ihrer Geschichte Hauptstadt gewesen ist und je mehr sie äußerlich dieser Funktion angepasst wurde.32 Einen immateriellen Erinnerungsort, bei dem eindeutig die nationalgeschichtliche Relevanz im Vordergrund steht und die mögliche stadtgeschichtliche Relevanz überstrahlt, gibt es in der Historie Tartus in Form des ersten gesamtestnischen Sängerfestes, welches 1869 vor den Toren der Stadt stattfand. In die Geschichte Estlands und der estnischen Nation fügt sich dieses Ereignis als Ausgangspunkt einer bis in die Gegenwart lebendigen Sängerfest-Tradition sowie zugleich als einer der einprägsamsten Schlüsselmomente im Rahmen des nationalen Erwachens der Esten ein. Bündelt man unter dem Terminus „Erinnerungsorte“ eine solche Vielfalt von Dingen, wie Etienne François und Hagen Schulze dies in ihrem Werk „Deutsche Erinnerungsorte“ getan haben, so wäre in einer analogen Publikation über Estlands zweitgrößte Stadt eines Tages auch der Slogan „Stadt der guten Gedanken“ (city of good thoughts), mit dem Tartu sich seit Anfang des 21. Jahrhunderts vermarktet, durch einen Beitrag zu würdigen. Mit dem Schlagwort „Gedanken“ wäre dann ferner die Frage aufgeworfen, inwieweit auch Geistesgrößen, die in Tartu gewirkt haben, zu Erinnerungsorten stilisiert werden können. Anstatt jedoch dieser Überlegung etwa mit Blick auf den für die bauliche Gestalt der Universität verantwortlichen Architekten Johann Wilhelm Krause (1757–1828) oder den Naturforscher und Embryologen Karl Ernst von Baer (1792–1876) oder gar den Literaturwissenschaftler und Semiotiker Jurij Michajlovič Lotman (1922–1993) nachzugehen, soll hier abschließend ein anderer Akzent gesetzt werden: Lohnender erscheint eine kurze Bilanz im Hinblick auf Erinnerungsorte, die als kirchlich-religiös zu kategorisieren sind.

Einweihung eines Neubaus für das Volksmuseum) doch einen Wiederaufbau von Schloss Ratshof zu verwirklichen – vgl. dazu den in der Art eines Leserbriefs angelegten Artikel „Vambola Tiik: taastame Raadi mõisa peahoone“, URL: http://www.tartu.postimees.ee/3073489/ vambola-tiik-taastame-raadi-moisa-peahoone (Zugriff 05.02.2016). 32 Abstufungen dieser Art legt beispielsweise ein Vergleich Tallinns mit Helsinki nahe. Als interessante Vergleichsobjekte haben daneben allerdings auch St. Petersburg und Krakau zu gelten, deren einstmalige Hauptstadtfunktionen in hohem Maße erinnerungswirksam geblieben sind.

Nationale, städtische und kirchlich-religiöse Erinnerungsorte

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Dass derartige Erinnerungsorte im Spektrum der Erinnerungsorte Rigas und Tartus nicht gerade zahlreich hervortreten, könnte man ganz grundsätzlich der Tatsache zuschreiben, dass beide Städte inmitten einer protestantisch geprägten Region liegen. Man ließe sich damit auf die Prämisse ein, dass kirchlich-religiöse Erinnerungsorte in historisch überwiegend protestantischen Gegenden prinzipiell rarer sind als dort, wo Katholizismus oder Orthodoxie prägend waren, und könnte in einem nächsten Schritt feststellen: Nicht einmal die für protestantische Landstriche anzunehmende Häufung von Erinnerungsorten mit Bezügen zum Reformationszeitalter kommt bei den Beispielstädten Riga und Tartu erkennbar zum Tragen. Erinnerung bindet sich hier eher noch an das, was die vorreformatorische Kirchengeschichte ausmacht, also an das mittelalterliche Erzbistum beziehungsweise Bistum, dessen wenige Jahrzehnte nach der Reformation besiegelter Untergang in Tartu besonders eindringlich durch die Dom-Ruine versinnbildlicht wird. – Über immaterielle Erinnerungsorte, die jeweils an einem konkreten Kirchengebäude haften, verfügt in ähnlicher Weise auch Riga, wie unsere Ausführungen verdeutlicht haben, nur mit dem Unterschied, dass es dort um vergleichsweise kurze Kapitel der Geschichte dieser Gebäude geht. Bei dem erwähnten Streit um die lutherische Domkirche 1931 sowie der Enteignung der orthodoxen Christi-Geburt-Kathedrale 1918 kommt ferner hinzu, dass diese Erinnerungsorte jeweils nur einer der verschiedenen Nationalitäten in Rigas Stadtbevölkerung vollauf vertraut sind oder waren. Der als eklatantes Beispiel für Zweckentfremdungen während der Sowjetära geltende Umgang mit der Christi-Geburt-Kathedrale ab 1963 mag demgegenüber durchaus ein nationalitätenübergreifender Erinnerungsort sein, da für praktisch jeden, der seit der Sowjetzeit oder noch länger in Riga wohnhaft ist, beim Stichwort „Zweckentfremdung“ nach wie vor der Gedanke an diesen Kirchenbau nahe liegt. Bezieht man in die Sphäre des Kirchlich-Religiösen daneben auch den oben kurz angesprochenen Verfall und späteren Wiederaufbau der Tartuer Johanniskirche, den frühzeitigen Niedergang und Abriss der dortigen Marienkirche sowie den hier etwas ausführlicher behandelten Missbrauch des Rigaer Brüderfriedhofs durch die sowjetische Besatzungsmacht mit ein, so ergibt sich als abschließender Befund, dass dieser Sphäre zugehörige Erinnerungsorte in Riga und Tartu zwar nicht in großer Zahl, immerhin aber in bemerkenswert unterschiedlichen Ausformungen anzutreffen sind.

DIE BERICHTERSTATTUNG DES KIRCHENBLATTS PRAVOSLAVLJE ÜBER DIE VOLKSANLEIHE FÜR DIE FERTIGSTELLUNG DER EISENBAHN BELGRAD – BAR Danijel Kežić Der Bau der Eisenbahn Belgrad – Bar war das größte und teuerste Eisenbahnprojekt im sozialistischen Jugoslawien. Die Fertigstellung der 476 km langen Strecke zwischen Belgrad und dem montenegrinischen Hafen Bar dauerte fast 25 Jahre. Während dieser Zeitspanne wandelte sich die Bedeutung der Strecke mehrfach. In den 1950er Jahren wurde die Eisenbahn Belgrad – Bar als wichtigstes jugoslawisches infrastrukturelles Projekt angekündigt, das zur schnellen wirtschaftlichen Entwicklung Montenegros, Südwestserbiens und ganz Jugoslawiens beitragen sollte.1 Die damalige Begründung für den Bau der Strecke war rein ökonomischer Natur, unter anderem zur Vervollständigung des jugoslawischen Eisenbahnnetzes und zur Senkung der Transportkosten nach der Fertigstellung.2 Diese änderte sich grundsätzlich in den 1970er Jahren, als die Strecke vom „größten jugoslawischen Eisenbahnprojekt nach dem Zweiten Weltkrieg“3 zum serbischmontenegrinischen „100-jährigen Traum“4 wurde und so vor allem zur politischen, 1 2

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Vgl. VUJOVIĆ, Rade, Najveći i najteži poduhvat u izgradnji zemlje dosad. Magistrala Beograd – Bar, in: Borba (22.06.1952), Nr. 147, S. 1, 5. Vgl. AJ–599–45 – Pitanje izgradnje novih pruga (26.09.1955), ohne Paginierung; JOVANOVIĆ, Blažo, Jadranska magistrala i Crna Gora, in: Borba (01.–02.01.1953), Nr. 1, S. 3; BOGAVAC, D., Narod Crne Gore oslobađa se ekonomske zaostalosti, in: Borba (15.11.1953), Nr. 286, S. 2; o. V., Skupštinski život. Interes Jugoslavije kao celine predstavlja interes i pojedinih njenih delova, in: Borba (10.02.1955), Nr. 34, S.1f.; S. R., Proslava Dana ustanka u Crnoj Gori. Pruga Beograd – Bar je put ka privrednom osamostaljivanju Crne Gore, in: Borba (14.07.1955), Nr. 166, S. 1. – Im Folgenden werden die Namen der Autoren, sofern keine weiterführenden Informationen ermittelt werden konnten, lediglich in abgekürzter Form verwendet. Sofern sie gar nicht genannt sind, steht ein o.V. (ohne Verfasser). Vgl. VUJOVIĆ, Najveći i najteži, S. 1, 5. Vgl. ŽIVULOVIĆ, Žika, Linija najkorisnija za otečestvo, in: Politika (18.06.1971), Nr. 20726, S. 10; PAVLOVIĆ, Milika, Pisma protivnicima – Kopilovićima, in: Pobjeda (04.11.1971), Nr. 3077, S. 6; o. V., Ostvaren stoletni san, in: Borba (30.05.1976), Nr. 147, S. 6; MILOŠEVIĆ, B., Ispunila se želja starog željezničara. Nisam verovao da ću dočekati da vidim voz iz Beograda, in: Politika (26.11.1975), Nr. 22323, S. 13; PUŠONJIĆ, Boško, San dedova i unuka, in: Politika (31.12.1975), Nr. 22356, S. 9; STAMATOVIĆ, J., Pripreme za puštanje u rad pruge Beograd – Bar. Putokazom pjesnika, in: Pobjeda (12.03.1976), Nr. 3738, S. 7; PUŠONJIĆ, Boško, Na rođendan pruge, in: Politika (30.04.1976), Nr. 22475, S. 13; BULATOVIĆ, M., Tema „Pobjede“. Šta građani očekuju od pruge Beograd – Bar. Od snova do stvarnosti, in: Pobjeda (26.05.1976), Nr. 3801, S. 6; N. B., Na dan otvaranja pruge Beograd – Bar. U Priboju počinje da radi pogon za proizvodnju teških privrednih vozila, in: Politika (27.05.1976), Nr. 22500, S. 13.

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Danijel Kežić

kulturellen und wirtschaftlichen Integration der Serben und Montenegriner beitragen sollte.5 Der Bedeutungswandel der Eisenbahnstrecke steht in enger Verbindung mit der im Jahre 1971 organisierten Volksanleihe für die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar. Für die Volksanleihe wurde wahrscheinlich die größte Mobilisierung der Bevölkerung in Serbien nach 1945 durchgeführt.6 Ganz Serbien wurde aufgerufen, sich an der Volksanleihe zu beteiligen, um das durch die ablehnende Haltung anderer jugoslawischer Republiken bei der weiteren Finanzierung gefährdete Projekt der Eisenbahn Belgrad – Bar zu „retten“.7 Von Februar 1971, als die serbische Regierung die Entscheidung über die Durchführung der Volksanleihe veröffentlichte,8 bis Ende September 1971 befand sich ganz Serbien in einem Ausnahmezustand. Alle Teile der Gesellschaft beteiligten sich an der Kampagne für die Rettung der Strecke: die serbische Regierung, die Arbeiterschaft, Gewerkschaften, Unternehmen, Banken, Künstler, Sportler, die serbisch-orthodoxe Kirche, Bauern, die serbische Diaspora usw.9 Die Mobilisierung der Gesellschaft wurde aber von 5 6 7

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Vgl. o. V., Dogovor o međurepubličkoj saradnji u privredi, prosveti i kulturi, in: Komunist (06.02.1964), Nr. 353, S. 5f.; o. V., Patrijarhova izjava „Zavičaju“ povodom izgradnje pruge Beograd – Bar, in: Pravoslavlje (06.05.1971), Nr. 99, S. 1. Vgl. KEŽIĆ, Danijel, Planung und Bau der Eisenbahn Belgrad – Bar aus der Perspektive der Desintegration des Wirtschaftssystems in Jugoslawien (1952–1976), Diss. phil., Kiel 2015 [unveröff. Manuskript], S. 301–314. Mehr über die ablehnende Haltung der anderen Republiken gegenüber der weiteren Finanzierung der Eisenbahn Belgrad – Bar: AJ–130–680–1117 – Stavovi i sugestije u vezi s diskusijom o „Elementima bilanca federacije“ (14.05.1968); AJ–130–680 – Izveštaj o razmatranju Informacije o sredstvima i obavezama po vanbudžetskom bilansu federacije za 1970. godinu (15.12.1969), ohne Paginierung; AS–G–19 – 71. Sitzung der RIV SR Srbije (Stenographische Notizen) (17.11.1970), ohne Paginierung. Mehr über den Aufruf zur Beteiligung an der Volksanleihe: o. V., Građani i privrednici odobravaju zajam, in: Politika (13.02.1971), Nr. 20603, S. 6; ZEČEVIĆ, V./POPOVIĆ, P., Nastavlja se izgradnja pruge Beograd – Bar, in: Politika (20.02.1971), Nr. 20610, S. 1; SSRNS, Učestvujmo u velikom graditeljskom poduhvatu, in: Politika (06.03.1971), Nr. 20624, S. 1; Jugoslovenska investiciona banka. Upis obveznica za finansiranje dovršenja izgradnje pruge Beograd – Bar i luke Bar, in: Politika (31.03.1971), Nr. 20649, S. 24. Vgl. ZEČEVIĆ, V., Usvojen predlog o upisivanju narodnog zajma za prugu Beograd – Bar, in: Politika (04.02.1971), Nr. 20594, S. 5; MIĆKOVIĆ, T., Izvršno veće Srbije. Upis zajma za prugu Beograd – Bar od 1. aprila, in: Borba (04.02.1971), Nr. 32, S. 6; MIĆKOVIĆ, T./ĐORĐEVIĆ, Lj., Srbija. Usvojen Zakon o zajmu za prugu Beograd – Bar, in: Borba (20.02.1971), Nr. 48, S. 6. Vgl. o. V., Radnici FAP-a za izgradnju pruge Beograd – Bar, in: Politika (19.02.1971), Nr. 20609, S. 7; o. V., Poziv Sindikata Srbije za upis zajma za prugu, in: Politika (24.02.1971), Nr. 20616, S. 6; o. V., Jugoslovenska investiciona banka uložila 30 miliona dinara, in: Politika (02.03.1971), Nr. 20620, S. 7; SSRNS, Učestvujmo u velikom graditeljskom, S. 1; Č. G., Titovoužička preduzeća upisuju zajam za prugu, in: Borba (08.03.1971), Nr. 64, S. 16; M. M., Dogovor umetnika o akciji za upisivanje zajma za prugu Beograd – Bar, in: Politika (12.03.1971), Nr. 20630, S. 12; St. S., Niški Radnički za prugu Beograd – Bar, in: Politika (14.03.1971), Nr. 20632, S. 12; o. V., Slikar Milovan Arsić prilaže prihod sa izložbe kopija fresaka, in: Politika (17.03.1971), Nr. 20635, S. 9; TANJUG, Konzorcijum banaka za prugu Beograd – Bar, in: Borba (18.03.1971), Nr. 74, S. 12; TANJUG, Srpska pravoslavna crkva upisaće 100.000 dinara zajma, in: Politika (30.03.1971), Nr. 20648, S. 7; TANJUG, Izvršno veće

Die Berichterstattung des Kirchenblatts Pravoslavije

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oben durch die serbische Regierung gelenkt. Sie nahm dabei bewusst die Verbreitung eines serbisch-montenegrinischen Patriotismus in Kauf, mit dem Ziel, Emotionen bei der Bevölkerung zu wecken und dadurch die gewünschte Summe für die Fertigstellung der Strecke zu erzielen.10 Gleichzeitig wurde die Volksanleihe als nationale Aufgabe aller Bürger Serbiens propagiert. Die Tageszeitungen berichteten tagtäglich unermüdlich über die Beteiligung der gesamten serbischen Gesellschaft an der Volksanleihe.11 Es entwickelte sich ein wahrer Wettkampf zwischen den Unternehmen, wobei jedes eine größere Summe als die Konkurrenz für die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar zu zeichnen versuchte. Gleichzeitig organisierten serbische Künstler Auktionen und Ausstellungen mit dem Ziel, Geld für die Eisenbahn zu sammeln. Mit derselben Intention organisierten serbische Fußballklubs Freundschaftsspiele und serbische Sänger Konzerte.12 Der Mobilisierungsgrad der serbischen Gesellschaft war in dieser ersten Phase (April und Mai 1971) sehr hoch. Am Ende gelang es den Serben und Montenegrinern, die Eisenbahn Belgrad – Bar durch die Volksanleihe tatsächlich zu „retten“, und fünf Jahre später fuhren die ersten regulären Züge von Belgrad nach Bar.13 Die Erinnerung an die Volksanleihe und an die gemeinsame Anstrengung der gesamten Gesellschaft in Serbien und Montenegro ist geblieben und sie ist bis heute für Serben und Montenegriner einer der wichtigsten positiven Gedächtnisorte und ein nationaler Erfolg aus der Zeit des „Zweiten Jugoslawiens“. Dass sich die serbischen Gewerkschaften, Banken, Unternehmen und Arbeiter für die Volksanleihe begeistern ließen, ist nachvollziehbar. Der serbischen Regierung standen genug offizielle und inoffizielle Mittel zur Verfügung, um diese Institutionen und Bevölkerungsschichten erfolgreich zu mobilisieren. Viele Unternehmen erhofften sich von der Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar direkten

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Srbije. Uspešne pripreme za upis zajma, in: Borba (31.03.1971), Nr. 87, S. 6; O. T., Iseljenički odbor za prugu Beograd – Bar, in: Borba (09.06.1971), Nr. 156, S. 6. AS–G–19 – Stenographische Notizen der 85. Sitzung der RIV SR Serbiens am 03.02.1971, ohne Paginierung. Vgl. Anm. 9. Vgl. o. V., Veliko interesovanje za izvođenje „Crvenog petla“, in: Politika (01.03.1971), Nr. 20619, S. 5; o. V., Odrekao se honorara za roman „Prljavi trag“, in: Politika (09.03.1971), Nr. 20627, S. 7; M. M., Dogovor umetnika o akciji za upisivanje zajma, S. 12; TANJUG, Susret najistaknutijih umetnika s kolektivima, in: Politika (13.03.1971), Nr. 20631, S. 7; St. S., Niški Radnički za prugu, S. 12; o. V., Mačvanski slikari izlažu u Beogradu, in: Politika (15.03.1971), Nr. 20633, S. 9; TANJUG, Književnik Miloš Crnjanski priložio novčanu nagradu za životno delo, in: Politika (17.03.1971), Nr. 20635, S. 9; o. V., Slikar Milovan Arsić prilaže prihod, S. 9; L. Č., Vanredni voz „Umetnici pruzi Beograd – Bar“, in: Politika (07.04.1971), Nr. 20656, S. 9; TANJUG, Program akcije „Umetnici pruzi Beograd – Bar“, in: Politika (10.04.1971), Nr. 20659, S. 31; o. V., Vajar Risto Stijović priložio 20.000 dinara, in: Politika (13.04.1971), Nr. 20662, S. 9; o. V., Koncert beogradskih madrigalista, in: Politika (14.04.1971), Nr. 20663, S. 9; o. V., Aukcija slika i skulptura za prugu Beograd – Bar, in: Politika (19.04.1971), Nr. 20668, S. 5. Vgl. TANJUG, Juče iz Beograda i Bara. Krenuli prvi redovni vozovi, in: Borba (31.05.1976), Nr. 148, S. 7; GAJIĆ, G., Počeo redovan saobraćaj na pruzi BB. Cveće i za redovan voz, in: Politika (31.05.1976), Nr. 22504, S. 5; PEJOVIĆ, Branko, Željeznice. Otvorena pruga Beograd – Bar, in: Privredni vjesnik (31.05.1976), Nr. 1895, S. 7f.

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Danijel Kežić

oder indirekten Profit und hatten ein großes Interesse, dass die Strecke möglichst bald gebaut werde. Die Tatsache, dass Tageszeitungen und ökonomische Fachzeitschriften in einem sozialistischen Land darüber berichteten, dass sich auch die serbisch-orthodoxe Kirche direkt an der Volksanleihe beteiligte und der Patriarch selbst die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar ausdrücklich begrüßte,14 benötigt allerdings eine weitere Erklärung. Zunächst stellt sich die Frage, was eine religiöse Institution wie die serbisch-orthodoxe Kirche mit dem Bau einer Eisenbahnstrecke überhaupt zu tun hatte. Sollte eine an konservativen Werten festhaltende Kirche nicht eher grundsätzlich gegen den Bau neuer Eisenbahnstrecken und gegen die sozialistische Modernisierung der Gesellschaft sein, anstatt beides sowohl moralisch als auch finanziell zu unterstützen? Mit welchen Argumenten bekräftigte die serbisch-orthodoxe Kirche ihre positive Einstellung gegenüber dem Bau der Eisenbahnstrecke und welche Interessen konnte sie an der Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar überhaupt haben? In diesem Aufsatz möchte ich die Mobilisierung der serbischen Gesellschaft während der Volksanleihe für die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar erläutern und die Rolle der serbisch-orthodoxen Kirche bei der Volksanleihe analysieren. Grundlage dieser Untersuchung ist das wichtigste Periodikum der serbischorthodoxen Kirche: der Pravoslavlje.15 Ich habe für meine Analyse den Zeitraum zwischen Februar 1971 und Mai 1976, das heißt bis zur Fertigstellung der Strecke, ausgewählt. Der Pravoslavlje erschien zwei Mal im Monat und war das offizielle Blatt des serbischen Patriarchats. In ihm wurden vor allem theologische Themen diskutiert. Darüber hinaus fanden sich hierin jedoch auch aktuelle politische Fragen, die indirekt die Interessen der Kirche betrafen, wie zum Beispiel die Sprachenfrage Anfang der 1970er Jahre.16 Mein Ansatz ist, durch eine quantitative Analyse zunächst festzustellen, ob und wie häufig das Kirchenblatt über die Volksanleihe und über den Bau der Eisenbahn Belgrad – Bar berichtete. In einem zweiten Schritt folgt dann eine inhaltliche Analyse, um zu erklären, wie der Bau einer Eisenbahnstrecke zum Thema eines religiösen Periodikums werden konnte. Das Ergebnis der quantitativen Analyse ist überschaubar. Im gesichteten Zeitraum von fünf Jahren wurden im Pravoslavlje insgesamt sechs Zeitungsartikel und zwei Lieder über die Eisenbahn Belgrad – Bar veröffentlicht. Fast alle Beiträge erschienen zwischen April und Dezember 1971.17 Zwischen 1972 und 1976 wurde 14 Vgl. TANJUG, Srpska pravoslavna crkva, S. 7; o. V., Svenarodni objekti, in: Ekonomska politika (19.04.1971), Nr. 994, S. 6. 15 Auf Deutsch: „Orthodoxie“. 16 Vgl. o. V., Rasprave o jeziku. Rasprave o srpskohrvatskom književnom jeziku, in: Pravoslavlje (21.01.1971), Nr. 92/93, S. 16; o. V., Jezička trpeljivost je hrišćanska vrlina i obaveza, in: Pravoslavlje (25.02.1971), Nr. 94/95, S. 22. 17 Vgl. o. V., Pruga Beograd – Bar, in: Pravoslavlje (15.04.1971), Nr. 98, S. 2; VUČETIĆ, Jovanka, Pruzi Beograd – Bar, in: ebd., S. 2; EPISKOP ŽIČKI VASILIJE, Zajam za prugu Beograd – Bar i novoverci, in: ebd., S. 5; o. V., Iz domaće štampe. Protiv varijante crnogorskog jezika, in: ebd., S. 15; o. V., Patrijarhova izjava „Zavičaju“, S. 1; TIČIĆ, Vladimir, Pruga Beograd – Bar, in: Pravoslavlje (06.05.1971), Nr. 99, S. 5; o. V., Preko njegove Svetosti Patrijarha Germana. Srbi iz Gere, SAD, za prugu Beograd – Bar, in: Pravoslavlje (16.12.1971), Nr. 113, S. 16.

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im Kirchenblatt der Bau der Strecke nicht mehr erwähnt. Erst nach der Eröffnung der Strecke am 30. Mai 1976 erschien nochmals ein kürzerer Beitrag.18 Das erste Mal berichtete der Pravoslavlje am 15. April 1971 über die Eisenbahn Belgrad – Bar. In dieser Ausgabe waren der Strecke drei Beiträge und ein Lied gewidmet. Im Fokus der Berichte steht die Entscheidung des Heiligen Synods der serbisch-orthodoxen Kirche vom 23. März 1971, dem Vorschlag des Patriarchen German zuzustimmen und 100.000 Dinar für den Bau der Eisenbahn aus der Zentralkirchenkasse zu zeichnen.19 Patriarch German zeichnete selbst schon vorher 20.000 Dinar für die Strecke, worüber die Tageszeitung Politika im März 1971 berichtet hatte.20 Gleichzeitig empfahl der Heilige Synod den zuständigen Erzbischöfen in Serbien, sich an der Volksanleihe zu beteiligen. Bis zum 15. April 1971 wurden weitere 100.000 Dinar gezeichnet, so dass sich die Summe auf insgesamt 220.000 Dinar erhöhte.21 Dabei wird deutlich, dass die Aktion durch Patriarch German selbst forciert wurde und dass er von oben Druck auf die Kirchenorganisation ausübte. Ob ihn die serbische Regierung genötigt hatte, ist aus den mir zur Verfügung stehenden Quellen nicht ersichtlich. Zwei Fakten unterstützen jedoch eine solche Vermutung: die Tatsache, dass der offizielle jugoslawische Nachrichtendienst Tanjug über die Beteiligung des Patriarchen und des Heiligen Synods an der Volksanleihe berichtete22 und dass sich ausschließlich Kircheninstitutionen aus Serbien an der Volksanleihe beteiligten.23 Da bis 1976 keine weiteren Zahlen über die Beteiligung der serbisch-orthodoxen Kirche an der Volksanleihe veröffentlicht wurden, weder in der Tagespresse noch im Pravoslavlje, ist davon auszugehen, dass die Summe von 220.000 Dinar nicht beträchtlich überschritten wurde. Diese Summe war im Vergleich zu anderen Zeichnern der Volksanleihe mehr als bescheiden und betrug lediglich ca. 0,02 Prozent der endgültigen Gesamtsumme.24 Finanziell konnte die serbische sozialistische Regierung also von der Einbeziehung der serbisch-orthodoxen Kirche in die Volksanleihe nicht profitieren. Allerdings besaß die Kirche sicherlich genug Möglichkeiten, um sowohl die serbischen Bauern als auch die serbische Diaspora in Europa und insbesondere in den USA zu beeinflussen und für die Volksanleihe zu begeistern. In beiden Fällen gelang es ihr aber nicht, die Bevölkerung ausreichend zu mobilisieren. So erfahren wir aus den vertraulichen Berichten der serbischen Regierung, dass unter den serbischen Bauern das Desinteresse an der Volksanleihe besonders groß gewesen sein muss und 18 19 20 21 22 23

Vgl. o. V., Prvi voz iz Beograda za Bar, in: Pravoslavlje (01.06.1976), Nr. 221, S. 1. Vgl. o. V., Pruga Beograd – Bar, S. 2. Vgl. TANJUG, Srpska pravoslavna crkva, S. 7. Vgl. o. V., Pruga Beograd – Bar, S. 2. Vgl. TANJUG, Srpska pravoslavna crkva, S. 7. Der Pravoslavlje berichtet nur über die Beteiligung von verschiedenen Organisationen der serbisch-orthodoxen Kirche aus Serbien an der Volksanleihe. In Bosnien, Kroatien und Montenegro konnte die serbisch-orthodoxe Kirche ihre Vertreter allerdings nicht dazu bewegen, sich an der Volksanleihe zu beteiligen, und es ist fraglich, ob der Patriarch dies überhaupt versuchte. 24 Die Gesamtsumme betrug 921,8 Mio. Dinar; vgl. Lj. Č., Neuredni smetaju urednima, in: Politika (20.01.1973), Nr. 21297, S. 8.

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dass sie deswegen im Juni 1971 eine Kampagne startete, um mehr serbische Bauern für die Volksanleihe zu gewinnen.25 Zwar wurden lokale Behörden beauftragt, dennoch verlief diese Kampagne ergebnislos und eine massenhafte Beteiligung der Bauern blieb aus.26 Ob die Kirche überhaupt versucht hat, die Bauern zu mobilisieren, bleibt offen. Die sehr geringe Beteiligung der Bauern an der Volksanleihe spricht eher nicht dafür. Berichte aus dem Kirchenblatt bezeugen Versuche der serbisch-orthodoxen Kirche, die serbische Diaspora in den USA zu erfassen. Im Mai 1971 gab Patriarch German der Zeitung der serbischen Diaspora in den USA Zavičaj ein Interview, in dem er die Bedeutung der Eisenbahn Belgrad – Bar für die Serben und für die serbisch-orthodoxe Kirche betonte und zur Beteiligung der serbischen Diaspora an der Volksanleihe aufrief.27 Das Ergebnis erfahren wir sechs Monate später: 61 Serben aus Indiana spendeten insgesamt 1.850 US-Dollar, was umgerechnet 31.450 Dinar waren. Den Scheck übergaben sie dem Patriarchen persönlich, und er leitete ihn an die Jugoslawische Investitionsbank weiter.28 Diese Summe entsprach ca. 5 Prozent der im Ausland gezeichneten Gesamtsumme29 und belegt, wie bescheiden das Ergebnis der Mobilisierung der Diaspora für die Volksanleihe durch die serbisch-orthodoxe Kirche war. Das Gesamtergebnis der Volksanleihe im Ausland war ernüchternd, da nur ein Drittel der geplanten Summe gesammelt werden konnte.30 Am Ende scheiterte die Mobilisierung der serbischen Gesellschaft 1971 nur an den Bauern und an der Diaspora. In allen anderen Teilen der Gesellschaft verlief die Mobilisierung sehr erfolgreich, schließlich wurde am Ende mehr Geld gesammelt als ursprünglich geplant. Das Scheitern der Volksanleihe bei den serbischen Bauern und im Ausland zeigt, dass die serbisch-orthodoxe Kirche als Institution die serbische Bevölkerung nicht dazu bringen konnte, viel Geld in den Bau der Strecke zu investieren. Nur einzelne Mitglieder der kirchlichen Organisation, wie zum Beispiel die Kirchengemeinde in Belgrad, das Kloster Rakovica in Belgrad, die unter direktem Einfluss des Patriarchen und des Heiligen Synods standen, beteiligten sich an der Volksanleihe. Dementsprechend fiel die finanzielle Unterstützung des Bauprojekts durch die Kirche mehr als bescheiden aus. Bei der Volksanleihe ging es aber nicht nur um finanzielle Unterstützung, sondern auch um die Verbreitung des serbisch-montenegrinischen Patriotismus und um die Ideologisierung des Streckenbaus. In diesem Zusammenhang spielte die serbisch-orthodoxe Kirche eine viel 25 AS–G–19 – Das Protokoll der 118. Sitzung der RIV SR Serbiens am 31.08.1971, Punkt 6 der Tagesordnung: Informacija o rezultatu upisa zajma za finansiranje dovršenja izgradnje pruge B-B i luke Bar (31.08.1971), ohne Paginierung; AS–G–19 – Stenographische Notizen der 118. Sitzung der RIV SR Serbiens am 31.08.1971, ohne Paginierung. 26 AS–G–19 – Pismo predsednicima skupština opština u vezi sa upisom zajma za prugu B-B (02.09.1971), ohne Paginierung. 27 Vgl. o. V., Patrijarhova izjava „Zavičaju“, S. 1. 28 Vgl. o. V., Preko njegove Svetosti Patrijarha Germana, S. 16. 29 Bis Ende Juni 1971 wurden im Ausland ca. 650.000 Dinar gezeichnet; vgl. o. V., Jugosloveni u inostranstvu upisali dosad 650 hiljada dinara, in: Politika (22.06.1971), Nr. 20730, S. 7. 30 AS–G–19 – Stenographische Notizen der 118. Sitzung der RIV SR Serbiens am 31.08.1971, ohne Paginierung.

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wichtigere Rolle, wie die inhaltliche Analyse der Beiträge über die Eisenbahn Belgrad – Bar im Pravoslavlje zeigen wird. Die öffentliche Äußerung des serbischen Patriarchen German im April 1971, dass aus seiner Perspektive der Ausbau des Doms des Heiligen Sava in Belgrad und die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar zwei der wichtigsten Projekte seien, die ihm am Herzen lägen,31 hob die besondere Bedeutung der Eisenbahnstrecke hervor. Im Vordergrund stand dabei nicht mehr die wirtschaftliche Bedeutung der Strecke, sondern ihr ideologischer Wert und ihre Bedeutung für das orthodoxe Serbentum. In den serbischen und montenegrinischen Tageszeitungen sowie Fachzeitschriften ist öffentliche Propaganda in dieser Richtung kaum zu finden.32 Im Kirchenblatt war sie während der Volksanleihe eindeutig präsent, obwohl eine offene Verbreitung des Nationalismus in kirchlichen Zeitungen offensichtlich verboten war. Der serbische Patriotismus ließ sich in versteckter Form vor allem mittels veröffentlichter Leserlieder über die Eisenbahn Belgrad – Bar verbreiten. Besonders interessant ist ein Lied, das am 15. April 1971 erschien. Unter dem Titel Pruzi Beograd – Bar („Der Eisenbahnstrecke Belgrad – Bar“)33 widmete die Autorin der Bahnstrecke sieben Strophen. Sie wurde ausschließlich als ein serbisches Projekt dargestellt, das in erster Linie die Integration innerhalb des Serbentums34 vorantreiben sollte. Die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar sollte die Montenegriner an ihre serbische Herkunft und an die gemeinsame mittelalterliche Geschichte erinnern. Das Lied erweckt den Eindruck, dass durch den Eisenbahnbau die schon seit Jahrhunderten gewünschte Integration der Serben und Montenegriner in eine Nation realisiert werden könne. In jeder Strophe fanden die wichtigsten serbischen und montenegrinischen Nationalhelden Erwähnung und erinnerten an den Kampf für eine gemeinsame Nation. Unter ihnen befanden sich der Heilige Sava, die Dynastie der Nemanjiden, Petar Petrović Njegoš, der Despot Stefan Lazarević, Vuk Karadžić und der serbische Patriarch Arsenije Čarnojević. Die Autorin bezeichnet die Eisenbahn Belgrad – Bar als „Lieblingskind Serbiens und Montenegros“ in ihrem Jahrzehnt. Sie schreibt über „unsere Berge“ und „unser Meer“, die „unsere Strecke“ endlich verbinden werde. Der Heilige Sava und die Nemanjiden hätten für „unseren Staat“ gekämpft.35 Der Begriff „unser“ meint in diesem Kontext nicht etwa „jugoslawisch“, sondern ausschließlich „serbisch-montenegrinisch“ beziehungsweise „serbisch“. Übersetzt lauten die zwei ausgewählten Strophen wie folgt:

31 Vgl. o. V., Svenarodni objekti, S. 6; o. V., Pruga Beograd – Bar, S. 2. 32 Ich habe die Tagespresse und Fachzeitschriften aus Serbien, Kroatien und Montenegro gesichtet und keine Anzeichen für eine offene nationalistische Propaganda gefunden. Entdeckt habe ich nur kritische Hinweise in der Presse, dass die Volksanleihe in der Gesellschaft gelegentlich zu solchen Zwecken missbraucht würde. Solche Tendenzen wurden in der Tagespresse ausnahmslos scharf verurteilt. 33 VUČETIĆ, Pruzi Beograd – Bar, S. 2. 34 Aus der Sicht der serbisch-orthodoxen Kirche waren die Serben und Montenegriner ein Volk. Beide Nationen waren serbisch-orthodox und standen unter kirchlicher Verwaltung der serbisch-orthodoxen Kirche. 35 VUČETIĆ, Pruzi Beograd – Bar, S. 2.

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Danijel Kežić Du, Eisenbahnstrecke, bist unser jahrhundertealter Wunsch und die Freude unseres Tagesanbruches, In diesem Jahrzehnt bist Du das Lieblingskind Serbiens und Montenegros. Du wirst bald unsere Täler und unsere Berge, An unsere blaue Adria bringen. Mit Dir wird Vuks Tršić36 am Fluss Jadra, Noch näher an unserem lieben Cetinje37 sein. Und unsere alte Geschichte wird uns näher sein, Als Nemanja38 und der Heilige Sava39 unseren Staat schufen […]

Dieses Lied verdeutlicht sehr gut, warum der serbische Patriarch German und die serbisch-orthodoxe Kirche an der Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar interessiert waren. Aus der Perspektive der Kirche konnte diese Strecke den Wunsch der Serben und Montenegriner nach Vereinigung wiederbeleben und zu einem neuen Symbol des gemeinsamen Kampfes werden. Das zweite Leserlied wurde in der Ausgabe vom 6. Mai 1971 veröffentlicht.40 Unter dem schlichten Titel Pruga Beograd – Bar („Die Eisenbahn Belgrad – Bar“) versucht der Autor, ein Ingenieur, mit einfachen Worten die Menschen für die Volksanleihe zu gewinnen. Die patriotische Botschaft des Liedes ist nicht so offensichtlich wie in dem vorherigen Lied, aber bei genauerer Betrachtung nicht zu übersehen. Die folgenden Verse verdeutlichen dies: Oh Serbien unsere liebe Mutter, Nur das Gute wirst Du uns geben. Montenegro ohne Serbien, Schwierig sein Nest baut. Und Serbien mit Montenegro, Alle Kämpfe leichter gewinnt. Die Strecke soll uns stark verbinden, und unsere Herzen fester binden […]

Im Vordergrund steht in diesem Lied die Vorstellung von Serbien als der guten großen Schwester, die Montenegro immer zur Seite steht und hilft. Ohne Serbien sei Montenegro hilflos und zum Scheitern verurteilt. Gleichzeitig brauche auch Serbien seine kleine Schwester Montenegro, weil mit ihr zusammen alle Herausforderungen leichter zu bewältigen seien. Die Volksanleihe für die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar passte in die Interpretation: Serbien opfert sich für seine kleine Schwester und versucht durch die Volksanleihe, die Bahnstrecke zu „retten“. Ein Erfolg der Volksanleihe würde bedeuten, dass Serbien und Montenegro nur gemeinsam die große Herausforderung meistern könnten. Auch in diesem Lied wird 36 Es handelt sich um Vuk Karadžić (1787–1864) und seinen Geburtsort Tršić in Serbien. 37 Cetinje war bis 1918 die Hauptstadt Montenegros und zugleich Kirchen- und Regierungssitz des montenegrinischen Staates. 38 Es handelt sich um Stefan Nemanja (1113–1199). Er wurde in Zeta (Montenegro) geboren und begründete später die erste serbische mittelalterliche Dynastie der Nemanjiden. 39 Es handelt sich um den Sohn von Stefan Nemanja, Rastko, der als Gründer der serbisch-orthodoxen Kirche gilt. 40 TIČIĆ, Pruga Beograd – Bar, S. 5.

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der Eisenbahnbau als ein ausschließlich serbisch-montenegrinisches Projekt dargestellt. Die jugoslawische Dimension des Projektes wird mit keinem Wort erwähnt. In anderen Artikeln, die im Pravoslavlje über die Eisenbahn Belgrad – Bar erschienen sind, ist die Rhetorik weniger offensichtlich, verglichen mit den von den Lesern entworfenen Liedern, aber der Grundtenor bleibt ähnlich. In einem Interview beispielsweise vertritt Patriarch German die Ansicht, dass die Eisenbahn Belgrad – Bar für Serbien und Montenegro eine ähnliche Bedeutung wie der Nil für Ägypten habe. Dementsprechend solle die Bahn nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Kultur und das geistige Leben der zwei Republiken beleben. Abschließend betont er, dass die Strecke eine geistige Wiedergeburt herbeiführen werde, die zur Annäherung und besseren Verständigung aller jugoslawischen Völker führe.41 Was genau er darunter verstand, bleibt offen, aber es liegt nahe, dass er eine Vereinigung von Serbien und Montenegro als Voraussetzung für ein besseres Zusammenleben mit den anderen südslawischen Völkern innerhalb Jugoslawiens betrachtete. Die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar war für die serbisch-orthodoxe Kirche nicht nur von ideologischem Wert, sondern mit konkreten Interessen verbunden. Der Erzbischof von Žiča, Vasilije, appellierte zum Beispiel an die Klöster, Kirchengemeinden, den Klerus und die Bürger seines Bistums, sich an der Volksanleihe zu beteiligen, weil er davon überzeugt sei, dass sie alle von der durch ihre Region verlaufenden Strecke profitieren könnten. Gleichzeitig betonte er, dass die Eisenbahn Belgrad – Bar weder lokalen noch regionalen, sondern vor allem einen allserbischen, aber auch jugoslawischen, allbalkanischen, alleuropäischen und universalen Charakter habe. Aus diesem Grund traf der Heilige Synod die Entscheidung, dass sich die serbisch-orthodoxe Kirche an der Volksanleihe beteiligen solle.42 Patriarch German benannte einige konkrete Vorteile für die Kirche: So könnten die alten orthodoxen Klöster in Südwestserbien und Montenegro von der Strecke profitieren, weil sie bisher sehr schwierig zu erreichen gewesen waren. Nach der Fertigstellung der Strecke könnten neben den Gläubigen aus ganz Jugoslawien auch Touristen die Klöster besuchen. Die Nähe der christlichen Heiligtümer solle die Besucher inspirieren, den Weg zu einem noch tieferen Glauben zu finden.43 Anders gesagt erwartete der Patriarch durch die Fertigstellung der Eisenbahn und einen erleichterten Zugang zu den mittelalterlichen Klöstern positive Auswirkungen auf die Zahl der Gläubigen. Die Menschen sollten den Weg zurück in die Kirche finden. Abschließend lässt sich sagen, dass die Rolle der serbisch-orthodoxen Kirche bei der Volksanleihe für die Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar viel wichtiger war, als die von ihr gesammelten finanziellen Mittel auf den ersten Blick vermuten lassen. Die Volksanleihe wurde von verschiedensten Akteuren in Serbien und Montenegro ausgenutzt, um ihre eigenen Interessen zu propagieren. Für die Gewerk-

41 Vgl. o. V., Patrijarhova izjava „Zavičaju“, S. 1. 42 Vgl. EPISKOP ŽIČKI VASILIJE, Zajam za prugu Beograd – Bar, S. 5. 43 Vgl. o. V., Patrijarhova izjava „Zavičaju“, S. 1.

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schaften, Unternehmen und Banken stand die wirtschaftliche Bedeutung der Eisenbahn Belgrad – Bar im Vordergrund, die vielen Bürger hingegen betrachteten ihre Beteiligung an der Volksanleihe als eine nationale Aufgabe. Für die serbisch-orthodoxe Kirche hatte die Eisenbahnstrecke vor allem einen großen ideologischen Wert. Dementsprechend war auch ihre Propaganda für die Volksanleihe durch die Ideologie des Serbentums geprägt. Eine solche Propaganda trug patriotische und teilweise nationalistische Züge, wie die Analyse der Artikel über die Eisenbahn Belgrad – Bar aus dem Pravoslavlje bestätigt. Da für die serbische Regierung 1971 die Bereitstellung ausreichender Finanzmittel für die Fertigstellung der Strecke oberste Priorität besaß, ließ sie bewusst auch eine solche Interpretation der Eisenbahn Belgrad – Bar zu. Aus dieser Perspektive gesehen ist das Interesse des Patriarchen und des Heiligen Synods an der Fertigstellung der Eisenbahn Belgrad – Bar allzu verständlich. Diese Motivlage erklärt auch, weshalb ein kirchliches Periodikum mehrere Monate lang den Bau einer Eisenbahnstrecke thematisierte. Die Kirche nutzte die Situation im Jahr 1971 sehr geschickt aus, um ihre Interessen erfolgreich durchzusetzen, und trug entscheidend dazu bei, der Strecke eine neue Bedeutung zu geben. Fünf Jahre später, als die Verbindung am 29. Mai 1976 feierlich eröffnet wurde, herrschte allerdings eine ganz andere Atmosphäre. Die Eisenbahn Belgrad – Bar war fertiggestellt und die serbische Regierung brauchte keine Unterstützung durch die Kirche mehr. Die Tagespresse betonte unermüdlich, dass die Strecke als „jugoslawisch“ bezeichnet werden müsse, da sie ohne die „Brüderlichkeit und Einheit“ der jugoslawischen Völker nicht hätte fertiggebaut werden können. Die Politik versuchte, der Strecke durch gezielte Propaganda einen neuen Charakter zu geben: Sie sollte das Symbol eines auf der Ideologie der Selbstverwaltung beruhenden jugoslawischen Patriotismus werden.44 Deswegen verwundert es nicht, dass der Pravoslavlje über die Eröffnung der Strecke schlicht, emotionslos und sachlich berichtet, ohne die im Jahr 1971 übliche serbisch-montenegrinische Perspektive einzunehmen. Eine solche Perspektive hätte nicht in den neuen Diskurs gepasst und sie wäre im Mai 1976 sicherlich unerwünscht gewesen. Der Pravoslavlje berichtet lediglich, dass sich die serbisch-orthodoxe Kirche ebenfalls an der Finanzierung der Strecke beteiligt habe, ohne hierfür nähere Gründe zu erläutern.45 Der neue jugoslawische Charakter der Strecke setzte sich jedoch nicht durch. Bei Serben und Montenegrinern prägte sich die Eisenbahn Belgrad – Bar aufgrund der Interpretation durch die serbisch-orthodoxe Kirche als ein positiver Gedächtnisort ein. Sie wurde zum Symbol des gemeinsamen Kampfes der Serben und Mon-

44 Vgl. o. V., Danas polazi prvi voz na pruzi BB. Podsticaj za udruživanje rada širom zemlje, in: Politika (28.05.1976), Nr. 22501, S. 7; o. V., Predsednik Tito otputovao prvim vozom iz Beograda za Bar. Grandioznost pruge izraz naše stvaralačke moći, in: Borba (29.05.1976), Nr. 146, S. 1; ČAKIĆ, Kosta/SAVIĆ, Pera/TANJUG, Tito prvi putnik na pruzi Beograd – Bar, in: Vjesnik (29.05.1976), Nr. 10333, S. 1, 5; ĐUROVIĆ, Ratko/ŠKANATA, Krsto, Pruga projektovana iz aviona, in: Pobjeda (29.05.1976), Nr. 3804, S. 10; KOSIN, Pavle, Više od sto hiljada beograđana ispratilo svečani voz. Tito: Pruga Beograd – Bar je jedan od najvećih objekata koji je izgrađen u našoj socijalističkoj zemlji, in: Politika (29.05.1976), Nr. 22502, S. 1f. 45 Vgl. o. V., Prvi voz iz Beograda za Bar, S. 1.

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tenegriner und das Mittel zur Integration der beiden Nationen. Dieser 1971 konstruierte Charakter der Strecke überschattete alle vorherigen und späteren offiziellen Interpretationen und ist bis heute aktuell geblieben. Die serbisch-orthodoxe Kirche ist seither untrennbar mit der Geschichte der Eisenbahn Belgrad – Bar verbunden.

DIE FINANZIERUNG DES ORTHODOXEN KLERUS IN RUMÄNIEN UND GRIECHENLAND AUS HISTORISCHER PERSPEKTIVE Andreas Müller Die Finanzierung kirchlicher Einrichtungen durch staatliche Stellen steht gegenwärtig in Deutschland immer wieder auf dem Prüfstand. So hat erst jüngst der Präsident des niedersächsischen Staatsgerichtshofes Herwig van Nieuwland die Ablösung der Staatsleistungen an die evangelischen Kirchen gefordert. In Niedersachsen handelt es sich dabei um ca. 34 Millionen Euro, die das Land jährlich als Entschädigung für Säkularisierungsmaßnahmen des 19. Jahrhunderts an die Kirche zahlt. In Deutschland wird eine Erarbeitung von Grundsätzen für eine solche Ablösung durch den Bund erwogen, die allerdings noch keine konkreten Züge angenommen hat.1 Dennoch ist das Thema je nach politischer Großwetterlage gelegentlich präsent. Viel heftiger diskutiert wird die Finanzierung kirchlicher Stellen durch den Staat in Ländern, in denen die ökonomische Situation angespannter ist als gegenwärtig in der Bundesrepublik Deutschland. Dies gilt insbesondere für das südöstliche Europa, vor allem für Griechenland. Dort wurde schon vor Regierungsantritt der Syriza immer wieder über die Finanzierung des Klerus durch den griechischen Staat, Steuerbegünstigungen von Kirchen und Klöstern und sogar über den vermeintlich unermesslichen Besitz der Kirche im Lande diskutiert. In der Diskussion über die finanzielle Situation der Kirche in Griechenland ist sogar aus westeuropäischen Ländern in die Debatte eingeworfen worden, dass die griechische Gesellschaft durch Reduktion der Staatsleistungen an die Kirche enorm Geld sparen könnte. Hintergrund ist unter anderem die in der Presse immer wieder geäußerte Annahme, dass die griechische Kirche sehr reich sei.2 Dementsprechend

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Vgl. die Notiz in: Zeitzeichen 8/2015, S. 71. Vgl. u.a. bereits den Artikel von THUMANN, Michael, Griechenland, Gott ist nicht mehr geizig, vom 31.10.2012, in: Zeit Online, URL: http://www.zeit.de/2012/45/Griechenland-Orthodoxe (Zugriff 05.11.2015). Dort heißt es: „Die orthodoxe Kirche ist reich. Sie gebietet über riesige Ländereien in ganz Griechenland und Immobilien in besten Innenstadtlagen, die sie vermietet. Niemand weiß, wie viel sie wirklich besitzt und welchen Wert das Grundeigentum hat. Sie bekommt Geld für Taufen, Hochzeiten und Todesfälle. Die Gehälter der Geistlichen zahlt der Staat, seitdem die Kirche vor 60 Jahren mit dem Staat einen großen Immobiliendeal schloss. Damals tauschte die Orthodoxie weite Wälder und Felder gegen Häuser in den Städten. Aus heutiger Sicht ein prächtiges Geschäft. Erst seit 2010 muss die Kirche auf ihre Miet- und Pachteinnahmen Steuern zahlen. Aber nicht die üblichen 45 Prozent, sondern nur 20 Prozent“. Thu-

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empfahl beispielsweise Hugo Dixon von der Nachrichtenagentur Reuters dem griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras, den kirchlichen Besitz zu besteuern und weder Renten noch Löhne der Priester weiter zu bezahlen. Die Kirche müsse sich vielmehr selbst finanzieren.3 Nachrichten wie diese evozieren die Frage, warum in Ländern wie Griechenland Priester überhaupt vom Staat bezahlt werden. Dies ist nämlich auch im ostkirchlich-orthodoxen Umfeld keineswegs selbstverständlich. In vielen orthodoxen Ländern erfolgt die Finanzierung von Kirche und Klerus vielmehr ausschließlich über Stiftungen und Spenden. So verfügt etwa die Kirche in Russland über Besitz, der ihr im Zuge der Perestroika zurückgegeben worden ist. Aus diesem Besitz, aber auch aus dem Verkauf von Kerzen und durch Spenden, können sich die Gemeinden und ihre Gehälter nach den Statuten von 2013 finanzieren.4 Die Priester und kirchlichen Mitarbeiter erhalten allerdings Renten direkt vom russischen Staat.5 Selbst in Ländern mit einer muslimischen Majorität gibt es gelegentlich ähnliche Finanzierungsmuster. So verfügen zum Beispiel die Kirchen in der Türkei über größere Stiftungen im Umfeld der jeweiligen Gemeinde. Aus diesen Stiftungen können sowohl der Klerus als auch die Kirchen bezahlt werden. In Istanbul etwa sind die Kirchen deswegen in der Regel in einem sehr guten baulichen Zustand, weil Renovierungsarbeiten aus den Mieteinkommen der Kirchengemeinden finanziert werden. Allerdings gibt es durchaus Länder, in denen die Christen eine Minderheit darstellen, der orthodoxe Klerus aber dennoch vom Staat bezahlt wird. Dies gilt beispielsweise für Israel.6 Auch in nichtchristlichen Staaten auf dem Gebiet des ehemaligen Byzantinischen Reiches existieren also Finanzierungsmodelle, wie sie im Folgenden in majoritär orthodoxem Umfeld genauer analysiert werden sollen. Die Frage nach den Gründen für solche Modelle steht dabei im Vordergrund. Zunächst ist bei der Beantwortung der Frage ein kurzer Exkurs in die Spätantike nötig, bevor an den Paradigmen Rumänien und Griechenland die Genese der aktuellen Finanzierungssituation der dortigen Kirchen vorgestellt wird.

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mann verweist allerdings auch ausführlich auf die Hilfsmaßnahmen der Kirche in der ökonomischen Krise. Wörtlich heißt es: „Die Kirche hilft nicht nur mit Gebeten. Das ist eine neue Erfahrung für die Armen“. Vgl. ΚΑREKLA, Sophia, Το πρακτορείο Reuters ζητά από την κυβέρνηση να σταματήση να πληρώνει μισθούς ιερέων vom 22.02.2015, URL: http://orthodoxia.info/news/reuters-διακοπημισθοδοσιας-κληρου/ (Zugriff 05.11.2015). Nach dem Artikel hat sich auch der Minister für Kultur, Erziehung und Religion, Aristidis Baltas, im Parlament für eine Trennung von Staat und Kirche stark gemacht. Vgl. Die Statuten der Russischen Orthodoxen Kirche (2013), der Russischen Orthodoxen Kirche im Ausland und der Deutschen Diözese der ROKA, hrsg. von Anagyros ANAPLIOTIS, München 2015, S. 164–173, bes. S. 164f. Genauer wird der Umgang der Kirche durch die „Satzung über den kirchlichen Besitz“ geregelt; vgl. ebd., S. 166. Vgl. die Statuten der Russischen Orthodoxen Kirche XXI 1, in: Statuten, S. 173. Die Besoldung der Priester wird durch die Pfarrgemeindeversammlung festgelegt; vgl. ebd., XVI 4j. So die mündliche Information von Michael Borchard von der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel.

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DIE SPÄTANTIK-BYZANTINISCHE TRADITION DER FINANZIELLEN UNTERSTÜTZUNG DER KIRCHE DURCH DEN STAAT Die Finanzierung von Kirchen und des Klerus durch den Staat ist im ostkirchlichorthodoxen Raum eine alte Tradition, die bereits auf spätantike Kaiser zurückzuführen ist. Dies lässt sich an den für die kirchliche Entwicklung wohl bedeutendsten spätantiken Kaisern Konstantin und Justinian illustrieren. Mit der finanziellen Förderung der Kirchen knüpfte schon Konstantin (gest. 337 n. Chr.) an die Rolle des Kaisers als pontifex maximus an – der Kaiser war somit für eine geregelte Durchführung des Kultus zum Erhalt der salus publica zuständig. Bereits Konstantin förderte dabei auch die christlichen Kleriker.7 Er regelte nicht nur mit einem Gesetz aus dem Jahr 319 n. Chr. die Immunität der christlichen Kleriker, das heißt deren Befreiung von Abgaben, den sogenannten munera.8 Diese Befreiung sollte dem Klerus helfen, sich auf seine geistlichen Aufgaben zu konzentrieren. Der Kaiser sorgte vielmehr auch für die Restituierung des kirchlichen Besitzes nach der Konfiszierung in der Verfolgungszeit und besonders für die Möglichkeit der Kirchen, Erbschaften anzunehmen.9 So konnten die Kirchen ihren Grundbesitz bereits im 4. Jahrhundert enorm ausbauen und in der zweiten Jahrhunderthälfte zum größten Grundbesitzer nach dem Kaiserhaus werden.10 Konstantin sorgte darüber hinaus auch mit sozialer Intention noch direkter für die Unterstützung von Klerikern. Bereits am 18. Juli 320 n. Chr. verwies er auf eine ältere Konstitution, nach der nur diejenigen die Stelle verstorbener Kleriker einnehmen dürften, die „ohne großen Besitz und nicht zu bürgerlichen Ämtern verpflichtet sind.“11 Reiche Bürger sollten sich demnach durch die Berufung in den priesterlichen Dienst nicht ihren gesellschaftlichen Pflichten entziehen, während arme Bürger durch den priesterlichen Dienst beziehungsweise die Reichtümer der Kirche finanziert werden

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Vgl. hierzu ausführlich MÜLLER, Andreas, Konstantin und die Wohlfahrt, in: Cruce și misiune. Sfinții Împărați Constantin şi Elena – promotori ai libertății religioase şi apărători ai Biserici, Bd. 2, hrsg. von Emilian POPESCU und Viorel IONIŢĂ, Bukarest 2013, S. 427–446. 8 Vgl. Codex Theodosianus [im Folgenden: Cod. Theod.] XVI 2, 2 (319); hier und im Folgenden wird der Cod. Theod. zit. nach Les lois religieuses des empereurs Romains de Constantin à Théodose II (312–438) (Sources Chrétiennes, 497), Bd. 1, hrsg. von Theodor MOMMSEN, übers. von Jean ROUGE, Paris 2005. 9 Zur Restituierung kirchlichen Besitzes vgl. bereits das Schreiben Konstantins an den afrikanischen Prokonsul Anullius aus der Zeit um 312/13 (Eus h.e. X 5, 15b–17). Die Erlaubnis zur Annahme von Erbschaften findet sich bereits im Gesetz Cod. Theod. XVI 2, 4 vom 03.07.321. 10 Vgl. KLEIN, Richard, Pagane liberalitas oder christliche caritas? – Konstantins Sorge für die Bevölkerung des Reiches, in: Zum Verhältnis von Staat und Kirche in der Spätantike, hrsg. von DEMS., Tübingen 2008, S. 43–80, hier S. 74. 11 So die Zusammenfassung von Cod. Theod. XVI 2, 3 bei DÖRRIES, Hermann, Das Selbstzeugnis Kaiser Konstantins (Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, Philologisch-historische Klasse, F. 3, 34), Göttingen 1954, S. 179.

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konnten. Verstorbene Kleriker waren dementsprechend nicht durch reiche Mitbürger zu ersetzen. Kaiserliche12 und private Mittel, die der Kirche zukamen, sollten somit der Existenzsicherung dienen. Kaiser Justinian setzte die Maßnahmen Konstantins in prominenter Weise fort. Sowohl durch die Regelung des Lebens der Kleriker als auch der finanziellen Rechte und Vorrechte der Kirche13 suchte er in Anlehnung an antike Vorstellungen zur (kaiserlich geförderten)14 pax Deorum nach dem Heil für sein Volk. Er sorgte aber keineswegs nur dafür, dass das kirchliche Vermögen nicht angetastet wurde. Vielmehr unterstützte er die Kirchen darüber hinaus durch zum Teil sehr umfangreiche Stiftungen. Durch die kaiserliche Unterstützung solcher kirchlichen Stiftungen bekam der Staat nicht unwesentliche Einflussmöglichkeiten auf den Umgang mit kirchlichem Besitz. In Novelle VII vom 15. April 535 n. Chr. verbietet der Kaiser zum Beispiel strikt die Veräußerung kirchlicher Immobilien an weltliche Personen und selbst deren Tausch. Ihm selbst hingegen wird in Novelle VII, 2 §1 das Tauschrecht zugunsten des Staates zugebilligt. Begründet wird dies damit, dass der Unterschied zwischen Kirche und Staat beziehungsweise Kirchen- und Staatsangelegenheiten nicht bedeutend sei. Schließlich verfügten die Kirchen über ihr Vermögen und ihre Einkünfte ja ohnehin einzig und allein aufgrund der Freigiebigkeit des Kaisers.15 Justinians Großzügigkeit gegenüber Kirche und Klerus war zusätzlich von dem Motiv geleitet, dass der Kaiser dadurch größeren Einfluss auf die Kirche als Teil der Kultur des Byzantinischen Reiches hatte.16 An solche Begründungsmuster ist noch im kommunistischen Rumänien des 20. Jahrhunderts angeknüpft worden. DER FALL RUMÄNIEN In Rumänien wird das Grundgehalt des Klerus bis heute vom Staat bezahlt. Die Grundlage für die landesweit einheitliche, noch aktuelle Regelung ist gelegt wor-

12 Es ist nicht mehr auszumachen, für wen in der afrikanischen Kirche Konstantin aus seinen eigenen Gütern immerhin 3.000 Folles zur Verfügung stellte (vgl. den Brief an Caecilian in Eus. h.e. X 6, 1–3). Möglicherweise waren diese Mittel ebenfalls für mittellose Kleriker bestimmt. 13 Vgl. hierzu z.B. das charakteristische Prooimion zu Cod. I, 3, 43 vom 20.02.528 an Erzbischof Epiphanios von Konstantinopel, in: Codex Iustinianus (Corpus Iuris Civilis, 2), hrsg. von Paul KRUEGER, Berlin 1895, S. 28. 14 Vgl. HÄLLSTRÖM, Gunnar af, The Duties of an Emperor According to Justinian I., in: Aspects of Late Antiquity and Early Byzantium (Swedish Research Institute in Istanbul, Transactions, 4), hrsg. von L. RYDÉN und J. O. ROSENQVIST, Stockholm 1993, S. 157–162, hier S. 158. 15 Vgl. Novelle VII, 2 in: Novellae (Corpus Iuris Civilis, 3), hrsg. von Rudolf SCHOELL und Wilhelm KROLL, Berlin 1899, S. 53. 16 Vgl. ausführlich zur Kirchen- und Religionspolitik Justinians MÜLLER, Andreas, Das Konzept des Geistlichen Gehorsams bei Johannes Sinaites. Zur Entwicklungsgeschichte eines Elements orthodoxer Konfessionskultur (Studien und Texte zu Antike und Christentum, 37), Tübingen 2006, S. 96–141, bes. S. 107–111.

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den, als die Kommunisten den Rumänischen Staat regierten (1945–1989). Das Kultusgesetz vom 3. August 1948 hat im Hinblick auf die Priesterbesoldung grundlegende Weichen gestellt.17 Dabei ist die Finanzierung der Kirchen in Rumänien durch den Staat nicht gänzlich neu. Bereits im 19. Jahrhundert hat es diese Form der Unterstützung gegeben. Dabei muss allerdings zwischen den unterschiedlichen Landesteilen differenziert werden. Siebenbürgen, das Banat und die Bukowina sind bekanntlich erst 1918 zum rumänischen Staatsgebiet hinzugekommen. Hier galten eigene, noch genauer zu betrachtende gesetzliche Regelungen für die kirchliche Finanzierung. Im sogenannten Altreich, den 1861 zum Fürstentum Rumänien vereinten Woiwodaten Moldau und Wallachei, kam es 1863 zu einer entschädigungspflichtigen Enteignung kirchlichen Eigentums. Immerhin hatten bis dahin etwa 15 Prozent des rumänischen Grundbesitzes kirchlichen Stiftungen gehört.18 Das vom Staat gezahlte Gehalt an die Gemeindepriester war gleichwohl sehr niedrig. Lediglich Metropoliten, Bischöfe und Protopopen wurden nach 1860 verhältnismäßig gut bezahlt. Auch die Priester der säkularisierten Klöster bekamen einen angemessenen Lohn aus dem Staatshaushalt.19 Die meisten Kirchenbediensteten sollten mit der Novellierung des Gesetzes über die finanzielle Lage der Kirche und den Laienklerus von 1878 durch die jeweiligen politischen Gemeinden finanziert werden.20 Diese Regelung funktionierte angesichts der hohen Zahl an Priestern in den Gemeinden nur sehr begrenzt. Erst im Jahr 1893 wurde ein Gesetz über den Weltklerus verabschiedet, das für eine geordnete Regelung auch der Pfarrerbesoldung sorgen sollte.21 Ordentliche Gemeindepriester wurden fortan staatlich vergütet. Priester ohne anerkannte Pfarrstelle blieben allerdings von den Gehaltszahlungen ausgeschlossen. So kam es zu einer massiven Reduzierung des Klerus, die die geistliche Versorgung vieler Dörfer verhinderte.22 In Siebenbürgen und dem Banat, die bis 1918 zu Habsburg respektive ab 1867 zu Ungarn gehörten, wurde fast die gesamte Bistumsverwaltung vom Staat finanziert. Ferner flossen von dort Gelder für die ärmsten Priester und das Hermannstädter Seminar. Auch die siebenbürgischen Kirchensteuern wurden bis 1894 staatlich organisiert. Ab 1898 wurden die Löhne der Pfarrer durch die sogenannte congrua 17 Das Kultusgesetz findet sich in deutscher Übersetzung bei: WIEN, Ulrich A./SCHWARZ, Karl W., Die Kirchenordnungen der Evangelischen Kirche A.B. in Siebenbürgen (1807–1997) (Studien zur Landeskunde Siebenbürgens, 30), Köln/Weimar/Wien 2005, S. 333f. Im rumänischen Original findet sich das Gesetz unter der URL: http://lege5.ro/Gratuit/g42donjx/decretul-nr177-1948-pentru-regimul-general-al-cultelor-religioase (Zugriff 11.03.2016). 18 Vgl. ZACH, Christa, Rumänien, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 29, Berlin/New York 1998, S. 464–473, hier S. 471. 19 Vgl. BRUSANOWSKI, Paul, Rumänisch-orthodoxe Kirchenordnungen (1786–2008): Siebenbürgen – Bukowina – Rumänien (Studien zur Landeskunde Siebenbürgens, 33), Köln/Weimar/Wien 2011, S. 146f. 20 Vgl. ebd., S. 147f. 21 Eine deutsche Übersetzung des Gesetzes findet sich ebd., S. 157–166. Das Gesetz erforderte eine zweite Fassung im Jahr 1906, die 1909 nochmals novelliert wurde; vgl. ebd., S. 166–184. 22 Vgl. ebd., S. 154–156.

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ergänzt.23 Seit 1918 übernahm die rumänische Regierung diese staatlichen Unterstützungen. Damit unterschied sich die Finanzierung der Priester auch nach 1918 deutlich von derjenigen im Altreich. In der Bukowina, die bis 1918 zur Habsburgermonarchie gehört hatte, wurden alle orthodoxen Pfarrer direkt aus der 1862 für sie eingeführten congrua alimentiert. Ab 1875 erhielten alle dasselbe Gehalt. Darüber hinaus standen Pfarrern 44 Joch Ackerland und das Pfarrhaus zur Verfügung. Sie verfügten damit über ein im Vergleich zum Durchschnittseinkommen in der Region sehr gutes Gehalt und waren viel besser ausgestattet als ihre Amtsbrüder in Siebenbürgen, dem Banat und dem Altreich.24 Überdies profitierte die orthodoxe Kirche in der Bukowina von einem Religionsfonds, in dem sich säkularisiertes Klostergut befand und durch den orthodoxe Schulen und Baumaßnahmen finanziert werden konnten.25 Da in der Bukowina nach 1918 ebenfalls das Pfarrbesoldungssystem beibehalten wurde, gab es in Rumänien nach dem Ersten Weltkrieg keine einheitlichen Löhne für den Klerus. Dies änderte sich auch in der Zwischenkriegszeit nicht. 1925 wurde ein Gesetz für die Organisation der Kirche26 erlassen, das bis März 1938 maßgebend für die rumänisch-orthodoxe Kirche blieb und während der königlichen Diktatur (1938–1940), der Militärdiktatur (1940–1944) und nach der Machtübernahme durch die Kommunisten (1944) nur teilweise außer Kraft gesetzt wurde. Ferner wurde 1925 ein entsprechendes Statut publiziert.27 Gesetz und Statut ermöglichten die Entstehung autonomer kirchlicher Körperschaften auf allen Ebenen und in allen Reichsteilen.28 Konkret ist dort über die Ausgaben der Kirche und die Hilfeleistungen des Staates zu lesen: Art. 19: Die Ausgaben für den Unterhalt des Kultus, der Kirchendiener und der Kirchengebäude werden vornehmlich aus eigenen Mitteln bedeckt [sic], welche durch die repräsentativen und exekutiven Organe der verschiedenen Ebenen der Kirche eingerichtet und verwaltet werden. Art. 20: Für die im vorigen Artikel angegebenen Zwecke wird das Kultusministerium der Kirche alle Güter, Fonds und Stiftungen, welche ihren verschiedenen Gliederungen angehören, zur Verfügung stellen, damit sie diesen zugeteilt werden können. Die Verwaltung dieser Güter und Fonds wird von den zuständigen Organen, unter Überwachung der höheren kirchlichen Behörden, durchgeführt. [...] Art. 21: Der Staat wird auf Antrag des Kultusministeriums der Kirche die notwendigen Gelder zur Verfügung stellen, um die Einkommen des Klerus und Besoldung der kirchlichen Funktionäre (gemäß der gültigen gesetzlichen Normen über die Besoldung der öffentlichen Beamten) zu ergänzen sowie andere finanzielle Erfordernisse zu decken. Dieses erfolgt aber erst nach einer Prüfung der Bedürfnisse auf der Grundlage der kirchlichen Einnahmen [...].29

Die Finanzierung der Priester wurde demnach autonom durch die kirchlichen Stellen durchgeführt, allerdings staatlich bezuschusst, um Härtefälle aufzufangen. Bei 23 24 25 26 27 28 29

Vgl. ebd., S. 27; inhaltlich genauer ebd., S. 42f., bes. Anm. 67. Vgl. ebd., S. 198f. Vgl. ebd., S. 200–203. Deutsche Übersetzung in: ebd., S. 318–334. Deutsche Übersetzung in: ebd., S. 334–370. Vgl. ebd., S. 290. Gesetz für die Organisation der Kirche von 1925; deutsche Übersetzung in: ebd., S. 326f.

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der Umsetzung des Gesetzes gab es zahlreiche Probleme, die insbesondere zu einer finanziellen Benachteiligung der Kirche im Altreich führten. Hier weigerte sich der Primas Miron Cristea (1868–1939) nämlich, die säkularisierten Güter vom Staat einzufordern. Schon aus diesem Grund strebte die Kirche im Altreich eine vollständige, direkte Bezahlung der Priester aus dem Staatshaushalt an.30 Ferner haben die Bukarester Regierungen der Kirche stark schwankende Zuschüsse zugeteilt und deren Finanzplanung erschwert.31 Außerdem galt in Siebenbürgen noch der alte ungarische Finanzierungsschlüssel, während im Altreich wesentlich weniger Zuschüsse an die Kirche gezahlt wurden.32 Letztlich entsprach die Verteilung der Mittel an die unterschiedlichen Kirchengemeinschaften nicht dem tatsächlichen Proporz. Dies führte – anders als vom Kultusgesetz des Jahres 1928 vorgesehen33 – zu einer massiven Benachteiligung der orthodoxen Kirche34 sowie zu einer deutlichen Verärgerung der orthodoxen Hierarchie angesichts der schlechten Bezahlung ihres Klerus.35 Im Jahr 1936 wurde das Gesetz vom rumänischen Parlament noch einmal modifiziert. Insbesondere Artikel 19 erfuhr eine Veränderung und lautete fortan: Die Ausgaben für den Unterhalt des Kultus, der Kirchendiener und der Kirchenstätte werden vom Staat gedeckt, der in seinem jährlichen Haushalt die benötigten Summen einschreiben wird, auch für die Bezahlung der Löhne und auch für die materiellen Ausgaben. Die Kirchen, die am 1. April 1936 eigenes Vermögen ohne spezielle Bestimmungen besitzen, werden all diese Ausgaben aus ihren Einkünften decken. Falls diese Einkünfte nur teilweise die Ausgaben decken, wird der Staat den Rest besorgen.36

Artikel 21 erlebte im Jahr 1936 ebenfalls eine entscheidende Veränderung. Dort hieß es nun:

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Vgl. ebd., S. 326, Anm. 111. Vgl. ebd., S. 291. Vgl. ebd., S. 291, Anm. 27. Das Kultusgesetz vom 31.03.1928 findet sich in deutscher Übersetzung in: Archiv für katholisches Kirchenrecht 110 (1930), S. 235–249. Für die Finanzierung der Kirche und des Klerus sind hier die entscheidenden Paragraphen: § 29, nach dem die Kirchen die Erhaltungskosten der Kirchengebäude selbst zu tragen haben; nach § 30 dürfen die Kirchen dafür Beiträge (Kontributionen) sammeln, die durch die Steuerorgane des Staates eingetrieben werden können; nach § 31 bemessen sich staatliche Unterstützungen u.a. nach dem Anteil der rumänischen Staatsbürger in der jeweiligen Kirche; sie können denjenigen entzogen werden, die der Staatssicherheit zuwider handeln; nach § 32 erfolgt die Klerusbesoldung nach gesetzlichen Normen im Einklang mit Gehältern für öffentliche Beamte – welche Beamte das sind, wird im Gesetz nicht weiter festgehalten; nach § 33 müssen neue zu unterstützende Gemeinden mindestens 400 Familien in Städten und 200 Familien auf dem Land zählen; nach § 34 hat das Kultusministerium die ordnungsgemäße Ausgabe der Unterstützung zu kontrollieren; ihm sind nach § 35 Ernennungen von Priestern und Kirchenbeamten auf staatlich subventionierten Posten mitzuteilen. 34 Vgl. BRUSANOWSKI, Kirchenordnungen, S. 292f. 35 Vgl. ebd., S. 293. 36 Vgl. das Gesetz Monitorul Oficial [im Folgenden: M. Of.] Nr. 101 vom 04.05.1936; deutsche Übersetzung in: ebd., S. 326, Anm. 111.

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Andreas Müller Die Diener der Kirche und ihrer Einrichtungen sind Staatsbeamte. Sie erfreuen sich bezüglich des Lohnes aller Rechte und ordnen sich allen Pflichten unter, die in dem Statut für die Staatsbeamten vorgesehen sind. Die allgemeinen Normen der Besoldung werden durch ein zukünftiges Gesetz vorgeschrieben. Bis zur Billigung dieses Gesetzes werden die Normen durch die jährlich vorgesehenen Dienstleistungseinrichtungen festgelegt.37

Die Bezeichnung der Priester als Staatsbeamte ist im nun für ganz Rumänien geltenden Recht neu. Eine bis ins Letzte geregelte, zuverlässige Besoldung der Priester stand aber trotz dieses Gesetzes immer noch aus. So strebte die Kirchenleitung zum Beispiel eine Gleichsetzung der Pfarrerbesoldung mit derjenigen der Lehrer an. Das in Artikel 21 angekündigte Gesetz wurde in den Kriegsjahren und während der Diktaturen allerdings nicht verabschiedet. Es ist bemerkenswert, dass die entscheidenden Regelungen in eine Zeit fielen, in der man sie wohl am wenigsten erwartet hätte, nämlich in die Herrschaft der kommunistischen Regierung. Rumänisch-orthodoxe Theologen und Historiker haben nach 1989 die kommunistische Herrschaft meist als Zeit des Leidens und der Martyrien stilisiert.38 Dennoch wurden in dieser Periode auch Gesetze verabschiedet, die der Kirche auf den ersten Blick entgegenkamen. Faktisch waren die Kommunisten bereits 1945 an die Macht gekommen, obwohl Rumänien offiziell bis 1948 noch eine konstitutionelle Monarchie blieb. Im April 1945 sorgte der erste kommunistische Ministerpräsident Petru Groza (1884– 1958) für ein „Dekret-Gesetz bezüglich der Besoldung der Priester, Diakone und Kirchensänger“.39 Mit dieser Regelung wurde die Besoldung der Kirchenbediensteten tatsächlich derjenigen der Lehrer gleichgestellt. Die Regierung erfüllte mit dem Gesetz die erwähnte Forderung der Kirche aus der Zwischenkriegszeit. Durch die Zusicherung einer geregelten Besoldung versuchte die kommunistische Regierung, den Widerstand der Kirchenbediensteten gegen das neue Regime zu brechen.40 Der Pfarrerssohn Groza sorgte darüber hinaus nicht nur dafür, dass die Ländereien der Kirche von der Agrarreform ausgenommen wurden, sondern richtete auch ein eigenes Ministerium für kirchliche Angelegenheiten ein, das sogenannte Kultusministerium, das der Leitung von Pfarrer Constantin Burducea unterstand.41 Die Wahlen vom 28. März 1948 ermöglichten den Kommunisten in Rumänien mit einer Mehrheit von 405 zu 9 Mandaten die uneingeschränkte Machtausübung und führten in einen Einparteienstaat. Bereits im April wurde eine neue, provisorische Verfassung für das Land verabschiedet.42 Das Kultusgesetz fällt also in die frühe Phase der Neugestaltung der rumänischen Gesellschaft unter kommunistischem Vorzeichen. Sie ist eng verbunden mit der Neubesetzung der Synode durch 37 Gesetz M. Of. Nr. 101 vom 04.05.1936; deutsche Übersetzung in: ebd., S. 327, Anm. 114. 38 Vgl. etwa den Beitrag von VICOVAN, Ion, Die Rumänisch-Orthodoxe Kirche während des Kommunismus (1945–1989), in: International Journal of Orthodox Theology 4/1 (2013), S. 167–188, u.a. S. 170, 174. 39 Dectreul Lege privitor la salarizarea preoţilor, diaconilor şi cântăreţilor bisericeşti, in: M. Of. Nr. 93 vom 21.04.1945; vgl. BRUSANOWSKI, Kirchenordnungen, S. 309. 40 Vgl. ebd. 41 Vgl. ebd. 42 Vgl. ebd., S. 389.

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regimetreue Bischöfe.43 Selbst der Patriarch war Teil der Personalrochade: Der neue Patriarch Justinian (Marina; 1901–1977) hatte enge Beziehungen zum Staatsführer Gheorghe Gheorghiu-Dej, den er während seiner Flucht vor staatlichen Stellen im Jahr 1944 vorübergehend in seinem Pfarrhaus versteckt hatte, und kam deswegen in sein Amt. Allerdings hat er nach Meinung vieler Historiker die Erwartungen der kommunistischen Machthaber nicht erfüllt.44 Stattdessen sorgte er für eine Stärkung des Patriarchenamtes, indem er die Rolle des Patriarchen als Vermittler zwischen Kirche und Staat stärkte: Nicht die ihm untergeordneten Geistlichen, sondern der Patriarch selbst war für die Verhandlungen mit der Regierung zuständig. Als solcher strebte er eine Art modus vivendi der Kirche in einem materialistischen Staat an.45 Staatliche Organe überwachten die Kirche: Pastoralschreiben und Schriften religiösen Inhalts wurden zensiert, die Distribution von Bibeln und Religionsbüchern reduziert und die Priester von Kultusinspektoren streng kontrolliert.46 Die neue Verfassung sowie das neue Kultusgesetz erlaubten einen Eingriff in zentrale Stellen in Kirche und Theologie. Dies galt unter anderem für die theologischen Schulen. Diese wurden nun der direkten Kontrolle des Kultusministeriums unterstellt. Die Organisation des Unterrichts oblag hingegen nicht mehr dem Staat, sondern dem jeweiligen Kultus. Insofern gab es eine verfassungsmäßig proklamierte Trennung zwischen Staat und Schule. Darüber hinaus wurden „Spezialschulen“ für die Ausbildung kirchlicher Mitarbeiter eingerichtet. Dementsprechend betrieb die orthodoxe Kirche nun Schulen für Kirchensänger, Priesterseminare und Theologische Seminare. Die ehemaligen Theologischen Fakultäten und Akademien wurden zu theologischen Instituten umgewandelt.47 An öffentlichen Schulen wurde der Religionsunterricht eingestellt und stattdessen die atheistische Erziehung in verschiedenen Fächern gefördert.48 Ein neues Schulgesetz führte zur Verstaatlichung der noch existierenden kirchlichen Schulen.49 Das Kultusgesetz vom 3. August 1948 erwähnte in Artikel 1 nicht mehr die Freiheit der Religionsausübung, sondern nur allgemein die Gewissensfreiheit. Auf diese Weise räumte der Staat den Bürgern das Recht ein, jeder Religion oder jedem religiösen Glauben anzuhängen, „sofern deren Ausübung nicht gegen die Verfassung, gegen die öffentliche Sicherheit und Ordnung oder gegen die guten Sitten verstößt“.50 Die vom Gesetz betroffenen „Kulte“ mussten ihre Anerkennung durch 43 Vgl. zu den ersten Maßnahmen der kommunistischen Regierung u.a. VICOVAN, Kirche, S. 171– 174. 44 Zu Patriarch Justinian vgl. den kurzen Überblick bei BRUSANOWSKI, Kirchenordnungen, S. 385–388. 45 Vgl. ebd., S. 387. 46 Vgl. VICOVAN, Kirche, S. 175. 47 Vgl. ebd., S. 182. 48 Vgl. ebd., S. 183. Derartige Maßnahmen wurden ab 1990 rückgängig gemacht. Von dieser Zeit an schloss der Lehrplan der öffentlichen Schulen das Fach Religion wieder ein. Außerdem wurden u.a. zahlreiche orthodoxe Fakultäten gegründet; vgl. ZACH, Rumänien, S. 472. 49 Vgl. BRUSANOWSKI, Kirchenordnungen, S. 390. 50 Kultusgesetz vom 03.08.1948; zit. nach ebd.

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den Staat neu beantragen. Dem Antrag beim Kultusministerium hatten die Kulte Statuten über ihre Organisation und Funktion zusammen mit einem Glaubensbekenntnis beizufügen.51 Die zentrale Rolle des Kultusministeriums bei der Verwaltung der Kulte des Landes basierte auf dem Kultusgesetz von 1948: Das Ministerium kontrollierte die administrative und finanzielle Organisation der einzelnen Kulte (vgl. vor allem Art. 25). Ihm oblag darüber hinaus die letzte Hoheit über die Haushalte der Kulte (vgl. Art. 30). Im Kultusgesetz ist auch von Subventionen für die Kulte die Rede (vgl. Art. 32). Die Verwendung dieser Subventionen unterstand der Prüfung durch das Kultusministerium. Entscheidend für die Fragestellung des vorliegenden Beitrages ist Artikel 33, der die Kontrolle der Subventionen detailliert thematisiert: Zuwiderhandlungen gegen Gesetze, die die demokratische Ordnung der Rumänischen Volksrepublik betreffen, können ganz oder teilweise den Entzug der vom Staat gewährten Subventionen zur Folge haben. Kultdiener mit antidemokratischer Haltung können zeitweise oder endgültig von der vom Staat gewährten Gehaltszahlung ausgeschlossen werden.52

Bemerkenswert ist, dass der kommunistische Staat offenbar den Bediensteten aller Kulte Gehaltszahlungen respektive den Kulten Subventionen zukommen ließ. Diese waren aber an die strikte Voraussetzung gebunden, dass die Kultdiener im Sinne des kommunistischen Staates agierten. Obwohl diese Einschränkung prinzipiell an die Regelung in Art. 31 des Kultusgesetzes vom 31. März 1928 anknüpfte,53 bekam sie unter dem Vorzeichen der kommunistischen Regierung nun eine vollkommen neue Brisanz. Das Kultusministerium verfügte nämlich über die Möglichkeit, über Gehaltszahlungen die von Kulten respektive den Kirchen verkündeten Inhalte zu steuern. Der kommunistische Staat konnte durch die Finanzierung der Kleriker jegliche Opposition bereits im Keim ersticken.54 In diesem Sinne ist die ein Jahr nach der Publikation des Kultusgesetzes von Kultusminister Stanciu Stoian (1900–1984) gemachte Aussage zu interpretieren: In der großen Mehrheit der modernen Länder der Welt ist die Kirche vom Staat getrennt. In der RVR [Rumänischen Volksrepublik] sind die Kulte mit hohen Gläubigenzahlen im Haushalt des Staates einbezogen. Es ist eine Achtung, die der Staat für die Gemeinschaft der Gläubigen dieser Kulte zeigt, da diese Gläubigen auch Steuerzahler sind; aber es wäre eine Ungerechtigkeit und eine Beleidigung dieser Steuerzahler selbst, wenn diejenigen, die widersetzliche Haltungen gegenüber dem Volk und dessen volksdemokratischem Staat zeigen, in diesen Aktionen selbst unterstützt würden.55

Die Finanzierung der „Kultdiener“, also auch der orthodoxen Kleriker, diente in Rumänien in erster Linie der besseren Kontrolle und Steuerung der Kirchen und

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Vgl. ebd., S. 391. Art. 33 des Kultusgesetzes; zit. nach ebd. Vgl. Anm. 33. Vgl. BRUSANOWSKI, Kirchenordnungen, S. 391. STOIAN, Stanciu, Cultele religioase în Republica Populară Română, Bukarest 1949; zit. nach BRUSANOWSKI, Kirchenordnungen, S. 391f.

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Religionsgemeinschaften. Die Kontroll- und Überwachungsfunktion des Kultusministeriums wurde dabei auch eigens in einem Organisationsdekret festgeschrieben.56 Nach seiner Auflösung im Jahr 1956 wurden die Aufgaben des Kultusministeriums vom „Kultusdepartement beim Ministerrat“ übernommen.57 Die (Mit-)Finanzierung der Kulte durch den Staat ist in Rumänien allerdings bis in die Gegenwart beibehalten worden. Die rumänisch-orthodoxe Kirche gab sich am 19. und 20. Oktober 1948 vor dem Hintergrund des Kultusgesetzes ein Statut für die Organisation und Funktion, in dem auch die Finanzierungsfragen aufgegriffen wurden.58 Darin wird zwischen Ausgaben für den Kultus allgemein und für die Kirchenbediensteten unterschieden. Artikel 189 lautet: Die Ausgaben für den Unterhalt des orthodoxen Kultus werden aus den freiwilligen Beiträgen der Gläubigen und aus eigenen kirchlichen Einkünften gedeckt. Die Löhne der kirchlichen Diener und Beamten der eparchialen und patriarchalen Stätten werden aus dem jährlichen Staatshaushalt gewährt.59

Nach Artikel 190 erfolgte die Besoldung des Personals der rumänisch-orthodoxen Kirche gemäß den allgemeinen, für Beamte gültigen Vorschriften. Beachtenswert ist, dass die Ernennungen in allen kirchlichen Dienststellen dem Kultusministerium mitzuteilen waren.60 Damit gestand die Kirche dem Staat eine beträchtliche Kontrollfunktion zu. Nach 1989 wurde zumindest dieser letzte Artikel des Statuts verändert. Ab dem 26. September 1990 lautete er deutlich eingeschränkt: „Die Ernennungen in allen kirchlichen Dienststellen werden den zuständigen staatlichen Behörden zwecks Besoldungsanteilszahlung mitgeteilt“.61 Fortan sollten nur noch dem Staat die Besoldungspflichten angezeigt werden. Das Statut blieb in großen Teilen noch bis 2006 in Kraft und wurde lediglich nachnovelliert.62

56 Vgl. Dekret Nr. 1388 vom 03.08.1948, als Dekret Nr. 134 1949 novelliert, in: M. Of. Nr. 1388 vom 05.02.1949. Der Hinweis findet sich bei BRUSANOWSKI, Kirchenordnungen, S. 392. 57 Vgl. ebd. 58 Das Statut von 1948 findet sich in deutscher Übersetzung ebd., S. 427–478. 59 Vgl. ebd., S. 475. 60 Vgl. ebd. 61 Beschluss der Nationalen Kirchenversammlung Nr. 9084 vom 26.09.1990; deutsche Übersetzung in: ebd., S. 475, Anm. 159. 62 Zum Verhältnis der rumänisch-orthodoxen Kirche zu ihrer Vergangenheit während des Kommunismus bzw. der Veränderungen nach 1989 vgl. u.a. TURCESCU, Lucian/STAN, Lavinia, The Romanian Orthodox Church and Democratisation. Twenty Years Later, in: International Journal for the Study of the Christian Church 10 (2010), S. 144–159. Spätestens unter Patriarch Daniel Ciobotea habe sich ein Modell des „partnership“ zwischen Staat und Kirche auf Augenhöhe insbes. mit Blick auf die Wohlfahrt durchgesetzt; vgl. ebd., S. 145.

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Im Jahr 2007 wurde vor dem Hintergrund des Gesetzes über die Bestallung von Klerikern Nr. 142/199963 und des neuen staatlichen Kultusgesetzes Nr. 489/200664 ein neues Statut für die rumänische Kirche verfasst. Dieses wurde am 28. November 2007 in der Synode verabschiedet.65 Es unterscheidet erneut zwischen Ausgaben für die Kultuseinheiten und den Ausgaben für die Bediensteten. Allerdings werden die Kultuseinheiten nun auch teilweise staatlich bezuschusst. So lautet Artikel 189 im neuen Statut: Die Ausgaben für den Unterhalt und die Funktion der Kultus-Einheiten sowie für Reparatur und Baumaßnahmen werden aus den freiwilligen Beiträgen der Gläubigen, aus den Einkünften der Kultus-Einheiten, die gesetzkonform aus eigenen Tätigkeiten oder aus Zuschüssen aus dem Staatsbudget sowie aus dem Budget der lokalen öffentlichen und anderer [sic] Institutionen stammen, gedeckt.66

Die Besoldung beschränkt sich hingegen nicht mehr allein auf den Staat. Vielmehr ist in dem Kirchenstatut nun eine Art Mischfinanzierung vorgesehen. Dementsprechend legt der Artikel 190 des Statutes fest: Die Besoldung des kirchlichen Führungspersonals und des Klerus- und Laien-Personals erfolgt gemäß den allgemein gültigen Normen der Rumänischen Orthodoxen Kirche, und zwar durch 63 Das Gesetz Nr. 142 vom 27.07.1999 findet sich in: M. Of. Nr. 361 vom 29.07.1999; vgl. dazu BRUSANOWSKI, Kirchenordnungen, S. 423, Anm. 2. 64 Entscheidend für die Finanzierung von Kirche und Klerus ist bes. Art. 10 des Gesetzes vom 28.12.2006. Dieses ist in Auszügen abgedruckt in: Stat şi religii în România o relaţie transparentă?, hrsg. von APADOR-CH, Bukarest 2008, S. 67–77. Die entsprechenden Artikel (vgl. ebd., S. 69) lauten in deutscher Übersetzung, die ich Stefan Toma verdanke: „Art. 10. – (1) Die Kosten für die Unterhaltung der Kulte und die Entfaltung ihrer Aktivitäten werden in erster Linie durch eigene Einkünfte der Kulte gedeckt, die diese – im Einvernehmen mit ihren Satzungen – festlegen und verwalten können. (2) Die Kulte können Beiträge ihrer Mitglieder für ihre Aktivitäten erheben. (3) Der Staat unterstützt die Mitglieder der Kulte durch Steuererleichterungen [d.h. auf die Einkommensteuer] und ermutigt diese, die Kulte im Rahmen des Gesetzes zu unterstützen. (4) Der Staat unterstützt auf Antrag durch einen Beitrag – in Relation zu der Anzahl der Mitglieder [rumänische Staatsbürger] der religiösen Gemeinschaft und den tatsächlichen Anforderungen [Subsidiarität und Aktivitäten] – die Gehälter der klerikalen und nichtklerikalen Angestellten einer anerkannten religiösen Gemeinschaft. Religiöse Gemeinschaften mit geringeren finanziellen Möglichkeiten werden in höherem Maße durch den Staat unterstützt – im Rahmen der vom Gesetzgeber festgelegten Bedingungen. (5) Niemand kann durch administrative oder andere Methoden zu einem Beitrag für eine religiöse Gemeinschaft gezwungen werden. (6) Die anerkannten Kulte können – auf Antrag – eine materielle Unterstützung für die Unkosten erhalten, die bei der Unterhaltung der Kultgebäude, bei der Restaurierung oder beim Neubau entstehen. Diese Unterstützung geschieht in Relation zur Anzahl der Gläubigen, entsprechend der letzten Volkszählung, und dem tatsächlichen Bedarf. (7) Der Staat unterstützt die Kulte auch in ihrer Funktion als Anbieter für soziale Dienste. [...] Art. 11. Die staatliche Unterstützung besteht auch in der Gewährung von Steuervergünstigungen, im Rahmen des Gesetzes.“ Vgl. BRUSANOWSKI, Kirchenordnungen, S. 422–425. 65 Vgl. ebd., S. 479. Das Statut findet sich in deutscher Übersetzung ebd., S. 481–550. Vgl. zu dem Text ferner TOBLER, Stefan, Das Verhältnis von Minderheitskirchen und Mehrheitskirche, in: Una Sancta 63 (2008), S. 44–57, hier S. 50–53. 66 Abgedruckt in: BRUSANOWSKI, Kirchenordnungen, S. 547f.

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Beiträge aus dem eigenen Haushalt der Kultus-Einheiten, durch Beiträge aus dem StaatsBudget, aus dem Budget der lokalen öffentlichen Behörden und anderer Institutionen, die gesetzkonform geleistet werden.67

Gemäß dieses Artikels ist die Finanzierung auch von Klerikern nicht mehr allein durch den Staat, sondern ebenfalls durch die Kommunen und vor allem durch den Gemeindehaushalt mit zu bestreiten. Besonders hervorzuheben ist, dass die Besoldungshoheit bei der Kirche selber liegt. Von einer Kontrolle durch den Staat ist nicht mehr die Rede. Es wird lediglich eine notwendige Gesetzeskonformität gefordert. Eine ähnliche Mischfinanzierung ergibt sich nach Artikel 191 auch für die Kultuseinheiten im Ausland, die zumindest finanzielle Hilfe und Subventionen von allen genannten Stellen beantragen können. Neu ist in diesem Artikel des Weiteren der Hinweis auf eine mögliche Unterstützung karitativer Tätigkeiten der Gemeinden. Obwohl das Statut aus dem Jahr 2007 die Finanzierung von Klerikern nicht mehr ausschließlich dem Staat als Aufgabe zuwies und keine staatliche Kontrolle der Ausgaben avisierte, hat sich dennoch als Erbe aus der kommunistischen Zeit eine deutliche Beteiligung öffentlicher Stellen bei der Priesterfinanzierung in Rumänien erhalten.68 DER FALL GRIECHENLAND In Griechenland sind – wie bereits eingangs erwähnt – angesichts der aktuellen Wirtschaftskrise der Besitz der Kirche und die Besoldung von Priestern stark diskutierte Themen. In diesem Zusammenhang hat sogar der Athener Erzbischof Ieronymos in den letzten Jahren gleich zwei Bücher über den kirchlichen Besitz respektive die Besoldung der Priester publiziert. Seine gelegentlich stark apologetisch klingenden Argumentationen bemühen sich um die Widerlegung von (auch im Ausland kolportierten) Gerüchten und falschen Vorstellungen, nach denen die Kirche Griechenlands über immense Schätze verfüge und mit diesen wesentlich zur Lösung der Wirtschaftskrise beitragen könne.69

67 Abgedruckt in: ebd., S. 548. 68 Vgl. zu genauen Zahlen der gegenwärtigen Finanzierung des Klerus durch den rumänischen Staat vor dem Hintergrund des Gesetzes 142/1999 die Studie der Organisation APADOR-CH, Stat, bes. S. 17–20. 69 Vgl. ERZBISCHOF VON ATHEN UND GANZ GRIECHENLAND IERONYMOS II., Εκκλησιαστική περιουσία και μισθοδοσία του κλήρου, Athen 2012, S. 11f.; das zweite Buch des Hierarchen trägt den Titel: ERZBISCHOF VON ATHEN UND GANZ GRIECHENLAND IERONYMOS II., Η μισθοδοσία του εφημεριακού κλήρου στην Ελλάδα, Athen 2015. Diese Publikation habe ich nicht einsehen können.

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Bereits 2010 wurden zunehmend auch kirchliche Grundstücke der Einkommensteuerpflicht unterzogen, sofern sie einer wirtschaftlichen Nutzung unterlagen.70 Unter der Regierung von Antonis Samaras sind Schritte unternommen worden, Einsparungen durch Kürzung der Priestergehälter zu erzielen. So ging man Anfang Juli 2012 von ca. 10.300 Geistlichen in Griechenland aus, denen der Staat mehr als 200 Millionen Euro im Jahr zu zahlen habe. Die Hälfte dieser Gehälter könne die Kirche aus ihrem Grundbesitz finanzieren, so dass für den Staat eine Einsparung von etwa 100 Millionen Euro jährlich zu Buche schlüge.71 Im September 2012 wurden vom Allgemeinen Büro für Religionsangelegenheiten (Γενική Γραμματεία Θρησκευμάτων) des Bildungsministeriums aktuelle Zahlen über die Gehälter von Klerikern veröffentlicht. Diese lagen zwischen 770,‒ € netto für einen jungen Kleriker und 2.213,‒ € für den Erzbischof mit 33 Dienstjahren.72 Die Daten wurden publiziert, um zu demonstrieren, dass die Geistlichen von der vorgesehenen Lohnreduzierung im Land nicht ausgenommen seien.73 Im unmittelbaren Zusammenhang diskutierte die Ständige Synode über die zahlreichen finanziellen Bindungen beziehungsweise den finanziellen Bestand der griechischen Kirche. Während die Ausgaben unter anderem für Gehaltszahlungen gestiegen seien, wären die Einnahmen der Kirche ständig gesunken.74 Tatsächlich sind die staatlichen Besoldungen der Kleriker nicht übertrieben hoch. Aktuell werden sie teilweise deutlich dezimiert. So gilt ab dem 1. Januar 2016 in Griechenland eine einheitliche Vergütung für staatliche Beamte. Dadurch kommt es zu einer Gehaltsreduzierung für Kirchenhierarchen um 165,‒ € monatlich. Die schlechter bezahlten Priester werden solche Gehaltseinbußen nicht haben. Die Grundgehälter der Hierarchen sind nach den Angaben in der kirchlichen Presse seit dem 1. August 2012 ohnehin nicht sehr hoch. Das Grundgehalt des Erzbischofs

70 Vgl. das Gesetz Nr. 3842 vom 23.04.2010, Φ[ύλλο] Ε[φημερίρδας] Κ[υβερνήσεως] 58, bes. Art. 12, § 4. Der Steuersatz liegt demnach bei 20 Prozent. Vgl. ferner den Artikel von STEINVORTH, Daniel, „Heiliger Bund“ vom 01.10.2012, URL: http://www.spiegel.de/spiegel/ print/d-88861763.html (Zugriff 12.12.2015). 71 Vgl. den Artikel „Griechenland will Priestern nur halbes Gehalt zahlen“ vom 13.07.2012, in: DiePresse.com, URL: http://diepresse.com/home/wirtschaft/eurokrise/1264862/print.do (Zugriff 12.12.2015). 72 Vgl. den Artikel „Στη δημοσιότητα οι μισθοί ιερέων“ vom 07.09.2012, URL: http://www.skai.gr/news/greece/article/211939/sti-dimosiotita-oi-misthoi.iereon/ (Zugriff 05. 11.2015). 73 Vgl. auch den Artikel in Vima Online vom 06.09.2012, „Στη δημοσιότητα οι μισθοί των κληρικών από το υπουργείο Παιδείας“, URL: http://www.tovima.gr/society/article/?aid= 473628 (Zugriff 05.11.2015). Dort findet sich auch eine Tabelle mit den aktuellen Gehältern der Kleriker. 74 Vgl. den Artikel „Στη δημοσιότητα ο μισθός του Αρχιεπίσκοπου Ιερώνυμου“ vom 06.09.2012, URL: http://news247.gr/eidiseis/koinonia/sth-dhmosiothta-o-misthos-toy-archiepiskopoy.191 8884.html (Zugriff 05.11.2015).

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wird mit 1.437,‒ €, jenes von Metropoliten mit 1.274,‒ € und dasjenige der Bischöfe mit 1.089,‒ € angegeben.75 Wie aber kommt es überhaupt zu einer Bezahlung des Klerus durch den griechischen Staat? Können kirchliche Vertreter zu Recht auf eine solche Finanzierung bestehen? Will man diese Fragen nicht direkt unter Rückgriff auf die Spätantike beantworten, ist ein detaillierter Blick in die Entwicklung der Priesterfinanzierung seit den Anfängen des neugriechischen Staates im 19. Jahrhundert notwendig. In diesem Kontext stellt sich grundsätzlich die Frage nach dem Umgang des Staates mit kirchlichem Besitz, der seit der Spätantike angesammelt und durch die Zeit des Osmanischen Reiches hindurch nicht wesentlich dezimiert worden ist.76 In Griechenland spielte bei der Entwicklung der staatlichen Finanzierung kirchlicher Aufgaben nämlich vor allem die Vereinnahmung von Kirchengut eine zentrale Rolle. So sind seit dem 19. Jahrhundert insbesondere klösterliche Stiftungen säkularisiert und in staatlichen Besitz übernommen worden. Nach dem griechischen Aufstand des Jahres 1821 fanden mehrere Nationalkongresse statt, auf denen die Struktur des neuen griechischen Staates beraten wurde. Auf dem 4. Nationalkongress von Argos am 2./14. August 1829 wurde ein Dekret erlassen, das der Regierung zur Finanzierung karitativer Aufgaben, des Klerus und der Erziehung die Vollmacht gab, über kirchliches Eigentum zu verfügen.77 Unter Tagesordnungspunkt 3 wurde dementsprechend die Einrichtung einer Art „Gotteskasten“ (γαζοφυλάκιον) beschlossen, in den säkularisiertes Klostergut zu übertragen und aus dem entsprechende Ausgaben zu tätigen wären. Am 8. Oktober 1829 verfasste der griechische „Kyvernitis“ Ioannis Kapodistrias das Schreiben Πρός τούς ἱερωτάτους Μητροπολίτας, Θεοφιλεστάτους Ἐπισκόπους καί Ἐκκλησιαστικούς Τοποτηρητάς („An die Eminenzen Metropoliten, Exzellenzen Bischöfe und den Ortsklerus“), in dem er eine Erhebung der Bedürfnisse der Kirche ankündigte und betonte, dass der Klerus seinen Bedarf decken können müsse.78

75 Vgl. POLYGENI, Emilios, Τι αλλάζει στους μισθούς της Εκκλησίας με το νέο μισθολόγιο vom 26.07.2015, URL: http://www.romfea.gr/ekklesia-ellados/2018-ti-allazei-stous-misthous-tisekklisias-me-to-neo-misthologio (Zugriff 05.11.2015). 76 Vgl. u.a. die Ausführungen von IERONYMOS II., Εκκλησιαστική περιουσία, S. 28–32. 77 Das Dekret wird zit. in: MAURER, Georg Ludwig von, Das griechische Volk in öffentlicher, kirchlicher und privatrechtlicher Beziehung vor und nach dem Freiheitskampfe bis zum 31. Juli 1834, Bd. I, Heidelberg 1835, S. 480: „Danach war der Präsident autorisirt, zu Gunsten der Kirche, der Schulen und der Staatsdruckereien, nicht allein über die, den mit den milden Stiftungen vermachten, Legate, sondern auch noch über die Einkünfte der Kirchen und Klöster zu verfügen. Aus dem Ertrage der in Anspruch genommenen Revenuen sollte eine unter der Aufsicht des Staates stehende Kasse errichtet werden”. Freilich ging es bei dem Beschluss nicht um eine Aufhebung der Klöster, sondern nur um die Nutzung der Einkünfte derselben. Vgl. die Verfassung vom 15.03.1832 in: TZORTZATOS, Varnabas D., Ἡ καταστατικὴ Νομοθεσία τῆς Ἐκκλησίας τῆς Ἑλλάδος ἀπὸ τῆς συστάσεως τοῦ Ἑλληνικοῦ Βασιλείου, Athen 1967, S. 62; vgl. FRAZEE, Charles A., The Orthodox Church and Independent Greece 1821–1852, Cambridge 1969, S. 81. 78 Vgl. IERONYMOS II., Εκκλησιαστική περιουσία, S. 55f.

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Nach der Ankunft des noch minderjährigen Königs Otto am 18. Januar 1833 in Nafplio nahm sich zunächst eine Regentschaft auch der kirchenpolitischen Maßnahmen an.79 Am 15. März 1833 wurde ein Ausschuss für Kirchenfragen gebildet, der sich aus sechs Mitgliedern und dem Sekretär für Kirchenangelegenheiten zusammensetzte.80 Dieser regelte als Erstes die notwendigsten kirchlichen Fragen im neuen Königreich. Am 26. April 1833 beriet der Ausschuss über die Vergütung von Klerikern. Dabei kam es zu folgendem Dringlichkeitsbeschluss, der für die folgenden Jahrzehnte bindend blieb: Die Bischöfe wurden ab diesem Zeitpunkt direkt vom Staat aus noch festzulegenden Mitteln bezahlt, Priester, Diakone und die übrigen Kirchenbediensteten hingegen in erster Linie von ihren Gemeinden. Sofern die Mittel der Gemeinden nicht ausreichten, sollte die Regierung die Fehlbeträge ergänzen.81 Für die zu verteilenden staatlichen Mittel zur Besoldung musste nach entsprechenden Einnahmequellen gesucht werden. Diese wurden zunächst insbesondere aus den Einnahmen der Klöster und Bistümer requiriert.82 Dennoch reichte der Regierung diese Art der Finanzierung bald nicht mehr aus. So kam es zur Säkularisierung von – nach Meinung der Regierung – überschüssigen Klöstern.83 Dabei verstand der zuständige Jurist der Regentschaft Georg Ludwig Maurer (1790–1872) seine Maßnahmen lediglich als Umsetzung des Beschlusses des Nationalkongresses von Argos aus dem Jahr 1829.84 Obendrein ließ er die Maßnahme durch die von der Regierung neu eingerichtete „permanente Synode“ am 19. August/1. September 1833 absichern. Daraufhin war es mit einem Dekret der Regentschaft vom 25. September/7. Oktober 1833 zur Aufhebung von 393 der insgesamt 563 Klöster gekommen.85 Aus den Einnahmen sollten ausschließlich kirchliche und schulische Zwecke finanziert werden.86 Am 1./13. Dezember 1834 richtete die Regentschaft entsprechend den Beschlüssen von Argos eine „Geistliche Kasse“ (ἐκκλησιαστικὸν ταμεῖον) ein. In der deutschen Fassung des Gesetzes, die die Regentschaft zu dieser Zeit neben der griechischen publizierte, wird diese Kasse als eine „für Cultus und oeffentlichen Unterricht“ bezeichnet. Sie diente insbesondere dazu, den Umgang mit kirchlichen Mitteln respektive Fonds möglichst transparent zu gestalten (Art. 10). In sie sollten 79 Vgl. dazu ausführlich MÜLLER, Andreas, „Eure Religion gewissenhaft zu beschirmen“. Zur Kirchenpolitik des katholischen Wittelsbachers Otto im Orthodoxen Griechenland, in: Kerygma und Dogma 50 (2004), S. 226–257. 80 Vgl. dazu u.a. ebd., S. 237. 81 Das Protokoll der Sitzung ist abgedruckt in: OIKONOMOS, Konstantinos, Τὰ σωζόμενα ἐκκλησιαστικὰ συγγράματα, Bd. 2, Athen 1864, S. 105f. 82 Vgl. das Protokoll der 10. Sitzung des Ausschusses vom 29.04.1833, in: ebd., S. 109. 83 Vgl. zur Säkularisierung der Klöster MÜLLER, Religion, S. 247–250. 84 Vgl. MAURER, Georg Ludwig von, Das griechische Volk in öffentlicher, kirchlicher und privatrechtlicher Beziehung vor und nach dem Freiheitskampfe bis zum 31. Juli 1834, Bd. II, Heidelberg 1835, S. 182. 85 Der Erlass wurde nicht publiziert. Er fand seine Anwendung u.a. im Gesetz über die Staatskassen vom 06./18.02.1834, §§ 21 und 24, im Regierungsblatt 14 vom 13./25.04.1834, S. 103f. 86 Vgl. zu den Maßnahmen MAURER, Das griechische Volk, Bd. II, S. 181f. Maurer kommentiert die neue Zahl der Klöster ebd., S. 182, freilich folgendermaßen: „Eine für das menschenleere Griechenland immer noch zu grosse Anzahl!”

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vor allem alle jene Einkünfte fließen, die aus den säkularisierten Klöstern des Landes stammten (Art. 11). Der Staatssekretär für Kultus und Unterricht übte die Verfügungsgewalt aus (Art. 14). An demselben Tag richtete die Regentschaft auch eine Kommission (ἐπιτροπή) der „Geistlichen Kasse“ ein. Die Kommission bestand aus fünf Personen und unterlag der unmittelbaren Leitung durch das Ministerium für Kultus und Schulwesen (Art. 1). Sie sollte unter anderem einen Kataster (γενικὸν κτηματολόγιον) über alle beweglichen und unbeweglichen Güter geistlicher Anstalten sowie eine Übersicht über die Einkünfte aus denselben erstellen (Art. 2, 1f.). Ferner war ein Haushaltsplan für die Ausgaben an staatliche und kirchliche Institute zu entwerfen (Art. 2, 4). Eine genauere Spezifizierung dieser Ausgaben fehlt in den beiden Gesetzen vom 1./13. Dezember 1834 allerdings.87 Die zweckwidrige Veräußerung kirchlicher Gefäße sollte durch Klosteraufhebungen streng geahndet werden (Art. 2, 9). Auch das Gehalt der Mitglieder der Kommission wurde aus der Kasse bezahlt (Art. 8). Bei ihr befanden sich letztlich die Akten über die Auflösung von Klöstern (Art. 9). Am 20. Mai/1. Juni 1836 wurde ein Gesetz über die kirchlichen Besitztümer erlassen. Darin gehen die Gesetzgeber auf Gebäude ein, die nicht mehr für den Gottesdienst genutzt werden konnten. Einkünfte aus der Auflösung von Athener Klostergut sollten der Errichtung einer Universität zu Gute kommen. Gemeindeeigentum innerhalb der Stadt war zu versteigern (Art. 3). Die Einkünfte sollten sowohl in gottesdienstliche als auch in karitative Einrichtungen fließen. Unter anderem war der Bau neuer, angemessen großer Kirchen in den vier großen Stadtteilen Athens geplant. Überschüssiges Geld sollte zum Bau einer Grundschule für Jungen und einer für Mädchen verwendet werden. Aus Artikel 7 geht hervor, dass sich das Gesetz auch auf alle anderen Regionen Griechenlands bezog. Demnach waren Einnahmen aus dem Klostergut für die Athener Universitätsgründung und solche aus Gemeindekirchen für den Bau anderer Kirchen vorgesehen. Der Staat trat also gleichsam als Verwalter von vermeintlich nicht mehr benötigtem Kirchengut auf, mit dem er aber zugleich der Kirche selber nützte. Allerdings übte er fortan eine starke Kontrollfunktion über kirchliche Mittel aus, wie wir sie in Ansätzen bereits bei Justinian haben beobachten können. Das Gesetz vom 29. April 1843 verfügte, dass die kirchlichen Einkünfte nicht mehr durch eine gesonderte Kirchenkasse, sondern vom Finanzsekretariat der Regierung (Οἰκονομικῶν γραμματεία) direkt verwaltet wurden.88 Diese Einkünfte konnten gegebenenfalls durch öffentliche Einnahmen ergänzt werden. Die kirchliche Finanzierung war nun vollständig im staatlichen Haushalt angesiedelt.

87 Mir ist nicht klar, woher die bei Erzbischof Ieronymos gemachte Feststellung abgeleitet wird, dass die Maßnahmen zur Finanzierung des Klerus in diesen Gesetzen schon sorgfältig geregelt worden seien; vgl. IERONYMOS II., Εκκλησιαστική περιουσία, S. 65, 72. Zumindest den Gesetzestexten ist dies nicht zu entnehmen. 88 Vgl. das Gesetz vom 29.04.1843, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως τοῦ Βασιλείου τῆς Ἑλλάδος I/14, S. 64f.

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Erste einschneidende Veränderungen in der Priesterbesoldung ermöglichte das am 18. November 1909 promulgierte Gesetz89 unter der Regierung von Kyriakoulis Petrou Mavromichalis (1849–1916). In seiner politisch bewegten Regierungszeit wurden etliche neue grundlegende Gesetze erlassen. Artikel 1 des Gesetzes legte die erneute Einrichtung einer allgemeinen Kirchenkasse (Γενικὸν Ἐκκλησιαστικὸν Ταμεῖον) fest. Artikel 2 definierte die Ziele dieser Einrichtung: Sie diente a) der Besoldung der aktiven Hierarchen, b) deren Versorgung in Krankheits- oder Pflegefällen, c) der Besoldung der Prediger, Lehrer und Professoren im Religionsunterricht, d) der Besoldung der Angestellten der Kasse, e) der Besoldung des Synodenpersonals, f) der Finanzierung von Kirchen- und Bildungsmaßnahmen im Ausland und g) der Besoldung der Pfarrer und – falls noch Überschüsse vorhanden waren – weiterer kirchlicher Aufgaben. Ergänzend wurden in Artikel 34 weitere mögliche Projekte genannt, die aus den Überschüssen finanziert werden konnten: Dazu zählten etwa die Einrichtung und Unterhaltung von Priesterschulen, die Versorgung von Priestern bei Arbeitsunfähigkeit oder Stipendien für Kleriker zum Theologiestudium. In den Artikeln 3 bis 5 sind die Einnahmequellen genannt: unter anderem Überschüsse aus dem staatlich verwalteten Klostergut, hälftige Anteile aus Erbschaften von Bischöfen und Mönchen, Geschenke und Erbschaften von Laien, Rentenbezüge und Strafgelder. Die Verwaltung oblag dem Kirchenministerium beziehungsweise einem ihm unterstehenden Verwaltungsrat der Kirchenkasse, zu dem auch der Athener Erzbischof gehörte. Der Umgang mit Klostergut wurde ausführlich in dem Gesetz geregelt; seine Verwaltung sollte nun wesentlich stärker bei den Klöstern selbst liegen. Insgesamt sorgte das Gesetz von 1909 also für eine stärkere Konzentration kirchlicher Mittel in einer staatlich kontrollierten Kasse. Gleichzeitig wurde angestrebt, aus dieser nun auch alle Kleriker zu finanzieren. Die Finanzierung von Pfarrern direkt durch die Gemeinden fand keine explizite Erwähnung. Die jährlichen Einkünfte, aus denen sich ihr Gehalt speiste, sollten anscheinend auch den Pfarrern aus den Gemeinden zu Gute kommen. Dennoch tritt der Gedanke einer staatlichen Finanzverwaltung der Priestergehälter deutlich zu Tage. In der Ära des Eleftherios Venizelos scheinen in der Kirchenkasse bald Überschüsse erwirtschaftet worden zu sein.90 1930 wurde ein Gesetz veröffentlicht, das sich ausführlich mit der Verwaltung des kirchlichen Besitzes beschäftigte.91 Es richtete in Athen eine neue Institution ein, die als Körperschaft öffentlichen Rechts für die Verwaltung des kirchlichen und klösterlichen Besitzes zuständig war und unter Aufsicht des Ministeriums für

89 Vgl. das Gesetz Nr. 3412 vom 18.11.1909, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως τοῦ Βασιλείου τῆς Ἑλλάδος I/270, S. 1126–1131. 90 So IERONYMOS II., Εκκλησιαστική περιουσία, S. 81. 91 Vgl. das Gesetz Nr. 4684 vom 09.05.1930, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως I/150, S. 1251– 1256. Vgl. zu diesem Gesetz und den nachfolgenden bis 1994 die exzellenten Ausführungen von SOMARAKES, Sebastianos M., Ζητήματα εκκλησιαστικής περιουσίας (Νομοκανονικά Αναλέκτα, 5), Athen 2015, S. 11–100; zum Gesetz von 1930 bes. S. 35–43.

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Bildung und Religionsangelegenheiten (Ὀργανισμὸς διοικήσεως τῆς Ἐκκλησιαστικῆς καὶ Μοναστηριακῆς περιουσίας, kurz: Ο.Δ.Ε.Π.) stand.92 Die aus Klosterund Kirchenbesitz stammenden Mittel sollten zunächst für die Erhaltung von Klöstern verwendet werden (Art. 14). Dabei unterstützte die Ο.Δ.Ε.Π. Klöster, die ihre Unkosten nicht selber tragen konnten. Kleine Klöster mit weniger als drei Mönchen sollten ohnehin mit anderen Klöstern zusammengelegt werden, sofern in einer Diözese mindestens ein Kloster bestehen blieb (Art. 21). Dadurch erhielt der Ο.Δ.Ε.Π. weitere Finanzen. Für unsere Fragestellung von besonderem Interesse ist Artikel 15 des Gesetzes, der vorsah, dass Einnahmen, die nicht für die in Artikel 14 festgesetzten Zwecke oder für die Verwaltung ausgegeben worden waren, für weitere kirchliche Aufgaben verwendet werden sollten. Denkbar waren nicht nur die Vergütung der Hierarchen und die Finanzierung synodaler Aufgaben, Löhne für Mitarbeiter der Metropoliten, sondern auch eine Unterstützung der Versicherung der Gemeindepriester und eine Unterstützung unbemittelter Priester. Bildungsziele und karitative Maßnahmen konnten ebenfalls aus diesen Mitteln unterstützt werden. Eine allgemeine Lohnzahlung an Priester war allerdings nicht vorgesehen.93 Im Jahr 1938 wurde unter der Regierung Metaxas ein ausführliches Gesetz über Kirchen und Pfarrer erlassen.94 Dieses legte fest, dass Dorfgemeinden mit einer Größe von 50 bis 400 Familien mindestens die Hälfte der Lohnkosten der Priester zu tragen hätten. Wenn sie das nicht täten, müssten sie mit anderen Gemeinden zusammengelegt werden (Art. 12). Nur in besonderen Ausnahmefällen konnte eine niedrigere Beteiligung am Priestergehalt festgelegt werden. Größere Stadtgemeinden erhielten zwar besser ausgebildete, aber teurere Priester als kleine Landgemeinden (Art. 66). Inselgemeinden, deren Priester aus Altersgründen nicht mehr in der Lage seien, ihren Dienst alleine zu verüben, konnten einen zweiten Priester anstellen, mussten diesen aber ausschließlich aus der Gemeindekasse bezahlen (Art. 73). Das dreizehnte Kapitel des Gesetzes war der Regelung der priesterlichen Lohnzahlung vorbehalten. Artikel 79 ordnete die Priester in vier unterschiedliche Lohnstufen ein und stellte ihre Gehälter mit denen des öffentlichen Dienstes gleich. Die Löhne der Pfarrer mussten von den Gemeinden direkt finanziert werden. Die Gemeinden konnten ein Drittel ihrer Bruttoeinnahmen dafür verwenden. Gegebenenfalls mussten Beträge für die Versicherung der Priester nach dem Gesetz περὶ Ταμείου Ἀποδοχῶν καὶ Ἀσφαλείας τοῦ Ὀρθοδόξου Ἐφημεριακοῦ Κλήρου τῆς Ἑλλάδος („Über eine Kasse der Einnahmen und der Versicherung der orthodoxen Gemeindekleriker Griechenlands“) durch die staatlich geführte Versicherungskasse (T.A.K.E) ergänzt werden. Kirchliche Autoren gehen davon aus, dass die Kirche in 92 Vgl. zur Ο.Δ.Ε.Π. und der Versicherungskasse Τ.Α.Κ.Ε. sowie grundsätzlich zu den Finanzen der griechisch-orthodoxen Kirche auf der Basis des Gesetzes von 1930 COTSONIS, Jerome J., Das Kanonische Recht, wie es in der Kirche von Griechenland angewandt wird, in: Kyrios 4 (1964), S. 177–205, bes. S. 185–187. 93 Vgl. das Gesetz Nr. 4684 vom 09.05.1930, Art. 15, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως I/150, S. 1253. 94 Vgl. das Gesetz Nr. 1369 vom 02.09.1938, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως τοῦ Βασιλείου τῆς Ἑλλάδος I/317, S. 2069–2084.

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den 1930er Jahren unter zahlreichen Enteignungen zu leiden hatte, für die sie bis heute nicht entschädigt worden sei. In den Gesetzen der Zeit haben Ausgleichszahlungen jedenfalls keinen Niederschlag gefunden.95 Auch das Gesetz Nr. 536 vom 5. September 1945 sah in Anlehnung an das Gesetz Nr. 1369 von 1938 ein Grundgehalt für die ordentlichen Pfarrer nach vier unterschiedlichen Kategorien vor. Es wurde unter der unter britischem Einfluss stehenden Regierung von Petros Voulgaris (1884–1957) verfasst. Diese versuchte, nach dem Rückzug der deutschen Besatzer aus Griechenland die kirchlichen Verhältnisse neu zu regeln. Artikel 2 des Gesetzes entband die Gemeinden von der Pflicht zur direkten Lohnzahlung an die Pfarrer. Zur Deckung der Ausgaben für die Pfarrersgehälter sollte ab dem 1. Oktober 1945 eine Mischfinanzierung greifen. Ein Viertel ihrer Bruttoeinkünfte hatten die Gemeinden nun an die Staatskasse abzuführen. Die weiteren Einzahlungen stammten faktisch ebenfalls aus Gemeindemitteln, die in den Artikeln 3 bis 10 genauer aufgeführt wurden. Zu diesen gehörten unter anderem die jährlichen Beiträge der einzelnen Gemeindeglieder beziehungsweise -familien (Art. 3), die in sieben Stufen gestaffelt waren (Art. 4). Die Priester erhielten ihre Löhne wiederum über den zuständigen Metropolitanrat (Μητροπολιτικὸν Συμβούλιον) (Art. 11). Für die Einzahlungen aus den Gemeinden wurde ein neuer Titel in den öffentlichen Kassen eingeführt, nämlich die Haushaltsstelle Κεφάλαιον πρὸς πληρωμὴν μισθοῦ Ἐφημεριακοῦ Κλήρου (Kapitel zur Bezahlung des Gemeindeklerus; Art. 12). Durch den Bürgerkrieg 1946–1949 war die Not der griechischen Bevölkerung sehr groß geworden. Daher forderte der griechische König Pavlos gegen Ende des Bürgerkriegs am 14. September 1949 Erzbischof Spyridon auf, den Opfern des Kriegs Beistand zu leisten. Dieser erklärte, Hilfe aus den Kirchengütern bereitstellen zu wollen. Gleichzeitig mahnte er aber auch eine Lösung für die Lohnzahlung der Priester an, die bis dahin nicht als Staatsbeamte besoldet worden waren.96 Vor diesem Hintergrund sind die in den fünfziger Jahren zu beobachtenden folgenden Maßnahmen zu verstehen. Das Gesetz über den Erwerb von kirchlichen Grundstücken durch den Staat zwecks Rehabilitation der besitzlosen Landwirte und Viehzüchter vom 18. September 1952 bedeutete eine Zäsur im Hinblick auf den Besitz der Kirche.97 Dabei ging es hauptsächlich um die Veräußerung von Klostergut (Art. 1). Dieses sollte auf der Basis von Gegenleistungen an den Staat gegeben werden (Art. 2). Geplant war die Übergabe von vier Fünfteln des entsprechenden klösterlichen Landbesitzes, das heißt mindestens 141.333 Stremmata (= km2) Ackerland (Art. 2, 1). Darüber hinaus sollten zwei Drittel der Weideflächen mit einem Umfang von mindestens 601.544 Stremmata (Art. 2, 4) übergeben werden. Die Festlegung des Preises erfolgte in Artikel 14: Im ersten Jahr nach der Unterzeichnung des Gesetzes sollte ein Drittel 95 Vgl. IERONYMOS II., Εκκλησιαστική περιουσία, S. 82f. Der Erzbischof gibt gewaltige Verluste an. 96 Vgl. ebd., S. 97. 97 Das Gesetz vom 18.09.1952 findet sich in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως τοῦ Βασιλείου τῆς Ἑλλάδος I/289 vom 08.10.1952, S. 1917–1923.

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des Preises gezahlt werden. Der Kaufpreis betrug insgesamt 97.601.000.000 Drachmen (Art. 14, 1). 15.000.000.000 Drachmen sollten bis 1955 in drei Raten ausgezahlt werden. Der Rest in Höhe von 82.601.000.000 Drachmen sollte durch städtische Liegenschaften beglichen werden. Die Kirche durfte sich die geeignetsten Grundstücke aussuchen (Art. 15, 3). Ausführliche Tabellen am Ende des Gesetzes führen die kirchlichen und die städtischen Güter detailliert auf.98 Das Gesetz wurde nur sehr zögerlich umgesetzt. Die Klöster beispielsweise erhielten für ihre Besitzabgabe gar keine Gegenleistungen. Staatliche Stellen verweigerten Erstattungen, weil die erhaltenen Grundstücke zu klein oder qualitativ minderwertig gewesen seien.99 Nach Angaben der Kirche hat sie bei dem vermeintlichen Tausch mindestens 20 Millionen Drachmen verloren.100 Die Bezahlung von Gemeindepriestern fand in dem Gesetz keine Erwähnung.101 Noch im Februar 1968 forderte der Athener Erzbischof den Staat auf, seine Schulden bei der Kirche zu begleichen – zu diesem Zweck sollte unter anderem eine gemeinsame Kommission eingesetzt werden.102 Am 22. Juli 1968 wurde – wahrscheinlich als Reaktion der Regierung auf diese Forderung – erneut ein Gesetz über die Bezahlung der Priester erlassen. Das Gesetz legte fest, inwiefern die Priester in Anlehnung an Beamtengehälter bezahlt werden sollten. Die Finanzen wurden durch die Haushaltsstelle der Κεφάλαια πρὸς πληρωμὴν μισθῶν ἐφημεριακοῦ Κλήρου bereitgestellt.103 Der Staat war demnach für die Finanzierung der Priestergehälter verantwortlich. Das Gesetz griff auf die vier unterschiedlichen Kategorien priesterlichen Dienstes zurück, wie sie schon im Gesetz vom 26. August 1966 festgehalten worden waren.104 Nach dem Ende der Militärjunta und unter den folgenden sozialistischen Regierungen verstärkte sich die Forderung nach einer Trennung von Kirche und Staat. In diesem Zusammenhang verlangte der Minister für Erziehung und Religionsfragen, Georgios Rallis, die Verstaatlichung kirchlichen Besitzes von bis zu 75 Prozent.105

98 Vgl. Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως τοῦ Βασιλείου τῆς Ἑλλάδος I/289 vom 08.10.1952, S. 1925– 2131. 99 Vgl. IERONYMOS II., Εκκλησιαστική περιουσία, S. 105. 100 Vgl. ebd., S. 107. 101 Anders z.B. KASIMATIS, Antonios, Μισθοί κληρικών – Ἐκκλησιαστική περιουσία – μερικές αλήθειες vom 31.07.2013, URL: http://forum.osarena.net/threads/ Μισθοί-κληρικών-καιΕκκλησιαστική-Περιουσία-μερικές-αλήθειες.3166/ (Zugriff 05.11.2015): „Στην ίδια σύμβαση καθιερώθηκε και η ‚μισθοδοσία‘ των κληρικών από το Κρατικό Προϋπολογισμό – του δε Αρχιεπισκόπου και των Μητροπολιτών από το έτος 1980 – ως υποχρέωση του Κράτους έναντι των μεγάλων παραχωρήσεων γης στις οποίες είχε προβεί η Εκκλησία της Ελλάδος κατά την δεκαετία 1922–32“. Im Gesetz von 1952 habe ich diese Feststellung nicht finden können. 102 Vgl. IERONYMOS II., Εκκλησιαστική περιουσία, S. 107. 103 Vgl. das Gesetz Nr. 467 vom 22.07.1968, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως τοῦ Βασιλείου τῆς Ἑλλάδος I/162, S. 1057f. 104 Vgl. das Gesetz Nr. 4538 vom 26.08.1966, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως τοῦ Βασιλείου τῆς Ἑλλάδος I/167, S. 1047f. 105 Vgl. KASIMATIS, Μισθοί κληρικών.

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1977 wurde das Gesetz 590/1977 verabschiedet, hinter dem sich eine neue Verfassung der orthodoxen Kirche verbarg.106 Lohnzahlungen an Pfarrer und Diakone (Art. 38) wurden nicht festgesetzt, sondern vielmehr an die schon bestehenden Regelungen gebunden. Lediglich die Bezahlung der Hierarchen durch den Ο.Δ.Ε.Π. wurde in Artikel 32 erneut festgelegt. Ab dem 1. Januar 1980 erfolgte diese unmittelbar aus staatlichen Mitteln.107 Artikel 46 behandelte das Vermögen der Kirche. Dieses speiste sich aus Einnahmen aus dem eigenen Besitz, Zuwendungen der Mitglieder und staatlichen Unterstützungen. Letztere sind als Kompensation für die Verstaatlichung von Kirchengütern zu verstehen.108 Finanzaktionen unterlagen prinzipiell der Aufsicht des Finanzministeriums und des Ministeriums für Bildung und Religionsangelegenheiten. Der Ο.Δ.Ε.Π. sollte von der Permanenten Synode verwaltet werden. Artikel 48 legte die Besteuerung aller Körperschaften außer dem Ο.Δ.Ε.Π. und der T.A.K.E. fest. Zu einer neuerlichen umfassenden Gesetzesnovelle kam es erst unter den sozialistischen Regierungen in den 1980er Jahren, genauer seit 1981.109 Mit dem Gesetz Nr. 1700 vom 5. Mai 1987110 wurde die Verwaltung kirchlichen Gutes allein dem Ο.Δ.Ε.Π. überlassen (Art. 1). Artikel 2 regelte die Übergabe der verwalteten agrarischen Klostergüter – von wenigen Ausnahmen abgesehen – an landwirtschaftliche Betriebe; sie wurden also faktisch verstaatlicht. Als Kompensation sollten die Klöster 5 Prozent der Einkünfte zur Deckung ihrer Kosten erhalten. Artikel 3 begründete diese Maßnahme damit, dass die Güter ohnehin der griechischen Öffentlichkeit gehören würden. Die einmal begonnene Politik wurde im Gesetz Nr. 1811 vom 6. Oktober 1988 fortgeführt.111 149 Klöster mussten land- und forstwirtschaftliches

106 Vgl. das Gesetz Nr. 590 vom 31.05.1977, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως I/146, S. 1205–1220. 107 Vgl. das Gesetz Nr. 1041 vom 02.04.1980, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως I/75, S. 975–1010. 108 Vgl. hierzu auch ANAPLIOTIS, Anargyros, Die Orthodoxe Kirche im Staatskirchensystem. Vortrag beim Symposion zum 1700. Jubiläum des Mailänder Ediktes in Trier, 11.10.2013, URL: http://www.obkd.de/Presseinformationen/Anapliotis-OrthKircheimGrStaatskirchensystem.pdf (Zugriff 07.02.2016), [S. 9]. 109 Eine Diskussion über die Frage, ob Priester Staatsbeamten vollkommen gleichgestellt seien, löste etwa das Gesetz 1256/1982 aus. Problematisiert wurde in diesem Kontext, inwiefern Priester ein Gehalt als Religionslehrer beziehen könnten, wenn sie bereits ein Gehalt als Staatsdiener in ihrer Rolle als Priester erhielten. Ein doppeltes Beschäftigungsverhältnis als Staatsdiener schloss die Verfassung in Art. 103 und 104 nämlich aus. Die durch das Gesetz von 1982 ausgelöste Diskussion wurde über Jahrzehnte geführt; vgl. dazu NIKOLAKAKIS, Dimitris, Η προεχούσα ιδιότητα των εφημερίων ως θρησκευτικών λειτουργών, in: Wissenschaftliche Annalen D.S.TH. 26 (2004), S. 25–37. 110 Vgl. das Gesetz vom 05.05.1987, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως I/61, S. 559–564. 111 Vgl. das Gesetz vom 06.10.1988, in: Ἐφημέρις τῆς κυβερνήσεως I/231, S. 3539–3544. Mit diesem Gesetz wurde die Vereinbarung zwischen Kirche und Staat in Gesetz Nr. 1439 vom 11.05.1988 verabschiedet. Zu beiden Gesetzen gibt es zahlreiche Aufsätze und Bücher im griechischsprachigen Umfeld. Genannt seien stellvertretend: KONIDARIS, Ioannis M., Ο νόμος 1700/1987 και η πρόσφατη κρίση στις σχέσεις εκκλησίας και πολιτείας, Athen 1991, und zuletzt APOSTOLAKIS, Georgios, Οι διαχειριστικές εξουσίες της εκκλησίας της Ελλάδος επί της μοναστηριακής περιουσίας μετά τους ν. 1700/1987, 1811/1988 και το άρθρο 55 ν. 2413/1996, in: Εφημερίς των Ελλήνων Νομικών 68 (2001), S. 653–655.

Die Finanzierung des orthodoxen Klerus in Rumänien und Griechenland

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Gut abgeben (Art. 1). Jeglicher Besitz, der weiter als 200 Meter von den Klostermauern entfernt lag, sollte verstaatlicht werden (Art. 2). Die Übergabe des Klostergutes führte zur Auflösung des Ο.Δ.Ε.Π. beziehungsweise zu dessen Überführung in staatliche Stellen (Art. 3). Die Öffentlichkeit sollte zukünftig die Lohnzahlung der 85 Prediger (ιεροκήρυκες) übernehmen, für die bisher der Ο.Δ.Ε.Π. verantwortlich gewesen war (Art. 4). Ähnliches galt für die Vergütung der Hierarchie. Gegen die neuen Gesetze gab es vielfältigen Widerstand: Der Athener Erzbischof schätzte die neuen Gesetze als gesetzeswidrig und unkanonisch ein.112 Insbesondere die Verwaltung der Immobilien der Klöster durch den Staat sei mit internationalem Recht nicht zu vereinbaren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte teilte diese Auffassung und lehnte das Gesetz ab, indem er die Kirche in Griechenland als autonome „Nicht-Regierungsorganisation“ im Sinne des Artikel 25 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte anerkannte.113 ZUSAMMENFASSUNG Ziel meiner Ausführungen war es, deutlich zu machen, warum und wie Kirchen in mehrheitlich orthodoxen Ländern vom Staat finanzielle Unterstützung erhalten. Daran schließt sich unmittelbar die Frage an, warum orthodoxe Priester in einigen Ländern sogar vom Staat direkt entlohnt werden. Die geschilderten Fallbeispiele haben gezeigt, dass in Griechenland und Rumänien derartige Finanzierungssysteme unterschiedliche Entwicklungen durchlaufen haben. Die griechische Kirche erhält die Finanzierung ihrer Kleriker gleichsam als Kompensation für säkularisiertes Kloster- und Kirchengut.114 Die gegenwärtige griechische Kirche weist in aktuellen Debatten auf diese Tatsache zum Teil apologetisch, zumindest aber argumentativ immer wieder hin. Erzbischof Ieronymos etwa vertritt die Ansicht, dass bereits 96 Prozent des kirchlichen Besitzes „geplündert“ seien und daher eine weitere finanzielle Beschneidung der Kirche nicht mehr zu bewältigen wäre. Die diskutierte – sozial kaum zu verantwortende – Einstellung der Besoldung von ca. 10.000 Priestern durch den Staat könne nur verkraftet werden, wenn die Kirche verstaatlichtes Gut zurückerhielte.115

112 Vgl. IERONYMOS II., Εκκλησιαστική περιουσία, S. 113. 113 Vgl. die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes vom 09.12.1994 unter dem Aktenzeichen 10/1993/405/483–484; vgl. auch ANAPLIOTIS, Orthodoxe Kirche, [S. 6–9]; ferner ausführlich RAMIOTIS, Konstantinos, Η εκκλησία μέσα στην ελληνική πολιτεία: Τα θεμελιώδη δικαιώματα των ιερών μονών, η απόφαση 9.12.1994 του ΕΔΔΑ για τις ιερές μονές της Ελλάδος, Athen 1997. 114 Vgl. nochmals ANAPLIOTIS, Orthodoxe Kirche, [S. 9], der sogar von einem „verfassungswidrige[n] Charakter der Verstaatlichung von Kirchengütern in der Zeit von 1833–1977“ spricht. 115 Vgl. IERONYMOS II., Εκκλησιαστική περιουσία, S. 121.

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Eine genaue Erhebung aller Güter, die im Laufe der neugriechischen Geschichte verstaatlicht worden sind, steht noch aus. In den Stellungnahmen der Kirche fallen die Angaben oft sehr hoch aus.116 Obwohl erst eine genaue Berechnung exakte Zahlen liefern wird, steht dennoch bereits jetzt fest, dass der griechische Staat aus seiner finanziellen Verpflichtung gegenüber der Kirche nicht einfach entlassen werden kann, wie das beispielsweise auch von „westlichen“ Kommentatoren gefordert wurde. Klerikergehälter stellen in Griechenland – anders als in der spätantiken oder der rumänischen Praxis – in jedem Fall eine Art Reparationszahlung für die Verstaatlichungen dar. Bemerkenswert an der Finanzierung des Klerus in Rumänien ist, dass diese während der Herrschaft der Kommunisten entwickelt worden ist. Priester wurden durch staatliche Lohnzahlungen auf die politische Linie der kommunistischen Regierung gebracht. Wenn also in Ländern wie Rumänien und Griechenland ansatzweise staatskirchliche Strukturen zu beobachten sind, so ist deren historische Genese keineswegs dieselbe. In der Finanzierung des Klerus durch den Staat lässt sich jedenfalls keine einheitliche, ungebrochene Fortsetzung spätantik-byzantinischer Praktiken beobachten.

116 Vgl. etwa den Beitrag von KASIMATIS, Μισθοί κληρικών. Der juristische Berater des Metropoliten geht davon aus, dass schon in der Zeit Ottos unermesslicher Kirchenbesitz verstaatlicht worden sei. Nach LEKKOS, Evangelos P., Ἡ ἀλήθεια γιά τήν περιουσία τή φορολόγηση τῆς Ἐκκλησίας καί τή μισθοδοσία τῶν κληρικῶν της, S. 15, URL: http://www.yiannischalkias. com/attachments/article/161/periousia_ekklisias.pdf (Zugriff 23.12.2015), stellte die Ο.Δ.Ε.Π. in der Urkunde 976/780/18.04.1947 fest, dass der Staat der Kirche 1947 1 Milliarde Vorkriegsdrachmen geschuldet und davon nur 40 Millionen getilgt habe.

PERSONENREGISTER Adalgerius 63, 65f. Afanasij, Archimandrit 292 Agafangel, Metropolit 234 Albrecht von Brandenburg-Ansbach, Herzog von Preußen 99 Aleksej Michajlovič, Zar von Russland 97, 184 dʼAlembert [Rond, Jean-Baptiste le] 274 Andrea de Lucca, Erzbischof 37f. Andreev, Erofej 164, 168 Anna (Ivanovna), Zarin von Russland 184 Anna (Porphyrogenneta), Fürstin von Kiev 47, 55f. Anselmo von Alessandria 71 Antonescu, Ion 265 Antonije de Galiopa 36 Antonios IV., Patriarch 50f., 53f. Arengerius Romanus, Erzbischof 38 Arlt, Fritz 297 Avvakum, Erzpriester 159‒171 Baduari, Mario 34 Baer, Karl Ernst von 320 Ballislaua, Matej 36 Baran, Stepan 287 Barberini, Matteo → Urban VIII. Barberini, Raffaello 97, 102‒104, 111 Barraba, Vital 36 Barth, Heinrich 287 Bartol Alvernski, Vikar 72 Basileios II., Kaiser des Byzantinischen Reiches 28, 46f., 55 Basilius, Heiliger 71 Báthory, Stephan, König von Polen-Litauen 105 Baumann, Katharina 147 Benedict, Papst 28 Benessa, Šimun 39 Bérenger, Laurent 182 Bezborodko, Aleksandr 192 Bezobrazov, A. I. 137 Bilibin, Šeršen’ 138 Biloje de Crieva 40 Binzola, Fusko 32 Binzola, Jakov 32

Bisanz, Alfred 296f. Bobin, Nicolae 266, 268f., 274, 277 Bogdan de Pisino 35 Bogoraz, Vladimir G. 210f. Brand, Adam 203, 205‒209 Breteuil, Louis Auguste Le Tonnelier de 173f., 181f. Bulanov, Nikolaj G. 289 Bulgakov, Feodosij 134 Burducea, Constantin 342 Buturlin, Vasilij V. 139 Caligari, Andrea, Bischof 106 Calisto, Papst 37 Campana, Giovanni Paolo 107f. Cantacuzino, Alexandra 266 Cantacuzino-Grănicerul, Gheorghe 268 Čarnojević, Arsenije, Patriarch 329 Carol II., König von Rumänien 266, 268, 270f. Carpan, Ioannes 67 Cededa, Bischof 18f. Cerva 27‒31, 33, 37f., 40 Chamas, Sergius 33 Chancellor, Richard 103 Charcot, Jean-Martin 274 Chusainov, Muchammed-žan 192 Ciobotea, Daniel, Patriarch 345 Clemens VI., Papst 83 Collins, Samuel 97 Comte, Auguste 274 Corbo, Petrus 66 Cristea, Miron, Patriarch 266, 270, 341 Crossio, Rusin T. 36 Čubarʼ, V. Ja. 255 Čučman, Sydir 303 Curnario, Marcus 62 Cvetkovskij, Samson 194 Dabrena de Talinega 40 Danckaert, Johann 96 Danilovič, Il’ja 139f. Daškov, I. I. 136 De la Gardie, Jakob Pontus 96 Della Torre, Raimondo → Raymundus

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Personenregister

Del’vig, Anton A. 215 Denisov, Andrej 171 Denisov, Semen 171 Despreaux, Nicolas Boileau 217 Diepenbrock, Andreas von 147f., 150‒153, 155‒157 Diepenbrock, Werner von 147 Dimitrij von Rostov, Metropolit 159, 162, 167f., 170 Dionisij, Metropolit (16. Jh.) 107, 111 Dionisij, Metropolit (20. Jh.) 284f., 287‒ 292, 294, 296‒302, 306 Dobrovid, Abt 20 Dudin, Osip 140 Dzeržinskij, Feliks Ė. 230 Ejche, Robert I. 254f., 259f. Eliade, Mircea 274 Elisabeth (Petrovna), Zarin von Russland 173, 175f., 184, 188, 190f., 197 Elisabeth I., Königin von England 102‒104, 111 Erlinger, Erich 287 Eugen IV., Papst 82 Evfimij, Archimandrit 118 Evlogij, Metropolit 283f. Feodosij, Erzbischof 137‒139 Feolog, Mönch 160 Ferdinand I., Kaiser des Habsburgerreiches 97f. Filofej von Pskov 101 Fra Bartolommeo 72 Fra Gerald Odonis 79 Fra Peregrin der Sachse 81, 83 Fra Toma Matić 83 Franasovici, Richard 267 Frank, Hans 289f., 296, 298‒302, 304 Freud, Sigmund 274 Galli, Ptolomeo, Kardinal 106 Gapon 270 Gauweiler, Otto 287 Gavriil, Erzbischof 140‒142 Gennadij, Erzbischof 117 Georgi, Johann Gottlieb 208f. Georgievskij, Vasilij S. → Evlogij Georgij, Bischof 194 Georgio, Tripo 33, 39 Gerard, Erzbischof 37 German, Patriarch 327‒331 Gheorghiu-Dej, Gheorghe 343

Giminianus, Georgius 32 Glebov, Aleksandr I. 177 Gnedič, Nikolaj I. 216 Godunov, Aleksej N. 134 Golicyn, Vasilij V. 137, 141 Golovin, Ivan P. 135 Gregor VII., Patriarch 21, 74, 282 Gregor IX., Papst 70 Gregor XI., Papst 72 Gregor XIII., Papst 67, 105 Gregor der Wundertäter, Heiliger 73, 75 Gregor von Nazianz, Hierarch 75 Grigor’evič, Vasilij 137f. Grigor’evna, Domna 141 Grigorij, Erzbischof 232f. Grjadinskij, Fedor 261 Groza, Petru 342 Hackelman, Albrecht 156 Haugg, Werner 289, 299 Henicke, Hinrich 152, 157 Herberstein, Sigismund von 97, 99 Heuber, Wilhelm 289 Hieronymus, Heiliger 20 Hintelman, Baltzer 155 Hitler, Adolf 304 Honorius II., Papst 19, 21f. Hromads’kyj, Oleksandr → Oleksij Ides, Eberhard Isbrand 200, 203, 205‒209 Ieronymos, Erbischof 347, 351, 357 Ignatij von Solovki 165 Ilarion, Metropolit (11. Jh.) 47, 92 Ilarion, Metropolit (20. Jh.) 291‒293, 296, 298‒302, 304, 306 Illarion, Metropolit 140 Ilija de Arbisino 32 Innozenz III., Papst 20, 74 Innozenz IV., Papst 20 Ioann, Archimandrit 283 Iohannes, Pfarrer 57‒66 Iohannes Dominicus de Cleris 67 Iona, Archimandrit 136 Iorga, Nicolae 271 Irimescu, Ștefan 272 Irinarkh, Hegumen 130 Isidor von Sevilla, Bischof 57 Ivan de Gondula 32 Ivan III., Großfürst von Moskau 113, 115, 119 Ivan IV. (Groznyj), Zar von Russland 97, 102‒111, 190

Personenregister Ivanić, Vukas 32 Ivanov, Fedor, Diakon 162 Jacob, Erzbischof 34 Jagoda, Genrich 255, 260 Jankovic de Mirievo, Theodor 197 Jaroslav Mudryj (der Weise), Fürst von Kiev 302, 316, 319 Jaroslavskij, Emeljanʼ M. 227‒231, 237‒ 239, 253 Javor’skyj, Stefan, Metropolit 159 Jazykov, Nikolaj M. 214 Jenkinson, Anthony 103f. Johannes X., Papst 16 Johannes XXII., Papst 79, 82 Johannes Paul II., Papst 281 Joseph II., Kaiser des Habsburgerreiches 191 Juraj de Bacco 40 Justinian, Patriarch 343 Justinian I. (der Große), Kaiser des Römischen Reiches 337f., 351 Kaganovič, Lazar M. 255, 260 Kalinin, Michail I. 252, 255 Kamaletdinov, Fachretdin 248 Kant, Immanuel 274 Kapistran, Johann 82 Kapodistrias, Ioannis 349 Karadžić, Vuk 329f. Karl V., Kaiser des Habsburgerreiches 97 Karl I. Robert, König von Ungarn 79 Karpov, G. G. 251 Katharina I., Zarin von Russland 184 Katharina II. (die Große), Zarin von Russland 13, 177, 182‒185, 187‒198, 314 Keith, Robert Murray 173, 178, 182 Kerrl, Hans 283 Kičigin, Ivan 140 Kiprian, Metropolit 50 Kisiel, Adam 285 Kleist, Peter 290 Knopken, Andreas 145, 147‒156 Kolbe, Maximilian 281 Koloman, König von Ungarn 20 Konstantin I. (der Große), Kaiser des Römischen Reiches 337f. Konstantin VI., Patriarch 282 Konstantin VII. (Porphyrogennetos), Kaiser des Byzantinischen Reiches 43 Kotromanić, Stjepan II., Ban von Bosnien 71, 77, 79, 82f., 85

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Kotromanić, Tvrtko I., König von Bosnien 74, 77f. Kozak, Andrij 294 Kozlovskij, Aleksej S. 176f. Krasikov, Petr A. 227, 246 Krause, Johann Wilhelm 320 Kubijovyč, Volodymyr 292, 294‒298, 303, 305 Kühl, Hubert 301 Kuricyn, Fëdor, Diakon 118 Kuricyn, Ivan, Diakon 118 Kurtz, Heinrich 296 Kuzemec, Ivaška 139 Kyrill und Method, Slawenapostel 16f., 19‒ 21, 75, 80, 84, 90 Lade, Karl Georg Albert → Serafim Lampredij, Matej, Abt 35 Lang von Wellenburg, Matthäus, Erzbischof 98 Lazarević, Stefan 329 Leibbrandt, Georg 286f., 293 Lenin, Vladimir I. 229, 243 Leonard, Carol 177, 183, 185 Leonardus Venetus, Erzbischof 38 Lermontov, Michail Ju. 213f., 219‒223 Levčuk, Ioann, Erzpriester 287, 294f. Levšin, Petr G. → Platon Ljaščenko, Timofej I. → Tichon Lotman, Jurij M. 320 Ludwig der Deutsche, König des Ostfränkischen Reiches 17 Ludwig (IX.) der Heilige, König von Frankreich 203 Lungu, Dionisie 269 Lupu, Petrache 263, 267‒278 Mabillon, Jean 171 Majko, Andrej, Diakon 118 Maljužyns’kyj, Mykola O. 294f., 298 Marinescu, Gheorghe 272‒274 Markell, Erzbischof 139 Martos, Anton → Afanasij Maurer, Georg Ludwig 350 Mavromichalis, Kyriakoulis Petrou 352 Maximilian I., Kaiser des Habsburgerreiches 97f., 102 Mazepa, Ivan 159 Menžinskij, Vjačeslav 227 Mercy-Argenteau, Florimond Claude von 173f., 178, 181f. Metaxas, Ioannis 353

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Personenregister

Method → Kyrill und Method Michail Fedorovič, Zar von Russland 134 Middendorff, Heinrich von 155 Miège, Guy 97 Miha de Gondula 32 Mihovil de Paualio 34 Mikojan, Anastas I. 255 Miloslavskij, Il’ja D. 139 Misurʼ-Munechin, Michail G. 101 Mitrofan, Archimandrit 118 Mittendorff, Philip 155 Möngke-Khan, Großkhan des Mongolischen Reiches 204 Molotov, Vjačeslav M. 254f., 260 Morosini, Thomas 74 Morozov, Boris I. 135f. Morozov, Vasilij G. 137f. Mstyslav, Patriarch 282 Muchina, Vera I. 312 Najdjuk, Mykola 294 Navmeri, Vital 36 Neelov, Dmitrij I. 141 Nemanja, Rastko → Sava Nemanja, Stefan 35, 330 Nemanjić, Desa 35 Nevskij, Aleksandr, Heiliger 281 Nifont, Bischof 118 Nikola von Modruš, Bischof 84 Nikon, Patriarch 123, 139 Njegoš, Petar P. 329 Nora, Pierre 307f., 312‒314, 317‒320 Oberländer, Theodor 296 Obolenskij, Vasilij E. 178 Öttingen, Johann von 153 Ohijenko, Ivan → Ilarion Olearius, Adam 96f., 111 Oleksij, Bischof 284 Olʼga, Fürstin von Kiev 45, 92 Orbini, Mavro 77 Ordžonikidze, Grigorij K. 255 Orseolo, Pietro 19 Ostroz‘kij, Kostjantyn 285 Otto, König von Griechenland 350, 358 Pacasuco, Andrija 35 Päts, Konstantin 317 Palladij, Archimandrit 291f., 304f. Parhon, Constantin 271f. Passek, Pëtr B. 194 Pasteur, Louis 274

Patrikeev, Vassian 114 Pavljuk, Anton 294f. Pavlos, König von Griechenland 354 Pavlyšyn 305 Pesane, Parveša 36 Petar Antibarensis, Erzbischof 37 Petculescu 269 Peter I. (der Große), Zar von Russland 159f., 174, 177, 179, 181, 184, 189, 192, 203, 205 Peter III., Zar von Russland 173f., 176‒179, 181f., 184f., 195 Petljura, Symon 282 Petrovych, Iosif, Metropolit 234 Philipp II., König von Spanien 103 Picinego, Filip 34 Pisino, Matej, Diakon 35 Pitirim, Metropolit 139 Pius II., Papst 82, 84 Platon, Metropolit 197 Pogodin, Michail P. 164 Polev, Nil 115 Polikarp, Bischof 284 Ponsa, Bischof 72 Popov, Nikolaj N. 227, 230, 246 Possevino, Antonio 97, 104‒110 Potrebujež, Janez 58 Predana, Stjepan 35 Pregelj, Ivan 58f. Proculo, Vito 32 Protasevič, Feofan, Archimandrit 290 Protoierej → Palladij Prozorovskij, P. I. 136 Puškin, Aleksandr S. 213‒215, 219, 221, 223 Radoš de Talinega 40 Radoslav, Eparch 71 Ragnina, Matija 39 Rallis, Georgius 355 Rastislav, Fürst von Mähren 17 Raymundus, Patriarch 60 Repnin, Ivan B. 135 Richo, Iohannes 61 Rokyta, Jan 106 Roman de Pisino 34 Romanov, Sergej 271 Rubruk, Wilhelm von 203‒205, 209 Rudolf II., Kaiser des Habsburgerreiches 105 Ryskulov, Turar 249

Personenregister Šachovskoj, Dmitrij A. → Ioann Šachovskoj, Jakov P. 177 Saltykov, Michail M. 139 Saltykov, Petr M. 139 Salvius Romanus, Erzbischof 38 Samaras, Antonis 348 Samojlovič, Afonasij 140 Sanin, Vassian 117f. Šantić, Batalo 71 Sava, Heiliger 329f. Savatij, Bischof 122‒124, 126, 128‒132, 302f. Savva, Archimandrit 135 Schmidt, Axel 303 Schönberg, Dietrich von 99‒101 Šeptyc’kyj, Andrij, Metropolit 281 Serafim, Bischof 283‒294, 296‒300, 303, 306 Sergij, Metropolit 232‒234 Sestrencevič, Stanislav, Bischof 194 Ševrigin, Istoma 106f. Sigismund, deutscher Kaiser 83 Sigismund I. (der Alte), König von PolenLitauen 138 Sigismund II. August, König von Polen-Litauen 138 Sikors’kyj, Petro → Polikarp Sil’vestr, Bischof 107f. Simeon, Heiliger 78 Simeon von Polock 159 Skoropads’kyj, Pavlo 284, 286, 288‒290, 298 Skrypnyk, Stepan → Mstyslav Skvorcov-Stepanov, Ivan 229 Slaba, Petar 29 Slavineckij, Epifanij 159 Smidovič, Petr G. 227, 236, 240 Sorskij, Nil 114‒117 Soubirous, Bernadette 265 Spyridon, Erzbischof 354 Štālbergs, Ernests 312 Stalin, Iosif V. 226, 232, 239f., 244, 249, 253‒255, 257, 260f., 281 Stănescu, Vartolomeu, Bischof 266, 268f., 271, 273 Steller, Georg Wilhelm 209 Stephan, Heiliger 78 Stephani, Velcius 36 Stilo, Grubeša 35 Stilo, Mihoč, Vikar 35 Stjepan Tomaš, König von Bosnien 77, 82, 84f.

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Stoian, Stanciu 344 Stragorodskij, Sergij, Patriarch 232 Suslov, Innokentij M. 199 Szretter, Jerzy → Timofej Taffellus de Tafellis 67 Thomas Archidiaconus 10, 18‒20 Thomas von Kempen 168 Thomasinus de Andriolis 67 Tichon, Patriarch 230‒233, 238f., 283f. Timofej, Vikarbischof 285, 296, 301f., 306 Tommassini, Toma, Bischof 82 Tõnisson, Jaan 317 Tret’jakov, Ivan I. 135 Tribun, Erzbischof 37 Trpimir I., Fürst von Kroatien 17 Trubeckoj, Nikita Ju. 177 Tučkov, Evgenij 227, 231‒233, 238 Tuptalo, Dmytro → Dimitrij von Rostov Ukraincev, Emel’jan I. 141 Ulrich I., Markgraf von Istrien 20 Ulrich II., Markgraf von Weimar-Orlamünde 21 Urban V., Papst 82 Urban VIII., Papst 102 Vaida-Voevod, Alexandru 267 Valedinskij, Konstantin N. → Dionisij Valier, Agostino, Bischof 67 Valius de Doimo 36 Varfolomei, Hegumen 128 Varlaam, Erzbischof 134 Vartolomeu → Stănescu Vasilij I., Großfürst von Moskau 50f., 53 Vasilij II., Großfürst von Moskau 56 Vasilij III., Großfürst von Moskau 97, 100‒ 102, 106, 110 Vasilije, Erzbischof 331 Venizelos, Eleftherios 352 Vidybida-Rudenko, Petro → Palladij Vital de Gayislavo 36 Vital I., Erzbischof 28‒30, 37 Vital II., Erzbischof 37 Vladimir I., Fürst von Kiev 46‒49, 54‒56, 73, 92 Vojcechovskij, Sergej L. 289 Volcassio, Damijan 32, 36 Volcassio, Pasko 32, 36, 38 Volkov, Dmitrij V. 177 Volockij, Iosif 114‒118 Vološyn, Avhustyn 303

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Personenregister

Voltaire [Arouet, François-Marie] 187, 195 Vorošilov, K. E. 255 Vorotynskij, Ivan A. 136 Voulgaris, Petros 354 Vrabec, Antonín J. → Savatij Vukčić-Hrvatinić, Hrvoje, Ban von Kroatien 77 Vukčić-Kosača, Stjepan, Großwojewode von Bosnien 77 Vulpetto, Ivan 33 Vulpetto, Stjepan 33 Vulpetto, Vital 33 Vulpis, Miho 36 Wilden, Hans 293f., 296f. Wilhelm II., Kaiser des Deutschen Reiches 314

Witsen, Nicolaas 97 Wrangel, Ferdinand P. von 210 Yuacie, Lampredij 36 Zaborovskij, S. I. 135 Zāle, Kārlis 312 Zelea-Codreanu, Corneliu 268 Zelea-Codreanu, Horia 268 Zörner, Ernst 295 Zola, Émile 267, 274 Zosima, Metropolit 117f., 122‒125, 128‒ 132 Zvonimir, Ban von Kroatien 20‒22

Die wissenschaftlichen Leistungen des Osteuropa­ historikers Ludwig Steindorff entsprechen seinen breit gefächerten Interessen: In Forschung und Lehre behandelt er Themen vom Mittelalter bis zur Gegenwart und von Südosteuropa bis nach

Christian­Albrechts­Universität zu Kiel, anlässlich seines 65. Geburtstags. Die Autorinnen und Auto­ ren betrachten in ihren Beiträgen die historische Entwicklung von religiösen Akteuren, Instituti­ onen und Praktiken im östlichen Europa aus un­

Russland. Religionsgeschichtliche Aspekte liegen ihm dabei besonders am Herzen. Einem größe­ ren Publikum sind etwa seine Forschungen zur Memorialkultur und zum klösterlichen Alltag in Altrussland bekannt. Dieser Band ehrt Ludwig Steindorff, Professor für Geschichte Ost­ und Südosteuropas an der

terschiedlichen Blickwinkeln. Sie thematisieren unter anderem das Wirken der Slawenapostel Kyrill und Method in Südosteuropa, die Religions­ politik Katharinas der Großen, die Begegnungen von westeuropäischen Reisenden mit dem Scha­ manentum in Sibirien und die antireligiöse Politik der sowjetischen Regierung im 20. Jahrhundert.

ISBN 978-3-515-11768-5

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7 83 5 1 5 1 1 7 685

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